Perspektiven fur die Publikumszeitschrift [1 ed.]
 3540494340, 9783540494348 [PDF]

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Zitiervorschau

Perspektiven für die Publikumszeitschrift

Mike Friedrichsen · Martin F. Brunner (Herausgeber)

Perspektiven für die Publikumszeitschrift

Mit 86 Abbildungen und 31 Tabellen

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Prof. Dr. Mike Friedrichsen Universität Flensburg Munketoft 3b 24937 Flensburg friedrichsen@uni-flensburg.de Martin F. Brunner Hochallee 116 20149 Hamburg brunner [email protected]

ISBN 978-3-540-49434-8 Springer Berlin Heidelberg New York

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Gedruckt auf s¨ aurefreiem Papier

Vorwort

Die Publikumszeitschrift ist ein wichtiges Medium, trotz aller Medieninnovationen von großer Bedeutung im Alltag der Menschen und nach wie vor einer der wichtigsten Werbeträger. Außerdem ist die Publikumszeitschrift in vielen Fällen nicht nur ein physisches Produkt, sondern auch eine starke Marke, mit der Mediennutzer und Konsumenten spezifische Kompetenzen assoziieren und der sie einen aus der Erfahrung abgeleiteten Vertrauensvorsprung geben. Publikumszeitschriftenverlage nutzen ihre Marken entsprechend bereits seit langem auch für Angebote über die klassische Zeitschrift hinaus. Dies ist nicht zuletzt auch eine Reaktion auf die Erkenntnis, dass zukünftig im Print-Geschäft tendenziell stagnierende Umsätze zu erwarten sind. Es muss somit zwangsläufig vernetzter gedacht, Inhalte müssen über möglichst viele Kanäle verbreitet werden. Ungeachtet dessen ist die Ausgangslage beachtlich. Allein die Betrachtung der Absatzzahlen veranschaulicht die Bedeutung der Publikumszeitschrift: Im Jahre 2005 wurden in Deutschland rund 2,7 Mrd. Exemplare verkauft, bei über 3.000 Titeln. Nicht zuletzt finden sich darunter 147 neue Titel, die belegen, dass der Ruf eines besonders facettenreichen Marktes bei der Publikumszeitschrift sicherlich berechtigt ist. Rechnerisch hat jeder Deutsche ab sechs Jahren 34 Zeitschriften erworben. Doch der Druck zur Digitalisierung ist gestiegen – damit ist nicht gleich der Abschied vom Print-Produkt zu verknüpfen; vielmehr geht es um ganzheitliche, umfassende Angebote, die verschiedene Medienformen abdecken. Neueste Befragungen von Verlagshäusern haben ergeben, dass dem Internet dabei eine sehr wichtige Rolle zugestanden wird. In der Summe erwarten die Publikumszeitschriftenverlage aus dem Internet, mobilen Diensten und weiteren neuen Wachstumsfeldern in absehbarer Zukunft einen Anteil von 25 Prozent der Gesamterlöse. Neben den Entwicklungen im Kerngeschäft ist eine Begründung für die neue Investitionsbereitschaft sicherlich auch darin zu sehen, dass heute positive Cashflows im Online-Geschäft möglich sind. Das bedingt allerdings auch eine Anpassung der internen Strukturen und Abläufe. In vielen Verlagshäusern sind die Projekte für hoffnungsvolle Plattformen bereits in vollem Gange. Getrieben vom Internet ist auch der Wandel zu einer neuen Beteiligungsökonomie in ersten Ansätzen erkennbar. Vor allem junge Zielgrup-

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Vorwort

pen, für die interaktive Medienangebote fest zum Nutzungsalltag gehören, stehen dabei im Mittelpunkt des Interesses. Der Medienkonsument wird langfristig wohl vom aktive(re)n Nutzer ersetzt – dem die Publikumszeitschriftenverlage auch entsprechende Plattformen bieten müssen. Zur Publikumszeitschrift insgesamt und auch zu ihren angesprochenen Herausforderungen und Chancen liegen kaum Veröffentlichungen vor. Gewiss haben sowohl die betriebswirtschaftliche als auch die kommunikationswissenschaftliche Forschung bereits diverse Analysen und Studien beispielsweise zu neuen Geschäftsmodellen und zum Konsumentenverhalten im Kontext neuer Distributionswege für Medieninhalte hervorgebracht. In diesen und traditionell auch insgesamt stehen jedoch in der Regel die tagesaktuellen Medien im Mittelpunkt des Forschungsinteresses. Unser Sammelband will vor diesem Hintergrund auch dazu beitragen, eine offensichtlich bestehende Forschungslücke zu schließen. Entsprechend haben wir uns für einen auf Breite angelegten Sammelband entschieden – mit dem Anspruch, der Publikumszeitschrift in der Breite gerecht zu werden, um gleichermaßen einen aktuellen Zwischenstand wie auch eine Ausgangsbasis für vertiefende Forschungsarbeiten zu liefern. Aus dieser Entscheidung folgt das Konzept des Bandes: Perspektiven für möglichst viele Facetten der Publikumszeitschrift und des Publikumszeitschriftengeschäftes aufzeigen. Die dadurch entstehende „Uferlosigkeit“ sehen wir als zentrale Stärke des Bandes. Einen roten Faden und eine Struktur haben wir natürlich herausgearbeitet, grundsätzlich sehen wir den Band jedoch als „Reader“: eine eher lose Sammlung an Beiträgen, die explizit dazu einlädt, selektiv und springend gelesen zu werden – je nach individuellem Interesse. Vor diesem Hintergrund haben wir zwar auf ausreichende Abgrenzung der Beiträge geachtet, jedoch Ausführungen, die sich in mehreren Beiträgen wiederholen, z. B. Zahlen zur Marktentwicklung, beibehalten, wenn sie eine klare Funktion im Argumentationsfluss des einzelnen Beitrages übernehmen. *** Anstatt einer Einleitung haben wir als Auftakt den Beitrag von Bernd Buchholz ausgewählt, in dem er das Innovationsmanagement bei Gruner + Jahr vorstellt – und dabei schon viele Facetten des Publikumszeitschriftengeschäftes zusammenfassend berührt. Im ersten Teil beschäftigen wir uns mit Geschichte und Gegenwart des Publikumszeitschriftengeschäftes. Enno Dreppenstedt spannt den großen Rahmen, indem er herausragende Entwicklungen der letzten Jahrzehnte darstellt. Andreas Vogel liefert eine detaillierte Analyse einer der zentra-

Vorwort

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len Entwicklungen in der Publikumszeitschriftenwelt: der Segmentierung. Margit Dorn untersucht neu erschienene Wissensmagazine, und Kurt Otto schildert die Entstehungsgeschichte von View. Mit Robin MeyerLucht wenden wir uns der Markendehnung zu, indem er den Werdegang und die mittlerweile erreichte Überlegenheit von Spiegel Online nachvollzieht. Barbara Hamm und Eric Hegmann verallgemeinern, indem sie das Zusammenspiel von Internet und Publikumszeitschrift in einem größeren Rahmen Revue passieren lassen. Abschließend zeigen Karsten Kilian und Frauke Eckert am Beispiel Fit for Fun, wie eine Publikumszeitschriftenmarke auch außerhalb der medialen Heimat ihre Kraft entfalten kann. Der zweite Teil behandelt ausgewählte Grundlagen des Publikumszeitschriftengeschäftes. Johannes Ludwig analysiert die verschiedenen Geschäftsmodelle, die bei Zeitschriften allgemein zum Einsatz kommen. Franz-Rudolf Esch und Jan Eric Rempel setzen sich detailliert mit dem Konzept „Publikumszeitschriftenmarke“ auseinander und diskutieren insbesondere den Wert einer Publikumszeitschriftenmarke. Jürgen Althans bespricht Grundlagen, Teilbereiche und Perspektiven des Managements im Publikumszeitschriftenverlag. Abschließend gehen Tung Q. NguyenKhac sowie Matthias Kempf, Thilo von Pape und Thorsten Quandt auf grundsätzliche Herausforderungen im Publikumszeitschriftengeschäft ein: im ersten Beitrag mehr von der Markt-, im zweiten mehr von der Produktseite aus. Der dritte Teil stellt die klassische Publikumszeitschrift in den Mittelpunkt. Den Auftakt macht dabei Christoph Fasel, der ein Plädoyer für die gedruckte Publikumszeitschrift führt. Michael Haller und Andreas Eickelkamp diskutieren journalistische Präsentationsformen, die in Zeitschriften zum Einsatz kommen, allgemein und vertiefen diese Überlegungen für nutzwertjournalistische Präsentationsformen. Hans H. Hamer, David Löffler und Peter Gravier beschreiben die Line Extension als strategische Handlungsoption bei zunehmender Fragmentierung, indem sie Ziele und Vorgehen am Beispiel Auto Bild vorstellen. In den drei folgenden Beiträgen wenden wir uns den zentralen Erlösformen der klassischen Publikumszeitschrift zu: Uwe Henning und Martin Simon diskutieren Perspektiven für das Abonnement, Erwin Blank, Marco Graffitti und Ludwig von Jagow für den Einzelverkauf sowie Andreas Schilling und Marcel Reichart für die Publikumszeitschrift als Werbeträger und Instrument in der Markenkommunikation. Abschließend und zur Überleitung untersuchen Mike Friedrichsen und Astrid Kurad, ob und wann die klassische Publikumszeitschrift von einem universellen Medienformat abgelöst werden könnte.

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Vorwort

Im vierten Teil erweitern wir die Betrachtung über die Publikumszeitschrift hinaus. Schwerpunkt bilden die ersten fünf Beiträge, in denen jeweils eine Möglichkeit, das Publikumszeitschriftengeschäft über die klassische Publikumszeitschrift hinaus weiterzuentwickeln, allgemein diskutiert wird: Markenkooperationen im Fernsehen durch Simon Berkler und Melanie Krause, Online-Auftritte von Publikumszeitschriften durch Katrin Dirscherl und Wolfgang Eichhorn, das E-Paper durch Sascha Ebel, Angebote im mobilen Internet durch Jörg Aßmann und Klaus Täubrich sowie Markendehnung auf nichtmediale Produkte durch FranzRudolf Esch und Andrea Honal. Anschließend behandeln Patrick Rademacher und Gabriele Siegert sowie Frank Bachér und Carsten Schwecke ausgewählte neue Erlösquellen, die im Rahmen dieser Weiterentwicklung des Publikumszeitschriftengeschäftes eine Rolle spielen: erstens Paid Content und zweitens Crossmedia-Werbung. Anstatt einer Zusammenfassung geben Gregor Vogelsang und Michael Fischer einen abschließenden Überblick über Ansätze für die zukünftige Weiterentwicklung des Publikumszeitschriftengeschäftes. *** Dafür, dass wir diesen Band in diesem Umfang vorlegen können, danken wir an erster Stelle unseren Autorinnen und Autoren – schließlich haben sie die Kernarbeit geleistet. Uns ist bewusst, dass die Beiträge Zeiteinsatz parallel zu ganz unterschiedlichen Aufgaben forderten und so sicher zu einzelnen Zeitpunkten auch als Belastung empfunden worden sind. Nur durch die vielfache Bereitschaft, einen Beitrag zu übernehmen, haben wir die Perspektiven in der gewünschten Breite abdecken können. Wir haben uns sehr darüber gefreut, dass sich ganz unterschiedliche Experten überzeugen ließen, zu unserem Band beizutragen: Experten aus Praxis und Wissenschaft, Experten mit jahrzehntelanger Erfahrung, aber auch am Anfang ihrer beruflichen Entwicklung. So sind mit Blick auf die vielfältigen Diskussionen unterschiedlichste Positionen vertreten. Über Autorinnen und Autoren hinaus haben einzelne Personen großen Anteil daran, dass unser Band sich in vorliegender Gestalt und als Gesamtwerk „aus einem Guss“ präsentieren kann: x Karin Drenkow, Sekretärin am Lehrstuhl für Medienmanagement in Flensburg, die die Beiträge „gesetzt“ und das Projekt insgesamt auf organisatorischer Seite betreut hat. x Benjamin Bunte und Torsten Köhler, studentische Mitarbeiter am Lehrstuhl für Medienmanagement in Flensburg, die die Abbildungen in ein einheitliches Format überführt haben.

Vorwort

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x Tanja Brunner, die die Beiträge lektoriert und sprachlich-formale Konsistenz über die Beiträge hinweg hergestellt hat. x Karl-Heinz Wolfgang Brunner, der die Beiträge abschließend Korrektur gelesen hat. Weiterhin möchten wir uns auch bei unseren Familien und unseren privaten Umfeldern insgesamt für die Erduldung des Projektes bedanken – es hat in den vergangenen Monaten große Teile unserer Freizeit für sich beansprucht. Zu guter Letzt danken wir Niels Peter Thomas und dem SpringerVerlag für das in unseren Sammelband gesetzte Vertrauen und die gleichermaßen produktive wie auch angenehme Zusammenarbeit. Flensburg, im Oktober 2006 Mike Friedrichsen und Martin F. Brunner

Inhaltsverzeichnis

Anstatt einer Einleitung Bernd Buchholz Neue Wege des Innovationsmanagements bei Gruner + Jahr – Kreativität und Qualität gewinnen ............................. 3

Erster Teil

Das Publikumszeitschriftengeschäft gestern und heute Enno Dreppenstedt Das Publikumszeitschriftengeschäft von 1945 bis 2005 – Marktentwicklungen und Perspektiven................................................. 11 Andreas Vogel Der Trend zur Segmentierung geht dem Ende zu – die Publikumspresse gestern, heute, morgen............................................... 49 Margit Dorn Neuerscheinungen im Markt der Publikumspresse – Wissensmagazine ..................................................................................... 65

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Inhaltsverzeichnis

Kurt Otto View-Tagebuch – die Entstehungsgeschichte eines Magazins................................................................................................... 77 Robin Meyer-Lucht Das Wunder von Hamburg – wieso es ausgerechnet Spiegel Online gelang, sich als Deutschlands führende Nachrichtensite durchzusetzen ............................................................... 83 Barbara Hamm und Eric Hegmann Zeitreise – zwölf Jahre Publikumszeitschriften im Internet ..................................................................................................... 99 Karsten Kilian und Frauke Eckert Nichtmediale Markendiversifikation am Beispiel Fit for Fun .............................................................................................. 115

Zweiter Teil

Grundlagen des Publikumszeitschriftengeschäftes Johannes Ludwig Ökonomische Vielfalt – Geschäftsmodelle von Zeitschriften ........................................................................................... 129 Franz-Rudolf Esch und Jan Eric Rempel Der Wert einer Publikumszeitschriftenmarke.................................... 151 Jürgen Althans Den Publikumszeitschriftenverlag managen....................................... 173

Inhaltsverzeichnis

XIII

Tung Q. Nguyen-Khac Herausforderungen für Medienhäuser in crossmedialen Welten ..................................................................................................... 189 Matthias Kempf, Thilo von Pape und Thorsten Quandt Medieninnovationen – Herausforderungen und Chancen für die Publikumszeitschrift ................................................................. 209

Dritter Teil

Perspektiven für die klassische Publikumszeitschrift Christoph Fasel Totgesagte leben länger – ein Plädoyer für die gedruckte Publikumszeitschrift.............................................................................. 239 Michael Haller und Andreas Eickelkamp Perspektiven journalistischer Präsentationsformen in General Interest-Zeitschriften .............................................................. 247 Hans H. Hamer, David Löffler und Peter Gravier Line Extension als strategische Handlungsoption bei zunehmender Fragmentierung am Beispiel Auto Bild........................ 267 Uwe Henning und Martin Simon Vom Festbezug über das Abomarketing zum Kundenbeziehungsmanagement...........................................................289 Erwin Blank, Marco Graffitti und Ludwig von Jagow Perspektiven für den Einzelverkauf als Vertriebsform für die klassische Publikumszeitschrift ...................................................... 317

XIV

Inhaltsverzeichnis

Andreas Schilling und Marcel Reichart Vom Print-Titel zur Media Community – die Zukunft von Zeitschriften im digitalen Zeitalter ............................................... 331 Mike Friedrichsen und Astrid Kurad Universelle Medienformate – Paradigmenwechsel im Zeitschriftenmarkt................................................................................. 343

Vierter Teil

Perspektiven über die klassische Publikumszeitschrift hinaus Simon Berkler und Melanie Krause Zeitschriftenmarken im Fernsehen – mediale Kooperationen als Herausforderung an die Markenführung...................................................................................... 371 Katrin Dirscherl und Wolfgang Eichhorn Online-Auftritte von Publikumszeitschriften im World Wide Web ................................................................................... 391 Sascha Ebel E-Paper – eine Perspektive für die Publikumszeitschrift?................. 417 Jörg Aßmann und Klaus Täubrich Publikumszeitschriften im mobilen Internet....................................... 443 Franz-Rudolf Esch und Andrea Honal Publikumszeitschriftenmarken für nichtmediale Produkte ................................................................................................. 457

Inhaltsverzeichnis

XV

Patrick Rademacher und Gabriele Siegert Neue Erlösformen für Publikumszeitschriften – Kaufpreis und Medienmarke als Erfolgsfaktoren für Paid Content...........................................................................................483 Frank Bachér und Carsten Schwecke Crossmedia-Werbung – neue Erlöspotenziale für Publikumszeitschriften..........................................................................503

Anstatt einer Zusammenfassung Gregor Vogelsang und Michael Fischer Quo vadis Publikumszeitschrift? Ein Blick von außen ...................... 517

Herausgeber und Autoren..................................................................... 529

Anstatt einer Einleitung

Neue Wege des Innovationsmanagements bei Gruner + Jahr – Kreativität und Qualität gewinnen

Bernd Buchholz

Ist es heute möglich, ebenso erfolgreiche Zeitschriftenideen zu kreieren wie vor 40 Jahren, als Gruner + Jahr gegründet wurde? So bin ich vor einiger Zeit bei einer Diskussionsrunde mit Managern aus Werbeagenturen gefragt worden. Meine Antwort: prinzipiell ja! Auch wenn bereits damals vor gut 30 Jahren mit dem unerwartet großen Erfolg von Essen & Trinken der Markttrend in Richtung von immer mehr themen- und zielgruppenspezifischen Titeln im deutschen Zeitschriftenmarkt einsetzte. Als Folge der von uns ausgelösten Entwicklung ist der Markt heute bis in die kleinste Nische mit breiter Titelvielfalt segmentiert. Wir sollten darüber nicht lamentieren, sondern uns auf die zukünftigen Erwartungen unserer Leser konzentrieren. Wenn wir heute vom Wandel der Märkte, der Medien und der Notwendigkeit zum Change-Management sprechen, so deshalb, weil sich das Tempo, in dem Veränderungen stattfinden, erheblich beschleunigt hat. Wir alle leben heute in einem rasanten Informationszeitalter: Noch nie ist soviel Information auf so vielfältigen Wegen auf den Menschen eingestürmt wie heute. Und so, wie die Dinge stehen, wird sich die Entwicklung weiter beschleunigen. Unbestreitbar hat die heutige Informationstiefe und -breite einen wichtigen Einfluss auf die gesellschaftliche Entwicklung und auf das individuelle Befinden des einzelnen Bürgers. Rückblende auf die Gründung unseres Verlagshauses vor 40 Jahren: Als am 30. Juni 1965 die Verleger John Jahr und Dr. Gerd Bucerius ihre Verlage mit dem Drucker Richard Gruner zum Druck- und Verlagshaus Gruner + Jahr zusammenführten, sicherten sie damit den Erfolg ihrer Titel wie Stern und Zeit ebenso wie Brigitte, Schöner Wohnen und Capital gegen die damals übermächtige Konkurrenz des Springer-Verlages. Nur gemeinsam konnten sie bestehen.

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Bernd Buchholz

Die Gruner + Jahr-Gründungspartner legten damals mit dem Start des gemeinsamen Verlagshauses großen Wert auf die Andersartigkeit ihrer eigenen Verlagskultur. Abweichend von Verlagshäusern wie Axel Springer oder Bauer gab bei Gruner + Jahr nämlich kein Patriarch eine spezifische Weltanschauung für die journalistische Arbeit verbindlich vor. Die Liberalität und Qualität verkörperte sich im Engagement der einzelnen Gesellschafter und war Programm in einer „Addition von Objekten und sehr unterschiedlichen Auffassungen der Gesellschafter“, wie es damals im Spiegel zur Gründung von Gruner + Jahr hieß. Mit dieser Grundeinstellung des neuen Verlagsunternehmens wurde übrigens das noch heute bei Gruner + Jahr als eines der wesentlichen Unternehmensgrundsätze verankerte „Chefredakteursprinzip“ begründet. Und deshalb kommt es uns zentral auf die journalistische Qualität an, wie das bei Gruner + Jahr seit der Gründung im Jahre 1965 der Fall ist. Wir verstehen uns als ein qualitätsorientiertes Haus und sind damit gut gefahren. Daher ist „Quality matters“ der richtige Slogan für uns, mit dem wir die Botschaft unserer verlegerischen Haltung an unsere Marktpartner herantragen. Nur mit dieser Haltung werden wir auch die künftigen Herausforderungen meistern können. Das bedeutet in erster Linie, die journalistischen Stärken des Print-Mediums zu nutzen. Dort, wo das Fernsehen komplexe Zusammenhänge oder nutzwertorientierte Inhalte durch die taktgebundene, nicht vom Seher beeinflussbare Ausstrahlungsgeschwindigkeit nur flüchtig vermitteln kann, da müssen und werden unsere Titel ansetzen. Auf den erklärenden, vertiefenden Text, die Kraft des stehenden Bildes sowie die erklärende Grafik, die der Leser mit der individuell nötigen Zeit verarbeiten kann, kommt es an. Dies gilt ebenso für die handfeste, nachvollziehbare Nutzwertvermittlung im Special Interest-Bereich. Das alles muss eingängig, spannend und zugleich unterhaltsam, abwechslungsreich in der richtigen Mischung und Dramaturgie aufbereitet werden. Das ist für mich die Kunst des Blattmachens. Ich bin der festen Überzeugung, dass unsere Zeitschriften nur dann auf Dauer bestehen können, wenn journalistische Qualität das wichtigste Merkmal im Wettbewerb bleibt. Gut ausgebildete, engagierte Journalisten mit motivierenden Arbeitsbedingungen sind das wichtigste Erfolgsrezept für die Qualität unserer Zeitschriften. Journalistische Unabhängigkeit der Redaktionen und konsequente Ausrichtung auf den Leser bleiben für uns oberstes Gebot. Denn die Leser haben ein Gespür für journalistische Kompetenz und Originalität. Erfolgreich werden auf Dauer nur die Zeitschriften sein, die sich dem zunehmenden, im Fernsehen teilweise schon etablierten Verfall der Medien zu Promotion-Instrumenten und zur Oberflächlichkeit widersetzen.

Neue Wege des Innovationsmanagements bei Gruner + Jahr

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Allerdings haben sich die Rahmenbedingungen und Herausforderungen auf dem Publikumszeitschriftenmarkt in den letzten Jahren gravierend gewandelt. Wachsende Titelfülle in einem fragmentierten Gesamtmarkt, harte Preiskämpfe vor allem im Billigpreis-Segment – das sind die Herausforderungen für unsere Zeitschriftenpalette heute. Wir aber wollen uns daran nicht beteiligen, nun auch beliebige, austauschbare, massenorientierte Titel auf den Markt zu bringen. Wir wollen uns nicht in Preis-Kämpfen verzetteln, sondern wir setzen auf unseren Grundsatz der journalistischen Qualität. Nur damit können wir die Herausforderungen der Zukunft meistern. Wir haben bei Gruner + Jahr zu allen Zeiten an unsere Kreativität und Innovationskraft geglaubt: Und an guten Ideen ist heute bei uns sicher kein Mangel. Man hört in der Branche immer dann das Argument, dass der Markt angeblich voll sei, wenn einem selbst nicht mehr so Originelles einfällt. Das ist nicht unser Standpunkt. Unsere Zeitschrifteninnovationen brauchen den freien Raum für neue Ideen. Unsere Strategie orientiert sich eher an neuen Denkrichtungen in vielen großen Unternehmen, die intensiv über die Ursachen nachdenken, warum hier und da das klassische Marketing nach althergebrachter Weise einfach nicht mehr funktioniert. Sie nehmen die Daten ihrer Tracking-Analysen, wie z. B. sinkende Abverkäufe oder Sympathiewerte, nicht mehr nur hin, sondern suchen nach differenzierten, zukunftsorientierten Gründen, die im gesellschaftlichen Umfeld der Käufer und Verbraucher zu finden sind. Denn die klassische Marktforschung blickt meist eher in den Rückspiegel; wichtiger ist der Blick nach vorn, mit den Instrumenten der Trendforschung: Was wollen die Verbraucher von morgen? Diese fortschrittliche Denkhaltung der Wirtschaft ist auch unser Ansatz: Wir orientieren uns in unseren verlegerischen Überlegungen an gesellschaftlichen Veränderungen, die im weitesten Sinne Auswirkungen auf Veränderungen des Medieninteresses der Konsumenten haben. Innovationen erfordern vor diesem Hintergrund, in einem Großverlag wie Gruner + Jahr, ein kreatives Klima und eine flexible Organisation. Ein Großverlag läuft mit seiner Struktur grundsätzlich Gefahr, etwas bürokratischer zu sein und standardisierter an Themen heranzugehen. Das sind andere Bedingungen als bei Kreativen, die draußen in der Garagenfirma einfach so loslegen. Deshalb muss es für uns darum gehen, genau diese kreative Atmosphäre wieder in den Großverlag zu holen, fernab von bürokratischen Gepflogenheiten Raum für Kreativität zu schaffen. Der enorme Vorteil unserer Größe liegt dann darin, dass das kreative Potenzial im Hause groß ist. Als neues zentrales Element des Innovationsmanagements hat der Unternehmensbereich Zeitschriften Deutschland anstelle eines zentralen Ent-

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Bernd Buchholz

wicklungs-Chefredakteurs das „Innovation Council“ eingerichtet: ein regelmäßig tagendes Gremium, in das einige der Top-Journalisten des Hauses berufen wurden, sowie jeweils ein Verlagsmanager für den Vertriebsund Anzeigenmarkt. Es sind in diesem Team also unterschiedliche Temperamente, Talente, Erfahrungen und Kompetenzen versammelt. Es berät den Zeitschriftenvorstand umfassend in Fragen des Innovationsmanagements – von der Sichtung aller relevanten neuen Zeitschriftenideen und -konzepte über die ersten Potenzialeinschätzungen, die Entwicklung einer Probe- oder NullNummer bis hin zum Entscheidungsantrag im Gruner + Jahr-Vorstand. Das Innovation Council lebt von der Vielfalt der Erfahrungs- und Kompetenzbereiche seiner Mitglieder, ob als Journalisten oder Verlagsexperten. Damit lebt es auch von der intensiven und offenen Diskussion. Seine Organisation als Beratungsteam ist flexibel angelegt, stellt aber gleichzeitig sicher, dass keine interessante journalistische Idee ohne eine erste Plausibilitätsprüfung „durchs Rost“ fällt. Zusätzlich wird in einer Vielzahl thematischer Suchfelder permanent analysiert, welche Nutzenerwartungen Leser an die Zeitschriften von morgen haben. Die Mitglieder des Innovation Council begleiten als Mentoren die einzelnen Entwicklungsteams, die an konkreten Projektentwicklungen bis zur Marktreife sitzen. Das Innovation Council bewertet und fördert neue Zeitschriftenideen nach folgenden Kriterien: die journalistische Qualität auf der einen und die Wahrscheinlichkeit, dass das Konzept das Interesse von Lesern finden könnte, auf der anderen Seite. Die Meßlatte wird dann für alle weiteren Aspekte nach den Besonderheiten des jeweiligen Projektansatzes differenziert angelegt. Pauschale Kriterien sind wenig hilfreich, denn Innovationen lassen sich kaum nach einheitlichen Standards über einen Leisten scheren. Es geht dabei natürlich nicht ohne kaufmännischen Sachverstand. Aber die Idee ist, Projekte in der Frühphase nicht zu zerreden, sondern sie zunächst nach vorn zu bringen, wenn sie über das erforderliche Potenzial verfügen. Wenn wir allerdings Entwicklungsgelder investieren, muss sich die Idee am Ende tragen. Die Zeitschrifteneinführungen aus dem Jahre 2005 zeigen, dass an guten Ideen in unserem Hause kein Mangel herrscht und dass das Innovation Council hervorragend funktioniert: Es ist gelungen, neue überzeugende Konzepte für veränderte Informations- und Unterhaltungsbedürfnisse zu entdecken und marktreif zu entwickeln. Vier neue Zeitschriften wurden 2005 im Unternehmensbereich Zeitschriften Deutschland unter Einbeziehung des neuen Innovation Council entwickelt und erfolgreich eingeführt: View, Healthy Living, mit dem Gruner + Jahr seine Marktstellung im

Neue Wege des Innovationsmanagements bei Gruner + Jahr

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wachsenden Gesundheitssegment ausbaut, Park Avenue als Verstärkung im Luxussegment und VIVA! im Food-Segment. Künftig werden für die Wachstumsziele noch mehr neue Konzeptideen erforderlich, aus denen dann publizistische wie auch wirtschaftlich tragfähige Zeitschriften werden können. Die Aufgabe eines vorausschauenden Innovationsmanagement ist, die relevanten Megatrends mit neuen Zeitschriftenkonzepten zu verbinden, so wie es beispielsweise angesichts des wachsenden Wellness- und Gesundheitsbewusstseins mit dem Launch von Healthy Living und dem Ausbau der Line Extensions Stern Gesund Leben und Brigitte Balance mit Erfolg geschehen ist. Wenn sich verlegerische Intuition mit den Perspektiven der Trendforschung verbindet, dann kann das auch zu interessanten Zeitschriftenideen führen. Kreativität wird bei Gruner + Jahr nicht als ein Privileg von Chefredakteuren oder als ein Talent von Führungskräften verstanden. Sie ist eine Herausforderung für alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in Redaktionen und Verlagsabteilungen. Der 2005 gestartete interne Ideenwettbewerb RIO (redaktionelle Ideen-Olympiade) zeigt mit insgesamt 32 Konzeptideen von Redakteuren und Verlagsmitarbeitern, welche kreative Kraft in Gruner + Jahr steckt. Unser vorrangiges strategisches Ziel ist, vor allem junge Zielgruppen für das Print-Medium zu gewinnen: Wir wollen und müssen junge Menschen, die ganz anders als meine Generation primär mit elektronischen Medien aufwachsen, an das Zeitung-, Zeitschriften- und auch Bücherlesen heranführen, wie uns das mit Neon in besonderer Weise gelungen ist. Dies ist eine nicht ganz leichte, aber lohnende Aufgabe. Sie lässt sich knapp zusammenfassen in einem Zitat von Professor Dr. Elisabeth NoelleNeumann, Nestorin der deutschen Sozial- und Medienforschung sowie Gründerin des Institutes für Demoskopie Allensbach: „Nur eine Gesellschaft, die liest, denkt.“ Und wenn ich etwa Manager in der Wirtschaft oder auch Vertreter in Politik und Kultur frage, aus welchen Medien sie ihre qualifizierten politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Informationen beziehen, dann kenne ich die Antwort: Überwiegend stammen diese aus Zeitungen, Publikumszeitschriften, Fachzeitschriften und Büchern – ich bin fest davon überzeugt, das wird auch in Zukunft so bleiben. Denn: „Leaders are readers“ – was aber auch im umgekehrten Wortsinne gilt. Mein Fazit für Gruner + Jahr: Die Zukunftschancen für qualitätsorientierte Zeitschriften sind gut. Vor allem dann, wenn der Mut vorhanden ist für eine angemessene Fehlertoleranz in allen Phasen des Innovationsprozesses – ohne diese ist Innovationserfolg nicht denkbar, so dass wir es nicht als Imageverlust sehen würden, sollte auch einmal eine Entwicklung scheitern. Ehrgeiziges Wachstum ist nur durch uneingeschränkte Innovationsfreude möglich.

Erster Teil

Das Publikumszeitschriftengeschäft gestern und heute

Das Publikumszeitschriftengeschäft von 1945 bis 2005 – Marktentwicklungen und Perspektiven

Enno Dreppenstedt

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Vorbemerkungen

Das Ende des Zweiten Weltkriegs im Mai 1945 markierte für deutsche Medien und damit auch für die Presse die Stunde Null. Bis 1933 war das Deutsche Reich ein publizistisch hoch entwickeltes Land. Es gab z. B. über 4.000 selbständige Zeitungen.1 Ab 1930 begann die NSDAP mit dem Aufbau einer eigenen Parteipresse.2 Mit Verordnung des Reichspräsidenten vom 4. Februar 1933 „zum Schutz des deutschen Volkes“ wurde die Pressefreiheit endgültig beseitigt.2 Im März 1933 wurde das Reichspropaganda-Ministerium eingerichtet. Das Schriftleitergesetz vom 4. Oktober 1933 verpflichtete alle Journalisten allein auf den NS-Staat. Enteignungen von Verlagen und Druckereien waren an der Tagesordnung. Das totalitäre System hatte die freie private Presse liquidiert. Zeitgleich entwickelte es den Hörfunk (erste Ausstrahlungen: 1923/24) zum gefügigen Massenmedium. 1944 gab es noch 977 Zeitungen mit 25 Mio. Auflage.2 1945 bis 2005: ein markanter Zeitabschnitt, ohne Frage. Zeitangaben allein sind jedoch eher willkürlich, bleiben als Ordnungsbegriffe oder zur Definition von Entwicklungsphasen unzulänglich. Medienbezogene Entwicklungen sind stets auch mehrdimensional vernetzt – mit kulturellen, politischen, wirtschaftlichen, demographischen, rechtlichen und anderen Rahmenbedingungen, national und grenzüberschreitend. Die Bausteine, 1 2

Die deutschen Zeitungen in Zahlen und Daten 1986. Koszyk (1969), S. 76–97.

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Enno Dreppenstedt

die „Gene“, für mediale Entwicklungen und Perspektiven von heute und morgen haben stets ihre Wurzeln auch in der Vergangenheit. Regional konzentriere ich mich auf das Gebiet der Bundesrepublik Deutschland, wie 1949 begründet, und das ab Oktober 1990 vereinigte Deutschland. In den folgenden Ausführungen bewege ich mich überwiegend im Rahmen der Medienökonomie und des Marketing, speziell der Produktpolitik. Im Interesse der Vermittlung des breiten Spektrums von Entwicklungen auf dem Pressesektor wird hier und da eine eher kursorische Betrachtungsweise erforderlich sein. Punktuell wird es nicht ohne ein wenig Feuilleton gehen. In einigen Abschnitten werde ich über den vorgegebenen Themenrahmen „Publikumszeitschrift“ angesichts der Breite von Entwicklungen hinausgehen. Technische und juristische Aspekte werde ich nicht vertiefen.

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So begann es 1945: Lizenzpresse

Noch während des Kriegs machten sich die Alliierten Gedanken über die Medienpolitik im Nachkriegs-Deutschland. Briten und Amerikaner hatten sich auf ein Drei-Phasen-Modell verständigt:3 Gesetz Nr. 191 der Militärregierung vom 24. November 1944 (geändert am 12. Mai 1945) sah als ersten Schritt die Beseitigung aller deutschen Medien vor. Dann sollten für eine Übergangszeit Medien der Militärregierungen folgen; anschließend sollten unbelastete Deutsche Presselizenzen erhalten. De facto wurden diese Absichten nur bedingt befolgt. Schon am 24. Januar 1945, während noch gekämpft wurde, vertrauten die Amerikaner einem Deutschen die Herausgabe der Aachener Nachrichten an. Aachen wurde bald darauf Teil der britischen Besatzungszone, und die Herausgabe der Zeitung wurde mit der britischen Lizenz vom 19. Februar 19463 quasi „legalisiert“. Gleich nach Kriegsschluss erschienen die so genannten Heeresgruppen-Zeitungen, vierseitige Wochenblätter, die dem deutschen Volk „ein erstes Bild von sich selbst und seiner Lage, von seiner Wiederaufbauarbeit und von den Siegermächten“4 geben sollten. „In der britischen und amerikanischen Zone gab es insgesamt dreizehn Heeresgruppen-Zeitungen mit einer Auflage von drei Millionen Exemplaren, während zur selben Zeit in der Ostzone und in Berlin schon Zeitungen mit deutschen Herausgebern erschienen, die von der sowjetischen Militärverwaltung unterstützt und kontrolliert wurden.“4 Mitte 1945 kamen dann die ersten „richtigen“ Zeitungen der Alliierten heraus, 3 4

Koszyk (1995), S. 8 ff. Hurwitz (1965), S. 32.

Das Publikumszeitschriftengeschäft von 1945 bis 2005

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ganz in der Tradition des angloamerikanischen Journalismus – vornehmlich als Anschauungsmaterial für deutsche Verleger, z. B. Die Welt (britisch, 1953 von Axel Springer übernommen), Neue Rheinische Zeitung (britisch)5, Allgemeine Zeitung und vor allem Die neue Zeitung (amerikanisch). Die neue Zeitung bestand noch bis Anfang der 50er Jahre; sie hatte 1948 eine Auflage von 2 Mio. Exemplaren.6 Erster Feuilletonchef war übrigens Erich Kästner. „Damals, im Herbst 1945, hauste er in einem verfallenen Zimmer irgendwo in den Ruinen Münchens. Da klopfte eines Tages der amerikanische Sergeant Max W. Kraus von der amerikanischen ‚Informationskontrolldivision‘ [...] an die Tür: Ob Kästner die Feuilletonredaktion einer amerikanischen Zeitung für die deutsche Bevölkerung übernehmen wolle? Der wollte [...].“7 Ab etwa Mitte 1945 erhielten dann politisch unbelastete Deutsche Zeitungslizenzen mit der Absicht, so am Aufbau eines demokratischen Staats mitzuwirken. In der US-Zone erhielt die Frankfurter Rundschau die erste Lizenz (1. August 1945); in der britischen Zone die Braunschweiger Zeitung (8. Januar 1946).8 Auch in der sowjetisch besetzten Zone gab es einen Registrierungs- und Lizenzzwang (Befehl der Sowjetischen Militäradministration Nr. 19 vom 2. August 1945)9; die Politik führte hier bekanntlich bis zum Ende der DDR wieder zu einer Gleichschaltung der Medien. Hier noch ein paar Beispiele für Gründungen in der Phase der Lizenzpresse: 1946 erschien erstmalig Hörzu (Nr. 1: Programm vom 15.-21. Dezember, 30 Pfennig); ebenfalls 1946 Kicker (früher: Sportmagazin), Die Welt (2. April 1946, 20 Pfennig) und Das Auto (Dezember, 1,50 RM, später: Auto Motor und Sport)10; 1947 Der Spiegel (4. Januar 1947, 1 RM); 1948 Das Beste aus Reader‘s Digest, Bunte, Freundin, Für Sie, Quick, Der Stern (1. August 1948, 40 Pfennig), Weltbild, Wochenend. Gerd Bucerius, Mitbegründer der Wochenzeitung Die Zeit, über die Gründungsphase seines Blatts: „[...] Ende 1945 von der Britischen Besatzungsmacht die Lizenz für die Wochenzeitung Die Zeit bekamen, kam das in der Tat fast einer Erlaubnis gleich, Geld zu drucken. Denn die Lizenz bedeutete: Papier, Büroräume [...] eine Druckerei und Mitarbeiter [...]. Zwar hingen alle Lizenzierten an der Leine der Besatzungsmacht, die auch

5 6 7 8 9 10

Betz (1973), S. 193–195. Koszyk (1995), S. 8 ff. Gienow (1995), S. 45. Koszyk (1995), S. 8 ff. Koszyk u. Pruys (1981), S. 161–164. 50 Jahre Motor-Presse Stuttgart 1946–1996 (1996), S. 15.

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Enno Dreppenstedt

einmal das Papierkontingent der Zeit als Strafe für ‚unerlaubte Kritik‘ von 75.000 Auflage auf 25.000 kürzte und eine Nummer ausfallen ließ.“11 Mit Gründung der Bundesrepublik Deutschland am 24. Mai 1949 auf der Basis einer freiheitlich orientierten Verfassung endete der Lizenzzwang der drei westlichen Alliierten auf dem Gebiet der bisherigen drei Besatzungszonen („Trizonesien“). Es gab dann einen Boom an Zeitungsund Zeitschriftengründungen. Nun konnten auch bisher nicht zum Zug gekommene Altverleger wieder verlegerisch aktiv werden.

3

Verlag/Verleger

3.1

Zwischen Publizistik und Kommerz

Vielzitierte Arbeiten aus der Zeit vor dem Nationalsozialismus und danach auf dem Gebiet der Publizistik, der Zeitungskunde u. Ä. enthalten weiträumige Darlegungen über Wesensmerkmale der Presse und über „den“ Verleger, die noch weit in die Nachkriegsjahre hinein gelten: x Der Verleger von Presse verlegt danach ganz offenbar Zeitungen (Zeitschriften werden kaum hervorgekehrt). x Unausgesprochen klingt an: Der Verleger ist deutsch und männlichen Geschlechts. x Der Verleger bestimmt die publizistische Grundtendenz des Blatts und stellt die für die Realisierung des publizistischen Unternehmens nötigen Mittel zur Verfügung. x Vor allem mit Bezug auf meinungsbildende Presse ist von der Erfüllung eines demokratisch determinierten Öffentlichkeitsauftrags die Rede. x Die Redaktionsleistung, das publizistische Kernelement des Pressewesens, dominiert das Selbstverständnis der Verantwortlichen wie auch Arbeiten über die Presse. (Noch lange nach Kriegsende dominierte weiterhin die klassische Antinomie Redaktion – Verlag.) x Meinungs- und Pressefreiheit gilt es im Rahmen der demokratischen Gesetze gegen Eingriffe des Staats und andere Sonderinteressen zu schützen. Nur so kann die Presse ihren Grundauftrag, den „Öffentlichkeitsauftrag“, erfüllen. Pressefreiheit nach Art. 5 Grundgesetz deckt jegliche Publizistik im Rahmen der geltenden Gesetze ab; sie schließt den Anzeigenteil und die Pres11

Bucerius (1974), S. 50–51.

Das Publikumszeitschriftengeschäft von 1945 bis 2005

15

severbreitungsfreiheit ein. Trotz vieler Fachbücher und anderer Beiträge zum „Verleger“ bleibt der Begriff bis heute einigermaßen ungenau und überhöht. Das gilt auch für Veröffentlichungen von Verlegern über ihren Beruf. Immer noch klingt Roegeles Einwand von 1973 aktuell: „Eigentlich ist es erstaunlich, daß Parteien und Gewerkschaften, Verbände und Wissenschaftler eine Medienpolitik entwerfen, ohne Befunde über die Einstellung der Verleger, ihre Rolle im Zeitungsbetrieb, ihre Selbsteinschätzung und ihre Berufsperspektive zur Hand zu haben.“12 Roegele wurde an anderer Stelle aber doch ganz deutlich: „Der Verleger in unserer Gesellschaftsund Wirtschaftsordnung ist zunächst einmal Unternehmer, sei es auf eigene Rechnung, sei es als Beauftragter der Eigentümer.“13 Nach wie vor ist „Verleger“ kein Lehrberuf; belassen wir es also bei der etwas ungenauen Begriffslage. Der „Verlag“, der „Zeitungsbetrieb“, wurde in der Vergangenheit vornehmlich als technisch-organisatorischer, supplementärer Annex zur Hauptsache, der publizistischen Seite, abgehandelt bzw. empfunden. Kritisch äußerte sich dazu 1930 (!) bereits Oswald A. Kohut in einem kaum beachteten Fachbuch mit dem für seine Zeit fast lästerlichen Titel „Zeitungen und Zeitschriften als Handelsgut“14. Das auf andere Weise ebenfalls sehr verdienstvolle Buch „Kommunikations-Marketing – Die Technik journalistischer Anpassung“15 fand ebenfalls kaum Akzeptanz; die Kombination von Marketing und Journalismus muss damals wohl zusätzliches Unbehagen hervorgerufen haben. In der Dokumentation „50 Jahre Bundesverband Presse-Grosso“16 schrieb ich: „Ich erinnere mich auch, dass wir in einem Verlag in den 60er Jahren eine Abteilung, die eigentlich Marketing-Abteilung hätte heißen müssen, Abteilung Pressemarkt nannten, um nicht anzuecken; wir sehen aber andererseits, dass der Begriff Pressemarkt seither fester Bestandteil unseres Branchen-Jargons geworden ist.“ Der Wettbewerb der Medien – intramedial und intermedial – verschärfte sich in den 60er Jahren. 1954 erreichten die ersten öffentlich-rechtlichen Fernsehsendungen deutsche Wohnzimmer. War da ein neues Leitmedium im Entstehen? Nach einer Reihe von juristischen Grundsatzurteilen wurde 1984 privater Rundfunk (Hörfunk und Fernsehfunk) zugelassen. Hörfunk, das Massenmedium des Nationalsozialismus, nunmehr zunehmend dezentral organisiert, ist immer noch ein marktgerechtes Medium. 12 13 14 15 16

Roegele (1973a), S. 65. Roegele (1973b), S. 62. Kohut (1930). Kiock (1972). Dreppenstedt (2000), S. 30–33.

16

Enno Dreppenstedt

Die Verantwortlichen in den Verlagen spüren zum ersten Mal den Druck des Verdrängungswettbewerbs: Aus den vertrauten Anbietermärkten werden Käufermärkte. Anders gesagt: Das Angebot ist zunehmend größer als die Nachfrage. Es muss radikal umgedacht werden. Marketing, die neue Art der Unternehmensführung, kommt nun auch in der Verlagsbranche vermehrt zum Zug. 3.2

Vom „klassischen“ Eigentümer-Verleger zum angestellten Verlagsmanager

In den 70er Jahren begannen Verleger, die nach Kriegsende Verlagsunternehmen gegründet hatten, jüngeren Familienmitgliedern Platz zu machen (die so genannte Degenerationsphase).17 Verlage sind bis heute in Deutschland traditionell Familienunternehmen und eigentümergeführt (Mittelstandsunternehmen, auch im Selbstverständnis). Die Familiennachfolge brachte bzw. bringt oft andere, neue Sichtweisen ins Unternehmen: Ökonomisches Denken bzw. Denken in Marktkategorien und ein eher nüchternes Verhältnis zur publizistischen Komponente kennzeichnen die neue Führungsebene. Seit dieser Phase des Generationenwechsels kamen bzw. kommen auch zunehmend angestellte Manager, ebenfalls sehr stark an Ökonomie und Markt orientiert und an einem eher sachlichen Verhältnis zur publizistischen Seite des Verlags, in die Unternehmensführung. (All diese Tendenzen werden sich noch verstärken: Gerade in diesen Jahren findet der nächste Führungs-/Generationenwechsel statt. Es ist zu hoffen, dass damit ökonomische Gesichtspunkte nicht die Idee der publizistischen Kernkompetenz als Wertschöpfungsquelle überflügeln.) Aus dem klassischen Kräftebündel im Familienunternehmen – Familie, Führung, Kapital – wird hier in gewissem Umfang die Funktion Führung abgekoppelt. Wenn diese verlegerisch operierenden Manager/Vorstände auch oft über enorme Kompetenzen verfügen – Anteilseigner sind sie in aller Regel nicht. Kapitalfunktion und das damit verbundene unternehmerische Risiko verbleiben weitgehend in den Händen der Gründerfamilien bzw. in von ihnen gesteuerten Stiftungen. Das gilt selbst für die großen deutschen Verlagshäuser wie Bertelsmann, Gruner + Jahr, Springer, WAZ-Gruppe, Holtzbrinck, Bauer, Burda, Medien Union, Süddeutscher Verlag. Wie stark sich Gründer mit ihrem Verlag, ihrem Lebenswerk, identifizieren, zeigt sich auch in der Nachfolgeregelung durch Adoption: Der Mitgründer eines der größten deutschen Zeitungs- und Zeitschriftenunternehmen hat 1985 17

Gärtner (2006), S. 96–98.

Das Publikumszeitschriftengeschäft von 1945 bis 2005

17

einen leitenden Mitarbeiter adoptiert und als Verleger für seinen Anteil am Unternehmen eingesetzt. In einem anderen Fall (2005) adoptierte ein Verleger regionaler Tagespresse ebenfalls einen leitenden Mitarbeiter zur Regelung der Eigentümer-Nachfolge. 3.3

Vom „Bauchgefühl“ zu strategischen Geschäftsfeldern und Kernkompetenzen

Der Pressemarkt hat etwa Ende der 60er Jahre den Paradigmenwechsel des vorigen Jahrhunderts erfahren, dessen Entfaltung und Gültigkeit anhält. Dieser Wechsel in der Grundauffassung der Branche ist wie folgt zu beschreiben: x Nahezu unbedingte Orientierung der Redaktionsleistung an Leserbedürfnissen. x Strategisches Denken macht sich breit. Bewusst wird begonnen, Kerngeschäft und USP zukunftsorientiert zu entwickeln. x Das Bewusstsein entsteht, dass neben das bisherige Primat der publizistischen Funktion gleichberechtigt das ökonomische Prinzip, das Prinzip der Wirtschaftlichkeit, treten muss. Content, redaktionelle Leistung, hat in diesem Paradigmenwechsel einen nie gekannten Stellenwert erlangt. Enorm gestiegene Ansprüche von Rezipienten an Content-Qualität, -Quantität und -„Ubiquität“ beschleunigen diesen Prozess. Die noch in den 80er Jahren gepflegte Auffassung von Redakteuren, für sich selbst bzw. aus Spaß oder gar mit „Bauchgefühl“ zu schreiben, wird endlich Geschichte. Im Hinblick auf Leserpotenziale gilt: „Look where the eyeballs go.“ Die Forderung nach Professionalität und Seriosität in der Redaktionsarbeit – dem Kern des medialen Tuns – ist geblieben, jedoch auf weit höherem Niveau als je zuvor. Längst werden Redaktionsverantwortliche in ökonomische Überlegungen bzw. Planungen der Verlagsführung einbezogen und konsequent in Mitverantwortung genommen: Mäßiger Geschäftsgang zieht vielfach die Trennung vom Chefredakteur nach sich. Strategien und Marketing sind für alle marktorientierten Verlagsbereiche einschließlich Redaktion Pflicht geworden. Eine Binsenweisheit wird Norm: Wenn die Redaktionsleistung nicht stimmt, können die anderen marktorientierten Verlagsbereiche allein den Markterfolg des Blatts auch nicht erbringen. Ohne nachhaltigen wirtschaftlichen Erfolg ist der privatwirtschaftlich geführte Verlag aber nicht lebensfähig.

18

Enno Dreppenstedt

3.4

Publizität der Unternehmen

Hinsichtlich der Wahl der Unternehmungsform gilt tendenziell noch heute, was ich 1969 formulierte: „Sowohl bei den Zeitungen wie bei den Publikumszeitschriften dominieren Unternehmungsformen, die nicht zur Publizität verpflichtet sind.“18 Aktiengesellschaften, die dem deutschen Aktienrecht in vollem Umfang unterworfen wären, sind immer noch unbekannt. Selbst zwei umsatzstarke Medienunternehmen, die sich AG nennen und vorbildliche UnternehmensBerichterstattung betreiben, sind keine „richtigen“ AGs: x Axel Springer AG: Die Aktienmehrheit ist familienkontrolliert. An der Börse sind vinkulierte Namensaktien (die Gesellschaft möchte so unerwünschte Aktionäre vermeiden). x Bertelsmann AG: Eines der größten Medienunternehmen ist nicht börsennotiert. Gehandelt werden – ursprünglich als Gewinnbeteiligung für Mitarbeiter gedachte – Genussscheine, die „zur Liquiditätsbeschaffung und Steuerersparnis“19 eingeführt wurden. „75% der Stimmrechte werden von der Bertelsmann Verwaltungsgesellschaft (BVG) ausgeübt.“20 Einige wenige andere AGs auf dem Sektor Presseunternehmen sind ebenfalls nicht börsengängig. Im Gegensatz z. B. zu den USA und England gibt es hier also (noch) keine börsengetriebenen Verleger bzw. Verlagsmanager. 3.5

Finanzierung: zwischen Personalkredit und Private Equity

Verlage sind seit jeher in Finanzfragen diskret. Auch nach dem Zweiten Weltkrieg nutzten Verlage für Investitionsvorhaben bzw. Expansion Eigenmittel, die bei den über die Jahrzehnte vielfach zweistelligen Umsatzrenditen unschwer thesauriert werden konnten. Wenn das nicht reichte, bot die mit dem Verlag verbundene Hausbank zusätzlichen Finanzspielraum. Im Selbstverständnis ragt das Stichwort „mittelständisches Unternehmen“ bis in die Neuzeit, obwohl in den 90er Jahren in Einzelfällen schon von „Medienindustrie“ die Rede war.

18 19 20

Dreppenstedt (1969), S. 19–21. Kapitalbeschaffung: Trickreiche Riesen (1986), S. 82. www.bertelsmann.com/bertelsmann_corp. Stand: 24. Januar 2006. Laut Pressemitteilung vom 25. Mai 2006 kauft Bertelsmann den 25 Prozent-Anteil seines Gesellschafters GBL zum 1. Juli 2006 zurück (siehe auch Tabelle 1).

Das Publikumszeitschriftengeschäft von 1945 bis 2005

19

Über die gegenwärtige Finanzierungssituation der Verlage wurde kürzlich eine Untersuchung vorgelegt.21 Die Befragungsergebnisse zeigen u. a.: Die meisten Verlage haben selbst die zum Teil dramatischen Umsatz- und Ergebniseinbrüche der letzten fünf bis sechs Jahre durch striktes Kostenmanagement begrenzen können; sie glauben auch, dass anhaltende Schwierigkeiten aus eigener Kraft zu bewältigen sind. Die Eigenkapitalausstattung ist auch in der Verlagsbranche im internationalen Vergleich traditionell gering. In Ergänzung zum Eigenkapital hat auch in Zukunft die klassische Bankfinanzierung den höchsten Stellenwert (kleinere Verlage haben relativ größere Schwierigkeiten in der finanziellen Zukunftssicherung). Etwa ein Fünftel der befragten Verlage zieht die Aufnahme eines strategischen Partners zur Verbesserung der Eigenkapitalsituation in Erwägung. Finanzinvestoren hingegen spielen eine untergeordnete Rolle. So weit die VDZ-Untersuchung. Finanzinvestoren wie z. B. Private Equity-Unternehmen treten in den letzten Jahren als (vorübergehende) Eigentümer bzw. Gesellschafter von Unternehmen in etlichen Wirtschaftszweigen auf. Bei vollständiger Übernahme von Unternehmen ist in der Regel das Ziel, nach oft radikaler Rationalisierung und gewinnträchtiger Neuaufstellung von Kerngeschäften längstens mittelfristig mit deutlichem Gewinn wieder zu verkaufen („exit“) – für die Verlagsbranche, traditionsbewusst und personen-/familienorientiert, so gut wie „undenkbar“. Und doch: In einigen Fällen sind vor allem ausländische Finanzinvestoren, scheinbar kaum beachtet, bereits in der Branche angekommen. Tabelle 1. Finanzinvestoren mit Beteiligungen an deutschen Verlagen Verlag Berliner Verlag (Zeitungen)a

Finanzinvestor/Anteil am Unternehmen Veronis Suhler Stevenson (USA), Canada Pension Plan, New York Life, Mecom (UK); die Investoren haben eine deutsche Zeitungsholding gegründet. 100%. Bertelsmannb Groupe Bruxelles Lambert GBL. 25,1% (0,1% stimmrechtlos). Verlagsgruppe Bertels- Cinven and Candover (UK). mannSpringerc (Fachzeit- 100%. (2004 verschmelzen Cinven and schriften) Candover die Verlagsgruppe mit ihrer Beteiligungsgesellschaft Wolters Kluwer Academic Publishers Dr. Haasd (Mannheimer Unternehmensbeteiligungsges. BWK Morgen) GmbH, Stuttgart. 36%.

21

Seit Ende 2005

Juli 2001 Herbst 2003

Ca. 1988

Finanzierungssituation der Verlagsbranche – Status und Zukunft (2005).

20

Enno Dreppenstedt

Morgenpost Verlage Veronis Suhler Stevenson, Mecom (über Anfang (Hamburger Morgenpost) Zeitungsholding, siehe Berliner Verlag). 2006 100%. Kieler Zeitungf (Kieler Hanseatische Verlags-Beteiligungs AG, Nachrichten) Hamburg. 24,5%. Lübecker Nachrichtenf Hanseatische Verlags-Beteiligungs AG, Hamburg. 24%. Axel Springerg Hellman & Friedman (USA). 19,4%. Okt. 2003 Michael Lewis (Oceana Retail Holding, Anfang Axel Springerh UK). 3%. 2006 a Buyout (2005) und Tacheles (2005). b www.bertelsmann.com (24. Januar 2006). Zum 1. Juli 2006 kaufte Bertelsmann den GBL-Anteil für 4,5 Mrd. € zurück (Pressemitteilung vom 25. Mai 2006). Mein Kommentar: 4,5 Mrd. € für die Wiederherstellung des Familienunternehmens, zur Verhinderung eines Börsengangs (25%!) und zur Sicherung der „Kontinuität unserer Unternehmenskultur“ und des „größtmöglichen Handlungsspielraums“ – wären strategische Zukäufe im operativen Geschäft für ein im globalen Wettbewerb stehendes Medienunternehmen nicht die stärkere Option? c BertelsmannSpringer wechselt Besitzer (2003). d Mannheimer Morgen mit 39 Mio. Euro Umsatz (2005). e Kartellamt genehmigt „Mopo“-Übernahme (2006). f Medien-HVB steigerte Ergebnis auf 2,75 Mio. (2005). g US-Finanzinvestor steigt bei Axel Springer ein (2003). h Der Freund aus London (2006).

Finanzinvestoren finden sich auch in anderen Mediensektoren: Ende 2005 übernahm z. B. eine Gruppe von US-amerikanischen (darunter Hellman & Friedman) und englischen Investoren die Fernsehsendergruppe ProSiebenSat1. Die Kabelnetzbetreiber KDG Kabel Deutschland und Unity Media (mit neu gegründetem Tochterunternehmen Arena, einem Programmanbieter) gehören angelsächsischen Investoren. Auch Kabel BW gehört Finanzinvestoren (nach der US-Firma Blackstone: EQT, Schweden). Beim Kindersender RTV Family Entertainment bestimmt ein österreichischer Investor. Übernahmen bzw. Fusionen und Joint Ventures unter Mitwirkung ausländischer Finanzinvestoren werden auf dem deutschen Medienmarkt, intra- und intermediär, eher zunehmen – nicht zuletzt begünstigt durch die anhaltende Kartellamtspraxis: Unter Aspekten wie Marktbeherrschung bzw. Wettbewerbsbeschränkung geraten investitionswillige deutsche Medienunternehmen leicht in kritische Anteilsdimensionen in relevanten Inlandsmärkten. Allein deshalb ist das grundsätzliche Überdenken traditioneller Verlagsgeschäftsmodelle zwingend geworden: Zukunftsweisendes,

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strategiebestimmendes Unternehmensziel müssen vor allem internes Wachstum und bzw. oder Internationalisierung sein. Die Frage der Finanzierung zukünftiger Aktivitäten ist für Verlage ganz sicher wichtig; zukunftsorientierte Unternehmensführung – durch Familienmitglieder oder durch angestellte Manager – scheint mir die viel wichtigere zu sein. In diesem Zusammenhang könnten Elite- bzw. Exzellenzinitiativen weiterhelfen. Inwieweit Finanzinvestoren Verlagen in anstehenden Konversions- bzw. Wachstumsprozessen nützen könnten, bedarf sicherlich noch der Diskussion. Bei der in vielen Verlagen gegebenen Familienorientierung und dem Bedürfnis, für nachhaltige Sicherung des Lebenswerks und damit für die Sicherung der Tendenz der Presseprodukte sowie deren innerer Pressefreiheit zu sorgen, sind Skepsis und Zweifel in Bezug auf Finanzinvestoren und deren Hang zum schnellen „exit“ wohl noch zu groß. 3.6

Exkurs: Chancen für die Zeitung

Bei Zeitungen ist der gesellschaftliche bzw. mediale Strukturwandel anders als bei Zeitschriften aufgenommen worden. Vielleicht hatten erfreuliche Umsatzrenditen der meisten (Regional-) Zeitungen die Sicht auf den Wettbewerbsdruck hier und da verstellt. Funktion und Agieren des Mediums Zeitung in Märkten stehen seit vielen Jahren deutlich in der Kritik. Auch an strategischen Vorschlägen fehlte es über die letzten Jahrzehnte nicht.22 Natürlich sind auch die Zeitungsverlage im Internet vertreten. ReDesign und Formatumstellung (Tabloid) sowie Schritte in Richtung horizontale Diversifikation werden seit Jahren diskutiert und auch realisiert. Zunehmend wird erwogen, bald mit (regionalen) Gratisblättern in den Markt zu gehen. Seit Jahren ist auch zu beobachten, dass Zeitungen nicht nur in den Redaktionsspalten, sondern erst recht durch Zusatznutzen wie Supplements und andere Publikationen (One-Shots, Periodika usw.) immer mehr Zeitschriftenelemente aufgreifen. Die Suche nach wirklich tragfähigen Strategien und zukunftsträchtigen Geschäftsmodellen hält jedoch an. Dabei müsste vorrangig die Funktion der Zeitung als Content Provider für andere Medienplattformen, für „Community Building“ deutlich stärker überdacht werden. Vielleicht werden eines Tags Private Equity-Unternehmen den fälligen Strukturwandel der Branche sogar noch beflügeln.

22

Jarren (1992), S. 34.

22

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4

Allgemeine Marktentwicklungen

4.1

Wachsende Konkurrenz der Medien bringt Wandel in der Mediennutzung

Spätestens seit den 60er und den beginnenden 70er Jahren sind die Zeiten der Anbietermärkte vorbei: Ein früher nicht gekannter Wettbewerb aller Medien untereinander bestimmt seither das Marktgeschehen. Ziele, Strategien, Taktiken und Organisationen sind marketingorientiert weiterentwickelt worden. Im Kern kämpfen alle Medien als Informationsträger um einen Anteil am Zeitbudget der Rezipienten, die das Medienangebot zunehmend selektiv nutzen bzw. optimieren. Das Auftreten neuartiger Freizeitmedien verschärft diese Entwicklung zusätzlich. Kein Weg führt daran vorbei, dass Presse als Informations- und als Werbeträger positive Betriebsergebnisse erwirtschaften muss. Falls das nicht nachhaltig gelingt, scheidet das Medium bzw. der Marktteilnehmer im Normalfall aus dem Marktgeschehen aus. Mit Beginn der 60er Jahre beginnt auch ein fundamentaler Wandel in der Struktur der Marktteilnehmer auf der Ebene der Verlage: Der „klassische“ Verlag/Verleger verliert seine traditionelle Alleinstellung als PrintAnbieter – andere „Content Provider“ bestreiten zunehmend angestammte Verlagsmärkte. Wandel im Zeitbudget der Rezipienten

Hier geht es um die Nachfrage nach Medien als Informationsträger und speziell um die Wirkung zunehmender Medienvielfalt auf die zeitliche Mediennutzung durch Rezipienten unter besonderer Berücksichtigung der Publikumszeitschriften. Die am längsten laufende Zeitbudgetstudie in der Kommunikationsforschung wird von ARD/ZDF vorgelegt.23 In dieser Studie wird die Mediennutzung pro Tag24 in Minuten für Personen im Alter von 14 Jahren aufwärts erhoben. Das gesamte Zeitbudget für Mediennutzung nahm demnach von 1980 bis 2005 um 73 Prozent zu. Fernsehen (+ 76 Prozent) und Hörfunk (+ 64 Prozent) sind in etwa mitgewachsen. Die Tageszeitung (- 26 Prozent) hat deutlich verloren. Bücher haben nach zwischenzeitlichen Verlusten wieder leicht zulegen können. Das Internet ist mit einem Anteil von 7,3 Prozent 23 24

van Eimeren u. Ridder (2005), S. 490–504. Montag bis Samstag, 5 bis 24 Uhr; ab 1990 Montag bis Sonntag.

Das Publikumszeitschriftengeschäft von 1945 bis 2005

23

neuerdings (2005) erkennbar im Kommen. Zeitschriften (im Wesentlichen Publikumszeitschriften) haben das Zeitvolumen in etwa halten können (+ 9 Prozent), ihr relativer Anteil am Gesamtzeitbudget sank jedoch von 3,2 auf 2 Prozent. Tabelle 2. Mediennutzung pro Tag, in Minuten Medium Fernsehen Hörfunk Tageszeitung Zeitschriften Bücher CD, LP, MC, MP3 Video, DVD Internet Gesamt a tagesaktuelle Medien

1970a 113 73 35

1980 125 135 38 11 22 15 346

1990 135 170 28 11 18 14 4 380

2000 185 206 30 10 18 36 4 13 502

2005 220 221 28 12 25 45 5 44 600

Eine umfassende Bewertung von Medien erfordert im Übrigen eine mehrdimensionale Betrachtungsweise, in die zusätzlich u. a. kommunikative Qualitäten, Medienkompetenz und Medienimage einbezogen werden. Wandel in der Media-Planung der Werbungtreibenden

Hier geht es um die Nachfrage nach Medien als Werbeträger, um die Streuung der Werbeetats nach Mediengattungen im Zeitablauf. Besonderes Augenmerk wird wieder auf die Publikumszeitschriften gerichtet. Der Zentralverband der deutschen Werbewirtschaft (ZAW) veröffentlicht seit Jahrzehnten die Werbeeinnahmen erfassbarer Werbeträger in Deutschland (Streukosten; keine Produktionskosten). Zur Methodik nur so viel: Erfasst wird hauptsächlich überregionale Werbung, nicht jedoch regionale und lokale Werbung von Tageszeitungen (Rubriken). Die ZAWStatistiken sind also gewissen Restriktionen unterworfen. Der Anteil der Print-Medien (Tageszeitungen, Publikums-, Fachzeitschriften, Wochen-/Sonntagszeitungen, Zeitungs-Supplements) am ZAWerfassten Werbeaufkommen sank von 1980 bis 2004 von 67,5 auf 38,5 Prozent. Der Anteil der Publikumszeitschriften sank von 20,4 auf 9,4 Prozent. Dabei hatte sich das gesamte Werbeaufkommen von 1980 bis 2004 mehr als verdreifacht.

24

Enno Dreppenstedt

Tabelle 3. Netto-Werbeumsätze ausgewählter Werbeträger25 Werbeträger 1980a 1990b Tageszeitungen 2.704 4.123 Fernsehen 572 1.413 Werbung per Post 675 1.531 Publikumszeitschriften 1.229 1.565 Anzeigenblätter k.A. 1.005 Verzeichnis-Medien 242 701 Fachzeitschriften k.A. 992 Außenwerbung 216 348 Hörfunk 203 454 Wochen-/Sonntagszeitungen 105 181 Online-Angebote Filmtheater 52 110 Zeitungs-Supplement 35 111 Gesamt 6.033 12.534 a Werbung ’81 (ZAW), S. 14. b Werbung in Deutschland 1991 (ZAW), S. 17. c Werbung in Deutschland 2003 (ZAW), S. 13. d www.interverband.com (ZAW), 21. April 2006.

2000c 6.557 4.709 3.383 2.247 1.792 1.268 1.267 746 733 278 153 175 68 23.376

2004d 4.501 3.860 3.398 1.839 1.836 1.196 865 720 619 246 271 147 90 19.588

Die Nachfrage nach Medien als Werbeträger wurde und wird aber nicht nur durch die Zunahme der Medienvielfalt beeinflusst, sondern auch durch andere – endogene und exogene – Einflüsse und Motivationen wie beispielsweise: x gebremste Wirtschaftskonjunktur seit den 90er Jahren und steigende Arbeitslosigkeit (Einflüsse auf Haushaltseinkommen und Ausgabenverhalten der Haushalte usw.) x (branchenfremde) Anbieter im Internet sorgen in den 90er Jahren für krasse Einbrüche im Rubrikengeschäft der Zeitungen (KFZ-, Touristik-, Stellen-, Veranstaltungsmarkt); auch alle anderen „alten“ Medien sind betroffen x Einstellungen der Werbungtreibenden zu Funktionalität und Kompetenz/Image von Medien (auch im Media-Mix) schwanken mittelfristig – mit Auswirkungen auf die Etatvergabe; selbst modeartige Medienvorlieben von Werbungtreibenden und ihren Werbemittlern sind zu beobachten (z. B. Fernseh-Hype Ende der 80er und in den 90er Jahren, Wortgetöse um Werbung im Internet seit den 90er Jahren)

25

In Mio. Euro; 1980 und 1990: in Euro umgerechnet (Umrechnungsfaktor 1 Euro = 1,95583 DM).

Das Publikumszeitschriftengeschäft von 1945 bis 2005

25

Die Dimensionen einzelner, sich überlagernder Einflüsse auf die Nachfrage nach Werbeträgern sind schwer nachweisbar. Deutlich wird, dass die Bewertung qualitativer und quantitativer Media-Eigenschaften mit Bezug auf Media-Planung sehr professionell gehandhabt sein will. „Big is beautiful“ ist auf keinen Fall der geeignete Ratgeber: Auch Medien, deren Anteile am gesamten Werbeaufkommen minimal erscheinen, können für die Lösung von Kommunikationsaufgaben bestimmter Produkt- und Dienstleistungsanbieter besonders geeignet sein. Auch hier sind mehrdimensionale Planungsansätze erforderlich. 4.2

Funkmedien als „Verleger“

Als Seiteneinsteiger sind hier vornehmlich Fernsehsender mit zwei Produktgruppen im Verlagsgeschäft aktiv: Zeitschriften und Sonderhefte zu Fernsehserien bzw. -sendungen sowie Service-Magazine (z. B. Programmzeitschriften). Hier einige Beispiele: x Sendungsbegleitende Magazine: Welt der Wunder (RTL II) und Popstars (ProSieben) erscheinen in der Heinrich Bauer Verlagsgruppe; Big Brother (RTL II) erscheint bei Egmont-Ehapa; Gute Zeiten – Schlechte Zeiten (RTL) erscheint bei Panini. x Programmzeitschriften wie z. B. Arte TV-Magazin. Ziel ist hier die crossmediale Vermarktung (horizontale Diversifikation) starker Marken (Sendungsformat bzw. Sendername). 4.3

Medienferne Seiteneinsteiger als „Verleger“

Seiteneinsteiger, die Unternehmensziele auf medienfernen Geschäftsfeldern verfolgen, bringen inzwischen zum Teil professionell gemachte Zeitschriften in Themenfeldern heraus, in denen „klassische“ Verleger längst mit Publikumszeitschriften (erfolgreich) vertreten sind. Auch diese Seiteneinsteiger ziehen Teile des Medienzeitbudgets der Rezipienten und der Werbeetats auf sich. Ihre Zeitschriften sind Maßnahmen im Rahmen der Kommunikationspolitik als Teil der Marketingpolitik. Ziele sind z. B. Imagepflege, Kundenservice und Kundenbindung. Corporate Publishing wird dieser Mediensektor genannt (ursprünglich: Kundenzeitschriften). Auch „klassische“ Verlage sind mit eigens für diese Zwecke gegründeten Tochterfirmen bzw. Units als Full Service-Dienstleister tätig (z. B. Bertelsmann, Burda, Gruner + Jahr, Handelsblatt-Gruppe, Hoffmann und

26

Enno Dreppenstedt

Campe). Das Marktsegment ist kaum überschaubar; rund 3.500 Titel werden für 2004 genannt.26 Zu den medienfernen Seiteneinsteigern als Verleger gehört auch die SPD, die seit über 150 Jahren über Verlage (Zeitschriften und Zeitungen) und Druckereien verfügt. Enteignungen in der Zeit des Nationalsozialismus und wirtschaftlicher Niedergang der Parteipresse in der Nachkriegszeit haben die Verlagssubstanz weitgehend vernichtet. Reste daraus und vor allem neue, ergiebige Zeitungsbeteiligungen sind in der DDVG Deutsche Druck und Verlagsgesellschaft mbH27 zusammengefasst. Zu den Zeitungsbeteiligungen (u. a. Frankenpost, Hannoversche Allgemeine, Sächsische Zeitung) kam die SPD-Holding durch Verkäufe von Zeitungssubstanz an Zeitungsverlage sowie über Rückerstattungen durch die Treuhandgesellschaft nach der Vereinigung der beiden deutschen Staaten. 4.4

Ausländische Verlage in Deutschland

Auch ausländische Verleger sind in Deutschland aktiv (am längsten wohl Reader’s Digest) – in einem hoch entwickelten, scheinbar gesättigten Medienmarkt also. Die Internationalisierungsstrategien ausländischer Verleger sind identisch mit den Vorgehensweisen deutscher Verlage (siehe Unterabschnitt 5.2). Angesichts ständiger Veränderungen im Medienmarkt ist eine vollständige Momentaufnahme kaum möglich. Ich beschränke mich auf ausgewählte Unternehmen/Organisationen, die in Deutschland seit etwa 1990 mit (Publikums-) Zeitschriften einschließlich Special Interest-Titeln aktiv sind bzw. waren: Tabelle 4. Ausländische Verlage in Deutschland Ausländischer Verlag De Agostini Spa Bonnier AB

Verlagssitz

Produkte in Deutschland (Auswahl) Novarra/Rom (Italien) Special Interest, Partworks Stockholm Fachzeitschriften, Special In(Schweden) terest, (Bücher) Manhasset (USA) PC-Magazine New York (USA) Vogue u. a. (Special Interest)

CMP Media Condé Nast Publications (= Advance Publications) Dennis Publishing London (UK) Disney Publishing (= Walt Anaheim (USA) Disney)

26 27

Die Brücke zum Kunden (2006). Danker (2002) sowie www.ddvg.de (2005).

Maxim u. a. Donald Duck u. a.

Das Publikumszeitschriftengeschäft von 1945 bis 2005 Dow Jones

New York (USA)

Drake Publications Emap

New York (USA) Peterborough (UK)

Egmont H. Petersen Foundation Forbes Future Publishing

Kopenhagen (Dänemark) New York (USA) Bath (UK)

Hachette Filipacchi Médias Paris (Frankreich) (= Lagardère SCA) Harvard Business School Boston (USA) Publishing Haymarket Publishing London (UK)

27

Kooperation mit Wirtschaftspresse Playgirl u. a. Special Interest Fachzeitschriften, Special Interest Kinder-, Jugend-, Comicu. a. Special Interest-Titel Forbes Special Interest-Titel (PC/Video) Elle, Elle Girl u. a. Special Interest-Titel Harvard Business Manager

Harlequin Enterprises Hearst IDG International Data Group Groupe Marie Claire (= Provoust 58%, Hachette Filipacchi Médias 42%) Marshall Cavendish Marquard Media McGraw-Hill Company National Geographic Society North South Publishing Panini SpA The Penthouse Media Group Perry Publications Playboy Enterprises Reader’s Digest Reed Elsevier Ringier

Don Mills (Kanada) New York (USA) Boston (USA)

Special Interest- und Fachzeitschriften Romanheft-Reihen Special Interest-Titel PC-Titel

Paris (Frankreich)

Marie Claire

London (UK) Zug (Schweiz) New York (USA) Washington, DC (USA) London (UK) Modena (Italien) New York (USA)

Faktor X, Partworks Joy, PC Games ManagerMagazin National Geographic (D)

London (UK) Chicago (USA) Pleasantville (USA) London (UK) Zürich (Schweiz)

RCS Media Group Rodale

Mailand (Italien) Emmaus (USA)

Technology Review (= MIT-Unternehmen) Time (= Time Warner) Tokyopop K. K. VNU

Cambridge (USA)

Business Traveller Playboy Reader’s Digest (D) Fachzeitschriften Cicero, Monopol, Special Interest Amica, TV Spielfilm Men’s Health u. a. Special Interest-Titel Technology Review

Special Interest-Titel Jugend-, Frauenzeitschriften Penthouse

New York (USA) InStyle Tokyo (Japan) Manga-Comics Haarlem (Niederlande) PC-Titel

28

Enno Dreppenstedt

Weider Publications (= American Media) Wenner Media LLC John Wiley & Sons Wolters Kluwer

5

New York (USA)

Shape

New York (USA) New York (USA) Amsterdam (Niederlande)

Rolling Stone Naturwissenschaftliche Titel Fachzeitschriften

Bedeutende produktpolitische Entwicklungen

5.1

Diversifikation

Sonderhefte zu Zeitschriften sind gewiss nicht neu. Auch Schallplatten gab es bereits in den 60er Jahren (1963 Start des Hörzu-Labels, 1965 kamen Stern-Schallplatten dazu). 1984 kamen Merian-, Mitte der 80er Jahre VDIVerlag-Videokassetten auf den Markt. Später dann CDs bzw. CD-Roms. Unternehmerisch eher nebenbei, kaum vernetzt, nicht Teil stringenter Geschäftsfeldstrategien. In Verkennung der Situation sprechen einige Verlage (und Fachmedien) immer noch von Nebengeschäften bzw. Nebenerlösen. „Längst sind die Zeitschriftenverlage in anderen Mediengattungen engagiert. Die Verlage haben ihr Dienstleistungsangebot sowohl der Nachfragesituation wie den erweiterten technischen Möglichkeiten angepasst und dabei die Basis der klassischen Mischkalkulation deutlich verbreitert.“28 Längst heißt das Verlagsgeschäftsfeld Diversifikation – gleichbedeutend mit Planung und Strategie, in publizistischer wie auch in kommerzieller Hinsicht. Um neue publizistische Angebote geht es im Kern, um die Verlängerung von Print-Marken über alle relevanten Medienplattformen – passend zur Kernkompetenz des Verlags und zu den Markenprofilen. Unter den dabei angewendeten Marketingstrategien ist Marktsegmentierung unter Aspekten von Zielgruppenbedürfnissen besonders beliebt. Auch hier geht es – wie immer – darum, Marktpotenziale (und verfügbare Kaufkraft) für neue Produkte als Informations- und/oder als Werbeträger optimal auszuschöpfen. Wir wollen uns hier kurz mit horizontaler Produktdiversifikation befassen. Ausgangslage dafür ist das Hauptkapital des Verlags: Content (der eigentliche USP, die Kernkompetenz), gepaart mit spezifischem VerlagsKnow-how und speziell mit der Kraft etablierter Zeitschriftenmarken. Produktdiversifikation zielt auf Produkt- (und Zielgruppen-) Vernetzung, aber 28

Dreppenstedt (1996), S. 147.

Das Publikumszeitschriftengeschäft von 1945 bis 2005

29

auch auf Imagegewinn und werbliche Effekte. In den Medienmärkten sind u. a. folgende Diversifikationsvarianten zu beobachten. Print-Medien

x Sonderhefte/Specials (One-Shots; eher monothematisch). x Sonderreihen (eher monothematisch). x Markenfamilien (Beispiele für Dachmarken: Bild, Bravo, Brigitte, Focus, P.M., Spiegel, Stern, Vogue). x Bücher/Buchreihen, z. B. von Spiegel, Stern, Zeit, Brigitte, Bild (vom Diät-Ratgeber bis zur Bild-Bibel). Non-Print-Medien

x CDs, CD-ROMs (vielfach gratis in der Zeitschrift/Zeitung). x DVDs, gelegentlich auch gratis in der Zeitschrift (u. a. TV Movie). x Hörfunk: Viele Regionalzeitungen und auch Großverlage wie Burda sind im Markt der regionalen Privathörfunksender als Gesellschafter und mit Redaktionsleistung beteiligt. x Fernsehen: Bertelsmann und einige große Zeitschriftenhäuser (z. B. Bauer, Burda, Gong, Gruner + Jahr, Springer) waren bzw. sind Gesellschafter in Fernsehsendern unterschiedlicher Größe. Viele Zeitschriften haben/hatten unter ihren Marken eigene Programme (z. B. Bravo, Brigitte, Bunte, Mare, Maxim, Spiegel, Stern, TV Movie). x Internet: Seit Anfang der 90er Jahre nutzen Verlage das neue Kommunikationssystem. Inzwischen sind fast alle „drin“: mit unentgeltlichen und zunehmend auch mit entgeltlichen Informationsangeboten (Paid Content als Ziel), mit Zusatzangeboten (z. B. über Links) und neuerdings mit E-Papern. Selbst Inhalte lokaler Titel sind nun weltweit kostengünstig und jederzeit verfügbar. Vertikale Diversifikation, d. h. Beteiligungen usw. auf vorgelagerten (z. B. Papierfabriken) bzw. nachgelagerten (z. B. Speditionen) Wirtschaftsstufen, spielt für Verlage bisher keine große Rolle; traditionell sind Verlage immer noch stark in Druckereien und begrenzt auf Handelsstufen engagiert (= nachgelagert). Laterale Diversifikation, d. h. die Aufnahme von Produkten/Dienstleistungen weit außerhalb der Kernkompetenz bzw. der normalen Geschäftstätigkeit ist in der Branche unbedeutend, in den wenigen Fällen aber zum Teil bizarr: Ein Großverlag betrieb vor vielen Jahren eine Hühnerfarm, ein anderer eine weltweit operierende Brillenfabrikation; ein Dritter

30

Enno Dreppenstedt

war und ist bedeutender Immobilieneigner in einer Großstadt; ein Vierter betrieb ein fitnessorientiertes Restaurant in einer Großstadt. Diversifikation wird weiter eine große Rolle spielen. Sie sollte sich hart am (publizistischen) Markenkern orientieren. Lehre und Praxis vom Markenartikel zeigen nicht erst seit heute: Markenüberdehnung führt zu Wearout-Effekten und damit zum Markenzerfall. 5.2

Internationalisierung

Wir befassen uns in diesem Unterabschnitt mit unternehmerischen Aktivitäten von deutschen Verlagen zur Befriedigung von Nachfrage nach Presse in ausländischen Märkten. Mit Aktivitäten, die sich wie im Inland grundsätzlich an publizistischen und ökonomischen Zielen orientieren. Export

Klassischer Presse-Export bedeutet das Verbringen von Zeitschriften- und Zeitungsexemplaren ins Ausland, um dort vorrangig Lesernachfrage zu befriedigen. Export-Exemplare stellen Teilmengen der Inland-Druckauflage dar, sind also deutschsprachig. Endabnehmer im Ausland sind hauptsächlich deutschsprachige Touristen (saisonabhängige Nachfrage!) und Deutschstämmige. Hochauflagige Publikumszeitschriften dominierten nach Kriegsende bald den Export; in begrenztem Umfang wurden einige überregionale Tageszeitungen im Ausland angeboten. Hier ein paar Beispiele für Mitte der 60er Jahre: Tabelle 5. Auslandsanteile an Druckauflagen ausgewählter Titel 1963/429 Titel

Erhebungszeitraum Bunte Münchner Frank- II. 1963 furter Illustrierte Sterna I. 1964 Quick II. 1963 Freundin/Film-Revue II. 1963 Der Spiegel III. 1964 Bild und Funk II. 1963 Kicker III. 1964 Das neue Blatt III. 1963 a ohne Österreich

29

Druckauflage AuslandsIn % anteil absolut 1.249.715 243.697 19,5 1.697.577 1.450.106 614.914 613.575 472.142 180.000 1.314.092

Einzelheiten in Dreppenstedt (1969), S. 269 ff.

189.735 217.515 80.336 67.672 32.050 10.440 60.448

11,2 15,0 13,1 11,0 6,8 5,8 4,6

Das Publikumszeitschriftengeschäft von 1945 bis 2005

31

Der größte Anteil am Export entfiel auf deutschsprachige Länder/Regionen (Österreich, Schweiz, grenznahe Gebiete in Holland, Frankreich). In der Eigenwerbung vor allem meinungsbildender Periodika spielte in diesem Zusammenhang – mit Blick auf Leser wie auf Anzeigenkunden – die Darstellung von Export-Ländern oder von relevanten Presseverkaufsstellen dort eine imageträchtige Rolle. In den 70er und 80er Jahren wurde der Export überregionaler Titel vor allem unter VerbreitungskostenAspekten stark rationalisiert. Dennoch gibt es den klassischen Export weiterhin und zum Teil sogar in erheblichem Umfang, gemessen an der Gesamtauflage. Ganz am Rand sind unter dem Gesichtspunkt Logistikkosten-Optimierung die Dünndruck-Ausgaben einiger weniger Titel in den 60er Jahren zu erwähnen: Die Tageszeitung Die Welt wurde so 1964 in 129 Ländern verbreitet.30 Der Spiegel hatte (bis Ende März 1967) eine DünndruckAusgabe, die zeitweilig über 20.000 Auflage hatte. In der Anzeigen-Akquisition gab es schon in den 60er Jahren punktuell recht qualifizierte Vorgehensweisen. Beispielsweise Spiegel, Stern und das Verlagshaus Springer begannen, international orientierten Werbungtreibenden und Werbemittlern in Großstädten wie London, New York und Tokyo im Rahmen von Business Luncheons, Konferenzen usw. die medialen Vorteile ihrer Produkte sowie Daten über die boomende deutsche Volkswirtschaft zu präsentieren. Das Verlagshaus Springer gründete die erste umfängliche Media- und Marktdatenbank und ließ Geschäftsfreunde und potenzielle Kunden daran teilhaben, auch in Form hochwertiger Broschüren („This is the German Market“). In den 70er Jahren baute dann Gruner + Jahr die wohl umfassendste Media- und Marktdatenbank auf. Zusammenfassend ist zu sagen: Im Vertriebsgeschäft der Nachkriegszeit ist Export die Wahrnehmung eines bekannten „klassischen“ Absatzkanals geblieben. Ansätze für die Ausweitung von Export sind unter gegebenen Marktumständen kaum vorhanden. Dennoch verdient diese erste Variante von Internationalisierung im weiteren Sinn, erwähnt zu werden. Druckort-Strategien

In der Internationalisierung von Presse spielen Druckort-Strategien in begrenztem Umfang eine große Rolle. Man versteht darunter die Dezentralisation der Funktion Drucken in Auslandsmärkte mit dem Ziel, Erlöse bzw. Betriebsergebnis zu steigern oder/und letztlich etwas für das ProduktImage zu tun.

30

WELT-Luftpostausgabe in 129 Ländern (1964), S. 182.

32

Enno Dreppenstedt

Satellitenfunk und Digitalisierung gab es anfangs noch nicht. Druckvorlagen mussten daher – auf zum Teil abenteuerlichen Wegen – zu ausländischen Druckorten transportiert werden. In einigen Fällen wurden (wenige) redaktionelle Beiträge in diesen Drittländern produziert (z. B. Leserbriefe, Fernsehprogramm). Bereits Anfang der 60er Jahre produzierte die Wochenzeitung Die Zeit auch in Winnipeg (Kanada- und USA-Ausgaben) und Buenos Aires (Südamerika-Ausgabe). Die Exemplarmengen – vornehmlich für Abonnenten bestimmt – waren minimal. 1997 wurden diese Übersee-Ausgaben eingestellt. Seither wird Die Zeit wieder per Luftfracht nach Nordamerika exportiert.31 Der Absatzmarkt Österreich war für große deutsche Publikumszeitschriften – ebenfalls in den 60er Jahren – die große Herausforderung geworden, denn x es gab keine starken inländischen General Interest-Titel, x das Nachbarland gehört zum deutschen Sprachraum und x die nach Österreich gelieferten Auflagen-Teilmengen einiger deutscher Titel hatten nennenswerten Umfang erreicht. Stern und Hörzu brachten eigenständige Ausgaben (im Anzeigenjargon: eigenständige Belegungseinheiten für in- und ausländische Werbungtreibende) in Österreich heraus. Ein paar Details zu Hörzu: Der Hörzu-Verlag Hammerich & Lesser, Hamburg, (= Springer) gab ab Dezember 1962 bei Ullstein, Wien, (ebenfalls Springer) mit Ausgabe Nr. 50 Hörzu/Fernsehund Rundfunk-Illustrierte für Österreich heraus. Der Einzelverkaufspreis betrug 1965 4,50 Schilling, bei Nummer 32/1985 18 Schilling. Mit dieser Nummer wurde die Österreich-Ausgabe eingestellt.32 Dies alles ist inzwischen Geschichte, die Bedeutung des Absatzmarkts Österreich aber ist geblieben; deutsche Verlage dominieren dort den Zeitungs- und Zeitschriftenmarkt. Mit dem Zeitalter der Digitalisierung und des Satellitenfunks begann für Druckort-Strategien eine neue Ära: Angesichts fortschreitender globaler Vernetzung wirtschaftlicher Prozesse wuchs für führende Wirtschafts- und andere Qualitätszeitungen sowie für Nachrichten- und Wirtschaftsmagazine die Chance, neue Leser- und Anzeigenpotenziale im Ausland zu erschließen. Die „business/financial community“, die Führungs- und Fachkräfte in Industriestaaten, war für Verlage als supranationale Zielgruppe wichtig geworden (Schlagwort: „global village“). Ziel musste sein, mindestens zeitgleich mit der Heimatausgabe in anderen Ländern anzudrucken: wenn nötig weltweit. Druckunterlagen werden seither also an dezen31 32

Perske (2006). Axel Springer AG (2006).

Das Publikumszeitschriftengeschäft von 1945 bis 2005

33

trale Druckorte via Satellit „gefunkt“, Blattinhalte aus Zielländern (einschließlich Anzeigen) „vor Ort“ produziert und ins Produkt eingefügt. Das begann in den 70er Jahren. Beispiele für Titel mit weltweit verteilten Druckorten: International Herald Tribune, Financial Times, USA Today. The Wall Street Journal (Dow Jones & Company) war 1975 die erste Publikation der Welt, die eine Faksimile-Übertragung via Satellit zum Druck der Zeitung an verschiedenen Druckorten nutzte.33 Eine weitere Internationalisierungsvariante: International operierende Service-Unternehmen bieten Zeitungen in aller Welt digitale Übertragung und Umwandlung in „Hardcopies“ für Abonnenten bzw. für Einzelhandelsbelieferung an; die Auflagen sind bisher jedoch noch minimal. Der „International Newspaper KIOSK“ z. B. bot 2003 117 Zeitungen in 47 Ländern an, darunter Süddeutsche Zeitung, WAZ und Die Welt.34 Ein anderer Distributionsdienstleister operiert vornehmlich in den USA, aber auch in anderen Ländern: PressPoint/New York.35 Internationalisierung im engeren Sinn

Speziell Verleger von Publikumszeitschriften betreiben seit den 70er Jahren eine beispiellose – und nachhaltig erfolgreiche – Internationalisierung. In Österreich und – mit Zerfall des Sowjetsystems – in Osteuropa sind seit Jahrzehnten auch einige deutsche Zeitungsverlage besonders stark präsent. (Ganz aktuell denkt das Verlagshaus Springer sogar über die erste ausländische Bild-Ausgabe – für Frankreich – nach.36) Von dieser Internationalisierung im engeren (eigentlichen) Sinn ist hier die Rede: von systematischer, planvoller, nachhaltiger Erschließung ausländischer Märkte bei vollständiger Orientierung an Kommunikationsbedürfnissen von Zielgruppen in den Zielländern. Publiziert wird in der jeweiligen Landessprache; der Verlagssitz (in all seinen Umsetzungsformen) befindet sich im jeweiligen Land. Internationalisierungsziele sind im Grundsatz identisch mit verlegerischen Zielen im Inland: z. B. Verwirklichung publizistischer Ziele, Wachstum, Steigerung von Marktmacht, Steigerung des Betriebsergebnisses, Risikostreuung, Konkurrenzabwehr. Dazu kommen spezifische Anlässe bzw. Einflussfaktoren, die für deutsche Verlage relevant sind:

33 34 35 36

Morgens um sieben ist die Welt... (1996), S. 48 ff. Westdeutsche Allgemeine Zeitung global via Satellit (2003), S. 54. Zeitung global (1998), S. 10. „Bild“-Zeitung für Frankreich (2006), S. 9.

34

Enno Dreppenstedt

x rechtliche und politische Restriktionen im Inland (z. B. aus Sicht des Kartellrechts kritische Höhe von Marktanteilen) x Marktsättigung im Inland (in den 70er Jahren findet offenkundig der endgültige Übergang vom Verkäufer- zum Käufermarkt statt) x Marktchancen im Ausland unter nachhaltig vorteilhaften Rahmenbedingungen (Recht, Politik, Infrastruktur usw.) Spezifische Voraussetzungen sind vom Verlag einzuhalten, wenn Erfolg im Auslandsgeschäft eintreten soll: x Inhalte müssen im Zielland „fit for printing“ sein, müssen in Ausrichtung an dortigen kulturellen, wirtschaftlichen, politischen, rechtlichen etc. Rahmenbedingungen bzw. an gegebenen Mentalitäten von Zielgruppen Nachfrage treffen. x Sinnvoller Einsatz von Verlagsressourcen (vor allem: Know-how, Finanzkraft, Transfer starker inländischer Marken) setzt in der Regel voraus, dass sich der deutsche Verlag auch in der Internationalisierung auf seine erwiesenen Kompetenzen, seine erfolgreichen strategischen Geschäftsfelder konzentriert. x Die erfolgreiche Umsetzung von verlegerischen Funktionen – von der Redaktion über die Geschäftsführung bis hin zum Vertrieb – erfordert die Expertise, das Know-how von Profis aus den Zielländern. Auf der Geschäftsführungsebene (Umsetzungsvariante Verlagsgründung) werden hier und da deutsche Geschäftsführer eingesetzt. In der Produktpolitik dominieren Adaptionen deutscher Produktmarken – eine weitere Variante von horizontaler Produktdiversifikation. Redaktionell ist der Unterschied zum jeweiligen Original meistens gravierend. Reine Neugründungen sind eher selten. Ein Beispiel dafür: die Heinrich Bauer Publishing in den USA. Ihre erfolgreichen Titel:37 x Woman’s World (Start Ende 1980, auf Anhieb wurden über 1,3 Mio. Exemplare verkauft) x First for Women (Start im März 1989) x InTouch (Start im November 2002) In der Internationalisierung werden im Wesentlichen folgende Umsetzungsstrategien verfolgt: x Joint Venture (projektbezogene Unternehmensgründung mit einem ausländischen Verlagsunternehmen; in der Regel Verteilung der Geschäfts-

37

Verlagsgruppe Bauer (2006).

Das Publikumszeitschriftengeschäft von 1945 bis 2005

x

x

x

x

x

35

anteile im Verhältnis 50:50). Know-how wird gebündelt, Haftung bzw. Risiken sind begrenzt. Verlagsgründung (100 Prozent der Anteile beim deutschen Verlag). Diese ist in hohem Maß eine strategische, eine langfristig angelegte Entscheidung mit vergleichsweise hohem Kapitaleinsatz. Lizenzvergabe. Nutzungsrechte an „Produkt-Rezepten“ werden an einen geeigneten ausländischen Verlag abgetreten. Der Lizenzgeber hat bei dieser Umsetzungsvariante kaum Investitionen zu leisten; er nutzt die Marktgeltung und das Know-how des Lizenznehmers. Der Lizenznehmer leistet alle verlegerischen Funktionen; redaktionell wird in vielen Fällen kooperiert. Der Lizenzgeber bestimmt den Markenauftritt. Aufkauf eines ausländischen Verlagsunternehmens. Wenn ein ausländischer Verlag nahezu perfekt in die Internationalisierungsstrategie eines deutschen Verlags passt, gute Perspektiven für weiterführende Aktivitäten bietet und wenn der Preis für angemessen gehalten wird, kommt die Übernahme eines Unternehmens in Betracht. 1998 erwarb z. B. die spanische Springer-Tochter Grupo Axel Springer S.L. 100 Prozent der Anteile an Hobby Press S.A.38 Hobby Press mit ihren Computer-Titeln (Special Interest) passte perfekt zur Internationalisierung von Computer Bild. Im Oktober, nur fünf Monate nach Unternehmenskauf, kam Computer Hoy (Adaption der deutschen Computer Bild für Spanien) auf den Markt.39 (Minderheits-) Beteiligung an einem ausländischen Verlagsunternehmen. Diese Variante kommt seltener vor (wie auch die nachfolgende Variante strategische Allianz). Der Einfluss auf unternehmerische Entscheidungen im ausländischen Verlag ist begrenzt, das Investment allerdings auch. Strategische Allianz mit einem ausländischen Verlagsunternehmen, in der Regel mit gegenseitiger Beteiligung. Beispiele sind Burda und Dogan/Türkei, Burda und Rizzoli Editore/Italien, Springer und Monti/ Italien. Gemessen an vereinbarten Zielen hat sich hier lediglich die Allianz Burda/Dogan bewährt (in den beiden anderen Fällen blieb nur der Ausweg Deinvestition).

Die Internationalisierung im engeren Sinn wurde 1978 von Gruner + Jahr eingeleitet: „G+J geht als erstes deutsches Verlagshaus auf den internationalen Zeitschriftenmarkt: In Spanien wird der Verlag Cosmos Distribuidora S.A. (Dunia und Ser Padres – die spanische Eltern-Lizenz) übernom-

38 39

Geschäftsbericht 1998. Axel Springer Verlag AG, S. 8. Der Kontakter (1998), S. 51.

36

Enno Dreppenstedt

men. In den USA erwirbt G+J den Verlag Parents Magazine Enterprises Inc. mit den Titeln Parents und YM.“40 Schon 1998 gab es Verlage, bei denen der Auslandsanteil am Umsatz über 25 Prozent lag. Beispiele: Gruner + Jahr 38,8 Prozent, Verlag Aenne Burda (Moden) 36 Prozent, Motor Presse Stuttgart 26,5 Prozent.41 Für 2004 habe ich eine kleine Erhebung bzw. Umfrage mit folgenden Ergebnissen durchgeführt: Tabelle 6. Auslandsanteil am Umsatz von deutschen Verlagen Verlag - Programmschwerpunkt Bertelsmann - medialer Mischkonzern Gruner + Jahr - Publikumszeitschriften Motor Presse Stuttgart - Special Interest Heinrich Bauer Verlagsgruppe - Publikumszeitschriften Verlagsgruppe Vogel - Fachzeitschriften Dt. Verkehrsverlag - Fachzeitschriften Hubert Burda Media - Publikumszeitschriften Dt. Fachverlag - Fachzeitschriften Axel Springer - Zeitungen, Zeitschriften a ohne Matthaes

Quelle Geschäftsbericht 2004 Jahresbericht 2004 Verlagsinformation

Umsatz in Mio. € 17.016

Auslandsanteil 70,3%

2.439

62,2%

354

42,9%

Geschäftsbericht 2004 Verlagsinformation

1.704

38,5%

363

25,0%

Verlagsinformation

32

23,4%

Geschäftsbericht 2004 Verlagsinformation

1.477

22,5%

113a

19,1%

Geschäftsbericht 2004

2.402

15,6%

Im Ausland bringt z. B. Hubert Burda Media 168 Titel in 19 Ländern heraus42, die Verlagsgruppe Bauer 152 Titel in 13 Ländern43, die Motor Presse Stuttgart „über 100 in 22 Ländern“44, und Axel Springer ist im Ausland mit „mehr als 120 Zeitungen und Zeitschriften sowie mit diversen Sonderheften präsent“45. Nach überschlägiger Schätzung gehe ich von mindestens 40 41 42 43 44 45

Daten und Fakten (1992), S. 12. Horizont (1998), S. 59. Geschäftsbericht 2004. Hubert Burda Media, S. 41. www.hbv.de, Stand: 18. März 2006. Jahresbericht 2004. Gruner + Jahr. Geschäftsbericht 2004. Axel Springer, S. 42.

Das Publikumszeitschriftengeschäft von 1945 bis 2005

37

1.200 periodisch erscheinenden Titeln (überwiegend Publikumszeitschriften) deutscher Verlage im Ausland aus. Der Titel mit dem höchsten Internationalisierungsgrad weltweit ist sicherlich Auto Bild: Am 2. Dezember 2005 erschien die 27. Länderausgabe (Aserbaidschan).46

6

Zurück zu den Ursprüngen: Verlage als Postdienstleister

„Die Post, Mutter der Zeitung“ – das war der Titel einer Sonderausstellung des Bundespostministeriums Ende 1967 in Frankfurt/Main.47 Bereits im 15. Jahrhundert gab es Zeitungsbriefe (Zeitung = ursprünglich Nachricht), die von Kaufleuten und zunehmend auch von Postmeistern zunächst handschriftlich verfasst und später auch gedruckt wurden. 1493 hatte Maximilian I. „eine reichseinheitliche Post eingerichtet, deren Leitung seit 1615 erblich in der Familie Taxis lag“48 Die Postmeister, im Nachrichten- bzw. Zeitungsverkauf sehr geschäftstüchtig, trugen bis in das 16. Jahrhundert hinein sehr zur Entwicklung und Verbreitung von Zeitungen bei. In dem Bemühen, unter dem Druck der Wettbewerbsverhältnisse zusätzliche Geschäftsfelder und damit zusätzliche Ertragsquellen zu erschließen, kehren die Tageszeitungsverlage jetzt quasi zu ihren Ursprüngen zurück. Unter Nutzung ihrer logistischen Kernkompetenz – adressorientierte, filigrane Zustellorganisation im regionalen Raum – nutzen sie die zur Zeit laufende abgestufte Auflösung des Postmonopols, um sich als lizenzierte Briefdienstleister aufzustellen (Ende 2007 soll auch das Postmonopol für Standardbriefe enden). Diese Entwicklung setzte so etwa 2000 ein; BDZV Intern und Der neue Vertrieb dokumentieren seither die laufenden Ereignisse. Weit über 50 Zeitungsverlage sind inzwischen aktiv, viele haben Kooperationen bzw. Joint Ventures untereinander oder mit branchenfremden Dienstleistern. Auch Großverlage treten bereits als Briefdienstleister auf (z. B. Bauer, Bertelsmann, Holtzbrinck, Axel Springer, WAZ).

46 47 48

Axel Springer Mediapilot (www.mediapilot.de), Stand: 22. Januar 2006. „Ain erschrockenliche Newe Zeyttung“ (1967), S. 8. Kohl u. Haun (1972), S. 15–23.

38

Enno Dreppenstedt

7

Auswahl quantitativer Aspekte

7.1

Boom bei Publikumszeitschriften: Special Interest

Seit den 70er Jahren setzten bei den Publikumszeitschriften zwei Markttrends ein, die bis heute anhalten: Etliche Titel aus den NachkriegsGründerzeiten, die Spitzenauflagen erreicht hatten, bekommen Auflagenprobleme; einige altbekannte Titel werden fusioniert oder gar eingestellt (Beispiel: Quick). Von Marktsättigung war wieder die Rede. Zugleich, dem gesellschaftlichen Wandel folgend (Stichwort: Differenzierung), setzte ein Boom an Special Interest-Titeln mit eher kleinen Auflagen ein. (Auf dem Buchsektor gibt es eine Parallele dazu: die Erfolgsstory populärer Ratgeber.) Begünstigt wird diese Entwicklung durch die rasche branchenweite Implementierung eines dafür gut geeigneten Druckverfahrens: Rollenoffset. Special Interest-Zeitschriften unterscheiden sich deutlich von „klassischen“ Publikumszeitschriften: x stark begrenzter, überwiegend monothematischer Inhalt; die Sprache ist bedingt allgemeinverständlich (Ähnlichkeit mit Fachzeitschriften) x überwiegend für den privaten Bedarf von Lesern/Leserinnen mit spezifischem Informationsbedarf (Freaks/Fans/„Experten“) Special Interest-Titel wurden von Anfang an der IVW-Kategorie Publikumszeitschriften zugerechnet, obwohl sie meines Erachtens als eigenständige Zeitschriftenkategorie zwischen Publikums- und Fachtiteln gelten sollten.49 Das Marketing für diese einmal als „straßengängige Fachzeitschriften“50 bezeichneten Magazine erfordert ein Höchstmaß an Professionalität. Die Zielgruppen dieser zumeist kleinauflagigen Titel sind im Marketing vielfach wenig operabel. Das Marktsegment ist sehr volatil und unübersichtlich. In Statistiken tauchen längst nicht alle Special Interest-Titel auf; viele müssen nach mehr oder weniger kurzer Lebensdauer wieder aufgeben – ein Produktlebenszyklus entwickelt sich gar nicht erst. Die offiziellen Zahlenwelten geben diese Entwicklung unvollkommen wieder, beispielsweise die IVW-Zahlen für Publikumszeitschriften:

49 50

Dreppenstedt (1987), S. 25–26. Wöhler (1984).

Das Publikumszeitschriftengeschäft von 1945 bis 2005

39

Tabelle 7. Zahl der Publikumszeitschriften nach IVW51 IVW-Quartal IV 1970 IV 1980 IV 1990 IV 1995 IV 2000 IV 2005

Angeschlossene Publikumszeitschriften 237 271 595 709 847 873

Index 100 114 251 299 357 368

In diesen 35 Jahren hat sich die Zahl der Publikumszeitschriften laut IVW weit mehr als verdreifacht. Seit 1978 erfasst der Bundesverband Deutscher Buch-, Zeitungs- und Zeitschriften-Grossisten die in den Markt drängenden neuen Periodika (fast ausschließlich Special Interest-Titel), darunter auch Nicht-IVW-Titel. Die Statistiken darüber (nachstehend Auszüge aus den Geschäftsberichten des Verbands) sprechen eine deutliche Sprache: Tabelle 8. Neue und eingestellte Titel nach Bundesverband Deutscher Buch-, Zeitungs- und Zeitschriften-Grossisten (Geschäftsberichte) Veränderung (netto) Jahr Neue Titel Eingestellte Titela 1978 348 134 + 214 1980 350 147 + 203 1985 422 195 + 227 1990 556 280 + 276 1995 501 278 + 223 2000 396 300 + 96 a „Eingestellte Titel“ sind nicht notwendigerweise auch in dem jeweils genannten Zeitraum erschienen.

Von 1978 bis 1995 entspricht die Zahl der eingestellten Titel hier einem Durchschnitt von 53 Prozent bezogen auf die neu erschienenen Titel. Mit dem Jahr 1997 steigt dieser Wert deutlich an: Für die Jahre 1997-2002 ergibt sich ein Durchschnitt von 82 Prozent. Im Geschäftsbericht 1998/99 (S. 146) wird die durchschnittliche Sortimentsbreite im Pressegroßhandel mit ca. 3.700 Zeitschriften und Zeitungen angegeben (Präsenzsortiment: ca. 1.650 Titel). Manche Neuzugänge (von „me-too“ bis zu eher seltener Innovation) haben nachhaltigen Erfolg. Chancen für Verlagsneugründungen sind hier ebenfalls gegeben. Das Gros der Neuerscheinungen ist mit hoher Remission (bis zu 90 Prozent) behaftet und im Handling trotz der hochgradig 51

Quelle: Auflagenlisten der genannten Quartalsberichte der IVW.

40

Enno Dreppenstedt

durchrationalisierten Logistik extrem aufwändig. Auch der Letztabnehmer tut sich angesichts der schieren Titelmenge trotz überwiegend perfekter Warenpräsentation nicht immer leicht. Für die werbungtreibende Wirtschaft, für den Media-Planer, ist dieser Titelsektor überwiegend schwer planbar, weil hinsichtlich der Blattqualitäten wenig transparent. Wenn hinter Neuerscheinungen eingeführte Verlage stehen, die erfahrungsgemäß in ihre Produktmarken optimal investieren, genießen Agenturen auch hier in der Regel den gewohnten (qualifizierten) Media-Service der Verlage. 7.2

Der Weg von Gründerzeit-Titeln

Wie haben Publikumszeitschriften der Gründergeneration diese Marktverläufe überstanden bzw. bestanden? Fast alle Titel hatten nach Einführung zunächst eine lange Aufschwungphase (Verkäufermarkt). LebenszyklusÜberlegungen in Verbindung mit Periodika waren – wie Marketingwissen insgesamt – vergleichsweise unbekannt. Signale der Reife- und erst recht der Sättigungsphase hatten in der Regel zur Folge, dass viel getan wurde, um Titel am Leben zu erhalten. Blattkonzepte, Blattdesign, Marktposition und Vermarktung wurden weiterentwickelt. Vor allem wurde durch die Gründung tausender Special Interest-Titel neuen Nachfragetendenzen begegnet. Einstellungen von Titeln waren in den 50er und 60er Jahren in der Branche heftig diskutierte Unglücksfälle (wie z. B. im Fall der Neuen Illustrierten, die 1966 in Revue aufging; neuer Name: Neue Revue). Publikumszeitschriften, die in den ersten Nachkriegsjahren gegründet wurden, sind eher bedingt erfolgreich durch die nachfolgenden Jahrzehnte gekommen. Die Tendenz zur Special Interest-Zeitschrift hat den Typ „General Interest-Titel“ oft stark getroffen. Verfolgen wir zwölf langjährige Erfolgstitel, die zwischen 1945 (Frau im Spiegel) und 1950 (Das neue Blatt) gegründet wurden, nach ihren verkauften Exemplaren (IVWAuflagen/Quartalsdurchschnitte): Tabelle 9. Auflagenentwicklung bei „Gründerzeit“-Publikumszeitschriften (Gründung zwischen 1945 und 1950) Titel II/1970a auto motor + sport 366.975 Der Spiegel 902.497 1.776.319 Bunte Illustriertef Neue Revue 1.730.854 1.429.770 Quickg Stern 1.769.357

II/1980b I/1990c I/2000d I/2005e 396.187 476.141 502.143 475.125 985.917 1.097.791 1.051.615 1.095.122 1.385.541 965.138 716.024 748.843 1.260.059 941.999 317.518 249.677 971.219 710.028 1.710.745 1.274.090 1.074.344 1.051.744

Das Publikumszeitschriftengeschäft von 1945 bis 2005

41

Hörzuh 3.796.441 3.834.095 3.122.960 2.139.701 1.659.634 Freundin 599.629 754.728 753.209 638.423 567.384 Frau im Spiegel 1.151.307 1.145.908 744.811 647.410 400.709 Für Sie 1.120.772 1.040.519 790.547 638.314 504.229 Das neue Blatt 1.249.955 1.324.171 1.154.704 1.040.907 721.525 Das Beste 1.284.527 1.353.218 1.395.050 1.104.037 794.750 Summe Auflagen 17.178.403 16.162.307 13.426.468 9.870.436 8.268.742 Index 100 94 78 57 48 a Der neue Vertrieb, 23. Jg., Nr. 534, 20. Juli 1971 (Verlagsbeilage). b Text intern, 14. Jg., Nr. 82, 15. Oktober 1980 (Verlagsbeilage). c Text intern, 24. Jg., Nr. 40/41, 19. April 1990 (Verlagsbeilage). d Medien Aktuell, Nr. 16/17, 23. April 2001, S. 3 ff. e Medien Aktuell, Nr. 16, 18. April 2005, S. 3 ff. f Ab Woche 27/1972: Bunte. g Letzte Ausgabe: Nr. 36 vom 27. Augutst 1992. h Ohne Österreich.

Die verkauften Auflagen der dargestellten Titel haben in den letzten 35 Jahren um rund 52 Prozent abgenommen; Schwächen und exogene Determinanten (Demographie, Zeitgeist usw.) waren stärker. Andererseits gibt es aber auch eine gute Handvoll jüngerer Auflagen-Millionäre, speziell im Segment Programmzeitschriften. Und einige traditionelle Marktsegmente haben trotz sinkender Auflagen älterer Titel durch Hinzutreten neuer Titel deutlich an Volumen zugenommen (z. B. Programm- und Frauenzeitschriften). 7.3

Zeitungen: Konzentration und publizistische Einheiten

Die Zahl der Zeitschriftenverlage und der publizierten Titel hat deutlich zugenommen, während auf dem Zeitungssektor unterschiedliche Trends zu beobachten sind. Die Stichtags-Datensammlungen von Walter J. Schütz veranschaulichen nicht nur die lange anhaltende Aufschwungphase der Zeitungsauflagen. Sie deuten auch die Konzentrationsschübe in den 60er und 70er Jahren sowie speziell im Zusammenhang mit der Vereinigung der beiden deutschen Territorien um 1990 an. Mit der so genannten „Wiedervereinigung“ haben im Wesentlichen westdeutsche Großverlage (auch Zeitschriftenhäuser wie Burda, Bauer, Gruner + Jahr) mit Hilfe der Treuhandanstalt ostdeutsche Zeitungsverlage übernommen. Charakteristika der Entwicklungen auf dem Zeitungssektor sind seit Jahrzehnten: wirtschaftliche Konzentration, Abbau von Vollredaktionen, Rückgang der Zahl der publizistischen Einheiten, Verlust an Zeitungsvielfalt durch reduziertes Angebot (Eine-Zeitung-Kreise, regionale/lokale Zei-

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Enno Dreppenstedt

tungsmonopole). Verstärkt wurde der Konzentrationsprozess dadurch, „daß dem Schrumpfungsprozess infolge fehlender Markteintrittschancen kaum Neugründungen entgegenwirkten“52. Die folgende Tabelle zeigt ausgewählte Zahlen der Stichtags-Datensammlungen von Schütz.53 Die Zahl der (regionalen) Ausgaben ist danach in den letzten 50 Jahren mit rund 1.500 in etwa gleich geblieben. Die publizistischen Einheiten (Zusammenfassung von Ausgaben, deren Mantel in der Regel ganz oder im Wesentlichen übereinstimmt, vereinfacht „Vollredaktionen“ genannt) nahmen von 229 auf 138 ab. „Die Zahl der tatsächlich als Unternehmen tätigen Zeitungsverlage [...] lässt sich – weil unterschiedliche Kooperationsformen anzutreffen sind – nicht exakt bestimmen.“54 Tabelle 10. Zeitungen in Deutschland Jahr

Ausgaben

Publizistische Einheiten 1954 1.500 229a 1967 1.416 158 1989 1.344 119 1989 DDR 291 37 1994 1.597 137 2004 1.538 138 a einschließlich Saarland (= 4)

Verlage als Herausgeber 628a 535 358 38 385 359

Verkaufte Auflage (Mio. Exemplare) 13,365/IV. Q. 18,043/III. Q. 20,284/I. Q. 9,642 25,349/II. Q. 21,450/III. Q.

Für Zeitungen in der DDR galt: „Druckereien, Verlage, Papierfabriken sind Volkseigentum oder Eigentum gesellschaftlicher Organisationen [...] Die Tageszeitungen sind Organe der politischen Parteien und Organisationen [...] Die Tageszeitungen der DDR [...] bewähren sich als Instrumente der sozialistischen Demokratie.“55 Etliche DDR-Zeitungen waren dann marktwirtschaftlichen Gegebenheiten nicht gewachsen. 7.4

1990: Der Zeitschriftenmarkt Deutschland wächst

Das Territorium der Bundesrepublik Deutschland wuchs 1990 von rund 249.000 auf rund 357.000 Quadratkilometer, also um rund 43 Prozent. Die Zahl der Einwohner wuchs um 16,6 Mio. Einwohner auf 82 Mio. Einwoh-

52 53 54 55

Medienrecht (1994), S. 203 ff. Schütz (2005). Ebenda, Teil 1, S. 21. Panorama DDR: Presse, Funk und Fernsehen in der DDR (1989).

Das Publikumszeitschriftengeschäft von 1945 bis 2005

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ner. Die Omnia-Werbegesellschaft, Berlin-Ost, dokumentierte für 1990 59 DDR-Titel mit einer Gesamtauflage von ca. 15,4 Mio. Exemplaren:56 x 14 aktuelle, Programm- und Frauentitel x 10 Jugendzeitschriften x 35 Special Interest-Zeitschriften Geblieben ist von diesen Titeln fast nichts. Titel aus dem Westen Deutschlands eroberten die Regale in den neuen Bundesländern. Heute ist von den DDR-Titeln noch die Zeitschrift Guter Rat! erwähnenswert; nach mehreren Verlagswechseln wird sie nunmehr vom Super Illu Verlag (= Hubert Burda Media) herausgegeben (Vorgänger: Gong-Sebaldus). Guter Rat! ist, vom Beyer-Verlag im November 1945 in Leipzig gegründet, vermutlich die älteste deutsche Nachkriegs-Publikumszeitschrift.57

8

Ausblick

Den „klassischen“ Print-Verlag gibt es schon seit Jahrzehnten nicht mehr. Der tradierte Begriff „Verlag“ ist weitgehend im Sprachgebrauch verblieben. Seit Ende des vorigen Jahrhunderts haben wir neue Trägermedien, neue Freizeitmedien zur Verfügung: z. B. Videokassetten, CDs und DVDs. Vor allem das ruckartig etablierte und sofort weltweit massenhaft akzeptierte, bahnbrechende Internet: nanosekundenschnell, rund um die Uhr, dialogfähig. Content ist im Internet auf eine Weise verfügbar, die die PresseMöglichkeiten im Sinn von Transfer weit (und nachhaltig) überflügelt. Vor allem jüngere Nutzer sind davon fasziniert. Lesekultur ist unter Druck geraten, ebenso wie die äußere Pressefreiheit und die Grenzen zwischen redaktioneller und kommerzieller Aussage. Das gigantisch breite Angebot an Publikumszeitschriften wird auf mittlere Sicht schmaler werden, denn das Denken in Kategorien von Wertschöpfung und Return-on-Investment wird und muss sich weiter verstärken. Zielgruppen – zunehmend Marken-„Communities“ – werden sich stärker als je zuvor Content-Angeboten mehrkanalig nähern. Oder gar selbst Content z. B. im Internet58 oder in Zeitschriften generieren wollen – ohne Rücksicht auf das, was wir heute Qualität bzw. Zuverlässigkeit nennen. Die Presse muss darauf achten, ob sich Kanalwertigkeiten ändern und dem 56 57 58

Zitiert nach: Pressemarkt-Deutschland (1991), S. 1. 50 Jahre GUTER RAT (1996), S. 54. Du bist das Netz! (2006).

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Enno Dreppenstedt

Rechnung tragen. Das stets optimale Angebot über die ganze Breite medialer Möglichkeiten und der strategische Ausbau der Wertschöpfungskette (mehrkanalig!) sind die Hauptaufgaben von Verlegern und Verlagsmanagern heute und morgen. In diesem Sinn ist die Transition des Verlagsgeschäfts längst im Gang. Für einen unüberschaubaren Zeitraum wird Presse wohl noch Haupterlösquelle bleiben bzw. wegen fehlender Alternativen bleiben müssen. Neben diesem Szenario gibt es weitere, wie z. B. dieses: Das Verlassen des Pfads der publizistischen Kernkompetenz würde – schrittweise – gleichbedeutend sein mit der Aufgabe der Unternehmensidee, des Geschäftsmodells Verlag im weitesten Sinn, letzten Endes mit dem Marsch in unternehmerische Beliebigkeit. Content jedoch, das Herz jedes Mediums, ist auch und gerade im Internet gefragt. Print-Medien haben da aus heutiger Sicht und noch auf unabsehbare Zeit schwer überholbare Marktstärken: Content-Kompetenz und gewachsene, etablierte Marken. Welcher andere Content Provider hätte das zu bieten? Die Presse kann und muss das, eingedenk der publizistischen Seite des Verlags, strategisch und offensiver nutzen, solange das profitabel funktioniert.

Literaturverzeichnis

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Das Publikumszeitschriftengeschäft von 1945 bis 2005

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Enno Dreppenstedt

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Das Publikumszeitschriftengeschäft von 1945 bis 2005

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WELT-Luftpostausgabe in 129 Ländern (1964). Der neue Vertrieb 358/16. Jg., S. 182. Westdeutsche Allgemeine Zeitung global via Satellit (2003). Der neue Vertrieb 9/55. Jg., S. 54. Woher wir kommen/Geschichtliche Wurzeln (2005): www.ddvg.de. www.bertelsmann.com/bertelsmann_corp, Stand: 24. Januar 2006. www.bertelsmann.com, Stand: 24. Januar 2006. www.hbv.de, Stand: 18. März 2006. www.interverband.com (ZAW), Stand: 21. April 2006. www.ivw.de, Stand: 21. Januar 2006. www.mediapilot.de, Stand: 22. Januar 2006. www.axelspringer.de/InvestorRelations/CorporateGovernance, Stand: 2. März 2006. Zeitung global (1998). Werben & Verkaufen 47, S. 10. 50 Jahre GUTER RAT (1996). Der neue Vertrieb 1/48. Jg., S. 54.

Der Trend zur Segmentierung geht dem Ende zu – die Publikumspresse gestern, heute, morgen

Andreas Vogel

1

Segmentierung als Chance und Problem der Publikumspresse

Die Ausdifferenzierung unserer Gesellschaft ist ein vielbeschriebener und gesicherter Sachverhalt. Die Soziologie diskutiert das Thema unter den Stichworten Individualisierung, Milieuzerfall, Self-Casting. In der Betriebswirtschaftslehre werden hochsegmentierte Konsumentengruppen identifiziert und vielfältige Teilzielgruppen des Marketings adressiert. Schon lange reichen die einfachen demographische Daten wie Geschlecht und Alter zur Identifizierung und Beschreibung homogener Lebenswelten oder gar Verhaltensweisen nicht mehr aus. Immer stärker entkoppeln sich statistische Daten und Lebenswelten. Das Alter sagt immer weniger über die Lebensphase aus: Der erste Eintritt ins Berufsleben kann mit 15, aber auch erst mit 30 Jahren geschehen. Die Familiengründung ist mit 20, aber auch erst mit 40 oder – bei Männern – mit 60 Jahren möglich. Die formelle Bildung ist kein Indikator mehr für kulturelle Vorlieben. Und auch Bildung und Einkommen werden voneinander immer unabhängiger. Parallel zu dieser Entwicklung produziert die Freizeit- und Unterhaltungsindustrie immer neue Erlebniswelten: Niemand radelt mehr einfach so. Sondern man fährt Rennrad, Tourenrad, BMX-Rad, Mountainbike oder Liegerad. Niemand macht einfach Winterurlaub. Sondern außer Winterwandern, Abfahrtsski, Langlauf, Eislaufen und Schlittenfahren warten heute Telemark, Snowboard, Snowkite, Snowfer, Eisklettern, Snowbike, Mi-

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Andreas Vogel

nibob und Icegolf auf den Wintersportler. Dies ließe sich nun seitenlang für die verschiedenen Freizeitbereiche fortsetzen. Verleger der deutschen Publikumspresse sehen eine solche Entwicklung seit Mitte der 70er Jahre mit gemischten Gefühlen. Einerseits wird es immer schwieriger, reichweitenstarke Zeitschriften für große Publika aufrecht zu erhalten oder gar neu zu konzipieren. Andererseits wachsen die Chancen für Produktdifferenzierungen, und es öffnen sich in großer Zahl Nischenmärkte für Titel des Very Special Interest. In diesem Beitrag wird der Frage nachgegangen, wie sich die Strukturen der bundesdeutschen Publikumspresse entwickeln. Welche wesentlichen Veränderungen gab und gibt es bei den Verlagen, ihren Produkten und dem Gesamtsortiment? Auf der Grundlage statistischer Daten geht es auch um eine Antwort auf die Frage nach zukünftigen Tendenzen: Konsolidiert sich die Titelzahl, wird sie stagnieren oder erwartet uns eine immer weitergehende Segmentierung? Die Antwort: Das Titelwachstum wird sich noch eine Weile fortsetzen. Die neuen Titel verfolgen allerdings kaum noch Konzepte des Very Special Interest. Ihre Marktchancen ergeben sich nicht durch weitere Segmentierungen, sondern durch neuartige Verknüpfungen bisher getrennt angebotener Themen. Ob dies freilich ein weiteres Absinken der Durchschnittsauflagen verhindert, scheint fraglich. Im besten Fall entstehen neue und reichweitenstarke General-Titel in Objektklassen, die bisher eher für kleinauflagige Titel mit engen Themenspektren typisch waren. Alle Ausführungen und Zahlen beziehen sich auf die deutsche Publikumspresse im engeren Sinne, die als Hauptgattung der Presse auch als Populärpresse bezeichnet werden kann. Sie umfasst alle überwiegend nicht tagesaktuellen, redaktionell gestalteten, eigenständigen Periodika, die ihre Leser in nichtberuflichen Lebenszusammenhängen ansprechen, durch unabhängige Verlage als Handelswaren mit mindestens vier Ausgaben jährlich produziert und als Kaufpresse vertrieben werden.1

2

Das Gestern – Phasen der Entwicklung

Der Begriff Publikumspresse ist zeitgebunden. Für die Frühzeit der deutschen Presse ist er noch untauglich, denn die populäre Komponente konnte 1

Die Entwicklung der zur Publikumspresse im weiteren Sinne zu zählenden Presseerzeugnisse – Romane, Comics, Rätsel, Sonderhefte, unregelmäßig oder mit weniger als vier Ausgaben jährlich erscheinende Titel, One-Shots und Anleitungsheftreihen (für Kochen, Basteln, Lösungshefte zu Computerspielen etc.) – ist nicht Thema dieses Beitrages.

Die Publikumspresse gestern, heute, morgen

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für diesen Pressetypus erst mit dem Aufkommen der industriell gefertigten Massenpresse und der Ubiquität ihrer Verfügbarkeit endgültig prägend werden, wobei Pressehistoriker unter Massenpresse solche Publikationen fassen, die 10.000 Leser und mehr erreichten. Vorformen der Publikumspresse finden sich daher in den unterhaltenden Wochenschriften und in den Familienzeitschriften ab den 30er Jahren des 19. Jahrhunderts. Unmittelbare Vorläufer sind die Freizeitzeitschriften, wie sie seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert in zunehmender Zahl bis in die späten Jahre des Zweiten Weltkrieges in Deutschland erschienen sind und von denen als Wiedergründungen 21 Titel bis heute im Sortiment der Publikumspresse aufzufinden sind.2 Das Ende des nationalsozialistischen Deutschlands und die Neuordnung der Presse durch die Alliierten markiert zugleich den Beginn der modernen Publikumspresse. Von hier aus können bis heute acht Phasen der Entwicklung und Entfaltung der Publikumspresse bestimmt werden: x 1945 – 1949: Kontrolliertes Wachstum unter Lizenzbedingungen der Alliierten und Zonenrestriktionen im Vertrieb. x 1950 – 1974: Die Titelzahl stagniert eher, die Gesamtauflage und der Werbeumsatz steigen. x 1975 – 1985: Die Titelzahl nimmt stark zu, die Gesamtauflage und der Werbeumsatz steigen. x 1986 – 1990: Die Titelzahl wächst weiter, die Gesamtauflage stagniert, der Werbeumsatz steigt. x 1991 – 1996: Die Titelzahl wächst, die Gesamtauflage wächst durch die Deutsche Einheit, der Werbeumsatz steigt zunächst, stagniert dann aber. x 1997 – 2000: Die Titelzahl wächst, die Gesamtauflage stagniert zunächst, sinkt dann sogar, der Werbeumsatz steigt. x 2001 – 2004: Die Titelzahl stagniert, die Gesamtauflage sinkt, der Werbeumsatz bricht ein. x 2005 – heute: Die Titelzahl steigt, Gesamtauflage und Werbeumsatz stagnieren. Die siebte Phase wird von vielen Beobachtern und Praktikern auch als „Pressekrise“ bezeichnet. Um eine echte Krise handelte es sich hierbei jedoch nicht, eher um einen heftigen konjunkturbedingten Rückschlag. Dies zeigt sich daran, dass in dieser Zeit weder übermäßig viele Titel eingestellt

2

Ältester Titel ist die Neue Zeitschrift für Musik (gegründet 1834); über 1 Mio. Verkaufsexemplare erreicht heute noch TV Hören und Sehen (gegründet 1925 als Rundfunk-Kritik).

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Andreas Vogel

wurden, noch eine besondere Konkurs- oder Fusionswelle zu beobachten war. Tabelle 1. Entwicklung der Publikumspresse, Gesamtzahl jeweils zum 31.12. Jahr 1950 1975 1980 1985 1990 1995 2000 2005

Gesamtzahl 255 368 546 684 855 971 1126 1362

Neugründungen Einstellungen 46 28 39 12 62 37 78 61 106 71 119 123 118 113 147 74

Bilanz + 18 + 27 + 25 + 17 + 35 - 4 + 5 + 73

Die Entwicklung der Titelzahlen zeigt Tabelle 1. Noch nie gab es ein so großes Sortiment wie heute. Gilt dies auch für die Vielzahl der Verlage? Nach der Zerschlagung des nationalsozialistischen Deutschlands war es der erklärte politische Wille von Alliierten und deutschen Politikern gleichermaßen, keine Meinungsmonopole in Deutschland mehr zu dulden. Entsprechend vielfältig wurden im Zeitraum 1945 bis 1949 Lizenzen für neue Presseprodukte vergeben und der Rundfunk öffentlich-rechtlich gestaltet.

3

Das Heute – dominante Großkonzerne

Dennoch musste sich die Politik bereits Mitte der 60er Jahre wieder intensiv mit dem Thema Pressekonzentration bei Tages- und Publikumspresse befassen. Die in der Folge realisierten politischen Maßnahmen (Pressefusionsgesetz, Pressestatistikgesetz) änderten jedoch nichts entscheidendes mehr an der bereits eingetretenen Situation in der Publikumspresse: Ein Oligopol von Verlagsgruppen hatte sich gebildet und dominiert inzwischen seit über 40 Jahren den Markt und die Vertriebswege der deutschen Publikumspresse. Die Marktanteile bemessen sich nach der verbreiteten Auflage der IVW-kontrollierten Titel. Die vier großen Konzerne sind die Bauer Verlagsgruppe, der Axel Springer-Verlag, Hubert Burda Media und Gruner + Jahr. Ihre anteilige Gesamt-Verkaufsauflage unter allen mindestens 14-täglich erscheinenden und IVW-kontrollierten Titeln der Publikumspresse erreichte im Jahre 2002 einen Spitzenwert von 81,9 Prozent, 2004 wurden 76,3 Prozent gemessen (vgl. Tabelle 2).

Die Publikumspresse gestern, heute, morgen

53

Tabelle 2. Marktanteile der vier Großverlage, mindestens 14-täglich erscheinende Titel; Daten nach IVW, gattungsbereinigt in Prozent, jeweils erstes Quartal Konzern Bauer Springer Burda Gruner + Jahr Summe

1975 33,6 21,4 11,1 10,1 76,23

1980 36,7 19,9 10,8 8,9 76,2

1985 36,6 23,8 10,1 7,0 77,4

1990 37,9 25,4 9,2 7,0 79,4

1995 36,1 20,9 10,3 9,2 76,5

2000 32,2 22,0 13,5 9,5 77,2

2004 31,5 20,9 15,1 8,8 76,3

Die entsprechenden Marktanteile für Titel, die seltener als 14-täglich erscheinen, sind deutlich geringer. Sie erreichten 1980 bereits einen Wert von 43,9 Prozent. Zwischenzeitlich war dieser Anteil auf 28,9 Prozent in 1995 gesunken. Er nähert sich in der Summe aber inzwischen erneut der 40-Prozent-Marke (vgl. Tabelle 3). Tabelle 3. Marktanteile der vier Großverlage, seltener als 14-täglich erscheinende Titel; Daten nach IVW, gattungsbereinigt in Prozent, jeweils erstes Quartal Konzern Bauer Springer Burda Gruner + Jahr Summe

1975 7,5 0,0 22,9 11,2 41,5

1980 8,4 3,6 18,6 13,4 43,9

1985 8,3 1,0 14,4 13,0 36,6

1990 8,5 1,2 11,0 14,9 35,6

1995 6,4 0,9 7,4 14,1 28,9

2000 7,4 5,6 6,9 11,1 31,0

2004 6,7 9,8 11,2 10,5 38,2

Die Dominanz dieser vier Konzerne besteht nicht nur nach Vertriebsexemplaren. Sie durchzieht auch den Bereich der Anzeigenvermarktung und der Pressedistribution. Misst man ihre Marktstellung hingegen als Anteil an der Gesamtzahl der herausgegebenen Titel der Publikumspresse, dann zeigt sich ein anderes Bild. Vier von fünf Publikumszeitschriften erscheinen in Verlagen, an denen die Großkonzerne nicht beteiligt sind (vgl. Tabelle 4). Der Marktzutritt in die Publikumspresse ist für Titel, die seltener als 14täglich erscheinen, vergleichsweise barrierefrei. Daher wurden und werden viele neue Objekte in neu entstandenen Verlagen gegründet. Im Jahre 2005 erschienen 147 periodische Hefte zum ersten Mal. 15 dieser Titel gründeten die vier Großverlage, jedoch rund 50 Titel wurden von neuen, selbständigen Verlagen herausgegeben. Insgesamt gibt es in Deutschland heute rund 750 rechtlich eigenständige Verlage mit Titeln der Publikumspresse.

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Andreas Vogel

Tabelle 4. Anteil der vier Großverlage am Gesamtsortiment der Publikumspresse nach Titeln in Prozent, jeweils März (2006: Januar), mit qualifizierten Beteiligungen 2000–2006 Konzern Bauer Springer Burda Gruner + Jahr Summe

4

2000 4,8 3,1 2,7 2,9 13,5

2002 5,0 5,2 3,1 2,9 16,2

2004 4,7 4,5 3,2 3,1 15,5

2006 4,7 4,2 3,3 5,4 17,6

Die segmentierte Presse

Das Sortiment der Publikumspresse gliedert sich in vielfältige Objektklassen und Inhaltsgruppen. Hierbei gibt es keine verbindlichen Vorgaben, weder für das Gliederungsschema noch für die Einsortierung. Aus der Perspektive der Leser und auf der Basis der Einzelhandels-Strukturanalyse (EHASTRA) können 19 Objektklassen unterschieden werden. Jede gliedert sich wiederum in durchschnittlich vier Inhaltsgruppen, durch Feinsegmentierungen wären aber auch deutlich über 100 Teilmärkte denkbar. Die Veränderungen der vergangenen 30 Jahre lassen sich besonders markant auf der Ebene der Objektklassen beschreiben.3 Die rein numerische Entwicklung nach Titeln ist hierbei sehr unterschiedlich verlaufen. Üblicherweise gliedert die Medienwirtschaft die Publikumspresse in die Bereiche des General Interest und in Bereiche des Special Interest. Im 20. Jahrhundert hatten solche Trennungen noch ihre Berechtigung. Noch 1984 erreichte eine Programmzeitschrift wie Hörzu als Familienzeitschrift 24,5 Prozent der deutschen Bevölkerung, bei einer verkauften Auflage von über 3,5 Mio. Exemplaren. Weitere sechs Zeitschriften hatten Reichweiten von mehr als 10 Prozent; Bild am Sonntag4 3

4

Für die folgende Darstellung ist grundsätzlich die Zweistaatlichkeit bis 1990 zu berücksichtigen. Die Titelzahlen umfassen 1975 und 1985 sowohl die Presse der Bundesrepublik als auch jene der DDR. Das reglementierte Sortiment der DDR-Publikumspresse wuchs zwischen 1950 und 1990 kaum. Es bestand aus eher wenigen, dafür aber hochauflagigen Titeln. Von den 1990 existierenden rund 48 eindeutig dem Segment zuzurechnenden Titeln überlebte nur jeder dritte die nächsten fünf Jahre auf dem nun wiedervereinigten deutschen Pressemarkt. Bei der Auflagenentwicklung wird der Verbreitung in Ostdeutschland allerdings erst ab 1991 Rechnung getragen. In dieser Systematik zählen Wochenzeitungen mit überwiegend nicht tagesaktuellen Inhalten (z. B. Bild am Sonntag, Die Zeit, Freitag, Jüdische Allgemei-

Die Publikumspresse gestern, heute, morgen

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erzielte eine Reichweite von 18,7 Prozent.5 Insgesamt gab es unter 240 Zeitschriften 41 Titel mit Auflagen über 500.000 Verkaufsexemplaren, davon 21 Titel mit Auflagen über 1 Mio. 2005 erreicht Bild am Sonntag noch immer 17,3 Prozent der deutschen Bevölkerung, aber unter den Zeitschriften der Publikumspresse übersteigen nur noch der Stern (12,4 Prozent Reichweite) sowie die Titel TV Movie und TV Spielfilm ganz knapp die 10-Prozent-Marke. Die Auflagenmillionäre sind im vierten Quartal 2005 auf 14 Titel geschrumpft, 34 Titel melden mehr als 500.000 Verkaufsexemplare. Diese 34 hochauflagigen Zeitschriften teilen sich in 14 Programmzeitschriften, fünf Frauenzeitschriften, vier unterhaltende Titel, je drei Illustrierte und politische Magazine, zwei Computertitel und je ein Jugend-, Motor- und Wohnmagazin. Somit zählen inzwischen auch Titel im Special Interest-Bereich zu den heute seltenen hochauflagigen Objekten. Über einen Zeitraum von 30 Jahren sind die Objektklassen der Publikumspresse unterschiedlich intensiv gewachsen (vgl. Tabelle 5). Grundsätzlich lassen sich über diesen Zeitraum hinweg alle Titel jeweils genau einer konkreten Objektklasse zuordnen.6 2005 gab es einen Jahresbestand7 von 1438 Titeln. Von ihnen sind 574 Objekte erst im Jahre 2000 oder später gegründet worden – knapp 40 Prozent. 54 Prozent aller Titel sind jünger als zehn Jahre.

5 6

7

ne) zur Publikumspresse. Da sie nicht zur Gattung der Tagespresse gehören, müssen sie zur Publikumspresse zählen, denn als eigene Gattung sind sie zu titelschwach. Die Praxis ist sich noch unschlüssig, wie sie die Wochenpresse in Zeitungsausstattung behandeln soll: Die IVW zählt sie eigenständig im Kontext der Tagespresse, die MA gruppiert alle erfassten Wochenzeitungen bei der Publikumspresse, darunter auch die Bild am Sonntag. Hingegen wäre nach Auffassung des Autors die Welt am Sonntag mit ihrem überwiegend tagesaktuellen Konzept als Sonderfall der Tagespresse zu behandeln. Daten nach IVW und MA. Mischkonzepte, wie sie in den letzten Jahren zunehmen, werden nach dem insgesamt überwiegenden inhaltlichen Umfang klassifiziert. Zum Jahresbestand zählen alle Periodika, die zu irgendeinem Zeitpunkt des Jahres mit mindestens einer Ausgabe erschienen sind. Der Jahresbestand-Wert sagt somit etwas über die Gesamtzahl der verschiedenen Konzepte eines Jahres einschließlich aller im Jahresverlauf eingestellten Titel aus. Die Stichtagszählung (vgl. Tabelle 1) dokumentiert hingegen die tatsächlich vorfindbare Breite eines Sortiments zum Zeitpunkt der Erhebung.

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Andreas Vogel

Tabelle 5. Entwicklung des Gesamtsortiments der populären Presse (redaktionelle Publikumspresse), Jahresbestandszahlen, 1975/1985 einschließlich DDR Objektklasse Sport Familie/Leben Kultur/Wissenschaft Jugend/Kinder Motor Wohnen/Werken Computer/Kommunikation Audio/Film/Foto Technik Unterhaltung/Gesellschaft Regionale Presse Musik Illustrierte Wirtschaft Frauen Programm Sex Politik Diverses Summe

1975 56 51 32 28 19 22 2 17 24 24 25 11 17 12 18 8 8 22 11 407

1985 91 81 72 30 40 33 47 36 46 38 61 27 20 20 24 10 21 23 25 745

1995 140 96 93 63 85 52 93 40 61 43 78 42 34 34 32 23 22 19 46 1096

2005 159 137 125 108 107 95 87 74 72 69 67 66 46 39 37 31 25 18 76 1438

Sportzeitschriften

Bereits 1975 war das größte Sortiment dasjenige der Sportzeitschriften, mit damals 56 und im Jahre 2005 nunmehr 159 Titeln im Jahresbestand. Die Verkaufsauflage nach IVW8 wuchs in dieser Zeit von 1 Mio. auf knapp 2,4 Mio. Exemplare. Die deutliche Ausdehnung zeigt sich auch darin, dass 24 bereits 1975 bestehende Titel auch heute noch gemeinsam 1 Mio. Exemplare verkaufen. Die Inhaltsgruppen Wassersport und Pferdesport haben heute mit je 23 Titeln die größten Sortimente. 48 Neugründungen fielen in das neue Jahrtausend. Doch unter die auflagenstärksten 20 Titel des Segments hat es nur einer dieser Titel – auf Platz 20 – gebracht. Neugründungen finden sich zuletzt vor allem in klassischen Themenfeldern wie Wassersport oder Fußball (im Vorfeld der Weltmeisterschaft), aber auch im neuen Trendsport Klettern. Die einzige Allround-Sportzeitschrift ist Sport Bild. Mit der Gründung 1988 übernahm 8

Betrachtet werden hierbei nur die IVW-gemeldeten Zeitschriften der Objektklasse, ausgewiesen wird die Gesamtauflage im Erscheinungsintervall.

