Fremde, Feinde und Kurioses: Innen- und Aussenansichten unseres muslimischen Nachbarn (Studien Zur Geschichte Und Kultur Des Islamischen Orients, 24) [1 ed.]
 3110192322, 9783110192322 [PDF]

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Zitiervorschau

Fremde, Feinde und Kurioses

Studien zur Geschichte und Kultur des islamischen Orients Beihefte zur Zeitschrift „Der Islam“

Herausgegeben von

Lawrence I. Conrad

Neue Folge

Band 24

Walter de Gruyter · Berlin · New York

Fremde, Feinde und Kurioses Innen- und Außenansichten unseres muslimischen Nachbarn

Herausgegeben von

Benjamin Jokisch, Ulrich Rebstock und Lawrence I. Conrad

Walter de Gruyter · Berlin · New York

  Gedruckt auf säurefreiem Papier, das die US-ANSI-Norm über Haltbarkeit erfüllt.

ISBN 978-3-11-019232-2 ISSN 1862-1295 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © Copyright 2009 by Walter de Gruyter GmbH Co. KG, D-10785 Berlin Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Satz: OLD-Media, Neckarsteinach Einbandentwurf: Christopher Schneider, Laufen

Inhaltsverzeichnis Laudatio . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Monographien, Artikel und sonstige Veröffentlichungen . . . . . . . . . . .

5

Meier, C. „Mich reizen skurrile Zusammenhänge“. Ein Gespräch mit Gernot Rotter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

9

Erster Teil Orient und Islam in europäischer Perspektive Rotter, E. Vom Saif Allāh zum Angelus Dei. Rezeption und Transformation des Ḫālid ibn al-Walīd in der Mittelalterlichen europäischen Literatur (7.–13. Jahrhundert) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

23

Goetz, H.-W. Sarazenen als „Fremde“? Anmerkungen zum Islambild in der abendländischen Geschichtsschreibung des frühen Mittelalters . . . . . . . . . . .

39

Popal, M. Heine und der Orient? Zwischen Subjektivität und Veranderung oder wie das Andere nach Deutschland kam – sah – und – ? . . . . . . . . . . . . .

67

Radtke, B. Spengler und der Islam. Nachdenkliches und Persönliches . . . . . . . . . .

115

Khalifa, M. Bild und Trugbild. Der Orient in der deutschsprachigen Reiseliteratur des 19. Jahrhunderts als Teil der europäischen Reiseliteratur . . . . . . . .

133

Rohde, A. The Orient Within. Orientalism, Anti-Semitism and Gender in 18th to early 20th Century Germany . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

147

VI

Inhaltsverzeichnis

Hörner, K. Feindbild Islam revisited . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

167

Zweiter Teil Das Andere im innerislamischen Kontext Gerlach, D. Freud am Abbasidenhof? Die Sexualtheorie des Dichters Gahiẓ . . . . .

191

Franz, K. Qarmaṭen und Zanǧ. Das Andere als Societas malorum . . . . . . . . . . . .

215

Oßwald, R. Rassismus und Sklaverei als Rechtsproblem in Nord- und Westafrika

253

Rebstock, U. „Und schlagt sie …“ Über die Behandlung widerspenstiger maurischer Ehefrauen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

279

Jokisch, B. Konversion und Konfession. Die Reproduktion konfessioneller Gegensätze im frühen Bagdad . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

301

Ende, W. Pilgerfahrt und Glaubensstreit. Die „Zehn Argumentationen“ des Sayyid ʿAbdallāh Šīrāzī . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

323

Fathi, S. „Franchising“ ʿAlī Šarīʿatī: von der Übernahme und Verzerrung eines iranischen Ideologen in Südafrika . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

339

Dritter Teil Das Andere jenseits des Islam: Muslimische Wahrnehmungen und Betrachtungen Serikoff, N. Mistakes and Defences. Foreign (Greek) Words in Arabic and their visual Recognition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

373

Neuwirth, A. Imagining Mary – Disputing Jesus Reading Sūrat Maryam and related Meccan texts within the Qurʾānic communication process . . . . . . . . . .

383



Inhaltsverzeichnis

VII

Motzki, H. Ist die Gewaltanwendung von Muslimen gegen Nichtmuslime religiös bedingt? Eine Studie der klassischen ǧihād-Konzeptionen . . . . . . . . . .

417

Poya, A. Fremd- und Selbstbilder im Gegendiskurs. Überlegungen zum Begriff ġarbzadegi bei Fardid (1910/12–1994) und Āl-e Aḥmad (1923–1969) .

453

Reuter, C. Vom Verlust der Wirklichkeit. Der Verschwörungsglaube in der islamischen Welt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

477

Mitter, U. „Ich fühle mich als Teil von Europa“. Europa als Fremd- und Vorbild für aserbaidschanische Studierende . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

509

Fenz, H. Islamistic conspiracy in Germany? An account of the „Kaplan State“ .

573

Personenindex . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

593

Sachindex . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Laudatio Es ist nicht leicht, die Lebensleistungen einer so vielseitigen und originellen Persönlichkeit wie Gernot Rotter zu würdigen, der als Wissenschaftler, Politiker, Publizist und als Mensch so Vieles bewirkt hat und bis heute bewirkt. Wenn dies hier dennoch geschieht, dann mit der Gewissheit, dass nur einzelne Facetten seines außerordentlich erfüllten Lebens und Wirkens beschrieben werden können. Geboren wird er in den Wirren des Krieges am 14. Mai 1941 im Sudetenland (Troppau), das er schon bald mit seiner Familie verlassen muss – ein Umstand, mit dem er sich noch Jahre später kritisch auseinandersetzt und der u. a. in der von ihm herausgegebenen Aufsatzsammlung „Die Mährischen Enklaven in Schlesien: ein Symposium an der Schlesischen Universität Opava, Troppau“ seinen Ausdruck findet. Die ersten Schuljahre erlebt er weiter westlich in Deutschland, wo er die Volksschule in Wertheim (Baden-Württemberg) und anschließend das Humanistische Gymnasium in Lohr am Main (Bayern) besucht. Noch während der Schulzeit bekundet er ein ausgeprägtes Interesse am Orient und belegt als Gasthörer Arabisch-Kurse an der Julius-Maximilians-Universität in Würzburg. Diese besondere Neigung scheint in der Familie begründet zu sein: Auch sein Bruder Ekkehard Rotter hat den Orient als Wissenschaftler entdeckt und bezeugt dies mit einem Beitrag in diesem Band. Es folgt – sozusagen nahtlos – das Studium der Semitistik und dann der Islamwissenschaft in Bonn (1962–1966), wo er zusammen mit A. Noth und H. Halm studiert. Das Spektrum seiner Interessen ist weit gespannt. So studiert er außerdem Afrikanistik (an der Universität Köln), Vergleichende Religionswissenschaft sowie, in privater Initiative, Völkerkunde und stellt damit die Weichen für eine Islamwissenschaft, die offen ist für angrenzende Disziplinen – in der damaligen Zeit keine Selbstverständlichkeit. Herausragende Lehrer und Lehrerinnen wie O. Spies, A. Schimmel oder H. Trimborn, der eine Etage tiefer in der Abteilung für Ethnologie lehrte, mögen ihn in dem Entschluss bestärkt haben, neue Forschungsfelder zu erschließen. Wie sehr er sich auf neuere Fragestellungen einlässt, zeigt schon der Titel seiner Dis-

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sertation „Die Stellung des Negers in der islamisch-arabischen Gesellschaft bis zum 16. Jahrhundert“, die nicht zuletzt Pate steht für das Thema der vorliegenden Festschrift. Der Promotion (1966) folgt eine steile Karriere. Kurze Zeit arbeitet er als Lektor für Persisch und Arabisch in Bonn, dann zieht es ihn in den Orient, wo er im Februar 1968 den Posten eines wissenschaftlichen Referenten am Orient-Institut in Beirut übernimmt. Er verweilt nicht lange im Nahen Osten, aber zwölf Jahre später wird er nochmals in das Institut zurückkehren, diesmal allerdings als Direktor und inmitten eines wütenden Bürgerkrieges. Zuvor (1977) habilitiert er sich – als wissenschaftlicher Assistent der Universität Tübingen – über das Thema „Die Umayyaden und der zweite Bürgerkrieg“ und leistet damit einen wesentlichen, bis heute aktuellen Beitrag zur Erforschung der frühislamischen Geschichte. Einen weiteren, ganz anderen Forschungsschwerpunkt in jener Zeit bilden seine Studien zum „Islam in Schwarzafrika“, denen ein längerer Aufenthalt in der Region vorausgeht und die er mit einer kommentierten Übersetzung der Komorenchronik aus dem 19. Jahrhundert abschließt. Weiterhin sprühend vor Ideen und voller Tatendrang schlägt er in den Folgejahren wiederum eine neue Richtung ein. Mit der Übersetzungsreihe „Bibliothek Arabischer Klassiker“ (1976–1982) schafft er ein beeindruckendes Opus von bleibender Bedeutung und ebnet zugleich einer breiten, nicht-wissenschaftlichen Öffentlichkeit den Weg in die Welt des klassischen Islam. Die Schriften so bekannter Klassiker wie Ibn Isḥāq (Das Leben des Propheten), al-Masʿūdī (Buch der Goldwäschen) oder Abūʾl-Faraǧ al-Iṣfahānī (Buch der Lieder) sind nun auszugsweise in einer brillianten deutschen Übersetzung jedermann zugänglich. Die Islamwissenschaft überschreitet hier die Grenzen einer Spezialwissenschaft für Eingeweihte und Gernot Rotter gehört eben zu jenen Orientalisten in Deutschland, die den Prozess der Öffnung mutig vorantreiben. Als ihm im Jahre 1980 die Leitung des Orient-Instituts in Beirut übertragen wird und er mehrere Jahre den libanesischen Bürgerkrieg hautnah miterlebt, bewirkt dies tiefgreifende Veränderungen in seiner wissenschaftlichen und politischen Orientierung. Wie prägend diese Phase für ihn war, zeigen bereits die wenigen, aber lebhaften Eindrücke, der er selbst im ersten Beitrag dieses Bandes schildert. Mehr als zuvor wendet er sich nun dem Modernen Orient zu, während er sich andererseits – nach seiner Rückkehr – aktiv an der Friedensbewegung in Deutschland beteiligt. Der Ruf auf eine Professur für „Gegenwarts-



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bezogene Orientwissenschaft“, den die Universität Hamburg ihm im Oktober 1984 erteilt, ist ein klarer Ausdruck für seine verstärkte Ausrichtung an Gegenwartsfragen. Drei Jahre später wagt er den Schritt in die Politik und zieht als Abgeordneter der Grünen in den rheinlandpfälzischen Landtag ein. Spätestens hier wird der Wissenschaftler zum Politiker und zu einem Mann der Medien, der es versteht, ihm vertraute wissenschaftliche Sachverhalte in einer verständlichen Sprache zu vermitteln. Nach einem aktiven Engagement vor allem in der Friedens- und Ausländerpolitik kehrt er 1991 an die Universität Hamburg zurück und beschäftigt sich in Seminaren und zahlreichen Veröffentlichungen mit hochaktuellen Fragen wie etwa dem modernen Islamismus/ Fundamentalismus oder dem Phänomen der Feindbilder – letzteres wohl nicht zuletzt vor dem Hintergrund des 1. Golfkrieges. Auch die deutsche Medienlandschaft gewinnt seine Aufmerksamkeit. In seinem Bestseller „Allahs Plagiator“ entlarvt er die Verzerrungstechniken eines deutschen „Star-Journalisten“, der sich nicht nur massiv an der Produktion eines islamischen Feindbildes beteiligt, sondern dafür auch die Publikationen des in diesem Beitrag Geehrten skrupellos ausgeschlachtet und entstellt hat. Es ist Gernot Rotter in hohem Masse zu danken, dass er mit seinen Veröffentlichungen und seinem persönlichen Einsatz das kritische Bewusstsein für die immer noch stattfindenden Entfremdungsprozesse geschärft hat. Im Zuge seiner wissenschaftlichen und politischen Laufbahn hat sich Gernot Rotter national und international einen vortrefflichen Ruf erworben. Nicht nur war er Mitglied im Advisory Board of the Khalidi Library und wissenschaftlicher Referent für den Bereich Nahost im 1998 gegründeten Rat für Migration, auch in Symposien, Interviews und generell in den Medien war und ist er als echter Kenner des Orients gefragt. Viele seiner Schüler – darunter Prof. H. Mejcher oder Prof. R. Oßwald – erhielten von ihm Inspiration und Rüstzeug, um selbst die wissenschaftliche Laufbahn einzuschlagen und entsprechende Akzente zu setzen. Dass Afrika heutzutage ein Forschungsgebiet auch innerhalb der Islamwissenschaft darstellt, ist nicht zuletzt ihm zu verdanken. Ganz besondere Hochachtung zollen ihm natürlich die Studierenden des Seminars Geschichte und Kultur des Vorderen Orients der Universität Hamburg, die ihn nicht nur als Wissenschaftler schätzen, sondern auch als charakterstarken, hilfsbereiten und durchaus humorvollen Menschen mögen. Es ist ihm hoch anzurechnen, dass er den Betrieb des Seminars in der Zeit vor und nach dem Tod von

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Prof. Noth aufrecht erhielt, obwohl er bereits selbst schwer erkrankt war. Um so größer war die Lücke, die er nach seiner vorzeitigen Emeritierung im Jahre 2003 hinterließ. Der vorliegende Band ist zuallererst eine Hommage an Gernot Rotter, soll aber zugleich an eines seiner bevorzugten Interessengebiete, Fremd- und Feindbilder, anknüpfen und damit einen Weg beschreiten, den er durch eigene Forschungen und Veröffentlichungen vorgegeben hat. Der Band – bereits im Jahre 2004 geplant – kommt spät, doch die Herausgeber und alle Beteiligten waren der Überzeugung, dass er trotz aller widrigen Umstände kommen muss. Die Kooperationsbereitschaft und unendliche Geduld der zahlreichen Autoren und Autorinnen, die diesen Band ermöglichten, ist vor allem Ausdruck der Hochachtung, die Gernot Rotter angesichts seines Lebenswerkes und seiner Persönlichkeit verdient. In diesem Zusammenhang ist auch allen anderen zu danken, die an diesem Vorhaben mitgewirkt haben, allen voran Prof. L. Conrad, der die Idee einer Festschrift aufgebracht hat, aber aufgrund einer schweren Erkrankung die Arbeiten nicht fortführen und auch seinen eigenen Beitrag nicht fertigstellen konnte. Wir bedauern dies sehr und wünschen ihm baldige Genesung. Dank gilt ebenfalls dem ehemaligen wissenschaftlichen Mitarbeiter J. Leutloff, der in der Frühphase wichtige Vorarbeiten geleistet, dann aber die Universität verlassen hat. Als unentbehrlich erwiesen sich die B. A.-Studentin F. Giuliano, ohne die die editorische Kleinarbeit nicht zu bewältigen gewesen wäre, und Dr. K. Hörner, die uns mit Rat und Tat zur Seite stand. Zu nennen ist schließlich Prof. U. Rebstock. Seine Bereitschaft, als Mitherausgeber einzusteigen, aber auch seine moralische Unterstützung waren der Startschuss für die Wiederaufnahme der Arbeiten und entscheidende Voraussetzung dafür, Gernot Rotter die ihm gebührende Ehre zu erweisen. Benjamin Jokisch (Freiburg)

Monographien, Artikel und sonstige Veröffentlichungen Die Stellung des Negers in der islamisch-arabischen Gesellschaft bis zum XVI. Jahrhundert, Bonn 1967 (Dissertation). „Abū Zurʿa ad-Dimašqī und das Problem der frühen arabischen Geschichtsschreibung in Syrien“, in: Die Welt des Orients 6,1 (1971), S. 80–104. „Zur Überlieferung einiger historischer Werke Madaʾinis in Tabaris Annalen“, in: Oriens 23 (1970/71), S. 103–133. „Die arabistischen und islamkundlichen Studien an der Universität Tübingen“, in: Deutsche Orientalistik am Beispiel Tübingens. Tübingen 1974, S. 9–16. Muslimische Inseln vor Ostafrika. Eine arabische Komorenchronik des 19. Jahrhunderts. Herausgegeben, übersetzt und kommentiert. Beirut 1976 (Beiruter Texte und Studien Bd. 18). Die Umayyaden und der Zweite Bürgerkrieg (680–692). Wiesbaden 1982. (= Abhandlungen für die Kunde des Morgenlandes Bd. XLV. 3) (Habilitationsschrift). „Formen der frühen arabischen Geschichtsschreibung“, in: Deutsche Orientalistik am Beispiel Tübingens. Tübingen 1974, S. 63–71. „Dschihad: Krieg im Namen des Glaubens“, in: Heinrich von Stietencron (Hg.), Angst und Gewalt. Ihre Präsenz und ihre Bewältigung in den Religionen. Düsseldorf 1979, S. 252–267. Tübinger Atlas des Vorderen Orients (TAVO) B VII 3: Das islamische Reich unter ʿAbdalmalik (685–705). 1: Die politische und militärische Lage während des Zweiten Bürgerkrieges vom Sommer 684 bis Ende 685. Wiesbaden 1980 „Die Herkunft der arabischen Stämme (Banu Hassan) in Mauretanien“, in: Studien zur Geschichte und Kultur des Vorderen Orients (Festschrift B. Spuler). Leiden 1982, S. 344–355. „Das Leben Muhammads und die Gründung des islamischen Staates“, in: Die islamische Welt I (= Forschung und Information Bd. 35). Berlin 1984, S. 15–24. „Der veneris dies im vorislamischen Mekka, eine neue Deutung des Namens „Europa“ und eine Erklärung für kobar = Venus“, in: Der Islam, 1 (1993), S. 112–132. „Die Milizionarisierung des Libanon“, in: Saeculum XXXVII, Heft 2 (1986), S. 182–198.

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Monographien, Artikel und sonstige Veröffentlichungen

Allahs Plagiator. Die publizistischen Raubzüge des „Nahostexperten“ Gerhard Konzelmann, Heidelberg 1992. „Feindbildproduktion: Der Islam und sein Zerrbild in den Medien“, in: Jahrbuch Frieden 1993, Konflikte, Abrüstung, Friedensarbeit. München 1993, S. 70–80. „Europa und der Orient: Geschichte und Wiedergeburt eines alten Feindbildes“ (der Aufsatz ist mehrfach abgedruckt worden, zuletzt), in: Das Schwert des Experten, hg. von V. Klemm und K. Hörner. Heidelberg 1993, S. 44–58. „Saddam Hussein: Saladin oder Nebukadnezar“, in: Die Welten des Islam, hg. von G. Rotter. Frankfurt/Main 1993, S. 67–71. „Der Islam hat die Demokratie erfunden“, in: Die Welten des Islam, hg. von G. Rotter. Frankfurt/Main 1993, S. 173–177. „Wurzeln der Angst – das Feindbild der anderen Seite“, in: Die Welten des Islam, hg. von G. Rotter. Frankfurt/Main 1993, S. 219–222. „Islam versus Westen – historische Realität und ideologischer Reflex“, in: Menschen über Grenzen – Grenzen über Menschen, Edition Heitkamp 1995, S. 58–73; neu abgedruckt in: K. J. Bade (Hg.) Die multikulturelle Herausforderung: Menschen über Grenzen – Grenzen über Menschen. München 1996, S. 67–83 Syrien. Edition Erde Reiseführer, München 1995; 3. aktualisierte und vollst. überbarbeitete Aufl. Bremen 1999 Venus, Maria, Fatima. Wie die Lust zum Teufel ging. Zürich 1996. Nahostlexikon: der israelisch-palästinensische Konflikt von A–Z / Gernot Rotter; Schirin Fathi. Vorw. von Abdallah Frangi. Heidelberg 2001 Der Islam : Annäherung an eine Religion/Mohammed Arkoun. Vorw. von Gernot Rotter. Aus dem Franz. von Michael Schiffmann. Heidelberg 1999 Das Leben des Propheten / Ibn Ishâq. Aus d. Arab. übertr. u. bearb. von Gernot Rotter; Verfasser: Ibn Ishâq, Mohammed. Tübingen [u. a.] 1979 Bis zu den Grenzen der Erde: Auszüge aus d. ‚Buch d. Goldwäschen‘ / AlMasʿûdî. Aus d. Arab. übertr. u. bearb. von Gernot Rotter. Tübingen 1978 Und der Kalif beschenkte ihn reichlich: Auszüge aus dem „Buch der Lieder“ / Abu l-Faradsch. Aus dem Arab. übertr. und bearb. von Gernot Rotter. Tübingen 1977 Deutsche Orientalistik am Beispiel Tübingens: arabistische und islamkundliche Studien / hrsg. anläßlich der Deutsch-Arabischen Kulturwoche vom Orientalischen Seminar der Universität Tübingen. Red.: Gernot Rotter. Tübingen 1974 Vernunft ist nichts als Narretei; [Badīʿ az-Zamān] al-Hamadhānī; Die Maqâmen. Aus d. Arab. vollständig übertragen u. bearb. von Gernot Rotter. Tübingen 1982 Löwe und Schakal; aus d. Arab. übertr. u. bearb. Von Gernot Rotter, Tübingen 1980



Monographien, Artikel und sonstige Veröffentlichungen

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Ein Leben im Kampf gegen Kreuzritterheere / Usâma ibn Munqidh. Aus d. Arab. übertr. und bearb. von Gernot Rotter. München 1988 Die Welten des Islam: neunundzwanzig Vorschläge, das Unvertraute zu verstehen / hrsg. von Gernot Rotter. Frankfurt/Main 1994 Die Geschichte der Lust: zwischen Himmel und Hölle / Ekkehart & Gernot Rotter. Düsseldorf 2002 Homo gregalis oder von der Notwendigkeit, die Herden zu verkleinern. Essen 1989 Die mährischen Enklaven in Schlesien: ein Symposium an der Schlesischen Universität Opava, Troppau (Schriften der Sudetendeutschen Akademie der Wissenschaften und Künste). München 2006 Burgmer, C. Der Islam: eine Einführung durch Experten: Christoph Burgmer spricht mit Reinhard Schulze, Baber Johansen, Yann Richard, Gurdrun Krämer, Annemarie Schimmel, Faruk Sen und Gernot Rotter. Frankfurt/Main 1998 „The Umayyad fulūs of Mosul“, in: American Numismatic Society Museum Notes 19 , S. 165–98 „Die Münzen des umayyadischen Hauses in Busra“, in: Berytus: Archaeological Studies 33 (1985), S. 47–50 Qaḏḏāfī, Muʿammar al-, Das Dorf, das Dorf, die Erde, die Erde und der Selbstmord des Astronauten. Aus d. Arab. übersetzt, kommentiert und mit einem Vorwort von Gernot Rotter. München 2004 „Wagner in Angst“, Message. Internationale Fachzeitschrift für Journalismus 2006 (Nr. 4), S. 32–34 „Die Verfassung von Medina: Mohammed als Prophet und Realpolitiker. Die Begründer des islamischen Staatswesens und des arabischen Weltreiches“, Weltreligion Islam/Bundeszentrale für Politische Bildung, 2002, S. 28–32 Ğuzur islāmiyya ʿalā šāṭiʾ Ifriqiyya aš-šarqiyya, herausgegeben, übersetzt und kommentiert von Gernot Rotter, Beirut 1976 (Beiruter Texte und Studien 18) Islamische Völker der Randgebiete: Am Beispiel Schwarzafrikas, Berlin 1981 al-Mahʿad al-Almānī liʾl-abḥāt aš-šarqiyya fī Bayrūt. Beirut 1981

Von den zahlreichen Beiträgen Gernot Rotters in Tageszeitungen, Magazinen etc. sei hier nur eine kleine Auswahl genannt: „Woher kommt der Hass?“, in: Der Spiegel Nr. 39, 2001, 24. 9., S. 176 u. 178 „Das schlechte Gewissen der Kalifen: Kemalismus, Nasserismus, Baath-Partei; der Islam trennt Religion und Staat anders als der Westen“, in: Die Zeit Bd. 41, 2001, 4. 10., S. 42 »Die Gier nach Blut vernebelte die Gehirne«: Gerhard Konzelmanns Feindbild vom geilen, irrationalen und brutalen Islam“, in: Frankfurter Rundschau Bd. 48, 1992, 137 vom 15. 6., S. 12

„Mich reizen skurrile Zusammenhänge“ Ein Gespräch mit Gernot Rotter1 C. H. Meier C. M.: Professor Rotter, Sie haben sich schon sehr früh für die orientalische Welt interessiert. Woher stammte dieses Interesse? Gernot Rotter: Womit fing das Interesse damals häufig an? – mit Abenteuerbüchern … Ich hatte darüber hinaus aber allgemein ein großes Interesse an Sprachen und auch an Völkerkunde; ich habe liebend gerne Grammatiken gelesen, einfach nur, um mir die Struktur der Sprachen anzusehen. Was hat Sie speziell zum Arabischen gebracht? Als ich 16 Jahre alt wurde, überlegte ich mir: Wohin kannst Du mit dem, was Du im Sägewerk, mit Brötchenaustragen und so weiter verdient hast, fahren? Mit 16 Jahren bekam man damals einen Paß und konnte alleine reisen. Jedenfalls rechnete ich aus, daß ich mit dem ersparten Geld bis nach Tunesien kommen würde. Also lernte ich mit dem „Harder-Paret“, damals die verbreitete Lehrbuch-Grammatik, ein paar primitive Sätze auswendig – mit dem Ergebnis natürlich, daß mich in Tunis niemand verstand und ich auch niemanden. Wie sind Sie nach Tunis gereist? Mit dem Zug? Und allein? Allein mit dem Zug bis Palermo und dann mit einer Propellermaschine nach Tunis – das war billiger. Sechs Wochen später bin ich mit dem Schiff zurückgereist, als Deckpassagier. Sechs Wochen Tunesien, das war hervorragend. Ich bin bis nach Sfax und Dscherba gereist. Das Gespräch wurde am 1. Oktober 2005 in der Wohnung der Familie Rotter in Stade geführt. Für Anregungen und Hilfe bei der Vorbereitung danke ich Dr. Karin Hörner, Prof. Dr. Heinz Halm, Peter Philipp und Moritz Behrendt.

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Waren Sie fasziniert oder befremdet vom orientalischen Lebensgefühl? So chaotisch war es nicht. Tunesien war damals gerade unabhängig geworden, aber es gab noch französische Soldaten im Land. Was die Ordnungsstrukturen anbelangt, machte es insgesamt einen sehr europäischen Eindruck. Aber natürlich hat mich das orientalische Gepräge fasziniert, die Suqs, die Oasen im Süden. Das waren diese romantischen Leitbilder, die bei Annemarie Schimmel vermutlich das ganze Leben lang nicht verlorengegangen sind … Jedenfalls war es der Ärger darüber, daß mein Arabisch mir nicht weitergeholfen hatte, der mich dazu trieb, mich bereits als Schüler in den Arabischkurs an der Universität Würzburg einzuschreiben. Nach dem Abitur sagte ich mir dann: Jetzt hast du schon vier Semester studiert, jetzt machst du das auch fertig. Eigentlich wollte ich ja Mathematik und Physik studieren oder vielleicht Geschichte der Naturwissenschaften. Aber ich habe es nicht bereut, muß ich sagen. Was für ein Berufsziel hatten Sie denn während Ihres Studiums? Ich habe immer mal wieder mit dem Journalismus geliebäugelt, was natürlich damit zusammenhängt, daß mein Vater Journalist war. Ich schrieb auch für die Lokalzeitung und fotografierte, um mir nebenher Geld zu verdienen. Das hat mir schon immer gelegen, und jetzt auf meine alten Tage finde ich wieder stärker dahin zurück. Um ehrlich zu sein, habe ich wissenschaftliches Schreiben auch immer etwas als Makel empfunden; man versaut sich die Sprache. Aber die Wissenschaft verlangt nun mal ihren eigenen Stil, da kann man keine Emotionen einfließen lassen. Bei einem guten Essay dagegen, finde ich, müssen auch Stimmungen mitschwingen. So sehr mich die Wissenschaft fasziniert, bedaure ich, daß man als Wissenschaftler immer nur fünf Leser hat. Ich wollte eigentlich schon für ein breiteres Publikum schreiben. An meiner Habilitationsschrift beispielsweise habe ich zehn Jahre lang gearbeitet, und ich bin sicher, daß die noch keine fünf Leute ganz gelesen haben. Offen gestanden, ich habe sie gestern zumindest durchgeblättert. Ein beeindruckendes Stück Arbeit. Was bewegt man damit? Man bewegt einen, der wieder eine Habil oder eine Doktorarbeit schreibt. Es kommt im Endeffekt doch relativ wenig dabei heraus.



Ein Gespräch mit Gernot Rotter

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Gehen wir noch einmal ein paar Jahre zurück: Sie waren sehr reiselustig … Sprachen und Reisen – das waren meine beiden Interessen und sind es bis heute. Wie hat man sich den jungen Gernot Rotter sonst vorzustellen? Für einen Hippie waren Sie ja wohl ein wenig zu früh dran … Was mich sehr angesprochen hat, waren die Achtundsechziger, wenngleich ich zu jener Zeit gerade als Referent in Beirut war. Als ich zurückkam, war das alles richtig en vogue. Daraufhin engagierte ich mich gleich ein wenig politisch. Bei meinem zweiten Libanon-Aufenthalt bekam das ganze dann eine neue Richtung: durch den Bürgerkrieg natürlich, aufgrund dessen ich mich der Friedensbewegung anschloß und so zu den Grünen kam. Wissenschaft, Journalismus, Politik – Sie waren und sind vielfältig aktiv. Gibt es einen gemeinsamen Antrieb? Was mich vielleicht von vielen anderen Geisteswissenschaftlern unterscheidet, ist, daß ich möglichst vielseitig sein will. Daher kommen dann auch solche Interessen wie Islam in Afrika. Was ich erst in den letzten Jahren geschafft habe, ist, das dann auch noch mit dem Journalistischen zu verbinden. Abgesehen davon finde ich, daß der Steuerzahler das Recht hat, ab und zu zu hören: Was macht der Wissenschaftler da an seinem Schreibtisch eigentlich? Der Bürger zahlt einem schließlich das Gehalt. Leider hat in Deutschland die Presse oft einen Horror vor den Wissenschaftlern und faßt sie nur mit spitzen Fingern an, denn „die können ja sowieso nicht schreiben“ – ohne es jemals geprüft zu haben. Und umgekehrt die Wissenschaftler: „Zeitungen? Um Gottes Willen! Da verlasse ich ja die hehre Wissenschaft.“ Das finde ich albern. In England oder den USA ist das anders. Ja, dort heißt es: Selbstverständlich schreibe ich für die Presse. Ebenso wie man selbstverständlich auch mal in die Politik geht. Das gehört dazu, finde ich, das ist Bürgerpflicht. Nicht jedem liegt’s, aber wenn man merkt: an diesem oder jenem Punkt habe ich etwas zu sagen, dann

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sollte man das auch tun. Ich bereue die vier Jahre in der Politik überhaupt nicht. Allerdings hätte ich es auch nicht länger machen wollen. Wenn man als Landtagsabgeordneter in einer Ausschußsitzung nur noch wiederholt, was einem die wissenschaftliche Mitarbeiterin zuvor erklärt hat, ist man auf Dauer unbefriedigt. Apropos Politik. Es gibt da eine Geschichte über Sie – es ging um eine Salier-Ausstellung … Oh ja. Da war ich sogar im „Spiegel“, mit Foto. Was war passiert? Die Salier-Ausstellung … (lacht) Ob ich das noch zusammenbekomme? Ich müßte mal in den Keller gehen und in den Protokollen nachsehen … Also, es sollte eine Ausstellung geben, die aber verschleppt wurde, unter anderem weil es in den Ausstellungssaal reingeregnet hat. Irgendwie war da alles schiefgelaufen, was schieflaufen konnte, und es wurde ein Haufen Geld in den Sand gesetzt. Die SPD, so glaube ich, hatte dann eine Aussprache dazu im Landtag in Mainz beantragt. Ich sollte für die Grünen reden, und weil es für uns paar Hanseln zwischen den großen Parteien immer schwierig war, Aufmerksamkeit zu erregen, sind wir zum Theaterverleih gegangen, und ich habe mich als Salier einkleiden lassen. Und das gab dann so einen kleinen Skandal: Ich hatte eine bestimmte Mütze auf – die durfte ich nicht tragen; der Präsident hat mich böse gerügt. Aber ich durfte immerhin sprechen, fünf Minuten lang. Ich hatte mich zuvor mit meinem Bruder aus Frankfurt zusammengesetzt, der die Salier wissenschaftlich sehr gut kennt, und wir haben ein paar Pannen aus der Salierzeit herausgesucht und historische Vergleiche gezogen. Das ganze hatte mehr die Form einer Büttenrede, muß ich sagen. Am meisten hat die Presse aber meine Aufmachung beschäftigt. Haben Sie, der Islam-Professor, sich bei den Grünen eigentlich als „bunter Vogel“ gefühlt? Was ich sehr ernst betrieben habe, war die friedenspolitische Seite. Friedenspolitik und Asylpolitik. Als bunter Vogel habe ich mich eigentlich nicht gefühlt. Was ich heute ein wenig bei den Grünen vermisse, ist die humorige, schalkhafte Seite. Daran zeigt sich, daß sich auch die Grünen sehr angepaßt haben.



