General Bass Arbeit [PDF]

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Zitiervorschau

Der Generalbass im Wandel der Zeit Lehrbuch zu Theorie und Praxis des Basso continuo

Hochschule: Ludwig-Maximilians-Universität, München Betreuerin: Dr. phil. Stefanie Strigl

2 Inhaltsverzeichnis 1. Einleitung

3

2. Geschichtlicher Abriss bis 1600

4

3. Funktion

6

4. Textlichkeit

7

5. Stabat-mater-Vertonungen

13

5.1. Giovanni Sances

13

5.2. Antonio Vivaldi

15

5.3. Alessandro Scarlatti

19

5.4. Giovanni Batista Pergolesi

27

5.5. Girolamo Abos

38

5.6. Pasquale Cafaro

44

5.7. Joseph Haydn

50

5.8. Luigi Boccherini

57

5.9. J. S. Bachs Tilge, Höchster, meine Sünden

63

6. Konklusion

68

Quellenverzeichnis

69

3

1 Einleitung Dieser Versuch einer umfassenden Abhandlung über den Generalbass ist die Antwort auf das Bedürfnis nach einem sowohl historische Theorie, als auch praktische Quellen – sowie daraus abgeleitete Übungen – vermittelnden Werk, das besonders die Stile der drei hierin produktivsten Nationen – Italien, Deutschland und Frankreich – in der jeweils relevanten Zeitspanne untersucht. 1 Hierbei sollen zunächst die im Großen und Ganzen zeitlosen Grundregeln des vierstimmigen Generalbasssatzes als Grundlagen dienen, welche daraufhin räumlich und zeitlich geordnet in ihren historischen Ausdifferenzierungen dargestellt werden. Hierbei wird allerdings noch vor der eigentlichen Erfindung des Generalbasses auf dessen Vorformen, sowie nach dessen Erlöschen in der Praxis auf seine ihn selbst überdauernde theoretische Relevanz, eingegangen werden. Die Methodik hierbei basiert auf historischen Aussagen zur didaktischen Vermittlung dieses Unterrichtsgegenstandes und zeichnet sich somit durch einen dreifachen Blickwinkel aus: den musikwissenschaftlich-theoretischen, den musikalischpraktischen und den musikpädagogisch-didaktischen. Auf den ersten Blick sind der linear-kontrapunktische Zugang der Vorund Frühzeit des Generalbasses und der harmonisch-akkordische um die Mitte des 18. Jahrhunderts nicht miteinander vereinbar. Bei näherer Betrachtung der kontrapunktischen Quellen des 15. und 16. Jahrhunderts allerdings fällt die Deduktion des Contrapunctus floridus aus der Diminution eines Contrapunctus simplex ins Auge, das diesen Schein-Widerspruch auflöst, was seinerseits das Vorgehen rechtfertigt, die Grundlagen zunächst anhand des vierstimmigen, sich an Vokalmusik anlehnenden, Satzes zu erarbeiten um darauffolgend die unterschiedlichen Spielarten hieraus abzuleiten. Trotz des breiten Raumes, die der musikalischen Notation, der Intervalllehre, sowie clavieristischen2 Instruktionen bezüglich Fingersatz und dergleichen, in historischen Abhandlungen eingeräumt werden, wird im Rahmen dieser Arbeit auf eine Darstellung verzichtet und diese der allgemeinen Musiklehre und den spieltechnischen Grundlagen zuzurechnenden Gegenstände 1

2

Das Aussterben der Generalbasspraxis lässt sich als erstes in Frankreich, dann in Italien und zuletzt in Deutschland nachweise. Hierbei sollen bewusst nicht moderne Staatsgebiete, sondern die verschiedenen Kulturkreise in ihrer historischen Diskontinuität vereinfachend benennbar gemacht werden.