Die Publikumspresse gestern, heute, morgen

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dieser Titel auf Anhieb die Marktführerschaft in diesem Themenfeld und hat sie auch heute noch inne. Familie/Leben

Die Objektklasse Familie/Leben umfasst Themenbereiche der persönlichen Entfaltung und der sozialen Beziehungen: Gesundheit, Essen, Fashion/Mode, Eltern, Senioren, auch Haustiere. Das Sortiment vergrößerte sich in den 30 Jahren von 51 auf 137 Titel, die Verkaufsauflage nach IVW stieg von rund 2 Mio. auf rund 5,2 Mio. Exemplare an. 80 dieser Titel wurden erst im Jahre 2000 oder später gegründet. Nach Titelzahlen bieten die Inhaltsgruppen Tiere, Gesundheit (je 31 Titel) und Essen (28 Titel) die größte Auswahl. Nach IVW-Verkaufsauflagen dominieren Gesundheitszeitschriften (1,5 Mio. Hefte) vor Essen (1,1 Mio.) und Elterntiteln (1,0 Mio.). Im neuen Jahrtausend macht es Sinn, eine neue Inhaltsgruppe Leben zu bilden, in der übergreifende Konzepte zusammengefasst werden können. Hierzu gehört z. B. die 1999 gegründete Zeitschrift InStyle, eine Lizenzausgabe der gleichnamigen erfolgreichen US-Zeitschrift. Sie verkauft mit einer Mischung aus Fashion, Gesundheit, Essen, Lifestyle und Prominenz monatlich über 440.000 Hefte und ist damit aktuell vor Eltern Marktführer des gesamten Segments. Kultur/Wissenschaft

Die Objektklasse Kultur/Wissenschaft hat ebenfalls ein stürmisches Wachstum zu verzeichnen. Die ihr zugehörigen Titel vervierfachten sich von 32 auf 126, die Gesamtauflage der IVW-kontrolliertem Titel von 622.500 auf knapp 3 Mio. Verkaufsexemplare. Nach Titeln die größten Sortimente haben die Inhaltsgruppen Kultur, Reisen (beide knapp über 30) und Wissenschaft (26 Titel). Nach der Auflage dominieren die Wissenschaftstitel mit 1 Mio. IVW-kontrollierter Verkaufsauflage vor den Reisezeitschriften (knapp 800.000). 52 Titel wurden erst nach der Jahrtausendwende gegründet. Marktführer mit Auflagen über 400.000 Verkaufsexemplare sind zwei bereits in den 70er Jahren gegründete Titel: das thematisch sehr umfassend aufgestellte Geo und das recht populärwissenschaftlich gehaltene P.M. Magazin. Unter den Neugründungen der letzten Jahre dominieren deutlich Reisezeitschriften. Kinder- und Jugendzeitschriften

Der Markt der Kinder- und Jugendzeitschriften hat sich in den 30 Jahren kräftig verändert. Anstatt früher 28 Titeln drängen sich nunmehr 108 in die

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Andreas Vogel

Regale der Händler. Dabei sind reine Comic-Magazine in diesen Zahlen gar nicht enthalten. Die IVW-Gesamtauflage der Jugendpresse stieg von 1,95 Mio. auf inzwischen noch 2,7 Mio. Verkaufsexemplare an; Mitte der 90er Jahre war zeitweise die 5-Mio.-Marke überschritten worden. Bei der Kinderpresse gab es eine kontinuierliche Steigerung von 429.000 auf 2,35 Mio. Verkaufsexemplare.9 Der Marktführer unter den Jugendzeitschriften Bravo (579.000 Verkaufsexemplare) war dies auch schon 1975. Aber jede zweite Jugendzeitschrift des Jahres 2005 erscheint erst seit dem Jahre 2000 oder später. Dabei sind die häufigsten Konzeptkerne seit Jahren Popstars und Serienhelden. Drei von vier Titeln des gesamten Segments richten sich an Kinder. Und während früher die Zeitschriften redaktionell ganz eigenständig konzipiert wurden, dominieren heute Lizenz-Ausgaben zu Fernsehserien und Spielzeugwelten. Auch unter den Kinderzeitschriften ist mit Micky Maus (363.300 Verkaufsexemplare) der Marktführer ein Klassiker. Die Kombination von Comic und redaktionellen Beiträgen ist in diesem Segment häufig. Platz zwei hat sich das seit Ende 1997 periodische Erlebnismagazin Geolino aus der Geo-Familie erarbeitet. Motorpresse

Verfünffacht von 19 auf 107 Titel hat sich im Untersuchungszeitraum das Spektrum der Motorpresse. Ihre IVW-Gesamtauflage stieg in den 30 Jahren von rund 1,4 Mio. auf knapp 4 Mio. Verkaufsexemplare im vierten Quartal 2005.10 Um 1996 wurde hier ein Wert von 5 Mio. Heften überschritten. Knapp die Hälfte der Zeitschriften behandeln PKWs, ein Drittel Motorräder. Marktführer ist mit Abstand die 1986 gegründete Auto Bild (601.000 Verkaufsexemplare). Der Titel ist heute die erfolgreichste internationale Autozeitschrift und hat im Kontext der Bild-Dachmarke eine eigene Markenfamilie mit verschiedenen Tochterblättern und umfangreichen digitalen Angeboten entwickelt. Die nächsten drei Konkurrenten bestanden alle bereits vor 1970. Nach 2000 wurden 39 der heutigen Titel im Gesamtsegment gegründet. Keiner dieser Titel übersteigt eine kontrollierte Auflage von 80.000 Verkaufsexemplaren. Unter den jüngeren Gründungen fal-

9

10

Allerdings bleibt in dieser Betrachtung für die Jahre 1975 bis 1993 Micky Maus außer Betracht, da der Titel in dieser Zeit als reines Comicmagazin gestaltet war. Micky Maus verkaufte im Jahre 1975 rund 240.000 Hefte. Die ebenfalls als Publikumszeitschrift IVW-gemeldete ADAC Motorwelt ist ein Mitgliedschaftsmagazin. Der Titel gehört damit zu einer anderen Pressegattung und wird für diese Darstellung ausgeschlossen.

Die Publikumspresse gestern, heute, morgen

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len vermehrt Titel auf, deren Konzepte sich hin zu lebensweltlichen Themen entgrenzen. Beispiele hierfür sind format:MINI oder DeLuxe. Wohnen/Werken

Die Objektklasse Wohnen/Werken boomt ebenso wie Familie/Leben. Ihre Entwicklung ist ein Spiegel des von den Soziologen Cocooning genannten Trends: Das eigene Zuhause findet bei den Menschen erhöhte Aufmerksamkeit, zugleich findet ein Rückzug in diese eigene Privatsphäre statt. Gab es 1975 nur 22 Titel, so steigerte sich die Auswahl bis in das Jahr 2005 auf 95 Zeitschriften. Hierbei sind reine Anleitungshefte11 nicht einmal mitgerechnet. Die Verkaufsauflage nach IVW stieg in den 30 Jahren von 1,4 auf 4,3 Mio. Verkaufsexemplare an. 1975 waren nur sieben Titel, Ende 2005 hingegen 49 Zeitschriften bei der IVW gemeldet.12 Nach Inhaltsgruppen dominiert das Wohnen mit 31 Titeln vor Hausbau (29), Garten (18) und Werken (16). Mehr als die Hälfte aller Titel sind Gründungen des neuen Jahrtausends. Marktführer ist aber mit rund 379.000 Verkaufsexemplaren Mein schöner Garten vor Schöner Wohnen (304.000); beide Titel erscheinen seit über 30 Jahren. Auf Rang drei folgt mit Living at Home (230.400 Verkaufsexemplare) eine Zeitschrift neuerer Art: Erst seit 1999 entstehen in dieser Objektklasse Zeitschriftenkonzepte, die bisher getrennte Themen des Segments in einem Titel bündeln. Die neue Inhaltsgruppe „Allgemein“ umfasst inzwischen bereits zehn solcher Titel. Computer/Kommunikation

Im Jahre 1975 gab es noch keine einzige Computerzeitschrift in Deutschland. Auch CB-Funk oder Mobilfunk waren noch kein Thema. 11

12

Anleitungshefte enthalten keine redaktionell-journalistischen Beiträge. Beispiele wären reine Stickmusterhefte, Mal- und Bastelvorlagen oder auch – in der Objektklasse Familie/Leben – Kochrezeptsammlungen und Strickvorlagen. Ausgeschlossen wurde in dieser Berechung die ganz überwiegende Auflage der Zeitschrift Das Haus. Diese nach eigenen Angaben mit rund 1,9 Mio. Verkaufsexemplaren größte Bau- und Wohnzeitschrift Europas ist streng genommen kein Titel der Publikumspresse. Denn die Bezieher sind fast nur Mitglieder von Bausparkassen, die den Titel (zehn Ausgaben jährlich, Copypreis 1,40 Euro) für einen Betrag von etwas mehr als 7 Euro jährlich bestellen. Dies dürfte gerade die Vertriebskosten decken. Zum Normalpreis wurden im 4. Quartal 2005 rund 2.640 Exemplare im Einzelhandel verkauft, Normalpreis-Abonnenten gibt es nicht. 1975 lag bei einer Verbreitung von 3,6 Mio. Exemplaren die Einzelverkaufsauflage noch bei 58.000 Heften.

60

Andreas Vogel

Erst Jahre später erzwang die technologische Entwicklung und damit einhergehend eine Fülle einschlägiger Zeitschriften eine eigene Objektgruppe Computer/Kommunikation. So füllen 1975 nur zwei Titel für Funkamateure die Titellücke.13 Nachdem Ende der 70er Jahre die CB-FunkWelle losbrach, wuchs das Segment erstmals kräftig. 1978 dann erschien mit Chip die erste Publikumszeitschrift für Computerfans, die ihre Auflagenführerschaft bis Anfang der 90er Jahre verteidigen konnte. Im Jahre 2005 ist die Objektklasse auf 87 Titel angewachsen. 33 Titel melden der IVW eine Verkaufsauflage von insgesamt 5,25 Mio. Damit ist der Zenit aber bereits überschritten, denn im Spitzenquartal des Jahres 2000 wurden 8,4 Mio. Hefte verkauft. Marktführer ist seit der Gründung 1996 Computer Bild (713.000 Verkaufsexemplare), vom Start 1999 an gefolgt von Computer Bild Spiele (519.600 Verkaufsexemplare). Mit 34 Zeitschriften werden die meisten Titel in der Inhaltsgruppe Computerspiele14 herausgegeben, gefolgt von 23 systemspezifischen Zeitschriften zu den Betriebssystemen Windows, Linux und Apple. Eher kommunikationsorientierten Themen (Handy, Internet) haben sich 18 Titel zugewandt. Audio/Film/Foto

Ihren drei Inhaltsgruppen entsprechend versammelt die Objektklasse Audio/Film/Foto ihre Titel. Bei einem Zuwachs von 17 auf 73 Titel hat sich der Charakter der Zeitschriften in den 30 Jahren kräftig geändert. Grund ist die Digitalisierung der Technik, wodurch bestehende Themengrenzen gesprengt wurden. Viele Fotoapparate können nun digital grundsätzlich auch filmen, viele Mobiltelefone können fotografieren. Computer spielen Musik ab, ermöglichen das Bearbeiten und Archivieren von Filmen und Fotos. Die IVW-Verkaufsauflage stieg in den Jahren von 206.000 Heften auf 1,63 Mio. Hefte an. Dieser Wert wurde allerdings auch schon um 1990 erreicht und sank bis zum Markterfolg neuer Konzepte kontinuierlich. 1975 war jeder zweite Titel eine Foto-Zeitschrift. Im Jahre 2005 bilden hingegen 13

14

Einer davon, die 1924 gegründete Funkschau, hat 1994 die Pressegattung gewechselt. Ihre Neukonzeption richtet sich seitdem ausschließlich an den beruflich mit dem Thema Telekommunikation und Netzwerke befassten Personenkreis. Diese Gruppe umfasst auch Zeitschriften für die verschiedenen Konsolen. Reine Lösungshefte ohne journalistisch-redaktionelle Inhalte (vorwiegend CheatSammlungen oder Komplettlösungen) oder auch Softwaresammlungen (in denen die Software auf der beigefügten CD/DVD den Mittelpunkt bildet) zählen nicht zur engeren Publikumspresse und werden in diesen Zahlen nicht mit abgebildet.

Die Publikumspresse gestern, heute, morgen

61

31 Film- und Videozeitschriften die größte Inhaltsgruppe, Foto und Audio sind mit 17 bzw. 15 Heften nahezu gleichauf. In den Jahren 2003/2004 entsteht auch in diesem Segment eine neue Inhaltsgruppe „Allgemein“ für nunmehr übergreifende Konzepte. Zwölf Jahre widmete sich ausschließlich Hifi Test TV Video mehr als einem Bereich. Nun wuchs die Gruppe innerhalb von drei Jahren auf elf Titel an. Auch die beiden Auflagenführer sind hier dabei: Audio Video Foto Bild, gegründet 2003 (363.200 Verkaufsexemplare) und SFT, gegründet Ende 2004 (246.300 Verkaufsexemplare), deklassierten vom Start weg den langjährigen Marktführer Cinema. Fazit

Gesamtauflage in Mio.

Titelzahl 120

600 Verkaufte Auflage

100

500 Titelzahl

80

400

60

300

40

200

20

100

0

0

1975

1980

1985

1990

1995

2000

2005

Abb. 1. Entwicklung der Publikumspresse – Verkaufsauflage und Titelzahl nach IVW, gattungsbereinigt (ohne z. B. Mitgliedschafts- oder Kundentitel)

Damit soll an dieser Stelle der Blick in die titelgrößten Objektklassen enden; die auflagenhöchsten waren es nicht. Die Programmpresse verkaufte im Jahre 2005 rund 19,1 Mio. Exemplare, mit insgesamt 31 Titeln. 1975 hatten acht Titel rund 12,6 Mio. Hefte verkauft; als bisheriger Spitzenwert wurden 1992 knapp 22 Mio. Verkaufsexemplare erreicht. Die Frauenpresse steigerte sich in den 30 Jahren von 6,8 auf 10,86 Mio. Verkaufsexemplare, ihre Titelzahl verdoppelte sich von 18 auf 37 Zeitschriften. Im Zenit erreichte sie 1995 knapp 14 Mio. Hefte. Zur Objektklasse Unterhaltung/Gesellschaft gehörten 2005 insgesamt 69 Hefte, 1975 waren es 24.

62

Andreas Vogel

Die IVW-Gesamtauflage betrug vor 30 Jahren 8,6 Mio. Hefte und 1975 insgesamt 8,75 Mio. – also faktisch kein Anstieg. Doch 1990 war schon einmal die 11-Mio.-Marke überquert worden. Nur die Titelzahl ist gestiegen: von 24 auf 69 Zeitschriften. Die Gesamtdaten bestätigen einen Trend, der den Verlagen große Sorge bereitet: Die Verkaufsauflagen der Publikumspresse stagnieren nicht nur, sie sinken seit Jahren. Absatz und Umsatz des Pressevertriebs schrumpfen entsprechend. Die Gesamtauflage nach IVW bewegt sich heute auf dem Niveau des Jahres 1991 (siehe Abb. 1).

5

Das Morgen – Erwartungen und Erfordernisse

Was also bringt die Zukunft? Die Entwicklung in den letzten Jahren ist eindeutig: In vielen Objektklassen sind die neuen Konzepte erfolgreich, die gut durchdachte Mischungen unterschiedlicher Themenbereiche anbieten. Die Axel Springer AG hat diese Strategie mit Titeln, die sie der Bild-Markenfamilie hinzugefügt hat, konsequent und höchst erfolgreich umgesetzt und so neue Marktführer geschaffen. Bei den meisten der heutigen Neugründungen ist eindeutig zu beobachten: Ihr Charakter ist nicht die Segmentierung von Themen, sondern ihr Zusammenbinden auf neuartige Weise. Und weil dies nicht nur innerhalb der recht stabilen Objektklassen geschieht, sondern auch quer zu ihnen (Auto und Lebensart, Mode und Musik, Frauen und Psychologie), wächst auch die Gruppe der Illustrierten mit ihren vielfältigen Themenkonzepten kräftig mit. Gerade im Segment der jungen Illustrierten wird es zukünftig noch viel Bewegung geben. Das Ende der Segmentierungsstrategien bringt einerseits Chancen auf höhere Auflagen neuer Titel mit sich, denn im Idealfall werden mehrere Teilpublika zugleich angesprochen sowie als Käufer und Leser erreicht. Doch es steht zu befürchten, dass nur Großverlage diese Strategie wirklich Erfolg versprechend umsetzen können. Denn sie besitzen die notwendigen Voraussetzungen, um sich mit den neuen Titeln im Markt bemerkbar zu machen. Nur sie können x x x x x

einen großen Millionenetat für Einführungsmarketing einrichten, umfangreiche Werbung in eigenen Medien günstig platzieren, neue Titel an bestehende Produktfamilien anbinden, ihre Vertriebsmacht zu Platzierungsvorteilen im Pressehandel nutzen, Preisstrategien wählen, die bestehende Wettbewerber unterbieten.

Die Publikumspresse gestern, heute, morgen

63

Die meisten Käufer der Publikumspresse unterliegen dem Irrtum, ganz überwiegend mitzubekommen, welche Neuerscheinungen es im Pressehandel gibt. In einer repräsentativen Befragung äußerten im Jahre 2005 nur rund zehn Prozent der Befragten, sie bekämen es „meistens gar nicht mit, dass es neue Titel auf dem Zeitschriftenmarkt gibt“15. Tatsächlich hat der durchschnittliche Käufer unter den heutigen Gegebenheiten wohl kaum Chancen, von den jährlich 120 bis 150 neuen Periodika im Pressehandel auch nur ein Drittel wahrzunehmen. Die Inhalte der neuen Titel passen zudem durch ihre Themenmischungen immer schwerer in die traditionellen Regalordnungen des Pressehandels. Damit steigt auch die Gefahr, dass sich ein Titel in einer völlig falschen Gesellschaft im Verkaufsregal wiederfindet und damit zwangsweise zum Remissionsfall wird. Die Folgen liegen auf der Hand: frustrierte Verleger, verwirrte Kunden, überforderter Einzelhandel, weiter sinkende Absatz- und Umsatzzahlen des Einzelverkaufs auch bei einer konjunkturellen Erholung – wer dies nicht hinnehmen will, muss handeln und die Präsentation der Zeitschriften gerade im Pressefachhandel radikal überdenken. Das Problem der übervollen Regale wird sich nicht auf natürliche Weise lösen – eine Konsolidierung des Gesamtsortiments durch zunehmende Marktaustritte und damit sinkende Titelzahlen ist nicht zu erwarten. Aber auch eine stärkere Selektivität, gar Beschränkung auf die Brotobjekte, ist kein Weg. Nicht nur aus grundsätzlichen verfassungsrechtlichen Gründen muss der Pressehandel allen journalistischen Produkten offen stehen – er braucht die Vielfältigkeit auch aus ökonomischen Gründen. Denn Konkurrenz und Innovation beleben das Geschäft und verhindern im Wettbewerb mit anderen, elektronischen Medien den drohenden Abstieg einer ganzen Gattung. Die Schlüsselbegriffe für Absatz- und Umsatzsteigerung – eine Erholung der allgemeinen Konsumlust vorausgesetzt – lauten: Qualität ins Regal, Wahrnehmungschancen für jeden neuen Titel, Erlebniskauf. Das Sortiment der Publikumspresse hält heute für jeden attraktive Lesestoffe bereit – zu Preisen, die gemessen an anderen Medienvergnügungen sehr günstig sind. Das zu wissen und dann auch noch den „richtigen“ Titel aufzufinden – das ist das Problem. Aber genauso findet man heute leider auch schrecklich überteuerte, zudem schlechte gemachte, gar veraltete, wiederholt gedruckte und für neu ausgegebene Zeitschriften, gar Reklamehefte von Firmen als Publikumszeitschriften im Pressesortiment.

15

Persönliche Interviews mit 1.661 Personen durch TNS Emnid, Pressemitteilung vom 7. Juli 2005.

64

Andreas Vogel

In fast allen Branchen steht der Fachhandel für Qualitätsbewusstsein – jedoch der Pressehändler präsentiert das hochwertige Erlebnismagazin und das fade Ärgernis nebeneinander im selben Regalfach.

Literaturverzeichnis Stöber, R. (2005): Deutsche Pressegeschichte. 2. Aufl. UTB, Konstanz. Vogel, A. (2004): Konsolidierte Großkonzerne bereit zu erneutem Wachstum. Daten zum Markt und zur Konzentration der Publikumspresse in Deutschland im I. Quartal 2004. In: Media Perspektiven 7, S. 322–338. Vogel, A. (2006): Stagnation auf hohem Niveau. Daten zum Markt und zur Konzentration der Publikumspresse im I. Quartal 2006. In: Media Perspektiven 7, S. 380–398.

Neuerscheinungen im Markt der Publikumspresse – Wissensmagazine

Margit Dorn

1

Wissen im Trend

Ende Januar 2005 veröffentlichte die NZZ den Artikel „Wissen kann kaum schaden“1, der eine Hochkonjunktur von Wissensthemen in den Medien vermeldete. Ob es nun vor allem am „Pisa-Schock“ liegt oder an der veränderten Vermittlungsqualität des modernen Wissenschaftsjournalismus: Die Medien sehen für Berichte aus der Wissenschaft eine wachsende Nachfrage. Die Tatsache, dass längst nicht nur überregionale Tageszeitungen tägliche Wissensrubriken drucken, sondern sogar die privaten Fernsehsender verschiedenste Programmformate mit Themen aus der Wissenschaft pflegen, zeigt, dass damit offensichtlich auch Geld verdient werden kann. Ein solcher Trend geht an der Publikumspresse nicht vorbei. Zum Jahresende 2004 waren zwei neue Wissensmagazine auf den Markt gebracht worden: Süddeutsche Zeitung – Wissen und Zeit Wissen. Beide Titel wurden aus den Redaktionen der jeweiligen Mutterblätter heraus entwickelt. Marktforscher beider Verlagshäuser hatten aus Leseranalysen ein gesteigertes Interesse der Leser an Wissensthemen ermittelt. Die Verlage lieferten sich sodann einen Wettlauf, wer seinen Titel zuerst am Kiosk hatte: Zeit Wissen schaffte es am 2. Dezember 2004 zwei Tage vor Süddeutsche Zeitung – Wissen. Inzwischen haben sich beide Magazine nebeneinander etabliert und erscheinen jeweils zweimonatlich. Zur Jahresmitte 2005 testete dann auch der Burda-Verlag den Markt der Wissensmagazine. 1

Heribert Seifert in: Neue Zürcher Zeitung, 28.01.2005.

66

Margit Dorn

Wunderwelt Wissen erschien am 20. Mai als Sonderheft zur gleichnamigen Fernsehserie auf ProSieben. Der Erfolg des Objektes blieb dann aber offenbar hinter den Erwartungen zurück – es kam bislang keine Fortsetzung. Im Oktober 2005 schließlich brachte der Heinrich Bauer-Verlag Welt der Wunder heraus, ebenfalls begleitend zu einer Fernsehserie gleichen Titels auf RTL II. Das Magazin soll monatlich erscheinen. Nun stellen Wissensmagazine an sich keine Novität auf dem Pressemarkt dar. Im Jahre 2004, als die neuen Titel in Planung waren, bestanden bereits rund 20 verschiedene Zeitschriften, die sich mit Themen aus den Wissenschaften an das Laienpublikum wendeten. Das Segment der Wissenschaftsmagazine versammelt sowohl Titel, die Themen aus verschiedenen Wissenschaften behandeln, als auch Titel, die auf eine Wissenschaft spezialisiert sind. Die vier hier zu betrachtenden neuen Zeitschriften gehören zur Gruppe der allgemeinen Wissensmagazine und haben überdies ein multithematisches Konzept. Dies ist der Grund, warum der ebenfalls neue Titel Geo Kompakt (erstmals im November 2004 erschienen) hier nicht berücksichtigt wird: Dabei handelt es sich um eine monothematische Heftreihe, welche mit den anderen Neuerscheinungen nicht unmittelbar vergleichbar ist. Dieser Beitrag betrachtet die vier neu herausgegebenen Wissensmagazine genauer. Produktanalysen bilden dabei die Grundlage, um die Heftkonzepte genauer zu beschreiben und zu vergleichen. Dazu gehören Ausstattungsmerkmale ebenso wie das Themenspektrum, der Anzeigenumfang oder der Anteil und die Qualität der Bilder. Bei Süddeutsche Zeitung – Wissen und Zeit Wissen wurden die Erstausgabe und das jeweils neueste Heft analysiert, bei den beiden anderen Titeln die verfügbaren Ausgaben. Was bieten die neuen Wissensmagazine Ihren Lesern? Welche Zielgruppen werden angesprochen? Dieser Beitrag beschäftigt sich darüber hinaus damit, wie die Neuerscheinungen sich in das bestehende Angebot an allgemeinen Wissensmagazinen einfügen und wie sich das Segment in den letzten Jahren entwickelt hat.

allg.

allg.

(Wunderwelt Wissen)

Welt der Wunder

Biologie

Erdkunde

Geschichte

Geschichte

Metereol.

Paläontol.

Psychol.

Psychol.

Der Falke

Geo special

P.M. History

Die Zeit - Geschichte

Wettermagazin

Fossilien

Psychologie heute

Gehirn & Geist

Astron.

allg.

ZeitWissen

Astronomie heute

allg.

Süddeutsche Zeitung Wissen

Astron.

allg.

Geo Kompakt

Interstellarum

allg.

Technology Review

Astron.

allg.

National Geographic Deutschland

Raumfahrt Journal

allg.

P.M. Perspektive

Astron.

allg.

Raum & Zeit

Sterne und Weltraum

allg.

WechselWirkung

Archäol.

allg.

Spektrum der Wissenschaft

Abenteuer Archäologie

allg.

P.M. Peter Moosleitners

Charakter

allg.

Titel

Bild der Wissenschaft

Seit

2002.02

1974

1984

2006.01

2005.01

1998.02

1981

1954

2003.02

1994.06

1990.08

1962

2004.02

2005.09

2005.05

2004.12

2004.12

2004.11

2003.09

1999.10

1986

1983

1979

1978.10

1978.10

1964.01

10x jährl.

mtl.

2x mtl.

mtl.

4x jährl.

mtl.

6x jährl.

mtl.

10x jährl.

2x mtl.

2x mtl.

mtl.

4x jährl.

mtl.

nur 1 Heft

2x mtl.

4x jährl.

4x jährl.

mtl.

mtl.

4x jährl.

2x mtl.

2x mtl.

mtl.

mtl.

mtl.

Erscheint

7,90

5,10

8,70

4,90

4,50

4,30

7,80

4,60

6,50

6,90

6,90

7,60

7,90

3,00

3,00

5,00

5,00

8,00

5,80

4,20

5,00

8,80

9,80

6,90

3,00

6,90

Preis

88.000

60.000

85.593

71.374

10.400

2.000

17.154

17.000

>100.000

80.000

70.000

45.119

243.222

96.819

410.999

106.215

Verkauf

Druck

45.000

140.000

3.200

70.000

100.000

161.833

181.898

11.000

31.000

2.500

2.400

28.290

25.000

250.000

200.000

150.000

240.000

61.811

344.534

150.000

30.000

122.762

531.333

131.737

Verlag

Spektrum der Wissenschaft

Julius Beltz

Quelle & Meyer

DMVG

Zeitverlag Gerd Bucerius

Gruner + Jahr

Gruner + Jahr

Aula

Spektrum der Wissenschaft

Oculum

Torsten Block Publishing

Spektrum der Wissenschaft

Spektrum der Wissenschaft

Bauer

Burda Senator-Verlag

Zeitverlag Gerd Bucerius

Süddeutscher Verlag

Gruner + Jahr

Heise Zeitschriften

Gruner +Jahr / RBA

Gruner + Jahr

Ehlers Verlag

Stichting Vijlen Institute

Spektrum der Wissenschaft

Gruner + Jahr

Konradin Medien

Neuerscheinungen im Markt der Publikumspresse – Wissensmagazine 67

Tabelle 1. Das Segment der Wissensmagazine (Stand: Februar 2006)

68

2

Margit Dorn

Zeit Wissen

Das mit 124 Seiten umfangreichste der neuen Wissensmagazine des letzten Jahres ist eine Line Extension der Wochenzeitung Die Zeit.2 Mit einer Startauflage von 250.000 wurde der Titel zum Preis von 5 Euro in den Pressehandel gebracht. Umfang und Preis sind bislang stabil geblieben; der Verlag gibt eine aktuelle Druckauflage von 200.000 Exemplaren an, von denen rund 80.000 verkauft werden. Die Aufmachung von Zeit Wissen erfüllt alle Kriterien eines hochwertigen Magazins: gelumbeckt, verstärkter Umschlag, hochglänzendes, schweres Papier. Die Anzahl großformatiger Fotos ist hoch: Die Erstausgabe brachte neun doppelseitige und 18 einseitige Fotos, das neue Heft enthält sechs doppelseitige und 21 einseitige Fotos. Unter der Rubrik „Galerie“ verbirgt sich eine Fotostrecke mit hohem Schauwert. Ein Poster zum Herausnehmen mit Übersichten etwa zu den Weltreligionen (Heft 1/2005) oder mit einem Stammbaum von Aliens aus Film und Fernsehen (Heft 1/2006) ist als Gimmick für die Leserschaft gedacht. Zeit Wissen ist visuell eindeutig das stärkste der neuen Wissensmagazine. Das Heftkonzept basiert auf vier bislang unveränderten Hauptrubriken: Leben, Wissenschaft, Gesundheit und Technik. Hinzu treten kleine Rubriken wie z. B. Essay, Magazin, Szenario. Die Hauptrubriken sind so allgemein gehalten, dass sich eine Vielfalt von Themen dort unterbringen lässt. Die Rubrik Leben etwa nimmt alltagsnahe Themen wie die Fortentwicklung des Tampons ebenso auf wie grundlegende philosophische Fragen (z. B. ein Interview mit Fernando Savater über die Aktualität der zehn Gebote). Insgesamt dominieren Themen aus den Naturwissenschaften deutlich – in beiden untersuchten Heften kommen auf einen geisteswissenschaftlichen Beitrag rund vier naturwissenschaftliche.3 Eine knappe Heftvorschau kündigt drei Themen der kommenden Ausgabe an. Der reine Textanteil4 ist im Heft 1/2006 gegenüber 1/2005 von knapp 40 auf knapp 64 Seiten deutlich gestiegen. Dies mag u. a. daran liegen, dass das neueste Heft Zeit Wissen zehn Anzeigenseiten weniger enthält als das erste. Im Editorial der Erstausgabe sind die Ziele des neuen Titels umrissen: „ein wirklich anderes Wissensmagazin [...] entwickeln – eines, das sich 2

3

4

Im Januar 2005 startete der Zeit-Verlag außerdem den Titel Zeit Geschichte, der viermal jährlich erscheint. Bei dieser Zahl wurden nur Beiträge ab einer Seite Länge berücksichtigt, nicht jedoch die Kurzmeldungen und die Kleinrubriken. Dieser wird durch Zählen der Seitenanteile ermittelt, ist jedoch angesichts unterschiedlicher Schriftgrößen, Zeilenabstände etc. nur ein Näherungswert, der Größenverhältnisse sichtbar machen soll.

Neuerscheinungen im Markt der Publikumspresse – Wissensmagazine

69

nicht an wissenschaftliche Experten wendet, aber trotzdem Tiefe hat, das Wissen in moderner und auch unterhaltsamer Weise präsentiert“5. Zeit Wissen nimmt für sich in Anspruch, eine Top-Leserschaft zu erreichen. Nach einer Leserbefragung vom Januar 2005 haben 87 Prozent der Wiederkäufer Abitur, 71 Prozent sind in leitenden Positionen tätig.6

3

Süddeutsche Zeitung – Wissen

Der Süddeutsche Verlag brachte sein Wissensmagazin mit einer Startauflage von 150.000 Exemplaren zum Preis von 4 Euro auf den Markt. Nach wie vor umfasst der Titel 100 Seiten, kostet aber inzwischen wie der Konkurrent aus Hamburg 5 Euro. Von der Druckauflage werden nach Verlagsangabe rund 70.000 Exemplare verkauft. In der Ausstattung steht das Magazin des Süddeutschen Verlages Zeit Wissen kaum nach: nur dass hier etwas matteres Papier verwendet wird. Die Erstausgabe enthielt mit fünf doppelseitigen und 14 einseitigen Fotos einige weniger als Zeit Wissen. Die neueste Ausgabe von Süddeutsche Zeitung – Wissen hat, berücksichtigt man den geringeren Umfang, mit zehn doppelseitigen und neun einseitigen Fotos zum Konkurrenten in etwa aufgeschlossen. Süddeutsche Zeitung – Wissen verzichtet ganz auf Hauptrubriken. Die einzelnen Beiträge werden mit ihren jeweiligen Disziplinen rubriziert. Das Spektrum reicht hier von Mikrobiologie und Kardiologie über Werbepsychologie, Naturschutz, Ernährung bis hin zu Architektur und Kunst. Die Mischung aus natur- und geisteswissenschaftlichen Themen ist im ersten Heft 2005 etwa 3:1. Das erste Heft 2006 präsentiert sich hingegen – wohl aufgrund des Titelthemas „Musik“ – ausgewogen. Eine Vorschau gibt es in Süddeutsche Zeitung – Wissen nicht: das nächste Heft als Überraschungspaket. Eine Reihe Kleinrubriken strukturieren die Zeitschrift mit wiederkehrenden Elementen: Sie haben Titel wie „Orte des Wissens“, „Wunder des Alltags“ oder „Helden der Forschung“. Der Anzeigenumfang ist in beiden untersuchten Ausgaben mit rund 14 Seiten stabil. Der reine Textanteil des neuesten Heftes liegt mit rund 28 Seiten niedriger als bei der Erstausgabe (ca. 35 Seiten). „Die neue Sicht der Dinge“ ist das Motto, das für das neue Wissensmagazin im Editorial ausgerufen wurde. Der traditionelle Wissenschaftsjournalismus mit seinem „oft in Ehrfurcht verklärten Blick“ soll abgelöst werden von einem Ansatz, der sich „frech, energisch und humorvoll“7 gibt. 5 6 7

Chefredakteur Christoph Drösser. Mediadaten des Zeit-Verlages. Redaktionsleiter Patrick Illinger.

70

Margit Dorn

Daten zur Leserschaft stellt der Verlag bislang nicht zur Verfügung. Der Titel der Süddeutschen Zeitung ist als einzige der Neuerscheinungen inzwischen zur IVW angemeldet.

4

Wunderwelt Wissen

Der Burda Senator-Verlag startete sein Magazin Wunderwelt Wissen mit einer Auflage von 280.000 Exemplaren. In den Pressemitteilungen zwar als Sonderheft angekündigt, wurde der Titel für die Käufer als Nr. 1 und mit „Monatsangabe Juni 05“ gekennzeichnet. Eine Fortsetzung war also durchaus angelegt. Zahlen für die verkaufte Auflage liegen nicht vor. Für 100 Seiten Umfang hatte der Leser hier 3 Euro auszugeben. Wunderwelt Wissen ist etwas hochformatiger als die beiden bereits beschriebenen Titel, ebenfalls gelumbeckt und mit verstärktem Umschlag, jedoch auf etwas leichterem Papier gedruckt. Der größte Unterschied zu den Line Extensions der „Qualitätszeitungen“ besteht im Layout, das deutlich weniger klar und einfach ist, sondern in seiner Buntheit und stärkeren Kleinteiligkeit eher an eine Unterhaltungszeitschrift erinnert. Diesen Eindruck bestätigt auch das „Foto des Monats – Die neue Mutti ist die Beste – Golden Retriever adoptiert Bambi“. Hier wird ganz offensichtlich eine Leserschaft angesprochen, die sich im Boulevard heimisch fühlt. Der Anteil großformatiger Fotos ist mit fünf doppelseitigen und zehn einseitigen Fotos etwas geringer als bei den beiden anderen Titeln. Eine hochwertige Fotografie steht hier weniger im Vordergrund. Die Bilder sind stärker illustrierend eingesetzt, stehen weniger für sich selbst. Fünf Hauptrubriken gliedern den Heftinhalt: Technik, Mensch, Natur, Geschichte und Unterhaltung. Themen aus Naturwissenschaft und Technik dominieren deutlich: Von den zehn größeren Beiträgen sind nur zwei aus dem Bereich der Geisteswissenschaft. Bei sechs Anzeigenseiten beträgt der reine Textanteil von Wunderwelt Wissen rund 40 Seiten. Die Themen werden – nicht ganz so ausgeprägt wie in Welt der Wunder; siehe unten – weniger mit ausführlichen Artikeln als mit einer Kombination kürzerer Textbausteine behandelt. Als Service enthält das Heft auch ein zweiseitiges Fernsehprogramm mit Wissenssendungen für vier Wochen. Das Editorial verweist auf das gemeinsame Ziel, mit den Kollegen der Fernsehserie gleichen Titels (sonntags auf ProSieben) „viele spannende Stunden zu bereiten. Mit Wissenschaft, die Wissen schafft – glaubwürdig und klar“8. 8

Chefredakteur Andreas von Lepel.

Neuerscheinungen im Markt der Publikumspresse – Wissensmagazine

5

71

Welt der Wunder

Mit 250.000 Exemplaren ging der Titel der Heinrich Bauer Verlagsgruppe im Herbst 2005 an den Start. Es ist dies bereits der zweite Versuch, die erfolgreiche Marke der Fernsehsendung auf RTL II in den Print-Bereich zu transferieren. Unter demselben Titel war von März 1998 bis Oktober 1999 ein Magazin der Deutschen Verlagsanstalt erschienen, welches in der Erstausgabe 119.000 Exemplare verkauft hat. Der Weiterverkauf an einen Schweizer Verlag hatte die Einstellung des Objektes nicht verhindert. Die zweite Version von Bauer mit dem Untertitel „Entdecken, Staunen, Wissen“ kostet bei einem Umfang von 100 Seiten 3 Euro. Mit dem Verkauf der ersten beiden Ausgaben (nach Verlagsangaben deutlich über 100.000 Exemplare) war man bei Bauer so zufrieden, dass monatliches Erscheinen angekündigt wurde. Die Ausstattung von Welt der Wunder ist die einfachste der untersuchten Titel: geheftet, mittlere Papierqualität. Der Bildanteil ist sehr hoch: allein elf farbige Doppelseiten und 17 einseitige Bilder enthält die Erstausgabe. Darunter sind einige hochwertigere Naturfotos, aber auch eine Reihe rein illustrativer Bildtapeten. Welt der Wunder wählt als Hauptrubriken Wissenschaft, Technik, Mensch, Natur und Medizin. Jedes der beiden Hefte enthält bei je 13 größeren Beiträgen zwei aus den Geisteswissenschaften. Bisher konnten fünf bzw. sechs Anzeigenseiten belegt werden. Der reine Textanteil liegt bei etwa 35 Seiten. Hierbei ist aber anzumerken, dass das Layout deutlich größere Schriften wählt als bei den anderen Wissensmagazinen und überdies viele Texte häppchenweise verabreicht werden – als ausführlichere Bildunterschriften oder als ergänzende Texteinheiten. Die Hauptartikel selbst sind deutlich kürzer als bei den Magazinen der Süddeutschen Zeitung und der Zeit. Der Titel setzt einen ein stark anwendungsbezogenen Akzent auf „Veränderungen, die unser Leben bestimmen“9.

6

Ähnliche Themen – unterschiedliche Zielgruppen

Alle vier Neuerscheinungen reklamieren für sich – in Abgrenzung zu den bereits etablierten Wissensmagazinen – einen modernen Wissenschaftsjournalismus zu liefern: unterhaltsam, lebensnah, ohne Berührungsängste. (Inwiefern die behauptete Modernität tatsächlich zutrifft und sich die neu9

Chefredakteur Uwe Bokelmann.

72

Margit Dorn

en Titel tatsächlich so deutlich von den bereits etablierten unterscheiden, wäre nur durch eine komplexe Inhaltsanalyse zu klären). Es wird deutlich kommuniziert, dass Wissenschaft nicht ernst, kompliziert und langweilig zu sein braucht. Verständlichkeit ist deshalb für alle Neugründungen ein wesentliches Anliegen. Alle Titel verwenden eine Vielzahl von Infografiken, Tabellen und Schaubildern, um Wissen anschaulicher aufzubereiten. Viele Fotos, Abbildungen, Illustrationen sollen den Magazinen einen starken Erlebniswert verleihen. Die neuen Wissensmagazine unterscheiden sich im Hinblick auf ihr Themenspektrum nicht grundsätzlich. Bei allen Titeln wurde eine Konzentration auf die Naturwissenschaften erkennbar; Süddeutsche Zeitung – Wissen gibt (in den untersuchten Ausgaben) den Geisteswissenschaften etwas mehr Raum. Alle Magazine wählen einen Zugang über ein Moment der Faszination einerseits oder des Alltagsbezugs andererseits. Eine kleine Auswahl von Überschriften mag das veranschaulichen: x x x x x x x x x

Massenmörder Grippe (ZW 01/05) Welches Tier tötet am schnellsten? (WeWu 02/05) Wie kämpfen die modernsten Soldaten der Welt? (WeWu 02/05) Die Anti-Falten-Lüge (ZW 01/05) Wie sicher sind die neuesten Wolkenkratzer? (WuWi) Die Küche lebt (SZW 01/05) Wie verändert das TV unser Gehirn? (WeWu 01/05) Wie gut funktioniert elektronische Gesichtserkennung? (SZW 01/05) Fluchen ist ein menschlicher Urtrieb (SZW 01/06)

Super-Grippe, Super-Vulkane, Super-Waffen: Die Magazine sind auf der Spur der Superlative und des Spektakulären. Zahlen und Größenordnungen spielen in allen Heftkonzepten eine Rolle. Hinzu tritt die Strategie, auf Ängste des Publikums einzugehen: neue Viren, neue Einbruchswerkzeuge, die Gefahr der Blitze sowie die Schrecken des Kühlschranks, des Fahrstuhls und der Atombombe in Terroristenhand – alle untersuchten Titel enthalten entsprechende Beiträge. Angesichts eines wissensdurstigen Publikums verzichtet kein Titel auf Rätsel/Preisrätsel, die überdies ja auch dazu beitragen, eine Leser-Blatt-Bindung aufzubauen. Worin sich die Konzepte freilich unterscheiden, ist die Art der Präsentation und der Zielgruppenansprache. Zeit Wissen und Süddeutsche Zeitung – Wissen wenden sich an das überdurchschnittlich gebildete Publikum, das auch Publikationen wie die beiden Mutterblätter rezipiert und es gewohnt ist, längere Artikel zu lesen. Diese Zielgruppe dürfte auch den höheren Preis der Titel akzeptieren. Die Artikel sind deutlich umfangreicher als bei den anderen beiden Magazinen. Zeit Wissen bietet die mit Abstand größte

Neuerscheinungen im Markt der Publikumspresse – Wissensmagazine

73

Menge an Lesestoff. Die klare Optik mit zurückhaltender Farbigkeit und die überwiegend hochwertige Fotografie bedienen eine anspruchsvolle Leserschaft. Überschriften wie „Essenz des Menschseins“ (für einen Artikel über Musik; SZW 01/06) oder „Die Deutschen Kreationisten“ (über die Zweifler am Darwinismus; ZW 01/06) setzen einen gewissen Bildungshorizont voraus. Mit Rubrikbezeichnungen wie „Die Korrekturen“ (SZW) können die Leser auch einen literarischen Kontext assoziieren – Wissen auch als Spiel mit Referenzen. Zum redaktionellen Programm gehören Buchbesprechungen, bei Zeit Wissen auch Kurzkritiken für Software. Wunderwelt Wissen und Welt der Wunder zielen auf ein breiteres Publikum. Der Bezug zu den Fernsehsendungen erhöht den Bekanntheitsgrad bei den Käufern – ohne dass die Beiträge sich direkt auf Fernsehfolgen beziehen würden. Durch den günstigeren Preis sind die Magazine von Burda und Bauer grundsätzlich für einen breiteren Personenkreis erschwinglich. Die Informationen werden hier deutlich stärker als bei den anderen beiden Titeln in kleinere Texteinheiten verpackt. Mit der starken Farbigkeit und dem kleinteiligeren Layout positionieren sie sich optisch in der Nähe zu Unterhaltungszeitschriften – Wunderwelt Wissen enthält auch eine Rubrik Unterhaltung. Anspielungen beziehen sich eher auf die populäre Kultur: „Der Riese, der aus der Tiefe kam“ (WeWu 02/05). Themen werden als Fragen präsentiert: „Wo liegt der größte Schatz der Menschheit?“ (WeWu 01/05). Die Prise Sex darf nicht fehlen: „Lässt Sex Männer schneller altern?“ (WeWu 02/05) oder „So riecht die Lust“ (WuWi). Beide Magazine versorgen ihre Leser mit Links zu weiterführenden Informationen. Wunderwelt Wissen enthält zudem Literaturhinweise. Längere Buchbesprechungen finden sich hier nicht.

7

Marktlücke Wissen?

Die vier Verlage der hier untersuchten Neuerscheinungen sahen im Wissenschaftssegment eine Marktlücke. Sie wollten Wissensthemen für ein Publikum erschließen, das bislang nicht zu den etablierten Wissensmagazinen gegriffen hat. Alle Verlage haben dabei auf die Strategie eines Markentransfers gesetzt: Zeit-Verlag und Süddeutscher Verlag nutzen das Image der Mutterblätter – seriös, kompetent, anspruchsvoll etc. – um Leser auch für ihr Wissensmagazin zu gewinnen. Sie bewegen sich damit, auch im Hinblick auf ihre bislang erreichten Verkaufsauflagen, in einem eher elitären Bereich. Burda und Bauer übernahmen in Lizenz die Titel der Fernsehserien in der Erwartung, dass deren Bekanntheit sich in einen Kaufimpuls für die neuen Print-Produkte umsetzt. Dieses Kalkül geht –

74

Margit Dorn

wie im Fall Burda – nicht unbedingt auf. Die im Vergleich zu den anderen Titeln hohen Verkaufserwartungen erfüllten sich nicht, die Lizenzkosten erschienen in der Relation als zu hoch.10 Bei Bauer ist man als Mitgesellschafter von RTL II11 in Bezug auf die Fernsehlizenz und die Kostenseite in einer deutlich günstigeren Position. Der Markt der Wissensmagazine ist relativ gut besetzt. Zusammen mit den Neugründungen bestehen im März 2006 zwölf Titel mit allgemeiner Ausrichtung. Am längsten erscheint hier Bild der Wissenschaft – seit 1964. Hinzu kommen weitere 13 Titel, die sich speziellen Wissenschaften widmen, von der Archäologie bis zur Psychologie. Die auflagenstärksten allgemeinen Wissensmagazine sind mit Abstand P.M. Magazin (Gruner + Jahr), gefolgt von National Geographic Deutschland (Gruner + Jahr in Joint Venture mit dem spanischen Verlag RBA) und Bild der Wissenschaft (Konradin Medien). Gesamtauflage in Tsd.

Titelzahl

1.200

12 Titelzahl

1.000

10

Gesamtauflage

800

8

600

6

400

4

200

2

0

0

1975

1980

1985

1990

1995

2000

2005

Abb. 1. Wissensmagazine: Entwicklung von 1975 bis 2005

Das gesamte Segment der Wissensmagazine hat vor allem seit den 80er Jahren an Bedeutung gewonnen. Selbst wenn man nur die IVW-gemeldeten Titel berücksichtigt, wuchsen Titelzahl und Gesamtauflage damals kräftig – 1981 erreichten sechs Magazine zusammen eine Auflage von etwa 800.000 Exemplaren. In den 90er Jahren verlief die Entwicklung 10

11

Der Burda Senator-Verlag strebte nach Auskunft der Verlagsleitung rund 200.000 Verkaufsexemplare an. Die Heinrich Bauer Verlagsgruppe hält 31,5 Prozent an RTL II (Stand: März 2006).

Neuerscheinungen im Markt der Publikumspresse – Wissensmagazine

75

deutlich rückläufig, aber immer noch auf hohem Auflagenniveau, um sich seit 2000 dann insgesamt nochmals zu steigern. Fünf Magazine erreichen nunmehr Gesamtauflagen bis zu 900.000 verkaufte Exemplare. Die behauptete steigende Nachfrage nach Wissensthemen in den Medien bildet sich in der Publikumspresse also durchaus ab (siehe Abb. 1). Bei insgesamt ca. 3 Mio. Druckauflage werden heute in diesem Segment ca. 1,65 Mio. Exemplare pro Erscheinungsintervall verkauft. Betrachtet man die Entwicklung der etablierten allgemeinen Wissensmagazine im Einzelnen, so sind deren verkaufte Auflagen seit dem Jahre 2000 tendenziell wieder rückläufig, was dem allgemeinen Trend in der Publikumspresse entspricht. Die neu eingeführten Wissensmagazine haben diesen Trend offenbar nicht beschleunigt – es sind für 2005 bei den IVWgemeldeten Titeln keine signifikanten Rückgänge zu verzeichnen. Das spricht für die These, dass sie neue Zielgruppen für dieses Segment gewinnen konnten (siehe Abb. 2).

Auflage in Tsd. 500

400

P.M. Magazin 300

Bild der Wissenschaft Spektrum der Wissenschaft Psychologie heute

200

Technology Review

100

0

III / 1995

III / 1997

III / 1999

III / 2001

III / 2003

III / 2005

Abb. 2. Entwicklung der Verkaufsauflagen ausgewählter Wissensmagazine von 1995 bis 2005

In Bezug auf die Brutto-Werbeumsätze (siehe Abb. 3) verläuft die Entwicklung bei den traditionellen Wissenstiteln in den letzten Jahren uneinheitlich. Alle Titel mussten in den Jahren 2002 und 2003 Einbußen hinnehmen. Allein der Marktführer P.M. Magazin konnte seine BruttoWerbeumsätze insgesamt steigern, was dem nachfolgenden Titel National

76

Margit Dorn

Geographic Deutschland bisher nicht gelang. Bild der Wissenschaft verzeichnet bei den Umsätzen einen deutlichen Abwärtstrend.

Brutto-Werbeumsatz in Mio. € 12 10

10,6 P.M. Magazin

8,6

8 6

7,3

4

3,2

6,6

National Geographic Deutschland

2,6

Bild der Wissenschaft

2 0

2000

2001

2002

2003

2004

Abb. 3. Brutto-Werbeumsätze nach Nielsen

Aus diesen Betrachtungen lässt sich schlussfolgern, dass die neuen Wissensmagazine in Hinblick auf das Anzeigenvolumen noch zulegen müssen, um sich langfristig zu etablieren.

View-Tagebuch – die Entstehungsgeschichte eines Magazins

Kurt Otto

Im Rahmen der Innovationsoffensive des Gruner + Jahr-Unternehmensbereiches Zeitschriften Deutschland ging im Oktober 2005 View vom Stern an den Start. Das Tagebuch des Entwicklungsteams zeigt die wichtigsten Schritte. September 2004: Strategie-Tagung der Stern-Chefredaktion und Verlagsleitung auf Sylt. Wichtigstes Thema: Innovationen für die Verlagsgruppe. Tom Jacobi, Art Director, und Olaf Conrad, Verlagsleiter, haben eine Idee. Eine Kernkompetenz des Stern ist seine Optik. „Warum nicht mehr daraus machen?“ Die Idee gab es bereits vor 20 Jahren, aber heute scheint die Zeit reif. Jeden Tag erreichen rund 5.000 Fotos die Bildredaktion. Alle in der Runde meinen: eine gute Idee. Lasst uns nach der Rückkehr in Hamburg einen Dummy bauen. Oktober 2004: Das Entwicklungsteam steht: Hans-Peter Junker, Leiter Stern-Nachrichtenredaktion, und Stern-Art Director Tom Jacobi entwickeln neben ihrer Tagesarbeit den Dummy, verstärkt durch die Grafikerin Brigitte Baumann. Gleichzeitig gilt es, einen Namen zu finden, und das ist gar nicht so leicht. Blick ist besetzt, Stern-Fotografie nicht neu. Also geht das Team erneut ins Brainstorming. Alle deutschen Namensvorschläge fallen durch. Entweder sind sie bereits vergeben oder treffen nicht den Punkt. View wird neben Look in den Ring geworfen. Einhellige Zustimmung für View. So heißt bereits der erste Dummy. November 2004: Das Entwicklungsteam diskutiert die optimale Aufteilung von Text und Bild. Insbesondere die Textlängen sind Gegenstand der Gespräche. Anfangs sollte kein Text länger sein als eine Seite. Man einigt

78

Kurt Otto

sich – bestärkt durch Erkenntnisse der Marktforschung – schließlich darauf, zwischen den Rubriken längere Texte als Trennelement einzufügen. Dezember 2004: Langsam erhöht sich der vom Team selbst geschaffene Druck, der mit einer ersten Komplettpräsentation eines neuen Titels verbunden ist. Übereinstimmung besteht darin, dass der Inhalt des neuen Magazins rubriziert werden soll. Die Heftstruktur nimmt rasch Gestalt an. View teilt sich auf in „Die Welt“, „Deutschland“, „Sport“, „Reportage“, „Entertainment“ sowie „Wissen + Wunder“. Das gibt dem Magazin einen Chronik-Charakter mit den Ereignis-Highlights des Vormonats. 25. Januar 2005: Termin zur View-Präsentation bei Zeitschriften-Vorstand Bernd Buchholz. Ein 164-seitiger Dummy im pdf-Format wird vorgestellt: ein komplettes Heft von der ersten bis zur letzten Seite. Buchholz ist begeistert. Gleichwohl gibt es in der großen Runde auch Bedenken: Wird in Zeiten des Internets und des überquellenden Fernsehangebotes ein solches Magazin von potenziellen Lesern überhaupt als Innovation empfunden? Trotzdem – alle glauben an Print, gerade in einer Zeit der Informationsund Bilder-Überflutung. View soll faszinieren, aber auch Orientierung mit nachhaltigen Informationen und ausgewählten Bildern bieten, die sonst in der täglichen Bilderflut untergehen. Die Gefahr einer Kannibalisierung für den Stern hält man für gering. Der Weg des View-Projektes ins Innovation Council von Gruner + Jahr ist frei. Februar 2005: Der Dummy löst lebhafte Diskussionen im Innovation Council aus. Am intensivsten wird über das Cover diskutiert: eine monothematische Aufmachung oder doch eher ein Multi-Picture-Titel? Aber auch das Verhältnis Text zu Bild wird mit neuen Argumenten überdacht. Wie kann man beispielsweise den Chronik-Charakter stärker betonen? Am schönsten wäre es, die relevanten Ereignisse des vergangenen Monats mit den besten Fotos abzubilden. Die Frage der optimalen Text- und BildAufteilung zieht sich als roter Faden durch die View-Entwicklung. März 2005: Das ist ärgerlich – irgendjemand aus dem Umfeld der ViewDiskussionen scheint geplaudert zu haben. Spekulationen über View tauchen in der Fachpresse auf. Der Unternehmensbereich Zeitschriften Deutschland reagiert sofort: Bernd Buchholz wählt die Vorwärtsstrategie und kündigt Entwicklung und Test des Titels an. Die Sorge des Entwicklungsteams: Hoffentlich kopiert niemand diese Magazinidee und erscheint noch vor View!

View-Tagebuch – die Entstehungsgeschichte eines Magazins

79

April 2005: Die erste Konzept-Präsentation vor ausgewählten Anzeigenkunden und deren Werbeagenturen: Die Begeisterung übertrifft alle Erwartungen. Die Werber empfinden das Magazin als überzeugende Innovation im Zeitschriftenmarkt. Ursprünglich wurde in der Erlösplanung nur ein begrenztes Anzeigenvolumen kalkuliert, View eher als vertriebsorientiertes Objekt gesehen. Umso besser, wenn die Resonanz im Anzeigenmarkt so ermutigend ist. Einige Kunden wollen für View sogar spezielle Anzeigenmotive kreieren lassen. Mai 2005: Die interne Anspannung lässt wieder nach. Keiner der Wettbewerber kann mit einem ähnlichen Konzeptansatz in den Markt vorpreschen. Ein solcher Titel ist zu komplex und in der journalistischen Qualität zu anspruchsvoll für eine Kopie. Qualität ist der beste Kopierschutz, so heißt treffend die Kurzformel bei Gruner + Jahr. Juni 2005: Immer noch wird an der optimalen Heftmischung gefeilt. Dank der begleitenden Gruner + Jahr-Marktforschung wird jetzt deutlich, wie die Erwartungen der Leser im Detail aussehen. Es wird entschieden, auf dem Cover deutlich auf den Absender Stern hinzuweisen. Das gibt einerseits für das View-Team eine Verpflichtung, andererseits den potenziellen Käufern die Sicherheit, dass sie Stern-Qualität erwarten können. August 2005: Großes Aufatmen! Der Vorstand stimmt dem Beschlussantrag über den View-Start zu. Erleichterte Freude und knallende Sektkorken beim Entwicklungsteam: Jetzt kann es richtig losgehen mit der DetailPlanung des Launches. Nun wird erst einmal genau gerechnet: Wo liegt die richtige Auflagenhöhe? Wie soll der Internet-Auftritt aussehen? Welcher Copypreis ist angemessen und durchsetzbar? Wie kann man attraktive Anzeigenpreise festlegen, ohne die solide Media-Leistung zu verschleudern, unter Wert zu verkaufen? September 2005: Die definitive Entscheidung für den Erstverkaufstag steht. View wird immer am ersten Sonnabend jedes Monats erscheinen! Erstaunlich positive Resonanz vom Grosso. Dort folgt man der Argumentation sehr schnell und ohne große Einwände: View kommt als einziger Magazintitel am Samstag heraus und nutzt die entspannte Einkaufs- und Freizeitsituation der Verbraucher. View liefert Muße und Unterhaltung – ideal für das Wochenende! 6. Oktober 2005: Pressekonferenz im Gruner + Jahr-Pressehaus am Baumwall zum Start von View. Die Resonanz ist beachtlich: Agenturen, Tagespresse, Fachpresse, Fernsehen, Radio, kurz die gesamte Medienbran-

80

Kurt Otto

che, horcht auf, was der Stern in der Gruner + Jahr-Innovationsoffensive vorhat. 10. Oktober 2005: Die Resonanz der Medienjournalisten ist in Berichten und Kommentaren überwiegend positiv: „Wenn Bilder bilden sollen“, meint die Süddeutsche Zeitung, oder „View fängt Augenblicke ein“, so die dpa. Ermutigend ist vor allem die FAZ-Rezension: „Ein Bild sagt nicht immer mehr als tausend Worte, und manchmal sagt es gar nichts oder stiftet perfekte Verwirrung. Genau mit diesem Dilemma spielt View sehr geschickt und hat darüber hinaus Geschichten parat, die der Stern selbst nicht viel anders machen würde.“ November 2005: Auch im Internet steht View für faszinierende Bilder – zum Erstverkaufstag der zweiten Ausgabe des neuen General InterestTitels am 5. November 2005 öffnet die View-Foto-Community im Internet. Ambitionierte Amateurfotografen und Profis haben unter www.viewmagazin.de die Möglichkeit, eine Auswahl ihrer besten Fotos zu veröffentlichen. Damit bietet View Fotografen und Foto-Liebhabern ein komfortables und modernes Forum. Es dient dem Austausch von Tipps, Informationen und Kommentaren innerhalb der wachsenden Fangemeinde digitaler Fotografie. Der Erfolg der ersten Ausgabe (10/2005) überrascht: rund 200.000 verkaufte Exemplare. Das lässt zwar hoffen, aber der Abverkauf der November-Ausgabe läuft eher schleppend an. Das Konzept wird behutsam nachjustiert. Der multithematische Titel scheint sich nicht eindeutig genug zu vermitteln, die Käufer können nicht schnell genug erkennen, dass eine neue View-Ausgabe im Handel ist. Gemeinsam mit dem Vertrieb entwickelt die Redaktion einen Titelumklapper, der farblich variieren soll und unregelmäßig eingesetzt wird. Gleichzeitig wird der Multi-Picture-Titel modifiziert: Ein Bild ist größer und damit hervorgehoben. So wird zweifelsfrei deutlich gemacht: Hier gibt es tatsächlich etwas Neues! 28. Februar 2006: Die Organisation Media-Agenturen im GWA (OMG) hat den begehrten OMG Award an View verliehen. Erstmals fand die Preisübergabe im Rahmen des Deutschen Mediapreises 2006 in München statt. OMG-Jurymitglied Lothar Leonhard von Ogilvy & Mather beschreibt View als „ein Faszinosum“. Die Jury zur Begründung ihrer Entscheidung: „View aus dem Hause Gruner + Jahr ist ein außerordentlich kreatives, frisches und innovatives Medium, das schnell zum Dauerlesen anregt. Das Hochglanzmagazin besticht durch attraktive Bilder in sehr hoher Qualität mit knappen und seriösen Berichten. Damit bietet es ein fantastisches Werbeumfeld. Mit seinem

View-Tagebuch – die Entstehungsgeschichte eines Magazins

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neuen Format greift Gruner + Jahr eine Kernkompetenz des Verlages auf und schafft einen smarten Move vom Stern zu View. Das Blatt erreicht nicht nur eine junge, dynamische Zielgruppe, sondern aktualisiert auch eine ganze Kategorie und bringt sie positiv nach vorn.“ 15. März 2006: Die Verlagsgruppe Stern/Geo/Art hat sieben Medaillen und zehn Auszeichnungen der Lead Awards 2006 in den Hamburger Deichtorhallen gewonnen. Die Lead Awards gelten als eine der führenden Auszeichnungen für Print- und Online-Medien in Deutschland. Sie werden bereits seit 15 Jahren vergeben und haben sowohl in der Medienbranche als auch in der Werbe- und Marketingszene hohes Renommee. In den Kategorien „Zeitschriften“, „Anzeigen“, „Fotografie“ und „Online“ wurden insgesamt 18 herausragende Arbeiten prämiert. In der Kategorie Newcomermagazin des Jahres erhielt View eine Auszeichnung, in der Kategorie Foto des Jahres Todd Heisler für „US Soldat: Sie weicht nicht von seiner Seite“ in View 12/2005. 27. März 2006: Anlässlich der Gruner + Jahr-Jahrespressekonferenz wurde vom Vorstandsvorsitzenden Dr. Bernd Kundrun das Ziel „Expand Your Brand“ ausgegeben. Generell wird dabei von einer veränderten zukünftigen Mediennutzung ausgegangen, wobei die Grundbedürfnisse der Leser und die Erwartungen an die Gruner + Jahr-Titel hinsichtlich ihrer „Leuchtturmfunktion“ als starke Marken gleich bleiben. Die Verlagsgruppe Stern/Geo/Art verfügt über optimale Voraussetzungen für diesen kreativen Prozess der Markenneudefinition: Ihre Marken sind führend, mit klarem Profil und hoher Bekanntheit, also insgesamt mit großer Strahlkraft in der Markenwelt. Darauf werden wir, wie bereits in der Vergangenheit, auch mit der „Ausdehnung“ unserer Medienmarken über den klassischen PrintBereich hinaus Schritt für Schritt aufbauen. Die neuen Entwicklungen werden eine neu aufgesetzte ganzheitliche Markenführung zur Folge haben. Ein erstes konkretes Beispiel ist die neue Foto-Community unter view.de. Sie hat es mit über 15 Mio. Page Impressions und vielen attraktiven interaktiven Elementen innerhalb weniger Monate geschafft, zur zweitgrößten Website von Gruner + Jahr aufzusteigen. Ove Saffe, Stern-Verlagsgeschäftsführer, zur Zwischenbilanz von View: „Der erfreuliche Start bahnt den Weg für den zukünftigen Erfolg des Titels in der Stern-Markenwelt. Wir sind daher zuversichtlich, die Zielauflage um ca. 150.000 verkaufte Exemplare dauerhaft zu erreichen.“

Das Wunder von Hamburg – wieso es ausgerechnet Spiegel Online gelang, sich als Deutschlands führende Nachrichtensite durchzusetzen

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Schröder „verrubelt“ seinen Ruf

Am Mittwoch, dem 7. Dezember 2005, zwei Wochen nach dem Ende seiner Karriere als deutscher Regierungschef, erhält Gerhard Schröder – nach eigener Darstellung völlig überraschend – einen Anruf aus Moskau: ob er Aufsichtsratsvorsitzender beim russisch-deutschen Ostsee-Pipeline-Konsortium NEGP werden wolle? Schröder hält Rücksprache mit den deutschen Minderheitsaktionären und sagt zu. Am Freitag, dem 9. Dezember 2005, um 14:30 Uhr erreicht die Meldung die deutschen Medien. Das ganze Unbehagen über die zweite Karriere des Ex-Kanzlers (er förderte die Pipeline bis in seine letzten Amtstage) tritt jedoch erst am nachfolgenden Montag zutage, als sich das politische Berlin formiert. „Debatte um Aufsichtsratsposten: Kritik an Schröder wird schärfer“, fasst am späten Montagnachmittag tagesschau.de brav die Nachrichtenlage zusammen. „Schröder: ‚Integer‘ oder ‚instinktlos‘?“, fragt einfallslos faz.net. „Union: Schröder soll auf Pipeline-Job verzichten“, referiert die Netzeitung. Dagegen übertrumpft Spiegel Online die Konkurrenz ein weiteres Mal an Zuspitzung und originalitätsverliebter Verschlagenheit: „Neuer Job: Schröder verrubelt seinen Ruf“, lautet die Aufmacher-Schlagzeile.

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Robin Meyer-Lucht

Von CompuServe zur Marktführerschaft

Die Online-Zukunft des Spiegel beginnt im Herbst 1994 mit einem Forum beim proprietären Online-Dienst CompuServe. Hier werden Auszüge aus der aktuellen Print-Ausgabe veröffentlicht und zur Diskussion gestellt. Als sich Ende 1994 das World Wide Web als Alternative zur CompuServe-Plattform zu etablieren beginnt, errichtet Der Spiegel auch hier eine Präsenz. „Die Site war schlecht und eher ein Abfallprodukt der CompuServe-Produktion“, erinnert sich Ulrich Booms, Veteran aus frühen Spiegel Online-Tagen.1 Am 25. Oktober 1995 geht der erste „richtige“ Internet-Auftritt des Spiegel ans Netz. Eine Finanzierung der Site über Banner-Werbung ist bereits vorgesehen: Im Layout sind entsprechende Plätze freigehalten. Auch diese Site ist vornehmlich ein Marketing-Auftritt des Spiegel mit Diskussionsforum. In der Rubrik „Scanner“ erscheinen jedoch im Wochenrhythmus erstmals eigens für die Site geschriebene Artikel zu Internet-Themen. Booms: „Sehr schnell kristallisierte sich heraus, dass das Medium vor allen Dingen viel über sich selbst zu berichten hatte.“ 1996 beginnt der Aufbau einer aktuellen Berichterstattung. „Wir hatten über einige Ereignisse wie das Duell des Schachweltmeisters Kasparow gegen den Schachcomputer Deep Blue täglich berichtet, was sehr gut ankam“, sagt Booms. Eine gemeinsame Nachrichten-Produktion von Onlineund Fernseh-Töchtern der Spiegel-Gruppe wird rasch wieder aufgegeben – die Onliner verlangen ihren eigenen Rhythmus: „Das war der Einstieg in eine eigene Nachrichtenredaktion“, resümiert Booms. Im September 1998 gründet die Spiegel-Gruppe das Online-Vermarktungsnetzwerk Quality Channel. Es soll helfen, mit Partnern wie heise.de oder sueddeutsche.de die Vermarktung von Online-Werbung jenseits von Portalen voranzutreiben. Schon damals herrscht scharfe Konkurrenz in der jungen Branche: „Man darf nicht vergessen, dass sich der Markt damals schon stark entwickelt hatte“, berichtet Booms. „Es gab monatliche Online-Reichweitenmeldungen über die IVW. Damit waren wir in der Steilkurve drin. Wir mussten Wachstum zeigen und schauten gebannt auf unsere Mitbewerber.“ Als Schlüssel zur Reichweitensteigerung erweist sich die aktuelle Berichterstattung. „Als Prinzessin Diana in der Nacht zu einem Sonntag verunglückte, hatten wir damals um 10 Uhr schon eine Versammlung von wilden Gerüchten. Wir hatten all das ganz schnell. Das Fernsehen hatte kaum Bilder, und die Zeitungen waren sowieso aus dem Rennen. Das war 1

Vgl. hierzu sowie zu den folgenden Ausführungen Meyer-Lucht (2004a), S. 215 ff.

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einer dieser Momente, wo wir verstanden haben, was man mit diesem Medium machen kann“, erinnert sich Booms. Im April 1999 erhält die deutlich gewachsene Site ein neues Redaktionssystem und ein neues Layout. Im Dezember 2000 wird Mathias Müller von Blumencron zum dritten Chefredakteur von Spiegel Online ernannt. Zuvor hatten Uly Foerster und Hans-Dieter Degler die Redaktion geleitet. Müller von Blumencron, davor acht Jahre Wirtschaftsredakteur und Korrespondent beim Spiegel, soll die journalistische Qualität der Site ausbauen und engere Verbindungen zum Magazin knüpfen. Als im Frühjahr 2001 ein einstmals avisierter Börsengang von Spiegel Online immer unwahrscheinlicher wird, trennt sich das Unternehmen von der Ambition, unter dem Arbeitstitel Portal 100 ein eigenes Internetportal aufzubauen. Auch in der Redaktion muss zunehmend gespart werden. Am 11. September 2001 kann Spiegel Online seine Stellung als OnlineNachrichtenquelle Nr. 1 weiter festigen. Reduziert auf eine Textversion, bleibt die Site nach den Anschlägen als eine der wenigen weitgehend erreichbar.

Visits pro Monat in Mio. 70

Spiegel Online Bild.T-Online

60 50

n-tv online stern.de sueddeutsche.de

40

faz.net

30 20 10 0 106 99 85 782000 71 199892 1999

64 50 43 2003 36 200157 2002

292004 22

15 8 2006 1 2005

Abb. 1. Reichweitenentwicklung ausgewählter journalistischer Sites2

Seit Februar 2002 vertreibt die Site auch kostenpflichtige Inhalte. In einem ersten Schritt wird die Titelgeschichte des Spiegel angeboten, später kommen weitere Heft-Texte und zu Dossiers gebündelte Artikelsammlungen hinzu. Seit Juli 2002 ist das Archiv kostenpflichtig. 2

Quelle: IVW/pz-online.de.

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Robin Meyer-Lucht

Im Sommer 2002 steigt der wirtschaftliche Druck auf Spiegel Online. Die Werbeumsätze beim Muttermagazin fallen, und innerhalb der Verlagsgruppe werden zunehmend Zweifel am Online-Geschäft laut. „Wir dachten, die Welt geht für uns unter“, gesteht Müller von Blumencron.3 Erstmals muss er zwei Redakteure entlassen. Anfang 2003 beschließt das Verlagshaus, sich Spiegel Online auch in Zukunft leisten zu wollen.4 Als profilstärkste und ressourcenstärkste Nachrichtensite kann sich Spiegel Online in der folgenden Zeit immer weiter durch- und von der Konkurrenz absetzen. Im September 2004 resümiert ein Medienjournalist: „Spiegel Online hat die FAZ, die Welt, die Süddeutsche aus dem OnlineFeld geschlagen und ist jetzt das deutsche Referenzmedium für Nachrichten im Netz.“5

Nutzer / Leser in Mio. (Nutzer pro Woche / Leser pro Ausgabe) 0,37

faz.net

0,71

FAZ

0,91

sueddeutsche.de

1,02

stern.de

1,11

Süddeutsche Zeitung

1,15

n-tv online

1,35

Bild.T-Online

1,54

Die ZEIT

1,75

Spiegel Online

0

0,5

1

1,5

2

Abb. 2. Reichweite ausgewählter journalistischer Sites und Print-Publikationen im Jahre 20056

Im Oktober 2004 startet der Online-Vertrieb der Print-Ausgabe als E-Paper. Wenig später ein englischsprachiger Dienst – zunächst als Newsletter, später als eigenständige Rubrik auf der Seite. Das Jahr 2005 hat Spiegel Online Branchenschätzungen zufolge erstmals mit einem positiven EBITDA abgeschlossen. Seit 1995 hat die Spiegel-Gruppe Mitarbeiterangaben zufolge rund 30 Mio. Euro in das Angebot investiert.7 Anfang 2006 verfügt das Angebot über knapp 50 Redakteure, 3 4 5 6 7

Niggemeier (2003). Vgl. ebenda. Littger (2004). Quelle: ACTA 2005. Kleinz (2004).

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deutlich mehr als zu den Zeiten des angespannten Sparens im Jahre 2002 mit etwas über 30 Redakteuren. Eine weitere Aufstockung der Redaktionsstärke sowie ein überarbeitetes Site-Konzept sind für 2006 fest eingeplant. Im Januar 2006 verzeichnet Spiegel Online 60,5 Mio. Site-Besuche (Visits/IVW) – nahezu doppelt soviel wie Bild.T-Online und fast zehnmal soviel wie sueddeutsche.de (vgl. Abb. 1). Gegenüber dem Niveau von 2001 hat sich die Zahl der Besuche mehr als versechsfacht. Laut Allensbacher Computer- und Technikanalyse (ACTA) 2005 nutzen wöchentlich 1,75 Mio. Leser die Site. Sie hat damit mehr Leser als Die Zeit oder die Süddeutsche Zeitung pro Ausgabe (vgl. Abb. 2). Gegenüber dem Niveau von 0,72 Mio. Lesern im Jahre 2001 hat die Site ihre Leserschaft in vier Jahren rund verzweieinhalbfacht (ACTA 2001 bis 2005).

3

Das Ziel vor Augen

Der frühe Markteinstieg hat dem Spiegel die Frage nach der richtigen Positionierung seines Online-Angebotes weitgehend abgenommen. Als Pionier verortete sich Spiegel Online von Anfang an als Marktführer unter den gehobenen überregionalen journalistischen Angeboten im deutschen Internet. Als Mitbewerber nahm die Site daher jedes journalistische OnlineAngebot in diesem Segment wahr – unabhängig davon, ob das Muttermedium eine Zeitschrift, eine Zeitung oder ein Fernsehsender war. Als Wochenmagazin waren dem Spiegel die Optionen einer OnlineZweitauswertung von Print-Inhalten weitgehend verschlossen. Er stellte daher folgerichtig von Anfang an nur wenige Magazin-Inhalte online.8 Zugleich erforderte der völlig andere Produktionsrhythmus der PrintKollegen sehr früh eine eigenständige Produktion von Online-Inhalten. Wenn das Wochenmagazin Der Spiegel eine erfolgreiche Internet-Site haben wollte, musste diese von Anfang an gegenüber dem Muttermedium eigenständiger sein als die Angebote der tagesaktuell produzierenden Medien. Dieser Zwang zur Online-Eigenständigkeit wiederum stärkte den Impuls des Spiegel, die Site nicht nur als Marketing-Instrument, sondern auch als potenzielles Geschäftsfeld zu verstehen. Die Führung des Spiegel konnte zudem unbesorgt sein, dass das Online-Angebot im Lesermarkt andere aktuelle Produkte des Hauses kannibalisieren könnte. Für den Anzeigenmarkt mag es dagegen durchaus Kannibalisierungsängste gegeben haben. Mit dem Ziel der Reichweitenführerschaft legte sich Spiegel Online sehr früh auch auf ein Geschäftsmodell fest. Die Site strebte früh die Führer8

Vgl. Dierks (2002).

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Robin Meyer-Lucht

schaft in einem breiter gefassten Qualitätssegment des Publikums an, um auf dieser Basis neben den Portalen ein attraktives Angebot im OnlineWerbemarkt machen zu können und mit Hilfe der Reichweite zugleich die Tausenderkontaktkosten zu senken. Auf diese Weise hat Spiegel Online Marktstellungsziel, Eigenständigkeit und Geschäftsmodell allesamt durch den frühen Start und die außergewöhnliche Herkunft vom wöchentlich erscheinenden Muttermedium geerbt. Dabei erwies sich nachträglich, dass die Marke zum neuen Geschäftsfeld besser passte, als man hätte erwarten können. Als Glücksfall erwies sich auch das Zaudern und Zögern der ressourcenstarken Mitbewerber. Die generischen Konkurrenten von Spiegel Online sind die Sites der überregionalen Qualitätstagespresse, insbesondere sueddeutsche.de und faz.net, sowie die Angebote der NachrichtenFernsehsender. Doch insbesondere die überregionale Qualitätstagespresse hat nie beherzt – oder zu spät – eine führende Position unter den Nachrichtensites angestrebt: aus Angst vor Kannibalisierung und aus Geringschätzung für das neue Medium. Zu den Versäumnissen der überregionalen Qualitätspresse im OnlineGeschäft gehört, sich nie eindeutig für ein Finanzierungsmodell und dazugehöriges Marktstellungsziel entschieden zu haben. Stattdessen nahmen sie in dem neuen Markt vornehmlich ihre alten Mitbewerber war. sueddeutsche.de gab 1999 als Ziel an, „eine führende Rolle unter den Angeboten der überregionalen Tageszeitungen“ einnehmen zu wollen.9 Ähnlich äußerte sich faz.net im Jahre 2003.10 Die FAZ hatte ein Online-Angebot mit kommerziell-publizistischen Ambitionen erst Anfang 2001 gestartet. Trotz erheblichem, mit Spiegel Online vergleichbarem Einsatz erreichte die Zeitung nicht einmal annähernd die Reichweite des Marktführers. Zur Fortune von Spiegel Online gehört auch, dass nahezu alle Mutterhäuser der Mitbewerber von der Medienkrise nach der Jahrtausendwende stärker betroffen waren als das eigene. Die Mitbewerber sahen sich eher gezwungen, beim bedingt aussichtsreich erscheinenden Expansionsfeld Online-Journalismus zu sparen als der Marktführer, der eher als andere ein Ziel vor Augen hatte. Die Stärke von Spiegel Online ist daher auch die Schwäche der Mitbewerber. In allen anderen europäischen Ländern wird die führende Nachrichtensite von einer Zeitung oder einem Fernsehsender gestellt. Dass es in Deutschland nicht so ist, liegt auch daran, dass keine Site Spiegel Online ernsthaft und nachhaltig herausgefordert hat.

9 10

Schlegel (2002), S. 195. Bernhardt u. Meyer-Lucht (2004), S. 159.

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In einem sich konsolidierenden Markt profitiert Spiegel Online nun von der Marktzutrittsschranke einer besonders hohen Leserloyalität differenzierter Publikationen und von den Netzwerkeffekten zugunsten des Markführers.

4

It’s the journalism, stupid

„Online sind Text und Sprache zugleich viel unwichtiger und viel wichtiger“, fasst Klaus Lange, ehemals Textchef des Magazins der Süddeutschen Zeitung, die besondere Herausforderung des Online-Text-Journalismus zusammen: „Text ist unwichtiger, weil viele Passagen überflogen werden. Aber Text ist auch viel wichtiger – als Verpackung des Artikels.“ OnlineNutzer müssten besonders reizvoll und gefällig geführt werden, so Lange, weil sie andernfalls zum ständig verfügbaren Mitbewerber wechseln würden. Nachrichtensites stehen vor der Herausforderung, sich auf Basis identischen Agenturmaterials und verhältnismäßig geringer eigener Mittelausstattung journalistisch im Lesermarkt zu differenzieren. Die Portale (T-Online, Yahoo, web.de) überschwemmen das Internet mit Agenturinhalten. Das Geschäft der differenzierten Nachrichtensites wie Spiegel Online besteht darin, mit journalistischem Mehrwert ein besonderes Publikum in einem prestigeträchtigen redaktionellen Umfeld zu versammeln, um so im Werbemarkt höhere Kontaktpreise als die Portale zu erzielen.11 Auf diese Weise übersetzt sich der Differenzierungsansatz im Lesermarkt in den Anzeigenmarkt. Doch wie entsteht relevante journalistische Differenz? Traditionell differenziert sich die überregionale Presse in Deutschland durch ihre redaktionelle (politische) Linie12, das anvisierte Bildungsniveau des Zielpublikums und einen exklusiven Quellen-Zugang. Jedes Nachrichten-Medium filtert die Nachrichtenlage nach bestimmten, keinesfalls für alle Publikationen gleichen Kriterien (ein Irrtum der Nachrichtenwert-Theorie) und verhält sich dabei wie ein sinnstiftender „Nachrichtenerzähler“: „Die Nachrichtenerzähler ‚organisieren‘ durch ihre Erzählung das Geschehen in größere Zusammenhänge ein, liefern Orientierung über das, was zu ermitteln ist.“13 Auf diese Weise bildet jede Publikation ihren eigenen Tonfall, ihre eigene Erzählart heraus.

11 12 13

Vgl. Meyer-Lucht (2005b). Vgl. Kepplinger (1989). Hickethier (1997), S. 7.

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Im Journalismus gibt es zwei große Erzählschulen. Auf der einen Seite steht der Informationsjournalismus. Dieser verwendet einen standardisierten, zurückgenommenen Tonfall14, um objektiv und glaubwürdig zu wirken und eine rasche Informationsaufnahme zu erleichtern. Auf der anderen Seite steht die Erzählhaltung des „narrativen Journalismus“15. Dieser setzt auf Differenz und reizvolle Präsentation durch Haltung, Tonfall, Hintergrund, Variation der Darstellungsschemata und Lust an der Interpretation. Die Magazin-Story, ein typisches Format des gedruckten Spiegel, ist eine Ausprägung des narrativen Journalismus. Der Stil hat seine Wurzeln zugleich im Feuilleton und im Boulevard. Spiegel Online hat auf mehreren Ebenen Differenzierungsansätze zu schaffen versucht. Am augenfälligsten ist dabei der Mechanismus, journalistische Originalität und Eigenständigkeit durch Tonfall und Wortwahl auf der Einstiegsseite zu inszenieren. Müller von Blumencron: „Ähnlich wie bei einer Boulevard-Zeitung stecken wir sehr viel Energie in unsere Seite Eins. Nur machen wir das nicht einmal am Tag, sondern immer wenn wir einen neuen Aufmacher haben.“ Das Alleinstellungsmerkmal der von ihm geführten Site sei, so Müller von Blumencron, der eigenständige Tonfall, die erklärenden Hintergründe sowie eine Mischung aus nüchternen und flapsig-boulevardesken und meinungsstarken Artikeln. Spiegel Online differenziert sich damit im Wettbewerb mit Hilfe des Arsenals des narrativen Stiles – mit Elementen, die aus den besonders eigensinnigen und reizvollen journalistischen Formaten Feuilleton und Boulevard ausgeborgt und weiterentwickelt wurden. Die Schlagzeile „Schröder verrubelt seinen Ruf“ kann daher als typischer Aufmacher gelten; sie enthält mindestens drei klassische rhetorische Figuren des narrativen Spiegel Online-Stiles: x Erstens handelt es sich um eine Umformung der Phraseologismen „sein Geld verjubeln“ und „sich etwas versilbern lassen“. x Zweitens ist das Wort „verrubeln“ ein Neologismus, eine Wortneuschöpfung der Redaktion. x Drittens enthält die Schlagzeile eine Synekdoche nach dem Pars pro Toto-Prinzip: Der Rubel steht hier stellvertretend für Geld ganz allgemein. Selbstredend setzt Spiegel Online ein derartiges Rhetorik-Feuerwerk in dosierter Form ein. Andere Beispiele für geglückte Schlagzeilen im Spiegel Online-Stil: „Wetter im Süden: Das Chaos ist weiß“ (über starke Schneefälle in Bayern; 5. März 2006) oder „FDP für BND-Ausschuss: Volle

14 15

Vgl. Wolfe (1996), S. 31. Vgl. Meyer-Lucht (2005a), S. 92.

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Fahrt voraus in den Nebel“ (über die trübe Aussicht auf Erkenntnisse eines geplanten Bundestags-Untersuchungsausschusses; 6. März 2006). Eine Inhaltsanalyse hat ergeben, dass rund 15 Prozent der zentral positionierten Schlagzeilen von Spiegel Online Metaphern – zumeist neu erdachte – enthalten, in fünf Prozent finden sich Neologismen und in ebenfalls fünf Prozent umgeformte Phraseologismen (vgl. Abb. 3). Mehr als ein Viertel aller zentralen Spiegel Online-Überschriften enthielten rhetorische Figuren. Dagegen konnten sie in nur drei Prozent der zentralen NetzeitungSchlagzeilen nachgewiesen werden.16 Der Informationsjournalismus, für den auch die Netzeitung steht, enthält sich derartiger Umschweife. Die Schlagzeilen-Akrobatik von Spiegel Online ist ein Erbe des Magazins. Hans Magnus Enzensberger schrieb über die sprachliche „Masche“ des Spiegel: „Die Koketterie mit der eigenen Gewitztheit, die rasch applizierte Terminologie, die eingestreuten Modewörter, der Slang der Saison, die hurtige Appretur aus rhetorischen Beifügungen, dazu eine kleine Zahl syntaktischer Gags [...]: Das sind einige der auffälligsten Spezialitäten der Spiegel-Sprache.“17

15%

Faz.net Netzeitung Spiegel Online

10%

tagesschau.de

5%

Doppelbedeutung

Superlativ

Wiederh./ Stellung/ Umstellung

Vergleich

Neologismus

Konnotativ starke/s Wort/e

Lautmalerei

Fragesatz

Polare Ausdrucksweise

Umgef. Phraseologismus

Metapher

0%

Abb. 3. Die rhetorischen Stilmittel der Aufmacher-Schlagzeilen von vier ausgewählten journalistischen Online-Angeboten18

16 17 18

Vgl. Meyer-Lucht (2005a), S. 147. Enzensberger (1997), S. 21 f. Quelle: Meyer-Lucht (2005a), S. 147.

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Die Schlagzeilen-Rhetorik von Spiegel Online ist nur ein Beispiel dafür, wie sehr sich die Site darauf versteht, Texte reizvoll zu verpacken. Sie spielt mit den Lesern ein Spiel von Verrätselung und Auflösung der Botschaften. Sie hat einen prägnanten, reizvollen und damit letztlich unterhaltenden Tonfall entwickelt. Diese Kombination aus Elementen des Qualitäts- und des Boulevardjournalismus kann man als „smart tabloid“ bezeichnen.19 Die journalistische Profilierung gelang Spiegel Online auch durch eine frühzeitige Einführung von Namensbeiträgen von Redakteuren und Autoren. Zwar handelt es sich bei dem Gros der veröffentlichten Inhalte um aufgearbeitete Agenturmeldungen. Daneben räumte die Site allerdings einigen ihrer Journalisten zunehmend auch Platz für Meinungsbeiträge in einem freizügigeren, narrativen Stil ein. „Unsere Leser wollen nicht nur die aktuelle Meldung. Sie wollen von uns auch erklärt bekommen, was die Ereignisse eigentlich bedeuten“, sagt Müller von Blumencron. Das Mehr an Hintergrund bei Spiegel Online lässt sich auch an den Artikellängen ablesen. Spiegel Online-Texte sind im Schnitt 1.000 Zeichen länger als die der Netzeitung und 600 Zeichen länger als die von tagesschau.de.20 Von den Namensbeiträgen haben auch die Autoren profitiert. Der fleißige Spiegel Online-Reporter Markus Deggerich arbeitet heute für den Spiegel. Spiegel Onlines Politik-Chef Claus-Christian Malzahn gehört zu den wohl einflussreichsten politischen Journalisten Deutschlands. Kontrovers diskutiert wurde in Branchenkreisen die Themenmischung auf Spiegel Online. Mehr noch als Der Spiegel setzt Spiegel Online auf Boulevardthemen, für die das Ressort „Panorama“ verantwortlich ist. So wird gern auch über Themen wie die neuesten Schmuggeltricks der kolumbianischen Kokain-Maffia, Sex bei der Bundeswehr oder neue Erkenntnisse zum Tod von Prinzessin Diana berichtet. Der Site wurde daher wiederholt vorgehalten, sie erinnere „oft mehr an ‚Bild‘ als an seriöse Informationsportale“21. Diesem Boulevardvorwurf begegnet Müller von Blumencron häufig. Für ihn sind Boulevardthemen jedoch ein legitimes Mittel, den Lesern auch Spaß und Unterhaltung zu bieten, solange die Site zugleich auch seriös und hintergründig informiere. Nur diese Mischung aus Information und Unterhaltung ermögliche es, zugleich hohe Abrufzahlen und anspruchsvollen, auch von Kollegen sehr geschätzten Journalismus zu bieten.22

19 20 21 22

Vgl. Meyer-Lucht (2004b), S. 31. Meyer-Lucht (2005a), S. 157. Ehrenberg (2004). Vgl. auch Littger (2004) sowie Prothmannn (2004). Vgl. Prothmann (2004) sowie Littger (2004).

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Hintergrund dieser Aussagen ist, dass Müller von Blumencron die Nutzung der Site und die Mechanismen der Themen-Orchesteriung auf der Einstiegsseite sehr gut kennt: Spiegel Online verfügte früher als die meisten Mitbewerber über ein Redaktionssystem, das die Abrufzahlen der Artikel und Ressorts in Echtzeit an die Redaktion zurückspielt. Die Chefredaktion kann so sehr genau erkennen, wie die Themenmischung der Einstiegsseite die Nutzung beflügelt. Ein Farbsystem aus grün („mehr Abrufe als vor eine Woche“) und rot („weniger Abrufe als vor einer Woche“) unterstützt zudem den Wachstumsdrang auf Ressortebene. Die serverseitige Überwachung der Abrufe zeigt sehr genau, wie gut die skurril-boulevardesken Texte ankommen. Spiegel Online mischt – an die Spiegel-Titelthemen anknüpfend – also die Nachrichteninhalte mit Boulevardthemen. Auf diese Weise versucht die Site, ihre Reichweite in einem weiter gefassten Qualitätssegment des Publikums zu maximieren, ohne dabei das angestrebte Publikum überzustrapazieren. Dieser Differenzierungsansatz hat sich als äußerst erfolgreich erwiesen. Er beschert der Site heute zugleich ein großes und im Sinne des Werbemarktes differenziertes Publikum. Nur dieser Ansatz erlaubt es Spiegel Online, eine der größten eigenständigen Online-Redaktionen zu finanzieren, die den Differenzierungsansatz zu stützen und auszubauen vermag. Andere Nachrichtensites setzen u. a. darauf, sich durch eine besonders schnelle Berichterstattung hervorzutun; so z. B. die Netzeitung: Die Inhaltsanalyse hat ergeben, dass die Netzeitung tatsächlich zu den schnellsten Nachrichtensites gehört und häufig vor tagesschau.de und faz.net berichtet. Gegenüber Spiegel Online war jedoch kein relevanter Schnelligkeitsvorteil erkennbar.23 Die Positionierung der Netzeitung als schnelles Medium erscheint vor diesem Hintergrund vielmehr ein Ansatz, die Nachrichtlichkeit der Publikation hervorzuheben.

5

Die Marke Spiegel: crossmedial und national

Die Marke Spiegel verhalf Spiegel Online früh zu Aufmerksamkeit und einem raschen Markenaufbau im neuen Geschäftsfeld. Marken gehören im Geschäft mit Journalismus zu den wichtigsten strategischen Vermögenswerten.24 Die Marke Spiegel wurde von der Spiegel-Gruppe bereits Ende der 80er Jahre erfolgreich auf Fernseh-Formate übertragen. Es handelte sich somit bereits um eine mit Flexibilität versehene Mehrkanal-Medienmarke. 23 24

Vgl. Meyer-Lucht (2005a), S. 134 f. Vgl. Wirth (2000), S. 178.

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Dennoch gab es einen Punkt in der Entwicklung von Spiegel Online, an dem sich die Frage stellte, ob Spiegel überhaupt die richtige Marke für den Marktführer der Nachrichtensites sein kann? Die Marke gehört zwar zu den bekanntesten nationalen Medienmarken der Bundesrepublik: 82,6 Prozent der Bundesbevölkerung kennen sie (Media-Analyse 2003 Pressemedien II). Sie steht einerseits für investigativen, sendungsbewussten und hochwertigen Journalismus. Andererseits steht sie auch für ein gerütteltes Maß Sensationslust, Boulevardverliebtheit und die Vermischung von Meldung und Kommentar. Ist eine solche Marke seriös genug, um von weiten Teilen des gehobenen Publikums als Hauptnachrichtenvermittlerin im Netz angenommen zu werden? Kann eine schnell geschriebene Site die Qualitätsstandards der Marke Spiegel einlösen – oder droht sie die Marke zu verwässern? Die Antwort haben die Leser geben. Während es Spiegel Online mit breitenwirksamem Sendungsbewusstsein gelang, große Teile eines auch im Sinne des Werbemarktes gehobenen Publikums in einem prestigeträchtigen Umfeld an sich zu binden, konnten die Marken der deutschen Qualitätstagespresse eine solche Anziehungskraft nie entfalten. Hier zeigt sich, warum die Marke Spiegel sich letztlich auch als Vorteil für das OnlineGeschäft erwiesen hat: Mit Hilfe der Marke kann ein differenziertes und zugleich breites Publikum versammelt werden. Die Qualitätstagespresse, insbesondere die FAZ, aber auch die Süddeutsche Zeitung, hätten ihre Marken erst verbreitern müssen, um eine derartige Massenwirksamkeit zu erreichen. Die Marken der Qualitätstagespresse erscheinen daher rückblickend zu eng aufgestellt, um eine hochwertige und zugleich breitenwirksame Nachrichtensite anzubieten. Der Einsatz bestehender Marken kann die Erschließung neuer Märkte auch behindern; Medienmarken sind als strategische Vermögenswerte mit begrenzter Mobilität anzusehen (vgl. Abb. 4). Dies bedeutet nicht, dass die Qualitätstagespresse nicht auch auf der Ebene der Markenführung die Chance gehabt hätte, ihre Marken crossmedial zu erweitern. Insbesondere die Süddeutsche Zeitung hätte wohl die Option besessen, mit einem erfolgreichen Online-Auftritt vollends die nationale Bühne zu betreten und ihre Marke entsprechend auszuweiten. Diese Chance wurde jedoch vertan.

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Chancen

Stärkung der Dachmarke durch kompetenzähnliche Präsenz in mehreren Märkten; Skaleneffekte in der Markenführung

Risiken

Inkonsistente, inkongruente Ausdehnung der Marke; dadurch Schwächung der Marke; (Teil-) Kannibalisierung durch neues Geschäftsfeld

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Rascherer und erleichterter Aufbau von Markenstärke; Ressourcentransfer senkt Kosten und steigert Erfolgsaussichten

Mangelnde Relevanz / Passgenauigkeit der zu transferierenden Markeneigenschaften im neuen Umfeld

Altes Geschäftsfeld

Neues Geschäftsfeld

Abb. 4. Chancen und Risiken des Markentransfers25

6

Gute Mitarbeiter richtig motiviert

Bei allen Vorteilen, die Spiegel Online durch frühen Start, treffsicheren Tonfall und passende Marke hatte: Hinter dem Erfolg des Angebotes steht vor allem auch ein erfolgreiches und erfolgreich geführtes Team. Zu den Stärken von Spiegel Online gehört, frühzeitig Talente identifiziert, gefördert, ihnen Freiräume eingeräumt und sie langfristig gebunden zu haben. In zehn Jahren hatte die Site nur drei Chefredakteure. Die Fluktuation auf den zentralen Positionen der Redaktion war überschaubar. Müller von Blumencron ist ein charismatischer Vorstreiter seiner Site, seiner Sache und seiner selbst. Der Leiter der FAZ-Medienredaktion merkte über ihn an: Müller von Blumencrons Gestaltungswille als Blattmacher sei ebenso stark wie der von Spiegel-Chef Stefan Aust.26 Kein Online-Chefredakteur ist in der Fachpresse und der Branche so präsent wie Müller von Blumencron. Er hat damit den Markenaufbau des Angebotes maßgeblich forciert und mitgeprägt. Der heute für das Online-Angebot zuständige Geschäftsführer der Spiegel-Gruppe, Fried von Bismarck, begleitete das Angebot von seinen ersten

25

26

Eigene Darstellung in Anlehnung an Caspar (2004). Vgl. auch Schlegel (2002), S. 82 sowie Kamann (2003), S. 268. Hanfeld (2004).

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Schritten an. Die Site hatte im Spiegel mehr Rückhalt als die meisten anderen Online-Ableger von Print-Publikationen.

7

Fazit

Früh gestartet, strebte Spiegel Online früh nach der Marktführerschaft im neuen Medium. Angesichts des Fehlens tagesaktueller Inhalte im Mutterhaus musste sich das Angebot ganz auf das neue Medium konzentrieren. Dabei entwickelte Spiegel Online einen profilstarken und zugleich massenwirksamen Gestaltungsansatz auf Basis des narrativen Spiegel-Stiles. Es wird erfolgreich auf Differenzierung durch eigenständigen Tonfall, Hintergrund und variationsreiche Gestaltung gesetzt. Der Erfolg von Spiegel Online ist aber auch das Ergebnis der Schwäche seiner Mitbewerber. Die Marke Spiegel erwies sich als hervorragend geeignet, ein differenziertes und zugleich großes Publikum zu versammeln – eine der wenigen profitablen Positionen, die es für weitgehend werbefinanzierte journalistische Angebote im deutschen Internet geben kann. Der Erfolg von Spiegel Online ist zusammengefasst Ergebnis einer Kombination aus frühem Marktzutritt, klarem Marktstellungsziel und Geschäftsmodell, Gestaltungswille, Talent, einer passenden Marke sowie Glück – den klassischen Zutaten also.

Literaturverzeichnis Bernhard, V., Meyer-Lucht, R. (2004): Fallstudie Faz.net. In: Glotz, P., MeyerLucht, R.: Print gegen Online – Zeitung und Zeitschrift im Wandel. UVK, Konstanz. Caspar, M. (2004): Bedeutung und Erfolgsvoraussetzungen von Cross-ChannelMedienmarkenstrategien. In: Baumgarth, C. (Hrsg.): Erfolgreiche Führung von Medienmarken. Gabler, Wiesbaden. Dierks, S. (2002): Online versus Print: Macht der Internet-Auftritt von Zeitschriften dem gedruckten Medium Konkurrenz? In: Fantapié Altobelli, C. (Hrsg.): Print contra Online? – Verlage im Internetzeitalter. Verlag Reinhard Fischer, München. Ehrenberg, M. (2004): Die neue Stimme im Kanon. In: Der Tagesspiegel, 24. Juli. Enzensberger, H. M. (1997, erstmals 1957): Die Sprache des Spiegel. In: ders.: Baukasten zu einer Theorie der Medien. Verlag Reinhard Fischer, München. Hanfeld, M. (2004): „Ich bin nicht Rudolf Augstein“. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 06. September.

Das Wunder von Hamburg

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Zeitreise – zwölf Jahre Publikumszeitschriften im Internet

Barbara Hamm und Eric Hegmann

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Wie Publikumszeitschriften das Surfen lernten

Von den Jahren des Aufbruches und Aufbaus über die Zeit der Euphorie und Ernüchterung bis hin zum Aufatmen und Neubeginn: Von 1994 bis 2006 haben die Macher von Publikumszeitschriften im Internet viel erlebt und gelernt. Die Stärken des Mediums Internet sind heute dieselben wie vor zwölf Jahren. Verändert haben sich die Technologien und vor allem die Menschen, die das Internet heute nutzen wie ihre Küche. Die einen geben sich mit Fast Food zufrieden, andere greifen zu Qualitätsprodukten. Und immer mehr köcheln auf kreative Weise mit.

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1994 bis 1996 – die Jahre des Aufbruches

Wir schlichen mit 14.4-Modems durchs junge Internet, unser Provider hieß CompuServe, und der CB Simulator war das schickste Chat-Tool weit und breit. Anfang 1995: Die ersten Verlage entdeckten das Internet. Der Spiegel hatte bereits am 26. Oktober 1994 – einen Tag vor dem Time Magazine – angefangen, einige Artikel ins Netz zu stellen, so gut das im CompuServe-Standard eben ging, und der Heinrich Bauer Verlag beschloss ein paar Monate später, mit dem Programmie-Flaggschiff TV Movie erste digitale Gehversuche zu wagen. Der Internet-Standard hieß HTML 2.0, die meisten Seiten erstrahlten in grau, aber die einmal wöchentlich aktualisierte Datenbank spuckte bereits alle Fernsehsendungen

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wahlweise nach Zeit oder nach Sender sortiert aus. Eine durchschnittliche Content-Website umfasste maximal 100 Seiten – heute sind es mehrere 100.000 bis Millionen. Der Suchkatalog der Wahl hieß Yahoo, war natürlich nur auf Englisch; sein Erfinder Jerry Yang war einer der am häufigsten porträtierten Internet-Persönlichkeiten im deutschen Blätterwald. Im Frühjahr 1995 gingen die taz und die Schweriner Volkszeitung als erste Tageszeitungen ins Internet. Im Laufe des Jahres wurde aus dem 1993 geborenen Browser Mosaik der Netscape Navigator und aus dem Bildschirmtext Datex-J der Onlinedienst T-Online – Surfen kostete 16 Pfennig pro Minute. Nachdem in den USA das erste reine Online-Magazin salon.com gestartet war, begrüßte der Stern am 6. Dezember 1995 seine Onliner in Gestalt eines Cockpits (Focus Online dann im darauf folgenden Januar), begann TV Today – beide aus dem Hause Gruner + Jahr – sich als „Navigator durchs Netz“ zu profilieren und verkaufte sogar schon Werbeplätze an Markenartikler. Das Fernsehprogramm war Nebensache, denn das WWW-Erlebnis stand im Vordergrund, auch wenn es damals noch wenige Nutzer gab, die den handverlesenen Web-Katalog des TV Today Network zu würdigen wussten. Die neue Zeitschrift Online Today baute ebenso wie Pl@net oder später Tomorrow den „Offlinern“ jede Menge Brücken, indem sie neben Hardware, Software usw. regelmäßig „mit den besten Adressen“ lockte, die Redakteure damals wirklich noch suchen mussten. Dabei lieferte das 1996 in San Fransisco gestartete Kultblatt Wired Anregung. Während die Amerikaner bereits in Echtzeit über den ersten Internet-Messenger ICQ plauderten und bei Amazon und Ebay einkauften – Ebay hieß zuvor Ebays Auction Web und feierte 1996 bereits die millionste Auktion – begannen deutsche Tageszeitungen damit, die Bevölkerung überhaupt erst für das Internet zu interessieren, und die Geburt neuer Web-Dependancen – zu Kinofilmen, Prominenten, Marken und Medien – war ganze Meldungen wert. Auch die Tagesschau ging 1996 online. Nahezu jeder hatte begonnen, einen Fuß in das neue Terrain zu setzen, wenn auch noch ohne klares Ziel. An Ideen für den Auftritt mangelte es nicht, nur die Möglichkeiten zur Darstellung, Anordnung und Aktualisierung von Texten und Bildern waren eingeschränkt. Die ersten animierten Bilder – Moving-Gifs – waren Pressemitteilungen wert, echte Bewegtbilder lieferten Sensationsmeldungen, auch wenn diese Filmchen in der Größe von Streichholzschachteln kaum jemand sehen konnte, weil dafür die Anschaffung eines trendigen 36.6Modems nötig war. Man freute sich über die Entdeckung der ersten FlashAnimationen, die einen nicht nur auf die Geduldsprobe stellten, sondern auch im Unklaren darüber ließen, zu welchem Zweck sie überhaupt mit viel Geld und Arbeit erstellt worden waren. Die Antwort lieferte eine

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Werbeanzeige von IBM, in der ein Manager stolz verkündet: „Für jede Mark, die wir ins Internet stecken, bekommen wir zwei Mark zurück!“ Auf die Frage seines Geschäftspartners, wie das denn genau funktioniere, schaut er in seinen Web-Browser und antwortet: „Das steht hier nicht!“

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1997 – das Jahr des Aufbaus

Während Monat für Monat weitere Print-Marken ins Netz gingen – Motto: „Wir sind jetzt auch drin“ – machten sich die ersten Online-Vermarkter auf die Suche nach Möglichkeiten, die noch überschaubaren Kosten für den Internetauftritt zu refinanzieren. Mehr als ein HTML-schrubbender Informatiker und eine Hand voll Redakteure, nicht selten übernahm das Technik-Ressort diese Aufgabe, gab es noch nicht. Es sei denn, eine der neuen Webdesign-Schmieden wie z. B. Lava, Razorfish oder Kabel (alle Hamburg) war mit der Gestaltung und Programmierung beauftragt worden. Für die Dienstleistungen des neu erfundenen Berufsstandes musste man schon damals tief in die Tasche greifen. Für die jungen Online-Vermarkter, die gerade aus den Trainee-Programmen oder anderen Windkanälen gekommen waren, lautete das Gebot der Stunde: Gattungsmarketing. Ohne Mediadaten, Zählreihen und für die Werbevermarktung von Medienprodukten in Print und Fernsehen übliches Rüstzeug zogen sie los, klappten ihre neuen Laptops auf, um den potenziellen Werbekunden vor allem eines zu erklären: „Das Internet: Millionen vernetzte Computer. Dahinter Nutzer, die auf Ihre Produkte und Dienstleistungen warten.“ Reichweitenmessung erfolgte nach Hits, eine notdürftig gebastelte Währung, bei der rasch Millionen zusammenkamen, was zwar beeindruckend klang, aber wenig bewegte. Bewegung brachte die Einführung einer IVWOnline-Währung, die im Februar 1997 zum ersten Mal die Reichweiten der Online-Medien ermittelte. Mit 328.743 Visits und 2,9 Mio. Page Impressions lag bild.de vorn, gefolgt von weiteren neun Angeboten: Focus Online, TV Today Network, Spiegel Online, stern.de, tvmovie.de, Allegra, Geo Explorer, OWL-Online und horizont.net. Mehr Konkurrenz gab es nicht. Noch nicht – aber keine namhafte Print-Marke wollte draußen bleiben, und so kamen Monat für Monat neue Websites hinzu: die Welt, die Zeit, Max, Tomorrow. Bis Ende 1997 tummelten sich bereits gut 40 Print-Marken im Ranking der deutschen Internetangebote, plus die so genannte OMSKombi, eine Vermarktungsgemeinschaft von 62 regionalen Tageszeitungen. Die Media-Agenturen folgten dem Rufen der jungen Online-Branche und gründeten der Reihe nach Multimedia-Units. Gemeinsam traf man

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sich auf Parties und erfand erste Crossmedia-Kampagnen, deren crossmediale Qualität sich oft auf die Abbildung der Web-Adresse unter dem Anzeigenmotiv beschränkte. Ein angesagter „Hot Spot“ war die Cap San Diego, das weltgrößte seetüchtige Museumsschiff an der Überseebrücke im Hamburger Hafen, auf der sich seit Juni 1995 einmal pro Quartal die Online-Kapitäne, eine Gruppe des Fördervereins Multimedia, trafen (und auch heute noch treffen). In den USA startete im August der digitale TV-Dienst TiVo, der seinen Nutzern ein individuelles Speichern und Abspielen von Fernsehsendungen erlaubt. Erste Studien schwappten über den Teich und kündigten eine Verdrängung des klassischen Print- und Fernsehmarktes zugunsten des Internets an. Sowohl die Zahl der Nutzer als auch die Banner-Erlöse sollten in den nächsten Jahren unaufhörlich steigen. Wer etwas auf sich hielt, ließ neue Visitenkarten drucken, denn unter die bereits leise belächelte FaxNummer gehörte eine E-Mail-Adresse. Wer hip sein wollte, legte sich eine eigene Homepage zu, die sie oder er in liebevoller, wenn auch zeitraubender Heimarbeit mit den ersten HTML-Editoren – auch WYSIWYGEditoren genannt – zusammenbastelte. Ein Gästebuch galt als Krone der Web-Visitenkarte – aber nur, wenn man einen befreundeten HTMLer dazu hatte bewegen können, dieses so zu programmieren, dass die neuesten Einträge oben standen und sich die Seiten automatisch teilten. Die Verlage stellten nun im Rhythmus der jeweiligen Erscheinungsweise Auszüge ihrer Zeitschriften ins Netz: Inhaltsverzeichnis, MagazinArtikel, Nachrichten. Um den Internet-Auftritt interessanter und vor allem aktueller zu gestalten, wurden Online-Redaktionen gegründet, die erste originäre Inhalte fürs Internet erstellten. Während die Fach- und Branchenpresse begann, mit den Verlagsleitern und Online-Redaktionsleitern das Selbstverständnis des Online-Journalismus, die Anforderungen an einen Online-Journalisten und an einen markengerechten Internet-Auftritt zu diskutieren, erschienen die ersten „News Feeds“ der Nachrichtenagenturen auf den Seiten. Die Online-Redakteure waren vor allem Content-Manager, die Inhalte aus verschiedenen Quellen auf den Seiten portionierten, aktualisierten und anmoderierten. Im Rennen um die Top 10-Plätze der IVW, die Monat für Monat mit Spannung bei PZ-Online und Täglich Kress erwartet wurden, begannen die Verlage damit, ihre Visits und Page Impressions in zahlreichen Kooperationen durch Banner- und ContentTausch hochzupeitschen. Mit der Kooperation zwischen ZDF und MSNBC wurde eine völlig neue Dimension der Online-Partnerschaft geboten: die strategische Content-Partnerschaft zwischen der alten und der neuen Welt. Während Kreativität, Euphorie und Arbeitspensum der Macher von Monat zu Monat stiegen, stöhnten Controller im Chor, was Milchstrasse-Gründer

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Dirk Manthey in einem Interview bereits in diesem Stadium resümiert hatte: „Das Internet ist eine Geldvernichtungsmaschine!“

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1998 – das Jahr des Sündenfalls

Durch den Sündenfall des Internets erfuhr die Welt, was im World Wide Web alles möglich war. Am 17. Januar 1998 veröffentlichte der freie Internetjournalist Matt Drudge die angebliche Affäre des Präsidenten Bill Clinton mit der Praktikantin Monica Lewinsky im Internet und löste damit nicht nur einen Skandal aus, sondern führte mit „Monicagate“ ein neues Journalismuszeitalter ein. Newsweek wollte die Affäre nicht veröffentlichen, weil es sich zu diesem Zeitpunkt noch um unbestätigte Gerüchte handelte. Am 20. Januar 1998 zog die Washington Post nach und war damit die erste Zeitung, die drei Tage später über die Affäre berichtete. Nachdem Bill Clinton vor Gericht aussagte, keine sexuelle Beziehung zu Monica Lewinsky gehabt zu haben („I did not have sexual relations with that woman“), wollte Sonderermittler Kenneth Starr mit allen Mitteln das Gegenteil beweisen, den Präsidenten des Meineids überführen und ein Amtsenthebungsverfahren gegen ihn einleiten. Seine Arbeit endete mit dem Starr Report, von dem 445 der insgesamt 3.000 Seiten am 11. September 1998 im Internet veröffentlicht wurden. Die meisten Deutschen erfuhren über das Fernsehen davon, denn nur rund 10 Prozent der Bevölkerung nutzten zu dieser Zeit das Word Wide Web. Die sechs bis sieben Mio. aktiven Onliner ermöglichten auch den Publikumszeitschriften im Netz zwar ein steigendes, aber in der Summe immer noch mäßiges Grundrauschen. Die Macher reagierten darauf vor allem mit einem: Kreativität. Allen voran die „im richtigen Leben“ bzw. am Kiosk reichweitenstärksten Fernsehzeitschriften, die ihren PlatzhirschBonus stabilisierten, indem sie die benachbarten Verlagsmarken ins Netz hoben, zu den ersten so genannten Portalen zusammenfassten – TV Spielfilm Networld, TV Today Network, TV Movie Netzwerk – und die Page Impressions der darunter liegenden Websites ganz einfach hinzu addierten. Mit ebenso viel Kreativität versuchten die Web-Pioniere, die Zugriffe auf ihre Websites und Netzwerke hochzupeitschen, indem sie per E-Mail oder ganz einfach per Handschlag Kooperationen mit mehr oder weniger passenden Partnern eingingen. Oder sie verführten die Nutzer pro Besuch zu mehr Klicks, indem sie ihre Artikel teilten oder die Fotos als Fotostrecken aufsetzten. Dabei spielte die inhaltliche Positionierung der Marke oft eher eine untergeordnete Rolle. Wichtig war meist: Traffic. Zu den Traffic-Knüllern gehörten vor allem

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Gewinnspiele, vorzugsweise Aufdeckspiele, die mindestens 20 Seitenaufrufe verlangten, bevor sie gelöst werden konnten, Chats mit Prominenten und Webcams, ganz egal, was sie einfingen: den Füllstand der Kaffeemaschine im Büro, leicht bekleidete Mädchen oder den Münchner Biergarten. Was nicht vor der Kamera davon laufen konnte, wurde ins Internet übertragen. Der Einfallsreichtum rief erstmals die Juristen auf den Plan. Die ersten Bildagenturen und Fotografen wollten sich nicht damit abfinden, dass ihr Honorar für die Print-Nutzung nun auch noch eine millionenfache Verbreitung ihrer Arbeit im Internet beinhalten sollte. Nach den Fotografen stellten auch die freien Texter und Journalisten Forderungen und stritten mit den Redaktionen über zehn- bis fünfzigprozentige Online-Zuschläge. Überhaupt schossen die Ausgaben in die Höhe: Provider, HardwareHersteller, Software-Unternehmen witterten Morgenluft und hielten für zaghafte Versuche von Content-Management-Systemen und Datenbankanwendungen schamlos die Hände auf. Erlöse mussten her, und so wurden erste E-Commerce-Deals geschlossen: Die Verlagsgruppe Milchstrasse verschacherte seine Marken an CompuServe, jenen geschlossenen Dienst, der bereits 1994 erste zaghafte Gehversuche im WWW begonnen hatte und mit wenigen frei zugänglichen Content-Seiten Werbung für weitere, im geschlossenen und kostenpflichtigen Bereich abrufbare Seiten machte. Und schon waren Transaktionserlöse, so genannte Conversions, nicht nur mehr Ansporn, sondern neben dem klassischen Banner-Geschäft zweite Währung geworden. Während Larry Page und Sergey Brin in einer Garage im kalifornischen Menlo Park die bis heute erfolgreichste Suchmaschine Google ins Leben riefen, rückte das Internet immer mehr in den Fokus der Deutschen – auch der Parteien, die im Wahlkampf für die herannahende Bundestagswahl am 27. September mit eigenen Internet-Auftritten starteten. Zum ersten Mal begleiteten die Online-Redaktionen den Wahltag und bildeten jeweils aktuelle Hochrechnungen und Ergebnisse auf ihren Websites ab. Mit zunehmender Flughöhe und Bedeutung der redaktionellen Online-Angebote verschärfte sich auch der Ton zwischen Print- und Online-Redaktionen: Welche Aufgabe und Bedeutung hat das Online-Angebot im Vergleich zur gedruckten Ausgabe? Hat es diese zu kopieren, zu begleiten oder zu verlängern? Die Onliner beantworteten und beantworten diese Frage bis heute so: Das Online-Angebot muss auf die Stärken des Mediums setzen. Die Anforderungen an Qualität, Aktualität und markenspezifische Ausrichtung eines Online-Journalismus waren und sind bis heute dieselben wie die bei Print. Das Dilemma: Für die Umsetzung eines onlinegerechten Journalismus fehlte und fehlt den meisten noch heute das nötige Geld.

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Im Dezember 1998 gingen die letzten „Unwired Countries“ von Afghanistan bis Western Sahara online – the Web is global!

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1999 – das Jahr der Extreme

Zwei Extreme prägten 1999: die grenzenlose Euphorie für die Chancen des Internets und die nicht weniger grenzenlose Hysterie für die Risiken des bevorstehenden Millenniums. Es gab also viel zu tun. Für Jubelstimmung sorgten vor allem Portale. Jede Zeitschrift, die etwas auf sich hielt, nannte ihre Website nun „TV-Portal“, „Frauen-Portal“ oder „Finanz-Portal“. Das taten sie vor allem, um die immer strenger werdenden Vorschriften der IVW einzuhalten. Die Inhalte verschiedener Kooperationspartner konnten ohne großen Aufwand zum Portal gezählt werden, indem die Domain des Partners einfach auf die eigene „Haupt-Domain“ umgeleitet wurde. So wurde z. B. die so genannte Logout-Seite eines FreeE-Mail-Dienstes automatisch mit fortlaufend aktuellen Inhalten beliefert und im Gegenzug zum eigenen redaktionellen Angebot gezählt. Damit war der Spitzenplatz im IVW-Ranking für die nächsten Monate garantiert. Content war King, denn er hatte einen hohen Wert für all diejenigen, die nur über Technologie für Internet-Zugang oder E-Mail verfügten. Die fast täglichen US-IPOs und das Steigen des US-Technologie-Index NASDAQ verführten BWL-Absolventen, Venture-Unternehmen und Banken auch in Deutschland zu Börsenplänen und Börsengängen, von denen täglich zu lesen war. Sie reizten auch die Verantwortlichen der publizistischen Online-Angebote und ließen Ideen für Businessmodelle durch die Verlagsköpfe kreisen. Der Konsens lautete: Content war bereits King. Und dieser würde auf den Portalen für reichlich Community sorgen, welche früher oder später für Commerce jeder Art empfänglich würde. „Content, Community, Commerce“ lautete dann auch der Dreiklang, mit dem ausgerechnet Milchstrasse-Chef Dirk Manthey die Online-Aktivitäten zur Tomorrow Internet AG bündelte und einen Börsengang für den Herbst ankündigte. Die „Geldvernichtungsmaschine“ war eben eine Frage des Blickwinkels. Zur Vorbereitung des Börsenganges wurden innerhalb von Wochen nahezu 100 neue Mitarbeiter angeheuert – Redakteure, Programmierer, Projektmanager – die neben dem normalen Gehalt Aktienoptionen erhielten. Gute Leute waren rar. In den Büros standen Kickertische und anderes Spielzeug. Die bestehenden Websites wurden aufgemöbelt und Konzepte für neue geschmiedet. Am 30. November notierte die Tomorrow Internet AG dann als erste Verlags-AG am Neuen Markt (inzwischen mit der Focus Digital AG zur Tomorrow Focus AG fusioniert). Dirk Manthey

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hatte der Tomorrow Internet AG eine Lizenz für die Nutzung der Zeitschriftenmarken und -inhalte verkauft. Für die Bewertung der Aktivitäten vor IPO war die Anzahl der registrierten Nutzer maßgeblich, die in den Augen der frisch gebackenen Internet-Analysten immensen Wert besaßen, weil diese doch in naher Zukunft all die E-Commerce-Anwendungen nutzen würden – die allerdings größtenteils noch in der Entwicklung waren. Der Internet-Boom war in Deutschland auf seinem Höhepunkt angekommen. Alle zwei Wochen schwirrten Einladungen zu IPO-Parties herein, auf denen mit Champagner auf die scheinbar goldenen Zeiten angestoßen wurde, nicht selten in Hochglanzbüros in Toplagen. Während draußen der New Economy-Sturm tobte, wurde drinnen in den Teams mehr denn je über die richtige Positionierung und Zukunft der publizistischen Internet-Angebote diskutiert. Was treibt die Entwicklung voran? Welche Inhalte erwartet der Nutzer unter den verschiedenen Marken? Welche Rolle spielt die Community? Wann werden Mobile- und Breitband-Inhalte eine Rolle spielen? Fragen, die nicht nur die 400 OnlineMedien in 1999 bewegten, sondern bis heute eine wichtige Rollen spielen. Und wer weder mit der Börse noch mit Online-Journalismus beschäftigt war, stellte sich vor allem eine Frage: Was ist dran am Jahr 2000-Problem? Brechen in der Silvesternacht alle Datennetzwerke zusammen? Lässt sich der Computer noch starten? Fallen womöglich die Ampeln aus? Während die einen ein informationstechnologisches Desaster, die größte Softwarekrise aller Zeiten heraufbeschworen, identifizierten die anderen das hysterische Treiben in Unternehmen, Institutionen und Millionen von privaten Haushalten als genialen Marketingfeldzug. Die Menschheit feierte schließlich ohne große Pannen ins neue Jahrtausend.

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2000 – das Jahr der Ernüchterungen

Im ersten Halbjahr schien die Online-Welt noch in Ordnung zu sein: 30 Prozent der Deutschen waren inzwischen online und erfreuten sich an Moorhühnern, an der zunehmend professionellen und aktuellen nachrichtlichen Berichterstattung im Internet. Spiegel Online und sueddeutsche.de schickten eigene Parlaments-Korrespondenten ins Rennen, die erste reine Netzeitung ging online, und die Financial Times Deutschland debütierte mit crossmedialem Motto: „One brand, all media.“ Die Branche fragte sich, wann nun endlich der lang angekündigte Relaunch von bild.de kommen werde, während hinter Springer-Türen unklare Positionierungen – sollen alle Bild-Reporter multimediale Web-Reporter werden? – und Probleme mit dem Einsatz des neuen Redaktionssystems StoryServer quälten.

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Die Tomorrow Internet AG schob voller Optimismus die BroadcastPlattform Networld TV mit 1.200 Video-Streams und Webcasts von der Rampe und begann mit der Planung diverser Websites zum Thema Business & Finanzen. Gruner + Jahr lagerte seine Online-Aktivitäten in verschiedenen GmbHs aus und verkündete die Gründung eines neuen Unternehmens- und Vorstandsbereiches Multimedia. Und „Robert T-Online“ grinste in grellem Magenta unverschämt sorgenfrei von Werbeanzeigen und Plakatwänden herunter. Niemand ahnte, dass der Wirbel, den Shawn Fanning und Sean Parker mit der Filesharing-Applikation Napster im Musikmarkt auslösten – zunächst allein, später gemeinsam mit Bertelsmann – schon im Februar des folgenden Jahres aufgrund juristischer Ungereimtheiten nachlassen würde. Die Idee, dass Communities und Peer-Gruppen den Internet-Markt weiter am Leben halten könnten, teilten auch die Macher der redaktionellen Angebote. Content war teuer geworden. Und so schossen die Communities wie Pilze aus dem Boden: für Partnersuchende, für Musikfans, für Filmfreunde. Während die AG-Vorstände ihre Bräute mit modernster Technologie, teuersten Datenbank-Lizenzen und aufwändigsten Redaktionssystemen ausstatteten und nachvollziehbaren Strategien folgten – zentrale Nutzer-Datenbanken sollten Print und Online ein intelligentes Customer Relationship Management ermöglichen – begann die New Economy-Blase zu platzen. Nach einem Rekordhoch im März büßten die Firmen des so genannten Neuen Marktes mehr als die Hälfte ihres Börsenwertes ein, einige Unternehmen sogar bis zu 90 Prozent. Der Nemax 50, das Pendant zum amerikanischen Nasdaq, stürzte von fast 10.000 Punkten auf rund 3.000 Punkte ab. Firmen wie EM.TV mussten binnen kürzester Zeit gewaltige Kursverluste hinnehmen. Der Handel von letsbuyit.com wurde zum Jahreswechsel ausgesetzt, gegen Next Generation Internet und Gigabell begannen Insolvenzverfahren, die Tomorrow Internet AG begann kurz vor Weihnachten Mitarbeiter zu entlassen. Damit vollzog sich in Deutschland dieselbe Entwicklung wie in den USA. Einer Studie der Firma webmergers.com waren in den USA innerhalb eines Jahres über 200 Internet-Firmen Pleite gegangen. Dabei waren umgerechnet 3 Mrd. DM an Kapital vernichtet worden. Zwischen Juli und Dezember 2000 wurden in der US-amerikanischen Internet-Branche mehr als 36.000 Menschen entlassen, 10.000 allein im Dezember. Trotz aller Aufregung kam der Absturz der Internet-Aktien an den internationalen Börsen nicht unerwartet. Dass die meisten dieser Papiere hoffnungslos überbewertet waren, war seit langem bekannt; die tatsächlich erwirtschafteten Gewinne waren schon lange den Kursentwicklungen hinterher gelaufen.

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Kleine Hoffnungsschimmer bescherten die Telekommunikations-Multis, die den Verlagen die Lizenzierung von Web-Inhalten auf Handys mit WAP-Funktion anboten. Aber wollte diese Inhalte irgendjemand nutzen? Tatsächlich kam die Werbung fürs „Wappen bis der Arzt kommt“ erheblich besser an als das Wappen selbst. Wer wollte schon auf die 14.4Übertragungszeit zurückfallen und für das Abrufen des Lokalwetters meditieren?

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2001 & 2002 – die Jahre der Konsolidierung

Die am meisten besuchte Website des Frühjahres war dotcomtod.com, auf der Tag für Tag Gerüchte und Meldungen zu den neuesten Entwicklungen in der Internet-Branche berichtet wurden: Wer hatte Entlassungen angekündigt, Insolvenzen angemeldet oder Börsengänge abgesagt? Ausschließlich „bad news“ bestimmten das Geschehen in Internet-Firmen und Online-Redaktionen, zum Teil mit viel Galgenhumor. Zum Lachen war den meisten Onlinern aber immer weniger zumute, denn der im Vorjahr begonnene Crash traf die gesamte Branche hart. Wer Mitte des Jahres noch einen Job hatte, war mit Downsizing beschäftigt: Wie kann eine Website mit der Hälfte oder einem Drittel der Belegschaft überleben? Welche Dienstleistungen können gekündigt, welche Kosten heruntergefahren werden? Nachdem die Tomorrow Internet AG bereits jede Menge OnlineRedakteure entlassen hatte, setzte sie ihr Sanierungsprogramm fort und begann, mit der Focus Digital AG zur Tomorrow Focus AG zu fusionieren. Auch die großen Pläne von Gruner + Jahr für einen eigenständigen Unternehmensbereich Multimedia platzten. Aufgrund zu ambitionierter Ausbaupläne für verschiedene neue Internetauftritte bilanzierte das Unternehmen für das Geschäftsjahr 2000 hohe Verluste, die größte Baustelle war der so genannte Business Channel, ein Portal der Gruner + JahrWirtschaftspresse mit den Marken Capital, Börse Online, Bizz und Impulse. Noch im Frühjahr wurde eine Task Force aufgesetzt, deren Aufgabe darin bestand, die Baustellen zu schließen und bezahlbare Überlebenspläne zu schmieden. Die Schuster besannen sich auf ihre Leisten, die Redaktionen überdachten ihre Content-Konzepte, die E-Commerce-Betreiber ihre Geschäftsmodelle. Dennoch sollten die Jahre der Konsolidierung nicht ohne Ereignisse bleiben. Nachdem sich die Frankfurter Allgemeine Zeitung lange Zeit gegen das Internet gesträubt hatte, ging auch faz.net online. Im Juni 2001 verlieh das Adolf-Grimme-Institut zum ersten Mal einen Grimme-Preis für

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publizistische Qualität im Netz – den Grimme Online Award. Kein einziges Verlagsangebot schmückte die Riege der Preisträger. Die insgesamt neun Auszeichnungen erhielten stattdessen die Online-Macher von n-tv, Harald Schmidt, MTV, Bitfilm, GIGA, ZDF escript, Online-ForumMedienpädagogik und Politik Digital. Und als viele Online-Redaktionen ihre Internet-Auftritte bereits auf Abo-Generatoren heruntergefahren und auch den weltweit wütenden Wurm CodeRed überstanden hatten, wurden sie am Vormittag des 11. September von den Breaking News zu den Terroranschlägen in New York und Washington überfallen. Kaum ein Ereignis bewegte die Macher und die Zugriffskurven der redaktionellen Online-Angebote seitdem so sehr, wie dieses. Im Minutentakt wurden auf den nachrichtlichen Websites – Spiegel Online, stern.de, Tagesschau oder Heute – neue Meldungen, Fotos und Augenzeugenberichte veröffentlicht. Zum ersten Mal hatten die Macher die Gelegenheit, die Stärken des Mediums – Unmittelbarkeit, Aktualität, Nähe – unter Beweis zu stellen. Mit großem Erfolg: Das Internet war zu einem relevanten Medium geworden. Das hatte Apple-Chef Steve Jobs schon lange begriffen, als er im Januar 2002 den iPod auf der MacWorld Expo in New York vorstellte und mit dessen Markteinführung nicht nur den Erfolg seiner Download-Applikation iTunes, sondern vor allem die Umsätze mit Musik-Downloads in die Höhe trieb – und bis heute als Markführer treibt. Gleichzeitig wurde in Deutschland die Bereinigung des Internet-Marktes fortgesetzt: yahoo.de wurde von google.de zugriffsmäßig in seine Schranken gewiesen, aus den ehemaligen Suchmaschinen excite.de und lycos.de waren längst auch Online-Supermärkte geworden. Die großen Provider begannen damit, PrintMarken in ihre Portale zu holen: bild.de und Heute (ZDF) legten sich zu T-Online ins Bett, stern.de zu GMX, andere wiederum zu Freenet. Die Tomorrow Focus AG begann, ihr Grundrauschen mittels einer strategischen Kooperation mit MSN zu erhöhen. Während der amerikanische Aktien-Index für Technologie-Werte Nasdaq im Oktober 2002 seinen niedrigsten Wert aller Zeiten erreichte, freute sich Bill Gates darüber, dass nach Jahren der Browser-Rivalität zwischen Microsoft und Netscape („Navigator“) sein Internet Explorer inzwischen 96 Prozent Marktanteil erreicht hatte. Und nachdem Google die Beta-Version des vollständig automatisch erstellten Nachrichtenüberblicks GoogleNews gestartet hatte, freuten sich die deutschen Online-Redaktionen über eine weitere Chance, ihre Daseinsberechtigung unter Beweis zu stellen. Zum ersten Mal sollte das Internet in der Vorberichterstattung zur Bundestagswahl nicht nur für die Parteien, sondern auch für die inzwischen knapp 30 Mio. Online-Nutzer eine Rolle spielen. Das Flashspiel Bundesdance von sueddeutsche.de wurde zum Hit des Jahres, der von der Bundeszentra-

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le für politische Bildung erdachte Wahlomat zu einem festen Bestandteil des Internet-Inventars.

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2003 & 2004 – die Zeit des harten Realismus und zarten Wandels

Wer als Online-Redakteur, Screen-Designer oder Projektleiter die Jahre der Konsolidierung überstanden hatte und nicht als brotloser OnlineBerater durchs Land zog, führte ein Schattendasein. Begriffe wie „Internet“ und „online“ lösten in den Verlagen – übertrieben gesprochen – Magenkrämpfe aus. Die Verlagswelt befand sich in diesen Jahren in einer schweren Katerstimmung, die bis heute nachwirkt. Zu viel Geld war in den Jahren zuvor scheinbar aus dem Fenster geworfen worden. Die inzwischen gewonnenen Kunden, Marktpositionen und Erfahrungen spielten in der Beurteilung der Online-Aktivitäten kaum eine Rolle. Und wer war Schuld an der Misere? Natürlich die Onliner. Und so schlichen sie gesenkten Hauptes über die Flure der aufs Zeitschriftengeschäft konzentrierten Redakteure und Verlagsleute und versuchten, aus den inzwischen arg heruntergeschraubten Budgets das Beste zu machen. Ihre Daseinsberechtigung beschränkte sich in dieser Phase im Wesentlichen auf die bloße Präsenz der Zeitschriftenmarken und das Generieren von Abonnements. Alles andere war okay – solange es kein Geld kostete. Während hinter verschlossenen Online-Redaktionstüren darüber diskutiert wurde, ob sich eine Zeitschriftenmarke angesichts wachsender Online-Nutzer einen „schlechten“ Internetauftritt leisten könne – den Nutzern waren die Budgets schließlich völlig egal – nahte im März 2003 der IrakKrieg heran. Und obwohl die meisten nachrichtlichen Angebote mit deutlich kleineren Redaktionsteams aufgestellt waren als noch in den Jahren zuvor, zeigten sie einmal mehr, was im Internet möglich war: eine Rundum-die-Uhr-Berichterstattung mit allem, was dazu gehörte. Vor allem die Zusammenarbeit zwischen den Print- und den Online-Redakteuren klappte plötzlich wie selbstverständlich: Spiegel Online, stern.de und andere kooperierten eng mit den Reportern und Fotografen in den Kriegsgebieten. Und weil sich in Tagebuch-Form mehr erzählen ließ als in Form der klassischen Nachricht, deren Sprache, Länge und Inhalt klaren Regeln und Konventionen unterworfen sind, nutzten viele internationale Medien die Möglichkeit des Bloggens. So ließ die BBC ihre Reporter via Blogs zu Wort kommen, so z. B. den Reporter Andrew Gilligan, der seine Erlebnisse in Bagdad im BBC-Warblog aus dem Bauch heraus formulierte. Darüber hinaus gab es private Warblogs aus aller Welt, Sammelportale für

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Warblogs und Blogs von „Embedded Journalists“. So begann sich der Blog als journalistisches Format mehr und mehr zu etablieren. Die Bilanz zum Jahreswechsel zeigte nicht nur, dass die File-SharingSoftware Kazaa die bis dato am häufigsten heruntergeladene Software aller Zeiten war, sondern auch wieder leicht wachsende Online-Umsätze. Die Prognosen der Online-Mediaplaner stellten für die kommenden Jahre sogar einen mindestens 20-prozentigen Zuwachs bei der so genannten Online-Werbung in Aussicht, und noch viel mehr bei den Umsätzen im Direktmarketing. Google hatte längst damit begonnen, auch die deutschen Online-Angebote mit seinem Suchmaschinen-Marketing in Gestalt von automatisch erzeugten Google-Anzeigen zu überfluten. All das führte bei den Verantwortlichen der Publikumszeitschriften-Websites zwar zu einem leichten Aufatmen, der Sparkurs wurde bei den meisten jedoch fortgesetzt, man traute dem Braten noch nicht so recht. In den USA wurden unterdessen Studien veröffentlicht (z. B. Mori Dayparting), die eine OnlinePrimetime zwischen 18 und 22 Uhr ermittelten und den klassischen Medien zunehmende Konkurrenz ankündigten. Auch so manch einer in Deutschland fragte sich, ob das als Anfang vom Ende der Print-Medienmärkte zu verstehen sei? Der Börsengang von Google im August 2004 verbreitete in der OnlineBranche nicht nur Optimismus, sondern auch Sorgenfalten angesichts des Marktanteiles der Suchmaschine in Deutschland und der umfangreichen Pläne des internationalen Unternehmens – Videosuche, Digitalisierung umfangreicher Datenbestände, Kauf von blogger.com. Überhaupt stieg die Relevanz der Blogger-Szene unaufhörlich: Im September wiesen Blogger dem US-Starjournalisten Dan Rather nach, dass er auf gefälschte Dokumente über die Militärzeit von Präsident Bush hereingefallen war (Rathergate). Das erfolgreiche Blog-Startup Gawker Media startete seine dritte und erfolgreichste Blog-Seite wonkette.com. Und die amerikanische Online-Fernsehshow Crossfire mit Front-Mann Jon Stewart (der dann im Februar 2006 die Oscar-Verleihung in Los Angelos moderierte) erreichte als erstes Internet-Video-Format ein Massenpublikum. Auch in Deutschland war man sich darüber einig, dass das Internet mit seinen 35 Mio. Nutzern nun ein Massenmedium sei – auch wenn diese noch keine Video-Shows konsumierten. Eine klassische Content-Website umfasste inzwischen 200.000 bis 1.000.000 Seiten und erreichte bis zu 13 Mio. Nutzer pro Monat (Beispiel: T-Online). Das jedenfalls ermittelte die Arbeitsgemeinschaft Online-Forschung (AGOF), die von den Vermarktern der größten deutschen Websites im Dezember 2002 ins Leben gerufen worden war, um den Agenturen und Planern künftig fundierte MediaDaten und professionelle Planungstools an die Hand zu geben und das Medium Internet als relevantes Werbeumfeld zu etablieren. Auf der Onli-

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Barbara Hamm und Eric Hegmann

ne-Marketing-Düsseldorf (OMD) veröffentlichten sie erstmals eine Vorschau auf die (neben der IVW) neue Währung, die unter dem Titel internet facts seitdem regelmäßig die Unique User der größten deutschen OnlineMedien ausweist. Im vorläufigen Top-20-Ranking der AGOF waren auch die Zeitschriften-Angebote stern.de mit 2,3, Focus Online mit 2,5, Chip Online mit 3,1 und Spiegel Online mit 3,5 Mio. Nutzern pro Monat vertreten. Spiegel Online hatte in den vergangenen Jahren trotz Katerstimmung in die Qualität und Ausstattung des Angebotes investiert – und feierte Ende des Jahres nicht nur seine Reichweite, sondern gemeinsam mit rund tausend Gästen – darunter auch Joschka Fischer – sein zehnjähriges Bestehen mit einem rauschenden Fest in der Hamburger Magnus Hall.

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2005 – das Jahr des Aufatmens

So wie in Hollywood schon immer erfolgreiche Stoffe neu und zeitgemäß für jüngere Generationen als Remake zu neuem Leben erweckt wurden, so recycelte man nun im Internet: Auf der Suche nach vermarktbarem und reichweitenrelevantem Content griffen die Onliner auf alte Themen zurück, wenn beispielsweise Lycos IQ die Wer-weiss-was-Idee wieder herauskramte oder Ajax intuitiv nutzbare, webbasierte Kalendersysteme wie den von spongecell.com ermöglichte. Das vormals so schlechte Image der New Economy erstrahlte zögerlich durch wirtschaftliche Erfolgsmeldungen wieder: E-Commerce lohnt sich wirklich, wie iTunes, Amazon und Google beweisen. Überhaupt schien Google kein Halten zu kennen: Beinahe monatlich kaufte der Suchmaschinengigant neue Technologien und integrierte sie in sein Angebot. Das Prädikat Internet 2.0 prangte unübersehbar auf Trend-Entwicklungen wie dem dynamisch programmierten Gmail oder Google Earth. In Deutschland experimentierte stern.de zum Start des Monatsmagazins View mit Web 2.0Technologie und lieferte seinen Nutzern eine Foto-Community, wie sie zuvor nur bei flickr.com bewundert werden konnte. Die Trend-Themen im deutschen Internet waren Blogs, Blogs, Blogs und alles, was mit user-generated Content zu tun hatte. Dabei ließ sich feststellen, dass wie bereits ein Jahrzehnt zuvor die Impulse aus den USA kamen, um mit leichter Verzögerung in Europa aufgegriffen zu werden. Der Blog-Wettbewerb von der Zeit adelte die nicht-journalistischen Schreiber und rückte sie ein Stück weiter in die Nähe der nach wie vor argwöhnischen Journalisten. Bloggersdorf vergrößerte sich zunehmend, brigitte.de, focus.de, stern.de – sie alle boten Blogs an, teilweise schrieben

Zeitreise – zwölf Jahre Publikumszeitschriften im Internet

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die eigenen Redakteure und teilweise unterschiedlichste Gastautoren. Nicht immer war allerdings erkennbar, ob hier nur die Blog-Software die Forum-Software abgelöst hatte, doch deutlich wurde: Der Nutzer und Leser wird eingeladen, aktiv zu werden. Zum Ende des Jahres erfüllten sich die positiven Prognosen der Agenturen, und endlich kam Geld in die Kasse. Deutschlands Klassenprimus Spiegel Online wurde profitabel und machte Gewinn, der 2006 ins OnlineAngebot investiert werden soll, vor allem in die Redaktion und in eine neue Abteilung für Bewegtbildformate. Auch Focus Online witterte Morgenluft und kündigte für das kommende Jahr Investitionen an. stern.de hatte bereits 2005 mit Ausbaumaßnahmen begonnen. Die Werbungtreibenden stürmten 2005 regelrecht das Internet und ließen reichlich Geld, laut der Werbemarktstatistik des Online-VermarkterKreises (OVK) 885 Mio. Euro, satte 60 Prozent mehr als im Vorjahr. Doch neben Profit sorgten auch neue Ideen für Schlagzeilen: Der 21jährige Alex Tew aus England verkaufte auf seiner milliondollarhomepage.com kleine Werbefelder, jeder Pixel kostete 1 Dollar, Mindestabnahme 100 Dollar. Am Ende wurden die begehrten Werbeplätze sogar versteigert, und die Community zollte der Idee Respekt: Bei einer Abstimmung erklärten 65 Prozent, dass sich der Student die Million redlich verdient hätte.