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Einmal sind Sie auch verwarnt worden, als … Ich bin mehrmals verwarnt worden. Sie wurden einmal mit Bußgeld belegt, weil Sie US-Soldaten aufgefordert hatten zu desertieren. Oh, das war nicht nur eine Verwarnung, das war eine heikle Sache. Ich hatte während des Kuwait-Krieges eine Pressemitteilung herausgegeben, in der ich die GIs dazu aufrief, lieber zu desertieren, als nach Kuwait zu gehen. Am Tag darauf erfuhr ich aus dem Radio, daß der Justizminister Strafanzeige gegen mich gestellt hatte – wegen Aufruf zur Desertion. Was rechtlich sehr umstritten war, denn es ging ja nicht um deutsche Soldaten und auch nicht um eine Nato-Aktion. Letztendlich ging die Angelegenheit aus wie das Hornberger Schießen: Ich wurde zu 2000 Mark Strafe auf Bewährung verurteilt. Aber das ganze war eine Farce. Ich fühle mich heute noch im Recht. Hatten Sie das aus einer grundsätzlichen Einstellung heraus getan, oder hing es speziell mit dem Nahen Osten zusammen? Nein, was die Sache angeht, war das meine grundsätzliche pazifistische Haltung. Wir haben damals auch demonstriert – vor der irakischen Botschaft, wohlgemerkt, gegen den Einmarsch in Kuwait. Ich will mir da nicht nachsagen lassen, daß ich einseitig wäre. Eigentlich bin ich aber auch heute noch der gleichen Auffassung. Man muß natürlich differenzieren: Kroatien ist etwas anderes als der Irak. Aber wohin das führt, sieht man ja heute im Irak. Den Schwenk der Grünen beim Kosovo-Krieg, haben Sie den mitgemacht? Da hatte ich Bauchweh, aber im Nachhinein würde ich sagen: Joschka Fischer hatte recht. Bei Afghanistan war ich dann übrigens schon der Meinung, dort müssen Friedenstruppen hin. Das Land war so kaputt, mit den ganzen tribalen Rivalitäten, das konnte man nur von außen wieder auf die Beine bringen. Im Irak sah das aber ganz anders aus: Daß Saddam Husseins Regime eine der übelsten Diktaturen im gesamten Nahen Osten war, ist klar; das wird auch kein Araber bestreiten. Aber der Staat war bis zu einem gewissen Grad immer

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noch funktionsfähig; und man hatte meiner Meinung nach die politischen Möglichkeiten, ihn zum Einlenken zu bewegen, noch lange nicht ausgeschöpft. Vor allem aber: Mit Lügen einen Krieg zu beginnen, wie es die Amerikaner getan haben, spricht zum einen allen Völkerrechtsnormen Hohn. Und zum anderen werden die Weltmächte im Orient dadurch nicht gerade glaubwürdiger. 1968/69 waren Sie zum ersten Mal am Orient-Institut in Beirut, als wissenschaftlicher Referent von Stefan Wild; danach habilitierten Sie sich in Tübingen. Als Sie 1979 in den Libanon zurückkehrten, war die Lage schon nicht mehr ganz einfach … Das erste halbe Jahr war noch relativ friedlich, es krachte zwar ab und zu mal, aber man konnte noch arbeiten. Aber dann brach alles zusammen, ganz schnell. An reguläre Arbeit war nicht mehr zu denken. Spätestens als die Israelis kamen, 1982. Wie haben die Ereignisse Sie verändert? Die Europäer in Beirut haben ganz verschiedene Reaktionen gezeigt: Die einen sind Alkoholiker geworden, die anderen sind fromm geworden, und wieder andere sind Atheisten geworden. Bei mir hat meine Frau einmal festgestellt, daß ich zynisch geworden bin – eines Tages krachte es mal wieder fürchterlich, und meine Frau, die kein Arabisch sprach, fragte mich, als ich nach Hause kam: Was war das denn jetzt schon wieder? Und ich sagte: Ach, da oben haben sie wieder mal eine Moschee weggeblasen. Und da machte sie mir das erste Mal bewußt: Mein Gott, bist du zynisch geworden. Zweifelsohne bekam man manchmal so eine misanthropische Weltsicht. Aber der nächste Schritt war dann eben die Hinwendung zur Friedenspolitik. Bereuen Sie im Nachhinein, daß Sie zu jener Zeit dort waren? Das war keine schöne Zeit, muß ich sagen – obwohl: das kann man auch wieder nicht sagen, denn mit den Menschen, die man dort kennengelernt hat, ist man viel stärker zusammengewachsen, als man das sonst getan hätte. Man half sich gegenseitig. Und dadurch, daß wir Diplomatenpässe hatten, kamen wir leichter durch die Sperren, konnten mal nach Osten fahren, frisches Wasser holen und frisches Brot.



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Das Orient-Institut ist während des Krieges ja unversehrt geblieben. So gut wie. Ein paar Mal sind die Fensterscheiben rausgeflogen. Das Institut war relativ geschützt durch seine Lage, deshalb haben wir dort im letzten Jahr auch gewohnt. Der Beschuß, der uns hätte treffen können, kam von Osten, und im Osten gab es eine Häuserzeile – die hat auch ziemlich viel abbekommen. Und der Murr-Turm natürlich; wie der aussieht, sehen Sie ja heute noch. Der hat sich immer Gefechte geliefert mit dem Rizq-Turm auf der anderen Seite, nachmittags um fünf Uhr fing das meistens an. Und Abu Robert, der damalige Hausmeister, hat morgens dann immer die Schrapnells vom Hausdach aufgesammelt. Schmiergelder an die Milizen, wie bei den großen Banken, wurden nicht gezahlt? Nein, Schmiergelder größeren Ausmaßes wurden bei uns nie gezahlt. Wenn man damit einmal angefangen hätte, wäre man in Teufels Küche gekommen. Persönliche Kontakte zu den Milizen im Viertel – ja, die gab es. Haben Sie das Kriegsgeschehen schnell in den eigenen Tagesablauf integriert, etwa indem Sie instinktiv sagten: Es ist fünf Uhr, gleich gehen die Gefechte los? Es ging wirklich um fünf Uhr los, an normalen Tagen. Da wurde nämlich gewartet, bis der Markt unten weg war. Dann verzogen sich die Leute, dann kam ein Böller, dann noch einer – das waren sozusagen die Warnschüsse –, dann war fünf oder zehn Minuten Ruhe, und dann ging’s los. Das war sozusagen die humane Seite des Irrsinns: daß man nicht einfach wild in eine Menschenmasse hineingeschossen hat – obwohl es das auch gab, etwa beim „Krieg der Bäder“, als man auf Strandbäder schoß, diese ganzen grauenhaften Geschichten. Aber hin und wieder gab es ein Aufflackern von Humanität. Und man hat sich im täglichen Leben relativ gut anpassen können? Wie gesagt, man mußte nicht in Zynismus verfallen, man konnte das alles gelegentlich auch mit Humor sehen; denn es war ja auch eine Menge Kasperletheater dabei. Einmal kamen wir beispielsweise zu einer

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Palästinensersperre in der Nähe und fragten die Kämpfer am hadschiz: Wann geht’s denn heute los? Und einer antwortete: Wir haben keine Munition mehr. Da sagte ich: Ach nee? Dann macht ihr jetzt Ferien, oder was? Und er: Nein, wir kriegen Munition. Heute abend. Ich: Von wem? – Sagte er: Mawarna – von den Maroniten. Wenn die eine Seite keine Munition mehr hatte, mußte die andere Seite einspringen. Es gab merkwürdige Schildbürgerstreiche da … Manche sagen, je mehr man die Geschichte des libanesischen Bürgerkriegs studiert, desto weniger versteht man, was da eigentlich passiert ist. Wenn Sie morgens den Straßenschießbericht gehört haben: wo knallt’s und wo sollte man besser nicht hinfahren – das hatte etwas Seltsames. Und dann die Radionachrichten, die im Viertelstundentakt kamen: Diese Miliz hat sich mit jener Miliz verbündet, diese haben jene beschossen … Völlig neue Allianzen sind da über Nacht entstanden; und man konnte sich meistens keinen Reim darauf machen. Also, ich habe vieles nicht begriffen. Denn die ganzen Feudalstrukturen spielten ja auch immer wieder mit hinein. Die religiösen Gemeinschaften verhielten sich zueinander wie verfeindete Stämme – das waren ja keine religiösen Streitigkeiten über dogmatische Angelegenheiten, das waren gesellschaftspolitische und wirtschaftspolitische Auseinandersetzungen, es ging um Macht. In den Medien hieß es häufig, da kämpfen Christen gegen Muslime, aber so einfach war es natürlich nicht. Wurden damals bewußt Feindbilder mit Hilfe der Religion aufgebaut? Das gab es natürlich. Vor allem die Maroniten haben das versucht, oder genauer gesagt: gewisse maronitische Kreise, wie die faschistischen Zedernwächter. Die haben auch mit der CSU Waffengeschäfte gemacht, mit Strauß; das ist schon interessant. Wir hatten einmal eine Rakete im Wohnzimmer, die war „Made in Czechoslovakia“. Die kam auch von den Maroniten. Sie hatten im Libanon Ihre eigenen Probleme mit der Religion, als Sie versuchten, ein Kind zu adoptieren … Ja, da gab’s einiges hin und her. Meine Frau half damals in einem muslimischen Waisenhaus; dort fiel ihr ein Mädchen auf, das überhaupt



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keine Verwandten hatte und selbst an Feiertagen ganz allein war. Meine Frau fand heraus, daß es vor dem Waisenhaus abgelegt worden war, und hatte daraufhin die Idee, das Kind zu adoptieren. Doch das ist im Islam natürlich nicht so einfach … Ich kannte nun den Mufti Chalid – er ist im Krieg später umgekommen –, und wir wollten ein Gutachten von ihm einholen. Der Tenor der Fatwa sollte sein, daß nicht klar sei, ob das Kind aus einer muslimischen Familie stamme oder nicht. Erst sah es auch ganz gut aus, doch schließlich hat sich der Direktor des Waisenhauses dagegengestellt. Er hat die Logik, daß man nicht wisse, woher das Kind kommt, nicht nachvollziehen wollen. Ein Dreivierteljahr später haben wir dann einen Jungen aus Achrafie adoptiert – dort gab es ein Waisenhaus der lateinischen Kirche unter Pater Jabr. Ich wußte bis dahin gar nicht, daß es im Libanon noch eine lateinische Kirche gibt. Mir konnte auch niemand erklären, ob die sich auf die Kreuzfahrer zurückführen oder woanders herkommen. Geschah die Adoption auch aus dem Bedürfnis heraus, diesem kriegsgeschüttelten Land gegenüber Ihre Verbundenheit zu demonstrieren? Das ganze war aus dem Bedürfnis heraus entstanden, irgendetwas in irgendeiner Weise zu tun. Und sei es in diesem Waisenhaus mit 3000 Kindern … Das sind so Kriegserlebnisse: Das Waisenhaus war gut gekennzeichnet mit roten Kreuzen auf dem Dach. Und die Israelis haben 1982 ganz gezielt darauf geschossen. Volkhard Windfuhr hat einen Artikel darüber im „Spiegel“ geschrieben und hat mich ihn vorher lesen lassen. Ein paar Tage später habe ich ihn wiedergetroffen, er war so entsetzt und traurig, er sagte: Stell Dir vor, die haben genau diese Passage herausgeschnitten. Ertappt man sich in solcher Lage dabei, daß man auch als Außenstehender schnell Partei ergreift? Natürlich ergreift man irgendwann Partei, man flucht und schimpft, wenn man wieder eine maronitische Rakete im Wohnzimmer hat. Mit größerem Abstand sieht man das irgendwann natürlich anders, oder man modifiziert seine Sichtweise zumindest. Aber Dinge wie das Massaker in Sabra und Schatila kann man nicht vergessen. Wir waren zwei Tage später dort, und wenn die Rede auf Scharon kommt, muß ich bis heute als erstes daran denken.

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Haben Sie nie darüber nachgedacht, ein Buch über die Ereignisse im Libanon zu schreiben? Nein. Das wäre so voller Emotionen gewesen, daß es der Sache niemals hätte gerecht werden können. Dazu hätte man schneller wieder Abstand bekommen müssen. Aber wenn man jahrelang dort gelebt hat  … Gewisse Feindbilder verfestigen sich einfach schon, und am Ende kann man nicht mehr ganz gerecht sein. Lassen Sie uns das Thema wechseln und die Feindbilder von einer anderen Seite betrachten. Im Jahr 1992 haben Sie gesagt: Wenn Gerhard Konzelmann „nicht bald zu Potte kommt, prozessiere ich ihm und seinen Verlagen die Bude voll“ – gemeint waren seine Strafzahlungen. Waren Sie damals eigentlich richtig sauer auf den? Nein. Mich hat das amüsiert, das war für mich Realsatire. Wie ein Mann so blöd sein konnte zu glauben, mit der ganzen Sache über Jahre hinweg unentdeckt zu bleiben – das war für mich unfaßbar. Vor allem, als sich herausstellte: Der Mann hat ein Drittel seiner Werke abgeschrieben, ein weiteres Drittel hat er paraphrasiert von anderen, und das letzte Drittel ist wirklich rein erfunden, schlicht Quatsch – und zum Teil hanebüchen. Diese Kombination ist für mich wirklich grotesk gewesen, das war zum Lachen. Ich meine, er fand’s natürlich nicht zum Lachen. Dafür haben Sie die Sache ja doch recht hochkochen lassen, mit Prozessen und allem. Die Sache zeigt natürlich auch, wie weit der Journalismus verkommen kann. Wenn einer sich geschickt zum Experten für irgendetwas erklärt und die einen es nicht überprüfen können und die anderen, die es überprüfen können, nicht überprüfen wollen … Ich habe mir den Schuh damals ja auch angezogen, ich habe gesagt: Wir sind selber schuld; warum habe ich nie ein Buch von dem gelesen? – Weil man sich als Wissenschaftler dafür zu erhaben war: So einen Quatsch lese ich doch nicht. Und das war ein Fehler. Ich finde: Wissenschaftler sollten stärker zur Kenntnis nehmen, was in den Medien geschrieben wird. Wenn diese ganze KonzelmannAffäre überhaupt etwas erreicht hat, dann vielleicht, daß die Funkstille zwischen der Wissenschaft und den Medien ein bißchen aufgebrochen ist, zumindest was den Orient anbelangt.



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Hat der Orientalist grundsätzlich die Rolle eines Vermittlers zu erfüllen? Auch gegenüber dem Orient? So würde ich es gerne sehen, nur wird es meistens nicht angenommen. Erstens wird diese Rolle von vielen Orientalisten nicht akzeptiert. Und viele islamische Theologen sehen es auch nicht so, und die wollen es auch gar nicht so sehen. Man merkt das auch an den Arabern, die im Westen Islamwissenschaft studieren. Die stoßen im Orient danach meistens auf furchtbare, kritische Distanz. Ich würde dennoch sagen: Als Orientalist sollte man natürlich ein durchaus kritisches Orientbild haben, aber man sollte sich auch dem Gedanken verpflichtet fühlen, daß man Verständnis und Verständigung sucht. Sonst wüßte ich nicht, warum man Orientalist wird. „Ich glaube nicht, daß dem Islam irgendetwas eigentümlich ist, das seine gegenwärtige Gewaltbereitschaft erklären würde oder verursacht hätte.“ Der Satz ist von Samuel Huntington. Ich glaube auch nicht, daß der Islam – von der Lehre oder von der Geschichte her – mehr zur Gewalt neigt als andere Religionen auch. Heilige Schriften sind nun mal normative Texte, aus denen man sich bedienen kann wie aus Steinbrüchen. Wenn jemand einen Pazifismus begründen will mit dem Koran, dann kann er das genauso gut wie einen Aggressionskrieg. Er muß nur die „richtigen“ Verse zusammenstellen. Ist Huntington, der in den 1990er Jahren für seine Thesen ja hart angegangen wurde, vielleicht doch ein wenig mißverstanden worden? Was er tun wollte, war doch, eine langfristige These aufzustellen, und nicht, kurzfristige Ereignisse vorherzusagen. Ich glaube, Huntington war deswegen gefährlich, weil die Gefahr bestand, daß das zu einer self-fulfilling prophecy wird. Sich jetzt hinzustellen und zu sagen: Bitteschön, da haben wir es, wäre natürlich viel zu einfach. Aber er hat zumindest nichts dagegen getan, das abzudämmen. Und ich habe auch immer gesagt: Huntington steht für mich auf dem gleichen Niveau wie die islamistischen Apologeten, die ja auch ständig vom notwendigen Kulturkrieg zwischen dem Westen und dem Islam reden. Wobei Huntington nicht von einem notwendigen Krieg gesprochen hat …

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… unausweichlich … … zumindest nicht unwahrscheinlich. Die haben das aber schon behauptet, bevor Huntington das geschrieben hat. Aber man muß ja auch fragen: Warum denn? Erstens: Der Westen, die Amerikaner schienen einfach ein Feindbild zu brauchen, nachdem ihnen die Sowjetunion abhanden gekommen war. Und auf der anderen Seite erlebt der Orient zur Zeit einen derartigen Werteverlust, einen Mangel an Selbstwertgefühl, daß natürlich Feindbilder aufkommen. Die berühmten mu’āmarat, die Verschwörungstheorien. Der Orient befindet sich, kulturpolitisch und gesellschaftlich gesehen, in einer Situation, in der Verschwörungstheorien notwendigerweise produziert werden müssen. Und da bietet sich der Westen natürlich an. Was sicherlich zutrifft, ist, daß Huntingtons Buch und vor allem seine Formulierungen wie die von den „blutigen Grenzen“ der islamischen Welt dazu beitrugen, alte Feindbilder wiederzubeleben. Ja, natürlich. Es ist ja kein neues Feindbild, es ist ja schon einmal dagewesen. Wie man kürzlich erst wieder sah: Der EU-Beitritt der Türkei wird verhandelt, und schon haben die Österreicher Angst, daß die ein drittes Mal vor Wien stehen. Ich finde solche Schreiberei einfach gefährlich und unverantwortlich. Zumal Huntington an einigen Punkten mit Statistiken und Zitaten dermaßen grotesk umging, daß man den Eindruck nicht los wird, hin und wieder hat er die Sachen verdreht. Daß die meisten Waffenströme über den Nahen Osten laufen würden, ist beispielsweise Quatsch. Die meisten Waffen laufen über Nordamerika. Um noch einmal auf den Beginn unseres Gesprächs zurückzukommen: Was wirklich etwas deprimierend ist nach mehreren Jahrzehnten Beschäftigung mit der Region, ist: Die Situation im Nahen Osten ist tatsächlich immer schlechter geworden. Ich habe zwei Zeitschriftenkommentare zum Nahen Osten von Ihnen gelesen, einen von Mitte der 1990er Jahre, in dem Sie gegen Feindbilder anschrieben, und einen von 2004. Der hieß: „Die Utopie des Friedens.“ Gut, der Titel ist nicht von mir.



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Aber er widerspricht dem Inhalt zumindest nicht. Wenn ich nicht von der grundsätzlichen Stimmung her ein optimistischer Mensch wäre, dann könnte ich in der Tat manchmal verzweifeln. Aber ich bin auch Historiker, und da ist man gewohnt, in größeren Zeiträumen zu denken. Nehmen wir den 30-jährigen Krieg: Da hat man im wahrsten Sinne des Wortes gemerkt, daß man mit Religion keinen Staat machen kann. Diese Katharsis, die Mitteleuropa durchgemacht hat, hat eine ganz andere Haltung gegenüber der Religion produziert. Noch lange keine Demokratie und nichts dergleichen, aber erst einmal den Abstand zu religiösen Begründungen für Kriege. Das ist für die Aufklärung, die dann kam, der Vorläufer gewesen. Und diese Art der Aufklärung hat es in der islamischen Welt nicht gegeben. Sie hat aber auch keine vergleichbaren Kriege gehabt. Vielleicht ist das, was gegenwärtig im Nahen Osten abläuft, diese Katharsis, dieser Reinigungsprozeß, der erst einmal einsetzen muß. Damit die Leute erkennen, daß das mit Osama bin Laden keine Zukunftsperspektive hat. Ich glaube, in der islamischen Welt wird das noch ein bißchen dauern, aber es wird kommen, daß auch da andere Maßstäbe gesetzt werden. Ihre Bücher decken ein sehr breites thematisches Spektrum ab. Erkennen Sie darin ein Leitmotiv? Kuriosität. Ich bin ein absolut neugieriger Mensch und bleibe ungern immer auf dem gleichen Gebiet stehen. Das ist vielleicht auch die große Schwäche, die ich habe: Wenn ich glaube, ein Thema einmal begriffen zu haben, dann verliere ich das Interesse daran und mache lieber etwas anderes. Deswegen bin ich ja auch wissenschaftlich nicht immer unangegriffen geblieben, nicht nur wegen meiner Ausflüge in die Politik oder in die Populärwissenschaften. Da gab’s übrigens eine kleine Auseinandersetzung mit Josef van Ess damals in Tübingen … als ich Ibn Ishaq übersetzt hatte. Das war ihm viel zu populär. Meine Begründung war: Ja, ich wollte doch etwas populär machen, ich wollte doch, daß andere Leute es auch lesen können, nicht nur Orientalisten … Da sagte van Ess: „Jetzt haben Sie die Alma Mater verlassen.“ Das liegt mir heute noch im Ohr. (lacht) In Ihrem Werk ist für mich auf der einen Seite dieses Bestreben erkennbar, etwas nach außen zu tragen; auf der anderen Seite die Lust, Dinge

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zusammenzubringen, die in dieser Verknüpfung bislang nicht in das allgemeine Bewußtsein vorgedrungen waren … etwa frühislamische Gesellschaft und Rassismus. Oder Muʾammar al-Qadhdhafi und Kurzgeschichten. Ja, so etwas reizt mich. Vielleicht auch manchmal Skurriles, dafür habe ich eine große Schwäche. Überhaupt Zusammenhänge zu sehen. Historische Vergleiche, die immer hinken, aber trotzdem spannend sind. Wie die Frage: Kann man Abd al-Malik und Karl den Großen vergleichen? Dieser Gedanke zum Beispiel ist mir gerade am Wochenende gekommen. Wenn ich auf die letzten 50 Jahre zurückblicke, dann waren die zwar irgendwie immer mit dem Orient verbunden. Aber ich glaube, ich konnte den Orient immer auch ganz gut sein lassen und mal etwas anderes machen.

Erster Teil

Orient und Islam in europäischer Perspektive

Vom Saif Allāh zum Angelus Dei Rezeption und Transformation des Ḫālid ibn al-Walīd in der Mittelalterlichen europäischen Literatur (7.–13. Jahrhundert) E. Rotter Die mittelalterlichen lateineuropäischen Autoren hatten mit arabischen Begriffen ihre liebe Not. Die Verballhornungen und Verstümmelungen arabischer Titel und Personennamen in ihren Schriften sind sonder Zahl. Am häufigsten dürfte der „amīru ʾl-muʾminīn“ Verunstaltungen und Missdeutungen erfahren haben. In den 768 fertiggestellten „Continuationes“ der sog. „Fredegar-Chronik“ ist die Rede davon, dass Gesandte, die König Pippin zu „Amormuni, dem König der Sarazenen“, geschickt habe, nach Marseille zurückgekehrt seien.1 Gemäß den „Reichsannalen“ ereilte Kaiser Karl den Großen 801 in Pavia die Nachricht, dass Gesandte des „Perserkönigs Aaron Amir al Mumminin“ im Hafen von Pisa eingetroffen seien.2 In den „Annales Bertiniani“ heißt es zum Jahr 831, dass „Gesandte des Amiralmumminin aus Persien“ zu Kaiser Ludwig dem Frommen nach Diedenhofen gekommen seien.3 Mit solchen Beispielen ließen sich Seiten füllen. In 1 Die lateinischen Zitate sind hier nach leicht zugänglichen Ausgaben zitiert.  – Chronicarum quae dicuntur Fredegarii continuationes, cap.  51 (Ausgewählte Quellen zur deutschen Geschichte des Mittelalters [Freiherr vom Stein  – Gedächtnisausgabe], begründet von R. Buchner, fortgeführt von F.-J. Schmale, Bd. IVa, Darmstadt 1982, S. 320): […] nunciatum est regi, quod myssos suos, quos dudum ad Amormuni regi Saracinorum misserat post tres annos ad Marsiliam reversus fuisset. 2 Annales regni Francorum, ad annum 801 (Ausgewählte Quellen zur deutschen Geschichte des Mittelalters [Freiherr vom Stein – Gedächtnisausgabe], hg. von R. Buchner, Bd. 5, Darmstadt 1968, S. 76): Ibi nuntiatur ei, legatos Aaron Amir al Mumminin regis Persarum portum Pisas intrasse. 3 Annales Bertiniani, ad annum 831 (Ausgewählte Quellen zur deutschen Geschichte des Mittelalters [Freiherr vom Stein – Gedächtnisausgabe], hg. von

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späteren Jahrhunderten wurde der Titel nicht mehr als Eigenname aufgefasst. Man wusste, dass er „Beherrscher der Gläubigen“ bedeutete. Für Vincentius Bellovacensis bzw. Vincenz von Beauvais war dieser Titel aus christlicher Sicht ein Unding. Als er um 1250 sein „Speculum historiale“ (als Teil des „Speculum maius“)4 verfasste und darin eine längere Passage über Muḥammad ausbreitete, bediente er sich großzügig aus der „Epistola Saraceni et rescriptum Christiani“, d. h. der 1142 erstellten lateinischen Fassung der „Risālat ʿAbdallāh b. Ismāʿīl al-Hāšimī ilā ʿAbd al-Masīḥ b. Isḥāq al-Kindī wa risālat ʿAbd alMasīḥ b. Isḥāq al-Kindī ilā ʿAbdallāh b. Ismāʿīl al-Hāšimī“, kurz der „Risālat al-Kindī“ oder „Apologie des Pseudo-Kindi“5. Darin fand er den „amīr al-muʾminīn“ unübersetzt als Emirhelmomini 6 beibehalten vor. Ganz offensichtlich kannte Vincenz aber die Bedeutung des Titels, denn er übersetzte ihn nun aus eigenen Stücken zusätzlich ins Lateinische. Doch es verbot sich ihm, dem Dominikaner, im Zusammenhang mit Muslimen von Gläubigen zu sprechen. Er korrigierte deshalb die Vorlage, die er ansonsten nahezu wörtlich übernahm, und übertrug den Emirhelmomini nicht in ein durchaus mögliches rex credentium, „Beherrscher der Gläubigen“, sondern in rex Saracenorum, „Beherrscher der Muslime“7. Andere lateinische Übersetzungen mittelalterlicher Autoren liefen unbeabsichtigt gar völlig in die Irre. Bedeutungen arabischer Begriffe, die R. Buchner, Bd. 6, Darmstadt 1972, S. 14): […] in Theodonis-villa […] ibique ad eum legati amiralmumminin de Perside venientes, pacem petiverunt. 4 Vincentius Bellovacensis (Vincent de Beauvais), Speculum quadruplex sive Speculum maius, Duaci 1624 (Nachdruck: Graz 1965). 5 Edition der 1142/44 entstandenen lateinischen Fassung: J. Muñoz Sendino, La Apologia del Cristianesimo de al-Kindi, in Miscelanea Comillas 11–12 (1949), S. 339–461, hier S. 375–460 (nach Paris, BnF, Ms. lat. 6064 und Oxford, Corpus Christi College, Ms. 184). – Druck der arabischen Vorlage: The Apology of elKindi. A Work of the Ninth Century, Written in Defence of Christianity by an Arab, ed. A. Tien, London 1885². – Zu deren Entstehung durch einen syrischen Christen wohl des 10. Jahrhunderts s. A. Noth, in: Encyclopaedia of Islam 7 (1993) S.  379. – Französische Übersetzung des arabischen Textes: G. Tartar, Dialogue islamo-chrétien sous le calife al-Maʾmun (813–834). Les épitres d‘alHašimi et d‘al-Kindi, Combs-la Ville 1982 sowie Paris 1985. – Italienische Übersetzung des arabischen Textes: L. Bottini, Al-Kindi, Apologia del Cristianesimo (= Patrimonio culturale arabo cristiano 4), Milano 1998. 6 Muñoz Sendino, La Apologia (wie Anm. 5), S. 377: Tempore Abdalla Helmemim [= al-Ma‘mūn] Emirhelmomini […] Et erat Emirhelmomini Helmemim […]. 7 Vincencius Bellovacensis (wie Anm. 4), S. 913 (Speculum historiale, lib. XXIII, cap. 39).



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sich in etlichen Pilgerberichten des 15. Jahrhunderts finden, lassen sich vielfach kaum mehr erschließen. Arabische Namen sind häufig bis zur Unkenntlichkeit entstellt. Doch keinem widerfuhr in der lateinischen Literatur ein Schicksal wie Ḫālid b. al-Walīd, dem „Schwert Gottes“.

Ḫālid b. al-Walīd, das „Schwert Gottes“ (7. Jahrhundert) In der Schlacht von Uḥud kämpfte Ḫālid b. al-Walīd im März 625 als Führer der mekkanischen Reiterei noch gegen Muḥammad und dessen Anhänger.8 Im Frühjahr 629 wechselte er, der „brilliant military leader“9, zusammen mit dem nicht weniger kriegstüchtigen ʿAmr b. al-ʿĀs ins Lager des Propheten über, nachdem dieser den Kampf gegen Mekka im selben Jahr für sich entschieden hatte. Im Herbst war Ḫālid an einer militärischen Expedition gegen den byzantinischen Kaiser Herakleios bei Muʾta unweit des Toten Meers beteiligt.10 Sie wurde von Zayd, Muḥammads Adoptivsohn, befehligt und endete als Fehlschlag; Zayd selbst fand wie Ğaʿfar b. Abī Ṭālib, ein Bruder ʿAlīs, und ʿAbd Allāh b. Rawāḥa den Tod. Diese drei hatte Muḥammad (laut Ṭabarī) in dieser Reihenfolge für den Fall, dass einer fiele, für den Oberbefehl vorgesehen. Nach deren Tod auf dem Schlachtfeld riss Ḫālid eigenmächtig, doch anscheinend zum Wohl derer, die bis dahin überlebt hatten, die Führung an sich und brachte den Rest der geschlagenen Truppe nach Medina zurück. Durch seine unerschrockene Kriegsbereitschaft wie sein erfolgreiches taktisches Verhalten in den folgenden Kämpfen wurde er insbesondere unter Abū Bakr, der ihn mit dem Oberbefehl der muslimischen Armee betraute,11 „the greatest of the early Islamic generals“12. Doch den ehrenden Beinamen ‚Saif Allāh‘, „Schwert Gottes“, trug er bereits zu Lebzeiten Muḥammads, entweder weil er sich (laut Ṭabarī I 1531) in Erwartung eines Reitergefechts bei Mekka (im Jahr 6 d. H.) siegessicher gegenüber dem Propheten selbst als „Schwert Gottes und Schwert des Propheten“ bezeichnete, oder weil ihn der 8 H. Kennedy, The Prophet and the Age of the Caliphates, London – New York 1986, S. 37 f. 9 Kennedy, The Prophet (wie Anm. 8) S. 42. 10 F. McGraw Donner, The Early Islamic Conquests, Princeton/New Jersey 1981, S. 101 ff. und 105–110. 11 Kennedy, The Prophet (wie Anm. 8) S. 55. 12 Kennedy, The Prophet (wie Anm. 8) S. 54.

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Prophet (laut Ṭabarī I 1617) nach der Schlacht von Muʿta13 beim Empfang in Medina als ein „Schwert der Schwerter Gottes“ begrüßte und somit auch vor der Kritik, die an ihm und den anderen Geschlagenen geäußert wurde, in Schutz nahm.

Fredegar-Chronik (7. Jahrhundert) Ṭabarī starb 923 in Bagdad. Gernot Rotter (mein lieber geschätzter Bruder) würdigte Ṭabarīs von der Erschaffung der Welt bis zum Jahr 914/15 reichende Geschichtsdarstellung einmal als „eines der monumentalsten Werke der Historiographie überhaupt, um dessen Informationsfülle der über das frühe Mittelalter arbeitende Historiker den Islamkundler beneiden darf“14. Dennoch gilt es festzuhalten, dass bereits um das Jahr 660 „das Abendland, soweit es lateinisch schreibt, den ältesten zusammenhängenden Überblick der frühen arabischen Expansion“15 vorweisen kann. Enthalten ist er in der sogenannten Fredegar-Chronik, Buch IV, Kap.  66 und 81,16 eingebracht vom zuletzt an der Chronik tätigen Kompilator, der im äußersten Westen des Deutschen Reiches, wohl in Burgund und Metz, lebte und, obzwar in miserablem Latein, nur achtundzwanzig Jahre nach dem Tod Muḥammads nicht nur ein bemerkenswertes Historienwerk schrieb, sondern in diesem – bevor der erste Araber dazu fähig oder willens war – verblüffende Kenntnisse über die Frühzeit muslimisch-arabischer Geschichte bewahrte. Er verdankte sie einem Literaturtransfer von Ost nach West, laut seiner eigenen Aus13 P. Crone, Khālid b. al-Walīd, in: Encyclopaedia of Islam 4 (1978) S. 928. 14 G. Rotter, Formen der frühen arabischen Geschichtsschreibung, in: Deutsche Orientalistik, hg. vom Orientalischen Seminar der Universität Tübingen, Tübingen 1974, S. 63. 15 E. Rotter, Abendland und Sarazenen (Studien zur Sprache, Geschichte und Kultur des islamischen Orients 11), Berlin – New York 1986, S. 145. 16 Editionen: Chronicarum quae dicuntur Fredegarii Scholastici libri IV cum continuationibus, ed. B. Krusch, MGH SS rer. Merov. 2, S. 1–193, hier S. 153 f. und 162. – Lateinisch-englische Ausgabe: The Fourth Book of the Chronicle of Fredegar, ed. J. M. Wallace-Hadrill, London 1960, hier S. 54 f. und 68 f. – Lateinisch-deutsche Ausgabe (auf der Grundlage der MGH-Edition von Krusch, hier ab Buch II, Kap.  53): Die vier Bücher der Chroniken des sogenannten Fredegar, in: Ausgewählte Quellen zur deutschen Geschichte des Mittelalters, Bd. IVa (Quellen zur Geschichte des 7. und 8. Jahrhunderts), Darmstadt 1982, S. 44–271, hier S. 232–235 und 254–257.