4 als bekannt vorausgesetzt. Vorteilhaft, aber nicht zwingend notwendig, sind elementare Kenntnisse der Satzlehre. Zur Erläuterung werden bisweilen Erklärungen wissentlich in anachronistischer Stufen- und Funktionstheorie beigefügt, um dem modernen Leser schwer verständliche Sachverhalte anschaulicher vermitteln zu können. Als Einstieg in das unbedingt angeratene Lesen historischer Quellen sind alle Notenbeispiele und Übungen

unverändert

den

Traktaten

und

Notendrucken/Handschriften

entnommen worden, was bisweilen die Übernahme von Druck- bzw. Schreibfehlern, auf die allerdings hingewiesen wird, nach sich zog. Zusätzlich werden nach jedem Kapitel kommentierte Lösungen zu den Übungen dargeboten. Diese

tiefgründige

und

weitläufige

Arbeit

soll

dem

angehenden

Generalbassspieler, dem Dirigenten, dem Sänger, dem Musikwissenschaftler und dem Musikpädagogen zugleich als umfassendes Lehrbuch und Kompendium zu Theorie und Praxis des Generalbasses von 1450 – 1850 dienen.

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2 Die Wurzeln der Generalbasspraxis Der Basso continuo war weniger die Erfindung einer bestimmten Person; vielmehr kann als gesichert gelten, dass er wahrscheinlich bereits weit vor 1600 gängige Praxis war. In seinem Tratado de glosas von 1553 geht Diego Ortiz eingehend auf die Cembalobegleitung zu solistischer Gambenmusik ein. Die simpelste Art – die Intabulierung – nennt und demonstriert er nicht, doch soll sie, da sie von anderen als die simpelste Art der Begleitung erwähnt wird, als erstes dargelegt werden:

1. Spiel aus einer Intavolierung.3 2. Spiel aus einer Bassstimme allein4, wobei sich über die konkrete Ausführung lediglich spekulieren lässt,

3. Begleitung aus in Chorbuchnotation gesetzter Stimmen5, sowie 4. Accompagnement aus einer Partitur.6 Hierzu muss man vorweg schicken, dass die Musik bis ins letzte Drittel des 16. Jahrhunderts primär Vokalmusik war. Allerdings wurden beispielsweise Motetten und Madrigale nicht zwingend allein von Sängern ausgeführt. Die genaue Besetzung wurde von den Ausführenden – bzw. deren Vorsteher wie einem Hofkapellmeister oder Kantor – bestimmt. Die Differenzierung in instrumentale und vokale Idiomatik vollzog sich von ca. 1480 bis 1580, in deren Endphase sich erst genuine Instrumentalmusik konstituierte. So waren Besetzungsangaben zumeist nicht vorhanden, und falls doch, waren diese nicht verbindlich. Als Zwischenstadium findet sich die gemischt vokal-instrumentale Komposition, so bei Giovanni Gabrieli. Des Weiteren ist die Entwicklung der solistischen Vokalmusik einer Erwähnung wert. Diese war zunächst eng mit den mehrstimmigen Gattungen verknüpft, teilten sie sich doch das Repertoire. So wurden – beispielsweise aus Not in Ermangelung einer ausreichenden Sängerzahl oder auf Wunsch – mehrstimmige Stücke von einer Solostimme mit Begleitung von Instrumenten oder einem harmoniefähigen Instrument wie Cembalo, Harfe oder Orgel, welches die übrigen Stimmen übernahm, aufgeführt.

3 4

Ortiz, Diego: Tratado de glosas. 2.Buch. Rom: 1553. Fol. 30. Ebd. Fol. 35. 6 Ebd. Fol. 47 ff. 5