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2006 – das Jahr des Neuaufbruches

Das Jahr hat vielversprechend begonnnen. Die Publikumszeitschriftenverlage basteln an neuen Strategien für die multimediale Zukunft, die OnlineRedaktionen investieren wieder und blicken dabei zurück auf die Erfahrungen und Fehler der vergangenen Jahre. Von Community über Breitband und Mobile zu Download-Applikationen – die Themen erleben eine Renaissance. Treiber sind dabei die Menschen selbst – mit 40 Mio. Nutzern ist über die Hälfte der Bevölkerung online – und neue technologische Entwicklungen. Auch dank neuer Web-Technologien wie Ajax und RSS gestalten und verbreiten immer mehr Nutzer eigene Inhalte, empfangen und versenden über Breitbandzugänge immer größere Datenmengen, auch über inzwischen funktionsreiche, mit Browsern, Audio und Video ausgestattete mobile Geräte, und laden immer mehr Musik und Filme herunter. Was in den Jahren des Aufbruches und Aufbaus noch Vision war, wird langsam, aber sicher Realität. Und damit hat der Zyklus der InternetEntwicklung – von Aufbruch über Euphorie, Ernüchterung und Crash bis Konsolidierung – von neuem begonnen. Mit allen Chancen und Risiken, vor allem aber mit Erfahrung: Die Macher haben gelernt, dass man dort

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Barbara Hamm und Eric Hegmann

sein muss, wo die Kunden sind, Beziehungen zu ihnen aufbauen und die Inhalte ihren Bedürfnissen anpassen muss. Das Expandieren in neue Verbreitungskanäle erfordert nach wie vor „Trial-and-Error“-Experimente. Es ist erkannt, dass das Internet nicht nur einer dieser Kanäle, sondern Ausgangspunkt und Nährboden für andere Verbreitungskanäle ist. Und schließlich verlangen die Nutzer, die in Blogs, Podcasts, offenen Enzyklopädien und Expertennetzwerken überraschend erfolgreich eigene Inhalte publizieren, ein Umdenken im traditionellen Journalismus. Das internationale Weblog-Verzeichnis Technorati meldet die ersten Blogs, die etablierte US-Medien überholt haben, jede Sekunde geht auf der Welt ein neuer Blog online. Videoblogs wie z. B. rocketboom.com in den USA und Ehrensenf in Deutschland werden Mainstream und erreichen zunehmend Massen. Die von Nutzern erstellte Enzyklopädie Wikipedia umfasst inzwischen 4 Mio. Artikel in über 100 Sprachen. Das von Nicht-Journalisten aus 20 Ländern erstellte Experten-Netzwerk about.com wird monatlich von nahezu 30 Mio. Menschen besucht. MSNBC, BBC und andere große Player haben damit begonnen, Augenzeugenberichte, Videos und Fotos in ihre publizistischen Online-Angebote zu integrieren – z. B. zum Tsunami im Dezember 2004 oder zu den Attentaten in London im Juli 2005. Das größte Online-Nachrichtenangebot Südkoreas, OhmyNews, wird zu 30 Prozent von Journalisten und zu 70 Prozent von Bürgern erstellt. Und in den USA hat sich mit myspace.com ein soziales Netzwerk mit 50 Mio. Teens und Twens etabliert – 400.000 sind junge Musiker – das von der Musikindustrie als Hit-Fabrik und von den Werbungtreibenden bereits als das MTV der digitalen Generation bezeichnet wird. Eine der wichtigsten Fragen nach zwölf Jahren Publikumszeitschriften im Internet lautet also: Wollen und müssen die Nutzer in den Medienprozess integriert werden? Eine mögliche Antwort lieferte bereits Rupert Murdoch, der myspace.com 2005 für 580 Mio. Dollar für die News Corporation kaufte und in einer Rede am 13. April 2005 der American Society of Newspaper Editors referierte: „Give the people control of media, they will use it. Don’t give people control of media, and you will lose them.“

Nichtmediale Markendiversifikation am Beispiel Fit for Fun

Karsten Kilian und Frauke Eckert

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Lifestyle-Zeitschrift und Medienmarke Fit for Fun

Publikumszeitschriften sind klassischerweise auf zwei unterschiedlichen Märkten präsent: Einerseits werden sie auf dem Käufer-, Leser- und Vertriebsmarkt als Konsumgut angeboten, andererseits auf dem Inserentenund Anzeigenmarkt als investive Dienstleistung.1 Die Publikumszeitschrift Fit for Fun dagegen hat sich mit dem Ausbau zur Lifestyle-Marke und der Erschließung nichtmedialer Märkte durch Lizenzgeschäft zwei weitere Marktsegmente erschlossen. Die Positionierung der Marke Fit for Fun zur Erschließung attraktiver Zielgruppen sowie die mediale und die nichtmediale Diversifikation der Marke werden im Folgenden näher beleuchtet. Insbesondere wird darauf eingegangen, wie und warum es Fit for Fun gelungen ist, die eigene Marke nichtmedial zu diversifizieren. 1.1

Positionierung der Zeitschrift Fit for Fun

Die Zeitschrift Fit for Fun wird seit 1994 von der Verlagsgruppe Milchstrasse vermarktet. Sie versteht sich als Coach und Ratgeber für nahezu sämtliche sportliche Aktivitäten sowie als Guide für das gesamte Spektrum eines aktiven Lebensstiles. Passend zum Mitte der 90er Jahre aufkommenden Wellness-Trend und der weiter zunehmenden Fokussierung auf be1

Althans u. Brüne (2004), S. 2059.

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Karsten Kilian und Frauke Eckert

wusste Ernährung wurde Fit for Fun als Lifestyle-Zeitschrift konzipiert. Die vier redaktionellen Säulen, die damit zugleich den Markenkern von Fit for Fun festlegen, sind Ernährung, Fitness, Gesundheit und Entspannung (vgl. Abb. 1).

FIT FOR FUN Ernährung

Fitness

Gesundheit

Entspannung

y Gesunde Ernährung

y Sport mit Fun-Faktor

y Konzepte von Experten

y Trendige Sportmode

y Kompetente Beratung

y Effizientes Training

y Aktive Lebensfreude

y Sex und Soul

y Genuss ohne Reue mit Rezeptteil

y Workouts y Ratgeber

y Reisetipps und Wellness-Guide

Abb. 1. Die vier Säulen des Markenkerns von Fit for Fun

Zum Themenbereich Ernährung zählen neben Tipps und Hinweisen zur gesunden Ernährung eine kompetente Beratung, die den Lesern anhand eines Rezeptteiles „Genuss ohne Reue“ ermöglicht. Der Themenbereich Fitness umfasst mit Fun verbundene sportliche Aktivitäten, effiziente Trainingsformen und Workouts, die die Leser aktiv dabei unterstützen, sich fit zu halten. Im Themenbereich Gesundheit finden sich von Gesundheitsexperten entwickelte Konzepte und Ratgeber, die den Lesern dabei helfen, aktive Lebensfreude zu empfinden. Der Themenbereich Entspannung schließlich stellt trendige Sportmode vor, sorgt für wohltuende Seelenmassage durch redaktionelle Beiträge und gibt Tipps und Hinweise für ein erfülltes Sexualleben. Auch trägt dieser Bereich mit vielfältigen Reisetipps und einem Wellness-Guide dazu bei, dass die Leser ihre Freizeit optimal genießen und durch besondere Erlebnisse anreichern können.2 In Summe stehen die vier Säulen für „positives Denken“ und sorgen für einen hohen individuellen Nutzwert der Zeitschrift3, so dass sich die Leser in allen Lebenslagen topfit fühlen können. Zugleich ist die attraktive Positionierung von Fit for Fun als Lifestyle-Zeitschrift Voraussetzung für den 2 3

Kilian (2007a). Baumgarth (2004a), S. 343.

Nichtmediale Markendiversifikation am Beispiel Fit for Fun

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Transfer der vier Säulen des Markenkerns auf nichtmediale Produkte, die es mit ähnlichen Elementen aufzuladen gilt. Auch der Markenname unterstützt diese Positionierung und reflektiert den durch die redaktionellen Beiträge realisierten Markenkern. Während Fit für Vitalität und persönliches Wohlbefinden, für Leistungsfähigkeit und Belastbarkeit, aber auch für Gesundheit und Entspannung steht, wird Fun mit Erlebnis, Spaß und Genuss, mit Sport, Sex und Abwechslung assoziiert.4 1.2

Zielgruppe der Zeitschrift Fit for Fun

Fit for Fun wendet sich an all jene, die aktiv und gesund leben, ein hohes Körperbewusstsein haben und bereit sind, regelmäßig etwas für die eigene Fitness und das persönliche Wohlgefühl zu tun. Mit der beschriebenen Positionierung erreicht die Marke Fit for Fun vor allem die besonders werberelevante Zielgruppe der 18- bis 39-Jährigen, die über eine gehobene Bildung sowie ein überdurchschnittliches Haushaltsnettoeinkommen verfügen5 und die Marke so für Lizenzprodukte attraktiv erscheinen lassen. Tabelle 1. Zielgruppen-Profil der Marke Fit for Fun Soziodemographie Gesamtbevölkerung Beschreibung Ausprägung (in %) Alle Gesamt 100,0 Geschlecht Männer 48,0 Frauen 52,0 Altersgruppe 18-39 Jahre 30,7 Schulabschluss Hauptschule 47,1 Realschule 31,7 Abitur/Studium 21,1 Berufstätig ja 49,2 nein 50,8 HH-Netto-EK Ů 2.500 EUR 36,9 Quelle: AWA 2005 (Gesamtbevölkerung ab 14 Jahren)

Fit for Fun (in%) (in Mio.) 100,0 1,98 38,0 0,75 62,0 1,23 55,2 1,09 25,9 0,51 41,4 0,82 32,7 0,65 69,4 1,37 30,6 0,61 50,8 1,00

Die Fit for Fun-Zielgruppe hebt sich deutlich von der Gesamtbevölkerung ab, wie Tabelle 1 zeigt. Fit for Fun richtet sich sowohl an Männer als auch Frauen. Gut die Hälfte der Zielgruppe ist unter 40 Jahren. Die Fit for FunLeser verfügen über eine überdurchschnittliche Schulbildung. Knapp 70 4 5

Baumgarth (2003), S. 9 sowie Baumgarth (2004a), S. 346. Baumgarth (2004b), S. 2261.

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Karsten Kilian und Frauke Eckert

Prozent von ihnen sind berufstätig, wobei das Haushaltsnettoeinkommen bei 50 Prozent mindestens 2.500 Euro beträgt. 1.3

Reichweite und Bekanntheit der Zeitschrift Fit for Fun

Als Erfinder der sport- und wellnessorientierten Lifestyle-Zeitschriften ist Fit for Fun heute Deutschlands reichweitenstärkstes Lifestyle-Magazin und verfügt auch über die höchste verkaufte Auflage in diesem Zeitschriftensegment. Die monatliche Reichweite von Fit for Fun beträgt rund 2 Mio. – bei einer verkauften Auflage von rund 250.000 Exemplaren, davon allein 38.000 Abonnenten. Neben dem Vertrieb über Einzelhändler ist Fit for Fun an Sonderverkaufsstellen zum Endverbraucherpreis von 3 Euro erhältlich, primär in Fitness-Studios.

Bekanntheitsgrad in Mio.

27,1

27,6

27,7

28,2

2002

2003

2004

2005

25,2 22,2 18,1 16,3 13,4 10,2

1996

1997

1998

1999

2000

2001

Abb. 2. Bekanntheitsgrad der Marke Fit for Fun6

Mehr als 28 Mio. Deutsche – und damit 43 Prozent der Bevölkerung – kennen die aus der Zeitschrift hervorgegangene Lifestyle-Marke Fit for Fun (vgl. Abb. 2). In der Zielgruppe der 18- bis 39-Jährigen liegt der Bekanntheitsgrad sogar bei 77 Prozent.7 Die hohe Bekanntheit der Marke Fit for Fun und die hohe Attraktivität der Zielgruppe, die mit der Zeitschrift erreicht wird, eröffnen vielfältige Möglichkeiten der Diversifikation, die im Folgenden näher betrachtet werden.

6 7

Quelle: AWA (Gesamtbevölkerung Deutschland ab 14 Jahre, gestützt). AWA (2005) sowie Emnid (1999/2000).

Nichtmediale Markendiversifikation am Beispiel Fit for Fun

2

119

Möglichkeiten der Medienmarkendiversifikation

Ausgehend von einem Kernprodukt, im Fall von Fit for Fun ist das die gleichnamige Lifestyle-Zeitschrift, lässt sich die medial entstandene Marke nutzen, um in- oder außerhalb der angestammten Medienkategorie neue Medienformate sowie andere Produkte und Dienstleistungen zu platzieren. Es handelt sich bei dieser Vorgehensweise um einen klassischen Markentransfer. Unter einem Markentransfer wird allgemein die Nutzung einer vorhandenen Marke für neue Leistungen verstanden.8 Eine Markentransferstrategie hat somit die Übertragung einer etablierten (Mutter-) Marke auf ein neues (Transfer-) Produkt zum Ziel.9 Im konkreten Fall geht es um den Transfer der Zeitschriftenmarke Fit for Fun sowohl auf weitere mediale Angebote als auch auf nichtmediale Produkte und Dienstleistungen. Fit for Fun hat, wie Abbildung 3 zeigt, sowohl mediale Angebote als auch nichtmediale Produkte und Dienstleistungen unter der Marke Fit for Fun sukzessive auf dem Markt eingeführt. Diese werden im Folgenden näher betrachtet.

Abb. 3. Diversifikation der Marke Fit for Fun

8 9

Baumgarth (2004b), S. 2262. Sattler (2004), S. 819.

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Karsten Kilian und Frauke Eckert

Grundsätzlich lassen sich bei der Medienmarkendiversifikation in Abhängigkeit von der wahrgenommenen Produktähnlichkeit aus Kundensicht drei Formen des Markentransfers unterscheiden.10 x Intramedial: Einführung neuer Medienprodukte innerhalb der gleichen Medienkategorie (Line Extension), z. B. (bisher nicht realisierte) Ausdehnung der Zeitschriftenmarke Fit for Fun zu einer Zeitschriftenmarken-Familie. x Crossmedial: Einführung neuer Produkte in einer anderen Medienkategorie, z. B. eine Fit for Fun-Buchreihe oder eine eigene Fernsehsendung. x Medienfremd: Erschließung nichtmedialer Produktkategorien mit der Marke (Brand Extension), z. B. Fit for Fun-Lebensmittel oder Fit for Fun-Deli Shops. 2.1

Mediale Diversifikation von Fit for Fun

Intramediale Markentransfers wurden von Fit for Fun im Gegensatz zu vielen anderen Zeitschriftenmarken bisher nicht realisiert. Zwei Beispiele intramedialer Markentransfers seien an dieser Stelle genannt. Die Frauenzeitschrift Brigitte zum einen hat seit Mitte der 90er Jahre unter der Dachmarke Brigitte neue Zeitschriften wie Brigitte Young Miss (Bym) und Brigitte Woman als Line Extensions lanciert, die zur Heranführung an die Hauptzeitschrift Brigitte bzw. zur Bindung älterer Leserinnen ab 40 dienen.11 Die Reportagezeitschrift Geo zum anderen hat seit der Einführung von Geo Special im Jahre 1981 die Marke Geo zu einer heute sieben Zeitschriften-Submarken integrierenden Markenfamilie weiterentwickelt.12 Neben diesen Line Extensions bietet es sich für Zeitschriftenmarken an, crossmedial aktiv zu werden. So sind unter der Marke Fit for Fun heute eine ganze Reihe markeneigener Kochbücher und Ratgeber verfügbar. Allein das Ernährungsbuch Die Fit for Fun-Diät verkaufte sich bisher über 100.000 Mal. Darüber hinaus gibt es seit 1999 eine eigene Fernsehsendung: Fit for Fun-TV, das sonntagabends auf VOX ausgestrahlt wird und allwöchentlich über 1 Mio. Zuschauer erreicht, was einem Marktanteil in der werberelevanten Zielgruppe von 5 Prozent entspricht. Damit ist es Fit for Fun – ähn10 11 12

Baumgarth (2004b), S. 2262 f. Dähn (2004), S. 459 ff. Althans u. Brüne (2005), S. 677 und S. 686.

Nichtmediale Markendiversifikation am Beispiel Fit for Fun

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lich wie den Zeitschriften Spiegel, Stern und Focus – gelungen, mit einem eigenen Fernseh-Format neue Zielgruppen zu erschließen, den Bekanntheitsgrad der eigenen Marke zu steigern und neue Erlösquellen zu eröffnen. Hauptthemen der Sendungen sind Sport-Events, Extremsportarten, Ernährungstipps sowie von Prominenten vorgestellte Fitness-Programme.13 Weiterhin verfügt die Marke Fit for Fun über einen eigenen Internetauftritt, der monatlich von bis zur 430.000 Nutzern (Unique Visits) besucht wird, bei rund 4,4 Mio. Page Impressions. Ähnliche crossmediale Diversifikationen haben in den letzten fünf bis zehn Jahren die meisten Zeitschriftenmarken umgesetzt. Während es sich sowohl beim intramedialen als auch beim crossmedialen Markentransfer um mediale Markendehnungen handelt, zählt der im Folgenden besprochene medienfremde Markentransfer zu den nichtmedialen Markendehnungen. 2.2

Nichtmediale Diversifikation von Fit for Fun

Im Gegensatz zur medialen Diversifikation von Medienmarken haben sich bisher nur wenige Zeitschriften mit der eigenen Marke in nichtmediale Bereiche vorgewagt. Zu ihnen zählt beispielsweise Geo, das heute neben den angesprochenen Zeitschriften-Submarken auch Leuchtgloben, Puzzles und Postkarten sowie Mikroskopie-Kästen und Spiele anbietet – und z. B. eine China-Reise unter Begleitung eines China-Reporters.14 Die Marke Fit for Fun ist im nichtmedialen Bereich im Lebensmittelund im Gastronomiebereich präsent. So gelingt es, die Marke Fit for Fun über Medien hinaus multisensual anzureichern und erlebbar zu machen.15 Im Rahmen von Lizenzverträgen mit Markenherstellern wurde in den letzten Jahren der Bereich hochwertiger Lebensmittel erschlossen. Darüber hinaus ist ein Deli Shop-Konzept in Planung. Am Beispiel des Lizenzbereiches Food lassen sich zentrale Zielsetzungen, insbesondere die dortige Positionierung der Marke Fit for Fun, näher erläutern. Ausgangspunkt bildete eine Reihe von Marktuntersuchungen, deren Ergebnisse zeigten, dass Fit for Fun über eine hohe Ernährungskompetenz verfügt. Zudem zeigte sich bei einer Vielzahl von Produktideen eine hohe Kaufbereitschaft. Hierauf aufbauend, wurden folgende Transferziele für den Food-Bereich formuliert:16 13 14 15 16

Baumgarth (2003), S. 95. Althans u. Brüne (2005), S. 682. Kilian (2007b). Baumgarth (2003), S. 96.

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Karsten Kilian und Frauke Eckert

x Ausschöpfung von Synergiepotenzialen x Erhöhung des Bekanntheitsgrades der Marke Fit for Fun x Stärkung des Images (insbesondere der Ernährungskompetenz) der Muttermarke x Gewinnung neuer Zielgruppen und Erschließung neuer Marktsegmente x Zusatzumsatz durch Lizenzeinnahmen x Erlebbare Umsetzung redaktioneller Inhalte Die konsequente Umsetzung der Fit for Fun-Positionierung im FoodBereich zeitgleich mit dem aufkommenden Wellness-Trend im europäischen Lebensmittelhandel hat dazu beigetragen, dass die Brutto-Umsätze von Fit for Fun-Food sich von 2002 bis 2005 mehr als verzwölfacht haben.

Abb. 4. Fit for Fun-Lizenzpartner im Food-Bereich

Aktuell umfasst der Food-Bereich 17 Lizenzpartner, die Lebensmittel unter der Marke Fit for Fun vermarkten (vgl. Abb. 4). In den meisten Fällen ist dabei neben der Marke Fit for Fun-Food auch die Marke des jeweiligen Lizenznehmers auf der Verpackung abgedruckt. Es handelt sich somit um klassisches Co-Branding, verstanden als systematische Markierung einer Leistung durch zwei oder mehr Marken, die daneben auch weiterhin mit eigenen Produkten unabhängig voneinander am Markt und für Dritte wahrnehmbar aktiv sind.17

17

Baumgarth (2004a), S. 178 sowie Baumgarth u. Kilian (2004), S. B3.

Nichtmediale Markendiversifikation am Beispiel Fit for Fun

123

Als gemeinsame Vermarktungsstrategie zur langfristigen Stärkung der Marke Fit for Fun und zur gleichzeitigen Realisierung kurzfristig wirksamer Umsatzsteigerungen werden die Fit for Fun-Partnerprodukte auf gemeinsamen Messeauftritten, Börsen und Handelstagen präsentiert. Zudem finden Gemeinschaftsaktionen im Handel statt, die punktuell durch Promotion-Aktivitäten komplettiert werden. Ergänzend hierzu werden die Konsumenten regelmäßig mit redaktionellen Beiträgen sowie produktspezifischen und Dachmarkenanzeigen in den Zeitschriften der Verlagsgruppe Milchstrasse über die Produktpalette von Fit for Fun-Food informiert. Der Handel wiederum wird durch punktuelle Dachmarken-Fachanzeigen auf die Vorteile einer Kooperation mit Fit for Fun-Food aufmerksam gemacht. Auch erlebnisorientierte Sport-Events und -messen, Kooperationen mit Handelspartnern sowie Cross-Promotions mit Verlagspartnern unterstützen die Markenkommunikation. Auf der Website von Fit for Fun-Food können darüber hinaus Einzelhändler ausfindig gemacht werden, die die Produkte von Fit for Fun-Food führen.

FITFaktoren innovativ

FUNFaktoren trendy

hohe Qualität

y y y y

sportlich

fettreduziert

schmeckt lecker macht Spaß convenient look & feel: auffallend, appetitlich, lifestylig

gesund

kalorienreduziert

functional benefit

Tierische Fette

Pflanzenfette, Eiweiß, Kohlenhydrate, Honig

Ersatz durch Süßstoffe, Zuckeraustauschstoffe

Anreicherung, z.B. mit Vitaminen, Mineralstoffen

Abb. 5. Positionierung von Fit for Fun-Food

Die Positionierung von Fit for Fun-Food ist, wie die der Muttermarke Fit for Fun auch, geprägt von einer Reihe von Fit- und Fun-Faktoren. Die Fit-Faktoren stellen sicher, dass nur innovative Produkte, die trendy sind, über eine hohe Qualität verfügen und zur Sportlichkeit beitragen, als Lizenzprodukte in Frage kommen. Voraussetzung hierfür ist, dass es sich um fett- und kalorienreduzierte Produkte handelt, die als gesund empfun-

124

Karsten Kilian und Frauke Eckert

den werden und durch Anreicherung, z. B. mit Vitaminen und Mineralstoffen, einen zusätzlichen, funktionalen Nutzenbeitrag leisten. Typische Food-Beispiele sind die Fit for Fun-Bakery to go, die eine Auswahl von zehn Portionen power-, balance- und energy-Brot der Marke Pema enthält, und die mit zwölf Vitaminen angereicherte fettarme Milch der Naabtaler Milchwerke. Zu den Fun-Faktoren zählen insbesondere der leckere Geschmack, der mit dem Konsum der Produkte verbundene Spaß und die Convenience sowie der „Look & Feel“ der Produkte, insbesondere die auffallende Gestaltung und die appetitliche Anmutung, die den Produkten LifestyleCharakter verleihen.

3

Markenerfolg und Marktpräsenz von Fit for Fun

Wie gezeigt wurde, ist es Fit for Fun insbesondere im Food-Bereich gelungen, mit der ursprünglichen Medienmarke ein umfassendes, neues Geschäftsfeld zu erschließen und damit zugleich der Muttermarke zusätzliche Glaubwürdigkeit zu verleihen. Neben den positiven Spill-over-Effekten auf die Muttermarke zählen zu den Erfolgfaktoren von Markentransfer insbesondere die folgenden zwei Faktoren.18 x Fit: wahrgenommene Ähnlichkeit zwischen der Zeitschriftenmarke Fit for Fun als Muttermarke und den Food-Produkten der Marke x Qualität der Muttermarke: wahrgenommene Qualität der Muttermarke in den Bereichen Ernährung, Fitness, Gesundheit und Lifestyle Darüber hinaus wurde der Erfolg des Fit for Fun-Markentransfers durch die Präsenz der Partnermarken auf den Food-Produkten verstärkt, wodurch das Produkt-Know-how zusätzlich für die Kunden wahrnehmbar untermauert wird. Damit verbunden war zugleich eine Zunahme der Bedeutung des für das Food-Marketing verantwortlich zeichnenden Bereiches Lizenzen, der als eigenständige Gesellschaft geführt wird. Die FIT FOR FUN-Lizenz GmbH & Co KG stimmt sich regelmäßig eng mit der Redaktionsleitung ab. Gemeinsames Ziel von Redaktion und Lizenzverantwortlichen ist sicherzustellen, dass der Markenkern sowohl bei der Festlegung der Zeitschriftenthemen als auch bei Auswahl und Überwachung von Lizenznehmern stets Beachtung findet. Auf diese Weise kann einer das Lizenzgeschäft gefährdenden Verwässerung der Zeitschriftenmarke entgegengewirkt werden. 18

Sattler (2004), S. 824.

Nichtmediale Markendiversifikation am Beispiel Fit for Fun

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Gleichzeitig werden Auswahl und Überwachung der Lizenznehmer mit größter Sorgfalt betrieben, um zu vermeiden, dass der Markenkern der Muttermarke Fit for Fun durch abweichend positionierte bzw. qualitativ minderwertige Lizenzprodukte und dadurch hervorgerufene negative Spillover-Effekte gefährdet wird.

Lesermarkt Streuverluste, Werbewirkung Medienmarke

insb. Zeitschrift

Preisbereitschaft für Medialeistung

Consideration Set Medialeistung

Werbemarkt B2C

Bekanntheit (Awareness) Image (Assoziationen) Streuverluste, Werbewirkung

B2B

medial nichtmedial

Lizenzmarkt

insb. Food-Produkte

Konsumentenmarkt

Abb. 6. Wirkungsketten der Medienmarke Fit for Fun

Neben den von allen Zeitschriften bedienten Leser- und Werbemärkten hat sich Fit for Fun also durch die nichtmediale Diversifikation zwei weitere Marktsegmente – die Lizenz- und die Konsumentenmärkte – erschlossen, wie Abbildung 6 zusammenfasst. Das Erfolgsbeispiel Fit for Fun macht deutlich, dass sich auf Basis einer abgestimmten Markenpositionierung eine facettenreiche Markendiversifikation durchführen lässt – gerade auch im bisher meist vernachlässigten nichtmedialen Bereich.

Literaturverzeichnis Althans, J., Brüne, G. (2004): Markenführung im Zeitschriftenmarkt. In: Bruhn, M. (Hrsg.): Handbuch Markenführung. Bd. 3, Gabler, Wiesbaden, S. 2057– 2079. Althans, J., Brüne, G. (2005): Markenführung und Markentransfer der Zeitschrift GEO. In: Meffert, H./Burmann, C./Koers, M. (Hrsg.): Markenmanagement. 2. Aufl., Gabler, Wiesbaden, S. 667–692.

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Karsten Kilian und Frauke Eckert

AWA (2005): Allensbacher Werbeträgeranalyse, Institut für Demoskopie Allensbach. Baumgarth, C. (2003): Wirkungen des Co-Brandings, Habilitationsschrift Universität Siegen, Deutscher Universitäts-Verlag, Wiesbaden. Baumgarth, C. (2004a): Markenpolitik. 2. Aufl., Gabler, Wiesbaden. Baumgarth, C. (2004b): Markenführung im Mediensektor. In: Bruhn, M. (Hrsg.): Handbuch Markenführung. Bd. 3, Gabler, Wiesbaden, S. 2251–2272. Baumgarth, C., Kilian, K. (2004): Gleichklang im Marken-Duett. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 30.6., S. B3. Dähn, C. (2004): Die Markenfamilien-Strategie im Medienbereich: das Beispiel Brigitte. In: Boltz, D.-M., Leven, W. (Hrsg.): Effizienz in der Markenführung, S. 452–465. Emnid (1999/2000): Markenkernanalyse Fit for Fun (unveröffentlichte Studie). Kilian, K. (2007a): Erlebnismarketing und Markenerlebnisse. In: Florack, A., Scarabis, M., Primosch, E. (Hrsg.): Psychologie der Markenführung (im Druck). Kilian, K. (2007b): Multisensuales Markendesign als Basis ganzheitlicher Markenkommunikation. In: Florack, A., Scarabis, M., Primosch, E. (Hrsg.): Psychologie der Markenführung (im Druck). Sattler, H. (2004): Markentransferstrategien. In: Bruhn, M. (Hrsg.) Handbuch Markenführung. Bd. 1, Gabler, Wiesbaden, S. 817–830.

Zweiter Teil

Grundlagen des Publikumszeitschriftengeschäftes

Ökonomische Vielfalt – Geschäftsmodelle von Zeitschriften

Johannes Ludwig

1

Einleitende Überlegungen

Über die publizistische Vielfalt von Medien und insbesondere auch von Zeitschriften wird viel geredet und viel geschrieben. Seltener werden dabei auch die vielfältigen ökonomischen und managementmäßigen Grundlagen betrachtet. Dies ist ansatzweise Gegenstand dieses Beitrages – da die ökonomische Vielfältigkeit von Geschäftsmodellen im Detail ausgesprochen ausgeprägt ist, kann hier nur ein skizzenhafter Einblick gegeben werden. Im Prinzip lassen sich die Geschäftsmodelle auf drei relevante Bausteine reduzieren. Diese Bausteine sind in der ökonomischen (Überlebens-) Formel enthalten, die für alle gilt, auch für Zeitschriften: Ein Gewinn ergibt sich immer nur als Überschuss von (Umsatz-) Erlösen über für deren Erreichung notwendige Kosten. Abgekürzt notiert: G = E – K. Sind die Kosten größer als das, was in die Kasse hineinkommt, nennt man die Differenz Verlust. Somit bieten sich auf den ersten Blick zwei Ansatzpunkte, wirtschaftlichen Erfolg zu generieren, die entsprechend auch für die Konstruktion eines Geschäftsmodells für eine Zeitschrift gelten: Entweder versucht man es auf der Einnahmenseite oder auf der Ausgabenseite. Im ersten Fall bedeutet dies vor allem Produkt- und/oder Erlösmanagement, also beispielsweise Produktinnovation, Marketing, im zweiten Fall vor allem Kostenmanagement. In der Realität optimiert man natürlich beide Seiten. Jedoch gibt es einzelne Zeitschriften und Zeitschriftengenres, deren Geschäftsmodell vorrangig – oder sogar ausschließlich – auf einer der beiden Seiten ba-

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siert. Die Vielfalt der Inhalte und ihrer Präsentation sowie die Unterschiedlichkeit der Erscheinungsweise oder der Vertriebskanäle spiegeln sich gleichermaßen in der Vielfältigkeit der Ökonomie und des Managements von Zeitschriften. Neben diesen beiden schwergewichtigen Geschäftsmodellbausteinen gibt es einen dritten: so genannte Skaleneffekte, die einen Wirkungsmechanismus betreffen, der sich – produktionstechnisch-ökonomisch bedingt – sowohl auf der Erlös- als auch auf der Kostenseite auswirkt. Dieser Zusammenhang sei in diesem Beitrag zuletzt dargestellt, weil dazu ein kleiner Blick in die Produktions- bzw. Kostentheorie notwendig ist. Zunächst allerdings seien die beiden tragenden Säulen eines jeden Geschäftsmodells betrachtet: erfolgswirksame Einnahmen, sprich Umsatzerlöse, und Ausgaben, sprich Kostenaufwand.

2

Erster Baustein: Umsatzerlöse

2.1

Ein grundsätzliches Problem

Kostendeckende Erlöse lassen sich über Verkäufe von Produkten, Inhalten oder Dienstleistungen generieren, und dies ist generell auch der Normalfall, egal in welcher Branche. Im Medienbereich gibt es sehr häufig einen Sonderfall, der schnell zum ökonomischen Normalfall wird, wenn die Zahlungsbereitschaft der Nutzer nicht ausreicht, die gesamten Kosten eines Medienproduktes oder einer medialen Dienstleistung abzudecken. Dies kann unterschiedliche Gründe haben: zu geringe Marktpotenziale und/oder unzureichende Zahlungsbereitschaft auf Seiten der Nutzer – weshalb eine solche Situation oft das prinzipielle ökonomische Grundproblem von Medien darstellt.1 Für das spezifische Lösungen benötigt werden. 2.2

Querfinanzierung mit Werbung und Anzeigen

Periodisch erscheinende Medien wie Zeitschriften oder Zeitungen sind in der Lage, eine effiziente Lösung zu praktizieren: die mediale Produkterweiterung. Sie verkaufen zusätzlich zu ihrem originären medialen Produktangebot (z. B. Information, Bildung, Unterhaltung) an die Leser auch Aufmerksamkeitswahrscheinlichkeiten bzw. „Verbreitungswahrscheinlich1

Vgl. Ludwig (1998).

Ökonomische Vielfalt – Geschäftsmodelle von Zeitschriften

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keiten für Werbebotschaften“2 an werbewillige Unternehmen, deren Zielgruppe sich mit den Lesern der fraglichen Zeitschrift deckt. Konkret verkaufen sie Anzeigenplätze, mittels derer die Werbewilligen die Zeitschriftenleser erreichen können. Rein theoretisch könnten die werbewilligen Unternehmen versuchen, ihre potenziellen Käufer direkt anzusprechen. Dies scheitert in der Regel jedoch an mehreren Problemen. Zum einen sind die Leser einer Zeitschrift nur dem Zeitschriftenproduzenten über dessen Vertriebsweg zugänglich – das werbewillige Unternehmen kennt sie nicht. Zum anderen wäre eine flächendeckende Ansprache ein sehr aufwändiges Unterfangen, weil mit hohen Streuverlusten verbunden. Der Zugang zur klar umgrenzten Zielgruppe über den Zeitschriftenproduzenten ist ungleich einfacher, zielsicherer und daher sehr viel kostengünstiger. Für das Medienunternehmen hat diese Kooperation, die letztlich auf eine so genannte Verbundproduktion von medialen Inhalten und Werbung/Anzeigen hinausläuft, ebenfalls Vorteile: Die Zahlungsbereitschaft der werbewilligen Unternehmen ist erheblich größer als die für die Werbeplätze zusätzlich entstehenden Kosten. Dieser Vorteilseffekt macht sich sowohl bei den technischen Herstellungskosten (tHK) als auch beim Vertrieb bemerkbar. So gesehen, handelt es sich um eine typische Win-win-Situation: Der Werbe-/Anzeigenkunde kommt an seine spezifische Zielgruppe heran, und der Medienproduzent nutzt diese zusätzlichen Werbe-/Anzeigenerlöse (WAE), um die nicht kostendeckenden Verkaufspreiserlöse (VPE) aufzustocken. Dieses mediale Finanzierungsprinzip, ein – von vorneherein absehbar – nicht (durch Verkaufspreiserlöse) kostendeckendes Produkt dennoch anzubieten und die fehlende Differenz durch eine weitere Produktkomponente zu finanzieren, nennt man Querfinanzierung – eine Finanzierung quer über zwei verschiedene Märkte, den Leser- und den Werbemarkt. Sonst in vielen Bereichen des Wirtschaftslebens weithin gängigen Prinzipien, beispielsweise dem individuellen Kostendeckungsprinzip oder der sharholder-value-Philosophie, entspricht diese Vorgehensweise nicht. Medienmärkte funktionieren (meistens) anders, weil die Regeln und Mechanismen des ökonomischen Wettbewerbs mit jenen des publizistischen Wettbewerbs oftmals konkurrieren oder sogar konfligieren.3 Am Beispiel des Nachrichtenmagazins Der Spiegel seien die generellen Vorteile einer solchen Verbundproduktion zwischen Leser- und Werbe-/ Anzeigenmarkt in Zahlen demonstriert. 2 3

Vgl. Heinrich (1994). Vgl. ebenda.

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verkauft Werberaum

Spiegel Umsatz pro Exemplar: 1,48 + 2,71 = 4,19 €

verkauft

bezahlt 1,48 €

präsentiert Werbung

bezahlen 2,71 €

Werbewillige = Nachfrager nach Werbeplätzen

Refinanzierung: Rezipienten zahlen indirekt und unmerklich 2,71 €

Zielgruppe

Rezipienten = Nachfrager nach Medienprodukt = gleichzeitig potenzielle Käufer von beworbenenen Produkten Daten aus den 90er Jahren

Abb. 1. Querfinanzierung als Verbundproduktion mit Werbung am Beispiel Spiegel

Diese Art von Querfinanzierung über den Werbemarkt funktioniert für ein Medium umso besser, je ausgeprägter die Werbeträgereigenschaften sind. Dazu gehören beispielsweise Umfang und Qualität der Reichweite (Zielgruppe), die Akzeptanz von Werbung durch die Leser, aber auch die Regelmäßigkeit der Erscheinungsweise (Periodizität), denn je kontinuierlicher ein Medium mit neuen Inhalten auf den Markt kommt, umso besser lassen sich Marketingmaßnahmen und Werbeaussagen anpassen und verändern, sprich optimieren. Aus rein finanzieller Sicht gehört dazu auch der so genannte Tausenderkontakt- bzw. Tausendleserpreis (Anzeigenpreis dividiert durch die Anzahl der Leser multipliziert mit 1.000), der für die Werbewilligen umso günstiger ist, je größer die Reichweite ausfällt. Die absolute Höhe des Anzeigenpreises muss sich dabei auch an der Konkurrenz ausrichten, wenn eine Zeitschrift nicht zusätzlich eine besondere Qualität der Zielgruppe geltend machen kann (z. B. Angler-Zeitschrift, die vor allem Spitzenverdiener lesen, die nur teuerstes Angelgerät kaufen). Die mögliche Erlöskombination aus dem Verkauf des originären Medienproduktes sowie aus dem Verkauf von Anzeigenraum wird unterschiedlich gehandhabt. Zum einen setzt sie voraus, eine Querfinanzierung mit Anzeigen zu wollen. Zum anderen funktioniert dies nur, wenn sie sich auch auf beiden Märkten realisieren lässt. Dazu gehören entsprechende Werbekunden sowie das Verständnis der Leser. Eine Zeitschrift wie ÖkoTest könnte es sich beispielsweise nicht leisten, Anzeigen von atomstrom-

Ökonomische Vielfalt – Geschäftsmodelle von Zeitschriften

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produzierenden Energieversorgern ins Blatt zu nehmen, auch wenn eine solche Perspektive finanziell ausgesprochen attraktiv wäre. Die nachfolgende Übersicht vergleicht Querfinanzierungsgrade verschiedener Medien. Da Querfinanzierung mittels Anzeigenerlösen von (regelmäßigen) Werbekonjunkturen beeinflusst werden kann4, seien einige Beispiele für „gute Zeiten“ (GZ) sowie „schlechte Zeiten“ (SZ) ausgewiesen. Umsatz aus Verkäufen

Anzeigenerlös

Buch Kinofilm Le Canard JITE Konfessionelle Zeitschriften Bauer Verlagsgruppe Spiegel (SZ) FKT (SZ) Stern (SZ) Gruner + Jahr (SZ) Gruner + Jahr (GZ) FKT (GZ) Spiegel (GZ) Stern (GZ) Lufthansa Magazin Privatfernsehen

0%

20%

40%

60%

80%

100%

GZ = gute Zeiten, SZ = schlechte Zeiten

Abb. 2. Querfinanzierungsgrade

Wissenschaftliche Fachzeitschriften wie das Journal of Institutional and Theoretical Economics – JITE finanzieren sich ausschließlich über den Verkauf der Zeitschrift; die sehr spezifische Leserschicht (wissenschaftliche Bibliotheken, Hochschullehrer) ist für die werbetreibende Industrie als Zielgruppe wenig interessant. Davon abgesehen, dass sich Werbeaussagen nicht immer mit dem Selbstverständnis unabhängiger Forscher und Wissenschaftler vereinbaren lassen – „Werbung“ stellt in der Formulierung von Alfred Hitchcock „nützliche Übertreibung“ dar. Am anderen Ende einer solchen Skala der Querfinanzierung durch Werbung stehen beispielsweise Mitglieder- oder Kundenzeitschriften wie die ADAC motorwelt oder das Lufthansa Magazin. Allerdings reicht in beiden Fällen die Anzeigenfinanzierung nicht zu 100 Prozent aus: Der ADAC muss die Vertriebskosten (Abo über Postzeitungsdienst) aus den Mit4

Vgl. Ludwig (2004).

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gliedsbeiträgen abdecken, die Lufthansa ihre Zeitschrift – abhängig von der Anzahl der Werbeanzeigen – ab und an aus anderen Etats geringfügig querfinanzieren. Zwischen diesen beiden Extremen liegt der Rest der Realität. Der Spiegel beispielsweise nährte sich in guten Zeiten zu 65 Prozent aus Werbung und zu 35 Prozent aus Heftverkäufen. In schlechteren Zeiten (z. B. im Jahre 2003) reduzierte sich dieses Verhältnis auf bis zu 50 zu 50. Wie abhängig die Querfinanzierung von Werbekonjunkturen sein kann und wie stark sich derart veränderte Erlöszahlen im Produkt niederschlagen (können), vermitteln Zahlen aus zwei Geschäftsjahren des Spiegel: 1992 als eines der erfolgreichsten, 2003 als eines der schlechten. Tabelle 1. Gute Zeiten, schlechte Zeiten beim Spiegel Zahlen in € Umsatzerlöse insgesamt Verkaufspreiserlöse Werbe-/Anzeigenerlöse Anzahl der Anzeigenseiten WAE pro Redakteur Durchschnittlicher Heftumfang

1992 250 Mio. = 100% 88 Mio. = 35% 162 Mio. = 65% 7.136 648.000 276 Seiten

2003 213 Mio. = 100% 107 Mio. = 50% 106 Mio. = 50% 3.929 424.000 192 Seiten

Der Vergleich der Jahre 2003 und 1992 zeigt eine absolute Minderung der Anzeigenerlöse um über 50 Mio. Euro. Und die absolute Anzahl der Anzeigenseiten betrug im schlechten Jahr nur noch 55 Prozent des Spitzenergebnisses. Legt man diese Werte auf die Anzahl der schreibenden Redakteure um, um ein Gefühl für den redaktionellen Spielraum zu erhalten, so verdeutlicht das Ergebnis den Zusammenhang zwischen Einnahmenfinanzierung und damit möglichem Produktgestaltungsspielraum bei diesem medialen Geschäftsmodell. Eine der „normalen“ ökonomischen Reaktionen mit unmittelbaren Auswirkungen auf die Inhalte ist der eingeschränkte Heftumfang (276/192 Seiten). Anders gesagt: weniger brisanter Hintergrund und weniger investigative Geschichten. 2.3

Ergiebigkeit der Querfinanzierung mit Werbung

Je größer bei der ökonomischen (Über-) Lebensformel der Gewinn ausfällt, umso renditeträchtiger funktioniert das Geschäftsmodell. Diese Perspektive lässt sich auf ein ganzes Unternehmen übertragen – man kann aus ihr aber auch einzelne Produkte oder Produktgruppen betrachten. Im Fall der Querfinanzierung eines einzelnen Produktes interessiert vor allem die Frage, in welchem Umfang die zweite Quelle imstande ist, ungedeckte

Ökonomische Vielfalt – Geschäftsmodelle von Zeitschriften

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Kosten abzudecken, die sich nicht mit Erlösen aus der ersten Quelle abdecken lassen. Damit ist die Frage nach der Ergiebigkeit einer solchen Querfinanzierung gestellt. Man könnte auch von einer Art Deckungsbeitrag sprechen; da hier aber das Verhältnis zwischen dem querfinanzierenden (Zusatz-) Erlös und den spezifischen (Zusatz-) Kosten dieser Quelle im Mittelpunkt stehen – und so wird es in weiten Kreisen der Medienwelt auch kalkuliert – soll die Begrifflichkeit Ergiebigkeit genutzt werden. Die Ergiebigkeit einer Querfinanzierung mit Werbe-/Anzeigenerlösen hängt vor allem von zwei Variablen ab: 1. Die Höhe der Differenz zwischen Verkaufspreiserlösen (VPE) und Werbe-/Anzeigenerlösen (Grad der Querfinanzierung) bestimmt das nötige Ausmaß der finanzierenden Ersatzquelle, um Kostendeckung zu erreichen. 2. Die Höhe der Werbe(platz)preise determiniert dann den eigentlichen Ergiebigkeitsgrad, d. h. das Verhältnis zwischen (Zusatz-) Erlös und (Zusatz-) Kosten einer Anzeige. Hier interessiert vor allem dieser letzte Zusammenhang. Üblicherweise beträgt der Anzeigenpreis ein Mehrfaches dessen, was die Anzeigenproduktion beim Medienunternehmen kostet (Akquisition, Handling, technische Herstellung). Dies ist auch den Werbewilligen bekannt, wird jedoch akzeptiert, denn die relevante Alternative, die Zeitschriftenleser mit eigenen Mitteln selbst und direkt anzusprechen, wäre noch aufwändiger. Mit dem verbleibenden Überschuss aus dem Anzeigengeschäft werden die ungedeckten Kosten der Content-Produktion (z. B. Redaktion, Archiv) sowie des Verlagswesens (z. B. Aboverwaltung, Management, Overhead) abgedeckt. Der nachfolgende Vergleich zwischen zwei Publikumszeitschriften sowie der Wochenzeitung Die Zeit zeigt die Unterschiedlichkeit von Ergiebigkeitsgraden, wie sie das Werbe-/Anzeigengeschäft determinieren können. Die Zahlen stammen aus den 90er Jahren und sind in Euro umgerechnet. Zu dieser Zeit konnte Der Spiegel noch mit sehr günstigen Druckkonditionen kalkulieren (redaktionelle Seiten damals nur schwarz/weiß), wohingegen der Stern aus konzernpolitischen Gründen für das Gruner + Jahr-eigene Druckereigeschäft einen ausgesprochen hohen Deckungsbeitrag leisten musste. Der Spiegel, der in derselben Druckerei wie der Stern produziert wurde, hatte seinerzeit Sonderkonditionen durchsetzen können. Unabhängig von solchen Detailzusammenhängen verbleiben nach Abzug der spezifischen Kosten der Anzeigenproduktion beim Medienunternehmen bei allen drei Titeln deutlich mehr als zwei Drittel des Ursprungserlöses zur Deckung weiterer Kosten, wie die nachfolgende Tabelle zeigt. Nach den Werbe-/Anzeigenseiten (WAS) werden in einem

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zweiten Schritt die redaktionellen Seiten (redS) in Ansatz gebracht; nach Abzug aller Redaktionskosten sowie der technischen Herstellung (tHK) dieser redaktionellen Seiten verbleibt weitere (Netto-) Ergiebigkeit, die der Finanzierung des restlichen Verlagsaufwands sowie des Verlagsgewinns dient. Tabelle 2. Ergiebigkeitskalkulationen: Spiegel, Stern, Die Zeit (90er Jahre)5 Spiegel 2,71 0,56 2,15 79%

Stern 2,30 0,65 1,65 72%

Die Zeit 1,78 0,50 1,28 72%

=

Werbeerlöse (=100%) technische Herstellung/Anzeigen Ergiebigkeit (-squote) bzw. in %

-

Herstellung/Content

1,52

1,72

1,12

davon redaktioneller Aufwand davon technische Herstellung/Content

0,96 0,56

0,75 0,97

0,62 0,50

Netto-Ergiebigkeit (-squote) bzw. in %

0,63 23%

- 0,07 - 3%

0,16 9%

=

Umrechnung/Anzeigenerlös in 1) tHK/WAS + HK/Content 1 + 1,4 1+1 1 + 1,1 2) tHK/WAS + rHK/Content 1 + 2,2 1 + 2,2 1 + 2,1 HK: Herstellkosten; tHK: technische HK; rHK: redaktionelle HK; WAS: Werbe-/Anzeigenseiten

In einer anderen Betrachtungsperspektive werden die aus dem Anzeigengeschäft fließenden Umsatzerlöse in folgendem Kalkulationszusammenhang analysiert: Mit dem Anzeigenpreis für eine Seite (Anzeigenerlös) lassen sich alternativ „1 Anzeigenseite (tHK/WAS) + x weitere Seiten (HK/Content)“ bzw. „1 Anzeigenseite + der redaktionelle Aufwand von x redaktionellen Seiten“ finanzieren. Je kleiner dabei der Kostenapparat und je günstiger bereits die technischen Herstellkosten der Seitenproduktion sind, umso ergiebiger funktioniert diese Art von Querfinanzierung. Allerdings sind damit auch potenzielle Probleme verbunden: Die Anzeigenkunden wissen um diesen grundsätzlichen Zusammenhang, auch wenn ihnen die konkreten Details der Kalkulation verborgen bleiben. Jedenfalls wird verständlich, wenn auch nicht akzeptabel, dass hier die Gründe für die potenzielle Einflussnahme der Werbegeldgeber und entsprechende redaktionelle Abhängigkeit der Werbegeldverwender liegen.

5

Quelle: Ludwig (2003), S. 208.

Ökonomische Vielfalt – Geschäftsmodelle von Zeitschriften

2.4

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Querfinanzierung mit anderen Erlösen

Das, was mit Werbung und Anzeigenerlösen gemacht werden kann, funktioniert auch mit Umsatzerlösen aus anderen Produkten bzw. quer über andere Märkte. Da Zeitschriften zu jenen Mediengattungen gehören, bei denen die Querfinanzierung aus den oben skizzierten Gründen grundsätzlich bestens gelingt, ist es vergleichsweise selten, dass Zeitschriftenobjekte sich eine ganz andere Lösung suchen müssen. Renditeorientierte Großverlage pflegen Objekte, die sich nicht ausreichend rechnen, schnell aus ihrem Produktsortiment zu streichen. Es sind damit eher die engagierten kleineren Verlage, die auf zusätzliche Lösungswege zurückgreifen müssen, wenn das Geschäftsmodell mittels Anzeigen – aus welchen Gründen auch immer – nicht nachhaltig funktioniert. Andererseits bleibt auch hier die Welt nicht stehen. Ausgelöst durch eine der größten Finanzierungskrisen der Medienbranche in den ersten Jahren nach der Jahrtausendwende, die u. a. ein Ergebnis kurzsichtigen Managements war6, hatte man rasch begriffen, dass der Ausfall an Werbegeldern mit Erlösen aus Sekundärprodukten ausgeglichen werden kann. In diesem Zusammenhang boten Zeitungen bekannte und ausgesprochen preisgünstig kalkulierte Bücher an, Zeitschriften kamen mit DVDs auf den Markt. Was beim Publikum Zusatznutzen generierte, schlug sich bei den Verlagen als positive Erlösmehrung nieder. Inwieweit sich solche spezifischen Zusatzmärkte nachhaltig generieren und anschließend ausschöpfen lassen, bleibt abzuwarten. Es gibt aber auch den umgekehrten Fall: dass gutgehende Zeitschriftenobjekte als Querfinanzierungsquelle für andere Medienprodukte eingesetzt werden. Beispielsweise wurde die Wochenzeitung Die Zeit über drei Jahrzehnte mit den Gewinnen aus dem Stern querfinanziert, bevor das Geschäftsmodell der Zeit finanziell auf eigenen Beinen stehen konnte. Revue und Bravo wiederum finanzierten aufwändige Buchreihen und Buchprojekte des Kindler-Verlages wie etwa Kindlers Literaturlexikon.7

6 7

Vgl. Ludwig (2004). Vgl. ausführlich: Ludwig (1998), S. 266 ff.

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3

Zweiter Baustein: Kosten

3.1

Geschäftsmodelle und ihre spezifischen Kostenarten

Kostenaufwand steht für Ressourcenverbrauch. Aus diesem Grund bedeuten (nachhaltige) Einsparungen oder grundsätzlich andere bzw. veränderte Produktionsstrukturen, die sich in (nachhaltig) niedrigeren Kostenreduktionen niederschlagen, nach gängiger Theorie ebenfalls Finanzierungsspielräume, weil ein geringerer Ressourcenaufwand weniger finanzielle Kapazitäten bindet. Dieser Betrachtung wird auch hier gefolgt. Von der Vielzahl der Möglichkeiten her gesehen, bietet in der ökonomischen (Über-) Lebensformel der zweite Baustein, der Kostenaufwand, mindestens genauso viele Möglichkeiten zur Ausgestaltung eines Geschäftsmodells wie die Generierung von Umsatzerlösen – unabhängig davon, wie die Querfinanzierungsmodelle im Detail aussehen. Der Grund erscheint einleuchtend: Beim Kostenaufwand geht es um die inhaltliche und physische Produktion des medialen Contents, um gestalterische Fragen, um unterschiedliche Vertriebswege sowie um die Managementorganisation im Allgemeinen usw. – also um viele einzelne und letztlich doch zusammenhängende Fragen und Probleme, die oftmals unterschiedlich gelöst werden können oder müssen. Auch wenn ein Geschäftsmodell sich, wechselseitig bedingend, immer parallel über beide tragenden Säulen definiert (z. B. erleichtert konsumentenorientierter Kostenaufwand den Absatz bzw. die Generierung von Verkaufserlösen), so lassen sich hier die größten Unterschiede beobachten. Ungeachtet von Differenzierung und Begrifflichkeiten im Detail sowie von unterschiedlichen Kosten- und Deckungsbeitragsphilosophien, die die Kostenrechnung und das Kalkulationswesen prägen, sei die Kostenstruktur der Zeitschriftenproduktion für unsere Zwecke in sechs Kategorien zusammengefasst: x Content-Kosten (Redaktion, Archiv, Honorare, Lizenzen, Recherchen usw.) x Kosten für die gestalterische Umsetzung (Layout, Bilder, Grafiken usw.) x technische Herstellkosten (Papier, Farbe, Druck) x Marketing- und PR-Maßnahmen, also Markttransparenzaufwand x Management und Overhead (Aboverwaltung, Anzeigenakquisition, Geschäftsführung usw.)

Ökonomische Vielfalt – Geschäftsmodelle von Zeitschriften

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x Vertriebskosten (Einzelhandel, Abo, Lesezirkel, Bordexemplare, sonstige Vertriebswege) Da sich die vielfältigen Gestaltungsmöglichkeiten von Zeitschriften vom Umfang und vom Aufwand so unterschiedlich ökonomisch auswirken können und da die dabei praktizierten Geschäftsmodelle managementmäßig nicht minder unterschiedlich, d. h. ökonomisch konsequent, durchgesetzt und angewendet werden können, seien die Ansatzpunkte in diesem Bereich beispielhaft skizziert: Der Fokus liegt hier auf der Bandbreite, nicht in der Tiefe. 3.2

Content-Aufwand am Beispiel einer wissenschaftlichen Fachzeitschrift

Der wichtigste Produktionsfaktor bei allen Medien (-Produkten) ist und bleibt der Content-Aufwand bzw. die Aussagenproduktion. Im Fall so genannter Anzeigenblätter ist das die Werbung. Bei redaktionell gestalteten Produkten sind es die journalistisch aufbereiteten Inhalte, unabhängig davon, ob und in welchem Umfang Anzeigenseiten ein Medienprodukt ergänzen bzw. erweitern. Content geht auf menschliche Arbeit zurück, und diese Ressource gehört bekanntlich zu den kostenaufwändigeren Produktionsfaktoren. Die Gründe dafür liegen zum einen in einem Wirtschaftssystem, das den Preis für den Faktor Arbeit in die Tarifpartnerschaft von Arbeitgeber (-Vertreter) und Arbeitnehmer (-Vertreter) legt, zum anderen sind die vergleichsweise hohen Arbeitskosten durch viele Arbeitsplatzqualitätsstandards wie z. B. Sicherheitsvorschriften bedingt. Schließlich aber auch darin, dass Arbeitsrecht und Arbeitsrechtsprechung aus guten Gründen auch jenen Teil des menschlichen Daseins menschenwürdig gestalten wollen, der auf das Arbeitsleben entfällt. Und dieser Teil ist nicht eben gering. Ausnahmen bestätigen auch hierbei die Regel. Die Honorierung von so genannten Freien oder teilweise rechteeingeschränkten Subunternehmern oder das Ausnutzen von Notlagen oder Vorteilspositionen zu eigenen Gunsten brechen vielfach gesetzte und gemeinhin praktizierte Standards. Dennoch: Lohnkosten, Honorare, Lizenzen usw. spielen eine dominante Rolle bei der Kalkulation von Produktpreisen. Sie können deshalb aber auch Geschäftsmodelle determinieren, wenn sich hierbei deutliche Abweichungen von der Regel arrangieren lassen. Dies ist beispielsweise bei wissenschaftlichen Fachzeitschriften der Fall, bei denen Honorare oder ähnliche Ausgaben oft überhaupt nicht zu Buche schlagen. Beispiel JITE: Die wissenschaftliche Fachzeitschrift erscheint in einer weltweiten Auflage von rund 800 Exemplaren und wird vorzugsweise von

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wissenschaftlichen Bibliotheken abonniert, die die volkswirschaftliche Literatur abdecken müssen. In der JITE publiziert die erste Garde der Volkswirtschaftsökonomen, die vor allem theoretisch arbeitet. Ein wissenschaftliches Spezialblatt also, das 2006 im 162. Jahrgang erscheint und als „Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft“ gegründet wurde. 1910 hatte hier der Zeitungswissenschaftler Karl Bücher erstmals sein „Gesetz der Massenproduktion“ publiziert, das wir heute allgemein als Fixkostendegression bezeichnen oder mit dem Spezialbegriff „Subadditivität“ belegen. Ein Blick in die Kostenstruktur der JITE macht deutlich, dass der technische Herstellungsaufwand für dieses gestalterisch und papierqualitätsseitig sehr spartanisch ausgestattete Blatt fast 60 Prozent beträgt – allerdings von einem vergleichsweise geringen absoluten Kostenniveau aus gesehen. Dieser ungewöhnlich hohe Prozentwert, der doppelt so hoch wie der Durchschnittswert über alle Zeitschriftentypen liegt, hat seinen Grund darin, dass ein ganz wesentlicher Kostenaufwand hier mit dem Wert Null veranschlagt wird: Ausgabenaufwand für die Autoren. Wer in der JITE publiziert und dafür in Forschung investiert, verfügt über einen Finanzier, der mit seiner Honorierung genau auch derlei Aktivitäten abdecken möchte. In der Regel sind das Hochschulen und staatlich finanzierte Forschungsinstitutionen, die Autoren (in der Regel) finanziell abgesicherte Professoren. Der Zeitschriftenverlag kann damit die Kosten der Content-Produktion auf den kollektiv organisierten Wissenschaftsbetrieb überwälzen. Würde die JITE jede wissenschaftliche Abhandlung in Höhe von zwei durchschnittlichen monatlichen Wissenschaftsgehältern vergüten, als Mittelwert für die geistige Produktion eines Fachaufsatzes in einem international renommierten Journal8, so würde sich ein zusätzlicher ContentAufwand von rund 250.000 Euro im Jahr ergeben – das Blatt müsste seine Abopreise verdoppeln. 3.3

Gestaltungsaufwand und Kosten der technischen Herstellung

Zeitschriften sind zuallererst Journale, die gefallen und auf eine hohe Akzeptanz stoßen sollen. In vielen Segmenten herrscht schon aufgrund der Titelflut heftiger Wettbewerb, und wer sich auf dem Markt durchsetzen möchte, muss sich von der Konkurrenz deutlich abheben. Die gestalterische Aufmachung sowie das äußere Erscheinungsbild einer Zeitschrift (Papier, Farbqualität usw.) sind dabei ganz wesentliche Parameter, so dass 8

Vgl. Ludwig (1998), S. 173.

Ökonomische Vielfalt – Geschäftsmodelle von Zeitschriften

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diese beiden Kostenpositionen für sehr viele Titel keine Einsparmasse, geschweige denn Dispositionsmasse darstellen können. So unterschiedliche Titel wie GEO oder Gala (beide Gruner + Jahr) beispielsweise leben u. a. gerade von der exklusiven Bildgestaltung und einer hochwertigen Aufmachung. Nur in den wenigen Fällen, in denen beispielsweise aufgrund geschickter Vertragsverhandlungen erhebliche Preis-, sprich Kostennachlässe oder spürbare Mengenrabatte durchsetzbar sind, wie dies lange Zeit für den Spiegel gegolten hat, lassen sich hiermit Geschäftsmodellbausteine in gewissem Umfang formen. In der Regel sind dies jedoch zeitlich begrenzte Optionen. Anderes gilt, wenn der Unverzichtbarkeitsgrad für die Nutzer hoch und/oder die Auswahl an konkurrierenden Titeln (Substitutionsgrad) gering ausfällt. Oder wenn die Präferenzen der Rezipienten sich vorrangig auf die Aussagenaufnahme richten, unabhängig von der Gefälligkeit der äußerlichen Ausstattung. Dies kann etwa bei wissenschaftlichen und sonstigen Fachjournalen, Vereinszeitschriften, konfessionellen Blättern und ähnliche Genres zutreffen. Hier lassen sich nachhaltig andere Schwerpunkte bzw. Geschäftsmodellbausteine setzen. 3.4

Lean-Production- und Lean-Management-Modelle – Fachjournale, Informations- und Hintergrunddienste

Dass sogar im zeitschriftenlesenden Profi-Bereich funktionierende Geschäftsmodelle existieren, deren Produktionsprozess eher einem Selbsthilfemodell ähnelt, die aber nichtsdestotrotz Profi-Arbeit leisten, dafür steht z. B. die Fachzeitschrift FKT – Fachzeitschrift für Fernsehen, Film und Elektronische Medien. Sie fungiert auf der einen Seite als exklusives medientechnisches Fachblatt, auf der anderen Seite als „Organ der Fernsehund Kinotechnischen Gesellschaft FKTG“, einem Branchen- und Berufsverband. Die Auflage (2.400) geht zu zwei Dritteln an Leser der FKTGMitglieder, das restliche Drittel wird als freie Abos an sonstige Fachleute, Fernsehsender und andere Interessenten verkauft. Die Verkaufspreiserlöse werden dabei über eine Preisdifferenzierung gesteuert: Der Fachverband überweist dem vereinsnahen Journal pro Mitglied einen festen Betrag (55 Euro) pro Jahr, und das freie Abo kostet mehr als das Zweieinhalbfache (133 Euro), liegt damit aber immer noch in einem Preiskorridor, den man für (nichtwissenschaftliche) Fachzeitschriften als durchschnittlich ausmachen kann. Durchschnittlich funktioniert auch die Querfinanzierung über das Anzeigengeschäft: in guten Zeiten 60 Prozent Anzeigen zu 40 Prozent Aboeinnahmen, in schlechten Zeiten 50 zu 50.

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Dreh- und Angelpunkt des Geschäftsmodells jedoch ist das Lean-Management- und Lean-Production-Prinzip der FKT, die sonst mit Umsatzerlösen von rund 450.000 Euro keine Kostendeckung erreichen könnte. Die Zeitschrift war lange Jahre eine Art Ein-Mann-Unternehmen, auch wenn ein zwölfköpfiger „technisch-wissenschaftlicher Beirat“, der aus dem erweiterten Vorstand der FKTG besteht und ehrenamtlich arbeitet, die unternehmerische Organisation größer erscheinen lässt, als sie tatsächlich ist. So steuerte der Chefredakteur, der gleichzeitig als Geschäftsführer der FKTG fungiert und in der Branche als „alter Hase“ gilt, die gesamte ContentProduktion fast vier Jahrzehnte lang praktisch allein: Akquirieren von Autoren und Beiträgen, Redigieren und Layouten, Schreiben, Besuchen von Tagungen und wichtigen Messen. Früher kam auch die Belichtung der Druckplatten im Keller der Wohnung hinzu. Seit kurzem ergänzt eine Dreiviertelkraft die Redaktion: in Gestalt des stellvertretenden Chefredakteurs – der langjährige Macher will sich aus Altersgründen allmählich zurückziehen. Diesem redaktionellen Zwei-Mann-Unternehmen steht ein eingefleischter, professionell agierender (Klein-) Verlag zur Seite, der den Druck sowie den Vertrieb organisiert und Anzeigen akquiriert. Mit diesem QuasiSelbstausbeutungsmodell kann die Fachzeitschrift bis heute gut (über-) leben. Ob dies auch in sehr viel kostenaufwändigerer Arbeitsteilung möglich wäre, ist ungewiss. Nach dem gleichen Prinzip arbeiten auch viele Informations- und Hintergrunddienste. Beispiele wären der Platow-Brief, der so brisante Hintergrundinformationen aus Politik und Wirtschaft so frühzeitig zu liefern imstande ist, dass zu den Abonnenten nicht nur die dafür typische Klientel gehört, sondern auch Institutionen wie beispielsweise das Bundeskartellamt. Ähnlich auch der auf das Bankenwesen spezialisierte Hintergrunddienst Czerwensky intern, der hatte beispielsweise 1994 zuerst vom ominösen Verschwinden des damalig berühmt-berüchtigten Baulöwen Dr. Jürgen Schneider berichtet hatte. Das Geschäftsmodell solcher Informations- und Hintergrunddienste besteht darin, einerseits mit vergleichsweise geringen Auflagenhöhen, aber vergleichsweise hohen Preisen eine zahlungskräftige Käuferschicht von Vorteilhaftigkeit bzw. Unverzichtbarkeit der gelieferten Exklusivinformationen zu überzeugen, andererseits diese Inhalte vergleichsweise spartanisch präsentieren und in einfacher Aufmachung verkaufen zu können. Für 520 bis 550 Euro im Jahr erhalten die Abonnenten rund 550 bedruckte Seiten, davon etwa 500 redaktionell produzierte Seiten. Das sind pro Woche 3 Ausgaben a 4 Seiten insgesamt. Zum Vergleich: Der Spiegel bietet für seinen Jahresabopreis in Höhe von 166 Euro zwischen 5.000 und 6.000 redaktionelle Seiten.

Ökonomische Vielfalt – Geschäftsmodelle von Zeitschriften

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Tabelle 3. Vergleich Hintergrunddienste und Spiegel

Platow-Brief Czerwensky intern Spiegel

Abopreis pro Jahresdurchschnitt- Preis-Leistungs-VerJahr in € licher Umfang an re- hältnis: Abodaktionelle Seiten preis/redaktionelle Seiten 550 ca. 500 ca. 1 € 519 ca. 500 ca. 1 € 166,40 5.000-6.000 ca. 0,03 €

Würde man bei diesem Geschäftsmodell die elementare Komponente „hoher Preis“ auf niedrig oder null reduzieren, wäre man bei jenem Geschäftsmodell, mit dem viele Bürgerinitiativen, NGOs und andere soziale Bewegungen arbeiten (müssen), die versuchen, gesellschaftlich relevante statt individuell unmittelbar verwertbare Informationen zu vermarkten. 3.5

Marketingaufwand und Vertriebskosten – Mitglieder- und Kundenzeitschriften

Die im vorigen Abschnitt aufgezeigte Kombination „Fachjournal und Mitgliederzeitschrift“ ist weder zwingend, noch wird sie flächendeckend praktiziert. Sie bietet jedoch durch den ideellen Rückhalt eines Verbands gleichzeitig eine gewisse materielle Absicherung, die bei der Erlösgenerierung aus Mitgliedsbeiträgen beginnt und sich ggf. auf sonstige vorübergehende oder dauerhafte Querfinanzierungsquellen erweitern lässt. Nach diesem einfachen Gemeinschaftsprinzip können Mitgliederzeitschriften ganz allgemein funktionieren: Die Kosten einer allseits verbindenden Kommunikationsplattform sind entweder über den Mitgliedsbeitrag abgedeckt (Beispiel Bayernkurier für alle CSU-Mitglieder), oder die Mitgliederzeitschrift wird über Anzeigen querfinanziert und nur im Ausnahmefall aus dem Vereinsetat quer- bzw. restfinanziert. Letzteres geschieht bei der ADAC motorwelt. Mit rund 15 Mio. eingetragenen und zahlenden Mitgliedern – doppelt so viele, wie beim DGB über die vielen Einzelgewerkschaften registriert sind – und einer „verkauften“ bzw. vertriebenen Auflage von 13,6 Mio. Exemplaren pro Monat zählt diese vereinseigene Zeitschrift mit eigener Redaktion zu den auflagenstärksten weltweit. Das Geschäftsprinzip besteht darin, diese Form der Mitgliederbindung weitgehend kostenneutral zu gestalten – der gigantische Etat des ADAC, der inzwischen Konzerngestalt und -größe angenommen hat und bei rund 500 Mio. Euro liegt, wird bereits zu 55 Prozent von den ADAC-typischen Hilfs- und Pannendienstleistungen, zu

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21 Prozent von Informationsvermittlung und zu 16 Prozent für sonstigen Mitgliederservice aufgezehrt. Die angesteuerte Kostendeckung funktioniert auch weitgehend, immer abhängig von der jeweiligen Anzeigenkonjunktur. Rückläufige Einnahmen werden durch Reduzierung des Umfanges oder des inhaltlichen Angebotes kompensiert. Da bei Mitgliederzeitschriften ähnlich wie beim Abonnement ganz allgemein keine stochastisch bedingten Absatzausfälle vorkommen, weil Anzahl und Zustelladressen der Belieferten von vorneherein feststehen, lassen sich hier Remissionskosten sparen, die beim Vertrieb über den Einzelhandel entstehen. Ähnliches gilt für den Marketing- und Transparenzaufwand, jedenfalls was die Zeitschrift des ADAC anbelangt. Eine Kostenposition indes lässt sich bei der ADAC motorwelt trotz ihrer absolut gesehen sehr hohen Anzeigenpreise (rund 190.000 Euro für eine Vierfarbseite, zum Vergleich: rund 50.000 Euro beim Spiegel) nicht über das Anzeigengeschäft querfinanzieren: die Vertriebskosten für den Postzeitungsdienst. Diese werden regelmäßig aus dem ADAC-Vereinsetat quer- bzw. restfinanziert. Ähnlich beim Lufthansa Magazin, der Kundenzeitschrift des gleichnamigen Flugunternehmens, die für 45 Mio. Passagiere 320.000 Exemplare kalkuliert (auf rund 150 Passagiere ein Exemplar). Produziert (inhaltlich und drucktechnisch) wird das Objekt sozusagen im Lohnauftrag bei Gruner + Jahr Corporate Media, die dafür drei Vollzeitkräfte plus Freelancer sowie zugekaufte Inhalte aus dem Gruner + Jahr-Syndication-Netzwerk einsetzt. Den „Vertrieb“ organisiert das auftraggebende Unternehmen selbst. Auch hier lautet die Philosophie des Geschäftsmodells, dass sich das kundenbindende Marketingobjekt selbst durch Anzeigen tragen soll. Dem vergleichsweise hohen Aufwand für die äußerliche Gestaltung (Bilder, Layout, Papier) stehen andere effizient gestaltete Kostenpositionen gegenüber: Outsourcing der Herstellung, keine typischen Vertriebs- oder Remissionskosten. Unterm Strich verfügt das Flugunternehmen damit über ein zusätzliches Marketinginstrument, das in der Unternehmenskalkulation keinen eigenen Aufwand erfordert. Trotz der kostenbewusst gemanagten Produktion zeichnet sich das Objekt durch hohe Akzeptanz und Attraktivität aus: 1999 wurde das Lufthansa Magazin beispielsweise im Rahmen des Horizont-Award als bestes Kundenmagazin ausgezeichnet.

4

Dritter Baustein: Skaleneffekte

Ein dritter Baustein für Geschäftsmodelle liegt in einem direkten Zusammenhang zwischen (zusätzlichen) Erlösen und (zusätzlichen) Kosten. Man

Ökonomische Vielfalt – Geschäftsmodelle von Zeitschriften

145

spricht von Skaleneffekten. Dabei handelt es sich im weitesten Sinne um so genannte Synergien. Skaleneffekte gibt es in unterschiedlichen Formen. Bei der Produktion von Medien spielen vor allem jene zwei Wirkungszusammenhänge eine Rolle, die sich entweder aufgrund unterschiedlicher Produktions- bzw. Absatzmengen (Größen- oder Mengenvorteile bzw. economies of scale) oder aufgrund erhöhter Vielfalt oder auch einer Verbundproduktion (Vielfalt-, Verbund- oder Breitenvorteile bzw. economies of scope) ergeben. Die Existenz solcher Skaleneffekte lässt sich produktionstheoretisch herleiten, man kann sie aber auch – übersetzt in monetäre Größen – kostentheoretisch darstellen. Hier sei des grundsätzlichen Verständnisses wegen beides skizziert. 4.1

Economies of scale und sinkende Durchschnittskosten

Wenn bei einer Ausweitung der Produktion der Ressourceninput langsamer steigt als der Produktionsoutput, wenn also die Produktionsmenge (überproportional) schneller wächst als der notwendige Produktionsfaktoreinsatz, handelt es sich um einen nicht-linearen Zusammenhang, der sich vor allem über die zunehmende Menge ergibt. Beispiel: Will man die Produktionsmenge um 100 Prozent steigern, benötigt man dazu beispielsweise nur 60 Prozent an zusätzlichen Inputfaktoren. Bei einer Zeitschrift ergibt sich ein solcher Skaleneffekt etwa dadurch, dass bei einer Auflagensteigerung die Content-Kosten unverändert bleiben und „nur“ die technischen Herstellkosten, also Druck- und Papieraufwand, zunehmen. Bei einer Fernsehsendung ist dieser Zusammenhang noch drastischer: Hier steigen die Kosten bei zunehmenden Einschaltquoten praktisch überhaupt nicht – aber die Einnahmen können sich erhöhen (beim Privatfernsehen z. B. durch höhere Werbepreise). Interpretiert man diesen produktionsbedingten Wirkungszusammenhang aus der Ebene der Kosten, so gelangt man zu folgendem Ergebnis: Wenn sich die Kosten der Fernsehsendung fix verhalten, so sinken die Produktionskosten pro Zuschauer, je höher die Einschaltquote ist. Für Zeitschriften gilt Ähnliches: Die Gesamtkosten der Produktion sind pro Käufer auch hier umso niedriger, je mehr Käufer sich diesen Aufwand teilen. In diesem Fall sind die Gesamtkosten zwar nicht durchgehend fix (dies betrifft vor allem die Content-Kosten), aber sie sinken dennoch pro zusätzlich gedrucktem Exemplar. Man nennt diesen Effekt auch Fixkostendegression bzw. spricht allgemeiner auch vom Phänomen sinkender Durchschnittskosten (sinkende Stückkosten).

146

Johannes Ludwig

Für die Konstruktion von Geschäftsmodellen bedeutet das: Man kommt in den ökonomischen Genuss solcher Effekte immer dann, wenn sich die Absatzmenge für ein- und dasselbe Produkt ausweiten lässt. Im Prinzip ist dieser Wirkungsmechanismus jeglicher Medienproduktion immanent: Aufgrund des hohen Anteiles der fixen Kosten, die mit der Erstellung des medialen Contents zusammenhängen, ist die erste hergestellte Produkteinheit (z. B. Original, Master, Vorlage) immer auch die kostenaufwändigste. Man spricht auch von first copy costs. Da es bei Medien darum geht, medialen Inhalt weiter zu verbreiten, wirken Skaleneffekte bereits ab der zweiten Kopie: Die Degression der Stückkosten beginnt, d. h. die Stückkosten (durchschnittlichen Kosten) sinken mit jeder weiteren Produkteinheit. So gesehen, lassen sich diese Skaleneffekte als Baustein aller medialen Geschäftsmodelle interpretieren. Anders sieht es mit Skaleneffekten aus, die sich als Folge zunehmender Produktvielfalt oder aufgrund einer Verbundproduktion von zwei oder mehreren Produkten ergeben können. 4.2

Economies of scope und sinkende Durchschnittskosten

Während sich economies of scale durch Größen- oder Mengenvorteile bei einem einzigen Produkt ergeben, zeichnen sich economies of scope dadurch aus, dass sich die Vorteilseffekte nur durch die Existenz mehrerer Produkte einstellen: indem beispielsweise ein- und derselbe Inputfaktor für mehrere Produkte genutzt werden kann. Daher auch die unterschiedlichen Begrifflichkeiten, die auf Vielfalt-, Verbund- oder Breitenvorteile abstellen. Aufgrund permanent zunehmenden Drucks bei Erlösen und Kosten haben Verlage schon lange begonnen, mit diesem Effekt zu arbeiten, indem beispielsweise einmal erstellter oder bezahlter Content mehrfach vermarktet wird. Dies kann durch Syndication (Vermarktung an Dritte) oder auch durch Mehrfachnutzung im Rahmen von Crossmedia geschehen. Gleiches lässt sich mit einer Produktmarke organisieren, wenn unter einer bekannten und eingeführten Marke eine Produktfamilie aufgebaut wird, um beispielsweise zusätzliche Märkte zu erschließen. Der vorliegende Sammelband setzt sich mit solcherlei aktuellen Trends ausführlich auseinander. An dieser Stelle soll ein klassischer Fall dargestellt werden, in dem sich Verbundvorteile in Reinkultur realisieren lassen: im Metier der Programmzeitschriften. Große Synergien lassen sich verwirklichen, wenn man mehrere „Programmies“, wie dieses Genre auch genannt wird, herausgibt: auf umso breiterer Front lassen sich die Verbundvorteile umsetzen. Ein

Ökonomische Vielfalt – Geschäftsmodelle von Zeitschriften

147

weiterer spezifischer Vorteil: Der relevante Inhalt, das Fernseh- und Hörfunkprogramm, ist für die Verlage kostenlos zu haben. Beispielhaft sei dieses Geschäftsmodell an der Bauer Verlagsgruppe skizziert. Mit acht Programmzeitschriften, die eine verkaufte Auflage von über 9 Mio. Exemplaren repräsentieren, ist Bauer mit deutlichem Abstand Marktführer: Der Marktanteil liegt bei über 50 Prozent. Bauers Programmzeitschriften-Angebot lässt sich in drei Segmente unterteilen: x Auf einen Blick, TV Hören und Sehen, Fernsehwoche und tv 14 sind alteingestammte Titel. x TV Movie ist ein Sonderfall: ein inhaltlich und preislich anspruchsvoller Titel, der seinerzeit als Konkurrenz zum Senkrechtstartertitel TV Spielfilm aus der Verlagsgruppe Milchstrasse auf den Markt geworfen wurde. x tv pur, tvworld und TV klar sind vergleichsweise neue Titel. Das Geschäftsprinzip von Programmzeitschriften besteht darin, unterschiedliche Informations- und Lesebedürfnisse unterschiedlicher Nutzerschichten zu befriedigen, wobei das Kernprodukt im Programmteil besteht. Dieser kann mit ergänzenden Inhalten aufgewertet werden – schon Anfang der 80er Jahre hatte Helmut Markwort als Macher der ersten Programmzeitschrift für Frauen, Die Zwei, vom „Zusatznutzen“ gesprochen. Für den Programmteil, dessen anteiliger Umfang von Titel zu Titel zwischen 50 und knapp 100 Prozent (96 Prozent bei tv pur) liegt, ist eine zentrale Programmredaktion zuständig, die aus weniger als 15 Redakteuren besteht. Deren Aufgabe liegt in der unterschiedlichen Aufbereitung (Text, Bild) aller Programminformationen, die in einer zentralen Datenbank einlaufen. Für die Gestaltung der restlichen Inhalte aller acht Titel sind weitere knapp 200 Redakteure zuständig, wobei TV Movie mit 60 Redakteuren die mit Abstand größte Manpower benötigt, weil hier der qualitative Anspruch der Programmaufbereitung und aller sonstigen Inhalte deutlich höher liegt9, so dass dieser Titel in den folgenden Betrachtungen auch ausgenommen sei. Zieht man die Daten in Tabelle 4 zusammen, so werden über die verbleibenden sieben Titel gerechnet 75 Prozent des Heftumfanges, die auf die Programminhalte entfallen, von 10 Prozent aller Redakteure erstellt. Für die „Zusatznutzen“ (durchschnittlich 25 Prozent des Heftumfanges) sind die restlichen 90 Prozent der Redakteure zuständig (durchschnittlich 20 pro Titel). Würde der Verlag weitere Titel verkaufen (können), so ließen sich diese Synergieeffekte weiter verstärken. Gleiches gilt bei Bauer auch für andere gleichgelagerte Aufgaben: So ist teilweise nicht nur die 9

So wird z. B. kein Spielfilm angezeigt oder besprochen, der nicht zuvor von einem der Redakteure selbst angesehen wurde.

148

Johannes Ludwig

Chefredakteursfunktion übergreifend (TV Movie, tv pur, tvworld) installiert, auch andere Funktionen (z. B. Anzeigen, Objektleitung, Herstellung) sind auf wenige identische Personen konzentriert. Tabelle 4. Bauer-Programmzeitschriften (ohne TV Movie) Titel

Auf einen Blick Auflage in Mio. 1,5 Copypreis in € 1,00 Erscheinungs- wö. weise Heftumfang 92 davon Pro46 grammseiten = 50% zentrale Programmredaktion Anzahl der sons- 30 tigen Redakteure

Fernseh- TV Höwoche ren und Sehen 0,7 1,1 1,00 1,40 wö. wö.

tv 14

tv pur

tv klar

tvworld10

2,1 1,00 2-wö.

0,7 0,80 4-wö.

0,5 0,70 wö.

k. A. 1,00 2-wö.

124 87 = 70%

176 120 = 68%

124 119 =96%

64 43 =67%

196 178 =91%

outgesourct

k. A.

164 112 = 68%

6/15 Redakteure 30

35

23

k. A.

Aus diesen vergleichsweise einfachen Überlegungen wird klar, weshalb das Programmzeitschriftengeschäft in der Branche selbst mit „Geld drucken“ gleichgesetzt wird. Für Bauer haben diese Synergieeffekte eine besondere Bedeutung: Mit ihnen steht und fällt das Geschäftsmodell. Als unangefochtener „König im Massenmarkt“ (Bauer über Bauer) tummelt sich der Verlag in Produktsegmenten, die aus Sicht der Werbewilligen nicht gerade ein sonderlich bevorzugtes Werbeumfeld repräsentieren. Die Erlöse aus dem Anzeigengeschäft – im Vergleich zu den Verkaufspreiserlösen – sind bei Bauer daher traditionell mit rund 20 Prozent vergleichsweise gering, dafür aber konjunkturstabil. Anders gesagt: Yellow-Press-Formate und „Programmies“ für den niedrigpreisigen Massenmarkt verstehen sich als „vertriebsorientierte“ Produkte (vgl. Abb. 2).

5

Resümee

Eine immerwährende ökonomische Erfahrungsregel besagt: Nichts bleibt, wie es ist. Märkte wachsen, stagnieren oder werden kleiner, so genannte 10

Ist vor allem auf die Bedürfnisse digitaler Fernsehnutzer, z. B. der PremiereAbonnenten zugeschnitten.

Ökonomische Vielfalt – Geschäftsmodelle von Zeitschriften

149

general interests verlagern sich auf immer speziellere Interessen und Informationsbedürfnisse. Bedeutet für Produzenten: Man muss auf solche Veränderungen reagieren, wenn man überleben möchte. Insofern bleiben auch einmal erfolgreich installierte Geschäftsmodelle nicht ohne Anpassungs- oder Veränderungsbedarf. Dennoch erweisen sich viele Grundideen auf der Anbieterseite, essenzielle Informationsbedürfnisse auf der Nachfragerseite oder auch relevante Kostenstrukturen als recht stabil. So wird es Programmzeitschriften immer geben – es können sich aber die Erwartungen hinsichtlich der möglichen Nutzung verändern: Immer mehr Programmangebote erfordern beispielsweise einen schnelleren synoptischen Überblick über die spezifischen Inhaltegenres auch im Detail. Auch Der Spiegel ist heute noch Der Spiegel, selbst wenn er inzwischen ökonomisch anders funktioniert: vorbei die einst quasimonopolartige Führerschaft auf dem Anzeigenmarkt und vorbei die Zeiten, als sich deswegen sozusagen automatisch eine 20-prozentige Umsatzrendite erzielen ließ – heute rechnet sich Der Spiegel vor allem als Produktfamilie. Egal, ob notwendige Anpassungen über erweiterte Möglichkeiten der Einnahmenerzielung laufen oder ob sie auf effizientem Kostenmanagement basieren: Die drei Geschäftsmodellbausteine sind die Grundfeste, über die sich ökonomisches Handeln manifestiert. Sie sind gleichzeitig die relevanten Ansatzpunkte für die vielfältigen Variationen, die letztlich die publizistische Vielfalt möglich machen. Dies wird auch künftig – erfreulicherweise – nicht anders sein.

Literaturverzeichnis Heinrich, J. (1994): Medienökonomie. Bd. 1. Westdeutscher Verlag, Opladen. Ludwig, J. (1998): Zur Ökonomie der Medien: Zwischen Marktversagen und Querfinanzierung. Westdeutscher Verlag, Opladen. Ludwig, J. (1998): Zur Ökonomie der Wissenschaftsmedien. Medienunternehmen zwischen Markt und Wissenschaftsbetrieb. In: Rundfunk und Fernsehen, Heft 2–3/1998, Themenheft „Die Medien der Wissenschaft“, S. 159–174. Ludwig, J. (2003): Mikroökonomie der Medien. In: Altmeppen, K.-D., Karmasin, M. (2003) (Hrsg.): Medien und Ökonomie. Bd. 1/1, Grundlagen der Medienökonomie: Kommunikations- und Medienwissenschaft, Wirtschaftswissenschaft. Westdeutscher Verlag, Opladen, S. 187–214. Ludwig, J. (2004): Medienkrise oder Managementfehler? In: Friedrichsen, M., Schenk, M. (Hrsg.) (2004): Globale Krise der Medienwirtschaft? Nomos, Baden-Baden, S. 45–67.

Der Wert einer Publikumszeitschriftenmarke

Franz-Rudolf Esch und Jan Eric Rempel

1

Marke und Markenwert

1.1

Moderne Sichtweise von Marken und Markenwert

Nach moderner Auffassung sind Marken Vorstellungsbilder in den Köpfen der Konsumenten bzw. anderer Anspruchsgruppen, die eine Identifikations- und Differenzierungsfunktion übernehmen und das Wahlverhalten prägen.1 Eine Marke besteht somit nicht nur aus funktionalen Eigenschaften. Zwar sind diese Sachqualitäten notwendig, oft jedoch nicht hinreichend, um eine starke Marke zu werden. Stiftung Warentest-Urteile, nach denen 85 Prozent aller getesteten Produkte das Warentest-Urteil gut bzw. sehr gut erhalten, belegen dies nachdrücklich. Dennoch sind die erzielbaren PreisPremien der getesteten Marken teilweise beträchtlich. Miele-Waschmaschinen erzielen gegenüber dem Markt ein Preis-Premium von 70 Prozent, Lindt-Schokolade gar von 365 Prozent. Um die Wirkung einer Marke auf den Konsumenten erklären zu können, müssen alle mit der Marke verbundenen Vorstellungen, Gefühle und Eindrücke betrachtet werden. Dabei werden mit einer starken Marke eine Vielzahl an Assoziationen verbunden, die in unterschiedlicher Art und Weise die Marke formen. Allerdings haben nicht alle Assoziationen den gleichen prägenden Einfluss und somit auch nicht die gleiche Wirkung auf 1

Vgl. Esch (2005), S. 23.

152

Franz-Rudolf Esch und Jan Eric Rempel

das Wahlverhalten der Konsumenten. Vor allem die differenzierenden Merkmale einer Marke bestimmen ihre Merkfähigkeit und prägen die Präferenzen2 (z. B. das grüne Segelschiff in der Beck’s-Werbung). Für den Konsumenten stellt die Marke eine verdichtete Information dar, einen „information chunk“3 für alle mit ihr verbundenen Assoziationen.4 Sie liefert dem Konsumenten weitere Informationen wie z. B. über die Qualität des Produktes und verringert so das wahrgenommene Kaufrisiko. Des Weiteren erleichtert die Marke dem Konsumenten die Orientierung in der Vielzahl von Angeboten und schafft Vertrauen. Marken stellen einen emotionalen Anker dar, vermitteln bestimmte Gefühle sowie Images und helfen damit dem Konsumenten, sich von anderen abzugrenzen und eigene Wertvorstellungen nach außen zu tragen. Gerade bei starken Marken ist eine große gefühlsmäßige Verankerung bei den Konsumenten zu erkennen. Das Ziel der Markenführung ist der Aufbau und der Erhalt einer starken Marke. Der Markenwert stellt hierfür die zentrale Steuerungsgröße dar. Damit auch die Gründe für den Erfolg oder Misserfolg einer Marke im Markenwert abgebildet werden, ist eine verhaltenswissenschaftliche Sichtweise zwingend notwendig. Hiernach ist der Markenwert das Ergebnis unterschiedlicher Reaktionen von Konsumenten auf Marketingmaßnahmen einer Marke im Vergleich zu identischen Maßnahmen einer fiktiven Marke aufgrund spezifischer, mit der Marke im Gedächtnis gespeicherter Vorstellungen.5 Dieser Wert in den Köpfen der Kunden treibt den finanzwirtschaftlichen Markenwert als Barwert aller zukünftigen Einzahlungsüberschüsse, die aus der Marke erwirtschaftbar sind.6 Die mit einer Marke assoziierten Vorstellungen werden als Markenwissen in den Köpfen der Konsumenten gespeichert. Dieses wird in die Dimensionen Bekanntheit und Image operationalisiert (vgl. Abb. 1). Die Markenbekanntheit ist die notwendige Bedingung dafür, dass der Konsument ein klares Image für eine Marke aufbauen kann. Durch eine entsprechende Markenbekanntheit wird x eine Marke überhaupt erst bei einer Kaufentscheidung berücksichtigt, x ein Anker für die Befestigung markenspezifischer Assoziationen hergestellt und x Vertrauen sowie Zuneigung bei den Konsumenten geschaffen.7 2 3 4 5 6 7

Vgl. Meyers-Levy u. Tybout (1989), S. 45 ff. Jacoby et al. (1977), S. 209. Vgl. Kroeber-Riel (1992), S. 282. Vgl. Keller (1993), S. 1. Vgl. Kaas (1990), S. 48. Vgl. Aaker (1992), S. 85.

Der Wert einer Publikumszeitschriftenmarke

153

visuelle Markenanker (Präsenzsignal, Wort-Bild-Zeichen, Farb- und Formcodes)

Markenbekanntheit

aktive Markenbekanntheit

passive Markenbekanntheit

verbaler Markenanker

verbaler Zugriff

nonverbaler Zugriff

Art der Markenassoziationen

Markenwissen

Abgleich mit Wissensstruktur zur Konkurrenz

Stärke der Markenassoziationen

Markenimage

emotional

kognitiv geprägt

Repräsentation der Markenassoziationen

verbal

Zahl der Markenassoziationen

nonverbal (Bilder, Jingles, haptische und olfaktorische Bilder usw.)

Einzigartigkeit der Markenassoziationen

produktbezogene Assoziationen

Relevanz der Markenassoziationen

markenbezogene, eigenständige Assoziationen

Richtung der Markenassoziationen

angenehm

Zugriffsfähigkeit der Markenassoziationen

unangenehm

Abb. 1. Operationalisierung des Markenwissens der Konsumenten8

Die Unterscheidung in aktive und passive Markenbekanntheit ist für die Markenführung von großer Bedeutung, weil nur wenige Marken dem Kunden spontan in den Sinn kommen. So sind die Boulevard-Magazine Bunte oder Gala vielen Frauen aktiv bekannt, Celebrity hingegen wird zumeist nur bei Vorlage genannt. Bei dieser passiven Markenbekanntheit (= Markenwiedererkennung) erfolgt eine Berücksichtigung der Marke in der Vorkaufphase eher durch Zufall über Prospektwerbung bzw. in der eigentlichen Kaufphase am Point-of-Sale. Das Markenimage gilt als hinreichende Bedingung für den Markenerfolg. Es kann durch acht Ausprägungen beschrieben werden:9 8 9

Vgl. Esch (2005), S. 68. Vgl. ebenda, S. 71 ff.

154

Franz-Rudolf Esch und Jan Eric Rempel

x Die Art der Assoziationen ist in emotional oder kognitiv einzuteilen: Gerade mit starken Marken wie Playboy werden viele emotionale Inhalte verbunden. x Die Stärke der mit der Marke verbundenen Assoziationen, denn je enger Assoziationen mit der Marke verbunden sind, desto stärker beeinflussen sie die Markenbeurteilung. So werden Fakten stark mit der Zeitschrift Focus verbunden. x Die verbale oder nonverbale Repräsentation der Assoziationen der Marke. Mit starken Marken werden meist viele nonverbale Inhalte verbunden, die zu einem klaren und lebendigen inneren Bild führen. Die Weltkugel oder Herr Markwort beim Focus, der Stern bei der Zeitschrift Stern und der Bunny beim Playboy sind Beispiele dafür. x Die Anzahl der Assoziationen, die in der Regel bei starken Marken signifikant höher ist als bei schwachen Marken. x Die Einzigartigkeit der Assoziationen zeichnet starke Marken aus. Ein Beispiel hierfür wäre das Manager-Magazin, als Bild-Zeitung der TopManager. x Die Richtung der Assoziationen ist bei starken Marken positiver als bei schwachen. x Die Assoziationen haben bei starken Marken eine höhere Relevanz für den Konsumenten, als dies bei schwachen Marken der Fall ist. So hat die Zeitschrift Auto, Motor und Sport hohe Relevanz für Autofans, die fundiert informiert werden wollen. x Die Zugriffsfähigkeit auf die Assoziationen muss gegeben sein, d. h. Marken müssen leicht mit bestimmten Eigenschaften und Vorstellungen verknüpft werden können und diese wiederum auch leicht mit der Marke. So denken Weinfreunde automatisch an die Zeitschrift Vinum. Diese steht für ehrliche und kompetente Informationen und Bewertungen rund um das Thema Wein. Diese Assoziationen lassen sich über semantische Netzwerke sehr anschaulich darstellen. Abbildung 2 zeigt ein fiktives semantisches Netzwerk für die Marke Focus.

Der Wert einer Publikumszeitschriftenmarke

155

viele Bilder kurze Artikel Fakten, Fakten, Fakten

prägnante Sprache Montag ist Focus-Tag

konservativ

Abb. 2. Semantisches Netzwerk der Marke Focus

1.2

Vorteile starker Publikumszeitschriftenmarken

Die Entwicklung starker Publikumszeitschriftenmarken bringt für Verlage folgende Vorteile mit sich:10 x Starke Marken erreichen eine höhere Markenloyalität und -bindung als schwache Marken.11 Dadurch fallen die Umsätze konstanter aus, die Abhängigkeit von kurzfristigen Sonderaktionen wird reduziert. Zudem ist es billiger, Kunden zu halten, als Neukunden zu gewinnen.12 Für die Bestimmung der Markentreue wurde im Zeitschriftengeschäft speziell die Leser-Blatt-Bindung entwickelt.13 x Starke Marken erzielen gegenüber schwachen Marken ein PreisPremium und/oder mehr Abverkäufe. Dies gilt auch für Publikumszeitschriften (z. B. kostet Elle 4,50 Euro und Cosmopolitan 2,80 Euro). 10 11 12 13

Vgl. allgemein zu Vorteilen starker Marken Esch et al. (2005c), S. 44. Vgl. Esch (2005), S. 25. Vgl. Aaker (1992), S. 33 ff. Vgl. Koschnick (1995), S. 1097 ff.

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Franz-Rudolf Esch und Jan Eric Rempel

x Starke Marken verbessern die eigene Situation im Wettbewerb. Sie stellen eine hohe Barriere für den Markteintritt neuer Wettbewerber dar. Ein gutes Beispiel hierfür sind Spiegel, Stern und Focus, die als starke Marken den Markt gut abdecken, so dass Neueinführungen nur sehr schwer Fuß fassen können oder schon im Vorfeld der Markteintritt aufgegeben wird (z. B. durch den Bauer-Verlag). x Es ist zu vermuten, dass sich starke Marken eher im Consideration-Set der Entscheider befinden und dass die Beurteilung solcher Marken über den Mere-Exposure-Effekt besser ausfallen wird, als es objektiv gerechtfertigt ist. x Starke Marken sind für Werbungtreibende besonders attraktiv. So gehen Werbungtreibende und Publikumszeitschriften eine Art Allianz ein:14 Nur wenn der Konsument ein klares Profil der Marke erkennt, kann auch der Werbungtreibende durch den so genannten Halo-Effekt davon profitieren. Zudem lässt sich eine größere Zielgruppenkongruenz zwischen Publikumszeitschrift und beworbener Marke herstellen. x Starke Marken sind aber auch für Konsumenten sehr attraktiv, da sie so ihre eigenen Identitäten nach außen tragen können. x Starke Marken bieten eine besonders gute Plattform für Markendehnungen aus eigenen Mitteln oder über Markenlizenzen.15 In beiden Fällen stellen jedoch die Stärke der Marke und die mit der Marke verbundenen Inhalte zentrale Grundvoraussetzungen dar. Im Zeitschriftenmarkt gibt es viele erfolgreiche Markendehnungen: Fit for Fun von der Zeitschrift zum Fernsehmagazin und in den Lebensmittelbereich oder Spiegel, Stern und Focus von den Zeitschriften zu Fernsehmagazinen und ins Internet. Für diese Crossmedia-Produkte ist eine starke Marke besonders wichtig. Die hohe Bekanntheit führt z. B. dazu, dass solche Marken auch im Internet besucht werden, weil sie dem Konsumenten aktiv bekannt sind. x Starke Marken sind weniger anfällig für Krisen16, auch wenn es sich um redaktionelle Schwächen einzelner Berichte handelt. Allerdings darf man in diesem Fall Krise nicht mit immer wiederkehrenden Schwächen im redaktionellen Teil gleichsetzen, da dies zu einem dauerhaften Imageproblem bei der Marke führen kann. x Starke Marken verfügen auch über ein klares inneres Bild. Dies hat nach einer Untersuchung von Gruner + Jahr positiven Einfluss auf den Aktienkurs von Unternehmen.17 14 15 16 17

Vgl. Pulser (2003), S. 30. Vgl. Esch (2005), S. 25. Vgl. Esch u. Rempel (2006). Vgl. Gruner + Jahr (1998), S. 292 ff.

Der Wert einer Publikumszeitschriftenmarke

1.3

157

Zum Prozess der identitätsorientierten Markenführung

Der Wert einer Marke entsteht in den Köpfen der Konsumenten über Kontakte mit der Marke. Diese Kontakte können vom Unternehmen in weiten Teilen aktiv gestaltet werden.18 Die Grundlage hierfür stellt die Kenntnis der Identität einer Marke dar. Die Markenidentität bringt zum Ausdruck, wofür eine Marke steht. Sie umfasst die essenziellen, wesensprägenden Merkmale einer Marke aus der Innensicht, also aus Sicht des Managements eines Unternehmens.19 Die Entwicklung einer Markenidentität hat ganzheitlich zu erfolgen. Neben sachlich-funktionalen sind auch emotionale Eigenschaften, verbale sowie nonverbale Eindrücke zu berücksichtigen und so festzulegen, dass das Ganze mehr wird als die Summe seiner Teile. Eine solche Markenidentität ist niemals statisch. Sie bedarf der ständigen Fortentwicklung, weil sich Marktsituation, Kundenansprüche, Wettbewerbssituation sowie Technologien und gesellschaftliche Vorstellungen wandeln. Mit der Marke sind darauf Antworten zu finden, um nicht zum Auslaufmodell zu werden. Allerdings hat eine solche Anpassung unter Berücksichtigung der Wurzeln der Marke zu erfolgen. Entsprechend ist in einem solchen Entwicklungsprozess die Innensicht des Managements mit der Außensicht der Kunden abzugleichen, um aus der Ist-Situation heraus durch Blick auf die Wurzeln der Marke, die künftige strategische Ausrichtung und die externen Entwicklungen die SollMarkenidentität zu bestimmen. Hierbei sollte die Kundensicht nicht überbetont werden, weil dies häufig in Defizitausgleichsstrategien mündet, sondern immer eine Adjustierung mit der Innensicht und den künftigen Zielen sowie Strategien vorgenommen werden. Zur Ableitung der Soll-Markenidentität bietet sich ein mehrstufiges Vorgehen an (vgl. Abb. 3):20 x 1. Schritt: Analyse des relevanten Marktes. Bevor mit der eigentlichen Identitätsableitung begonnen wird, müssen die Kundenbedürfnisse, das Auftreten der eigenen Marke sowie das der konkurrierenden Marken analysiert werden. Dies kann häufig in Form eines Desktop-Research stattfinden. x 2. Schritt: Erfassung der Ist-Identität aus Innensicht. In Workshops mit Managern und Mitarbeitern wird die aktuelle Identität der Marke aus der Innensicht erhoben. 18 19 20

Nicht möglich ist dies z. B. bei dem Erfahrungsaustausch zwischen Freunden. Vgl. Esch (2005), S. 81 ff. sowie Esch et al. (2005b), S. 106 ff. Vgl. Esch et al. (2005b), S. 127.

158

Franz-Rudolf Esch und Jan Eric Rempel

x 3. Schritt: Erfassung der Ist-Identität aus Außensicht. Im dritten Schritt werden dann die in der Innensicht abgeleiteten Identitätsmerkmale in der Außensicht gespiegelt. Mittels quantitativer und/oder qualitativer Studien wird analysiert, wie die unternehmensexternen Anspruchsgruppen die Marke sehen, welche Identität sie hinter der Marke vermuten. In diesen Studien ist auch das Image der wichtigsten Wettbewerber zu erheben. Zur Sicherstellung der Eigenständigkeit der Marke spielt dies bei der späteren Ableitung der Markenpositionierung eine wichtige Rolle. x 4. Schritt: Ableitung der Soll-Identität. Zunächst werden die Ergebnisse aus den beiden vorangegangen Schritten miteinander verglichen. Es wird analysiert, wo Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen der Innen- und der Außensicht bestehen. Weichen die Innen- und Außensicht stark voneinander ab, ist dies meist ein Anzeichen für ein Umsetzungsdefizit. Die Markenkommunikation vermittelt dann nicht die beabsichtigten Eindrücke von der Marke. Danach werden die abgeleiteten Identitätsbestandteile hinsichtlich ihrer Bedeutung für den zukünftigen Markterfolg analysiert. Auf der Basis der Synthese von Innen- und Außensicht sowie der Bewertung aller Identitätsbestandteile wird schließlich die Soll-Markenidentität definiert. x 5. Schritt: Ableitung der Soll-Positionierung. Anschließend erfolgt die Definition der Soll-Markenpositionierung. Die wichtigsten Identitätsbestandteile – die die kaufrelevanten Besonderheiten der Marke darstellen, die Marke nach Möglichkeit von den Wettbewerbern differenzieren und langfristig verfolgt werden können – bilden als Extrakt der Markenidentität die Markenpositionierung. Hier gilt: Weniger ist mehr. In der Positionierung sollte man sich auf wenige Sachverhalte beschränken, die im Marketing-Mix wahrnehmbar umgesetzt werden können. x 6. Schritt: Markencontrolling. Die Markenführung sollte permanent durch ein identitätsbezogenes Markentracking kontrolliert werden. Ein effektives Controlling setzt voraus, dass die Kundenwahrnehmungen zu den wichtigsten Identitätsbestandteilen auch gemessen werden. In der Praxis wird hier noch häufig der Fehler gemacht, dass generische Markenaspekte im Markentracking abgeprüft, identitätsspezifische Aspekte dagegen vernachlässigt werden.

Der Wert einer Publikumszeitschriftenmarke

I. Situationsanalyse

Analyse der • Kundenbedürfnisse • Wettbewerbsmarken • eigenen Marken

Erfassung der Ist-Identität aus der Außensicht

Markenidentität

Erfassung der Ist-Identität aus der Innensicht

159

Synthese und Bewertung

II. Markenstrategie

Soll-Markenidentität

Ableitung der Positionierungsumsetzung

Markendesign (z.B. Corporate Design, Verpackung)

Markenkommunikation (z.B. Werbung, persönl. Verkauf)

Distribution (z.B. Umsetzung der Marke am POS)

Preis (z.B. Preisniveau der Marke)

Positionierung

Entwicklung des Positionierungskonzepts

III. Strategieumsetzung

IV. Kontrolle Markencontrolling

Abb. 3. Managementprozess der identitätsorientierten Markenführung21

1.4

Zusammenhang zwischen Markenwert und Unternehmenswert

Die Markenführung ist institutionell im Unternehmen zu verankern. Es ist dabei unerlässlich, die Markenführung in das Zielgrößensystem des Unternehmens einzubauen. Dies ist von großem Nutzen, weil so die Zusammenhänge zwischen den verhaltenswissenschaftlichen und den ökonomischen Zielgrößen aufgezeigt werden (vgl. Abb. 4). 21

Vgl. Esch et al. (2005b), S. 128.

160

Franz-Rudolf Esch und Jan Eric Rempel

Markenidentität

Unternehmenswert

Markenpositionierung

Rendite Gewinn

Input: Markenkontakte

Markenbekanntheit Markensympathie Markenimage

Deckungsbeitrag

Zufriedenheit mit der Marke

Loyalität an die Marke

Preisbereitschaft

Erstkauf/Markenwechsel

Vertrauen in die Marke

Bindung zur Marke

Kaufabsicht

Wiederkauf

Marktanteil

Umsatz

Kosten

verhaltenswissenschaftlicher Markenwert

ökonomischer Markenwert

Verhaltenswissenschaftliche Zielgrößen

Ökonomische Zielgrößen

Abb. 4. Zusammenhang zwischen Markenwert und Unternehmenswert22

Über den Markenauftritt nach außen werden die oben beschriebenen Größen Markenbekanntheit und Markenimage sowie weitere für die Markenführung wichtige Größen wie Zufriedenheit, Vertrauen, Loyalität und Bindung beeinflusst. Diese bilden zusammen die Grundlage für den verhaltenswissenschaftlichen Wert einer Marke. Um von den verhaltenswissenschaftlichen Zielgrößen zu den ökonomischen zu kommen, bedarf es des Erst- oder aber des Wiederholungskaufs. Diese wiederum werden von der individuellen Kauf- und Preisbereitschaft beeinflusst. Aus diesen Faktoren resultieren Marktanteil und Umsatz und am Ende der Wirkungskette auch der Unternehmenswert.23

2

Messung des Markenwertes von Publikumszeitschriften

Die Messung des Markenwertes kann aus unterschiedlichen Motivationen erfolgen:24 22 23 24

Vgl. Esch et al. (2005c), S. 51. Vgl. ebenda, S. 50 f. Vgl. Esch u. Geus (2005), S. 1266.

Der Wert einer Publikumszeitschriftenmarke

x x x x x

161

zur Bilanzierung des Markenwertes beim Verkauf oder Kauf von Marken für die Markenlizenzierung für die Schadensbemessung im Fall von Markenpiraterie zur Markensteuerung und zum Markencontrolling

Während die Bilanzierung von Marken derzeit noch eine untergeordnete Rolle spielt, stellen die anderen Motivationen hochaktuelle Anwendungsfälle dar. Dies gilt natürlich auch für die Bewertung von Publikumszeitschriftenmarken. Bei der Konsolidierung des Zeitschriftenmarktes werden Titel nicht nur eingestellt, sondern auch an andere Verlage verkauft. Ein aktuelles Beispiel sind die Fernsehzeitschriften aus dem Axel Springer-Verlag. Dieser hatte angeboten, seine Fernsehzeitschriften im Zuge des Übernahmeversuches von ProSiebenSat1 zu verkaufen. Für diese hätte ein Markenwert bestimmt werden müssen, welcher dann in den Verkaufspreis mit eingerechnet worden wäre. Aber auch die Bewertung für die Markenlizenzierung ist höchst aktuell wie das Beispiel Fit for Fun mit seiner regen Dehnungstätigkeit eindrucksvoll zeigt. Besonders wichtig ist die Markenbewertung für Markensteuerung und -controlling. Der Markenwert verfestigt sich, wie in Abschnitt 1 gezeigt, in den Köpfen der Konsumenten, weshalb im Folgenden zwei der führenden Ansätze mit verhaltenswissenschaftlichem Hintergrund dargestellt werden. Rein finanzwirtschaftliche Ansätze werden nicht berücksichtigt, weil diese einerseits den Markenwert nur sehr grob erfassen und andererseits nicht für die Markensteuerung herangezogen werden können. 2.1

Brand Potential Index der GfK

Ein verbreiteter Ansatz zur Messung der psychischen Markenstärke ist der Brand Potential Index (BPI) der GfK. Die Markenstärke wird im BPI über die drei Bereiche Emotion, Kognition und Verhaltensintention gemessen, wobei insgesamt zehn verschiedene Facetten abgefragt werden:25 x Rationale Wertschätzung Wahrgenommene Qualität Markenbekanntheit Uniqueness x Emotionale Wertschätzung Markenidentifikation 25

Vgl. Högl u. Hupp (2004), S. 130.

162

Franz-Rudolf Esch und Jan Eric Rempel

Markensympathie Markenvertrauen x Verhaltensintention Mehrpreisakzeptanz Kaufabsicht Markenloyalität Bereitschaft zur Weiterempfehlung -

Diese zehn Variablen werden sowohl für die „Zielmarke“ als auch für die jeweiligen Wettbewerber mittels einer siebenstufigen Skala gemessen.26 Die Ergebnisse werden dann über einen gewichteten Mittelwert zum BPI verdichtet. Diese Vorgehensweise erlaubt Vergleiche nicht nur innerhalb einer Branche, sondern auch über Branchen hinweg.27 Erste Stärken und Schwächen der Marke können dabei über eine individuelle Betrachtung der einzelnen Variablen abgeleitet werden.28

Rationale Dimension

Prospektives Verhalten

Spiegel Focus

Abb. 5. BPI-Facetten von Spiegel und Focus29

26 27 28 29

Vgl. Högl u. Hupp (2004), S. 131. Vgl. Hupp (2003), S. 18. Vgl. Esch et al. (2005a), S. 1243. Vgl. Hupp (2003), S. 20.

Emotionale Dimension 0 = schwach 100 = stark

Der Wert einer Publikumszeitschriftenmarke

163

Abbildung 5 zeigt die BPI-Facetten von Spiegel und Focus. Diese beiden Zeitschriften haben für den Zeitschriftenmarkt einen hohen BPI (vgl. Abb. 6). Allerdings zeigt der Vergleich mit anderen Branchen, dass die jeweiligen BPIs nur durchschnittlich sind, selbst wenn nur die Nutzer bzw. Käufer betrachtet werden (vgl. Abb. 7).

BPI Spiegel (n=97)

54,2

Focus (n=103)

51,3

Stern (n=101)

48,3

Wirtschaftswoche (n=65)

40,8

Bunte (n=81)

26,4

Manager Magazin (n =41)

25,6

Abb. 6. BPI verschiedener Zeitschriften30

stern

BPI

Abb. 7. Markenattraktivität von Marken in unterschiedlichen Branchen31

30

Vgl. Hupp (2003), S. 18.

164

Franz-Rudolf Esch und Jan Eric Rempel

Dass ein positives Markenimage den ökonomischen Erfolgsgrößen vorgelagert ist, wurde in Unterabschnitt 1.2 bereits erläutert. Wie sich dies tatsächlich auswirkt, zeigt Abbildung 8. So hat eine starke Marke tatsächlich einen höheren Marktanteil als eine schwache. Dies spiegelt sich auch in anderen ökonomischen Zielgrößen wie beispielsweise dem Unternehmenswert wider.

14

stern (n=58)

x

Reichweite in %

12

x

10 (n=21)

8

(n=64)

x

x

6

(n=63)

4

0

x

(n=14)

2

x 35

40

(n=32)

45 50 55 Brand Potential Index

60

65

70

Abb. 8. Zusammenhang Markenstärke und Marktanteil32

2.2

Markenbewertung nach Brand Rating

Das Modell zur Markenbewertung von Brand Rating, einem Joint Venture von icon added value und Dr. Wieselhuber & Partner, besteht aus drei Komponenten (vgl. Abb. 9):33 x Markeneisberg x Diskontierter Preisabstand (Preis-Premium) x Brand-Future-Score 31

32

33

Vgl. Hupp (2003), S. 19 f. (Der BPI-Wert bezieht sich hier auf die Nutzer der Marke.) Vgl. ebenda, S. 21. (Der BPI-Wert bezieht sich hier ebenfalls auf die Nutzer der Marke.) Vgl. Biesalski u. Spannagl (2005), S. 209.

Der Wert einer Publikumszeitschriftenmarke

165

= Mathematische Verknüpfung

Eisberg-Index

Monetärer Markenwert

Diskontierter Preisabstand

Zukunft der Märkte

BRAND FUTURE STORE

=

Qualitative Markenstärke

Quantitativer Markenbonus

Markenpotenzial

Markenwert im „Kopf und Herz der Zielgruppe“

Markenwert „im Markt“ bei branchenspezifischem Risiko

Individuelle Entwicklungsperspektive der Marke

Abb. 9. Das 3-Komponenten-Modell Brand Rating34

Markeneisberg

Herzstück des Modells ist der Markeneisberg. Dieser teilt die Markenstärke in Markeniconographie (Markenbild) und Markenguthaben ein. Die Markeniconographie wird durch die folgenden Variablen operationalisiert:35 x x x x x x

34 35

Markenbekanntheit Klarheit des inneren Bildes Subjektiv wahrgenommener Werbedruck Einprägsamkeit der Kommunikation Eigenständigkeit des Auftrittes Attraktivität des inneren Bildes

Vgl. Biesalski u. Spannagl (2005), S. 209. Vgl. Musiol et al. (2004), S. 380 f.

166

Franz-Rudolf Esch und Jan Eric Rempel

Aus der Analogie der Markenstärke mit einem Eisberg ergibt sich, dass die Markeniconographie vor allem durch aktuelle Marketingmaßnahmen bestimmt wird. Eine besonders wichtige Rolle innerhalb der Markeniconographie spielen Fragen zu Klarheit und Attraktivität des inneren Bildes, weil dieses besonders verhaltenswirksam ist.36 Das Markenguthaben bildet die emotionale Bindung zwischen Marke und Zielgruppe ab und liegt unter der Wasseroberfläche.37 Es umfasst im Markeneisberg drei Variablen:38 x Markensympathie x Markenvertrauen x Markenloyalität Die Grundannahme des Modells ist, dass die Markeniconographie auf das Markenguthaben einzahlt. Während die Markeniconographie durch eine Veränderung im Markenauftritt kurzfristig beeinflusst werden kann, ist dies beim Markenguthaben nicht möglich. Letzteres lässt sich nur mittelbis langfristig über die Markeniconographie verändern. So verfügt eine junge Marke zwar schon über ein Markenbild, nicht jedoch über ein Markenguthaben, das erst langfristig aufgebaut werden muss. Hingegen können „alte“ Marken über ein ausgeprägtes Markenguthaben verfügen, das aus dem langen Kontakt mit der Marke resultiert.39 Das Markenguthaben hat einen direkten Bezug zur Verhaltensabsicht und somit auch zum Markenerfolg. Die Ergebnisse für einzelne Dimensionen werden in Relation zum Branchendurchschnitt gesetzt. Dies gibt erste Hinweise auf individuelle Stärken und Schwächen der Marke. Beim Playboy z. B. liegt die Klarheit des inneren Bildes 16 Punkte über dem nächsten Wettbewerber – und gar 23 über dem des zweiten. Noch gravierender sind die Abstände bei der Uniqueness: Hier betragen sie zum Hauptwettbewerber 23 und zum nächsten Wettbewerber dann schon 27 Punkte. Nicht ganz so dramatisch für die Wettbewerber sieht es bei der Attraktivität des inneren Bildes aus: Hier liegen der zweite Wettbewerber mit „nur“ 8 Punkten Rückstand und der Hauptwettbewerber mit 13 recht gut (vgl. Abb. 10).40

36 37 38 39 40

Vgl. Ruge (1988), S. 160 ff. Vgl. Esch et al. (2005a), S. 1246. Vgl. Musiol et al. (2004), S. 380 f. Vgl. Esch (2005), S. 551. Vgl. Schöllhammer (2003), S. 60.

Der Wert einer Publikumszeitschriftenmarke

167

47%

Klarheit des inneren Markenbildes

31% 24% 35%

Uniqueness

Playboy

12% Wettbewerb

8% 45%

Attraktivität des inneren Markenbildes

32% 37%

Abb. 10. Ausgewählte Eisbergwerte des Playboy und einzelner Wettbewerber41

Die Detailergebnisse zu Iconographie und Guthaben werden anschließend verdichtet. In einem zweidimensionalen Raum stehen die Iconographie auf der vertikalen und das Guthaben auf der horizontalen Achse. Diese Verdichtung ermöglicht es, einen Raum von Marken aufzuspannen und diese miteinander zu vergleichen. Abbildung 11 zeigt beispielhaft einen Markeneisberg.

Markeniconographie

Marken-4 iconographie -6

80 54 28 24 27 56

17 2 2 9

47 31

Markenguthaben

8

44

Markenguthaben

9 2

-

+

Abb. 11. Der Markeneisberg von icon added value42

41 42

Vgl. Schöllhammer (2003), S. 60. Vgl. Munziger et al. (2004), S. 5.

168

Franz-Rudolf Esch und Jan Eric Rempel

An den Markeneisberg kann eine Driving-Power-Analyse angeschlossen werden. Ziel dieser Analyse ist die Identifikation von Benefits & Reasons Why sowie Tonalitäten, die über die Markeniconographie einen starken Einfluss auf das Markenguthaben ausüben. Auf die Identifikation folgt eine Überprüfung der Eigenständigkeit der ermittelten Benefits & Reasons Why sowie der Tonalitäten. So soll verhindert werden, dass die Markenpositionierung austauschbar wird (vgl. Abb. 12).43

Der Klassiker unter den Männermagazinen mit der höchsten Kompetenz, wenn es um ästhetische Erotik geht

Ästhetik & Erotik Ästhetische Körper, künstlerische Aufnahmen, .. gute redaktionelle Mischung … (Lifestyle), interessante …. Beiträge zu typischen Männerthemen ....... Prominente …….. Anregung erotischer Phantasien, …….… intime Einblicke, ausführliche …….…… Interviews mit Prominenten Qualität der Fotos …………… …. Keine Pornographie, öffentlicher Konsum akzeptiert

verführerisch, erotisch,........ traditionell, kompetent,.... etabliert & anerkannt,.. exklusiver als andere

Schwarzes Bunny-Häschen Schriftzug (Branding) Farbe (Schwarz, Gold). ausklappbares Playmate.. typisches Cover, Slogan… Bunnies, Playmate des Monats... .

Abb. 12. Markenidentität des Playboy anhand des Markensteuerrades44

Preis-Premium

Als ökonomische Basis für die Markenbewertung wird das realisierte Preis-Premium herangezogen. Dieser Herangehensweise liegt zugrunde, 43 44

Vgl. Munzinger et al. (2004), S. 6. Vgl. Schöllhammer (2003), S. 61.

Der Wert einer Publikumszeitschriftenmarke

169

dass der Wert einer Marke nirgendwo deutlicher wird als in der konkreten Kaufsituation. Das Preis-Premium wird dabei gegenüber dem günstigsten, aber in Qualität und Leistung vergleichbaren Anbieter ermittelt. Da in den verschiedenen Geschäftsfeldern unterschiedliche Marktrisiken herrschen, wird über eine Branchenstrukturanalyse zusätzlich das branchenspezifische Risiko ermittelt. Dieser individuelle Branchenzinsfuß wird dann zur Diskontierung des Preis-Premiums benutzt. Von diesem Preisabstand wird schließlich der für die Erhaltung der Marke notwendige Aufwand abgezogen.45 Brand-Future-Score

Die dritte Komponente des Modells ist der Brand-Future-Score, der als ein Indikator für die zukünftige Entwicklung und die zukünftigen Risiken einer Marke dient. In dieser Komponente werden x das Entwicklungspotenzial der Marke im Kerngeschäft, x das Dehnungspotenzial der Marke sowie x der Markenschutz berücksichtigt und bewertet.46 Beim Entwicklungspotenzial der Marke im Kerngeschäft wird vor allem auf die Preis- und Mengenentwicklung im Vergleich zum Gesamtmarkt abgestellt. Hierfür wird eine Brand-Shift-Potential-Analyse durchgeführt, die auf dem Markenguthaben basiert.47 Diese untersucht die emotionale Beziehung des Konsumenten zur Marke. Hierzu werden die eigenen Kunden mit den Kunden von Wettbewerbern hinsichtlich Einstellung und Verhaltenspräferenz verglichen. Anhand dieser beiden Dimensionen können verschiedene Cluster gebildet werden, die anzeigen, wie viele Kunden loyal oder abwanderungsgefährdet sind bzw. wie viele Kunden eines Wettbewerbers potenziell erobert werden können.48 Des Weiteren wird das Dehnungspotenzial der Marke durchleuchtet, d. h. die Wachstumsmöglichkeiten der Marke außerhalb des Kerngeschäftes. Dabei wird aufgrund der bestehenden Markenstärke und -kompetenz eine mögliche Dehnung in neue Bereiche untersucht. In die Bewertung fließt auch die Attraktivität des möglichen neuen Produktfeldes mit ein.49

45 46 47 48 49

Vgl. Biesalski u. Spannagl (2005), S. 211. Vgl. ebenda, S. 212. Vgl. ebenda, S. 212. Vgl. Esch et al. (2005a), S. 1250. Vgl. Biesalski u. Spannagl (2005), S. 212.

170

Franz-Rudolf Esch und Jan Eric Rempel

Beim Markenschutz wird geklärt, inwieweit die Marke rechtlichen Schutz genießt und wie die Missbrauchsgefahr einzuschätzen ist.50

3

Fazit – von punktuellen Messungen zu einem Markenkontroll-Cockpit

Voraussetzung für eine erfolgreiche Markenführung bei Publikumszeitschriften ist die klare Bestimmung der Markenidentität und die Positionierung der Marke. Darauf aufbauend, kann ein Markenkontroll-Cockpit entwickelt werden, das sensible Rückkopplungen über den Erfolg der Markenführung gibt und über tief greifende Diagnosen die rechtzeitige Ergreifung therapeutischer Schritte auslöst. Ohne ein entsprechendes Markencontrolling mit differenziertem Feedback überlässt man den Markenerfolg dem Zufall. Da ihre Marken für Verlage ein zentrales Asset darstellen und den Unternehmenswert über den Markenwert nachhaltig beeinflussen, sollte ein maßgeschneidertes Cockpit entwickelt werden. Ein solches Cockpit muss über die gängigen Verfahren zur Markenwertmessung hinausgehen und auf eine Integration unterschiedlicher Messansätze in den Unternehmen abzielen. Erst dadurch lässt sich der Wert einer Publikumszeitschriftenmarke systematisch erhöhen. Dies setzt allerdings auch voraus, dass schon im Vorfeld mögliche Entwicklungen und Optionen systematisch überprüft werden, um später keinen Schiffbruch zu erleiden.

Literaturverzeichnis Aaker, D. (1992): Management des Markenwerts. Campus, Frankfurt a. M. Biesalski, A., Spannagl, J. (2005): Wertorientierte Markenführung: Anwendung auf Basis des integrierten Markenbewertungsansatzes von Brand Rating: In: Gaiser, B., Linxweiler, R., Brucker, V. (Hrsg.) Praxisorientierte Markenführung: neue Strategien, innovative Instrumente und aktuelle Fallstudien. Gabler, Wiesbaden, S. 201–220. Esch, F.-R. (2005): Strategie und Technik der Markenführung. 3. Aufl. Vahlen, München. Esch, F.-R., Geus, P. (2005): Ansätze zur Messung des Markenwerts. In: Esch, F.-R. (Hrsg.) Moderne Markenführung. 4. Aufl. Gabler, Wiesbaden, S. 1263– 1305.

50

Vgl. Biesalski u. Spannagl (2005), S. 212.

Der Wert einer Publikumszeitschriftenmarke

171

Esch, F.-R., Langner, T., Brunner, C. (2005a): Kundenbezogene Ansätze des Markencontrollings. In: Esch, F.-R. (Hrsg.) Moderne Markenführung. 4. Aufl. Gabler, Wiesbaden, S. 1227–1261. Esch, F.-R., Langner, T., Rempel, J. E. (2005b): Ansätze zur Erfassung und Entwicklung der Markenidentität. In: Esch, F.-R. (Hrsg.) Moderne Markenführung. 4. Aufl. Gabler, Wiesbaden, S. 103–129. Esch, F.-R., Rempel, J. E. (2006): Krisenmanagement für und durch Marken. In: Hutzenreuther, T., Griess-Nega, T. (Hrsg.) Handbuch Krisenmanagement. Gabler, Wiesbaden (im Druck). Esch, F.-R., Wicke, A., Rempel, J. E. (2005c): Herausforderungen und Aufgaben des Markenmanagements. In: Esch, F.-R. (Hrsg.) Moderne Markenführung. 4. Aufl., Gabler, Wiesbaden, S. 3–55. Gruner + Jahr (1998): Imagery 2. Innere Markenbilder in gehobenen Zielgruppen. Geo Anzeigenabteilung, Hamburg. Högl, S., Hupp, O. (2004): Brand Performance Measurement mit dem Brand ASsessment System (BASS). In: Schimansky, A. (Hrsg.) Der Wert der Marke: Markenbewertungsverfahren für ein erfolgreiches Markenmanagement. Vahlen, München, S. 124–145. Hupp, O. (2003): Markenschwäche der Medien. Markenartikel, Nr. 3: S. 18–21. Jacoby, J., Szybillo, G. J., Busato-Schach, J. (1977): Information Acquisition Behavior in Brand Choice Situations. Journal of Consumer Research, Vol. 4, No. 3: p. 209–216. Kaas, K. P (1990): Langfristige Werbewirkung und Brand Equity. Werbeforschung & Praxis, Vol. 35, Nr. 3: p. 48–52. Keller, K. L. (1993): Conceptualizing, Measuring, and Managing Customer-Based Brand Equity. Journal of Marketing, Vol. 57, January: p. 1–22. Koschnick, W. J. (1995): Standard-Lexikon für Mediaplanung und Mediaforschung in Deutschland. 2. Aufl. Saur, München u. a. Kroeber-Riel, W. (1992): Konsumentenverhalten. 5. Aufl. Vahlen, München. Meyers-Levy, J., Tybout, A. M. (1989): Schema Congruity as a Basis for product Evaluation. Journal of Consumer Research, Vol. 16, June: p. 39–54. Munziger, U. J., Berens, H., Kuntkes, J. (2004): Der Wert der Marke entsteht im Kopf des Verbrauchers. Planung & Analyse, Vol. 31, Nr. 2, Sonderausgabe: S. 1–6. Musiol, K. G., Berens, H., Spannagl, J., Biesalski, A. (2004): Icon Brand Navigator und Brand Rating für eine holistische Markenführung. In: Schimansky, A. (Hrsg.) Der Wert der Marke: Markenbewertungsverfahren für ein erfolgreiches Markenmanagement. Vahlen, München, S. 370–399. Pulser, M. (2003): Die Medienmarke als Erlebniswelt. Marketingjournal, Nr. 3: S. 30–32. Ruge, H. D. (1988): Die Messung bildhafter Konsumerlebnisse. Reihe Konsum und Verhalten, Bd. 16, Physica, Heidelberg. Schöllhammer, R. (2003): Anatomie des Playboys. Marketingjournal Jubiläumsheft 2003, S. 54–63.

Den Publikumszeitschriftenverlag managen

Jürgen Althans

1

Grundlagen des Managements im Publikumszeitschriftenverlag

1.1

Besonderheiten des Verlagsmanagements

„Von allen anderen kaufmännischen Tätigkeiten unterscheidet sich die des Verlagskaufmanns dadurch, dass sie nicht nur einer rein materiellen Bedürfnisbefriedigung dient. Die Produkte, mit denen der Verlagskaufmann handelt, die Druckerzeugnisse, werden nicht nach Menge oder Gewicht bewertet, sondern nach dem immateriellen Inhalt. Diese geistige Komponente verleiht der verlegerischen Aufgabe ihr besonderes Gepräge und gibt ihr eine übergeordnete Bedeutung. Neben der wirtschaftlichen Zielsetzung steht das publizistische Wollen des Verlegers. Beide Phänomene konkurrieren miteinander und halten sich im Idealfall die Waage.“1 Dieses Zitat aus einem Standardwerk des Verlagsmanagements schildert treffend die Besonderheiten dieses Gewerbes. Es zeigt, dass den Entscheidungen und Strategien im Verlagsgeschäft nicht ausschließlich betriebswirtschaftliches Kalkül, sondern – durch die Besonderheiten des „Produktes“, der redaktionellen Inhalte – auch scheinbar oder tatsächlich andere Ziele und Nebenbedingungen zugrunde liegen. „In its effort to combine business and creativity, the industry has traditionally been faced with unique challenges, increased by the short-lived nature of its products and 1

Mundhenke (1981), S. 15.

174

Jürgen Althans

services.“2 Kontinuierlich neue Herausforderungen wie Deregulierung, Digitalisierung von Inhalten sowie Veränderungen in den Leser- und Anzeigenmärkten geben auch Publikumszeitschriftenverlagen immer wieder Anlass, ihre Aktivitäten, Strategien und Geschäftsmodelle zu überdenken. Die Entscheidungstatbestände im Kontext des Managements eines Publikumszeitschriftenverlages sollen im Folgenden am Beispiel des Vertriebs- und Anzeigenmanagements als den wichtigsten Erlösquellen eines Publikumszeitschriftenverlages dargestellt werden. Die Besonderheiten des Verlagsmanagements (im Unterschied z. B. zu klassischen Industrieunternehmen) lassen sich wie folgt kennzeichnen: x Neben monetären bzw. quantitativen Zielen (Umsatz, Gewinn, Marktanteil etc.) sind oft verlegerische Ziele (z. B. publizistische Grundhaltung, Meinungsbildung), die durchaus zueinander im Widerspruch stehen können, Grundlage des unternehmerischen Handelns. x Der Zeitschriftenverlag bietet seine Leistungen auf zwei völlig verschiedenen Märkten an, nämlich dem Käufer-, Leser- oder Vertriebsmarkt einerseits und dem Inserenten- oder Anzeigenmarkt andererseits.3 Die Größe der Schnittmenge zwischen erreichter Leserschaft der Zeitschrift und anvisierter Zielgruppe der Werbungtreibenden definiert maßgeblich den Erfolg einer Zeitschrift. x Die inhaltliche Erstellung und Gestaltung des „Produktes“ Zeitschrift wird nicht im Produktmanagement, in der Marketingabteilung oder anderen kaufmännischen Abteilungen vorgenommen, sondern in der Redaktion unter Leitung der Chefredaktion. x Das Produkt Zeitschrift ist kein Massenartikel, der in großen Mengen und langfristig (wie ein Markenartikel) nicht oder nur wenig verändert produziert wird; es wird zu jedem Erscheinungstermin – wöchentlich, 14-täglich, monatlich – „neu gemacht“. Hier sind lediglich ein formaler und inhaltlicher Rahmen die Konstanten, auf die sich Leser und Anzeigenkunden als Zielgruppen einstellen.4 1.2

Zielsysteme im Zeitschriftenverlag

Die betriebliche Praxis in Zeitschriftenverlagen zeigt, dass übergeordnete und Bereichsziele nicht immer gleichgerichtet sind. Aufgabe des Verlagsmanagements ist, bestehende oder entstehende Zielkonflikte zu erkennen

2 3 4

Vgl. Aris u. Bughin (2005), S. 436. Vgl. Hensmann (1980), S. 239. Vgl. Althans (1989), S. 761.

Den Publikumszeitschriftenverlag managen

175

und im Sinne eines optimalen Gesamtergebnisses aufzulösen. Abbildung 1 zeigt das Zielsystem eines Zeitschriftenverlages im Überblick.

Unternehmensziele - Gewinnziele - Renditeziele - Risikopolitische Ziele - Soziale Ziele - Publizistische Ziele

Redaktionelle Ziele - außerökonomische - ökonomische

Marketingziele

Produktionsziele

- Gewinnziele - Marktanteilsstreben - Marktsicherung

- Kostenminimierung

- Mengenmaximierung (Auflage)

Konfliktfeld 1

Vertriebsziele - Verlustminimierung (bei negativem Vertriebsdeckungsbeitrag)

- Mengenoptimierung (Auflage)

- optimale Auslastung ƒ konst. Umfänge / Heft ƒ konst. Umfänge / Periode

Anzeigenziele

Konfliktfeld 2

- Gewinnmaximierung

- Mengenmaximierung (Umfang)

Abb. 1. Das Zielsystem eines Zeitschriftenverlages5

Im Lesermarkt lassen sich ökonomische, publizistische und kommunikative Ziele unterscheiden, deren Verwirklichung teilweise zu Konflikten führen kann. So wird jede Redaktion im Rahmen der Verfolgung ihrer publizistischen Zielsetzungen (Botschaften, Informationen, Tendenzen, Meinungen usw.) stets nach einer Maximierung der Auflage streben (Konfliktfeld 1). Dieses Ziel ist mit ökonomischen Zielen gleichgerichtet, solange allein Vertriebserlöse das Ergebnis bestimmen. Sobald Anzeigenerlöse aber eine nennenswerte Größe erreichen und die Vertriebserlöse nicht (mehr) die variablen Kosten der Redaktion, der Herstellung und des Vertriebs decken, wird man im Lesermarkt nach „Verlustminimierung durch Auflagenoptimierung“ streben. Diese optimale Auflage liegt dort, wo unter Berücksichtung der Vertriebs- und Anzeigenerlöse einerseits und aller Kosten andererseits langfristig das bestmögliche wirtschaftliche Ergebnis 5

Hensmann (1980), S. 241.

176

Jürgen Althans

erbracht wird. Diese Politik erfährt ihre Begründung durch folgende Erwägungen: x Dominanz der publizistischen Zielsetzung (größtmögliche Verbreitung der Information). x Bei kontinuierlich steigender Auflage kann sich mittelfristig eine breitere Basis für das Anzeigengeschäft ergeben, was die vorübergehende Inkaufnahme von Vertriebsverlusten aus „zu hoher“ Auflage rechtfertigt. x Bei kontinuierlich sinkender Auflage muss versucht werden, sie im Zweifel auf einem (unwirtschaftlichen) höheren Niveau zu halten, um das Anzeigengeschäft nicht durch zu geringe Auflage zu gefährden. Das Ziel im Anzeigenmarkt lässt sich vereinfacht als „Erlös- und Gewinnmaximierung über Mengenmaximierung“ kennzeichnen. Dies führt aufgrund der Saisonalität im Insertionsverhalten – mit Spitzen im Frühjahr und Herbst – zu stark schwankenden Heftumfängen, die den Zielen der Druckerei nach möglichst gleichmäßiger Auslastung zuwiderlaufen (Konfliktfeld 2). Das Planungssystem und die Organisation des Verlages müssen so ausgelegt sein, dass die konfliktären Zielsetzungen zwischen Redaktion, Vertrieb, Anzeigenabteilung und Druckerei bewältigt und im Sinne der übergeordneten Zielsetzungen des Unternehmens gelöst werden können. Problemlösungen im Verlagsmanagement müssen entsprechend der Bedeutung der beiden Märkte, auf denen sich der Verlag bewegt, simultan erarbeitet werden. Langfristig gesehen haben aber die Aktivitäten im Lesermarkt Vorrang, denn nur eine redaktionell erfolgreiche Zeitschrift mit stabiler bzw. steigender Auflage und hoher Leser-Blatt-Bindung wird auf Dauer auch für den Werbungtreibenden interessant sein. Der Leser muss daher Ausgangspunkt aller Überlegungen und Aktivitäten in Redaktion und Verlag sein.

2

2.1

Entscheidungstatbestände im Vertriebsmanagement

Produkt als Ausgangspunkt

Gegenstand des Vertriebsmanagements im Zeitschriftenverlag ist die Beobachtung und Bewertung der Vertriebsmärkte, der eigenen Verlagsprodukte und ihrer Wettbewerber, die Information und Beratung der Chefredaktion und Verlagsleitung über die dabei gewonnen Erkenntnisse sowie deren Umsetzung beim Einsatz der absatzpolitischen Instrumente im Vertriebs-

Den Publikumszeitschriftenverlag managen

177

markt. Relevante Beobachtungs- und Bewertungsmerkmale sind u. a. allgemeine Merkmale (z. B. Markteintritt, Erscheinungsweise, Erstverkaufstag, Heftpreis, Auflage, Auflagenstruktur), redaktionell formale und inhaltliche Faktoren sowie Zielgruppenmerkmale (demographische, psychographische). 2.2

Vertriebsorganisation und Absatzwege

Die Vertriebsorganisation in Zeitschriftenverlagen bildet die zur Verfügung stehenden Absatzwege für Presseerzeugnisse in Deutschland ab.6 Der wichtigste Absatzweg im Zeitschriftenvertrieb führt über den Groß- und Einzelhandel. Etwa 80 Grossisten und etwa 120.000 Einzelhändler als Presseverkaufsstellen (Kioske, Warenhäuser, Supermärkte, Tankstellen usw.) bilden diesen Distributionskanal. Eine Sonderstellung des Einzelverkaufs nimmt der Bahnhofsbuchhandel ein. Die Betriebe und ihre Verkaufsstellen beziehen als Einzelverkäufer direkt vom Verlag, d. h. Großund Einzelhandelsstufe fallen hier zusammen. Zu den übrigen Absatzwegen zählen die folgenden so genannten Vertriebssparten: x Das Verlagsabonnement ist aus Sicht der Verlage der zweitwichtigste Absatzweg. x Der werbende Buch- und Zeitschriftenhandel (WBZ) umfasst 200 Firmen, die Abonnenten selbst gewinnen, sodann die von ihnen geworbenen Exemplare von den Verlagen auf eigene Rechnung beziehen und zum Teil auch in eigener Regie zustellen. x Die Marktidee des Lesezirkels, Zeitschriften gegen Entgelt zeitlich gestaffelt zu vermieten/zu verleihen, ist eine deutsche Vertriebsspezialität.7 Die Lesezirkelunternehmen bieten in ihren Mappen Titel aller Zeitschriftengattungen an. Je nach Größe eines Verlages spiegeln sich die Vertriebssparten auch in der Vertriebsorganisation wider. Oft werden alle vertrieblichen Fragen in Vertriebsleitungen konzentriert, die ihrerseits innerbetrieblich für die einzelnen Sparten auf Spezialisten zurückgreifen können. Eine Sonderstellung nehmen die wichtigen Sparten Einzelverkauf und Abonnement ein, da neben die vertrieblichen Grundfunktionen (vor allem Auflagenbestellung, Disposition, Logistik) hier auch häufig die Marketingfunktionen treten (Verkaufsförderung gegenüber dem Handel, Direktmarketing zur Abonnentengewinnung und -bindung). 6 7

Vgl. Bremenfeld (2001), S. 47 ff. Mundhenke (1981), S. 83.

178

2.3

Jürgen Althans

Gegenstandsbereiche des Vertriebsmanagements

Dem Vertriebsmanagement obliegen vor allem die Bestimmung der langfristig optimalen Auflagenhöhe, die Verkaufsschätzung für jedes Erscheinungsintervall und die Festlegung der Druckauflage unter Berücksichtigung der optimalen Auflage und sonstiger Zielsetzungen sowie die optimale Auflagenverteilung auf die einzelnen Vertriebssparten. Die Verkaufsschätzung wird von einer Vielzahl von Faktoren geprägt, z. B. Saison, Trend, redaktionelle Themen, Einfluss des Titelbildes, werbliche Begleitung usw. Ein weiterer wesentlicher Faktor ist die Remissionspolitik. Beim Ziel der Auflagenausweitung wird die Verkaufsreserve (auch Richtremission genannt) hoch bemessen, was zu entsprechend höheren Kosten führt. Wird die Stabilisierung eines als optimal eingeschätzten Niveaus angestrebt, so wird die Richtremission niedrig angesetzt mit dem Risiko, dass die Ausverkaufsquote bei den eingeschalteten Händlern steigt und Käufer ggf. auf Wettbewerber umsteigen. Die Preispolitik („Copypreispolitik“) fällt als frei gestaltbares Instrument im Vertriebsmarkt aus, weil Zeitschriften preisgebunden vertrieben werden. Bei Einführung oder für vorübergehende Aktionen, um Probierkäufer an einen Titel heranzuführen, ist der Einsatz als Aktionsinstrument erlaubt und sinnvoll. Im Bereich der Kommunikationspolitik kommen spartenspezifische Instrumente zum Einsatz: Die klassische Werbung wird als Leserwerbung für die Bereiche Grosso/Einzelhandel und Bahnhofsbuchhandel eingesetzt. In der Abonnentenwerbung setzen die Zeitschriftenverlage alle Instrumente des Direktmarketings (z. B. Beilage, Beihefter, Direct Mail) ein und bedienen sich dabei verlagseigener, aber auch -fremder Medien. Gegenüber dem Handel kommt das ganze Instrumentarium der Verkaufsförderung zum Einsatz. Durch entsprechende Aktionen wird versucht, die Platzierungsentscheidung des Handels zu beeinflussen und den Platz im Regal zu sichern. Verlage und Großhandel unterhalten zu diesem Zweck und zur Beobachtung der Abverkäufe bei fremden und eigenen Titeln Vertriebsaußendienste, die jedoch wegen der großen Zahl an Verkaufsstellen nur schwerpunktmäßig eingesetzt werden können.