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sage einer kleinen Schrift. Diese war, wie manche textlichen Missverständnisse eindeutig bekunden, griechischen Ursprungs,17 aber bereits in lateinischer Version (wohl via Italien und/oder Südfrankreich) ins Frankenreich gelangt. Daraus nahm der Kompilator (als Kapitel 66 seiner Chronik) die Entscheidung zwischen den Byzantinern und den Arabern um Syrien auf, die 636 in der bekannten Schlacht am Yarmūk gipfelte.18 In der Fredegar-Chronik wird indes kein Jahr genannt und eine grobe Lokalisierung nur in der Weise vorgenommen, dass Kaiser Herakleios seine Truppen von der „Cypischen Pforte“ am „Cypischen Meer“19 gegen die Sarazenen entsandt habe. Sie hätten sich dann in einer Stärke von hundertfünfzigtausend Mann unweit von zweihunderttausend Sarazenen gelagert, um mit diesen am folgenden Tag die Schlacht zu eröffnen. Doch bevor es dazu gekommen sei, habe in der Nacht der „Gladius Dei“ einen Teil der Streitmacht des Kaisers niedergemacht; zweiundfünfzigtausend Byzantiner seien dabei getötet worden, der größere Rest habe angesichts dieses Vorfalls entmutigt das Weite gesucht; danach seien die Sarazenen endgültig in die Provinzen des Byzantinischen Reiches eingefallen und hätten sie verwüstet, hätten Jerusalem eingenommen, Ägypten und ganz Nordafrika besetzt, den dortigen byzantinischen Statthalter getötet und Konstantinopel drei Jahre lang einen Tribut von täglich tausend Solidi abgepresst. Der fränkische Chronist, dessen Namen wir nicht kennen, musste – bar jeglicher anderer Informationen über diese Ereignisse – den Begriff „Gladius Dei“ wörtlich als „Schwert Gottes“ verstehen. Er wird ihn als Metapher für göttliches Handeln begriffen haben, als Synonym für den strafenden Gott, wie er oder ein Engel in seinem Auftrag ähnlich grausam im Alten Testament gelegentlich auftraten, ob Gott Gericht über Babel halten und dabei zulassen wollte, dass alle Männer unter dem Schwert zu Tode kämen,20 ob Jeremias Gott bat, die Kinder seiner 17 Zu den unverstandenen griechischen Relikten im lateinischen Text s. Rotter, Abendland und Sarazenen (wie Anm. 15) S. 159–167. 18 Bezüglich dieser Kämpfe um Syrien unter Ḫālid b. al-Walīd s. McGraw Donner, The Early Islamic Conquests (wie Anm. 10) S. 111–148. 19 Zur Deutung der Begriffe als „Syrische Pforte“ = portae quae Syriae = σύριαι πύλαι und „Syrisches Meer“ = συριακόν πέλαγος (hier auch zum Wortbeginn das Anfangs-Sigma verwendet, das sich in der byzantinischen Schreibweise durchsetzte) = baḥr aš-Šām s. Rotter, Abendland und Sarazenen (wie Anm. 15) S. 160–167. 20 Ies 13, 15: omnis qui inventus fuerit occidetur et omnis qui supervenerit cadet in gladio.

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Widersacher durch das Schwert umkommen zu lassen,21 ob Gott drohte, sein Schwert aus der Scheide zu ziehen und in Israel alle Gerechten und Ungerechten auszurotten,22 oder ob er den Äthiopiern durch den Propheten verkünden ließ, dass sie durch sein Schwert erschlagen würden.23 Immer wieder drohte der alttestamentliche Gott mit dem Schwert,24 weshalb der Kompilator den „Gladius Dei“ in der Nacht, in der das byzantinische Heer eines unfrommen Kaisers vernichtet wurde, gewiss nicht nur bar jeden Argwohns, sondern besten Glaubens geschichtsmächtig walten sah.

„Chronicon Wirziburgense“ (11. Jahrhundert) Dennoch ist das Bild vom Schwert Gottes, wie es der Fredegar-Chronist seiner Quelle entnahm und weiterverwendete, nicht biblisch. Der Terminus „Gladius Dei“ findet sich so in der Heiligen Schrift nirgends. Alle Formulierungen, die im Alten Testament mit dem Schwert operieren, weisen als angedrohte Strafsentenzen auf Künftiges. Dass Gott selbst, wie der Begriff „Gladius Dei“ nahelegt, oder allenfalls jemand anderer – wie z. B. ein Engel – mit seinem Willen das Schwert in der beschriebenen tödlichen Art eingesetzt hätte, steht in der Bibel nicht zu lesen. Daran störten sich spätere Autoren, die sich dieser Stelle der Fredegar-Chronik zur Abfassung eigener Werke bedienten, ganz offensichtlich. Sie nahmen dabei gewiss nicht Anstoß an der göttlichen Strafmaßnahme, die an Byzantinern vorgenommen wurde, an sich. Das sündige Leben ihres Kaisers Herakleios und seine häretische eutychianische Verirrung waren ihnen – wie möglicherweise auch schon dem Fredegar-Kompilator selbst, der ebenfalls davon schrieb – für ein sol21 Ier 19, 21: deduc eos in manus gladii … iuvenes eorum confidiantur gladio in proelio. 22 Ez 21, 3: eiciam gladium meum de vagina sua et occidam in te iustum et impium. 23 Zeph 2, 12: vos Aethiopes interfecti gladio meo eritis. 24 Weitere biblische Beispiele für ein göttliches Agieren mit dem Schwert sind etwa: Ier 44, 12: in gladio et in fame consumentur, a minimo usque ad maximum in gladio et in fame morientur; Ier 44, 13: et visitabo habitatores Aegypti sicut visitavi super Hierusalem in gladio et in fame et in peste; Ier 50, 35: gladius ad Chaldeos … et ad habitatores Babylonis et ad principes et ad sapientes eius, gladius ad divinos eius … gladius ad fortes illius … gladius ad equos eius et ad currus eius … gladius ad thesauros eius; Ez 16, 20: trucidabunt te gladiis suis; Ez 21, 9 f.: gladius gladius exacutus est et limatus ut caedat victimas; Ez 21, 14: et duplicetur gladius ac triplicetur gladius interfectorum.



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ches Einschreiten Gottes Grund genug. Den mittelalterlichen Autoren gefiel nur der unbiblische „Gladius Dei“ nicht. Knapp vierhundert Jahre nach Fertigstellung der Fredegar-Chronik brachte der ebenfalls namentlich unbekannte (wohl in Bamberg sitzende) geistliche Verfasser des bis zum Jahr 1057 reichenden „Chronicon Wirziburgense“25 den entsprechenden Passus der Fredegar-Chronik nicht nur in passables Latein, als er ihn in sein Werk einfügte, sondern eliminierte auch den ihm unverständlichen „Gladius Dei“. Er nahm eine Personalisierung der mit dem „Schwert Gottes“ verübten Tat vor, ersetzte den „Gladius Dei“, der jene zweiundfünfzigtausend Byzantiner nächtens tötete, durch einen „Angelus Dei“ und verkehrte somit – selbstverständlich unbewusst und nichts ahnend – Muḥammads Kriegsmann Ḥālid b. al-Walīd, der auch gegen Christen zu Felde gezogen war, zum christlichen „Engel Gottes“. Dies erschien dem mainfränkischen Verfasser offensichtlich sinnfälliger, zumal er gewiss die Bibelstelle aus der Balaamgeschichte kannte, in der von einem mit gezücktem Schwert auf dem Weg stehenden Engel die Rede ist,26 ferner jene Stelle, an welcher zum einen vom Schwert des Herrn, zum anderen von einem verderbenbringenden Engel geschrieben steht,27 oder auch die Episode von David, der vor dem zur Vernichtung Jerusalems ausgeschickten Engel des Herrn mit einem blanken Schwert in der Hand erschrak.28

Hugo von Flavigny (Ende 11. / Anfang 12. Jahrhundert) Eine Abstrahierung des problematischen Begriffs nahm hingegen Abt Hugo von Flavigny (gest. um 1114) in seinem bis 1102 reichenden „Chronicon Virdunense seu Flaviniense“29 vor. Gewiss ohne Kenntnis des „Chronicon Wirziburgense“ und somit keinesfalls antithetisch 25 Dazu W. Wattenbach / R. Holtzmann, Deutschlands Geschichtsquellen im Mittelalter. Die Zeit der Sachsen und Salier, 2. Teil, hg. von F.-J. Schmale, Darmstadt 1978, S. 477 f. – Edition von G. Waitz in: Monumenta Germaniae historica, Scriptores, Bd. 6 (1844) S. 25. 26 Nm 22, 23 und 31: angelum stantem in via evaginato gladio. 27 I Par 21, 12: tribus diebus gladium Domini et mortem versari in terra et angelum Domini interficere in universis finibus Israhel. 28 I Par 21, 16: levansque David oculos suos vidit angelum Domini stantem inter terram et caelum et evaginatum gladium in manu eius. – I Par 21, 30: nimio enim fuerat timore perterritus videns gladium angeli Domini. 29 Editon von G. H. Pertz in: Monumenta Germaniae historica, Scriptores, Bd. 8 (1848) S. 288–502, hier S. 323.

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zu diesem, rettete er sich bei der Übernahme der Fredegar-Stelle vom Kampf der Sarazenen mit den Byzantinern aus dem Unbehagen, das ihm der „Gladius Dei“ bereitete, zu einem der sogenannten Gottesprädikate und substituierte ihn durch die „Virtus Dei“, weshalb bei ihm die „Kraft Gottes“ anstelle des „Schwertes Gottes“ oder eines „Engels Gottes“ die Byzantiner in der Nacht vor der geplanten Schlacht mit den Sarazenen niedermachte. Dem Bibelkundigen tritt die „Virtus Dei“ aus dem ersten Korintherbrief entgegen, wo Paulus davon schrieb, dass die Gläubigen das Wort vom Kreuz als Gotteskraft empfänden.30 Gemäß der Apostelgeschichte hielten die Anhänger des Zauberers Simon diesen fälschlich für „die Kraft Gottes, die da ‚groß‘ heißt“31; vier weitere Stellen – ausschließlich im Neuen Evangelium – bieten den Begriff in ähnlicher Bedeutung. Ab dem 12. Jahrhundert beschäftigte er insbesondere die christlichen Mystiker, u. a. Hildegard von Bingen, die ihn als rationalitas verstand und meist in Verbindung mit sapientia verwendete.

Otto von Freising (12. Jahrhundert) Die hermeneutische Flucht nach vorne in die mystische Spekulation verbot sich einem Realisten wie dem Freisinger Bischof Otto, der qua Amt Politiker, als Halbbruder König Konrads III. von früh auf den staufischen Herrschern nahestand und zeitlebens in seinen Schriften für die historische Dimension ihres Wirkens Zeugnis ablegte. Obwohl er als Student in Paris mit symbolistischem Denken und der scholastischen Methode konfrontiert worden war, bewies er anschließend sehr praktischen Sinn. Andernfalls wäre er kaum mit etwa sechsundzwanzig Jahren zum Abt des Zisterzienserklosters Morimond, in das er sechs Jahre zuvor mit etlichen Studienfreunden eingetreten war, erhoben worden. Insofern nahm er als Mönch und Kirchenmann sicherlich an Engeln keinen Anstoß; und dennoch beschlichen ihn offensichtlich Zweifel, als er – nicht direkt aus der Fredegar-Chronik und wohl auch nicht aus dem „Chronicon Wirziburgense“, sondern eher aus einer französischen Tradition – die Geschichte von den zweiundfünfzigtausend getöteten Byzantinern in seine zwischen 1143 und 1146 verfertigte Weltchronik, einen „Höhepunkt mittelalterlicher Weltgeschichtsschreibung“, 30 I Cor 1, 8 f.: verbum enim crucis … his autem qui salvi fiunt id est nobis virtus Dei est. 31 Act 8, 10: hic est virtus Dei quae vocatur Magna).



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die „ohne gleichrangige Nachfolge geblieben“32 ist, übernahm. Otto, damals ein junger Mann Anfang der Dreißig, gab sich gegenüber der Angabe skeptisch; er übernahm sie nicht als Tatsache. Er schrieb, dass die Tat zur Nacht, wie man sage, von einem Engel vollbracht worden sei: nocte ab angelo LII° milia … percussa feruntur 33. Andererseits vermochte er den Engel nicht zu ersetzen, und so durfte der von seinem Propheten mit dem Beinamen „Saif Allāh“, „Schwert Gottes“, bedachte Muslim Ḥālid b. al-Walīd hinter dem dichten Schleier eines sprachlichen Missverständnisse weiterhin als christlicher Engel in der europäischen Historiographie in Erscheinung treten.

Meister Otte (Anfang 13. Jahrhundert) Die Entrückung des Begriffs in mystische oder allegorische Sphären oder ins historisch Ungewisse konnte schon von einer nur etwas breiteren Bevölkerungsschicht weder mit Genuss, noch mit Gewinn nachvollzogen werden. Autoren wie Gautier d’Arras aber, der mit seinem nach 1164 verfassten „Eracle“34 zu den allerersten französischen Romanautoren zählt, schrieben nicht mehr nur für die gelehrten Brüder in den Klosterbibliotheken, sondern für ein weltliches adliges Publikum und hatten bereits ein Interesse an einer größeren Leser- oder besser Hörergemeinde. Gautier hielt sich nicht bei dem negativen Herakleiosbild auf, sondern verarbeitete die in Europa ebenfalls umlaufende positive Legende, welche um die von Herakleios bewerkstelligte Rückeroberung des im Jahr 614 von den Persern unter grausamen Massakern aus Jerusalem entwendeten Heiligen Kreuzes kreiste. Für Gautier war der byzantinische Kaiser kein häretischer Versager, sondern ein wahrer Held, ein Guter. Der Engel Gottes, li angles Nostre Signor 35, den er im „Eracle“ auftreten ließ, vollbrachte keine Bluttat, sondern sprach zum hochmütig gewordenen Kaiser lediglich mahnende Worte. 32 W. Lammers in der Einleitung zur lateinisch-deutschen Ausgabe der Chronik: Otto Bischof von Freising, Chronik oder Die Geschichte der zwei Staaten, übers. von A. Schmidt, hg. von W. Lammers (Ausgewählte Quellen zur Geschichte des deutschen Mittelalters 16), Darmstadt 1974, S. xiii. 33 Otto von Freising, Chronik V, 9, in der Edition von W. Lammers (wie Anm. 31) S. 396. 34 Gautier d’Arras, Eracle, publ. par G. Raynaud de Lage (Le classiques français du moyen âge 102), Paris 1976. 35 Vers 5325. – An dieser Stelle darf ich Herrn Prof. Peter Ihring, Frankfurt am Main, für Erkenntnishilfen bezüglich des Altfranzösischen danken.

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So folgte denn der (ansonsten nahezu unbekannte) Meister Otte36 seinem altfranzösischen Vorbild nur bis kurz vor Schluss, als er in den ersten Jahren des 13. Jahrhunderts in starker Anlehnung an den „Eracle“ des Gautier d’Arras einen mittelhochdeutschen „Eraclius“37 verfasste. Otte erwähnte zwar auch wie Gautier, dass Gotes bot ein engel 38 den Kaiser zur Bescheidenheit angehalten habe, aber am Ende fügte er ganz eigenständig an, was ansonsten noch aus den Chroniken über Herakleios bekannt war bzw. was er aus ihnen herauslas. Die Missverständnisse, die Meister Otte dabei offenbarte, lassen an den Lateinkenntnissen, die ihm von den Altgermanisten attestiert werden, beträchtlich zweifeln. Nicht um ein Missverständnis Ottes handelte es sich allerdings bei seinem Hinweis, dass zur Zeit des Herakleios „Mohammed zur Welt gekommen“ sei, „der so vielen Menschenseelen den Tod brachte, die halbe Welt Gott abspenstig machte und den Unglauben verbreitete, wie viele es noch heute tun. Er hatte sich mit Leib und Seele von Gott abgewandt. Sein Vater war ein Heide, seine Mutter war Jüdin, das wurde an seinen Worten und Werken deutlich, wie ihr selbst bemerken könnt“39. Diese Ansicht entsprach gängigem Standard abendländischer Muḥammad-Biographien; bereits Bischof Otto von Freising hatte in seiner 1146 beendeten „Chronica sive Historia de duabus civitatibus“ das Bild vom heidnischen Vater und der jüdischen Mutter Muḥammads geprägt.40 Und nicht als Missverständnis ist es Meister Otte anzukreiden, als er von dem „großen Wunder“ schrieb, das mittlerweile so oder so ähnlich in vielen Chroniken zu 36 Vgl. J. Bumke, Geschichte der deutschen Literatur im hohen Mittelalter, München 1990, S. 243 f. 37 Edition: Otte, Eraclius, hg. von W. Frey, Göppingen 1983. – Neuhochdeutsche Ausgabe: Der Eraclius des Otte. Übersetzt, mit Einführung, Erläuterungen und Anmerkungen versehen von W. Frey, Kettwig 1990. 38 Otte, Eraclius, hg. von W. Frey (wie Anm. 37) S. 109, Vers 5389 der Handschrift im Cod. Vindob. 2693; derselbe Vers in der im Cod. Gothanus Chart. A 3 überlieferten Handschrift bietet lediglich gotes engel. 39 In der neuhochdeutschen Wiedergabe von W. Frey (wie Anm. 37) S. 157 f., nach der Eraclius-Handschrift im Cod. Vindob. 2693, Vers 5472–5489; Edition von W. Frey (wie Anm.  37) S.  111. – Ausführlicher ist die Machmet-Stelle in der Handschrift im Cod. Gothanus Chart. A 3, Vers 5670–5697; Edition von W. Frey (wie Anm. 37) S. 115. 40 Otto von Freising, Chronik V, 9; Edition von W. Lammers (wie Anm.  32) S. 396. So – mit diesem Heiden und der Jüdin als Vater und Mutter – auch der Wiener Gelehrte Thomas Ebendorfer in seiner vor 1452 verfassten Chronica regum Romanorum; Edition: Thomas Ebendorfer, Chronica regum Romanorum, hg. H. Zimmermann, 2 Bde. (MGH SS rer. germ. NS 18), Hannover 2003.



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lesen stand: „Eines Nachts, als er im Schlaf lag, kam vom Himmel ein Schlag Gottes und tötete siebzigtausend Soldaten auf einmal! Gottes Macht zeigt sich auf vielfältige Weise. Eraclius wurde damit für seine Untreue im Glauben und seine Untaten bestraft.“41 Otte folgte also der bekannten Darstellung der Fredegar-Version (oder einer ihrer Fortentwicklungen), nur dass die Byzantiner nicht durch ein Schwert oder einen Engel Gottes zu Tode kamen, sondern weil Eines nahtes do daz her lach / Do chome von himel der gotes slach / Und sluch des volches zeiner stunt / Volleclich sibenzich tusunt 42. So mutierte Muḥammads Feldherr mit dem Beinamen „Schwert Gottes“ in Mitteleuropa zum christlichen „Engel Gottes“, zur „göttlichen Kraft“ und schließlich zum „göttlichen Schlag“, d. h. zu Gott als strafendem Täter selbst: Eine einzigartige ‚christliche Karriere‘ für einen muslimischen Krieger.

Die vergebliche frühe Erklärung: Theophanes Homologetes / Anastasius Bibliotecarius / Landolfus Sagax (9.–10. Jahrhundert) Das Bonmot, wonach Literaturkenntnis vor Neuentdeckung schütze, gilt zeitlos. Kaum etwas zeigt dies für das Mittelalter so trefflich wie das Beispiel vom „Gladius Dei“ alias „Saif Allāh“ alias Ḥālid b. alWalīd und seinen Verformungen. Denn all diese Bemühungen, durch terminologische Variationen sinnverstärkend zu wirken, waren unnö41 In der neuhochdeutschen Wiedergabe von W. Frey (wie Anm.  37) S.  159. – Die Erhöhung auf 70 000 Getötete findet sich nur in der Handschrift im Cod. Vindob. 2693, in der Edition von W. Frey (wie Anm. 36) S. 112; vgl. folgende Anm. 41. 42 In der Handschrift im Cod. Vindob. 2693 (Ed. Frey [wie Anm. 37] S. 112) Vers 5525–5535, wobei Frey fälschlicherweise daz her lach dahingehend deutete, dass er = Herakleios im Schlaf gelegen sei; doch her meint, wie nicht nur die Darstellung in der Fredegar-Chronik, sondern der Gebrauch von her wenige Zeilen zuvor (Vers 5527: Do nam er ein her groz) nahelegt, das „Heer“ des Kaisers. – In der Handschrift im Cod. Gothanus Chart. A 3 lautet die entsprechende Stelle (Vers 5621–5624): Do cham von himel der gotes slag / Und slug dem chaiser an der stund / Seines volkes die warn gesünt / Zway und funfczik tawsent man. – Ähnlich in den verschiedenen Exzerpten aus Ottes Eraclius, die sich in der ‚Weltchronik‘ des Heinrich von München finden, wiedergegeben in der Edition von W. Frey (wie Anm. 37) S. 118, 120, 123, 124, 126. – Vgl. grundsätzlich E. Feistner, Ottes ‚Eraclius‘ vor dem Hintergrund der französischen Quelle (Göppinger Arbeiten zur Germanistik Nr. 470), Göppingen 1987, S. 70.

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tig und hätten leicht vermieden werden können, zumal sie aus christlicher Sicht nur zu ‚Schlimmbesserungen‘ gerieten, wenn die Autoren – zeitlich nach dem Verfasser der Fredegar-Chronik – den Blick in eine Schrift getan hätten, die es auch in Lateineuropa an Deutlichkeit hinsichtlich der Bezeichnung Ḥālid b. al-Walīds als „Schwert Gottes“ nicht fehlen ließ. Ausgangspunkt war Theophanes Homologetes (Confessor), ein Grieche aus hochadliger Familie, der nach sechsundzwanzigjähriger glänzender Karriere das Hofleben gegen das beschauliche Dasein in einem von ihm selbst gegründeten Kloster eintauschte und über der Mitarbeit an der Chronik des Georgios Synkellos selbst zum Chronisten wurde. Er setzte dessen Geschichtswerk, das nur bis zum Jahr 285 gediehen war, unter Zuhilfenahme zahlreicher heute verlorener Werke, darunter auch solcher syrischen bzw. arabischen Ursprungs, bis zum Jahr 813 fort und schuf auf diese Weise seine „Chronographia“, die für sehr viele Vorgänge des 7. und 8. Jahrhunderts die einzige Quelle darstellt.43 Besonderes Interesse verdient sie wegen der umfangreichen Berücksichtigung der arabisch-islamischen Geschichte, beginnend mit einer Muḥammad-Vita, die bereits sämtliche Schlüsselelemente der späteren lateinischen Viten des „Pseudopropheten“ birgt, und endend mit den Nachfolgekämpfen unter Hārūn ar-Rašīds Söhnen nach dem Tod des Vaters im Jahr 809 sowie den daraus resultierenden anarchischen Zuständen in Syrien und Ägypten. Zu Anfang ist aber auch die Rede von Abū Bakr als dem ersten Kalifen, daneben von vier Emiren, die nach Muḥammads Tod, aber noch in seinem Auftrag, die Christen unterworfen hätten, ferner von Byzantinern, die einen Angriff auf Mekka44 (zweifellos eine Verwechslung mit Muʾta), wo die Araber ihre 43 Vgl. Lexikon des Mittelalters 8 Sp.  663 f. – Edition: C. De Boor, Theophanis Chronographia, Bd. 1, Leipzig 1883 (Nachdruck Hildesheim 1963). – Dt. Teilübersetzung: Bilderstreit und Arabersturm in Byzanz. Das 8. Jahrhundert (717–813) aus der Weltchronik des Theophanes, übers., eingel. u. erkl. L. Breyer (= Byzantinische Geschichtsschreiber, Bd. VI), Graz – Wien – Köln 1964². 44 De Boor, Theophanis Chronographia (wie Anm.  42) S.  335: ἦλϑου κατέυατι Mουχέωυ κώμης λεγομέυς; lat. qui venerunt contra Mucheas castellum.- An dieser Griechisch-Stelle sei es gestattet, auf die ganz persönliche, ebenfalls einem Begriffs-Missverständnis zu verdankende Nähe des Jubilars zum Altgriechischen zu verweisen, das ihm während seiner Schulzeit am Humanistischen Gymnasium in Lohr am Main den Spitznamen Anastas (mit – falscher – Betonung auf der zweiten Silbe) eintrug. Dazu kam es, weil er im Unterricht beim Übersetzen einer Passage aus Xenophons „Anabasis“ das fragliche Wort nicht als Partizip Präsens des Kompositums ἀνίστημι verstanden, sondern – zusätz-



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Götzen verehrten, unternommen hätten, sowie von verräterischen Sarazenen, die den Byzantinern geholfen hätten, die Araber zu besiegen und drei ihrer Emire samt dem Großteil ihres Heeres zu töten. Nur, so Theophanes weiter, „Ḥālid, den sie ‚das Schwert Gottes‘ nennen“45, sei entkommen. Zumindest denen, die griechisch lasen, erklärte Theophanes also schon zu Beginn des 9. Jahrhunderts zweifelsfrei den Begriff als Beinamen eines arabischen Heerführers. Dem größeren (lateinischen) Teil Europas wurde Theophanes‘ „Chronographia“ vollständig zugänglich, als Anastasius Bibliotecarius – ein Römer, der es Mitte des 9. Jahrhunderts für zwei Monate zum Gegenpapst gebracht hatte, aber eigentlich der päpstlichen Bibliothek vorstand – das griechische Werk um 875 ins Lateinische übersetzte. Anastasius fügte es einem eigenen dreiteiligen Geschichtskompendium, seiner sogenannten „Chronographia tripartita“, als dritten Teil bei. Doch dieses Werk stieß, wie bereits die spärliche Überlieferung, aber auch die seltenen Zitierungen in späteren Chroniken belegen, auf äußerst geringe Resonanz.46 Um diese Resonanz war es nicht besser bestellt, als die lateinische Fassung der „Chronographia“ des Theophanes nochmals in anderem Gewand über die Alpen ins Deutsche Reich gebracht wurde. Verliehen hatte es ihr ein gewisser Landolfus Sagax, ein Beneventaner. Er schrieb bzw. diktierte – frühestens ab 976 – eine „Historia Romana“ und komplettierte sie, indem er als letzten Teil die „Chronographia tripartita“ des Anastasius nahezu wörtlich anfügte. Dieses Buch des Landolfus führte mit hoher Wahrscheinlichkeit Kaiser Heinrich II. im Gepäck, als er von Italien heimkehrte; spätestens 1024 wurde es im Kloster Corvey für die Dombibliothek in Bamberg kopiert, wobei zum ersten Mal von einem Menschen nördlich der Alpen der Name Muhammad zu Pergament gebracht, aber eben auch Ḥālid b. al-Walīd als „der Emir namens Ḥālid, den sie ‚Schwert Gottes‘ nennen“ (unus Amiras, Chaledus nomine scilicet, quem gladium dei dicunt)47, geoutet wurde. Die lich verleitet durch die Großschreibung am Satzbeginn – als Eigennamen eines Griechen aufgefasst und diesen zum Subjekt des Satzes gemacht hatte. 45 Ebenda: ὁ Xάλεδος ὅν λέγουσι τἠυ μάχαιραν του ϑεου. 46 Hierzu wie auch zu folgendem s. E. Rotter, Mohammed in Bamberg. Die Wahrnehmung der muslimischen Welt im deutschen Reich des 11. Jahrhunderts, in: Aufbruch ins zweite Jahrtausend. Innovation und Kontinuität in der Mitte des Mittelalters, hg. vom A. Hubel und B. Schneidmüller, Ostfildern 2004, S. 283– 344, hier S. 288–297. 47 Landolfus, Hist. Rom. 20, 62. – Landolfi Sagacis Historia Romana, ed. Amedeo Crivellucci, Bd.  1, Roma 1912, S.  135; Historia miscella, ed. Fr. Eyssenhardt,

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Erklärung blieb ohne Folgen, weil selbst ein so gebildeter Mann wie der in Bamberg um 1100 an seiner Weltchronik arbeitende Frutolf von Michelsberg zwar sowohl die Fredegar-Chronik, als auch Landolfs „Historia Romana“ für die Beschreibung des Wirkens Muḥammads und der Frühphase der arabischen Expansion heranzog, aber nicht darauf verfiel, von dem Chaled = gladius dei der „Historia Romana“ auf den „Gladius Dei“ der Fredegar-Chronik zurückzuschließen. Frutolf folgte statt dessen an dieser Stelle wörtlich dem „Chronicon Wirziburgense“ (siehe oben) und erhob Ḥālid bedenkenlos ebenfalls zum „Engel Gottes“ (angelus dei).48

* Die Transformation des Begriffs, die wir verfolgten, vermag uns – den brüderlichen Jubilar eingeschlossen – als bescheidenes namensgeschichtliches Schlaglicht in das Dunkel mittelalterlicher Skriptorien gewiss ein wenig zu erheitern. Sie steht aber auch als Indikator für den Wahrnehmungswandel von Früh- zu Hochmittelalter und für einen Bewusstwerdungsprozess des Individuums, das sich als Geschichtsschreiber oder Romancier einbrachte, indem es entsprechend seiner Persönlichkeit und Bildung deutete, wägte oder dramatisierte. Der Fredegar-Autor hing, auch mangels anderer Erkenntnismöglichkeiten, sklavisch an seiner Quelle und lag, ohne darum zu wissen, der Wahrheit am nächsten. Die folgenden Autoren wussten mehr und entfernten sich dennoch von ihr bis zur Verkehrung in ein ungewolltes positives Gegenteil. In der europäischen Literatur wurde lediglich dem Muḥammad der diversen lateinischen Viten eine ähnlich gravierende, indes ausschließlich negative Verwandlung zuteil. So gesehen, gewann Ḥālid b. al-Walīd infolge seiner Veränderung bis zur Unkenntlichkeit und positiven Verformung einen völlig ungeahnten, einzigartigen Platz in der lateineuropäischen Historiographie.

Berlin 1869, S. 459, entsprechend: Anastasius, Chronographia tripartita, ed. C. De Boor, Theophanis Chronographia, Bd. 2, Hildesheim 1963 (zuerst: Leipzig 1885), S. 210. 48 Frutolf von Michelsberg, Chronicon Universale, hg. von G. H. Pertz, in: Monumenta Germaniae historica, Scriptores, Bd. 6 (1844) S. 153.

Sarazenen als „Fremde“? Anmerkungen zum Islambild in der abendländischen Geschichtsschreibung des frühen Mittelalters H.-W. Goetz

1. Forschungsstand und Fragestellung Anders als noch vor wenigen Jahrzehnten gibt es über das Islambild des frühen Mittelalters mittlerweile einen durchaus hinreichenden Forschungsstand.1 Nach der frühen, zwangsläufig noch generalisierenden, aber grundlegenden Arbeit von Richard William Southern2 und den Aufsätzen von Marie-Thérèse d’Alverny3 liegen mit den Monographien von Ekkehart Rotter,4 John Tolan5 und Katherine Scarfe Beckett6 gründliche und jeweils umfassende Studien vor, deren wichtigste Ergebnisse man vielleicht wie folgt zusammenfassen kann: 1 Einen Überblick über die Forschung gibt David R. Blanks, Western Views of Islam in the Premodern Period: A Brief History of Past Approaches, in: Western Views of Islam in Medieval and Early Modern Europe. Perception of Other, hg. v. David R. Blanks und Michael Frassetto, New York 1999, S. 11–53. 2 Richard William Southern, Western Views of Islam in the Middle Ages, Cambridge, Mass. 1962 (dt. Das Islambild des Mittelalters, Stuttgart u. a. 1981). Die Pionierarbeit von Norman Daniel, Islam and the West. The Making of an Image, Edinburg 1960 (²1966), setzt erst im 12. Jahrhundert ein. 3 Marie-Thérèse d’Alverny, La connaissance de l’Islam en Occident du IXe au milieu du XIIe siècle, in: L’occidente e l’Islam nell’alto medioevo (Settimane di studio del centro italiano sull’alto medioevo 12), Spoleto 1965, S. 577–602 (abgedr. in: Dies., La connaissance de l’Islam dans l’Occident médiéval [CS 445], Aldershot 1994). 4 Ekkehard Rotter, Abendland und Sarazenen. Das okzidentale Araberbild und seine Entstehung im Frühmittelalter, Berlin-New York 1986. 5 John V. Tolan, Saracens. Islam in the Medieval European Imagination, New York 2002. 6 Katherine Scarfe Beckett, Anglo-Saxon Perspectives of the Islamic World (Cambridge Studies in Anglo-Saxon England 33), Cambridge 2003.