6 Dieses Wissen ist notwendig, um die Anweisungen von Ortiz richtig zu deuten. Entweder kann die Gambe eine Stimme spielen und diese mehr oder weniger verzieren oder eine neue Stimme hinzufügen, wobei es dazu Mischformen gibt, die aus der Synthese zweier oder mehrerer Stimmen bestehen. Interessant ist seine Anmerkung, dass „in dieser Manier beim Spiel des [reichlich; d. Verf.]7 diminuierten Soprans das Cembalo den Sopran nicht mitspielt.“8 Dies deutet darauf hin, dass die Gambe – sich für ihr Solo lediglich an einer Stimme orientierend – bei ausladenden Verzierungen nicht vom Cembalisten gedoppelt werden soll. Der Bass ist hiervon allerdings ausgeschlossen, da dieser auch als Fundament für den Cembalosatz fungiert. Konträr dazu ist bei der synoptischen Darstellung mehrerer Stimmen bzw. der Hinzufügung einer weiteren Stimme durch die Gambe der Begleiter dazu verpflichtet, alles zu spielen, um dem Gambenspieler größtmögliche Freiheit zu garantieren.

Abb.2: Madrigalvorlage in Chorbuchnotation9 aus dem Tratado de glosas.

Die Chorbuchnotation stellt neben der Stimmbuchnotation den häufigsten Fall10 zu dieser Zeit dar. Die Partitur ist aufgrund der fehlenden Notwendigkeit und des hohen Aufwandes eher die Ausnahme. Der Beginn dieses Madrigals soll noch zusammen mit einer der dazugehörigen Gambenstimmen in Partitur und als Intavolierung beigefügt werden.11 7

In der Stelle davor spricht er von „algunas glossas y algunos passos largos“ in einer Recercada. Allgemein wird hierbei das Wort largo als breit im Sinne von weitschweifig verstanden. Besser würde allerdings breit in der Bedeutung nicht allzu geschwind passen, wohingegen die nächste Stufe der „suprano glossado“, also der [völlig] verzierte Sopran ist. Aufgrund dieser Annahme scheint das beigefügte Adverb im Deutschen sinnig. 8 Ortiz: Tratado de glosas. Fol. 35. 9 Das Chorbuch ist so notiert, dass auf einer Doppelseite alle Stimmen separat notiert sind, was es aufgrund der beachtlichen Maße ermöglichte, dass alle vier Stimmen daraus singen konnten. 10 Für (primäre) Vokalmusik wohlgemerkt. 11 Die Partitur und die Intavolierung sind nicht aus Ortiz' Traktat und dienen lediglich der besseren Vorstellung.

7

Abb.: Partituranordnung12 von Madrigalvorlage Gambenstimme (verzierter Sopran) der Recercada segunda von Ortiz.

Abb.: Intavolierung13 zur Recercada segunda über ein Madrigal aus Ortiz Tratado de glosas.

Bei Ortiz werden die aus der Vokalmusik entspringenden Stücke gemäß der Praxis der Zeit in Chorbuchnotation wiedergegeben. In Partitur hingegen sind von ihm Tanzsätze zu Ostinatobässen notiert. Das erste Glied stellt der Passamezzo antico.

12

Dies ist hier als Beispiel beigefügt. Es sei nochmals darauf hingewiesen, dass Vokalmusik in der Regel nicht als Partitur dargeboten wurde. Ebenso sind die Partitur-Beispiele von Ortiz keine Vokalsätze. 13 Der Begriff Intavolierung ist nicht ganz korrekt. Zwar ist der Satz per se intabuliert, also für ein Tasteninstrument abgesetzt (=zusammengeschrieben), doch liegt streng genommen mit der separaten Gambenstimme eine Partitur vor. Im folgenden beziehen sich diese Begriff in erster Linie auf den Satz für das Tasteninstrument, also auf Intavolierung im weiteren Sinne.

8

Abb.: Gegenüberstellung Originalnotation Ortiz' (links) und Intavolierung (rechts).

Den wichtigsten Hinweis auf eine Generalpraxis bereits zur Mitte des 16. Jahrhunderts bringt er allerdings in den Recercadas sobre canto llano. Die Gambe wird zunächst von einer einzelnen Bassmelodie gestützt, hier ein Cantus firmus (span. Canto llano = Cantus planus/firmus). Zu diesem Bass soll der Cembalist in der rechten Hand „Konsonanzen und gewisse Kontrapunkte“ spielen.14 Eine interessante Wendung ergibt sich aus dem Vermerk, dass weitere Beispiele zu dieser Art am Ende des Buches zu finden wären, in denen die rechte Hand exemplarisch notiert sei: diese Bemerkung bezieht sich auf die in Partitur notierten Tanzsätze.