Den Publikumszeitschriftenverlag managen

3

3.1

179

Entscheidungstatbestände im Anzeigenmanagement

Produkt als Ausgangspunkt

Sowohl das Vertriebs- als auch das Anzeigenmanagement richtet sich an eine – im Idealfall identische – Zielgruppe. Werden dem Leser im Vertriebsmarkt die redaktionellen Inhalte zur Information und Unterhaltung angeboten, stellt die Zeitschrift zugleich als Werbeträger eine Kommunikationsleistung bereit, die im Rahmen des Anzeigenmanagements angeboten wird. Dabei muss das Anzeigenmanagement von einigen unveränderbaren bzw. nicht unmittelbar beeinflussbaren Fakten ausgehen, die durch die redaktionelle Leistung bestimmt werden. Wie das Vertriebsmanagement verfügt auch das Anzeigenmanagement über Gestaltungsmöglichkeiten, die insbesondere im Dienstleistungs- und im technischen Bereich liegen. Wichtige Daten und Gestaltungsparameter für das Anzeigenmanagement sind die Reichweite, Leserschaftsstruktur und -merkmale, die Auflage, das redaktionelle Umfeld, die Leser-BlattBindung (Glaubwürdigkeit, Kompetenz), die Funktion (Nutzung wann, wo und unter welchen Umständen), die Verfügbarkeit (Menge bzw. Raum pro Erscheinungsintervall, regionale Belegungsmöglichkeiten), technische Kriterien (Papier- und Druckqualität, Farbigkeit, Sonderformen wie Beilagen, Beihefter, Warenproben usw.) sowie Dienstleistungen zur Mediaplanung (Beratung und Service). 3.2

Anzeigenabteilung

Die Koordination aller Aktivitäten des Anzeigengeschäftes erfolgt in der Anzeigenabteilung unter der Führung eines Anzeigenleiters. Dieser berichtet entweder an den Verlagsleiter bzw. Verlagsgeschäftsführer oder – wenn die Aktivitäten als Dienstleistung für eigenständig operierende Verlagseinheiten erbracht werden – an den Leiter dieser dienstleistenden Verkaufseinheit. Die Anzeigenabteilung besteht aus dem Anzeigenverkauf, (Markt-, Branchen- und Kundenanalyse und -vorbereitung, Begleitung und verkaufsmäßige Umsetzung von Forschungsvorhaben und Studien sowie Entwicklung und Steuerung von verkaufsbegleitenden Marketingmaßnahmen) und der Anzeigenabwicklung (Disposition, Platzierung, Handling der Druckunterlagen, Rechnungswesen und Inkasso). Drittes Element der Anzeigenorganisation ist der Anzeigenaußendienst. Da die angebotene

180

Jürgen Althans

Leistung erklärungsbedürftig und die Zielgruppe (Werbungtreibende und Agenturen) überschaubar ist, dominiert der persönliche Verkauf durch die Außendienstrepräsentanten. Der Außendienst hat meist eine regionale Verantwortung (Verkaufsgebiete, -bezirke); oft kommt eine Branchenspezialisierung hinzu. 3.3

Gegenstandsbereiche des Anzeigenmanagements

Das angebotene „Produkt“ – die Zeitschrift als Werbeträger – ist in wichtigen Dimensionen für das Anzeigenmanagement ein Datum. Gleichwohl können durch Vorschläge von Seiten der Anzeigenleitung zum redaktionellen Umfeld (z. B. zusätzliche Rubrikenbildung, angekündigte Sonderthemen und Specials) Ansätze für neues Anzeigengeschäft geschaffen werden. Im Übrigen bewegt sich die Gestaltung des Anzeigengeschäftes in den Dimensionen Forschung, Verkauf und Marketing. In der Marktforschung geht es darum, für die Verkaufsargumentation und für den Service bei Anzeigenkunden Mediaanalysen aufzubereiten, mit deren Daten die Anzeigenkunden ihre Zielgruppen identifizieren und quantifizieren können. Dazu dienen allgemeine und von der Werbewirtschaft gemeinschaftlich erhobene Studien wie die „Mediaanalyse“ (MA) oder die „Allensbacher Werbeträger-Analyse“ (AWA) sowie verlagseigene Untersuchungen wie z. B. „Markenprofile“ vom Stern oder „Imagery“ von Geo. Im Anzeigenverkauf steht die Preis- und Rabattpolitik im Vordergrund. Wie bei jeder Preisermittlung sind Markt-, Wettbewerbs- und Kostenfaktoren zu beachten. Dabei ist neben dem absoluten Anzeigenpreis vor allem der Tausenderpreis entscheidend, da erst durch ihn ein Vergleich der unterschiedlichen Werbeträger und Titel möglich ist. Er gibt die Kosten pro tausend Exemplare eines Titels an. Den direkten Bezug zur tatsächlich verkauften Auflage stellt der Tausend-Leser-Preis her, der den Preis eines Werbemittels (z. B. Anzeige) pro 1.000 Leser, Hörer oder Seher des Werbeträgers (z. B. Zeitschrift) angibt. Wie im Vertriebsmarkt ist auch im Inserentenmarkt der Gestaltungsrahmen der Preis- und Rabattpolitik durch eine marktübliche Preislistentreue eingeschränkt. Die leistungsbezogene (Reichweite, Zielgruppenqualität) Preispolitik steht daher im Vordergrund; aktionsbezogene, kurzfristige Preis- und Rabattmaßnahmen sind der Ausnahmefall (z. B. bei Neueinführungen und Jubiläen). Entscheidungen im Bereich des Verkaufs umfassen darüber hinaus die Steuerung des Außendienstes und die Erstellung von Verkaufsunterlagen und Angeboten zu seiner Unterstützung.

Den Publikumszeitschriftenverlag managen

181

Im Anzeigenmarketing ist über klassischen Instrumenteinsatz (Werbung, PR) und nichtklassische Maßnahmen zu entscheiden (vor allem Veranstaltungen, Events, Messeauftritte).

4

4.1

Das Management neuer und ergänzender Geschäftsfelder

Ziele auf neuen und ergänzenden Geschäftsfeldern

Im Zuge zunehmender Sättigungstendenzen und niedriger Wachstumserwartungen im Stammgeschäft „Zeitschrift“ und mit dem Ziel des Ausbaus der Zeitschriftenmarke auf vielen Plattformen bietet es sich an, weitere Geschäftsfelder zu erschließen und im Rahmen eines Medienverbundes die Marke, das Konzept und die redaktionellen Inhalte in andere Mediengattungen (z. B. Buch, Kalender, CD/DVD, Merchandising, Online/Internet, Multimedia, Fernsehen) zu übertragen und dabei – mit unterschiedlichen Zielsetzungen – auch einen Mehrfachnutzen (Synergien) von Inhalten, Know-how und Prozessen zu erzielen. Die Ziele der Betätigung in ergänzenden Geschäftsfeldern können unterschiedlichster Natur sein. Vorbedingung sind dabei die Entsprechung der Marke und ihrer Erscheinungsform in wichtigen inhaltlichen Dimensionen und im Image zwischen Stammgeschäft und den neuen bzw. ergänzenden Geschäftsfeldern: „Steht“ die Marke auch für dieses Geschäft, ist sie – insbesondere auch die Redaktion als Inhalteverantwortlicher – auch hier glaubwürdig, kompetent und „zuständig“? Steigerung von Bekanntheit und Reichweite

Minimalziel entsprechender Engagements müssen Bekanntheitsgrad- und Reichweitensteigerung für das Stammgeschäft „Zeitschrift“ sein. Investitionen in Online oder Fernsehen können als Marketing-Aufwendungen angesehen werden, sollten aber wenigstens durch Steigerung der Bekanntheit und Reichweite von Nutzen vor allem für das Anzeigengeschäft sein. Auflagensteigerung

Insbesondere mit dem Engagement in elektronischen Medien (Fernsehen, Film, Online) wird die Erwartung von Auflagensteigerungen verknüpft. Dies kann in Einzelfällen durch entsprechenden thematischen Verweis

182

Jürgen Althans

(„Lesen Sie mehr zu diesem Thema in der aktuellen Ausgabe!“) gelingen, ist aber medienrechtlich problematisch (Fernsehen) und in der notwendigen thematischen Synchronisation zwischen gedrucktem und elektronischem Medium organisatorisch aufwändig. Neues Geschäftsfeld

Idealerweise produzieren Engagements auf alternativen Medienplattformen und in ergänzenden Geschäftsfeldern Umsätze, Deckungsbeträge und Betriebsergebnisse – denn ihre Einstufung als Marketinginvestitionen ist nur in begrenztem Umfang und/oder auf begrenzte Dauer vertretbar. Chancen und Risiken beim Ausdehnen der Aktivitäten auf angrenzende Geschäftsfelder liegen in der situations- und zielgerechten Strukturierung und Bewertung des jeweiligen Geschäftsmodells. Strategische Absicherung und Weiterentwicklung

Die Medienmärkte zeigen große Dynamik. Mit der Entwicklungsperspektive „One brand, all media“ (Claim der Financial Times Deutschland), der rasanten Digitalisierung der Inhalte, Plattformen und Prozesse und der Vision umfassender Marken- und Lebenswelten auf Basis einer Zeitschriftenmarke sind verschiedene Zukunftswege aufgezeigt. Damit wird das in Abschnitten 2 und 3 beschriebene „klassische“ Geschäftsmodell (Vertrieb und Anzeigen) eines Zeitschriftenverlages deutlich verändert. Die neuen Geschäftsfelder sollen/müssen der Absicherung, dem Ausbau und der Weiterentwicklung des Geschäftes insgesamt dienen. 4.2

Geschäftsmodelle im klassischen Neugeschäft

Weitgehend erhalten bleibt das Geschäftsmodell im klassischen Neugeschäft: „Line Extensions“ (neue Titel als „Ableger“ bestehender Marken, z. B. Geo Special, Geolino oder Geo Epoche aus Geo), ganz neue Konzepte (z. B. Living at Home) oder Zwischenformen (z. B. Neon, das als junger Stern-Ableger das Logo, nicht aber den Namen der Mutter im Titel führt) basieren auf der klassischen Erlösstruktur Vertrieb und Anzeigen. Im Kostenbereich sind Synergien in den Verlagsbereichen und im Marketing möglich.

Den Publikumszeitschriftenverlag managen

4.3

183

Geschäftsmodelle im Merchandising von Zeitschriftenverlagen

Geschäfte im Merchandising von Zeitschriftenverlagen (erstens zeitschriften- und mediennahe Produkte wie Bücher, Kalender, CDs, DVDs, Spiele usw. sowie zweitens zeitschriften- und medienfernere Produkte wie Textilien, Nahrungsmittel, Accessoires, Reisen usw.) können im Alleingang oder in Kooperation mit anderen Verlagen oder Partnern realisiert werden. Beispielhaft sei hier die Realisierung von Buchprojekten betrachtet. Die zur Produktion und Vermarktung von Buchprojekten erforderlichen betrieblichen Teilfunktionen können in unterschiedlicher Weise verteilt werden, wobei die Ertragschancen – aber auch die Risiken – steigen, je mehr Teilfunktionen der Zeitschriftenverlag übernimmt: Vermehrte Chancen entstehen, weil Elemente der Wertschöpfungskette im Zeitschriftenverlag verbleiben, vermehrte Risiken, weil geschäftsfremde Aktivitäten (so unterscheidet sich die Buchherstellung und der Buchverkauf substanziell von den entsprechenden Teilfunktionen im Zeitschriftengeschäft) die Gefahr von Fehlschlägen erhöhen. Tabelle 1. Kooperationsmodelle in der Buchproduktion

Programmplanung Autorenauswahl Lizenzzahlung Autorenschaft/redaktionelle Erstellung Herstellung Werbung Vertrieb direkt Vertrieb indirekt (Buchhandel)

Lizenzmodell V P x x x x x x x x x x x

Autorenmodell V P x x x x x x x x x x

Vertriebsmodell V P x x x x x x x

V = Zeitschriftenverlag, P = Partner (Buchverlag)

Beim Lizenzmodell ist das Engagement des Zeitschriftenverlages am geringsten; hier stellt er lediglich seine Marke zur Verfügung und beschränkt sich auf die Prüfung und Kontrolle der extern erstellten Inhalte (Markenpassung). Beim Autorenmodell stellt der Zeitschriftenverlag den Autor selbst und kann nachgelagerte Teilfunktionen an den Buchverlag übertragen. Beim Vertriebsmodell vereinigt der Zeitschriftenverlag die meisten Teilfunktionen auf sich; lediglich der indirekte Vertrieb über den Buch-

184

Jürgen Althans

handel wird von einem Buchverlag oder einer Buchvertriebsfirma übernommen. 4.4

Geschäftsmodelle im Multimediageschäft von Zeitschriftenverlagen

„Die Medienzukunft dreht sich um den Bildschirm“, ist eine oft kommunizierte und diskutierte These. Gemeint sind alle (heute) vorstellbaren x Bildschirmvarianten (PC, TV, mobile Plattformen wie Handy und PDA, „öffentliche“ Nutzungsstellen), x Nutzungssituationen (stationär oder mobil; individuell oder gemeinschaftlich; aktiv, passiv oder interaktiv usw.) und x Inhaltequellen (online, offline, on location). Anwendungsalternativen, Angebots- und Nutzungsformen entwickeln sich mit großer Dynamik sowohl im Leser-/Seher-/Nutzermarkt als auch im Anzeigenmarkt. Beispielhaft für hier denkbare Geschäftsmodelle sei der in Tabelle 2 dargestellte Vergleich der Erlöskomponenten bei Zeitschrift und Online-Auftritt erörtert. Tabelle 2. Geschäftsmodelle Zeitschrift und Online-Auftritt im Vergleich Erlöse/Kosten Vertriebserlöse

Zeitschrift Ja

Anzeigen-/Werbeerlöse Zwischensumme I

Ja

Nebengeschäfts-/Merchandisingerlöse Ja (eigene Marken/Produkte/Dienste) Transaktionserlöse (fremde MarEher nicht ken/Produkte/Dienste) Syndicationerlöse (Weitervermarktung Ja von Inhalten) Zwischensumme II

Online-Auftritt Wenig, teilweise Paid Content Ja Selten Ja Ja

Kosten Deckungsbeitrag/Ergebnis

Der klassischen Erlösstruktur der Zeitschrift – zwischen Vertriebs- und Anzeigenerlösen – entspricht die große Mehrheit der Online-Auftritte nicht. Paid Content-Modelle, die den Zeitschriften-Vertriebserlösen entsprechende Umsätze erzielen, sind bisher noch die Ausnahme und fast nur

Den Publikumszeitschriftenverlag managen

185

im Finanzsektor anzutreffen. Online-Angebote allein über Werbeerlöse (Banner, Skyscraper etc.) zu finanzieren, ist eine Illusion geblieben. Daher wurden im Online-Bereich Geschäftsmodelle versucht, bei denen neben markeneigenen Merchandising- und Nebengeschäften (Bücher, CDROMs, Kalender, Dienstleistungen wie Seminare, Veranstaltungen etc.) fremde Marken – Produkte und Dienste – vermarktet und aus den so getätigten Transaktionserlösen Provisionen gezogen werden. Diese Erlösart gibt es im Zeitschriftengeschäft so gut wie gar nicht. Hier kann die Trennung zwischen Redaktions- und Anzeigen-/Geschäftsinteressen verwischen, wenn das Angebot gleichzeitig redaktionelle Plattform, Werbeträger und Makler/Vermittler für direkt zu vollziehende Geschäfte darstellt. In beiden Geschäftsmodellen können Syndikationserlöse durch die Vermarktung von Inhalten (Texte und Bilder) erzielt werden. 4.5

Organisation von Neugeschäft

Für die organisatorische Steuerung von Neugeschäft bieten sich folgende Wege an: x Die Weiterentwicklung des Stammgeschäftes (Print), Ausdehnung in neue Produktbereiche und auf neue Medienplattformen ist originäre Aufgabe der Verlagseinheiten und Profit-Center. Sicht- und fühlbare Steuerungseinrichtungen sind z. B. Innovationszirkel (auch mit Vertretern aus zentralen Bereichen besetzt) oder die Vorgabe, dass z. B. 5 Prozent des Umsatzes in jedem Jahr aus Geschäft stammen soll, das es im Vorjahr noch nicht gegeben hat. x Der Prozess der Erschließung neuer Geschäftsfelder darf nicht allein den Fähigkeiten, Neigungen oder Prioritäten einzelner Profit-CenterLeiter überlassen werden. Es bietet sich aus ökonomischen Gründen auch an, „Forschung und Entwicklung“ neuer Märkte und Technologien sowie die Erarbeitung neuer Geschäftsmodelle und Abläufe zunächst zentral anzustoßen und voranzutreiben. Wenn solcherart entstandenes Neugeschäft einen bestimmten Reife- und Profitabilitätsgrad erreicht hat, ist „die Zeit gekommen“, es auf die dezentralen Geschäftseinheiten zu übertragen. So lassen sich auch Konflikte, die durch die zentrale Führung dezentral verankerter Markenverantwortung entstehen, inhaltlich und zeitlich begrenzen.

186

Jürgen Althans

5

Resümee und Ausblick

Das Management im Publikumszeitschriftenverlag hat seinen besonderen Reiz im engen Zusammenspiel zwischen den „Inhalte“-Abteilungen (Redaktionen) und den Verlagsabteilungen sowie der Tatsache, dass das Produkt „Zeitschrift“ im Unterschied zum klassischen Markenartikel zu jedem Erscheinungstermin „neu gemacht“ wird. Hieraus ergeben sich kontinuierlich neue und spannende Herausforderungen. Dabei sind die Aktivitäten und Gestaltungsspielräume im Zeitschriftenmanagement einem fortdauernden Wandel unterworfen. 5.1

Perspektiven im operativen Zeitschriftengeschäft

x Der Anstieg der Werbeausgaben für Zeitschriften und die Preispolitik in beiden Märkten (Vertrieb und Anzeigen) zeigen, dass wenig oder nicht gebrauchte absatzpolitische Instrumente wieder entdeckt wurden. x „Einfache Transaktionen“ im Vertriebs- und Anzeigengeschäft werden immer stärker ergänzt und ersetzt durch komplexere Geschäftsmodelle. Dies sind z. B. Kooperationen, die Vertriebs-, Anzeigen-, Marketing-, Herstellungs- und Redaktionsaspekte berücksichtigen oder CrossmediaPakete, die Print-, Online- und Elemente anderer Medienplattformen integrieren. x Nicht selten stehen bei solchen Kooperationen auch Forderungen an die Redaktionen nach themen- und umfeldadäquater oder auftraggebergewogener Berichterstattung im Raum. Alle Beteiligten wissen, dass die Unabhängigkeit der Redaktion der Schlüssel des Erfolges beim Leser als Dreh- und Angelpunkt allen verlegerischen Tuns ist: Der Leser spürt die Absicht und wendet sich ab; der gleiche Auftraggeber, der auftraggebergewogene Berichterstattung wünschte, wird den damit eintretenden Reichweiten- und Auflagenrückgang beklagen und sich ebenfalls abwenden. x Der traditionelle Fokus vieler Zeitschriftenhäuser auf die Inhalteproduktion muss erweitert werden, indem alle Prozesse und Wertschöpfungsstufen zur Absicherung und Weiterentwicklung des Geschäftes auf den Prüfstand gestellt werden:8 - Entsprechen die Vertriebswege und Inhalteplattformen den Verbrauchererwartungen? - Entsprechen die Vermarktungswege zu den Anzeigenkunden den aktuellen und erwarteten B2B-Marketing-Prozessketten? 8

Vgl. Aris u. Bughin (2005), S. 35.

Den Publikumszeitschriftenverlag managen

187

Gibt es Vermögenswerte, die mit den bestehenden Angeboten oder getrennt davon zusätzliches Vermarktungspotenzial bieten, z. B. Kunden- und Abonnentendatenbanken als Rückgrat für Customer Lifetime Management (CLM)? x Insgesamt besteht die Anforderung nach stärkerer Integration und Verknüpfung aller Prozesse im Publikumszeitschriftenverlag. -

5.2

Perspektiven bei Titelneugründungen

x Innovations- und Wachstumsziele stellen das Zeitschriftenmanagement in Zeiten gesättigter Märkte vor besondere Herausforderungen. Fakt ist, dass der Konsument/Leser auch bei dichtest besetzten Märkten neue Angebote verlangt und zugleich nur durch einen kontinuierlichen Innovations- und Veränderungsprozess Vitalität und Dynamik einer Unternehmensorganisation erhalten bleiben. x Große gesellschaftliche Entwicklungen (Megatrends) wie demographische und sozioökonomische Trends (Alter, Haushaltsgröße, Einkommen), technische Entwicklungen (Computer, Elektronik, Multimedia), wachsendes Freizeitangebot etc. fordern bzw. ermöglichen immer neue Zeitschriftenangebote. Bei insgesamt stagnierenden bzw. rückläufigen Märkten führt dies zu einer zunehmenden Fragmentierung/Zersplitterung im Vertriebs- und Anzeigengeschäft. Entsprechend niedrigere Umsatz- und Ergebniserwartungen pro Titel erfordern neue Geschäftsmodelle. x Sowohl bei etablierten als auch bei neuen Titelkonzepten bestehen Chancen, die Marke über die klassische Publikumszeitschrift hinaus in größeren Marken- und Lebenswelten einzusetzen. Risiken und Grenzen bestehen dort, wo zusätzliche mediale oder nichtmediale Produkte und Dienste die von der Publikumszeitschrift geprägten Inhalte- und Qualitätserwartungen nicht erfüllen (können). 5.3

Perspektiven in der Medienentwicklung

x Die rasche Verbreitung des Internets zeigt, dass digitale Medien und besonders das World Wide Web signifikant neuen Nutzen für den Endverbraucher stiften. x Das starke Wachstum der Breitbandtechnologie, die zahlreiche schnelle und komfortable Anwendungen für den Endverbraucher ermöglicht, belegt, dass die „Pause“ nach dem Platzen der ersten Internetblase nur ein Innehalten und kein Rückschlag war.

188

Jürgen Althans

x Alle Angebote in und aus diesem Bereich werden auch – wie Radio und Fernsehen in der Vergangenheit – Wettbewerber um das Medienzeitund Geldbudget der Zeitschriftenleser und um die Kommunikationsund Werbeetats der Anzeigenkunden. x Publikumszeitschriften müssen sich entscheiden, ob sie als Inhaltelieferant, Markengeber, Werbeplattform oder in anderen Stufen der Wertschöpfungskette neuer digitaler Medien und Angebote unternehmerische Chancen zur Absicherung und Weiterentwicklung ihres Geschäftes sehen.

Literaturverzeichnis Althans, J. (1989): Verlagsmarketing. In: Bruhn, M. (Hrsg.): Handbuch des Marketing. Anforderungen an Marketingkonzeptionen aus Wissenschaft und Praxis. München, S. 759–776. Altmeppen, K.-D. (2000): Medienmanagement als Redaktions- und Produktionsmanagement. In: Karmasin, M., Winter C.: Grundlagen des Medienmanagements. München, S. 41–58. Aris, A., Bughin, J. (2005): Managing Media Companies. Chichester. Bremenfeld, E. et al. (2001): Fachwissen Zeitungs- und Zeitschriftenverlage. Leitfaden für Verlagsberufe und Quereinsteiger. 3. Aufl., Düsseldorf. Hensmann, J. (2000): Verlagsmarketing. In: Marketing ZFP, 2. Jg., Nr. 4, S. 239– 249. Karmasin, M., Winter, C. (2000): Grundlagen des Medienmanagements. München. Maseberg, E., Reiter, S., Teichert, W. (Hrsg.) (1996): Führungsaufgaben in Redaktionen. Bd. 1 Materialien zum Redaktionsmanagement in Zeitungs- und Zeitschriftenverlagen. Gütersloh. Mundhenke, R. (1998): Der Verlagskaufmann. Berufsfachkunde für den Kaufmann im Zeitungs-, Zeitschriften- und Buchverlag. 8. Aufl., Frankfurt. Sjurts, I. (2005): Strategien in der Medienbranche. 3. Aufl., Wiesbaden. Sjurts, I. (Hrsg) (2004): Strategische Optionen in der Medienkrise. Schriftenreihe Hamburger Forum Medienökonomie. Bd. 7, München. Stahmer, F. (1995): Ökonomie des Presseverlages. München. Wirtz, B. W. (Hrsg.) (2003): Handbuch Medien- und Multimedia-Management. Wiesbaden. Wolf, M., Wehrli, H. P. (1990): Verlagsmarketing. Zürich.

Herausforderungen für Medienhäuser in crossmedialen Welten

Tung Q. Nguyen-Khac

1

Einleitung

1.1

Der Einfluss von Crossmedia auf den deutschen Medienmarkt

Beginnend mit der Nachkriegszeit bis Mitte der 90er Jahre war die Medienindustrie, insbesondere die Segmente Zeitschriften und Fernsehen, von stetigen Wachstumsraten geprägt. Doch seither zeichnet sich ein tief greifender Strukturwandel in den traditionellen Medienmärkten ab, der eine neue Medienrealität erkennen lässt: Wachstumsgrenzen in den traditionellen Geschäftsfeldern, Wandel der Leserschaft, Preis- und Wettbewerbsdruck, rasante Technologieentwicklung und Kostendruck sowie bislang nicht realisierte Erlöspotenziale. Verstärkt wird der Strukturwandel durch die zunehmende Konvergenz der Medien mit mobiler Telekommunikation sowie internetbasierten Geschäftsmodellen1, die crossmediale Welten zunehmend Wirklichkeit werden lassen. Deutlich wird, dass bestimme Segmente der Medienindustrie in Märkten agieren, für deren langfristige Entwicklung eine Vorhersage kaum möglich ist. Diese Geschäftsfelder der Medien müssen somit als „ungewisse“ 1

Beispielsweise sind Unternehmen wie Google, Ebay, Immobilienscout und mobile.de mit Geschäftsmodellen bereits nennenswert in die Werbemärkte von Zeitschriften- und Zeitungsverlagen eingedrungen.

190

Tung Q. Nguyen-Khac

Märkte eingestuft werden und bedürfen daher einer durchdachten Vorgehensweise, wenn es um die Evaluierung von langfristigen Strategien geht – sowohl bei der Expansion in den Kernmärkten (national wie international), aber auch bei strategischen Fragestellungen der Crossmedia-Herausforderung, weil man bei beiden im Wettbewerb um den Leser und die werbungtreibende Industrie steht. 1.2

Vorgehensweise

Da Crossmedia mittlerweile ein weit gefasster Begriff ist, wird für eine bessere Einordnung in den Kontext dieses Beitrages in Unterabschnitt 1.3 über Definition und Abgrenzung eine begriffliche Grundlage geschaffen. Die Darstellung der neuen Medienrealitäten in Abschnitt 2 dient einerseits dazu, Umfeld und Rahmenbedingungen darzustellen, innerhalb derer deutsche Medienhäuser gegenwärtig agieren, anderseits auch dazu, die grundsätzlichen Formen von externem Wachstum zu erläutern. In Abschnitt 3 werden – als theoretisches Fundament – strategische Herangehensweisen für „ungewisse“ Märkte konzeptionell beschrieben. Abschließend wird in Abschnitt 4 anhand von Beispielen nationaler und internationaler Medienkonzerne dargestellt, in welcher Form Wachstum in ungewissen Märkten stattfinden kann und wie sich diese in crossmedialen Welten verhalten. 1.3

Crossmedia – Definition und Abgrenzung

Crossmedia hat sich mittlerweile als Begriff etabliert, der in vielen Bereichen der Medienindustrie eingesetzt wird, oftmals aber unterschiedlich konnotiert ist. Vor diesem Hintergrund ist es erforderlich, den Begriff in einem ersten Schritt zu definieren. Crossmedia – Definition

Spricht man von Crossmedia im Allgemeinen, so verbindet man in der Regel „zeitnahe Kommunikation über mehrere inhaltlich und gestalterisch verknüpfte mediale und telekommunikative Kanäle, die den Nutzer über die verschiedenen Mediengattungen führt und auf einen Rückkanal bzw. ein Interaktionsangebot verweist“2. Damit ist Crossmedia im Grunde genommen kein neuer Ansatz, denn es hat auch in der Vergangenheit werbungtreibende Unternehmen gegeben, die über mehrere Medienträger verknüpfte Marketingbotschaften an die 2

Wikipedia (16.02.2006), http://de.wikipedia.org/wiki/Cross_Media.

Herausforderungen für Medienhäuser in crossmedialen Welten

191

Konsumenten gerichtet haben.3 Etabliert hat sich dieser vorwiegend in der Werbewirtschaft eingesetzte Begriff seit Ende der 90er Jahre, als die rasante Verbreitung der interaktiven Medien, insbesondere des Internets, einsetzte. Denn mit der sich eröffnenden Möglichkeit, Interaktivität über mehrere Medien hinweg umsetzen zu können, hat die Attraktivität von Crossmedia deutlich zugenommen. Crossmedia – Abgrenzung

Innerhalb der Medienbranche bedient man sich des Begriffes sowohl in oben genanntem Zusammenhang4 als auch bei strategischen Überlegungen, wenn es darum geht, wie man sich innerhalb der verschiedenen Segmente des Medienmarktes behauptet oder mit neuen Geschäftsfeldern und Erlösquellen positionieren kann. Die Publikumszeitschriftenbranche wird von einer hohen Wettbewerbsintensität geprägt, die Ergebnis stetig neuer Titeleinführungen für immer spitzere Zielgruppen, aber auch der Bedrohungen artverwandter Branchen wie Internet und breitbandfähigem Mobilfunk, die zunehmend im Wettstreit um die knappe Ressource Rezipientenaufmerksamkeit stehen, sowie der allgemein schwieriger gewordenen Rahmenbedingungen für die Vermarktung von Anzeigenwerbung ist. Zunehmend rücken medienübergreifende Überlegungen in den Vordergrund – entsprechend hat Crossmedia in der Crossmedia-Strategie eine begriffliche Erweiterung erfahren, indem diese als Begriff für strategische Diversifikation in digitale und interaktive Kommunikations- und Distributionskanäle zu sehen ist.5 In diesem Beitrag wird der Schwerpunkt auf die Fragestellung gelegt, wie deutsche Verlagshäuser in zunehmend crossmedial dominierten Medienwelten agieren bzw. vor welchem Hintergrund sie die mittel- und langfristigen Herausforderungen der Crossmedia-Welt – auch und vor allem durch einen perspektivischen Vergleich mit internationalen Medienunternehmen – betrachten sollten.

3 4

5

Vgl. Wikipedia (16.02.2006), http://de.wikipedia.org/wiki/Cross_Media. Insbesondere im Bereich der Anzeigenvermarktung ist Crossmedia in nahezu allen deutschen Medienhäusern ein wichtiges Thema geworden. Vgl. Sjurts (2002).

192

Tung Q. Nguyen-Khac

Zeitspanne zur Gewinnung von 50 Mio. Nutzern (USA)

TV: 13 Jahre

Kabel-TV: 10 Jahre

Internet: nur 5 Jahre

Radio: 38 Jahre Telefon: 70 Jahre

Abb. 1. Das Internet: in nur fünf Jahren zum Massenmedium6

Schwerpunkt der Betrachtung von Crossmedia-Welten wird insbesondere der Kommunikationskanal Internet sein, der in einem sehr viel kürzeren Zeitraum als alle bislang bekannten Medien zu einem Massenmedium geworden ist (vgl. Abb. 1) und durch den die größten Crossmedia-Einflüsse auf die Medienindustrie und die damit verbundenen Crossmedia-Welten zu erwarten sind.

2

Neue Medienrealitäten und Wachstumswege

2.1

Branchenveränderungen durch neue Medienrealitäten7

Für Publikumszeitschriftenverlage hat sich die Marktentwicklung auf den ersten Blick stabilisiert. Bei genauerer Analyse ist jedoch festzustellen, dass der Publikumszeitschriftenmarkt tatsächlich stagniert, tendenziell sogar unter rückläufigen Wachstumsraten zu leiden hat.8

6 7 8

Quelle: Morgan Stanley Technology Research. Vgl. Simon (2005). Vor allem bei Betrachtung des Anzeigenmarktes wird die Stagnation des deutschen Publikumszeitschriftenmarktes deutlich, da nicht nur bei Einbezug von Rabatten, Inflation und höheren Anzeigenpreisen die allgemeinen Marktdaten relativiert werden müssen; im Vergleich zum Gesamtmarkt hat das Zeitschriftensegment Marktanteile verloren.

Herausforderungen für Medienhäuser in crossmedialen Welten

Werbeausgaben in Deutschland

Marktanteil Zeitschriften

Mrd. €

25

19,8%

23,3%

22,9%

20%

19,0

18,3

20

193

16,5

15,3

15%

15 10% 10

5

4,17

3,52

3,76

3,73

0

5%

0%

1998

1999

2000

2001

Gesamt

2002

2003

2004

2005

Zeitschriften

Abb. 2. Entwicklung Werbeausgaben: sinkende Marktanteile für Zeitschriften9

Nüchtern betrachtet vollzieht sich seit mehreren Jahren ein Umbruch in der Medienlandschaft, durch den sich neue Medienrealitäten herauskristallisieren. Für Verlagshäuser stellen diese eine Herausforderung dar, für die unternehmensspezifische Lösungen entwickelt werden müssen, will man im wettbewerbsintensiven Marktumfeld bestehen. Dabei sind es nicht nur die klassischen betriebswirtschaftlichen Herausforderungen wie das Ausschöpfen unrealisierter Ertragspotenziale und das Finanzierungs- und Kostenmanagement – es gibt zudem eine Reihe von exogenen Faktoren, die die Branchenentwicklung in einem deutlich stärkeren Maße als bisher beeinflussen werden. Begrenztes Wachstum aufgrund hoher Wettbewerbsintensität und gesättigter Märkte

Im heimischen Markt – der weltweit zu den wettbewerbsintensivsten zählt – können Publikumszeitschriftenverlage nur noch begrenzt wachsen. In Segmenten wie beispielsweise den Programm- oder Frauenzeitschriften herrscht harter Verdrängungs- und Preiswettbewerb, in dem jede weitere Titeleinführung oder Änderung des Zeitschriftenformates vor allem einen

9

Quelle: Nielsen Media Research. Werbeausgaben basierend auf offiziellen Preislisten, inkl. aller Werbeformen, G + J-Media-Daten.

194

Tung Q. Nguyen-Khac

Substitutionseffekt hat. Zwar gibt es neue Zeitschriftensegmente, die den Markt erweitern können, jedoch handelt es sich dabei um Ausnahmen.10 Veränderung der Werbemärkte

Beeinflusst durch die schlechten wirtschaftlichen Rahmenbedingungen zu Beginn des 21. Jahrhunderts, die zunächst zu einer allgemeinen Werbezurückhaltung und einer stärkeren Erfolgskontrolle bei den eingesetzten Maßnahmen führten, hat sich auch das Ausgabeverhalten vieler Werbungtreibender verändert. Im Kampf um die Aufmerksamkeit des Werberezepienten ist verstärkt Nachfrage nach Sonderwerbeformen sowie neuen und innovativen Werbeformaten entstanden, auf die die traditionellen Medienhäuser bislang nur begrenzt reagiert haben. Werbungtreibende und Media-Agenturen gehen zudem bei ihren Ausgaben zunehmend taktischer vor, d. h. Media-Buchungen erfolgen vermehrt eher kurzfristig als langfristig, was für die Werbeträger zu einer größeren Planungsunsicherheit ihrer Werbeeinnahmen führt. Verstärkt wird dieser Effekt durch die Bündelung von Media-Budgets, die zu einer höheren Einkaufsmacht der großen Media-Agenturen geführt hat und vermutlich zu intensiveren Preisverhandlungen mit den Anzeigenabteilungen der Verlagshäuser führt. Auch ist Marketing ohne Controlling mittlerweile undenkbar – dies liegt sicherlich auch am Internet, da durch dieses Medium bzw. diese Technologie der Erfolg von Marketingaktivitäten einfacher und genauer messbar ist. Wandel der Leserschaft

Der Wandel der Leserschaft wird von zwei wesentlichen Faktoren dominiert: einerseits von den Veränderungen in der Altersstruktur der deutschen Bevölkerung, einer zunehmend älteren Leserschaft also, und andererseits von Veränderungen in der Mediennutzung. Im intramedialen Vergleich wird deutlich, dass sich die Mediennutzung in den vergangenen Jahren verändert hat: Die Internetnutzung hat deutlich zugenommen, was eine Veränderung von Lese- und Rezeptionsgewohnheiten der Medienkonsumenten insgesamt zur Folge hat. Verstärkt wird diese Entwicklung durch neue Formen des Inhalte- und Informationskonsums wie z. B. Blogging, Web 2.0 oder Voice-over-IP 10

Mit der Einführung von Men’s Health, dem Relaunch der Männer-Vogue zu GQ sowie dem Launch weiterer auf Männer ausgerichteter Lifestyle-Titel wie Maxim, FHM oder Matador wurde ein neues Zeitschriftensegment geschaffen. Ebenso im Bereich von Avantgarde-Zeitschriften, wo Titel wie Quest, Zoo und Sleek ein bislang nicht existentes Zeitschriftensegment etabliert haben.

Herausforderungen für Medienhäuser in crossmedialen Welten

195

(VoIP), durch die sich Kommunikationskulturen verbreiten, die es vor zehn Jahren noch nicht gegeben hat. Das Internet: das Medium mit der am stärksten wachsenden Nutzungszeit

– Brutto-Mediennutzung pro Tag in Minuten – Gesamt: 402 9 15 24

49 15 22

Gesamt: 337 Internet: plus 40 Minuten

143

160

156

146

1999 Internet

Publikumszeitschrift

2003 Zeitung

Radio

Fernsehen

Abb. 3. Vergleich der Mediennutzung 1999 und 200311

Technologischer Wandel

In den innerbetrieblichen Prozess- und Produktionsabläufen von Medienunternehmen haben die höhere Leistungsfähigkeit von Hard- und Software bei gleichzeitig fallenden Preisen, der Fortschritt in der technischen Infrastruktur, die Digitalisierung und die neuen Möglichkeiten der Kommunikation die Realisierung beeindruckender Effizienzverbesserungen ermöglicht. Mit Blick auf die Konsumenten führt neben dem Wandel der Leserschaft gleichzeitig auch der technologische Wandel zu tief greifenden Veränderungen in der Mediennutzung, die für die Verlage und ihre Geschäftsmodelle bedeutsam sind. Denn um die Aufmerksamkeit der Rezipienten streiten diverse Anbieter: Anbieter von Unterhaltungselektronik, die mit dem Digital Home12 um das Wohnzimmer kämpfen, Anbieter von Telekommunikations- und Internetzugangsdienstleistungen, die mit

11 12

„Timebudget 8“, Sevenone Media. Digital Home vereint Funktionen von Fernsehen, Stereoanlage und PC auf ein Gerät.

196

Tung Q. Nguyen-Khac

Triple Play13 um das Medienbudget der Konsumenten kämpfen oder Anbieter von digitalen Spielen beispielsweise. 2.2

Wachstum durch Diversifikation

Vor dem Hintergrund der neuen Medienrealitäten stellen sich für Medienhäuser die Fragen, in welchen Märkten sie agieren sollten und wie eine zukünftige Entwicklung des Umfeldes zu beurteilen ist sowie – darauf basierend – wie Empfehlungen für eine strategische Vorgehensweise aussehen könnten. Erkannt wurde von den großen Verlagshäusern, dass im Bereich Crossmedia, also der inhaltlichen Verknüpfung über mehrere Medien, Wachstumspotenzial liegt. Davon ausgehend, dass die traditionellen Print-Märkte nur begrenzt wachsen werden und damit weiteres organisches Wachstum nur eingeschränkt möglich ist, ist externes Wachstum in Richtung crossmedialer Welten durch die verschiedenen Formen der Diversifikation eine Option. Folgende Formen der Diversifikation sind zu unterscheiden: x Horizontale Diversifikation entsteht, wenn der Zusammenschluss oder die Zusammenarbeit auf der gleichen Produktionsstufe eines Wirtschaftszweiges erfolgt. Hier kann als Beispiel die in 2005 erfolgte Übernahme der Verlagsgruppe Milchstrasse durch Hubert Burda Media oder die finale Übernahme der Motor Presse durch Gruner + Jahr genannt werden. x Vertikale Diversifikation entsteht durch Zusammenschlüsse oder Zusammenarbeit auf vor- oder nachgelagerten Wertschöpfungsketten wie beispielsweise bei der Akquisition von Plaza Media und DSF durch EMTV.14 x Diagonale oder laterale Diversifikation entsteht, wenn der Zusammenschluss oder die Zusammenarbeit in Bereichen erfolgt, die sachlich nicht miteinander verknüpft sind.15 Beispiel ist die Beteiligung eines Verlagshauses an einem privaten Fernsehsender.16

13

14

15 16

Bei Triple Play handelt es sich um eine Bündelung von Telefonie, Internet und Fernsehen. EMTV betreibt den Spartenkanal DSF; Plaza Media ist eine auf Sportproduktion und -übertragungen spezialisierte Produktionsgesellschaft. Beyer u. Carl (2004), S. 89. Z. B. die Beteiligung von Axel Springer an ProSiebenSat1, wobei bei einer „weiter“ gefassten Definition des Medienmarktes, diese auch als horizontale Diversifikation verstanden werden kann.

Herausforderungen für Medienhäuser in crossmedialen Welten

197

Im Rahmen der neuen Medienrealitäten findet die Entwicklung von Strategien in so genannten „ungewissen Märkten“ statt. Wie man innerhalb dieser vorgehen kann, beschreibt ein Modellansatz, den Hugh G. Courtney und seine McKinsey-Kollegen entwickelt haben.

3

Strategien in ungewissen Märkten17

Im Vergleich zu traditionellen Strategieentwicklungsansätzen, die eine präzise Vorhersage der marktbestimmenden Variablen erfordern, kann eine Überschätzung ihrer Eintrittswahrscheinlichkeiten die Wirkungsweise getroffener Entscheidungen gefährlich umdrehen. Präzise, auf Marktanalysen und -vorhersagen beruhende Prognosen zukünftiger Cashflows bei bestimmten Entscheidungen sind nutzlos bzw. auf gefährliche Weise irreführend, wenn die Marktentwicklung unsicher ist.

Vier Unsicherheitsgrade… 1 2 3 Clear Future

Alternative Futures

Range of Futures

True Ambiguity

... und drei mögliche Strategiealternativen

Shaping

Adapting

Reserving the Right to Play

Abb. 4. Strategien in ungewissen Märkten18

In den als „ungewiss“ geltenden Medienmärkten kann Courtneys Analysemodell angewandt werden, anhand dessen der Unsicherheitsgrad eines 17 18

Courtney, Kirkland u. Viguerie (2000). In Anlehnung an McKinsey Quarterly.

198

Tung Q. Nguyen-Khac

Marktes eingestuft und die sich daraus ergebenden Strategiealternativen und -maßnahmen abgeleitet werden können. 3.1

Unsicherheitsgrade

Clear Future

Eine „Clear Future“ kann angenommen werden, wenn mit Hilfe von Marktforschung, Wettbewerbsanalysen, Wertschöpfungskettenanalysen sowie klassischen Modellen wie Porters „Five Forces“ eine hinreichend sichere Vorhersage über die Marktentwicklung erfolgen kann. Unter diesen Umständen kann die Discounted Cashflow-Methode verwendet werden, um Resultate verschiedener Strategiealternativen auf Basis der „Clear Future“-Annahme zu bewerten und daraufhin Entscheidungen zu treffen. Alternative Futures

Stufe zwei der möglichen Unsicherheitsgrade eines Marktes wird im theoretischen Modell als „Alternative Futures“ bezeichnet. Der Name drückt bereits aus, dass in diesem Fall eine Anzahl von Entwicklungsszenarien betrachtet werden muss, die jeweils mit bestimmten Eintrittswahrscheinlichkeiten behaftet sind. Das Ermitteln dieser Eintrittswahrscheinlichkeiten ist schwierig, aber unerlässlich, um die Chancen und Risiken alternativer Strategien zu messen und zu bewerten. In der Praxis finden sich beispielsweise Anbieter auf oligopolistischen Märkten oft in einer „Alternative Futures“-Situation, weil in diesen Märkten das Aufgehen der eigenen Strategie in großem Maße von den zukünftigen Entscheidungen der Wettbewerber abhängt. Range of Futures

Eine Spanne verschiedener Zukunftsszenarien, die so genannte „Range of Futures“, bestimmt Stufe drei der möglichen Unsicherheitsgrade. Eine begrenzte Anzahl bekannter Variablen gibt die Spannweite der Szenarien vor; die tatsächliche Entwicklung kann sich innerhalb dieses Korridors bewegen. Das Bestreben sollte folglich sein, den Markt genau zu beobachten und zu analysieren, um die Schlüsselindikatoren, die die Entwicklung des Marktes in die eine oder andere Richtung bestimmen werden, frühzeitig zu erkennen. Eine derartige Marktunsicherheit findet sich beispielsweise in technologisch dominierten Märkten, in denen Unternehmen Kosten

Herausforderungen für Medienhäuser in crossmedialen Welten

199

und Ergiebigkeit ihrer Innovationstätigkeit, von denen letztendlich ihre Profitabilität abhängt, nur schwer vorhersagen können. True Ambiguity

In einem Markt, in dem weder verschiedene Szenarien definiert, noch eine Spanne möglicher Entwicklungen eingegrenzt werden können, herrscht Stufe vier der möglichen Unsicherheitsgrade: „True Ambiguity“. In einem solchen Markt können Unternehmen noch nicht einmal die Variablen bestimmen, welche die Entwicklung des Marktes beeinflussen werden. Vor eine derartige Situation fanden sich Investoren gestellt, die nach dem Zusammenbruch der UdSSR in den russischen Telekommunikationsmarkt investieren wollten, jedoch für diesen unentwickelten Markt weder Informationen über die potenzielle Nachfrage oder die vorhandene Infrastruktur noch über die zukünftigen Regulierungsentscheidungen der russischen Behörden hatten. Möglichkeiten für Unternehmen, in einem solchen Markt dennoch eine Strategie zu entwickeln, liegen in der Analyse vergleichbarer Märkte und der Erfolge oder Misserfolge der Strategien ihrer Teilnehmer. Entwicklungsunsicherheit im zeitlichen Verlauf

Die Entwicklungsunsicherheit eines Marktes kann sich im Laufe der Zeit verschieben. So werden z. B. die Teilnehmer auf dem Telekommunikationsmarkt, der zur Zeit noch auf Stufe drei einzuordnen ist, seit Einführung der UMTS-Technologie und der auf ihr basierenden Produkte und Services deren Performance sowie die Nachfrage besser beurteilen und für die Zukunft prognostizieren können. Entsprechend wird sich die Anzahl der Entwicklungsszenarien reduzieren, so dass die Entscheidung für eine langfristige Strategie vereinfacht wird. 3.2

Strategiealternativen

Diesen vier Unsicherheitsgraden stehen drei Strategiealternativen gegenüber: „Shaping“, „Adapting“ und „Reserving the Right to Play“. Shaping

In der Shaping-Strategie übernimmt das Unternehmen eine Führungsrolle im Markt und versucht, die Entwicklung des Marktes aktiv zu beeinflussen. Diese Beeinflussung kann beispielsweise in dem Anspruch bestehen, die Marktführerschaft einnehmen und bestimmte Standards etablieren zu wollen, denen sich alle anderen Marktteilnehmer unterwerfen müssen.

200

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Adapting

Im Gegensatz zum Shaping liegen die Ziele der Adapting-Strategie nicht in dem Anspruch, den Markt zu dominieren. Es geht vielmehr darum, flexibel zu agieren und sich an die Marktentwicklung (die als nicht beeinflussbar angesehen wird) anzupassen. So können die sich aus der Marktentwicklung ergebenden Chancen unter Fokussierung auf die eigenen Kernkompetenzen effektiv genutzt werden. Reserving the Right to Play

Die Reserving the Right to Play-Strategie ist nur bei Marktunsicherheit (Unsicherheitsgrade zwei bis vier) relevant. Sie ist eine Variante der Adapting-Strategie und dadurch gekennzeichnet, dass frühzeitige Investitionen erforderlich sind, die sicherstellen sollen, dass das Unternehmen den Anschluss im Markt nicht verpasst und sich gleichzeitig in die Position begibt, mit der Entscheidungsfindung warten zu können, bis sich die Unsicherheit reduziert hat und eine adäquate Strategie formuliert werden kann. 3.3

Strategiemaßnahmen19

Die dargestellten Strategiealternativen stellen Ansätze, jedoch noch keine vollständigen Strategien dar und müssen daher um die zu ihrer Erfüllung notwendigen Entscheidungen und Maßnahmen ergänzt werden. Aus dem Portfolio möglicher Maßnahmen haben Courtney und seine Kollegen drei relevante Maßnahmentypen identifiziert, die unter unsicheren Marktkonditionen angewandt werden können. Big Bets

Die so genannten „Big Bets“ beruhen auf Entscheidungen, die hohe Investitionen bzw. eine hohe Fokussierung und dadurch bei Erfolg eine hohe Rendite, bei einem Fehlschlag jedoch gleichermaßen hohe Verluste mit sich bringen können. Demzufolge werden derartige Maßnahmen vor allem im Rahmen einer Shaping-Strategie angewandt. Options

Bei weniger Risikobereitschaft stellen Maßnahmen mit „Options“Charakter eine mögliche Alternative dar. Sie sind dadurch charakterisiert, 19

Courtney (2001).

Herausforderungen für Medienhäuser in crossmedialen Welten

201

dass sie einerseits die Renditen bei Eintritt der „Best Case“-Szenarien maximieren und andererseits die Verluste bei Eintritt der „Worst Case“Szenarien minimieren sollen. No Regrets

Um jegliches Verlustrisiko auszuschließen, dürfen nur „No Regrets“-Entscheidungen getroffen werden, die in allen ermittelten Szenarien eine Rendite erwirtschaften und Verluste somit gänzlich ausschließen.

4

4.1

Entwicklungsmöglichkeiten und internationale Vergleiche

Entwicklungserwartungen für den deutschen Medienmarkt

Ausgehend von Courtneys Theorie der Strategien in ungewissen Märkten, stellt sich für deutsche Medienhäuser die Frage, mit welchem Unsicherheitsgrad – unter Einbezug der neuen Technologien – die zukünftige Entwicklung des deutschen Publikumszeitschriftenmarktes behaftet ist. Auf Basis der in Abschnitt 2 ausgeführten Markteinschätzungen kann man den Markt auf der Schwelle in eine Zukunft sehen, in der eine Spanne von Entwicklungsszenarien möglich ist. Die Unsicherheit könnte daher auf Stufe drei eingeordnet werden, weil der Markt eine „Range of Futures“ mit sich bringt. Hintergrund dieser Unsicherheit über die zukünftige Entwicklung ist die noch unbeantwortete Frage, in welche Richtung sich die technologisch beeinflussten Märkte und vor allem die Nachfrage der Konsumenten bewegen. Auf einem Markt, der von der Existenz mehrerer Entwicklungsszenarien gekennzeichnet ist, sollte entsprechend der Theorie Courtneys eine Strategie gewählt werden, die eine flexible und agile Anpassung an den Markt ermöglicht. Dabei ist es wichtig, Unternehmensidentitäten zu bewahren und auf Basis von gelernten Kernkompetenzen vorzugehen. Für Medienunternehmen wäre somit ein Shaping-Ansatz, der über die Kernmärkte hinaus geht, mit zu großen Risiken verbunden. Beispielsweise wäre es wenig sinnvoll, wenn ein Zeitschriftenverlag sich gänzlich von seinem Print-Geschäft trennt, um in den Internetzugangsmarkt vorzustoßen. Denkbar wäre aber eine Adapting-Strategie, in der der Zeitschriftenverlag die Schnittmengen von Kernmärkten mit benachbarten Märkten

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nutzt, also beispielsweise eine Zusammenarbeit mit einem Anbieter von Internetzugängen, bei der Zugang und Inhalte gebündelt werden, um den Konsumenten zu binden.20 Eine weitere Möglichkeit im Sinne der „Options“ kann für einen Zeitschriftenverlag darin bestehen, vorhandene Stärken als Grundlage für innovative Angebote in neuen Medien zu nutzen, beispielsweise aufbauend auf dem Zugang zu attraktiven Zielgruppen und der Kompetenz, hochwertige journalistische Inhalte zu erstellen, entsprechende onlinebasierte Communities zu schaffen. 4.2

Aktuelle Entwicklungen im Vergleich

Im von oligopolistischen Strukturen geprägten deutschen Publikumszeitschriftengeschäft sind die Wachstumsstrategien der Großverlage jüngst von horizontaler Diversifikation in den Kernmärkten geprägt gewesen: Die Übernahme der Verlagsgruppe Milchstrasse durch Hubert Burda Media und die Übernahme einer Mehrheitsbeteiligung an der Motor Presse durch Gruner + Jahr haben zu höherer Konzentration geführt. Marktanteile deutscher Publikumszeitschriftenverlage 1998

G+J Burda 1,3 Springer Bauer

2005

3,2 2,8

3,1 17,9

4,6

5,6

9,8 7,7

Vereinigte Motorpresse CNV Jahreszeiten GWP

20,6

6,0

Spiegel Milchstrasse

2,7 1,9

13,0 8,9

14,3

18,6

13,1 G+J inkl. Vereinigte Motorpresse Burda inkl. Milchstrasse

Abb. 5. Marktanteile deutscher Publikumszeitschriftenverlage im Vergleich21

20

21

Die Kooperation zwischen T-Online und Bunte kann hier als Beispiel angeführt werden. Quelle: Nielsen Media Research. Werbeausgaben basierend auf offiziellen Preislisten, inkl. aller Werbeformen, G + J-Media-Daten.

Herausforderungen für Medienhäuser in crossmedialen Welten

203

Crossmedial arbeiten die Verlage an der inhaltlichen Verknüpfung von Print und Online sowie an neuen Konzepten; im Vergleich zu internationalen Medienunternehmen bewegen sich die deutschen Unternehmen jedoch bevorzugt auf bekanntem Terrain. Eine Ausnahme stellt Axel Springer dar, dessen Versuch, die ProSiebenSat1-Gruppe im Zuge einer diagonalen Diversifikation zu übernehmen, scheiterte, weil das Bundeskartellamt diesen Zusammenschluss in der beantragten Konstellation nur unter hohen Auflagen bewilligen wollte. Anders hingegen die jüngste Entwicklung auf internationaler Ebene, wo technologiebasierte Konvergenz und Crossmedia eine deutlich größere Bedeutung einnehmen. So haben im Jahre 2005 MTV Networks die Computerspieleplattform neopets.com für geschätzte 160 Mio. US-Dollar, Rupert Murdochs News Corp. das erst zwei Jahre alte Community-Portal myspace.com für stolze 580 Mio. US-Dollar und NBC Universal das Frauen-Community-Portal ivillage.com für 600 Mio. US-Dollar übernommen. Auch Unternehmen, die erfolgreiche Internet-Geschäftsmodelle betreiben, versuchen, neue Wachstumspfade einzuschlagen bzw. ihre eigenen Kernmärkte abzusichern – beispielsweise das Internetauktionshaus Ebay im September 2005 mit dem Kauf des VoIP-Anbieters Skype für ein geschätztes Gesamttransaktionsvolumen von rund 2,6 Mrd. US-Dollar sowie bereits Anfang 2004 mit der Übernahme der deutschen OnlineAutomobilbörse mobile.de für ein Transaktionsvolumen von rund 121 Mio. Euro. Die im Rahmen diagonaler Diversifikation von US-Unternehmen durchgeführten Übernahmen zeigen, dass sich die US-amerikanischen Medienkonzerne darauf einstellen, dass die durch das Internet beeinflussten Umwälzungen der Medienlandschaft weiter fortschreiten werden. Das wohl beeindruckendste Beispiel der jüngsten Vergangenheit ist das Suchmaschinenunternehmen Google, das im Jahre 2005 mit etwa 6.000 Mitarbeitern mehr als 2 Mrd. US-Dollar Gewinn vor Zinsen und Steuern (EBIT) erzielt hat, während Time Warner, der derzeit weltweit größte traditionelle Medienkonzern, für 4,5 Mrd. US-Dollar EBIT 85.000 Mitarbeiter eingesetzt hat. Dabei existiert Google erst seit acht Jahren – und ist ein prominentes Beispiel dafür, wie Unternehmen, die mit digitalen Geschäftsmodellen operieren, Wachstumstempo und Veränderungen in der Medienlandschaft vorantreiben.22 Deutsche Medienhäuser sind im internationalen Vergleich noch weit davon entfernt, in den crossmedialen Welten eine ähnliche Rolle einzunehmen.

22

Vgl. Hamann (2006).

204

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Abb. 6. Medienkonzerne im Vergleich: Unternehmensgröße und Internetaktivitäten23

5

Abschlussbetrachtung

In der Vergangenheit wurden Crossmedia-Themen stark von traditionellen Medienkonzernen wie Bertelsmann/Gruner + Jahr, Axel Springer oder Hubert Burda Media vorangetrieben. Während früher als CrossmediaKanäle Fernsehen und Hörfunk in Verbindung mit Print (und umgekehrt) im Mittelpunkt standen, ist heute vor allem das Internet hinzugekommen. Aus historischer Perspektive ist damit Crossmedia aus dem traditionellen Mediengeschäft heraus entstanden, das auch zu Beginn des digitalen Zeitalters die ersten Impulse für Crossmedia-Ansätze zwischen beispielsweise Print und Online oder Fernsehen und Online geliefert hat. Beispiele wie Google, Ebay und Yahoo zeigen jedoch, dass Crossmedia-Welten nicht nur von traditionellen Konzernen bewegt werden. Zumindest im angelsächsischen Raum kommen wegweisende Impulse aus der digitalen Welt24 – und es kann gut sein, dass Crossmedia in Zu23 24

Quelle: Die Zeit, Nr. 12 vom 16.03.2006, S. 22. So hat Google Ende 2005 – angelehnt an sein bekanntes Anzeigenmodell – einen ersten Vorstoß begonnen, Anzeigen in Special Interest-Magazinen zu

Herausforderungen für Medienhäuser in crossmedialen Welten

205

kunft aus diesem Bereich den Takt vorgegeben bekommt. Dass das Internet nicht nur Veränderungen in Kommunikation und Distribution herbeiführt, haben zahlreiche wissenschaftliche Untersuchungen belegt, ebenso, dass sich daraus neue Lebenswelten entwickeln, auf die innerhalb der Medienökonomie neue Rezepturen geschrieben werden sollten. Dessen werden sich Unternehmen wie NBC Universal, News Corp. und Viacom bewusst – und verstärken entsprechend ihre Internetinvestments, insbesondere in Web 2.0-Geschäftsmodelle mit User-generated Content und Social Networks. Solche Entscheidungen überraschen mitunter, beispielsweise im Fall Rupert Murdochs, der als „Medienmogul“ klassischer Prägung anzusehen ist. Auch diese scheinen jedoch zunehmend zu erkennen, dass eine Umwälzung der Medienlandschaft eingesetzt hat, der sich auch die traditionellen Medienkonzerne intelligent und mit der Bereitschaft zu investieren stellen müssen. Nach Murdochs Einschätzung gibt es zwei wesentliche Einflüsse:25 1. Neue Technologien revolutionieren die Verbreitung von Informationen. Zeitschriften und Zeitungen werden weiterhin Bestand haben, aber zur zentralen Plattform entwickelt sich das Internet. 2. Die Medienmacht verlagert sich weg von denen, die die Medien besitzen und managen, hin zu einer neuen, anspruchsvollen Generation von Konsumenten. Konsumenten, die besser ausgebildet sind, sich nicht lenken lassen wollen und wissen, dass sie in einer vom Wettbewerb bestimmten Welt kriegen können, was immer sie wollen – und zwar wann immer sie es wollen. Wurde der Kauf von myspace durch News Corp. anfänglich von vielen kritisch gesehen, so hat sich dies spätestens im Sommer 2006, als der Abschluss einer Werbekooperation zwischen Google und myspace öffentlich wurde, in Bewunderung und Respekt gewandelt: Google ist die Zusammenarbeit über einen Zeitraum von drei Jahren – vorgesehen ist die Einbindung von Googles AdSense-Programm bei myspace – rund 900 Mio. US-Dollar wert. Aber auch die „noch“ unabhängigen Unternehmen, beispielsweise die Videoplattform youtube.com oder das Studenten-Social Network facebook.com, stehen im Mittelpunkt des Interesses von zahlreichen Medienunternehmen wie News Corp., Viacom oder Time Warner und New Economy-Unternehmen wie Yahoo oder Google. Auch in

25

vermarkten und auch einen Vermarkter von Radiowerbung übernommen. Darüber hinaus plant Google, sein Anzeigengeschäft zukünftig auch auf Handys und andere Mobilfunkgeräte auszubauen. Zusammengefasst aus einer Rede, die Rupert Murdoch am 13. März 2006 in der Londoner Stationers’ Hall gehalten hat.

206

Tung Q. Nguyen-Khac

Deutschland erfahren Crossmedia-Geschäftsmodelle mit Internetbezug zunehmend Interesse. Stärker als die Verlagshäuser wagen sich vor allem die privaten Fernsehsendergruppen in diesen Bereich vor. So hat sich die ProSiebenSat1-Gruppe im Sommer 2006 an der erst im Frühjahr 2006 gestarteten Online-Videoplattform myvideo.de beteiligt, während die RTLGruppe mit einem eigenen Angebot in dieses Segment vorstößt. Ein weiterer wichtiger Trend ist, dass sich zunehmend auch „branchenfremde“ Anbieter in einem dadurch immer komplexeren Medienmarkt engagieren: Apple beispielsweise – einstmals ein reiner Computerhersteller – hat sich über den Eintritt in den Unterhaltungselektronikmarkt auch dem Vertrieb digitaler Musikinhalte, der Inhalteseite also, zugewendet. Deutsche Verlagshäuser wie Hubert Burda Media, Holtzbrinck, Axel Springer und Gruner + Jahr haben zwar schon frühzeitig in digitale Geschäftsmodelle investiert, versuchen sich auch weiterhin am Spagat, ihr traditionelles Verlagsgeschäft mit den neuen Medien zu einem intelligentem Crossmedia-Geschäft zu verknüpfen – von den US-amerikanischen Dimensionen sind sie allerdings noch weit entfernt. Aufgrund des Auf- und Niederganges der New Economy war die seither betriebene Fokussierung auf die Kerngeschäfte sinnvoll und ökonomisch richtig. Die jüngsten Entwicklungen zeigen, dass neue Erkenntnisse und Erfahrungen aus dem angelsächsischen Raum mittlerweile Eingang in die Strategien deutscher Verlagshäuser finden: Sowohl Gruner + Jahr als auch Burda haben begonnen, für bestimmte Zielgruppen Community-Ansätze umzusetzen, die auch im Mittelpunkt neuartiger Angebote für Werbungtreibende stehen sollen. Das Bewusstsein, dass die Zielgruppen von morgen mit anderen Medienprodukten und -inhalten als den derzeit bestehenden angesprochen werden müssen, ist vorhanden. Der Druck, mit angepassten oder neuen Rezepturen auf Veränderungen bei Zielgruppen, in Medienkonsum und -nutzung zu reagieren, wächst. Ob allerdings diese Initiativen und die genannten Beispiele aus dem angelsächsischen Raum, die sicher wichtige Impulse geben können, umfassend das Maß aller Dinge sind, muss sich erst noch zeigen – denn schon einmal hieß es: „Old economy strikes back.“ Aber es sieht derzeit wohl so aus, als ob das Revival der New Economy sich als deutlich nachhaltiger erweisen könnte als ihr extremer Höhenflug und Absturz zu Beginn des Jahrtausends.

Herausforderungen für Medienhäuser in crossmedialen Welten

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Literaturverzeichnis Beyer, A., Carl, P. (2004): Einführung in die Medienökonomie. UVK, Konstanz. Boldt, L. (2006): Kleine Welt. In: ManagerMagazin 3/2006, Hamburg, S. 55–61. Courtney, H. (2001): Making the most of uncertainty. The McKinsey Quarterly. New York. Courtney, H., Kirkland, J., Viguerie, P. (2000): Strategy under Uncertainty. The McKinsey Quarterly. New York. Hamann, G. (2006): Die Eingeborenen des Internet. In: Die Zeit, Nr. 12, Hamburg, S. 21–22. Nguyen-Khac, T. (2003): Geschäftsstrategien in unsicheren Märkten. In: Kruse, J. (Hrsg.): MultiMedia Mobil. Verlag Reinhard Fischer, München, S. 55–69. Nguyen-Khac, T. (2003): The music industry in an evolutionary change: How new technologies can turn an industry upside down. Discussion paper published for the ITS Conference, Helsinki. Patalong, F. (2006): Aus Zeitung wird News-Seite. In: Spiegel Online, 14. März 2006. Patalong, F. (2006): NBC Universal zahlt 600 Millionen für ivillage. In: Spiegel Online, 6. März 2006. Simon, H. (2005): Marketing- und Finanzierungsmodelle der Medien in der Zukunft. Vortrag auf dem 17. medienforum.nrw. 2005. Sjurts, I. (2002): Cross-Media Strategien in der deutschen Medienbranche, S. 7–17. In: Müller-Kalthoff, B. (Hrsg.): Cross-Media Management, Springer, Berlin.

Medieninnovationen – Herausforderungen und Chancen für die Publikumszeitschrift

Matthias Kempf, Thilo von Pape und Thorsten Quandt

1

Medienevolution – veränderte Marktbedingungen für die Publikumszeitschrift

Beim Lesen der ARD/ZDF-Online-Studie 2005 müssten bei den Zeitschriftenverlagen eigentlich die Alarmglocken schrillen. Im Rahmen der umfangreichen Befragungsstudie wurden u. a. qualitative Interviews mit Internetnutzern durchgeführt, und die so erhobenen Aussagen deuten eine für die Verlage bedenkliche Entwicklung an: Die Nutzer scheinen sich von der klassischen Zeitschrift abzuwenden und zunehmend alternative Angebote im Netz zu nutzen. Interviewte äußerten sich beispielsweise wie folgt: „Früher war es eine Zeitschrift, die man sich gekauft hat, heute geht man ins Internet.“1 Und: „Ich schau immer noch die Nachrichten im TV, aber lese weniger Zeitschriften.“2 Diese Aussagen – zusammen mit Ergebnissen der ebenfalls im Rahmen der Studie durchgeführten Repräsentativbefragung – lassen die beteiligten Forscherinnen zu dem Schluss kommen, dass eine Veränderung der Mediennutzung festzustellen ist: „Durch die Möglichkeit, das Nachrichtenangebot individuell zuzuschneiden und gezielt Nachrichten abzurufen, ist der Umgang mit Nachrichten durch das Web beeinflusst worden. Irrelevante Nachrichten können leicht ausgeblendet werden. Verlierer sind [...], insbesondere bei [der Gruppe der] routinierten Infonutzer [...], die Offlineausgaben der Printmedien. Denn das vielfältige 1 2

van Eimeren u. Frees (2005), S. 369. Ebenda.

210

Matthias Kempf, Thilo von Pape und Thorsten Quandt

Onlineangebot ist im Vergleich zur Printausgabe oftmals zielgerichteter und darüber hinaus zumindest teilweise noch kostenlos zu konsumieren.“3 Freilich gibt man sich bei den Verlagen gelassen – die Konkurrenz aus dem Internet wird zur Zeit wohl weniger gefürchtet als die allgemein schwierige wirtschaftliche Lage. Es gibt mehrere Gründe für das Ausbleiben größerer Panik bei den Beteiligten: x Zunächst geht es den Zeitschriften in Deutschland noch verhältnismäßig gut, auch wenn es zu Einbußen bei den Werbeeinnahmen kam. So mussten die Publikumszeitschriften einen Rückgang von netto 1.869 Mio. im Jahre 1998 auf 1.839 Mio. Euro Umsatz im Jahre 2005 hinnehmen – dies entspricht knapp 1,6 Prozent. Allerdings waren die Zeitungen im selben Zeitraum Opfer eines wesentlich stärkeren Schwundes, nämlich von 5.868 auf 4.501 Mio. Euro, also erschreckende 23 Prozent (alle Angaben nach ZAW). Hier wirken sich die schwierige wirtschaftliche Lage und allgemeine Bevölkerungsentwicklungen, beispielsweise die geringe Abonnentenzahl unter den Jüngeren, deutlicher aus als bei den Publikumszeitschriften, die zu einem Gutteil nicht auf Abonnements beruhen, sondern stärker ein Mitnahme-Medium sind – laut IVW (Angaben für das 4. Quartal 2005) werden nur 45 Prozent im Abonnement vertrieben, während der Rest sich aus Einzelhandelsverkäufen (40 Prozent), Lesezirkel-Exemplaren (4 Prozent) und sonstigen Verkäufen (11 Prozent) zusammensetzt. x Die Gelassenheit gerade der großen Verlage speist sich zudem aus einer insgesamt noch akzeptablen wirtschaftlichen Situation, denn grosso modo stehen diese „konsolidierte[n] Großkonzerne“4 durch Produktdifferenzierung, Verschlankung der Produktion und vielfache Umbaumaßnahmen auf einer stabilen wirtschaftlichen Grundlage. Auch in den Online-Bereich investiert man wieder, und man sieht sich für die Internet-Zeit gewappnet.5 x Zu guter Letzt fühlt man sich auch durch diverse Studien abgesichert: Immer wieder wird durch Befragungen zur Mediennutzung die Vermutung bestätigt, dass es noch keine nennenswerte Mediensubstitution gebe – und dies wohl auch weiterhin so bleibe. Auch in der bereits erwähnten ARD/ZDF-Online-Studie findet man Belege für diese Annahme, zumindest wenn man sich auf den quantitativen Teil der Auswertung stützt: „Die [...] Zuwendungshäufigkeiten sind in den letzten Jahren relativ konstant geblieben. Das Internet wird in den Medien3 4 5

Ebenda. Vogel (2004), S. 322. Vgl. VDZ (2005).

Medieninnovationen – Herausforderungen und Chancen

211

alltag integriert, ohne dass andere Medien verdrängt werden.“6 Ähnliches ist auch der neunten Welle der Studie Massenkommunikation zu entnehmen7, die mit ihren Daten die These einer „Medienkomplementarität“8 unterstützt – so wie die meisten aktuellen Nutzerstudien. Hinterlassen also Medieninnovationen – allen voran die veränderten Publikations- und Distributionswege über das Internet – keine Spuren im Publikumszeitschriftenmarkt? Bleibt damit alles „business as usual“? Wohl nicht ganz, denn schaut man in die Details der Daten, so wird deutlich, dass die Situation durchaus angespannt ist und sich mittelfristig zu Ungunsten des Publikumszeitschriftenmarktes entwickeln könnte. Hierzu gibt es einige Hinweise: x Einer gestiegenen Titelzahl – von 2.000 Einzeltiteln im Jahre 1998 auf 2.340 im Jahre 2004 – steht eine sinkende Auflagenzahl gegenüber. Für die IVW-gemeldeten Publikumszeitschriften lässt sich dies detailliert nachvollziehen: Während 1998 noch eine Auflage von 126,5 Mio. auf 809 Titel entfiel, waren es 2004 nur noch 123,6 Mio. bei 850 Titeln (alle Angaben nach IVW). Oder anders gewendet: Eine wachsende Zahl an Publikumszeitschriften teilt sich einen schrumpfenden Auflagenkuchen – ergo bleibt für den Einzeltitel im Schnitt ein geringerer Anteil. Während sich die Großkonzerne, wie bereits erwähnt, konsolidiert haben und letztlich durch Diversifizierung auch flexibel genug sind, auf Änderungen im Publikumsverhalten einzugehen9, wird die Lage für Kleinverlage und Einzeltitel grosso modo immer schwieriger. x Mit besonderen Herausforderungen sieht sich die Jugendpresse konfrontiert: Gerade die junge Leserschaft scheint sich immer stärker auf das World Wide Web als mediale Alternative – auch zu den Publikumszeitschriften – einzustellen. Befragungsstudien „konnten bereits illustrieren, wie sehr für viele 14- bis 29-Jährige das Internet täglicher Begleiter geworden ist und im Mittelpunkt ihrer mediengerichteten Aufmerksamkeit steht. Auf direkte Nachfrage bestätigen 41 Prozent der Onlinenutzer in der jungen Generation voll und ganz und 65 Prozent zumindest weitgehend diese hohe Relevanz“10. Das veränderte Mediennutzungsverhalten Jugendlicher trifft selbst die Größten in der Branche: „Auch die in früheren Jahren so erfolgreiche Bravo-Gruppe musste weitere Abstriche

6 7 8 9 10

van Eimeren u. Frees (2005), S. 376. Vgl. Ridder u. Engel (2005). Ebenda, S. 422. Vgl. Vogel (2004). Oehmichen u. Schröter (2005), S. 400.

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Matthias Kempf, Thilo von Pape und Thorsten Quandt

zwischen 25 und 33 Prozent hinnehmen. Das gesamte Segment der Jugendpresse verkleinerte sich [...] um 18 Prozent.“11 x Betrachtet man Online-Nutzer aller Altersgruppen, so zeigt sich, dass sich ein Internet-Effekt selbst für die Gesamtheit nachweisen lässt – wenn auch noch nicht von einer ‚Nutzungs-Revolution‘ gesprochen werden kann.12 Dennoch: 25 Prozent der Onliner geben an, dass sie weniger Zeitung und Zeitschrift lesen, während nur 9 Prozent angeben, dass es mehr geworden sei. Insgesamt zeige sich, „dass die individualisierte Mediennutzung (eigene Tonträger, Online) im Begriff ist, erheblich an Bedeutung zu gewinnen“13. x Aufgefangen werden potenzielle Substitutionseffekte durch die immer noch anhaltende Zunahme der Mediennutzung, wie sie beispielsweise in der Langzeitstudie Massenkommunikation14 nachgewiesen wurde: Für 2005 ermittelte man einen durchschnittlichen täglichen Medienkonsum von exakt zehn Stunden (600 Minuten), gut anderthalb Stunden mehr als im Jahre 2000 (502 Minuten). Für das Internet weist die Studie bereits eine Nutzungszeit von 44 Minuten täglich aus, für Zeitschriften lediglich zwölf Minuten.15 D. h. selbst wenn das Internet der Zeitschrift möglicherweise noch keine Leser entzieht – weil das Gesamtbudget für Mediennutzung immer noch zunimmt – so hat es die Zeitschriften in der Nutzungsdauer innerhalb weniger Jahre deutlich überholt. Diese Punkte zeigen: Der Publikumszeitschriftenmarkt mag nicht von einer Revolution der Mediennutzung bedroht sein, doch ändert sich das gesamte Marktumfeld. Die dadurch entstehende Dynamik kann mittelfristig zu Umwälzungen führen, z. B. durch Kohorteneffekte bei den Rezipienten: Die Nutzungsmuster der Jungen von heute werden sich wohl in Teilen bei den Erwachsenen von morgen finden. Auch wenn es altersbedingte Veränderungen innerhalb von Alterskohorten gibt, d. h. Personen im Lebensverlauf ihr Verhalten verändern können, so bleiben doch einige Basismuster erhalten. Kurzum: Seitens der Verlage sollte man sich nicht in Sicherheit wiegen, denn Prozesse des Wandels können auch mittel- oder langfristig einsetzen – dann aber auf breiter Ebene. In diesem volatilen Umfeld stellt sich natürlich – sowohl für die Verlage als auch für die Wissenschaft – die Frage: Wie können Prozesse der Medieninnovation beschrieben werden, und wie kann ein analytisches Ver11 12 13 14 15

Vogel (2004), S. 329. Vgl. Oehmichen u. Schröter (2005), S. 400. Ebenda, S. 405. Vgl. Ridder u. Engel (2005). Ebenda, S. 424.

Medieninnovationen – Herausforderungen und Chancen

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ständnis über die reine Datendeskription hinaus hergestellt werden? Im Folgenden wollen wir auf Basis einer netzwerkanalytischen Sichtweise ein Mehr-Ebenen-Modell des Medienwandels vorstellen, das hier (im Sinne eines ersten Vorschlages) eine Grundorientierung bieten soll (Abschnitt 2). Ein solches Modell kann und soll freilich nicht als Prognoseinstrument dienen; vielmehr verdeutlicht es, warum Voraussagen schwierig sind und inwieweit widerstreitende Entwicklungen zu mitunter erratischen Gesamtentwicklungen führen. Dennoch wollen wir einige plausible Entwicklungsmöglichkeiten beschreiben – immer unter der Maßgabe, dass ein Irrtum nicht nur ausgeschlossen, sondern mitunter hochwahrscheinlich ist (Abschnitt 3). Diese generelle Möglichkeit des Scheiterns von Prognosen – trotz wissenschaftlicher Modellvorstellungen – soll dann im Rahmen einer Abschlussdiskussion thematisiert werden (Abschnitt 4): Zeigt sich hier doch die Schwierigkeit der Kontrolle von Netzwerkeffekten, die ein theoretisches Hauptelement des vorgestellten Modells sind. 2

Medieninnovationen – Grundzüge eines netzwerkanalytischen Mehr-Ebenen-Modells

Die Medienmärkte haben in den letzten Jahren immer wieder technische Neuerungen erlebt – vom Internet über SMS bis hin zu verschiedenen Formen der Mobilkommunikation, um nur einige zu nennen. Der klassische Print-Bereich ist davon nur vordergründig nicht betroffen: Denn zum einen bilden sich durch die neuen Distributionskanäle auch neue Konkurrenzverhältnisse aus; zum anderen ändern sich durch neue Kommunikationskanäle und Technologien auch die Arbeitsbedingungen in den Redaktionen. Zu diesen direkten Auswirkungen kommen Veränderungen des gesamten gesellschaftlichen und ökonomischen Umfeldes, die einen langfristigen Wandel mit sich bringen und damit die Grundfesten der öffentlichen Kommunikation betreffen können. Modellierungen dieser Veränderungen kommen aus unterschiedlichen Disziplinen. Ökonomen erklären Innovationsprozesse über den Markt. Hier erscheinen Medieninnovationen als notwendig, um dauerhaftes Wachstum in Märkten zu erreichen, die aus teilweise gesättigten Marktsegmenten bestehen: Lässt sich der Rezipientenmarkt durch existierende Produkte nicht weiter ausschöpfen, entwickeln die Anbieter Produktinnovationen, die andere Kundenbedürfnisse befriedigen und somit bei bestehenden Käuferschichten neue Zahlungsbereitschaften wecken oder neue Käufersegmente anziehen.16 Kommunikationswissenschaftler erklären die 16

Vgl. Hauschildt (2004).

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Matthias Kempf, Thilo von Pape und Thorsten Quandt

hohe Zahl an Innovationen hingegen meist mit gesteigerter gesellschaftlicher Komplexität, die mit Hilfe differenzierter Kommunikationsmöglichkeiten handhabbar gemacht wird.17 Es geht also weniger um den Markt, sondern um die durch Medien hergestellte und organisierte Öffentlichkeit. Diese zwei Ansätze verdeutlichen die grundlegende Problematik, will man aktuelle Entwicklungen im Medienbereich aus wirtschafts- und kommunikationswissenschaftlicher Perspektive betrachten: Die beiden Disziplinen fokussieren unterschiedliche Seiten des Gegenstandes, können ihn aber so niemals in seiner Gänze erfassen. Was die Ökonomie sieht, bleibt der Kommunikationswissenschaft verborgen und umgekehrt. Dies setzt sich auch in der Empirie fort: In den Wirtschaftswissenschaften werden Innovationen vor allem auf technologische Neuerungen zurückgeführt, die von der Industrie durch entsprechenden Ressourceneinsatz entwickelt und in neue Märkte eingebracht werden18; in der kommunikationswissenschaftlichen Sichtweise hat man in den letzten Jahren vor allem die Diffusion19 und die Aneignung von Medien20 analysiert, d. h. man konzentriert sich auf die Nutzer bzw. nutzerbezogene Prozesse. In diesem Sinne setzt man auch hier an unterschiedlichen Punkten an. Freilich ist eine integrative Sichtweise notwendig, damit die bislang weitgehend unverbundenen Diskussionsstränge in den beiden Disziplinen aufeinander bezogen werden können. Dadurch wären einige der Probleme bei der Erklärung bipolarer Orientierungen im Medienbereich – nämlich am ökonomischen Markt einerseits und an der publizistischen Aufgabe und Verantwortung andererseits21 – zu lösen; erscheinen sie doch dann nicht mehr als widersprüchlich, sondern als notwendig miteinander verbunden. Die Autoren des vorliegenden Beitrages haben ein entsprechendes Modell in seinen Grundzügen bereits an anderer Stelle skizziert22 – so dass es hier nur umrissen werden soll, um eine Orientierung in Hinblick auf den gegebenen Phänomenbereich der Publikumszeitschrift zu ermöglichen. Grundlegend setzt eine solche integrative Sichtweise voraus, dass Transaktionsprozesse immer auch als Kommunikationsprozesse gelesen werden können: Denn beide sind Vorgänge, die der Schaffung von Optionalitäten im Handeln von Individuen, kollektiven oder korporativen Akteu17 18

19 20 21 22

Vgl. Merten (1994). Siehe z. B. Abernathy u. Utterback (1978), Prahalad u. Hamel (1990), Silverman (1999), Arora, Fosfuri u. Gambardella (2001) sowie Stieglitz (2004). Vgl. Rogers (2003). Vgl. Silverstone u. Haddon (1996). Vgl. Altmeppen (2006). Vgl. Quandt (2005b), Quandt, von Pape u. Kempf (2005).

Medieninnovationen – Herausforderungen und Chancen

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ren dienen – sei es über eine Erweiterung des Wissensvorrates23, was mittelbar wiederum in neue Handlungsmöglichkeiten und die Schaffung allokativer oder autoritativer Ressourcen24 münden kann, sei es über die direkte Akquise physischer Ressourcen bzw. monetärer Mittel. Basierend auf der Prämisse, dass Transaktions-/Kommunikationsprozesse miteinander verbunden sind, kann auch der Medienwandel ‚doppelt‘ gelesen werden: Eine Medieninnovation könnte aus Nutzersicht als Ressource gesehen werden, die neue oder alternative Handlungsoptionen bietet. Aus Unternehmenssicht ist die Innovation eine Ware, mit der bestehende Märkte abgeschöpft oder neue geschaffen werden können – um weiterhin Geld, d. h. die Möglichkeit auf Tausch bzw. Handlungsoptionen, zu akquirieren.25 Allerdings geschieht die Schaffung solcher Optionen nicht im ‚luftleeren‘ Raum. Optionalität im Handeln existiert nur dann, wenn es bereits einen bestehenden Kern an Handlungsregeln gibt, zu dem neu hinzukommende Elemente relationiert werden können.26 D. h. das Versprechen auf Handlungsmöglichkeiten muss Anknüpfungspunkte zum Bekannten bieten, ansonsten bleibt es nicht einordenbar – und damit kommunikativ sinn- und ökonomisch wertlos. Dies lässt sich an Medieninnovationen und dem mit diesen verbundenem Phänomen der Konvergenz erläutern: Vielfach wurde darauf hinge23 24 25

26

Vgl. Schütz (2002), S. 153 f. sowie Quandt (2005a). Vgl. Giddens (1997). In der klassischen ökonomischen Sichtweise ergibt sich der Preis einer Ware erst aus ihrer relativen Knappheit. Sieht man aber eine Ressource, wie eben beschrieben, als materielle oder immaterielle Repräsentation von Handlungsmöglichkeiten, so könnte man unterstellen, dass sich der Preis aus dem Aufwand ergibt, diese Optionen überhaupt herzustellen, und dem Wert der Option selbst. Die Grundidee des Optionsgedankens spielt in der Ökonomie eine dominante Rolle insbesondere im Finanzwesen, ist aber zuletzt auch auf materielle Güter (Konzept der Realoptionen) und Unternehmensressourcen (Kompetenzen als Optionen – z. B. Sanchez 2000) angewandt worden. Der Wert der Option ist – im Sinne unserer Sichtweise – nicht nur auf die Seltenheit bzw. Knappheit, sondern vor allem auch auf die Relationierbarkeit zurückzuführen: Eine extrem seltene Handlungsoption, die kaum in Zusammenhang mit anderen Handlungen zu bringen ist, kann dennoch ‚wertlos‘ sein. Der Wert der Optionen kann hingegen den materiellen Zeitwert einer Maßnahme um ein Vielfaches übersteigen, wenn sich hieraus ein breites Anwendungsfeld eröffnet (vgl. hierzu auch die Unterscheidung von Tausch- und Gebrauchswert). Die generelle Relationierbarkeit von Handlungsoptionen ergibt sich wiederum aus der Lage im Handlungsnetzwerk. Brückenelemente haben daher möglicherweise einen höheren ‚Wert‘. Vgl. hierzu auch die weiteren Anmerkungen im Fließtext. Vgl. Quandt (2005a).

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Matthias Kempf, Thilo von Pape und Thorsten Quandt

wiesen, dass Medieninnovationen wie z. B. das Internet oder mobile Medien Funktionalitäten anderer Medien inkludieren können und so zu einer Annäherung verschiedener Medien führen.27 Betrachtet man Konvergenz in diesem Zusammenhang netzwerkanalytisch, so bedeutet dies zunächst nur, dass sich bestimmte Eigenschaften von Medien annähern bzw. dass Medieninnovationen die Eigenschaften anderer Medien übernehmen. In einer formalen Beschreibungssprache ließen sich diese Eigenschaften beispielsweise durch gleiche Variablenwerte darstellen. Über diese gemeinsamen Werte wären die Medien miteinander verknüpft bzw. zueinander relationiert (auch ganz konkret bei einer Codierung ihrer Grunddimensionen, beispielsweise im Rahmen einer Markt- und Technikstudie). Freilich ist Konvergenz als gesellschaftlicher Prozess nur dann festzustellen, wenn eine ganze Reihe an Medien ähnliche Eigenschaften herausbilden. Würde man diese in einem Möglichkeitsraum verorten, in dem alle denkbaren Variablenwerte verzeichnet sind, so bildeten diese einen kohärenten Cluster: Jedes Element im Cluster ist mit anderen Elementen stärker verbunden als mit allen anderen Elementen außerhalb des Clusters (vgl. Abb. 1, Punkt 1). Folgt man dieser abstrakten Netzwerk-Sichtweise, so können Medieninnovationen sich in unterschiedlicher Art und Weise zu gegebenen Clustern positionieren: Einerseits können Medien hinzukommen, die völlig neue Eigenschaften aufweisen, d. h. im Möglichkeitsraum weitab der anderen Medien rangieren, aber im Gegenzug hohe Innovationskraft entfalten (vgl. Abb. 1, Punkt 2). Hier spricht man auch von disruptiven Innovationen. Andererseits können Medien entwickelt werden, die zwischen den bisherigen Clustern liegen, also nur partiell neu sind – so genannte inkrementelle Innovationen. Deren Innovationskraft besteht darin, dass sie außerhalb der Grenzen der bekannten Cluster liegen und damit aus Sichtweise des Clusters neue Informationen28 liefern (vgl. Abb. 1, Punkt 3). So können neue Elemente eine Strukturbrücke auch zu anderen Clustern herstellen (z. B. könnte man Weblogs als Strukturbrücke zwischen traditionellen printbasierten Medien und privater Kommunikation in Fachgruppen verstehen29). Granovetter hat früh darauf hingewiesen, dass solchen Strukturbrücken – als eigentlich nur schwach vernetzten Elementen – besondere Bedeutung zukommt, weil nur sie neue Informationen in homogene Cluster einbringen.30

27 28 29 30

Vgl. zusammenfassend Quandt (2005b). Der Informationsbegriff ist hier in einem abstrakten Sinne zu verstehen. Vgl. Deuze (2003) sowie Neuberger (2005). Vgl. Granovetter (1973) sowie ergänzend das Konzept der ‚structural holes‘ von Burt (1982).

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Abb. 1. Konvergenz und Innovation im Netzwerkmodell

Wendet man das obige Denkschema an, so erscheinen völlig ‚neue‘ Medien, d. h. im Möglichkeitsraum von den anderen getrennte Elemente, eher unwahrscheinlich – denn sie sind nicht relationierbar zum Bestehenden. Solche Elemente wären weder ökonomisch noch aus der Sicht der meisten Nutzer sonderlich sinnvoll. Für die Nutzer bedeuten absolute Neuerungen, dass zunächst völlig eigenständige Nutzungsregeln ausgehandelt werden müssen31, d. h. ein hoher Aufwand bei der Aneignung betrieben werden muss; zudem bergen sie auch das Risiko fehlender Anschlussfähigkeit in der sozialen Interaktion (d. h. man kann über solche Neuerungen nicht kommunizieren, weil sie niemand wirklich einordnen kann). Zumeist nehmen diese Schwierigkeiten nur sehr spezielle Nutzergruppen auf sich – die in der klassischen Diffusionstheorie als „Early Adopters“32, in der betriebswirtschaftlichen Innovationstheorie als „Lead User“33 identifiziert wurden. Diese sind aber nicht repräsentativ für die Mehrzahl der Nutzer, so dass Produkte, die in Hinblick auf die Vorlieben von Lead Usern optimiert werden, auf dem Massenmarkt scheitern können, wie Silverstone 31 32 33

Vgl. Weilenmann (2001). Rogers (2003). von Hippel (1986).

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und Haddon (1996) am Beispiel der CD-i-Technologie von Philips ausführen.34 Auf der Seite der Produzenten sind völlige Neuentwicklungen ebenfalls risikoreich. Einerseits wegen der Gefahr eines Lock-in, d. h. einer nicht mehr rückführbaren Fehlentwicklung der Produktion, die die Hersteller auf einen erfolglosen Produkttyp festlegt und sie von erfolgreichen Marktsegmenten isoliert. Im Sinne des Netzwerkansatzes würde dies bedeuten: Diese Medien bleiben unrelationierbar. Andererseits wegen der Schwierigkeit, dass nicht relationierbare Innovationen kaum auf bestehende Produktionsprozesse zurückgreifen können – d. h. Verbundvorteile (Economies of Scope), aber auch Mengenvorteile (Economies of Scale) sowie kumulative Lerneffekte (Economies of Learning)35 kommen nicht zum Tragen. Relationierbare Teilinnovationen sind also wesentlich risikoärmer. Sie bieten aber natürlich nicht dieselbe Möglichkeiten, völlig neue Bereiche des Möglichkeitsraumes zu besetzen. Erfolg versprechend sind daher vor allem Medieninnovationen, die in die Lücken zwischen verschiedenen Clustern treten – weil sie Eigenschaften zweier Bereiche verbinden und somit in zwei Richtungen relationierbar sind, zudem aus Sicht der jeweiligen Cluster Neuerungen bieten. Genannt wurden bereits Weblogs; andere Beispiele wären Infotainment-Angebote oder auch Medienformen, die zwischen PR und Journalismus stehen. Freilich besteht auch hier das Problem, dass Eigenschaften nicht frei kombinierbar sind, zudem verschiedene Constraints in der Produktion bestehen können. Zusammengenommen erklärt dies, warum insgesamt ein Hang dazu besteht, „konservativ“ zu produzieren (z. B. im Sinne von Sequels, die zudem den Vorteil der Economies of Scope besitzen) – dies macht sowohl aus Sichtweise der Nutzer als auch aus Sichtweise der Produzenten Sinn, ist doch das Risiko der Isolation geringer. Freilich bieten homogene Cluster kaum Entwicklungsmöglichkeiten (auch im Sinne gesättigter Märkte), so dass ein gewisser Druck zur Innovation weiterhin vorhanden ist. Für Unternehmen – wie für Nutzer – ist dies also eine Abwägung zwischen Risiken und Chancen. Nehmen aber genug Nutzer Innovationen an (weil es genügend „Risk Takers“ gibt), kommt es zu einer Entwicklungsdynamik: Je mehr Nutzer eine Innovation 34

35

Eine Vielzahl von Autoren weist auf die Schwierigkeit der Markteinführung zwar funktional überlegener, aber aus Nutzersicht „radikaler“ oder „disruptiver“ Innovationen hin (vgl. z. B. Tushman u. Murmann 1998 sowie Anderson u. Tushman 1990). Nicht-kumulative und damit fehlende Economies of Learning hindern nicht nur das Unternehmen, sondern auch den Nutzer an einem wirkungsvollen Umgang mit disruptiven Innovationen.

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annehmen, desto geringer auch das Risiko der Isolation im Netzwerk, weswegen eine Adoption wahrscheinlicher wird – es kommt zu einer Beschleunigung des Annahmeprozesses (was den bekannten Diffusionskurven entspricht36). Zudem verschiebt sich der Cluster in Richtung der Innovation, d. h. die Innovation wird einerseits in das Bestehende eingebaut, andererseits verändert sie das Bestehende: Es kommt zum Wandel auf breiter Ebene. Das mag zunächst reichlich theoretisch klingen. Dieser Wandel wurde jedoch in der wirtschaftswissenschaftlichen und techniksoziologischen Literatur als ein Wechselspiel von disruptiven und inkrementellen Entwicklungen bereits ausführlich beschrieben und auch durch empirische Studien belegt. Dabei wurde ein häufigeres Auftreten inkrementeller Innovationen belegt, welches auf die strategische Ausnutzung vorhandener Ressourcen durch die Marktteilnehmer zurückgeführt wurde37, oder auf Schwierigkeiten, außerhalb der bestehenden Kompetenzbereiche zu agieren38. In diesem Zusammenhang wurde auch der Innovationscharakter als kompetenzerweiternd oder -zerstörend diskutiert39 – letztlich handelt es sich um indirekte Innovationsfolgen, die zu Veränderungen des gesamten bestehenden Netzwerks führen können, d. h. strukturelle Veränderungen, die über die einzelne Innovation weit hinaus gehen. Trotz Einbeziehung solcher strukturellen Netzwerkeffekte greift die so beschriebene Sichtweise aber unseres Erachtens noch etwas zu kurz – geht sie doch davon aus, dass die Eigenschaften auf einer vergleichbaren Dimension liegen, d. h. aus der Kombination der Eigenschaften eine GesamtRelationierbarkeit ableitbar ist. Es ist allerdings davon auszugehen, dass technologische, ökonomische und soziale Eigenschaften zwar gekoppelt sind, aber nicht unbedingt in dieselbe Richtung weisen. Daher schlagen wir vor, die eben beschriebene Netzwerklogik auf die drei genannten Ebenen auszudehnen. Man kann sich diese als übereinander geschichtet vorstellen – eine Entwicklung auf einer Ebene wird auf der jeweils darunter liegenden Ebene abgebildet und in die dort bestehenden Netzwerke eingebettet (vgl. Abb. 2). Die Einbettung einer Innovation erfolgt in der Logik der jeweiligen Bezugsebenen und gemäß der dort existierenden Netzwerke. Eine Innovation mag also technisch an das Gegebene anschlussfähig sein – kann aber andererseits in der Produktion zu risikoreich und sozial

36 37 38 39

Vgl. Rogers (2003) sowie Bass (1969). Vgl. Henderson u. Clark (1990). Vgl. Rothaermel (2001). Vgl. Anderson u. Tushman (1990), Tushman u. Anderson (1986) sowie Tushman u. Murmann (1998).

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wenig sinnvoll sein, weil die Technologie z. B. nicht in den Alltag der Nutzer passt.40

Technologie

Ökonomie

Soziale Einbettung

Abb. 2. Medieninnovationen im 3-Ebenen-Modell

Daraus folgt, dass Medieninnovationen nicht allein erfolgreich sind, wenn der Innovationswert „allgemein“ hoch und das Risiko vergleichsweise gering ist. Vielmehr gilt es, die Relationierungen auf allen drei Ebenen zu bedenken. Letztlich kann dies dazu führen, dass eine „Win-win-win“Situation nicht hergestellt, sondern nur ein Kompromiss gefunden werden kann. Dieses Austarieren von Risiken und Chancen wird übrigens auch in der Praxis sichtbar: nämlich wenn Unternehmen versuchen, ein Portfolio verschiedener Niedrig- und Hochrisiko-Innovationen aufzubauen.41

3

Webkommunikation – Konkurrenz-Angebote zur Publikumszeitschrift?

Im vorigen Abschnitt haben wir die Grundzüge eines Modells zu Medieninnovationsprozessen skizziert. Dabei wurde deutlich, dass Innovationen 40 41

Vgl. von Pape u. Quandt (2005). Kapitalmarkt-Theorien (z. B. CAP-M) unterstützten dies: Portfolio-Größe und Diversifikation dienen in dieser Sichtweise dazu, Risiken zu minimieren und Erfolgschancen zu verbessern (vgl. Black, Jensen u. Scholes 1972).

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im Wortsinne nicht einfach zu beschreiben sind, sondern komplexen Prozessen auf mehreren Ebenen unterliegen – und solche Prozesse wiederum auslösen können. Im Folgenden nutzen wir die analytischen Eckpunkte des Modells im Sinne einer Heuristik, um einige Medieninnovationen in Hinblick auf den Publikumszeitschriftenmarkt zu beschreiben und zu evaluieren. Wir beschränken uns dabei auf ausgewählte Formen der Webkommunikation und erheben keinen Anspruch auf Vollständigkeit – es geht darum, exemplarisch zu zeigen, worin die Herausforderungen für die Publikumszeitschrift liegen können. Natürlich gilt es bei allen Typen von internetbasierten Innovationen zu ergänzen, dass ihre technologische Basis letztlich sehr ähnlich ist und die Medienformen größtenteils printaffin sind; jedoch geht es hier im Speziellen um eine Referenz zum Publikumszeitschriftenmarkt, d. h. es würde wenig Sinn ergeben, völlig andersartige Innovationen zu betrachten. Gemäß der theoretischen Orientierung erfolgt die Bewertung der ausgewählten Innovationen auf den Ebenen „Technologie“, „Ökonomie“ und „soziale Einbettung“, und zwar jeweils in Hinblick auf die Relationierbarkeit, den Innovationswert und die durch die Innovationen induzierten (potenziellen) Netzwerkeffekte. Dem schließt sich eine Gesamteinschätzung an (vgl. Abb. 3 zu dieser Vorgehensweise).

Relationierbarkeit

Innovationswert

Netzwerkeffekte

Gesamteinschätzung

Technologie Ökonomie Soziale Einbettung

Abb. 3. Bewertung von Medieninnovationen gemäß der theoretischen Orientierung

3.1

E-Paper

Nach dem Platzen der ersten Internet-Blase42 und den folgenden ökonomischen Problemen dezidierter Online-Redaktionen43 wurde eine Innovation 42 43

Vgl. Salon Technology Staff (2000). Vgl. Quandt (2005a).

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von den Verlagen hoch gehandelt: das so genannte E-Paper. Bei diesem handelt es sich um eine elektronische Eins-zu-eins-Kopie des Print-Erzeugnisses, in Form von Einzelartikeln oder als Abbild des Gesamtproduktes. Technologische Basis sind PDF- oder JPG-Dateien, die mit geringem Aufwand aus den bestehenden DTP-Programmen (wie z. B. Quark Express oder InDesign) heraus exportiert werden können; auch bieten verschiedene Redaktionssysteme bereits entsprechende Export-Funktionalitäten. Die Distribution der Dateien kann über Webseiten erfolgen, weil die entsprechenden Dateigrößen im DSL-Zeitalter kein großes Problem mehr darstellen. Erweitert wird das E-Paper oftmals durch Zusatzfunktionen, wie z. B. Suchmöglichkeiten und Verlinkungen, die mitunter mit speziellen Applikationen eingefügt werden müssen. Freilich ist der technische Produktionsaufwand vergleichsweise gering, weil die fertig gelayouteten Texte für gewöhnlich bereits vorliegen, d. h. es handelt sich hier um eine klassische Zweitverwertung. Geschützt werden viele E-Paper durch Formen des DRM (Digital Rights Management), die ein freies Vervielfältigen unterbinden sollen (beispielsweise durch Kopierschutz, Passwort-Codierungen oder Nutzung spezieller Lese-Software, die als personalisierte, d. h. nutzer-/computergebundene Entcodierungseinheit agiert). Nutzerseitig ist das E-Paper ebenfalls anschlussfähig: Auf PCs sind die entsprechenden Formate bereits in der Basisinstallation oder unter Nutzung eines Readers lesbar. Nur bei Einsatz spezieller Softwarelösungen ist eine Installation und ggf. eine Registrierung notwendig. Der Zugang zu den Dateien erfolgt für gewöhnlich über Websites, was bei der Internet-Durchdringung in Deutschland44 gleichermaßen keine technologische Hürde darstellen dürfte. Kurzum: Technologisch handelt es sich beim E-Paper um eine anschlussfähige, eigentlich sogar altbekannte Technologie.45 Ökonomisch gesehen ist das E-Paper herstellerseitig attraktiv: Wie bereits angedeutet, entstehen nur sehr geringe Zusatzkosten bei der Produktion, weil das elektronische Abbild des Print-Erzeugnisses meist direkt aus 44 45

Vgl. van Eimeren u. Frees (2005) sowie Ridder u. Engel (2005). Vielfach ging die Vorstellung dahin, dass E-Paper in naher Zukunft auf spezielle Lesegeräte geladen werden können, deren Displays in der Dicke und Flexibilität echtem Papier nicht unähnlich sind. So hätten E-Paper quasi die gedruckte Zeitung oder Zeitschrift ersetzen können – Druck und Distribution des Papierproduktes wären hinfällig geworden. Diese schon seit mehreren Jahren prognostizierte Revolution der Display-Technik ist allerdings immer noch nicht über den Prototypen-Status hinausgekommen, und es ist auch fraglich, ob sie in dieser Art von den Nutzern überhaupt gewünscht und akzeptiert würde (und vor allem zu welchem Preis).

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den genutzten Layout- und DTP-Programmen heraus erstellt werden kann. E-Paper sind damit im Produktionsprozess kein Risiko – durch Rückgriff auf bestehende Strukturen und die Nutzung der vorhandenen Kernkompetenzen ist ihre Herstellung komplett anschlussfähig. Auch sind die Distributionskosten (u. a. für Server und Datenübertragung) gering, vor allem verglichen mit den Print-Produkten selbst. Deutlich anders ist die Lage bei der sozialen Akzeptanz des E-Papers: Zeitschriften-/Zeitungs- und PC-Nutzung haben ganz unterschiedliche Plätze im Alltag der Rezipienten.46 Während die Zeitschrift als mobiles Medium überall genutzt werden kann, ist der PC und damit das E-Paper zunächst räumlich gebunden, das Lesen müsste über den Bildschirm erfolgen. Will man eine Lesesituation erreichen, die der Print-Nutzung entspricht, müssen erst umständlich und für den Nutzer auch vergleichsweise teuer Ausdrucke hergestellt werden; zumal bei den meisten Zeitschriften adäquate Kopien nur über einen aufwändigen Farbdruck herzustellen wären. Die universelle Begleitfunktion, die die Zeitschrift einnimmt (Nutzung zu Hause, in der U-Bahn, am Arbeitsplatz, in Warteräumen usw.) kann das E-Paper nicht erreichen. Dementsprechend werden E-Paper nur bei spezifischen Motivationen abgerufen: beispielsweise wenn gezielt ältere Beiträge gesucht werden, wenn Artikel elektronisch archiviert werden sollen, wenn der Zugriff auf die Zeitschrift räumlich behindert wird (z. B. Nutzung aus dem Ausland), wenn Artikel schon vor der Veröffentlichung der Print-Version abgerufen werden können (wie z. B. beim Spiegel) und deren „vorgezogene“ Kenntnis für den Nutzer von Bedeutung ist. Diese Motivationen gelten natürlich nicht für große Nutzerschaften, und selbst das Interesse der E-PaperNutzer erstreckt sich oft nur auf Teile des Angebotes. Ergo: Die Anschlussfähigkeit ist für große Bevölkerungsgruppen gering, strukturelle Effekte sind bis auf weiteres auszuschließen. Die Folgen der geringen Relationierbarkeit auf der Ebene der sozialen Einbettung sind offensichtlich: Die Auflage von E-Papern betrug in 2005 in Deutschland nur 18.400, insgesamt bestanden nur 4.000 Abonnements (eigene Auswertung nach ZAW 2005) – wobei hier noch zu bedenken ist, dass das E-Paper in einigen Fällen den Abonnementkunden vom Verlag als Premium-Angebot angeboten oder umsonst zur Verfügung gestellt wird. Vergleicht man diese Zahlen mit den eingangs genannten Auflagen der Publikumszeitschriften, so wird deutlich, dass das E-Paper momentan keine Konkurrenz (im Sinne einer Kannibalisierung), aber wohl auch keine

46

Vgl. von Pape u. Quandt (2005).

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bedeutsame Einkommensquelle für den Publikumszeitschriftenmarkt darstellt.47 3.2

Weblogs

Eine der momentan am häufigsten diskutierten internetbasierten Innovationen sind die so genannten Weblogs48, kurz auch als „Blogs“ bezeichnet – Websites, auf denen in umgekehrt chronologischer Reihenfolge Nachrichten oder Meinungsbeiträge meist eines einzelnen Autoren gelistet sind und die für gewöhnlich in kurzen Abständen aktualisiert werden. Dabei existieren höchst unterschiedliche Formen von Blogs: vom politisch motivierten Blog über das Warblog, in dem aus Kriegs- oder Krisengebieten berichtet wird, das Watchblog, welches als kritischer Begleiter die Berichterstattung traditioneller Medien kommentiert (als bekanntestes Beispiel sei hier bildblog.de genannt), bis hin zu privaten Tagebüchern. Allen Blogs ist grundlegend eine Themenzentrierung gemein, wenngleich die Thematik unterschiedlich weit gesteckt ist. Interessanterweise greifen Blogs formal eine Art des Publizierens auf, die in den Anfängen der Zeitung üblich war: nämlich den Abdruck von Nachrichten gemäß ihres zeitlichen Einganges bzw. ihres Entstehungsdatums, ohne spezifische Ressortgliederung oder Priorisierung.49 Zeitungen existierten über ein Jahrhundert, „bis Rubriken und Sparten >im 18. Jahrhundert; Anm. d. Verfasser@ ein wenig Ordnung in den Zeitungen schafften – zunächst auch nur bei herausragenden Blättern – und noch einmal rund 100 Jahre, bis sich Redaktionen herausbildeten, die groß genug waren, um den Redakteuren Spezialisierungen zu erlauben und erste Gliederungen in Ressorts vornehmen zu können“50. In diesem Sinne sind Blogs keine Innovation, sondern tatsächlich eine sehr alte Form des Publizierens.51 Dennoch werden Blogs von manchen 47

48 49 50 51

Es gilt aber auch zu ergänzen, dass die technischen und ökonomischen Risiken gering sind – so dass die elektronische Eins-zu-eins-Version des PrintProduktes auch von vielen Medien weiterhin als (Zusatz-) Produkt angeboten wird. Vgl. Neuberger (2005). Vgl. Brielmaier u. Wolf (1997), S. 40 f. Meier (2002), S. 110. Hier könnte man diskutieren, inwieweit sich die historische Parallelität – unabhängig von den Differenzen in der Distributionsweise und der technologischen Basis – durch ähnliche Produktionsbedingungen erklären lässt: nämlich vor allem durch fehlende organisationale Ressourcen, ausdifferenzierte Berichterstattung und damit verbunden auch breit gestreute, unabhängige Quellen.

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Autoren als die Zukunft, je nach Sichtweise aber auch als Bedrohung des Journalismus gehandelt (vgl. als Überblick zu neuen Arten des netzbasierten Journalismus Deuze 2003): Denn bei ihnen erfülle sich eine Art demokratisches Ideal, dass nämlich jeder Rezipient auch zum Kommunikator werden könne und somit auch Zugang zu Informationen gewährleistet werde, die von Medienunternehmen aus unterschiedlichen Gründen ignoriert würden. Ergänzt werden Blogs mitunter durch Foren oder Kommentar-Möglichkeiten, so dass auch die Leser wiederum eigene Beiträge posten oder auf zuvor Geschriebenes reagieren, somit also mit den Machern in einen Dialog treten können. Dies erhöht nochmals die diskursiven Optionen der Blogs, die vor allem in der Wissenschaft als besonders attraktiv angesehen werden, und stellt eine Brücke zu Community-Medien und Wikis dar.52 Trotz der in sie projizierten, manchmal überhöhten Erwartungen sind Blogs technisch völlig unaufwändig zu realisieren. Es existieren inzwischen diverse Weblog-Publishing-Systeme, die ähnlich einem ContentManagement-System das Erstellen und Einpflegen von Blogs ohne tiefergehende Programmierkenntnisse ermöglichen. Diverse Anbieter ermöglichen auch die Erstellung eines Blogs über entsprechende Websites – in diesem Fall ist nicht einmal die Installation spezieller Software notwendig; das Blog kann in wenigen Minuten über vorgefertigte Templates nur unter Rückgriff auf den Browser bzw. den Netzzugang erstellt werden. Nutzerseitig sind Blogs als Standardseiten abrufbar, stellen also an den InternetNutzer keine speziellen Anforderungen. Damit stellen sich Weblogs als klar anschlussfähige „Technologie“ dar (wenn in diesem Zusammenhang überhaupt von einer eigenständigen Technologie gesprochen werden kann), deren Innovationswert weniger in technologischen Neuerungen, sondern eher in der Anwendung altbekannter Elemente besteht. Die Einbettung in bestehende Produktionsprozesse, gerade bei Zeitschriftenverlagen, wäre bei Weblogs allerdings etwas aufwändiger als beim E-Paper – denn es bedürfte integrierter Systeme, die Informationen einerseits in einem sparten- oder ressortgegliederten Layout für den PrintBereich ausgeben, andererseits aber auch eine Publikation über weblogähnliche Seiten erlauben. Freilich wäre zu diskutieren, ob es überhaupt Sinn machen kann, meist bereits in Sparten und Rubriken eingeordnete 52

Diese können hier aus Platzgründen nicht diskutiert werden. Allerdings sind communitybasierte Medien (u. a. Foren sowie Mailing-Listen) und Wikis auch durchaus in Konkurrenz zu Publikumszeitschriften zu verstehen, haben sie doch teilweise eine ähnliche Themenspezifität, bei gleichzeitig höherer Bindung der Nutzer an das Medium (durch die Inklusion der Nutzer sowohl als Rezipienten als auch als Kommunikatoren).

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Print-Inhalte in neu arrangierter Form als Weblog auszugeben, oder ob man bei den bewährten (aber möglicherweise nicht netzadäquaten) Untergliederungen des Print-Produktes bleibt. Zu bedenken sind aber die unterschiedlichen Zielsetzungen der beiden Publikationsformen: Eine Haupteigenschaft der Blogs besteht darin, aktuell sehr spezifische Themen zu kommentieren und interpretieren. Damit unterscheiden sie sich von vielen Publikumszeitschriften, denn diese „sind inhaltlich nicht oder nur wenig eingeschränkt. Sie wenden sich an eine möglichst breite Leserschaft mit gemeinsamen Interessen und bieten Unterhaltung, Beratung und allgemeinverständliche Information, ohne, wie es das Ziel von Zeitungen ist, über tagesaktuelle Nachrichten umfassend Bericht zu erstatten“53. Allerdings: „Innerhalb der Publikumszeitschriften werden noch weitere Unterscheidungen getroffen. Zum einen differenziert man zwischen General-Interest-Titeln und Special-Interest-Titeln. [...] Eine weitere gebräuchliche Untergliederung ist die an den Lesern orientierte in Zielgruppen- und Massenzeitschriften.“54 Zielgruppenspezifische Publikationen und Special Interest-Titel sind von den Weblogs nicht so weit entfernt, wenden doch auch sie sich an eine sehr spezielle Gruppe von Personen bzw. basieren auf einem eingegrenzten Themenspektrum. Tatsächlich geraten Print-Produkte und Weblogs in bestimmten Nischen in ein Konkurrenzverhältnis. Gerade per se computeraffinen Nutzergruppen ist mitunter der Gang ins Internet inzwischen nahe liegender als der zum Zeitschriftenladen. So tummeln sich im Netz sehr erfolgreiche Weblogs, die sich mit Computern, Videospielen oder elektronischer Musik auseinandersetzen. Mitunter stehen dahinter wiederum Verlage, aber auch diverse Startups, welche mittelfristig den alteingesessenen Anbietern mit webadäquater Aufmachung Konkurrenz machen.55 Freilich entwickeln sich die erfolgreicheren Weblogs größtenteils in Richtung komplexerer Angebote, und es wäre zu diskutieren, ob dann bei zunehmendem Organisationsgrad nicht im Internet derselbe historische Schritt nachvollzogen würde wie vor Jahrhunderten schon im Zeitungsbereich, nämlich hin zu stärker differenzierten und strukturierten Publikationen. 53 54 55

Bleis (1996), S. 25. Streng (1996), S. 27. Ebenso gewinnen Weblogs im Unternehmensumfeld an Bedeutung (vgl. Picot u. Fischer 2005), und diese Form der Corporate Communication oder PR steht durchaus in Konkurrenz zu journalistischen Angeboten – denn durch den direkten Kundenkontakt fällt für viele Anwendungen die Notwendigkeit eines ‚Mittlers‘ weg. Allerdings sollen solche Spezialformen hier nicht diskutiert werden, da dies eine ausführlichere Auseinandersetzung mit dem Verhältnis von PR und Journalismus voraussetzen würde.

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Inwieweit allerdings Blogs auch gesellschaftliche Relevanz erlangen und im Alltag der Nutzer eine zunehmende Rolle spielen werden, ist noch unklar. Zwar wird vielfach (interessanterweise auch in der öffentlichen Berichterstattung via traditioneller Medien) auf das Potenzial der ‚Blogosphäre‘ hingewiesen, doch bleiben die Nutzerzahlen bislang weit hinter den Erwartungen zurück. So konnte der Magazin-Ableger Spiegel Online mit seinem Webangebot 60,5 Mio. Visits bei 337 Mio. PIs im Januar 2006 auf sich verbuchen (Angaben nach IVW Online, Januar 2006), während das am häufigsten frequentierte Blog Deutschlands, das Bildblog, hochgerechnet auf nur 800.000 Visits bei knapp 1,3 Mio. PIs kommt (Angaben nach Blogcounter, auf einen Monat hochgerechnete Tagesangaben vom 22.02.06). Schon Platz 2 in der Top-Liste der am häufigsten genutzten Blogs kann lediglich 260.000 Visits verbuchen, auf Platz 10 sind es noch 40.000. Zu ergänzen ist zudem, dass viele der in der Top-Liste geführten Blogs so genannte Watchblogs sind, die kritisch die Berichterstattung in professionellen Medien begleiten. D. h. diese Weblogs würden ohne die entsprechenden professionellen Bezugsmedien gar nicht existieren; und man kann davon ausgehen, dass ein Großteil ihrer Visits vor allem durch die Verlinkung von großen Online-Medien wie z. B. Spiegel Online (die regelmäßig über Blogs berichten) generiert wird. Für die vergleichsweise niedrigen Nutzerzahlen gibt es verschiedenste Gründe; sicherlich lassen sich diese auch und vor allem über Motivation und Alltagseinbettung der Blog-Nutzung erklären: Die Nutzer wenden sich den Angeboten meistens aus sehr spezifischen Gründen zu, z. B. wenn sie zu einem speziellen Thema Informationen, Kommentare oder Hintergrundinformationen suchen. Es geht hier also weitaus weniger – wie z. B. bei den Ablegern von Nachrichtenmagazinen und anderen General InterestTiteln – um die tagesaktuelle, sehr allgemein gehaltene Berichterstattung mit einem breiten Fokus; ergo erfolgt die Zuwendung auch weitaus weniger häufig, nämlich vor allem bei besonderen Interessenlagen. Allerdings: Ähnlich sieht es bei den Internetauftritten von Special InterestZeitschriften aus; dies belegen dann auch die IVW-Zahlen, die für derlei Angebote ebenfalls sehr geringe Zugriffszahlen ausweisen. Alles in allem sind Weblogs damit für einen Teil der Publikumszeitschriften – nämlich jene, die sich nicht im breiten General Interest-Bereich bewegen – durchaus eine Konkurrenz bzw. aus Nutzersicht eine alternative Informationsquelle. Wie bereits erwähnt, kann die Nutzung solcher Angebote durch jüngere Nutzer zu einem mittel- oder langfristigen strukturellen Effekt führen – in Form einer Veränderung der Rezeptionsgewohnheiten breiter Bevölkerungsgruppen. Die Verlagerung der Informationssuche in das Internet ist aber für die Verlage hochproblematisch – denn die „Zah-

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lungsbereitschaft für kostenpflichtige Inhalte >ist@ 2005 weiter gesunken“56. Über 80 Prozent der Nutzer wollen für Online-Inhalte nichts bezahlen, und Besserung ist nicht in Sicht: Die „Erfolgschancen für Bezahlinhalte sind ungewiss“57. Dies bedeutet für die Verlage, dass sie weiterhin versuchen müssen, einerseits Vorkehrungen für eine mögliche Entwicklung hin zur Internet-Distribution via Weblogs, Foren, Community-Seiten oder ähnlichen Angeboten zu treffen, andererseits aber auch nicht zu viel in einen ökonomisch risikoreichen (da schwer refinanzierbaren) Bereich zu investieren. 3.3

Internet-TV und Triple Play

Last but not least soll hier noch ein Schlaglicht auf aktuell diskutierte Internet-TV-Angebote bzw. das so genannte „Triple Play“ geworfen werden. Unter diesem Stichwort werden zur Zeit verschiedenste Kombinationen von Fernseh-, Telekommunikations- und Internet-Angeboten verhandelt; letzthin ist auch vom so genannten „Quadruple Play“ die Rede, bei dem zusätzlich Mobilfunk-Anwendungen hinzukommen.58 Allen diskutierten Lösungen ist gemeinsam, dass sie auf breitbandiger Datenübertragung basieren und Telefonie- sowie Audio-Video-Anwendungen vorsehen (wie z. B. Fernsehen, Video-on-Demand u. Ä.). Technologisch handelt es sich hierbei um ein Bündel an heterogenen „Cutting Edge“-Entwicklungen. Mitunter haben diese die Marktreife noch nicht erreicht, und es fehlen auch nutzerseitig entsprechende Empfangsmöglichkeiten (sei es wegen fehlender Bandbreite/Übertragungswege, nicht angemessener Hardware oder noch nicht ausreichend verbreiteter Softwarelösungen). Probleme bei der Anschlussfähigkeit der Technologien sind vielfach auch auf die verschiedenen Interessenlagen der Anbieter zurückzuführen – so sehen einige Telekommunikationsanbieter in Triple Play ein neues Betätigungsfeld, um rückläufige Umsätze im Kerngeschäft zu kompensieren; doch außer diesem rein ökonomischen Interesse und der Fähigkeit, schnelle Übertragungswege zur Verfügung zu stellen, gibt es keine einheitlichen Entwicklungsideen und Konzepte von potenziellen Killer-Applikationen. Die Vorstellungen reichen von Voice-over-IP und Video-on-Demand bis hin zu interaktiven Unterhaltungsangeboten.59 Angesichts dieser Gemengelage sind die Relationierbarkeit und der Inno56 57 58 59

van Eimeren u. Frees (2005), S. 372. Breuning (2005), S. 417. Vgl. Reardon (2005). Vgl. Greenblatt (2003).

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vationswert nicht pauschal zu bestimmen, wenngleich die verschiedenen Entwicklungen des Triple Play innovativer, aber gleichzeitig (sowohl bei Herstellern als auch Nutzern) wesentlich voraussetzungsreicher sind als die in den vorigen Abschnitten genannten Neuerungen. Dies bedeutet ökonomisch ganz andere Risiken: zum einen, weil Investitionen in den Ausbau der Leitungswege, Software, Hardware und auch Content getätigt werden müssen, zum anderen, weil keine Strukturen (wie z. B. bei E-Paper und Weblogs) bestehen, an die man vergleichsweise einfach anknüpfen kann. Benötigt wird zudem eine Allianz von Akteuren: Telekommunikationsunternehmen, Mobilfunkbetreiber, Hardware-Hersteller und Content-Anbieter müssen sich zusammentun. Für die Unternehmen bestehen die Gefahren, sich die falschen Partner zu suchen und/oder auf die falsche Technologie (im Sinne eines Lock-in) zu setzen – denn bei fehlenden Standards und verschiedenen Zielrichtungen der Akteure kann sich der Markt in eine andere Richtung als erhofft entwickeln. Allerdings scheinen momentan viele Unternehmen daran interessiert zu sein, in Triple Play zu investieren – werden hier doch die großen Gewinne der Zukunft prognostiziert. Die Hoffnung gründet darauf, dass man eben nicht die Umsonst-Kultur des Internets mit übernimmt, sondern die Abrechnungssysteme der Telekommunikationsbranche nutzen kann, d. h. Inhalte auch bezahlt werden. Dies hängt allerdings von der Akzeptanz auf Seiten der Nutzer ab. Bei Internet-Angeboten besteht, wie bereits erwähnt, wenig Bereitschaft zu bezahlen – selbst bei Premium-Inhalten. So bleiben Angebote wie z. B. Video-on-Demand über das Internet hinter den Erwartungen zurück. Dies mag auch damit zusammenhängen, dass Fernsehen und Computernutzung im Alltag ganz unterschiedliche Plätze einnehmen, d. h. wenig wechselseitige Anschlussfähigkeit vorhanden ist: Während Fernsehen immer noch ein soziales Medium ist, das hauptsächlich im Hauptwohnraum stattfindet, werden Computer zumeist in Arbeitsräumen und allein genutzt.60 D. h. die zumeist als Streaming Videos realisierten Video-on-Demand-Angebote zielen über die Bindung an das Endgerät Computer an der sozialen Nutzungssituation vorbei: Die wenigsten Nutzer sind derzeit bereit, sich Spielfilme mit ihren Freunden im Arbeitszimmer auf einem kleinen Computerbildschirm anzusehen. Es bedarf also anderer Konzepte, mit den Angeboten einen Platz im Alltag der Nutzer zu finden. Ein Versuch ist, eine internetaffinere Präsentationsform zu finden. Doch stärker interaktive Webseiten mit Videostreams werden schon seit längerem getestet (z. B. von öffentlich-rechtlichen Fernsehsendern), scheinen aber auf vergleichsweise geringe Gegenliebe zu stoßen – trotz der erhofften Wachstumsraten 60

Vgl. von Pape u. Quandt (2005).

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angesichts der sprunghaften Bandbreitengewinne. Offenbar sind die Bandbreiten nicht der (alleinige) Flaschenhals – das Internet wird von den Nutzern eben immer noch größtenteils als Lesemedium verstanden. Eine andere Option wäre die Loslösung der Netztechnologie von den klassischen Internet-Anwendungen auf dem PC. So sind die netzfähigen Spielekonsolen der neuesten Generation, wie z. B. die XBOX 360 von Microsoft, auch als ein Versuch zu werten, Zugang zu den Wohnzimmern der Nutzer zu bekommen – mit einer Computertechnologie, die eben nicht mehr als Computer erscheint, sondern als „sozialkompatible“ Unterhaltungselektronik. In dieses Bild passt, dass die neuesten Konsolengenerationen Formen der Telekommunikation vorsehen und sogar Video-onDemand ermöglichen sollen61 – all dies über integrierte Abrechnungssysteme. Ähnlich sieht es mit Vorstößen im Bereich des Quadruple Play aus – hier erhoffen sich Mobilfunkbetreiber durch Handys mit Computerfunktionalitäten und Fernsehfähigkeit völlig neue Anwendungs- und Einkommensfelder. Allerdings ist auch in diesem Fall noch unklar, inwieweit dies auf Gegenliebe der Nutzer stößt – so konnte sich mobiles Fernsehen bislang noch nicht durchsetzen, trotz diverser Versuche, Miniatur-Fernsehapparate auf dem Markt zu etablieren. Ob quasi über die Hintertür – mit entsprechenden Mobiltelefonen – tatsächlich ein entsprechender Bedarf geweckt werden kann, ist nicht abzusehen; zumal hier auch die Frage der Kosten für die Nutzer eine zentrale Rolle spielen wird. Zu vermuten ist angesichts der Entwicklungen in der Vergangenheit, dass im Bereich des Triple/Quadruple Play tatsächlich strukturelle Effekte in Gang gesetzt werden können: Die breiten technologischen Möglichkeiten werden sicherlich Anwendungsfelder eröffnen. Ob diese allerdings dort liegen werden, wo die Unternehmen vermuten, ist zur Zeit kaum zu sagen – zu viele Unbekannte und die wechselseitige Dynamik zwischen Technologieentwicklung, Implementierung in der Produktion und sozialer Akzeptanz machen Prognosen fast unmöglich. Für die Zeitschriftenverlage ist also vorsichtiges Agieren angesagt – zumal die hochinteraktiven Angebote des Triple/Quadruple Play mit den Kernkompetenzen der printaffinen Industrie nicht direkt in Einklang zu bringen sind. Zwar ist denkbar, dass Print-Inhalte auch entsprechend nutzbar gemacht werden; doch hat sich bereits beim Eintritt klassischer Print-Titel in den Fernseh- oder InternetMarkt gezeigt, dass Synergien nur begrenzt entstehen und der Medienwechsel auch zumeist den Aufbau eigener redaktioneller Strukturen mit 61

Im Januar 2006 wurde auf der Consumer Electronics Show bekannt, dass Microsoft mit dem Satelliten-TV-Anbieter DirecTV zusammenarbeitet (heise 2006). Kurz darauf verbreitete sich die Information, dass man plane, Downloads von Serien und Filmen über das Netz auf der XBOX 360 zu ermöglichen.

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sich bringt.62 Was die Verlage als Startvorteil vor allem mitbringen, sind ihre Marken – und das mit diesen verbundene Vertrauen in die entsprechenden Inhalte. Freilich sollte diese Ressource nicht unterschätzt werden – gerade bei sich verändernden Rahmenbedingungen und neuen medialen Formen können bekannte Marken für die Nutzer Ankerpunkte darstellen, die auf Sicherheit und Qualität verweisen.63 Zusammenfassend lässt sich konstatieren: Das zur Zeit gehypte Triple/ Quadruple Play ist für die Zeitschriftenverlage kaum eine direkte Konkurrenz – aber andererseits auch kein direkt anschlussfähiger Bereich, in den hauseigene Kompetenzen ohne weiteres eingebracht werden könnten.

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Ausblick – Netzwerkeffekte und Prognoseschwierigkeiten

Im vorigen Abschnitt wurden einige aktuelle Medieninnovationen besprochen und auf ihre technologische, ökonomische und soziale Viabilität hin geprüft; dabei wurde auch diskutiert, inwieweit hier für die Publikumszeitschrift mögliche Konkurrenzangebote oder Betätigungsfelder entstehen können. Die theoretische Untereilung in die drei Bereiche Technik, Ökonomie und Soziales diente vor allem als Heuristik, um die Wechselbeziehungen anzudeuten, die einen Erfolg oder Misserfolg von Innovationen im Medienbereich ausmachen können. Deutlich wurde dabei: Nicht die maximale Innovation eröffnet die meisten Optionen, sondern vor allem jene, die auf allen drei Ebenen relationierbar bleibt. So sind wohl Weblogs, Foren und Formen communitybasierter Kommunikation im Internet gerade deswegen erfolgreich, weil sie alltagskompatibel und damit sozial anschlussfähig sind.64 Dies deckt sich mit den Annahmen der theoretischen Orientierung, die komplexe, mithin auch widersprüchliche Dynamiken auf den drei Ebenen annimmt – allein die Technologie als Treiber der Entwicklung anzusehen, wie dies von Industrievertretern mitunter (zumindest implizit) unterstellt wird, wäre deutlich zu kurz gegriffen. Die angenommenen Entwicklungen auf den drei Ebenen legen aber auch nahe, dass Prognosen nur in Ausnahmefällen möglich sind – und zwar nicht nur, weil die Relationierung zu bestehenden Elementen schwierig einzuschätzen ist, sondern weil es zu eigendynamischen Veränderungen auf Netzwerkebene kommen kann, die 62

63 64

Vgl. z. B. Spiegel oder Focus und die entsprechenden Online- bzw. FernsehAbleger. Siehe Quandt (2005a). Vgl. das Beispiel Spiegel Online in ebenda. Vgl. hierzu auch von Pape u. Quandt (2006).

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Matthias Kempf, Thilo von Pape und Thorsten Quandt

nicht allein durch die Einzelelemente, sondern nur durch das Zusammenspiel im Netzwerk erklärt werden können.65 In diesem Sinne sind Voraussageschwierigkeiten nicht einem unzureichenden Modell geschuldet, sondern letztlich durch dieses Modell selbst wieder erklärbar. Für den Publikumszeitschriftenmarkt bedeutet dies angesichts der vielfältigen, teilweise gegenläufigen Entwicklungen wohl unruhige Zeiten. Hinzu kommt: Von den aktuellen Medieninnovationen wurden hier lediglich drei besonders exponierte näher betrachtet. Man könnte die Liste der potenziell konkurrierenden Angebote, und damit der Faktoren für weitere Dynamiken, sicher ausweiten: Zu nennen wären beispielsweise themenoder zielgruppenspezifische Webseiten von nichtmedialen Anbietern (z. B. Stadtinformationen oder Community-Seiten, die von öffentlicher Seite, Unternehmens-PR oder Privatpersonen angeboten werden) sowie spezialisierte Dienste wie z. B. Google Earth/Map. Zwar entsprechen diese weder in Zielrichtung noch Aufmachung der Publikumszeitschrift, doch bieten sie den Nutzern zumindest in Teilen vergleichbare Informationen und können partiell als Substitut (insbesondere für Titel außerhalb des General Interest-Bereiches) dienen. Auch können sie als Nebeneffekt Dynamiken in anderen Bereichen der Netzwerke auslösen (z. B. indem Sie als Strukturbrücke zwischen bislang unverbundenen Technologie-Clustern und somit als Katalysator technischer Veränderungen dienen66). Angesichts dieser „neuen Unübersichtlichkeit“ im Medienbereich bleibt für die Publikumszeitschriftenverlage wohl nur eine Sicherheit: nämlich die des konstanten Wandels. Wohin dieser Wandel den Markt mittel- und langfristig führen wird, ist eingedenk der vorgestellten theoretischen Überlegungen und der unübersichtlichen Lage im Bereich der (netzbasierten) Medieninnovationen nicht vorherzusehen; damit bleibt die Entwicklung des Medienmarktes für die Unternehmen schwer planbar, risikoreich – und für die Wissenschaft weiterhin sehr spannend.

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65 66

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Dritter Teil

Perspektiven für die klassische Publikumszeitschrift

Totgesagte leben länger – ein Plädoyer für die gedruckte Publikumszeitschrift

Christoph Fasel

Eigentlich müssten die Zeitschriftenmacher unter den Journalisten leicht auszumachen sein: Geht es nach dem, was Medienauguren seit zwei Jahrzehnten prophezeien, dürfte ein heutiger Zeitschriftenschreiber gramgebeugt durch Redaktionsflure irren, in denen seine Schritte widerhallen ob der Leere – denn die meisten seiner Kollegen haben ihren Job schon verloren. Die Lieblingsfarbe des Zeitschriftenmachers ist schwarz – so schwarz wie die Zukunftsprognosen jener Forscher, die ihm schon im ersten Internet-Hype der 90er Jahre vorgerechnet haben, dass angesichts der Digitalisierung des Medienkonsums die gedruckte Zeitschrift auf der Altpapierhalde der Mediengeschichte landen werde. Die Zeitschriftenmacher – eine bedrohte Art? Schreiben wir die aktuellen Untersuchungen zum Medienkonsum fort, drängt sich der Eindruck auf. Nur noch 19 Prozent der jungen Medienkonsumenten zwischen 14 und 19 greifen zu einer Zeitschrift, wenn sie sich über ein spezielles Thema informieren wollen – 67 Prozent dagegen gehen dazu ins Internet, wie die Allensbacher Werbeträger-Analyse im Jahre 2005 feststellt. Nutzungsanalysen bestätigen, dass vor allem bei jüngeren Medienkonsumenten die Digitalisierung voranschreitet. Nur noch ganze zwölf Minuten, so zeigen neue Zahlen, widmen sie am Tag der Zeitschrift – ein Vielfaches davon jedoch Radio, Fernsehen und vor allem dem Internet. Wird also die gedruckte Zeitschrift zum Neandertaler der Mediengeschichte, der den rechten Augenblick seines Aussterbens verpasst hat? Manche Tendenzen scheinen darauf hinzudeuten. Tatsächlich verlieren viele Zeitschriften an Auflage. Der Erosionsprozess vollzieht sich parallel zur galoppierenden Entwicklung der Angebote in der digitalen Medienwelt: Video-on-Demand, eine explodierende Gaming-Szene, Fernsehen auf dem Handy, ausufernde mobile Dienste und Entwicklungen wie

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Christoph Fasel

das E-Paper knabbern beharrlich am Zeitbudget, das der Mediennutzer heute noch auch der Zeitschrift schenkt. Da erhebt sich die bange Frage: Wann wird zum letzten Mal eine Druckmaschine angeworfen, um eine gedruckte Zeitschrift auf den Markt zu bringen? Keine Bange: So schnell gibt sich das Genre nicht geschlagen. Auch wenn schon mit der Einführung des Privatfernsehens in den 80er Jahren düstere Prognosen für die Zeitschriftenmacher in Mode kamen, auch wenn der Internet-Boom die Kassandra-Rufe lauter werden ließ, auch wenn HDTV, Internet, Mobile und E-Paper mittlerweile darauf lauern, die Leser abspenstig zu machen – und damit die Frage lauter als je zuvor aufwerfen: Hat die gedruckte Zeitschrift überhaupt noch eine Zukunft? Die Antwort lautet: Ja, und wie! Denn Zeitschriften transportieren weit mehr als nur journalistische oder unterhaltende Inhalte. Sie bauen Lebenswelten, entführen den Leser in Träume, schaffen Mythen und bestätigen den Leser in seiner Weltsicht. Und anders als elektronische Angebote tun sie das auf Papier, das neben aller Information und Emotion auch eine spezielle Form von Sinnlichkeit transportiert. Deshalb hier in Kürze die fünf wichtigsten Gründe, warum wir auch in Zukunft noch Zeitschriften lesen werden. Erster Grund – Zeitschriften sind die Heimat für Leser

Wir sind und bleiben Bewohner des Blätterwaldes – die Eigenschaft des entspannten Lesens um des Lesens willen ist eine Kulturfertigkeit, die den Zeitschriftenleser vom Fast-Food-News-Konsumenten der New Economy unterscheidet. Denn eine ursprüngliche Schwäche mutiert mittlerweile zur Stärke der gedruckten Zeitschrift. Schon immer waren Publikumszeitschriften ja eigentlich entbehrliche Medienprodukte. Im Gegensatz zu Tageszeitung und Fachzeitschrift müssen sie sich ihr Publikum von Woche zu Woche und von Monat zu Monat von neuem erobern – durch Unterhaltung, Information und Faszination gleichermaßen. Deshalb war die gedruckte Publikumszeitschrift immer schon die Domäne der Blätterer und Genießer, und nicht die der primär Informationswütigen, für die die Anhäufung von Fakten vor Orientierung und Hintergrund steht. Der Blätterwald bleibt die Heimat der Lesenden. Und Leser, die gern Papier in die Hand nehmen, wird es aller Voraussicht nach immer geben. Nur ein Indiz dafür: Bisher ergänzte jedes neue Medium in der Mediengeschichte die bisherigen – verdrängt wurde keines. Und mehr noch: Schadet denn nicht die zweite Internet-Welle, auf der wir zur Mitte des Jahrzehnts gerade schwimmen, vor allem dem alten elektronischen Medium – dem Fernsehen? Dieselben Studien, die den Niedergang der gedruckten Medien

Ein Plädoyer für die gedruckte Publikumszeitschrift

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bei den Jugendlichen belegen, zeigen, wie die in dieser Altersgruppe oft beklagten Wanderungsbewegungen hin zu Internet und Mobile ebenso den Fernsehkonsum der Jugendlichen empfindlich rupfen. Und dass die Kids in diesem Alter noch kaum eine Zeitschrift verlässlich lesen, sollte auch nicht verwundern. Ist doch die Zeitschrift selbst das Medium der Reflexion – und nicht das der Berieselung. Der Wunsch nach Reflexion jedoch setzt analog zu den gesellschaftlichen Prozessen der verzögerten Adoleszenz offensichtlich immer später ein. Die Domäne der Zeitschrift, sie beginnt mittlerweile in vielen Sparten erst im Alter ab Mitte dreißig – dann, wenn sich die Mediennutzer den elementaren Fragen des Lebens stellen und sie bemerken, dass die große Party vorbei ist. Zeitschriftenleser sind in unserer Gesellschaft größtenteils diejenigen, die älter und damit reifer geworden sind. Ein Umstand, den man bei der Betrachtung erschütternder Analyse-Zahlen zur Mediennutzung nicht vergessen sollte – genauso wenig wie die Tatsache, dass eine Neugründung auf dem Zeitschriftenmarkt für Jüngere wie Neon es schafft, mittlerweile Monat für Monat über 160.000 Exemplare zu verkaufen. Und das in einer Zielgruppe, von der immer wieder behauptet wird, sie sei weder willens noch fähig, dem gedruckten Wort seine Gunst zu schenken. Aber, so könnte man dennoch fragen, wie steht es denn mit der Fähigkeit zu lesen? Haben uns nicht PISA und Verständlichkeitstests gezeigt, dass es mit dieser Kulturfertigkeit bergab geht? Auch hier hilft Differenzierung: Tatsache ist, dass in einem Teil des Bildungsspektrums die Fähigkeit, Texte in deutscher Sprache sinnerfassend zu lesen, offensichtlich abgenommen hat. Dies gilt vor allem für Zuwanderer. Dennoch: Lesen werden die Jugendlichen von heute auch morgen. Sie müssen es – weil sie nämlich ohne diese Fertigkeit auch kein Internet-Angebot nutzen können. Und wer will dabei schon abseits stehen? Hinzu kommt die Sehnsucht nach Orientierung in einer zunehmend komplexer werdenden Welt. Einen wichtigen Teil dieser Orientierung liefert der Qualitätsjournalismus, wie er sich – neben der Qualitäts-Tageszeitung – vor allem in der gedruckten Publikumszeitschrift und ihren starken Marken wie z. B. Spiegel, Stern oder Brigitte wieder findet. Hintergrund dieser Sehnsucht ist der offensichtlich im öffentlichen Diskurs als zunehmend empfindlich wahrgenommene Verlust der Medien als Kristallisationspunkte der öffentlichen Debatte. Zusammen mit den Angeboten des öffentlich-rechtlichen Fernsehens waren es nämlich die großen Publikumszeitschriften, die jahrzehntelang die Bürger der Bundesrepublik Deutschland auf einen annähernd homogenen Informationsstand brachten. Gerade die gedruckte Publikumszeitschrift bot der Bürgergesellschaft bis Mitte der 80er Jahre „ein gemeinsam geteiltes Wissen, einen gemeinsam geteilten Aufmerksamkeitsfokus“, wie Hubertus Buchstein in der deutschen Zeit-

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Christoph Fasel

schrift für Philosophie im Jahre 1996 feststellte. Die Ausbreitung des Privatfernsehens markiert den Anfang vom Ende dieser Ära. Denn das wachsende Angebot von Fernsehsendern und -inhalten leitete die bis heute fortschreitende „Privatisierung der Öffentlichkeit“ ein, wie Wieland Gellner formulierte. Spätestens seit diesem Zeitpunkt ist es nicht mehr angemessen, von der einen die Gesellschaft umfassenden Öffentlichkeit zu sprechen. Verstärkt wird dieser Trend einer sich stetig weiter differenzierenden Gesellschaft und der damit verbundenen zunehmenden Atomisierung der Mediennutzung seit den 90er Jahren durch das Internet. Die InternetCommunity zerfällt in unzählige Individual-Öffentlichkeiten, in denen sich jeder nur noch darüber informiert und darüber diskutiert, was ihn als Individuum interessiert. Christina Holtz-Bacha diagnostiziert dazu: „Insofern fehlt dem Netz die Gemeinschaft stiftende Kraft, wie wir sie von den alten Massenmedien kennen.“ Zweiter Grund – Papier gibt Freiheit

Die Zeitschrift auf Papier hat Zukunft, weil sie Verfügbarkeit ohne technischen Anspruch signalisiert: überall nutzbar, überall hin transportierbar, ohne jedes technische Hilfsmittel lesbar. Auch ein E-Paper beispielsweise braucht ein Netz, z. B. ein WLAN, über das es seine Informationen empfangen kann – und bei Zeiten eine Ladestation. Hier wird zweierlei deutlich: einerseits Abhängigkeit von außen und andererseits auch Kontrolle über das, was ich nutze. Hinzu kommt: Eine Zeitschrift stellt rein körperlich gesehen keinen großen Wert dar. Ich kann sie auf der Parkbank vergessen, am Strand zerfleddern oder im Schwimmbad ins Becken fallen lassen – der materielle Verlust bleibt gering. Zumal nach dem Lesen. Die Freiheit, die der Medienkonsum auf Papier gibt, korrespondiert mit dem Wunsch vieler Mediennutzer, immer ungebundener erleben zu können. Unter diesen Umständen wird die Zeitschrift – im Gegensatz zu elektronischen Medienangeboten – sogar zu einem Hort der medialen Freiheit. Denn kein Mensch kann bei der gedruckten Zeitschrift mitprotokollieren, was ich nun gerade lese – und was ich überblättere. Ein beruhigendes Gefühl. Dritter Grund – Zeitschriften berühren die Sinne

Der dritte Grund dafür, dass die gedruckte Zeitschrift überleben wird, sind ihre Optik, ihre Haptik und ihre Sinnlichkeit. Papier hat seine eigenen Reize: Man kann es fühlen, man kann es umblättern, man kann es körperlich

Ein Plädoyer für die gedruckte Publikumszeitschrift

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bewegen. Zudem kann man es riechen, zumal dann, wenn es mit qualitativ hochwertigen Farben bedruckt wurde. Kein elektronisches Medium kann uns den Genuss des Tastsinns so vermitteln wie das Papier: sei es ein drucklackierter Titel, sei es ein schwerer Einband, sei es die Brillanz eines ausgezeichneten Papiers. Allein der Genuss, über eine schön gestaltete Seite zu streichen, Papier durch die Finger gleiten zu lassen, seine Lektüre im wahrsten Sinne des Wortes selbst in die Hand nehmen zu können, ist eine sinnliche Sensation, die man nicht nur bibliophilen Nostalgikern zutrauen sollte. Und dann ist da noch die Optik eines gedruckten Bildes. Seine Ruhe bietet gegenüber dem digital vermittelten Bild verschiedene Vorteile. Studien zeigen, dass die Lektüre eines Textes am Bildschirm rund ein Viertel mehr Aufmerksamkeit verschlingt als auf dem gedruckten Papier. Der Grund liegt in der Technik: Computer-Bildschirme bauen ein Bild immer wieder auf, zigfach pro Sekunde. Das menschliche Auge bemerkt das nicht – dennoch ermüdet es schneller, als wenn es einen Text auf gedrucktem Papier wahrnimmt. Vierter Grund – Zeitschriften stiften Identität

Gedruckte Zeitschriften sind weit mehr als bloße Informationsträger. Sie sind Marken, mit denen sich der Leser identifiziert. Sie bestimmen einen Teil seiner Selbstsicht: Ich bin eine Brigitte-Leserin oder ein Spiegel-Leser und zeige das auch ganz bewusst meiner Umwelt. Die gedruckte Zeitschrift liegt auf der Hutablage im Auto, auf dem Kaffeehaustisch oder in meinem Wohnzimmer, steckt in der Tasche meines Mantels. Ob Geo oder Stern, Mare oder Brand Eins – der Titel versieht den Leser mit einem Teil seiner Aura. Gedruckte Zeitschriften sind ein Ausdruck der Persönlichkeit ihres Lesers – abgerufene Websites sind das in der Regel nicht. Goethes ironisches „denn was man schwarz auf weiß besitzt, kann man getrost nach Hause tragen“ erhält bei der Betrachtung der körperlichen Informationsübermittlung via gedruckter Zeitschrift einen zusätzlichen Sinn. Der Zeitschriftenleser ist kein schlichter „User“, der den Inhalt seines Blattes abgreift wie ein flüchtiger Surfer im Web. Nein: Die Aneignung des Inhaltes einer gedruckten Zeitschrift vollzieht sich auf einer gänzlich anderen Ebene. Der Zeitschriftenleser bemächtigt sich der redaktionellen Leistung, die ihm geboten wird, auf körperliche Weise. Er nutzt die Zeitschrift nicht – er liest sie, versteht sie, taucht in ihre Welt ein. Die gedruckte Zeitschrift wird durch diesen Akt der Rezeption zu einem persönlichen Ausdruck des Lesers. Er integriert sie in seine Welt. Die Marke, der er sich anvertraut, ist für ihn im Medium des bedruckten Pa-

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Christoph Fasel

piers nicht nur virtuell, sondern auch körperlich präsent. Das bedeutet in der Konsequenz mehr Nähe und mehr Identifikation und damit mehr Emotion in der Vermittlung als auf einem digitalen Vermittlungsweg. Fünfter Grund – Zeitschriften sind Lektüre für Genießer

Eine zentrale Emotion schließlich liefert das Stichwort für den fünften und letzten Grund dafür, dass die gedruckte Zeitschrift immer ihren Leser finden wird: Einer der bestimmenden Faktoren ihrer Rezeption war und ist der Genuss. Mittlerweile arbeiten über zwei Drittel aller Deutschen beruflich mit einem digitalen Medium. Das heißt: Der Bildschirm und damit die digitale Ausgabe von Informationen gehören zum Lebensfeld der Arbeit. Jugendliche nehmen diese Zuordnung häufig nicht wahr – stehen Sie doch noch nicht im Arbeitsleben. Wer jedoch durch seinen Job acht Stunden oder mehr mit einem digitalen Medium verbringt, stößt in seiner Freizeit irgendwann an die Grenzen der neuen Medien. Denn vor dem Computer liest und arbeitet er „leaning forward“ – mit voller Konzentration. Das rückt jedoch den Umgang mit der digitalen Information zusehends in Richtung Broterwerb und damit Mühsal. Das bedruckte Papier der Zeitschrift dagegen genießt der Leser „leaning back“, zurückgelehnt im Sessel, blätternd, entspannt. Hier beginnt die Verheißung der anderen Welt, wie sie vor allem die gedruckte Publikumszeitschrift vermitteln kann: Eine Publikumszeitschrift zu lesen, bedeutet im Vergleich mit anderen Medien vor allem, die Lektüre bewusst zu genießen. Denn der Zeitschriftenleser widmet sich weder dem Zappen noch dem Surfen, er will keine Häppchen, sondern Hintergründe, die ihm von einem klar erkennbaren und professionalisierten Absender unter einer Marke angeboten werden, der er Vertrauen schenken kann. Fazit

Immer noch ist das Lesen in breiten Bevölkerungsgruppen eine Tätigkeit, die Identifikation und Glück verheißt. Lesen macht glücklich, stellt Elisabeth Noelle-Neumann in ihren Mediennutzungsforschungen fest: „Der Zusammenhang zwischen regelmäßigem Lesen und Wohlbefinden ist eine der von der Sozialforschung am besten belegten Tatsachen.“ Dieser Genuss des spezifischen Umganges mit der gedruckten Publikumszeitschrift abseits der elektronischen Vermittlungsformen wird – so steht zu erwarten – auch in Zukunft für eine befriedigend hohe Anzahl von Menschen seinen Reiz behalten.