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Christliche Reaktionen auf die Ausbreitung des Islam setzten zunächst in der näheren islamischen Umgebung, im Nahen Osten und später in Spanien, ein und bedienten sich dabei biblischer Prophetien. Abendländische Stellungnahmen erfolgten erst später (bei Beda und Fredegar). Ethnographische Merkmale von Land und Leuten, Lebensweise und politischer Ordnung wurden allenfalls beiläufig und um ganz anderer Zusammenhänge willen erwähnt (wie in Hugeburgs Bericht der Pilgerfahrt Willibalds von Eichstätt).7 Zwar gab es ein – vor allem über die Patristik weitergeleitetes (und somit vorislamisches) – „Wissen“ über die Sarazenen nicht erst im Zeitalter der Kreuzzüge, sondern lange vorher.8 Insgesamt waren bis weit in das 11. Jahrhundert hinein jedoch Unkenntnis und Desinteresse vorherrschend.9 Man befaßte sich kaum mit dem Islam als Religion10 als vielmehr mit den Sarazenen als Angreifern und deutete die Gefahr als Sündenstrafe Gottes an den Christen.11 Dabei wurden die Muslime in der Regel als – polytheistische – Heiden (Mohammed als Gott) angesehen. Heilsgeschichtlich war ihre Geschichte daher irrelevant. Ein verstärktes Interesse erwachte erst in der Kreuzzugsstimmung, die allerdings zugleich ein abwertendes, feindseliges Bild gegenüber den Heiden und Glaubensfeinden hervorbrachte, sie gelegentlich, in Anlehnung an frühe Urteile, aber auch wieder als christliche Häretiker betrachtete.12 7 Hugeburg von Heidenheim, Vita Willibaldi episcopi Eihstetensis 4, ed. Oswald Holder-Egger, MGH SS 15, Hannover 1887, S. 92–105. Hugeburg beschreibt recht genau den Weg der Pilgerfahrt (und welche Kirchen Willibald und seine Begleiter dort jeweils vorfanden). Die Muslime traten in dem Bericht nur als Machthaber in Erscheinung, von denen Willibald eine Reiseerlaubnis benötigte, die ihm der Statthalter von Syrien (rex Sarracinorum) ohne weiteres ausstellte, als er die friedliche Absicht erkannte. Zuvor allerdings erlitten die „Fremden“ einige Behelligungen und wurden zeitweise sogar eingekerkert (ebd. S.  94 f.). Vgl. unten Anm.  111. Ausführlich zu Hugeburgs Bericht: Rotter, Abendland (wie Anm. 4) S. 43–65; Beckett (wie Anm. 6) S. 44–54. 8 Das betont Beckett (wie Anm. 6) S. 223 f. 9 So Rotter, Abendland (wie Anm. 4) S. 256. 10 Beda unterstellte den Muslimen einen Glauben an die Vergänglichkeit der Seele; vgl. Rotter, Abendland S. 245 f. 11 Zur Sündenstrafe vgl. etwa Bonifatius, ep. 73, ed. Michael Tangl, MGH Epp. sel. 1, Berlin ²1955, S. 151, zur Eroberung Spaniens: Sicut aliis gentibus Hispaniae et Prouinciae et Burgundionum populis contigit; quae sic a Deo recedentes fornicatę sunt, donec iudex omnipotens talium criminum ultrices poenas per ignorantiam legis Dei et per Sarracenos venire et sęvire permisit. Vgl. Rotter, Abendland S. 257. 12 Zu einem frühen Beispiel vgl. Michael Frassetto, The Image of the Saracen as Heretic in the Sermons of Ademar of Chabannes, in: Blanks/Frassetto (Hg.),



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Wir verfügen vom Forschungsstand her demnach bereits über ein solides Wissen über das abendländische Islambild des frühen Mittelalters. Dennoch bleiben „weiße Flecken“, zumal die hier sehr global zusammengefaßten Arbeiten tatsächlich einen jeweils bewußt begrenzten Fokus haben. Rotters Studie über das Bild der Araber, die in minutiöser Quellenkritik sämtliche Belegstellen zu den einzelnen Ereignissen und Etappen der Ausbreitung von der Invasion ins Byzantinische Reich bis zu Karl Martells Abwehrschlachten diskutiert, erstreckt sich zeitlich nur bis in das frühe 8. Jahrhundert (732); inhaltlich geht es ihr deutlich um die Frage, wie zutreffend dieses abendländische Bild eigentlich ist. Die Arbeit wird durch zwei umfassende Aufsätze des Autors über das spätere 11. und frühe 12. Jahrhundert zwar gründlich ergänzt,13 doch bleibt somit immer noch eine Lücke von drei Jahrhunderten (von der Mitte des 8. bis zur Mitte des 11. Jahrhunderts). Diese Lücke hat Tolan ausgefüllt, dessen Arbeit vom 7. bis zum frühen 14. Jahrhundert reicht, dessen Blick sich aber nicht, wie bei Rotter, auf das Bild der Sarazenen, sondern, wie auch in einer Reihe weiterer Arbeiten, nicht zuletzt über das Bild Mohammeds im Abendland,14 auf Western Views of Islam (wie Anm. 1) S. 83–96; zu Muslimen als Götzenverehrern: John V. Tolan, Muslims as Pagan Idolaters in Chronicles of the First Crusade, ebd. S. 97–117. Allgemein zurückgewiesen wird für das frühere Mittelalter aber Edward Saids „Orientalismus-Theorie“ eines durchgängigen Gegensatzes zwischen Orient und Okzident. Vgl. ausführlich Beckett (wie Anm. 6) S. 231–243. 13 Ekkehard Rotter, Embricho von Mainz und das Mohammed-Bild seiner Zeit, in: Auslandsbeziehungen unter den salischen Kaisern. Geistige Auseinandersetzung und Politik. Referate und Aussprachen, hg. v. Franz Staab, Speyer 1994, S.  69–136; Ders., Mohammed in Bamberg. Die Wahrnehmung der muslimischen Welt im deutschen Reich des 11. Jahrhunderts, in: Aufbruch ins zweite Jahrtausend. Innovation und Kontinuität in der Mitte des Mittelalters, hg. v. Achim Hubel und Bernd Schneidmüller (Mittelalter-Forschungen 16), Ostfildern 2004, S. 283–344. Zum Araberbild in den Kreuzzugsberichten vgl. Svetlana Loutchitskaja, Barbarae nationes: Les peuples musulmans dans les chroniques de la Première croisade, in: Autour de la première croisade, hg. v. Michel Balard, Paris 1996, S.  99–107; Dies., L’image des musulmans dans les chroniques des croisades, in: Le Moyen Ḍge 105, 1999, S. 717–735. 14 Stephan Hotz, Mohammed und seine Lehre in der Darstellung abendländischer Autoren vom späten 11. bis zur Mitte des 12. Jahrhunderts. Aspekte, Quellen und Tendenzen in Kontinuität und Wandel (Studien zur klassischen Philologie 137), Frankfurt/M.-Berlin-Bern-Bruxelles-New York-Oxford-Wien 2002; Gert Melville, Fiktionen als pragmatische Erklärungen des Unerklärbaren: Mohammed – ein verhinderter Papst, in: Historisches und fiktionales Erzählen im Mittelalter, hg. v. Fritz Peter Knapp und Manuela Niesner (Schriften zur Literaturwissenschaft 19), Berlin 2002, S. 27–44; M. Tarayre, L‘image de Mahomet et de

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den Islam als Religion richtet,15 so daß für den ersteren Aspekt immer noch einiges zu tun bleibt. Becketts Arbeit wiederum konzentriert sich weitgehend auf das angelsächsische und anglonormannische England (mit wichtigen Rückblicken auf die lateinische Tradition) und ist vor allem an der Begrifflichkeit und der Ethnographie interessiert. Die noch vorhandenen Lücken können in diesem kurzen Beitrag selbstverständlich nicht geschlossen werden. Die genannten Studien dienen vielmehr als Grundlage, um einen, soweit ich sehe, bislang noch nicht behandelten und dem Konzept dieser Festschrift entsprechenden l’Islam dans une grande encyclopédie du Moyen Age: Le Speculum historiale de Vincent de Beauvais, in: Le Moyen Age 109, 2003, S. 313–343; Folker Reichert, Mohammed in Mekka. Doppelte Grenzen im Islambild des lateinischen Mittelalters, in: Saeculum 56, 2005, S. 17–31. – Die Legendenbildung um Mohammed in der Chronographie des Theophanes wurde im Abendland durch die lateinische Übersetzung dieses griechischen Werks durch den päpstlichen Archivar (und zeitweiligen Gegenpapst) Anastasius Bibliothecarius im 9. Jahrhundert bekannt (Theophanis Chronographia, ed. Carolus de Boor, Bd. 2, Leipzig 1885, ND Hildesheim 1963, bes. a. 622, S. 208 ff., zum Tod des Saracenorum, qui et Arabum, princeps et pseudoproheta und Epileptikers Muamed im 21. Jahr der Herrschaft des Heraclius). Diese Charakterisierung griffen zunächst, in enger Anlehnung, Landulfus Sagax, Historia Romana 20,58 ff., ed. Amedeo Crivellucci, 2 Bde. (Fonti per la storia d’Italia 49/50), Rom 1912/13, S.  132 ff., und am Ende des 11. Jahrhunderts, in Auszügen aus Landulfus, dann Frutolf von Michelsberg, Chronik a. 612, ed. Georg Waitz, MGH SS 6, Hannover 1844, S. 153, auf: Arabum qui et Sarraceni dicuntur, Muhammad princeps habebatur. Hic erat pseudopropheta, sed apud illos magnus estimabatur. Die Araber hielten ihn nämlich für den geoffenbarten Christus. Um seine Epilepsie zu überspielen, habe er Visionen vorgetäuscht. Aus der kurzen Biographie entwickelten sich seit dem späten 11. Jahrhundert verschiedene christlich-polemische Lebensbeschreibungen Mohammeds (wie Embrichos von Mainz oder des Adelphus). Vgl. dazu die in Anm.  13 genannten Arbeiten Ekkehard Rotters sowie Tolan (wie Anm. 5) S. 135–169. 15 Zur Wahrnehmung des Islam als Religion vgl. bereits Marie-Thérèse d’Alverny, Connaissance (wie Anm.  3). Die gleichnamige Aufsatzsammlung von 1994 behandelt vor allem die Rezeption der arabischen Wissenschaft im Abendland des 12./13. Jahrhunderts, besonders die Übersetzungen des Petrus Venerabilis und Markus von Toledo. Zur Religion ferner: Medieval Christian Perceptions of Islam: A Book of Essays, hg. v. John Tolan, New York-London 1996 (darin für das frühe Mittelalter vor allem Kenneth Baxter Wolf, Christian Views of Islam in Early Medieval Spain, S. 85–108, der immerhin eine Vertrautheit der Christen im islamischen Spanien des 8. und vor allem des 9. Jahrhunderts mit der islamischen Religion aufzeigen kann); ein Aufsatz zum früh- und hochmittelalterlichen Abendland fehlt in diesem Sammelband. Vgl. außerdem: Blanks/ Frassetto (Hgg.), Western Views of Islam (wie Anm. 1). Zuletzt Thomas E. Burman, Reading the Qurʾān in Latin Christendom, 1140–1560, Philadelphia 2007.



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Aspekt zu diskutieren, nämlich die Frage, inwieweit die Sarazenen von den abendländischen Autoren, spezieller: von den Geschichtsschreibern des frühen Mittelalters als „Fremde“ betrachtet wurden. Mit „Fremdheit“ ist ein noch junger, erst seit gut einem Jahrzehnt, seither aber in zahlreichen Sammelbänden, Aufsätzen und Monographien16 intensiv behandelter Aspekt berührt, der letztlich aus dem modernen Interesse am Anderen und Exotischen sowie an einer kulturellen Vielfalt resultiert und sich in die kulturwissenschaftlichen Fragen nach der Sichtweise und Vorstellungswelt mittelalterlicher Autoren einfügt.17 Das Fremde erscheint dabei durchweg als ein relationaler Begriff der Abgrenzung vom Eigenen nach unterschiedlichen Kategorien, wobei die Frage, welche Kriterien denn als „fremd“ (und nicht nur als „anders“) vom Eigenen abgrenzen, keineswegs einhellig zu klären ist, da „Fremdheit“ in erster Linie ein Resultat der subjektiven Empfindung und Mentalität ist. Insgesamt betrachtet, unterscheiden sich „Fremde“ danach vom „Eigenen“ (potentiell) durch Herkunft, Aussehen und Verhalten, Glauben, Sitten und Sprache sowie durch mangelnde Integration oder, allgemein, durch eine „kulturelle Unvertrautheit“ (Münkler), doch ist letztlich zwischen unterschiedlichen Fremdheits16 Hier seien nur einige neuere, allgemeine und übergreifende Werke in chronologischer Folge genannt: Mit Fremden leben. Eine Kulturgeschichte von der Antike bis zur Gegenwart, hg. v. Alexander Demandt, München 1995; Die Begegnung mit dem Fremden. Wertungen und Wirkungen in Hochkulturen vom Altertum bis zur Gegenwart, hg. v. Meinhard Schuster (Colloquium Rauricum 4), Stuttgart-Leipzig 1996; Fremdes wahrnehmen – fremdes Wahrnehmen. Studien zur Geschichte der Wahrnehmung und zur Begegnung von Kulturen in Mittelalter und früher Neuzeit, hg. v. Wolfgang Harms und Stephen Jaeger, Stuttgart-Leipzig 1997; Der Umgang mit dem Fremden in der Vormoderne. Studien zur Akkulturation in bildungshistorischer Sicht, hg. v. Christoph Lüth, Rudolf W. Keck und Erhard Wiersing (Beiträge zur Historischen Bildungsforschung 17), Köln-Weimar-Wien 1997; L’étranger au Moyen Ḍge. XXXe Congrès de la S. H. M. E. S. (Göttingen, juin 1999), hg. v. der Société des Historiens Médiévistes de l’Enseignement Supérieur Public (Série Histoire Ancienne et Médiévale 61), Paris 2000; Meeting the foreign in the Middle Ages, hg. v. Albrecht Classen, New York 2002. Ferner: Christian Lübke: Fremde im östlichen Europa. Von Gesellschaften ohne Staat zu verstaatlichten Gesellschaften (9.–11. Jahrhundert), Köln-Weimar-Wien 2001. 17 Vgl. Hans-Werner Goetz, „Vorstellungsgeschichte“: Menschliche Vorstellungen und Meinungen als Dimension der Vergangenheit. Bemerkungen zu einem jüngeren Arbeitsfeld der Geschichtswissenschaft als Beitrag zu einer Methodik der Quellenauswertung, in: Archiv für Kulturgeschichte 61, 1979 (erschienen 1982), S. 253–271.

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kategorien zu differenzieren (kulturell, regional, gesellschaftlich, religiös und ethnisch-politisch).18 Trotz ihrer unbestreitbaren Leistungen sind auch gegenüber der bisherigen mediävistischen Fremdheitsforschung noch Defizite zu konstatieren: Erstens stützt sie sich vor allem auf Reiseberichte und erfaßt damit eine wichtige, doch ihrerseits begrenzte Perspektive.19 Zweitens gilt das Interesse – der Überlieferung entsprechend – überwiegend dem späten Mittelalter und nur ganz vereinzelt den früheren Jahrhunderten. Drittens werden hier vornehmlich die fernen östlichen Reiche und Völker (vor allem China und die Mongolen) betrachtet.20 Viertens vermißt man in vielen Arbeiten eine theoretische Reflexion über „Fremdheit“ als Begriff und Konzept.21 Das führt letztlich zur Betrachtung sehr unterschiedlicher Phänomene des Fremden, die personell von anderen Regionen, Völkern und Reichen bis hin zu Monsterwesen und thematisch von neugierigem Staunen und Gastlichkeit bis zur Xenophobie reichen. Fünftens folgen solche theoretischen 18 So vor allem Jerzy Strzelczyk, Die Wahrnehmung des Fremden im mittelalterlichen Polen, in: Die Begegnung des Westens mit dem Osten, hg. v. Odilo Engels u. Peter Schreiner, Sigmaringen 1993, S. 203–220. 19 Vgl. beispielsweise Fremdheit und Reisen im Mittelalter, hg. v. Irene Erfen und Karl-Heinz Spieß, Stuttgart 1997; Folker Reichert, Erfahrung der Welt. Reisen und Kulturbegegnung im späten Mittelalter, Stuttgart 2001; Erkundung und Beschreibung der Welt. Zur Poetik der Reise- und Länderberichte, hg. v. Xenja von Ertzdorff und Gerhard Giesemann unter Mitarbeit von Rudolf Schulz (Chloe. Beihefte zum Daphnis 34), Amsterdam-New York 2003. 20 Vgl. Folker E. Reichert, Begegnungen mit China. Die Entdeckung Ostasiens im Mittelalter, Sigmaringen 1992; Felicitas Schmieder, Europa und die Fremden. Die Mongolen im Urteil des Abendlandes vom 13. bis in das 15. Jahrhundert, Sigmaringen 1994; Axel Klopprogge, Ursprung und Ausprägung des abendländischen Mongolenbildes im 13. Jahrhundert. Ein Versuch zur Ideengeschichte des Mittelalters, Wiesbaden 1993; Marina Münkler, Erfahrung des Fremden. Die Beschreibung Ostasiens in den Augenzeugenberichten des 13. und 14. Jahrhunderts, Berlin 2000; Antti Ruotsala, Europeans and Mongols in the Middle of the Thirteenth Century: Encoutering the Other (Humaniora 314), Helsinki 2001. 21 Als Ausnahmen seien genannt: Münkler (wie Anm.  20) S.  147–160; Lübke (wie Anm. 16, S. 7–32; Volker Scior, Das Eigene und das Fremde. Identität und Fremdheit in den Chroniken Adams von Bremen, Helmolds von Bosau und Arnolds von Lübeck (Orbis mediaevalis. Vorstellungswelten des Mittelalters 4), Berlin 2002, S. 9–28; Nikolas Jaspert, Eigenes und Fremdes im Spätmittelalter: Die deutsch-spanische Perspektive, in: „Das kommt mir Spanisch vor“. Eigenes und Fremdes in den deutsch-spanischen Beziehungen des späten Mittelalters, hg. v. Klaus Herbers und Dems. (Geschichte und Kultur der Iberischen Welt) Bd. 1, Münster 2004, S. 31–62.



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Überlegungen zwangsläufig modernen (soziologisch-ethnologischen) Theorien, während bislang nur selten nach mittelalterlichen Fremdheitsvorstellungen gefragt wurde.22 Und schließlich sind die Sarazenen meines Wissens in dieser Hinsicht überhaupt noch nicht Gegenstand der Betrachtung gewesen. Im Rahmen eines interdisziplinären, von der DFG geförderten Forschungsprojekts über mittelalterliche Wahrnehmungs- und Deutungsmuster bin ich an anderer Stelle (möglichen) mittelalterlichen Fremdheitsbegriffen (advena; alienus/alienigenus; exter[u]s; extraneus; peregrinus) nachgegangen.23 Kurz zusammengefaßt, setzen diese Begriffe jeweils eigene Akzente. Exter(n)us beispielsweise grenzte, ohne erkennbare Merkmale von „Fremdheit“, als Außenwelt, extraneus hingegen in jeder denkbaren Hinsicht (Volk, Reich, Diözese, Stadt, Herrschaft, Recht, Religion) vom Eigenen ab, und ähnlich verhielt es sich mit alienus, das sich noch deutlicher vom Kriterium der räumlichen Herkunft entfernte und nicht zuletzt rechtliche Aspekte (das Recht eines anderen) einschloß; advena wiederum war, wenngleich keineswegs ausschließlich, der von Außen Hinzuziehende, peregrinus der von weither kommende Fremde oder Pilger. Beide konnten fremdartig wirken, wurden in der Regel aber fürsorglich empfangen und versorgt, obwohl (oder weil) sie letztlich ohne Schutz waren. Darin deutet sich schon an, daß es zwar auch dem mittelalterlichen Denken um die Abgrenzung von der eigenen Gemeinschaft ging, daß die Abgrenzungsund „Fremdheits“-Kategorien mit den modernen jedoch keineswegs übereinstimmten und es letztlich keinen dem heutigen auch nur annäherungsweise entsprechenden Begriff des „Fremden“, wie ihn zumeist auch die Forschung zugrunde legt, gab. Der „Fremde“ kam von anderswoher oder ging anderswohin, doch bezog sich das keineswegs nur auf ferne Völker und schloß nur selten eine völlige Andersartigkeit ein. 22 Ausnahmen bilden Hans Henning Kortüm, Advena sum apud te et peregrinus. Fremdheit als Strukturelement mittelalterlicher conditio humana, in: Exil, Fremdheit und Ausgrenzung in Mittelalter und früher Neuzeit, hg. v. Andreas Bihrer, Sven Limbeck u. Paul Gerhard Schmid (Identitäten und Alteritäten 4), Würzburg 2000, 115–135; Régine Le Jan, Remarques sur l’étranger au Haut Moyen Ḍge, in: L’image de l’autre dans l’Europe du Nord-Ouest à travers l’histoire, hg. v. Jean-Pierre Jessenne (Collection „Histoire et littérature régionales“ 14), Villeneuve d’Ascq 1996, S. 23–32. 23 Hans-Werner Goetz, „Fremdheit“ im früheren Mittelalter, in: Festschrift für Ernst Schubert zum 65. Geburtstag, hg. v. Christiane Van den Heuvel und Brage Bei der Wieden (im Druck). Hier finden sich die Belege für die folgenden Ergebnisse.

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„Fremdheit“ war auch nicht eine einseitige Einschätzung aus der Sicht der jeweiligen Autoren, sondern konnte dem Begriffsgebrauch nach – relativ – beiden Seiten zugeschrieben werden: Auch Angehörige der eigenen (in der Regel christlichen) Gesellschaft wurden in der Fremde zu „Fremden“; sie konnten von den Einheimischen als Fremde empfunden werden und/oder sich selbst so fühlen. „Fremd“ war demnach eine Frage der Perspektive (bis hin zur „Entfremdung“ der eigenen Leute). Als Objekt der Fürsorge wiederum waren die Fremden durchaus in die Gesellschaft integriert. Nur gelegentlich zeigte sich ihnen gegenüber Abneigung oder wurden sie als Eindringlinge empfunden, denen man feindselig gegenübertrat, und zwar besonders dann, wenn Fremde den Einheimischen vorgezogen wurden. Wenn es daher zweifellos auch im frühen Mittelalter eine Fremdenfeindlichkeit gab, so verband sie sich jedenfalls höchst selten (und nur bei konkreten Anlässen) konzeptionell mit den mittelalterlichen Begriffen der Fremdheit. Insgesamt zeigt sich, daß die modernen Fremdheitskategorien sich nicht einfach auf das Mittelalter anwenden lassen, während die mittelalterlichen Kategorien eine ethnische, politische, geographische, religiöse und auch eine kulturelle und rechtliche Fremdheit zwar kannten, ohne indes danach zu kategorisieren. Darüber hinaus verbanden sich die mittelalterlichen Vorstellungen keineswegs von vornherein mit einer Xenophobie. Im folgenden wird daher vorsichtig zu untersuchen sein, wie sich die Vorstellungen, die sich frühmittelalterliche Chronisten von den Sarazenen machten, in solche Fremdheitswahrnehmung einfügen und welche Kriterien der Fremdheit sie zugrunde legten. Überblickt man die einschlägigen, abendländischen Quellenbelege von der Mitte des 7. bis zur Mitte des 11. Jahrhunderts, in denen von „Sarazenen“ die Rede ist, als Ganzes, so bestätigen sich schnell vier, von der Forschung bereits erkannte Folgerungen: 1. Der Islam und seine Geschichte interessierte nicht um seiner selbst willen. Ausführlich über die arabische Ausbreitung und die Kämpfe mit den „Römern“ (Byzanz) berichtete allein um 1000 (zwischen 976 und 1023) Landulfus Sagax in seiner „Historia Romana“, der dabei auf die lateinische Übersetzung der griechischen Chronik des Theophanes durch den päpstlichen Archivar Anastasius Bibliothecarius zurückgreifen konnte.24 Anson24 Vgl. Anm.  14. Landulfus berichtet in den Büchern 21 und 22 ausführlich, zumeist aber rein „chronistisch“ ohne erkennbare Wertung. Tolan berücksichtigt diese Quelle überhaupt nicht. Zur Quelle vgl. Rotter, Mohammed (wie Anm. 13) S. 287 ff.



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sten wurden „Sarazenen“ – mit ganz wenigen Ausnahmen25 – nur dort erwähnt, wo sie mit dem Abendland in Berührung traten. Das war, von der – erst im Nachhinein (zuerst in den beiden spanischen Chroniken von 741 und 754) registrierten – Eroberung Spaniens abgesehen,26 erst im früheren 8. (Karl Martell), seit dem Ende des 8. Jahrhunderts dann aber durchaus häufig der Fall. 2. Ethnographische Nachrichten finden sich daher nur selten,27 zumal Reiseberichte aus dem frühen Mittelalter kaum – und nirgends monographisch – vorliegen.28 Überwiegend handelt es sich um chronikalische Berichte im Rahmen der Historiographie, die hier deshalb ausschließlich betrachtet werden soll. 3. Dabei spielte die neue (oder andere) Religion eine völlig untergeordnete Rolle. Die „Sarazenen“ wurden, wie im folgenden näher auszuführen sein wird, als „Volk“ (gens), als feindliche Angreifer und als Bedrohung, aber auch als Bündnispartner wahrgenommen, jedoch nicht als eine spezifische Glaubensgemeinschaft, so daß man Aussagen über den Islam als Religion außerhalb des islamischen Spanien lange Zeit vergeblich sucht.29 4. Erstaunlich häufig berichten die Autoren geradezu teilnahmslos im Rahmen ihrer historiographischen Erzählung von den Sarazenen im Abendland. In einer Reihe von Belegen verbindet sich der Bericht 25 Vgl. die in Anm. 14 genannten Quellen zum Leben Mohammeds und zur Ausbreitung des Islam. Über den Siegeszug berichtet an einigen Stellen immerhin Paulus Diaconus, Historia Langobardorum 5,13, ed. Ludwig Bethmann und Georg Waitz, MGH SS rer. Lang., Hannover 1878, S. 150 (Ägypten und Sizilien); 6,10, S. 168 (Afrika); 6,46 f., S. 180 f. (Spanien, Aquitanien, Konstantinopel). Danach (bezeichnenderweise allerdings zum Teil chronologisch falsch in die vorislamische Zeit eingeordnet) – Regino von Prüm, Chronik a.  576, ed. Friedrich Kurze, MGH SSrG 50, Hannover 1890, S. 30 (Ägypten und Sizilien); a. 605, S. 32 (Afrika); a. 655, S. 36 f. (Konstantinopel und Aquitanien; die Eroberung Spaniens läßt Regino weg). 26 Vgl. dazu Tolan, Saracens (wie Anm. 5) S. 78 ff. sowie (zum Liber pontificalis) S. 212 ff.; Wolf (wie Anm. 15) S. 87 ff. 27 Zu ethnographischen Nachrichten des 7. und 8. Jahrhunderts vgl. Rotter, Abendland (wie Anm.  4) S.  231 ff.; in der Exegese des Hieronymus: Beckett (wie Anm. 6) S. 69–89. 28 „Reiseberichte“ sind lediglich aus dem 8. Jahrhundert mit der Pilgerfahrt Willibalds im Rahmen seiner von der Nonne Hugeburg verfaßten Vita (wie Anm. 7) und aus dem 10. Jahrhundert mit der ebenfalls in seiner Vita (c. 117–136, ed. Georg Heinrich Pertz, MGH SS 4, Hannover 1841, S. 370–377) beschriebenen Gesandtschaftsreise des Abtes Johannes von Gorze überliefert. Zur Pilgerfahrt von 1065 vgl. unten Fußnote 106. 29 Zu einzelnen Schriften aus dem islamischen Spanien des 8. und vor allem 9. Jahrhunderts, die sich mit dem Islam auseinandersetzen und dabei eine gewisse Vertrautheit mit der Religion erkennen lassen, vgl. Wolf (wie Anm. 15).

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jedoch mit einer Wertung, die gleich noch näher zu untersuchen ist, bei der der Fremdheitscharakter aber weder begrifflich noch inhaltlich offen in den Vordergrund rückt. Es empfiehlt sich daher, im folgenden kurz die verschiedenen, angesprochenen Wahrnehmungsmuster zu überblicken,30 bevor abschließend die Frage der Fremdheitswahrnehmung diskutiert werden kann.

2. Terminologie: Die Wahrnehmung der Muslime im Spiegel der Bezeichnungen Bereits in der Terminologie bildete, in Bestätigung der einschlägigen Studien, die ethnisch-geographische bzw. biblisch-genealogisch abgeleitete Herkunft das entscheidende (und ausschließliche) Kriterium der Charakterisierung, so daß die Benennungen der vorislamischen und der islamischen Periode eine bruchlose Kontinuität aufweisen. Die anfangs üblichen und durch Isidor von Sevilla dem Mittelalter überlieferten Termini Arabes, Agarrini (als Abkömmlinge von Ismaels Mutter Hagar) oder Ismaelitae (als Nachfahren Ismaels)31 wurden bald vollständig durch zwei beherrschende Begriffe verdrängt, nämlich zum einen Sarraceni (von Abrahams Gemahlin Sara) – vom zweiten Fortsetzer Fredegars (kurz nach 751) noch als jetzt zwar üblicher, aber „verkehrter Begriff“ für „das Volk der Ismaeliten“ bezeichnet32 – und zum anderen, etwas seltener, von der afrikanischen Herkunft her, Mau30 Es ist unmöglich, an dieser Stelle alle Belege im einzelnen zu besprechen. Vielmehr werden jeweils exemplarische, aber repräsentative Beispiele angeführt, mit Verweis auf weitere Stellen in den Anmerkungen, die zumindest einen Eindruck über die Häufigkeit zu vermitteln vermögen. 31 Isidor von Sevilla, Etymologiae sive Origines IX 2,6 f. und 2,15, ed. W. M. Lindsay, Oxford 1911 (ND 1987), aufgegriffen etwa von Fredegar, Chronik 2,2, ed. Bruno Krusch, MGH SS rer. Merov. 2, Hannover 1888, S.  44; ebd. 4,66, S. 153 (Agarrini von Hagar = Sarraceni); Beda, Nomina locorum ex Beati Hieronimi presbiteri et Flaui Iosephi collecta opusculis, ed. D. Hurst, CCL 119, Turnhout 1962, S. 278. Ausführlich zu diesen Begriffen Rotter, Abendland (wie Anm. 4) S. 67–122 (zu Land und Leuten); zu Beda: Beckett (wie Anm. 6) S. 123–139. Später griffen Lampert von Hersfeld (vgl. unten bei Anm. 106) und Frutolf von Michelsberg (wie Anm. 14) S. 37, das auf: Abraham ex ancilla Agar genuit Ismahelem, a quo Ismahelitarum gens, qui postea Agareni, deinde Sarraceni dicti sunt. 32 Fredegar, Chronik, Continuatio 20 (wie Anm. 31) S. 177: gente valida Ismahelitarum, quos modo Sarracinos corrupto vocabulo nuncupant.



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ri.33 Die häufige Wendung Saraceni vel Mauri 34 deutet zwar an, daß zumindest Reminiszenzen eines (ethnischen) Unterschieds zwischen den arabischen Sarazenen und den afrikanischen Mauren vorhanden waren, doch wurden die Begriffe tatsächlich völlig gleichbedeutend verwendet,35 so daß Regino von Prüm zu Beginn des 10. Jahrhunderts bereits zwanglos von der ex Africa kommenden gens Saracenorum schreiben konnte.36 Die jeweilige Herkunft war in einem Maße entscheidend, daß Liudprand von Cremona, in historisierender Denkweise, dieselben (aus Afrika kommenden) Sarazenen sogar als „Punier“ bezeichnete.37 Die (fremde) Religionsgemeinschaft wirkte hingegen nirgends namengebend.