Abb.: Begleitung der Gambe durch einen Cantus firmus („La Spagna“) in der rechts harmonisch auszufüllenden Bassstimme des Cembalisten.

Auf Basis dieser Ausführungen ist für die Erschließung des Nährbodens für den Generalbass eine genaue Kenntnis des allgemeinen Zeitstils im ausgehenden 15. und 16. Jahrhundert von Belang, da, wie oben ausgeführt, alle Potenz zunächst von der Vokalmusik ausgeht, von der die Instrumentalidiomatik lediglich eine 14

9 Variante darstellt. Der zweite Schritt besteht darin, besondere Spezifika des Clavierstils

zu

kondensieren.

Hierbei

stellen

Intavolierungen

für

Tasteninstrument15 und Pseudomonodien16 die wichtigste Quelle dar. Am Rande sind auch Quellen für andere Begleitinstrumente, wie Laute und Chitarrone, zu betrachten.17

2.1 Intavolierungen Ursprünglich bedeutete Intavolierung/Intabulierung das Absetzen eines Stückes in Claviernotation. Das war für die ältesten uns erhaltenen tasteninstrumentalen Bearbeitungen von vokalen Vorlagen im Robertsbridge Codex die so genannte ältere deutsche Orgeltabulatur. Diese war eine Mischung aus Mensural- und Buchstabennotation. Deutsch wurde sie genannt, weil später Quellen zu dieser Notationsform aus dem deutschsprachigen Raum stammen.

Abb.: Spätes Beispiel für ältere deutsche Tabulatur bei Arnolt Schlick.

Später entstand die neuere deutsche Orgeltabulatur, die besonders in der norddeutschen Orgelschule und sogar noch bei J.S. Bach Verwendung fand. Diese verzichtete nun auf Notenzeilen und notierte vollkommen in Buchstaben.

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Natürlich könnte man auch genuine Tastenmusik untersuchen, womit man eventuell zu eindeutigeren Ergebnissen käme. Da aber die Intavolierung für Tasteninstrument allein näher an anderen Formen der Begleit-Intabulierung ist, erscheint dies methodisch genauer. 16 Als Pseudomonodien sollen – nach Elam Rotem – Solostücke (bzw. solche in kleiner Besetzung) bezeichnet werden, die ein Bindeglied zwischen den späteren echten Monodien und den vorherigen Intavolaturen mit Stimmenreduktion. Beispielhaft hierfür sind Luzzaschis Madrigali mit ausgeschriebenem Begleitsatz. 17 Die Relevanz dieser Thematik rührt aus der gegenseitigen Beeinflussung von Laute und Cembalo, für die als später, aber gewichtiger Beleg die Imitation gewisser Eigenheiten der gezupften Akkordinstrumente auf dem Kielflügel – später als style brisé bezeichnet – herangezogen werden soll.

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Abb.: Beispiel für neuere deutsche Tabulatur

In Spanien gab es auch eine eigene Tabulaturform, jedoch am interessantesten ist die Claviernotation in Italien. Hier finden wir nämlich die früheste Form der uns heute auch bekannten Weise, Tasteninstrumentalmusik zu notieren. Auch die Partiturnotation erscheint zunächst in Italien zur Niederschrift von Musik für Tasteninstrumente und wird erst später für Ensemblemusik adaptiert.

Abb.: Frühestes Beispiel für italienische Tabulatur.

Somit bedeutet Intavolierung, eine Vorlage in die für das jeweilige Instrument regional spezifische Notationsform zu bringen. Außer dieser Bedeutung trägt auch der extemporierte Akt des Spielens – beispielsweise aus einem Chorbuch – den Namen der Intavolierung und des Absetzens.