Ein Plädoyer für die gedruckte Publikumszeitschrift

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Dies ist die zentrale Botschaft: Die immer wieder neue Faszination der gedruckten Zeitschrift ist ihre beste Zukunftssicherung. Klar ist: Neue Titel werden keine Millionenauflagen mehr produzieren können. Dazu ist der deutsche Zeitschriftenmarkt, der verrückteste der Welt, zu dicht besetzt. Klar ist auch, dass sich generell die Mediennutzung verändert und dass mit jedem neu hinzu kommenden Medium das potenziell verbleibende Zeitbudget für die gedruckte Zeitschrift geringer werden wird. Klar ist aber andererseits: Eine zündende publizistische Print-Idee wird auch in zwanzig Jahren noch ihre Leser auf gedrucktem Papier finden. Dazu hat die gedruckte Zeitschrift in den letzten Jahrzehnten einfach zu viele Kassandra-Rufe überlebt. Totgesagte leben halt länger.

Perspektiven journalistischer Präsentationsformen in General Interest-Zeitschriften

Michael Haller und Andreas Eickelkamp

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Einleitung

Es sind gute Nachrichten, die Martin F. Brunner im Sommer 2005 im Zuge seiner Expertenbefragung zum Trend bei den Publikumszeitschriften hat sammeln können.1 Die Mehrheit der Befragten sieht die Publikumszeitschrift keineswegs bedroht, sondern glaubt, dass vor allem die großen Zeitschriftenmarken ihre Positionierung im Markt noch werden ausbauen können – eine Einschätzung, die durch die Auflagen- und Reichweitenentwicklung grosso modo bestätigt wird: Trotz der hohen Nutzungszuwächse beim Hörfunk und den Bildschirmmedien sowie der Rückgänge bei den Zeitungen ist die Nutzung von Publikumszeitschriften keineswegs rückläufig, sondern weiterhin stabil.2 Auch vergrößert sich die Zahl der Titel infolge erfolgreicher Neugründungen jedes Jahr um mehr als hundert; der Zeitschriftenlesermarkt weitet und differenziert sich weiter aus.3 Nun gehören die Zeitschriften – auch und sogar die Illustrierten – zu den Lesemedien. Man wäre daher geneigt, auf die gute eine schlechte Nachricht folgen zu lassen. Denn die Lesekompetenz zumal unter den 14- bis 29-Jährigen geht deutlich zurück – dies zeigen u. a. die von der Stiftung Lesen durchgeführten Erhebungen. Und wenn zudem in Rechnung gestellt wird, dass die Bedeutung der Lesekompetenz für die großen Publikumszeitschriften weiterhin maßgebend sein wird, dann besteht Grund zur Sor1 2 3

Vgl. Brunner (2005). Vgl. Gerhards u. Klingler (2006), S. 88 f. Vgl. Heinrich (2002), S. 73.

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ge: Könnte den Magazinen etwa ein ähnliches Schicksal blühen wie den Abonnementszeitungen, denen die jungen Leser unter 29 Jahren nach und nach abhanden kommen? Der beruhigende Verweis auf die stabilen Auflagenzahlen könnte sich als eine Schimäre erweisen, da das lesende Publikum immer älter wird, bis es dann innerhalb zweier Jahrzehnte ausstirbt, ohne dass ihm eine hinreichend lesekompetente Generation nachfolgt. Beruhigenderweise handelt es sich hier (bislang) nur um eine Gedankenspielerei. Denn zum einen ist es keineswegs so, dass die Lesekompetenz in allen Bevölkerungssegmenten schwindet; und zum anderen hat die Zeitschrift – insbesondere die Publikumszeitschrift – eine spezifische Art der Themenaufbereitung, der Darstellung und Präsentation entwickelt, die mehr Anreize bietet als die reine Textlektüre. Worin diese Spezifika bestehen, wie sie gestalterisch angewendet werden und sich weiter entwickeln, beschreibt der erste Teil dieses Beitrages. Im zweiten Teil geht es dann um einen den modernen Zeitschriftenjournalismus in besonderer Weise prägenden Modus der Themenaufbereitung und -präsentation: um den Nutzwert.

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Die Präsentationsformen – Stärkung des Grundkonzepts der Gattung Zeitschrift

Selbst Magazine in der Machart des Spiegel, Illustrierte wie der Stern oder People-Titel nach Bunte-Art können ihre Herkunft als Abkömmlinge des Buches nicht verleugnen: Im Unterschied zur Zeitung mit ihren Schlagzeilen, Aufmachern und Kurzmeldungen (sie stammt bekanntlich vom Flugblatt und vom Brief ab) bietet die Zeitschrift ihre Themen und Texte „sequenziell“ – also nacheinander, eingebunden im Rahmen des definierten Formates (Seitenraster) und einer festgelegten Typografie. Seit dem ersten Periodikum – es war die erstmals um 1600 erschienene Rorschacher Monatsschrift Historische Relatio4 – hat diese Struktur ihre Gültigkeit behalten: auf der Makroebene von vorn nach hinten (= Heftstruktur), auf der Mesoebene von links oben nach rechts unten (= Seitenaufbau) und auf der Mikroebene vom Anfang zum Ende (= Textstruktur). Auch die kühnsten Layouts, die Textfetzen vor üppige Bildstrecken platzieren und die Lesegeschichte irgendwo in einer Seitenecke beginnen lassen (man denke an Titel wie Brandeins), können sich über das Grundkonzept der Zeitschriftenmache nur ausnahmsweise hinwegsetzen – es sei denn, sie folgen einer 4

Kerlen zählt das 1665 in Paris erschienene Le Journal des Sçavans als erste gedruckte Zeitschrift (2003, S. 119).

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kurzlebigen Mode oder tummeln sich mit ihrer Fangemeinde in einer kleinen Special Interest-Nische. Initiiert durch technische Innovationen, durchlief der Zeitschriftenjournalismus zwischen 1850 und 1950 radikale Neuerungen, die glauben machen, damit sei die obige These bereits widerlegt: Chemiegrafie und Autotypie, Hochglanzpapier, Rotationsdruck, Farbdruck, Tiefdruck, Offset. Und doch änderten sie nichts am genannten Grundkonzept; auch die berühmte, seinerzeit als Inbegriff der Moderne verstandene Berliner Illustrierte folgte dem Grundkonzept, ebenso die nach dem Krieg neu aufgelegten bunten Hefte und Magazine. Erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts mit ihrem Trend zur fortschreitenden Visualisierung der Information und (in diesem Zusammenhang) unter dem wachsenden Konkurrenzdruck seitens des Fernsehens verschoben sich die Parameter textbasierter Medienkommunikation.5 Als dann mit der Digitalisierung der redaktionellen Produktion der alle Bereiche integrierende Ganzseitenumbruch möglich wurde, schienen die Fesseln gesprengt. Raster und Formate wurden aufgebrochen, die Bildgestaltung zum Freiraum der Phantasie erklärt, die Typografie von ihren Zwecken befreit. In vielen Verlagshäusern wurde experimentiert, als könne man die Welt der Zeitschriften nochmals neu erfinden. Wohin hat dieser Aufbruch die Zeitschriftenmache seither geführt? Wenn wir Publikumszeitschriften der frühen 50er Jahre (Quick, Kristall, Stern) mit jenen der 90er Jahre vergleichen, so entdecken wir in der Tat grundlegende Veränderungen in der Gestaltung, in der Art der Themenaufbereitung und -präsentation, deren Trends indessen in eine ganz andere Richtung deuten als zunächst erwartet. Beleuchten wir sie anhand der drei genannten Dimensionen etwas näher. Auf der Makroebene der Heftstruktur fand zweifellos eine Dynamisierung statt. Zunächst und noch bis tief in die Nachkriegszeit wurden die Themen und Texte nach der Logik der Buchkapitel (Ressorts und Rubriken) eingeteilt: Das Aktuelle und Spektakuläre steht am Anfang; es folgen die einzelnen Themenstrecken mit abnehmender Attraktion (Ausland, Wirtschaft, Kultur usw.), dahinter Kurzstoff-Seiten, am Ende (zum Ausklang) dann Kurzweil und Unterhaltung (Kreuzworträtsel, Witzseite u. Ä.). Etwa drei Jahrzehnte später sieht die Struktur deutlich anders aus: Jetzt werden die Leser gleichsam bei der Hand genommen und durch das Heft hindurch geführt. Die Lektüre beginnt mit aktuellem, meist leichtem Kurz5

Unter der Konkurrenz des Fernsehens gerieten damals zahlreiche Titel in eine Existenzkrise; mehrere wurden fusioniert oder eingestellt (Kristall, Revue, später Quick), andere veränderten ihre gesamte Gestaltungs- und Präsentationsphilosophie.

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stoff, ehe im Heftinneren die Schwerpunktthemen über großflächige Bildstrecken ausgebreitet werden – eine Verpackung, die sich am Sinnbild der Menüabfolge orientiert: Nach dem „Amuse-Gueule“ und der Vorspeise kommt das opulente Hauptmenü, dem die Nachspeisen folgen. Wegweisend war der Stern, dessen Cheflayouter Rolf Gillhausen, später auch Chefredakteur (1980 bis 1984), aus der Zeitschriftenlektüre ein Erlebnis machen wollte. „Blatt-machen ist Kombinatorik, es ist das Sehen des Ganzheitlichen. [...] Dramaturgie entsteht durch Geschlossenheit.“6 Vor allem die Klatsch- und People-Titel (Revue, Bunte) überboten sich mit neuen Dramaturgien, die dem Perlmuschel- oder Mantel-Schema folgten: aufschlagen und enthüllen bis hin zur Heftmitte, wo sich das Kleinod – oder auch nur der „Knaller“ – befindet. Doch seither haben sich die Mediennutzung und so auch die Philosophie der Heftdramaturgie weiter verändert. Mit dem wachsenden Überangebot werden die Medienkontakte flüchtiger und die Aufmerksamkeit zum raren Gut. Die Leser nehmen sich ihre Zeitschrift nicht mehr vor wie ein Buch, sondern wollen zwanglos durchs Angebot flanieren. Folgerichtig wurde die Idee der Geschlossenheit aufgegeben und – auch hier blieb der Stern mit seinem 1994 vollzogenen Relaunch Vorreiter – die Heftstruktur nach dem Sinnbild der Reise konzipiert; diese sei so zu organisieren, dass sich Spannung und Entspannung, kurz und lang, Dramatik und Epik ablösen. Aus der Sicht der Leser bedeutet dies weniger Zwang, freilich für den Preis der Beliebigkeit. Um ihr zu begegnen, müssen die Inhalte informativ, die Bildaussagen gefühlsstark und die Präsentation mit nutzwertigen Aspekten angereichert sein. Vor allem aber muss der Durchgang durchs Heft klar und übersichtlich sein – die totgesagte Strukturierung in Kapitel und Rubriken ist zurückgekehrt, nun nicht mehr als starres Ressortschema, sondern als zweckdienliche, je Ausgabe variierende Gliederung im sequenziellen Nacheinander des Angebotes. Diese Re-Strukturierung lässt sich am Trendsetter Neon7 ablesen: Das Monatsmagazin führt seine Leser nicht über Ressorts, sondern über Themenrubriken durchs Heft (Gliederung: Wilde Welt/Sehen/Fühlen/Wissen/Kaufen/Freie Zeit/Immer). Es setzt dabei auf die Attraktion jeder einzelnen Geschichte und lädt eher diskret zum Flanieren ein. Auf der Mesoebene der Seitengestaltung fand im Zuge der Computerisierung der wohl radikalste Wandel statt. Der Bildanteil – Zahl und Fläche – war rasant angestiegen, doch meist um optischer Effekte willen.8 Dank 6 7

8

In: werben&verkaufen 5/1986. Neon ist die erfolgreichste Zeitschriften-Neugründung seit der Jahrtausendwende (verkaufte Auflage 2. Quartal 2006: 180.000). Vgl. Nolting (1981), S. 30 f.

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der in den digitalen Ganzseitenumbruch eingebundenen Werkzeuge – allen voran die Bildbearbeitung – war nun alles machbar: Farbenspiele in allen Abstufungen sowie Überblendungen und Bildmanipulationen bis zur Strafbarkeit. Die gesamte Typografie konnte nun stufenlos skaliert, gestaucht und verzerrt, Bildflächen unter die Texte („abgesoftet“) gelegt oder in die Spalten geschoben werden. Diese fürs Beliebige offenen Gestaltungsräume entsprachen dem damals neuen Zeitgeist, der alle Grenzen aufheben wollte und das Virtuelle zur wahren Bühne der Phantasie erkor. Stilbildend wirkte der Designer David Carson, dessen Szene-Zeitschriften (Beach-Culture, Ray Gun u. a.) weltweit mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet wurden. Er gestaltete 1996 das Zeit-Magazin, dessen eigenwillige Stilsprache wiederum viele Nachahmer fand. Doch der große Aufbruch entpuppte sich bald als kurzlebige Mode, nicht zuletzt, weil das Design aus der funktionsgebundenen Seitengestaltung eine Ästhetik der Entgrenzung machte, die keine Inhalte vermitteln, sondern sich selbst zur Darstellung bringen sollte. Die publizistische Marke, so wurde auch unter Zeitschriftenmachern deutlich, transportiert sich nicht über die Form, sondern über den visuell-textlichen Inhalt.9 Mit dem Untergang der meisten zeitgeistigen Neugründungen fand auch bei den Publikumszeitschriften eine Rückkehr zur funktionalen Grafik statt: keine visuelle Effekthascherei mehr; Raster und Farbe für die sequenzielle Leserführung; einfache Infografiken zur visuellen Stützung komplexer Aussagen (Informationen); die Typografie wieder im Dienste der Lesbarkeit. Und statt wilder Montagen klar figurierte Freisteller. Auch in der Bildsprache fand man zurück zu den Inhalten: Statt großer bunter Flächen und Symbolbebilderungen nimmt man nun aussagestarke bzw. informationshaltige Bilder, so lautet die aktuelle Blattmacherphilosophie.10 Nicht zuletzt die anhaltend hohe Reputation textlastiger Erzählmagazine – prototypisch The New Yorker – stützten diese Rückbesinnung auf das textbasierte, die sequenzielle Erschließung der Inhalte befördernde Design als Gattungsmerkmal der Print-Medien, also auch der Zeitschriften.11 Auf der Mikroebene der Textstrukturen überwog in den 50er Jahren der klassische, an der Kolportage (wiedergeben, was uns erzählt wurde) ausgerichtete Berichtsstil, garniert mit fiktionalem Unterhaltungsstoff (wie dem Fortsetzungsroman). In den folgenden Jahrzehnten suchten viele Illustrier9 10

11

Vgl. Straßner (2002), S. 30 f. Der Bildanteil mache seither etwa 50 Prozent des verfügbaren redaktionellen Raumes aus, errechnete Straßner (2002, S. 29). Dessen ungeachtet bleibt die Regel wirksam, dass in den Publikumszeitschriften große Themen an die Bedingung ihrer optischen Umsetzung gebunden bleiben – vgl. Boes (1997), S. 225.

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ten-Redaktionen nach einer griffigeren, lebendigeren Darstellungsform, um sich von den großen Tages- und Wochenzeitungen besser abzugrenzen und dem Trend zur Personalisierung der Themen zu genügen. Dabei ahmten viele Titel (auch hier gab lange Zeit der Stern den Ton an) die Darstellungsform des Nachrichtenmagazins Der Spiegel (newsmagazinestory) nach und bauten daraus eine eigentümliche, mit Kolportageelementen durchsetzte Feature-Form. Sie blieb bis in die 90er Jahre die vorherrschende, freilich klischeehaft gebrauchte, durchkonfektionierte Form. Das Zusammenspiel von Bild und Text wurde seit den 60er Jahren immer wieder neu orchestriert, im Versuch, eine neugiersteigernde Symbiose zu finden. An die Stelle der illustrierten Berichte trat die große Bildergeschichte, auf die eine Bild-Text-Präsentationsform folgte: Bei großen Themen wurde (und wird) dem Text eine mehrseitige Bildstrecke vorgeschaltet, in der Meinung, dass der durch die Bildaussagen erzeugte Emotionalisierungseffekt auf die Lektüre neugierig mache – auch darin erkennt man den Versuch, auf die Herausforderung der Bildschirmmedien „mediengerecht“ zu antworten. Inzwischen setzen sich flexiblere, auf das jeweilige Thema und vorhandene Bildmaterial funktional zugeschnittene Formen durch: Mal beginnt eine Strecke mit Text plus Illustration, mal sind beide Ebenen ineinander verschränkt, mal wird (insbesondere bei exklusivem Material) die Bildstrecke dem Text vorgeschaltet – eine Flexibilisierung, die anzeigt, dass sich die Präsentationsmuster wieder dem Inhalt unterzuordnen und den Informationstransfer im Nacheinander des Rezeptionsprozesses zu fördern haben.12 Parallel zu diesen Trends haben sich auch die textbezogenen Darstellungsformen verändert – und erweitert. Man kann darin auch eine Antwort auf veränderte Nutzungsweisen des Publikums sehen. Unter dem Eindruck der Informationsüberflutung und der fortgesetzten Überreizung mit Medienattraktionen weigern sich insbesondere die formal besser Ausgebildeten, Zeitschriften nach Maßgabe hergebrachter Nutzungsgewohnheiten zu konsumieren. Sie stellen höhere Anforderungen an die Inhalte: Diese sollen nicht nur informativ, sondern auch bemerkenswert und für das Alltagsleben bedeutsam – und wenn nicht, dann zumindest kurios und anteilnehmend – sein. Für das Thematisieren, also die Themenfindung und -aufbereitung, hat dies weit reichende Konsequenzen. Um exklusive Nachrichtengeschichten zu generieren, muss vermehrt recherchiert werden. Um anteilnehmende Geschichten zu erhalten, muss erzählt werden können. Bemerkenswert ist 12

Indirekt wird dies durch die Fotoinszenierungen, durch die Bildmanipulationen und -fälschungen der Regenbogen-Presse im Umgang mit Prominenten bestätigt – sie will aktuell-exklusive Inhalte bieten, auch wenn diese nicht vorliegen.

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der Mix aus beidem: Die authentisch erzählende Erlebnisgeschichte erfordert ungewohnte Formen der Recherche. Und umgekehrt sollten Recherchen nicht mehr als faktizierender Bericht, sondern vermehrt als Erzählgeschichten aufbereitet werden. Der Trend heißt „narrativer Journalismus“, der seine Themen, Fakten und Geschichten sozusagen auf Augenhöhe seiner Leser zu erzählen und darzureichen sucht, um auf diesem Weg auch Nutzwert zu vermitteln (siehe den folgenden Abschnitt). Zu diesem Trend hat auch der unerwartete Markterfolg der beiden Nachrichtenmagazine beigetragen.13 Focus wandelte im Fortgang der 90er Jahre (Gründung 1993) den anfangs harten Faktenjournalismus mit seinem Kurzstoff („Häppchen-Journalismus“) und bunten Infografiken ab: weniger, dafür übersichtlichere Grafiken und weniger, zudem kurze Bildstrecken, dafür häufiger auch längere Erzähltexte. Auch bei anderen Magazinen folgten die Texte dem Trend: weg vom Feature-Bericht, hin zum Erzähljournalismus.14 Der Spiegel hat in den 90er Jahren die Bildsprache versachlicht (Rücknahme der Symbolbilder zugunsten aktueller Situationsbilder) und seine Textformen mit ganz unterschiedlichen Darstellungsformen durchsetzt, darunter vor allem die „echte“ Reportage sowie narrativ geschriebene, große Recherchen-Reports (vielfach prämiert: „Der 11. September“ als Serie 2002 sowie „Die Kinder von Beslan“ 2004) – ein Genre, das der Stern übernommen und kultiviert hat und dem selbst People- und Lifestyle-Titel nachzueifern suchen. Diese Erweiterung der Formen passt gut zum Wandel auf Meso- und Makroebene: Statt der starren Muster der 50er Jahre oder der wilden Vielfalt der 80er Jahre findet der Zeitschriftenjournalismus zu Präsentationsformen, die das klassische Gattungsmerkmal der Zeitschrift – ihre sequenzielle, dabei handliche Nutzung im überschaubaren Format – mit den modernen gestalterischen Mitteln aufgreift und stärkt. Vielfältige Angebote, aber keine Beliebigkeit; starke Visualität, aber nicht zwecklose Ästhetik; thematische Aktualität, aber stets auf die Akteure zentriert; bunte Ereignisthemen, aber aus der Perspektive der Leser als potenzielle Nutznießer der Information: Dies ist die Philosophie moderner Publikumszeitschriften „oberhalb“ der Yellow-Press – und zugleich die Renaissance 13

14

1992, ein Jahr vor Gründung von Focus, erzielte Der Spiegel eine verkaufte Auflage von 1 Mio. Exemplaren, die rund 3,5 Mio. Leser erreichten. Zehn Jahre später realisierten beide Magazine zusammen eine verkaufte Auflage von 1,8 Mio. Exemplaren mit einer gegenüber 1992 verdoppelten Leserschaft. Haller (1997), S. 561 ff. Ob diese Entwicklung nur Kosmetik bedeutet oder tatsächlich das publizistische Verständnis der Redaktionen erreicht hat, ist allerdings strittig; noch immer sehen viele Medienkritiker bei Focus einen Mangel an Kontextinformationen und Erzählformen.

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ihres tradierten Grundkonzepts. Sie zeigt, dass innovative Zeitschriftengestaltung vor allem dann erfolgreich ist, wenn sie das Grundkonzept nicht missachtet, sondern als ihr Gattungsmerkmal stärkt.15 Nun steht der hier umrissene Wandel der Präsentationsformen nicht isoliert da. Er ist vielmehr Ausdruck eines tiefer greifenden Mediennutzungswandels, der – überraschenderweise – der Gattung Zeitschrift insgesamt zugute kommt. Anders als in den 60er und 70er Jahren, als Henri Nannen, wenn er den Stern meinte, vom „Vergnügungsdampfer“ sprach, verstehen sich die Medienkonsumenten heute nicht mehr als Varieté-Publikum, das über den Feuerschlucker, die Frau ohne Unterleib und den Kaninchen-aus-demZylinder-Zauberer staunen möchte. Die Menschen kennen das alles schon aus den Medien. Sie erleben sich als reizüberflutet und überinformiert – und zugleich als nachhaltig verunsichert. Sie fühlen sich von den Medien bedrängt und gehen innerlich auf Abwehr. An die Stelle der Neugier tritt mehr und mehr zurückhaltende Skepsis, Motto: Muss ich das anschauen, hören, lesen? Diesem Trend kann die Zeitschrift begegnen, indem sie leistet, was die Rundfunkmedien nicht können: dem Leser aktuelles Wissen anbieten, ihn dabei emotional ansprechen – und ihn zugleich in seiner Konsumentenautonomie bestärken (Motto: Du kannst frei entscheiden, ob, wann und wie oft du unser Thema anschauen bzw. lesen willst). Sie erreicht dies durch ihr übersichtliches und abgeschlossenes Layout, durch anrührende, auch kontrapunktische Bildaussagen und informierende Geschichten, die authentisch und exklusiv über bedeutsame Vorgänge erzählen. Aus der Sicht der Leser heißt dies: Man möchte Dinge erfahren, die zu wissen wichtig oder doch zumindest bemerkenswert sind; man möchte an Erlebnissen 15

Diese Struktur-Renaissance veranschaulicht Neon prototypisch, indem der textbasierte Inhalt mit einer diskreten Typografie vermittelt und gelegentlich mit Bildergeschichten durchbrochen wird – aus einer das „Abweichende“ fokussierenden Perspektive, erkennbar an den gegen den Mainstream bewusst kontrapunktisch gesetzten Themen und Titeln, die zwischen Story, Essay und Nutzwert wechseln (Beispiele für Themenanrisse in Heft 6/2006 zum Auftakt der Fußball-WM: „Gesundheit: Das sagt der Körper. Schadet Fußballgucken der Gesundheit? Hilft Sex vor Referaten?“ (Kurzstoff mit ironisierenden Bildern über Forschungsbefunde.) Oder: „WM-Beauty: Bunter Schwede/Tolle Kosmetiktipps für die WM-Vorrunde.“ (Bilderfolge mit absurd bemalten Models.) Oder: „Schlaganfall. Die Polizei beteuert, sie habe die Hooligans bei der Fußball-Weltmeisterschaft im Griff. Viele bunte Zeitungen dagegen schreiben, es drohe Krieg. Wir haben die Hooligans selbst gefragt, was sie vorhaben. Und sie sagen: Da wird was gehen.“ (Reportagige Story; 70 Prozent Text, 30 Prozent Szenenbilder.)

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teilhaben, aber nicht in die Identifikation gezwungen werden wie beim Fernsehfilm. Der Klammerbegriff, der diese Funktionszuweisung an den Zeitschriftenjournalismus im normativen Sinne kennzeichnet, lautet: Orientierung. Dieser Funktion zugrunde liegt – wie bei der Tageszeitung – der Wunsch, sich im unübersichtlich gewordenen Alltag besser zurecht zu finden.16 Doch im Unterschied zur ereignisgebundenen Tageszeitung kann die Zeitschrift ihre Orientierungsleistung im partizipatorischen Sinne erbringen: Dank Heftdramaturgie, Seitengestaltung und Textstruktur kann sie ihre Themen so präsentieren, dass sich die Leser mitgenommen fühlen auf eine Reise, von der sie, wenn sie das Heft aus der Hand legen, bereichert in ihren Alltag zurückkehren. Früher genügte es, solch partizipatorische Effekte über Klatsch und Tratsch per Promi-Story zu erreichen (Idolisierung) – dies funktioniert heute weiterhin in den Segmenten niedrigpreisiger Frauenzeitschriften und der Yellow-Press-Tradition. Oberhalb dieser Segmente erwarten die etwas anspruchsvolleren Leser, dass sie mit ihren Bedürfnissen und Fragen von der Zeitschrift ernst genommen werden. Dies bedeutet umgekehrt: Um die Orientierungsfunktion zu erfüllen, müssen die Zeitschriftenjournalisten die Sicht ihrer Leser aufgreifen, ehe sie nutzwertig recherchieren, das Thema visuell aufbereiten und präsentieren können – ein Perspektivenwechsel, der den Journalismus insgesamt betrifft.

3

Präsentationsformen im Nutzwertjournalismus

Im Kontext des oben beschriebenen Funktionswandels der Mediennutzung hat in den vergangenen zwei Jahrzehnten eine im praktischen Sinne „dienende“ journalistische Haltung deutlich sichtbar Fuß gefasst: Mit ihr machen Publikationen aller Medien den Lesern, Zuhörern, Zuschauern und Internet-Nutzern Kommunikationsangebote, die diese als praktisch sinnvoll und nutzbar, somit im eigentlichen Wortsinne als nützlich wahrnehmen können. Die Kommunikationsabsicht bezieht sich dabei seltener auf ein Ereignis, häufiger auf die informatorische Umsetzung von Themen und Ergebnissen aus der Perspektive der Leser.17

16

17

Vgl. Haller (2003), S. 191 ff. Zur Erfüllung der hier umschriebenen Orientierungsfunktion ist indessen eine auf Einordnung und Hintergrund angelegte Umsetzung gefordert, die nur von wenigen Zeitschriften realiter erbracht wird. Wunsch und Wirklichkeit gehen hier (noch) weit auseinander. Vgl. Eickelkamp (2004c).

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Die verwendeten Bezeichnungen lauten Ratgeber-, Service- und Verbraucherjournalismus, wobei Rezipienten, Praktiker und Wissenschaftler den Ausdrücken verschiedene Bedeutungen zuweisen. Wolff18 wählt als Sammelbegriff „Servicejournalismus“, Eickelkamp schlägt dagegen „Nutzwertjournalismus“ für das gesamte Gebiet vor und bezeichnet „Service“ in diesem Konzept als den in kurzen Formen präsentierten Nutzwertjournalismus.19 Den Anteil an „Verbraucherjournalismus“, an den Verbraucherschützer einen politischen Anspruch stellen,20 blendet Nutzwertjournalismus in dieser Lesart aus, nimmt aber diejenigen Themenfelder mit hinein, in denen der Rezipient nicht bloß als Konsument von Wirtschaftsgütern oder Dienstleistungen auftritt, sondern sich etwa innerhalb der Familie um Erziehungsaufgaben kümmert. Dabei spielt es – zumal für Praktiker – keine Rolle, ob der Nutzwertjournalismus als „journalistische Darstellungsweise“, als „journalistische Produktionshaltung“, als „Darstellungsform“, als Journalismustyp, als Teilgebiet des Journalismus oder als Leistungssystem des Journalismus aus der Perspektive einer konstruktivistischen Systemtheorie aufgefasst wird.21 Denn er tritt als Phänomen in allen Medien auf, in jeder Organisationsform, in allen Themengebieten und für jedes Publikum. Nutzwertjournalistische Angebote waren bereits in den Anfängen der periodischen Presse in Europa verbreitet und erlebten in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts im Zuge der Aufklärung eine Blütezeit. Derartige Zeitschriften und Zeitungen waren dabei eng mit den Leitbildern und Zielen der Aufklärung verbunden, die den Einzelnen innerhalb der Gesellschaft in seinen Einstellungen sowie in seinem praktischen Leben beeinflussen wollten und außerdem Reformen in Gesellschaft und Staat anzustoßen suchten. Den Erziehungsanspruch der Aufklärung haben viele der damaligen Fürsprecher mit der Entwicklung des Buch- und Zeitschriftenmarktes verknüpft, was ihren publizistischen Eifer erklärt. Auch wenn die Aufklärung und die entsprechenden didaktischen Anschauungen bis in die heutige Zeit hineinstrahlen, waren namentlich „nützliche“ Publikationen im 19. und 20. Jahrhundert weitgehend aus der Presselandschaft verschwunden. Die aktuelle Entwicklung zum vermehrten Einsatz nutzwertjournalistischer Präsentationsformen ist dagegen sowohl in allen Medien als auch im 18 19

20 21

2006, S. 248. Vgl. Eickelkamp (2002) sowie Eickelkamp (2004c), siehe auch Zedler (2003), S. 263. Vgl. Mohn (2003), S. 12. Vgl. Fasel (2004), S. 7, Weichler u. Endrös (2005), S. 191, Eickelkamp (2004c), S. 14 sowie Weischenberg (1995), S. 110.

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gesamten Themenspektrum sowie für alle Zielpublika festzustellen. Wissenschaftler wie Praktiker sehen dafür verschiedene Ursachen und Motive: Die Gesellschaftsstruktur und die Grundwerte der Menschen wandeln sich, die Lebensführungen werden individueller, die Märkte verändern sich und werden liberalisiert, und es herrscht die Annahme, mit einem praktischen Alltagsbezug könne man die Bindung der Rezipienten an ein Medium erhöhen.22 So formulieren seit einem guten Jahrzehnt Chefredakteure regionaler Tageszeitungen und Medienforscher, dass Lebenshilfe23 und Orientierung generell bedeutender werden, und heben den Servicejournalismus als eine für die Regional- und Lokalzeitung spezifische Vermittlungskompetenz hervor. In weiterbildenden Seminaren üben sich Lokaljournalisten in entsprechenden Techniken, damit sich der „gut bediente“ Leser bei seiner Zeitung gut aufgehoben fühlt und die Zeitung „zu seiner Stütze in vielen Situationen des täglichen Lebens“ wird.24 Die Erwartung der Leser an Nutzwertformen (Hinweis, Service, Definitions-/Erklärtext) lässt sich für den Lokalteil beziffern: „Im Durchschnitt (d. h. im Verlauf von Monaten) sollte mindestens jeder zehnte Text nutzwertige Informationen bieten, andernfalls bleiben wichtige Serviceleistungen unerfüllt.“25 Besonders Jugendliche greifen (nur) dann zur Zeitung, wenn sie einen konkreten Nutzwert erwarten können, der „schnörkellos“ daherkommt, schnell und auf den Punkt gebracht, und der die wichtigsten Fakten nennt.26 1994 hat Mast den „Ratgeber-Bereich“ als neues Zeitungsressort vorgeschlagen,27 das von Lesern nachgefragte „Orientierung im Alltag und Lebenshilfe“ ermöglichen soll – inzwischen hat ein beträchtlicher Teil regionaler Zeitungen auf regelmäßig erscheinenden Ratgeberseiten eine konzentrierte Form nutzwertjournalistischer Angebote etabliert.28 Sie bilden mit einem breiten Themenspektrum die Alltagsbereiche ihres Publikums fast vollständig ab. Inhaltsanalysen haben jedoch gezeigt, dass den Beiträgen meist sowohl ein lokaler als auch ein aktueller 22

23

24

25 26 27 28

Vgl. u. a. Hömberg u. Weber (1998), S. 29, Neumann-Bechstein (1994), S. 250 sowie Hömberg u. Neuberger (1994), S. 224. Zedler kritisiert den Begriff „Lebenshilfe“: Niemand brauche die Hilfe eines Journalisten, um zu leben. Stattdessen gehe es darum, aufgeklärten Verbrauchern auf der Suche nach der jeweils besten Entscheidung den Weg zu beschreiben (2004, S. 498). Vgl. Schmidt (2000), S. 38, Mast (2003a), Mast u. Spachmann (2003) sowie Bundeszentrale für politische Bildung (1996), S. 3. Haller (2003), S. 198. Vgl. Begemann (1992), S. 122 sowie Matthaei (2005), S. 111. S. 334. Vgl. Meier (2002), S. 96, Meckel (1999), S. 173 sowie Hömberg u. Neuberger (1994), S. 211.

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Bezug fehlt, wodurch sie diese wesentlichen Merkmale des Mediums regionale Tageszeitung vernachlässigen.29 Bei Publikumszeitschriften, Fachzeitschriften und anderen Hauptgattungen des Bereiches Zeitschriften ist die Entwicklung unterschiedlich weit fortgeschritten. In General Interest-Titeln mit einem breiten Adressatenkreis finden sich helferische und praktisch verwertbare Präsentationsformen noch in vergleichsweise geringem Umfang. Alle Illustrierten sowie die meisten Frauen- und Familienzeitschriften verfügen über einschlägige Sparten und/oder Fachredakteure, deren Themenfelder teilweise recht allgemein (z. B. „Körper und Seele“), teilweise sehr speziell abgegrenzt sind. Dort treten auch Unterstützungsangebote in Gestalt von psychosozialer Lebenshilfe auf. Die meist personalisierten Lebensberater in den Medien bewegen sich dabei im „Niemandsland“ zwischen Individual- und Massenkommunikation.30 Bevor das Nachrichtenmagazin Focus auf den Markt kam, hatten Marktforscher festgestellt, dass der Rezipient der 90er Jahre verstärkt auf eine Darstellungsform angewiesen sei, die es ihm ermögliche, Fakten zu überschauen und seine individuellen Bedürfnisse über Selektion zu befriedigen. Utopien seien dem Realismus gewichen, individueller Nutzen habe Vorrang, hieß es.31 Focus-Chefredakteur Helmut Markwort: „Focus will seinen Lesern immer Nachrichten mit Nutzwert bieten. Jedes Thema kann und muss für den Leser von Interesse und Nutzen sein, sonst hat es keine Berechtigung, in eine Ausgabe von Focus zu gelangen.“32 Titel mit Gesundheitsthemen, Steuertipps oder „Das Beste von der CeBIT“ seien in der Vergangenheit überaus erfolgreich gewesen. Tatsächlich haben sich zwischen 50 und 73 Prozent der Aufmacher in den Jahren 1998 bis 2003 mit Verbraucherthemen befasst – doch nach dem 11. September 2001 ist eine Politisierung der Focus-Titelthemen auszumachen, wie bei anderen Zeitschriften ebenfalls, etwa dem Stern.33 Dass dennoch der Anteil an nutzwertjournalistischen Beiträgen und Titeln in der Tendenz von 1993 bis 2003 zugenommen hat, zeigt eine Inhaltsanalyse von zwei vollständigen Ausgaben und acht Titelblättern pro Jahrgang.34 Nach dieser lag der Anteil an nutzwertorientierten Artikeln zwischen 11 und 20 Prozent, wobei er im Durchschnitt über die Jahre von 29 30

31 32 33 34

Vgl. Eickelkamp (2005). Vgl. Wehrle u. Busch (2002), S. 86, Hömberg u. Neuberger (1994), S. 212 sowie Hömberg u. Weber (1998), S. 28. Vgl. Filipp (1995), S. 23 f. Eickelkamp (2004b), S. 215. Vgl. Ickstadt (2003). Vgl. Riefer (2004).

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11 auf 17 Prozent stieg. Ebenfalls mit einem Anstieg über die Jahre versprach die Redaktion den Lesern in 27 bis 57 Prozent der auf den Titelseiten platzierten Themen einen Nutzen. Überdies lag die Quote nutzwertorientierter Titelthemen wiederum höher als auf der Titelseite angekündigt (nämlich zwischen 38 und 88 Prozent). Die thematische Vielfalt, die über einen Kategorienschlüssel mit 26 Themengebieten erfasst wurde, hat sich dagegen nicht vergrößert, sondern ist sogar etwas kleiner geworden. Im Schnitt war es gut die Hälfte aller Themenbereiche, die die Redaktion nutzwertintendiert angeboten hat. Freizeit & Kultur, Gesundheit & Medizin sowie Finanzen bildeten hierbei die Schwerpunkte. Mittlerweile wird Nutzwert sogar als eine Art Lebensversicherung verstanden, die General Interest zukunftstauglich macht, wenn ansonsten die rein technische Informationsverarbeitung und mediale Verbreitung immer leichter und auch von journalistischen Laien bewerkstelligt werden kann: „Über das Faktizieren hinaus kann vor allem der General-InterestMagazinjournalismus [...] seine Stärken deutlich machen, wenn er nutzwertig wird: dem Leser nicht nur die wohlrecherchierte Nachricht bringt; sondern darüber hinaus auch noch sagt, wie er diese Nachricht einzuordnen hat, welche Auswirkungen sie auf sein Leben haben könnte – und was er persönlich tun kann, diese oder jede Auswirkung der Nachricht herbeizuführen oder zu verhindern.“35 Es gibt aber auch Mahner, die „im Sog einer nahezu besinnungslosen Service-Orientierung“ den politischen Informationswert in eine Randposition gedrängt sehen, so dass der Journalismus womöglich nicht mehr ausreichend seine gesellschaftliche Kontrollfunktion wahrnehmen könne.36 Stärker als General Interest- sind Special Interest-Zeitschriften von einem Nutzen vermittelnden Leitgedanken durchzogen. Zunächst waren Frauen- und Jugendzeitschriften dem Ziel der Lebens- und Orientierungshilfe verpflichtet, Heimwerker-, Hobby-, Reise- und Lebensstilzeitschriften setzten diesen Prozess fort.37 Mittlerweile ist dies etwa bei Computer-, Gesundheits-, Eltern- oder Bauzeitschriften in einer Stärke ausgeprägt, dass diese Haltung als durchgängiges Blattkonzept sichtbar wird. Dort eingesetzte Präsentationsformen können prototypisch für alle Pressegattungen angesehen werden. Weiter unten werden ein Gesundheitsmagazin, eine Computerzeitschrift und ein Automagazin mit ihren jeweiligen Nutzwertkonzepten vorgestellt.

35 36 37

Fasel (2005), S. 138. Vgl. Leif (2005), S. 36 sowie Kaden (2002). Vgl. Hömberg u. Neuberger (1994), S. 212, Neumann-Bechstein (1994), S. 250 sowie Röser (1992), S. 25.

260

Michael Haller und Andreas Eickelkamp

Im Bereich der Wirtschaftspresse ist die handlungszentrierte Strategie der Leseransprache auf die ihr eigenen Zielleserschaften ausgerichtet, auf Konsumenten, Anleger und Unternehmer. Dies vermehrt, seit mit dem Anwachsen der privaten Vermögen in weiteren Teilen der Bevölkerung das Interesse für wirtschaftliche Zusammenhänge gestiegen ist. Nutzen lässt sich hier als geldlicher oder geldwerter Gewinn für den einzelnen Leser darstellen; einige Wirtschaftsjournalisten sehen es jedoch nach dem Platzen der Spekulationsblase im März 2000 ebenfalls als ihre Aufgabe an, Gefahrenquellen aufzudecken und den Leser vor Risiken zu warnen.38 Abseits der Publikumszeitschriften werden im Fachjournalismus ebenfalls Service, Rat und Unterstützung als ein Megatrend identifiziert und „konkreter beruflicher Anwendungsnutzen“39 eingefordert. Betrachten wir nun anhand nutzwertjournalistischer Präsentationsformen dreier Zeitschriftentitel, wie diese Nutzwert ganz unterschiedlich einsetzen. Das erste Beispiel – Stern Gesund Leben40 – präsentiert sich als ein „Magazin für Körper, Geist und Seele“. Die gut 120 redaktionellen Seiten (Ausgabe 1/2006) sind thematisch unterteilt in die Bereiche Medizin und Sexualität, Fitness, Ernährung, Seele sowie Entspannung und Reise. Auf den ersten 30 Seiten finden sich die Titelthemen, zudem gibt es die magazinüblichen Rubriken wie Briefe und eine Kolumne. Die Layouter verwenden großformatige, teilweise freigestellte Fotos, Infografiken, farbige Zwischenüberschriften und Symbolbilder, außerdem setzen sie Weißraum als Gestaltungselement ein. Ein Teil der Grundschrift ist in einer zusätzlichen Farbe hervorgehoben. Die Redaktion setzt ein breites Spektrum journalistischer Darstellungsformen ein – von Nachricht und Bericht über Interview, Magazingeschichte, Reportage, Porträt und Erlebnisbericht bis hin zur Kolumne – wie es für Zeitschriften durchaus typisch ist. Diese werden fast immer ergänzt durch Zusatzinformationen in Infokästen (Erklärtexte und Hintergrund, Fragen und Antworten, Kurzrezepte, Zusammenfassungen), kommentierende Kurzformen („kritische Bewertung“, Hinweise in Fußnoten) und weiterführende Hinweise (Adressen, Buchtipps). Während die Tabelle als eine Möglichkeit, Informationen hochkomprimiert zu vermitteln, womöglich wegen ihrer geringen optischen Attraktivität selten zum Einsatz kommt, ist die nummerierte Aufzählung eine häufige Form innerhalb der Berichter38

39 40

Vgl. Mast (2003b), S. 130 f., Zedler (2003), S. 260, Werner (2003), S. 257 sowie Scherer (2003), S. 239. Ruf (1997), S. 40. Gruner + Jahr, zweimonatlich, Einzelverkaufspreis 3,90 Euro, verkaufte Auflage 145.056 Exemplare (IVW, Quartal II/2006).

Perspektiven journalistischer Präsentationsformen

261

stattung: als Gebote, Regeln, Fragen und Antworten, Hintergrund. Sie ist jedoch typischerweise nicht im Sinne einer Anleitung zu verstehen, die der Leser in aufeinander folgenden Schritten umsetzen soll. Im Übrigen erschließt sich dem Leser oft nicht, aus welchem Grund die Redaktion die Abschnitte beziffert hat. Die nutzwertjournalistische Haltung, die im Blattkonzept an zahlreichen Stellen aufscheint, ist erkennbar an Begriffen wie: „Erste Hilfe“, „Gebrauchsanweisung“, „Sprechstunde“, „Ratgeber“, „Service“, „Aufgepasst“ (als Warnhinweis). Die sprachliche Umsetzung der an den Leser gerichteten Texte ist überwiegend unpersönlich: Nur selten verwendet die Zeitschrift die direkte Ansprache. Die Zeitschrift Computerbild41 als zweites Beispiel verfolgt dagegen seit ihrer Gründung 1996 die Strategie, den Leser direkt im Imperativ anzusprechen. Nummerierte Absätze in Handlungsanleitungen werden dafür genutzt, zeitlich nacheinander liegende Schritte zu kennzeichnen. Die Redaktion testet jährlich weit mehr als 1.000 Produkte und Dienstleistungen und stellt die Testergebnisse in großer Detailfülle in zahlreichen, umfassenden Tabellen dar.42 Sie verzichtet auf magazintypische journalistische Darstellungsformen wie Reportage, Essay, Porträt oder Fotostrecke. Selbst die Aufmacherfotos werden selten freigestellt oder sind größer als eine Drittelseite; Weißraum fehlt als Gestaltungsmittel völlig. Kleine und kleinste Fotos von Bildschirminhalten („Screenshots“) oder Geräten zeigen dem Leser jeden (Teil-) Schritt einer Anleitung. Durch das Heft ziehen sich Spalten – neuerdings Kästen am Fuß der Seite – in denen Fachbegriffe erklärt werden, sowie „Artikel-Wegweiser“: Das sind kleine Inhaltsverzeichnisse für die folgenden Seiten. Neben Handlungsanleitungen und erläuterten Testtabellen stellen Marktübersichten in Tabellenform und Kaufberatungen den dritten Kerntyp nutzwertjournalistischer Präsentationstypen der Computerbild dar. Seltener eingesetzte Mittel sind Entscheidungsbäume und Checklisten. Weiterführende Hinweise (Adressen, Telefonnummern) für jede Art von Information sind bei Computerbild Pflicht. Das dritte Beispiel ist die monatliche, im Pocket-Format erscheinende Zeitschrift Automonat43. Die erste Ausgabe kam Ende Januar 2006 mit einer Druckauflage von 640.000 Exemplaren (Verlagsangabe) auf den Markt. Der Aufbau ist einfach, das Layout schmucklos (Ausgabe 2/2006): Zunächst stellt die Redaktion auf 28 Seiten Neuheiten vor, indem ein von 41

42 43

Axel Springer, 14-täglich, Einzelverkaufpreise 1,30 Euro, 2,30 Euro (mit CDROM), 3,30 Euro (mit DVD), verkaufte Auflage 685.031 Exemplare (IVW, Quartal II/2006). Vgl. Hüskis (1997), S. 27 sowie Eickelkamp (2004a). Motorpresse Stuttgart, Einzelverkaufpreis 2 Euro.

262

Michael Haller und Andreas Eickelkamp

Detailfotos ergänztes Bild des jeweiligen Automodells von einem kurzen Fließtext und einem Infokasten „Auf einen Blick“ umgeben ist. Es folgen 48 redaktionelle Seiten mit Kaufberatung und Praxistests verschiedener Autotypen. Kernstück des Magazins ist der 218 Seiten umfassende Katalog vorgeblich aller auf dem deutschen Markt als Neuwagen verfügbaren Modelle. Neben einem Foto und einem etwa achtzeiligen Beschreibungstext liefert die Redaktion eine Tabelle mit den Daten der Modellversionen und nennt Serien- und Sonderausstattung nach Werksangaben. Wie im Nutzwertjournalismus üblich, nimmt die Redaktion eine Bewertung der Herstellerangebote in Form einer Plus- und Minusliste vor und bezieht damit einen Standpunkt. Den Abschluss des Heftes bildet eine Gebrauchtwagen-Übersicht auf 50 Seiten, die in einer nahezu endlosen Tabelle die Einkaufspreise professioneller Händler aufführt. Das Magazin ist durchzogen von kleinen Informationstabellen, Bewertungen in Gestalt eingängiger Skalen, zusammenfassenden Empfehlungen, tabellarischen Übersichten, kleinen Lexika und enthält einige weiterführende Internet-Adressen. Der Leser wird nicht direkt angesprochen. Anhand dieser drei Beispiele lassen sich wesentliche Präsentationsformen identifizieren, die in Publikumszeitschriften mit nutzwertjournalistischem Anspruch auf der Produktionsseite bzw. einer praktisch-unterstützenden Erwartungshaltung auf der Rezipientenseite sinnvoll sind und die sich bewährt haben: x Detaillierte Tabellen mit Ergebnissen vergleichender Waren- oder Dienstleistungstests – sie sollten Testbedingungen und Bewertungskriterien benennen, um dem Leser das Verständnis für das Zustandekommen von Beurteilungen zu erleichtern, und ein Preisurteil der Redaktion enthalten (Preis-/Testurteil bzw. Preis-Leistungs-Verhältnis). Der Einsatz von Farbe (etwa Grün für gut/preisgünstig, Rot für schlecht/teuer) und eingängigen Symbolen (Plus/Minus) erhöht die Verständlichkeit. x Marktübersicht – die Redaktion erhöht ihre Akzeptanz und Glaubwürdigkeit beim Leser, wenn sie dem Leser die wesentlichen Kriterien der Datenerhebung und ihre Relevanz transparent macht (Auswahl, Quellen, Marktabdeckung). x Die Kaufberatung ist eine Empfehlungsleistung der Redaktion auf der Grundlage vergleichender Waren- und Dienstleistungstests und Marktübersichten. x Schritt-für-Schritt-Anleitungen sind Handlungs- und Bedienungsanleitungen, bei denen der Leser die Reihenfolge der Schritte beachten soll. Es ist dabei zweckmäßig, die einzelnen Schritte durchzunummerieren und den Leser direkt anzusprechen.

Perspektiven journalistischer Präsentationsformen

263

x Fragen und Antworten können als Reaktion auf Leserbriefe gestaltet sein (Leser fragen, Experten antworten – das Dr. Sommer-Team als Beispiel) und symbolisieren eine tatsächliche oder gewollte Nähe zum Rezipienten. x Regeln und Gebote enthalten einen starken imperativen Charakter – es steigert ihre Akzeptanz beim Leser, wenn sie im Beitrag hergeleitet und belegt sind oder aus einer glaubwürdigen Quelle stammen. x Mit weiterführenden Hinweisen nennt die Redaktion dem Leser Post-/ E-Mail-/Internet-Adressen, Telefonnummern etc. von beteiligten Akteuren, externen Auskunftsstellen oder Experten, mit denen er sich selbsttätig weiter informieren kann. Da das Recherchieren dieser Angaben einen nennenswerten Aufwand bedeutet, kann die Redaktion den Leser von dieser Aufgabe entlasten. x Weitere Formen sind Lexikon und Entscheidungsbaum, Formen, mit denen die Redaktion eine Ombudsrolle einnimmt (z. B. „Bild hilft“, „Wie bitte“ bei RTL), Checkliste sowie Tipps & Tricks (Kurzhinweise, -orientierung). Der im vorigen Abschnitt diskutierten Orientierungsleistung von Publikumszeitschriften dient der funktionsgerechte Einsatz dieser Präsentationsformen, indem die Redaktion Informationen flexibel und mit unterschiedlicher Dichte im Rahmen eines Beitrages (im Text wie auch über flankierende Supplemente) oder einer Themenstrecke einsetzt – sei es im Rahmen der Seitengestaltung oder im Kontext der Blattstruktur. Denn so finden die Leser über die verschiedenen Elemente unterschiedliche Themenzugänge und können auf mehrere Arten in das Thema einsteigen – mit Blick auf eine heterogene Leserschaft bedeutet dies, dass beim Durchblättern („Flanieren“) auch jene Leser für den behandelten Gegenstand interessiert werden können, die mit der Überschrift, dem Vorspann oder der Aufmacherbebilderung nicht angesprochen werden konnten.

Literaturverzeichnis Begemann, M. (1992): So wichtig wie das tägliche Frühstück. Der Service in der Tageszeitung. In: Rager, G., Werner, P. (Hrsg.) Die tägliche Neu-Erscheinung. Lit, Münster & Hamburg, S. 117–126. Boes, U. (1997): Medizin als Bildthema in Publikumszeitschriften. Inhaltsanalytischer Vergleich von ‚Quick‘, ‚Stern‘ und ‚Hörzu‘. Brockmeyer, Bochum.

264

Michael Haller und Andreas Eickelkamp

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Perspektiven journalistischer Präsentationsformen

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Michael Haller und Andreas Eickelkamp

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Line Extension als strategische Handlungsoption bei zunehmender Fragmentierung am Beispiel Auto Bild

Hans H. Hamer, David Löffler und Peter Gravier

1

1.1

Bedeutung von Line Extensions für den Publikumszeitschriftenmarkt

Chancen und Risiken von Line Extensions

Wie in vielen Branchen stehen auch für die deutschen Zeitschriftenverlage seit längerem drei Entwicklungen im Vordergrund. Zum einen ist hier der anhaltende Trend zur Individualisierung zu nennen: Mittlerweile bestehen 37 Prozent aller deutschen Haushalte aus Singles und 71 Prozent aus Singles oder zwei Personen. Diese Tendenz zu Kleinstgruppen hat Auswirkungen auf die zweite Entwicklung: die zunehmende Segmentierung bis hin zur Fragmentierung der Märkte. Beispielsweise steigt, wie noch genauer dargestellt wird, die Anzahl der Zeitschriften in den letzten Jahren kontinuierlich bei stagnierender oder nur geringfügig steigender Gesamtauflage. Schlussendlich müssen auch gesamtwirtschaftliche Rahmendaten wie ein in den letzten Jahren konstant niedriges Wirtschaftswachstum, hohe Arbeitslosenraten und der Umbau der Sozialsysteme, der die private Vorsorge stärker betont und zusätzlich zum Abfluss von Kaufkraft führt, berücksichtigt werden. Für die Verlage stellen diese Entwicklungen auch für die Zukunft wichtige Herausforderungen dar. Die Erlös- und Kostenstrukturen müssen den

268

Hans H. Hamer, David Löffler und Peter Gravier

aufgezeigten Entwicklungen Rechnung tragen und entsprechend angepasst werden. Die notwendigen Wirtschaftlichkeitsüberlegungen umfassen daher auch zunehmend die Wahl der Markenstrategie und -politik. Sie führen dazu, dass Verlage immer häufiger auf die Entwicklung und Kommunikation einer neuen Marke verzichten und stattdessen die Chance wahrnehmen, eine erfolgreiche bestehende Marke für neue Zeitschriften oder Produkte einzusetzen. Dabei stehen zwei Handlungsoptionen zur Verfügung: x Produktlinienerweiterung (Line Extension) x Markentransfer (Brand Extension) Eine Produktlinienerweiterung liegt vor, wenn ein bekannter Markenname für ein neues Produkt verwendet wird, welches in der Produktkategorie (z. B. Zeitschriften) der Stammmarke eingeführt wird.1 Weitere Merkmale einer Line Extension sind die Nutzung derselben Vertriebskanäle und derselben Vertriebsorganisation.2 Line Extensions können immer dann von Vorteil sein, wenn mit den neuen Produktvarianten unter der im Markt bekannten Marke neue oder veränderte Kundenbedürfnisse befriedigt werden können.3 Da der Aufbau einer neuen Marke hohe Aufwendungen erfordert, stellt sich die Line Extension als eine probate Alternative dar, um auf fragmentierten Märkten selbst relativ kleine Segmente effizient bearbeiten zu können. Der Markentransfer bildet die zweite Möglichkeit, eine bestehende Marke für die Markierung von neuen Produkten zu nutzen. Er unterscheidet sich insofern von der Line Extension, als dass es sich hier um ein Neuprodukt handelt, welches in einer völlig neuen Produktkategorie eingeführt wird.4 Im Zeitschriftenbereich ist beispielhaft der Transfer der Zeitschriftenmarke Spiegel in den Fernsehmarkt anzuführen, der gegenüber dem Zeitschriftenmarkt eine neue Produktkategorie darstellt.5 Ein weiterer im Verlagsgeschäft häufig vorkommender Transfermarkt ist der OnlineMarkt. Die intermediäre Markenvernetzung wird zunehmend wichtiger. Viele Zeitschriftenverlage befassen sich bereits mit der Ausweitung ihrer Mar1 2 3 4 5

Vgl. Keller (2001), S. 795 sowie Aaker u. Keller (1990), S. 27. Vgl. Wölfer (1994), S. 801. Vgl. Homburg u. Schäfer (2001), S. 165. Vgl. Aaker u. Keller (1990), S. 27 ff. Der Spiegel produziert zur Zeit das Spiegel TV Magazin für RTL, die Spiegel TV Reportage für SAT1, das Spiegel TV Extra, das Spiegel TV Special, den Spiegel TV Nachtclub und den Spiegel TV Themenabend für VOX sowie Spiegel TV Dokumentation, Spiegel TV Nahaufnahme und Spiegel TV Spiegel Thema für das Pay-TV-Programm Spiegel TV XXP Digital.

Line Extension als strategische Handlungsoption

269

ken auf neue Produktkategorien (z. B. Internet, Fernsehen, Handy, iPod); Kerngeschäft bleiben aber vorerst Vertrieb und Vermarktung von Zeitschriften. Vor diesem Hintergrund konzentrieren sich die folgenden Ausführungen auf die Line Extension als strategische Handlungsoption. Die Line Extension kann als Mittel zur Verfolgung einer Familien- oder Dachmarkenstrategie dienen. Die Vor- und Nachteile einer Line Extension decken sich daher konsequenterweise weitgehend mit denjenigen der Familien- und Dachmarkenstrategie. Ergänzend ist die Möglichkeit eines schnelleren Marktzuganges bei geringeren Kosten zu erwähnen. Die wichtigsten Chancen und Risiken von Line Extensions stellt Tabelle 1 gegenüber. Tabelle 1. Chancen und Risiken von Line Extensions6 Chancen Mehrere Produkte tragen den erforderlichen Markenaufwand (Markenbudget) Neue Produkte partizipieren am Goodwill der Familien-/Dachmarke (Starthilfe, Bekanntheits- und Vertrauensvorsprung bei den Konsumenten) Gute Ausschöpfungsmöglichkeiten von (neuen) Teilmärkten (Befriedigung von neuen oder veränderten Kundenbedürfnissen) Jedes neue „philosophiegerechte“ Produkt stärkt das Markenimage (Markenkompetenz) Erhöhung der Reaktionsgeschwindigkeit (schnellerer Marktzugang bei geringeren Kosten) Erhöhte Wahrnehmung am Point-ofSale und Handelsakzeptanz Stärkung des Markenwertes der Stammmarke und Ausdehnung des Markenlebenszyklus

-

-

-

-

-

1.2

Risiken -

-

-

Der „Markenkern“ der Ausgangsmarke begrenzt die Innovationsmöglichkeiten Gefahr der Markenverwässerung durch nicht philosophieadäquate Neuprodukte Bei der Profilierung einzelner Produkte muss Rücksicht auf die Basispositionierung genommen werden Wettbewerbsbedingte Restrukturierungsmaßnahmen (Relaunch) sind relativ begrenzt (insbesondere gegenüber starken Einzelmarken) Markenerosion bei zu schnell aufeinander folgenden Markenerweiterungen Mangelnde Nachfragerakzeptanz

Der Publikumszeitschriftenmarkt

Der Publikumszeitschriftenmarkt ist durch eine zunehmende Fragmentierung gekennzeichnet. In der Theorie wird unter dem Begriff Fragmentierung folgende Entwicklung verstanden: In der Phase der Marktreife (Markt-Lebenszyklus-Konzept) haben die Marktteilnehmer mit der Zeit al6

Quelle: Becker (2001), S. 199 sowie Esch et al. (2001), S. 764 ff.

270

Hans H. Hamer, David Löffler und Peter Gravier

le größeren Marktsegmente (Segmentierung) besetzt, so dass sie beginnen, in die Segmente der anderen einzudringen – mit der Folge, dass die Gewinne für alle sinken. Während die Marktwachstumsraten zurückgehen, teilt sich der Markt dadurch in immer kleinere (Unter-) Segmente auf (Fragmentierung).7 So differenziert beispielsweise die Informationsgemeinschaft zur Feststellung der Verbreitung von Werbeträgern (IVW) aktuell 28 größere Marktsegmente, welche sich jedoch jeweils in weitere Untersegmente unterteilen lassen. Im Segment Motorpresse beispielsweise sind aktuell 65 Zeitschriften IVW-gemeldet, die monothematisch über Autos, Motorräder, Wohnmobile, Tuning, Motorroller, Motorsport etc. berichten.8 Die zunehmende Fragmentierung wird auch an Abbildung 1 deutlich. In den letzten 20 Jahren hat sich die Anzahl der Publikumszeitschriften (ohne Supplements) mehr als verdoppelt, wobei die gesamte verkaufte Auflage im selben Zeitraum gerade einmal um knapp 30 Prozent zulegen konnte. Als Konsequenz hieraus hat sich die durchschnittlich verkaufte Auflage je Zeitschrift fast halbiert. Index 300

240

250

235 Anzahl Titel

198 200

155 150

111 100

72

50

131

135

66

56

54

1995

2000

2005

126

Verkaufte Auflage, gesamt Verkaufte Auflage, Durchschnitt

0

1985

1990

Abb. 1. Titel-/Auflagenentwicklung Publikumszeitschriften seit 19859

Was für den Gesamtmarkt gilt, findet sich auch in vielen Teilmärkten wieder, allerdings mit unterschiedlich starker Ausprägung. Im Segment der Motorpresse (ohne Mitgliederzeitschriften) hat sich die Anzahl der Titel 7 8

9

Vgl. Kotler u. Bliemel (1999), S. 597. Nicht alle Zeitschriften melden ihre Auflagen der IVW. Es werden aber in der Regel alle auflagenstarken periodischen Zeitschriften erfasst, so dass ein Großteil des Marktes abgebildet wird. Quelle: IVW (ohne Supplements).

Line Extension als strategische Handlungsoption

271

seit 1993 verdoppelt. Die gesamte verkaufte Auflage ist jedoch anders als im Gesamtmarkt im selben Zeitraum sogar um 14 Prozent zurückgegangen, so dass die durchschnittliche verkaufte Auflage je Zeitschrift hier nur noch bei 43 Prozent des Wertes von 1993 liegt (vgl. Abb. 2).

Index 200

Anzahl Titel

200 150

127 111

100

133

101

88 75

86

50

43

Verkaufte Auflage, gesamt Verkaufte Auflage, Durchschnitt

0

1995

2000

2005

Abb. 2. Titel-/Auflagenentwicklung Autozeitschriften seit 199310

Die Verlage müssen dieser Entwicklung durch Anpassungen auf der Erlösund der Kostenseite Rechnung tragen. Damit sie ihren Marktanteil wenigstens halten, werden sie getrieben, neue Zeitschriften auf den Markt zu bringen – mit dem Ziel, neue Segmente bzw. aktuelle Segmente besser anzusprechen. Vor dem Hintergrund der ungleich höheren Kosten einer Marken-Neueinführung sollte daher regelmäßig in Betracht gezogen werden, neue Segmente unter dem Dach einer bestehenden und bekannten Marke zu bearbeiten, insbesondere weil die verkauften Auflagen wie gezeigt kontinuierlich zurückgehen und sich damit auch die Erlöspotenziale reduzieren. Dass immer mehr Verlage in Deutschland entsprechend handeln, verdeutlicht Abbildung 3. Der Anteil von Line Extensions an den Neuerscheinungen ist in den letzten zehn Jahren von 6,6 Prozent auf 16,3 Prozent gestiegen. Den relativ höchsten Zuwachs in diesem Zeitraum verzeichneten die Segmente der Elternzeitschriften (40 Prozent) und der Esszeitschriften (33,3 Prozent) mit Line Extensions wie Kind & Gesundheit Junge Familie, Kind & Gesundheit Werdende Eltern, Eltern for family, Lisa Kochen & Backen, Tina Koch- & Back-Ideen, Elle Bistro und Essen&Trinken Für jeden Tag.

10

Quelle: IVW (ohne Mitgliederzeitschriften).

272

Hans H. Hamer, David Löffler und Peter Gravier

Anteil von Line Extensions an Neueinführungen 20%

16,3% 14,1%

13,8%

15%

10%

5%

6,6%

6,0%

1995

1997

9,9%

10,0%

1999

2001

0%

2003

2005

Abb. 3. Entwicklung des Anteiles von Line Extensions an Neueinführungen11

2005 wurden neu in die IVW aufgenommen z. B. die Line Extensions bekannter Marken wie Stern Gesund Leben, Elle girl und Brigitte woman. Insgesamt wurden 579 Neuerscheinungen erfasst, von denen 61 bzw. 10,5 Prozent als Line Extensions identifiziert werden konnten. 2005 betrug der Anteil von Line Extensions an den frei verkäuflichen, bundesweit erscheinenden Zeitschriften insgesamt 8,5 Prozent (= 53 Line Extensions). Werden die verkauften Auflagen dieser 53 Zeitschriften mit Ihrer Erscheinungsweise gewichtet, erhöht sich der Anteil auf 13 Prozent (vgl. Abb. 4).

Anzahl 2005 8,5% (53)

91,5% (623)

Auflage 2005 13% (3,43 Mio.)

87% (2,7 Mrd.)

Anzahl Titel gesamt

gew. verk. Aufl. gesamt

Anzahl Line Extensions

gew. verk. Aufl. Line Extensions

Abb. 4. Anteil von Line Extensions am Publikumszeitschriftenmarkt12

11 12

Quelle: IVW (ohne Stadt-/Veranstaltungsmagazine und Regionaltitel). Quelle: IVW (ohne Stadt-/Veranstaltungsmagazine, Regional- und Mitgliedertitel).

Line Extension als strategische Handlungsoption

273

Hierbei ist zu berücksichtigen, dass die jeweilige Stammmarke nicht in dieser Zahl enthalten ist. Bezieht man diese für eine Analyse der Verbreitung von Familien- oder Dachmarken mit ein, dann erhöht sich der Anteil nochmals um 10,2 Prozentpunkte auf 23,2 Prozent. Mit Blick auf den jüngst hohen Anteil von Line Extensions an den Neueinführungen (vgl. Abb. 3) ist bei entsprechendem Erfolg dieser Neueinführungen davon auszugehen, dass sich dieser Anteil in den nächsten Jahren weiter erhöhen wird. Bezogen auf das Jahr 2005 ist außerdem festzustellen, dass bei 14täglichen Frauenzeitschriften, Do-it-yourself-Zeitschriften, Erotikzeitschriften, Luft-/Raumfahrtzeitschriften, Naturzeitschriften, Programmzeitschriften, sonstigen Zeitschriften und Wochenzeitschriften zu Gesellschaft/Politik bisher keine Line Extensions vertreten sind. Besonders hoch dagegen ist die Bedeutung von Line Extensions in den Segmenten Esszeitschriften (41,3 Prozent), Motorpresse (40,2 Prozent), Sportzeitschriften (38,7 Prozent), IT-/Telekommunikationszeitschriften (36,6 Prozent), Kino-, Video-, Audio-, Fotozeitschriften (35,9 Prozent) und Reisezeitschriften (35,4 Prozent). Auch hier gilt, dass sich diese Anteile deutlich erhöhen, wenn die jeweiligen Stammmarken mit einbezogen werden. Bei den Esszeitschriften (vgl. Abb. 5) beträgt der Anteil unter Hinzuziehung der beiden in diesem Segment enthaltenen Muttermarken Essen & Trinken und Meine Familie & ich 71,2 Prozent.

59% (23 Mio. Exemplare)

41% (9 Mio. Exemplare)

gew. verk. Aufl. Esszeitschriften

14%

Meine Familie & ich Kreativ Küche

18%

Tina Koch- & Back-Ideen

23%

Lisa Kochen & Backen

45%

Essen & Trinken Für jeden Tag

gew. verk. Aufl. Line Extensions

Abb. 5. Anteil von Line Extensions im Segment der Esszeitschriften13

Aus Abbildung 6 geht hervor, dass die Line Extensions im Segment der Motorpresse stark von der Marke Auto Bild dominiert werden, die hier trotz einer eigenen Markenfamilie mit aufgeführt ist, da die eigentliche 13

Quelle: IVW.

274

Hans H. Hamer, David Löffler und Peter Gravier

Muttermarke die Bild-Zeitung ist. Die darüber hinaus in diesem Segment vertretenen Muttermarken Eurosport AutoMagazin und Audi Scene live erhöhen bei Hinzuziehung den Anteil nur geringfügig auf 41,3 Prozent.

Eurosport Moto Magazin (0,3%) BMW Scene live (1,0%)

60% (95 Mio. Exemplare)

40% (38 Mio. Exemplare)

Auto Bild alles allrad (2,0%) Auto Bild Sportscars (2,0%) Auto Bild Motorsport (4,0%) Auto Bild (90,0%)

gew. verk. Aufl. Motorpresse

gew. verk. Aufl. Line Extensions

Abb. 6. Anteil von Line Extensions im Segment der Motorpresse14

Werden die jeweiligen Stammmarken mit berücksichtigt, dann sind Zeitschriften, die zu einer Markenfamilie gehören, bezogen auf die mit der Erscheinungsweise gewichtete verkaufte Auflage besonders stark in den Segmenten Online-Zeitschriften (76,8 Prozent), Esszeitschriften (71,2 Prozent), aktuelle Zeitschriften und Magazine (66,2 Prozent) und Jugendzeitschriften (51,2 Prozent) vertreten. 1.3

Erfolgsfaktoren von Line Extensions

Die Marktanalyse hat gezeigt, dass sich Line Extensions auch im Publikumszeitschriftenbereich als Alternative zur Neumarkenstrategie zunehmender Beliebtheit erfreuen. Trotz aller bisher genannten Chancen und Vorteile dürfen sowohl die in Unterabschnitt 1.1 genannten Risiken als auch der unsichere Erfolg einer Line Extension nicht außer Acht gelassen werden. Letzterer wird von der Akzeptanz der Leser, der Wettbewerbssituation und der Umsetzung der Markendehnungsstrategie determiniert.15 Somit stellt sich die Frage, wie das Misserfolgsrisiko von Line Extensions vermindert werden kann. Da es für Medienmarken keine empirischen Studien zu den Erfolgsfaktoren einer Markendehnung gibt, muss auf die vielfach veröffentlichten Ergebnisse im Konsumgüterbereich zurückgegriffen 14 15

Quelle: IVW. Vgl. Sattler (2001), S. 143–149 sowie Homburg u. Schäfer (2001), S. 167.

Line Extension als strategische Handlungsoption

275

werden.16 Eine umfangreiche empirische Studie, die nahezu alle potenziellen Erfolgsfaktoren von Markentransfers berücksichtigt, kommt zu dem Ergebnis, dass der so genannte Fit (d. h. hohe imagemäßige Affinität) zwischen Muttermarke und Line Extension sowie das wahrgenommene Kompetenz- bzw. Qualitätsniveau der Muttermarke die wichtigsten Erfolgsfaktoren sind.17 Entsprechend gilt für das Zeitschriftengeschäft, dass die Line Extension zur Muttermarke passen muss und dass die Zeitschriftenleser und -käufer der Muttermarke eine hohe Qualität/Glaubwürdigkeit attestieren müssen. Der Fit ist bei Zeitschriften immer dann gegeben, wenn der Leser sowohl bei der Line Extension als auch bei der Muttermarke übereinstimmende Assoziationen hat, die sich z. B. auf ein gleiches redaktionelles Grundkonzept zurückführen lassen. Als weitere Erfolgsfaktoren, die jedoch bezüglich Ihres Erfolgsbeitrages den beiden zuvor genannten deutlich unterzuordnen sind, können beispielsweise die Unternehmensgröße und die Qualitätseinschätzungen zu bisherigen Line Extensions angeführt werden. Andere Studien, die sich mit den Erfolgsfaktoren von Produktlinienerweiterungen auseinandersetzen, kommen meist zu ähnlichen Ergebnissen. Eine dieser Studien, die auch wettbewerbs- und unternehmensbezogene Faktoren berücksichtigt, kommt u. a. zu folgenden Ergebnissen:18 x Die Marketingunterstützung beeinflusst den Erfolg von Line Extensions. x Line Extensions starker Marken, die früher in eine Produkt-Unterkategorie eintreten, sind erfolgreicher als später eintretende Line Extensions. x Der Verlust von Verkäufen durch Kannibalisierung der Muttermarke kann durch Grenzverkäufe der Line Extensions mehr als kompensiert werden.

2

Fallbeispiel Auto Bild

2.1

Die Auto Bild-Markenfamilie

Durchschnittlich verkaufen 59 IVW-geprüfte Automobiltitel (ohne die Mitgliedertitel der Automobilclubs) in Deutschland jährlich eine Gesamt16 17 18

Vgl. die Übersicht bei Keller (2001), S. 798 f. Sattler, Völckner u. Zatloukal (2002). Reddy, Holak u. Bhat (1994), S. 243–262.

276

Hans H. Hamer, David Löffler und Peter Gravier

auflage von über 94 Mio. Exemplaren – darunter über 33 Mio. Auto BildExemplare.19 Auto Bild ist in Deutschland die einzige Autozeitschrift mit wöchentlicher Erscheinungsweise, verkauft Woche für Woche 650.520 Hefte20 und verfügt über eine Reichweite von über 2,8 Mio. Lesern.21 Damit ist Auto Bild klarer Marktführer bei den frei verkäuflichen Autozeitschriften und bietet dem Leser ein hohes Maß an Aktualität.

Abb. 7. One brand, all media: die Auto Bild-Markenfamilie

Die Marke Auto Bild hat sich in den vergangenen Jahren zu einer sehr erfolgreichen Markenfamilie entwickelt. Im Rahmen einer Familienmarkenstrategie wurde das Portfolio um die Spezialtitel Auto Bild TÜV Auto Report, Auto Bild Motorsport, Auto Bild Sportscars und Auto Bild Alles Allrad erweitert. Auch sie konnten in ihren Segmenten auf Anhieb die Marktführerschaft erobern. International gehört Auto Bild mit 27 ausländischen Ausgaben zu den erfolgreichsten Zeitschriftenmarken. Dabei wird die Markenfamilie konti19 20 21

Vgl. IVW. IVW-Jahresdurchschnitt 2005. Vgl. MA 2006 I.

Line Extension als strategische Handlungsoption

277

nuierlich ausgebaut und erschließt in Europa und darüber hinaus neue Märkte. Ergänzend zu den Zeitschriften entwickelte sich das Internetportal autobild.de in kurzer Zeit zu einer der wichtigsten Informationsquellen für automobile Themen und hat sich als Content-Marktführer bei Nutzern und Werbepartnern gleichermaßen etabliert. autobild.de bietet neben den redaktionellen Themen umfangreiche Vergleichstests und auch eine große Gebrauchtwagenbörse. Das Print-Extrakt der Autobörse von autobild.de ist das Rubrikenmagazin Automarkt. Abbildung 7 visualisiert die vier strategischen Ziele der Auto BildMarkenfamilie: Marktführerschaft, Segmentierung, Internationalisierung und Digitalisierung. Das Konzept von Auto Bild basiert auf den Essentials der Bild-Markenfamilie. Dabei stehen Aktualität, Nutzwert und Unterhaltung gemeinsam mit verständlicher Sprache, klarer Optik und attraktivem Copypreis im Vordergrund. Im umfangreichen Markenportfolio von Axel Springer kommt der Muttermarke Bild mit ihren mittlerweile acht Töchtern und sieben Enkeln eine besondere Bedeutung zu, indem sie wesentlich zum Fortbestand und zur Expansion des Unternehmens beiträgt. Nachdem Bild erstmals am 24. Juni 1952 erschien, war Auto Bild (1986) nach Bild am Sonntag (1956) und Bild der Frau (1983) die dritte erfolgreiche Line Extension (vgl. Abb. 8).

Abb. 8. Die Bild-Markenfamilie

278

Hans H. Hamer, David Löffler und Peter Gravier

Mit der Gründung des AS Auto Verlages 2001 sowie der Übernahme verschiedener Titelrechte und Neugründungen wurde die Auto Bild-Zeitschriftengruppe zudem um weitere Titel wie z. B. Automobil Tests und Autotuning sowie zahlreiche Sonderhefte ergänzt. Vor dem Hintergrund des Themas dieser Ausarbeitung konzentrieren sich die folgenden Ausführungen auf die drei als Periodika erscheinenden Auto Bild-Line Extensions Auto Bild Motorsport, Auto Bild Sportscars und Auto Bild Alles Allrad. Im folgenden Unterabschnitt werden zunächst ausgewählte Thementrends als Grundlage der Entscheidung für die jeweilige Markteinführung herausgearbeitet. Anschließend wird näher auf die praktische Umsetzung eingegangen, insbesondere auf die Markenführung und die Titelkonzeptionen. 2.2

Ausgewählte Thementrends als Grundlage der Entscheidung für Line Extensions

Sport Utility Vehicles als neues Marktsegment

Eines der in den vergangenen zehn Jahren am dynamischsten expandierenden Marktsegmente der Automobilindustrie stellen die „Sport Utility Vehicles“, kurz SUVs, dar.

Neuzulassungen in Tsd. 160 Sport Utility Vehicles

140

149 120

92

100 80 60

56

52

50

45

43

40

Off-Roader

36

20

31

17 0

1997

1998

1999

2000

2001

2002

2003

2004

Abb. 9. Neuzulassungen Subsegmente SUV und Off-Roader22

Das Wachstum der SUV-Neuzulassungen um den Faktor 9 in der Zeit von 1997 bis 2004 (vgl. Abb. 9) dokumentiert die Stabilität eines Markttrends, 22

Quelle: KBA.

Line Extension als strategische Handlungsoption

279

der sich in der Planungsphase der Auto Bild-Line Extension Auto Bild Alles Allrad bereits andeutete. Zwar machten 2001 die Neuzulassungen allradgetriebener PKW insgesamt mit 186.000 Stück erst 5,4 Prozent der Gesamt-Neuzulassungen aus, doch als im Jahre 2000 der Anteil der SUV-Neuzulassungen den der OffRoader übertraf (vgl. Abb. 9) wurde absehbar, dass sich mit den SUVs eine hochpreisige Produktkategorie aktiv und intensiv entwickeln würde, die deutlich eher dem Bereich der alltagstauglichen Straßenfahrzeuge zugeordnet werden müsste als dem der Geländewagen. Der zivilere Charakter der SUVs hinsichtlich Styling und Handling sowie die Positionierung dieser Fahrzeugkategorie in Richtung Sportlichkeit in der gehobenen Mittelklasse konnte indes von den dieses Segment abdeckenden Zeitschriftentiteln nicht glaubwürdig aufgegriffen werden – zu sehr konzentrierten sich diese auf Härtetests und Erfahrungsberichte über Extremtouren und Expeditionen. In der verständlichen Aufbereitung und kritischen Begleitung dieses aufkommenden Thementrends bestand also ein deutliches leserseitiges Informationsdefizit. Gleichzeitig boten die bestehenden Titel der Industrie keine tragfähige Plattform zur Bekanntmachung und Bewerbung ihrer neuen Produkte, weil bestehende Leserschaften gerade der stärkeren Alltagstauglichkeit kritisch gegenüberstanden. Grundlage für die Einführung von Auto Bild Alles Allrad im Jahre 2002 waren somit zwei sich wechselseitig entsprechende Defizite in einem wachsenden Marktsegment, denen auf Basis der bestehenden Markenkompetenzen „Verständlichkeit“, „redaktionelle Expertise“, „Aktualität“ und „Alltagsrelevanz“ glaubwürdig begegnet werden konnte. Michael Schumacher und die neue Rennsportbegeisterung

Ein weiterer Thementrend des vergangenen Jahrzehnts lässt sich mit dem Namen Michael Schumacher benennen: die wachsende Begeisterung für die Formel 1 im Zuge des phänomenalen Erfolges eines bei seiner ersten Meisterschaft erst 23-jährigen Deutschen. Exemplarisch wird die Entwicklung und Forcierung des Themas anhand des enormen Wachstums der Zuschauerzahl bei Formel 1-Übertragungen deutlich (vgl. Abb. 10). Während im abgebildeten Zeitraum das Interesse an Berichterstattung über Rennen und Qualifikationen erheblich zunahm, weitete sich gleichzeitig der Informationsbedarf der Fans auch immer weiter auf Hintergrundberichte zu Technik, Teams und Training aus. Prognosen, Expertenrunden und nachbereitende Analysen gewannen im selben Maße an Relevanz, in dem die Formel 1 zu einem professionell gemanagten Medienereignis für jedermann ausgebaut wurde.

280

Hans H. Hamer, David Löffler und Peter Gravier

Zuschauer in Mio. 10,44 11 9 7 5

3,55

3

1994

1995

1996

1997

1998

1999

2000

2001

Abb. 10. Zuschauerzahl bei Formel 1-Übertragungen23

Auch dieser Trend wurde im Publikumszeitschriftenmarkt zunächst eher diskret entweder über Rubrikenausweitung innerhalb der bestehenden Heftkonzepte oder über Spezialpublikationen, die der Breite und Dynamik des Themas nicht gerecht wurden, bedient. Eine umfassende und allgemeinverständliche Berichterstattung und Dokumentation zu liefern, die – aufsetzend auf einem stabilen Informationsinteresse der autointeressierten Bevölkerung – in angemessener Tiefe aktuelles Renngeschehen sowie Hintergrundberichte und technische Ebene unterhaltsam vereint, war Zielsetzung bei der Einführung von Auto Bild Motorsport im Jahre 2001. Dieser zwischen Informationstiefe und -breite flexibel variierende Ansatz bot auch die Freiheit, weitere Themenfelder des Automobilrennsports (DTM, Rallye) in der Folgezeit entsprechend ihres Zugewinns an Bedeutung bruchlos in das redaktionelle Konzept zu integrieren. Die Bereiche „Tourenwagen/Prototypen“ und „Rallye“ haben heute bereits Rubrikenstatus und erweitern so die inhaltliche Grundlage von Auto Bild Motorsport. Profituning bzw. -veredelung als Ausdruck zunehmender Individualisierung

Eine dritte stabile gesellschaftliche Entwicklung der vergangenen Jahre stellt die massive Zunahme des Anteiles an Zweipersonen- und Singlehaushalten in Deutschland und die damit einhergehende Individualisierung von Konsumansprüchen dar: Heute beträgt der Anteil dieser Haushaltsgrößen, wie oben erwähnt, bereits 71 Prozent! Für die Automobilindustrie bedeutet dies ganz konkret, dass die individuellen Ansprüche an Fahrzeugtypik und individuelle Ausdruckskraft pro Haushalt wesentlich deutlicher formuliert werden können und dass die geforderte Breite an Modellvarianten zunehmen muss, um diese massive Individualisierung ange23

Quelle: GfK/RTL Medienforschung.

Line Extension als strategische Handlungsoption

281

messen bedienen zu können. Für die Serienproduktion lässt sich dies anhand der enormen Zunahme der Karosserievarianten eindruckvoll verdeutlichen: Waren 1990 über alle deutschen Marken 320 Karosserievarianten verfügbar, stieg die Auswahl in nur 15 Jahren auf über 440 an. Jenseits der Serienproduktion setzt sich der zunehmende automobile Individualitätsdrang in der steten Expansion des Marktes für Automobiltuning fort. Hier generieren Unternehmen – von werksseitigen Tuning-Profis (z. B. Mercedes AMG, BMW M, Audi Quattro) über Exklusivtuner (z. B. Brabus, ABT, Lexmaul) bis hin zu Mehrmarkentunern, Kleinstunternehmen und Komponentenherstellern – ein extrem fragmentiertes Angebot. Die im In- und Ausland realisierten Umsätze wuchsen in der Zeit von 1994 bis 2001 um gut 23 Prozent (vgl. Abb. 11).

Umsatz in Mrd. € 4,5

4,2 4,0

3,5

3,4 3,0

1994

1995

1996

1997

1998

1999

2000

2001

Abb. 11. Umsatzentwicklung des Marktes für Automobiltuning24

Auch hier ist die Industrie über den verstärkten Erwerb von Beteiligungen an den unabhängigen Tuning-Unternehmen aktiv, um so vor allem im Bereich des Profi-Tunings vom Wachstum zu profitieren, ohne die Anbieterbreite und darüber die wahrgenommene Vielfalt der individuellen Veredelungsangebote zu beschneiden. Es entstand so ein industrieseitiger Bedarf, die Begehrlichkeit der Welt professionell veredelter und leistungsoptimierter Fahrzeuge in breiten Zielgruppen zu erhöhen und gleichzeitig eine qualitative Orientierung im unübersichtlichen Angebot zu schaffen. Ein Bedarf, den klassische Tuning-Magazine wie u. a. der zur eigenen Gruppe gehörende Titel Autotuning aufgrund begrenzter Leserschaften, aber mehr noch aufgrund ihrer inhaltlichen Ausrichtung nicht bedienen konnten. Diese orientierten sich stark am „Schrauber“ in der heimischen, semiprofessionellen Werkstatt.

24

Quelle: Verband Deutscher Automobil Tuner e. V.

282

Hans H. Hamer, David Löffler und Peter Gravier

Die Line Extension Auto Bild Sportscars zielte also auf die Herausbildung eines eher kleinen und spezialisierten Marktsegmentes auf qualitativ höherwertigem Niveau. 2.3

Praktische Umsetzung

Markenführung

Abbildung 12 zeigt schlaglichtartig, wie Positionierung und Basisbenefits der Dachmarke innerhalb der Line Extensions spezifisch über die Motivationen und Bedürfnisse der jeweiligen Leserschaften ausgesteuert werden.

DACHMARKE Die Zeitschrift für Auto-Interessierte, die mich ständig engagiert, kompetent und verständlich über alle relevanten Themen und ums Auto auf dem Laufenden hält

FUNKTIONAL • Aktualität • Hoher Nutzwert • Übersichtlichkeit

POSITIONIERUNG

EMOTIONAL • Auf „Augenhöhe“ mit dem Leser • Qualifiziert mitreden können

BENEFIT

LINE EXTENSIONS funktional Termine und Rennverläufe Hintergrundinformationen zu Fahrern, Rennställen und Material

emotional Rennstallvokabular „BoxenFeeling“

Teilhabe am professionellen Rennzirkus

funktional News und Entwicklungen im SUV-Markt

Tests/ Fahrberichte/ Leistungsschau Zuliefererthemen

emotional

funktional

Aktive Sprache Sportliche Perspektive Eher sachliche, differenzierte Grundhaltung

emotional

Größere Thementiefe

Profivokabular

Technischer Hintergrund Kritische Leistungsschau

Begeisterung für Style und Technik

BENEFIT-AUSSTEUERUNG

Erlebniszentrierte Sprache

Abb. 12. Auto Bild-Markenpyramide

Je nach Themenlage und Erscheinungszeitpunkt ist es dabei nicht nur möglich, positive Transfereffekte von Mutter auf Töchter und zurück zu nutzen, sondern es kann sich auch anbieten, bestimmte Themen zwischen

Line Extension als strategische Handlungsoption

283

einzelnen Titeln oder auch intermediär zu vernetzen. Ein Beispiel hierfür ist die Berichterstattung zur Vorstellung der VW-Studie „Concept A“ – einer Crossover-Version zwischen Alltagsfahrzeug Golf und SUV Touareg – im Vorfeld des Genfer Autosalons: In Heft 7/06 titelt Auto Bild eher informativ „Der Golf für’s Gelände“, während Auto Bild Alles Allrad im März-Heft mit einem Exklusiv-Fahrbericht aufmacht, der vertiefend und in leicht abgewandelter Tonalität sportliche Reize und Geländetauglichkeit der Studie in den Vordergrund stellt. In beiden Heften schließt sich den Berichten die Ankündigung einer Gewinnaktion auf der Online-Plattform autobild.de an, in deren Rahmen über den Namen des 2008 erscheinenden Modells abgestimmt werden kann. Beide Hefte dokumentieren also titelspezifisch und mit unterschiedlicher Gewichtung die jeweiligen funktionalen und emotionalen Benefits, ohne Parallelleser durch Wiederholungen zu irritieren. Beide verweisen auf das Online-Portal, das seinerseits die interaktive Einbindung des Lesers in einen Entwicklungsprozess inszeniert, über dessen aktuellen Stand Auto Bild Alles Allrad exklusiv – und der breiten Berichterstattung in Folge des Genfer Salons vorauseilend – berichtet. Das Ganze wird vom Leser als koordiniertes, sich gegenseitig ergänzendes Paket erlebt, das unter der Dachmarke Auto Bild bruchfrei erlebbar wird.

Dachmarke (Zuordnung)

Themen-Codierung (Spezifikation)

Abb. 13. Logo-Aufteilung am Beispiel Auto Bild Motorsport

Eine grundlegende Voraussetzung für einen solchen flexiblen und vernetzen Markeneinsatz ist die klare Strukturierung der Markenfamilie in der Gestaltung: Die Auto Bild-Line Extensions folgen entsprechend einem einfachen, intuitiv verständlichen und konsistenten Design (vgl. Abb. 13), das Dachmarke und Themen-Codierung in Leserichtung abarbeitet und über

284

Hans H. Hamer, David Löffler und Peter Gravier

farbliche Unterscheidung der einzelnen Line Extensions schnelle Orientierung in der Kaufsituation erleichtert. Auch die werbliche Kommunikation setzt diese Orientierungsleistung fort: Innerhalb eines gestalterischen Kampagnenrahmens erfolgt die kommunikative Steuerung zwischen Leser- und Fachkampagne wie auch die klare Differenzierung der Line Extensions untereinander über farbliche und thematische Markensignale oder Symboliken, die die klare Zuordnung erleichtern. Titelkonzeptionen

Die Führung der dreiköpfigen Line Extensions-Familie unter Auto Bild erfordert produktseitig die saubere Aussteuerung jedes einzelnen Titels in erkennbarer Nähe zur Mutter, um von Kompetenztransfers profitieren zu können. Gleichzeitig muss eine angemessene Unabhängigkeit erhalten bleiben, um Eigenständigkeit und Daseinsberechtigung jeder einzelnen Line Extension zu vertreten. Dabei geht es nicht nur darum, Kannibalisierung des Muttertitels zu vermeiden, sondern auch darum, positive Rückwärtstransfers der Line Extensions auf die Muttermarke bezüglich ihrer höheren spezifischen Themenkompetenz zu ermöglichen. Diese Anforderungen werden maßgeblich über Erscheinungsfrequenz und Rubrizierung des Inhaltes kontrolliert (vgl. Abb. 14).

wöchentlich 1. Vorstellungen, Fahrberichte, Tests 2. Reportagen, Serien, Aktionen 3. Ratgeber 4. Wochenschau 5. Rubriken

2-wöchentlich 1. Formel 2. Tourenwagen/ Prototypen 3. Rallye 4. Rubriken

monatlich 1. Titel 2. Panorama 3. Test 4. Report 5. Ratgeber 6. Rubriken

monatlich 1. Titel 2. Panorama 3. Test 4. Report 5. Rubriken

Abb. 14. Erscheinungsfrequenz und Rubrizierung Auto Bild-Familie

Als Führungstitel bietet Auto Bild bei wöchentlichem Erscheinen einen umfassenden aktuellen Überblick über das automobile Themenspektrum

Line Extension als strategische Handlungsoption

285

insgesamt und setzt den Standard der funktionalen und emotionalen Qualität der Marke. Die Line Extensions differenzieren nicht ausschließlich nach Themenbereichen, sondern auch nach Interpretation der Auto BildQualitätsstandards innerhalb der besetzten Spezialgebiete. So bildet Auto Bild Motorsport zweiwöchentlich drei Kernbereiche des automobilen Motorsports ab und unterstützt den wichtigsten Bereich – Formel 1 – durch vertiefende Berichterstattung wie das F1-Special zur Saisonvorbereitung (Heft 4/06). Emotionalisierende Sprache, „Boxenvokabular“, Insiderthemen und exklusive Hintergrundberichte zu Fahrern und Teams unterstützen den inhaltlichen Anspruch, der im Heft-Untertitel mit „Näher dran ist nur der Fahrer“ zum Ausdruck gebracht wird. Die monatlichen Titel Auto Bild Alles Allrad und Auto Bild Sportscars sind in ihren Kompetenzbereichen fast identisch strukturiert, wobei ersterer seine Orientierungsleistung im noch jungen, aber dynamisch expandierenden Segment der SUVs auf die Rubrik „Ratgeber“ ausdehnt. Serien und Specials setzen Themenschwerpunkte und stützen die Funktion der tragfähigen Plattform zur Bekanntmachung und Promotion der Marktsegmente im Verbund mit der Industrie. Beide Titel unterscheiden sich dennoch in Tonalität und emotionalem Gehalt – sowohl untereinander als auch gegenüber Auto Bild.

Abb. 15. Titelkopf-Gestaltung Auto Bild Motorsport (Heft 4/2006)

286

Hans H. Hamer, David Löffler und Peter Gravier

Das Layout steht vorrangig im Dienst einer klaren Orientierung der Käufer am Point-of-Sale, an dem unterschiedliche Erscheinungsfrequenzen regelmäßig zu Parallelplatzierungen führen. Neben den im Vergleich zur Mutter leicht reduzierten Heftmaßen leistet der Titelkopf der Line Extensions eine deutliche Objektdifferenzierung: Die farbliche Aussteuerung von Markenund Themen-Codierung gewährleistet schnelle Unterscheidbarkeit bei vertikaler Fächerung, der links der Marken-Codierung um 90° hochgestellte Titelname verhindert Vergreifer bei horizontaler Überdeckung (vgl. Abb. 15). Unterhalb des bei allen Line Extensions einheitlich aufgebauten Titelkopfes besteht Freiraum, um den spezifischen Anforderungen der einzelnen Themenfelder Rechnung zu tragen. 2.4

Fazit

Auf Basis der umfangreichen Erfahrung in Konzeption und Führung der Auto Bild-Marken- und Titelfamilie lassen sich folgende Erfolgsbausteine festhalten: x Die Setzung eines klaren formalen Rahmens ist Grundvoraussetzung, nicht aber Erfolgsgarant der Organisation einer Markenfamilie im Publikumszeitschriftenmarkt. Im Fall Auto Bild stehen Muttermarke und Line Extensions auch inhaltlich in klar definierten Bezügen zueinander, die die Sinnhaftigkeit der gestalterischen Differenzierung ständig und durchaus flexibel untermauern. x Die Aktualisierung der Beziehungen zwischen Muttermarke und Line Extensions in Marke und Produkt ist Daueraufgabe. x Transfererlebnisse – sowohl top-down als auch bottom-up – müssen aktiv erarbeitet werden. Die einseitige Abschöpfung von Markenkapital durch die Line Extensions wird von Lesern allzu leicht als „Vertriebsmaßnahme“ durchschaut. Jeder Titel einer Familie muss sein eigenes Profil besitzen und inszenieren. x Lesermotivation und -aktivierung müssen ständig im Auge behalten werden. Sich wandelnde situative und thematische Nutzungsfaktoren sind aufzunehmen und individuell über die geeignete Line Extension zu adressieren. Dabei kann der intermediäre „redaktionelle Doppelpass“ auch neue Markenerlebnisse jenseits der Print-Basis fördern.

Line Extension als strategische Handlungsoption

3

287

Fünf Thesen zur weiteren Entwicklung der Verwendung von Line Extensions im Publikumszeitschriftengeschäft

Als Strategieoption für die Gründung neuer Titel liegen Line Extensions derzeit im Trend. Bild (Axel Springer) macht dies seit langem erfolgreich, zuletzt mit Gesundheits-Bild und Audio Video Foto Bild. Weitere Beispiele sind das Modemagazin Maxim Fashion (Axel Springer), das Fotomagazin View beim Stern (Gruner + Jahr), Fit und Gesund von Lisa oder Focus Schule (beide Burda). Aktuell steht die Nutzung starker Marken bei allen Verlagen im Fokus. Wie wird die Entwicklung diesbezüglich weitergehen? Was werden in den kommenden Jahren die Hauptmotivationen für den Einsatz von Line Extensions sein? Die folgenden fünf Thesen versuchen, Antworten auf diese Fragen zu geben: 1. Getrieben durch die Individualisierung schreitet die Fragmentierung des Publikumszeitschriftenmarktes weiter fort. 2. Da auch die Kosten für Marken-Neueinführungen weiter steigen und die Erlöspotenziale in immer kleiner werdenden Segmenten pro Titel eher rückläufig sind, nimmt die Bedeutung von Line Extensions für die Verlage weiter zu. Der Anteil an den Neueinführungen im Publikumszeitschriftenmarkt wird weiter steigen. 3. Die wesentlichen Gründe für den Einsatz von Line Extensions sind die positiven Auswirkungen auf den Marktanteil und die Werbeeffizienz. Es wird sich die Einsicht durchsetzen, dass durch Line Extensions ausgelöste Zusatzverkäufe den Verlust von Verkäufen, die auf Kannibalisierung zurückzuführen sind, mehr als kompensieren können. 4. Die Flopquote von Line Extensions wird zunehmen – zum einen weil die Markendächer noch stärker ausgeweitet und dabei zum Teil auch überstrapaziert werden und zum anderen weil auch immer mehr schwächere Marken als potenzielle Familienmarken herhalten müssen. 5. Über die Strategieoption Line Extension hinaus werden Verlage versuchen, ihre starken Marken weiter zu kapitalisieren, sei es im Ausland oder auf elektronischen Märkten wie dem Fernsehen oder dem Internet.

288

Hans H. Hamer, David Löffler und Peter Gravier

Literaturverzeichnis Aaker, D., Keller, K. (1990): Consumer Evaluations of Brand Extensions. In: Journal of Marketing, Vol. 54, S. 27–41. Becker, J. (2001): Marketing-Konzeption: Grundlagen des zielstrategischen und operativen Marketing-Managements. Vahlen, München. Esch, F.-R. (2001): Konzeption und Umsetzung von Markenerweiterungen. In: Esch, F.-R. (Hrsg.) Moderne Markenführung: Grundlagen – Innovative Ansätze – Praktische Umsetzungen. Gabler Verlag, Wiesbaden, S. 755–791. Homburg, C., Schäfer, H. (2001): Strategische Markenführung in dynamischer Umwelt. In: Köhler, R., Majer, W., Wiezorek, H. (Hrsg.) Erfolgsfaktor Marke: Neue Strategien des Markenmanagements. Vahlen, München, S. 157–173. Keller, K. L. (2001): Erfolgsfaktoren von Markenerweiterungen. In: Esch, F.-R. (Hrsg.) Moderne Markenführung: Grundlagen – Innovative Ansätze – Praktische Umsetzungen. Gabler Verlag, Wiesbaden, S. 793–807. Kotler, P., Bliemel, F. (1999): Marketing-Management: Analyse, Planung, Umsetzung und Steuerung. Schäffer-Poeschel, Stuttgart. Reddy, S.-K., Holak, S.-L., Bhat, S. (1994): To Extend or Not to Extend: Success Determinants of Line Extensions. In: Journal of Marketing Research, Vol. 31, S. 243–262. Sattler, H. (2001): Brand-Stretching: Chancen und Risiken. In: Köhler, R., Majer, W., Wiezorek, H. (Hrsg.) Erfolgsfaktor Marke: Neue Strategien des Markenmanagements. Vahlen, München, S. 141–149. Sattler, H., Völckner, F., Zatloukal, G. „Erfolgsfaktoren von Markentransfers“ Research Papers on Marketing and Retailing No. 2, S. 27, University of Hamburg, 2002, http://www.henriksattler.de/publikationen.html#research (am 03.02.06). Wölfer, U. (2004): Produktlinienerweiterung (Line Extension). In: Bruhn, M. (Hrsg.) Handbuch Markenführung. Gabler Verlag, Wiesbaden, S. 799–816.

Vom Festbezug über das Abomarketing zum Kundenbeziehungsmanagement

Uwe Henning und Martin Simon

1

Einleitung

Am Anfang war der Festbezug. Die Vertriebskollegen der 50er und 60er Jahre benannten das Abonnement aus zwei Gründen mit diesem – heute fremd klingenden – Begriff: Erstens galten (und gelten) die Aboauflagen im Vergleich zum Einzelverkauf als feste, berechenbare Größe, und zweitens war der Abonnent in der Regel mindestens ein Jahr fest an seinen Titel gebunden. Abonnierwillige Leser mussten das Kleingedruckte im Impressum studieren, um sich über Bestellmöglichkeit und Abokonditionen einer Zeitschrift zu informieren. Wenn Abonnements aktiv geworben wurden, dann im Wesentlichen an der Haustür durch die Agenturen des werbenden Buch- und Zeitschriftenhandels. Das planmäßige Abomarketing der Verlage war noch völlig unterentwickelt. Seit den 70er Jahren haben sich die Verhältnisse geändert, und die Geschwindigkeit des Wandels nimmt immer weiter zu. Mit dem Launch von Geo setzte das Verlagshaus Gruner + Jahr 1976 erstmalig das Angebot „kostenloses Probeheft mit negativer Option“ im deutschen Markt ein – mit riesigem Erfolg. In den 80er Jahren trat das neue Angebot „preisreduziertes Probeabo“ in den Vordergrund. Die Verlage übernahmen neue personalisierte Werbeformen wie Mailing und Telefonmarketing. Das planvolle, auf Versuch und Irrtum basierende Direktmarketing mit seinen Controlling-Komponenten Response, Umwandlung und CPO hielt Einzug. Das professionelle Verlags-Abomarketing bildete sich heraus. Viel kam in Bewegung: Das Abonnement verlor seine festen Bezugszeiträume zuguns-

290

Uwe Henning und Martin Simon

ten von negativen Optionsangeboten und der Möglichkeit, jederzeit zu kündigen. Der nächste Entwicklungsschub kam in den 90er Jahren mit dem Schlagwort „Kundenorientierung“. Anfangs als reine Serviceorientierung verstanden, zeigte sich die volle Tragweite dieses Begriffes erst mit seiner schrittweisen Umsetzung. Um einen Kunden zu verstehen, sich an ihm zu orientieren, benötigten die Verlage Datenbanken, die alle Kundendaten zusammenführen. War diese IT-technische Voraussetzung geschaffen, begannen die Verlage, Ihren besten Kunden zusätzliche Abonnements und Produkte zu verkaufen. Neben „Auflage“ und „Auftrag“ trat der „Kunde“, der seitdem viel häufiger kontaktiert wird und der sich viel häufiger beim Verlag meldet als zuvor. Der Kunde legt aber auch ein zunehmend eigenständiges Verhalten an den Tag, dem mit der Titelorientierung des Abomarketings nur unzureichend zu begegnen ist. Ein differenziertes Kundenbeziehungsmanagement – Customer Relationship Management (CRM) – ist heute gefordert, um alle Chancen der Kundenwertsteigerung zu nutzen, seien sie nun Zweitabo-Verkauf, Merchandising oder Zusatzgeschäfte.

Investitionen1 in Werbung Klassische Werbung vs. Direktkundenmarketing2 Gesamtmarkt 1999 – 2003 in Mrd. € 53,0

Auflagenentwicklung EV + Abo IVW-Publikumszeitschriften Gesamtmarkt 1999 – 2004 in TEX 78.500 71.200

43,6 Direktmarketing

Klassische Werbung

Abo3 20.000 +97,5

+6,5% 21.300

24,1

12,2

31,4

1999

EV 58.500

-8,0%

-14,7%

28,9

2003

1999

1 Honorare, Werbemittelproduktion, Medien 2 Ohne klassische Medien mit Response-Elementen (Anzeigen/Beilagen, Plakat-Außenwerbung, Funk-/Fernsehwerbung) 3 Ohne Mitgliederstücke

Abb. 1. Marktentwicklung des Direktkundengeschäftes1

1

Quelle: Deutsche Post DM-Monitor Deutschland 1999–2004.

49.900

2004

Vom Festbezug zum Kundenbeziehungsmanagement

291

Parallel zu dieser Entwicklung müssen die Verlage auch eine deutliche Verschiebung der Vertriebssparten beobachten. Der Einzelverkauf ging und geht zurück. Das Abonnement konnte seine Auflagen halten, teilweise ausbauen. Einige Zeitschriften mutierten von Einzelverkaufstiteln zu Abonnementtiteln. Diese Entwicklung hält weiter an und korrespondiert mit einem branchenübergreifenden Trend, wonach die Bedeutung des Direktmarketings steigt und die der klassischen Werbung abnimmt.

2

Direktkundenmarketing – über die Organisation zum Erfolg

Die Frage der optimalen Verankerung des Abomarketings innerhalb der Organisation hat das Verlagsmanagement immer wieder beschäftigt. In dem komplexen, arbeitsteiligen Aufbau eines Verlages ist es eine organisatorische Herausforderung, zum einen ein einheitliches Titelmarketing im Anzeigen-, Leser- und Abonnementmarkt sicherzustellen, andererseits die titelübergreifenden Synergien des Abomarketings zu heben. So gibt es Verlage, die das Abomarketing titelorientiert in der Marketingabteilung des Verlages organisieren; andere Verlage haben das Abomarketing zentralisiert, zumeist im Vertrieb. Mittlerweile hat das Direktmarketing gesicherte Erkenntnisse darüber, in welchem Verhältnis die Erfolgsfaktoren Angebot, Zeitpunkt, Kreation und Adresse zueinander stehen. Im zielgruppenorientierten Direktmarketing steht Angebot vor Zeitpunkt vor Kreation. Bei der personalisierten Werbung rangiert Adresse vor Angebot vor Zeitpunkt vor Kreation. Fazit: Die direktmarketingspezifischen Faktoren Adresse, Angebot und Zeitpunkt determinieren den Werbeerfolg. Hier gilt es, schnell Synergien zwischen den Titeln zu heben. Deswegen hat sich heute bei fast allen Verlagen das zentrale Abomarketing durchgesetzt. Trotzdem dürfen die Corporate Identity (CI)-Vorgaben der Titel nicht missachtet werden. Bei der Kreation ist es die gestalterische und textseitige Herausforderung, die Titel-CI zur Steigerung des Responses zu nutzen. Innerhalb des CI-Rahmens gilt es, das optimale Angebot oder die optimale Angebotskombination zu wählen. Erfolgreiches Direktmarketing nutzt die Bekanntheits- und Image-

292

Uwe Henning und Martin Simon

schneisen, die die klassische Werbung in das Verbraucherbewusstsein schlägt, um preiswerter und schneller zum Verkauf zu kommen. Insofern nutzt erfolgreiches Abomarketing die Marke und zahlt mit seinen Werbemitteln weiter auf das Markenkonto ein. Eine zweite Verbindung wird immer entscheidender: das Zusammenwirken von Service und Sales – die Zusammengehörigkeit von Kundenservice und Marketing. Noch in den 80er Jahren war in den Verlagen ein weitgehendes Nebeneinander von – damals – „Abowerbung“ und Kundenservice/Logistik zu beobachten. Weder IT-seitig noch organisatorisch waren diese Verlagseinheiten miteinander verbunden. Die Abowerbung konzentrierte sich auf das responseorientierte Einwerben immer neuer Abonnenten und arbeitete weitgehend eigenständig, ohne Anbindung an das Kundenservicesystem. Der Kundenservice konzentrierte sich auf seine Grundfunktionen Neuaufnahme, Fakturierung und Versand; er „verwaltete“ die Abonnenten, so gut er konnte. Erst durch die Einführung integrierter Kampagnenmanagementsysteme mit CPO-Berechnungen und die sich in den Vordergrund schiebenden Marketing-Herausforderungen wie Kündigervermeidung, Kündigerrückgewinnung, Databasemarketing oder Up- und Cross-Selling wuchsen die beiden Bereiche zusammen. Anfang der 90er Jahre entstanden dann in den Verlagen Direktkundenmarketing-Organisationen, die alle abonnementund endkundenbezogenen Aktivitäten zusammenfassten – entweder als Abteilungen (Gruner + Jahr, VKG-Bauer-Verlag) oder als selbständige Tochterfirmen wie Burda Direct, AS-Direct oder SCW-Motor-Presse. Wie dieser Beitrag anhand vielfältiger Beispiele zeigt, erschließt die organisatorische Einheit von Service und Sales die entscheidenden Synergien des Kundenmarketings. Innerhalb des Direktkundenmarketings existiert eine große Bandbreite an Aufgaben und Berufsbildern. Es werden benötigt: x Serviceorientiertes Personal mit kommunikativer Begabung und der Fähigkeit zum aktiven Verkauf. x Eine Reihe von Leitungsfunktionen im Kundenservice und den kundenservicenahen Bereichen wie Versand oder Steuerung, die in der Lage sein müssen, kundenorientierte Leistungen ablauforientiert zu organisieren, zu controllen und laufend zu optimieren. x IT-Projektentwickler, die die Fähigkeit besitzen, bestehende und zukünftig benötigte Workflows effizient in IT-Anwendungen zu übersetzen. x Databasemarketing- und Datamining-Spezialisten, die über die statistischen und analytischen Fähigkeiten verfügen, Kundendaten zusammen-

Vom Festbezug zum Kundenbeziehungsmanagement

293

zuführen und mit Hilfe selbstentwickelter Scoring-Modelle die Bestkunden für neue Marketinganstöße zu selektieren. x Abomarketing-Spezialisten, die über eine fundierte DirektmarketingAusbildung verfügen und möglichst ausgewogene analytische und kreative Fähigkeiten mitbringen sollten. Eine Direktkundenmarketing-Organisation ist geprägt vom Nebeneinander und Überlappen unterschiedlicher Arbeitsweisen: x x x x

Kundenorientierung Titelorientierung Ablauforientierung Produktorientierung

Abbildung 2 zeigt eine prototypische Direktkundenmarketing-Organisation, unterteilt in die Funktionen Abomarketing, Kundenmarketing und Kundenservice. Die Schraffierungen verdeutlichen die unterschiedlichen Arbeitsorientierungen der Teilbereiche.

Titelorientiertes Abomarketing

Bestandskundenmarketing

Telefonmarketing

Kooperationsmarketing

Frontoffice: Call-Center

Neuaufnahme Mengengeschäftsvorfälle

Backoffice: Kundenservice für schriftliche Kontakte

E-Mail/ Internetmarketing WBZ–Betreuung

Databasemarketing

Steuerung Fakturierung

Versand

(Werbender Buchund Zeitschriftenhandel)

Produktservice

CRM-IT Abomarketing

Kundenmarketing

Kundenservice

Direktkundenmarketing-Organisation Kundenorientierung

Ablauforientierung

Titelorientierung

Produktorientierung

Abb. 2. Arbeitsorientierungen einer Direktkundenmarketing-Organisation

294

Uwe Henning und Martin Simon

3

Thesen, Thesen, Thesen – Perspektiven des Kundenbeziehungsmanagements für Verlage

„Fakten, Fakten, Fakten“ war ein erfolgreicher Claim zur Einführung eines Nachrichtenmagazins Anfang der 90er Jahre. Aufbauend auf die Fakten und praktischen Erfahrungen des Abonnementgeschäftes werden im Folgenden die Entwicklungslinien des modernen Abomarketings und des Kundenbeziehungsmanagements in Form von Thesen dargestellt sowie Perspektiven für die weitere Entwicklung aufgezeigt. 3.1

Service ist Pflicht – der verkaufende Kundenservice ist die Kür

Das Hauptaugenmerk vieler Kundenserviceorganisationen verschiedener Branchen – Versandhandel, Banken, Versicherungen, Verlage – galt in den vergangenen Jahren vor allem dem Kostenmanagement und der Servicequalität. Der Kundenservice verlagerte sich immer mehr von der persönlichen Betreuung am Schalter (u. a. Banken) oder über den Außendienst (u. a. Versicherungen) hin zu einer telefonischen Betreuung. Diese Entwicklung lässt sich in erster Linie an der zunehmenden Zahl an CallCentern ablesen, die sich über die Telefonie hinaus zu Service-Centern weiterentwickeln. Die Optimierung der Servicequalität konzentriert sich dabei auf vier Bereiche. Servicelevel-Organisation

x Servicelevel werden definiert: Servicelevel 1 für einfache Kundenanliegen (z. B. Bestellungen), Servicelevel 2 für mittlere und Servicelevel 3 für komplexere Kundenserviceaufgaben (u. a. Kontoklärung, Beschwerden). x Die Kundenservice-Mitarbeiter werden entsprechend den jeweiligen Anforderungen ausgebildet und entsprechend ihren Fähigkeiten eingesetzt. Servicelevel-Agreement

Festgelegt werden x Bearbeitungsstandards, die eine einheitliche Bearbeitungsqualität sicherstellen sollen, x Servicezeiten, zu denen der Kundenservice erreichbar ist,

Vom Festbezug zum Kundenbeziehungsmanagement

295

x Erreichbarkeiten, innerhalb derer Kundentelefonate persönlich entgegengenommen werden sollen (z. B. 80/20 für 80 Prozent aller Anrufe innerhalb von 20 Sekunden Anrufzeit) und x Antwortzeiten für schriftliche Anfragen (z. B. E-Mails innerhalb von acht Stunden nach Eingang). Servicequalität

x Schulungsprogramme werden entwickelt, um die Mitarbeiter der einzelnen Servicelevel entsprechend den jeweiligen Anforderungen zu qualifizieren. x Controllinginstrumente werden erstellt, um die Qualitätsstandards zu überwachen. x Einheiten zum Beschwerdemanagement bzw. Qualitätsmanagement werden eingerichtet. x Zur Überprüfung der Kundenzufriedenheit werden Kundenbefragungen durchgeführt. x Die Serviceeinheiten nehmen an qualitätsvergleichenden Wettbewerben teil (z. B. der „European Call Center Award“). x Serviceeinheiten werden in ihrer Qualität durch „Mystery Calls“ (Testanrufe) überprüft. IT-Systeme

x Moderne Telefonanlagen werden installiert, die die Erreichbarkeit des telefonischen Kundenservices optimieren sollen. x Workflow-Tools werden eingesetzt, um die anfallenden Kundendokumente (Brief, Fax, E-Mail) an die Stellen der schnellsten Bearbeitung weiterzuleiten. x Kundenbetreuungssysteme werden entwickelt, die kundenorientiert einen zügigen und zuverlässigen Service erlauben. Zur Reduzierung der Kundenservicekosten werden ebenso eine Reihe von Maßnahmen ergriffen. Diese ergeben sich teilweise aus den oben beschriebenen Punkten zur Sicherstellung der Servicequalität. x Die Organisation nach Servicelevels erlaubt den Einsatz auch angelernter oder geringer qualifizierter Mitarbeiter für die einfachen Kundenserviceaufgaben des Servicelevels 1. x In Call-Centern lassen sich eine große Zahl an Kundenservicemitarbeitern auf vergleichsweise kleinen Büroflächen unterbringen. Die notwen-

296

x

x

x

x

x

Uwe Henning und Martin Simon

digen Informationen zum Kunden oder zum Produkt werden digital zur Verfügung gestellt. Der Kundenservice in Service-Centern ist unabhängig vom Standort des auftraggebenden Unternehmens; daher siedeln Call-Center sich häufig in strukturschwächeren Regionen an, in denen Mieten und Personalkosten geringer sind. Vielfach bietet sich auch die Nutzung so genannter Offshorestandorte an, bei der Kundenservice-Center ins kostengünstigere Ausland (z. B. Irland, Indien, Vietnam) verlagert werden. Inzwischen werden überwiegend Servicerufnummern eingesetzt, bei denen der Kunde einen Teil der oder sogar die gesamten Kosten des Telefonats trägt (z. B. 01805-Nummern für 12 Cent pro Minute). Die Definition von Standardbearbeitungen erlaubt den Einsatz von externen Dienstleistern zur Übernahme von Teilen der oder allen Kundenservicearbeiten und deren Bezahlung nach der Anzahl an bearbeiteten Geschäftsvorfällen (entgegen einer Bezahlung nach eingesetzten Mitarbeiterstunden). Forcierung von Selfservice-Lösungen im Internet und am Telefon z. B. über einen Sprachcomputer.

Dieses konsequente Service- und Kostenmanagement führt im günstigsten Fall zu einem wirtschaftlich vertretbaren Kundenservice bei einer gleichzeitig hohen Kundenzufriedenheit, die ihren Ausdruck darin findet, dass die erfahrene Serviceleistung größer als die Kundenerwartung an diesen Service ist. Kundenzufriedenheit = Leistung > Erwartung In vielen schrumpfenden Märkten erkennt man jedoch die große Bedeutung vorhandener Kundenstämme und richtet sein Augenmerk zunehmend auf deren verbesserte Ausschöpfung. Marketingetats werden vermehrt zugunsten von Bestandskundenaktionen verschoben, bei denen es darum geht, Kunden länger zu halten und mit den Kunden zusätzliche, auch branchenfremde Geschäfte abzuschließen. Gleichermaßen werden die IT-Mittel mehr und mehr in die Weiterentwicklung der reinen Servicesoftware zu Systemen des Kundenbeziehungsmanagements gelenkt. Im Mittelpunkt steht die Kundendatenbank mit der Zusammenführung aller Kundendaten aus allen Geschäftsbereichen für ein möglichst umfassendes Kundenbild als Grundlage für weiteres Geschäft (siehe Unterabschnitt 3.11). Im Rahmen des Kundenmarketings geht es darum, alle Kundenkontakte an den unterschiedlichen Kontaktpunkten zur Kundenbindung bzw. für Zusatzerlöse zu nutzen. Das Direktmarketing kennt diesbezüglich vor allem

Vom Festbezug zum Kundenbeziehungsmanagement

297

die personalisierten Outbound-Instrumente (vom Unternehmen ausgehende Maßnahmen) Mailing, Telefonmarketing und E-Mailing. In letzter Zeit wird zunehmend auch der Wert der Inbound-Kontakte erkannt, bei denen sich der Kunde an das Unternehmen wendet und seine Aufmerksamkeit vor allem beim telefonischen Kontakt besonders hoch ist. Dabei gilt es, den Kunden zunächst zu seiner größtmöglichen Zufriedenheit in seinem Anliegen zu betreuen, darüber hinaus aber auch alles zu tun, um ihn weiter an das Unternehmen zu binden (zu halten) bzw. ihm weitere Angebote zu unterbreiten und zusätzliche Erlöse zu erzielen (zu verkaufen). Zusammenfassend lassen sich diese Gedanken für ein Verlagshaus in der folgenden CRM-Service-Matrix darstellen.

Betreuen • 360°-Kundenansicht

Inbound schriftlich, telefonisch, online

Halten • Kompetenter Service

Verkaufen • Cross- und Up-Selling

• Exzellentes Frontoffice • Aktive BEZ-Umstellung • Aboangebote • Exzellentes Backoffice • Customer Selfservice

• Kündigerrückgewinnung

• Merchandisingangebote • Zusatzangebote

• Rückrufe

Outbound schriftlich, telefonisch, online

• Care Calls • Bestätigungen/Faktur • Versende

• Kündigerrückgewinnung • Umstellung auf BEZ • Geschenkabonachfass

• Cross- und Up-Selling • Aboangebote • Ggf. Merchandising • Ggf. Zusatzangebote

• Adressqualifizierung

Ergebnis

Kundenzufriedenheit = Leistung minus Erwartung

Mehr Umsatz durch verlängerte Abolaufzeiten

Mehr Umsatz durch zusätzliche Verkäufe

Abb. 3. CRM-Service-Matrix

3.2

Betreuen – Inbound und Outbound

Zur Sicherstellung einer möglichst hohen Kundenzufriedenheit bedarf es eines Abobetreuungssystems, welches alle kundenrelevanten Informationen – Auftragsdaten, Bewegungsdaten, Kommunikationsdaten, Kontaktdaten (inbound und outbound) – für die Servicemitarbeiter bereithält. Mit

298

Uwe Henning und Martin Simon

Hilfe dieser 360°-Kundenansicht ist der Mitarbeiter gegenüber dem Kunden maximal auskunftsfähig. In einer Mehrlevelorganisation ist es zudem unerlässlich, das Frontoffice für den Servicelevel 1 und das Backoffice für die Servicelevel 2 und 3 laufend zu schulen sowie die Servicequalität zu überprüfen. Letztlich kommt es im Inbound auch auf einen komfortablen und umfangreichen Onlinekundenservice an, über den die Kunden einfache Anliegen selbständig erledigen können, mit Kostenvorteilen für den Verlag. Kundenbetreuung im Outbound heißt, Kunden zurückzurufen, deren Anliegen nicht im ersten Kontakt fallabschließend geklärt werden konnte. Dies trifft vor allem zu, wenn der Kunde außerhalb der Servicezeiten einen Anrufbeantworter erreicht und um Rückruf bittet oder wenn es z. B. um die Klärung von Beschwerden geht. Geht der Verlag in Servicefragen von sich aus auf die Kunden zu, spricht man von Care Calls. Sie werden z. B. bei Tageszeitungen (so die Financial Times Deutschland) zur Überprüfung der Zustellung im Rahmen der Erstbelieferung unternommen. In der ersten Zustellwoche wird der Kunde angerufen und nach Pünktlichkeit sowie Einwandfreiheit der Belieferung befragt. Diese Form des Services und Nachkaufmarketings führt zu höherer Kundenzufriedenheit und Aboumwandlungsquote. Ein anderes Beispiel für Outbound-Service ist die Kundeninformation im Fall einer verzögerten Prämien- oder Zugabenauslieferung („Vertrösterbrief“). Dieses hält den Kunden über den aktuellen Status informiert und vermeidet Kundenrückfragen telefonischer oder schriftlicher Art, die in der Bearbeitung für die Serviceeinheiten teurer sind. Der erste Outbound-Betreuungskontakt, den der Kunde erfährt, ist der Begrüßungs- oder Bestätigungsbrief; in diesem wird dem Kunden für seine Bestellung gedankt, und es werden die wesentlichen Daten seiner Bestellung – Titel, Preis, Prämie oder Zugabe, erste Ausgabe etc. – bestätigt. 3.3

Halten – Inbound und Outbound

Ein kompetenter Kundenservice und eine damit verbundene hohe Kundenzufriedenheit ist auch die Grundlage für eine hohe Abonnement-Haltbarkeit, die darüber hinaus auch von der individuellen Zahlungsart abhängt – Bankeinzugszahler bleiben dem Verlag durchschnittlich über 40 Prozent länger erhalten als Rechnungszahler. Ein moderner Kundenservice ist entsprechend stets darauf bedacht, Rechnungszahler auf Bankeinzugszahlung umzustellen. Im Fall einer telefonischen Kündigung (oder per E-Mail) ist es Aufgabe des Kundenservices, den Kunden – ausgehend vom Kündigungsgrund – von der Fortsetzung des nämlichen Abonnements zu überzeugen oder ihm ein alternatives Angebot zu machen. Dies führt im Zwei-

Vom Festbezug zum Kundenbeziehungsmanagement

299

fel nicht zu einer Auftragsbindung, dafür aber zur Kundenbindung – der Kunde bleibt dem Verlag erhalten. Ebenso kann der Kundenservice in ausgehenden Kontakten positiv auf die Haltbarkeit des Kunden bzw. des Auftrages hinwirken, indem z. B. Kündiger telefonisch bzw. schriftlich nachbearbeitet werden oder Rechnungszahler zur Umstellung ihrer Zahlungsart veranlasst werden. Im Fall von Heft- oder Rechnungsrückläufern aufgrund unbekannt verzogener Kunden zahlt auch eine telefonische Recherche der Umzugsinformation positiv auf die Kundenbindung ein. 3.4

Verkaufen – Inbound und Outbound

Die Kür für einen modernen Kundenservice stellt der Verkauf dar. In einer einfachen Form kann man mit zielgruppenunabhängigen Angeboten für Aktionszeiträume starten; Kunden werden heute schon während des Telefonats systemgestützt gescort (hier Real-Time-Scoring), um ihnen personalisierte Angebote machen zu können. Grundsätzlich ist dazu aber ein Umdenken der Kundenserviceorganisation und seiner Mitarbeiter erforderlich – von der reinen Service- hin zur Verkaufsorientierung. Auf dem Weg dahin liegen intensive Schulungsprogramme, die dem Mitarbeiter aufzeigen, mit welcher Gesprächsführung zusätzliche Angebote gemacht werden können. Idealerweise werden die verkaufenden Kundenservicemitarbeiter an den Verkaufserfolgen in Form einer leistungsorientierten Vergütung beteiligt, um ihre Bereitschaft und Motivation zu steigern. Die Angebote reichen dann von unternehmenseigenen Produkten wie Abonnements und Merchandising bis hin zu eingekauften oder vermittelten Produkten (wie Abonnements von Fremdverlagen oder Telefonverträge). Dazu gilt es, die verschiedenen Servicegeschäftsvorfälle zu analysieren und zu ermitteln, bei welchen die Zusatzverkaufsaussicht am größten ist, um nach und nach die Angebotsquote (unterbreitete Angebote/eingehende Anrufe) zu steigern. Der Call-Center-Agent wird von einem modernen CRM-System unterstützt. In der 360°-Kundenansicht werden ihm neben der Auftragsansicht ebenso Verkaufsempfehlungen für den Kunden zugespielt. Diese orientieren sich an der Kundenhistorie und den vorliegenden Kundendaten. In simpler Form werden beispielsweise altersgruppenadäquate Angebote – Geolino für Kinder von 6 bis 12 Jahren – vorgeschlagen, wenn die Kundenhistorie Rückschlüsse auf im Haushalt lebende Kinder zulässt. In komplexerer Form werden mehrere Kundenmerkmale wie Lebensalter, Bestellverhalten, Abolaufzeiten, Anzahl inaktiver Abonnements etc. in einem Scoring-Modell kombiniert und entsprechende Angebotsvorschläge generiert (siehe Unterabschnitt 3.6).

300

Uwe Henning und Martin Simon

Gruner + Jahr widmet sich dem Vertriebsweg Inbound-Up- und CrossSelling seit 2002. Mittels eines umfangreichen Coachingprogramms ist es gelungen, den rein serviceorientierten Kundenservice zu einem verkaufenden CRM-Service zu entwickeln. Umfangreiche Geschäftsvorfallsanalysen geben Auskunft über die jeweilige Eignung zum anschließenden Verkauf. Heute werden selbst Reklamationsfälle genutzt, um nach Klärung dem Kunden noch ein Angebot zu machen. Im Jahre 2005 wurden für Gruner + Jahr über den Vertriebsweg Inbound-Selling mehr als 55.000 neue Abonnements verkauft. Dahinter standen rund 800.000 Brutto-Anrufe, die für Cross-Selling-Maßnahmen zur Verfügung standen, und mit einer Angebotsquote von ca. 65 Prozent wurde bei rund 500.000 Anrufen ein Angebot unterbreitet. Somit ergab sich für dieses Jahr eine durchschnittliche Responsequote von mehr als 10 Prozent. Künftig gilt es, die Angebotsquote weiter zu erhöhen und die Angebote noch zielgruppengerechter auszurichten. 3.5

Kreativität ist gut, Analyse ist besser – Determinanten für ein erfolgreiches Abomarketing

Beim Abomarketing steht die Bewerbung des einzelnen Titels im Vordergrund. Es bedient sich nicht-personalisierter Werbewege wie Heftwerbung und Beilagenwerbung genauso wie personalisierter Werbewege wie Mailing oder Telefonmarketing. Grundlage eines erfolgreichen Abomarketings ist der Regelkreis aus x Planung und Controlling, x Mix der Werbewege und Angebote sowie x Full Run und Tests. Abomarketing ist Direktmarketing und damit messbar. Der Erfolg oder Misserfolg von Abowerbeaktionen wird ausgedrückt mit Hilfe der Kennziffern CPO und Ausschöpfung. Der CPO sagt aus, wie teuer ein Abonnement geworben wurde, während die Ausschöpfung die Effektivität einer Werbeaktion misst. In der Controllingphase des Abomarketings werden sämtliche Werbeaktionen eines zurückliegenden Geschäftsjahres nach diesen Kennziffern bewertet und nach Werbewegen gruppiert. Darauf aufbauend entsteht die Planung für das kommende Geschäftsjahr. Wie in Abbildung 4 gezeigt, erlaubt eine solche Jahresplanung einen Überblick über die Produktion und die Kosten der Werbewege. Sie zwingt zu einer ökonomischen Ressourcenverteilung, weil sie das Augenmerk auf die „preiswerten“ Werbewege lenkt und den Planenden immer zuerst nach der maximalen Ausschöpfung eines preiswerten Werbeweges fragt.

Vom Festbezug zum Kundenbeziehungsmanagement

Jahresplanung Anzahl Abos 2.600 5.800 3.100 1.200 1.500 1.500 2.700 3.400 1.600 7.800 31.200

301

Etat 2005 Maßnahmen

White Mail/Spontanbestellungen Internet Geschenkabos Familienwerbemittel Vorteilsabos Prämienabo Heft Telefonmarketing Ausland Probeabo/Mailing Probeabo/Fremdmedien

CPO € 4 29 36 41 46 49 53 60 98 105 58

Agenturkosten Sonstiges Haltbarkeitsmaßnahmen Gesamt-Aboetat

Kosten € 9.800 169.700 111.600 48.600 68.600 73.100 141.800 204.000 156.000 817.100 1.800.300 148.000 143.000 350.000 2.441.300

Abb. 4. Jahresplanung in der titelorientierten Abonnementwerbung

Die laufende Optimierung des Abomarketings beginnt mit dem Mix der Werbewege und Angebote. An Angeboten lassen sich Probe-, Probeheft-, Prämien-, Vorteils-, Geschenk- oder Kombiabonnement unterscheiden. Alle diese Angebote haben ihre durchschnittlichen Kosten (CPO), die von Werbeweg zu Werbeweg variieren. Auch unterscheiden sich die Angebote bezüglich ihrer Erfolgsaussichten nach Werbewegen erheblich: Während sich Vorteilsabonnements im Heft und im Internet erfolgreich werben lassen, dominiert im Mailing und in Beilagen das Probeabonnement. Wenn diese Schritte durchlaufen sind, gilt es, ein sinnvolles Verhältnis zwischen Full Run und Tests zu finden. Gerade im Abomarketing ist und bleibt nichts statisch. In der Vergangenheit erfolgreich produzierende Angebote können sich abnutzen, so dass sich die Produktionsverhältnisse zwischen den Werbewegen verschieben. An dieser Stelle kommt es auf die Kreativität des Abomarketings an. Es gilt, neue Angebote und neue Werbewege zu entwickeln, die gegen die Sieger- oder Full Run-Versionen der Vergangenheit getestet werden. Dies können neue Zugaben oder Prämien, neue Angebotsformen, veränderte Konditionenauslobungen oder eine neuartige Dramatisierung bestehender Angebote sein (siehe Abb. 5). CPO und Ausschöpfung der Testzelle sind mit einem hohen Risiko behaftet. Tests sind jedoch für ein erfolgreiches und zukunftsorientiertes Abomarketing

302

Uwe Henning und Martin Simon

überlebenswichtig, weil nur mit ihnen die Anpassung des Marketings an die sich verändernden Kundenbedürfnisse und Kundenströme gewährleistet werden kann.

1/1 Anzeige Ø Response 61/Schaltung Ø CPO 82,-€ 44 Schaltungen

4/1 Anzeigen Ø Response 319/Schaltung Ø CPO 82,-€ 3 Schaltungen 13 % der Jahresproduktion

Abb. 5. Angebotstest zu Prämienabo: Heftwerbung in Gala

Was sind die wesentlichen Entwicklungslinien im titelorientierten Abomarketing? Die negativen Trends sind: x Die Abonnement-Haltbarkeiten sinken. x Da die Einzelverkaufsauflagen schrumpfen, wird der wichtigste Werbeweg schmaler. x Ohne Zugabe oder Prämie lässt sich heute nur noch schwer ein Kunde werben. x Die Angebotsdichte nimmt zu. Dies gilt für die Anzahl der Angebote in der Heftwerbung wie für die Anzahl personalisierter Werbeanstöße per Telefon oder Mailing bei den (guten) Kunden. x Die Adresspotenziale werden knapp. Dies resultiert aus dem schnellen Ausbau von Telefonmarketing und Mailings. x Im Ergebnis sind überwiegend steigende CPO zu beobachten. Dem stehen eine Reihe von positiven Trends gegenüber: x Das Telefonmarketing entwickelt sich erfolgreich. Es ist durch den persönlichen Verkauf des Agenten „Direktmarketing pur“.

Vom Festbezug zum Kundenbeziehungsmanagement

303

x Die in die Online-Auftritte integrierten Aboshops entwickeln sich stürmisch: Für viele Publikumszeitschriften ist das Internet mittlerweile der zweitwichtigste Bestellweg. x „Redaktionelles Abomarketing“, d. h. Abowerbung, die passende Angebote zu redaktionellen Inhalten oder Schwerpunkten entwickelt, z. B. zu Serien, erzielt weit überdurchschnittliche Ergebnisse. x Neuartige Angebotskonzepte wie der Fragebogen, die CountdownMechanik, das „Zwei Prämien für einen Titel“- oder das „4 Seiten Prämienbasar“-Konzept arbeiten erfolgreich und zeigen, welche Erfolge mit kreativen Angeboten zu erreichen sind. x Kooperationen mit Marketingpartnern aus anderen Branchen ermöglichen den Zugang zu neuen Kundenkreisen. Der Erfolg basiert hier auf der Empfehlung des Titels durch den Kooperationspartner. x Die zunehmend erfolgreiche Vermarktung von Lexika, Buchreihen, DVD-Serien oder Kalendern eröffnet auch dem Abomarketing neue Chancen. Insbesondere bieten sich hier Kombi-Angebote an. Welche Perspektiven tun sich für die kommenden Jahre auf? x Es gibt nach wie vor Potenzial für häufigere Angebote, was aber nicht heißt, dass dasselbe Angebot häufiger wiederholt werden kann. Mit Hilfe eines modernen Kampagnenmanagements sind vielmehr immer häufiger Angebote nebeneinander (Heft, Internet) oder nacheinander (Mailings, Telefon, E-Mail) zu bewerben. x Starke Marken sind nicht nur Basis für Print-Markenfamilien (Beispiele: Bild-Zeitung, Geo, Brigitte), sondern auch eine gute Basis für Markenexpansion in andere Medien – seien es, wie heute praktiziert, Lexika, Buch-, CD-, DVD-Reihen oder, zukünftig, Mitgliedschaften in Communities, Newsletter oder digitale Informations- und Unterhaltungsdienste. Auch hierfür gilt es, Geschäftsmodelle zu entwickeln, die das klassische Abonnementkonzept beinhalten. x Die Personalisierung wird durch den intelligenteren Einsatz von E-Mails oder von technisch weiterentwickelten SMS weiter zunehmen. x Auch die Möglichkeiten eventorientierter Abowerbung (WM, Olympische Spiele) sowie durch Kooperation mit anderen Medien oder Markenartikeln sind nicht ausgeschöpft. Die Entwicklungslinien zeigen auch, wie lebendig und wie wandlungsfähig das Abomarketing ist. Obwohl es schon häufig in einer Sackgasse gewähnt wurde, findet das Abomarketing immer wieder neue Zugänge zum Kunden. Erfolgreiches Abomarketing ist einem stetigen Wandel unterworfen, den es aufzugreifen und für die eigenen Zwecke zu nutzen gilt. So hilft der Trend zum Direktmarketing in anderen Branchen, wie z. B. bei

304

Uwe Henning und Martin Simon

der Telekommunikation, bei (Direkt-) Banken oder Versicherungen, den Verbraucher an den „Fernabsatz“ zu gewöhnen. Genauso galt und gilt es, die technisch-kommunikativen Möglichkeiten von Telefonie und Internet schnell für das Abomarketing von Publikumszeitschriften zu erschließen. Dies sind bestimmt auch Gründe dafür, dass sich das Abomarketing in den zurückliegenden Jahren erfolgreicher gegen die Auflagenrückgänge stemmen konnte als das Einzelverkaufsmarketing. 3.6

Kundenmarketing – nicht alle Kunden sind es wert, andere um so mehr

Die Basis eines jeden Kundenmarketings ist eine Datenbank, in der für jeden Kunden seine Daten und sein Verhalten – Adresse, Bestellungen, Rücklieferungen, Zahlungsverhalten – festgehalten werden. Idealerweise wird die Datenbank täglich aktualisiert, um möglichst alle Informationen für den nächsten Kundenkontakt im In- oder Outbound nutzen zu können. Die Kundeninformationen lassen sich in einem Publikumszeitschriftenverlag in erster Linie aus den Bereichen Abonnement, Telefonmarketing, Anzeigen, Zusatzgeschäfte (z. B. Merchandising), Online-Angebote und Leserservice generieren.