33 Lediglich Landulfus Sagax, Historia Romana (wie Anm. 14), spricht vorzugsweise von Arabes, verwendet Sarraceni jedoch gleichbedeutend (vgl. 20,51, Bd. II, S. 128: Muhammad Arabum seu Saracenorum princeps; 20,58, ebd. S. 132: Muhammad Saracenorum, qui et Arabum, princeps et pseudopropheta). Mauri als Bewohner Afrikas kommen nach der arabisch-islamischen Eroberung hier nicht mehr vor! Lediglich Ekkehard IV. von St. Gallen, Casus s. Galli 82, ed. Gerold Meyer von Knonau (Mitteilungen zur vaterländischen Geschichte 15/16. St. Gallische Geschichtsquellen 3), St. Gallen 1877, S.  297 f., spricht – antikisierend von Agareni, wenn er – mit kritischem Blick auf die St. Galler Annalen – feststellt, die Ungarn seien keine Agareni. Nur in der bayerischen Fortsetzung der Fuldaer Annalen a.  883, ed. Friedrich Kurze, MGH SSrG 7, Hannover 1891, S. 110, findet sich die Bezeichnung Mauretani. 34 Vgl. beispielsweise Annales regni Francorum a. 798, ed. Friedrich Kurze, MGH SSrG 6, Hannover 1895, S. 104; ebd. a. 799, S. 108; ebd. a. 827, S. 172; Astronomus, Vita Hludowici imperatoris 14, ed. Ernst Tremp, MGH SSrG 64, Hannover 1995, S. 322; ebd. 16. S. 330; ebd. 42, S. 446; Annales Bertiniani a. 846, ed. Félix Grat, Jeanne Vielliard und Suzanne Clémencet, Annales de Saint-Bertin, Paris 1964, S. 52; ebd. a. 847, S. 55; ebd. S. 849, S. 57, zu Plünderungen in Rom und Luna; ebd. a. 853, S. 68. 35 Die Begriffe wechselten, deutlich auf dieselben Gruppen bezogen, in den in der vorigen Anm. genannten Berichten unterschiedslos einander ab. 36 Regino von Prüm, Chronik a. 867 (wie Anm. 25) S. 93. Die Annales regni Francorum a. 801 (wie Anm. 34) S. 114/116, hatten ähnlich von zwei gleichzeitigen Gesandtschaften berichtet: der Perser (Harun-al-Raschid) aus dem Orient und der Sarazenen (des Emirs Abraham) aus Afrika. 37 Liudprand von Cremona, Antapodosis II 49–54 ed. Paolo Chiesa, CCM 156, Turnhout 1998, S. 55–57.

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3. Die Sarazenen als Volk Statt dessen wurden die Sarazenen spätestens seit Fredegars Fortsetzern38 durchweg als ein – offenbar als recht einheitlich wahrgenommenes – Volk (gens Sarracenorum) angesehen, das von einem König bzw. von verschiedenen Königen regiert wurde.39 Nur selten verknüpften sich damit vage Ansätze ethnographischer Charakterzuschreibungen, wie in der Vita Johannes von Gorze, dem auffiel, daß jene Völker zwar Sessel und Stühle kannten, Gespräche und Essen jedoch in Betten einnahmen, indem sie sich auf die Unterschenkel stützten,40 oder bei Ekkehard von St. Gallen wenn dieser Autor in der Mitte des 11. Jahrhunderts glaubte, es gehöre zum Wesen (natura) der das Kloster St. Gallen bedrohenden Sarazenen, in den Bergen viel ausrichten zu

38 Vgl. etwa Fredegar, Cont. 13 (wie Anm. 31) S. 175; ebd. 44, S. 188. Beide Male ging es um die spanischen Grenzgebiete zum Frankenreich. Ferner: Vita Pardulfi abbatis Waractensis 15, ed. Walter Levison, MGH SS rer. Merov. 7, Hannover-Leipzig 1920, S. 33 (Ismahelitarum gens); Annales Bertiniani a. 847 (wie Anm. 34) S. 54 (tam regis quam gentis Saracenorum animos concitare studuerit); Annales Fuldenses, Cont. Altahensis a. 883 (oben Anm. 33); Paulus Diaconus, Historia Langobardorum 5,13 (wie Anm. 25) S. 150; 6,10, S. 168, 6,46 f., S. 180 f., und – danach – Regino von Prüm, Chronik a.  576 (wie Anm.  25) S.  30; ebd. a. 605, S. 32; ebd. a. 655, S. 36; ebd. a. 867 (oben Anm. 36). 39 Vgl. Fredegar, Cont. 20 (wie Anm.  31) S.  178, zum Sieg Karl Martells über den rex Saracinorum Athima (Jusuf ibn Abderrahman); ebd. 51, S.  191, zum Gesandtenaustausch Pippins mit dem Saracenorum rex Amormuni; Annales regni Francorum a. 797 (wie Anm. 34) S. 100, zu Gesandten Abdellas, des Sohnes des rex Ibin-Mauge (Ibn Marowjah in Mauretanien), der von seinem Bruder vertrieben worden war, nach Aachen; ebd. a. 810, S. 133; ebd. a. 812, S. 137, und a. 815, S. 143, zu Auseinandersetzungen mit dem König Abulaz von Spanien; ebd. a. 826, S. 170, und a. 827, S. 172: Abdirahman regem Sarracenorum; Astronomus, Vita Hludowici 13 (wie Anm. 34) S. 316: bei der Belagerung Barcelonas (804) schickte man zum rex Sarracenorum nach Córdoba um Hilfe; ebd.  25, S. 360: Abulat Saracenorum rex; ebd. 40, S. 434: Sarracenorum rex Abdiraman; Annales Bertiniani a. 847 (oben Anm. 37); ebd. a. 852 (wie Anm. 34) S. 65: Tod des Abdiraman rex Sarracenorum in Hispania consistentium, dem sein Sohn in regnum eius nachfolgte; ebd. a. 863, S. 104, und a. 864, S. 104; Mahomoth/ Mohometh regis Sarracenorum; Liudprand von Cremona, Antapodosis I 2 (wie Anm. 37) S. 6: rex Abderahamen; Thietmar von Merseburg, Chronicon 7,45, ed. Robert Holtzmann, MGH SSrG n. s. 9, Hannover 1935, S. 452: rex Saracenus. 40 Vita Iohannes Gorziensis 133 (wie Anm. 28) S. 376: more gentium ceterarum soliis aut sellis utuntur, sed lectis sive thoris colloquentes vel edentes, cruribus uno alteri impositus, incumbunt.



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können.41 Mit der Charakterisierung als „Volk“ rückten die Sarazenen aber in eine Parallele mit anderen, vom Eigenen abgegrenzten Völkern (und wurden von der Struktur her ganz ähnlich wahrgenommen), vor allem mit solchen, die – und damit gelangen wir zu einem weiteren Aspekt – in den Quellen als Angreifer betrachtet wurden.42

4. Die Sarazenen als Angreifer, Feinde und Bedrohung der Christen Die überwiegende Mehrzahl der Belege berichtet von den Sarazenen dort, wo sie als bedrohliche Angreifer auftraten43 und es folglich zu kriegerischen Auseinandersetzungen kam: zunächst, im Zuge der Ausbreitung des Islam über Spanien, bei den Einfällen nach Aquitanien bis zu den Siegen Karl Martells bei Poitiers und Avignon;44 dann – umge41 Ekkehard IV., Casus s. Galli 126 (wie Anm. 33) S. 408: Saracenos, quorum natura est in montibus multum valere. 42 Papst Zacharias erwähnt sie in einem Zusammenhang mit Sachsen und Friesen (Bonifatius, ep.  60, wie Anm.  11, S.  123), Notker mit Sachsen und vor allem Normannen, die ebenfalls Raub und Piraterie betrieben: Gesta Karoli 2,12, ed. Hans F. Haefele, MGH SSrG n. s. 12, München ²1980, S. 70: vel infestationem indomitissimorum Saxonum vel latrocinia pyraticamque Nordmannorum sive Maurorum. Vgl. auch Einhard, Vita Karoli 17, ed. Oswald Holder-Egger, MGH SSrG 25, Hannover6 1911, S. 21: ac per hoc nullo gravi damno vel a Mauris Italia vel Gallia atque Germania a Nordmannis diebus suis adfecta est, praeter quod Centumcellae civitas Etruriae per proditionem a Mauris capta atque vastata est, et in Frisia quaedam insulae Germanico litori contiguae a Nordmannis depraedatae sunt. 43 So schon Bonifatius in seinem Brief an Bugga, wo der Heilige wegen dieser Bedrohung von einer Rompilgerschaft abriet (Bonifatius, ep. 27, wie Anm. 11, S. 48). Nach den Annales Bertiniani a. 853 (wie Anm. 34) S. 68, beklagten sich die Römer bei Kaiser Lothar I. über den mangelnden Schutz gegenüber den incursiones Saracenorum Maurorumque. Thietmar von Merseburg, Chronik 3,20 (wie Anm. 39) S. 122, parallelisierte griechische und sarazenische Angriffe, Ekkehard Sarazenen und Ungarn (Casus s. Galli 65, Anm. 33, S. 235). 44 Vgl. Fredegar, Cont. 13 (wie Anm.  31) S.  175; Einhard, Vita Karoli 2 (wie Anm. 42) S. 4; Paulus Diaconus, Historia Langobardorum 6,46, S. 180, und – danach – Regino von Prüm, Chronik a.  655 (wie Anm.  25), S.  36. Landulfus Sagax, Historia Romana 24,9 (wie Anm.  14) S.  208 f., der Karl Martells Sieg über die Araber fälschlich dessen Sohn Pippin zuschreibt, bezeugt, daß sie „bis heute“ Spanien besetzt hielten und gegen die Franken kämpften (quique tenuerant usque nunc eadem Hispaniam et probauerant preliari nihilominus contra Francos).

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kehrt – bei der Eroberung der Spanischen Mark (Barcelona) unter Karl dem Großen und den Folgekämpfen unter Ludwig dem Frommen;45 seit dieser Zeit bei den Plünderungszügen auf den Balearen, auf Sardinien und Korsika46 und schließlich auch in Südfrankreich47 und auf dem italienischen Festland, vor allem in Benevent.48 Die über das Mittelmeer kommenden Sarazenen erscheinen hier immer wieder als „Piraten“.49 Schließlich gingen diese Plünderungszüge sogar in eine Eroberung und Besiedlung ganzer Landstriche über,50 die in der Folge45 Vgl. Annales regni Francorum a.  778 (wie Anm.  34) S.  50 (Pamplona); ebd. a. 801, S. 116 (Belagerung Barcelonas); ebd. 806, S. 122; ebd. 826/27, S. 169/173 (Ludwigs Sohn Pippin verhandelte mit den Grenzwächtern über den Schutz gegen die Sarazenen; Abumarvan verwüstete die Gegend um Barcelona); Thegan, Gesta Hludowici 34 (wie Anm. 34) S. 220; Astronomus, Vita Hludowici 14, ebd. S. 320–324 (das fränkische Heer stellte sich der multitudo Sarracenorum Maurorumque entgegen); ebd. 40 ff., S. 432–446 (zur Rebellion Aizos); erneut Annales Bertiniani a. 844 (wie Anm. 34) S. 49; ebd. a. 852, S. 64 (Einnahme Barcelonas durch die Mauren). Zu Aizo auch Annales regni Francorum a. 827 (wie Anm. 34) S. 172. 46 Vgl. Annales regni Francorum a. 798 (wie Anm. 34) S. 104; ebd. a. 799, S. 108; ebd. a. 806, S. 122, und a. 807, S. 124 (Korsika, Sardinien); ebd. a. 809, S. 128 (spanische Mauren plünderten eine Stadt auf Korsika am heiligen Ostersamstag); ebd. a.  810, S.  130 (Eroberung von Korsika und Sardinien); ebd. a.  812, S. 137; ebd. a. 813, S. 139 (Rachezug wegen der Zerstörung maurischer Schiffe auf Mallorca); ebd. a. 828, S. 176 (Bonifatius fiel seinerseits siegreich in Afrika ein; vgl. dazu auch Astronomus,Vita Hludowici 42, wie Anm. 34, S. 448/450). 47 Vgl. Annales Bertiniani a. 838 (wie Anm. 34) S. 24 (Marseille); ebd. a. 842, S. 42; ebd. a. 850, S. 59 (Arles). 48 Vgl. Annales Bertiniani a. 842 (wie Anm. 34) S. 43; ebd. a. 845, S. 50; ebd. a. 846, S.  52 f. (Angriff auf Rom; Sieg über Ludwig II.); ebd. a.  847, S.  55; ebd.  848, S. 56; ebd. a. 849, S. 57; ebd. a. 851, S. 64 (Papst Leo, Saracenorum inruptiones metuens, ließ den Petersdom bis zur Stadtmauer hin ummauern); ebd. a. 853, S. 68; ebd. a. 856, S. 73 (Zerstörung Neapels); ebd. a. 866, S. 126 (Gegenwehr Kaiser Ludwigs); ebenso a. 869, S. 165 f.; Annales Xantenses a. 846, ed. Bernhard von Simson, MGH SSrG 12, Hannover 1909, S. 15 f.; ebd. a. 850, S. 17; Regino von Prüm, Chronik a. 867 (wie Anm. 25) S. 93; Andreas von Bergamo, Historia 14 ff., ed. Georg Waitz, MGH SS rer. Lang., Hannover 1878, S.  227 ff.; Erchempert, Historia Langobardorum 35, ed. Georg Waitz, ebd. S. 247 f.; ebd. 44, S. 251–254; ebd. 47, S. 254 f.; ebd. 73, S. 262; Chronica s. Benedicti Casinensis 4 ff., ed. Georg Waitz, ebd. S. 471 f.; ebd. 16, S. 476 f. 49 Vgl. Einhard, Vita Karoli 17 (wie Anm. 42) S. 21; vgl. Annales Bertiniani a. 838 (wie Anm. 34) S. 24 (Saracenorum pyraticae classes); ebd. a. 842, S. 42. 50 Schon die Sarazenen in Aquitanien, die von Karl Martell zurückgeschlagen wurden, hatten nach Paulus Diaconus, Historia Langobardorum 6,46, S.  180 (Aquitaniam Galliae provinciam quasi habitaturi ingressi sunt), und Regino von



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zeit besetzt gehalten und verteidigt werden konnten.51 Die Sarazenen seien von „Helfern“ zu „Verfolgern“ geworden und hätten viele Städte in Italien erobert, schrieb Prudentius von Troyes in der Mitte des 9. Jahrhunderts,52 und Ähnliches wiederholte später Liudprand von Cremona.53 Im 10. und noch im frühen 11. Jahrhundert setzten sich diese Bedrohungen vor allem in Italien fort;54 in Südfrankreich hielten die Sarazenen lange Zeit einen Stützpunkt in Fraxinetum (wohl La GardeFreinet bei Toulon).55 Es ist nur folgerichtig, wenn die Sarazenen in solchen Zusammenhängen nicht nur als kriegerisch,56 sondern geradezu als Feinde (hostes) klassifiziert wurden,57 doch nur an wenigen, gleich näher zu besprePrüm (Chronik a. 655, wie Anm. 25, S. 36) Siedelland gesucht: venientes Aquitaniam Galliae provinciam quasi in ea habitaturi intrant. 51 Vgl. Annales Fuldenses a. 843 (wie Anm. 33) S. 34; Annales Bertiniani a. 851 (wie Anm. 34) S. 64 (die Saraceni besaßen quieta stacione Benevent und andere Städte); ebd. a. 852, S. 65 (vergebliche Belagerung Benevents durch Kaiser Ludwig II.); ebd. a. 869, S. 164 f. (vernichtende Niederlage Ludwigs II. vor Bari trotz griechischer Hilfe und großem Heer); Annales Xantenses a. 871 (wie Anm. 48) S. 80 (jahrelange Besiedlung Benevents). 52 Vgl. Annales Bertiniani a. 842 (wie Anm. 34) S. 43. 53 Liudprand von Cremona, Antapodosis 1,4 (unten Anm. 70). 54 Vgl. Widukind von Corvey, Res gestae Saxonicae 3,75, ed. Hans-Eberhard Lohmann und Paul Hirsch, MGH SSrG 60, Hannover 1935, S.  152 (Otto I. überwand die Griechen und besiegte die Sarazenen); Liudprand von Cremona, Antapodosis 2,44–46, 2,50–54 (wie Anm. 37) S. 53 f. und 56 f. (zu neuen Sarazenenscharen aus Afrika in Kalabrien, Apulien und Benevent, die schließlich bis auf den letzten Mann vernichtet wurden). Italien, so argumentierte Liudprand, Legatio 7, ebd. S. 190, gegenüber dem Basileus, gehöre nicht ihm, sondern Otto I. wegen seines Sieges über die Sarazenen. Zu den Kämpfen Ottos II. in Kalabrien vgl. Thietmar von Merseburg, Chronicon 3 prol. (wie Anm.  39) S.  96; ebd. 3,20, S. 122, 124 (Siege Ottos II. in Kalabrien); ebd. 7,45, S. 452 (die Sarazenen eroberten die lombardische Stadt Luna und besetzten und bewohnten die ganze Gegend: cum potentia ac securitate fines illius regionis inhabitant). 55 Vgl. Widukind von Corvey, Res gestae Saxonicae 3,70 (wie Anm.  54) S.  147; Liudprand von Cremona, Antapodosis 1,1–4 (wie Anm.  37) S.  6 f.; ebd.  2,43, S.  53; ebd. 4,4, S.  97 f.; ebd. 5,9, S.  128; ebd. 5,16 f., S.  132. Einer Anekdote Ekkehards IV., Casus s. Galli 65 (wie Anm. 33) S. 234 f., zufolge, spielte König Konrad Sarazenen und Ungarn gegeneinander aus, indem er sich scheinbar mit beiden verbündete, sie dann gegeneinander kämpfen ließ und schließlich die Überlebenden tötete oder gefangen nahm. 56 Vgl. bereits Hugeburg, Vita Willebaldi (wie Anm. 7) S. 94; Vita Pardulfi 15 (wie Anm. 38) S. 33 (pagani bellatores). 57 Vgl. Fredegar, Cont. 13 (wie Anm. 31) S. 175; ebd. 20, S. 177 f. (collecto hostile agmine; hostes inimicos suos; exercito hostium); Vita Pardulfi 15 (wie Anm. 38) S. 33 (hostes); Annales Bertiniani a. 846 (wie Anm. 34) S. 53 (beim Angriff auf

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chenden Stellen ging diese Charakterisierung über eine (bloße) Gegnerschaft hinaus: Man führte gegen die – durchaus als Heiden wahrgenommenen – Sarazenen Krieg (wie gegen andere Völker) und erwehrte sich ihrer Angriffe, doch wurde das nur gelegentlich als Glaubenskrieg verstanden. (Nach der Ansicht des Astronomus diente Karls Pyrenäenfeldzug immerhin dazu, der unter dem Joch der Sarazenen leidenden Kirche beizustehen.58) Die Sarazenen unterschieden sich in der Perspektive der Quellen somit zumeist nicht grundsätzlich von anderen äußeren Feinden.59

5. Die Sarazenen als Partner im diplomatischen Austausch und als Verbündete Dem entspricht es, daß die Sarazenen keineswegs ausschließlich als – streckenweise, wie in Italien, unbezwingbare – Gegner, sondern, ganz ungeachtet der religiösen Differenz, recht häufig auch als politische „Partner“ auftraten: Besonders unter Pippin, Karl dem Großen und Ludwig dem Frommen, aber auch später, wurden nicht nur mehrfach Gesandtschaften mit den Sarazenen im Vorderen Orient, in Spanien und Afrika ausgetauscht,60 sondern die Gesandten wurden oft „ehrdie Paulskirche wurden die hostes von der Landbevölkerung niedergemacht); ebd. a.  869, S.  165; Thietmar von Merseburg, Chronik 3, 20 (wie Anm.  39) S. 122; ebd. 7,45, S. 452. 58 Astronomus, Vita Hludowici 2 (wie Anm. 34) S. 286. 59 Widukind von Corvey, Res gestae Saxonicae 3,75 (wie Anm. 54) S. 153, stellte sie als hostes in eine Reihe mit Avaren, Dänen und Slawen. 60 Vgl. etwa Annales regni Francorum a. 777 (wie Anm. 34) S. 48, zu Gesandten der Sarazenen (Ibin al Arabi) nach Paderborn; ebd. a. 801, S. 114/116, zu zwei gleichzeitigen Gesandtschaften, die Karl in Ravenna empfing: Haruns aus Persien und Abrahams aus Afrika (vgl. oben Anm. 37); Astronomus, Vita Hludowici 5 (wie Anm. 34) S. 298/300 (Gesandte des dux Sarracenorum Abutaurus auf der Reichsversammlung in Toulouse, deren Bitte um Frieden gewährt wurde); ebd. 8, S. 306 (Gesandte des dux Saracenorum Bahaluc an der Grenze zu Aquitanien, erneut in Toulouse, mit einer Friedensbitte); ebd. 46, S. 466 (drei Gesandte der Sarazenen e transmarinis partibus im Jahre 831, die mit Geschenken kamen); Annales Bertiniani a. 847 (wie Anm. 34) S. 53; ebd. a. 863, S. 104; ebd. a. 864, S. 114. Zur Ottonenzeit vgl. – neben den Gesandtschaftsbericht des Johannes von Gorze (wie Anm. 28) – Widukind von Corvey, Res gestae Saxonicae 3,56 (wie Anm. 54) S. 135: Zu Otto kamen Gesandtschaften der Römer, Griechen und Sarazenen mit reichen Geschenken, darunter den Sachsen völlig unbekannten Tieren (Löwen, Kamelen, Affen und Straußen).



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würdig empfangen“, mit reichen Geschenken wieder entlassen und „in allen Ehren“ bis an die Grenzen des Reichs geleitet,61 auch wenn das, je nach der politischen Lage, keineswegs durchgängig der Fall war.62 Das offenbar gute Verhältnis Karls des Großen zum Kalifen Harunal-Raschid in Bagdad ist ohnehin bekannt63 und klang im Abendland noch lange nach. Notker von St. Gallen stellte den Kalifen in die Tradition des einstigen Weltreichs der Perser, das er zwar als eine jetzt vergangene (auf die Franken übergegangene) Größe, doch immer noch als respektabel ansah. Einer Anekdote zufolge bestrafte Karl die fränkischen Amtsträger, weil sie die persischen Gesandten schlecht behandelt hatten64 (und die mangelnde Historizität der Anekdoten Notkers ist um so bezeichnender für die darin transportierten Vorstellungen, hier also für Notkers Perserbild). Wenn sich unter den drei Gesandten, welche die Sarazenen 831 a transmarinis partibus zu Ludwig dem Frommen schickten, sogar ein Christ befand,65 dann ist das nicht nur ein Beleg für die Glaubenstoleranz der Muslime (und wohl auch für ihr Bemühen, mittels des christlichen Unterhändlers zu einem guten Verhältnis mit dem Kaiser zu gelangen), sondern auch für die – freilich völlig beiläufig bemerkte – christliche Wahrnehmung eines Nebeneinanders der Religionen, die gleichwohl in guten diplomatischen Kontakten stehen konnten, ohne daß weitergehende Abgrenzungen vorgenommen wurden.66 61 So beispielsweise Fredegar, Cont.  51 (wie Anm.  31) S.  191, zum Gesandtenaustausch zwischen Pippin und dem Sarazenenkönig Amormuni; Annales regni Francorum a. 797 (wie Anm. 34) S. 100 (Gesandte Abdellas, des Sohnes IbinMauges [Ibn Marawjah] in Mauretanien, baten um Schutz und wurden bis nach Spanien zurückgeleitet). Die Gesandten des rex Saracenorum Abdirrahman aus Cordoba an Karl den Kahlen, die um Frieden baten, wurden ebenfalls gebührend empfangen und entlassen (Annales Bertiniani a. 847, wie Anm. 34, S. 53), die Gesandten Mohomeths satis honorifice zu ihrem König zurückgeleitet (ebd. a. 864, S. 114). 62 So wurden die Gesandten Abdirrahmans, die über Frieden verhandeln wollten, drei Monate hingehalten und dann schnell verabschiedet (Annales regni Francorum a. 816/17, wie Anm. 34, S. 144 f.). 63 Einhard, Vita Karoli 16 (wie Anm. 42) S. 19, spricht geradezu von einer Freundschaft zwischen beiden Herrschern. 64 Notker Balbulus, Gesta Karoli imperatoris 2,8 (wie Anm. 42) S. 62. 65 Astronomus, Vita Hludowici 46 (wie Anm. 34) S. 466. 66 Solche Abgrenzungen schimmern lediglich in dem Gesandtschaftsbericht des Johannes von Gorze 119 f. (wie Anm.  28) S.  371, durch. Die Beziehung zum Kalifen war hier offenbar durch beleidigende Äußerungen gegenüber dem Islam im Begleitbrief Ottos I. empfindlich gestört, doch erfahren wir nirgends, um

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Mittels solcher Gesandtschaften wurde nach den genannten Beispielen tatsächlich nicht nur immer wieder Frieden mit (zeitweiligen) Gegnern geschlossen,67 sondern es kam darüber hinaus sogar mehrfach zu regelrechten Bündnissen mit den Sarazenen, wie 847 und 863 zwischen Karl dem Kahlen und dem „König“ Abderrahman in Córdoba.68 Bündnisse mit fränkischen Großen konnten sich gelegentlich zwar gegen den (fränkischen) König richten und wurden von den Chronisten entsprechend verurteilt,69 doch auch sie belegen immerhin, daß Bündnisse von Christen mit Muslimen als möglich gedacht und in der Praxis auch vollzogen wurden. Nach Liudprand von Cremona riefen die untereinander zerstrittenen Provençalen die Sarazenen zu Hilfe (die daraufhin allerdings selbst die Herrschaft übernahmen und dadurch von Beschützern zu Bedrängern wurden).70 Später, nach der Kaiserkrönung Ottos I. im Jahre 962, floh Adalbert, der Sohn des welche konkreten Beleidigungen es sich dabei handelte. Hintergrund, so der Autor, sei die Bestimmung, daß alte Gesetze dieses Volkes nie mehr abgeändert werden durften, und eines dieser Gesetze habe die Bestimmung enthalten, daß auf jede Äußerung gegen den Glauben die Todesstrafe stehe (Lex enim tam inprovocabilis eos constringit, ut quod semel antiquitus omni ei genti praefixum est, nullo umquam liceat modo dissolvi […]. Eis in legibus primum dirumque est, ne quis in religionem eorum quid umquam audeat loqui. Civis sit, extraneus sit, nulla intercedente redemptione capite plectitur.). 67 Vgl. Annales regni Francorum a. 812 (wie Anm. 34) S. 137: Pax cum Abulaz rege Sarracenorum facta; drei Jahre später brach Ludwig allerdings diesen „unnützen“ Frieden und begann erneut einen Krieg (ebd. a. 815, S. 143). Das Gleiche wiederholte sich noch einmal 817 und 820 (ebd. S. 145 und 153; ähnlich Astronomus, Vita Hludowici 25, wie Anm. 34, S. 360, und ebd. 34, S. 400: imaginaria pace cum Abulat rege Sarracenorum). Vgl. Annales Xantenses a.  831 (wie Anm.  48) S.  8: Legati Sarracenorum venerunt ad imperatorem pacem confirmandam et cum pace reversi sunt. 68 Annales Bertiniani a. 847 (wie Anm. 34) S. 59: Die Gesandten Abdirrahmans kamen pacis petendae foederisque firmandi gratia. Vgl. ebd. a.  863, S.  103 f.: Karl empfing die Gesandten des Sarazenenkönigs Mahomoth, die cum magnis et multis muneribus ac litteris de pace et foedere amicali loquentibus kamen, feierlich (sollemni more). 69 So im Falle des treulosen Westgoten Aizo, der sich mit Abderrahman gegen Ludwig den Frommen verbündete; das führte zu einem Aufruhr in der ganzen Spanischen Mark (Annales regni Francorum a. 826, wie Anm. 34, S. 170; ebd. a. 827, S. 172). 883 floh der angeklagte Graf Wido von Tuszien zu den Mauren und schloß mit ihnen ein Bündnis (Annales Fuldenses, Cont. Ratisb. a. 883, wie Anm. 33, S. 110). 70 Liudprand von Cremona, Antapodosis 1,4 (wie Anm.  37) S.  7: quos primo defendere videbantur modis omnibus insecuntur. Ebd. 5,17, S. 132, schlossen die dortigen Bewohner aus Angst vor König Berengar ein Bündnis (foedus) mit den



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italienischen Königs Berengar II., nach Freinet seque Sarracenorum fidem commendaret:71 Der Christ vertraute sich (mit einem mehrdeutigen Wort) der fides der Muslime an; erneut verhinderte der unterschiedliche „Glaube“ hier keineswegs ein gegenseitiges „Vertrauen“. Interessant ist auch ein Vorfall aus dem Jahre 853: Die mit der Herrschaft Karls des Kahlen unzufriedenen Aquitanier wandten sich an Ludwig den Deutschen und baten ihn um Schutz; lehne er ihre Bitte ab, so sähen sie sich gezwungen, unter Gefahr für den Glauben bei den Glaubensfeinden (den Sarazenen) jene Hilfe zu suchen, die ihnen die rechtgläubigen und rechtmäßigen Herrscher versagten.72 Bei aller Abgrenzung der Sarazenen a) von den Christen und b) den rechtmäßigen Herrschern – und der „Antrag“ war zunächst ja durchaus als Warnung an die letzteren gemeint – hielt man eine Unterwerfung unter eine Fremdherrschaft immerhin für denkbar und zog sie gegebenenfalls einer christlichen Tyrannei (wie der Karls des Kahlen) vor. Der Glaubensunterschied verhinderte also weder ein Zusammengehen noch ein Zusammenleben (wie es im übrigen ja im islamischen Spanien auch praktiziert wurde). Ganz entsprechend wußte Ekkehard von St. Gallen zu berichten, daß die später in die Provence eingefallenen Sarazenen die Gegend zunächst zwar mit Krieg überzogen, sich dann aber besiegt nach Freinet zurückzogen, dort siedelten, Frieden schlossen und einheimische Frauen heirateten.73 Solche engen Kontakte dürfen keinesfalls vernachlässigt werden, wenn man einen vollständigen Eindruck vom abendländischen Sarazenenbild gewinnen will, das nämlich beide Aspekte, Auseinandersetzung und politische Einigung, einschloß: Zum Jahre 812 vermerkten die Fränkischen Reichsannalen in einem bezeichnenden Eintrag zwei gleichzeitige, aber gegensätzliche Vorgänge: den Einfall einer afrikanischen Flotte in Sardinien und den Friedensschluß mit dem Sarazenenkönig Abulaz.74 Das Verhältnis Sarazenen, auch wenn Liudprand das „als schlecht beraten“ (non bono consilio) und als „ungerecht“ (inique) bewertete. 71 Liudprand, De Ottone rege 4, ebd. S. 170. 72 Vgl. Annales Fuldenses a. 853 (wie Anm. 33) S. 43 f.: Aquitanorum legati Hludowicum regem crebris supplicationibus sollicitant, ut aut ipse super eos regnum susciperet aut filium suum mitteret, qui eos a Karli regis tyrannide liberaret, ne forte ab extraneis et inimicis fidei cum periculo christianitatis quaerere cogerentur auxilia, quae ab orthodoxis et legitimis dominis invenire nequirent. 73 Ekkehard, Casus s. Galli 65 (wie Anm. 33) S. 233 f.: […] quondam Saraceni […] belloque omni disturbantes, tandem victi in valle Fraxnith angustiis tutissima, invito qui tunc erat rege, consederant, paceque petita uxores filias gentis ducunt. 74 Annales regni Francorum a. 812 (wie Anm. 34) S. 137.

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zu (verschiedenen) Sarazenengruppen konnte sich zeitgleich also recht unterschiedlich gestalten.