Interessenten & Kunden

Abo

Outbound Callcenter

Online Angebote Abo Direkt Mailing

Anzeigenkunden

GewinnNebenspiele geschäfte

Reisen

Newsletter

Leserservice

Events

Downloads

Kundendatenbank

Abb. 6. Kundendaten und ihre Quellen

Für die Darstellung eines möglichst umfassenden Kundenprofils ist es notwendig, alle Daten aus den verschiedenen Geschäftsfeldern in der Kun-

Vom Festbezug zum Kundenbeziehungsmanagement

305

dendatenbank zusammenzuführen (Matching). So werden alle Informationen aus aktiven und ehemaligen Abonnements, alle Merchandisingkäufe, alle Gewinnspielteilnahmen, alle Reaktionen auf Mailings oder auf telefonische Angebote etc. am Kunden sichtbar und stehen damit für ein modernes Databasemarketing, umfangreiche Analysen sowie Kunden-Scorings, das so genannte Datamining, zur Verfügung. Scorings sind Prognosemodelle, die mit Hilfe mathematisch-statistischer Verfahren (z. B. Regressionsanalysen) die richtige Merkmalsgewichtung innerhalb einer Ausprägung eines Merkmales, aber auch im Verhältnis zwischen den Merkmalen (multivariat) zu bestimmen versuchen. Die Gewichtung wird in Form von Punkten (Scores) ausgedrückt. Je höher die Punktsumme eines Kunden, desto höher z. B. dessen Kauf- oder Kündigungswahrscheinlichkeit, je nach untersuchter Zielvariable. Immer mehr Unternehmen z. B. aus dem Versandhandel oder dem Finanzdienstleistungsbereich nutzen moderne Scoring-Verfahren auch für die Kundenwertermittlung. Sie hat zum Ziel, den Kundenwert zu ermitteln, der als Steuerungsgröße für das Marketing und den Kundenservice dient und die Kunden eines Unternehmens in ertragreich und weniger ertragreich unterscheidet. In Abhängigkeit von der Wertigkeit des Kunden verteilt das Unternehmen seine Ressourcen in die jeweiligen Kundenbeziehungen. 3.7

Verfahren zur Kundenwertermittlung

Zur Ermittlung des Kundenwertes werden verschiedene Verfahren eingesetzt, die Tabelle 1 zusammenfasst. Tabelle 1. Verfahren der Kundenwertermittlung Verfahren ABC-KundenAnalyse Kundendeckungsbeitragsrechnung Kunden-Portfolio (nach BCGMatrix2) Scoring-Modelle (RFM-Modelle3) 2

3

Vorteile Analyse ist schnell und einfach durchführbar gibt Auskunft über Kundenprofitabilität berücksichtigt unternehmenseigene Wettbewerbssituation berücksichtigt auch qualitative Merkmale

Nachteile keine Berücksichtigung der Kostenseite Kostenzurechnung zum Kunden schwierig die Positionierung der Kunden im Portfolio kann beeinflusst werden subjektive Kundenbewertung

Portfoliodarstellung nach Boston Consulting Group (question marks, cash cows etc.). RFM-Modelle teilen die Kunden ein nach Recency, Frequency, Monetary.

306

Uwe Henning und Martin Simon

Customer Lifetime- dynamische Bewertung Value durch Berücksichtigung der gesamten Beziehungsdauer

zukünftige Einzahlungsüberschüsse schwer zu schätzen

Das am häufigsten favorisierte Verfahren ist der Customer Lifetime Value, der den diskontierten Nettozufluss aus Ein- und Auszahlungsströmen eines Kunden über die gesamte Kundenbeziehung zusammenfasst. Dabei werden zwei Wertbestandteile berücksichtigt: der Kundendeckungsbeitrag und das Kundenpotenzial (vgl. Abb. 7).

Customer Lifetime Value WERTBEITRAG

zukünftiger Kundenwert = KUNDENPOTENZIAL

aktueller Kundenwert = KUNDENDECKUNGSBEITRAG

potenzieller Wert aktueller Wert

ZEIT Prognosezeitraum

potenzieller Wert

heute

Abb. 7. Customer Lifetime Value

Der Kundendeckungsbeitrag berücksichtigt alle Umsätze und Kosten eines Kunden über einen definierten Zeitraum. Kundendeckungsbeitrag = Summe der Umsätze – Summe der Kosten Das Kundenpotenzial berücksichtigt die Erwartungen in die zukünftige Kundenbeziehung. Dabei werden die möglichen Werte durch DataminingModelle ermittelt, summiert und abdiskontiert. Mögliche Bestandteile sind: x x x x

Cross-Selling-Wahrscheinlichkeit Kündigungswahrscheinlichkeit Bonitätseinschätzung Zahlungsmoral

Vom Festbezug zum Kundenbeziehungsmanagement

3.8

307

Ermittlung des Kundendeckungsbeitrages

Die Datengrundlage zur Ermittlung des Kundendeckungsbeitrages liefert einerseits das Rechnungswesen und andererseits die Kundenkontaktdatei. Als Kriterien für Abfragen werden vier Bezüge formuliert, die jede Umsatz- und Kostenbuchung aufweisen muss, um eine sinnvolle Zuordnung zu ermöglichen: x Kundenbezug: Umsätze und Kosten müssen den jeweiligen Kunden zuordenbar sein. x Objektbezug: Umsätze und Kosten müssen einzelnen Objekten (Titeln) zuordenbar sein. x Aktionsbezug: Umsätze und Kosten müssen nicht nur Kunden und Objekten, sondern auch bestimmten Aktionen zuordenbar sein. x Zeitbezug: Beim Zeitbezug kommen vorgegebene Zeitpunkte oder offene Abfrage in Betracht. Aus diesen vier Bezügen ergibt sich der modellhafte Aufbau einer Kundendeckungsbeitragsrechnung (die Buchstaben in den Klammern bezeichnen die für die jeweiligen Bezüge zu vergebenden Variablen): Tabelle 2. Beispiel für die Ermittlung eines Kundendeckungsbeitrages Aboumsatz Kunde (K) Objekt (X) Aktion (Y) Zeitpunkt/raum (Z) + Merchandisingumsatz Kunde (K) Objekt (X) Aktion (Y) Zeitpunkt/raum (Z) = Gesamtumsatz Kunde (K) Objekt (X) Aktion (Y) Zeitpunkt/raum (Z) – Produktkosten – Werbekosten – Handlingkosten = Deckungsbeitrag

Kunde (K) Kunde (K) Kunde (K) Kunde (K)

Objekt (X) Objekt (X) Objekt (X) Objekt (X)

Aktion (Y) Aktion (Y) Aktion (Y) Aktion (Y)

Zeitpunkt/raum (Z) Zeitpunkt/raum (Z) Zeitpunkt/raum (Z) Zeitpunkt/raum (Z)

Umsatzseitig werden bei dieser Rechnung die Abo- und Merchandisingumsätze einbezogen. Kostenseitig werden neben den direkten Kosten für die verkauften Produkte außerdem die Kosten für die Werbeaktion (Werbekosten) sowie für den Kundenservice (Handlingkosten) einbezogen. Für die Kostenseite ist zu prüfen, ob Kunden, die aus unterdurchschnittlich guten Aktionen gewonnen wurden, tatsächlich mit den entsprechenden Aktionskosten – oder nur mit den durchschnittlichen Werbekosten – belastet werden sollen, um die Kosten dieser Kunden nicht ohne ihr Verschulden zu negativ auszuweisen. Denn die Ursachen für einen überhöhten CPO können vielfältig sein – hohe Schaltkosten, hohe Adresskosten oder

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Uwe Henning und Martin Simon

falscher Aktionszeitpunkt. Der Kunde hat dies nicht zu verantworten und darf daher auch nicht über Gebühr belastet werden. Die genauen Definitionen der jeweiligen Deckungsbeitragsstufen sollten sich an der konkreten Aufgabe der Deckungsbeitragsrechung ausrichten: In den meisten Fällen sollte es nicht um die Ermittlung eines revisionssicheren Wertes gehen, sondern vielmehr eines Näherungswertes, der als dispositive Steuerungsgröße für Werbemaßnahmen sowie Kundenservice dienen soll. 3.9

Ermittlung des Kundenpotenzials

Theoretisch können in die Ermittlung des Kundenpotenzials verschiedene Bestandteile einfließen: x Externe Potenzialindikatoren nach dem Anreicherungsmodell - Branchenkennziffern - Geografische Informationen - Beliebige externe Referenzdaten x Interne Potenzialindikatoren nach dem Benchmarking-Ansatz - Statistische Größen x Interne Potenzialindikatoren nach dem quantitativen Ansatz - Produkt-Mix-Informationen - Lebenszyklusinformationen - Kaufwahrscheinlichkeiten pro Produkt x Kundenreferenzwert (Einschätzung weicher Faktoren) - Branchendurchdringung - Kundenzufriedenheit - Enge der Kundenbeziehung Welche Bestandteile in die Ermittlung einfließen, hängt von der jeweiligen Branche und von der individuelle Ermittelbarkeit ab. Im Publikumszeitschriftenverlag bietet es sich an, folgende Bestandteile in die Ermittlung des Kundenpotenzials einzubeziehen. Cross-Selling-Wahrscheinlichkeit

Schon heute werden im Databasemarketing für Verbundwerbeaktionen die Wahrscheinlichkeiten für den Abschluss eines zusätzlichen Abonnements berechnet. Diese Scorewerte können bei ständiger, automatisierter Ermittlung in das Kundenpotenzial einfließen, müssen jedoch aus einem Punktwert in einen Geldbetrag umgerechnet werden, damit dieser Wert zum Kundendeckungsbeitrag addiert werden kann.

Vom Festbezug zum Kundenbeziehungsmanagement

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Up-Selling-Wahrscheinlichkeit

Ebenso wie für das Cross-Selling kann im Databasemarketing ein Scorewert für die Wahrscheinlichkeit eines Up-Sellings errechnet werden. Hier gilt das Gleiche für die Umrechnung des Punktwertes in einen Geldbetrag. Kündigungswahrscheinlichkeit

Bei automatisierter Ermittlung einer Kündigungswahrscheinlichkeit kann auch dieser Scorewert nach Umrechnung in einen Geldbetrag mit anderen Kundenwertbestandteilen aufaddiert werden. Dabei müssen mehrere Kündigungswahrscheinlichkeiten betrachtet werden, wenn mehrere Titel abonniert sind. Bonitätseinschätzung

Die Bonitätseinschätzung kann als externer Wert von einem Dienstleister dazugekauft oder auf Basis vorliegender Kundendaten im eigenen Hause ermittelt werden. Im letzteren Fall wird aus der Historie eine Zahlungsverlässlichkeit abgelesen und in die Zukunft fortgeführt, indem das Mahnund Zahlungsverhalten ausgewertet wird. Vernetzung des Kunden

In jüngster Zeit wird auch die Berücksichtigung der Kundenvernetzung in der Kundenwertermittlung diskutiert. Dahinter steht der Gedanke, dass Kunden untereinander ihre Erfahrungen austauschen oder dass es Kunden gibt, die als Multiplikatoren fungieren. Diese Kunden gelten in ihrem Kreis (Netzwerk) als „Fachleute“, und ihre Empfehlung für ein Produkt – oder dagegen – findet entsprechende Beachtung. Im Publikumszeitschriftengeschäft agieren z. B. Mehrfach-Prämienabowerber als Multiplikatoren. 3.10

Zusammenführung der Kundenwertbestandteile

Für die Zusammenführung der Kundenwertbestandteile gibt es verschiedene Möglichkeiten: x die Aufaddierung der Geldwerte aus Kundendeckungsbeitrag und Kundenpotenzial, x die Aufaddierung der Punktwerte aus Kundendeckungsbeitrag und Kundenpotenzial (setzt voraus, dass der Geldwert des Kundendeckungsbeitrages in einen Punktwert überführt wird) oder

310

Uwe Henning und Martin Simon

x die einfache Matrix-Klassifizierung der beiden Werte in jeweils „hoch“, „mittel“ und „niedrig“. Je nach ermitteltem Kundenwert ist es für einen Verlag nicht sinnvoll, in bestimmte Kundenkreise in Form von Werbeansprachen bzw. Kundenservice weiter zu investieren, wenn das Kundenpotenzial nicht zumindest die Erwirtschaftung des Investments erwarten lässt. Ebenso kann es z. B. sinnvoll sein, bestimmte Kunden nur noch mit E-Mailings zu bewerben, weil dieser Weg günstiger ist als eine Ansprache per Mailing oder Telefon. Auch die Art des Kundenservices muss nicht für jeden Kunden gleich sein. So unterscheiden heute vor allem schon Banken, mit welchem Aufwand, sprich Kundenservicelevel, sie den Kunden entsprechend seinem Wert bedienen: „Wertvolle“ Kunden werden priorisiert behandelt, indem ihnen eine gesonderte Rufnummer gegeben wird oder indem ihre eigene Rufnummer erkannt wird und sie systemseitig entsprechend behandelt werden. Im Publikumszeitschriftengeschäft kann beispielsweise ein Abonnent, der sich als wiederholter Nichtzahler erwiesen hat, vom Kundenservice gesondert angesprochen werden und/oder von der Unterbreitung von Cross- und Up-Selling-Angeboten ausgeschlossen werden. Umgekehrt kann einem treuen Abonnenten der „ersten Stunde“ ein Premium-Kundenservice geboten werden. 3.11

Mein Kunde? Dein Kunde? Der Kunde ist für alle da!

„Mein Kunde“ – eine häufig verwendete Formulierung im Direktkundenmarketing, die sich besonders aus dem Munde von Marketing-Verantwortlichen, Verlagsleitern oder Chefredakteuren sehr besitzergreifend anhören kann. Gemeint ist: „Mein Kunde gehört mir.“ Stimmt das? Wem gehört der Kunde? Bei näherem Hinsehen ist die Kundenbeziehung eine fragile Konstruktion – wobei die Eindeutigkeit und die Absolutheit dieser Beziehung abhängig ist von der jeweiligen Betrachtungsweise. Aus der Sicht des Verlages handelt es sich um eine eindeutige Beziehung im One-to-One-Marketing, die in einer Kundendatenbank abgespeichert ist. Für den Verlag steht der Kunde im Fokus, dem, aufbauend auf sein bestehendes Abonnement, andere Abonnements oder Zusatzprodukte angeboten werden. Für das Kundenmarketing ist die Kundenbeziehung Grundlage für weitere OutboundAktionen, für Adressvermietungen oder für Marketing-Kooperationen. Anders als in der Physik, wo der „Lichtweg umkehrbar“ ist, ist die Kundenbeziehung zwischen Verlag und Endkunde in der umgekehrten Betrachtung nicht dieselbe. Versetzen wir uns in die Perspektive eines Kunden, dann steht im Fokus der Lieferbeziehung der abonnierte Titel. Für den

Vom Festbezug zum Kundenbeziehungsmanagement

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Zeitraum seines Abonnements ist diese Bindung eine exklusive Kundenbeziehung, die sich über die redaktionelle Leistung des Titels definiert. Kein Abonnent würde aber die dahinter liegende Lieferbeziehung zum herausgebenden Verlag als exklusiv bezeichnen. So gibt es Abonnenten, die gleichzeitig mehrere Zeitschriften oder Zeitungen verschiedener Verlage beziehen. Ein anderes Beispiel sind Kunden, die ihrem Titel treu sind und bleiben, aber die Bezugsquelle häufiger wechseln. Diese „Sparten-Hopper“ kaufen ihren Titel unregelmäßig im Einzelhandel, unterbrochen von einer Phase des Probeabonnements, um danach ihre unregelmäßigen Käufe im Einzelhandel wieder aufzunehmen. Und daneben verfügt der Abonnent ganz selbstverständlich über verschiedene weitere Kundenbeziehungen zu Medienlieferanten wie Mobil-, Festnetz- und Internetprovidern, der GEZ oder Premiere; der Abonnent kauft andere Zeitschriften, Zeitungen, Bücher, CDs und Videos im Handel oder geht ins Kino.

K1

Ku nddee nnddaa tetennb baann kk

1. Kundenbeziehung Abonnement 1

2. Kundenbeziehung Artikelkauf

3. Kundenbeziehung Abonnement 2

K2

Kunde

K3

Verlag

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Kundenbeziehungen zu n konkurrierenden Medienoder Direktmarketinganbietern

Abb. 8. Kundensicht versus Verlagssicht

Wie definiert sich ein Kunde für den Verlag? Der „Kunde“ entsteht über die Zusammenführung von Aufträgen mit identischer Kundenadresse – meist ein technischer Prozess innerhalb der Kundendatenbank. Nur im Telefonmarketing, in der direkten Kommunikation, hat der Verlag die Chance, mit Sicherheit festzustellen, ob sich hinter ein- und derselben Adresse auch derselbe Kunde verbirgt. Aufträge von Kunden, die z. B. in einer inaktiven Phase umgezogen sind oder geheiratet haben, werden auf diese Weise nicht zusammengeführt. Wichtige Kundeninformationen können verloren gehen oder werden nicht als solche erkannt. In dieser Art der

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Uwe Henning und Martin Simon

Kundenzusammenführung ist eine weitere Fragilität des Direktmarketings begründet. Auch damit muss das Kundenmarketing der Verlage umgehen. Sie ist ein Grund dafür, dass sich das personalisierte Direktmarketing mit Responsequoten im unteren einstelligen Prozentbereich zufrieden geben muss. Diese Ausgangssituation ist aber deutlich komfortabler als die Situation vor Einführung von Kundendatenbanken, Kundenzusammenführung und Databasemarketing, denn sie haben das gezielte Kundenmarketing erst ermöglicht. Vor diesem Hintergrund definiert das Kundenmarketing seine Ziele und versucht, sie durchzusetzen: x x x x

Die bestehende Kundenbeziehung halten Den (potenziellen) Kundenwert eines Kunden ermitteln Dem (richtigen) Kunden weitere Angebote unterbreiten Den Kunden nach Beendigung seines Abonnements als Kunden für den Verlag halten und ihm gleich anschließend oder später weitere Abonnements, Produkte oder Dienstleistungen verkaufen

Das Kundenmarketing muss bei seiner Kundenkommunikation laufend zwischen der Titelorientierung und der Kundenorientierung hin und her springen. Während das erste Ziel unter die Titelorientierung fällt, sind die Ziele zwei bis vier nur im Sinne der Kundenorientierung zu erreichen. Eine weitere Herausforderung: Nach Ziel drei gilt es zwar, dem Abonnenten kundenorientiert zusätzliche Angebote zu unterbreiten, die aber sinnvollerweise immer mit Bezug zur aktuellen Kundenbeziehung, also mit eindeutigem Titelbezug, zu kommunizieren sind. Dies sind Herausforderungen für das Kundenmarketing, aber genauso für den dahinter stehenden Verlag insgesamt, der meist titelorientiert organisiert ist. In Zeiten abnehmender Abonnement-Haltbarkeiten und ständig zunehmender Konfrontation der Abonnenten mit anderen Medien, Bezugsquellen oder Angeboten tritt die Kundenorientierung für das Marketing der Verlage immer stärker neben die Titelorientierung – eine Orientierung, aus der heraus die Verlage ursprünglich ihr Geschäft erfolgreich entwickelt haben, die heute aber nicht mehr ausreicht, um alle vertrieblichen Potenziale zu heben. Ein weiteres Beispiel für die Relativität der Kundenbeziehung ist das vertriebliche Kooperationsmarketing. Es handelt sich dabei meist um Direktmarketing-Kooperationen mit dem Ziel, sich einseitig oder gegenseitig den preiswerten Zugang zu den Kunden des Kooperationspartners zu ermöglichen. Beispiele sind das Up-Selling von Zeitschriften-Abonnements in den Inbound-Call-Centern von kooperierenden Versandhäusern oder die Lieferung von „White-Label-Internet-Aboshops“ an Banken oder Kundenprogrammanbieter wie Payback oder Webmiles. Die Abgrenzung des Ko-

Vom Festbezug zum Kundenbeziehungsmanagement

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operationsmarketings von Abomarketing und Kundenmarketing zeigt Abbildung 9.

Abomarketing

Angebot

Werbung

Database

Kooperationsmarketing

ƒ ein Titel

ƒ Titelsortiment ƒ Zusatzangebote ƒ Merchandising

ƒ Titelsortiment

nicht personalisiert:

personalisiert • Telefonmarketing • Mailings • E-Mailings

personalisiert

ƒ Abonnenten (Aktive, Inaktive) ƒ Käufer ƒ User

ƒ Kunden ƒ Käufer ƒ Abonnenten

ƒ Heftwerbung ƒ Beilagen

ƒ Leser

Kundenbasis

Kundenmarketing

ƒ Kundendatenbank des Verlages

ƒ Kundendatenbank des Kooperationspartners

Abb. 9. Gegenüberstellung Abo-, Kunden- und Kooperationsmarketing

Der Verlag zahlt eine Provision für jeden Kunden des Kooperationspartners, der über diese Wege ein Zeitschriftenabonnement abschließt. Der Akquisitionserfolg basiert auf dem Empfehlungscharakter der aktiven Bewerbung durch den Kooperationspartner in einer bestehenden Kundenbeziehung. Nach Erfolg übermittelt das Partnerunternehmen die Adresse, und der Fremdkunde wird zum Kunden des Verlages. Je nach Absprache können diese Kunden sofort oder erst nach Kündigung des Abonnements mit neuen Angeboten beworben werden. Die Abonnementgewinnung aus Kooperationen ist in den zurückliegenden Jahren zu einem wichtigen Gewinnungsweg geworden. Dieser Trend wird begünstigt durch die Zunahme des branchenübergreifenden Cross-Sellings. Der Kunde ist also ein flüchtiges Wesen. Er ist einerseits ein treuer Kunde mit Abonnement-Haltbarkeiten von im Durchschnitt immer noch drei bis vier Jahren. Andererseits erinnert er gelegentlich an die Elementarteilchen der Quantenphysik, die sich nicht greifen lassen, weil sie sich gleichzeitig an verschiedenen Orten aufhalten. Nicht der Kunde in seiner heutigen Abonnementbeziehung, sondern die Gestaltung einer werthaltigen Kundenbeziehung über mehrere Jahre steht im Mittelpunkt des Kundenmarketings.

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Uwe Henning und Martin Simon

Der Kunde unterhält gleichzeitig – und insbesondere im Zeitablauf – verschiedene Kundenbeziehungen und „gehört“ in erster Linie sich selbst. Dem Verlag gehört die aktive Abonnementbeziehung, die es zu pflegen und zu halten gilt. Sie ist die beste Basis für zusätzlichen Umsatz.

4

Fazit

Die Grenzen zwischen Kundenservice und Marketing verschwimmen immer mehr. Die Herausforderung besteht darin, dem Kunden auch in seinen Servicekontakten mit dem Verlag zusätzliche Angebote zu machen und somit den Kundenwert für den Verlag zu steigern. Das Abomarketing ist mit einem ständigen Wandel konfrontiert. Nur durch die permanente Weiterentwicklung, Variation und Dramatisierung bestehender Angebote und durch das Testen neuer Werbewege kann das Direktmarketing seine Bedeutung für den vertrieblichen Erfolg von Publikumszeitschriften aufrechterhalten. Erfolgreiches Abomarketing setzt technische Innovationen schnell um und profitiert vom gesamtwirtschaftlichen Trend zum Direktgeschäft. Das Abonnement wird als Geschäftsmodell immer häufiger auch von anderen Branchen aufgegriffen und ist in weiten Konsumentenkreisen akzeptiert. Eine Ermittlung des Kundenwertes aus Kundenhistorie und künftiger Erwartung in die Kundenbeziehung ist ein hilfreiches Kriterium zur Steuerung werblicher Maßnahmen, aber auch für die Differenzierung des Kundenservices. Letztlich geht es im Kundenbeziehungsmarketing darum, nicht jeden Kunden gleich zu behandeln, sondern ihm die Aufmerksamkeit zu schenken, die er aus Verlagssicht wert ist. Ziel für direktmarketingorientierte Unternehmen, also auch für die Verlage, muss es sein, möglichst viele Auftragsbeziehungen zu ihren Kunden aufzubauen, einen möglichst großen Teil ihrer Aufmerksamkeit und Medienbudgets auf sich zu lenken und darüber den Kundenwert abzuschöpfen. Publikumszeitschriftenverlage stehen am Anfang einer Evolution des Kundenmarketings. Es gilt, die printbasierten Publikumszeitschriftenmarken zu Medienmarken weiter zu entwickeln und im Sinne der Zielsetzung „One brand, all media“ auch die digitalen Medien zu erobern und für die Distribution von Information und Unterhaltung zu nutzen. Digitale Medien wie Internet und Mobile basieren auf direkten Kundenbeziehungen. Hier schließt sich der Kreis. Das Kundenmarketing-Know-how der Verlage, insbesondere in den Bereichen Databasemarketing und Kundenbeziehungsmanagement, bietet eine gute Basis für einen erfolgreichen Transfer

Vom Festbezug zum Kundenbeziehungsmanagement

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vom Printvertrieb zum Medienvertrieb. Dabei gilt es, den Erfahrungsaustausch mit benachbarten Branchen wie dem Versandhandel, Versicherungen oder Internet- und Telefonprovidern zu intensivieren, um auch deren Erfahrungen zu nutzen.

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Perspektiven für den Einzelverkauf als Vertriebsform für die klassische Publikumszeitschrift

Erwin Blank, Marco Graffitti und Ludwig von Jagow

1

Die wesentlichen Kennziffern der Publikumszeitschriften der letzten zehn Jahre

Dem Branchenkenner wird bekannt sein, dass sich der Publikumszeitschriftenmarkt in Deutschland seit mehreren Jahren insgesamt in einer angespannten Lage befindet. Auf die einzelnen Gründe wird in den folgenden Abschnitten noch einzugehen sein. Als Kernaussage sei zur Einführung allerdings vorweg gestellt: Noch nie wurde den Lesern in Deutschland eine so große Anzahl und damit auch Vielfalt an Publikumszeitschriften geboten. Gab es 1996 noch etwa 1.950 Publikumszeitschriftentitel, sind es fast 10 Jahre später etwa 400 Titel mehr. Mit dieser Zunahme der Angebotsvielfalt auf dem Lesermarkt einher geht allerdings eine kontinuierlich sinkende verkaufte Auflage pro Titel, während die verkaufte Gesamtauflage der Publikumszeitschriften in den letzten zehn Jahren relativ stabil bei ca. 125 Mio. Exemplaren durchschnittlich pro Quartal pro Heftfolge geblieben ist1 – mit leicht, aber leider auch stetig sinkender Tendenz seit den so genannten Boomjahren um die Jahrtausendwende. Aus diesen Zahlen allein werden die wesentlichen Herausforderungen für Publikumszeitschriften im Käufermarkt deutlich, die im Folgenden mit 1

IVW = Informationsgesellschaft zur Feststellung der Verbreitung von Werbeträgern.

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Erwin Blank, Marco Graffitti und Ludwig von Jagow

Fokus auf die Bedeutung des Einzelverkaufs in seinen verschiedenen Vertriebssparten aufgezeigt werden.

2

Was ist Einzelverkauf?

Einzelverkauf hat sich als Sammelbegriff für die auf den Einzelhandel gerichteten Aktivitäten im Zeitschriftenvertrieb durchgesetzt, weil er den Einzelkaufakt am Point-of-Sale im Gegensatz zum Dauer- oder Festbezug im Abonnement oder Lesezirkel kennzeichnet. Die Vertriebswege des Einzelverkaufs sind: x Die durch 78 Presse-Grossisten in Deutschland belieferten derzeit über 118.000 Einzelhandelsunternehmen – ob inhabergeführter Kiosk oder Nachbarschaftsgeschäft, filialisierter Verbrauchermarkt oder Discounter. x Die derzeit etwa 470 Verkaufsstellen im Bahnhofsbuchhandel, die zu rund 70 Bahnhofsbuchhandelsbetrieben gehören und nicht über das Presse-Grosso, sondern direkt von den Verlagen beliefert werden. x Der presseführende Einzelhandel im Ausland, beliefert durch Importeure bzw. dortige Presse-Grossisten. x Sonstige direkt vom Verlag belieferte Verkaufsstellen. Eine entscheidende Rolle spielen die unterschiedlichen Vertriebssparten und ihre Definitionen bezüglich Art des Bezuges und des Preises für die Werbekunden, für die die Auflagenhöhe je Titel – definiert nach dem jeweiligen Vertriebsweg – in der Auflagenstatistik der Informationsgemeinschaft zur Feststellung der Verbreitung von Werbeträgern (IVW) ausgewiesen wird. In den Richtlinien der IVW werden Vertriebssparten voneinander abgegrenzt; die Einzelverkauf-Lieferungen werden dort wie folgt definiert: EV-Lieferungen sind regelmäßige Lieferungen preisgebundener Exemplare mit Remissionsrecht an Wiederverkäufer (Presse-Großhändler, Einzelhändler, Bahnhofsbuchhändler, Importeure und Exporteure) gegen Rechnung zu handelsüblichen Konditionen im In- und Ausland. Hinzugerechnet werden Verkäufe von einzelnen Exemplaren an den Endverbraucher zum Einzelverkaufspreis. Diese Definition bedarf einer näheren Beleuchtung, auch deshalb, weil einzelne Begriffe auf die besonderen Bedingungen und Prinzipien des Einzelverkaufs hinweisen, deren Kenntnis unablässig ist, um die Besonderhei-

Einzelverkauf als Vertriebsform für die klassische Publikumszeitschrift

319

ten, Herausforderungen und Chancen des Einzelverkaufs verstehen zu können. 2.1

Die Prinzipien des Grosso-Vertriebs

Der Pressevertrieb über das Presse-Grosso unterliegt folgenden Prinzipien: x x x x x

Dispositionsrecht Remissionsrecht Preisbindung Verwendungsbindung Neutralität

Diese Prinzipien sind abgeleitet aus Art. 5 Grundgesetz (GG), durch den die Pressefreiheit und die Freiheit der Berichterstattung durch Rundfunk und Film gewährleistet werden. Dispositionsrecht

Die Verlage haben abgeleitet aus dem Remissionsrecht (siehe unten) das originäre Dispositionsrecht, d. h. die Entscheidung über die Liefermengen von Zeitschriftentiteln im Einzelhandel wird nicht dem Einzelhandel überlassen, sondern vom Verlag vorgenommen. Wenn das Warenrisiko beim Erstlieferanten, also dem Produzenten, dem Verlag, verbleibt, muss dieser auch die Liefermengen bestimmen können. Mit der Übertragung der Vertriebsrechte auf den Grossisten2 erwirbt dieser ein abgeleitetes Dispositionsrecht gegenüber dem Einzelhandel. Liefermengenbestimmung und Sortimentsgestaltung im Einzelhandel werden demnach de facto vom PresseGrossisten durchgeführt. Remissionsrecht

Das Vertragsverhältnis zwischen Verlagen und Presse-Grossisten einerseits und zwischen Presse-Grossisten und den Einzelhändlern andererseits sieht das Recht zur Rückgabe unverkaufter Exemplare nach Ablauf des für den jeweiligen Zeitschriftentitel vorgesehenen Angebotszeitraumes vor. Der Presse-Grossist hat dem Einzelhändler die remittierten, also unverkauften, Exemplare gutzuschreiben. Der Verlag wiederum schreibt diese 2

Zwischen Verlag und dem Presse-Grossisten wird ein Vertrag eigener Art mit kauf- und dienstleistungsvertraglichen Elementen abgeschlossen. Siehe hierzu auch z. B. Börner, B. (1981): „Der Vertrag zwischen Verlag und Pressegrossisten“, Duncker & Humblot, Berlin.

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Erwin Blank, Marco Graffitti und Ludwig von Jagow

dem Grossisten gut. In der Regel werden die remittierten Exemplare heute nicht mehr körperlich an den Verlag zurückgegeben, sondern nach elektronischer Zählung durch den Presse-Grossisten in die Altpapierverwertung gegeben. Preisbindung

Das durch das Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen (GWB) den Zeitschriftenverlagen verbriefte Recht, ihre Presseerzeugnisse im Preis gegenüber dem Einzelhandel zu binden, bedeutet verkürzt: Der Verlag legt fest, zu welchem Preis der Endkunde die Zeitschrift erwirbt. Weder der Presse-Grossist noch der Einzelhändler selbst können einen eigenen Preis bestimmen, wie dies im Handel für andere Warengruppen üblich ist. Preiswettbewerb zwischen den Händlern ist somit ausgeschlossen, wodurch das Postulat der Überallerhältlichkeit von Presse gewährleistet wird. Die Presse-Preisbindung, eine kartellrechtliche Ausnahme3, und ihre Effekte dienen somit dem kulturpolitischen Ziel der Pressevielfalt und des freien Zugangs zur Presse. Verwendungsbindung

Die Verwendungsbindung beschreibt die Pflicht des Presse-Grossisten, die ihm übergebenen Presseerzeugnisse für den vom Verlag vorgegebenen Zweck, nämlich den Verkauf im Einzelhandel, einzusetzen. Dieses Prinzip beschreibt also noch einmal das besondere Verhältnis zwischen PresseGrossist und Verlag, das sich eben durch das Absatzrisiko des Verlages kennzeichnet. Neutralität

Presse-Grossisten müssen sowohl alle Verlage als auch alle belieferten Presse-Einzelhändler prinzipiell gleich behandeln. Das Presse-Grosso stellt somit den freien Marktzutritt aller Anbieter sicher und sorgt für die Überallerhältlichkeit (Ubiquität) der Ware. Fazit

Diese Prinzipien sind unumstößliche Säulen des Grosso-Systems. Sie hängen eng miteinander zusammen: Ohne Preisbindung ist das Remissionsrecht kaum denkbar, ohne Remissionsrecht nicht das Dispositionsrecht der 3

Wie übrigens das gesamte Grosso-System eine kulturpolitisch ausdrücklich gewollte kartellrechtliche Ausnahme ist.

Einzelverkauf als Vertriebsform für die klassische Publikumszeitschrift

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Verlage und die Verwendungsbindung der Grossisten, ohne Dispositionsrecht und Verwendungsbindung nicht die Neutralitätsverpflichtung und die Überallerhältlichkeit, die wiederum die kartellrechtliche Besonderheit der Gebiets-Grossisten mit Monopolstellung in ihrem Gebiet rechtfertigt. 2.2

Die Prinzipien des Bahnhofsbuchhandel-Vertriebs

Knapp 10 Prozent des Einzelverkaufsumsatzes werden im Bahnhofsbuchhandel erwirtschaftet.4 Der Bahnhofsbuchhandel wird nicht durch PresseGrossisten, sondern durch die Verlage direkt beliefert. Somit entfällt in der Lieferkette eine Handelsstufe; der Bahnhofsbuchhändler erhält – anders als der vom Presse-Grosso belieferte Einzelhandel – eine höhere Handelsspanne, denn er erfüllt neben der Funktion eines Einzelhändlers in logistisch-technischer Hinsicht auch ähnliche Funktionen wie ein Grossist. Darüber hinaus muss der Bahnhofsbuchhandel besondere Leistungskriterien erfüllen, die zwischen dem Verband Deutscher Bahnhofsbuchhändler und den Verlegerverbänden VDZ und BDZV vereinbart wurden. Dazu gehören: x Öffnungszeiten: mindestens 100 Stunden pro Woche; jeden Tag geöffnet x Sortiment: Presse und Buch müssen im Gesamtsortiment mindestens einen Anteil von 70 Prozent haben; mindestens 1.000 im Angebot befindliche Presseerzeugnisse x Umsatz: wesentliche Anteile am Gesamtumsatz aus dem Verkauf von Presseerzeugnissen x Ladeneinrichtung: zeitgemäße und verkaufsgerechte, an einem Pressesortiment ausgerichtete Ladeneinrichtung Der Bahnhofsbuchhandel wird durch diese Kriterien auch verpflichtet, jedem neuen Presseerzeugnis den Zugang zum Markt zu öffnen. Somit gewährleistet der Bahnhofsbuchhandel ein auf den Reiseverkehr ausgerichtetes für alle Publikumszeitschriftenverlage aufgrund seiner Breite wertvolles Sortiment.

4

Quelle: VDZ.

322

Erwin Blank, Marco Graffitti und Ludwig von Jagow

3

Bedeutung des Einzelverkaufs

3.1

Die Bedeutung für den Pressekäufer und Leser

Durch die in Abschnitt 2 genannten Formen des Einzelverkaufs wird den Bürgern ein dichtes Netz presseführender Verkaufsstellen unterschiedlicher Ausprägung und unterschiedlicher Sortimente geboten. Die vom Bundesverband Presse-Grosso jährlich erstellte Einzelhandelsstrukturanalyse EHASTRA weist für die verschiedenen Geschäftsarten unterschiedliche Sortimentsbreiten aus, die die Angebotssituation in den über 118.000 vom Presse-Grosso belieferten Verkaufsstellen verdeutlicht: x Verkaufsstellen mit Zeitungs- und Zeitschriften-Fachgeschäftscharakter (etwa 16.000) mit einer durchschnittlichen Anzahl von 580 verschiedenen Titeln – davon etwa 3.000 Presse-Fachhändler („Blauer Globus“Händler) mit einer durchschnittlichen Titelanzahl von 930; in der Spitze kann ein solcher Händler bis zu 2.000 Pressetitel im Angebot führen x Kioske: durchschnittlich etwa 240 Titel x Nachbarschaftsgeschäfte: durchschnittlich etwa 80 Titel x Lebensmitteleinzelhandel: durchschnittlich etwa 500 Titel x Großformen des Einzelhandels (Verbrauchermärkte, SB-Warenhäuser): durchschnittlich etwa 900 Titel Der Bahnhofsbuchhandel mit seinen etwa 470 Standorten führt in der Regel mehr als das Doppelte der in den Kriterien für den Bahnhofsbuchhandel genannten Mindestanzahl (1.000 Titel): 92 Prozent der Bahnhofsbuchhandlungen führen über 2.000 Zeitungs- und Zeitschriftentitel im Angebot. Diese Zahlen belegen ein weltweit einzigartiges Angebot an Zeitschriftentiteln im Einzelhandel. Durch eine ausgefeilte und hochmoderne Logistik werden die Sortimente durch die Presse-Grossisten und Bahnhofsbuchhändler ständig aktualisiert und nachfragegerecht die entsprechenden Mengen festgelegt und ausgeliefert. In Deutschland kann man somit in der Regel in seiner näheren Umgebung Verkaufsstellen aufsuchen, die je nach Geschäftsart die breite Vielfalt des Publikumszeitschriftenangebotes präsentieren. Wenn in einer pluralistischen, offenen Gesellschaft allgemein davon ausgegangen werden kann, dass der Bürger nicht statisch auf eine bestimmte Zeitschrift oder ein bestimmtes Segment festgelegt ist, sondern auch immer wieder die spontane Kaufanregung aus dem großen Angebot sucht, wird die Bedeutung des Einzelhandels im Vergleich zum Festbezug (z. B. Abonnement) für den Leser deutlich. Darüber hinaus gewährleistet die Dichte von presseführen-

Einzelverkauf als Vertriebsform für die klassische Publikumszeitschrift

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den Verkaufsstellen (Postulat Überallerhältlichkeit) dem nicht-abowilligen Leser eine schnelle Verfügbarkeit seiner gewünschten Zeitschrift. Immerhin gibt es neben dem Abonnenten auch den Typ Leser, der die Abnahmeverpflichtung aufgrund der organisatorisch schwieriger zu handhabenden Abwicklung eines Abonnements (Inkasso, Reiseummeldung, Kündigung etc.) als lästig empfindet. Während der Abonnent seinen Titel bis zum Ablauf der Bezugszeit abnehmen muss, kann sich der Einzelkäufer täglich aufs Neue entscheiden. In Branchenkreisen spricht man in diesem Zusammenhang auch von der „täglichen Abstimmung am Kiosk“5. Mit Blick auf die große Angebotsvielfalt des deutschen Publikumszeitschriftenmarktes hat somit der Einzelverkauf eine sehr hohe Bedeutung, insbesondere für den leseinteressierten Bürger. 3.2

Die Bedeutung für den Verlag

Aus Sicht des Verlages bietet der Einzelverkauf folgende Vorteile: x Der einzelne Kaufakt zum gebundenen Preis im Einzelhandel (siehe Definition der IVW in Abschnitt 2) beschert der im Einzelhandel erreichten verkauften Auflage eine hohe Stellung und bedeutet somit auch eine hohe Media-Leistung für Anzeigenkunden. x Die in Abschnitt 2 genannten Grosso-Prinzipien verschaffen dem Verlag einen guten Zugang zum Endkunden: Dispositionsrecht, Überallerhältlichkeit, Neutralität. Insbesondere auch Marktneueinführungen können so gut gegenüber dem Verbraucher positioniert werden. x Jeder einzelne Zeitschriftentitel profitiert vom breiten Sortiment durch Impulskäufe: Je breiter das Sortiment, desto größer das Käuferinteresse am Presseregal, desto unterschiedlicher aber auch die Kunden am Regal – daraus resultiert unmittelbar eine höhere Wahrscheinlichkeit des Koppel- oder Impulskaufs. x Der durch die breiten Sortimente im Einzelhandel geschaffene publizistische Wettbewerb ist ein ideales Umfeld für eine schnelle Marktbeurteilung: Akzeptanz von Presseprodukt und Preis im Umfeld vieler Einflussfaktoren (Wettbewerbstitel, soziodemographische Faktoren etc.) sind zügig feststellbar („Abstimmung am Kiosk“).

5

Siehe auch Brummund, P. (2006): „Struktur und Organisation des Pressevertriebs“, K. G. Saur, München, S. 3–4.

324

3.3

Erwin Blank, Marco Graffitti und Ludwig von Jagow

Die Bedeutung für den Pressehändler

Der Händler mit Presseregal – ob inhabergeführtes Nachbarschaftsgeschäft, Tankstelle oder Supermarkt – ist natürlich ein ganz wesentliches Glied in der Wertschöpfungskette der Publikumszeitschrift. Insbesondere in der für den Einzelhandel schwierigen Marktsituation, die aktuell leider feststellbar ist, gerade für kleinere Geschäfte, spielt das Pressesortiment eine besondere Rolle: Jüngst konnten Bundesverband Presse-Grosso und VDZ anhand einer Studie zur Rentabilität von Presse im Einzelhandel nachweisen, dass Presse im Vergleich zu anderen Warengruppen eine hohe Flächenproduktivität und solide Rendite aufweist.6 Darüber hinaus bieten sich dem Einzelhändler weitere Vorteile: x x x x

4

Kalkulierbare Umsätze (Stichwort Preisbindung) Pressesortiment bringt Kundenfrequenz Risikoloses Geschäft (Stichwort Remissionsrecht) mit guten Erträgen Geringer Aufwand bei der Warenwirtschaft: Disposition, Anlieferung, Abholung und Abrechnung der Remission durch den Grossisten

Der Einzelhandel in Bewegung: Strukturveränderungen

Der presseführende Einzelhandel unterliegt seit mehreren Jahren Strukturveränderungen, die in folgenden Zahlen deutlich werden: Der Bundesverband Presse-Grosso meldete zu Beginn des Jahres 2006, dass nach fünf rückläufigen Jahren die Anzahl presseführender Verkaufsstellen wieder angestiegen ist und derzeit mit 118.830 Outlets ungefähr auf dem Niveau von 1999 liegt. Dies ist auf den ersten Blick eine erfreuliche Nachricht, denn trotz anhaltender schwieriger konjunktureller Lage erhöht sich die Zahl der Angebotsstellen mit Pressesortiment auf Rekordniveau. Ein Blick auf die Verschiebungen in der Einzelhandelsstruktur offenbart allerdings folgende Entwicklungen: x Die Zunahme von presseführenden Verkaufsstellen um etwa 3.000 im Vergleich zum Vorjahr ist im Wesentlichen auf die Erschließung von Lebensmittel-Discountern zurückzuführen. x Der Anteil der so genannten ZZ-Vollkunden, also solcher Einzelhändler mit Zeitungen und Zeitschriften im Angebot, ist rückläufig. Seit 1999 6

Rentabilitätsstudie des EHI EuroHandelsinstituts für VDZ und GrossoVerband 2004.

Einzelverkauf als Vertriebsform für die klassische Publikumszeitschrift

325

sind über 9.000 dieser Verkaufsstellen verloren gegangen, davon waren etwa 1.000 Geschäfte mit Presse-Fachhandelscharakter. x Dafür steigt die Anzahl reiner Zeitungsverkaufsstellen, wie z. B. Bäckereien. Der presseführende Einzelhandel befindet sich in einer massiven Strukturveränderung zu Lasten des fragmentierten, inhabergeführten Handels, zugunsten von Discountern und anderen Großformen. Die Gründe hierfür liegen zum einen in der allgemeinen Konzentrationsentwicklung im Lebensmitteleinzelhandel und den Käuferbewegungen zu den Discountern7 und zum anderen in den durch Konsumrückgang, Tabaksteuererhöhung und Rückgang des Toto-Lotto-Geschäftes zunehmend schwierigen wirtschaftlichen Rahmenbedingungen für den inhabergeführten Einzelhandel. Diese Entwicklung hat für den Käufer von Publikumszeitschriften mehrere Konsequenzen: x Kleinere Nachbarschaftsgeschäfte und Supermärkte als Nahversorger gehen verloren. x Ihre Marktanteile werden von Großformen des Einzelhandels absorbiert, wo zum einen – z. B. in Verbrauchermärkten – ebenfalls stattliche Zeitschriftensortimente geboten werden, wo zum anderen jedoch – so insbesondere bei den Discountern – der Vorzug breiter Pressesortimente zumindest noch nicht „gelernt“ ist, so dass der Bürger dort derzeit schmalere Sortimente vorfindet als im Toto-Lotto-Geschäft oder beim Presse-Fachhändler. Die wachsende Gruppe an Konsumenten, die ihren täglichen Bedarf ausschließlich oder fast ausschließlich im Lebensmittel-Discounter abdecken wollen, werden dort ihren gewünschten Zeitschriftentitel mitunter nicht finden. Während sich die Auswirkungen für den Zeitschriftenkäufer auf den ersten Blick vielleicht noch als eher gering darstellen, haben die Strukturveränderungen im Einzelhandel für die Verlage und ihre Produkte spürbarere Konsequenzen: x Die Diversifizierung des Presseangebotes nimmt zu, d. h. es wird je nach Geschäftsart immer unterschiedlicher. Das in der Vergangenheit gewohnte und sowohl für den Konsumenten als auch für den Verleger (wegen der Impulskaufwahrscheinlichkeit; vgl. Abschnitt 2) attraktive breite Presseregal in kleineren Supermärkten, Toto-Lotto-Geschäften 7

Lebensmitteldiscounter halten im Lebensmitteleinzelhandel mittlerweile einen Umsatz-Marktanteil von etwa 45 Prozent; vor zehn Jahren lag der Anteil noch bei 30 Prozent. Quelle: A. C. Nielsen, Marktforschung der BAS Projekte Medien GmbH.

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Erwin Blank, Marco Graffitti und Ludwig von Jagow

und bei Presse-Fachhändlern wird seltener. Somit wird der Vertrieb von Publikumszeitschriften im Einzelhandel zunehmend schwieriger, weil der Differenzierungsgrad bezüglich der Sortimentsbreite zunimmt. x Für das Presse-Grosso wird es bei sinkender Anzahl von Vollverkaufsstellen daher zunehmend eine Herausforderung sein, eine breite Zeitschriftenpalette in einem größtmöglichen Verteiler von Geschäften unterzubringen. Während auflagenstarke Zeitschriften mit häufiger Erscheinungsweise, z. B. Nachrichten-, Unterhaltungs- oder Programmzeitschriften, ihren Platz auch in schmaleren Sortimenten finden werden, wird es für kleinere Zeitschriftentitel, insbesondere im Special InterestSegment zunehmend schwierig, verkaufsgerecht im Regal präsentiert zu werden. Daher wird es in Zukunft darauf ankommen, den fragmentierten Einzelhandel zu stärken. Hierauf wird im nächsten Abschnitt näher eingegangen. x Mit der Marktkonzentration sehen sich Verlage und Presse-Grossisten zunehmend starken Einzelhandelsunternehmen gegenüber, die nach optimierten Standards auf Flächenproduktivität achten. Presseerzeugnisse müssen sich in dieser Frage – wie in Abschnitt 3 dargestellt – nicht verstecken. Dennoch: Das oben geschilderte Dispositionsrecht im Sinne einer Aufrechterhaltung der Pressevielfalt durchzusetzen, wird angesichts der beschriebenen Marktkonzentration im Einzelhandel in Zukunft eher schwieriger. x Diese Analyse gilt auch für den Bahnhofsbuchhandel, der ebenso von Marktkonzentrationen gekennzeichnet ist: Die vier größten Filialunternehmen im deutschen Bahnhofsbuchhandel halten mittlerweile einen Umsatzmarktanteil von rund zwei Drittel.

5

Perspektiven für den Einzelverkauf

Es ist angesichts der immens breiten Palette an Publikumszeitschriften mit so vielfältigen Zielgruppen und des gelernten Konsumverhaltens für Zeitschriften davon auszugehen, dass der Einzelverkauf weiterhin eine positive Perspektive hat. Diese ist jedoch differenziert zu sehen: Zweifelsohne wird es Zeitschriftentitel geben, deren Dasein als Print-Ausgabe vom Internet in Frage gestellt werden wird und bei denen trotz größter Anstrengungen bereits heute kontinuierliche Auflagenverluste zu verzeichnen sind. Als Beispiel seien die Offertenblätter genannt. Andere Zeitschriften wiederum werden sich im Einzelverkauf – auch mit der gewohnten Verbreitung – mindestens behaupten, wiederum andere müssen sich im Einzelverkauf

Einzelverkauf als Vertriebsform für die klassische Publikumszeitschrift

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ausgefeiltere Wege zum Käufer suchen, z. B. über Spezialverkaufsstellen oder den Buchhandel. Zwei Trends lassen sich als „große Linien im Pressevertriebsmarkt“ festhalten, die Orientierung geben bei der Frage nach den Perspektiven und den Notwendigkeiten: x Weiter steigende Anzahl von Zeitschriftentiteln bei sinkender Auflage für den einzelnen Zeitschriftentitel x Rückgang der Verkaufsstellen mit ZZ-Vollsortiment und Zunahme von Verkaufstellen mit Teilsortimenten Hinzu kommen folgende Phänomene: x Nicht nur die Anzahl der Zeitschriftentitel hat in den vergangenen Jahren kontinuierlich zugenommen, sondern entsprechend die an den Einzelhandel ausgelieferten Exemplarmengen. x Die zur Verfügung stehende Präsentationsfläche – also die Zeitschriftenregale – ist in den letzten Jahren allerdings nicht so zügig gewachsen, wie erforderlich gewesen wäre, um dieses Titel- und Mengenwachstum aufzufangen. x In der Folge hat sich – insbesondere im fragmentierten Einzelhandel – die Präsentationsqualität eher verschlechtert. Der Kaufort „Zeitschriftenregal“ als Erlebniswelt der Pressevielfalt hat an Attraktivität verloren. Umfangreiche Käufermarktstudien des VDZ oder jüngst eine Studie von TNS EMNID Medienforschung8 belegen, dass die Käufer mit der Auswahl präsentierter Zeitschriften zwar im Großen und Ganzen zufrieden sind, allerdings Übersichtlichkeit und ansprechende Gesamtgestaltung der Präsentation von Zeitschriften im Handel vermissen. x Verschärfend kommt hinzu, dass Leselust und damit -kompetenz bei Jüngeren abnehmen. Wenn Verlage und ihre Handelspartner den Einzelverkauf für möglichst viele Publikumszeitschriftentitel in möglichst vielen Verkaufsstellen erhalten und ausbauen wollen, stellen sich folgende Herausforderungen: x Den Käufern folgen, das Zeitschriftensortiment erhalten: Es wird darauf ankommen, auf der einen Seite den Käufern in der sich zunehmend verändernden Einzelhandelsstruktur zu folgen, auf der anderen Seite aber darauf zu achten, dass breite Zeitschriftensortimente erhalten bleiben. Wenn sich Zeitschriftenverlage und Presse-Grossisten einerseits um die 8

VDZ-Käufermarktstudie (www.vdz.de/vertrieb), TNS Emnid Mediaforschung (Januar 2006): Zur „Lage“ der Zeitschrift am PoS – Das Kauferlebnis aus Sicht des Lesers.

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Erwin Blank, Marco Graffitti und Ludwig von Jagow

Belieferung von Lebensmitteldiscountern mit Zeitschriften bemühen, müssen andererseits auch diejenigen Geschäftsarten gestärkt werden, die eine Versorgung mit breiten Sortimenten gewährleisten. x Die Vielfalt der Publikumszeitschriften erlebbar machen: Laut bereits erwähnter EMNID-Studie fühlen sich nur etwa 20 Prozent der Käufer am Zeitschriftenregal „richtig wohl“. Wenn es gelingt, mehr Menschen durch eine ansprechende und übersichtliche Gestaltung des Point-ofSale zum Verharren zu bewegen, profitieren alle: der Käufer selbst, weil er noch mehr Zeitschriftentitel kennen lernt und Interesse befriedigt oder gar neu geweckt wird; der Zeitschriftenhändler, weil mehr Menschen mehr Zeitschriftentitel kaufen; und jede einzelne Publikumszeitschrift, weil sich die Chance erhöht, dass sie gekauft wird. x Für das haptische Erlebnis „Zeitschrift“ werben und neue Leser finden: Eine Zeitschrift in der Hand zu halten, darin je nach Lust, Interesse und Zeit zu blättern, sie wieder wegzulegen, um dann doch wieder nach ihr zu greifen – das ist etwas Besonderes und kann von keinem anderen Medium geboten werden. Dies zu vermitteln, ist die Herausforderung für Zeitschriftenmacher, verbunden mit der Aufforderung, sich um neue Leser zu bemühen. Der VDZ hat auf diese Herausforderungen vor wenigen Monaten mit einer Neustrukturierung seiner Arbeit im Bereich des Publikumszeitschriftenvertriebs reagiert. In einer Vielzahl von Projektgruppen unter dem Dach des VDZ-Arbeitskreises Pressemarkt Vertrieb werden je nach Geschäftsart Lösungen für die gesamte Branche erarbeitet, nicht selten im Übrigen in engem Schulterschluss mit den Partnern der Verlage im Pressevertrieb, dem Bahnhofsbuchhandel, dem Presse-Grosso und dem Einzelhandel: x Arbeitskreis Zeitungs- und Zeitschriftenverkauf: ein gemeinsames Gremium der Einzelhändler, Presse-Grossisten und Zeitungs- und Zeitschriftenverleger x Bündnis für Marktpflege: eine Initiative zur Entlastung des Einzelhandels von Exemplarmengen, die zur Nachfrageabdeckung nicht notwendig sind x Discounter und Drogerien: eine Projektgruppe zur Erarbeitung von Strategien, diese Geschäftsarten für Pressesortimente zu begeistern x Lebensmitteleinzelhandel: Erarbeitung von Konzepten für eine optimale Präsentation von Publikumszeitschriften in den klassischen Geschäftsarten des Lebensmitteleinzelhandels x Spezialverkaufsstellen, Fachmärkte, sonstige Verkaufsstellen, Tankstellen, Kioske und Nachbarschaftsgeschäfte x Bahnhofsbuchhandel

Einzelverkauf als Vertriebsform für die klassische Publikumszeitschrift

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x ZZ-Fachhandel: eine Projektgruppe zur Ergründung zusätzlicher Potenziale im Presse-Fachhandel (gemeinsam mit den Presse-Grossisten) x Gattungsmarketing: beispielsweise Vorbereitung von Projekten, die das Produkt Zeitschrift in der Öffentlichkeit über die Presseregale des Einzelhandels hinaus positionieren, z. B. verlagsübergreifende Messeauftritte, oder Leseförderung, u. a. durch Unterstützung des von der Stiftung Lesen und der Stiftung Presse-Grosso initiierten Projektes „Zeitschriften in die Schulen“ x Vertriebsmarktforschung: Errechnung und Sichtbarmachung zusätzlicher Verkaufspotenziale im Einzelhandel anhand verschiedener Zeitschriften, Gebietscluster und soziodemographischer Korrelationen (gemeinsam mit den Presse-Grossisten) Diese nicht abschließende Aufzählung der verschiedenen Arbeitsbereiche in der VDZ-Vertriebsarbeit lässt den Umfang der Aufgaben und Herausforderungen für die Förderung des Einzelverkaufs von Publikumszeitschriften erahnen. Weitere Informationen und Details über die Arbeit des VDZ für den Vertrieb von Publikumszeitschriften im Einzelhandel sind u. a. der Internetseite des VDZ zu entnehmen.

6

Schlusswort

Der Einzelverkauf wird für die klassische Publikumszeitschrift trotz der genannten Probleme und Herausforderungen ein herausragender Absatzkanal bleiben. Hierfür sprechen folgende Gründe: x Der Einzelverkauf in seinen dargestellten unterschiedlichen Ausformungen bietet die beste Möglichkeit, den Konsumenten die Vielfalt des Publikumszeitschriftenmarktes zu präsentieren. x Der interessierte Konsument wird auch in Zukunft nicht auf das Erlebnis „Zeitschrift“ verzichten wollen. x Ein effizientes Presse-Vertriebssystem über das Presse-Grosso und den Bahnhofsbuchhandel hat in Deutschland eine einmalige Infrastruktur für den Verkauf von Zeitschriften geschaffen, die jedem die schnelle Verfügbarkeit der gewünschten oder der spontan am Point-of-Sale entdeckten Zeitschrift gewährleisten. x Zeitschriftenverlage haben somit eine über andere Vertriebswege nicht erreichbare Möglichkeit, dem Konsumenten neue Zeitschriftentitel nahe zu bringen.

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Erwin Blank, Marco Graffitti und Ludwig von Jagow

x Der publizistische Wettbewerb im Einzelhandel führt zu Innovationen und gibt einen optimalen Gradmesser für die Akzeptanz einer Zeitschrift ab. x Wer sich im Zeitalter der Medienvielfalt (Fernsehen, Internet, Radio, Zeitungen, Zeitschriften) am Presseregal für eine Zeitschrift entscheidet, ist ein wertvoller Kunde. Das wissen die Verlage, das wissen aber auch Anzeigenkunden, ohne die für das Gros der Zeitschriftentitel ein wirtschaftliches Überleben nicht möglich wäre. x Alle am Verkauf von Publikumszeitschriften beteiligten Kreise – die Verlage wie auch Groß-, Bahnhofs- und Einzelhandel – wissen um die Strukturveränderungen im Einzelhandel und sind gewillt, diese in einer Weise mitzugehen, die einem Ziel dient: das Angebot möglichst vieler verschiedener Publikumszeitschriften an möglichst vielen Orten für jedermann aufrecht zu erhalten und auszubauen.

Vom Print-Titel zur Media Community – die Zukunft von Zeitschriften im digitalen Zeitalter

Andreas Schilling und Marcel Reichart

1

Was der Markt von uns erwartet

Zeitschriften sind eine wichtige Grundlage für jede erfolgreiche Markenkommunikation, denn sie weisen eine Reihe ausschlaggebender Merkmale auf. Sie stehen für Qualität und Glaubwürdigkeit und schaffen eine intensive, emotionale Bindung zwischen sich und Leser. „Grundlage dieser Beziehungen sind die vielfältigen Formen, in denen uns Zeitschriften im Alltag begegnen und wie wir mit ihnen umgehen: Zeitschriften werden gekauft, gelesen, zitiert, ausgeliehen, gesammelt, zur Schau gestellt, archiviert, wiederverkauft, selektiert. Zeitschriftenleser nehmen von ihrem Medium Besitz, es ist stets „ihre“ Zeitschrift. Zeitschriften bieten nicht nur nützliche Tipps für den Alltag, sie bieten Orientierung in der individuellen Lebenswelt der Leser und haben daher ein so hohes Identifikationspotenzial wie kein anderes Medium.“1 Zeitschriften besitzen weitere mediale Qualitäten, die mit dem menschlichen Wahrnehmungsprozess zusammenhängen. Wenn Informationen zeitlich so strukturiert sind, dass sie dem jeweiligen, individuellen Rhythmus entsprechen, lernen Menschen am besten. Da Print-Medien dem Leser diese Freiheit bieten, nämlich Text und Bild nach individuellen zeitlichen Bedürfnissen selbstbestimmt aufzunehmen, nennen die Neuroforscher Print-Medien zeitsouverän. Der Mensch bestimmt allein, wann er im Tagesablauf eine Zeitschrift zur Hand nimmt, in welchem Tempo er liest, 1

VDZ (2005).

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Andreas Schilling und Marcel Reichart

Anzeigen anschaut oder wie oft er einzelne Sätze oder Abschnitte wiederholt.2 Der Leserhythmus kann frei von äußeren zeitlichen oder räumlichen Vorgaben gewählt werden. Die Geschwindigkeit der Informationsverarbeitung kann der Lesefertigkeit angepasst werden.3 Dennoch zeigt die Marktentwicklung: Die klassischen Werbeträger werden von einem hohen Reifegrad geprägt und bleiben von Seiten der Konsumenten und der Werbungtreibenden unter Druck. Eine wesentliche Ursache liegt in der Tatsache, dass sich sowohl für Konsumenten als auch für Werbungtreibende die Medienoptionen binnen weniger Jahre vervielfacht haben und sie diese auch intensiv und mit stark steigender Tendenz nutzen.

Buchdruck

Fotografie

Telefon

Film

1434

1827

1877

1878

Platte Kino Radio Terrestrisches TV Zeitschrift Zeitung

CD Pay-TV Satelliten-TV Videospiele Video Kabel-TV Personal PC Platte Kino Radio Terrestrisches TV Zeitschrift Zeitung

Blogs Digital-TV DVR DVD iPod Web-TV MP3 Handies UMTS XBox, Playstation Internet M-Commerce Devices E-Book CD, CD-ROM Pay-TV Satelliten-TV Video-Spiele Video Kabel-TV Platte Kino Radio Terrestrisches TV Zeitschrift Zeitung

1900

1980

2005

Abb. 1. Die digitale Medienexplosion

Konsumenten orientieren sich zudem verstärkt am Preis und haben durch die Bündelung des weltweiten Angebotes an Waren und Dienstleistungen wie etwa auf Ebay eine völlig neue Markttransparenz. Wenn ein Anbieter nicht gefällt, klicken sie sich zum nächsten und kaufen dort. Durch dieses „Opting-out“ gewinnen die Konsumenten eine bisher ungesehene Macht; die schnell wachsende Vernetzung mit anderen Konsumenten stärkt ihre 2 3

BrainBranding (2004), S. 15. Pusler im FOCUS Jahrbuch (2005).

Vom Print-Titel zur Media Community

333

Position zusätzlich. Sie sind damit weniger auf die klassischen Medien und die klassischen Marktplätze angewiesen. Darüber hinaus muss sich die Markenführung zahlreichen Herausforderungen stellen. Dazu zählen insbesondere der aus der schnell steigenden Anzahl an Marken in den unterschiedlichen Märkten resultierende Wettbewerbsdruck, die hohen Flopraten sowohl neu eingeführter als auch etablierter Marken, die Inflation an werblichen und kommunikativen Maßnahmen zu Aufbau und Führung der Marken sowie die damit verbundene Informationsüberlastung des Kunden.4 Die stetig sinkende Effektivität der Maßnahmen der Markenpolitik spiegelt auch eine aktuelle Studie wider, in der gezeigt wird, dass bei einem Zuwachs der Werbebudgets in den Jahren 1990 bis 2000 um 175 Prozent die Markenerinnerung im gleichen Zeitraum um 80 Prozent gesunken ist.5 Werbungtreibende Kunden fordern vor diesem Hintergrund, dass der Erfolg von Werbung konkret nachweisbar werden muss. Die Medienhäuser stehen dadurch vermehrt in der Pflicht, ihren werbungtreibenden Kunden den „Return on Marketing“ aufzuzeigen. Da die Werbekanäle stark fragmentiert sind und sich die Mediennutzung zu digitalen Medien entwickelt, verlangen Werbungtreibende wesentlich mehr als eine Vermittlung von Anzeigenseiten. Sie erwarten ausgeprägte Expertise und holen uns als Kommunikationsberater an ihren Tisch. Gefragt sind ganzheitliche Kommunikationskonzepte, die mehrere Medienkanäle einbinden und mindestens ein Response-Element aufweisen. Dieser deutlich steigende Bedarf an individuellen und kreativen Werbelösungen eröffnet Verlagen große Potenziale; allerdings steigen auch die Anforderungen an den Außendienst und der Aufwand in der Realisierung dramatisch an. Der Anzeigenverkäufer, der bei jedem Kunden denselben Vortrag über „seine“ Titel hält, hat auf dem heutigen Markt keine Chance mehr. Vielmehr geht es darum, die Adressaten der werbungtreibenden Kunden in ihren Lebenswelten optimal anzusprechen. Die Kommunikation in Zeitschriften als hochwertiges Markenumfeld wird durch medien- und gattungsübergreifende Zielgruppenansprache ergänzt. Budgets verschieben sich von der reinen Kommunikation in Massenmedien auf Basis der klassischen Zielgruppenmodelle hin zu alternativen, individuelleren Marketinginstrumenten und neuen Werbeformen. Der Einkauf von Media-Leistung fokussiert sich immer mehr auf konkrete Umsatzwirkung, Werbung muss neben der Imagewirkung – für jede Marke unverzichtbar – auch einen starken Bezug zur Kaufentscheidung der Konsumenten herstellen. Für ein Medienhaus wie Hubert Burda Media, das ei4 5

Meffert, Twardawa u. Wildner (2001), S. 1–22 sowie Esch (2001), S. 12–20. Kirchgeorg u. Klante (2003).

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Andreas Schilling und Marcel Reichart

nen Großteil seiner Umsätze mit Zeitschriften erwirtschaftet, geht es in erster Linie darum, für die Marken der Werbungtreibenden Aufmerksamkeit zu generieren und diese in Interaktion zu setzen. Vermarktung und Redaktionen stehen daher gleichermaßen vor der Herausforderung, mehrere Plattformen miteinander zu vernetzen, Inhalte zu integrieren und mediale Lebenswelten aufzubauen, die die Lebenswirklichkeit der Menschen widerspiegeln.

2

Entwicklung des Anzeigen- und des Medienmarktes

Die Entwicklung der Werbeumsätze der letzten zehn Jahre ist wesentlich weniger dramatisch als angesichts der vielen Klagerufe zu vermuten wäre. De facto ist heute das Volumen des Gesamtwerbemarktes mit ca. 19,1 Mrd. Euro in Deutschland um fast 50 Prozent (brutto) höher als 1996 (13,4).6 Wie viele andere Branchen weisen ein solches Wachstum auf?

Werbeumsätze in Mrd. € 9 8 7 6 5 4 3 2 1

1996

1997

1998

Tageszeitungen

1999

2000

2001

2002

Publikumszeitschriften

2003

2004

2005

Fernsehen

Abb. 2. Werbeumsätze von Tageszeitungen, Publikumszeitschriften und Fernsehen

6

AC Nielsen Werbeforschung S+P.

Vom Print-Titel zur Media Community

335

Allerdings ist diese beeindruckende Zahl im Kontext eines überaus verschärften Wettbewerbs zu sehen. Die Publikumszeitschriften haben in den letzten zehn Jahren 17,5 Prozent hinzugewonnen.7 Höhepunkt der Entwicklung war für die Vermarkter von Zeitschriften das Jahr 2000 mit einem Bruttowerbeumsatz von 4,3 Mrd. Euro – 2005 waren es 3,9, was einem Minus von 9 Prozent entspricht. Dieses Volumen teilen sich allerdings immer mehr Titel. Trotz des schwieriger werdenden Werbemarktes hat sich die Anzahl der periodisch erscheinenden Publikumszeitschriften um mehr als 60 Prozent erhöht.8 Aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang auch ein Blick auf die Branchen: Welche Trends sind erkennbar? Interessanterweise sind die Medien selbst die mit Abstand stärkste Werbebranche überhaupt in Deutschland. 3,4 Mrd. Euro generierte dieser Bereich an Brutto-Werbeaufwendungen im Jahre 2005.9 Dieses – stark wachsende – Volumen dokumentiert eindrucksvoll, dass Medien Marken sind und durch Kommunikation auch als solche wahrgenommen werden. Davon profitieren auch die Publikumszeitschriften, die im Jahre 2005 hier mehr verbuchten als jemals zuvor.10 Absolut gesehen, sind es außerdem vor allem die Bereiche Dienstleistungen sowie Handel und Versand, die den Vermarktern Wachstum bescheren. Allerdings profitieren die Publikumszeitschriften davon nicht – im Gegensatz zu den Tageszeitungen, die in beiden Branchen weit überproportional gewachsen sind.11 Gesundheit und Pharmazie genauso wie Körperpflege und Ernährung sind dagegen Branchen, in denen die Publikumszeitschriften Wachstum realisieren konnten. Dies gilt vor allem für den Bereich Pharma: Insgesamt im Vergleich zum Jahre 2000 mit einem leicht rückläufigen Werbeaufkommen (minus 4 Prozent) versehen, verzeichnen die Publikumszeitschriften hier ein Plus von über 8 Prozent; die Tageszeitungen spielen dabei 7 8

9 10

11

AC Nielsen Werbeforschung S+P. 4.400 regelmäßig erscheinende Publikumszeitschriften gab es im Jahre 2000, im Jahre 2005 sind es 7.000. Quelle: Bundesverband Presse-Grosso (Schätzung). Quelle: Nielsen Media Research. 860 Mio. Euro im Jahre 2005, die Zeitungen liegen mit 1,3 Mrd. Euro BruttoWerbeaufwand in der Branche Medien jedoch weit vorn. Handel und Versand ist auf ein Brutto-Werbevolumen von 2,4 Mrd. Euro gewachsen, im Vergleich zu 2000 (dem insgesamt umsatzstärksten Jahr) ist das ein Wachstum von knapp 25 Prozent. Die Publikumszeitschriften verlieren in dieser Branche allerdings im selben Zeitraum 25 Prozent, vor allem zugunsten der Tageszeitungen. Bei den Dienstleistungen wurde von 2000 bis 2005 ein Werbe-Plus von 30 Prozent erzielt, die Publikumszeitschriften verlieren auch hier, und zwar etwas über 13 Prozent. Quelle: Nielsen Media Research.

336

Andreas Schilling und Marcel Reichart

kaum eine Rolle, und das Fernsehen verliert im selben Zeitraum sogar rund 11 Prozent. Auch im Bereich Ernährung konnten die Zeitschriften in den letzten Jahren gewinnen. Bei einem in etwa gleich bleibenden Werbeaufkommen verzeichnen sie gegenüber dem Jahre 2000 ein Plus von rund 17 Prozent.12

Werbeumsätze in Mrd. € 1 0,9 0,8 0,7 0,6 0,5 0,4 0,3 0,2 0,1

1998

1999 Medien

2000

2001 Pharmazie

2002

2003

2004

2005

Körperpflege

Abb. 3. Wachstumsbranchen der Publikumszeitschriften

Wie diese kurze Analyse zeigt, besitzen Publikumszeitschriften klare Vorteile, wenn es um die zielgruppenspezifische und erklärungsbedürftige Generierung von Markenbekanntheit, -image und -positionierung geht. Zielt die Marketingkommunikation der Werbungtreibenden auf unmittelbare Transaktionen wie Abverkäufe, sind Zeitschriften in Verbindung mit interaktiven und dialogorientierten Kommunikationskanälen effektiver als jedes andere Medium.13 Wie eingangs gezeigt, stellt die Digitalisierung einhergehend mit stetig wachsenden Bandbreiten den stärksten Treiber des Medienmarktes dar. Unmittelbar damit verbunden sind drei zentrale Phänomene, die den Markt 12

13

Brutto-Werbeaufkommen Ernährung: 1,73 Mrd. Euro im Jahre 2000, 1,67 Mrd. Euro im Jahre 2005. VDZ (2001).

Vom Print-Titel zur Media Community

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zukünftig entscheidend beeinflussen werden. Erstens wird sich die Medienexplosion fortsetzen, die den Rezipienten mit einer nicht mehr zu überschauenden Angebotsvielfalt konfrontiert. Daher werden „intelligente Portale“ und vertikale Suchmaschinen zukünftig noch mehr an Bedeutung für den Nutzer und damit an Markteinfluss gewinnen, weil sie Inhalte für die spezifischen Interessen des Einzelnen „rebundeln“. Zweitens erlaubt die zunehmende Digitalisierung der Medien, dass sich Leser bzw. Nutzer verstärkt selbst in die Angebotserstellung integrieren und selbst Inhalte erstellen. User-generated Content in Form von Blogs und Podcasts wird daher zukünftig einen wesentlichen Teil des Medienangebotes ausmachen. Drittens geht mit der Digitalisierung eine verstärkte, direkte Interaktion zwischen den Rezipienten einher. Diese schließen sich über die interaktiven Medien in Form von Media Communities zu bestimmten Themen, Interessen und Lebensbereichen zusammen und tauschen sich aus. Entscheidend wird es daher künftig sein, diese Gemeinschaften in Form von Media Communities auf- und auszubauen und so an das jeweilige Medium zu binden. Auf diesen entscheidenden Aspekt wird im weiteren Verlauf des Beitrages eingegangen. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass das Medium als reiner Inhalteanbieter seinen Höhepunkt erreicht hat. Zukünftig werden zwei Erfolgsfaktoren entscheidend sein: Marke und Innovation. Nur wenn es gelingt, Medien selbst als starke Marken aufzubauen und zu führen, die eine klare Positionierung besitzen und vom Rezipienten als kompetent und vertrauenswürdig wahrgenommen werden, können Medien in diesem hochkompetitiven Umfeld bestehen und echte Kundenbeziehungen aufbauen – zu Rezipienten wie auch zu Werbungtreibenden. Das setzt auch voraus, dass Medienhäuser kontinuierliche Produkt- und Serviceinnovationen erzeugen, die die sich entwickelnden Kundenbedürfnisse erkennen und erfüllen.

3

Zeitschriften sind Marken

Jeder Zeitschriftenverlag hat in den vergangenen Jahren die Erfahrung gemacht, welche Herausforderung der Launch einer neuen Zeitschrift unter wirtschaftlichem Druck und äußerst harten Wettbewerbsbedingungen bedeutet. Ambitionierte neue Titel konnten nicht bestehen, obwohl sie innovativ und journalistisch fundiert waren. Mit großem Erfolg setzten daher einige klassische Zeitschriftenmarken auf medienübergreifende Inszenierung und so auf eine Erweiterung des Markenkerns. Eine bestehende Zeitschriftenmarke wird journalistisch und

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Andreas Schilling und Marcel Reichart

in der Vermarktung um neue Produkte erweitert. Sie stärkt so Präsenz und Glaubwürdigkeit beim Leser und schafft neue Plattformen für den kommunikativen Auftritt der werbungtreibenden Kunden. Aus dem Hause Hubert Burda Media gibt es Beispiele für diese Strategie, wie die Marken Bunte und Focus zeigen. So erkannten die Markenverantwortlichen von Bunte früh, dass die Zukunft der Werbung in medienübergreifender Kommunikation liegt. Daher trägt die Burda People Group14 der multimedialen Lebenswirklichkeit der Menschen Rechnung und hat ihre Marke in mehrere Dimensionen entwickelt: Print, Internet, mobile Kommunikation, Fernsehkooperationen und Ereignisplattformen wie die „new faces awards“ oder das „Tribute To Bambi“ ergänzen die Reichweite der Medienmarke Bunte in vielfältiger Form und verschaffen den Werbekunden Plattformen für einen individuellen Markenauftritt. Und die werbungtreibende Wirtschaft folgt Bunte in ihre neue Welt: Selbst im Jahre 2003 wuchs der Werbeumsatz von Bunte um 14,5 Prozent, im Jahre 2004 wurde diese Entwicklung fortgesetzt. Die Kunden bekommen bei Bunte eben nicht nur die Print-Anzeige (bei einer MA-gemessenen Reichweite von 4,4 Mio. Lesern), sondern bei entsprechendem Engagement auch eine medienwirksame Präsenz auf einem der Events der Burda People Group. Beispielhaft sei genannt das Engagement des Modeherstellers Tom Tailor, der beim Ereignis „Tribute To Bambi“ (erstmals veranstaltet im Jahre 2001) mit seiner „Spendierhose“ die Aufmerksamkeit der Medien auf sich zieht. Stars tragen eine eigens entworfene, limitierte Jeans, die in den Tom Tailor-Stores gekauft werden kann, und deren Nettoerlöse der jeweils geförderten sozialen Einrichtung zugute kommen. Die Aktion wird offline und online beworben; für einen nachhaltigen PR-Effekt sorgen die Beteiligung von Stars und die Originalität der Idee. Der Name Focus steht für die erfolgreichste Zeitschrifteninnovation der 90er Jahre und gleichermaßen für eine sehr erfolgreiche und vielfältige Markenfamilie. Mit den Print-Marken Focus, Focus Money, Focus Schule, den Fernsehformaten von Focus TV bis zum 24/7-Kanal Focus Gesundheit, der auf Premiere läuft, und dem Tomorrow Focus MSN-Netzwerk ist 14

In der Burda People Group erscheinen außer Bunte die monatlichen Frauenzeitschriften InStyle und Amica. Unter ihrem Dach bündelt die Burda People Group außerdem die Produktionsfirma STARnetONE und das EntertainmentPortal bunte.t-online.de. STARnetONE produziert und vermarktet u. a. zweimal jährlich den new faces award als journalistisch anerkannten Nachwuchspreis in Film und Mode, den NEO Award als Preis für herausragende Internetangebote und das Tribute To Bambi als Charity-Ereignis am Vorabend der alljährlichen Verleihung von Deutschland größtem Medienpreis Bambi.

Vom Print-Titel zur Media Community

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die Marke Focus überall da präsent, wo beruflich und privat „news to use“ gefragt sind. Die Innovation am Focus-Konzept: Es stellt Text, Bild und Grafik erstmals gleichberechtigt nebeneinander. Mit der Integration dieser drei Elemente zu einem einheitlichen Ganzen reflektiert die Marke Focus die veränderten Sichtweisen, die veränderten Informationsbedürfnisse und das geänderte Kommunikationsverhalten einer Zielgruppe, die motiviert und pragmatisch kommuniziert. Dazu gehört auch die Nutzung aller Medienkanäle, die innerhalb der Markenfamilie Focus möglich ist. So berichtete Focus Online 2006 mit CeBit TV mehrmals täglich von der weltgrößten IT-Fachmesse. Die Ausführungen verdeutlichen, dass Medien Marken sind und wie solche geführt werden müssen, um in einem hochkompetitiven Umfeld wie dem Zeitschriftenmarkt zu bestehen und für die werbungtreibenden Kunden echten Mehrwert zu bieten.

4

Von der Medienmarke zur Media Community

Wie die Beispiele Bunte und Focus zeigen, reicht es heute bei weitem nicht mehr aus, allein starke Marken aufzubauen, um den Herausforderungen des Marktes wie hybriden Konsumentenbedürfnissen und zunehmenden Medienoptionen zu begegnen. Vielmehr geht es darum, durch den Aufbau, die Steuerung und Pflege von Media Communities über alle zur Verfügung stehenden Medienkanäle hinweg echte Beziehungen mit den Konsumenten aufzubauen. Die Hauptaufgabe eines Mediums liegt also darin, durch Kommunikation die potenzielle Community einer Marke zu aktivieren. Junge Menschen, aber auch immer mehr „Best Ager“ der „Generation Plus“, haben keine technogenen Hemmschwellen mehr und werden so in den unterschiedlichen Lebensbereichen von ihren „preferred brands“ durch alle Medienkanäle (Print, Fernsehen, Online etc.) begleitet und mit spezifischen Angeboten versorgt. Ereignisorientierte und crossmediale Kommunikation ist fundamentaler Bestandteil des kommunikativen Repertoires jeder erfolgreichen, modernen Markenführung. Nur Medienmarken, die alle relevanten Medienkanäle vernetzen und ereignisorientiert integrieren, schaffen es, Kommunikation für die Werbungtreibenden emotional zu inszenieren und sich damit neue Wachstumsmärkte zu erschließen.15

15

Vgl. Welte (2005).

340

Andreas Schilling und Marcel Reichart

Wie stark die kundenindividuellen kommunikativen Inszenierungen wirken, lässt sich anhand einiger anschaulicher Beispiele darlegen. Zu diesen gehört der „Webclip Contest“, den das Burda Advertising Center16 im Auftrag der BMW Group für die Marke Mini konzipierte und umsetzte. Die Aufgabenstellung von BMW an das Burda Advertising Center war, die starke Marke Mini weiter positiv aufzuladen, die Kernzielgruppe dieses Automodells zu aktivieren und gleichzeitig durch einen Response-Kanal die Adressen von Menschen zu generieren, die noch keinen Mini fahren, sich aber für die Marke interessieren. Innerhalb des Media Community Network, die Spezialeinheit im Burda Advertising Center für die Konzeption und Umsetzung von Media Communities, wurde der „Webclip Contest“ aufgesetzt. Durch Promotion-Anzeigen17 in drei Monatstiteln von Hubert Burda Media, Fit For Fun, Max und Playboy, durch eine mediengerechte Verlängerung in die Online-Auftritte dieser drei Titel und durch einen Aufruf auf mini.de sollte die anvisierte Mini-Community angesprochen werden, selbst Webclips zu produzieren und sie zum Wettbewerb einzuschicken. Die einzigen Vorgaben: Die Webclips sollten wie das Auto stylish und extravagant sowie digital produziert sein, und sie sollten sich natürlich auf die Marke Mini beziehen. Die drei besten wurden mit jeweils einem Mini ausgezeichnet. Über dreihundert Webclips waren das überzeugende Ergebnis dieser Aktion. Eine Auswahl der kreativen Amateurproduktionen wurde mir großem Erfolg mehrere Wochen auf mini.de veröffentlicht, einige im Sinne eines viral marketing per E-Mail weitergereicht. Abgesehen von den Anzeigenumsätzen, die durch dieses Projekt generiert wurden, zeigt es auch, welches Potenzial in der Aktivierung einer Community steckt. Anstatt Werbung bestenfalls nur zu konsumieren, wurde die Kernzielgruppe aktiviert, einen konkreten Bezug zwischen der eigenen Lebenswirklichkeit und der Marke Mini herzustellen. Viele weitere Beispiele belegen den Erfolg solcher Konzepte. Der Autohersteller KIA etwa hat sich ein Konzept maßschneidern lassen, das in Zusammenarbeit mit dem Direktvermarkter von Hubert Burda Media, der 16

17

Das Burda Advertising Center wurde zum 1. Juni 2006 in Burda Community Network umbenannt. Diese Namensgebung ist eine Konsequenz der strategischen Neuausrichtung aller Vermarktungsbereiche von Hubert Burda Media. Promotion-Anzeigen sind als Anzeigen gekennzeichnete Seiten, die im Lookand-feel der Zeitschrift, in der sie erscheinen, gestaltet sind. Preisliche Grundlage dafür sind die aktuell gültigen Anzeigenpreise für das jeweilige Objekt. Hinzu kommen, je nach Umfang, Produktionskosten für die Konzeption und Gestaltung der Seite. Die Realisierung erfolgt im Burda Advertising Center durch die Experten von „Creative Solutions“. Je nach Aufgabenstellung wird ein Projektteam, ggf. unter Einbezug externer Spezialisten, zusammengestellt.

Vom Print-Titel zur Media Community

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Burda Direct, realisiert wurde. Aufgabenstellung war, besonders in den ostdeutschen Bundesländern möglichst viele Menschen zu einer Probefahrt mit einer neuen KIA-Limousine zu motivieren (Claim: „Luxus kann so günstig sein“). Anzeigen in der in Ostdeutschland führenden Wochenzeitschrift Super Illu machten auf das neue Modell aufmerksam, eine telefonische oder elektronische Response-Möglichkeit generierte die Adressen der Interessierten. Burda Direct übernahm dann mit seinen Call-Centern den Stab, die auf Basis der generierten Adressen konkrete Probefahrten vereinbarten. Auch dieses Projekt brachte klassischen Anzeigenumsatz. Gleichzeitig hatte KIA einen sofortigen Return on Investment: Sehr interessierte potenzielle Käufer wurden durch das crossmediale Projekt aktiviert, direkt in die Autohäuser zu kommen. So hat das mediale Community-Building, wie Hubert Burda Media es betreibt, nicht nur einen positiven Effekt auf die Bekanntheit und das Image der Marken der Werbungtreibenden, sondern kann darüber hinaus auch auf Vertriebsziele einzahlen.

5

Ausblick

Zeitschriften sind wettbewerbsstarke Medien. Zugleich steht die Gattung vor Veränderungen. Zentrale Treiber sind dabei – rapide voranschreitend – Digitalisierung und Globalisierung, die den Konkurrenzdruck weiter erhöhen. Wie auf anderen Märkten, ist es auch für Medien unerlässlich, starke Marken aufzubauen und klar zu positionieren, um sich über diese von der steigenden Anzahl an Konkurrenzmedien abzuheben. Die Beispiele zeigen, dass es darüber hinaus gilt, mediale Communities aufzubauen. Sie sind Teil der individuellen Lebenswelt der Konsumenten und generieren so einen Mehrwert für Leser und werbungtreibende Kunden. Medien übernehmen dabei die Rolle von Beziehungsgeneratoren, indem sie über alle Kommunikationskanäle, von Print über Fernsehen und online bis zu mobilen Medien und Events, mit den individuellen Konsumenten in Dialog treten und diese gleichzeitig mit den werbungtreibenden Unternehmen in Interaktion setzen. Die Aufgabe für die Zeitschriftenmarken lautet daher in Zukunft, ihre Angebote durch permanente Innovation „with print beyond print“ weiterzuentwickeln und damit ihre Faszinationskraft fortzuführen.

342

Andreas Schilling und Marcel Reichart

Literaturverzeichnis BrainBranding (2004): Eine neue Perspektive für das Markenmanagement, Grevenbroich. Esch, F.-R. (2001): Moderne Markenführung, Wiesbaden. Kirchgeorg, M., Klante, O. (2003): Trendbarometer Live Communcation. Meffert, H., Twardawa, W., Wildner, R. (2001): Aktuelle Trends im Verbraucherverhalten – Chance oder Bedrohung für den Markenartikel, in: Erfolgsfaktor Marke, hrsg. von Köhler, R., Majer, W., Wiezorek, H., München. Pusler, M. (2005): Brain Sciences und Medienmarken, in: FOCUS Jahrbuch. Verband Deutscher Zeitschriftenverleger (2001): Print macht Werbung Verband Deutscher Zeitschriftenverleger (2005): Print wirkt! Welte, P. (Hrsg.): Ohne Bunte wäre es nur ein Buch, Burda People Group, München 2005.

Universelle Medienformate – Paradigmenwechsel im Zeitschriftenmarkt

Mike Friedrichsen und Astrid Kurad

1

Einleitung

Eine Technologie ist dann wettbewerbsrelevant, wenn sie erhebliche Auswirkungen auf die Wettbewerbsvorteile eines Unternehmens oder auf die Branchenstruktur hat. Michael E. Porter (2000), S. 221

Die technologische Innovation der Digitalisierung stellt einen außerordentlichen Einflussfaktor auf die Wettbewerbssituation der Medienunternehmen in den nächsten Jahren dar. Die Unternehmen müssen sich im digitalen Zeitalter auf enorme Herausforderungen einstellen, bezogen auf die noch dynamischer werdende Konkurrenz- und Wirtschaftssituation, aber auch auf die Bindung der Kunden an das Unternehmen. Neue Wettbewerber drängen mit hoher Geschwindigkeit auf konvergierende Märkte und zwingen etablierte Marktakteure dazu, innovative Geschäftsmodelle zu entwickeln. Die Zukunft wird zeigen, welchen Medienunternehmen es gelingen wird, auf die Chancen der neuen Informationssysteme und Techniken mit neuen Geschäftsmodellen zu reagieren, und welche an den Risiken dieser neuen Technologien scheitern werden. Der Zeitfaktor bei der Implementierung neuer Strategiekonzepte ist dabei als wesentlicher Erfolgsfaktor zu bezeichnen.1 Aufgrund der drastischen Veränderungen durch die Digitalisierung und der durch diese möglichen universellen Medienformate 1

Vgl. Friedrichsen u. Schenk (2004) sowie Schumann u. Hess (2002), S. 5.

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Mike Friedrichsen und Astrid Kurad

kann von einem Paradigmenwechsel im Zeitschriftenmarkt – verbunden mit einem Strukturwandel der gesamten Medienwirtschaft – gesprochen werden.2 Der Zeitschriftenmarkt befindet sich gegenwärtig in einer Marktsituation, die die Symptome einer ausgereiften Marktphase trägt. Der intramediale Wettbewerb verschärft sich zunehmend, die Konzentrationsprozesse nehmen weiterhin zu. Ebenso muss sich die Zeitschrift im intermediären Wettbewerb gegen die elektronischen Medien behaupten, die deutlich an der Zunahme des Medienzeitbudgets partizipieren konnten.3 Der Gegenstand des vorliegenden Beitrages bezieht sich auf das Massenmedium Zeitschrift. Die Auswahl des Untersuchungsgegenstandes ist u. a. vor dem Hintergrund der Digitalisierung und der damit verbundenen neuen Informationssysteme und Techniken zu sehen. Hierbei stellt sich die Frage, wann sich das traditionelle Medium Zeitschrift von seinem Trägermedium Papier lösen wird und in welcher Form die Verlage Strategien entwickeln werden, diesen Prozess vorzubereiten und durchzuführen. Vor dem Hintergrund der hohen Akzeptanz elektronischer Medien in den relevanten Zielgruppen ist es nur noch eine Frage der Zeit, wann das Medium Zeitschrift den Sprung aus seinem bewährten Antlitz schafft und durch Innovation seiner selbst mittels elektronischer Trägermedien junge und alte Nutzergruppen begeistern wird. Als Substitut oder Komplementär ist in diesem Kontext nicht die Zeitschrift im Internet gemeint, sondern ein universelles Medienformat, das es dem Rezipienten ermöglicht, die Zeitschrift plattformunabhängig und ohne den Verlust der räumlichen Mobilität zu konsumieren.

2

Das Umfeld der Print-Medien

Gegenwärtig kann man die Boom-Jahre der New Economy schon als Geschichte bezeichnen. Die Verlagsbranche befindet sich in einer klaren Phase des Wandels, in der aufgrund rückläufiger Auflagen und sich vermindernder Anzeigenvolumina die Umsätze einbrechen. Selbst Verlage, die bislang hohe Renditen erzielen konnten, müssen sich in der heutigen Zeit stärker denn je auf ihre Produktionskosten besinnen, um wettbewerbsfähig bleiben zu können.4 Für viele kleine Verlage ergibt sich die Situation, dass für einen Fortbestand eine Eingliederung in einen größeren Verlag obliga2 3 4

Vgl. Friedrichsen (2003), S. 383 sowie Knoche u. Siegert (1999), S. 3. Vgl. Friedrichsen (2006) sowie Friedrichsen (2004). Vgl. Friedrichsen (2006), Friedrichsen (2004) sowie Friedrichsen u. Schenk (2004).

Universelle Medienformate – Paradigmenwechsel im Zeitschriftenmarkt

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torisch wird. Dieser Trend der Marktkonsolidierung dürfte sich in den kommenden Jahren durchaus noch verstärkt fortsetzen.5 Im Zuge der durch die Digitalisierung initiierten Konvergenz und vor dem Hintergrund der geschilderten Problematik wird es für Verlage notwendig, neue Wege zu beschreiten. So fordert etwa der Vorstandsvorsitzende des Axel Springer-Verlages die verlagsseitige Implementierung einer „4K-Strategie“, um in der sich verändernden Umwelt auch in Zukunft bestehen zu können. Zu diesen vier Ks zählen Kostensenkung in allen Bereichen, Kundennähe, Kreativität und Konsolidierung. Ein zukünftig zentrales Thema für Verlage muss sicherlich die Kundenähe sein. Dafür ist es unerlässlich, dass die Verlage ein sensibles Gespür für Trends, Bedürfnisse und Probleme der Kunden entwickeln, um diese so früh wie möglich zu erkennen und darauf reagieren zu können. In diesem Kontext ist eine Betrachtung des Kerngeschäftes der Verlage und der Verschiebung, die den Verlagen in diesem Bereich bevorsteht, notwendig.6

KernGeschäft Print

Online/Mobile

MarketingTool

Zeitverlauf

Abb. 1. Verlagerung des Kerngeschäftes von Verlagen

Das eigentliche Kerngeschäft von Zeitschriften kann seit jeher als das Verbreiten von Informationen und Unterhaltung gesehen werden, wobei elektronische Medien mehr und mehr in dieses Segment eindringen. Man kann den Beginn dieser Entwicklung auf Mitte der 80er Jahre mit der Ein5 6

Vgl. Rzesnitzek (2003), S. 234. Vgl. Friedrichsen u. Gläser (2003), S. 138.

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Mike Friedrichsen und Astrid Kurad

führung der Privatfernsehsender datieren, wobei sie sich in den 90er Jahren mit dem Internet und mobilen Diensten fortsetzt. Mittlerweile ist nahezu jeder Verlag auch online vertreten, wobei anfänglich das Internet vornehmlich noch als Marketing-Tool unter dem Motto „Wir sind dabei“ genutzt wurde. Bis zum gegenwärtigen Zeitpunkt haben sich diverse Veränderungen etabliert. So haben viele Verlage ihre Homepages optimiert, um einerseits ein möglichst hohes Maß an Kundennähe zu ermöglichen und andererseits das Angebot der Online-Version für Abonnenten als additiven Zusatznutzen darzustellen.7 Es wird wohl kaum bezweifelt, dass die Verlage mit der Ersteinführung der Internetpräsenzen einen strategischen Fehler begangen haben, da der überwiegende Teil der qualitativ hochwertigen Inhalte kostenfrei im Internet angeboten wurde, ungeachtet der Tatsache, dass die Produktion dieser Inhalte finanzielle Mittel des Verlages in Anspruch nahm. Im Laufe der Zeit haben die meisten Verlage schmerzlich lernen müssen, dass die ökonomischen Gesetze auch im Internet nicht außer Kraft gesetzt sind.8 In der Konsequenz dessen versuchen nun viele Verlage, die „Kostenlos-Kultur“ im Internet aufzuheben. Es soll für den „normalen“ User nicht mehr selbstverständlich jeder auf der Online-Präsenz befindliche Inhalt gratis zur Verfügung stehen. Aus dieser Überlegung heraus sind innovative Paid Content-Bereiche und Online-Abonnement-Modelle entstanden, die durch Premium Content einen Mehrwert bieten.9 Mittlerweile sind Tendenzen der Professionalisierung der Internetnutzung durch die Verlage erkennbar, denn elektronische Distributionskanäle ergänzen das Kerngeschäft und transformieren das reine Marketinginstrument zu einem zusätzlichen Absatzkanal. Die Experimentierphase in Verbindung mit der Suche nach realisierbaren Einnahmequellen durch das Internet hält jedoch noch an. Diese Phase könnte allerdings schon in wenigen Jahren abgeschlossen und der Wandel im Kerngeschäft der Verlage vollzogen sein.10 Gleiches gilt auch für den Bereich der mobilen Dienste, die via Handy, PDA oder andere digitale Endgeräte konsumiert werden können.11 Im Moment ist diesen Diensten tendenziell noch überwiegend die Funktion eines PR-Instrumentes zu bescheinigen. Denn wer diese Optionen seinen Kunden anbieten kann, gilt als innovativ und kann sich öffentlichkeitswirksam profilieren. Die Bereitstellung von Inhalten für mobile Endgeräte 7 8 9 10 11

Vgl. Rzesnitzek (2003) sowie Wirtz (2005). Vgl. Zerdick et al. (1999). Vgl. Friedrichsen (2006). Vgl. Friedrichsen (2002). Vgl. Friedrichsen u. Kurad (2005).

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sorgt derzeit für die Entstehung eines Marktes, der vor einem langfristigen Horizont das Kerngeschäft der Verlage tangieren wird und sich zudem neben Print und Internet als Erlösquelle etablieren dürfte. Digitalisierung und Internet verändern nicht nur die Wertschöpfungskette der Verlage, sondern sind zudem Wegbereiter der sich vollziehenden Konvergenz. In den letzten Jahrzehnten konnte ein Transformationsprozess beobachtet werden, der in der Telekommunikation und im Rundfunk, also im elektronischen Kommunikationssektor, einsetzte und weiter auf die Print-Medien ausstrahlt. Von diesen Veränderungen ist nicht nur der Kommunikationssektor betroffen, sondern die Folgewirkungen haben Einfluss auf alle gesellschaftlichen Teilbereiche. Das Produkt dieses Transformationsprozesses bezeichnet Latzer12 als Mediamatik. Dieses Kunstwort, das die neuen Entwicklungen des Telekommunikationssektors kennzeichnet, weist durch den enthaltenen Begriff Telematik auf die Konvergenz der Medien hin. Telematik bezeichnet in diesem Kontext die Konvergenz von Telekommunikation und Informatik (Computer, EDV). Unter Konvergenz ist also kein Ergebnis zu verstehen, sondern vielmehr ein evolutionärer Prozess des Zusammenwachsens der vormals weitestgehend unabhängig operierenden Branchen der Medien, Telekommunikation und Informationstechnologie. Der Begriff der Konvergenz bezeichnet sowohl die Verringerung der technologischen Distanzen als auch die Verknüpfung der Wertschöpfungsketten und das Zusammenwachsen der Märkte insgesamt.13 Durch technologische Triebkräfte wie u. a. die Digitalisierung, die Aufrüstung der Netze und Kapazitätssteigerungen erfährt die Konvergenz aber auch im Bereich der Ordnungspolitik durch die Deregulierung weitere Verstärkung. Die Deregulierung von bisher monopolistischen Märkten führt zu einer Forcierung des Wettbewerbs, weit über bestehende Marktgrenzen hinaus.14 Abbildung 2 verdeutlicht nochmals die wesentlichen Determinanten der Konvergenzentwicklung.

12 13 14

Latzer (1997), S. 16. Vgl. Feldmann u. Zerdick (2004) sowie Zerdick et al. (1999), S. 130. Vgl. ebenda.

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Mike Friedrichsen und Astrid Kurad

Determinanten der Konvergenzentwicklung Technologische Innovation x Digitalisierung x Höhere Übertragungskapazität x Intelligente Netzwerkstrukturen

Deregulierung der Märkte x Neue Wettbewerber x Cross-sektoraler Wettbewerb x Fortschreitende Deregulierung

Veränderung der Nutzungspräferenzen x Individualisierung von Kundenbeziehungen x Systemische Lösungen Übertragungskapazität

Sektorale Konvergenz Multimedialer KonvergenzSektor

TeleMedien kommunikation InformationsTechnologie UnterhaltungsElektronik

Abb. 2. Konvergenz im Informations- und Kommunikationsbereich15

In der technologischen Innovation ist der erste bedingende Faktor einer sektoralen Konvergenz zu sehen. Hinzu kommt die Deregulierung der Märkte, die es neuen Wettbewerbern ermöglicht, auf den Markt zu treten und an einem cross-sektoralen Wettbewerb zu partizipieren. Als dritte Determinante ist zu erkennen, dass eine Veränderung der Nutzerpräferenzen, in Form von individualisierten Kundenbeziehungen und systemischen Lösungen, ebenfalls als ausschlaggebend für die Konvergenz der Telekommunikations-, der Medien- und der Informationstechnologie sowie der Unterhaltungselektronik anzusehen ist. Als Konsequenz aus diesem Verschmelzungsprozess wird die Entstehung eines multimedialen Sektors skizziert.16 Es ist obligatorisch für die Verlage, in Zeiten, in denen die Erlöse nicht mehr sicher sind, eine optimale Anpassung der Kosten an die gegebene Situation vorzunehmen. Dies ist allerdings eine enorme Herausforderung, weil viele Kostenkomponenten sich als fix identifizieren lassen. Dies gilt zu großen Teilen für Verlags-, Redaktions-, Herstellungs- und Vertriebs15 16

Quelle: eigene Darstellung in Anlehnung an Wirtz (2000, 2005). Vgl. Friedrichsen (2003) sowie Friedrichsen u. Gläser (2003).

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kosten. Lediglich die Marketingkosten ließen sich als „disponible Masse“ zur Kostensenkung diskutieren. Hier ist aber klar zu hinterfragen, wie stark die Reduzierung des Marketingbudgets ausfallen kann, ohne dabei den Erfolg der Marke oder des Produktes negativ zu beeinflussen. Man kann also herausstellen, dass die Ergebnisse der Verlage mittelfristig gefährdet sind, wenn sie nicht neue Erlösquellen für sich erkennen und nutzen, um dem aktuellen Trend entgegenzuwirken.17 Im Zeitalter der Konvergenz sind grundsätzlich alle Zeitschriftenverlage von der möglichen Erosion vorhandener Erlösströme betroffen. Jedoch bietet der Multimedia-Markt nicht nur Risiken, sondern auch diverse unternehmerische Chancen, neue Geschäftsfelder zu erschließen und/oder etablierte Geschäftsfelder zu verteidigen.18 Die angesprochenen Chancen, auf alten und neuen Geschäftsfeldern erfolgreich zu sein, sind eng an die realisierte Strategie eines Verlages geknüpft.19

3

Desintegration im Mediensektor

Für die Medienwirtschaft ist dies alles mit enormen Herausforderungen und einem nachhaltigen strukturellen Wandel verbunden. Die Ursache dafür liegt in dem eigentlichen Wertversprechen von Medienunternehmen: in der Information selbst, die immateriell ist. Erneuerungen im Bereich der Informations- und Kommunikationstechnik haben nicht nur Auswirkungen auf die Organisation und das Management von Medienunternehmen. Die besonders nachhaltige Veränderung durch die Digitalisierung betrifft die Bereiche der Produktion, Redaktion, Distribution und Konsumption von Mediengütern.20 Einer der wichtigsten Änderungsprozesse der Medienwirtschaft ist im Übergang zur digitalen und somit nicht-physischen Produktion und Distribution von Information zu sehen. Zu Zeiten analoger Technik war die Information noch an ein fest zugeordnetes Trägermedium gebunden. Die Digitaltechnik ermöglicht nun allerdings, dass Informationen nicht mehr zwingend an ein physisches Medium gekoppelt werden müssen. Da alle Arten von Informationsinhalten in digitaler Version vorliegen, sind diese nun mit diversen Endgeräten flexibel empfangbar. Die daraus resultierende

17 18 19 20

Vgl. Rzesnitzek (2003), S. 238. Vgl. Hass (2004), Keuper u. Hans (2003), S. 66 sowie Friedrichsen (2001). Vgl. Friedrichsen (2006), S. 145. Vgl. Hass (2004), S. 33

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Ablösung der Information vom Trägermedium lässt sich als Desintegration bezeichnen.21 Medienprodukte besitzen einen dualen Charakter, der durch die Kombination von Medium mit Information determiniert ist. Die Verknüpfung dieser beiden Faktoren zu einem vermarktbaren Gut liegt dabei im Aufgabenbereich der Medienunternehmen. Den eigentlichen Kernnutzen von Medienprodukten stiftet in der Regel die Information – als die zu übermittelnde Nachricht – verbreitet mit Hilfe von Trägermedien. Die Dimensionen der Desintegration bestehen zum einen aus der digitalen Informationsverarbeitung und zum anderen aus dem nicht-physischen Informationstransport. Die starre Zuweisung von Medium und Inhalt ist durch die technische Innovation der Digitalisierung aufgebrochen worden; somit können Vorgänge der Wertschöpfung, wie etwa Produktion, Redaktion und Distribution, auf einer immateriellen und medienunabhängigen Ebene ablaufen. Als Folge der Desintegration ist die Tendenz festzustellen, dass sich zukünftig die Bindung von Informationsinhalten an Trägermedien in den Handlungsbereich des Endkunden verlagern wird.22 Daraus folgt, dass Wertschöpfungsketten zukünftig immer weniger physisch werden, weil es der Präferenz des Endkunden überlassen bleibt, ob er sich eine „Hardcopy“ der digitalen Information erstellen möchte. Durch die Desintegration von Information und Träger- bzw. Übertragungsmedien schwindet zunehmend die Bedeutung von Trägermedien wie Papier oder Compact Disc. Die Aufgabe des Managements liegt daher besonders darin, neue Formen der Medienkonfiguration zu entwickeln, bezogen auf die Art des Transfers, der Interaktivität sowie der Distribution.23 Die Verlagerung von Prozessen der Wertschöpfung in die immaterielle Ebene ist kein alleiniges Merkmal der Medienwirtschaft, aber vor dem Hintergrund, dass Informationen relativ einfach digitalisierbar sind, vollzieht sich der Wandel der Medienbranche schneller als in anderen Wirtschaftszweigen. Weiterer Antriebsfaktor hierbei ist auch die Tatsache, dass der eigentliche Kundennutzen durch die übertragenen Informationsinhalte entsteht und nicht durch das physische Medium determiniert ist. In einigen Geschäftsbereichen ist die Digitalität zweifellos und leicht erkennbar vorteilhaft. Aus dieser Entwicklung resultieren schwerwiegende Konsequenzen für die Geschäftsmodelle von Medienunternehmen.24

21 22 23 24

Vgl. Friedrichsen (2005) sowie (2004). Vgl. ebenda. Vgl. Hass (2002), S. 85. Vgl. Hass (2004), S. 36.

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Eine Möglichkeit der Desintegration ist die effektivere Mehrfachverwertung von einmal produzierten Informationsinhalten, da die ContentProduktion über mehrere Medien hinweg eingegliedert werden kann. Vor diesem Hintergrund lassen sich die Verbundvorteile (Economies of Scope) besser ausnutzen, die in der generellen Nicht-Rivalität der Informationsnutzung ursächlich begründet liegen.25 In diesem Punkt unterscheidet sich Information von privaten, materiellen Gütern. Ohne DRM-Maßnahmen können gleichzeitig eine unbestimmte Anzahl von Menschen eine identische Information besitzen, diese verarbeiten und auch an Dritte weiterleiten.26 Aus dem nicht-physischen Vertrieb resultiert eine höhere Skalierbarkeit, die es ermöglicht, vorhandene Skaleneffekte als Folge der NichtRivalität schneller auszunutzen.27 Abschließend sollte bedacht werden, dass im Verlauf der Desintegration die grundsätzlichen Merkmale des Wirtschaftsgutes Information noch nachhaltiger zum Ausdruck kommen als bisher. Die gravierenden Änderungsprozesse, die durch technologische Innovation hervorgerufen werden, bringen enorme Herausforderungen für Medienunternehmen mit sich. Neue Geschäftsmodelle müssen es schaffen, den Weg in eine digitale Zukunft zu bereiten, in der Informationen auch über diverse Träger- und Übertragungsmedien bestmöglich vermarktet werden können.

4

Auswirkungen auf Geschäftsmodelle

Als generelle Auswirkung der Desintegration und durch den technischen Fortschritt sinken die Fixkosten für die Herstellung der Masterkopie, aber auch die Grenzkosten für die Informationsreproduktion. Bezugrahmen für die nachstehende Betrachtung der Veränderungen von Geschäftsmodellen durch Desintegration ist die Unterteilung von Geschäftsmodellen in die drei Bereiche: Produktarchitektur, Erlösmodell und Wertschöpfungsstruktur.28 4.1

Produktarchitektur

Bezüglich der Information ergibt sich durch die Desintegration eine völlig neue Perspektive, das Informationsangebot auf die Wünsche des Kunden 25 26 27 28

Vgl. Hass (2002), S. 85. Vgl. dazu ausführlich Wirtz (2005). Vgl. Hass (2002), S. 85 f. Vgl. Hass (2004) sowie Wirtz (2005).

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auszurichten. Mit der Möglichkeit zur „Customization“ können Produkte zukünftig noch enger an den Erwartungshorizont des Kunden angepasst werden und so den für ihn resultierenden Produktnutzen um ein Vielfaches steigern. In diesem Kontext spricht man von Personalisierung von Information, die abhängig ist von den zur Verfügung stehenden Kundendaten oder den ausdrücklich geäußerten Kundenwünschen. Je nach Ausgangslage können somit speziell zugeschnittene Informationen dem Kunden digital zugesandt werden. Auch die kontextabhängigen Informationsdienstleistungen, wie das Senden von gezielten Reise- und Umfeldinformationen, stellen eine mögliche Form zukünftiger Medienprodukte dar. Allerdings ist zu betonen, dass solche personalisierten Informationsdienstleistungen im Rahmen von Varietätsstrategien umfassender Anpassungen der Wertschöpfungsstruktur bedürfen (wie etwa einer ausreichenden Klassifizierung und Archivierung der zu distribuierenden Inhalte), um Kundenanfragen ohne zu großen Mehraufwand realisieren zu können. Die Desintegration nimmt auf das Medium insofern Einfluss, dass ein Wandel von klassischen Trägermedien zu Übertragungsmedien vollzogen wird. Vorteile dieser Entwicklung liegen für die Anbieter vor allem in den sinkenden Grenzkosten und in der bereits angesprochenen schnelleren Skalierbarkeit. Diese ermöglicht vor allem, potenzielle Größenvorteile der Medienproduktion auszunutzen. Für die Kunden ergeben sich positive Effekte durch erhöhte Aktualität und Informationsreichhaltigkeit, aber auch in der Möglichkeit zur Interaktion. Egal wie sich die Produktarchitektur zukünftiger Mediengüter gestalten wird, für den Kunden muss ein nachhaltiger Mehrwert mit dem Produkt verbunden sein, der die Nachteile des erforderlichen Technikeinsatzes deutlich überkompensiert.29 4.2

Erlösmodell

Die Suche nach lukrativen Erlösmodellen ist derzeit eine der schwierigsten Herausforderungen für Medienunternehmen, weil sich der Wettbewerb für Medienprodukte nachhaltig verändert. Der bestehende Wettbewerb wird u. a. durch den Einfluss der nicht-physischen Distribution, die gestiegene Anbieterzahl durch Globalisierung und die stetige Erhöhung der Markttransparenz nachhaltig verschärft. Technische Innovation verändert die Relevanz der Erlösquellen „Medienprodukt“, „Kundenkontakt“ und „Kundeninformation“.

29

Vgl. Hass (2004), S. 41 sowie Wirtz (2005).

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Erlösquelle Medienprodukt

Eine sinnvolle Möglichkeit der Vermarktung von Information stellt die Bündelung einzelner Informationen dar, deren Wert aus Kundensicht in einem akzeptablen Verhältnis zu seinen Transaktionskosten steht. Das Informationsprodukt selbst ist dabei das Wirtschaftsgut, mit dem unmittelbar Erlöse erzielt werden. Somit stellt dies auch die Kernkompetenz des Medienunternehmens dar. Vorteile bei der direkten Vermarktung von Medienprodukten an den Endkonsumenten liegen gegenüber dem triadischen Austausch zwischen Medienunternehmen, Mediennutzern (= Informationsbeziehern) und Werbungtreibenden vor allem in der geringeren Komplexität bei der Vermarktung der Produkte. Allerdings müssen hierbei noch neue Möglichkeiten gefunden werden, die hohen anfallenden Transaktionskosten zwischen Anbahnung und Abwicklung sowie für die Sicherung der Urheberrechte zu reduzieren.30 Erlösquelle Kundenkontakt

Das Medienprodukt dient in diesem Fall dem Zugang zur Aufmerksamkeit bei Print-Produkten, auch als so genannte „Eye Balls“ bezeichnet. Diese potenzielle Aufmerksamkeit wird an die werbungtreibende Industrie veräußert, die an den Kontakten mit den Nutzern des Medienproduktes interessiert ist, um ihrerseits Transaktionen zu offerieren. Erlösquelle Kundeninformation

Bei dieser Möglichkeit der Generierung von Erlösen handelt es sich um den Verkauf von Informationen über den Kunden. Rezipienteninformationen und Nutzungsverhalten werden gesammelt und an interessierte Unternehmen verkauft. Besonders durch die Personalisierung von Information wird es möglich werden, präzise Angaben über einzelne Nutzer zu sammeln und diese gewinnbringend zu verkaufen. Auch wenn diese Form der Erlösquelle interessant scheint, so darf nicht übersehen werden, dass der Verkauf von Kundeninformationen kaum auf Akzeptanz des betroffenen Kunden stoßen wird. Zudem ist der Markt für so geartete Marktforschungsleistungen relativ eng, daher sollte diese Erlösquelle nur ein geringer Teil des Erlösmodells sein.31 Ein weiterer zu berücksichtigender Aspekt liegt in den bestehenden Datenschutzbestimmungen.

30 31

Vgl. Hass (2002), S. 41. Vgl. ebenda, S. 126.

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Erlösformen

Durch die technische Innovation wird es in Zukunft möglich sein, variable Erlösformen bei Medienprodukten bzw. Kundenkontakten zu verwirklichen, wo bisher nur fixe Erlösformen realisierbar waren. Dies war bestimmt vom Fehlen einer Technik, um beispielsweise ein Ausschließen vom Medienkonsum zu bewirken oder um Dienstleistungen exakt nach Nutzungsdauer abzurechnen. Besonders von Bedeutung ist diese Verbesserung technischer Rahmenbedingungen für die Entwicklung nutzungsabhängiger Erlösformen für Übertragungsmedien, in Form von Pay-perview-Angeboten oder interaktiven Diensten.32 4.3

Wertschöpfungsstruktur

Nachhaltige Veränderungen durch den Einsatz neuer Informations- und Kommunikationstechnologien lassen sich vor allem in den Bereichen des Wertschöpfungs- und Kaufprozesses von Medienprodukten beobachten, weil sich diese vollständig digitalisieren lassen. In der Wertschöpfungskette kommt es zunehmend zu einer Einbindung des Endkunden. Die Interaktion mit diesem findet vor allem auf der Stufe der Redaktion und Bündelung von Informationen statt. Strategien zur Personalisierung und zur Customization greifen auf dieser Ebene.33 Mit der technologischen Innovationskraft der Digitalisierung gehen enorme Herausforderungen einher, denen sich das Management von Medienunternehmen stellen muss.34 Für viele Medienunternehmen ist es schwer, den grundsätzlich vorhandenen Potenzialen neuer Informationsund Kommunikationstechnologien mit tragfähigen Geschäftsmodellen zu begegnen. Die Medienbranche befindet sich noch in einer Phase des Experimentierens mit neuen Medien und der Entwicklung von innovativen Geschäftsmodellen.

5

Blick in die Zukunft – eine Skizze

Mehr als die Vergangenheit interessiert mich die Zukunft, denn in ihr gedenke ich zu leben. Albert Einstein (1879-1955) 32 33 34

Vgl. Wirtz (2005), vor allem Kapitel 2. Vgl. Hass (2004), S. 53 f. Friedrichsen (2001).

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Im nächsten Schritt geht es vor allem darum, Trends aufzuzeigen, deren Relevanz auch in der Zukunft anzunehmen ist und die eine gewisse Bedeutung für den Zeitschriftenmarkt haben werden. Die Erläuterungen erheben natürlich nicht den Anspruch auf Vollständigkeit; sie dienen als kleiner Leitfaden der entscheidenden Parameter. Auch können die angeführten Themen nur grob umrissen werden, denn jedes dieser Themen weist eine enorme Tiefe auf, der der Umfang dieses Beitrages natürlich nicht gerecht werden kann. 5.1

Die Bevölkerungsstruktur im Jahre 2050

Die Relevanz der Bevölkerungsstruktur für Medienunternehmen ist offensichtlich, wenn man bedenkt, dass die Bevölkerung den „Produktionsfaktor Mensch“ ebenso stellt, wie auch die Abnehmer der Produkte selbst. In den nächsten Jahrzehnten wird sich das zahlenmäßige Verhältnis zwischen älteren und jüngeren Menschen in Deutschland deutlich verschieben. Nach den neuesten Bevölkerungsvorausberechnungen des Statistischen Bundesamtes werden im Jahre 2050 etwa 50 Prozent der Bevölkerung älter als 48 Jahre und jeder Dritte 60 Jahre oder älter sein. Die Einwohnerzahl in Deutschland wird, selbst bei angenommenen Zuwanderungsraten aus dem Ausland, langfristig abnehmen. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt hat die Bundesrepublik 82,5 Mio. Einwohner. Die folgenden Ergebnisse beziehen sich auf die „mittlere Variante“ der Vorausberechnung. Es ist demnach anzunehmen, dass die Bevölkerungsanzahl nach einem leichten Anstieg auf 83 Mio. ab 2013 wieder sinken wird. Bis zum Jahre 2050 würde so nach der mittleren Variante das Bevölkerungsniveau in Deutschland auf das des Jahres 1963 sinken, mit gut 75 Mio. Einwohnern. Dieser Berechnungsvariante liegen die Annahmen einer konstanten Geburtenhäufigkeit von durchschnittlich 1,4 Kindern pro Frau zugrunde, die Erhöhung der Lebenserwartung bei Geburt bis zum Jahre 2050 für Mädchen auf 86,6 Jahre und für Jungen auf 81,1 Jahre; ebenso wird ein jährlicher positiver Wanderungssaldo von etwa 200.000 Personen angenommen.35 Der Grund für den langfristigen Bevölkerungsrückgang liegt in der Fortsetzung des Trends, der schon in den vergangenen 30 Jahren festgestellt werden konnte, und auch in den nächsten 50 Jahren steht es zu erwarten, dass mehr Menschen sterben als geboren werden. Unterstellt man das anhaltend geringe Geburtenniveau, so wird die heutige Geburtenzahl von 730.000 bis zum Jahre 2050 auf etwa 560.000 sinken und zu diesem Zeitpunkt nur noch die Hälfte der Anzahl der jährlich versterbenden Menschen 35

Vgl. Statistisches Bundesamt (2003).

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betragen. Betrug das „Geburtendefizit“ im Jahre 2001 noch etwa 94.000, so wird es im Jahre 2050 ca. 580.000 betragen. 2050 wird die Zahl der Unter-20-Jährigen von aktuell 17 Mio. (21 Prozent der Bevölkerung) auf 12 Mio. (16 Prozent) sinken. Die Gruppe der Menschen, die mindestens 60 Jahre alt sein wird, wird dann mehr als doppelt so groß sein und 28 Mio. Menschen ausmachen, was 37 Prozent der Bevölkerung entsprechen wird. Im Jahre 2050 werden zur Gruppe der 80 Jahre oder älteren Menschen 9,1 Mio. (12 Prozent der Bevölkerung) zählen, zu der beispielsweise 2001 nur 3,2 Mio. bzw. 3,8 Prozent gehört haben.36

Abb. 3. Bevölkerungspyramiden 2001 und 205037

Besonders deutlich kann man die zu erwartenden Verschiebungen im Altersaufbau durch den „Altersquotienten“ darstellen. Für das durchschnittliche Renteneintrittsalter von 60 Jahren lag der Altersquotient 2001 bei 44. Das bedeutet, dass 100 Menschen im erwerbstätigen Alter (von 20 bis 59 Jahren) 44 Personen gegenüberstanden, die sich im Rentenalter (ab 60 Jahren) befanden. Bezieht man sich wieder auf die mittlere Variante der Vor36 37

Vgl. Statistisches Bundesamt (2003). Quelle: ebenda.

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ausberechnung, steht es zu erwarten, dass sich der Altersquotient im Jahre 2050 bis auf 78 steigern wird. Würden die Menschen nicht mit 60 Jahren, sondern fünf Jahre später in den Ruhestand treten, läge der Altersquotient 2050 bei deutlich niedrigeren 55.38 Abbildung 3 stellt die beschriebene Entwicklung bis zum Jahre 2050 optisch dar. Beim demographischen Wandel handelt es sich um einen „Megatrend“. Mit dieser Bezeichnung wird auf die weitreichenden Aus- und Wechselwirkungen auf alle gesellschaftlichen Teilbereiche hingewiesen. Zu den zwei zentralen Entwicklungslinien, die den demographischen Wandel prägen, gehören somit die Alterung und die Schrumpfung der Bevölkerung.39 Eine OECD-Studie hat auf Basis weltweiter bevölkerungsstruktureller Vorausberechnungen bis 2050 ein Referenz-Szenario erstellt, das sich mit den Auswirkungen des Alterungsprozesses auf die Weltwirtschaft beschäftigt. Es wird darauf verwiesen, dass die nachfolgend dargelegten OECDAnnahmen als hoch spekulativ anzusehen sind und nicht den Anspruch auf eine Vorhersage erheben. Einen wesentlichen Effekt der alternden Bevölkerungsstruktur (bezogen auf die gesamte Weltbevölkerung) sieht die OECD-Studie in der generellen Veränderung der Zusammensetzung der Erwerbstätigen. Zudem werden durch die ältere Gesellschaft deutliche Auswirkungen im öffentlichen Haushalt bemerkbar sein, was auf die Gesundheits- und Rentenversorgung zurückzuführen sein wird. Ebenso werden auch Effekte erwartet, die sich auf die Produktivität des jeweiligen Landes beziehen. Einer der Schlüsselfaktoren des errechneten Referenzszenarios bezieht sich darauf, dass mit der Annahme eines generellen Sinkens der Anzahl der Menschen im erwerbsfähigen Alter und der daraus resultierenden geringeren Anzahl der tatsächlich Erwerbstätigen ein grundsätzlicher Rückgang des möglichen Wirtschaftswachstums zu erwarten sein wird.40 Außerdem ist bei schrumpfender und alternder Bevölkerung davon auszugehen, dass die Kaufkraft insgesamt abnimmt, wodurch sich wiederum der Wettbewerb auf den ohnehin schon gesättigten Märkten verschärfen dürfte. Zudem wird es für die Unternehmen obligatorisch werden, sich auf den Umgang mit einer alternden Belegschaft und einem ab 2010 deutlich werdenden Fachkräftemangel einzustellen.41 Sowohl die Älteren als auch die Jugend von heute haben sich weit entfernt von ihren jeweiligen Vorgängergenerationen, und es ist überdies da38 39 40 41

Vgl. Statistisches Bundesamt (2003). Vgl. Burmeister u. Daheim (2004), S. 176. Vgl. OECD-Studie (1998), S. 8 ff. Vgl. Burmeister u. Daheim (2004), S. 178.

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von auszugehen, dass das schnelle Tempo des Wandels bestehen bleibt. Es steht in diesem Zusammenhang noch aus, dass die Medien die Älteren wirklich als Zielgruppe entdecken, sie in adäquater Form ansprechen und ihnen Produkte gemäß ihren Bedürfnissen anbieten.42 Zusammenfassend ist festzuhalten, dass bezogen auf den Alterungsprozess der deutschen Gesellschaft ein Wandel zu erkennen ist, der auch für die Wirtschaft einen wesentlichen Effekt hat. Es ist sinnvoll, frühzeitig auf die sich verändernde Gesellschaftsstruktur mit entsprechend zugeschnittenen Produkten zu reagieren und auch Gefahren zu erkennen, die aus diesen Entwicklungen resultieren. 5.2

Veränderung der Mediennutzung

Das Mediennutzungsverhalten der Menschen ist ein wichtiger Faktor, der den Erfolg oder Misserfolg von Medien und ihren Inhalten bestimmt. Daraus folgen dann wiederum mögliche Veränderungen in der Mediennutzung der Rezipienten. Eine einigermaßen seriöse Darstellung von Annahmen zur zukünftigen Veränderung der Mediennutzung ist sicherlich nur kurz- bis mittelfristig möglich. So ist zu erwarten, dass sich die Ausstattung mit technischen Geräten weiter differenzieren wird, besonders bei einem noch breiteren Einzug von PC und Internet. Dies bezieht sich sowohl auf die häusliche als auch auf die berufliche Umgebung. Es ist weiterhin anzunehmen, dass sich PC und Internet weiter in ihrer Bedeutung steigern werden, gemessen an der Frequenz ihrer Nutzung. Von der Integration des Internets werden die Tagesreichweiten des Rundfunks kaum betroffen sein, hier sind eher Verluste bei den Tageszeitungen zu erwarten. Die mobile Nutzung kommunikativer Möglichkeiten wird eine zunehmende Rolle spielen. Es ist davon auszugehen, dass die Nutzungsdauer der traditionellen Medien leicht rückläufig sein wird, wobei hier noch die Möglichkeit besteht, dass eine weitere Expansion des Gesamtzeitbudgets der Mediennutzung dies kompensieren wird. Für die nähere Zukunft ist anzunehmen, dass alle tagesaktuellen Medien ihre spezifischen Kernkompetenzen behaupten werden. Dennoch wird sich das Internet als aktuelles und spezifisches Nachrichten- und Informationsmedium stärker positionieren. Zudem kann mit einer weiteren Zunahme des Individualisierungsgrades der Mediennutzung gerechnet werden. Betrachtet man die Bindung der Menschen an die klassischen Medien, ist es möglich, dass sich diese geringfügig lösen wird, jedoch ohne Verluste bei der prinzipiellen Wertschätzung. Für das Internet ist hier eine 42

Vgl. Burmeister u. Daheim (2004), S. 181.

Universelle Medienformate – Paradigmenwechsel im Zeitschriftenmarkt

359

Zunahme an Bindung zu erwarten. In den kommenden fünf Jahren kann weiterhin mit einer zentralen Positionierung von Fernsehen und Hörfunk im Medienmarkt gerechnet werden. Insgesamt wird sich die Medienlandschaft nicht in ihren grundsätzlichen Fundamenten verändern, sondern eher einen evolutionären Prozess beschreiten.43 5.3

Zukunftsbestimmende Faktoren

Die Zukunft wird sich nicht nur durch immer neue Produktinnovationen von der heutigen Zeit abgrenzen, sondern auch durch die dann spürbaren Folgen der Prozesse, die gegenwärtig stattfinden. In diesem Kontext muss u. a. die zunehmende Globalisierung genannt werden. Die Geschwindigkeit und der Umfang der globalen Liberalisierung und Privatisierung der Medien- und Kommunikationswirtschaft sind bemerkenswert. Durch diese Entwicklung wurden in den vergangenen zwei Jahrzehnten ganze Märkte und Volkswirtschaften global integriert. Deutlich wird das vor allem am Beispiel des vormals nationalen und jetzt globalen Kulturgutes Musik. Die Medienwirtschaft kann vor diesem Hintergrund nur noch als eine globale Dynamik angemessen beschrieben und verstanden werden. Diese globale Dynamik hat sich mittlerweile zu einer globalen konvergenten Dynamik gewandelt, da zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht mehr nur nationale Grenzen überwunden sind, sondern auch jene Grenzen zwischen den vormals getrennten Branchen der Telekommunikation, Information, Medien und Entertainment (TIME). Daraus resultiert eine neue globale TIME-Branche mit den Charakteristika komplex vernetzter Strukturen, Kooperationen, Allianzen. In diesem Umfeld entwickelt sich ein neuer Wettbewerb der Unternehmen der TIME-Branche.44 Die Konvergenz von Branchen und Märkten lässt vermuten, dass sich der Prozess der Globalisierung der Medien und ihrer Produkte noch nicht am Ende befindet. Nicht die Frage „ob“, sondern „wie“ sich die Globalisierung des Contents und/oder der Unternehmen gestaltet, ist zu stellen. Bislang sprechen viele Faktoren für eine Dualisierung. Das bedeutet einerseits multinationale Unternehmen mit globalen oder „glokalen“ Inhalten und andererseits die Existenz nationaler oder gar lokaler Anbieter, die mit regionalspezifischen Inhalten eine Nische besetzen.45 Für die zukünftige Ausgestaltung der Medienbranche sind also Globalisierungstendenzen nicht von der Hand zu weisen, wenn es um die Identifi43 44 45

Vgl. Gerhards u. Klingler (2004), S. 472. Vgl. Lang u. Winter (2005), S. 117 f. sowie Lang (2004). Vgl. Lang u. Winter (2005), S. 117 f.

360

Mike Friedrichsen und Astrid Kurad

kation von Faktoren geht, die die Zukunft prägen. Es muss bei der Betrachtung zudem klassifiziert werden, welche Bereiche sie betreffen, seien es Wirtschaft und Arbeit, Politik und Öffentlichkeit, Wissenschaft und Bildung oder Unterhaltung und Kunst. Neben der Diskussion potenzieller Konsequenzen muss aber auch die Frage gestellt werden, inwiefern die Notwendigkeit politischer und gesellschaftlicher Gestaltungsaufgaben vorliegt.46 In diesem Kontext kann man auf die durch die Digitalisierung medialer Inhalte notwendig gewordene Einführung eines „Digital Rights Management“ verweisen, als ein Beispiel dafür, wie technologische Veränderungen rechtliche und gesellschaftliche Gestaltungshandlungen erfordern (hier eben zum Schutz des geistigen Eigentums). Eine weitere bedeutende Entwicklung ist in der zunehmenden Individualisierung der Gesellschaft und Fragmentierung der Nutzerschaft zu sehen. Für ein Massenmedium, wie es die Zeitschrift ist, wird es erfolgskritisch sein, wie gut ihre Position auf dem Aufmerksamkeitsmarkt ist. Im Umfeld eines verschärften Wettbewerbs wird es notwendig sein, die Angebotsqualität in Bezug auf den Journalismus weiter zu verbessern. Hierbei ist besonders auf die Interessen der Leser zu achten, in Verbindung mit einem lesergerechten Design des Produktes. Vor allem eine gründliche Recherche und Analyse sind wichtige Schlüsselfaktoren für individualisierte Dienstleistungskonzepte. Es wäre durchaus vorstellbar, die „Zeitschrift der Zukunft“ als eine Organisation zu sehen, die als Informationslieferant in multiplen Kontexten tätig ist. Vor diesem Hintergrund spricht vieles dafür, dass Zeitschriftenverlage eine Diversifizierung ihrer Strategien vornehmen müssen, die deutlich kontextabhängiger ausgestaltet sein sollten, als es bislang erkennbar ist. Es ist anzunehmen, dass die Zukunft im Informationssektor durch eine große Anzahl von parallel ablaufenden, unter Umständen sogar diametralen Entwicklungen gekennzeichnet sein wird und nicht nur durch wenige, einseitig ausgerichtete Trends.47 Es steht zu erwarten, dass sich nicht nur das Nutzerverhalten noch mehr verändern wird, sondern dass die gesamte Zeitschriftenbranche einem Wandlungsprozess unterworfen sein wird. Wie sich dieser zukünftig gestalten könnte, skizziert der folgende Abschnitt.

46 47

Vgl. Wilke (1999), S. 770. Vgl. Theis-Berglmair (2002), S. 69 f.

Universelle Medienformate – Paradigmenwechsel im Zeitschriftenmarkt

6

361

Strategische Option: digitales Trägermedium

Phantasie ist wichtiger als Wissen, denn Wissen ist begrenzt. Albert Einstein (1879-1955)

Wie wird die „Zeitschrift der Zukunft“ aussehen? Wird es überhaupt in Zukunft noch eine Zeitschrift geben, oder wird diese in Form von personalisierter Informationsdarbietung nicht mehr die Züge eines Massenmediums tragen, so dass man nicht mehr von Zeitschrift im öffentlichen Sinne sprechen kann? Die folgenden Ausführungen sollen als Modellvorstellung verstanden werden, in der Überlegungen gebündelt werden, wie sich die „Zeitschrift der Zukunft“ gestalten kann und unter welchen Voraussetzungen ein digitales Medium tatsächlich eine strategische Option für Zeitschriftenverlage auf dem Weg in die digitale Zukunft sein wird. Die Idee, dass die zukünftige Zeitschrift auf einem digitalen Papier erscheint, ist nicht neu, und verschiedene Prototypen digitaler Folien wurden schon entwickelt. Eine Zeitschrift digital zu distribuieren, stellt nur dann eine strategische Option dar, wenn das Trägermedium bestimmte Leistungsmerkmale garantieren kann. Die folgenden Ausführungen beziehen sich zudem auf die Veränderungen, die die Einführung einer solchen Zeitschrift auf digitalem Papier mit sich bringen würde, welche Merkmale der Zeitschrift sich verändern könnten und welche erhalten bleiben müssten, um den Erfolg zu garantieren. Verfolgt man den Gedanken, dass in den nächsten Jahren und Jahrzehnten ein digitales Trägermedium für die Zeitschrift entwickelt wird, das eine adäquate Darstellung des Zeitschrifteninhaltes ermöglicht, so lassen sich folgende Überlegungen vielleicht sogar zügig umsetzen. Als ein wesentlicher Erfolgsfaktor ließe sich die Notwendigkeit identifizieren, dass die Bedienung eines solchen Trägermediums so einfach, kundenfreundlich und selbsterklärend wie nur möglich gehalten werden muss, damit auch wirklich ein Zugang aller Bevölkerungsschichten und Altersgruppen zu diesem Informationsmedium gewährleistet ist. Neben der selbsterklärenden Bedienungsweise muss für dieses Trägermedium eine angemessene Preisdifferenzierung erfolgen, über die gerade in der Einführungsphase des neuen Mediums die Hemmschwelle bei potenziellen Nutzern abgebaut wird, sich ein solches Trägermedium anzuschaffen. Der Preis ist zudem relevant, wenn es darum geht, für alle Bevölkerungsschichten die Nutzung des Trägermediums und so der digitalen Zeitschrift zu ermöglichen. Die Wissenskluft zwischen sozial und finan-

362

Mike Friedrichsen und Astrid Kurad

ziell unterschiedlich gestellten Schichten darf sich nicht weiter vergrößern, schon gar nicht, wenn es dabei um ein so essenzielles Medium wie die Zeitschrift geht. Gehen die Überlegungen nun dahingehend weiter, durch welche Merkmale sich dieses digitale Trägermedium der Zeitschrift der Zukunft auszeichnen müsste, dann kann dies in der Adaption der Charakteristika des Trägermediums Papier gesehen werden. Die bereits erwähnte räumliche Mobilität spielt beim Rezeptionsverhalten der Zeitschrift eine sehr wichtige Rolle. Das Trägermedium muss daher über eine Speicherkarte verfügen, die die Darstellung der Zeitschrift auch an Orten gewährleistet, wo keine Verbindung zu den jeweiligen Übertragungsnetzen besteht. Weitere erfolgskritische Leistungsmerkmale eines solchen digitalen Trägermediums sind in der hohen Darstellungsqualität und in der Rückkanalfähigkeit zu sehen. Die hohe Darstellungsqualität ist unabdingbar, nicht zuletzt um den Rezeptionsvorgang nicht anstrengender zu gestalten, als dieser bei einem gedruckten Medium ohnehin schon ist. Die Nutzung der digitalen Zeitschrift muss somit dem Leser die Informationsaufnahme durch interaktive Funktionen eher noch erleichtern. Die Rückkanalfähigkeit ist daher insofern sinnvoll, dass der Nutzer einer digitalen Zeitschrift, wenn er vertiefende Informationen zu einem Thema wünscht, diese ebenfalls durch Berührung eines Feldes auf der Folie anfordern und z. B. einen weiterführenden Artikel abrufen kann. Angenommen, Person X lebt in der Zukunft, verfügt über ein digitales Trägermedium und hat beim Verlag Y ein Abo für eine digitale Zeitschrift. Das würde bedeuten, dieser Kunde ist im Verlagssystem registriert, und es könnte für ihn ein „Interessenskonto“ eingerichtet werden. Dort würden neben den Angaben zur Person auch dessen individuelle Anfragen, z. B. nach oben genanntem vertiefendem Artikel, gespeichert. Hieraus ergäbe sich ein individuelles Nutzerprofil, das sich durch den Verlag an Werbungtreibende verkaufen ließe, die dann den Vorteil geringer zu erwartender Streuverluste nutzen und Werbung in der digitalen Zeitschrift platzieren könnten, die der Kunde abonniert hat. Stellt sich nun die Frage, was solche vertiefenden Artikel als Zusatzleistungen zum normalen DigitalAbo kosten sollten, ergäbe sich hier die Möglichkeit einer differenzierten Preisgestaltung. Der Kunde könnte sich dafür entscheiden, kostenlos vertiefende Artikel zu beziehen, indem er damit einverstanden wäre, dass „sein Zugang zur Aufmerksamkeit“ an Werbungtreibende verkauft wird. Er könnte aber auch jegliche Werbung ablehnen, würde dafür dann einen höheren Abo-Preis zahlen müssen. Oder man könnte den Abo-Preis nach der Anzeigen-Text-Relation bemessen: viel Werbung, weniger Text, dafür geringere Kosten für den Kunden.

Universelle Medienformate – Paradigmenwechsel im Zeitschriftenmarkt

363

Verlag Y kann sich mit einem solchen „Kundenprofil-System“ nicht nur als normaler Informationsanbieter profilieren, sondern ist zudem eine Instanz, die diverse Formen des Direktmarketings ermöglichen kann, mit hoher Zielgruppengenauigkeit. Hierdurch lassen sich deutliche Anreize für die Werbungtreibenden erzielen. Der Verlag, der das digitale Trägermedium nutzt, um seine Zeitschrift zu distribuieren, hat zudem noch weitere Vorteile, die aus dieser technischen Innovation resultieren. Die digitale Verbreitung lässt die Verwendung von Papier obsolet werden. Die Papierkosten wie auch die Kosten für Farbe, Druckmaschinen, Wartung oder Reparatur entfallen in diesem Kontext. Die Grenzkosten einer digitalen Zeitschrift laufen gegen null, was aus der digitalen und somit nicht-physischen Verbreitungsform resultiert. Durch die Verwendung einer solchen Technologie lassen sich somit für jeden Verlag enorme Kosteneinsparungen erzielen. Auch mögliche Preissteigerungen bei Verknappung des Rohstoffes Papier können als potenzielle Risikovariable für die verlegerische Planung wegfallen. Durch die digitale Verbreitung fallen zudem theoretisch alle Marktintermediäre weg, denn der Verlag würde in Zukunft nun über den digitalen Weg direkt dem Endkunden gegenübertreten. Die einzigen Marktintermediäre im weitesten Sinne könnten die Bereitsteller der digitalen Übertragungsnetzwerke sein, die ein Verlag wahrscheinlich in Anspruch nehmen müsste. Durch die digitale Distribution lassen sich auch die Remittendenquoten auf null absenken, denn die digitale Verbreitung ist bedarfs- bzw. anfrageorientiert. Nicht zuletzt wird aus den genannten Kosteneinsparungen, die sich durch die digitale Verbreitung der Zeitschrift erzielen lassen, auch die Möglichkeit resultieren, eine Preissenkung des Copypreises auf einen „Digi-Preis“ vorzunehmen, wodurch eine Anreizwirkung auf potenzielle Kunden ausgeht. Denn durch den Aktionsparameter Preis kann im Zuge einer Preissenkung eine (zusätzliche) Nachfrage generiert werden, wobei nicht notwendig daraus folgen muss, dass bei jeder vorgenommenen Preissenkung auch die Preiselastizität abnehmen muss.48 Ebenso muss erwartet werden, dass die Zeitschrift in elektronischem Gewand nun auch andere und vor allem jüngere Nutzergruppen anspricht.49 Dies wäre wieder in Verbindung mit einem komplementären Interesse der Werbungtreibenden an dieser Zielgruppe und dem modernisierten Medium Zeitschrift zu sehen. Eine positive Folge wären mögliche Zugewinne bei der Auflage und der Reichweite, wodurch eine positive digitale AuflagenAnzeigen-Spirale induziert werden könnte. 48 49

Vgl. Heuss (1965), S. 63. Vgl. van Eimeren u. Ridder (2005).

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Mike Friedrichsen und Astrid Kurad

Durch die digitale Übertragung ist es auch denkbar, kurze Videosequenzen oder animierte Flash-Grafiken zu bestimmten Artikeln zu liefern, die die Zeitschrift aus ihrer Eindimensionalität reißen und einen Mehrwert für den Nutzer darstellen können. Das digitale Trägermedium muss nicht nur räumliche, sondern auch sachliche Mobilität ermöglichen, indem der Leser durch die Zeitschrift navigieren kann, sozusagen eine Form des digitalen Umblätterns. Durch eine Speicherkarte in dem Trägermedium bleibt zudem auch die zeitliche Mobilität erhalten, so dass der Leser bei Bedarf auf die Inhalte zurückgreifen kann. Es ist zudem denkbar, dass sich auch die psychologische Komponente beim digitalen Zeitschriftenlesen verändert und weg vom schlechten Gewissen, nicht alles lesen zu können, zu einem Gefühl, nicht alles lesen zu müssen, führt, indem sich die Zeitschrift durch die stetige Aktualisierung des Anspruches, alles lesen zu können, förmlich enthebt. Zusammenfassend kann somit konstituiert werden, dass die Verlage der heutigen Zeit darum bemüht sein sollten, sich diese neue zukünftige Technologie durch strategische Partnerschaften oder andere Kooperationsformen zunutze zu machen und zusammen mit den Entwicklern des digitalen Trägermediums an seiner Ausarbeitung zu arbeiten, um letztlich ein nicht nur marktfähiges, sondern auch nützliches Produkt zu erhalten. Mit der Innovation eines neuen Trägermediums für die Zeitschrift ließen sich vielleicht auch die angesprochenen Probleme der Zeitschrift (Auflagenrückgänge, Reichweitenverluste, Stagnation im Anzeigenmarkt etc.) abmildern oder gar lösen. Die Risiken eines digitalen Trägermediums können zunächst in der Frage der Akzeptanz bei den Lesern gesehen werden, aber auch bei möglicherweise skeptischen Anzeigenkunden. Technische Pannen bei der Übertragung könnten sich ebenfalls mindernd auf den Kundennutzen und somit dessen Einstellung dem Medium gegenüber auswirken. Zudem liegt auch in dem technischen Medium selbst eine Quelle, die sich negativ auf die Leistungsfähigkeit der Symbiose aus Zeitschrift und Elektronik auswirken könnte. Das Papier wird unlesbar bei bestimmten Umwelteinflüssen, ist aber niemals per se einfach defekt. Jedoch stehen die Chancen höher, aus dem Potenzial der Innovation, das in einem digitalen Trägermedium liegt, einen Nutzen für Verlag und Kunden zu generieren, als durch nicht genutzte Chancen zu scheitern. Abbildung 4 stellt den aus der Innovation des Trägermediums resultierenden Prozess vereinfacht und zusammenfassend dar.