6. (Ab-)Wertende Wahrnehmung: Die Sarazenen als Barbaren und Glaubensfeinde Trotz aller politischen Verhandlungen und Bündnisse führten die erwähnten Angriffe und Bedrohungen – und erst darüber geriet dann auch der Glaubensgegensatz ins Blickfeld –, wie schon angedeutet, aber auch zu einer Abgrenzung von den Christen, wurden Sarraceni und Christiani einander zumindest gelegentlich begrifflich entgegengestellt.75 Der Glaubensgegensatz war also durchaus bewußt, auch wenn er kaum explizit thematisiert wurde.76 Ein Zusammenhalt der Christen galt jedoch immerhin als so wahrscheinlich, daß Paulus Diaconus und (danach) Regino von Prüm im Rückblick die beiden Gegner Eudo von Aquitanien und Karl Martell trotz ihrer Zwietracht gemeinsam gegen die sarazenischen Angreifer kämpfen ließen.77 Angesichts der Kämpfe und Bedrohungen gab es daher auch abwertende Stellungnahmen und Charakterisierungen der Sarazenen,78 die sich einerseits auf deren 75 Vgl. etwa Annales Bertiniani a.  847 (wie Anm.  34) S.  53 f.; ebd. a.  852, S.  64; Annales Xantenses a. 846 (wie Anm. 48) S. 15 f.; Andreas von Bergamo, Historia 14 (wie Anm. 48) S. 228; Landulfus Sagax, Historia Romana 25,6 (wie Anm. 14) S.  242. Später Lampert von Hersfeld, Annales a.  1065, ed. Oswald HolderEgger, MGH SSrG 38, Hannover-Leipzig 1894, S. 98. 76 In seinem Bericht über Mohammed erwähnt Landulfus Sagax, Historia Romana 20,58 (wie Anm. 14) S. 132 f., dessen religio, die anfangs auch von einigen Juden angenommen worden sei, weil sie ihn für den prophezeiten Christus hielten. 77 Paulus Diaconus, Historia Langobardorum 6,46 (wie Anm. 25) S. 180; danach Regino von Prüm, Chronicon a. 655 (wie Anm. 25) S. 36: Carolus quidem, ut dictum est, cum Eudone Aquitaniae principe tunc discordiam habebat; qui tamen in unum se coniungentes contra eosdem Sarracenos pari consilio dimicarunt. Der Fortsetzer Fredegars, Cont. 13 (wie Anm. 31), S. 175, hatte Eudo hingegen zum Verräter gestempelt, der mit den Sarazenen paktierte: Die gens perfida Saracinorum wurde von Eudo (dem dux der Aquitanier) gegen Karl Martell aufgestachelt. – An anderer Stelle nahmen Paulus Diaconus (6,54, S. 183) und Regino von Prüm (a.  655, im 24. Jahr Karl Martells, S.  37) gleichermaßen die bereitwillige Hilfe der Langobarden gegen die Sarazenen in Anspruch: Tunc Carolus ad Liutbrandum regem mittens auxilium contra Sarracenos exposcit; qui nihil moratus cum omni Langobardorum exercitu in eius adiutorium properavit. 78 Unter den häufigen Nachrichten bei Landulfus Sagax (wie Anm. 14) habe ich tatsächlich nur zwei mehr oder weniger eindeutige Stellungnahmen gefunden:



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Charakter, andererseits auf ihr Barbarentum bezogen. So beschrieben bereits der Fortsetzer Fredegars und noch Liudprand von Cremona die Sarazenen als „gerissen“ (callidus) und „treulos“ (perfidus),79 und der Autor der Vita Pardulfi nannte sie „schändlich“ (nefandissimi).80 Im Kontext der Bedrohungen wurde mehrfach vor allem ihr grausames und geradezu barbarisches Wüten hervorgehoben und gebrandmarkt:81 So wurde 838 Marseille vollständig verwüstet, die zahlreichen Nonnen und sämtliche Männer wurden verschleppt, der Kirchenschatz geplündert.82 Die aus Afrika kommenden Sarazenen in Benevent überzogen die gesamte Region mit Mord, Raub und Brandstiftung (caedibus, rapinis ac incendiis).83 Besonders verurteilt wurde hier das Vorgehen gegen Christen: So töteten die Sarazenen nach der Vita Pardulfi beim Vormarsch in Aquitanien jeden Christen, der ihnen entgegen kam, und äscherten möglichst alle Klöster ein (das Kloster Pardulfs [Guéret im Poitou/Waractensis], der allein dort zurückblieb – und nur deshalb berichtete der Hagiograph überhaupt davon – wurde allein durch das inständige Gebet des Heiligen und ein Wunder gerettet).84 Spanische Mauren auf Korsika plünderten, wie schon erwähnt, eine Stadt gerade am heiligen Ostersamstag und ließen neben dem Bischof nur GreiNach dem Tod des dux Arabum Harun kam es zu einer Spaltung, in deren Folge auch die unterworfenen Christen in Libyen und Ägypten leiden mußten und die Kirche in Jerusalem (in Christi Dei nostri civitate) verlassen wurde (26,10, S. 271); später flohen viele Christen, Mönche und Laien aus Palästina und Syrien vor immensam Arabum afflictionem (ebd. 26,40, S. 287). 79 Liudprand, Antapodosis 1,4 (wie Anm. 37) S. 7: non minus callidos quam perfidos. Ihren πρωβωλος (praedux) Sagittus nannte Liudprand einen äußerst schlechten und gottlosen Sarazenen (Saracenus pessimus impiusque); ebd. 4,4, S. 98. 80 Vita Pardulfi 15 (wie Anm. 38) S. 33; vgl. Rotter, Abendland (wie Anm. 4) S. 261. 81 Vgl. beispielsweise Annales regni Francorum a. 827 (wie Anm. 34) S. 172: iunctique Sarracenis ac Mauris Ceritaniam et Vallensem rapinis atque incendiis cotidie infestabant. 82 Annales Bertiniani a. 838 (wie Anm. 34) S. 24. Vgl. ebd. a. 849, S. 57, zur Verwüstung Benevents; ebd. a. 856, S. 73, zur Zerstörung Neapels. Nach der Eroberung Korsikas verkauften die Sarazenen 60 Mönche nach Spanien (Annales regni Francorum a. 807, wie Anm. 34, S. 124). 83 So Regino von Prüm, Chronik a. 867 (wie Anm. 25) S. 93. Vgl. Andreas von Bergamo, Historia 14 (wie Anm. 48) S. 227, zum Einfall nach Bari: Gens Sarracinorum venerunt, terra nostra dissipaverunt, civitates desolaverunt, aecclesias suffuderunt. 84 Vita Pardulfi 15 (wie Anm. 38) S. 33: quemqumque hominem christianum inveniebant, trucidabant et, ubicumque monasteria aut loca sancta obviassent, igne concremare nitebantur. Vgl. Rotter, Abendland (wie Anm. 4) S. 255 f.

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se und Kranke zurück.85 Bei der Zerstörung Barcelonas im Jahre 852 wurden nahezu alle Christen niedergemacht,86 bei der Eroberung Neapels unzählige Christen getötet oder gefangengenommen.87 Als Erzbischof Rotland von Arles auf der Insel Camargue eine Befestigung (castellum) baute, beantworteten die Sarazenen, die dort einen Hafen angelegt hatten, diese Bedrohung ihrerseits mit einem Angriff, töteten 300 seiner Leute und nahmen ihn selbst gefangen. Obwohl der Bischof bei dieser Aktion starb, erpreßten sie ein Lösegeld und brachten den Toten, gefesselt auf einem Stuhl thronend, zurück (und erneut wird das Ganze nur wegen dieses Vorfalls überhaupt erwähnt).88 Und als die Sarazenen von Benevent aus 846 die Peterskirche in Rom, mater cunctarum ecclesiarum, einnahmen und plünderten, töteten sie sämtliche Christen, die sie außerhalb Roms aufgegriffen hatten, innerhalb und außerhalb dieser Kirche und schleppten die Klosterinsassen, Männer und Frauen, fort.89 Der Xantener Annalist bewertete das hier als eine große afflictio Christianorum und führte es – erneut – auf deren Sünden zurück.90 Ganz ähnlich deutete später Liudprand von Cremona den Einfall der Sarazenen in Italien als Wirken Christi, um die Chri85 Annales regni Francorum a. 809 (wie Anm. 34) S. 128. 86 Annales Bertiniani a. 852 (wie Anm. 34) S. 64 (interfectisque pene omnis christianis et urbe uastata). 87 Erchempert, Historia Langobardorum 77 (wie Anm. 48) S. 263: qui Saracenis innumerabiles christicolas gladiis et captivitatibus tradidit. 88 Annales Bertiniani a. 869 (wie Anm. 34) S. 165 f. 89 Annales Xantenses a. 846 (wie Anm. 48) S. 15: Eodem tempore, quod sine grandi merore nulli dicendum vel audiendum est, mater cunctarum ecclesiarum, basilica sancti Petri apostoli, a Mauris vel a Sarracenis, qui iam pridem Beneventaniam consederant, capta atque predata est, et omnes Christianos, quos foris Romam repperierunt, intus et foris eiusdem aecclesiae occiderunt. Reclausos etiam viros et mulieres abduxerunt. Altare sancti Petri cum aliis multis detraxerunt, et afflictio Christianorum propter scelera eorum cotidie hinc inde orta est. Die Annales Bertiniani a. 846 (wie Anm. 34) S. 52, berichten ebenfalls von der Entweihung der Kirche, wußten hingegen nichts von Morden, und die Fuldaer Annalen (wie Anm. 33), die den Vorfall nur kurz S. 36 erwähnen, beschränken sich gänzlich auf den bloßen Bericht: Da die Mauren mit ihrem Heer nicht in Rom eindringen konnten, verwüsteten sie die Peterskirche. Ebenso gebrandmarkt wurde die Einnahme Jerusalems: Annales Xantenses a. 871 (wie Anm. 48) S. 30: Civitas sancta Ierusalem et mons Oliveti atque omnia loca sancta in circuitu a Sarracenis invasa et possessa sunt. Vgl. Thietmar von Merseburg, Chronik 2,25 (wie Anm. 39) S. 70 (zum Jahr 969): Nam Saraceni Ierusolimam tunc invadentes nil reliquere victis. 90 Zur Sündenstrafe vgl. auch oben Anm. 11. Auch Erchempert deutet die Untaten in Neapel (oben Anm. 87) als Gottes Strafe.



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sten zu züchtigen und sie durch Schrecken zum Glauben zu nötigen.91 Auch Liudprand wußte von Morden an Christen,92 Thietmar von Merseburg von Vergewaltigungen zu berichten.93 Im Zuge der sarazenischen Bedrohungen waren solche negativen Bewertungen insgesamt also nicht selten, wenngleich auch hier letztlich stets nur die Untaten gegenüber Christen (und nicht der Glaube an sich) verurteilt wurden. Dennoch kann es vor diesem Hintergrund nicht überraschen, daß die Sarazenen den Chronisten als unchristlich und gelegentlich geradezu als Glaubensfeinde erschienen: Wenn bereits Fredegar von dem „beschnittenen Volk“ (gens circumcisa) sprach,94 stellte er sie in eine Linie mit den Juden und grenzte sie (indirekt) von den Christen ab. Für Hugeburg und die Verfasser der Vita Pardulfi, der Xantener sowie der Regensburger Fortsetzung der Fuldaer Annalen waren die Sarazenen folglich „Heiden“ (pagani95 oder gentiles96), für Beda sogar ausdrücklich Gegner der Kirche (adversarii ecclesiae),97 für Paulus Diaconus ein „ungläubiges, Gott feindliches Volk“ (gens infidelis et Deo inimica),98 für Thietmar von Merseburg Feinde Christi,99 für Ekkehard von St. Gallen (bezeichnenderweise in einer unhistorischen Anekdote) 91 Liudprand von Cremona, Antapodosis 2,46 (wie Anm. 37) S. 54. 92 Liudprand von Cremona, Antapodosis 1,3 (wie Anm. 37) S. 6: Die auf 20 Schiffen von Spanien nach Fréjus verschlagenen Sarazenen ermordeten die Christen (Christicolas) und nahmen den Ort in Besitz. Fortan dehnten sie ihre Raubzüge bis nach Italien aus und bedeuteten eine ungeheure Bedrückung (ebd. 2,43/44, S. 53). Später wurde das Umland crudelissime heimgesucht (ebd. 5,9, S. 128). 93 Thietmar von Merseburg, Chronik 7,45 (wie Anm. 39) S. 452: et uxoribus incolarum abutuntur. 94 Fredegar, Chronik 4,66 (wie Anm. 31) S. 153. 95 So zweimal in der Vita Willibaldi (wie Anm. 7) S. 94 (pagani Sarracini) und 95. Vgl. auch Vita Pardulfi 15 (wie Anm. 38) S. 33; Vita Iohannis Gorziensis 122 (wie Anm. 28) S. 372. Vgl. Rotter, Abendland (wie Anm. 4) S. 261. 96 Annales Xantenses a.  871 (wie Anm.  48) S.  30 (da Ludwig II. die Sarazenen nicht aus Benevent vertreiben konnte, war die katholische Kirche ringsum einer infestatio gentilium ausgesetzt); Annales Fuldenses Cont. Ratisb. a.  883 (wie Anm. 33) S. 110 (manu cum valida gentilium de gente Mauritanorum). 97 Beda, In primam partem Samuhelis IV,25,1, ed. D. Hurst, CCL 119, Turnhout 1962, S. 231. Vgl. Rotter, Abendland (wie Anm. 4) S. 261. 98 Paulus Diaconus, Historia Langobardorum 6,10 (wie Anm. 25) S. 168. Regino von Prüm, der Paulus ansonsten recht wörtlich wiedergab, ließ diese Kennzeichnung (bezeichnenderweise?) weg. 99 Thietmar von Merseburg, Chronik 7,45 (wie Anm. 39) S. 452: Der Papst rief zum Kampf gegen die inimici Christi auf. Zu den Fuldaer Annalen a. 853 vgl. oben Anm. 72.

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später gar Dämonen und Teufelssöhne.100 Damit wurden die Sarazenen klar von den Christen abgesetzt und, zumal im letzten Fall, geradezu „verteufelt“, während die Christen, trotz aller Bedrohungen, am Ende unter Gottes Schutz standen und triumphierten:101 Nach dreitägigem Wüten (miserabili dictu), so Thietmar, erhörte Gott schließlich die Klagen der Frommen und schenkte ihnen einen so vollständigen Sieg über die verhaßten Gegner (odientes), daß niemand mehr übrig blieb.102 (Daß die Sieger sich nicht weniger barbarisch benahmen und die gefangene Königin der Sarazenen enthaupteten, störte den Autor nicht weiter.) Nur an zwei Stellen folgte daraus vor dem 11. Jahrhundert aber explizit eine religiöse Abwertung: Nach Prudentius von Troyes forderte der zum Judentum konvertierte Bodo die Christen auf, sich zur insania der Juden und zur dementia der Sarazenen zu bekehren, deren Religion damit offensichtlich als Wahnsinn herabgewürdigt wurde.103 Und der Autor der Vita des Johannes von Gorze bezeichnete den Kalifen als rex sacrilegus et profanus, weil er Sarazene war (der gleichwohl die Freundschaft Ottos des Großen suchte und sich selbst in seinem Gesandtschaftsbrief deshalb aller Blasphemien gegen Christus enthielt).104 100 Ekkehard IV, Casus s. Galli 65 (wie Anm. 33) S. 235: Sarazenen und Ungarn erscheinen hier als electissimi satanę filii; dem König war es gleichgültig, welche pars diversorum demonum siegen würde; er wollte sich auf die Sieger stürzen; zur Episode vgl. oben Anm.  55. […] miseriam omnem, quam nostrates (nämlich die St. Galler Mönche) a Saracenis sunt passi, so schrieb Ekkehard an anderer Stelle (c. 126, S. 411), würde ein ganzes Buch füllen. 101 Vgl. Annales regni Francorum a. 799 (wie Anm. 34) S. 108, zur Verteidigung der Balearen vor den Mauren und Sarazenen: et cum Dei auxilio a nostris a praedonum incursione defensi sunt; Annales Bertiniani a. 847 (wie Anm. 34) S. 54: Ein Wirbelsturm zerstörte die Schiffe der Sarazenen, als sie Gott lästerten (Deo et domino nostro Ihesu Christo eiusque apostolis ore pestifero derogarent). Vgl. ebd. a. 843, S. 45: Die Sarazenen wurden Dei auxilio aus Benevent vertrieben; Widukind von Corvey, Res gestae Saxonicae 3,70 (wie Anm. 54) S. 122: Gegen die Sarazenen in Freinet zog man Deo comite. 102 Thietmar von Merseburg, Chronik 7,45 (wie Anm. 39) S. 452,454. In symbolischen Anspielungen drohte der Sarazenenkönig daraufhin mit einem weiteren Angriff – er schickte dem Papst einen Sack Kastanien mit der Drohung, er werde im nächsten Jahr mit ebenso vielen Kriegern zurückkehren –, und ebenso symbolisch war die Antwort des Papstes: Er sandte, mit gleichlautender Botschaft, einen Sack voll Hirse zurück. Das diplomatische Geschehen zeigt dennoch, trotz aller Feindschaft und der hier betonten symbolischen Überlegenheit des Papstes, daß man mit den Gegnern auf gleicher Stufe verkehrte. 103 Annales Bertiniani a. 847 (wie Anm. 34) S. 53 f. 104 Vita Iohannes Gorziensis 115 (wie Anm. 28) S. 370.



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Gleichwohl erscheinen solche Charakterisierungen als nahezu harmlos, wenn man sie mit späteren vergleicht: In den um 1073 entstandenen, allerdings nur aus späteren Quellen rekonstruierten Altaicher Annalen wurde die gens Arabitarum anläßlich einer Massenpilgerfahrt nach Jerusalem unter der Leitung mehrerer Bischöfe als ein äußerst wildes Volk (sevessima) beschrieben, das Menschenblut tränke (humanum sitiens sanguinem); ihr dux war ein Barbar, der befahl, alle grausam mit dem Schwert zu töten.105 Ganz ähnlich berichtet nur wenige Jahre später Lampert von Hersfeld ausführlich von Anfeindungen der Pilger und von tätlichen Angriffen und Kämpfen sogar zu Ostern. Der arabische Anführer wurde auch von Lampert als barbarischer Kannibale gekennzeichnet: Er sei von Natur aus barbarisch in seinen Sitten (preter ingenitam morum barbariem) und wolle, so drohte er, ihr Fleisch essen und ihr Blut trinken. Bischof Gunther von Bamberg aber wollte sich nicht von einem profanus et idolatra anfassen lassen und schlug ihn nieder.106 Solche harten Urteile blieben vor den Kreuzzügen jedoch die Ausnahme. Beide Quellen wissen allerdings auch zu berichten, daß, so die Annalen von Niederalteich, der Heerführer des Königs der Babylonier die Christen rettete, weil er, obwohl er Heide war (quamvis gentilis), fürchtete, daß sonst keine Pilger mehr zum Gebet durch sein Gebiet reisen würden und man dadurch großen Schaden erleide. Nicht alle Sarazenen waren demnach gleichermaßen gefährlich und feindlich. Nach Lampert gab es allerdings selbst gegen diesen Retter (hier war es der Fürst von Ramleh) noch Vorbehalte, da man nicht glauben mochte, daß Satan Satan austreibe (Mt 12, 26), nämlich ein Heide einen Heiden von der Bedrohung der Christen abhalten wolle.

105 Annales Altahenses maiores a. 1065, ed. Edmund von Oefele, MGH SSrG 4, Hannover 1891, S. 67 f.: et dux ille barbarus tantam multitudinem vidisset sperans se infinitas pecunias invenire, omnes pariter crudeli ense decrevit trucidare. Er wurde dann durch ein schweres Gewitter davon abgehalten. Am nächsten Tag aber fielen die Pilger in die Hände der Arabitae, die sie „wie heißhungrige Wölfe“ ausraubten und die ersten zerfleischten. Die Araber werden hier durchweg als Heiden bezeichnet. 106 Lampert von Hersfeld, Annales a. 1065 (wie Anm. 75) S. 93–99, zu derselben Pilgerfahrt. Vgl. Rotter, Mohammed (wie Anm. 13) S. 330–333.

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7. Die Sarazenen als „Fremde“? Abschließend läßt sich vor dem Hintergrund der verschiedenen – und durchaus ambivalenten – Charakterisierungen nun versuchsweise die Frage beantworten, ob die Sarazenen von den frühmittelalterlichen Abendländern als „Fremde“ wahrgenommen und bewertet wurden. Zweifellos lagen sie (und erst recht der Islam) den abendländischen Chronisten „fern“, insofern diese kein wirkliches Interesse an den Sarazenen oder gar an ihrer Religion hatten, sondern sie nur dort erwähnten, wo es zu Berührungen, diplomatischer ebenso wie kriegerischer Art, kam. Dabei erschienen die Sarazenen zumeist nicht „fremder“ (oder „fremdartiger“) als andere fremde Völker (wie Normannen oder Ungarn), noch waren sie anscheinend so „unvertraut“, daß man den Lesern hätte erklären müssen, um wen es sich eigentlich handelte. Entsprechend scheint es eine „terminologische Fremdheit“ kaum gegeben zu haben, denn begrifflich wurden die Sarazenen nirgends mehr mit den eingangs erwähnten (von unseren Fremdheitskonzepten allerdings auch abweichenden) Termini107 ausdrücklich als „Fremde“ bezeichnet. Selbst advenae wurde nicht benutzt, obwohl es in einigen Fällen zutreffend gewesen wäre.108 Lediglich in der Vita des Johannes von Gorze wurde der Kalif als „dem wahren Glauben fremd“ eingestuft.109 Eine Abwertung wäre mit solchen Begriffen ohnehin nicht zwangsläufig verbunden gewesen. Umgekehrt unterschied man im islamischen Spanien der Vita des Johannes von Gorze zufolge nämlich durchaus zwischen den (eigenen, einheimischen) „Bürgern“ und den „Fremden“ (extranei),110 und nach Hugeburgs Pilgerbericht empfanden auch die heidnischen Sarazenen in Syrien Willibald und seine Begleiter als adveni et ignoti homines – ein weiterer Beweis für die oben festgestellte bi-perspektivische Sicht –, weil sie nicht wußten, aus welchem Volk sie kamen (de quale fuerant gente) und sie für Spione hielten (und deshalb 107 Peregrinus hätte schlecht gepaßt. 108 Soweit ich sehe, wurden nur bei Beda im 8. Jahrhundert die Agareni explizit als proselyti vel advenae bezeichnet (In psalmorum librum 82A, Migne PL 93, Sp. 928; Ders., Interpretatio nominum Hebraeorum, ebd. Sp. 1102; vgl. dazu Rotter, Abendland, wie Anm. 4, S. 99). Auf keinen Fall sind die „Herannahenden“ (adventantii) bei Notker Balbulus, Gesta Karoli (wie Anm. 42) 2,12 (wie Anm.  33) S.  70, wie von Rau in der Freiherr-vom-Stein-Gedächtnisausgabe übersetzt, als „Fremde“ zu verstehen. 109 Vita Iohannis Gorziensis 115 (wie Anm. 28) S. 370: et a vera fide prorsus esset alienus. 110 Vita Iohannus Gorziensis 120, S. 371 (oben Anm. 66).



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erst einmal gefangennahmen),111 doch die Bewohner betrachteten sie hier eher neugierig als feindselig.112 In solchem Verhalten scheint sich nun tatsächlich das Kriterium der mangelnden Vertrautheit widerzuspiegeln – und doch konnte der Greis, der sie befragen sollte, sagen, daß er Leute wie sie schon oft gesehen habe,113 sie ihm folglich nicht gänzlich unvertraut waren. Entscheidend für die Einstellungen war offenbar die Art der Beziehungen und Kontakte. Die Sarazenenherrschaft in fernen Ländern (und selbst in der Christusstadt Jerusalem) störte anscheinend niemanden, und die (tatsächlich kaum thematisierte) Religionsdifferenz hinderte keineswegs an guten politischen Kontakten und diplomatischen Beziehungen. Nur gelegentlich wurde, wie oben ausgeführt, das „Volk der Sarazenen“ abschätzig (als „niederträchtig“, „treulos“ oder „barbarisch“ oder auch nur als „kriegerisch“) bewertet: Willibald sah sich mitten inter barbaros et belligeros.114 Abwertende Charakterisierungen finden sich ansonsten ausschließlich dort, wo die Sarazenen als Angreifer, Plünderer und Eroberer in christliche Gegenden (Aquitanien und Süditalien) übergriffen und somit zu einer Gefahr für die Christen wurden. Hier wurden ihre Untaten scharf gebrandmarkt, und sie wurden als „Heiden“ von den unter Gottes Schutz stehenden Christen abgegrenzt. Doch auch dann wurden durchweg ihre Taten, wurde nicht ihre Religion an sich verurteilt, wenngleich die Sarazenen (als „Heiden“), wie später bei Ekkehard von St. Gallen, aus christlicher Sicht natürlich „Teufelssöhne“ waren. Eine „Sarazenenfeindlichkeit“ läßt sich somit nur im Einzelfall und nicht generell nachweisen (und 111 Hugeburg, Vita Willibaldi (wie Anm. 7) S. 94. Die Gefangennahme erscheint selbst im christlichen Bericht als eine reine Vorsichtsmaßnahme. Man beauftragte daraufhin einen erfahrenen Greis, dem friedliche Pilger, die sich an das Gesetz hielten, tatsächlich nicht unbekannt waren, sie auszufragen. Im Palast wurden sie vom Statthalter (preses) noch einmal eingekerkert, bis eine Anweisung des „Königs“ vorlag. Einem Kaufmann gelang es nicht, sie freizukaufen. Als ein Spanier sich aber am Hof für die Gefangenen einsetzte, wo sein Bruder Kammerdiener des Königs war, befahl der König, sie freizulassen, da sie sich nicht gegen ihn versündigt hätten. Später stellte der preses ihnen noch einen Geleitbrief aus (ebd. S. 100). 112 Ebd. S. 94: Illi cives urbium curiosi iugiter illic venire consueverant illos speculare, qui iuvenes et decori et vestium ornatu induti erant bene. 113 Vgl. ebd. S.  94: Frequenter hic venientes vidi homines de illis terre partibus istorum contribulos; non querunt mala, sed legem eorum adimplere cupiunt. 114 Hugeburg, Vita Willebaldi (wie Anm.  7) S.  94. Vgl. Rotter, Abendland (wie Anm. 4) S. 251.

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fügt sich somit durchaus in das spezifisch frühmittelalterliche „Fremdenbild“ ein). Insgesamt wird man im Sarazenenbild des Abendlandes durchaus eine ethnisch-politische, eine religiöse und eine kulturelle „Fremdheit“ in Form einer Abgrenzung von der eigenen, christlichen Gesellschaft feststellen können, die gleichwohl eine oft nahezu vorurteilsfreie Berichterstattung und eine politische Anerkennung nur dort behinderte, wo die Sarazenen, zunehmend im 9. und 10. Jahrhundert, als Eindringlinge empfunden wurden. Hier blieben sie „Fremde“, weil es an einer wirklichen Integration mangelte, aber sie wirkten nicht wirklich fremdartig. Doch selbst dann schien eine „Fremdherrschaft“ durchaus vorstellbar.115 Möglicherweise erklärt eine solche Einstellung erst die problemlose Eroberung Spaniens im 8. Jahrhundert, doch fehlen uns entsprechende Quellen aus diesem Zeitraum. Missionsabsichten gegenüber den Sarazenen gab es, ganz anders als im gleichen Zeitraum gegenüber den Normannen im Norden und den Slawen im Osten Europas, offenbar nicht. Möglichkeiten eines Nebeneinanders der Religionen scheint es, jedenfalls in verschiedenen Räumen, von der frühmittelalterlichen Denkweise her, trotz des christlichen Universalanspruchs, vor dem Zeitalter der Kreuzzüge demnach durchaus noch gegeben zu haben. Erst in der zweiten Hälfte des 11. Jahrhunderts wurden schärfere Töne vernehmbar. „Fremde“ waren die Sarazenen im mittelalterlichen wie im modernen Verständnis bis dahin anscheinend nur bedingt und ausschließlich dort, wo sie in die christliche Gesellschaft eindrangen.

115 Vgl. oben.

Heine und der Orient? Zwischen Subjektivität und Veranderung1 oder wie das Andere nach Deutschland kam – sah – und – ? M. Popal „Ich sterbe an den Prügeln, die ich nicht austheilen kann.“2 1 Veranderung ist die deutsche Entsprechung von othering. Der Begriff othering beschreibt den Prozess, durch den der koloniale Diskurs seine Anderen schafft. Er wurde von Gayatri Spivak eingeführt und beruht auf der Theorie Lacans über das Entstehen des Subjekts. Lacan wie Spivak unterscheiden dabei zwei Schreibweisen des Worts. Die Großschreibung Other symbolisiert die Subjektwerdung durch Begehren und Macht (M-Other, Father or Empire) und other, klein geschrieben, beschreibt den Vorgang der Selbstwerdung in Relation zum kolonisierten Subjekt. Die Konstruktion des O/other wird als grundlegend für die Konstruktion des Selbst erachtet. In der postkolonialen Theorie wird nicht immer zwischen den beiden Schreibweisen unterschieden. Othering definiert auf diese Weise die Produktion von (anderen) Subjekten durch den Prozess des Ausschließens und Beherrschens in den Diskursen der Macht. Siehe zu dieser Definition Bill Ashcroft/Gareth Griffiths/Helen Tiffin, Post-Colonial Studies – The Key Concepts, London/N. Y. 2005, S. 171. Hier wird eine deutsche Übertagung des Worts benutzt, da postkoloniale Theorien auch im deutschen Kontext eine nicht mehr zu ignorierende Wichtigkeit zu erlangen beginnen. Das Wort Veranderung wurde auch von Julia Reuter in ihrer Dissertationsschrift in der Entsprechung von othering verwendet. Vgl. Julia Reuter, Ordnungen des Anderen – zum Problem des Eigenen in der Soziologie des Fremden, Bielefeld 2002. 2 Aus einem Brief Heines an seinen Bruder Gustav vom 26. 10. 1852, vgl. Bernd Füller/Christian Liedke, Heinrich Heine „… und grüßen Sie mir die Welt“ – ein Leben in Briefen, Hamburg 2005, S. 9 und 424; der bereits sehr kranke, ans Bett gefesselte Heine bringt in dem Satz seinen Ärger gegenüber seinen rücksichtslosen Nachbarn zum Ausdruck; die Aussage kann auch auf die z. T. einseitige Rezipierung bzw. Nicht-Rezipierung seiner Werke und seines Denkens in Deutschland bezogen werden. Vielleicht spricht er damit etwas aus, was auf die Situation vieler Menschen in Deutschland, und nicht nur hier, übertragbar ist: Das Aussprechen des Satzes macht ein Aufwachen aus der Paralyse möglich, so dass Menschen, im wahrsten Sinne des Wortes, ihre Sprache (wieder-)finden.

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„Diaspora discourse articulates, or bends together, both roots and routes to construct … alternate public spheres, forms of community consciousness and solidarity that maintain identification outside the national time/space in order to live inside, with a difference. Diaspora cultures are non separatist, though they may have separatist or irredentist moments.“3

Einführung Die Thematisierung der binären Begriffspaare eigen und fremd oder wir und die anderen kann kaum mehr die Postcolonial und Cultural Studies ignorieren. Die Übertragung der Postcolonial Studies auf den deutschen Kontext geht aber immer noch mühsam voran. Mit dem Argument, nicht so viele Kolonien besessen zu haben, kann Deutschland sich der Auseinandersetzung jedoch kaum mehr entziehen, denn es ist nicht die Quantität des Besitzes, die den Geist des Kolonialismus und Imperialismus bestimmte, sondern die Idee und ihre gesellschaftspolitische Durchdringung an sich.4 Dabei kann das koloniale Begehren und Verhalten Deutschlands zunächst in seinem Inneren, in den Diskursen über seine als fremd abgestempelte jüdische Minderheit – sogar als ganz zentral – ausfindig gemacht werden.5 Die Suche nach einer 3 James Clifford, Routes – Travel and Translation in the Late Twentieth Century, Cambridge 1997, S. 251, zitiert nach Bluma Goldstein, Heine’s „Hebrew Melodies“ – A Politics and Poetics of Diaspora, in: Jost Hermand/Robert C. Holub (Hg.), Heinrich Heine’s Contested Identities – Politics, Religion, and Nationalism in Nineteenth-Century Germany, N. Y. 1999, S. 49–68. 4 Siehe dazu Maria do Mar Castro Varela/Nikita Dhawan, Postkoloniale Theorie  – Eine kritische Einführung, Bielefeld 2005. S.  7 ff. und S.  11 ff., Katharina Walgenbach, ‚Weißsein‘ und ‚Deutschsein‘ – historische Interdependenzen, in: Maureen Maisha Eggers/Grada Kilomba/Peggy Piesche/Susan Arndt (Hg.), Mythen, Masken und Subjekte – Kritische Weißseinsforschung in Deutschland, Münster 2005, S.  377–393. Vgl. auch Andreas Eckert/Albert Wirz, Wir nicht, die anderen auch – Deutschland und der Kolonialismus, in: Sebastian Conrad/ Shalini Randeria (Hg.), Jenseits des Eurozentrismus – Postkoloniale Perspektiven in den Geschichts- und Kulturwissenschaften, Frankfurt a. M./N. Y. 2002, S. 372–392, S. 374 ff. Wulf D. Hund, Rassismus im Kontext – Geschlecht, Klasse, Nation, Kultur und Rasse, in: Irmtraud Wojak/Susanne Meinl (Hg.), Grenzenlose Vorurteile – Antisemitismus, Nationalismus und ethnische Konflikte in verschiedenen Kulturen, Frankfurt a. M. 2002, S. 17–40. 5 Angeschnitten wird diese Frage bereits von Hannah Arendt. In ihrem Werk Elemente und Ursprünge totalitärer Herrschaft – Antisemitismus, Imperialismus, totale Herrschaft, 6. Aufl., 1998 beschreibt sie in einem historischen Abriss



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Antwort auf die Frage, ob die Subalterne deutsch spricht6, kann, und das will dieser Beitrag anregen, in den Stimmen jüdischer Deutscher scharfsichtig, dass der deutsche Exotismus im Inneren des Landes betrieben wurde, indem die Juden als Andere entdeckt wurden und zu „wahren“ Menschen erzogen werden mussten, was eine Verzerrung der Ideen der Toleranz und Gleichheit aller Menschen darstellte. Vgl. S. 168 ff. An diesem Punkt setzt auch Ha seine Analyse von Rassismen und Formen des Widerstands und der Selbstdefinierung marginalisierter Gruppen in Deutschland an. Kien Nghi Ha, Ethnizität und Migration Reloaded – Kulturelle Identität, Differenz und Hybridität im postkolonialen Diskurs, Berlin 2004, S. 23. Vgl. außerdem Achim Rohde „Der innere Orient – Orientalismus, Antisemitismus und Geschlecht im Deutschland des 18. bis 20. Jahrhunderts, in: Die Welt des Islams – International Journal for the Study of Modern Islam, 45/3 (2005), S. 370–411. 6 Eine der ersten Veröffentlichungen, die die Übertragung der Postcolonial Studies im deutschen Kontext anregt, trägt diesen Titel; die Frage ist an einen zentralen Text der postkolonialen Theoretikerin Gayatri Chakravorty Spivak (Can the Subaltern Speak?, in: Cary Nelson/Lawrence Grossberg (Hg.), Marxism and the Interpretation of Culture, Urbana/Chicago 1988, S. 271–313) angelehnt und beinhaltet das Schweigen/Sprechen subalterner Gruppen. „Was passiert, wenn jemand, der oder die als subaltern, also als unterprivilegiert, bezeichnet wird, spricht? Welche Laute entstehen dabei? Können sie überhaupt gehört werden, und wenn ja, hören sich ihre Laute dann wie Sprache an oder eher wie jenes verwirrende Pfeifen, mit dem Franz Kafka das Singen von Josephine, der Mäusesängerin beschreibt? Wenn aber die Subalterne spricht, ist sie dann überhaupt noch subaltern?“ Hito Steyerl/Encarnación Gutiérrez Rodríguez (Hg.), Spricht die Subalterne deutsch? – Migration und postkoloniale Kritik, Münster 2003, S. 7. Kritisch äußern sich allerdings Dhawan und do Mar Castro Varela zur Anwendung des Begriffs auf alle MigranntInnen und People of Color. Sie fordern eine distanzierte Selbstreflexion von Seiten migrantischer Intellektueller – etwa ihrer kaum hintergehbaren komplizenhaften Stellung in der westlichen Wissenschaftsmaschinerie und –produktion und damit ihrer eigenen priviligierten Position, die mit der Subalternität von Frauen aus dem Süden, um die es Spivak in erster Linie gehe, kaum etwas gemein hat; auf diese Weise würde der politische Nutzen des Begriffs unbrauchbar werden. Auch wenn sie erfreulicherweise nicht vergessen, den eben nicht einfach festgelegten Schreibstil derselben Theoretkerin und deren eigene widersprüchliche Benutzung des Begriffs und Stellung zu erwähnen, wird in dieser wichtigen Kritik doch außer Acht gelassen, dass das Englische gerade auch für migrantische Intellektuelle in Deutschland keine Selbstverständlichkeit darstellt und den Zugang zu und Verständnis von diesen Theorien äußerst erschwert. Impliziert wird hier auch eine äquivalente Stellung von intellektuellen MigrantInnen im anglophonen und deutschsprachigen Raum, was kaum der Fall sein dürfte. Im Übrigen bleibt die Frage, ob der Begriff in der gewünschten Form – auch mit dem besten Willen nicht doch etwas von seinem (metropolitanen migrantischem) Wohlwollen beibehält – entmündigend ist und Subalterne essentialisiert, die sich selber nicht nur nicht so sehen, sondern andere, die sie als solche bezeichnen, bemitleiden würden. Ein Lernen von den Subalternen, wie Spivak