Universelle Medienformate – Paradigmenwechsel im Zeitschriftenmarkt

Innovation: digitales Trägermedium

Kostenverminderung für den Verlag

Neue Darstellungsmöglichkeiten, Rückkanalfähigkeit, Aktualisierungsoption

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Druckinfrastruktur wird unnötig; Kosten für Farbe, Papier, Maschinen, Personal fallen weg

Alte Vertriebsinfrastruktur wird unnötig, kaum Marktintermediäre mehr bei digitaler Distribution

Chancen:

Überwindung der Aktualitätskluft zu den elektronischen Medien

Neupositionierung im intermediären Wettbewerb

Neue Nutzergruppen ansprechen, auch die jüngeren Menschen

Zugewinne an „Auflage“ und Reichweite

Dadurch Anreize für Anzeigenkunden schaffen

Belebung des Anzeigenmarktes

Möglichkeit, den Prozess von sinkenden Auflagen sowie Reichweiten zu stoppen und mit neuen Impulsen zu aktivieren

Sicherung der Erlösquellen

Grenzkosten verlaufen bei digitaler Distribution gegen null

Abb. 4. Innovationspotenzial eines digitalen Trägermediums

7

Fazit

Vor dem Hintergrund der obigen Ausführungen wird deutlich, dass Technologie als zunehmend verschärfender Wettbewerbsfaktor die unternehmerischen Entscheidungen der Zeitschriftenverlage prägen wird. Es werden sich Veränderungen des Mediennutzungsverhaltens manifestieren, und die klassischen Werbemärkte, wie man sie heute kennt, wird es im Medienalltag der Zukunft nur noch in vollkommen veränderter Struktur geben. Neue Werbeformen, die den Zugang zur Aufmerksamkeit der Rezipienten möglichst effizient und ohne Streuverluste finden, werden immer wichtiger werden. Allerdings müssen in der digitalen Zukunft nicht nur die Bedürfnisse der Zeitschriftenverlage diskutiert werden, sondern vor allem auch der Schutz des Menschen, der in dieser veränderten Zukunft leben wird.

366

Mike Friedrichsen und Astrid Kurad

Daher sind mit den neuen Informationssystemen und Techniken nicht nur Ansprüche an Medienunternehmen verbunden, sondern vornehmlich auch Anforderungen an die politischen und rechtlichen Rahmenbedingungen.50

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Vgl. Behrendt, Hilty u. Erdmann (2003), S. 19.

Universelle Medienformate – Paradigmenwechsel im Zeitschriftenmarkt

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Vierter Teil

Perspektiven über die klassische Publikumszeitschrift hinaus

Zeitschriftenmarken im Fernsehen – mediale Kooperationen als Herausforderung an die Markenführung

Simon Berkler und Melanie Krause1

1

Totgesagte leben länger

Bereits am 8. Mai 1988, vier Jahre nach Sendestart des ersten privaten Fernsehsenders in Deutschland, betrat mit Spiegel TV das erste Fernsehformat einer Zeitschrift auf RTL die Medienbühne. Seit diesem Startschuss haben sich eine ganze Reihe von Zeitschriftentiteln am Medium Fernsehen probiert. Dabei erwies sich das beliebte Anhängsel „TV“ an einen Zeitschriftentitel keineswegs als Erfolgsgarant: Längst nicht jeder Sprung von Print nach „TV“ gelang so nachhaltig erfolgreich wie der des Pioniers, der bis heute und mittlerweile mit einem sehr diversifizierten Angebot vom Klassiker Spiegel TV über die Spiegel TV Reportage bis hin zum eigenen Digitalsender Spiegel TV XXP in verschiedenen Sendern vertreten ist. Bunte TV, nach mehreren Sendeplatzverschiebungen im Dezember 2003 nach nur einmonatiger Laufzeit eingestellt, sei exemplarisch für das Nichtfunktionieren dieser Diversifikationsstrategie bezogen auf einen überaus etablierten, reichweitenstarken Titel genannt. Somit ist die Anzahl von heute im Fernsehen bestehenden Zeitschriftenformaten überschaubar, und trotzdem versuchen immer wieder auch neue Zeitschriften, wie zuletzt GQ, den Medientransfer einzugehen und sich im Fernsehen zu engagieren. Unterschiedliche Zeitschriften haben dabei ganz verschieden intensive Formen der Kooperation mit Fernsehsendern er1

Unter Mitarbeit von Beatrice Kemner.

372

Simon Berkler und Melanie Krause

probt. Der folgende Unterabschnitt systematisiert die existierenden Kooperationsformen zwischen Zeitschrift und Fernsehsender und beleuchtet die perspektivische Relevanz dieser Kooperationen in der deutschen Fernsehlandschaft. 1.1

Formen der Medienkooperation zwischen Zeitschrift und Fernsehen

Uns erscheint das Ausmaß der (inhaltlichen) Beteiligung einer Zeitschrift an einem Fernsehformat als geeignetes Kriterium für eine Systematisierung denkbarer Kooperationsformen. Die folgende Klassifikation erhebt dabei keinen Anspruch auf absolute Trennschärfe, weil die Realität der Sendekonzepte auch zahlreiche Mischformen hervorgebracht hat bzw. sich Konzepte vereinzelt auch aus einer bestimmten Form der Zusammenarbeit in eine andere Form (weiter-) entwickeln. Sponsoring

Eine Zeitschrift tritt nur als Sponsor einer Sendung auf, ein redaktioneller Einfluss ist nicht erkennbar. Sie „präsentiert“ die Sendung, wie es andere (Konsumgüter-) Marken auch tun. Als Beispiel für diese Kooperationsform ist das Sponsoring der Sendung Einsatz in vier Wänden auf RTL durch die Wohnzeitschrift Living at Home zu nennen. Diese Form der Kooperation zwischen Zeitschrift und Fernsehsender dürfte auch zukünftig für Zeitschriften relevant sein, weil diese so, wie im Fall Living at Home, eine breite Zielgruppe mit einem spezifischen Themeninteresse erreichen können. Allerdings kann bei einem Sponsoring in Reinform ohne jeglichen inhaltlichen Einfluss nur eingeschränkt von einer echten Medienkooperation gesprochen werden. Partnerschaftliche Beteiligung

Hier tritt die Zeitschrift nicht mit ihrem Namen im Fernsehformat auf, es sind jedoch inhaltliche Parallelen zu beobachten: Konzepte werden zum Teil aufeinander abgestimmt und gemeinsam entwickelt. Ein Beispiel ist die Kooperation des Senders VOX mit dem Verlagshaus Gruner + Jahr. Seit der zweiten Staffel der Kochsendung Schmeckt nicht, gibt’s nicht tritt die Zeitschrift Essen & Trinken – Für jeden Tag neben anderen Unternehmen als Partner auf, veröffentlicht Rezepte zum Nachkochen, und Koch Tim Mälzer verwendet Tipps und Ideen der Experten der Zeitschrift. Auch diese Kooperationsform scheint Potenzial zu haben. Aufgrund des Erfolges intensivierten die Partner Ende 2005 die Zusammenarbeit: Der Launch der

Zeitschriftenmarken im Fernsehen

373

neuen Zeitschrift Viva erfolgte parallel zur Einführung des neuen VOXKochmagazins Feuer und Flamme. Zeitschrift und Kochformat wurden in enger Zusammenarbeit entwickelt und sind inhaltlich verzahnt.2 Eigene Sendung der Zeitschrift

Bei dieser Kooperationsform steht die Zeitschrift im Vordergrund: Die Sendung trägt ihren Titel, und das Konzept orientiert sich an Inhalten und Zielgruppen der Vorlage. Beispiele hierfür sind Stern TV, Fit for Fun TV etc. Diese Art der Kooperation kann stark ausdifferenzierte Formen hervorbringen, wie das Beispiel Focus zeigt: Neben Focus TV auf ProSieben wird Focus TV exklusiv auf RTL II, Focus TV spezial auf VOX, sowie Focus TV auf dem Platz für „unabhängige Drittsendeanbieter“ auf SAT.1 ausgestrahlt. Nachdem vor allem die Privatsender in den Anfangszeiten des privaten Rundfunks derartige, vor allem informationsorientierte Formate nutzten, hat mit der sukzessiven Ausweitung des Senderspektrums auf rund 30 frei empfangbare Kanäle ein Sättigungseffekt eingesetzt. Der Mehrwert gegenüber reinen Fernsehformaten ist häufig nicht mehr erkennbar, die Idee nicht innovativ. Es eigneten sich bisher auch nur Titel für den Einsatz im reichenweitenstarken Vollprogramm, die eine entsprechend breite Zielgruppe ansprechen, selbst reichweitenstark sind und eine hohe Bekanntheit besitzen. Die zunehmende Digitalisierung des Fernsehens ermöglicht nun ein ausdifferenziertes Nischenangebot mit zwei möglichen Konzepten für Zeitschriften: Auf der einen Seite bieten digitale Spartenprogramme auch kleineren und stärker specialinterestgetriebenen Zeitschriften eine neue Plattform und Erfolgspotenziale, weil von den Sendern hochwertiger und zu Positionierung und Zielgruppe passender Content benötigt wird. Auf der anderen Seite besteht die Chance für Zeitschriften, sich als eigener Fernsehsender zu profilieren. Eigener Sender der Zeitschrift

Die Etablierung eines Vollprogramms ist für eine Zeitschrift kaum möglich und auch als Spartenprogramm in der klassischen Fernsehsenderlandschaft schwierig. Die Ausweitung des Fernsehengagements einer Zeitschrift auf den Betrieb eines eigenen Fernsehsenders verspricht jedoch im Hinblick auf die zunehmende Digitalisierung des Fernsehens und den schnellen Zuwachs der verfügbaren Sender Potenzial. 2

Gruner + Jahr, Pressemitteilung (2005).

374

Simon Berkler und Melanie Krause

Einige Vorreiter im Zeitschriftenmarkt haben dieses Potenzial bereits genutzt: Geeignet scheinen bisher vor allem große, reichweitenstarke General Interest-Titel, die unter ihrem Dach einen eigenen themenverwandten Kanal anbieten. Beispiele sind die 2005 eingeführten digitalen Fernsehsender Spiegel TV XXP Digital und Focus Gesundheit, über den der Focus seine Themenkompetenz für den Wachstumsmarkt Gesundheit ins Schaufenster stellt. Vorstellbar sind aber auch specialinterestorientiertere Angebote, beispielsweise wäre neben der Sendung Mare TV auch ein eigener Fernsehsender der Zeitschrift rund um das Thema Meer denkbar. 1.2

Schwerpunkt und Struktur dieses Beitrages

Bezogen auf die vier genannten Kooperationsformen konzentrieren wir uns auf die eigene Sendung der Zeitschrift, weil uns diese im Hinblick auf das Kooperationsausmaß als besonders interessant erscheint. Unsere Überlegungen haben prinzipiell aber auch Gültigkeit für Formen der partnerschaftlichen Zusammenarbeit und für eigenständige Digitalsender einer Zeitschrift. Tabelle 1 gibt einen Überblick über bestehende und teilweise auch wieder eingestellte Zeitschriften-Sendungen im deutschen Fernsehen. Tabelle 1. Zeitschriften-Sendungen im deutschen Fernsehen Format Stern TV Stern TV, die Reportage Spiegel TV Spiegel TV, Reportage Spiegel TV, Spezial Spiegel TV, Interview Focus TV Super Illu TV Fit for fun TV Auto Motor Sport TV Mare TV Cinema TV GEO TV - 360Grad Bravo TV GQ TV Bunte TV Brigitte TV

Sender RTL VOX RTL SAT1 VOX VOX Pro7 MDR VOX VOX 3Sat, ARD, ZDF Tele5 arte, WDR, MDR, NDR Pro7 ZDF RTL2 Pro7 ARD ARD

Sendestart 04/1990 10/2001 05/1988 03/1990 01/1998 01/1998 03/1995 10/1998 01/2000 10/1995 02/2001 09/2005 01/1999 11/2005 02/2003 05/1993 07/2005 11/2003 03/1998

Eingestellt

12/2004 12/2002 08/2005 12/2003 11/1998

Zeitschriftenmarken im Fernsehen

375

Systematische Regeln, nach denen diese Fernsehformate gelingen bzw. misslingen, lassen sich auf den ersten Blick nicht erkennen. Welche Kriterien sind erfolgskritisch? Welche „goldenen Regeln“ können befolgt werden, um eine Zeitschrift im Fernsehen zum Erfolg zu führen? Sicher ist nur, dass der Erfolg einer Zeitschriften-Sendung nicht monokausal prognostiziert werden kann. Sendeumfeld, Zielgruppen, Themen, gesellschaftliche Trends und die Güte des redaktionellen Konzepts seien nur als Auswahl aus vielen möglichen Faktoren genannt, die theoretisch über Wohl und Wehe eines Zeitschriftenauftrittes im Fernsehen entscheiden können. Der vorliegende Beitrag versucht vor diesem Hintergrund, das Phänomen Zeitschriften (-Sendungen) im Fernsehen zu systematisieren und entsprechende Erfolgsfaktoren zu bestimmen. Wir nehmen dazu eine markenstrategische Perspektive ein, in der Regeln aus der klassischen Markenführung auf diese spezielle Form der Medienkooperation übertragen werden. Dazu beschäftigen wir uns in Abschnitt 2 mit der Frage, inwieweit Zeitschriften und Fernsehsender überhaupt als Marken aufgefasst werden können bzw. welche Besonderheiten im Vergleich zu herkömmlichen (Konsumgüter-) Marken beachtet werden müssen. In Abschnitt 3 gehen wir auf die jeweiligen Vorteile für Zeitschriften- und Sendermarken aus der Medienkooperation ein und beantworten damit die Frage, warum die beiden Mediengattungen überhaupt ein Interesse daran haben zusammenzuarbeiten. Konkrete Erfolgsfaktoren für diese Form der Markenkooperation stellen wir in Abschnitt 4 zusammen. Unser Beitrag schließt mit einem Ausblick auf die Zukunft von Zeitschriftenmarken im (digitalen) Fernsehen.

2

Medien als Marken

Die Anwendung des Markenkonzepts auf Medien ist ein Sujet der Medienökonomie: Ansätze und Erkenntnisse der Wirtschaftswissenschaften werden auf Medien übertragen.3 Hierbei handelt es sich zwangsläufig oft um eine analoge Anwendung wirtschaftswissenschaftlicher Theorien, weil Medien nicht ohne weiteres mit gewöhnlichen Wirtschaftsgütern gleich gesetzt werden können.4 Trotz aller Unterschiede zwischen Medien und Konsumgütern haben starke und klar positionierte Marken im Mediensektor – genau wie ihre Verwandten auf dem Konsumgütermarkt – das Potenzial, ökonomisch relevante Vorteile zu kapitalisieren: Die Rezipienten lernen, was sie von ei3 4

Vgl. Heinrich (1999), S. 593 sowie Kiefer (2001), S. 39 ff. Siegert (2000), S. 107.

376

Simon Berkler und Melanie Krause

nem bestimmten Medieninhalt erwarten können5, die Marke erleichtert ihnen die Selektionsentscheidung und führt somit zu einer erhöhten Bindung an das Medium. Festzuhalten ist aber auch: Nicht jedes mediale Angebot kann ohne weiteres als Marke bezeichnet werden! Zur Beantwortung der Frage, ob und unter welchen Bedingungen Medien als Marken zu bezeichnen sind, können Ansätze der Marketingtheorie und der Markenpolitik herangezogen werden. In der Sichtweise des wirkungsbezogenen Paradigmas stellt all das eine Marke dar, was die Konsumenten als solche wahrnehmen.6 Zur Konkretisierung und Ausfüllung dieser Grundannahme kann das funktionenorientierte Markenverständnis herangezogen werden: Medien sind danach dann als Marken zu bezeichnen, wenn sie in der Wahrnehmung der Rezipienten spezifische Funktionen erfüllen. Zu den relevanten Funktionen für mediale Angebote zählen insbesondere7: x Wiedererkennungsfunktion: Das mediale Angebot wird vom Konsumenten anhand konkreter Elemente identifiziert und ist für ihn mit bestimmten Inhalten und Assoziationen verknüpft.8 x Differenzierungsfunktion: Die Markierung erlaubt es dem Rezipienten, ein konkretes mediales Angebot von ähnlichen Angeboten der gleichen Kategorie zu unterscheiden.9 x Komplexitäts- und Risikoreduktionsfunktion: Durch die Markierung des medialen Angebotes wird der Such- und Informationsaufwand des Rezipienten bei der Kauf- bzw. Selektionsentscheidung reduziert, das wahrgenommene Entscheidungsrisiko vermindert und infolgedessen der Entscheidungsprozess vereinfacht.10 x Qualitätssicherungsfunktion: Die Marke vermittelt dem Rezipienten eine Qualitätsvermutung und somit Sicherheit.11 x Vertrauensfunktion: Der Marke wird durch die emotionale Beziehung des Rezipienten Vertrauen entgegengebracht, das die Überprüfung von

5

6 7 8 9 10 11

Gerade für Medien als Vertrauensgüter ist die Kompensation des rezipientenseitigen Informationsmangels über die Qualität des medialen Angebotes von hoher Wichtigkeit. Vgl. hierzu z. B. Heinrich (1994), S. 101 ff., Siegert (2000), S. 109 sowie Kiefer (2001), S. 334 ff. Vgl. Berekoven (1978), S. 43. Vgl. hierzu im Überblick Berkler (2003), S. 34 ff. Vgl. Bruhn (1994b), S. 23. Kotler u. Bliemel (1999), S. 473. Meffert et al. (2002), S. 9 sowie Koppelmann (1994), S. 225. Meffert et al. (2002), S. 10.

Zeitschriftenmarken im Fernsehen

377

Produkteigenschaften, die einer Überprüfung durch die Konsumenten nicht zugänglich sind, ersetzt.12 x Identifikations- und Prestigefunktion: Der Rezipient vergleicht Markenimage und Selbstkonzept, definiert sein Eigenbild über die Marke und setzt sie als Ausdruck seiner Persönlichkeit gegenüber seinem sozialen Umfeld ein.13 x Präferenzbildungsfunktion: Die Marke erleichtert den Präferenzbildungsprozess zwischen verschiedenen Marken und Produkten, an dessen Ende ein Set von für den Rezipienten relevanten Objekten („relevant set“) steht.14 x Loyalitätsfunktion: Durch die Markierung werden Markentreue und Rezipientenbindung gestärkt.15 Ob und wie stark die einzelnen Markenfunktionen beim Rezipienten erfüllt sind, kann nur im Einzelfall und auf der Grundlage empirischer Informationen entschieden werden. Es wird jedoch deutlich: Das Management von Medien als Marken erfordert mehr als nur den guten Willen. Echte Medienmarken können nur dann ihre Kraft und ihre Vorteile entfalten, wenn sie systematisch und kompromisslos rezipientenorientiert als solche geführt werden. Die weiteren Ausführungen zum Engagement von Zeitschriften im Fernsehen basieren auf dem in diesem Abschnitt aufgezeigten Verständnis von Medien als Marken. Medien bzw. mediale Angebote können als Marken bezeichnet werden, wenn sie die Spielregeln der Markenpolitik beherzigen und sich an der Erfüllung der genannten Markenfunktionen messen lassen. Hat man sich auf dieses Spiel einmal eingelassen, können die Ansätze der Markenführung hervorragend zum Management des Engagements von Zeitschriften im Fernsehen herangezogen werden.

3

Zeitschriften im Fernsehen als Markenkooperation – Ziele und Vorteile

Vor dem Hintergrund dieser grundsätzlichen Ausführungen zum Markencharakter von Medienangeboten können Sendungen von Zeitschriften im Fernsehen als Kooperation zweier Marken aufgefasst werden. Neben handfesten ökonomischen Interessen, wie z. B. Zielgruppenausweitung und 12 13 14 15

Meffert et al. (2002), S. 9. Meffert et al. (2002), S. 11. Gierl (1995), S. 35 f. Vgl. Gierl (1995), S. 274.

378

Simon Berkler und Melanie Krause

Kostenteilung, rücken damit auch „weichere“ Faktoren wie z. B. Positionierungsoptionen, Imagegewinn oder auch der Brand Value in den Vordergrund. Bei der Darstellung der Ziele einer solchen Markenkooperation konzentrieren wir uns auf die angestrebten Vorteile aus Sicht der Publikumszeitschrift. Auf analog für den Fernsehsender geltende Zieldimensionen wird nicht gesondert eingegangen, nur exklusive Vorteile aus Sicht des Fernsehsenders werden separat aufgeführt. 3.1 Ziele und Chancen der Zeitschrift Neben den klassischen Line Extensions innerhalb der gleichen Mediengattung bieten Markentransfers wie die hier behandelten Fernsehformate von Zeitschriften besondere Chancen zur Erreichung bestimmter Ziele.16 Zeitschriftenverlage agieren als Wirtschaftsunternehmen primär nach ökonomischen Maximen, die auf Erlös- und Gewinnsteigerung sowie Unternehmenserhalt ausgerichtet sind und die Primärziele darstellen, zu deren Erreichung andere Teilziele, wie beispielsweise image- und markenrelevante Zielformulierungen herangezogen werden. Mit anderen Worten: Die ökonomischen Ziele definieren das Was, während die markenbezogenen Ziele Antworten auf das Wie geben. In diesem Sinne können die markenbezogenen Ziele als Maßstab bei der konkreten Ausgestaltung eines Zeitschriften-Engagements im Fernsehen herangezogen werden, mit dem Ziel, die Akzeptanz bei den Rezipienten sicherzustellen. Ökonomische Ziele

x Zielgruppenerschließung und -ausdehnung: Die Medienkooperation ermöglicht es, die Reichweite des Print-Produktes auszuweiten und auch neue Zielgruppen zu erschließen: Das Fernsehformat erhöht die Chance, mit der Zeitschriftenmarke in Kontakt zu kommen. Dies kann beispielsweise dazu führen, dass bei der Reichweitenermittlung des PrintTitels mehr Personen angeben, sie hätten die Zeitschrift gelesen, obwohl sie unter Umständen nur im Fernsehen mit der Marke in Berührung gekommen sind. Die Reichweitenausdehnung ist vor allem in Bezug auf Werbeeinnahmen relevant, die regelmäßig mit zunehmender Reichweite steigen. Ziel ist hier die Steigerung der „Leser pro Ausgabe“. Weiterhin besteht die Chance, Auflage und Reichweite der Zeitschrift durch tatsächlich hinzugewonnene Käufer oder Abonnenten in bisheri16

Hörnig (2004), S. 187.

Zeitschriftenmarken im Fernsehen

379

gen oder neuen Zielgruppen zu erhöhen. Stärker als die Fernsehpräsenz der Zeitschrift in Form eines eigenen Formates trägt hierzu nach Ansicht von Experten allerdings die klassische Zeitschriften-Bewerbung in Form von Werbespots etc. bei.17 Neben der bestehenden soll die Fernsehkooperation auch neue Zielgruppen ansprechen, die zum einen aufgrund einer stärker ausgeprägten Medienaffinität zu audiovisuellen Medien, zum anderen aber auch durch die andere Aufbereitung der Zeitschrift im Fernsehen interessiert werden.18 x Erschließung neuer Erlöspotenziale: Zusätzliche direkte Erlöse werden beim Markentransfer einer Zeitschrift ins Fernsehen indirekt über Lizenzgebühren erwirtschaftet, die eine neue Erlösquelle darstellen, welche weitgehend unabhängig vom Kernmarkt der Zeitschrift auftritt.19 Da die gegenseitigen ökonomischen Gegenwerte für die Markenverwendung, Einräumung von Sendeplatz etc. jedoch relativ intransparent und je nach Kooperation unterschiedlich ausgestaltet sind, können die hieraus resultierenden ökonomischen Vorteile nicht eindeutig bestimmt werden. x Synergieeffekte auf dem Werbe- und Rezipientenmarkt: Auf beiden Seiten kann die Kooperation zur Gewinnung neuer Werbekunden führen, die ihr Produkt in beiden Medien im redaktionellen Umfeld der Zeitschriftenmarke präsentieren möchten. Eventuell kann auch ein attraktives Kombinationsangebot in beiden Medien Werbekunden locken. In der Rezipientenansprache lassen sich über Cross-Promotion und gegenseitige Bewerbung Media-Synergieeffekte realisieren, die mit der Bekanntheits- und Reichweitensteigerung zusammenhängen. Es ist auch möglich, in weiteren Medien wie beispielsweise dem Internet gemeinsam aufzutreten. Durch den Medienwechsel von der Zeitschrift ins Fernsehen können schließlich neue Produkte in die Wertschöpfungskette integriert werden, die zum reinen Print-Produkt wenig Verbindung haben, wie beispielsweise eine DVD-Edition gesammelter Spiegel TVReportagen zu bestimmten Themen. Markenbezogene Ziele

Die rein markenbezogenen Ziele lassen sich nicht vollständig von den ökonomischen Zielen trennen: Im Idealfall geht mit einer systematischen 17

18 19

Vgl. Brunner (2005), S. 25; Klaus-Peter Lorenz ist Geschäftsführer der Hubert Burda Media. Siehe hierzu auch Abschnitt 4. Hörnig (2004), S. 187.

380

Simon Berkler und Melanie Krause

Führung der Zeitschrift im Fernsehen als Marke der ökonomische Erfolg einher. Wie oben bereits angedeutet, helfen jedoch die markenbezogenen Zieldimensionen bei der inhaltlichen Ausfüllung der ökonomischen Ziele. Was muss bei der konkreten Ausgestaltung des Fernsehformates beachtet werden? Welche Inhalte kann ich glaubwürdig unter dem bestehenden Markendach anbieten? Wie sind die Bedürfnisse unserer (eventuell auch neuen bzw. angestrebten) Zielgruppen gelagert? Was ist ihnen nicht zumutbar? In diesem Sinne kann die Marke als Leitlinie und erfolgskritisches Moment bei der Planung eines Zeitschriften-Fernsehformates bezeichnet werden.20 x Image- und Positionierungseffekte: Die Präsentation der Zeitschriftenmarke im Fernsehen ermöglicht den Transport der Kernwerte der Marke sowie der Inhalte und Aufbereitung des Produktes. Der Markentransfer hat das Ziel, die Bekanntheit der Marke zu steigern, ihre Markenpersönlichkeit zu beleben und zu aktualisieren.21 Auf diese Weise kann das Image der Marke an die (neuen) Zielgruppen vermittelt und auch ein bestehendes Bild korrigiert werden. Dies kann einerseits bei unscharfer oder unerwünschter Positionierung der Zeitschrift beim Rezipienten erfolgen, andererseits um einen bewussten Relaunch zu kommunizieren, beispielsweise eine Verjüngung in den Inhalten. Das Fernsehformat kann bestimmte Assoziationen und Einstellungen gegenüber der Marke wecken und aufbauen sowie zum Eindruck von Modernität und Fortschritt beitragen. Der Imagetransfer läuft dabei beidseitig, beispielsweise kann der Einsatz einer positiv besetzten, hochwertigen und glaubwürdigen Zeitschriftenmarke wie Spiegel im Fernsehen auch das Image des Fernsehsenders positiv beeinflussen, indem dieser sich die Absender- und Themenkompetenz der Zeitschrift zunutze macht. Imagetransfer oder Imageveränderung als Ziele sind jedoch generell nur dann sinnvoll zu erreichen, wenn das Fernsehformat wirklich eine markenkonsequente Verlängerung des Print-Produktes darstellt, die auf dem gleichen Image beruht. Sollen beide Formate unterschiedlich besetzt sein, kann dies zu Irritationen beim Zuschauer und Leser führen. x Rezipientenbindung: Neben der Erschließung neuer Zielgruppen und der Reichweitenausdehnung können über die Umsetzung einer bekannten Zeitschriftenmarke im Fernsehen bestehende Leser stärker an die Marke gebunden werden, weil das „TV“-Produkt andere Bedürfnisse der Rezipienten erfüllt und in neuen Konsumsituationen eingesetzt werden kann. Nutzt der Rezipient beide Medien und sieht seine Erwartungen erfüllt, 20 21

Siehe hierzu auch Abschnitt 4. Stempels (2004), S. 123.

Zeitschriftenmarken im Fernsehen

381

so kann von einer sich gegenseitig verstärkenden Markenloyalität ausgegangen werden; insgesamt wird der Rezipient in der Folge auch offener für weitere Markentransfers der gleichen Dachmarke sein. Leser mit starker Blattbindung bauen als Zuschauer über den Vertrauensvorsprung der Zeitschriftenmarke schnell eine gedankliche Verbindung zwischen Mutter- und Transferprodukt auf22, es treten weniger Vorbehalte und Ressentiments im Sinne von Marktzutrittsbarrieren seitens der Rezipienten auf. 3.2

Spezifische Ziele und Chancen des Fernsehsenders

Die Ziele und Chancen des Fernsehsenders decken sich in weiten Teilen mit denen der Zeitschrift, sie weisen jedoch daneben zwei weitere Aspekte auf: x Qualitativ hochwertige Werbeumfelder: Durch den oben beschriebenen Imagetransfer – beispielsweise bei gegebener Glaubwürdigkeit und vor allem bei der Erschließung neuer einkommenskräftiger Zielgruppen – wird das Umfeld für Werbungtreibende interessanter, es lassen sich eventuell höhere Werbeeinnahmen realisieren. x Content: Ein weiterer Vorteil für den Fernsehsender besteht in der einfachen Generierung hochwertigen Inhaltes, da Themengebiete aus der Zeitschrift aufgegriffen werden und Know-how und Expertise im Verlag bzw. der Zeitschriften-Redaktion vorhanden sind. Ob dieser Vorteil realisiert wird, hängt natürlich von den individuellen Vereinbarungen zur inhaltlichen Ausgestaltung und Produktion des Fernsehformates ab. Nicht unbedingt muss die Redaktion der Zeitschrift für die Sendung verantwortlich zeichnen.

4

Erfolgsfaktoren von Medienmarkenkooperationen

Es wird deutlich, dass zur Erreichung der Ziele beider Kooperationspartner unterschiedlichste Ebenen der Zusammenarbeit berührt sind. Die Ausweitung einer Zeitschriftenmarke ins Fernsehen birgt in ihrer Komplexität dabei nicht nur Chancen, sondern auch Risiken. Um alle Vorteile dieses Diversifikationsschrittes voll auszunutzen und mögliche folgenschwere Fehler zu vermeiden, lässt sich aus der klassischen Markenführung ein systematischer Zugang zu Auswahl, Planung und Umsetzung von Zeitschrif22

Hörnig (2004), S. 189.

382

Simon Berkler und Melanie Krause

ten-Sendungen ableiten. Dieser Zugang stellt kein Patentrezept für das Funktionieren einer Medienmarkenkooperation dar, hilft jedoch dabei, Risiken zu minimieren und Chancen optimal auszuschöpfen. Dieser Abschnitt widmet sich der strategischen Planung von Publikumszeitschriftenmarken im Fernsehen und beantwortet damit die Frage: „Wie können Medienmarkenkooperationen zum Erfolg geführt werden?“ Zur Übertragung von Markenführungsansätzen auf ZeitschriftenAktivitäten im Fernsehen ist es zunächst notwendig, dass die entsprechende Zeitschriftenmarke als echte Marke angesehen werden kann, d. h. dass sie aus der Rezipientenperspektive die oben aufgeführten Markenfunktionen erfüllt. Eine Zeitschrift, die den Sprung in das audiovisuelle Medium versucht, sollte zudem Stärke und Profil besitzen, d. h. sie sollte bekannt und einzigartig (im Sinne von differenzierter Positionierung am Markt) sein sowie einen konkreten und relevanten Kompetenzschwerpunkt z. B. für eine bestimmte Zielgruppe oder ein spezifisches Thema haben.23 Das zentrale erfolgskritische Merkmal für eine Zeitschriften-Sendung ist sodann (neben den wirtschaftlichen Vereinbarungen zwischen Verlag und Fernsehsender) der so genannte Brand Fit, also die Markenpassung der Partner. Dabei kommt es auf eine Passung in zweierlei Hinsicht an. Zum einen muss auf übergeordneter Ebene die Passung zwischen Zeitschriften- und Sendermarke berücksichtig werden. Anders als die Bezeichnung Brand Fit möglicherweise nahe legt, besteht das Fitting in der optimalen Mischung aus Gemeinsamkeiten und Unterschieden der beteiligten Marken. Die Gemeinsamkeiten stellen dabei die Ausgangsbasis für die Kooperation dar, sie sichern die Glaubwürdigkeit der Zusammenarbeit. Die Unterschiede zwischen den Partnern bilden den eigentlichen Anlass der Zusammenarbeit – ohne Unterschiede können keine Vorteile realisiert werden. Zum anderen muss die markenadäquate Übersetzung der Zeitschriftenmarke in ein Sendungskonzept und konkrete Umsetzungsparameter sichergestellt werden. Auch hier geht es im Kern darum, Wiedererkennungswert, Glaubwürdigkeit und Einheitlichkeit der Muttermarke zu sichern. Abweichungen zwischen Print- und Fernsehauftritt der Marke können zwar strategisch für die Entwicklung der Marke genutzt werden, müssen jedoch die grundlegenden Anforderungen konsistenter Markenführung berücksichtigen.

23

Hörnig (2004), S. 196 ff.

Zeitschriftenmarken im Fernsehen

4.1

383

Strategische Anforderungen an Zeitschriftenmarken im Fernsehen

Der Brand Fit ist somit ein variables, auf Basis strategischer Überlegungen zu bestimmendes Gleichgewicht aus Unterschieden und Gemeinsamkeiten. Um dieses Gleichgewicht ideal zu gestalten, gilt es, eine Reihe allgemeingültiger Anforderungen an Markentransfers und -kooperationen zu erfüllen. Im Folgenden versuchen wir eine Systematisierung dieser Anforderungen. Prinzipiell haben diese sowohl für die Passung zwischen Fernsehund Sendermarke als auch für die adäquate Übersetzung der Zeitschriftenmarke Gültigkeit. Ist der Fernsehauftritt der Zeitschriftenmarke glaubwürdig?

Diese Anforderung zielt vor allem auf die Gemeinsamkeiten von Zeitschrift und Fernsehsender sowie von Zeitschrift und Zeitschriften-Sendung ab. Für Rezipienten sollten so viele Gemeinsamkeiten erkennbar sein, dass sie die Kooperation nicht als verwirrend oder künstlich empfinden. Möglicherweise erschien z. B. der Bravo-Zielgruppe die Kooperation zwischen der etablierten Jugendmarke und dem ZDF als wenig glaubwürdig und authentisch, was zum Misserfolg der Sendung beigetragen haben könnte. Ist der Fernsehauftritt der Zeitschriftenmarke konsistent?

Das Zeitschriften-Engagement im Fernsehen muss für die Rezipienten konsistent sein, d. h. eine stimmige und konsequente Fortsetzung der Marke bedeuten. Die Herstellung und Sicherung der Selbstähnlichkeit einer Marke ist eine zentrale Aufgabe der Markenführung von Medienprodukten.24 Dies ist zum einen wichtig, um den Leser/Zuschauer, der bereits ein Markenimage der Zeitschriftenmarke und bestimmte Erwartungen besitzt, nicht zu enttäuschen oder zu irritieren – was sich als Rückstrahlungseffekt auch negativ auf die Markenbindung zum Print-Produkt und sein Image auswirken könnte. Zum anderen ist es zur Stärkung der Marke entscheidend, einen stimmigen und einheitlichen Markenauftritt in allen Kanälen zu gewährleisten. Das redaktionelle Kompetenzniveau der Zeitschrift, also der „Muttermarke“, muss auch im neu geschaffenen Sendungskonzept, der so genannten Subbrand, gesichert sein und den Glaubwürdigkeits- und Qualitätsbonus rechtfertigen.25 Als Beispiel für eine konsistente Markendiversifikation kann Stern TV angesehen werden: Große Vielfalt in der Auswahl und große Emotionalität 24 25

Brandmeyer (2002), zitiert nach Stempels (2004), S. 122. Stempels (2004), S. 123.

384

Simon Berkler und Melanie Krause

in der Aufbereitung der Themen ergeben insgesamt einen konsistenten Auftritt der Marke Stern in den Kanälen Zeitschrift und Fernsehen. Ist der Fernsehauftritt der Zeitschriftenmarke differenzierend?

Neben Glaubwürdigkeit und Konsistenz ist es für ein gelungenes „TV“Angebot einer Zeitschrift weiterhin entscheidend, dass es ein ausreichendes Differenzierungspotenzial besitzt, das Konzept also nicht bereits von einer anderen Sendung besetzt wird. Denn Nachahmer haben es in der Regel schwer, sich gegen den etablierten Platzhirsch zu bewähren. Ist eine Marktlage gegeben, in der eine Zeitschriftenmarke gegen solch einen starken Wettbewerber als zweiter oder gar dritter Anbieter an den Markt tritt, muss deshalb sichergestellt werden, dass der Markt noch nicht gesättigt ist bzw. dass das Sendungskonzept einen USP, also ein relevantes Differenzierungsmerkmal, aufzuweisen hat. Ist der Fernsehauftritt der Zeitschriftenmarke relevant?

Zuletzt ist der Erfolg einer Zeitschriften-Sendung vom Marktbedarf und vom Publikumsinteresse abhängig. Die ausgewählten Themen müssen Relevanz für die anvisierte Zielgruppe besitzen, interessant sein und eine attraktive Botschaft vermitteln. Gesellschaftliche Themen sollten beachtet und Trends Raum gegeben werden. Idealerweise wird dazu das Gespür und das Know-how der Zeitschriften-Redaktion genutzt. 4.2

Konkrete Anwendung von Prüfkriterien

In der praktischen Planung eines Zeitschriften-Auftrittes im Fernsehen sollten drei zentrale Aspekte hinsichtlich der genannten Anforderungen kritisch geprüft werden: erstens Sender und Sendeplatz, zweitens die Zielgruppen sowie drittens das inhaltliche Konzept und dessen konkrete Umsetzung. Hinter diesen drei Aspekten verbergen sich naturgemäß unzählige weitere Detailaspekte, die wir im Rahmen dieses Beitrages jedoch nur streifen können. Sender und Sendeplatz

Die Passung des Fernsehformates zum originären Print-Produkt kann nicht unabhängig von der Plattform, dem Fernsehsender, betrachtet werden. Das „Fitting“ der jeweiligen Kooperationspartner muss dazu, wie bereits erläutert, kritisch im Hinblick auf die strategische Zielsetzung der Kooperation überprüft werden. Die Zeitschriftenmarke sollte glaubwürdig in die Pro-

Zeitschriftenmarken im Fernsehen

385

grammstruktur des Senders passen. Zudem sollten das Image und die Marktpositionierung der beiden Kooperationspartner im Vergleich zum Wettbewerb ähnlich sein. So dürfte es z. B. wenig Sinn machen, einen stark people- und unterhaltungsorientierten Titel wie Bunte oder Gala als Fernsehsendung innerhalb eines reinen Informationsumfeldes zu platzieren – außer natürlich, die strategische Zielsetzung besteht nicht in der Ausweitung von Zielgruppen, sondern (z. B. im Hinblick auf den Anzeigenmarkt) in der Ansprache spezifischer Zielgruppen. Neben dem Fernsehsender muss auch der Sendeplatz sorgfältig ausgewählt werden, weil durch Vererbungseffekte vorangegangener Sendungen die Zuschauerstruktur beeinflusst wird und sich ein „unpassendes“ Sendeumfeld außerdem negativ auf Wahrnehmung und Image der Sendung auswirken könnte. Die angestrebten Zielgruppen könnten auf diese Weise verschreckt bzw. nicht erreicht werden. Zielgruppen

Den Zielgruppen von Zeitschriften- und Sendermarke kommt im Hinblick auf gewünschte Reichweitensteigerungen eine besondere Rolle zu. Zum einen sollten natürlich von beiden Partnern im Sinne der Gemeinsamkeiten der Markenpassung ähnliche Zielgruppen angesprochen werden. Zum anderen sind hier aber auch Unterschiede wünschenswert, um das oben formulierte Ziel der Ansprache neuer Zielgruppen zu erfüllen. Da die Zeitschrift meistens eine spezifischere Zielgruppendefinition als ein Fernsehsender aufweist – so hat beispielsweise Der Spiegel eine klarer abgegrenzte Zielgruppe als RTL – sollte auf eine genaue Zielgruppenansprache beim Sendungskonzept geachtet werden. Wie sehr die erreichten Zielgruppen von „TV“- und Print-Ausgabe abweichen können, zeigt das Beispiel Spiegel TV: Während die Altersstruktur der Zielgruppen relativ homogen ist, erreicht die Marke Spiegel im Fernsehen deutlich mehr Frauen als im Print-Medium. Und auch Bildungsgruppen, die der Marke Spiegel traditionell weniger nah sind, kommen im Fernsehen in Kontakt mit ihr (vgl. Abb. 1).26

26

VerbraucherAnalyse (2005) sowie GfK TV-Panel (2005).

386

Simon Berkler und Melanie Krause

Index

Alter

Geschlecht

Bildung

200 180

Spiegel-Leser

160

Spiegel TV-Seher

140 120 100

1

2

3

4

5

6

7

8

9

1

0

1

1

1

2

1

3

1

4

1

5

80 60

Volkss. o. Lehre

Volkss. m. Lehre

Weiterf. Schule

Abitur/Studium

männlich

weiblich

Ab 65 Jahre

50 – 64 Jahre

40 – 49 Jahre

30 – 39 Jahre

20 – 29 Jahre

14 – 19 Jahre

14 – 49 Jahre

40

Abb. 1. Demographische Profile von Spiegel-Lesern und Spiegel TV-Sehern27

Konzept und Umsetzung

Bezogen auf das Konzept und die konkrete Umsetzung der Sendung spielt weniger das Fitting zwischen Sender- und Zeitschriftenmarke als die markenadäquate Übersetzung des Zeitschriftentitels eine Rolle. Alle Bestandteile der Sendung können daraufhin untersucht werden, ob der Brand Fit zur Muttermarke gegeben ist bzw. ob ungewollte oder markenstrategisch gewollte Differenzen zwischen den Markenauftritten bestehen. Auch hier kommt es auf das richtige Verhältnis von Gemeinsamkeiten und ggf. gewünschten Unterschieden an. So sollten sich die redaktionelle Ausrichtung (z. B. Themen) und das Format der Sendung (Magazin, Reportage, Interview etc.) an der inhaltlichen Kompetenz der Zeitschrift ausrichten, damit sich für die Zuschauer ein konsistenter Gesamteindruck der Zeitschriftenmarke einstellt. Bezogen auf einzelne Umsetzungsparameter ist es möglich, die Muttermarke entweder zu bestätigen und zu festigen oder in eine strategisch gewünschte Richtung (z. B. jünger, seriöser, frecher etc.) zu entwickeln. Neben der grundsätzlichen thematisch-redaktionellen Ausrichtung kommt zentrale Bedeutung z. B. der Wahl eines geeigneten Moderators zu. 27

Quelle: VerbraucherAnalyse (2005), GfK TV-Panel (2005); Seher Spiegel TV im Zeitraum 01.01.2005–11.11.2005; Indexwerte, Gesamtbevölkerung = 100.

Zeitschriftenmarken im Fernsehen

387

Der Moderator ist deshalb so wichtig, weil er im wahrsten Sinne des Wortes zu Gesicht und Stimme der Marke wird. Er kann die Marke – entsprechenden Erfolg der Sendung vorausgesetzt – über Jahre repräsentieren und ihren Charakter maßgeblich mit prägen. Deshalb sollte vorab sorgfältig erwogen werden, welche Personen zur angestrebten Entwicklung der Marke passen. Erfolgreiche Formate zeigen, wie unterschiedlich diese Rolle ausgefüllt werden kann. So ist z. B. Stern TV untrennbar mit Günther Jauch verbunden, der die Sendung auch produziert, innerhalb des Stern zuvor allerdings – abgesehen von Berichterstattung über seine Person – keine Rolle spielte. Eine höhere Nähe zum Print-Produkt zeigt Spiegel TV: Das Spiegel TV Magazin wird seit 1988 u. a. von Spiegel-Chefredakteur Stefan Aust moderiert. Weitere Überlegungen zum Konzept müssen beispielsweise dahingehend angestellt werden, ob Studiogäste geladen werden, Publikum anwesend ist, ob nur Filmbeiträge mit einem Sprecher zu bestimmten Themen gesendet werden, ob jede Sendung verschiedene Themen behandelt oder Schwerpunkte gesetzt werden etc. Spiegel TV z. B. kombiniert unterschiedliche Programmkonzepte: Während beim Magazin und beim Themenabend Moderatoren auftreten, sind die Reportage oder das Special reine Dokumentationen mit Sprechern aus dem Off. Auch wenn an dieser Stelle nicht alle Umsetzungsdetails ausreichend besprochen werden können, wird doch die Mechanik einer konsequenten Anwendung des Markenführungsansatzes deutlich: Die Markenperspektive hält eine Reihe von Leitlinien und Regeln bereit, die für den erfolgreichen Transfer einer Zeitschriftenmarke ins Fernsehen nutzbar gemacht werden können. Mit Hilfe der vier oben formulierten Leitfragen können konzeptionelle Entscheidungen strategisch vorbereitet und die individuell beste Lösung gefunden werden.

5

Fazit und Diskussion

Crossmediale Kooperationen zwischen Zeitschrift und Fernsehen sind ein ökonomisches und publizistisches Risiko. Ökonomisch ist ein beträchtlicher Aufwand nötig, der vor allem durch die Fixkosten einer Fernsehproduktion verursacht wird. Ob und in welchem Ausmaß angestrebte wirtschaftliche Ziele wie z. B. die Ausweitung der Zielgruppe und damit die Erhöhung der verkauften Exemplare (Lesermarkt) bzw. die Steigerung von Werbeeinnahmen (Werbemarkt) erreicht werden können, ist zu Anfang eines derartigen Engagements schwer einzuschätzen. Publizistisch besteht

388

Simon Berkler und Melanie Krause

die Gefahr, ein bestehendes Profil des Print-Produktes zu verwässern und loyale, gebundene Leser zu verprellen. Der Beitrag hat jedoch gezeigt, wie und mit Hilfe welcher theoretischen Ansätze dieses Risiko zu minimieren ist: Medien können als Marken geführt werden. Die konsequente Anwendung einer Markenführungsperspektive kann dabei helfen, die publizistischen Risiken systematisch im Blick zu behalten und den Erfolg des Engagements sicherzustellen, indem die „Elastizität“ des Print-Produktes nicht über Gebühr strapaziert wird. Dem Brand Fit, also der Markenpassung von Print-Produkt und Fernsehformat bzw. Fernsehsender, kommt dabei eine zentrale Funktion zu: Die Konzeption, die inhaltliche Ausgestaltung des Formates muss an den Maßstäben des bestehenden Markenprofils gemessen werden, um im Ergebnis die Muttermarke glaubwürdig bedienen und ergänzen zu können. Bei der Betrachtung dieser Passung darf jedoch nicht vernachlässigt werden, dass neben einem grundsätzlichen „Common Ground“ in Bezug auf Markenpositionierung, Markenpersönlichkeit und thematische Nähe auch Unterschiede – vor allem in Bezug auf die Zielgruppen der beiden kooperierenden Marken – benötigt werden, um die grundsätzlichen Zielsetzungen der Kooperation zu erreichen und von den (ökonomischen) Vorteilen profitieren zu können. Über diese inhaltlichen Erfolgsfaktoren hinaus ist auch die pragmatische Dimension des Umsetzungs-Know-hows bei Planung und Konzeption einer Zeitschriften-Sendung im Fernsehen zu beachten: Eine Aufbereitung medialer Inhalte im Fernsehen stellt nicht nur an den Rezipienten, sondern auch an den Absender völlig andere Anforderungen als eine Präsentation im Print-Format. Die Nutzung des gegenseitigen Know-hows von PrintRedaktion auf der einen und Fernsehexperten auf der anderen Seite kann hier die Fehlerquote reduzieren. Die zentrale Frage ganz unorthodox zum Schluss: Wo stehen wir heute im Lebenszyklus von Kooperationen zwischen Zeitschrift und Fernsehen? Ist deren beste Zeit bereits vorüber, oder gibt es noch Chancen für diese Engagements? Dass wir der ersteren Ansicht nicht bedenkenlos folgen, ist der Existenz dieses Beitrages zweifelsohne zu entnehmen. Die fortschreitende Digitalisierung hält vielmehr neue Chancen bereit, deren Relevanz mit der weiteren Ausbreitung von Digital- und BreitbandTechnologien steigt. Je stärker die Fragmentierung des Publikums und damit das Angebot zielgruppenspezifischer Medien und Kanäle voranschreitet, desto mehr Möglichkeiten gibt es, eine Zeitschriftenmarke in den audiovisuellen Bereich zu erweitern. Eigene Sender und Channels z. B. im digitalen Fernsehen anzubieten, kann ökonomisch wie auch publizistisch sinnvoll sein. Auch hier sollte jedoch die bestehende Marke ernst genommen und als Leitlinie für die Gestaltung herangezogen werden.

Zeitschriftenmarken im Fernsehen

389

Denn die Kraft der Marke muss – im Gegensatz zum Erfolg des digitalen Fernsehens – nicht mehr bewiesen werden.

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390

Simon Berkler und Melanie Krause

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Online-Auftritte von Publikumszeitschriften im World Wide Web

Katrin Dirscherl und Wolfgang Eichhorn

1

Die Zeitschrift geht online

Das World Wide Web hat in wenig mehr als einem Jahrzehnt die scheinbar stabile Topographie der Medienlandschaft in Unordnung gebracht. Es gibt heute kaum noch ein Medienunternehmen, das sich nicht in irgendeiner Form – mit mehr oder weniger großem Erfolg – im WWW engagiert. Die rasche Ausweitung des Internets wird in der Medienbranche abwechselnd als Gefahr – für die etablierten Medien1 – oder als Chance – für innovative neue Angebote – betrachtet, wobei allerdings nur selten Einigkeit darüber besteht, welche Geschäftsmodelle in der virtuellen Welt Bestand haben werden.2 Mitte der 90er Jahre wurde das WWW zunächst von experimentierfreudigen Zeitschriftenredaktionen als Spielwiese zur Erprobung der Möglichkeiten eines neuen Mediums benutzt. Einige Medienkonzerne erkannten frühzeitig das Potenzial computerbasierter Kommunikationsmedien, unterschätzten dabei aber die Eigendynamik, die das Internet zu diesem Zeitpunkt bereits entfaltet hatte. Zu den gescheiterten Versuchen, proprietäre Netzwerke in den Markt zu bringen, zählen der Versuch des BurdaVerlages, mit Europe Online ein Gegenstück zu America Online zu etablieren, und das Engagement von Bertelsmann bei AOL.3 In beiden Projek1 2 3

Vgl. Kolo u. Vogt (2004), S. 23 f. Vgl. Fetscherin u. Knolmeyer (2004). Vgl. Computerwoche (1996), Computerwoche (2000) sowie Meyer-Lucht (2004), S. 215.

392

Katrin Dirscherl und Wolfgang Eichhorn

ten wird das Bestreben der Verlage deutlich, die Kontrolle über ihr „geistiges Eigentum“ und die daraus erwachsenden Einnahmequellen zu behalten, statt sich in einem Medium ohne ausreichende Steuerungsmöglichkeiten zu engagieren. Insbesondere für große Zeitschriftenverlage sind die Synergieeffekte durch die Erweiterung der Vertriebsmöglichkeiten über Computernetzwerke verlockend, doch nur dann, wenn sich mit den angebotenen Inhalten auch Gewinn erzielen lässt. Auch Der Spiegel hatte bei seinen im April 1994 eingerichteten „Electronic Services“ zunächst auf den proprietären Anbieter CompuServe gesetzt4 und seinen Online-Auftritt eher hastig eingerichtet5, um dem Konkurrenten Stern zuvor zu kommen6. Spiegel Online erwarb in der sich auch in Deutschland schnell entfaltenden Landschaft der Online-Auftritte von Publikumszeitschriften die Rolle eines Innovators und etablierte für Zeitschriften ungewöhnliche, aber dem neuen Medium angepasste Elemente wie aktuelle Meldungen, Hyperlinks und Interaktionsangebote an den Leser. Beim Einsatz von Online-Werbung spielte Der Spiegel wieder eine Vorreiterrolle in Deutschland, als er Ende 1995 „erstmals Mediamix-Werbung zwischen Print- und Online-Medien“7 ermöglichte. Trotz der bestehenden Unsicherheit über die Zukunftsträchtigkeit des Mediums fürchteten viele Verlage, durch Untätigkeit eine Chance zu verpassen, und so konstatierte werben&verkaufen schon im Herbst 1996, „kaum eine Publikumszeitschrift [wolle] mehr auf den werbewirksamen Auftritt im neuesten aller Medien verzichten“8. Bei 50 Zeitungen und Zeitschriften konnte man bereits online werben.9 Schon damals warnten Kritiker, dass eine bloße Übernahme der Inhalte der Print-Titel nicht ausreiche, um erfolgreiche publizistische Auftritte im World Wide Web zu etablieren.10 Ein Jahrzehnt später sind die Versuche von Zeitschriftenverlagen, die von ihnen produzierten publizistischen Angebote und etablierten Marken aus der analogen in die digitale Welt zu übertragen, immer noch durch eine breite konzeptionelle Vielfalt geprägt. Um die Strategien besser verstehen zu können, werden wir zunächst versuchen, die Charakteristika des Medi4 5

6 7 8

9 10

Vgl. W&V (1994) sowie Meyer-Lucht (2004), S. 215. Einen Eindruck vom Online-Auftritt der Pionierzeit vermittelt die „JubiläumsSite“ des Spiegel von 1996, http://www.spiegel.de/static/spon1996. Vgl. heise online (2004). Horizont (1994), S. 70. W&V (1996b), S. 250. Das Internet begann zu dieser Zeit neben seiner Verwendung als Publikationsmedium auch als Thema von Zeitschriften eine Rolle zu spielen. Vgl. W&V (1996a). Vgl. W&V (1996b). Vgl. Polatschek (1996).

Online-Auftritte von Publikumszeitschriften im World Wide Web

393

ums Zeitschrift in ihrer gedruckten Form mit den Rahmenbedingungen des Publizierens im – stationären – Internet zu kontrastieren. Danach folgt eine Bestandsaufnahme der Online-Präsenz von Zeitschriften, auf der wir eine Prognose über die zukünftige Entwicklung aufbauen wollen.

2

Was verbindet und was trennt Print und Online?

Auf den ersten Blick weisen Publikumszeitschriften in gedruckter Form und in ihrer Umsetzung im World Wide Web einige Gemeinsamkeiten auf. Beide sind in erster Linie textbasierte Medien und verlangen – im Gegensatz zu den klassischen audiovisuellen Medien, die den Rezipienten eher „berieseln“ – in höherem Maße Selektionsentscheidungen vom Nutzer. Beide wenden sich damit an den aktiv Informationssuchenden als Zielgruppe.11 Auch strukturell sind beide Medien ähnlich aufgebaut: mit einer grundlegenden hierarchischen Organisation, die den Rezipienten bei der Suche nach den ihn interessierenden Informationen leitet.12 Von übergeordneten Kategorien ausgehend, fokussiert sich die Auswahl auf die gewünschten Inhalte. Ebenso deutlich sind die Unterschiede zwischen den Medien zu erkennen. Charakteristisch für eine Zeitschrift ist ihre Haptik – das Gefühl, das beim Umblättern von bedrucktem Papier entsteht, werden Online-Medien wohl auch in Zukunft nicht replizieren können. Auch in der Disponibilität unterscheidet sich die gedruckte von der Online-Version: Während erstere überall – ob in der U-Bahn, im Wartezimmer oder am Badesee – konsumiert werden kann, benötigt man zur Nutzung letzterer einen dauerhaft mit dem Internet verbundenen Computer – die Möglichkeiten zur mobilen Nutzung mit Hilfe von funkgestützten Übertragungstechniken stehen erst am Anfang der Entwicklung. Die gedruckte Version hingegen ist in ihrer Verfügbarkeit geographisch eingeschränkt, während Inhalte im World Wide Web von jedem Ort der Welt in gleicher Form abrufbar sind. Da eine hohe Aktualität nicht zu den Kernmerkmalen von Zeitschriften gehört, rivalisiert der Online-Auftritt einer Zeitschrift – im Gegensatz zu dem einer Tageszeitung – in diesem Punkt nicht mit der gedruckten Version, sondern eröffnet die Möglichkeit eines permanent aktualisierbaren Zusatzservices, mit dem der Leser die Zeit zwischen zwei Erscheinungsterminen überbrücken kann. Bei den Tageszeitungen stellt sich dies anders dar: Der inzwischen von fast allen Nachrichtensites praktizierten kontinuierlichen Aktualisierung kann die – vom Wesen als aktuelles Medium ge11 12

Vgl. Brüggemann (2002), S. 29. Vgl. Riefler (1997), S. 51.

394

Katrin Dirscherl und Wolfgang Eichhorn

dachte – gedruckte Tageszeitung nichts entgegensetzen. Dies mag einer der Hauptgründe sein, warum die Tageszeitung soviel stärker von der Substitution durch Online-Angebote bedroht scheint als die Zeitschrift. Jede Information im Internet lässt sich mittels Hyperlinks mit jeder anderen Information im Netz verknüpfen – für den Online-Auftritt bedeutet dies zunächst, dass durch die Verknüpfung sowohl mit eigenen als auch mit angebotsfremden Inhalten ein echter Mehrwert für den Nutzer geschaffen werden kann. Durch die Digitalisierung der Inhalte lassen sich neben Text und Bild auch multimediale Inhalte darstellen, wie z. B. Ton und Bewegtbild. Bereits 1997 bot beispielsweise der Stern auf seinem Online-Auftritt Interview-Mitschnitte im RealAudio-Format an.13 Zu diesen Anfangszeiten waren solchen multimedialen Features allerdings enge Grenzen gesetzt, weil die meisten Nutzer nur über ein langsames Modem verfügten und deshalb auch geringere Datenmengen eine lange Ladezeit erforderten. Inzwischen gehen 36 Prozent der Online-Nutzer über einen Breitbandanschluss ins Netz,14 bei steigender Tendenz. So können datenintensive Video- und Audio-Dateien von immer mehr Nutzern angesehen und angehört werden. Für die statischen und textgebundenen Zeitschriften ergibt sich so die Möglichkeit, ihren Lesern auch – bisher nicht realisierbare – dynamische Inhalte zu bieten, wie z. B. Musik-Clips auf bravo.de oder Videos zu SportNachrichten auf tennis-magazin.de. Zeitschriften ohne enge Anbindung an multimedial arbeitende Medienkonzerne sind hier natürlich im Nachteil. Die Interaktivität ist das Charakteristikum, welches das Internet von den traditionellen technischen Medien für die Verbreitung von Massenkommunikation am stärksten unterscheidet. Die Rollen von Sender und Empfänger sind prinzipiell austauschbar und teilweise nicht mehr unterscheidbar, so dass klassische Modelle der Massenkommunikation im Internet nicht ohne Modifikationen funktionieren. Online-Auftritte von Zeitschriften sind zunächst als Einweg-Kommunikation zu verstehen: Die Inhalte werden zumeist ausschließlich von der Redaktion der Zeitschrift aufbereitet. Die Rolle des Lesers kann aber weit über die bloße Rezeption hinausgehen, indem er sich in Foren und Chats einbringt, durch Abstimmungen und Umfragen den Inhalt aktiv mitgestaltet oder die Möglichkeit nutzt, Artikel der Redaktion zu kommentieren sowie mit Autoren und anderen Nutzern zu diskutieren, wie es z. B. bei den Artikeln auf heise.de möglich ist. Das Angebot interaktiver Möglichkeiten stellt eine Erweiterung der Nutzungsmöglichkeiten dar – ein Zusatznutzen, der den technischen Möglich-

13 14

Vgl. Werner (1997), S. 195. Vgl. van Eimeren u. Frees (2005), S. 371.

Online-Auftritte von Publikumszeitschriften im World Wide Web

395

keiten des Mediums angemessen, aber auch mit einem höheren finanziellen Aufwand verbunden ist. Aus der Interaktivität ergibt sich auch die Personalisierbarkeit von Inhalten im Internet, weil der Rückkanal es möglich macht, Inhalt und Gestaltung eines Online-Auftrittes persönlichen Präferenzen entsprechend anzupassen. Bei der gedruckten Version erschöpft sich die Erfassung persönlicher Informationen in den Adressdaten der Abonnenten, die manchmal für gezielt eingesetzte Werbeeinlagen genutzt werden, um den Leser „persönlich“ anzusprechen. Die im Internet wesentlich umfangreicher erhobenen Daten – die aus der Sicht des Nutzers dazu dienen, zielgerichtet die für ihn interessanten Angebote in den Vordergrund zu stellen – sowie die aus dem Onlineverhalten abgeleiteten Informationen über den Nutzer – die fast ausschließlich ohne dessen Wissen gesammelt werden – leisten in Form von Nutzerprofilen einen wichtigen Beitrag bei der zielgruppenbezogenen Vermarktung. Ein Online-Auftritt ist im Gegensatz zur Zeitschrift nicht bzw. kaum durch physische Restriktionen in seinem Umfang eingeschränkt, denn mehr Speicherplatz auf einem Webserver erfordert nur sehr geringe Zusatzinvestitionen, während der Umfang einer Zeitschrift aus finanziellen und Usability-Gründen auf eine bestimmte Seitenanzahl begrenzt ist. Ein Online-Auftritt kann wachsen, mit der Zeit können sich immer mehr publizistische Inhalte und Zusatzfeatures ansammeln, während die einzelne Zeitschriften-Ausgabe, abgesehen vom Layout und der Struktur, immer wieder von Grund auf neu entsteht. Durch die kaum beschränkte Speicherkapazität von Webservern kann dem Leser online auch ein Archiv mit früher veröffentlichten Beiträgen angeboten werden, das durch eine Suchfunktion erschlossen werden kann. Darüber hinaus können auch weitere, themenbezogene Funktionalitäten angeboten werden, wie z. B. eine Rezeptdatenbank auf brigitte.de oder die aktuellen Börsenkurse auf geldidee.de. Für das gedruckte Pendant wären solche Inhalte nicht nur viel zu umfangreich, sondern auch unübersichtlich. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass sich das technische Medium Internet für die Publikation der Inhalte einer Zeitschrift gut eignet und es dieser ermöglicht, in physischer und finanzieller Hinsicht Grenzen zu überwinden. Es bietet eine Vielfalt von Optionen, den redaktionellen Inhalt mit audiovisuellen, hypertextuellen und interaktiven Funktionen anzureichern. Von der Seite des Publikums betrachtet, dürfte der manifeste Nutzen dieser Erweiterungen in hohem Maße zielgruppenabhängig sein. Eine entscheidende Qualität der Zeitschrift als gedrucktes Medium, ihre Mobilität, lässt sich im Internet (noch) nicht verwirklichen. Auf Verlagsseite ist die Überlegung entscheidend, welchen Zusatznutzen der Online-Auftritt einer Zeitschriftenmarke bieten kann, mit welchen Inhalten und Funktiona-

396

Katrin Dirscherl und Wolfgang Eichhorn

litäten man neue Leser gewinnen und bereits bestehende an sich binden kann. Die folgenden Analysen sollen Aufschluss über den Status quo in der Landschaft der Online-Auftritte von deutschen Publikumszeitschriften geben.

3

Die Online-Präsenz von 350 Publikumszeitschriften – eine Analyse des Status quo

Die im Folgenden beschriebene inhaltsanalytische Studie erhebt eine Reihe zentraler Merkmale der Online-Auftritte von Publikumszeitschriften auf dem deutschen Markt. Untersuchungsgegenstand der Studie waren die Zeitschriftentitel, deren Print-Reichweite in der Kategorie „Publikumszeitschriften, nationale Verbreitung“ bei der Informationsgemeinschaft zur Feststellung der Verbreitung von Werbeträgern (IVW) sowohl im Juni 200315 als auch im Januar 2006 gemessen wurde und die sowohl der Bereinigung um gattungsfremde Titel nach einer engeren Definition16 standhielten, als auch aus anderen Gründen17 nicht ausgeschlossen wurden. Von den 658 Titeln, die von der IVW im Juni 2003 aufgeführt waren, blieb nach 15

16

17

Die Studie wurde 2003 im Rahmen einer Magisterarbeit durchgeführt. Vgl. Dirscherl (2003). So mussten alle Titel aus der Grundgesamtheit entfernt werden, die nicht zu dieser Gattung gezählt werden können: die Zeitungen, Mitgliederzeitschriften, Vereinszeitschriften und die Kundenzeitschriften. Da die Gattungszuteilung bei der Informationsgemeinschaft zur Feststellung der Verbreitung von Werbeträgern e. V. (IVW) meistens vom Herausgeber und nicht von einer objektiven Instanz vorgenommen wird, betrifft dies keine unwesentliche Anzahl. Zur Bereinigung um gattungsfremde Objekte siehe die Erläuterungen in Vogel (1998) sowie Vogel (2003). Es wurden die Titel herausgenommen, deren Finanzierung nicht auf dem Prinzip des doppelten Marktes, also Werbe- und Rezipientenmarkt, beruht, weil keine direkte Vergleichbarkeit mit den anderen Titeln gegeben ist; dies betrifft die kostenlosen und die konfessionellen Zeitschriften. Alle Titel, die keine eigenständigen Erzeugnisse darstellen, sondern nur Ableger sind, wie z. B. von einem Markenprodukt oder einer Fernsehserie, werden aus der Untersuchung ausgeschlossen, da die eindeutige Zuordnung der Websites zu den Zeitschriften nicht gegeben ist; aus dem gleichen Grund werden auch die Spin-Offs von anderen Zeitschriften nicht mitanalysiert. Schließlich werden die Programmund Erotikzeitschriften noch von der Untersuchung ausgeschlossen, weil sie sich durch die besonderen, servicebetonten Charakteristika der OnlineAuftritte schlecht mit den anderen Zeitschriften, deren Schwerpunkt auf Unterhaltung durch Information liegt, vergleichen lassen.

Online-Auftritte von Publikumszeitschriften im World Wide Web

397

diesen Bereinigungen eine Grundgesamtheit von 350 Titeln übrig, die ohne weitere Einschränkung den Untersuchungsgegenstand bildeten. Der Grad der Online-Präsenz dieser 350 Titel wurde mit Hilfe eines sechsstufigen Kategoriensystems festgestellt. 1. Nur noch 5 Prozent (17 Titel) der analysierten Titel sind Anfang 2006 online überhaupt nicht präsent, werden also von ihrem Verlag in keiner Weise im Internet dargestellt. 2. 20 Prozent (70) der Titel werden ausschließlich als Bestandteil der publizistischen Produktpalette auf einer Unterseite des OnlineAuftrittes des Verlages präsentiert und entsprechend in Layout und Benutzerführung integriert. 3. Als ausschließliches Instrument zur Vertriebsunterstützung wird das Internet von 4 Prozent (15) verwendet, d. h. sie werden zwar in einem eigenen, am Layout der Zeitschrift orientierten Design vorgestellt, es sind jedoch keine Artikel oder andere Angebote vorhanden; stattdessen werden lediglich die wichtigsten Kurzinformationen zur Zeitschrift angeboten. Weder die Anwerbung neuer noch die Pflege bestehender Leser ist direkte Zielsetzung des Auftrittes. 4. Bei 11 Prozent (38) der Titel stellt der Online-Auftritt eine ServiceErweiterung der Zeitschrift dar, da weder Artikel aus der gedruckten Version, noch sonstige artikelähnliche Inhalte zu finden sind, dafür aber Zusatzservices für die Leser der Zeitschrift, wie z. B. ein Marktplatz, ein Event-Kalender, ein Forum, ein Berechnungsmodul usw. Dieses Modell soll einerseits Nichtabonnenten neugierig machen, dient andererseits aber auch ausdrücklich der Stärkung der LeserBlatt-Bindung. Der Leser kann im thematischen Kontext der Zeitschrift die Möglichkeiten des neuen Mediums ausschöpfen, ohne dass dies zu Kannibalisierungseffekten führt, weil keine redaktionellen Inhalte geboten werden. 5. Durch den Zusammenschluss zu einer gemeinsamen Plattform werden Synergien genutzt; 8 Prozent (29) haben diese Option gewählt. Ein gemeinsames Layout dominiert die titelindividuellen Erscheinungsbilder; sämtliche Titel der Plattform sind jedoch durch Buttons oder eine Navigationsleiste gut sichtbar. An Inhalten und Services wird eine den eigenständigen Online-Auftritten ähnliche Vielfalt geboten, allerdings mit dem Unterschied, dass ein Teil gemeinsam angeboten wird. 6. Mit 49 Prozent (172) ist fast die Hälfte der untersuchten Titel mit einem eigenständigen Online-Auftritt im Internet vertreten – das bedeutet, sie verfügen sowohl über umfangreiche redaktionelle Inhalte als auch über ein eigenes, am Design der Zeitschrift angelehntes Layout.

398

Katrin Dirscherl und Wolfgang Eichhorn

Der Auftritt ist über eine eigene URL18 erreichbar, die dem Namen der Zeitschrift entspricht oder zumindest sehr ähnlich ist. Anzahl 200

185

172

2003

2006

150

100

78

50

30 29

70

38

28

18 3

15

17

8 9 Son1stiges

Online-Präsenz nicht vorhanden

Unterseite des Online-Auftrittes des Verlages

Vertriebsunterstützung

ServiceErweiterung der Zeitschrift

Gemeinsame Plattform

Eigenständiger Online-Auftritt

0

Abb. 1. Grad der Online-Präsenz von Publikumszeitschriften im WWW – Vergleich zwischen 2003 und 2006

Im Vergleich zum Untersuchungszeitpunkt im Juni 2003 hat sich der Grad der Online-Präsenz von 108 Titeln verändert, 242 sind dagegen prinzipiell gleich geblieben. Es fällt eine „Verschiebung zur Mitte“ auf: Die Extremformen, also besonders starke oder besonders geringe bzw. gar keine Online-Präsenz, werden weniger genutzt – die moderaten Formen, also die Service-Erweiterung der Zeitschrift und die Vertriebsunterstützung, deutlich stärker. Im Jahre 2003 wurden diese moderateren Strategien erstaunlicherweise nur sehr selten eingesetzt, obwohl sie einige Vorteile aufweisen: Einerseits wird der Zeitschrift nicht durch Kannibalisierungseffekte geschadet, und es werden nur begrenzt Ressourcen beansprucht, andererseits können aber Bestands- und vor allem Neukunden durch Zusatzfeatures und Informationen an die gedruckte Version herangeführt werden. Das Vermeiden eines Mittelweges mag wohl auch darin begründet sein, dass die 18

URL, Uniform Resource Locator, ist die Bezeichnung für die Adresse einer Website und besteht aus einem Präfix für das Netzwerkprotokoll (z. B. „http://“ für Sites im World Wide Web), dem Namen des Servers, der Domain und der Top-Level-Domain. Die Online-Ausgabe der Zeitschrift Brigitte findet man beispielsweise unter der URL http://www.brigitte.de.

Online-Auftritte von Publikumszeitschriften im World Wide Web

399

Verlage damals aus Unsicherheit getreu dem Motto „Alles oder nichts“ auf das neue Medium reagierten. Heute hat sich die Zahl der Titel, die das Internet als ServiceErweiterung der Zeitschrift oder als Instrument zur Vertriebsunterstützung nutzen, von 21 auf 53 erhöht – ein Anzeichen dafür, dass die Verlage das Internet in seiner Bedeutung anerkennen und ihre Internetaktivitäten strategisch als komplementäre Ergänzung zum Muttermedium planen. Dass im Jahre 2006 weniger Zeitschriften nicht im Internet vertreten sind als im Jahre 2003 und dass sich auch weniger Titel auf die Darstellung auf einer Unterseite des Online-Auftrittes des Verlages beschränken, war vor dem Hintergrund der weiter steigenden Zahl von „Onlinern“ und der daraus resultierenden Bedeutungszunahme des Internets zu erwarten. Dass die Anzahl der Titel mit eigenständigem Online-Auftritt um 13 abgenommen hat, mag zunächst überraschen. Eine Erklärung hierfür wäre, dass die Erwartungen an die aufwändiger betriebenen Auftritte sich nicht immer erfüllt haben und die Verlage sich deshalb für eine differenzierte, enger an den Stärken des Internets orientierte Ausrichtung entschieden haben. Die Vermutung, dass eine mehr oder weniger große Affinität der Verlage zu Online-Medien entscheidende Auswirkungen auf die Präsenz von Zeitschriftentiteln im WWW hat, liegt nahe. Unsere Aufmerksamkeit richtet sich daher im Folgenden auf die Unterschiede der Online-Auftritte in Bezug auf die Verlagszugehörigkeit (vgl. Tabelle 1). Die Heinrich Bauer Verlagsgruppe begann erst im Jahre 2000 – und damit als letzter der großen Zeitschriftenverlage – mit dem systematischen Aufbau einer Internet-Präsenz, und auch heute noch ist Bauer diesbezüglich einer der zurückhaltenden Verlage, was u. a. mit der Niedrigpreisorientierung des Verlages zusammenhängen dürfte. 13 der 22 Titel, also über die Hälfte, werden lediglich auf Unterseiten des Online-Auftrittes von Bauer beschrieben. Vergleicht man die Ergebnisse mit denen des Jahres 2003, so lassen sich kaum Veränderungen feststellen. Hubert Burda Media gehörte zu den ersten Verlagen, die sich mit dem Thema „Online“ befassten, und entsprechend sind auch alle seine großen Titel mit umfangreichen Online-Auftritten vertreten. Ende 2004 übernahm Burda die Verlagsgruppe Milchstrasse, die seitdem als Profit Center geführt wird. Alle fünf Milchstrassen-Titel waren im Jahre 2003 mit eigenständigen Online-Auftritten vertreten; mittlerweile sind vier davon unter dem Dach von MSN zu finden. Alle 20 untersuchten Titel von Gruner + Jahr sind entweder mit einem eigenständigen Auftritt oder mit einer gemeinsamen Plattform im Internet

400

Katrin Dirscherl und Wolfgang Eichhorn

präsent. Die Titel aus dem Bereich Kochen/Wohnen/Garten19 wurden auf livingathome.de zusammengefasst. So werden nicht nur Synergien genutzt; die Leser eines Titels werden hier auch an die anderen thematisch ähnlichen Titel herangeführt. Der Axel Springer-Verlag gehört, was die Online-Präsenz anbelangt, zu den aktiveren Verlagen: Fast alle Titel sind mit eigenen Auftritten vertreten. Thematisch eng miteinander verknüpfte Titel verfügen über einen gemeinsamen Auftritt, z. B. treten die Titel mit wirtschaftlichem Fokus gemeinsam auf finanzen.net auf, und die mit dem Themenschwerpunkt Auto auf autobild.de. Das Zeitschriftenangebot der WAZ-Mediengruppe wird von zwei Töchtern verlegt, dem Westdeutschen Zeitschriften-Verlag und dem GongVerlag. Die Titel dieser beiden Töchter haben vollständig konträre OnlinePräsenzen: Alle vier untersuchten Titel des Gong-Verlages haben eigenständige Auftritte, während die vier des Westdeutschen ZeitschriftenVerlages nicht einmal Unterseiten im Rahmen des Online-Auftrittes des Verlages aufweisen können, sondern ausschließlich in Form von – nicht einmal aktuellen – Titelblättern abgebildet werden. Auch die Verlagsgruppe Georg von Holtzbrinck ist nicht direkt Herausgeber von Publikumszeitschriften, sondern über zwei Töchter. Über den Spotlight-Verlag verlegt sie sechs Sprachtrainingsmagazine und über die Verlagsgruppe Handelsblatt die WirtschaftsWoche: Alle sieben Titel sind mit eigenständigen Auftritten vertreten. Die Präsenz der acht Titel der Verlagsgruppe Klambt beschränkte sich sowohl 2003 als auch 2006 auf eine Kurzbeschreibung auf Unterseiten des Online-Auftrittes des Verlages. Das Online-Engagement des TV TrendVerlages ist mit Abstand das geringste unter den untersuchten Verlagen. Im Juni 2003 waren alle vier Titel, die in der Studie berücksichtigt wurden, in keiner Form im World Wide Web präsent, und nicht einmal der Verlag selbst verfügte über einen eigenen Online-Auftritt. Im Januar 2006 ist einer der vier Titel mit einer Service-Erweiterung der Zeitschrift online; eine Online-Präsenz des Verlages sucht man allerdings weiter vergeblich. Der Paul Parey-Zeitschriftenverlag stattet alle sechs Titel mit vollwertigen Online-Auftritten aus, und beim Delius Klasing Verlag verhält sich dies bei acht seiner zehn Titel so. Der Fachschriften-Verlag nimmt dazu den Gegenpol ein: Nur einer seiner Titel ist eigenständig online, und die fünf, die im Juni 2003 noch zu einer gemeinsamen Plattform zusammenge-

19

In das Portal (http://www.livingathome.de) sind die Zeitschriften Schöner Wohnen, Neues Wohnen, Schöner Essen, Essen & Trinken, Living at Home, Schöner Wohnen Decoration, Häuser sowie Flora Garten integriert.

Online-Auftritte von Publikumszeitschriften im World Wide Web

401

schlossen waren, werden nun lediglich auf einer Unterseite des OnlineAuftrittes des Verlages vorgestellt. Aus der Online-Präsenz der untersuchten Publikumszeitschriften lassen sich keine eindeutigen verlagsbezogenen Strategien erkennen. Die Frage nach der Angemessenheit wird für jeden Titel unterschiedlich beantwortet. Anders als in der Zeit der Innovatoren, in der zunächst wenige Verlage den Sprung in das neue Medium wagten, deuten die Zahlen darauf hin, dass eine weitgehende Stabilisierung eingetreten ist – in deren Rahmen das Engagement im Internet durchaus neu überdacht werden kann. Tabelle 1. Online-Präsenz nach Verlagen

Online-Präsenz nicht vorhanden

Unterseite des OnlineAuftrittes des Verlages

Vertriebsunterstützung

Service- Erweiterung der Zeitschrift

Gemeinsame Plattform

Eigenständiger Online-Auftritt

Total* Untersuchungsjahr 03 06 03 06 03 06 03 06 03 06 03 06 03 06 Bauer Verlagsgruppe

7

6

Hubert Burda Media

11

8

Gruner + Jahr

15 14

2 3 6

6

6

7

1

1

1

1

1

1

1

2 15 13

25 22

2

19 20

4

5

1

22 20

1

1 17 15

Axel Springer-Verlag

9

6

WAZ-Mediengruppe

7

4

4

4 11

8

Georg von Holtzbrinck

7

7

2

9

7

Jahreszeiten-Verlag

4

4

Milchstrasse**

5

5

2

1

1

Verlagsgruppe Klambt Motor Presse Stuttgart

13 15

2

TV Trend-Verlag

5

3

8

8

7

8

1

Paul Parey-Verlag

6

6

Delius Klasing

8

8

Fachschriften-Verlag

1

1

Jahr Top Spezial-Verlag

5

8

1 5 3

6

1

5

5

8

8

6

1 26 27

4

3 1

5 1

10 10

4

4

6

6

9 10 6

6

12 12

* Die Differenz zwischen der Summe mancher Zeilen und der Angabe unter „Total“ entsteht dadurch, dass die Kategorie „Sonstiges“ aus Gründen der Übersichtlichkeit nicht in die Tabelle aufgenommen wurde. ** Die Verlagsgruppe Milchstrasse gehört seit Ende 2004 zu Hubert Burda Media, wird hier aber zwecks besserer Vergleichbarkeit auch für 2006 extra aufgeführt.

402

Katrin Dirscherl und Wolfgang Eichhorn

4

Die Online-Auftritte von 30 Publikumszeitschriften im Detail

Um ein facettenreicheres Bild der Online-Aktivitäten zu erhalten, wurden 30 per Zufall ausgewählte Titel20 im August 2003 – aus terminbedingten Gründen konnte die Untersuchung 2006 nicht wiederholt werden – einer detaillierten Analyse unterzogen: Inwieweit werden die internetspezifischen Möglichkeiten bei den Online-Auftritten von Publikumszeitschriften ausgeschöpft, welche Zielgruppen scheinen angesprochen zu werden, welche Möglichkeiten zur Finanzierung werden augenscheinlich eingesetzt? Neben den Ausprägungen, die für den gesamten Auftritt festgestellt werden konnten, wurden pro Online-Auftritt zusätzlich zehn zufällig ausgewählte Content-Seiten in Form von Beiträgen analysiert. Eine erste interessante Beobachtung war, dass der Zusammenhang zwischen den Page Impressions und den Verkaufszahlen der Zeitschriften mit 0,7 (höchstsignifikant) relativ stark ist. Dies liegt wohl zum einen daran, dass sich für die stärker gelesenen Magazine auch im Internet entsprechend mehr Nutzer interessieren. Zum anderen haben auflagenstarke Titel gemeinhin mehr Ressourcen zur Verfügung, um einen hochwertigeren und umfangreicheren Online-Auftritt zu finanzieren, der dann wiederum mehr Nutzer interessiert. Allerdings führt, wie einer aktuellen IVW-Untersuchung zu entnehmen ist, Auflagenstärke nicht automatisch zu Erfolg im World Wide Web.21

20

21

Aus den 52 Publikumszeitschriften, die 2003 sowohl ihre Print-Auflage als auch ihre Online-Zugriffe bei der IVW (Informationsgemeinschaft zur Feststellung der Verbreitung von Werbeträgern) messen ließen, wurden 30 zufällig ausgewählt: Allegra, Amica, Astro Woche, Börse Online, Bravo, Brigitte, Brigitte Young Miss, Bunte, Connect, Spiegel, Ein Herz für Tiere, Elle, Eltern, Fit for Fun, Focus, Gala, Geo, Impulse, Kicker-Sportmagazin, Kochen & Genießen, Macwelt, Max, Mein schöner Garten, Motorrad, PCgo, Playboy Deutschland, Reise & Preise, Selbst ist der Mann, Super Illu und YAM. Die OnlineAuftritte dieser Zeitschriften wurden im August 2003 im Rahmen einer Magisterarbeit untersucht; vgl. Dirscherl (2003). Vgl. Abb. 2 sowie Kolo u. Vogt (2004).

Online-Auftritte von Publikumszeitschriften im World Wide Web

Online (Visits im Januar 2006, in Mio.)

403

Print (Verkaufsauflage Q4/2005, in Tsd.)

70 1000

Online 60

Print 800

50 40

600

30 400 20 200

10

0

Auto Motor und Sport

Max

Bunte

Manager Magazin

PC Welt

Kicker

Stern

Focus

Chip

Spiegel

0

Abb. 2. Die zehn im Januar 2006 am häufigsten besuchten Online-Auftritte von Publikumszeitschriften22 – Gegenüberstellung von Visits und Verkaufsauflage23

4.1

Internetspezifische Merkmale

Über die Aktualität der untersuchten Artikel lässt sich keine verlässliche Aussage treffen, weil bei über drei Viertel der Stichprobe kein Datum oder Ähnliches angegeben ist; vom verbleibenden Rest ist etwa die Hälfte älter als einen Monat. Interaktivität wird in einem recht großen Umfang in die Auftritte integriert: Auf 21 werden Diskussionsforen angeboten, alle unterteilt in themenspezifische Sektionen, und auf elf findet man Chatrooms, also die Möglichkeit, sich in Echtzeit mit anderen Nutzern zu unterhalten. Marktplätze, auf denen Rezipienten Waren zum Kauf anbieten können, sind in die Hälfte der Auftritte eingebunden. Der direkte Kontakt zur Redaktion wird dem Nutzer dagegen nicht leicht gemacht: Nur auf jedem fünften 22

23

Nicht berücksichtigt wurden gemeinsame Plattformen von Publikumszeitschriften wie z. B. heise.de. Quelle: Informationsgemeinschaft zur Feststellung der Verbreitung von Werbeträgern e. V. (IVW).

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Auftritt ist ein Kontaktformular integriert, die Hälfte gibt zumindest die E-Mail-Adressen der verschiedenen Bereiche an, aber auf neun Auftritten ist lediglich die der Redaktion zu finden. Auch auf Feedback zu den einzelnen Beiträgen scheint kein gesteigerter Wert gelegt zu werden, denn bei zwei Dritteln wird kein Autor genannt, und beim restlichen Drittel wird die E-Mail-Adresse des Autors nicht direkt mit seinem Namen verknüpft. Interaktiv abrufbare Informationen in Form von Datenbanken finden sich auf mehr als drei Viertel der Auftritte, 14 haben sogar drei oder mehr davon integriert. Archive mit älteren Artikeln werden dagegen nur von elf Auftritten angeboten, durch eine Suchfunktion komfortabel nutzbar sind gar nur vier. Das Angebot insgesamt lässt sich in 22 Fällen durch eine interne Suchmaschine durchforsten. Personalisierungen sind auf lediglich zwei Auftritten möglich: bravo.de bietet seinen Besuchern die Möglichkeit an, ein virtuelles Tagebuch zu schreiben, während auf boerse-online.de persönliche Aktien-Portfolios zusammengestellt und im Zeitverlauf beobachtet werden können. Multimedialität wird eher spärlich eingesetzt: So ist jeder Beitrag mit durchschnittlich 1,5 Bildern versehen, während nur in ganze drei der 300 untersuchten Beiträge Audio-Dateien eingebunden sind, und zwar einmal eine, einmal fünf und einmal sieben Dateien. Bei Video-Dateien sieht die Bilanz noch schlechter aus: Lediglich ein Beitrag bietet solchen Dateien, und zwar zwei an der Zahl. Auch die Möglichkeit zur Hypertextualität wird in geringerem Maße genutzt als erwartet. Die 300 analysierten Artikel enthalten insgesamt nur 98 externe Links, davon 80 zu Firmen und Organisationen und nur ein einziger zu einer zeitschriftenfremden journalistischen Berichterstattung. An internen Links wurden insgesamt 634 gefunden, davon ein Viertel zur Hintergrundberichterstattung, 434 zu themenähnlichen aktuellen Artikeln und 14 zu Artikeln im Archiv. Insgesamt wurden die internetspezifischen Möglichkeiten nur in einem geringen Maß eingesetzt. Lediglich auf interaktive Angebote haben sich die Anbieter in nennenswertem Maße eingelassen, vermutlich deswegen, weil sich hier mit abschätzbaren Investitionen messbarer Mehrwert für den Nutzer erzeugen lässt. Multimediale Erweiterungen sind in der Regel mit Investitionen im technischen Bereich24 verbunden und belasten den Etat mit Lizenzkosten. Die Einbindung von Hypertext-Elementen mit Verlinkungen auf externe Seiten ist zwar technisch und ökonomisch weniger

24

Z. B. Einrichten eines Streaming-Servers, Aufbereitung in verschiedenen Formaten, verbunden mit der Gefahr, den Nutzer zu frustrieren, wenn das Abspielen des Video- oder Audio-Dateien misslingt.

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405

problematisch25, birgt aber die Gefahr, den Nutzer zum „Fremdgehen“ zu animieren, statt ihn auf dem eigenen Auftritt zu halten. 4.2

Zielgruppen

Bezüglich der Zielgruppenansprache lassen sich mittels einer Analyse des Mediums, d. h. ohne dazugehörige Kommunikatoren- und/oder Rezipientenstudie, nur Vermutungen formulieren. Die Eins-zu-Eins-Übernahme der Print-Inhalte war eine häufige Herangehensweise in den Anfangszeiten des Internets. Der Umgang mit neuen Medien wurde in der jeweiligen Anfangszeit meist sehr stark von den alten geprägt: „Die erste Zeitung war zerstückelte Buchchronik, das erste Radio gelesene Zeitung, das erste Fernsehen gefilmtes Radio.“26 Es ist fraglich, ob man mit dieser Strategie neue Leser gewinnen wird; die Nutzer des Online-Angebotes werden in erster Linie die bisherigen Leser sein – die dann zum Teil auf den Kauf der gedruckten Version verzichten. Aufgrund dieses Kannibalisierungseffektes ist die „Print-to-Internet“-Strategie nicht zu empfehlen, denn die Stärkung der Leser-Blatt-Bindung, die dadurch erreicht werden kann, kann unter Umständen zu Lasten der Verkaufsauflage gehen. Bei den untersuchten Titeln ist bei keinem diese Strategie zu erkennen. Zwei Drittel der Zeitschriften veröffentlichen online keinen einzigen Artikel des aktuellen Heftes, und nur eine, Geo, stellt den gesamten Inhalt ins Netz. Konzipiert man den Online-Auftritt ohne größeren Zusammenhang zu den Inhalten und Zielgruppen der Zeitschrift, betreibt man eine Loslösung von der Muttermarke. Dies kann z. B. geschehen, weil man Zielgruppen und Inhalte als ungeeignet für das Internet hält oder weil sich die Website mit der Zeit immer stärker vom Ausgangspunkt wegentwickelt. Das Problem dabei ist, dass die positiven Wechselwirkungen der beiden Medien untereinander verloren gehen, weil zu wenig Zusammenhang vorhanden ist, oder sie sogar ins Negative umschlagen, so dass sich die Rezipienten in ihren Erwartungen vom jeweils anderen Medium enttäuscht sehen. Wenn ein Verlag ein autonomes Portal einrichten will, ist es schwierig, dafür eine Publikumszeitschriftenmarke zu verwenden, weil keine wirkliche Eigenständigkeit erreicht werden kann und gleichzeitig das Portal das Image der Zeitschrift verschiebt oder verwässert. 25

26

Allerdings können sich unter Umständen juristische Konsequenzen ergeben, wenn die verlinkten Sites aus rechtlicher Sicht problematische Inhalte enthalten. Vgl. zu einem Aspekt dieser Problematik den Fall „Heise Verlag vs. die Musikindustrie“ (http://www.heise.de/heisevsmi). Meier u. Perrin (2000), S. 307.

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Zielgruppe Angebote

Inhalte der Print-Ausgabe

Bestehende Leser

Neue Leser

Marktdurchdringung

Marktentwicklung

Übernahme der PrintInhalte

Anteasern von PrintInhalten, Anpassung an neue Nutzer

Æ Gefahr der Kannibalisierung!

Æ Gewinnung neuer Leser

Produktentwicklung

Diversifikation

Zusatzfeatures für Print-Leser

Loslösung des OnlineAuftrittes vom PrintProdukt

Æ Stärkung der LeserBlatt-Bindung

Æ Keine positiven Wechselwirkungen!

Neue Inhalte

Abb. 3. Kombinationsmöglichkeiten von Zielgruppen und Angeboten27

Neue Leser, die über das Internet besser erreicht werden können als über den Kiosk oder herkömmliches Marketing, werden über ausgewählte und entsprechend auf sie angepasste Inhalte für die Zeitschrift interessiert sowie durch deutliche Verweise und Verbindungen an diese herangeführt. Bei 25 der Untersuchungsobjekte wird die Titelseite der aktuellen Ausgabe auf der Startseite des Online-Auftrittes abgebildet, bei drei weiteren auf einer Unterseite. Das aktuelle Inhaltsverzeichnis findet sich in 23 Fällen. Erstaunlich ist, dass im Durchschnitt nur jede fünfte Zeitschriftenrubrik auch auf dem Online-Auftritt verwendet wird – durch den strukturell ähnlichen Aufbau würde es sich anbieten, die Zeitschriftenrubriken für die Navigation zu übernehmen. Auf 28 Auftritten findet man ein Formular, über das ein Abonnement der Zeitschrift bestellt werden kann, die beiden restlichen bieten dagegen noch nicht einmal eine E-Mail-Adresse explizit für diesen Zweck an.

27

Quelle: eigene Darstellung, in Anlehnung an die Produkt-Markt-Matrix, die 1965 von Ansoff entwickelt wurde, um den Handlungsspielraum von Unternehmen anhand der Kombinationsmöglichkeiten von Produkten und Märkten darzustellen. Vgl. z. B. Nieschlag, Dichtl u. Hörschgen (1994), S. 898–901.

Online-Auftritte von Publikumszeitschriften im World Wide Web

407

Bietet man den Lesern dagegen Zusatzfeatures an, die in inhaltlicher Verbindung zur Zeitschrift stehen, aber nicht deren Inhalt vorwegnehmen, gewinnt man Doppelnutzer und kann so die Leser-Blatt-Bindung verbessern, ohne dass sich dies negativ auf die Verkaufszahlen niederschlägt. Im Gegenteil: Bei konsequenter Umsetzung wird die Zielgruppe besser ausgeschöpft, weil der im Rahmen des Online-Auftrittes gebotene Mehrwert den Wert der Zeitschrift für den Leser erhöht. Dieser Mehrwert kann noch zusätzlich verstärkt werden, indem manche Bereiche des Auftrittes, meist „Premium-Bereiche“ genannt, nur durch Eingabe der Abonnement-Daten freigeschaltet werden – so dass sich mancher Point-of-Sale-Käufer unter Umständen überlegt, ein Abonnement abzuschließen, weil es ihm auch diesen Zusatznutzen im Internet eröffnet. Zur Einrichtung eines solches Premium-Bereiches hatten sich zwei der untersuchten Auftritte entschlossen. Im Grunde genommen muss ein Verlag mit dem Online-Auftritt einer Publikumszeitschrift einen publizistischen Spagat schaffen – sowohl die stärkere Bindung von Lesern der gedruckten Version durch zusätzliche Informationen als auch die Heranführung von neuen Lesern an das Muttermedium durch die crossmediale Referenzierung auf dessen Inhalte. 4.3

Finanzierung

Die Finanzierung durch Online-Werbung ist eine der Haupteinnahmequellen im Internet. Das erste Werbebanner wurde im Oktober 1994 vom amerikanischen Telekommunikationskonzern AT&T auf der Seite des InternetMagazins hotwired.com geschaltet.28 Die damals zufällig verwendete Größe von 468 mal 60 Pixel ist bis heute das als „Fullsize-Banner“ am häufigsten verwendete Standardmaß geblieben. Nach der ersten Phase der Euphorie und völlig übersteigerten Erwartungen sowie dem darauf folgenden Einbruch und der Totsagung von Online-Werbung befindet diese sich nun wieder im starken Aufwärtstrend. Die Werbungtreibenden haben erkannt, wie effektiv und zielgerichtet diese Werbeform eingesetzt werden kann, sobald sie richtig durchdacht wird – die Entwicklung neuer Formate steht heute erst am Anfang. Laut der Nielsen Online-Werbestatistik betrugen die Bruttoaufwendungen für Online-Werbung 2005 in Deutschland rund 410 Mio. Euro29 – gegenüber dem Vorjahr bedeutet dies ein Wachstum von 33 Prozent, die höchste prozentuale Steigerungsrate aller von Nielsen Media Research erfassten Medien. Unter den Finanzierungsformen ist die Online28 29

Vgl. Breyer-Mayländer u. Werner (2003), S. 390. Vgl. Nielsen Media Research (2006).

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Werbung die am einfachsten, schnellsten und kostengünstigsten zu realisierende Einnahmequelle für Online-Auftritte. Publikumszeitschriftenverlage können hier – im Vergleich zu „Pure Play Sites“ – ihre Erfahrung und ihre bestehenden Kontakte zu Werbungtreibenden nutzen. Zudem haben sie die Möglichkeit, Werbung in Internet und Zeitschrift kombiniert anzubieten. Bei 27 der 30 untersuchten Internetauftritte befinden sich Werbebanner auf der Startseite; über ein Drittel davon begnügt sich mit einem, aber auf dreien sind vier Banner, der Maximalwert, zu sehen. Auf der Startseite sind durchschnittlich 1,77 Banner vorhanden, auf den einzelnen Unterseiten 1,28. Bezüglich der verwendeten Formate herrscht das bereits erwähnte klassische Fullsize-Banner mit 75 Prozent deutlich vor. Pop-Ups und PopUnders werden wesentlich sparsamer eingesetzt, über zwei Drittel haben überhaupt keine in die Startseite eingebunden, und nur auf einer Startseite werden zwei Pop-Ups aufgerufen. Im Durchschnitt öffnet sich bei jeder dritten Startseite und bei jeder neunten Unterseite ein eigenes Fenster mit Werbung. Sponsoring zur Finanzierung und kostengünstigen oder kostenlosen Attraktion der Nutzer wird auf über der Hälfte der Online-Auftritte eingebunden, vier Auftritte sind sogar fünf oder mehr offensichtliche SponsoringKooperationen eingegangen. Meist geschieht dies in Form von Gewinnspielen, Online-Games sowie mit Themenbereichen, die von entsprechenden fachspezifischen Unternehmen unterstützt werden. Paid Content, also Inhalte im Internet, für die bezahlt werden muss, wird von den Nutzern nur sehr zögerlich in Anspruch genommen und ist sogar rückläufig.30 Die Verlage haben es diesbezüglich aber wesentlich einfacher als reine Online-Anbieter: Da die klassische Zeitschrift bezahlt werden muss, akzeptiert der Nutzer eher, dass ähnliche Inhalte auch im Internet nicht kostenlos sind. Außerdem fällt es ihnen leicht, Inhalte aus der Zeitschrift online wiederzuverwerten – dem Re-Bundling fällt im Bereich des Paid Content zunehmende Bedeutung zu.31 Paid Content setzen insgesamt neun Online-Auftritte zur Finanzierung ein – davon bieten acht einen kostenpflichtigen Premium-Bereich an, drei die Artikel des aktuellen Heftes und zwei die Nutzung des Archivs. Als Abrechnungsmethode wird das nutzungsabhängige Entgelt fast doppelt so oft eingesetzt wie das Online-Abonnement, bei letzterem wird meist eine günstigere Version für Print-Abonnenten angeboten. Die Möglichkeit, den gesamten Inhalt der aktuellen Ausgabe kostenpflichtig auch im Internet anzubieten, ähnlich wie es z. B. die Süddeutsche Zeitung mit dem SZ-E-Paper macht, 30 31

Vgl. van Eimeren u. Frees (2005), S. 372 sowie Breunig (2005), S. 409 ff. Vgl. Stahl et al. (2004).

Online-Auftritte von Publikumszeitschriften im World Wide Web

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wird von keiner der untersuchten Websites genutzt. Zwischen dem Einsatz von Online-Werbung und Paid Content besteht ein signifikanter Zusammenhang von -0,42, d. h. je mehr Bezahlinhalte angeboten werden, desto weniger Banner und Pop-Ups werden auf den Seiten eingesetzt und vice versa. Ein hochsignifikanter Zusammenhang von 0,7 besteht zwischen den Visits einer Site und dem Gebrauch von Paid Content – wohl aus dem Grund, dass sich der relativ kostenintensive Aufbau eines Paid ContentSystems erst ab einer gewissen Nutzerzahl lohnt. Eigene Online-Shops werden recht häufig, nämlich in 18 der 30 untersuchten Online-Auftritte, integriert – in zehn Fällen mit mehr als 30 Produkten im Sortiment. Speziell für Zeitschriften können Online-Shops eine lukrative Einnahmequelle darstellen, weil sie einerseits die potenziellen Käufer, nämlich ihre Leserschaft, gut kennen und die Angebote für diese optimieren können, andererseits besitzen sie im Vergleich zu anderen E-Commerce-Anbietern einen Vertrauensvorsprung beim Nutzer und können durch die beratende Funktion der Zeitschrift in ihrem Fachgebiet einen Expertenstatus vorweisen. Verkaufspotenziale können zudem ideal ausgeschöpft werden, indem die Produkte in ein thematisch passendes redaktionelles Umfeld eingebunden werden, z. B. wenn Rasenmäher im Anschluss an einen Beitrag zum Thema „Rasenpflege im Sommer“ zum Kauf angeboten werden. Über die Hälfte der Online-Auftritte bindet Affiliate Marketing ein, 13 davon sogar mehr als 30 verschiedene Produkte, und neun kooperieren mit mehr als einem E-Commerce-Anbieter. Affiliate Marketing ist ein Kommissionskonzept, bei dem E-Commerce-Anbieter, Merchants genannt, ihre Produkte über Partner-Websites, Affiliates genannt, vertreiben; letztere werden in der Regel mittels Provisionszahlungen entlohnt. Der Affiliate bindet Angebote des Merchants – meist thematisch passend – direkt in seine Seite ein; die Bestellung des Produktes wird jedoch auf den Seiten des Merchants abgewickelt. Die meisten der untersuchten Online-Auftritte mit Affiliate Marketing machen deutlich, dass es sich dabei nicht um eigene Angebote handelt, indem für die Bestellung ein neues Browserfenster mit entsprechender titelfremder URL geöffnet wird. Bei fünf Online-Auftritten dagegen wird der Nutzer darüber im Unklaren gelassen, indem der Bestellvorgang innerhalb des Framesets des eigenen Auftrittes stattfindet und somit z. B. Logo, Navigation und Design des Titels sichtbar bleiben, so dass viele Nutzer den eigentlich stattfindenden Wechsel zu einem anderen Anbieter vermutlich nicht bemerken. Generell bietet Affiliate Marketing den Online-Auftritten von Publikumszeitschriften die Möglichkeit, die oben erläuterten Potenziale von Online-Shops zu nutzen, ohne dabei in den Aufbau eines eigenen Shopsystems und die Logistik investieren zu müssen. Für die Merchants sind Online-Auftritte von

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Publikumszeitschriften besonders attraktive Affiliates – aufgrund der meist klar definierten und gut bekannten Zielgruppe sowie des gegebenen redaktionellen Umfeldes. Was Affiliate Marketing für die Wahrnehmung des Titels durch den Leser bewirkt, inwiefern sich die Nähe von Marketing von externen Firmen zu den Inhalten auswirkt und ob Paid Content-Modelle entscheidend zur Finanzierung der Online-Auftritte beizutragen vermögen, wird sich in Zukunft zeigen müssen.

5

Der Zeitschriften-Leser im Netz

Das Online-Engagement der Publikumszeitschriftenverlage weist, wie der Überblick gezeigt hat, keine klare Struktur auf. Dieses Resümee lässt sich über Deutschland hinaus erweitern: Auch in anderen Ländern ist man noch auf der Suche nach der idealen Strategie für die Online-Präsenz.32 Auf die zentrale Frage „was erwartet der Leser von unserem Online-Angebot“ oder, vielleicht noch präziser, „wofür ist er bereit, Geld auszugeben“ gibt es zumindest ansatzweise Antworten. Im Rahmen der Studie „Papier oder Bildschirm“ befragte TNS Emnid eine bevölkerungsrepräsentative Stichprobe nach ihrer Zeitschriftennutzung und dem Umgang mit Online-Angeboten von Zeitschriften.33 Während 94 Prozent der Befragten regelmäßig Zeitschriften nutzen, gaben zwei Drittel an, noch nie einen Online-Auftritt einer Zeitschrift besucht zu haben, und 62 Prozent, daran auch kein Interesse zu haben. Betrachtet man diese Ergebnisse differenziert nach Altersklassen, so fallen zwei Dinge ins Auge. Erstens zeigen die jüngsten Befragten tendenziell nicht weniger Interesse an der klassischen Zeitschrift als die ältesten, wenn auch ihr Nutzungsverhalten weniger Stabilität aufweist. Zweitens nimmt der Anteil derer, die kein Interesse an den OnlineAuftritten haben, bei den Jüngeren stark ab, auf unter 40 Prozent bei den unter 29-Jährigen. Mittelfristig gesehen ist die Entwicklung adäquater Online-Strategien für Publikumszeitschriften aufgrund der Nutzungsmuster der jüngeren Alterskohorten eine Überlebensfrage.34 In welche Richtung diese Strategien gehen sollten, lässt sich ebenfalls – zumindest in Ansätzen – aus den Resultaten der TNS Emnid-Studie ablesen: Die Leser erwarten sich von den Angeboten einen Zusatznutzen, z. B. weiterführende Informationen. Insbesondere bei den jüngeren Lesern kommen als bestimmende Momente die 32 33 34

Vgl. Fetscherin u. Knolmeyer (2004). Vgl TNS Emnid Mediaforschung (2005). Vgl. Medien aktuell (2005).

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Nachfrage nach interaktiven Angeboten hinzu – nicht nur als Rückkanal, sondern auch als Medium für den Austausch mit anderen Lesern – und der Wunsch nach Information vor der Kaufentscheidung für die Zeitschrift. Einerseits bietet sich der Zeitschrift hier eine Chance, ihren Lesern nicht nur als Informationslieferant, sondern auch als Forum zu dienen und damit eine zentrale Position im unübersehbaren Feld virtueller Kommunikation und Interaktion einzunehmen. Andererseits wird die verschärfte Wettbewerbssituation deutlich, in der intensive Anstrengungen unternommen werden müssen, den Leser als Käufer zu gewinnen.35 Dabei kommt dem Einsatz von Komponenten, die die Stärken des Online-Mediums ausnutzen, eine Schlüsselrolle zu. Gerade in diesem Bereich gibt es – oder gab es noch vor relativ kurzer Zeit – einige Defizite, wie unsere Detailanalyse gezeigt hat. Bei der Ausarbeitung von Strategien, den zunehmend aktiven und selektiven Leser an sich zu binden, muss natürlich auch den Tendenzen bei der Entwicklung mobiler Kommunikationsnetze Rechnung getragen werden. Neue Generationen von Mediennutzern werden nicht mehr bereit sein, Vermittlungsstrategien zu akzeptieren, die ihren variantenreichen Rezeptionswünschen nicht in ausreichendem Maße entsprechen.

6

Das World Wide Web: Chance und Herausforderung für die Publikumszeitschrift

Zeitschriften werden zukünftig in zunehmendem Maße plattformunabhängig genutzt werden, und der situative Kontext des Lesers entscheidet, ob er sich die Zeitschrift seiner Wahl nun am Kiosk kauft, weil er z. B. auf dem Weg zur Arbeit unterhalten werden möchte, oder ob er sich durch ihren Online-Auftritt klickt, wenn er am Computer ein paar Minuten Entspannung sucht und die gedruckte Version nicht zur Hand hat. Die Zeitschriftenmarke löst sich damit vom physischen Medium und entwickelt sich zu einer kanalunabhängigen, crossmedialen Marke, die bei ihrem Publikum für bestimmte Werte steht, ihm Inhalte liefert, die es in dieser Art und/oder Qualität bei anderen Inhaltelieferanten nicht findet oder nicht zu finden glaubt. Dieser entscheidende Faktor kann z. B. die journalistische Qualität

35

Dadurch erwarten auch den im Online-Bereich tätigen Redakteur einschneidende Änderungen. Eine Erweiterung des etablierten journalistischen Selbstverständnisses durch Marketing-Funktionen dürfte in vielen Segmenten der Publikumszeitschriften auf weniger Widerstand stoßen als bei den Nachrichtenmedien. Aber auch dort gibt es Anzeichen für ein Umdenken der Journalisten; vgl. Brill (2001).

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bei einem Nachrichtenmagazin sein, das Vertrauen in eine Ratgeberzeitschrift oder der „besondere Riecher“ bei einem Wirtschaftsmagazin. Im World Wide Web sehen sich die Online-Auftritte von Publikumszeitschriften einer verschärften Wettbewerbssituation gegenüber: sowohl zu den Auftritten der anderen klassischen Medien wie Fernsehen, Tageszeitung und Radio als auch zu den reinen Online-Angeboten. Gegenüber den übrigen klassischen Medien haben die Zeitschriften den Vorteil, dass sie, wie bereits beschrieben, in der Struktur und Rezeptionsweise zum technischen Medium Internet kompatibel sind und gleichzeitig durch die internetspezifischen Möglichkeiten die gedruckte Version ideal ergänzen können. Bestätigt wird dies durch die Reichweitenmessung der Informationsgemeinschaft zur Feststellung der Verbreitung von Werbeträgern (IVW), nach der 19 Prozent aller Visits 2005 die Nutzer auf die OnlineAuftritte von Zeitschriften führten, während nur 9 Prozent auf die Auftritte von Zeitungen und sogar nur 7 Prozent auf die von Fernsehsendern entfielen.36

Zeitungen 9%

TV 7%

Rest 3% Online only 62%

Zeitschriften 19%

Abb. 4. Reichweitenverteilung (Visits) der klassischen Medien im Internet 200437

Im Vergleich zu den reinen Internetangeboten haben die Online-Auftritte von Publikumszeitschriften ebenfalls entscheidende Vorteile. Zum einen verfügt eine etablierte Zeitschrift über einen Bekanntheitsgrad und eine definierte Zielgruppe, in deren Ansprache die Redaktion erfahren ist. Zum anderen werden die Glaubwürdigkeit der Zeitschrift und das Vertrauen, das die Leser in sie setzen, auf den Online-Auftritt übertragen. Dieser Ver36 37

Vgl. von Reibnitz (2005), S. 5. Quelle: Informationsgemeinschaft zur Feststellung der Verbreitung von Werbeträgern (IVW) u. Verband Deutscher Zeitschriftenverleger (VDZ); Zahlen gerundet. Aus: von Reibnitz (2005), S. 5.

Online-Auftritte von Publikumszeitschriften im World Wide Web

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trauensvorsprung ist nicht zu unterschätzen, denn das Internet ist immer noch das mit Abstand am wenigsten glaubwürdige Massenmedium: Wie die ARD/ZDF-Langzeitstudie „Massenkommunikation“ aufzeigt, weisen dem Internet nur 22 Prozent der Bevölkerung dieses Attribut zu.38 Und zu guter Letzt können die Zeitschriften im Internet Synergieeffekte nutzen, durch die der Online-Auftritt einfacher zu finanzieren ist: durch die Doppelnutzung redaktioneller und inhaltlicher Ressourcen sowie durch etablierte Beziehungen zu Werbekunden, gepaart mit der Möglichkeit, Werbeflächen gebündelt für beide Kanäle verkaufen zu können. Publikumszeitschriften haben die Möglichkeit, durch ein zielgerichtetes Engagement im Internet eine plattform- und medienunabhängige Marke zu schaffen.39 Der Online-Auftritt wird dabei bis auf weiteres von der gedruckten Version querfinanziert werden müssen, weil Online-Werbung und -Shops bisher zu geringe Umsätze generieren und auch die Zahlungsbereitschaft für Paid Content wohl noch für einige Zeit gering bleiben wird – aber der Mehrwert, der durch ihn für die Zeitschriftenmarke gewonnen werden kann, wird auf Dauer die Ausgaben übersteigen. Neue Lesergruppen können erschlossen, die Leser-Blatt- und besonders die AbonnentenBindung erhöht sowie Image und damit auch Werbeumsatz verbessert werden. Eine Reihe von Publikumszeitschriftenverlagen hat dieses Potenzial realisiert und beginnt, seine Online-Aktivitäten wieder stärker in den Vordergrund zu stellen.40 Voraussetzung für eine positive Entwicklung ist natürlich, dass die Präsenz im World Wide Web strategisch durchdacht ist, dass die Zielgruppe entsprechend angesprochen wird und dass gedruckte Version und OnlineAuftritt crossmedial so verknüpft werden, dass für beide durch den komplementären Aufbau entsprechende Mehrwerte entstehen.

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40

Vgl. Ridder u. Engel (2005), S. 432. So sieht Marcel Reichart, Geschäftsführer Corporate Strategy Hubert Burda Media, die Zukunft der Zeitschrift in „Media Communities“, in denen die Stärken unterschiedlicher technischer Medienplattformen kombiniert werden. Vgl. W&V (2006). Vgl. Reischauer (2005).

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E-Paper – eine Perspektive für die Publikumszeitschrift?

Sascha Ebel

1

Das digitale Abbild

Beim Erforschen von weiteren Vertriebs- und Diversifizierungsmöglichkeiten für die Publikumszeitschrift stoßen Verlage früher oder später auf eine eher ungewöhnliche Erscheinungsform: das so genannte E-Paper, eine Eins-zu-eins-Abbildung der gedruckten Zeitschrift im Internet. Ist es nicht das, wovor in der anfänglichen Interneteuphorie immer gewarnt wurde? Werden hierbei nicht die bewährten Stärken des OnlineMediums ignoriert?1 Vereint das E-Paper auf den ersten Blick nicht eher die Nachteile beider Mediengattungen als die Vorteile? Wenn dem so wäre, warum ziehen dann immer mehr Verlage nach und erweitern ihr Angebot durch E-Paper? Bei den meisten E-Paper-Ausgaben sind die Nutzerzahlen im Vergleich zu den Print-Auflagen verschwindend gering.2 Dennoch gibt es mittlerweile mit e-market sogar eine Zeitschrift, die allein als E-Paper zu erhalten ist und wie das reine Online-Angebot Netzeitung ohne ein Papier-Pendant auskommt. Ist das jetzt nur eine kleine Spielerei, die in ein paar Jahren wieder verschwunden ist, oder wird das E-Paper von den Lesern akzeptiert werden und vielleicht sogar die Zeitschriftenform der Zukunft sein? Dies ist die Leitfrage für diesen Beitrag. Nach einer kurzen Beschreibung der Entwicklung des E-Papers und seiner Besonderheiten wird auf die möglichen Mo1 2

Vgl. Riefler (1997) sowie Wagner (1998). Vgl. Hüsing (2004), S. 35.

418

Sascha Ebel

tivationen der Verlage eingegangen, eine E-Paper-Ausgabe auf den Markt zu bringen, gefolgt von einem Überblick über die verschiedenen technischen Herstellungsmethoden. Anschließend werden drei Strategiearten vorgestellt, mit denen Verlage ein E-Paper erfolgreich umsetzen können. Zu diesen Inhalten wurde Anfang 2005 im Rahmen einer Magisterarbeit eine Expertenbefragung durchgeführt, deren Ergebnisse den Beitrag beschließend zusammengefasst werden.3

2

E-Paper – die Entwicklung

Zu Beginn der 90er Jahre haben erste Zeitungen mit PDF-Ausgaben experimentiert. 1999 wurden E-Publikationen als neue Geschäftsfelder gesehen und 2001 zum ersten Mal professionell installiert. Praktisch zeitgleich und unabhängig voneinander haben verschiedene Zeitungsverlage und Technikunternehmen weltweit das E-Paper erfunden.4 Die erste Zeitung in Deutschland war die Koblenzer Rhein-Zeitung, die bereits seit Juni 2001 ihren Abonnenten die Möglichkeit gibt, die komplette Ausgabe der Zeitung eins zu eins HTML-tauglich im Netz zu lesen.5 Ursprünglich hatte Joachim Türk, Geschäftsführer von RZ-Online, nur daran gedacht, das Online-Angebot zu verbessern. Beim Nachdenken über eine geeignetere Gliederung der Artikel kam Türks Abteilung auf das seit hunderten von Jahren bewährte Prinzip der Tageszeitung. Nach Fertigstellung dieser Verschmelzung wurde ihnen bewusst, praktisch „aus Versehen ein ganz neues Produkt geschaffen zu haben“6, erzählte Türk in einem Interview. Lange Zeit blieb der Pionier allein. Erst im Herbst 2002 entwickelten die Sächsische Zeitung und die Münchner Abendzeitung ebenfalls kostenpflichtige E-Paper.7 Anfang 2003 sorgte die Informationsgemeinschaft zur Feststellung der Verbreitung von Werbeträgern (IVW) für einen zusätzlichen Impuls: Seitdem weist sie das E-Paper als Extra-Auflage aus, wenn dies mit dem Print-Pendant vollständig übereinstimmt und gebührenpflichtig ist. Danach folgten die Neuankündigungen der E-Paper-Ausgaben Schlag auf Schlag: Augsburger Allgemeine, Rheinische Post und Rhein3

4 5 6 7

Vgl. Ebel (2005). Befragt wurden zwölf Verantwortliche der E-Paper-Ausgaben von deutschen Publikumszeitschriften. Hauptthemen waren die wirtschaftliche Herangehensweise der Verlage an das E-Paper und seine zukünftige Entwicklung. Vgl. Riefler (2003b), S. 3. Vgl. Bottler (2003), S. 128. Ridder (2004a), S. 29. Vgl. Bottler (2003), S. 128.

E-Paper – eine Perspektive für die Publikumszeitschrift?

419

pfalz starteten zum 1. Juli, die Hannoversche Allgemeine Zeitung folgte am 4. Juli, und wenige Wochen vorher hatten auch Tagesspiegel, Südkurier und Handelsblatt E-Paper-Lösungen eingeführt.8 Der Zeitschriftensektor ließ etwas länger auf sich warten. Zwar ging mit Lanline schon Anfang 2002 die erste Zeitschrift mit einem E-Paper auf den Markt, das aber, wie auch sein ein Jahr jüngerer Nachfolger Stiftung Warentest, bereits wieder eingestellt wurde. Der Stern war ab April 2004 der Dritte im Bunde und ist damit auch die erste Zeitschrift, die bis heute eine E-Paper-Ausgabe anbietet. Mit Focus und Spiegel sind seit Juli bzw. Oktober 2004 alle drei großen Nachrichtenmagazine als E-Paper vertreten. Aber was genau ist dieses E-Paper? Das E-Paper ist die elektronische Gesamtausgabe einer Publikumszeitschrift. Sämtliche Artikel und Anzeigen sowie Titelblatt und Inhaltsverzeichnis sind eins zu eins im Internet abrufbar und meist mit einer Downloadfunktion versehen, so dass sie auch offline verfügbar sind. Schlagzeilen und Überschriften sind in der Gesamtübersicht oft sofort lesbar, die einzelnen Artikel werden angeklickt, herangezoomt, durch Scrollen erfasst oder „poppen“ beim Überfahren mit der Maus auf. Von Seite zu Seite kann durch Mausklick umgeblättert werden. Durch interne Verlinkung können einzelne Seiten oder Artikel direkt angesteuert werden, und durch Volltextsuche lässt sich einfach zu den Nennungen eines bestimmten Stichwortes springen. Die Preisgestaltung beim E-Paper geht von „kostenlos für jeden“ oder „kostenlos für PrintAbonnenten“ bis zu „gleich teuer wie das Print-Pendant“. Oft ist neben dem Abonnementangebot auch ein Bezug von E-Paper-Einzelausgaben möglich. Die elektronische Eins-zu-eins-Abbildung der Zeitschrift trägt den Namen E-Paper allerdings nur im deutschsprachigen Raum. In der englischsprachigen Welt wird der Begriff mit wirklichem elektronischem Papier gleichgesetzt – extrem flachen und biegsamen Computerbildschirmfolien, auf denen sich Texte und Bilder mit Hilfe von Ionen darstellen, überschreiben und bequem transportieren lassen. Die elektronische Zeitschriftenausgabe ist im englischen Sprachgebrauch hauptsächlich unter der Bezeichnung digital edition bekannt; Synonyme sind e-dition, e-edition, electronic edition und replica edition.9, 10 8 9 10

Vgl. Riefler (2003c), S. 216. Vgl. Zollman (2004), S. 1. Natürlich wurde auch das Ausland vom E-Paper-Boom erfasst. In den USA veröffentlichte beispielsweise die New York Times ihre Digital Edition im Oktober 2001. In Großbritannien gibt es die elektronische Version der Londoner Times seit Mai 2003, Daily Telegraph und The Guardian Unlimited folgten kurz darauf (vgl. EPS Focus Report (2004), S. 18). In den Niederlanden, der

420

Sascha Ebel

Das E-Paper ist zwar in deutschen Verlagskreisen in aller Munde, allerdings wurde es von den Lesern noch nicht so recht angenommen. Der Pionier Rhein-Zeitung bringt es im vierten Quartal 2005 gerade auf 3.065 verkaufte E-Paper-Exemplare und gehört damit schon deutlich zur Spitze.11 Überflügelt wurde die Rhein-Zeitung bisher nur von der Süddeutschen Zeitung mit 5.607 Exemplaren. Abgesehen von den Zeitungen und Zeitschriften, deren E-Paper kostenlos angeboten werden und damit nicht von der IVW gezählt werden, haben bisher nur wenige Publikationen die Tausendermarke übersprungen. Meist befinden sich die Abonnentenzahlen sogar nur im zwei- bis unteren dreistelligen Bereich.

3

Besonderheiten des E-Papers

„Unsere E-Paper-Lösung kombiniert die gelernten Vorteile der klassischen Tageszeitung mit den Möglichkeiten des Internets. [...] E-Paper ist die tagesaktuelle elektronische Version einer Tageszeitung und entspricht im Look and Feel der Papierausgabe.“ So der Text einer Werbeanzeige eines E-Paper-Herstellers.12 Hinsichtlich der Aktualität steht die E-Paper-Ausgabe zwischen Zeitschrift und Online-Angebot. Da die Inhalte eins zu eins von der PrintAusgabe übernommen werden, Druck und Distribution aber entfallen, ist die E-Paper-Ausgabe zwar nicht permanent aktualisierbar wie das OnlineAngebot, meist jedoch einige Stunden oder Tage vor Erscheinen der gedruckten Ausgabe abrufbar. Für Auslandsabonnenten ist dieser Vorteil natürlich beträchtlich, weil Zeitschriften über den Postweg tage- bis wochenlang unterwegs sein können. Somit schließt der Globalitätsvorteil des Internets das E-Paper mit ein. Die vielfach erwähnte Stärke der seit hunderten von Jahren gewohnten Nutzung der Zeitschrift trifft nur bedingt auf das E-Paper zu. Das E-Paper hat aufgrund des identischen Abbildes der gedruckten Zeitschrift den Vorteil, dass der Leser schnell weiß, wo er die benötigten Informationen findet, wie das Produkt strukturiert ist und wann eine Seite, wann die komplette Ausgabe zu Ende ist.13 Das Online-Angebot ist hier deutlich unübersichtlicher aufgrund der zerstückelten Texte, der Verschachtelungen, des unbegrenzten Layouts und der nach oben offenen Seitenzahl. Das

11 12 13

Schweiz, Belgien, Italien, Österreich und Frankreich haben Pressehäuser schon etwas länger Erfahrung mit dem E-Paper (vgl. Riefler (2003c), S. 217). Vgl. IVW (2006). T-Systems (2003). Vgl. Bucher et al. (2003).

E-Paper – eine Perspektive für die Publikumszeitschrift?

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spricht zwar deutlich für das E-Paper; bei der Übersichtlichkeit hat allerdings die Zeitschrift einen Vorsprung, weil der Leser auf einen Blick eine gesamte Doppelseite überschlagen kann, wohingegen er beim E-Paper wie auch beim Online-Angebot immer mit einem gegenüber der ausgegebenen Information zu kleinen Bildschirm arbeiten muss, was Navigation mit der Maus zwingend nach sich zieht und somit erst erlernt werden muss. Den Nachteil der Technikgebundenheit haben E-Paper und OnlineAngebot gemeinsam. Bei vielen E-Paper-Anbietern muss sogar noch eine zusätzliche Lese-Software installiert werden, was den Umgang weiter verkompliziert und teilweise die Nutzung auf Firmenrechnern unmöglich macht, weil viele Firmen zwecks Virenschutzes keine Installation von zusätzlichen Programmen erlauben. In Punkto Disponibilität ist die gedruckte Zeitschrift unschlagbar: Die Lektüre kann bequem transportiert und zu jeder Zeit und an jedem Ort durchgeblättert werden, weil sie an kein Ausgabemedium gebunden ist. E-Paper oder Online-Angebot mit dem Laptop auf dem Schoß in der U-Bahn oder auf der Toilette zu lesen, ist momentan noch schwer vorstellbar. Das genüssliche Schmökern in der gewohnten Zeitschrift auf dem Sofa liegt im Wesentlichen an den Vorzügen des Papiers selbst. Die Haptik und Ästhetik des Gedruckten ist nicht zu unterschätzen. Blätterrascheln, die Möglichkeit, Eselsohren hineinzuknicken und Wörter zu unterstreichen, das Empfinden beim Umblättern oder der Geruch der Druckerschwärze sind Eigenschaften, die E-Paper wie auch Online-Angebot gänzlich fehlen.14 In einer Untersuchung sagten 50 Prozent der Befragten, dass „das Empfinden beim Lesen einer gedruckten Zeitung, beispielsweise am Frühstückstisch, [...] durch Online-Zeitungen nicht vermittelt werden (kann)“15. Auch würden fast zwei Drittel der Befragten der gedruckten Zeitung treu bleiben, wenn sie in Zukunft nur eine der beiden lesen dürften.16 Weiterhin lassen sich Online-Angebot und E-Paper nicht zweckentfremdet nutzen wie beispielsweise Zeitungsblätter zum Ausstopfen von Paketen, Fensterputzen oder Einwickeln von Fischen. Auf der anderen Seite produzieren die elektronischen Angebote auch kein Altpapier und müssen deshalb nicht entsorgt werden. Das Lesen am Bildschirm wird von den meisten Nutzern als deutlich unangenehmer empfunden als auf Papier. Diverse Studien, die sich mit diesem Thema befassen, attestieren dem Lesen am Bildschirm gegenüber dem auf Papier eine Verringerung der Geschwindigkeit bis zu 30 Prozent, schnellere Ermüdungserscheinungen sowie schwierigere Entdeckung von 14 15 16

Vgl. Rada (1999), S. 73 f. sowie Neuberger (1999), S. 24. Duck (1999), S. 189. Vgl. Duck (1999), S. 197.

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Sascha Ebel

Fehlern.17 Diese Ergebnisse kommen allerdings nur bei längeren Texten zustande, weil auf dem Bildschirm deutlich mehr Zeilenumbrüche und Blätter- bzw. Scroll-Aktionen ausgeführt werden müssen und das Auge durch das unbewusst wahrgenommene Monitorflimmern sowie das Helligkeitskontrastverhältnis bei längerem konzentriertem Lesen belastet wird.18 Die subjektiv empfundenen Ermüdungserscheinungen können durch Pausen sowie Veränderungen der länger andauernden einseitigen Situation behoben und die Konzentration wieder hergestellt werden.19 Weiterhin lassen sich bei hoher Bildschirmauflösung und gleichzeitiger Verwendung randgeglätteter Zeichensätze beim Lesen auf dem Monitor gleich gute Werte hinsichtlich Geschwindigkeit und Fehlererkennung erzielen wie auf dem Papier.20 Die multimedialen und vernetzten Eigenschaften werden vom OnlineAngebot auf das E-Paper übertragen. Sie machen das E-Paper damit abwechslungsreicher, unterhaltsamer und in Bezug auf weiterführende Nutzung besser bedienbar als die gedruckte Ausgabe. So lassen sich Beiträge durch gezielte Stichwortsuche besonders schnell durchforsten, Hintergrund- und weiterführende Information durch Links anhängen sowie Texte und Bilder einfacher archivieren und weiterverarbeiten.21 Für die Verlage hat das E-Paper noch weitere Vorteile. Dadurch, dass die Zeitschrift bereits als elektronische Vollversion vorliegt, bevor sie zum Druck geht, ist die Herstellung einfacher und kostengünstiger als beim Online-Angebot. Logistik- und Vertriebskosten können komplett eingespart werden.22 Für die Anzeigenkunden bringt das E-Paper durch die Multimedialität und Interaktivität ebenfalls nicht zu unterschätzende Vorzüge aufgrund der abwechslungsreich gestaltbaren Anzeigenformate, die größere Aufmerksamkeit auf sich ziehen können als reine Print-Anzeigen sowie mittels automatischer Zählung von Zugriffen und wechselseitiger Kommunikation einfacher zu kontrollieren sind. Eine beispielhaft gelungene Umsetzung dieser Eigenschaften demonstrieren die E-Paper-Ausgaben der Fachzeitschriften musik.woche und games.markt, deren so genannte livepaper erstaunlich viele multimediale Inhalte, animierte Anzeigen und ausführliche Verlinkungen zur verlagsinternen Datenbank aufweisen können.23 Die thematischen Ausrichtungen 17 18 19 20 21 22 23

Vgl. Wandmacher (1993), S. 318 ff. sowie Nielsen (1995), S. 154 f. Vgl. Wand (1994), S. 60. Vgl. Ulrich (1991), S. 277 f. Vgl. Nielsen (1995), S. 154 f. Vgl. Zollman (2004), S. 5. Vgl. Riefler (2003c), S. 218. Vgl. www.livepaper.de.

E-Paper – eine Perspektive für die Publikumszeitschrift?

423

beider Fachzeitschriften machen das Einfügen dieser Elemente zwar einfacher, als es bei einigen Publikumszeitschriften der Fall ist, dennoch sollte es den meisten möglich sein, solche Funktionen entsprechend zu nutzen. Um einen besseren Überblick über die Eigenschaften der drei Angebotsformen zu bekommen, werden die genannten Merkmale in der folgenden Tabelle zusammengefasst. Bei den einzelnen Merkmalen ist das Medium mit den vorteilhaftesten Eigenschaften jeweils grau hinterlegt.24 Tabelle 1. Merkmale von Zeitschrift, Online-Angebot und E-Paper Online-Angebot

E-Paper

Aktualität

· höchstens tagesaktuell

Zeitschrift

· permanent aktualisierbar

Hypertextualität

· lineare Textstruktur · keine Verlinkung

Interaktivität Multimedialität/ Digitalisierung Speicherkapazität Globalität

· niedrig · nicht vorhanden

· nichtlineare Textstruktur · Verlinkung · Zugriff auf Datenbanken und weiterführende Infos · hoch · hoch

· um ein paar Stunden aktueller als Print · lineare Textstruktur · Verlinkung · Zugriff auf Datenbanken und weiterführende Infos · hoch · hoch

Disponibilität/ Technikgebundenheit/Zugang Lesbarkeit Haptik/Ästhetik Nutzung/Umgang/ Bedienung

· begrenzt · eingeschränkte Verfügbarkeit · Zeit, Ort, Nutzung frei wählbar · Technik nicht notwendig · gut · gut · kulturbedingt seit langem vertraut

· unbegrenzt · zeitlich und räumlich unbegrenzt verfügbar · Zeit, Nutzung frei wählbar · Technik notwendig · unbefriedigend · nicht vorhanden · muss erlernt werden

Übersichtlichkeit Entsorgung Archivierung Weiterverarbeitung Herstellung/Vertrieb

· gut · leicht · umständlich · schwierig · aufwändig und teuer

· schlecht · nicht notwendig · leicht · sehr leicht · einfach und günstig

Zweckentfremdete Nutzung

· Papier nutzbar für andere Zwecke

· nicht möglich

4

· unbegrenzt · zeitlich und räumlich unbegrenzt verfügbar · Zeit, Nutzung frei wählbar · Technik notwendig · schlecht · nicht vorhanden · schnellere Erlernung und Vertrautheit durch Print-Ähnlichkeit · mittelmäßig · nicht notwendig · leicht · leicht · sehr einfach und sehr günstig · nicht möglich

Motivationen

Die Entscheidung für oder gegen ein E-Paper sollte auf jeden Fall eine strategische sein und nicht damit begründet werden, dass es alle anderen auch machen. Die grundsätzliche Herangehensweise für Publikumszeitschriftenverlage an das Thema E-Paper kann aus verschiedenen Motivationen erfolgen.25 Im ersten Fall handelt es sich um einen neuen Vertriebs24 25

Vgl. Tabelle 1. Vgl. Riefler (2003b), S. 4 ff.

424

Sascha Ebel

weg für die Zeitschrift. Leser im Ausland oder fremden Städten, die ihre gewohnte Zeitschrift nicht am Kiosk bekommen, werden an jedem Ort der Welt ohne Wartezeit erreicht. Die Kosten für Papier, Druck und Distribution, die seit Jahren kontinuierlich ansteigen, lassen sich einsparen, und der Verlag steigert seine Auflage durch die zusätzlichen IVW-gezählten Exemplare.26 Der zweite Fall behandelt das E-Paper als zukünftige OnlinePräsentation der Zeitschrift. Vertreter dieser Idee vertrauen auf die überlegene intuitive Navigation mit dem gewohnten Layout, gepaart mit multimedialen Inhalten wie Video- und Audiodaten. Anzeigenkunden sollen sich für die neuen Werbeformate dieser Variante begeistern. Im dritten Fall kann das E-Paper als Ausgangspunkt für ergänzende Mehrwertdienste der Zeitschrift gesehen werden: Rund um die Zeitschrift wird für alte und neue Kundenkreise eine Community aufgebaut, die das ursprüngliche Mutterblatt ergänzen und die Kundenbindung stärken soll. Vorstellbar sind in diesem Fall Serviceleistungen wie ein Clippingdienst, die Lieferung von Spezialausgaben in Firmen-Intranets, die Zusammenstellung von individuellen themenspezifischen Einzelressorts und Artikeln je nach Bedarf oder ein Zugriff auf das digitale Archiv.27 Generell wichtig ist, dem Leser die Inhalte auf allen möglichen Wegen zugänglich zu machen, die sie wünschen. Wenn ein Verlag auch große Firmenkunden beliefert, deren einzelne Print-Abos mühselig von Mitarbeiter zu Mitarbeiter in Umlauf gehen, könnte er diese durch eine E-PaperMehrfachlizenz ersetzen. So kann das E-Paper von allen Mitarbeitern gleichzeitig genutzt werden. In diesem Fall ist ein sicheres Digital Rights Management (DRM) vonnöten, um Kannibalisierung zu vermeiden. Unerwünscht wäre schließlich, dass eine Firma alle Print-Abos abbestellt, um ein einzelnes E-Paper ins firmeneigene Intranet zu laden, auf das alle 500 Mitarbeiter kostenlosen Zugriff haben. Denkbar wäre auch, das E-Paper als Rationalisierungsmaßnahme zu nutzen, um beispielsweise einen günstigen Belegversand zu erreichen.28 Bei Firmenkunden braucht sich der Verlag wenig Gedanken über die Breitbandigkeit des Internetanschlusses zu machen, weil diese bei den meisten Firmen mittlerweile Standard ist.29 Wer seinen Lesern allerdings die Zeitschriftennachsendung in den Urlaub erleichtern will, sollte sensibler mit dem Thema umgehen: Das Downloaden einer umfangreichen E-Paper-Ausgabe kann bei Modem- oder ISDNZugang viel Zeit und Geld kosten.30 26 27 28 29 30

Vgl. Pascual (2003), S. 78. Vgl. Riefler (2003c), S. 221 ff. Vgl. Riefler (2003b), S. 6 f. Vgl. Reimers (2002). Vgl. Riefler (2003b), S. 6 f.

E-Paper – eine Perspektive für die Publikumszeitschrift?

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Für ein digitales Archiv bietet das E-Paper hervorragende Möglichkeiten, nicht nur sämtliche Sonderausgaben einer Zeitschrift jedem Leser bei Bedarf zur Verfügung zu stellen, sondern auch ältere Ausgaben rückwirkend zu digitalisieren und den Zugriff darauf zu ermöglichen.31 Durch gezielte Stichwortsuche ist im E-Paper der gesamte Zeitschriftentext schnell zu durchstöbern und das Gesuchte zu finden. Unterschätzt wird oft der Wunsch vieler User, auch die Anzeigen in die Volltextrecherchefunktion mit zu integrieren. Für die Anzeigenkunden ist der Vorteil einer E-PaperAnzeige, dass sie bei einem eingegeben Stichwort mit unter den Suchergebnissen auftaucht und den Nutzer durch Anklicken gleich auf die Website des speziell beworbenen Angebotes springen lassen kann. Das E-Paper als Lockmittel für jüngere Leser einzusetzen, um diese über ihre Online-Affinität für das Print-Medium zu begeistern, wird von manchen E-Paper-Anbietern als Vorteil angepriesen.32 Die Erfolgsaussichten sieht Hans-Jürgen Bucher jedoch kritisch, weil „das E-Paper kein Angebot für Personen sei, die sowieso keine Zeitung lesen. Warum sollten sie sich mit einem Interface abgeben, das aus ihrer Sicht aus der Mediengeschichte stammt?“33 Die Möglichkeit, Multimedia einzusetzen, wie bewegte Bilder und Töne, schafft es dennoch, deutlich mehr Abwechslung und Unterhaltung in das E-Paper hineinzubringen, als das reine PrintObjekt aufweist, und könnte so vielleicht doch auch jüngere Leser begeistern. Gerade diese wünschen sich weitere Informationstypen wie Animationen oder Videos, so die Ergebnisse einer Untersuchung über die Nutzung der Online-Angebote von Zeitschriften.34 Überdies sind aus didaktischer Sicht Animationen bestens dazu geeignet, als unterhaltendes, entspannendes, motivierendes und aufmerksamkeitssteuerndes Gestaltungsinstrument zu wirken.35 Auditive Darstellungsformen wie Musik und Geräusche sind ebenfalls dazu in der Lage, Aufmerksamkeit zu lenken, Rezipienten emotional zu beeinflussen, gewünschte Assoziationen hervorzurufen, Inhalte zu gliedern oder Zusammenhänge zu schaffen.36 Denkbare Optionen sind hier Erkennungsmelodien, die Hinterlegung von Filmtrailern bei Kritiken, Ausschnitte von CDs bei Bestsellerlisten oder die Einblendung von Produkttest-Videos über einen Produkttest. Hierbei sollte

31 32 33 34 35 36

Vgl. Ridder (2004b), S. 65. Vgl. Snap (2003), S. 3 sowie T-Systems (2003). Java (2004), S. 3. Vgl. Rank (1999), S. 233. Vgl. Hasebrook (1995), S. 182 f. Vgl. Lissa (1965), S. 231 sowie Wand (1994), S. 92.

426

Sascha Ebel

jedoch die Ladezeit beachtet werden, um einen vorzeitigen Abbruch der Nutzung zu vermeiden.37 Schließlich kann das E-Paper genutzt werden, um Daten zur Zeitschriftennutzung zu sammeln: Durch den Einsatz von Cookies und die Zählung von Page Impressions oder Visits lässt sich herausfinden, was Nutzer lesen, welche Objekte sie anklicken, wie lange sie sich mit einem Text beschäftigen und ob sie linear von vorn nach hinten durchlesen oder vom Inhaltsverzeichnis direkt zu bestimmten Beiträgen springen. Entsprechend lässt sich viel über die Leserschaft herausfinden, so dass das eigene Produkt verbessert und in der Folge die Bedürfnisse der Leser besser befriedigt werden können.38

5

E-Paper – die Umsetzung

Wie der vorige Abschnitt gezeigt hat, gibt es bei der Schaffung einer E-Paper-Ausgabe bezüglich Aufgabenstellung und Zielvorgaben einiges zu beachten. Eine wichtige Entscheidung ist, welche Technik der E-PaperAusgabe zugrunde liegen soll: Ist es sinnvoller, das System eigenständig zu entwickeln oder einen externen Anbieter zu beauftragen? Im Rahmen der Technikwahl ist die Hauptzielgruppe zu klären und zu überlegen, welche Mehrwertdienste angeboten werden sollen, ob die Benutzerverwaltung integriert oder per Schnittstelle erfolgen soll, wie das Abrechnungssystem funktionieren soll, welche Anforderungen bezüglich Archiv, Darstellung und Nutzungsbeschränkungen bestehen und wie hoch das Investitionsvolumen ist.39 5.1

Die Technik

Bisher haben sich mehr als 20 Hersteller der Herausforderung angenommen, das Erscheinungsbild der gedruckten Medien im Internet zu präsentieren. Einige Verlage setzen wiederum auf eigene Lösungen.40 Das Spektrum der angebotenen Lösungen reicht von der zum Download bereitgestellten, einfachen PDF-Ausgabe über die rasch ladende HTMLAusgabe bis hin zu innovativen Präsentationsformen. Maßgeblich haben sich zwei Herstellungswege für E-Paper-Ausgaben herausgebildet. 37 38 39 40

Vgl. Rank (1999), S. 233. Vgl. Zollmann (2004), S. 5. Vgl. Riefler (2003b), S. 7 f. Vgl. Riefler (2003c), S. 218 f., Felten (2003) sowie Zollmann (2004), S. 32 ff.

E-Paper – eine Perspektive für die Publikumszeitschrift?

427

Der erste Herstellungsweg geht vom fertigen Endprodukt Zeitschrift aus und nutzt die PDF-Dateien, die der Verlag häufig im Produktionsprozess ohnehin erzeugt. Mit Hilfe von Mustererkennungssystemen wird dieses Endprodukt aufbereitet, meist in XML-Daten umgewandelt und für die Generierung des E-Papers genutzt. Da hierbei keine Produktions-Metadaten benötigt werden, kann die Realisierung zügig und unkompliziert erfolgen. Der zweite Herstellungsweg sieht das E-Paper als Teil der Zeitschriftenproduktion und greift auf die Metadaten der Redaktions-, Anzeigen- und Produktionsplanungssysteme zu, die unmittelbar verarbeitet werden können und so die Erstellung des E-Papers vollständig automatisieren. Der Implementierungsaufwand dieser Methode ist zwar höher, bringt aber auch die Möglichkeit mit sich, bei anderen Anwendungen nützlich zu sein, wie dem Versand elektronischer Belegexemplare oder der Honorarabrechnung. Beide Wege schließen eine manuelle Nachbearbeitung zum Einflechten von Mehrwertdiensten wie interaktiven Anzeigen nicht aus. Es sollte grundsätzlich festgelegt werden, ob das E-Paper ein vollautomatisch erzeugtes Abbild der Zeitschrift ohne Zusätze sein soll. Dann ist eine Nachbearbeitung nur unnötiger Aufwand, und manuelle Eingriffsmöglichkeiten erübrigen sich. Falls das E-Paper allerdings ein neues Angebot für Leser und Anzeigenkunden darstellen soll, sollte eine komfortable und schnelle Administrationsoberfläche zum technischen Anforderungsprofil gehören. Das E-Paper bietet gewissermaßen eine Möglichkeit, digitale Inhalte zur optimalen Wiederverwertung bereitzuhalten und ist letztendlich ein Teil der integrierten Zeitschriftenproduktion, der sich nahtlos in die vorhandene Systemarchitektur einfügen muss.41 Ob PDF- oder HTML-Darstellung genutzt werden sollte, ist abhängig von der Zielgruppe. So erfreuen sich die PDF-Versionen zwar detailgetreuerer und anspruchsvollerer Betrachtung, sprengen aber mit der schieren Dateigröße jede langsame Internetverbindung. Wer anstatt einer graphisch optimalen Darstellung die Seiten „druckähnlich“, schnell und ohne extra Anzeigeprogramm zeigen will, entscheidet sich besser für die HTMLVersion. Langfristig wird sich vermutlich die PDF-Version durchsetzen, weil neue Kompressionstechniken die Bildansichten mit deutlich geringerer Dateigröße in bester Qualität darstellen werden. Durch steigende Verfügbarkeit von Bandbreite werden schnellere Ladegeschwindigkeiten erreicht, und das PDF-Leseprogramm Adobe Acrobat Reader ist auf vielen Rechnern standardmäßig installiert oder steht ansonsten kostenlos im Internet zur Verfügung.42 41 42

Vgl. Riefler (2003b), S. 9 sowie Bucher et al. (2003), S. 434 ff. Vgl. Hohensee u. Kroker (2003), S. 98; Riefler (2003c), S. 218 f.

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Sascha Ebel

Weiterhin muss zwischen Online- und Offline-Nutzung unterschieden werden. Um das E-Paper für die IVW zählbar zu machen, muss die gesamte E-Paper-Ausgabe auf den eigenen Computer geladen werden können.43 Das bedeutet zwar längere Ladezeiten, aber auch die Freiheit, jederzeit und unbegrenzt oft auf die erworbene Ausgabe zugreifen zu können, ohne erneut eine Online-Verbindung herzustellen. Klare Nachteile liegen hier auf den Seiten aller Beteiligten. Verlage können das Surfverhalten der Nutzer nicht mehr nachvollziehen, der Leser kann interaktive Elemente und direkte Verbindungen ins Netz nicht mehr nutzen, und der Anzeigenkunde kann den potenziellen Käufer nicht durch Links auf seinen Internetauftritt führen oder das beworbene Angebot per E-Commerce absetzen.44 5.2

E-Paper-Systeme

Das selbstgenerierende PDF-E-Paper ist zweifelsohne die kostengünstigste Methode, ein E-Paper zu realisieren. Das Datenformat ist Teil der Zeitungs- bzw. Zeitschriftenproduktion oder kann auf einfache Weise erzeugt werden. Zeitungen wie die Nordsee-Zeitung, die Münchner Abendzeitung oder das Nederlands Dagblad bieten ihren Abonnenten eine reduzierte PDF-Datei mit einfachsten Funktionen zum Download an. Der Nachteil hierbei ist neben der schon erwähnten Dateigröße und der unkomfortablen Bedienung der fehlende Schutz vor unberechtigtem Zugriff: Die Dateien können beliebig oft vervielfältigt und weitergeschickt werden. So sind Urheberrechte nicht mehr geschützt, und das Kannibalisierungsrisiko steigt. Das E-Paper kann zwar mit verschiedenen Möglichkeiten vor unberechtigter Nutzung geschützt werden, doch je höher dieser Schutz, desto mehr Aufwand muss betrieben werden.45 Um komfortablere und sichere E-Paper-Ausgaben zu schaffen, hat es sich eine ganze Reihe von externen Anbietern zur Aufgabe gemacht, eigene Herstellungslösungen zu entwickeln. Zu diesen Anbietern gehören u. a. Newsstand, Olive Software und Zinio.46 Für die E-Paper-Generierung übermittelt der Verlag lediglich das Endprodukt der Zeitschriftenproduktion an den Anbieter, in der Regel printverbindliche Ganzseiten als PDF-Dateien, welche von den Systemen automatisch analysiert und strukturiert werden. So werden Überschriften und Bilder beispielsweise selbständig zugeordnet. Ein manueller Aufwand wird notwendig, wenn der 43 44 45 46

Vgl. Gosdzick (2003), S. 7. Vgl. Riefler (2003b), S. 10. Vgl. Riefler (2003b), S. 12 f. sowie Hohensee u. Kroker (2003), S. 98. Vgl. Zollmann (2004), S. 32 ff.

E-Paper – eine Perspektive für die Publikumszeitschrift?

429

Verlag zusätzliche Informationen, die sich nicht aus der ursprünglichen Produktion ergeben, mit einbringen will, wie z. B. externe Verlinkungen ins Internet oder zu anderen Ausgaben.47 Dieser Aufwand schwankt je nach Umfang der Zusatzfunktionen und Anbieter, ist in der Regel aber mit wenig personellem und zeitlichem Arbeitseinsatz zu meistern. Die Kosten für diese Art der E-Paper-Einrichtung sind variabel. Einige Anbieter verlangen nur einen Anteil von jedem verkauften E-Paper-Exemplar sowie eine Provision für einen erfolgreich geworbenen Abonnenten. Andere fordern zusätzlich noch eine Anfangsinvestition für Softwarelizenz und Serviceleistung.48 Der Vorteil der externen Entwicklung und Betreuung des E-Papers ist neben dem geringen Arbeitsaufwand im Verlag eine normalerweise deutlich umfangreichere, schöner dargestellte und bessere Bedienung des Lesesystems. So simulieren einige Anbieter gar das Umblättern der einzelnen Seiten. Weiterhin ist meistens ein sicheres Digital Rights Management integriert, welches vor unbefugtem Zugriff schützt und ein Weiterleiten der heruntergeladenen Dateien dadurch verhindert, dass Lesesoftware und E-Paper-Ausgabe immer eine personalisierte Einheit bilden müssen.49 Nachteilig wirken sich jedoch bei der Nutzung die häufig sehr großen Datenpakete aus, sowie die zusätzliche Lesesoftware, die erst installiert und deren Bedienung neu erlernt werden muss. Da – wie bereits erwähnt – das Installieren von Zusatzsoftware an Firmen- oder öffentlichen Computern, z. B. im Urlaub, oft nicht gestattet ist, kann sich diese Schwäche externer Anbieter als problematisch erweisen. Bei selbstentwickelten integrierten Systemen, wie dem der RheinZeitung oder des Spiegel ist der Aufwand, ein E-Paper herzustellen, vergleichsweise hoch. Sämtliche Informationen für die E-Paper-Ausgabe werden von verschiedenen Systemen erfasst und an die E-PaperApplikation weitergegeben. Falls es z. B. in einem E-Paper eine aktive Fortsetzung geben soll, wie die Verknüpfung eines angerissenen Themas auf Seite eins mit dem weiterführenden Artikel auf Seite zwei, so hängt das davon ab, ob diese Information im Produktionsablauf hinterlegt ist. Falls nicht, muss sie erst eingerichtet werden. Für eine Anzeige, die mit der Homepage des Werbungtreibenden verlinkt werden soll, muss die Internetadresse im Kundenverwaltungssystem vorhanden sein, um automatisch vom Mechanismus erfasst werden zu können. Je besser ein Medienhaus die entsprechenden Daten durch einen bereits existierenden digitalen

47 48 49

Vgl. Riefler (2003c), S. 221. Vgl. Ridder (2004b), S. 63. Vgl. Pascual (2003), S. 79 sowie Snap (2003), S. 5.

430

Sascha Ebel

Workflow liefern kann, desto einfacher ist die Erstellung eines E-PaperSystems.50 Der Aufwand für eigene Systementwicklung ist zwar recht hoch – aber sobald das System steht und alle Fehler behoben sind, funktioniert es vollautomatisch und benötigt keine Nachbearbeitungszeit. Der Verlag ist darüber hinaus frei in allen Entscheidungen bezüglich Darstellung, Funktionen sowie zusätzlichen Komponenten des E-Papers und nicht an einen externen Geschäftspartner gebunden, dem er Anteile am Gewinn überlassen müsste. Schließlich bleibt einem Verlag, der sich nicht von einem externen Anbieter abhängig machen will und dem eine eigene Systementwicklung zu aufwändig ist, noch die dritte Möglichkeit: die Lizenz für ein bereits bewährtes System von einem anderen Verlag erwerben und dieses im eigenen Haus installieren.51

6

Drei mögliche E-Paper-Strategien

Die nachfolgenden Ausführungen beschreiben die Grundsätze drei idealtypischer E-Paper-Strategien auf Basis der vorangegangenen Erläuterungen. Diese drei Strategien beinhalten verschiedene Zielansätze und die Wege zu ihrer erfolgreichen Verwirklichung. Beschrieben werden jeweils die Schwerpunkte und Besonderheiten. Weitere Unterpunkte und Optionen sind gerade bei den Zielen, Zielgruppen und der Gestaltung der MarketingInstrumente genauso denkbar wie eine Kombination aus allen drei Strategien.52 6.1

E-Paper-Modell Print-Unterstützung

Das E-Paper-Modell Print-Unterstützung eignet sich, um die Kundenbindung zur Zeitschriftenmarke zu stärken, indem die Attraktivität des Abonnements erhöht wird.53

50 51 52

53

Vgl. Riefler (2003c), S. 220 sowie Veseling (2003), S. 138 f. Vgl. Riefler (2003a), S. 4. Für weitere Ausführungen und Erläuterungen zu den einzelnen strategischen Elementen vgl. Ebel (2005), S. 39-61. Vgl. Abbildung 1.

E-Paper – eine Perspektive für die Publikumszeitschrift?

System

Vordergründige Ziele

Wettbewerbsstrategie

• PDF-basierend

• Stärkung des Print-Magazins • Kundenbindung • Serviceverbesserung

• Kostenführerschaft

Kosten / Finanzierung • geringe Entwicklungskosten • Finanzierung durch Print-Magazin

Produktstrategie • Marktdurchdringung

Vorrangige Zielgruppe

Strategischer Weg

• alle Leser des Print-Produktes Implementierungs- und Bearbeitungsaufwand • geringer Arbeitsaufwand

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• intern

Modell Print-Unterstützung

Strategisches Verhalten • reaktiv

Produktgestaltung

Preisgestaltung

Kommunikationsgestaltung

Distributionsgestaltung

• interne und externe Verlinkung • Volltextsuche im Redaktions- und Anzeigenteil • On- und Offline verfügbar • benutzerfreundliche Bedienung • besserer Service für Print-Leser

• kostenlos zum Print-Abonnement dazu • kein Einzelbezug möglich • Follow-the-Free-Strategie

• vollständige Onlinebewerbung durch Pop-ups, Banner, Buttons etc. auf Website des Print-Magazins • Newsletter, Mailings • Anzeigenkampagne im Print-Magazin

• downloadbar einen Tag vor Erscheinen des PrintMagazins • Download der vier letzten Ausgaben möglich • ältere Ausgaben im Archiv • kostenloser Archivzugriff für Abonnenten auf alle Ausgaben seit Abobeginn

Abb. 1. E-Paper-Modell Print-Unterstützung

Kennzeichnend auf der technischen Seite ist für dieses Modell das PDFbasierende, selbstentwickelte E-Paper, das kostenlos allen PrintAbonnenten als Service on Top geboten wird. Die geringen Entwicklungsund weiteren Bearbeitungskosten können problemlos vom Mutterblatt mitgetragen werden. Ein reines E-Paper-Abo oder ein E-Paper-Einzelbezug sollte vermieden werden, um Kannibalisierungseffekte auszuschließen. Dieses Modell lässt sich gut durch den Aufbau einer vielschichtigen AboCommunity unterstützen, bestehend aus einem Online-Serviceportal für Abonnenten mit dem E-Paper als Hauptelement und zusätzlichen Features, wie z. B. dem Zugriff auf Datenbanken und das Archiv sowie weiteren Serviceleistungen wie einem Routenplaner, einem VeranstaltungsNewsletter oder einer Buchungsmöglichkeit für Mietwagen. Nachteil ist hierbei, dass sich die Gesamtauflage der Zeitschrift durch die E-PaperExemplare nicht erhöhen lässt. Entgegenwirken lässt sich diesem Nachteil jedoch durch die für dieses Modell charakteristische Follow-the-FreeStrategie, mit der das gesamte Abonnementpaket rund um die Zeitschrift auf eine hohe Stufe gehoben wird. Damit wird Konkurrenten, die sich das E-Paper extra bezahlen lassen, der Wettbewerb um die Leserschaft schwer gemacht. 6.2

E-Paper-Modell Kooperation

Beim E-Paper-Modell Kooperation werden sämtliche Entwicklungs- und Bearbeitungskosten auf einen externen Anbieter ausgelagert, um damit die

432

Sascha Ebel

bereits benannten Vorteile wie Arbeitsteilung und optisch ansprechende, leicht bedienbare Lesesysteme zu nutzen. Der zusätzliche Arbeitsaufwand, der benötigt wird, um z. B. Links einzufügen, lässt sich innerhalb weniger Stunden pro Ausgabe von ein bis zwei Personen erledigen. Das E-Paper wird vorrangig dafür genutzt, Leser im Ausland und auf Reisen sowie Personen mit hohen Aktualitätsbedürfnissen und Online-Affinität zu erreichen. Mit dieser Kundengewinnung wird die Gesamtauflagenzahl erhöht und zusätzlicher Gewinn durch weitere Abonnements und Einzelverkäufe bei minimalen zusätzlichen Kosten erzielt. Wichtig ist hierbei die Preisstaffelung. Das E-Paper-Abo sollte etwas preiswerter sein als das PrintAbo. Vorteilhaft wären ein Einzelverkauf, ein reines E-Paper-Abo sowie ein Kuppelprodukt aus Print- und E-Paper-Abo, welches im Verhältnis die günstigste Variante sein sollte. Der Kommunikationsaufwand sollte etwas höher sein als beim vorherigen Modell. So könnten neben der Bewerbung durch den externen Anbieter, Werbung auf der eigenen Homepage und Anzeigen in der Zeitschrift auch zusätzliche Werbebanner auf verlagsfremden Websites, großen Portalen beispielsweise, platziert werden.54 System

Vordergründige Ziele

Wettbewerbsstrategie

• externer Anbieter

• Erhöhung der Auflagenzahlen • Neukundengewinnung

• Kostenführerschaft

Kosten/Finanzierung • keine Entwicklungskosten • keine Finanzierung notwendig • Externer Anbieter erhält Anteil der verkauften E-Paper und Provision für neue Abos

Produktstrategie Vorrangige Zielgruppe

• Marktentwicklung

• Leser im Ausland • mobile Leser • onlineaffine Nutzer

Strategischer Weg • extern Strategisches Verhalten

Implementierungs- und Bearbeitungsaufwand • sehr geringer Arbeitsaufwand

• reaktiv

Modell Kooperation

Produktgestaltung

Preisgestaltung

Kommunikationsgestaltung

Distributionsgestaltung

• interne und externe Verlinkung • Volltextsuche im Redaktions- und Anzeigenteil • On- und Offline verfügbar • ansprechende Seitengestaltung • hohes Digital Rights Management

• geringerer Preis als Print-Magazin • Einzelbezug möglich • vergünstigter Preis für Printund E-Paper-Kombination

• vollständige Onlinebewerbung durch Pop-ups, Banner, Buttons etc. auf Website des Print-Magazins • Newsletter, Mailings • Anzeigenkampagne im Print-Magazin • Angebote für Kündiger, Urlaubspausierer, bei Umzug ins Ausland, als Alternative zur Postzustellung • Onlinebewerbung auf Partnerwebsites und Portalen • externe Bewerbung durch Anbieter

• downloadbar um 0 Uhr am Erscheinungstag des PrintMagazins • Download der aktuellen Ausgaben möglich • ältere Ausgaben im Archiv • kostenloser Archivzugriff für Abonnenten auf alle Ausgaben seit Abobeginn • Einzelbezug älterer Ausgaben möglich gegen Entgelt

Abb. 2. E-Paper-Modell Kooperation

54

Vgl. Abbildung 2.

E-Paper – eine Perspektive für die Publikumszeitschrift?

6.3

433

E-Paper-Modell Innovation

Beim E-Paper-Modell Innovation steht die Schaffung einer neuen, besonders hochwertigen elektronischen Eins-zu-eins-Abbildung der Zeitschrift im Vordergrund. Die eigene Entwicklung ist zwar mit hohem finanziellen Aufwand und einigem Arbeitseinsatz verbunden, als Ergebnis gewinnt der Verlag allerdings bei gelungener Produktgestaltung neben vielen neuen Lesern noch einen Imagebonus als innovativer Anbieter. Das E-Paper sollte durch Downloadmöglichkeiten von einzelnen Rubriken in jeglicher Kombination einen hohen Personalisierungs- und Individualisierungsgrad erlauben sowie viele multimediale Elemente, von animierten Anzeigen bis hin zu Audio- und Videosequenzen, als Hintergrundinformation beinhalten, auf die bei Interesse zugegriffen werden kann. Preislich steht das E-Paper in diesem Modell auf gleicher Stufe wie die Zeitschrift, um die hohe Wertigkeit zu unterstreichen. Bei diesem Modell sollte zusätzlich zu einem erhöhten Online-Werbeaufwand über weitere Werbemöglichkeiten durch Flyer, Plakate oder auf Messen nachgedacht werden.55 System

Vordergründige Ziele

Wettbewerbsstrategie

• eigene Entwicklung

• Kreation eines neuen Produktes • Imageverbesserung • Neukundengewinnung

• Differenzierung

Kosten / Finanzierung • hohe Entwicklungskosten • Finanzierung durch Abonnement und Einzelverkauf Implementierungs- und Bearbeitungsaufwand

Produktstrategie • Diversifikation

Vorrangige Zielgruppe • technisch versierte und onlineaffine Nutzer • mobile Leser • Leser im Ausland

Strategischer Weg • intern Strategisches Verhalten

• hoher Arbeitsaufwand

• innovativ

Modell Innovation Produktgestaltung

Preisgestaltung

Kommunikationsgestaltung

Distributionsgestaltung

• hohe Wertigkeit • interne und externe Verlinkung • Volltextsuche im Redaktions- und Anzeigenteil • On- und Offline verfügbar • einzelne Rubriken der Ausgabe downloadbar • animierte Anzeigen • hoher Personalisierungsund Individualisierungsgrad

• gleicher Preis wie Print-Magazin • Einzelbezug möglich • vergünstigter Preis für Printund E-Paper-Kombination

• vollständige Onlinebewerbung durch Pop-ups, Banner, Buttons etc. auf Website des Print-Magazins • Newsletter, Mailings • Anzeigenkampagne im Print-Magazin • Angebote für Kündiger, Urlaubspausierer, bei Umzug ins Ausland, als Alternative zur Postzustellung • Onlinebewerbung auf Partnerwebsites und Portalen • Bewerbung auf Messen und in Service-Centern • Flyer

• downloadbar um 0 Uhr am Erscheinungstag des PrintMagazins • Download der aktuellen Ausgaben möglich • ältere Ausgaben im Archiv • kostenloser Archivzugriff für Abonnenten auf alle Ausgaben seit Abobeginn • Einzelbezug älterer Ausgaben möglich gegen Entgelt

Abb. 3. E-Paper-Modell Innovation

55

Vgl. Abbildung 3.

434

Sascha Ebel

7

Die Expertenbefragung

Im Rahmen der eingangs erwähnten Magisterarbeit wurde eine Expertenbefragung durchgeführt, bei der Chefredakteure oder leitende OnlineRedakteure von deutschen Zeitschriftenverlagen befragt wurden, die bereits eine E-Paper-Ausgabe eingeführt haben. Diese empirische Untersuchung wurde in fünf große Themenblöcke unterteilt. Im ersten Themenblock ging es um die Motivationen der Verlage, eine E-Paper-Ausgabe auf den Markt zu bringen, und die Ziele, die sie damit erreichen wollen. Im zweiten Block folgten Fragen zur Rentabilität des E-Papers, zu den Herstellungssystemen, Konditionen und Werbemaßnahmen. Anschließend wurden die Stärken und Schwächen des E-Papers im Gegensatz zu PrintPendant und Online-Angebot betrachtet. Die letzten beiden Blöcke konzentrierten sich auf die Nutzung und die zukünftige Entwicklung des E-Papers.56 7.1

Ziele und Motivationen

Die ökonomischen Ziele wie Gewinnmaximierung durch Auflagen-, Reichweiten- und Umsatzsteigerung stellen sich als treibende Kraft für die Einführung einer E-Paper-Ausgabe heraus. Eine besonders große Motivation sehen die Experten in der Möglichkeit, mit dem digitalen und damit schnelleren Vertriebskanal E-Paper ihre Zeitschriften an die E-PaperHauptzielgruppe Auslandskunden heranzuführen und so die Märkte zu erweitern. Ein anderer gewichtiger Beweggrund, der für eine E-PaperAusgabe spricht, ist der Mehrwert, der den Print-Abonnenten über die Vorteile des E-Papers geboten wird. So kann die Zeitschriftenmarke gestärkt und die Leser-Blatt-Bindung erhöht werden. Hierbei spielen auch erhoffte Verbesserungen für das Zeitschriftenimage eine große Rolle. Weiterhin betont wurden die veränderte Mediennutzung der Leser mit einer zunehmenden Hinwendung zu elektronischen Medien sowie das aufgrund der einfachen und investitionsarmen Umsetzung geringe wirtschaftliche Risiko einer E-Paper-Einführung. Bessere Kontrollmöglichkeiten des Leseverhaltens, die Einbettung multimedialer Elemente und damit eine abwechslungsreichere Zeitschriftengestaltung oder die Ausweitung des Werbemarktes blieben in diesem Themenblock nahezu unerwähnt. Die strategischen Überlegungen konzentrierten sich im Wesentlichen auf die Produkt- und Preisgestaltung des E-Papers. Kommunikationspolitische Instrumente wie Werbemaßnahmen und PR wurden stark ver56

Vgl. hierzu und im Folgenden Ebel (2005), S. 63-106.

E-Paper – eine Perspektive für die Publikumszeitschrift?

435

nachlässigt, was auch von einigen Experten eingeräumt wurde. Fehlende Planung für eine schnelle Bekanntmachung und Imageverbesserung des E-Papers könnte als erster Grund für die allgemein schwachen Nutzerzahlen des E-Papers aufgefasst werden. Als wichtig wurde weiterhin die Planung von verbesserten Zusatz- und Serviceleistungen rund um das E-Paper eingestuft. Ebenso gilt es einen geeigneten Schutz der Urheberrechte und das praktikabelste Herstellungssystem zu finden sowie die Kalkulation der Investitionen und laufenden Kosten zu optimieren. 7.2

Herstellung und Wirtschaftlichkeit

Auch in diesem Themenblock bestätigen die Experten die Wahl des Herstellungssystems aus vorwiegend wirtschaftlichen und strategischen Überlegungen. Das Verhältnis von eigenen Entwicklungen und denen externer Anbieter ist beinahe ebenbürtig. Allerdings zeigen sich insgesamt deutlich höhere Zugriffs- und Abonnementzahlen der E-Paper-Ausgaben auf Seiten der selbstentwickelten Systeme: Höherer Aufwand und Kosteneinsatz in der Entwicklungsphase scheinen sich zu lohnen. Arbeitsaufwand und Produktionskosten halten sich laut den Experten trotz allem auch bei den selbstentwickelten Systemen auf einem niedrigen Stand, womit diese einen zuvor eher nachteilig gesehenen Punkt entkräften können. Abgesehen von einigen Ausnahmen, die sich durch Anfangsschwierigkeiten begründen lassen und laut Aussage der Experten in absehbarer Zeit behoben sein sollten, arbeiten fast alle Systeme automatisch. Der geringe Mehraufwand lässt sich problemlos von wenigen Personen erledigen und erfordert keine Neueinstellungen. Dennoch spielen die allgemeinen Nutzerzahlen der E-Paper-Ausgaben im Verhältnis zu den Print-Auflagen eine verschwindend geringe Rolle. Allerdings verfügen die meisten der befragten Zeitschriften, wie bereits erwähnt, erst seit kurzer Zeit über eine E-Paper-Version, und die Werbemaßnahmen hielten sich bisher stark in Grenzen. Multimediale Werbeformate sind erst sehr schwach vertreten. Die befragten Zeitschriften, die in ihren E-Paper-Ausgaben bereits animierte und interaktive Anzeigen anbieten, berichten von akzeptablen Erfolgen gleichermaßen auf Seiten der Anzeigenkunden und der Leser und belegen damit die Praktikabilität der neuen Werbemöglichkeiten. Insgesamt lässt sich festhalten, dass das E-Paper trotz der geringen Verbreitungszahlen ein ökonomisch sinnvolles Produkt darstellt. In mehr als der Hälfte der Fälle stellte sich die Rentabilität nach kurzer Zeit ein. Die restlichen Experten verwiesen auf eine noch nicht abgeschlossene Optimierung der Produktionsabläufe und des Angebotes. Das finanzielle Ri-

436

Sascha Ebel

siko sei verschwindend gering, und die Investitionen und laufenden Kosten könnten problemlos von der Zeitschriftenmarke mitgetragen werden. 7.3

Stärken und Schwächen des E-Papers

Die Stärken und Schwächen des E-Papers liegen aus Sicht der Experten zu großen Teilen in den internetspezifischen Gegebenheiten. Daher fallen die Eigenschaften, die aus den Internetmerkmalen wie Hypertextualität, Globalität, Multimedialität und Speicherkapazität resultieren, am stärksten positiv ins Gewicht. Auf der anderen Seite sind die Nachteile der Technikgebundenheit, der schlechten Lesbarkeit auf dem Bildschirm, der fehlenden Haptik und der geringeren Disponibilität gravierende Punkte, die u. a. für die schlechten Nutzerzahlen verantwortlich sind. Die Erkenntnis, die sich aus diesen Aussagen ableiten lässt, ist relativ leicht praktisch umsetzbar. Auch wenn sich gewisse Nachteile nicht beheben lassen, sollten Verlage versuchen, die Schwächen abzumildern bzw. durch eine Verstärkung der Vorteile auszugleichen. Durch multimediale Elemente könnte laut den Experten z. B. der Unterhaltungswert des E-Papers erhöht und die schlechte Lesbarkeit am Bildschirm verringert werden. Ebenfalls könnte eine bessere Verlinkung zu Hintergrundinformationen und Kooperationspartnern die Vorteile des Internets betonen. Schwächen wie zusätzlich benötigte Software, zu große Datenmengen und umständliche Anmeldevorgänge sind durch eine Weiterentwicklung der Technik behebbar. Die Analyse der zwölf E-Paper-Ausgaben hat gezeigt, dass noch deutliche Defizite aufzuholen sind: Externe Verlinkung sollte nach Expertenmeinung genauso Standard werden wie interne, der Anzeigenteil sollte mit in die Volltextsuche integriert werden; auch könnten die Personalisierungs- und Individualisierungsmöglichkeiten viel stärker ausgeschöpft werden; weiterhin sind animierte Anzeigen und sonstige multimediale Erweiterungen noch nicht ausreichend vorhanden, um die Akzeptanz des E-Papers beim Nutzer zu erhöhen. 7.4

Nutzung und Leserfeedback

Aufgrund der noch jungen Marktgeschichte ihrer E-Paper-Ausgaben konnten die Experten kaum Aussagen über die Nutzung treffen. Die wenigen Rückmeldungen der Leser waren sowohl positiv als auch negativ. Die Äußerungen von lediglich einem befragten Experten lassen zwar eine Bedeutung der Aktualität hervorheben und auf ein Nutzungsverhalten schließen, das sich eher am geradlinigen Lesen einer Zeitschrift orientiert, anstatt an

E-Paper – eine Perspektive für die Publikumszeitschrift?

437

onlinespezifischem, gezieltem Suchverhalten; jedoch sind diese Aussagen wegen der geringen Nutzeranzahl und der Alleinstellung der betroffenen Zeitschrift nicht gefestigt. Dennoch bleibt Wissen über die Nutzung ein unverzichtbares Element für eine weitere Verbesserung des Angebotes und damit eine Erhöhung der Akzeptanz. Entsprechende Analysen sollten deshalb nicht vernachlässigt werden, was viele der Experten auch durch ihre Absicht bestätigten, in Zukunft Untersuchungen über die E-Paper-Nutzung durchführen zu wollen. Der relativ hohe Auslandsanteil der E-PaperNutzer bei den befragten Zeitschriften lässt allerdings auf ein allgemein gutes Erreichen der Hauptzielgruppe Auslandskunden schließen. Zur illegalen Verbreitung hingegen konnte etwas mehr gesagt werden. Da die Mehrheit der befragten Experten ein Digital Rights Management für irrelevant hält und bisher keine Probleme mit Missbrauch aufgetreten sind, könnte in Zukunft überlegt werden, den Schutz lockerer zu gestalten und damit eine Einschränkung der Nutzung aufzuheben, was wiederum eine Erhöhung der Akzeptanz und damit der Nutzerzahlen bewirken könnte. Anstatt des Kopierschutzes über eine kundenunfreundliche Software bietet sich als funktionierende Alternative verstärkte Personalisierung an, die die Leser zusätzlich als Serviceverbesserung verstehen könnten. 7.5

Die zukünftige Entwicklung

Insgesamt sieht die Zukunft des E-Papers nach Expertenmeinung positiv aus. So hält die Mehrheit eine Etablierung des E-Papers in der breiten Masse und eine Erwirtschaftung von Marktanteilen, die ein Beibehalten des Angebotes rechtfertigen, für wahrscheinlich. Vorraussetzung dafür ist allerdings, dass weiter an einer besseren Erscheinung des E-Papers gearbeitet wird. Hier sind die Vorteile des Mediums gefragt, die deutlicher zum Vorschein kommen sollten, um die Akzeptanz bei den Nutzern zu erhöhen. Mehrwerte wie stärkere Verlinkung, bessere Suchfunktionen, häufigerer Einsatz von multimedialen Elementen sowie eine Steigerung von Interaktivität und Personalisierung könnten dazu führen, dass sich die Eins-zu-eins-Abbildung der Zeitschrift zu einer eigenen Mediengattung mit festen Auflagenzahlen entwickelt. Nicht zu vernachlässigen sind ebenfalls gut durchdachte Werbemaßnahmen für das E-Paper, die einerseits den Lesern die Vorteile vor Augen führen und andererseits die Anzeigenkunden durch den Einsatz von neuen, abwechslungsreichen und interaktiven Werbeformaten überzeugen. Auch kann laut den Experten von einer permanenten Weiterentwicklung der Technik ausgegangen werden, die zur möglichen Etablierung des E-Papers beitragen kann. Die meisten Befragten gehen davon aus, dass ne-

438

Sascha Ebel

ben einer Verbesserung der Lese- und Herstellungssoftware der schnelle Breitbandzugang zum Internet in einigen Jahren in Deutschland Standard sein wird und lange Wartezeiten beim Download folglich der Vergangenheit angehören werden. Auch der Einsatz von mobilen Endgeräten mit „elektronischer Tinte“ könnte nach Meinung der meisten Experten zu einer Steigerung der Nutzerzahlen führen. Dennoch bleibt ein sprunghafter Anstieg der Leserakzeptanz genauso unwahrscheinlich wie Auflagenzahlen, die eine Kannibalisierung der Zeitschrift verursachen könnten. Realistischer sind eine moderate Steigerung der Leserzahlen und Marktanteile, die einen relativ geringen Anteil der Print-Auflagen ausmachen. Die Prognosen der Experten gehen nicht höher als 10 Prozent und schließen somit eine Substitution größeren Umfanges aus. Auf Basis der in der Expertenbefragung festgestellten Aussagen kann davon ausgegangen werden, dass die E-Paper-Ausgaben nicht nach einigen Jahren wieder verschwinden werden, sondern dass die meisten Publikumszeitschriftenmarken das E-Paper als festen Bestandteil der Service- und Angebotspalette etablieren werden und es weiterhin durch technische und vermarktungsrelevante Verbesserungen optimiert wird.

8

Fazit und Ausblick

Zur besseren Übersicht über die Aussagen dieses Beitrages folgen zum Abschluss Verknüpfungen der wichtigsten Aspekte des theoretischen Teiles und der Erkenntnisse der Expertenbefragung, die in Form von zehn Thesen zusammenfassend dargelegt werden: 1. Durch fortschreitende technische, kulturelle und soziale Entwicklung hat sich das Medienverhalten der Menschen geändert und wird sich weiterhin ändern. Der zunehmende Gebrauch von Internet, vernetzten Multimediaangeboten und digitalen Geräten führt zu einer Verschmelzung verschiedener Mediengattungen und bringt dadurch neue Produkte hervor, die immer stärker genutzt werden und, wie insbesondere das Internet, zukünftig nicht mehr aus unserer Gesellschaft wegzudenken sind. 2. Zeitschriftenverlage suchen, motiviert durch den Kampf um Auflagenzahlen und die veränderte Mediennutzung, nach neuen Vertriebswegen und Möglichkeiten zur Stärkung ihrer Publikumszeitschriftenmarken, was auch die Entwicklung des E-Papers zur Folge hatte. 3. Das E-Paper bildet durch die Orientierung am klassischen Zeitschriftenlayout gekoppelt mit den digitalen Eigenschaften des Inter-

E-Paper – eine Perspektive für die Publikumszeitschrift?

4.

5.

6.

7.

8.

9.

439

nets eine Art „Zwitterwesen“ der beiden Mediengattungen Print und Online, es vereinigt Vor- und Nachteile beider: Zum einen bietet es die Übersichtlichkeit und Vertrautheit der Zeitschrift sowie die Möglichkeiten des Internets wie Globalität, Hypertextualität, Multimedialität, Interaktivität und Individualität, zum anderen muss es jedoch Nachteile wie Technikgebundenheit, schlechte Lesbarkeit und fehlende Haptik tragen. Bei der Herstellung des E-Papers kann zwischen externen Anbietern und eigenem System gewählt werden, was je nach Entscheidung entweder mit einem relativ günstigen, bereits funktionierenden System verbunden ist, bei dem der Verlag allerdings in bestimmten Entscheidungsfragen abhängig ist und Anteile der Erlöse abgeben muss, oder eine etwas teurere und arbeitsaufwändige Entwicklung nach sich zieht, bei der aber sämtliche Entscheidungen frei sind und keine Teilung der Gewinne erforderlich ist. Durch die praktisch automatische Herstellung, die in beiden Fällen relativ kostengünstig ist und nach Abschluss der Entwicklung einen minimalen Arbeitsaufwand benötigt, ist das E-Paper ökonomisch gesehen eine sinnvolle Einrichtung, weil die finanziellen Risiken gegen null tendieren und eine Rentabilität schon bei sehr geringen Leserzahlen erreicht werden kann. Neben dem geringen wirtschaftlichen Risiko sprechen für die Einführung einer E-Paper-Ausgabe die bessere Erreichbarkeit von Auslandskunden und mobilen Lesern sowie der Mehrwert, den das E-Paper allen Lesern bietet, was die Publikumszeitschriftenmarke stärken und dadurch auch eine Steigerung der Auflagenzahlen zur Folge haben kann. Um ein E-Paper erfolgreich auf den Markt zu bringen und zu etablieren, ist eine gut geplante Strategie erforderlich. Ein Verlag muss sich bewusst darüber sein, welche Ziele und Zielgruppen er hauptsächlich erreichen will, und die strategischen Instrumente wie Produkteigenschaften, Konditionen und Vermarktung des E-Papers dementsprechend gestalten. Die Nutzer sehen das E-Paper aufgrund der Orientierung am Leseverhalten eher als Alternative zur Zeitschrift und nicht zum klassischen Online-Angebot. Dennoch sind die Stärken der internetbedingten Eigenschaften ausschlaggebend für die Nutzungsmotive und sollten deshalb noch stärker herausgearbeitet werden, um die Attraktivität des E-Papers zu erhöhen. Besonders zu betonen sind die Möglichkeiten einer umfassenden internen und externen Verlinkung zu weiterführenden Informationen sowie Kooperationspartnern, Suchfunktionen, der Einsatz abwechs-

440

Sascha Ebel

lungsreicher multimedialer Elemente mit bewegten Bildern und Tönen, neue interaktive und multimediale Werbeformate wie animierte Anzeigen, verstärkte Personalisierungs- und Individualisierungsoptionen sowie gute Recherchemöglichkeiten durch vielfältige digitale Archivfunktionen. 10. Bei Konzentration auf diese Stärken des E-Papers, unterstützt von einer umfangreichen Vermarktungsstrategie sowie von der voranschreitenden technischen Entwicklung, sollte es im Allgemeinen möglich sein, eine E-Paper-Ausgabe erfolgreich auf den Markt zu bringen. Gerade Special Interest- und Entertainment-Zeitschriften könnten besonders gute Erfolge erzielen. Die Prognosen deuten auf eine langsame, aber beständige Steigerung der Nutzerzahlen hin, die sich absehbar bis 10 Prozent der Print-Auflage entwickeln könnten. Große Substitutionseffekte können somit ausgeschlossen werden. Insgesamt ist das E-Paper also ein hervorragendes Mittel zur Stärkung der Publikumszeitschriftenmarke und sollte einen festen Platz zwischen Zeitschrift und Online-Angebot bekommen.

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E-Paper – eine Perspektive für die Publikumszeitschrift?

441

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Publikumszeitschriften im mobilen Internet

Jörg Aßmann und Klaus Täubrich

1

Einleitung

„Jederzeit und überall erreichbar“ – dieses Motto wird durch die Konvergenz von Internet und digitalem Mobilfunk zum mobilen Internet zunehmend Realität. Mit Hilfe von tragbaren, drahtlosen Endgeräten und digitalen Mobilfunknetzen wird das mobile Internet eine situationsbedingte Versorgung von Informationen unabhängig von Zeit und Ort ermöglichen. Die Vermarktung von mobilem Content und die Bereitstellung kostenpflichtiger mobiler Services wird damit vor dem Hintergrund der hohen Verbreitung von Handys und der Zahlungsbereitschaft von Handynutzern möglich und potenziell lukrativ. Gerade Zeitschriftenleser sind mit ihrem Computer mobiler unterwegs als sonstige Online-Nutzer: Sie gehen breitbandiger als der deutsche Durchschnitt und zunehmend drahtlos mit dem PC ins Internet.1 Studien belegen eine hohe Affinität vieler Zeitschriftenleser zu mobilen Diensten.2 Trotz dieser günstigen Voraussetzungen für mobile Inhalte und Dienste im Bereich der Publikumszeitschriften sind – mit Ausnahmen von Erotikund Gaming-Angeboten – bislang keine nennenswerten Umsätze für Verlage im mobilen Medienbereich zu verzeichnen.3 Die Ursache hierfür liegt vor allem im Mangel an zielgruppenspezifischen und an die Technologie angepassten Angeboten. Bislang kann die Mehrheit der potenziellen Kunden keinen Mehrwert in der Nutzung des mobilen Internets und entspre1 2 3

TNS Emnid NOnliner Atlas (2004). Institute of Electronic Business: Verlage digital unterwegs (2005). Ebenda, S. 10.

444

Jörg Aßmann und Klaus Täubrich

chender mobiler Inhalte und Dienste für sich erkennen. Die Identifikation solcher Mehrwerte wird die zentrale Aufgabe bei der Entwicklung Erfolg versprechender mobiler Geschäftsmodelle im Zeitschriftenmarkt darstellen. Veränderungen in der Medienlandschaft, insbesondere in der Mediennutzung, machen den Handlungsbedarf deutlich, der für Publikumszeitschriften besteht.

2

Veränderungen in der Mediennutzung

In 20 bis 50 Jahren wird das Durchschnittsalter der bundesdeutschen Bevölkerung deutlich gestiegen sein. Die Zahl der Jugendlichen wird ab-, die Zahl der Rentner zunehmen. Für die Medien wird dies deutliche Veränderungen in der Zusammensetzung der erreichbaren Zielgruppen zur Folge haben. Die Altersklasse über 50 Jahre wird noch erheblich größere Bedeutung für die Mediennutzung erlangen.4 Denn die zukünftig 50-Jährigen sind mit einer vollkommen anderen Medienausstattung sozialisiert als die heute 50-Jährigen. Festzuhalten ist weiterhin, dass die Menschen in Deutschland zunehmend besser mit digitalen Endgeräten ausgestattet sind. Die Ausstattung mit Geräten, die den technologischen Übergang zum mobilen Internet darstellen (Internet, Handys), hat in den letzten Jahren in der Altersklasse zwischen 14 und 29 Jahren am stärksten zugenommen.5 Mit Blick auf die Perspektiven für die Publikumszeitschrift sind jedoch weniger die Veränderungen in der Medienausstattung, sondern die damit verbundenen Verschiebungen in der Mediennutzung von Bedeutung. So ist, parallel zum Anstieg von PC- und Internet-Nutzung, die Nutzung von Zeitungen und Zeitschriften, gemessen an der auf diese verwendeten Zeit, kontinuierlich zurückgegangen. Dies macht die folgende Tabelle deutlich: Tabelle 1. Mediennutzung 2000/2001 bis 2004/2005 (Personen ab 14 Jahre, mindestens mehrmals in der Woche genutzt) In % Fernsehen Radio hören Zeitungen lesen PC/Laptop nutzen Schallpl./Kass./TB/CD hören Bücher lesen 4 5

2000/01 91 84 84 30 44 35

2001/02 90 84 83 34 44 36

Vgl. Burmeister u. Daheim (2004), S. 176–183. Schildhauer u. Täubrich (2006).

2002/03 90 83 82 38 43 37

2003/04 89 82 80 41 43 37

2004/05 89 81 79 44 42 37

Publikumszeitschriften im mobilen Internet Zeitschriften/Illustr. lesen 40 39 Videokassetten ansehen 7 8 Quelle: ma 2001 Radio II bis ma 2005 Radio II

39 8

36 8

445

35 11

In einer längerfristigen Betrachtung wird diese Entwicklung noch deutlicher: So registriert die Studie Massenkommunikation von 1970 bis 2005 einen Rückgang um rund ein Viertel der ursprünglichen Tagesreichweite in Teilen der klassischen Medien.6 Betrachtet man die Mediennutzung differenziert nach Altersklassen, dann wenden insbesondere die Altersklassen weniger Zeit für Zeitungen und Zeitschriften und entsprechend mehr Zeit für die neuen Medien auf, die in 20 bis 50 Jahren einen überproportionalen Anteil der Nutzer ausmachen werden. Dies macht die folgende Tabelle deutlich: Tabelle 2. Mediennutzung nach Zielgruppen 2005 (Personen ab 14 Jahre, mehrmals in der Woche) In % Fernsehen Radio hören Zeitungen lesen PC/Laptop nutzen Schallpl./Kass./TB/CD hören Bücher lesen Zeitschriften/Illustr. lesen Videokassetten ansehen Alter in Jahren Fernsehen Radio hören Zeitungen lesen PC/Laptop nutzen Schallpl./Kass./TB/CD hören Bücher lesen Zeitschriften/Illustr. lesen Videokassetten ansehen Quelle: MA 2005 Radio II

Gesamt 89 81 79 44 42 37 35 11 14-19 90 71 52 74 75 36 29 23

20-29 83 73 64 68 62 33 28 22

30-39 85 82 72 59 51 34 31 14

Männer 88 81 79 54 43 28 34 14 40-49 87 85 81 52 43 37 34 10

50-59 90 86 88 41 34 38 38 7

Frauen 90 82 78 35 40 45 36 9 60-69 95 86 90 21 27 40 42 6

70+ 95 80 87 9 18 42 43 5

Unter der Voraussetzung, dass sich die Mediennutzung nicht mit zunehmendem Alter in Richtung klassischer Medien verändert, sondern in jüngeren Jahren „sozialisiert“ und damit verfestigt wird, hätte das einen Be-

6

Vgl. Ridder u. Engel (2005) sowie van Eimeren u. Ridder (2005).

446

Jörg Aßmann und Klaus Täubrich

deutungsverlust von Zeitungen und Zeitschriften in den nächsten Jahrzehnten zur Folge. Dabei ist zu berücksichtigen, dass Veränderungen in der Mediennutzung nicht einfach durch die Existenz neuer Medien und Technologien hervorgerufen werden. Vielmehr ist die verstärkte Nachfrage nach diesen Technologien nur die Folge übergeordneter Entwicklungen. Die Mobilität der Gesellschaft und eine zunehmende Individualisierung der Lebensentwürfe sind wesentliche Bestandteile dieser Entwicklungen. Mediennutzung wird persönlicher, und Massenmedien werden dadurch in Zukunft an Bedeutung verlieren.7

3

Begriff des „mobilen Internets“

Eine mobile Anwendung ist die Verwendung der Fähigkeit mobiler computergestützter Systeme, drahtlos mit anderen Systemen über Mobilfunktechniken kommunizieren zu können. Mobile Kommunikation stellt dabei auf die Portabilität des Kommunikationssystems ab, wobei es nicht darauf ankommt, dass das Kommunikationssystem bewegt werden kann (das ist auch bei einem stationären PC der Fall), sondern dass die Mobilität im Sinne von Beweglichkeit eine konstituierende Eigenschaft des Kommunikationssystems ist (dies ist z. B. bei einem Handy oder einem Laptop der Fall) und dass das Kommunikationssystem aufgrund dieser Eigenschaft von den Nutzern gekauft wird.8 Die Mobilität des Kommunikationssystems ermöglicht die allgegenwärtige und vor allem ortsunabhängige Verfügbarkeit von Diensten und Inhalten.9 Das mobile Internet wird technisch möglich durch eine zunehmende Verschmelzung von Informations-, Kommunikations- und Medientechnologie. Diese Technologieverschmelzung und ihre Auswirkungen auf die entsprechenden traditionellen Märkte werden zusammenfassend auch als „digitale Konvergenz“ bezeichnet. Für die Publikumszeitschrift ist das Thema Mobilität weniger aus dem Blickwinkel der Ortsunabhängigkeit von Informationen von Interesse, denn schließlich kann auch eine Zeitschrift überall und jederzeit gelesen werden. Vielmehr gewinnt das Thema an Bedeutung, weil auch die Inhalte und Dienste durch die neuen Kommunikationstechnologien beweglich geworden sind, d. h. dass diese – angepasst an die individuellen Bedürfnisse

7 8 9

Ballhaus (2006), S. 28. Hess et al. (2005) sowie Kuhn (2003), S. 18. Assmann, Resatsch u. Schildhauer (2006).

Publikumszeitschriften im mobilen Internet

447

des Nutzers – jederzeit aktuell abgerufen und kontext- sowie situationsspezifisch zusammengestellt werden können. Diese neuen Technologien ermöglichen auch die Identifikation des Nutzers. Ein Endgerät wird sowohl im GSM- als auch im UMTS-Standard über eine spezielle Chipkarte (SIM-Karte) identifiziert. Anhand dieser eindeutigen Identifikation eines Teilnehmers nimmt das Mobilfunknetz im Vermittlungssubsystem dessen Lokalisierung und dann eine Signalvermittlung vor.10 Für Verlage ergeben sich Vermarktungspotenziale aus der Möglichkeit, die Standortinformation zum Nutzer mit bestimmten Kontextinformationen und passenden Inhalten zu verknüpfen. So können z. B. Touristen automatisch mit Stadtinformationen an bestimmten Plätzen versorgt werden. Den Besuchern einer Diskothek können z. B. DatingInformationen gesendet werden, wenn sich zwei Mitglieder einer DatingPlattform in räumlicher Nähe befinden. Je höher der Bedarf an Aktualität und der Situations- sowie Kontextbezug einer Publikumszeitschrift, desto stärker kann sich die aufkommende Nachfrage nach mobilen Inhalten auf die traditionelle Leserschaft auswirken. Vor diesem Hintergrund gewinnt eine zielgruppenspezifische Analyse der Motive und Anforderungen dieser Leser im Hinblick auf die neuen Möglichkeiten der Mobilität und Individualisierung von Content an Bedeutung.

4

Marktsituation für das mobile Internet

4.1

Mobile Angebote von Zeitschriftenverlagen

Eine Studie des IEB (Institute of Electronic Business) aus dem Jahre 2005 hat ergeben, dass die meisten Zeitschriftenverlage bereits erste Erfahrungen mit mobilen Inhalten und Diensten gesammelt haben.11 Allerdings verteilt sich die Bandbreite möglicher Inhalte und Dienste auf verschiedene Anbieter. Die stärkste Verbreitung haben dabei die Dienste SMS und MMS sowie Angebote über Mobile-Portale erfahren.12

10 11

12

Schiller (2002). Institute of Electronic Business: Verlage digital unterwegs (2005). Möglicherweise wurden einige Angebote seit dem Befragungszeitpunkt auch wieder eingestellt. Ebenda, S. 34 ff.

448

Jörg Aßmann und Klaus Täubrich

Bei den von den Verlagen im mobilen Internet angebotenen Inhalten und Diensten handelt es sich überwiegend um kostenpflichtige Angebote. Werbeeinnahmen spielen aufgrund der geringen Reichweiten nur eine untergeordnete Rolle. Die meisten befragten Verlage erzielen weniger als 5 Prozent ihres Umsatzes mit mobilen Inhalten und Diensten.13 Ein Großteil der erzielten Umsätze entfällt dabei auf erotische Inhalte. Umsatzsteigerungen werden von den Experten bis 2007 insbesondere für die Bereiche Gaming und Mobile-Portale prognostiziert.14 4.2

Nachfrage nach mobilen Angeboten

Auch wenn die meisten Verlage bereits den einen oder anderen mobilen Inhalt oder Dienst anbieten, ist die Nachfrage bislang gering. 2004 wurde in Deutschland mit 71 Mio. Mobilfunkteilnehmern eine Marktpenetration von 86 Prozent erreicht.15 Die Marktpenetration von Endgeräten mit polyphonen Klingeltönen, Farbdisplays und Kameras steigt ebenfalls stetig. So besaßen 2004 schon 47 Prozent aller Mobilfunkteilnehmer in Europa ein internetfähiges Handy. Das Marktsegment für mobile Endgeräte wie Smartphones und Blackberrys verzeichnet starkes Wachstum16 – der Absatz von PDAs (Personal Digital Assistants) ist dagegen rückläufig. Es zeichnet sich ab, dass Smartphones den klassischen PDA ohne Telefonfunktion ablösen werden, weil sich der Funktionsumfang von Smartphones (z. B. Adress- und Terminverwaltung) zunehmend der Ausstattung von PDAs anpasst. Insgesamt wurden 2004 9,6 Mio. PDAs und Smartphones verkauft. Den höchsten Anteil an Mobilfunknutzern zeigt die Altersklasse der 30bis 49-Jährigen, mit einem Anteil von fast 45 Prozent. Allerdings greift die Altersklasse der 14- bis 29-Jährigen durch die intensive SMS-Nutzung am häufigsten zum Handy.17 35 Prozent der Nutzer haben ein Interesse daran, mobil online zu gehen.18 Die tatsächliche Nutzung fällt jedoch wesentlich geringer aus. 90 Prozent der Nutzer, die mit einem Handy online gehen, tun dies seltener als einmal wöchentlich. Die genutzten Angebote sind, wie beim mobilen Zugang per Laptop auch, jeweils zur Hälfte E-Mail-Kommunikation und Internet-Angebote. 13 14 15 16 17 18

Ebenda, S. 35. Ebenda, S. 35. TNS Infratest (2005). IDC (2005). Schildhauer u. Täubrich (2006). ARD/ZDF-Online-Studie (2004).

Publikumszeitschriften im mobilen Internet

449

In Japan erfreut sich das mobile Internet dagegen einer wesentlich größeren Beliebtheit: Hier nutzen mehr als zwei Drittel der (82 Prozent) Besitzer von internetfähigen Handys den mobilen Internetzugang auch wirklich.19 Die 2005 durch das Institute of Electronic Business durchgeführte Online-Befragung von Zeitschriftenlesern hat ergeben, dass zu den insgesamt am häufigsten genutzten kostenpflichtigen Diensten die Dienste gehören, die über Mobile-Portale genutzt werden, gefolgt von Inhalten, die entweder per SMS und MMS oder speziell ortsbezogen vertrieben werden. Von lediglich geringer Bedeutung im mobilen Internet erweisen sich Musik, Video, Kleinanzeigen und Ratgeberdienste. Die folgende Tabelle macht die Nutzung kostenpflichtiger Dienste im mobilen Internet deutlich:20 Nutzung in % 20% 15% 10% 5% 0% SMS

MMS

LBS

Portale

Musik

Film/ Video

Kleinanzeigen

Ratgeber

Kostenpflichtige Dienste im mobilen Internet

Abb. 1. Nutzung kostenpflichtiger Dienste im mobilen Internet

Bei einer segmentspezifischen Betrachtung der Nutzungsintensitäten wird deutlich, dass vor allem Leser in auflagenschwachen Marktnischen wie Musik- und Jugendzeitschriften, Erotik- und Stadtmagazine sowie Motorund Sportpresse eine überdurchschnittlich hohe Nutzungsbereitschaft für kostenpflichtige mobile Informationsinhalte besitzen. Beispielsweise nutzen gut 28 Prozent der Leser der Sportpresse zumindest gelegentlich kostenpflichtige SMS-Dienste, und knapp 32 Prozent der Leser der Erotik19 20

TNS Infratest (2004). Institute of Electronic Business: Verlage digital unterwegs (2005), S. 44 f. Insgesamt schlossen n = 7.178 Teilnehmer die Online-Befragung vollständig ab, die auf Portalen von 16 großen Publikumszeitschriften erhoben wurde. Die Experteneinschätzungen basieren auf zwei Workshops, die mit Entscheidungsträgern der großen Zeitschriftenverlage durchgeführt wurden.

450

Jörg Aßmann und Klaus Täubrich

presse nutzen kostenpflichtige Angebote über Mobile-Portale. Musikdienste weisen besonders bei den Lesern der Jugend- und Musikpresse (11,9 Prozent) und der Erotikpresse (13,8 Prozent) überdurchschnittliche Anteile auf. Trotz erster Ansätze sind Internet und Mobilität noch getrennte Welten, die erst zusammenfinden werden, wenn größere Datenmengen zu günstigeren Preisen abrufbar sind.21 Es bleibt abzuwarten, ob UMTS diesen Anforderungen gerecht werden kann. UMTS-Netze sind zwar prinzipiell um ein Vielfaches leistungsfähiger als die Vorgängersysteme (GSM, GPRS), aber UMTS-Funkzellen haben einen kleineren Radius und besitzen die Besonderheit zu „atmen“. D. h. mit steigendem (Daten-) Verkehr in der Zelle verkleinert sich der Radius um einen Sender. Eine steigende Zahl an Netzteilnehmern in einer Zelle hat daher möglicherweise eine schlechtere Funkversorgung zur Folge. Die maximale Übertragungsrate vom Netz zum Teilnehmer („Downstream“) von bis zu 2 Mbit/s kann daher nur in unmittelbarer Nähe einer Basisstation mit wenigen und sich möglichst wenig bewegenden Teilnehmern erreicht werden.22 Da UMTS außerdem vorerst nur in Ballungsräumen zum Einsatz kommt, werden die Vorgängertechnologien bei der Konzeption mobiler Angebote wohl auf absehbare Zeit noch zum Standard gehören (müssen). Weitere neue Technologien wie digitale Rundfunksysteme mit speziellen Mobilitätsstandards könnten in den nächsten Jahren an Bedeutung gewinnen und UMTS technisch überholen. Für das Fernsehen ist Digital Video Broadcasting Terrestrial (DVB-T) mittlerweile der digitale Übertragungsstandard geworden. Beim Hörfunk ist dies der Digital Audio Broadcast (DAB). Mit Digital Video Broadcasting for Handhelds (DVBH) und Digital Multimedia Broadcast (DMB) sind bereits Ableger der Standards DVB-T und DAB entwickelt, die den Empfang von Rundfunkdiensten mit kleinen, batteriebetriebenen Geräten ermöglichen und die entsprechend möglicherweise zukünftig auch für mobile Medien und Dienste genutzt werden könnten. Die Übertragungsraten (11 MBit/s bei DVB-H) liegen dabei deutlich über denen von Mobilfunknetzen.

21 22

ARD/ZDF-Online-Studie (2004). Schildhauer u. Täubrich (2006), S. 48.

Publikumszeitschriften im mobilen Internet

5

451

Motive und Potenziale der zukünftigen Nutzung mobiler Angebote von Publikumszeitschriften

Betrachtet man die Gründe für die Nichtnutzung der existierenden Angebote, dann zeigt sich wenig überraschend, dass der Preis mit großem Abstand dominiert. Als weitere Bedingungen für die zukünftige Nutzung mobiler Inhalte und Dienste folgen die Wünsche nach erhöhtem Mehrwert sowie nach besserer Qualität der Inhalte. Erst dann werden Geräteeigenschaften, insbesondere die Darstellung der Inhalte und die Usability, als Grund der Nichtnutzung angeführt. Diese Einschätzung der Nutzer ergibt sich gleichermaßen bei allen angebotenen Diensten und Inhalten.23 Das Hauptmotiv der Nutzung liegt bei allen mobilen Inhalten und Diensten in erster Linie in der Mobilität. Bei SMS stellt zusätzlich die Befriedigung von Informationsbedürfnissen ein wichtiges Nutzungsmotiv dar, bei MMS-, WAP- und ortsbezogenen Diensten auch die Befriedigung von Interaktionsbedürfnissen.24 Die Entwicklung von Geschäftsmodellen für SMS-Dienste erscheint besonders interessant für Leser von Erotik-, Musik- und Jugend- sowie Sportzeitschriften. Als gewünschte Inhalte werden dabei vor allem Informationen zu Sport und Entertainment genannt. Hohes Vermarktungspotenzial haben Angebote zu speziellen Events (z. B. WM 2006, Olympische Spiele 2008).25 Bei location-based services (LBS) ist das zentrale Nutzungsmotiv die Befriedigung von Informationsbedürfnissen. Daher scheinen lokale Angebote und Auskünfte direkt um den eigenen Standort aussichtsreich. Besonders gefragte Standorte einer Stadt können auf dem Handy voreingestellt sein. Auch lokale Dating-Angebote könnten für zukünftige Geschäftsmodelle interessant sein. Experten sehen insbesondere bei location-based SMS-Couponing-Diensten, als Adaption erfolgreicher stationärer Angebote, erhebliches Potenzial. So bietet Wall seit April 2005 den „Blue Spot“ am Kurfürstendamm in Berlin an. Blue Spot ist ein Integrationsprojekt verschiedener Medien im öffentlichen Raum zur Erweiterung von klassischer Außenwerbung und wurde durch das Institute of Electronic Business konzipiert. Auf Plakaten werden Coupons beworben, die an Kioskterminals wie auch online oder mobil heruntergeladen und in partizipierenden Einzelhandelsgeschäften eingelöst werden können. Auf diese Weise wird das Handy in den Marketing- bzw. Kommunikationsprozess integriert.26 23 24 25 26

Institute of Electronic Business: Verlage digital unterwegs (2005), S. 52 f. Ebenda, S. 62 f., vgl. auch Schildhauer (2003). Ebenda, S. 69. Ebenda, S. 70 f.

452

Jörg Aßmann und Klaus Täubrich

Für die Etablierung von Mobile-Portalen ist die Kopplung mit einer starken Marke sehr wichtig. Insbesondere zielgruppenspezifische Portalkonzepte, wie z. B. Familienportale erscheinen laut den Befragungsergebnissen vielversprechend. Klingeltöne, News, Wetter und Sportnachrichten werden als Dienste am häufigsten nachgefragt. Laut Experteneinschätzung stellen Einkaufsratgeber, Preisvergleiche, LBS-Suche bei Rubrikenmärkten und Informationen rund um Finanzdienstleistungen die Anwendungen mit dem größten Entwicklungspotenzial dar. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass Rezipienten von Musikund Jugend-, Erotik-, Sport- sowie Lifestyle- und Stadtmagazinen für mobile Inhalte und Dienste besonders empfänglich sind, allerdings befindet sich auch hier die Nutzung auf einem niedrigen Niveau. In den Massenzielgruppen der großen Zeitschriften und Tageszeitungen zeigt sich dagegen eine noch geringere Bereitschaft zur Nutzung des mobilen Internets.27

6

Ausblick – Erfolgsfaktoren und Perspektiven mobiler Angebote

Die erwartete Nutzung mobiler Inhalte und Dienste ist trotz aller Investitionen in Technologien wie UMTS und in Werbung ausgeblieben. Auch die großartigen Umsatzplanungen vieler Unternehmensberater sind nicht verwirklicht worden. Viele Publikumszeitschriften haben mittlerweile erste Erfahrungen gesammelt, aber die Ergebnisse waren meistens desillusionierend. Was sind zusammenfassend die Gründe, die eine erfolgreiche Etablierung mobiler Inhalte und Dienste bisher verhinderten? 1. Verlagsangebote sind nicht auf Kundenbedürfnisse zugeschnitten. Den Motiven, die einen Konsumenten zur Nutzung mobiler Dienste und Inhalte veranlassen könnten, wird mit den existierenden Angeboten zu wenig begegnet. Insgesamt ist das Wissen über Zielgruppen und Marktsegmente des mobilen Internets noch zu gering, um maßgeschneiderte Angebote mit „echtem“ Mehrwert anbieten zu können. 2. Was stationär nicht funktioniert hat, wird auch mobil nicht funktionieren. Mobiles Internet funktioniert dann, wenn es einen wahrnehmbaren Zusatznutzen gegenüber stationären Angeboten stiftet. Dieser Zusatznutzen wird wahrscheinlich nicht ausreichen, wenn vergleichbare stationären Angebote schon nicht angenommen werden. Es sei 27

Ebenda, S. 73; insgesamt war der Erklärungszusammenhang zwischen Leseverhalten und genutztem Dienst allerdings nur schwach ausgeprägt.

Publikumszeitschriften im mobilen Internet

453

denn, dass die Mobilität und die damit verbundene Verfügbarkeit von Informationen einen zentralen neuen Nutzen darstellen (z. B. der Abruf von Börseninformationen im Intraday-Trading per Handy). 3. Interaktive Medien brauchen offene Plattformen. Der große Erfolg von I-Mode in Japan basiert auf der Offenheit der Plattform, genau wie der des Internets. Diese Regel kann auch kein Unternehmen ändern – egal, wie groß es ist. Solange die Mobilfunkanbieter es nicht schaffen, einer breiten Masse an Inhalteproduzenten den Zugang zu ihren Netzen zu öffnen, wird es kein Wachstum geben. 4. Die existierenden Geschäftsmodelle motivieren die Inhalteproduzenten nicht, für mobile Angebote aktiv zu werden. Trotz intensiver Gespräche ist es den Inhalteproduzenten bislang nicht gelungen, sich mit den Mobilfunkanbietern auf Geschäftsmodelle zu einigen, die größere Investitionen in die Entwicklung und Bereitstellung von mobilen Inhalten rechtfertigen würden. Hier könnten crossmediale Distributionsansätze eine Lösung darstellen, die Inhalte auf mehreren Kanälen und Endgeräten (Print, online, mobil) vertreiben.28 Grenzen der Mehrfachverwertung liegen darin, dass aufgrund medienspezifischer Nutzungspräferenzen die Inhalte für jedes Medium neu aufbereitet werden müssen – z. B. werden mobile Endgeräte aufgrund ihrer Displaygrößen vornehmlich zum Lesen kurzer Texte genutzt. Die mehrmalige Verwendung eines Inhaltes ist daher auch bei medienneutraler Erzeugung ohne Anpassung kaum zu realisieren. 5. Die Bandbreiten der existierenden mobilen Netze sind nicht ausreichend. Mit den heute im Massenmarkt angebotenen Technologien wie GSM oder GPRS können keine zufrieden stellenden Verbindungsqualitäten für Inhalteangebote erreicht werden. Aber auch UMTS ist im Vergleich zu den mittlerweile im Festnetz verfügbaren Bandbreiten schon wieder relativ langsam. Trotz dieser zur Zeit für Zeitschriftenverlage wenig Erfolg versprechenden Ausgangslage muss der Markt genau beobachtet werden. Nicht zuletzt, weil die eingangs aufgezeigten Trends in der Mediennutzung in ein paar Jahren auf vollkommen neue technische Möglichkeiten treffen und sich dann eine andere Entwicklungsdynamik ergeben kann. Im Zuge der Weiterentwicklung von Übertragungs- und Gerätetechnologien werden sich schon bald mobile Angebote und Plattformen herausbilden, die für eine Cross-over-Funktionalität von Endgeräten stehen. Dabei rücken Diensteformen in den Vordergrund, die über die herkömm-

28

Institute of Electronic Business: Mediennutzung im digitalen Leben (2005).

454

Jörg Aßmann und Klaus Täubrich

lichen Mobiltelefone hinausgehen und sich unabhängig vom Mobilfunk als „Mobile“-Medien etablieren. Bei Mobiltelefonen ist jetzt schon ein Trend zu Geräten mit einem umfangreicheren Funktionsangebot, den Smartphones, zu beobachten. Multimediale Anwendungen (Games, Audio, Video) gehören mittlerweile zum Standard der neuesten Handygeneration. Auch wenn in der täglichen Nutzung das Telefonieren weiter im Vordergrund steht, wird sich das Angebot spezieller, differenzierter Gerätetypen für spezielle Nutzergruppen erhöhen. Spätestens mit dem Apple iPod und der Sony PlayStation Portable wurde deutlich, welche Marktpotenziale in der mobilen Unterhaltung liegen. Die PlayStation Portable verfügt bereits über drahtlose Schnittstellen wie WLAN und Infrarot (IrDA). Letzteres dient zur Verbindung mit Mobiltelefonen, während sich WLAN eignet, um zwischen zwei PlayStation Portable-Einheiten einen Datenaustausch zu ermöglichen (u. a. für Multiplayermodus), aber auch um eine Verbindung mit dem PC oder einem WLAN herzustellen. Das Gerät verfügt über einen 16:9-Bildschirm (480x272 Pixel) und kann neben Spielen auch Musik und Videos abspielen. In den USA ist über eine Streambox (mit eingebautem TV-Tuner) bereits die Betrachtung von Fernsehsendungen und Videos, die per WLAN aus beliebigen Quellen bezogen werden, über die PlayStation Portable möglich. Auch hier sind die Grenzen für Dienstleistungsszenarien noch lange nicht erreicht. Die kommenden Jahre werden Publikumszeitschriften ungeahnte Möglichkeiten bieten, neue Themenfelder und Zielgruppen im mobilen Bereich zu erschließen. Dies wird durch das Konzept Web 2.0 verstärkt, das allen mit IP-Technologie verbundenen Nutzern direkte Interaktion ermöglicht. Ob die Publikumszeitschrift von dieser Marktentwicklung profitieren kann, ist aber auch eine Frage ihrer Durchsetzungsfähigkeit: Portale und Aggregatoren stellen neben Medienmarken einen wichtigen Einstiegspunkt in das Internet dar. Die wachsende Marktmacht solcher Intermediäre kann zu einer „Googlesierung des Journalismus“ führen29, weil sie ihre eigenen Inhalte genau da platzieren, wo sie von den Nutzern gesucht werden. Für Verlage stellt sich daher die Frage, wie sie diese Einstiegspunkte besetzen können, um Reichweite zu generieren und Nutzer auf ihre Angebote zu bringen. Möglicherweise ist dies bei der gegebenen Marktkonstellation auch nur noch über Kooperationen möglich. Portale sind jedenfalls auf den hochwertigen Content der Verlagshäuser angewiesen.

29

Neuberger (1/2005), S. 2–13.

Publikumszeitschriften im mobilen Internet

455

Literaturverzeichnis ARD/ZDF-Online-Studie (2004). In: Media Perspektiven 10/2004. Aßmann, J., Resatsch, F., Schildhauer, T. (2006): Ubiquitous Computing im Wissensmanagement. i-com Sonderheft Knowledge Media Design, Volume 5, Issue 2. Ballhaus, J.: Wege zum Kunden. In: Absatzwirtschaft 4/2006, S. 28. Burmeister, K., Daheim, C.: Demographische Entwicklung – Konsequenzen für Medien und Werbung. Der Wandel von Werten und Lebenswelten durch die Bevölkerungsentwicklung. In: Media Perspektiven 4/2004, S. 176–183. Hess, T. et al. (2005): Technische Möglichkeiten und Akzeptanz mobiler Anwendungen – Eine interdisziplinäre Betrachtung. In: Wirtschaftsinformatik, 47. Jg., Sonderheft Nr. 1, S. 6–16. IDC´s European Quarterly Handheld Tracker: http://www.idc.com/getdoc.jsp? containerld=pr2004_10_22_141204. Institute of Electronic Business (2005): Mediennutzung im digitalen Leben: Active Content Interfaces, Paid Content und integrierte Geschäftsmodelle. Berlin. Institute of Electronic Business (2005): Verlage digital unterwegs – Geschäftsmodelle für Mobile Content und Mobile Services. Eine Studie im Auftrag des Verband Deutscher Zeitschriftenverleger, Berlin. Kuhn, J. (2003): Kommerzielle Nutzung mobiler Anwendungen. Dissertation, Regensburg, S. 18. Neuberger, C.: Angebot und Nutzung von Internet-Suchmaschinen. In: Media Perspektiven 1/2005, S. 2–13. Ridder, Ch.-M., Engel, B.: Massenkommunikation 2005: Images und Funktionen der Massenmedien im Vergleich. Ergebnisse der 9. Welle der ARD/ZDFLangzeitstudie zur Mediennutzung- und -Bewertung. In: Media Perspektiven 9/2005, S. 422–448. Schildhauer, T. (2003): Das Internet als Medienplattform – Determinanten und Prognose ihrer Bedeutung für das Mediennutzungsverhalten aus Rezipientensicht. Eine Studie des Institute of Electronic Business im Auftrag von AOL, Berlin. Schildhauer, T., Täubrich, K. (2006): Erfolgreiche Kundengewinnung mit Mobile Marketing. E12-Studienreihe des Institute of Electronic Business, Berlin. Schiller, J. (2002): Mobilkommunikation. In: Krüger, G., Reschke, D.: Telematik. Leipzig, S. 345–390. TNS Emnid NOnliner Atlas 2004: Nutzung und Nichtnutzung des Internets, Strukturen und regionale Verteilung. TNS Emnid in Zusammenarbeit mit der Initiative D21, 2004; ARD/ZDF: Online Studie 2004, in: Media Perspektiven 10/2004. TNS Infratest: Monitoring Informationswirtschaft, 7. Faktenbericht, 2004 TNS Infratest: Monitoring Informationswirtschaft, 8. Faktenbericht 2005 van Eimeren, B., Ridder, Ch.-M.: Trends in der Mediennutzung und Bewertung der Medien 1970 bis 2005. Ergebnisse der ARD/ZDF-Langzeitstudie Massenkommunikation. In: Media Perspektiven 10/2005, S. 490–504.

Publikumszeitschriftenmarken für nichtmediale Produkte

Franz-Rudolf Esch und Andrea Honal

1

Aktuelle Rahmenbedingungen für das Management von Publikumszeitschriftenmarken

Infolge der Verschiebung hin zu Medien wie Fernsehen oder Internet und der starken Zunahme an Titeln hat sich die Wettbewerbsintensität auf dem Publikumszeitschriftenmarkt erhöht. So stieg die verkaufte Auflage im Segment der Publikumszeitschriften von etwa 110 Mio. (1990) auf rund 123 Mio. (2004) pro Quartal, zeitgleich nahm auch die Anzahl der IVWgeprüften Publikumszeitschriften von 565 auf 850 Titel zu.1 Zudem ändert sich das Verhalten der Kunden: Das Bedürfnis nach vereinfachter Informationsaufnahme steigt, visuelle Kommunikation wird zunehmend bevorzugt, Abonnentenzahlen sinken und Spontankäufe steigen. Dadurch nimmt der Profilierungszwang für Publikumszeitschriftenmarken als starke Marken mit eigenständigen und klaren Positionierungen zu. Darüber hinaus müssen für solche Marken neue Wachstumsoptionen geprüft und ergriffen werden.2 Marken sind Vorstellungsbilder in den Köpfen der Anspruchsgruppen, die eine Identifikations- und Differenzierungsfunktion übernehmen und das Wahlverhalten prägen. Bei starken Publikumszeitschriftenmarken geht es somit darum, diese Vorstellungsbilder zu kapitalisieren, indem die Marke für den Eintritt in neue Märkte oder für neue Produkte genutzt wird. 1 2

Vgl. ZAW (2005), S. 260 ff. Vgl. Baumgarth (2004a, b).

458

Franz-Rudolf Esch und Andrea Honal

Wenn der Focus das Weltgeschehen also knapp, prägnant und bildhaft mit Konzentration auf die wesentlichen Fakten kompetent auf den Punkt bringt, müsste entsprechend an diesem bei den Kunden aufgebauten Markenimage angesetzt werden. Diese Strategie wird heute zunehmend verfolgt, weil die Einführung neuer Marken mit hohen Floprisiken und großen finanziellen Aufwendungen verbunden ist.3 Nach Analysen von Sattler können bei Dehnung einer vorhandenen Marke in einen neuen Markt gegenüber der Einführung einer neuen Marke 50 bis 60 Prozent der Kosten der Markeneinführung eingespart werden.4 Dies liegt daran, dass der Markt schneller durchdrungen werden kann, weil von der Bekanntheit sowie dem Image der vorhandenen Marke profitiert wird und darüber substanzielle Synergieeffekte sowie damit verbundene Kosteneinsparungen erzielt werden können. So sind in den USA rund 95 Prozent der etwa 16.000 jährlich neu angebotenen Produkte Markenerweiterungen.5 Auch in Deutschland werden fast alle neuen Produkte unter etablierten Marken eingeführt. Neue Marken sind also die Ausnahme, nicht die Regel.6 Zunehmend nutzen auch bekannte Publikumszeitschriftenmarken, wie beispielsweise Focus, Geo, Stern oder Fit for Fun, die Markendehnung auf mediale und nichtmediale Produkte. Die Bildung von Markenallianzen bietet eine weitere Strategie zur Markenkapitalisierung. In diesem Beitrag sollen diese beiden Strategien näher betrachtet, an Beispielen verdeutlicht sowie Implikationen für die Führung von Publikumszeitschriftenmarken abgeleitet werden.

2

Markendehnungen zur Kapitalisierung von Publikumszeitschriftenmarken

2.1

Markendehnungen als Wachstumsoption

Unter den aktuellen Markt- und Wettbewerbsbedingungen stellen Markendehnungen7 für Unternehmen eine wichtige Wachstumsoption dar. Mar3 4 5 6 7

Vgl. Aaker (1990), S. 47 sowie Tauber (1988). Vgl. Sattler (1997). Vgl. Murphy (1997). Vgl. Esch (2005). Im Rahmen dieses Beitrages wird der Begriff der Markendehnung als Oberbegriff verwendet. Zu den Markendehnungen werden einerseits Markenerwei-

Publikumszeitschriftenmarken für nichtmediale Produkte

459

kendehnungen setzen eine gewisse Markenstärke voraus. Ferner erfolgt eine Orientierung an der Identität der Marke, welche die Leitplanken für mögliche Markendehnungen bildet. Die charakteristischen und wesensprägenden Eigenschaften der Marke und die daraus resultierenden Images, also die Vorstellungen und Bilder, die bei den Kunden aufgebaut wurden, geben die Chancen und die Grenzen für mögliche Markendehnungen vor. Insofern weist Kapferer zu Recht darauf hin, dass es unterschiedliche Markendehnungszonen gibt.8 Diese zeigt Abbildung 1.

Verbotene Zone: Bedrohung des Markenkapitals Ausdehnungsbereich: Latente Möglichkeiten Äußerer Kern: Spontane Assoziationen Innerer Kern: Ausdehnung der Produktlinie

Abb. 1. Markendehnungszonen nach Kapferer9

Der innere Kern ist gekennzeichnet durch eine Ausdehnung der Produktlinie. Hierzu sind Varianten der Marke in einer gegebenen Kategorie zu entwickeln. Danach folgt die Zone spontaner Assoziationen, also von neu-

8 9

terungen, welche die Dehnung einer vorhandenen Marke in eine neue Produktkategorie darstellen und in den folgenden Abschnitten näher betrachtet werden, und andererseits Produktlinienerweiterungen gezählt. Im letztgenannten Fall erfolgt die Dehnung einer vorhandenen Marke in bisherigen Produktkategorien durch Variation des bestehenden Produktes zwecks Anpassung an spezifische Kundenbedürfnisse. Vgl. Kapferer (2004). Vgl. Kapferer (2004), S. 248.

460

Franz-Rudolf Esch und Andrea Honal

en Produktkategorien, die sich der Konsument unmittelbar unter der Marke vorstellen kann. Ferner gibt es noch latente, in einer Marke steckende Möglichkeiten, bevor man in eine Zone gerät, die eine Bedrohung des Markenkapitals darstellt. Grundsätzlich gilt: Je weiter man sich vom Markenkern, der durch die Markenidentität definiert ist, entfernt, desto riskanter werden Markendehnungen. Für Publikumszeitschriften gibt es eine Reihe von Optionen zur Dehnung einer Marke. Diese können sich auf x die Optimierung und Erweiterung vorhandener Produkte oder die Entwicklung neuer Produkte im medialen und nichtmedialen Bereich und x die Ausschöpfung vorhandener Zielgruppen sowie die Ansprache neuer Zielgruppen und Märkte beziehen. Hierbei sind folgende Spielformen unterscheidbar: x Mediale Produktlinienerweiterung: Im einfachsten Fall kann eine Publikumszeitschrift unter Zuhilfenahme eines neuen Transportvehikels, etwa des Fernsehens, des Radios oder des Internets, gedehnt werden. Dies käme einer Produktlinienerweiterung gleich, da ein ähnlicher Inhalt mit gleichem Image an unterschiedliche Nutzungsgewohnheiten von Medien potenzieller Zielgruppen angepasst bzw. bei ein und derselben Zielgruppe situativ variierendes Nutzerverhalten vorausgesetzt wird (z. B. im Büro, zu Hause oder unterwegs). Bei Spiegel TV oder Stern TV und den jeweiligen Internetauftritten aller namhaften Zeitschriften ist dies bereits erfolgt. Die Beispiele zeigen jedoch auch, dass medienspezifische Anpassungen zu erfolgen haben, welche beispielsweise die verschiedenen Bedürfnisse der Nutzer im Fernsehen oder Internet, die informiert oder unterhalten werden wollen, berücksichtigen. x Pars pro toto-Ansatz: Hier ist es denkbar, dass Publikumszeitschriftenrubriken, die immer wiederkehren und auf besonderes Interesse stoßen, ausgegliedert werden und dadurch eine Markendehnung realisiert wird. Dies ist beispielsweise bei Kochbüchern oder Kochratgebern der Zeitschrift Brigitte der Fall oder durch ein Gebrauchtwagen-Internetportal einer Autozeitschrift möglich. Solche Ansätze sind zudem übertragbar auf Dienstleistungen und angeschlossene Produkte: Vinum-Reisen, Selbstfindungskurse aufgrund einer Ratgeberseite einer Zeitschrift oder Warenkörbe, die Essen & Trinken vermarktet, sind denkbare und teilweise schon realisierte Ansätze. Diese Ansätze fokussieren demnach immer auf einer aufgebauten Teilkompetenz der Marke. x Klassische Anbauaktivitäten: Diese setzen an Kompetenzen an, die als Grundlage für ergänzende Angebote dienen können. So kann die faszinierende Welt, wie sie in einem Geo-Heft beschrieben wird, auf einen

Publikumszeitschriftenmarken für nichtmediale Produkte

461

spezifischen Bedarf der Zielgruppe, nämlich das Reisen und die Informationen dazu, auf hohem Niveau übertragen werden. Solche Angebote wären wiederum koppelbar an ergänzende Angebote, etwa Reiseversicherungen, Mietwagenangebote und Ähnliches. Spätestens hier wird die Gefahr solcher Maßnahmen klar: Durch das Verlassen der Markenkompetenz (hier von Geo) müsste entsprechend nach glaubwürdigen Partnern gesucht werden, was beispielsweise durch eine Markenallianz realisierbar wäre.10 x Neue Zielgruppen bzw. Zielgruppenbedürfnisse: Dies ist beispielsweise bei Focus Money der Fall. Denkbar wäre auch Focus for Kids, ebenso wie aus Fit for Fun heraus eine spezielle Zeitschrift für das „goldene Zielsegment“ aufgebaut werden könnte, weil sich hier bestimmte inhaltliche und gestalterische Variationen ergeben. Allerdings stellt sich die Frage, inwiefern die Marke in einem solchem Fall als kompetent und passend wahrgenommen wird und welche Folgen sich für eine Marke ergeben. x Neue Produkte: Dies ist dann gegeben, wenn beispielsweise Fit for Fun Wellness-Drinks, Brotaufstriche oder Salate unter Nutzung der Marke auf den Markt bringt. Grob können diese Fälle in ein dreidimensionales Denkraster von Abell (1980) eingeordnet werden, das sich auf Markendehnungen bei Zeitschriften anpassen lässt (vgl. Abb. 2): x Kommunikationstechnologien: Diese reichen von gedruckten Medien über Hörfunk und Fernsehen, das Internet bis zu persönlichen Kontakten. x Zielgruppen und ihre Bedürfnisse: Dies können beispielsweise Kinder, Jugendliche, Singles, Familien oder „Best Ager“ mit ihren verschiedenartigen Bedürfnissen sein. x Angebote und ihre Nutzen: Hier geht es schließlich um die konkrete Ausformulierung des markenspezifischen Nutzens jedes Angebotes. Bei derart verschiedenartigen Markendehnungen bedarf es vielfältiger Anpassungen, damit einerseits die Markenidentität gewahrt und optimal genutzt wird und andererseits sich die neuen Angebote auch nahtlos unter die Marke einreihen und positive Verstärkerwirkungen auslösen. Bei CrossChannel-Produkten unter einer Marke (Focus als Zeitschrift und als Fernsehsendung, Die Zeit als Wochenzeitung mit Angeboten wie Lexika, Hörkassetten usw.11) gibt es natürlich große Schnittmengen, die jedoch umso 10 11

Vgl. Abschnitt 3. Caspar (2004).

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Franz-Rudolf Esch und Andrea Honal

kleiner werden, je weiter man sich von der angestammten Kompetenz entfernt und in Angebotsbereiche dehnt, die weit vom Ausgangsprodukt entfernt sind.

Unterhaltung Mode Wetter Sport, Gesundheit Reportagen Fachinformationen Annoncierung von Events persönliche Kontakte

Angebote und deren Nutzen

Zielgruppen und deren Bedürfnisse Kinder

Internet

Jugendliche

Singles

Familien Best Ager

Fernsehen/ Funk gedruckte Medien

Kommunikationstechnologien

Abb. 2. Für Zeitschriften angepasstes Denkraster von Abell12

Zur Durchführung einer erfolgreichen Markenerweiterung ist deshalb ein umfassender Analyseprozess nötig, bevor eine Entscheidung für oder gegen diese erfolgt. Viele Markenerweiterungen scheitern oder schaden langfristig der Stammmarke, weil die konzeptionellen Überlegungen zur und die Gestaltung der Umsetzung nicht systematisch erfolgen. 2.2

Idealtypische Wirkungsbeziehung bei Markenerweiterungen

In der idealtypischen Wirkungsbeziehung bei Markenerweiterungen erfolgt eine Stärkung der Stammmarke und des Erweiterungsproduktes. Hierbei werden positive Imagekomponenten einer etablierten Marke auf ein Erweiterungsprodukt in einer neuen Produktkategorie übertragen und dadurch ein „Goodwill“-Transfer realisiert; in umgekehrter Richtung soll das Image des Erweiterungsproduktes die Stammmarke stärken.13 Diese idealtypische Wirkungsbeziehung setzt allerdings voraus, dass zwischen der etablierten Marke und dem Erweiterungsprodukt ein starker imagemäßiger 12 13

In Anlehnung an Abell (1980). Vgl. Abbildung 3.

Publikumszeitschriftenmarken für nichtmediale Produkte

463

Zusammenhang von den Konsumenten wahrgenommen oder hergestellt werden kann. Beispielsweise soll das Image der Stammmarke Fit for Fun einen positiven Effekt auf die Akzeptanz der Erweiterungsprodukte, u. a. die bereits angesprochenen Wellness-Drinks, haben – und diese wiederum die Stammmarke stärken.

„Goodwill“-Transfer

Erweiterungsprodukt

Stammmarke

Stärkung der Stammmarke

Abb. 3. Idealtypische Wirkungsbeziehung bei Markenerweiterungen14

2.3

Chancen und Risiken von Markenerweiterungen

Chancen und Risiken von Markenerweiterungen lassen sich danach einteilen, ob sie sich auf Konsumenten, den Handel oder das Unternehmen selbst beziehen und ob sie das Erweiterungsprodukt oder die Stammmarke tangieren bzw. Allgemeingültigkeit haben. Auf diese verschiedenen Aspekte wird im Folgenden näher eingegangen.15 Chancen von Markenerweiterungen

Bei den Kunden erhofft man sich infolge der Nutzung eines etablierten Markennamens eine bessere gedankliche Verarbeitung und Speicherung des Erweiterungsproduktes.16 Der Lernaufwand ist bei einer Markenerweiterung in der Regel geringer als bei einer Produkteinführung unter einem neuen Markennamen. Hierbei dient der bekannte Markenname als 14 15 16

In Anlehnung an Meffert (1994), S. 189 ff. Vgl. Esch (2005) sowie Esch et al. (2005). Vgl. Nedungadi (1990), S. 265 sowie Keller (1993), S. 15.

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Gedächtnisanker und wirkt beim Kauf des Erweiterungsproduktes risikoreduzierend.17 Dies resultiert aus dem Bekanntheits- und Vertrauensvorsprung bei den Konsumenten, den diese aus dem meist jahrelangen Marktauftritt der etablierten Marke und den positiven Assoziationen dazu ableiten.18 Oft reicht bereits ein Wiedererkennen der Marke für einen Versuchskauf aus, weil der Markenname auch ein bestimmtes Qualitätsniveau verspricht. Dadurch wird eine Steigerung der Kaufbereitschaft und der Erstkaufsrate bewirkt.19 Im Handel wird durch den Einsatz einer etablierten Marke eine Verbesserung der Point-of-Sale-Präsenz der Publikumszeitschriftenmarke insgesamt erwartet.20 Infolge des Bekanntheits- und Vertrauensvorsprungs wird eine höhere Handelsakzeptanz im Vergleich zur Produkteinführung unter einem neuen Markennamen sowie eine Regalplatzsicherung und -ausweitung erreicht.21 Daraus folgt eine höhere Listungsbereitschaft im Handel. Entsprechend sinkt der Akquiseaufwand für die Publikumszeitschriftenmarke beim Handel.22 Über die Markenerweiterung können neue Zielgruppen erschlossen und das Bedeutungsfeld der Marke vergrößert werden.23 Dadurch wird strategisches Wachstum in neuen Märkten möglich. Zudem erhofft sich das Unternehmen aufgrund der zu erwartenden Synergien im Marketing-Mix Kostenersparnisse, beispielsweise durch die Realisierung von economies of scale in der Kommunikation, höhere Umsätze und Ertragssteigerungen.24 Darüber hinaus ist eine Effizienzsteigerung des Marketingprogramms möglich.25 Diese Erwartungen werden auf die erhöhte Dominanz und Präsenz der Marke im Markt zurückgeführt, durch die diese stärker aktualisiert wird. Ferner hilft eine Markenerweiterung bei der Erhöhung der Markenkompetenz, der schnelleren Überwindung von Markteintritts-

17 18 19

20 21

22 23 24

25

Vgl. Cohen u. Basu (1987), S. 470 sowie Bearden u. Shimp (1982), S. 229 f. Vgl. Meffert (1994), S. 189 ff. sowie Hörning (2004), S. 189. Vgl. Claycamp u. Liddy (1969), S. 418, Aaker (1990), S. 49, Smith u. Park (1992), S. 297 f. sowie Sharp (1993), S. 11. Vgl. Wölfer (1994), S. 527 ff. Vgl. Tauber (1981), S. 38, Tauber (1988), S. 28, Keller u. Aaker (1992), S. 35 sowie Sharp (1993), S. 11. Vgl. Meffert (1994), S. 189 ff. Vgl. Meffert (1994), S. 189 ff. Vgl. Hätty (1994), S. 576 f., Sharp (1993), S. 11, Boush u. Loken (1991), S. 16, Smith u. Park (1992), S. 298, Tauber (1988), S. 28, Aaker (1990), S. 49, Keller (1993), S. 15 sowie Wölfer (1994), S. 527 ff. Vgl. Morein (1975).

Publikumszeitschriftenmarken für nichtmediale Produkte

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barrieren, der Umgehung von Wettbewerbsbeschränkungen und der Realisierung von Markenzeichenschutz in neuen Produktbereichen.26 Infolge einer Markenerweiterung ist mit einer Stärkung des Markenwertes der etablierten Marke durch „Spill-over“-Effekte seitens des Erweiterungsproduktes zu rechnen, z. B. durch Rückfluss positiver Imagebestandteile und durch Bekanntheit in einem vergrößerten Kreis von Konsumenten.27 Ferner kann eine Revitalisierung der Stammmarke erfolgen und so der Markenlebenszyklus verlängert werden.28 So wären sicherlich viele Publikumszeitschriften ohne Markenerweiterungen an Wachstumsgrenzen gestoßen und hätten Umsatzverluste hinnehmen müssen. Deshalb bieten beispielsweise Geo neben Büchern und Kalendern im eigenen Onlineshop auch Spiele, Puzzle, Bilderrahmen oder verschiedene Kaffeesorten, Capital eine Finanzierungssoftware oder Der Spiegel Jazzeditionen auf Audio-CDs an.29 Durch Markenerweiterungen sind schließlich auch Umpositionierungen der etablierten Marke, also Imagemodifikationen, leichter möglich.30 Risiken von Markenerweiterungen

Es besteht jedoch auch eine Reihe von Risiken. Für das Erweiterungsprodukt ist es ein Risiko, dass die Markenerweiterung auf mangelnde Akzeptanz stößt, für die es verschiedene Gründe geben kann. Zunächst kann es sein, dass die Stammmarke nicht stark genug für eine bestimmte Erweiterung ist, also über eine zu geringe Markenbekanntheit oder ein zu schwaches Image verfügt, wodurch keine klaren Gedächtnisinhalte auf das Erweiterungsprodukt übertragen werden können. In diesem Fall liegt eine mangelnde Hebelwirkung vor.31 Darüber hinaus kann ein mangelnder Fit zwischen Stammmarke und Erweiterungsprodukt vorliegen, wenn die von der Stammmarke zu transferierenden Markenvorstellungen oder Imagebestandteile nicht zum Erweiterungsprodukt passen. Oft werden auch die Synergieeffekte der Markenerweiterung überschätzt, so dass für das Erweiterungsprodukt Promotion- und Werbedefizite erlitten werden.32 26 27

28 29 30

31 32

Vgl. Hätty (1989), S. 290 ff. Vgl. Aaker (1992), S. 253, Hätty (1989), S. 299 ff., Smith u. Park (1992), S. 248, Tauber (1988), S. 28, Aaker (1990), S. 49 sowie Keller (1993), S. 15. Vgl. Hätty (1994), S. 576. Vgl. Althaus u. Brüne (2004), S. 2072. Vgl. Park et al. (1986), S. 138 f., Park et al. (1996), S. 454 sowie Wölfer (1994), S. 531. Vgl. Tauber (1981), S. 40 sowie Tauber (1993), S. 313 f. Vgl. Sharp (1993), S. 13 sowie Aaker (1990), S. 52.

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Für die etablierte Marke bestehen die Risiken u. a. darin, dass – insbesondere im Fall zahlreicher bzw. zu schnell aufeinander folgender Markentransfers – bei schwacher Affinität zwischen den neu aufgebauten Gedächtnisstrukturen zum Erweiterungsprodukt und den vorhandenen Vorstellungen zur Stammmarke Markenerosionen auftreten können. Auch Unzufriedenheit der Konsumenten mit dem Erweiterungsprodukt kann die Assoziationen zur etablierten Marke negativ beeinflussen. Dies gilt vor allem dann, wenn die Stammmarke keinen hohen konsumentenbezogenen Markenwert besitzt. Die Folgen sind ein Identitätsverlust der etablierten Marke und eine Imageverwässerung.33 Daher ist bei Planung und Umsetzung einer Markenerweiterung auf eine markenbezogene und imagekonforme Integration der Marketingmaßnahmen für das Erweiterungsprodukt zu achten.34 2.4

Konzeption und Umsetzung von Markenerweiterungen

Akzeptanz durch Konsumenten Positionierung und Realisierung im Marketing-Mix unternehmensbezogene Determinanten

marktbezogene Determinanten

subjektiv wahrgenommene Übertragbarkeit auf potenzielle Erweiterungsprodukte konsumentenbezogener Markenwert

Abb. 4. Tempel der Markenerweiterungen35

33

34

35

Vgl. Aaker (1990), S. 52 ff., Loken u. Roedder John (1993), S. 72 sowie Sharp (1993), S. 12 f. Vgl. Trout u. Rivkin (1996), S. 41, Ries u. Trout (1986) sowie Aaker u. Keller (1990), S. 28. Vgl. Esch (2005), S. 313.

Publikumszeitschriftenmarken für nichtmediale Produkte

467

Bevor Publikumszeitschriftenmarken gedehnt werden, sollten bestimmte Prüfschritte als Voraussetzung für die erfolgreiche Konzeption und Umsetzung einer Markenerweiterung vollzogen werden (vgl. Abb. 4). Schritt 1: Ermittlung der Markenstärke als Fundament der Markenerweiterung

Die Markenstärke bestimmt das Dehnungspotenzial der Stammmarke = wie viel? Es ist wenig zweckmäßig, eine schwache Marke zu dehnen. Stattdessen sollte ggf. zunächst in die Markenstärke investiert werden. Darüber hinaus sind Marken mit enger Bindung an eine Kategorie, wie beispielsweise Tempo, zunächst inhaltlich zu erweitern, bevor eine Markenerweiterung zweckmäßig ist, wie dies bei Nivea geschah. Die Ermittlung der Markenstärke reflektiert den Status einer Marke. Zudem erhält man Aufschluss darüber, ob die Markenstärke eher aus sachlich-funktionalen oder aus emotionalen Vorstellungen der Kunden zur Marke resultiert. Das Dehnungspotenzial emotionaler Marken ist grundsätzlich größer als das sachlich-funktional geprägter Marken. Bei der Erfassung der Markenstärke sollte sowohl qualitativ als auch quantitativ vorgegangen werden. Folgende verhaltenswissenschaftliche Größen sollten dabei standardmäßig erfasst und in Relation zu zentralen Wettbewerbern ausgewertet werden: 1. Gestützte und ungestützte Bekanntheit 2. Markenimage 3. Markenvertrauen 4. Markenbindung 5. Markenzufriedenheit 6. Markenloyalität Mittels offener Assoziationen und Fragen zum inneren Bild der Marke sollten die konkreten, mit der Marke verbundenen Inhalte erfasst werden, weil diese Anknüpfungspunkte für mögliche Markenerweiterungen darstellen. Schritt 2: Analyse potenzieller Erweiterungsprodukte und ihrer Akzeptanz = wo?

Diese erfolgt in zwei Stufen. In der ersten Stufe werden Ideen für mögliche Erweiterungsprodukte generiert. Dies kann intern, d. h. im Unternehmen, und extern, beispielsweise bei den Kunden oder im Handel, erfolgen. Intern sollte zum einen ein Scanning-System zur Beobachtung von Marktentwicklungen spezifi-

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sche Anstöße geben. Zum anderen können über Wettbewerbe und Kreativitätsworkshops neue Ideen entwickelt werden. Extern können durch Kundenbefragungen oder Workshops mit Konsumenten, aber auch mit anderen Anspruchsgruppen vielfältige Anstöße erhalten werden. Hierbei sind nicht zielführende Ideen anhand einer konkreten Kriterienliste auszusortieren. In der zweiten Stufe sind die verbleibenden Ideen bei den potenziellen Kunden auf Akzeptanz zu testen. Das zentrale Erfolgsmaß ist hier der Fit, d. h. der empfundene Grad der Passung des neuen Angebotes zur Stammmarke. Dabei sollte dual vorgegangen werden, also zunächst das Produkt vorgegeben und später die Marke hinzugenommen werden und umgekehrt, weil dadurch jeweils ein anderer Rahmen vorgegeben wird, der das Urteil beeinflussen kann. Zudem ist offen zu erheben, warum ein Fit als hoch oder niedrig empfunden wird, da dies Anregungen für die spätere Umsetzung liefern kann. Schritt 3: Prüfung marktbezogener und unternehmensbezogener Rahmenbedingungen

Zu den marktbezogenen Determinanten zählen: 1. Informationen über den Markt im Allgemeinen – wie Größe, Alter und Entwicklungspotenzial des Marktes 2. Informationen über die Konkurrenz – beispielsweise Zahl, Stärke und Positionierungen der Konkurrenten 3. Informationen über die Absatzmittler – etwa typische Distributionskanäle oder die Marktmacht der Absatzmittler Zu den unternehmensbezogenen Determinanten zählen: 1. Technologische und fertigungsbezogene Fähigkeiten 2. Finanzielle Ressourcen 3. Know-how-Ressourcen und Fähigkeiten des Managements Je nach Ausprägung dieser Determinanten ergeben sich unterschiedliche Spielformen zur Realisierung einer Markenerweiterung. Mangelnde finanzielle oder technische Fähigkeiten eines Unternehmens oder fehlende Marktkenntnisse bedeuten hier noch nicht das „Aus“ für eine Markenerweiterung. Vielmehr kann dies Ausgangspunkt für die Suche nach möglichen Kooperationspartnern sein, die im Rahmen von Markenlizenzierungen ihre eigenen Marktkenntnisse sowie technologischen Fähigkeiten einbringen und Produktion sowie Vermarktung des Erweiterungsproduktes übernehmen, so dass auf Seiten des Lizenzgebers keine finanziellen Belas-

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tungen entstehen.36 Daraus ergibt sich die Notwendigkeit einer make-orbuy-Entscheidung: Soll eine Lizenzvergabe zur Markenerweiterung erfolgen, oder soll die Markenerweiterung ohne Einschaltung von Lizenznehmern durchgeführt werden = mit wem? Für die Vergabe von Lizenzen sind klare Vorgaben zu entwickeln und mögliche Partner intensiv zu prüfen. Schritt 4: Positionierung und Umsetzung der Markenerweiterung

Schließlich ist die Markenerweiterung im Markt zu positionieren und durch kommunikative Maßnahmen, vom Produkt bis zur Werbung, umzusetzen = wie? Je nachdem, ob ein Erweiterungsproduktbereich als näher oder weiter entfernt von der Stammmarke wahrgenommen wird, ergeben sich unterschiedliche Gestaltungsempfehlungen. Handelt es sich um eine nahe Markenerweiterung, so kann im Idealfall ein identischer Markenauftritt wie bei der Stammmarke verfolgt werden. Beispiel: Wenn unter der Publikumszeitschriftenmarke Brigitte auch Kochbücher angeboten werden, so ist keine Anpassung an den Erweiterungsproduktbereich nötig, da beide Produktarten eng miteinander verwandt sind.37 Wird hingegen eine weite Markenerweiterung verfolgt, so ist eine kombinierte Umsetzung empfehlenswert, d. h. eine Mischung der Positionierung der Stammmarke mit erweiterungsproduktspezifischen Merkmalen, um einerseits die Stärken der Stammmarke einzubringen, andererseits jedoch eine gute Anpassung an den neuen Produktbereich für die Marke zu erreichen. So sind beispielsweise die Lebensmittel und Getränke, die unter der Marke Fit for Fun angeboten werden, zweifelsfrei weit vom Markenkern der Publikumszeitschriftenmarke entfernt. Um das Fehlschlagsrisiko zu minimieren, wurden entsprechende Maßnahmen ergriffen, um ein „Andocken“ des Erweiterungsproduktbereiches an die Marke zu ermöglichen. Fit for Fun versucht dies mit einer kombinierten Umsetzung. Nach wie vor werden die dominant mit der Marke verbundenen Schemaattribute verwendet, z. B. die Farben Weiß und Blau oder der Schriftzug. Zudem wurde der Fitnessgedanke auf die Kategorie „Lebensmittel“ übertragen, indem vom „gesunden, leichten Essen“ gesprochen wird, das den Kunden zum Wohlfühlen und Genießen anhält. Die kombinierte Umsetzung stellt erhöhte Anforderungen an die Gestaltung von Verpackung und Kommunikation beim Erweiterungsprodukt: Es muss gewährleistet werden, dass sowohl der „Fit“ zur Stammmarke als auch der „Fit“ zur Produktkategorie 36 37

Vgl. Binder (2005). Vgl. Esch (2005), S. 334 ff.

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wahrgenommen wird. Dazu gilt es, die Wahrnehmbarkeit der Markenerweiterung durch die Konsumenten, die Integration der Marketinginstrumente sowie die Austauschbarkeit des Erweiterungsproduktes genau zu analysieren.38 Die Wahrnehmbarkeit der Markenerweiterung bezieht sich zum einen auf die Erkennbarkeit der Marke an sich, zum anderen auf die Erkennbarkeit der für die Marke neuen Erweiterungskategorie. Zur Sicherstellung der Wahrnehmbarkeit der Marke durch den Konsumenten müssen die wichtigsten Markenattribute bei der Gestaltung von Verpackung und Kommunikation zum Einsatz kommen, weil erst dann das entsprechende Markenschema im Gedächtnis der Konsumenten aktiviert wird. Je stärker die Kommunikation für das Erweiterungsprodukt und dessen Verpackung vom Markenschema abweichen, umso leichter können Fehlzuordnungen erfolgen. Somit würde die Erweiterung nicht der richtigen Marke zugeordnet werden. Deshalb ist die Wahrnehmbarkeit des Erweiterungsproduktes bei weit entfernt liegenden Markenerweiterungen oft durch die Anforderungen der jeweiligen Verpackungsgestaltung sichergestellt. Handelt es sich jedoch um nahe Markenerweiterungen, die möglicherweise im Handel im gleichen Regal wie die Stammmarke stehen, ist auf eine erkennbare Kommunikation des Erweiterungsproduktes zu achten. Als zentraler Indikator für die Wahrnehmbarkeit der Marke beim Erweiterungsprodukt empfiehlt sich die Messung mittels Tachistoskoptest, mit dem man den Wahrnehmungsprozess und die Schnelligkeit des Erkennens einer Marke untersuchen kann.39 Bei der Integration der Marketinginstrumente ist darauf zu achten, dass die dominanten formalen sowie inhaltlichen Klammern durch die Markenerweiterung vermittelt werden. Hierbei müssen Stamm- und Erweiterungsprodukt im Zeitablauf und zwischen den eingesetzten Marketinginstrumenten aufeinander abgestimmt werden. Ein Beispiel hierfür stellt der Bärenmarke-Milchriegel dar, welcher, wie die Bärenmarke-Dosenmilch, über den Bär auf der Verpackung verfügt. In beiden Fällen wird die zentrale Botschaft der natürlichen Bergwelt vermittelt, so dass eine formale wie inhaltliche Integration zwischen Stammmarke und Erweiterungsprodukt gewährleistet ist. Als Test der Integrationsstärke kommen insbesondere Zuordnungstests in Frage.40 Ist die mit der Stammmarke verfolgte Positionierung im Erweiterungsproduktbereich bereits von anderen Marken belegt, so wäre eine Austauschbarkeit des Erweiterungsproduktes mit Konkurrenzmarken vorpro38 39 40

Vgl. Esch et al. (2005), S. 942 ff. Vgl. Kroeber-Riel u. Weinberg (2003). Vgl. Kroeber-Riel u. Esch (2004) sowie Esch (2005).

Publikumszeitschriftenmarken für nichtmediale Produkte

471

grammiert. In solchen Fällen kommt es in besonderem Maße darauf an, durch die Umsetzung von Kommunikation und Produktgestaltung in den Augen der Kunden eine eigenständige Wahrnehmung zu erlangen. So versuchen einige Publikumszeitschriftenmarken in nichtmediale Erweiterungsproduktbereiche vorzudringen, jedoch gelingt nur wenigen die Sicherstellung einer eigenständigen Position bei der Umsetzung gleicher Positionierungseigenschaften. Das Problem der Austauschbarkeit tritt auch oft auf, wenn infolge einer weiten Markenerweiterung erhebliche Anpassungen an den neuen Produktbereich nötig werden. Hier besteht die Gefahr klischeehafter Darstellungen. Sie ist durch eine stringente Beibehaltung der wesentlichen und klar erkennbaren Markenattribute zu umgehen. Dies ist beispielsweise Geo mit seinem breiten Spektrum an Erweiterungsprodukten durch die Verwendung des grünen Farbcodes gelungen. Zur Überprüfung der Eigenständigkeit der Umsetzung bieten sich Anonymisierungstests an.41

3

Markenallianzen als wichtige Wachstumsoption für Publikumszeitschriftenmarken

3.1

Markenallianzen als Form der Markenkombination

Durch Markenerweiterungen erhält eine Marke zwar wesentlich mehr Kontaktpunkte und Zugänge zu Kunden, darin liegt allerdings auch gerade die Crux: Der Grad der Anpassung an eine neue Kategorie und daraus resultierende Umsetzungsvarianten der Marke sind erfolgsentscheidend für die Akzeptanz des Erweiterungsproduktes sowie für die Rückwirkungen auf die Muttermarke. Eine zu starke Anpassung an die neue Kategorie kann die Marke schwächen. Die Markenidentität bildet hier die Messlatte zur Prüfung eines potenziellen Erfolges. Da man mit Markenerweiterungen das angestammte Markenterrain verlässt und sich in gefährliche Markendehnungszonen begibt, sind in jüngerer Zeit verstärkt Markenallianzen in den Blickpunkt des Interesses gerückt.42 Unter Markenallianzen wird die gemeinsame Darbietung mehrerer Marken bei der Markierung eines Angebotes verstanden, beispielsweise eine Schokolade von Milka und Kellogg’s, ein Computer von Fujitsu und

41 42

Vgl. Nommensen (1990). Vgl. Esch u. Redler (2005).

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Siemens oder eine Kreditkarte von Mastercard und Lufthansa.43 Durch die Bildung einer Markenallianz wird die Kraft von mindestens zwei Marken gebündelt, so dass sich entsprechende Vorteile gegenüber der Nutzung einer einzigen Marke ergeben.44 So nutzen die Marken Samsung und Bang & Olufsen ihre individuellen Kompetenzen und die sich ergänzenden Markenimages gemeinsam bei der Vermarktung des Mobiltelefons Serene. In diese Markenallianz bringt Samsung die technische Kompetenz und die Luxusmarke Bang & Olufsen ihre Designkompetenz ein, obgleich beide Marken auch weiterhin eigenständig am Markt auftreten. Momentan sind Markenallianzen besonders stark im Lebensmittelmarkt vertreten.45 Beispiele hierfür sind u. a. Jacobs-Cappuccino mit Toblerone-Stückchen, Häagen-Dazs-Eis mit Baileys oder Langnese Cremissimo-Eiscreme mit Batida de Côco. Eine Untersuchung der American Marketing Association belegte die positiven Wirkungseffekte von Markenallianzen eindrucksvoll. In dieser Studie wurden Kunden hinsichtlich ihrer Kaufbereitschaft für ein digitales Bildbearbeitungsprodukt befragt. 80 Prozent gaben an, dass sie das Produkt kaufen würden, wenn es gleichzeitig unter den Namen Kodak und Sony angeboten würde. Dagegen äußerten nur 20 Prozent eine Kaufabsicht, wenn ein Produkt ausschließlich unter Sony oder Kodak angeboten würde.46 Kooperiert nun eine Publikumszeitschriftenmarke wie Geo mit einem Reiseveranstalter, z. B. Meier’s Weltreisen, werden die mit den beiden Marken verknüpften Vorstellungen auf die neue Leistung, beispielsweise Erlebnisreisen in fernöstliche Länder, übertragen. Bei der Bildung von Markenallianzen geht es um die Ergänzung von Kompetenzen zur Realisierung einer Win-win-Situation, wobei sich die Marken gegenseitig ergänzen und eine gewisse Passung zueinander aufweisen sollten. In bestehenden Märkten können Markenallianzen als „strategische Endorser“ und in neuen Märkten als „strategische Enabler“ genutzt werden.47 Als strategische Endorser eröffnen Markenallianzen die Möglichkeit, in bestehenden Märkten das Image und die Bekanntheit einer portfoliofremden Marke für die eigene Marke zu nutzen. Diese gegenseitige Imagestärkung gilt als das zentrale Ziel einer Markenallianz.48 Zudem können durch die Markenallianz die angebotenen Leistungen um spezifische Zusatznut43 44 45 46 47 48

Vgl. Simonin u. Ruth (1998) sowie Esch u. Redler (2005). Vgl. Esch (2005), S. 359. Vgl. Bengtsson (2002), S. 2. Vgl. Blackett u. Russell (1999), S. 19. Vgl. Redler (2003), S. 23 f. Vgl. Kapferer (1997), Keller (1998), S. 283, Meffert (2002), S. 152 sowie Ohlwein u. Schiele (1994), S. 577.

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zen erweitert werden.49 So konnte der ADAC durch eine Markenallianz mit VISA eine gemeinsame Kundenkarte mit Zahlungsfunktion anbieten. Über Markenallianzen können Lizenzeinnahmen oder Mengen- und Preisprämien erzielt werden.50 Sie bieten auch wichtige Optionen zur langfristigen Bindung von Absatzmittlern, indem beispielsweise eine Herstellermarke aufgrund einer Markenallianz mit einer Handelsmarke ihre Stellung in diesem Absatzkanal sichert bzw. stärkt. Als strategische Enabler eröffnen Markenallianzen den Zugang zu neuen Kundenpotenzialen.51 Im Vergleich zu einem Alleingang können Märkte relativ kostengünstig erschlossen werden. So konnte die Publikumszeitschriftenmarke Fit for Fun in Kooperation mit verschiedenen Marken, wie z. B. Homan, Zimbo, Kölln oder Sarotti, das Lebensmittelsegment erfolgreich erobern. Markenallianzen helfen ferner bei der Erschließung neuer Kompetenzfelder52 und erleichtern den Zugang zu wichtigen Absatzkanälen und -mittlern. Aus Markenmanagementsicht sind Markenallianzen insbesondere zur Kapitalisierung von Marken und zur Kostenersparnis von hoher Bedeutung, allerdings steht diese große praktische Relevanz in einem auffälligen Missverhältnis zu den bisherigen Forschungsaktivitäten.53 Zur Wirkungsweise von Markenallianzen liegen derzeit nur vereinzelte Erkenntnisse vor.54 Folgende Aspekte scheinen jedoch von grundlegender Bedeutung für Markenallianzen zu sein: x Wichtig ist, dass die Marken, die miteinander kombiniert werden, im weitesten Sinne zueinander passen. So wäre es beispielsweise wenig zweckmäßig, eine Luxusmarke mit einer Billigmarke zu kombinieren. Dieser Markenfit ist grundlegend für eine Verbundstrategie. Studienergebnisse bestätigen eine positive Beziehung zwischen dem Markenfit und der Beurteilung einer Markenallianz.55

49 50 51

52 53 54

55

Vgl. Boad (1999), S. 25. Vgl. Boad (1999), S. 23 sowie Keller (1998), S. 283. Vgl. Ohlwein u. Schiele (1994), S. 577, Keller (2003), Sattler (2001), S. 106, Boad (1999), S. 23 f., Voss u. Tansuhaj (1999), S. 39 sowie Hill u. Lederer (2001), S. 103. Vgl. Boad (1999), S. 29 sowie Ohlwein u. Schiele (1994), S. 577. Vgl. Cegarra u. Michel (2000). Vgl. hierzu ausführlich Andres (2003), Baumgarth (2003), Bengtsson (2002), Jones (2004), Levin u. Levin (2000), Park et al. (1996), Rao et al. (1999), Redler (2003), Simonin u. Ruth (1998) sowie Walchi (1996). Vgl. Park et al. (1996), S. 456 ff., Simonin u. Ruth (1998), S. 33 ff. sowie Baumgarth (2003).

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x Die beteiligten Marken müssen sich hinsichtlich der bei den Konsumenten vorhandenen Gedächtnisstrukturen so ergänzen, dass sich mit ihnen verbundene Vorstellungen mit Relevanz für die neue Produktkategorie gegenseitig vervollständigen. Park, Jun und Shocker (1999) bezeichnen dies als Komplementarität beider Marken. Allianzen von Marken, die sich hinsichtlich relevanter Produkteigenschaften ergänzen, werden positiver beurteilt als solche von Marken mit weitgehend identischen Eigenschaften. x Der wahrgenommene Produktfit im Rahmen einer Markenallianz stellt einen wichtigen Einflussfaktor dar.56 Der Produktfit wird als die Ähnlichkeit zu den bisherigen Produkten der an der Markenallianz beteiligten Marken definiert. Ferner spielt die Vertrautheit der Konsumenten mit den involvierten Marken eine moderierende Rolle für die Beurteilung der Markenallianz. x Die Anordnung der beteiligten Marken übt einen wesentlichen Einfluss auf die Wirkungsweise der Markenallianz aus (z. B. Fit for Fun-Kölln oder Kölln-Fit for Fun).57 x Die Marken müssen, wie bei herkömmlichen Markenerweiterungen, auch eine gewisse Markenstärke aufweisen, die sich in entsprechendem Markenwissen äußert.58 x Durch die „Anchoring-and-Adjustment“-Theorie59 kann die Rollenverteilung innerhalb der Markenallianz, d. h. welche Marke die Führungsrolle und welche die Ergänzungsrolle übernimmt, erklärt werden, wie Studienerkenntnisse belegen. Die Ankerbildung wird wesentlich durch die Bekanntheit, die Markenschemastärke, den Markenfit, den Produkt56 57 58 59

Vgl. Simonin u. Ruth (1998). Vgl. Park et al. (1999). Vgl. Washburn et al. (2000), Simonin u. Ruth (1998) sowie Rao et al. (1999). Vgl. Tversky u. Kahneman (1974). Bei dieser Urteilsheuristik werden unter Unsicherheit Urteile gebildet, indem ein Hinweisreiz (Anker) als Ausgangspunkt für das Urteil herangezogen und dieses dann nach oben oder unten adjustiert wird. In Anwendung dieses Modells lässt sich das Urteil zur Markenallianz aus dem schon existierenden Urteilswissen zu den beteiligten Marken erklären. Im Rahmen des Urteilbildungsprozesses wird zunächst das Urteil zu einer Marke abgerufen und als vorläufiger Ankerwert übernommen. Anschließend wird das Urteil zur zweiten Marke berücksichtigt und das temporäre Urteil in dessen Richtung verändert, bis ein akzeptabler Wert erreicht ist. Das endgültige Urteil entsteht als ein Integrationsergebnis aus den Urteilen zu den beteiligten Marken. Die Bewertung der Markenallianz ergibt sich als ein gewichteter Durchschnitt aus den Bewertungen zu den einzelnen Marken, wobei dieses Urteil in die Richtung der Ankermarke verzerrt ist (vgl. Pohl et al. 2000, Redler 2003 sowie Esch u. Redler 2005).

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kategoriefit sowie die kommunikative Gestaltung beeinflusst. Je stärker die relative Ausprägung dieser Faktoren bei einer Marke ist, desto eher ist zu erwarten, dass diese die Rolle der Ankermarke einnimmt und das Urteil zur Markenallianz in Richtung dieser Marke verzerrt wird. 3.2

Besonderheiten beim Management von Markenallianzen

Damit Markenallianzen zum Aufbau und Erhalt der eigenen Marke beitragen können, sind im Vergleich zur Führung einzelner Marken einige Besonderheiten zu beachten. Entscheidungen über Markenallianzen haben strategischen Charakter und bedürfen einer sorgfältigen Vorbereitung, bei der insbesondere die Chancen und Risiken bewertet und abgewogen werden müssen.60 Folgende Problembereiche sind bei Markenallianzen zu beachten:61 x Ein Ausbleiben der für die Marken erhofften Image- oder Bekanntheitseffekte. x Das Auftreten unerwünschter Wirkungen für die beteiligten Marken, wie beispielsweise der Transfer nicht erwünschter Assoziationen auf die eigene Marke. x Der fehlende Fit zwischen den Marken, der zu Dissonanzen bei den Konsumenten führen kann, die auf die Beurteilung der Markenallianz und der beteiligten Marken durchschlagen können. x Eine mögliche Umpositionierung bei der Partnermarke, welche die Markenallianz und darüber die eigene Marke beeinträchtigen kann. x Änderungen beim rechtlichen Besitz einer Partnermarke. x Kurzfristdenken, das Abstellen auf schnelle Erträge sowie die Dominanz taktischer Kalküle. x Erhöhter Koordinationsaufwand und eingeschränkte Handlungsflexibilität infolge der Beteiligung an der Markenallianz. Für die Entscheidung zur Bildung einer Markenallianz ist deshalb ein komplexer Analyse- und Gestaltungsprozess zu durchlaufen, um Risiken zu minimieren und die gewünschten Effekte sicherzustellen.62

60 61

62

Vgl. Redler (2003), S. 53. Vgl. Esch u. Redler (2004), S. 187 f., Hill u. Lederer (2001), S. 108 sowie Boad (1999), S. 38 ff. Vgl. Abbildung 5.

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Sicherung der Steuerung und Kontrolle für die Markenallianz

Zentrale Aspekte • Definition der Betätigungskategorie(n) • Ermittlung des Fits zwischen eigenem Markensystem und angestrebter Kategorie • Bei Endorserfunktion: Erarbeitung eines SollImageprofils für die Partnermarke

Umsetzung der Markenallianz in der Kommunikation

Tracking des eigenen Markensystems und der Partnermarke

Wahl und Bindung der Partnermarke

Beurteilung und Reduktion der potenziellen Partnermarken

Identifikation potenzieller Partnermarken

Definition der zentralen Ziele der Markenallianz

Zentrale Prüfinhalte • Stärke der Partnermarke • Markenfit • mögliche Imagekomplementarität • Ex-ante-Wirkungstest • Ex-ante-Test auf Rückwirkungen

Analyse des eigenen Markensystems

Abb. 5. Analyse- und Gestaltungsprozess bei der Bildung von Markenallianzen63

Zu den elementaren Bestandteilen des Analyse- und Gestaltungsprozesses beim Management von Markenallianzen zählen die Analyse des eigenen Markensystems, die Definition der Ziele der Markenallianz, die Identifikation und Bewertung potenzieller Partnermarken, deren Bindung, die Ausgestaltung der angebotenen Leistung, die Umsetzung der Markenallianz in der Kommunikation sowie die Sicherung von Steuerung und Kontrolle der Markenallianz. Hierbei sind Aspekte der Markt-, Unternehmens- und Kundensicht zu berücksichtigen.64

4

Implikationen für die Führung von Publikumszeitschriftenmarken

Die veränderten Rahmenbedingungen für Publikumszeitschriften werfen die Frage nach weiteren Wachstumsmöglichkeiten auf. 63 64

Vgl. Esch u. Redler (2004), S. 189. Vgl. hierzu ausführlich Redler (2003), S. 60 ff. sowie Esch u. Redler (2004), S. 188 ff.

Publikumszeitschriftenmarken für nichtmediale Produkte

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Publikumszeitschriften müssen sich als Marken mit einer eigenständigen und klaren Positionierung verstehen. Dabei sollte die angestrebte Positionierung durch zielgerichtete Marketingmaßnahmen entsprechend wahrnehmbar, eigenständig und integriert umgesetzt werden. Dies ist die Voraussetzung für den Aufbau einer starken Marke, um diese später durch Markenerweiterungen oder Bildung von Markenallianzen zu kapitalisieren. Markenerweiterungen stellen eine große Herausforderung für Unternehmen dar. So verführerisch es auf den ersten Blick erscheinen mag, eine starke Marke zu erweitern, so problematisch ist die Dehnung einer Marke in einen Bereich, der sich zu stark vom Kern der Marke entfernt. Daher ist eine systematische Analyse möglicher Markenerweiterungen zentral für den späteren Erfolg. Generell sind etablierte Marken mit einer hohen Anzahl von Produkten größeren Rückwirkungsgefahren ausgesetzt als Marken mit einem kleinen Produktportfolio.65 Eine spezielle Rolle spielen Flaggschiffprodukte, also Produkte, die von Konsumenten am stärksten mit einer Marke verbunden werden, wie z. B. die Zeitschriften Geo oder Spiegel. Die mit einem Flaggschiffprodukt einer etablierten Marke verbundenen Assoziationen sind im Gegensatz zu den anderen Produkten einer Marke immun gegenüber inkonsistenten Markenerweiterungen. Hierbei zeigt das Flaggschiffprodukt erst dann Verwässerungserscheinungen, wenn eine inkonsistente Produktlinienerweiterung vorliegt, die sehr eng mit dem Flaggschiffprodukt assoziiert wird.66 Markenallianzen sind ebenfalls eine attraktive Möglichkeit zur Markenkapitalisierung. In den letzten Jahren wurde diese Strategie auch zunehmend im Publikumszeitschriftenmarkt verfolgt. Ein Beispiel hierfür wäre die Kooperation einer Publikumszeitschriftenmarke mit einer branchenfremden Marke, die eine gemeinsame Leistung am Markt anbieten, wie einen Organizer von Dell und Focus. Mit Hilfe eines erfolgreichen Managements von Markenallianzen kann ungenutztes Markenpotenzial ausgeschöpft werden, indem auch portfoliofremde Marken für eigene Zwecke kapitalisiert werden. Dabei sind eine Reihe von Besonderheiten zu berücksichtigen und fundierte Kenntnisse über die Wirkungen von Markenallianzen erforderlich.

65 66

Vgl. Whitney (1997), S. 145. Vgl. Roedder John et al. (1998), S. 19 ff. sowie Esch et al. (2005).

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Neue Erlösformen für Publikumszeitschriften – Kaufpreis und Medienmarke als Erfolgsfaktoren für Paid Content

Patrick Rademacher und Gabriele Siegert

1

Einführung

Online-Angebote traditioneller Publikumszeitschriften erfreuen sich hoher Beliebtheit: Spiegel Online verzeichnete laut IVW im Januar 2006 über 330 Mio. Page Impressions (bei 60 Mio. Visits), stern.de über 125 Mio. (12 Mio.), Focus Online über 110 Mio. (16 Mio.) und bunte.t-online.de über 24 Mio. (2 Mio.).1 Nach wie vor besteht jedoch das Problem, dass sich mit redaktionellen Inhalten im Internet kaum Geld verdienen lässt.2 Die schwere Verkäuflichkeit digitaler Inhalte auf dem Publikumsmarkt basiert auf einigen dem Internet zugeschriebenen Eigenschaften und prägt dessen kurze Geschichte mit: „Content is free“, lautet ein oft bemühtes Schlagwort, das auf eine generell mangelnde Zahlungsbereitschaft der Internetnutzer hinweist3 und durch empirische Studien bestätigt wurde4. Zurückführen lässt sich diese mangelnde Zahlungsbereitschaft u. a. darauf, dass die kostenlose Konkurrenz im WWW ‚nur einen Mausklick entfernt‘ ist.5 Auch konnte sich im Internet bisher kein Zahlungssystem als Standard durchsetzen, welches die 1 2 3 4 5

www.ivwonline.de, 22.02.2006. Vgl. Breunig (2003, 2005) sowie Nogly (2003). Vgl. Breyer-Mayländer (1999) sowie Fuhrmann (2001). Vgl. Dou (2004). Vgl. Neuberger (1999) sowie Fuhrmann (2001).

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Patrick Rademacher und Gabriele Siegert

Abrechnung von Kleinbeträgen für einzelne Inhalte zulässt und das Vertrauen aller Marktteilnehmer genießt.6 Dieser Beitrag geht der Frage nach, für welche Art von OnlineAngeboten von Publikumszeitschriften Nutzer bereit wären zu zahlen und auf welche Aspekte sich entsprechende Geschäftsmodelle stützen müssen. Basis hierfür sind eigene theoretische Erwägungen sowie eine Sekundärauswertung empirischer Studien.7 Im Beitrag werden zunächst erforderliche Voraussetzungen skizziert (2), bevor theoretische Grundlagen für das Entscheidungsverhalten der Internetnutzer erläutert werden (3). Darauf aufbauend, werden die Bedeutung des Kaufpreises (4) und der Medienmarke (5) diskutiert. Der Beitrag schließt mit konkreten Handlungsempfehlungen für Online-Angebote von Publikumszeitschriften (6).

2

Voraussetzungen

Damit Publikumszeitschriften online überhaupt Nutzer finden und diese Entgelte auch bezahlen können, müssen einige Voraussetzungen erfüllt sein. Technische Reichweite

Der Zugang zu einem internetfähigen Computer ist unabdingbare Voraussetzung dafür, dass Internetnutzer ein Online-Angebot besuchen können. Das Internet stellt somit die notwendige mediale Plattform für den Verkauf digitaler Inhalte und Dienste auf dem Publikumsmarkt dar. Studien zeigen, dass im Jahre 2005 bereits mehr als die Hälfte der Deutschen online war und für einen Großteil dieser Personen das Internet durch habitualisierte Nutzung mittlerweile auch Eingang in den Medienalltag gefunden hat.8 Charakteristika der Online-Angebote

Erst die (technischen) Eigenschaften der Online-Angebote von Publikumszeitschriften ermöglichen es, bestimmte Zusatzleistungen anzubieten, die jenseits des auch in der Print-Version verfügbaren Inhaltes liegen. Der viel beschworene Mehrwert der Online-Angebote, der letztlich ein Kaufinter6 7

8

Vgl. Brandtweiner (2000, 2001) sowie Fuhrmann (2001), VDZ (2003a). Die Überlegungen basieren auf Vorarbeiten, die einerseits zu Paid Content verfasst wurden (Rademacher 2004, 2006) und andererseits auf der Theorie der Medienmarken aufbauen. Vgl. Siegert (2001a, 2001b, 2005). Vgl. van Eimeren u. Frees (2005) sowie TNS Infratest/Initiative D21 (2005).

Kaufpreis und Medienmarke als Erfolgsfaktoren für Paid Content

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esse wecken könnte, liegt also wesentlich in den technischen Eigenschaften des Internets begründet. Diese Eigenschaften wurden bereits intensiv diskutiert9, weshalb sie hier nur kurz angerissen werden sollen. Die Multimedialität ermöglicht Online-Angeboten, textbasierte Inhalte um Ton- und Bildsequenzen zu ergänzen.10 Die Hypertextualität eröffnet Online-Angeboten die Chance, ihre inhaltlichen Bausteine sowohl linear als auch modular zu präsentieren und sie darüber hinaus mit für den Nutzer interessanten Links zu versehen.11 Die Selektivität stellt hierzu das Pendant dar: Der Internetnutzer kann durch das Hypertextprinzip die einzelnen Inhalte in einer nichtlinearen Weise selektiv rezipieren, wodurch er einen im Vergleich zu den klassischen Medien erweiterten Verhaltensspielraum erhält.12 Die mit der Selektivität zusammenhängende Interaktivität ermöglicht dem Internetnutzer, mit den Anbietern der Inhalte direkt in Kontakt zu treten sowie an Foren, Tauschbörsen und ähnlichen Diensten teilzunehmen. Die große Speicherkapazität bedeutet für Online-Angebote, dass sie ihren Nutzern auch ältere Inhalte in Form von Online-Archiven direkt über das Internet zur Verfügung stellen können. Außerdem ergibt sich für die Online-Angebote die Chance, im Sinne der Additivität aktuelle Inhalte mit älteren zu verknüpfen und dadurch umfangreiche Themenschwerpunkte anzubieten.13 Mit Hilfe von Recherche- und Suchmöglichkeiten können sich Internetnutzer in der großen Datenmenge des Internets zurechtfinden sowie auch innerhalb eines Online-Angebotes gezielt und bequem nach Inhalten suchen.14 Alle Dienste, die auf dem Matching-Prinzip, also der Zusammenführung von Angebot und Nachfrage, aufbauen, wie beispielsweise Rubrikenmärkte, bedienen sich dieser Möglichkeiten. Durch die permanente Aktualisierbarkeit des Internets können Online-Angebote ihren Nutzern Informationen anbieten, die ihren (Mehr-) Wert gerade aus ihrer Aktualität beziehen.15 Die globale Verbreitung erlaubt es einem Internetnutzer, unabhängig von seinem Aufenthaltsort auf das Online-Angebot seiner Wahl zuzugreifen, womit alle Internetnutzer zu potenziellem Publikum der Online-Angebote von Publikumszeitschriften werden.16 Darüber hinaus bietet sich dem Internetnutzer die Möglichkeit, das Bezugsverfah9 10 11 12 13 14 15 16

Vgl. Neuberger (1999, 2003), Riefler (1997, 1998) sowie Schweiger (2001). Vgl. Neuberger (1999). Vgl. Schweiger (2001, 2003). Vgl. Neuberger (1999, 2003) sowie Schweiger (2001). Vgl. Neuberger (1999, 2003). Vgl. Schweiger (2002). Vgl. Riefler (1998), sowie Wagner (1998). Vgl. Riefler (1997, 1998) sowie Wagner (1998).

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ren der Inhalte zu wählen. Ein Internetnutzer kann Inhalte aktiv von der Website eines Online-Angebotes beziehen (pull-Verfahren), er kann sich aber auch Inhalte regelmäßig per E-Mail zukommen lassen (push-Verfahren), z. B. in Form des E-Papers.17 Möchte ein Internetnutzer die kostenpflichtigen Inhalte oder Dienste eines Online-Angebotes in Anspruch nehmen, kann er dabei grundsätzlich zwischen den aus dem Pressevertrieb bekannten Vertriebsformen wählen: Abonnement und Einzelverkauf, von denen sich vier verschiedene Abrechnungsmodelle ableiten lassen: Pay-per-Use (separater Kauf jedes einzelnen Inhaltes), Pay-per-Time (Kauf des Rechtes, einen Inhalt für eine bestimmte Zeit nutzen zu können), Abonnement (regelmäßiger Bezug von Inhalten) und Paket (Sammelangebot verschiedener Inhalte).18 Interessant werden die verschiedenen Vertriebsformen respektive Abrechnungsmodelle vor allem in Zusammenhang mit der Produktdifferenzierung und -personalisierung.19 Produktdifferenzierung bedeutet, dass aus einem Produkt mehrere Versionen bzw. Varianten gebildet werden, die auf die individuellen Bedürfnisse verschiedener Kunden ausgerichtet sind. Entsprechend muss ein Internetnutzer nicht zwangsweise für das gesamte Online-Angebot bezahlen, sondern nur für die Teilbereiche oder sogar einzelnen Beiträge, die er tatsächlich nutzen möchte. Während bei der Customization die Auswahl beim Nutzer liegt, kontrolliert bei der Personalisierung das technische System den Anpassungsprozess im Rahmen einer vollautomatischen Individualisierung des Angebotes.20 Online-Zahlungssysteme

Für den Online-Verkauf von Inhalten auf dem Publikumsmarkt bedarf es noch einer dritten Voraussetzung: Online-Zahlungssysteme. Von besonderem Interesse sind dabei die so genannten Micropayment-Zahlungssysteme.21 Sie ermöglichen ein bargeldloses Bezahlen von Klein- und Kleinstbeträgen im Internet.22 Auffällig ist, dass die bisher am Markt befindlichen Online-Zahlungssysteme auf völlig unterschiedlichen Verfahren beruhen – von der Bezahlung im Rahmen eines Nutzerkontos (z. B. Firstgate click&buy, das etwa bereits bei Spiegel Online Verwendung findet) über die Bezahlung per Telefon (z. B. infin-MicroPayment, etwa bei 17 18 19 20 21 22

Vgl. Wirth u. Schweiger (1999) sowie Neuberger (2003). Vgl. VDZ (2003a) sowie Breunig (2005). Vgl. Varian (1997), Shapiro u. Varian (1999) sowie Brandtweiner (2000). Vgl. Rauscher u. Quiring (2006). Vgl. Rademacher (2006). Vgl. Brandtweiner (2000, 2001) sowie Breyer-Mayländer u.Werner (2003).

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Stiftung Warentest Online) oder durch eine mit einem Guthaben aufladbare Chipkarte und einen entsprechenden Kartenleser (z. B. GeldKarte-Online, etwa bei Chip Online) bis hin zu (virtuellen) Prepaid-Karten (z. B. MicroMoney-Karte bzw. MicroMoney-Online von T-Pay, etwa bei menshealth.de). Die Entwicklung der Micropayment-Zahlungssysteme wird jedoch bisher noch kritisch beurteilt: „Auf diesem Sektor hat es bereits viele Lösungsvorschläge und auch Modellversuche gegeben. Doch bislang kann von einer echten Marktreife nicht die Rede sein.“23 Hinzu kommt, dass bei vielen Internetnutzern wohl eine gewisse Unsicherheit gegenüber Micropayment-Systemen besteht, die sich auf die großen Sicherheitsbedenken der deutschen Konsumenten und ihr allgemeines Misstrauen gegenüber elektronischen Zahlungswegen zurückführen lässt.24 Noch im Jahre 2004 befürchteten über 85 Prozent der deutschen Internetnutzer einen Missbrauch von persönlichen Daten, die über das Internet weitergegeben werden.25 Insofern ist es an den Online-Angeboten sowie an den Betreibern der Online-Zahlungssysteme, die Unsicherheit der Internetnutzer durch Wissensvermittlung zu verringern und so eine positive Einstellungsbildung gegenüber dem Online-Kauf von Inhalten und Diensten zu ermöglichen.

3

Der Internetnutzer und seine Entscheidungsfindung

Im Gegensatz zur Print- oder Rundfunknutzung ist der Medienrezipient bei der Navigation im WWW einem hohen Selektionsdruck ausgesetzt: Er muss ständig Entscheidungen treffen, um sich in der hypertextuellen Struktur des WWW überhaupt fortbewegen zu können.26 Doch nach welchen Regeln entscheidet sich ein Internetnutzer für oder gegen ein bestimmtes Online-Angebot, und wovon hängt es ab, ob er bereit ist, für dessen Inhalte zu bezahlen?

23 24 25

26

Fuhrmann (2001), S. 15. Vgl. auch Brandtweiner (2001). Vgl. Beck (1999), Klein-Bölting u. Busch (2000) sowie Trepte (2004). van Eimeren, Gerhard u. Frees (2004), S. 367. Die Autoren weisen zwar darauf hin, dass eine Diskrepanz zwischen der geäußerten Befürchtung und der tatsächlichen Weitergabe von persönlichen Daten besteht, da über 65 Prozent der Internetnutzer bereits Daten über das Internet weitergegeben haben. Die Erklärung wird darin gesehen, dass der Internetnutzer oftmals nur zum Ziel kommt, wenn er seine Daten weitergibt. Dennoch kann davon ausgegangen werden, dass viele Nutzer persönliche Daten nur mit großer Überwindung weitergeben. Vgl. Wirth u. Schweiger (1999).

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Die psychologische Entscheidungsforschung unterscheidet prinzipiell zwischen analytischen Entscheidungsregeln und Heuristiken. Zunächst zu den analytischen Entscheidungsregeln: Bei diesen nimmt ein Individuum alle zur Verfügung stehenden Informationen vollständig auf und verarbeitet diese. Nach von Rosenstiel und Neumann liegen echte oder extensive Entscheidungen dann vor, wenn „eine Person verschiedene Verhaltensalternativen bewusst auf ihre Vor- und Nachteile hin vergleicht, um dann gezielt jene Alternative zu wählen, die ihr den relativ größten Nutzen verspricht“27. Die Selektionsentscheidungen des Internetnutzers können in diesem Fall als aktive Rezeptionsentscheidungen angesehen werden, die nach einem Kosten-Nutzen-Kalkül im Rahmen einer extensiven Entscheidung getroffen werden.28 Eine Rezeptionsentscheidung bringt dem Internetnutzer dann maximalen Nutzen, wenn er denjenigen Inhalt auswählt, der ihm eine optimale Bedürfnisbefriedigung bietet. Kosten entstehen dem Internetnutzer einerseits aus dem zeitlichen und kognitiven Aufwand für eine Entscheidung und die anschließende Handlung, andererseits aber auch aus eventuellen monetären Aufwendungen. Wie gründlich ein Internetnutzer eine Entscheidung trifft, lässt sich anhand der evaluierten Optionen und deren Attribute beschreiben.29 Der Begriff Optionen bezeichnet dabei die verschiedenen Handlungsmöglichkeiten eines Individuums bei einer Entscheidung. Stößt ein Internetnutzer also innerhalb eines Online-Angebotes auf einen kostenpflichtigen Inhalt, hat er die Optionen „Kaufen“ und „Nichtkaufen“. Die Attribute einer Option sind als die Eigenschaften zu verstehen, die ein Individuum im Rahmen seiner individuellen Kosten-Nutzen-Analyse in seine Entscheidung einbeziehen kann. Folgende Attribute könnten bei der Kaufentscheidung des Internetnutzers eine Rolle spielen:30 x Höhe des Kaufpreises: Betrachtet der Internetnutzer den Betrag als akzeptabel oder sogar vernachlässigbar und ist daher bereit, den geforderten Kaufpreis zu zahlen, oder erscheint ihm der Preis zu hoch und für den Inhalt oder Dienst unangemessen? x Transaktionsaufwand: Wie hoch ist der Aufwand, den der Internetnutzer betreiben muss, um den Inhalt oder Dienst nutzen zu können? Gemeint ist damit einerseits der kognitive und zeitliche Aufwand für die Bezahlung des Kaufpreises, andererseits die monetären Kosten, die unter Umständen für die Verwendung des Online-Zahlungssystems anfallen. 27 28 29 30

von Rosenstiel u. Neumann (2002), S. 253. Vgl. Schweiger (2001), S. 43. Vgl. Jungermann, Pfister u. Fischer (2005). Vgl. Rademacher (2004).

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x Bekanntgabe persönlicher Daten: Inwiefern muss der Internetnutzer persönliche Daten und Bankinformationen bekannt geben, um an den Inhalt oder Dienst zu gelangen? Falls der Internetnutzer Daten angeben muss: Werden diese vertraulich behandelt oder eventuell an Dritte weitergegeben? Welchen Stellenwert hat die Datensicherheit? x Dringlichkeit der gesuchten Gratifikation: Wie stark ist das Nutzungsmotiv des Internetnutzers? Hat er ein konkretes Bedürfnis, das er mit Hilfe eines Inhaltes oder Dienstes schnell befriedigen möchte, oder ist sein Nutzungsmotiv eher unspezifisch und drängt nicht unbedingt auf eine rasche Bedürfnisbefriedigung? x Erwartete Qualität: Welche Qualität erwartet der Internetnutzer vom Online-Angebot? Da der Internetnutzer den kostenpflichtigen Inhalt oder Dienst im Voraus nur beschränkt evaluieren kann, muss er seine Einschätzung an bestimmten Faktoren festmachen, wobei hier der Marke des Online-Angebotes eine wichtige Funktion zukommt. x Evaluierbarkeit des Inhaltes oder Dienstes: Inwiefern kann der Internetnutzer den kostenpflichtigen Inhalt oder Dienst vor dem Kauf evaluieren und dadurch einen Eindruck von dessen Qualität und Wertigkeit gewinnen? x Erfahrung mit dem Angebot: Welche Erfahrungen hat der Internetnutzer bisher mit dem Online-Angebot oder auch mit dem entsprechenden Offline-Angebot gemacht? x Substituierbarkeit des Inhaltes oder Dienstes: Nimmt der Internetnutzer an, ein anderes Medienangebot zu finden, das sein Nutzungsbedürfnis ähnlich befriedigen kann, dafür aber kostenfrei oder billiger zu erhalten ist, oder hat der kostenpflichtige Inhalt oder Dienst für ihn einen exklusiven Wert? Falls der Internetnutzer davon ausgeht, den kostenpflichtigen Inhalt oder Dienst substituieren zu können: Wie hoch schätzt er den Aufwand ein, um an die kostenfreie oder billigere Variante zu gelangen?31 Der beschriebenen Entscheidungsfindung im Rahmen eines KostenNutzen-Kalküls ist die Heuristik gegenüberzustellen. Brosius zufolge dienen Heuristiken allgemein dazu, das Abwägen und Bewerten der unbegrenzten Anzahl an Informationen zu verkürzen, die einem Individuum zu jedem Zeitpunkt verfügbar sind.32 Demnach sind Heuristiken Entscheidungshilfen, mit Hilfe derer der Großteil der Entscheidungen, die wir täglich vorzunehmen haben, automatisch und regelhaft vorgenommen wird. Während ein Individuum bei einer echten Entscheidung also alle Optionen 31 32

Vgl. VDZ (2003a). Brosius (1995), S. 107.

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evaluiert, um die beste Option auszuwählen, dient eine Heuristik dazu, eine Option zu finden, die gut genug ist.33 Im Hinblick auf den kognitiven Aufwand ist der Einsatz von Heuristiken ökonomisch und ermöglicht eine schnelle Entscheidungsfindung.34 Grundsätzlich stellt sich die Frage, nach welchen Regeln ein Internetnutzer in einer konkreten Entscheidungssituation verfährt. Wägt er tatsächlich alle Vor- und Nachteile (Nutzen/Kosten) einer Entscheidung gegeneinander ab, oder wird er sich kurzerhand für eine Handlung entschließen? Es ist davon auszugehen, dass die Selektionsentscheidung des Internetnutzers bei der Nutzung von (teilweise kostenpflichtigen) Online-Angeboten aus zwei getrennten Entscheidungen besteht: der Nutzungsentscheidung und der Kaufentscheidung. Bedenkt man, dass Mediennutzung oftmals eine Niedrigkosten-Situation ist35 und dass selbst teilweise kostenpflichtige Online-Angebote von Publikumszeitschriften auch kostenfreie Inhalte anbieten, kommen bei der Nutzungsentscheidung vor allem Heuristiken zum Einsatz. Diese ermöglichen, wie diskutiert, eine schnelle Entscheidungsfindung ohne allzu großen Aufwand und entsprechen zudem der habituellen Mediennutzung. So zeigen Untersuchungen, dass die Navigationsentscheidungen im WWW nicht durchweg rational sind, sondern im Gegenteil häufig spontane Ad hoc-Entscheidungen die Selektion charakterisieren.36 Für den Einsatz von Heuristiken spricht zudem die rasante Entwicklung der Medien- und Online-Angebote. Die Selekti