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aufgezeigt werden. Aus diesem Ansatz heraus versteht sich der Beitrag zu Heine. Dabei geht es nicht darum, Heines Ausgrenzung auf Grund seiner jüdischen Herkunft aufzuzeigen, sondern darum, die Strategien, die Heine erfand und anwandte, um sie diesem ideologischen Gefängnis, dem kolonialen Diskurs seiner Zeit, entgegen zu setzen, zu veranschaulichen. Das Sprechen Heines bildet so den Schwerpunkt der Argumentation dieses Beitrags, in dem Heine als „kompromissloser Freiheitskämpfer Europas, von denen es gerade in Deutschland so verzweifelt wenige gegeben hat,“7 begriffen wird. Der Beitrag will anhand Heines Lyrik zeigen, wie der Dichter das Wahrheitsnetz der Diskurse über Sprache, Geschichte, (nationale) Identität sprengt, indem er sich für sein Verständnis dieser Begriffe, für seine Sprache, Raum schafft. Dadurch leistet Heine nicht nur Widerstand, sondern transformiert den ihn ablehnenden gesellschaftspolitischen Raum nachhaltig. Seine Macht dabei ist die Virtuosität seiner Sprache, mit der er zurück schreibt8, und die ihm deswegen der kolo auch immer wieder betont, sollte vielleicht noch mehr ins Zentrum der Forderungen gerückt werden als der paralysierende Fingerzeig auf deren Hilflosigkeit. Außerdem bleibt meines Erachtens die Anwendung der Bezeichnung auf Gruppen kontextuell abhängig und sollte nicht deterministisch vorherbestimmt werden, da ja postkoloniale Kritik eben keine Urheberrechte bezüglich Begriffsdefinitionen verleihen und sanktionierte Begriffe und (Denk‑)Verbote enthalten will – das könnte womöglich in eine sanctioned arrogance münden; viel wichtiger ist es aber sicher, die Kritik, Offenlegung und Aushöhlung kapitalistischer Arbeitsteilung und -ausbeutung, die auch von Deutschland aus ausgeht, zu einem wichtigen Thema postkolonialer Kritik zu machen. Nur ist, wie die Dichterin und Aktivisten Audre Lodre feststellt und hier zitiert wird, Überleben keine akademische Fertigkeit, aber eine Denkfertigkeit, die von den Frauen „aus dem Süden“ tagtäglich ausgeübt wird und nicht von solchen für sie, die woanders sind. Das erfordert vor allem Respekt vor unterschiedlichster Handlungsmächtigkeit und Leben, nicht abermalige Viktimisierungen und Zum-Schweigenbringen durch abermalige unbenannte Repräsentationen. Siehe zur Problematik Maria do Mar Castro Varela/Nikita Dhawan, Postkoloniale Theorie – Eine kritische Einführung, S. 128 ff. 7 Hannah Arendt, Sechs Essays, Heidelberg 1948, S. 91. 8 Vgl. zum Begriff Bill Ashcroft, Post-Colonial Transformation, London/N. Y. 2001, S. 32–33. „A discourse such as imperial discourse may be so pervasive and embracing in post-colonial life that the notion of any discourse beyond it seems remote. A powerful eurocentric discourse such as literature represents itself as ‚natural‘, universal and timeless, and yet it exposes itself, by virtue of such claims, to continual resistance and contradiction. This is particularly clear in the form of counter-discourse called ‚canonical counter discourse‘ or ‚writing back‘, which operates within the discourse of literature itself. Canonical literary texts are ‚consumed‘ in such a way that they become the basis for resistance, appropriated



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niale Diskurs abzusprechen versucht. Dabei ist es unumgänglich, den historischen Hintergrund und Kontext aus dem heraus Heine schreibt, und somit die jüdische Geschichte Deutschlands, anzureißen. Hier lassen sich auch immer wieder Parallelen zur heutigen Veranderung von Menschen im deutschen Kontext feststellen, auf die exkursartig hingewiesen wird. Dadurch soll eine bis in die Gegenwart andauernde historische Verfolgbarkeit des deutschen Musters von Veranderungen angedeutet werden. Begründet wird der folgende Ansatz mit der von Said erwähnten Kartographie einer dritten Natur.9 Übertragen auf diesen Ansatz ist damit eine Annährung an historisches Geschehen gemeint, die die Mainstream-Geschichtsschreibung als eine Performanz geschichtlicher Narration sieht und, durch eine Lücke sich hindurchschmuggelnd, eine andere Perspektive auf sie wirft. In diesem Fall soll der im 19. Jahrhundert sich etablierendende Antisemitismus10 in Deutschland in Zusammenhang mit dem europäischen Imperialismus (weltgeschichtlich) gedeutet, als eine interne Kolonisierung11 Menschen jüdi versions which subtly subvert the values and political assumptions of the originals. The significance of the texts that are re-read is that they offer powerful allegories of European culture, allegories through which life in post-colonial societies has itself been ‚written‘.“ 9 Edward W. Said, Yeats and Decolonization, in: Terry Eagleton/Frederic Jameson/Edward W. Said (Hg.), Nationalism, Colonialism and Literature, Minneapolis/London 1997, S. 69–95, S. 78–79. 10 Da das Wort Antisemitismus selbst auf rassistischen Theorien begründet liegt und das Vorhandensein von Rassen impliziert, bleibt sein Gebrauch problematisch. Um eine „unkritische Übernahme des Begriffs“ zu verhindern, benutzt z. B. Julia Schäfer in ihrer Arbeit (Vermessen – gezeichnet – verlacht – Judenbilder in populären Zeitschriften 1918–1933, Frankfurt a. M./N. Y. 2005, S. 13, Anm. 2) daher auch das Wort antijüdisch. In jedem Fall sollte im Hinterkopf behalten werden, dass das Wort Antisemitismus eine im deutschen Kontext entstandene, rassistische und rassische Konstruktion darstellt und damit selbst Teil einer Veranderung ist. 11 Zum Begriff der Kolonisierung in historischer Betrachtung vgl. Jürgen Osterhammel, Kolonialismus – Geschichte, Formen, Folgen, München 42003. Osterhammel untersucht hier vor allem die geographische Expansion von Imperien und die Schaffung der verschiedensten Formen von Kolonien. Er unterscheidet aber insbesondere die moderne Kolonisation der Neuzeit. Was diesen Kolonialismus von anderen unterscheidet, ist der „Geist des Kolonialismus“. „Damit verbinden sich in der Neuzeit in der Regel sendungsideologische Rechtfertigungsdoktrinen, die auf der Überzeugung der Kolonialherren von ihrer eigenen kulturellen Höherwertigkeit beruhen.“ S.  21. Für die Betrachtung einer deutschen Kolonisierung der Juden und des Judentums plädiert auch Susannah

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scher Herkunft als Andere begriffen und die Geschichte Deutschlands von seinem Rand aus betrachtet werden. Es ist schlicht unmöglich, die Kreativität oder gar Person, den Menschen Heine, auf seine Herkunft zu reduzieren oder seine Kunst durch bestimmte, ihm „angedichtete“ Charakterzüge bestimmen zu wollen. Worauf hier allerdings Bezug genommen wird, ist die Ursache der Andersbehandlung Heines, seine Verfremdung, die mit seiner Herkunft begründet wurde und wird, und die Heine nicht akzeptierte, sondern verspottete. Er platzierte sich vielmehr eigenständig in ein Außen, von wo aus er die Welt beobachtete und beschrieb. Dabei kann über Heines Person und Texte genau das ausgesagt werden, was Markus Schmitz bezüglich Said feststellt, beide scheinen – im wortwörtlichen Sinne des Wortes – Out of Place in/into/from the center: In transkultureller Perspektive erscheint Saids Kritik als Teil eines komplexen Gebildes konkurrierender, aber dennoch interdependenter Diskurssituationen. Es war ihm möglich, sich gleichzeitig in häufig einander verschlossenen Debatten einzubringen, ohne sich endgültig in einer Einheit diskursiver Formationen zu assimilieren. Diese Bewegung ist Quelle zahlreicher Widersprüche, eröffnet aber auch Räume für neue kritische Unternehmungen. Saids Kritik hilft, westliche Selbstverständlichkeiten mit nicht-westlichen Fragen zu konfrontieren, wirkt aber auch in umgekehrter Richtung. Ein statisches interpolares Bezugssystem bietet sie freilich nicht. Sie behauptet, über keinen festen Ort zu verfügen und beansprucht unabhängig von ihrem konkreten Adressaten die Position eines gewissen Außen. Anstatt diesen Nicht-Ort der Differenz selbst darzustellen, will sie die Ambivalenz jener Auffassungen repräsentieren, die feste kulturelle Verortungen behaupten.12

Heine scheint seine Differenz im Sinne einer Verschiebung (différance),13 statt différence  = Unterscheidung) zu gebrauchen, wie Derrida sie Heschel in ihrem überaus anregenden Artikel Revolt of the Colonized: Abraham Geiger’s Wissenschaft des Judentums as a Challenge to Christian Hegemony in the Academy, in: New German Critique 1999/77, S. 61–86. 12 Markus Schmitz, Edward Saids Andere Leserschaft – Das Arabische Andere als Leserschaft, in: Die Welt des Islam – International Journal for the Study of Modern Islam, 45/3 (2005), S.  343–369, S.  366. Siehe auch ders., Kulturkritik ohne Zentrum – Edward W. Said und die Kontrapunkte kritischer Dekolonisation, Bielefeld 2008. 13 Jacques Derrida leitete vom französischen Wort différer, das sowohl unterschiedlich sein als auch verschieben, aufschieben bedeuten kann, parallel zu dem Substantiv 〈différence〉 (Unterschied), den homophonen Neologismus 〈différance〉 im Sinne einer Verschiebung oder Aufgehobensein (von Bedeutungen) ab. Damit



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benutzt und Hall sie interpretiert hat. Dieses Verständnis zwingt dazu, „die Spannung zwischen dem auszuhalten, was zugleich platziert und dennoch – durch das Wort, das sich immer zwischen Positionen hin und her bewegt – nicht an seinem Platz festgeschrieben ist“. Sie zwingt uns „Positionierung und Bewegung gleichzeitig, zusammen, nicht eine nach der andren zu denken, nicht mit der Differenz oder der Identität ‚für eine Nacht‘ nur zu spielen, sondern in der Spannung von Identität und Differenz zu leben.“14 Aber es ist vor allem Heine, der auch diesen „Nicht-Ort der Differenz“ sehr wohl darstellt. Während Said als engagierter Wissenschaftler und Aktivist mit seiner Autobiographie Out of Place15 den konkretesten Versuch unternimmt, seinen Ort sichtbar zu machen, enthält ein Großteil der Liebeslyrik des Dichters und Philosophen Heine die Stimme dieses Nicht-Orts als Ort des Verlusts, des Unaussprechbaren, als eines in sich verschlungenen Ich-Orts der eigenen Begegnung und der eigenen Benennung. Was Klaus Briegleb für Heines Geschichtsverständnis und -kritik feststellt, gilt auch für seinen N-ich-t Ort: „Ich erkenne mich im Fremden, im Nicht-Ich; bis in die Höhe des absoluten Geschichtsprinzips reicht mein ihm ausgesetztes Sein, aber ich gebe dieses Ausgesetztsein nicht ab, weder an die Idee oder an ihre Verwirklichung im Vergänglichen, den sittlichen Staat, noch an ein Du, ein Wir, eine Partei. Ich allein verantworte mein Ausgesetztsein: Ich setze mich aus, dem absoluten Anderen in der Geschichte. Es ist mir in jeder Beziehung begegnet. Ich kenne es, ich spiele es, ich bin der Dämon Gottes. Ich bin Ich. Das absolute Andere ist in Liebe und Haß. ‚Ich habe die süße Liebe gesucht, und hab den bitteren Haß gefunden.‘“16

Lebens-Willen aus dieser Be-klemmung findet das lyrische Ich, das sich aus dem Zentrum von Be-deutungen der Sprache dermaßen verrückt sieht, im Inneren, in der Subjektivität seiner Philosophie17 und behauptet er die Instabilität und Flüchtigkeit von Bedeutungen, die fortwährend erst durch den Unterschied zu anderen Bedeutungen entstehen und sich immer wieder von neuem nur kurzzeitig bestimmen lassen können. Vgl. Definition bei Derrida, Peter Engelmann (Hg.), Postmoderne und Dekonstruktion – Texte französischer Philosophen der Gegenwart, Stuttgart 1990, S. 76–113. 14 Stuart Hall, Rassismus und kulturelle Identität, Hamburg 1994, S. 76. 15 Edward W. Said, Out of Place – A Memoir, London 1999. 16 Klaus Briegleb, Abgesang auf die Geschichte? Heines jüdisch-poetische Hegelrezeption (1991), in: Christian Liedtke (Hg.), Heinrich Heine – Neue Wege der Forschung, Darmstadt 2000, S. 163–180, S. 171. 17 Marc Rölli/Tim Trzaskalik, Heinrich Heine und die Philosophie – Vier Beiträge zur Popularität des Denkens, Wien 2007.

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der Begegnung mit sich selbst – des Empowerments, der Erweiterung und damit der Transformation dieser Sprache um Raum und Zeit eines Marginalisierten:18 Aber bei all ihrem Protegieren, Hätte ich können vor Hunger krepieren, Wär nicht gekommen ein braver Mann, Wacker nahm er sich meiner an. Braver Mann! Er schafft mir zu essen! Will es ihm nie und nimmer vergessen! Schade, daß ich ihn nicht küssen kann! Denn ich bin selbst dieser brave Mann. […] Mir träumt’: Ich bin der liebe Gott, Und sitz im Himmel droben, Und Englein sitzen um mich her, Die meine Verse loben. […] Doch Langeweile plagt mich sehr, Ich wollt, ich wär auf Erden, Und wär ich nicht der liebe Gott, Ich könnt des Teufels werden.

Was gleichzeitig nicht aufgelöst ist und auch in diesem Text im Hinterkopf behalten werden muss, ist, dass „die unübersehbare Privilegierung des in der westlichen Metropole ansässigen Gegen-Diskurses eine freie Artikulation kultureller Differenz ohne eurozentrische Hierarchisierung“ erschwert19 oder ersetzt, vielleicht unmöglich macht.

Die Veranderung jüdischer Deutscher „[O]rientalism has always been not only about the Muslims but also about the Jews. We believe that the Western image of the Muslim Orient has been formed, and continues to be formed in inextricable conjunction with Western perceptions of the Jewish people.“20 18 Heinrich Heine, Werke und Briefe in zehn Bänden, hg. v. Hans Kaufmann, Bd. I, Berlin 1961, S. 136–137. Im Folgenden ist stets diese Ausgabe seiner Werke zitiert. 19 Markus Schmitz, Edward Saids Andere Leserschaft, S. 366. 20 Ivan Davidson Kalmar/Derek J. Penslar, Orientalism and the Jews: An Introduction, in: Dies. (Hg.), Orientalsim and the Jews, Hanover/London 2005, S. xiii.



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Der Ansatz des zitierten Bandes dürfte nicht nur für die jüdische Geschichtsschreibung und die Antisemitismusforschung von besonderem Interesse sein; sie ist es auch bezüglich der Übertragung postkolonialer Theorien auf den deutschen Kontext und die heutige Ausgrenzung des Anderen in Deutschland. Die Juden stellten in Deutschland insbesondere seit dem Mittelalter die Anderen dar. Sie wurden zu Fremden und marginalisierten Ausländern21 im eigenen Land – eine Entwicklung, die sich mit der Blüte der Rassismustheorien und des Kolonialismus im 18. und 19. Jahrhundert immer mehr zuspitzte. Sprachlich fand/findet sie in ausschließenden Wörtern Ausdruck, die die Zugehörigkeit negier(t)en und auf einen vorübergehenden Status verweisen: Ein Gastvolk22 wurde geboren – eine heutige Entsprechung dieser sprachlichen Ausgrenzung findet sich in dem Wort Gastarbeiter. So ist die Exklusion bis dato in der deutschen Repräsentation des Anderen sichtbar, wobei das Muster des Ausschlusses des Anderen in der Moderne auf subtile Weise auf alle Ausländer ausgeweitet wurde, als deren Prototyp nun die Türken gelten. Insbesondere die wissenschaftlich untermauerte Orientalisierung alles Jüdischen fand zeitgleich mit der Etablierung eines erdachten Orients, des Orientalismus, statt.23 Vor dem Hintergrund des obigen 21 Der Jude wurde zunächst als Ausländer in Deutschland markiert. Wagner schrieb: „Der Jude spricht die Sprache der Nation, unter welcher er … lebt, aber spricht sie immer als Ausländer … in dieser Sprache kann der Jude nur nachsprechen, nachkünsteln, nicht wirklich reden, dichten oder Kunstwerke schaffen.“ Richard Wagner, Das Judentum in der Musik, Leipzig 1869, S.  14, zitiert nach Paul Peters, Die Wunde Heine – Zur Geschichte des Heine-Bildes in Deutschland, 2. Aufl., Bodenheim 1997. Nach Peters schafft Wagner hier kein neues Bild, sondern „zitiert nur den ‚subkulturellen‘ Archetyp vom ‚Juden‘ und führt ihn in den gehobenen Diskurs ein.“ S. 209, Anm. 34. Siehe zum selbstverständlichen Gebrauch des Ausdrucks für Juden außerdem Ruth Klüger, Zwickmühle oder Symbiose – War Heinrich Heine ein Geisteswissenschaftler?, Heidelberg 2002, S. 16. 22 Während das Wort Gastvolk in Kluges Ethymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache (bearb. v. Elmar Seebold, 24. durchges. u. erweit. Auflage, Berlin/N. Y. 2002) fehlt, wird das Wort in Lutz Mackensens Deutsches Wörterbuch (12. völlig neu bearb. u. stark erweit. Auflage, München 1986) als eingewanderter Stamm definiert. Im Brockhaus Wahrig – Deutsches Wörterbuch (hg. v. Gerhard Wahrig/Hildegard Krämer/Harald Zimmermann, Stuttgart 1981) wird der Begriff als ethnische Minderheit, die unter dem Patronat eines großen Volkes lebt, umschrieben. 23 Nach Hess gab es im Deutschland des 19. Jahrhunderts zwei Orientalismen, einen, der sich Juden zum Inhalt gemacht hatte und einen, der Muslime „behandelte“. (Jonathan M. Hess, Germans, Jews and the Claims of Modernity,

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Zitats ist es auch tatsächlich erstaunlich, dass die ersten Gewaltwellen gegen Juden mit dem Krieg der Kreuzritter 1096 begannen, die loszogen, um Jerusalem zu befreien – aber zuerst die Fremden im eigenen Land ausmerzen wollten. Das dualistische Identifizierungsmuster des Eigenen und des Fremden mag im europäischen/deutschen Raum christlich-religiös begründet gewesen sein, im „Zeitalter der Aufklärung“ basierte es darüber hinaus auf der deutsch-nationalen Identitätsbestimmung, die sich über die christliche Religion und die deutsche Sprache zu manifestierten suchte.24 Bei dieser Identitätsfindung wurden die Juden in Deutschland immer mehr als Fremde par excellance definiert, eine Tradition25 die zunächst religiös begründet wurde. „Die Juden waren […] in gewisser Weise für die Legitimierung des Christentums notwendig, da sie die Wahrheit des Alten Testaments, als dessen Hüter sie galten, bewiesen […] in denen für die Christen ja die Erfüllung der alttestamentlichen Prophezeiungen beurkundet ist.“

Andererseits stellten sie „einen lebendigen Widerspruch zu den zentralen christlichen Glaubenswahrheiten dar.“26 Die Existenz der Juden New Haven 2002, zitiert nach Ivan Davidson Kalmar/Derek J. Penslar (Hg.), Orientalism and the Jews, Hanover/London 2005, S. xvi. „The missing link“, die Gemeinsamkeit, zwischen diesen beiden Orientalismen sehen Kalmar und Penslar in der westlich-christlichen Religion begründet (vgl. S. xxi). 24 Siehe dazu Lutz Hoffmann, Der Antisemitismus als Baugerüst der deutschen Nation – Geschichte und Wirkungsweise des Vernichtungswahns, in: Arbeitskreis Kritik des deutschen Antisemitismus (Hg.), Antisemitismus – die deutsche Normalität – Geschichte und Wirkungsweise des Vernichtungswahns, Freiburg i. Br. 2001, S. 43–58; Hoffmann stellt unter anderem dar, wie deutsche Juden als Gefahr dargestellt wurden und in dieser Rolle im Sinne einer nationalen Ausgrenzung instrumentalisiert wurden (S.  55); er weist darauf hin, dass es heute ähnliche Tendenzen in Bezug auf die Darstellung der Muslime gibt (S.  55, Anm.  19). Auf die Zentralität der deutschen Sprache für die Nationwerdung und der Ausgrenzung Heines weist nachdrücklich auch Peters in seiner literaturhistorischen Analyse der Heine-Rezeption in Deutschland hin; vgl. Paul Peters, Die Wunde Heine, S. 59 ff. 25 Nach Hall werden Traditionen auch erschaffen, um eine gewisse Ursprünglichkeit, Reinheit und Kontinuität in der (nationalen) Narration von Geschichte zu erzielen; gerade auch dualistische, negative, ausschließende Erzählungen (über den Anderen) dienen der Festschreibung der eigenen Identität – und erhalten auf diese Weise eine eigene Tradition im Rahmen dieser Erzählungen. Die Anderen wiederum bekommen so im Regimediskurs ihren Platz zugewiesen. Vgl. Stuart Hall, Rassismus, S. 38–39 ff. 26 Anna-Ruth Löwenbrück, Judenfeindschaft im Zeitalter der Aufklärung – Eine Studie zur Vorgeschichte des modernen Antisemitismus am Beispiel des Göttin-



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bedeutete daher „eine fortwährende Provokation, eine unablässige Infragestellung der eigenen Wahrheit“.27 Das Entscheidende aber ist, dass die stereotypen Bilder, die Ausdruck des Machtverhältnisses zwischen dem Eigenen und Fremden sind, sich rechtlich niederschlugen, erst Fremde schufen und festschrieben und über ihr Leben existentiell bestimmten. Das IV. Laterankonzil (1215) schloss Juden aus allen öffentlichen Ämtern aus und erlegte ihnen eine Kleiderordnung auf, die sie eben als Juden kennzeichnen sollte. Eine nochmalige Entrechtung trat mit dem Schutzstatus über Juden 1236 unter Kaiser Friedrich II. ein. „Dieser sollte den Juden einerseits zwar den kaiserlichen Schutz garantieren, doch bedeutete er im Grunde nur die ‚gesetzliche‘ Festschreibung ihrer Rechtlosigkeit“, denn fortan bestimmte der Kaiser „gegen Entgeld“, ob er Juden in seinen Schutz aufnehmen wollte oder nicht.28 Dieses ius recipiendi judaeos ging in die Hände der Landesherren über, die es nach eigenen Interessen und Bedarf änderten. Noch eine weitere Verschiebung fand statt, die das Stereotyp über den Juden bis in die heutige Zeit bestimmt. Durch die kirchlichen Reformbewegungen im 11. Jahrhundert, die eine starke Frömmigkeit predigten, wurden den Klöstern, bis dahin die Hauptkreditgeber, diese Tätigkeit verboten. Dafür wurden nun (wohlhabende) Juden in die Pflicht genommen, die ohnehin keine Wahl hatten, da sie aus sämtlichen „ehrbaren“ Berufen ausgeschlossen waren, ebenso aus den Zünften und die durch die Herausbildung eines christlichen Kaufmannsstands in einem ihnen noch verbliebenen Traditionsgewerbe, dem Mittelmeerhandel, um ihre Existenz fürchten mussten.29 Diese Entwicklung führte abermals zu Feindseligkeiten gegenüber Juden und gipfelte in Pogromen der Jahre 1348/49. In den nächsten Jahrhunderten setzte dann ein an Gewalt reicher Kreislauf ein, in dem Menschen jüdischer Herkunft zwischen Vertreibung, Verbannung, Migration und Wiedereingliederung – die allerdings gegen ein immer höher werdendes Schutzgeld nur wenigen möglich war – leben mussten.30 Die Aufnahme von Juden wurde dann relevant, der „Schutz“ ger Theologen und Orientalisten Johann David Michaelis (1717–1791), Frankfurt a. M. u. a. 1995, S. 22–23. 27 Ibid., S. 23. 28 Ibid., S. 26–27. 29 Ibid., S. 27–28. 30 Ein guter und übersichtlicher Einblick in diese historischen Ereignisse sowie wichtige Literaturverweise dazu finden sich in Anna-Ruth Löwenbrück, Judenfeindschaft im Zeitalter der Aufklärung, S.  21–59; vgl. außerdem Jacob Katz, Tradition und Krise – Der Weg der jüdischen Gesellschaft in die Moderne,

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wurde ihnen dann „gewährt“, wenn sie gebraucht wurden; sie wurden als Waren funktionalisiert. Auch dieses Handhaben des Anderen lässt Parallelen in der heutigen deutschen Migrationspolitik erkennen. So stellt Ha in Bezug auf das moderne Nachkriegsanwerben von ArbeitsmigrantInnen in die BRD fest: „Durch Festlegung und Reduzierung auf ihre Funktion als flexible industrielle Reservearmee wurden diese Menschen ihrem Wesen nach entmenschlicht.“ Auch hier gab es einen „Selektionsprozess“. War es früher das materielle Vermögen, das für die Aufnahme ausschlaggebend war, so mussten MigrantInnen nun eine medizinische Untersuchung über sich ergehen lassen, ihr körperliches Vermögen vorzeigen, um einreisen zu können.31 Aber auch neue Konzepte der „Zuwanderungssteuerung“ haben ihren Ausgangspunkt in den deutschnationalen Eigeninteressen. „Sie strukturieren eine restriktive Politik, die auf einer flexiblen und zielgruppenorientierten Politik der Abweisung und Zulassung basiert.“32 Integration und Ausschluss sind daher zwei Enden des selben dominanten gesellschaftlichen Systems und Markierungen des Rassismus darin. Dieser Rassismus „begründet Differenz und vermittelt den Zusammenhalt der Ungleichen [mit den Gleichen] in einem.“33 Die antagonistischen Ideen der Aufklärung vermochten nicht diesen Kreislauf zu durchbrechen und Menschen als gleichwertige und -berechtigte Wesen zu begreifen.

Das 19. Jahrhundert und die antisemitische Festgestelltheit des Nichteuropäischen „Es ist wie ein Wunder! Tausend Male habe ich es erfahren, und doch bleibt es mir ewig neu. Die einen werfen mir vor, dass ich ein Jude bin, die anderen verzeihen mir es, der dritte lobt mich gar dafür, aber alle denken daran. Sie sind wie gebannt in diesem magischen Judenkreise, es kann keiner hinaus.“34 München 2002; das 1958 erstmals auf hebräisch erschienene Werk liegt erst seit 2002 auf deutsch vor. 31 Kien Nghi Ha, Ethnizität und Migration Reloaded, S. 27–29. 32 Kien Nghi Ha, Hype um Hybridität – Kultureller Differenzkonsum und postmoderne Verwertungstechniken im Spätkapitalismus, Bielefeld 2005, S. 101. 33 Wulf D. Hund, Rassismus im Kontext, S. 17–40, S. 25. Vgl. zum Thema einführend auch ders., Rassismus, Bielefeld 2007. 34 Ludwig Börne, Briefe aus Paris, hg. v. Alfred Estermann, 74. Brief, Frankfurt a. M. 1986, S. 449–450.



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Obwohl das 18. Jahrhundert erste Bemühungen um eine Reform jüdischer Lebensverhältnisse in den Diskursen einer intellektuellen Schicht sichtbar werden lässt und es im 19. Jahrhundert einige politische Erfolge gab, so dass es überhaupt zu einer gesellschaftlichen Berührungsebene zwischen deutschen christlichen und jüdischen Intellektuellen kam, waren die gängigen Stereotype und die negative Besetzung des Wortes Jude nach wie vor gegeben. Durch den Glauben an die Vernunft wurden viele vormals religiöse Rassismen sogar nicht nur weitergetragen, sondern auch rationalisiert und „wissenschaftlich“ untermauert. Viele jüdischstämmige Intellektuelle sahen schließlich nur in der Taufe eine Lösung, die Heine in seinem berühmten Satz als das Entreebillet zur europäischen Kultur charakterisierte.35 35 Obwohl es an Literatur nicht mangelt, ist der Rassismus gegenüber Juden in Deutschland im Zeitalter der Aufklärung noch immer nicht hinreichend untersucht. Hierauf weist bereits Anna-Ruth Löwenbrück in ihrer Arbeit, Judenfeindschaft im Zeitalter der Aufklärung, hin. Vgl. S.  72 ff. Es gibt allerdings erste, vereinzelte Versuche diese vielsagende Lücke der europäischen Geistesgeschichte zu füllen, wie z. B. der Band Horst Gronke/Thomas Meyer/Barbara Neißer (Hg.), Antisemitismus bei Kant und anderen Denkern der Aufklärung – Prämierte Schriften des wissenschaftlichen Preisausschreibens „Antisemitische und antijudaistische Motive bei Denkern der Aufklärung“, Würzburg 2001, zeigt. Gerade auch an neueren Werken, die sich mit dem Antisemitismus bei deutschen Denkern dieser Epoche beschäftigen, lässt sich aber auch feststellen, wie sehr ein kritischer Umgang mit dem Zeitalter der Aufklärung tabuisiert ist und was für ein hoher Stellenwert und bestimmende Autorität diesem „Zeitalter“ in den wissenschaftlichen Diskursen noch zugesprochen wird. Vgl. z. B. Gudrun Hentges, Schattenseiten der Aufklärung – Die Darstellung von Juden und „Wilden“ in philosophischen Schriften des 18. und 19. Jahrhunderts, Schwalbach/Ts. 1999; hier wird, wie im Titel (Schattenseiten der Aufklärung) bereits deutlich wird, der eher zaghafte Versuch unternommen, europäisch-philosophisches Denken aus einer kritischen Perspektive zu betrachten. Klaus L. Berghahn, Grenzen der Toleranz – Juden und Christen im Zeitalter der Aufklärung, Köln u. a. 2000, S. 206; im Bemühen, möglichst „objektiv“ bleiben zu wollen, entsteht der Eindruck, dass der offensichtliche Rassismus, beispielsweise in Kants Schriften und Denken, mit dem System seiner gesamten Philosophie glatt gebügelt wird, wobei die naive Argumentation, Kant habe jüdische Freunde und Schüler gehabt, auf die auch hier noch rekurriert wird, alles andere als überzeugt – da es ja gerade um die Offenlegung dieses zeitlichen, ideengeschichtlichen Kontexts und den Ambivalenzen und Konstruiertheiten rassistischen Gedankenguts darin wie auch in der Philosophie Kants, die selbst in einer bestimmten Tradition steht, geht – oder gehen sollte. In ähnlicher Weise, Kants Texte etwa müssten philosophisch gelesen werden (?), argumentiert Micha Brumlik, Deutscher Geist und Judenhaß – Das Verhältnis des philosophischen Idealismus zum

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„Beschäftigt man sich mit der Geschichte der Judenemanzipation […], dann wird man entdecken, dass sie zu dem Phänomen der Judenfeindschaft in einem ganz besonderen Verhältnis steht. Je lauter nämlich die Forderung nach völliger rechtlicher, politischer und sozialer Gleichstellung der Juden wurde, desto lauter wurden auch die Gegenstimmen, die die Durchsetzung der Reform mit aller Gewalt zu vereiteln suchten.“36

Jüdische Deutsche waren insbesondere ab dem 18. Jahrhundert und der Verwissenschaftlichung rassistischen Gedankenguts, also just auf dem Höhepunkt des imperialistischen Denkens und Werdens Europas, die erste Zielscheibe systematischer, rationalisierter Ausgrenzung, einer deutschen Veranderung37 und wichtige Orientalisten der Zeit waren daran beteiligt. Der Theologe und Orientalist Johann Andreas Eisenmenger (1654–1704) etwa brachte in seinem Werk Entdecktes Judenthum sämtliche „christenfeindliche“ Aussagen aus dem Talmud und anderen jüdischen Schriften zusammen, systematisierte sie und verlieh ihnen auf diese Weise Wissenschaftlichkeit, wodurch sein Werk besondere Legitimität erfuhr und bis ins 19. Jahrhundert dem Antisemitismus „als Arsenal“ diente.38 Noch deutlicher wird die machtvolle Rolle von Orientalisten beim Ausgrenzen von Menschen jüdischer Herkunft und der Standardisierung von Rassismen im Doppelspiel von Wissen und Politik in der Arbeit des Göttinger Theologen und Orientalisten Johann David Michaelis (1717–1791).39 Auch in diesem Fall ist es augenfällig, dass Michaelis als Orientalist, als besonderer Kenner und Sachverständiger alles Jüdischen angesehen wurde. Diese Judentum, München 2000, S. 27 ff. Problematisch ist auch, dass beide Autoren weder den Begriff noch die Idee des Rassismus thematisieren. 36 Anna-Ruth Löwenbrück, Judenfeindschaft im Zeitalter der Aufklärung, S. 74. 37 Vgl. zur Wissenschaftlichkeit des Rassismus Robert C. Young, Colonial Desire – Hybridity in Theory, Culture and Race, London, N. Y. 1995, S. 92 ff. Young zeigt, wie verwissenschaftlichte rassistische Theorien sich zu einer „cultural ideology of race“ entwickelten. Im Gefolge dieser Entwicklung wird die „weiße Rasse“ zur überlegenen erklärt, und im Namen der „Zivilisierung“ der anderen sämtliche imperiale Ideen gerechtfertigt. 38 Anna-Ruth Löwenbrück, Judenfeindschaft im Zeitalter der Aufklärung, S. 71 ff. Siehe außerdem Jacob Katz, Vom Vorurteil bis zur Vernichtung – Der Antisemitismus 1700–1933, München 1989, S. 21 ff. 39 Vgl. zu Michaelis außerdem Jonathan M. Hess, Johann David Michaelis and the Colonial Imaginary – Orientalism and the Emergence of Racial Antisemitism in Eighteenth-Century Germany, in: Jewish Social Studies 6/2 (2000), S. 56–101. Achim Rode weist in seinem Artikel, Der Innere Orient, darauf hin, dass Michaelis an der Göttinger Universität, an der er einen Lehrstuhl für Orientalistik inne hatte, „offenbar bis heute in hohem Ansehen“ steht (S. 387).



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Autorität konnte er nutzen, um seinen rassistischen Ansichten Juden gegenüber politische Geltung zu verschaffen. So nahm er in einer Abhandlung zur Schrift Christian W. von Dohms „Über die bürgerliche Verbesserung der Lebensbedingungen der Juden“ Stellung. Dieses Buch stellte das erste öffentlich in Deutschland diskutierte Werk zur politischen Situation von Menschen jüdischer Herkunft dar und war heftig umkämpft.40 Dabei war der Begriff „Verbesserung“ durchaus euphemistisch zu verstehen, denn er stand für das auch von Dohm vertretene rassistische Bild, wonach Juden aufgrund ihrer durch die Jahrhunderte lange Unterdrückung entstandene „Verderbtheit“ zunächst einmal in einigen Generationen „umerzogen“ werden müssten, bevor sie „brauchbare“ Bürger abgaben.41 Hier wird auch deutlich, dass die Vorstellung von einer für überlegen und besonders fortgeschritten gehaltenen „weißen Rasse“ auch in Deutschland bereits fester Bestandteil sämtlicher Diskursformationen war. Michaelis brachte nun auf Grund seiner „Sachkenntnis“ in seiner Beurtheilung42 sämtliche rationalisierten rassistischen Argumente gegen die Gleichberechtigung von Juden zusammen. Dadurch trug er auf Grund seiner Autorität als Orientalist und Wissenschaftler wesentlich dazu bei, dass aus dem religiös begründeten Rassismus gegenüber Juden nun ein politischer Antisemitismus erwachsen konnte.43 Das 18. und insbesondere 19. Jahrhundert wird aber auch von Stimmen aus den Rändern der deutschen Gesellschaft, von jüdischstämmigen Intellektuellen gefüllt, die die Ideen der Aufklärung ernst nehmen und für gesellschaftspolitische Verbesserungen kämpfen.44 Gleichzeitig und paradoxerweise münden ihre Beiträge oftmals in Gegendiskurse, da sie auch Antisemitismen, die nun wissenschaftlich verkleidet werden, entgegen treten müssen. Als einer der wichtigsten Intellektuellen, Dichter und Philosophen dieser Zeit gilt inzwischen H.45 Heine (1797– 40 Zu Widerstand und Kampf der jüdischen Minderheit siehe Jacob Katz, Vom Vorurteil bis zur Vernichtung, S. 174 ff. 41 Anna-Ruth Löwenbrück, Judenfeindschaft im Zeitalter der Aufklärung, S. 18–19 und S. 151 ff. 42 Beurtheilung der Mittel, welche man anwendet, die ausgestorbene hebräische Sprache zu verstehen, Göttingen 1757. 43 Anna-Ruth Löwenbrück, Judenfeindschaft im Zeitalter der Aufklärung, S. 18–19 und S. 151 ff. 44 Vgl. hierzu Jacob Katz, Vom Vorurteil bis zur Vernichtung, S. 174 ff. 45 Erst mit der Taufe (1825) wurde aus dem Geburtsnamen Harry, Heinrich. Beide Vornamen waren für Heine mit ambivalenten Bedeutungen belegt, während er den in Frankreich für ihn sich durchsetzenden Namen Henri wertfreier, „ledig-

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1856). Ihm entging der Rassismus gegenüber Juden nicht. Früh zeigte er sich von deutschtümelnden, rassistischen Nationalismen angewidert und distanzierte sich scharf davon.46 Dies mag ein ganz zentraler Grund dafür sein, warum Heine sich auf einen Ort des Außens begab, da er sich im christlich-deutsch definierten Geschichtsbild und der Philosophie, tradiertem Wissen und neuen lich“ als „einen Vornamen“, empfand. Seine Schriften publizierte er daher unter dem Namen H. Heine; als seine Börne-Denkschrift 1840 unter dem vollen Namen erschien, war ihm das alles andere als recht. Siehe zur (Vor‑)‌Namensproblematik Heines Jost Hermand, Mehr als ein Liberaler – Über Heinrich Heine, 2. erweit. Auflage, Frankfurt a. M./Berlin u. a. 1993, S. 169–182, S. 169 f. 46 Das bezeugen mehrere Briefstellen an seinen Freund Moser, die später gern angeführt wurden, um seine angeblich anti-deutsche Haltung zu beweisen. So schreibt er in einem Brief vom 21. 1. 1824 (Werke und Briefe, Bd. 8, S. 131; siehe auch den Brief vom 23. 8. 1823, S. 105) an Moser „Eigentlich bin ich auch kein Deutscher, wie du wohl weißt (vide Rühs, Fries an mehreren Orten). Ich würde mir auch nichts darauf einbilden, wenn ich ein Deutscher wäre. O ce sont des barbares!“ Allerdings spricht Heine diese Sätze in einem bestimmten Kontext aus. 1816 hatte der Historiker Friedrich Rühs eine rassistische Abhandlung mit dem Titel „Über die Ansprüche der Juden an das deutsche Bürgerrecht“ geschrieben. Darin werden Juden als „geduldete“ „Metoiken“ bezeichnet, ein Fremdwort für „ortsansässige Fremde“, welche „unschädlich„ gemacht werden müssten; das Wort diente wohl dazu, seiner rassistischen Gesinnung einen wissenschaftlichen Anstrich zu verleihen. Das Buch wurde von dem Philosophen Jakob Fries rezensiert; die Rezension wie spätere Behauptungen des Philosophen fielen nicht weniger rassistisch aus. In einem späteren Aufsatz schreibt dieser, dass Rabbiner „einem Examen von Christen unterworfen werden, und ehe sie eine Lehrstelle antreten, genöthigt seyn, öffentlich zu erklären, dass sie den Infamien des Talmuds nicht anhängen, sondern eine vernünftige Moral der Vaterlandsliebe und der allgemeinen Menschenliebe lehren wollen.“ Zu diesem Eintrag vgl. Ruth Klüger, Zwickmühle oder Symbiose, S. 3–4. Vgl. außerdem Gerald Hubmann, Völkischer Nationalismus und Antisemitismus im frühen 19. Jahrhundert – Die Schriften von Rühs und Fries zur Judenfrage, in: Renate Heuer/Ralph-Rainer Wuthenow (Hg.), Antisemitismus – Zionismus – Antizionismus 1850–1940, Frankfurt a. M./N. Y. 1997, S. 10–34. Auf grausame Art werden hier Parallelen in der heutigen deutschen Migrationsund Einwanderungspolitik gegenüber Muslimen sichtbar. Der baden-württembergische und hessische Fragebogen zur Einbürgerung von Menschen nichteuropäischer Herkunft dürfte die zeitgenössische Variante derselben Forderung sein. Dass dies möglich ist, dürfte daran liegen, dass Formen des Rassismus deutscher Prägung akademisch kaum reflektiert und aufgearbeitet worden sind; gängiges Wort für Rassismus bleibt in Deutschland immer noch der normalisierende Ausdruck «Fremdenfeindlichkeit», welcher sowohl Fremde voraussetzt wie die «Feindlichkeit» «ihnen» gegenüber für plausibel hält; der Ausdruck entnennt, wer von wem aus gesehen und aufgrund welcher Eigenschaft für fremd gehalten wird/gehalten werden kann und angefeindet wird/werden darf.



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Diskursen nicht wiederfand.47 Was er sehr früh bereits versuchte, ist, sich mit seinen Texten in die Sprache, Geschichte und Literatur einzuschreiben und sie zu überschreiben und gleichzeitig die gesellschaftspolitischen Realitäten von diesem Außen aus engagiert und kritischphilosophisch zu analysieren. Das Deutsche umfasste für ihn auch ein jüdisches, diasporisches Deutschsein mit seiner Tragik und seinem Schmerz, aber auch seiner Geschichte und Literatur, die ausgeblendet blieb. Er kämpfte für ein Deutschland, das die Rechte aller Menschen zu achten und zu wahren wusste, das er aber nicht entstehen sah. Im Vorwort zum Gedicht Deutschland. Ein Wintermärchen etwa schreibt Heine, insbesondere jene Pharisäer der Nationalität ansprechend:48 Ich höre schon ihre Bierstimmen: „Du lästerst sogar unsere Farben, Verächter des Vaterlands, Freund der Franzosen, denen du den freien Rhein abtreten willst!“ Beruhigt euch. Ich werde eure Farben achten und ehren, wenn sie es verdienen, wenn sie nicht mehr eine müßige oder knechtische Spielerei sind. Pflanzt die schwarzrotgoldene Fahne auf die Höhe des deutschen Gedankens, macht sie zur Standarte des freien Menschtums, und ich will mein bestes Herzblut für sie hingeben. Beruhigt euch, ich liebe das Vaterland ebenso sehr wie ihr. […]. Seid ruhig, ich werde den Rhein nimmermehr den Franzosen abtreten, schon aus dem ganz einfachen Grunde: weil mir der Rhein gehört. Ja, mir gehört er, durch unveräußerliches Geburtsrecht, ich bin des freien Rheins noch weit freierer Sohn, an seinem Ufer stand meine Wiege, und ich sehe gar nicht ein, warum der Rhein irgendeinem anderen gehören soll als den Landeskindern.

Er kritisierte nicht nur die etablierte Macht, sondern auch die politische Opposition und „die Massen“.49 Im kolonialen Diskurs wurde er 47 Vgl. zur Geschichtskritik Heines in diesem Sinne Klaus Briegleb, Abgesang auf die Geschichte?, S. 163–180. 48 Werke und Briefe, Bd. 1, S. 432. 49 Diese Themen durchziehen viele seiner Werke. So behandelt etwa sein Prosawerk Der Rabbi von Bachebrach die tragische jüdisch-deutsche Geschichte; die Tragödie Almansor spiegelt wiederum den Untergang der muslimischen Herrschaft in Spanien wider. Dabei schwingt im Text eine besondere Melancholie des Verlusts sowie eine Sympathie, fast Verwandtschaft, mit dem islamischen Orient mit. Auch sein Spätwerk Hebräische Melodien erzählt in drei Gedichtszyklen von einem kreativen, aktiven diasporischen Leben, indem das Neue (hybride?) fruchtbar erscheint und das Orthodoxe wiederum für Stagnation steht. Seine berühmten Gedichte über Deutschland, Atta Troll. Ein Sommernachtstraum und Deutschland. Ein Wintermärchen verspotten die Opposition und das irgendwie „trollige“ Volk auf charmant-ironische Weise und sind nicht bar einer tragischen Seite; genauso durchzieht das zweite Gedicht die Melancholie eines Exilanten, der Rassismen, politischen Kleinmut und Spießertum

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aber als jüdischer Außenseiter betrachtet. Darin zeigt sich, dass, wie Hall feststellt, die Identität eine fortwährende, niemals abgeschlossene „Produktion“ ist, die im Rahmen der Repräsentation selbst, im Rahmen von Diskursformationen und nicht außerhalb von ihnen entsteht.50 Nationale Identitäten werden durch Repräsentation erst geschaffen. „Was es heißt ‚englisch‘ zu sein“ beispielsweise „wissen wir nur dadurch, daß das ‚Englischsein‘ als eine Bedeutungskette durch die englische nationale Kultur repräsentiert wird. […] Eine Nation ist eine symbolische Gemeinschaft und dies erklärt ihre ‚Macht, ein Gefühl der Identität und der Untertanentreue zu entwickeln.‘“51 Heine stört als Dichter der deutschen Sprache jüdischer Herkunft, der auch nicht durch „Demut“ glänzt und sich vielmehr nicht nur der Selbstrepräsentation bedient, sondern darüber hinaus auch ein neues politisches Deutschlandbild zu produzieren sucht – allein dadurch, dass er sich als Jude und nach dem gängigen Verständnis damit als Orientale zu Deutschland bekennt. Dabei scheint Heine einen Bezug zu den Begriffen von Kultur und Identität entwickelt zu haben, der dem Verständnis postkolonialer TheoretikerInnen von ihnen nahe kommt und, wie zu hoffen ist, in diesem Beitrag noch deutlich werden wird: „Statt sich festzulegen,“ bezieht er die Begriffe Kultur und Identität „immer situativ aufeinander“, wobei „durch die Brille der geschichtlichen Erfahrungen“ betrachtet deutlich wird, „dass sie die handelnden Subjekte als normative Instanzen und soziale Filter überallhin begleiten.“52 Dass die ständige Verweigerung seiner Akzeptanz dennoch auch für ihn einen inneren Kampf darstellte, zeigen viele Aussprüche, die seine Verletztheit bezeugen.53 Dennoch weigert er sich seine Identität bestimmen zu lassen und schreibt sich vielmehr in den deutschen Kontext ein, der für ihn von existenzieller Bedeutung bleibt. Das französigleichermaßen ironisch benennt und dem Spott preisgibt. Ein guter Überblick zu seinen Werken findet sich in Roger F. Cook (Hg.), A Companion to the Works of Heinrich Heine, N. Y. 2002, S. 1–33. 50 Stuart Hall, Rassismus, S. 26. Zur Frage der Identität in den Cultural Studies vgl. außerdem ders., Introduction – Who Needs Identity?, in: Stuart Hall/ Paul du Gay (Hg.), Questions of Cultural Identity, London/New Delhi 1997, S. 1–17. „Though [identities] seem to invoke an origin in a historical past with which they continue to correspond, actually identities are about questions of using the resources of history, language and culture in the process of becoming rather than being“ (S. 4). 51 Stuart Hall, Rassismus, S. 200. 52 Kien Ngi Ha, Ethnizität und Migration Reloaded, S. 13. 53 Siehe Anm. 42.



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sche Angebot einer Naturalisierung lehnt Heine aus Liebe, aus Trotz, aber vor allem aus seiner Selbst- und Deutschseindefinition heraus, ab: Es war der närrische Hochmut des deutschen Dichters, der mich davon abhielt, auch nur pro forma ein Franzose zu werden. […] Auch im Gemüte des Aufgeklärtesten nistet immer ein kleines Alräunchen des alten Aberglaubens, das sich nicht ausbannen lässt; man spricht nicht gern davon, aber es treibt in den geheimsten Schlupfwinkeln unserer Seele sein unkluges Wesen. Die Ehe, welche ich mit Unserer Lieben Frau Germania, der blonden Bärenhäuterin, geführt, war nie eine glückliche gewesen. Ich erinnere mich wohl noch einiger schönen Mondscheinnächte, wo sie mich zärtlich presste an ihrem großen Busen mit den tugendhaften Zitzen – doch diese sentimentalen Nächte lassen sich zählen und gegen Morgen trat immer eine verdrießlich gähnende Kühle ein, und begann das Keifen ohne Ende. […] Ich darf noch immer zu Maßmann sagen „Wir deutsche Esel!“ Hätte ich mich in Frankreich naturalisieren lassen, würde mir Maßmann antworten können: „Nur ich bin ein deutscher Esel, du aber bist es nicht mehr!“ – und er schlüge dabei einen verhöhnenden Burzelbaum, der mir das Herz bräche. Nein, solcher Schmach habe ich mich nicht ausgesetzt. [Die Naturalisierung] geziemt sich nicht für einen deutschen Dichter, welcher die schönsten deutschen Lieder gedichtet hat. […] und der Steinmetz, der unsre letzte Schlafstätte mit einer Inschrift zu verzieren hat, soll keine Einrede zu gewärtigen haben, wenn er dort eingräbt die Worte: „Hier ruht ein deutscher Dichter.“

Darin, dass sich seine Bücher so gut verkaufen ließen, selbst in Zeiten der Zensur und seine Gedichte bereitwillig in den deutschen lyrischen Kanon aufgenommen wurden, zeigt sich verräterisch die Ambivalenz des herrschenden kolonialen Diskurses über ihn.54 So erscheint es angebracht – und längst überfällig – Heines Lyrik aus einer anderen Perspektive zu betrachten. Hannah Arendt beschreibt diese Perspektive, wenn sie in Zusammenhang mit Franz Kafka herausstellt: „Seine Genialität, ja seine spezifische Modernität war es gerade, dass sein Vorhaben nur darauf ging, ein Mensch unter Menschen, ein normales Mitglied einer menschlichen Gesellschaft zu sein. Es war nicht seine 54 Vgl. zur Rezeption der Werke Heines zu dieser Zeit George F. Peters, The Poet as Provocateur – Heinrich Heine and His Critics, N. Y. 2000, S. 13 ff.; Peters will mit dieser Arbeit eine objektive (?) Bestandsaufnahme seiner Kritik zusammengestellt wissen. Vgl. außerdem Jost Hermand, One Identitiy is Not Enough: Heine’s Legacy to Germans, Jews and Liberals, in: Peter Uwe Hohendahl/Sander L. Gilman (Hg.), Heinrich Heine and the Occident – Multiple Identities, Multiple Receptions, Lincoln/London 1991, S. 19–41.

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Schuld, dass diese Gesellschaft keine menschliche mehr war, und dass der in sie verschlagene Mensch, wenn er guten Willens war, wie eine Ausnahme, wie ein ‚Heiliger‘ – oder wie ein Irrsinniger wirken musste.“55

Diese Perspektive fordert die Erweiterung des weißen und christlichdeutschen Kanons um die jüdisch-deutsche Differenz als Norm(al) ein. Heines Texte bestätigen die Differenz kultureller Erfahrungen, die aber selbst Teil hegemonialer Konstrukte sind; sie erscheinen daher als rebellisch, weil sie dem Standardcode der Bedeutungen dieser Sprache widersprechen und sie damit in Frage stellen. Der dominante Diskurs weiß sie daher nicht einzuordnen und schließt sie aus.56 Heine sprach in einer Sprache, die von dem Raum, aus dem er sprach, nicht als seine anerkannt wurde.57 Er sprach aus der Position eines deutschen Juden nicht als ein solcher, sondern als freier Mensch, als den er sich begriff und als der er abgelehnt wurde. Damit ist gemeint, dass Heine in der ihm zugewiesenen, ihn ausschließenden rassischen Identität als Jude nicht verharrte und sie sich überstülpte. Jüdisch, deutsch, europäisch und aufklärerisch zu sein, waren für ihn vielmehr keine sich ausschließenden Gegensätze (und können auch keine sein), wie der Rassismus weis(s) machen wollte; vielmehr sind sie Teile seiner Selbst und somit gleitende Positionierungen, die davon abhingen, was er zu sagen hatte. Nicht das Jüdischsein ist somit ausschlaggebend für seine Veranderung, sondern der kolonisierende Diskurs, der es zum Problem und Kriterium des Ausschlusses erklärte, um auf diese Weise sich selbst als christlich-weißdeutsch manifestieren zu können. Früh wurde dies bereits von Hannah Arendt festgestellt, die Heines Position folgendermaßen beschrieb: „Heine hatte, wenn auch nur als ein Dichter, sich so verhalten, als ob das jüdische Volk durch die Emanzipation wirklich frei geworden wäre, als ob jene alle europäischen Emanzipationen beherrschende Bedingung, der zufolge Juden nur Menschen sein durften, wenn sie aufhörten, Juden zu sein, überhaupt nicht existierte. Darum konnte er das, was in seinem Jahrhundert bereits nur sehr wenige Menschen gekonnt haben, die Sprache eines freien Mannes sprechen und die Lieder eines natürlichen Menschen singen.“58 55 Hannah Arendt, Sechs Essays, S.  109. Vgl. zu Beiträgen jüdischer Literaturwissenschaftler über Heine Jeffrey L. Sammons, Heinrich Heine – Alternative Perspectives 1985–2005, Würzburg 2006, S. 207 ff. 56 Zur Funktion und Funktionalität postkolonialer Texte vgl. Bill Ashcroft, PostColonial Transformation, S. 62 ff. 57 Hierzu siehe Paul Peters, Die Wunde Heine, S. 59. 58 Hannah Arendt, Sechs Essays, S. 91.



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Diese Fremdbestimmung von Menschen jüdischer Herkunft schwillt in der Aufklärungszeit an, just, als Rassismustheorien sich in der Wissenschaft konsolidierten und eine Rechtfertigungsbasis für den europäischen Expansions- und Zivilisierungsdrang und den Antisemitismus boten. „In this respect, ‚racism‘ is not so much a product of the concept of race as the very reason for its existence. Without the underlying desire for hierarchical categorization implicit in racism, ‚race‘ would not exist.“59 Aus dieser Perspektive erscheint es als kein Zufall, dass der Antisemitismus im 19. Jahrhundert in Deutschland an politischem Gewicht gewann. Arendt analysiert den Rassismus zwar anders, im Rahmen der Ideologien der Gleichheit der Menschen, die paradoxerweise das späte 19. und 20. Jahrhundert mitbestimmen und nicht in der Folge der imperialen Geschichte Europas. Doch auch sie sieht in der Chance, die diese Ideologien für Menschen jüdischer Herkunft in Europa bereit hielten, gleichzeitig den Keim der Nichtakzeptanz und der Abgrenzung. Sie schreibt: Der Rassenwahn ist unter anderem auch die Reaktion dagegen, dass der Begriff der Gleichheit fordert, jedermann als meinesgleichen anzuerkennen. […] Der Prozeß der Angleichung bedeutet die Angleichung jüdischer Lebensmuster an die der Umwelt. Je weiter dieser Prozeß vorgeschritten war, desto erstaunlicher erschienen der Umwelt die Unterschiede zwischen ihr und ihren jüdischen Mitbürgern. Dies Erstaunen konnte sich in Antipathie wie in Anziehung äußern, so daß Antipathie und Anziehung, Antisemitismus und Philosemitismus die gesellschaftliche Geschichte des assimilierten Judentums bestimmten. Politisch waren beide gleichermaßen steril; die gesellschaftliche Ablehnung hat nicht die politische Bewegung gegen die Juden entfesselt, aber ihre gesellschaftlichen Beziehungen haben die Juden auch niemals gegen ihre Feinde geschützt.60

Nur eine (zeitlich bedingte?) Haaresbreite ist diese Feststellung Arendts von den Erkenntnissen postkolonialer KritikerInnen entfernt. Said legte in Orientalism diesen Lust/Unlust-Blick kolonialen Diskurses vor allem in Zusammenhang mit dem islamischen Orient offen.61 Dabei 59 Bill Ashcorft/Gareth Griffiths/Helen Teffin (Hg.), Post-Colonial Studies – The Key Concepts, London/N. Y. 2000, S. 199. 60 Hannah Arendt, Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, S. 140–141. 61 Sowohl in seinem einflussreichen Werk Orientalism als auch in späteren Stellungnahmen bezieht Said die Orientalisierung auch auf europäische Juden; der Schwerpunkt seiner Thesen bleibt aber der islamische Orient. Vgl. ders. Orientalism – Western Conceptions of the Orient, London/N. Y. u. a. 1991, S. 27–28 und Gauri Viswanathan (Hg.), Power, Politics, and Culture – Interviews with Edward W. Said, London 2004, S. 48 und 424.

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konzentrierte sich Said auf einen anderen geographischen Raum außerhalb Europas bzw. der westlichen Welt. Eine christlich-religiöse Komponente des Orientalismus entging Said womöglich tatsächlich auf Grund seiner eigenen christlichen Herkunft. Dies sei dahin gestellt.62 Es liegt aber nahe, dass die Veranderung von Menschen im diskursiven Raum der Macht eine bereits erprobte und bekannte Platzierung sein musste: Tradition hatte dieses Verfahren in der Unterscheidung der Geschlechter und der Exotisierung und Ausgliederung der Frau aus der politischen Sphäre, die zeitlich mit den Debatten der Aufklärung vervollkommnet wurde.63 Erweitert wurden sie zunächst auf die Fremden im „eigenen“ Raum, die Menschen jüdischer Herkunft. Ergänzt werden diese „Erkenntnisse“ durch den kolonialen Blick eines (hetero‑)‌sexualisierten colonial gaze, der eine moderne Maskulinität konstruiert. Dieser diente nicht in erster Linie der Demarkation zwischen dem Männlichen und dem Weiblichen – dies war bereits festgeschrieben –, sondern konstruierte den Unterschied zwischen männlicher Stärke und männlicher Schwäche.64 Die Konstruktion der modernen Maskulinität wird als ein Pfeiler der Ideologie imperialistischer (Kultur‑)Politik betrachtet. Sie ist aufs Engste verbunden mit nationalen, rassischen und darin eingebundenen kulturellen moralischen Überlegenheits-(vor‑)urteilen: Modern masculinity was elaborated not only through an increasingly stricter demarcation between the sexes but also through a systematic „unmanning“ of minorities within and foreigners without Europe. According to this model, the ideal appearance of the English male (the tall, strong, cleancut English man) specifically excluded those who were stunted, narrowchested, excitable, easily wearied, or inefficient – qualities associated with women, the lower classes, Jews […], and the colored peoples.65

So verwundert es auch nicht, dass eine Verweiblichung, eine Effiminierung jüdischer „Männlichkeit“ stattfand, die ihre Minderwertigkeit bekräftigen sollte – das exotische Schöne/Unschöne, aber auf jeden Fall Nichtfassbare anderer Art. Es ist durchaus möglich, dass diese Sicht es Heine-GegnerInnen so einfach machte, ihn als „charakterlos“ zu bezeichnen.66 62 Auf diesen Punkt weisen Ivan Davidson Kalmar/Derek J. Penslar in dem von ihnen herausgegebene Buch hin, dies., Orientalism and the Jews, S. xxi. 63 Wulf D. Hund, Rassismus im Kontext, S. 17–40. 64 Revathi Krishnaswamy, Effiminism, S. 15. 65 Ibid. 66 So drückten sich viele Rassismen gegenüber Menschen jüdischer Herkunft in „verweiblichenden“ Bildern aus; vgl. Ann-Ruth Löwenbrück, Judenfeindschaft



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Bhabhas Vertiefung der Theorie der Ambivalenz des kolonialen Diskurses verdeutlicht diese Festgestelltheit, in der Minderheiten, wie es zunächst scheint, unentrinnbar gefangen gehalten, eben kolonisiert werden. Arendt bemerkt in ihrer Analyse dieser Festgestelltheit „des Juden“: Unterhaltungssüchtig und leidenschaftlich interessiert an allem spezifisch Individuellen, Merkwürdigen, von der Norm Abweichenden, begab sich die bürgerliche Gesellschaft auf die Suche nach allem, was außerhalb ihrer eigenen Reichweite lag und was sie daher für mysteriös, geheimnisvoll, lasterhaft und exotisch hielt. Die exotischen Fremdlinge, zu denen man nicht über die halbe Welt nach der Südsee zu segeln brauchte, wurden die Juden. Ihr Judentum, nachdem es erst zu einer psychologischen Eigenschaft, zur Jüdischkeit degradiert war, konnte man leicht zu einer Lasterhaftigkeit uminterpretieren. Wenn dieser sogenannten liberalen Gesellschaft […] auch nichts ferner lag als die echte Toleranz der Aufklärung, so liebte sie doch nichts so sehr wie das Exotische, das Anormale, das schlechthin andere.67

Menschen jüdischer Herkunft wurden immer mehr stereotypisiert. Die historische und politische Differenz einer Minderheit wurde als Makel uminterpretiert und Menschen jüdischer Herkunft mit bestimmten „jüdischen Merkmalen“ ausgestattet. In diesem Zusammenhang macht Arendt deutlich, dass der sogenannte „Selbsthass“ Intellektueller jüdischer Herkunft auf einen Konflikt hinweist, eine „interne“ Kritik jüdischstämmiger Intellektueller wie Börne und Heine darstellt und nicht einfach die unreflektierte Spiegelung dieser Rassismen im „ich“ sein muss.68 Die Bezeichnung des „Selbsthasses“ weist in der Tat einen Aspekt der Veranderung im beobachtenden kolonialen Blick auf, nach dem unausgesprochenen Motto: Primitive verstehen sich auch unter einander nicht. Bezeichnend aber ist, dass der koloniale Diskurs oft dazu übergeht, antisemitisches Gedankengut als Wahrheit zu verbreiten, indem sie AutorInnen jüdischer Herkunft zu Wort kommen im Zeitalter der Aufklärung, S. 66 und Klaus Hödl, Die Pathologisierung des jüdischen Körpers – Antisemitismus, Geschlecht und Medizin im Fin de Siècle, Wien 1997, S. 179 ff.; hier wird gezeigt, wie die Effiminierung von Juden durch rassistische Behauptungen über ihre angeblich allgemeine körperliche und psychische Schwäche und andersartige Sprache aufrechterhalten wurde. Zum Thema siehe außerdem Matthew Biberman, Masculinity, Anti-Semitism and Early Modern English Literature, Hampshire/Burlington 2004, S.  71 ff. Die Studie veranschaulicht auch, wie durch die Konstruktion jüdischer Männlichkeit und Weiblichkeit eine christliche Genderkonstruktion geschaffen wurde. 67 Hannah Arendt, Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, S. 169. 68 Ibid., S. 164 ff.

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lässt, die diese Ambivalenz der Mimikry im kolonialen Denken bieten.69 Der kolonisierende Diskurs lässt sich auf diese Weise mimetisch vertreten und kann dadurch seine Autorität – „weiß-westig“ – oder weiß-westlich? – beibehalten. Ein berufliches oder privates Entrinnen aus diesem Bild blieb ob der Dominanz des gesellschaftlich-politischen und wissenschaftlichen Diskurses über „die Juden“ schlicht unmöglich. Menschen jüdischer Herkunft, ob (gezwungenermaßen) getauft oder nicht, intellektuell oder nicht, assimiliert, erfolgreich oder nicht, konnten ihrer festgestellten Eigenschaft eben in erster Linie Juden und damit anders, Fremdlinge, gar asiatische Fremdlinge zu sein, nicht ent69 Siehe Anm. 77. Vgl. zum Konzept der Mimikry im kolonialen Denken Homi K. Bhabha, Die Verortung der Kultur, Tübingen 2000, S. 126 ff. Die koloniale Imitation der reformierenden, zivilisierenden Mission, die „durch den de-plazierenden Blick ihres disziplinären Doppels bedroht“ (S. 127), kann also gleichzeitig im kolonialen Diskurs für eigene Zwecke benutzt werden – zumindest solange das Sprechen des Anderen in ihm sich noch keinen Durchbruch verschaffen konnte. Diese Art der Repräsentation untersucht Sander L. Gilman unter dem Begriff Selbsthass. Danach entsteht nämlich Selbsthass dadurch, „dass die Außenseiter das Wahnbild von ihnen als Wirklichkeit annehmen, das jene in der Gesellschaft entwerfen, die die Außenseiter definieren.“ Während die „liberale Verheißung“ vorgaukelt, „jeder könne grundsätzlich an der Macht der Bezugsgruppe teilhaben, vorausgesetzt, er unterwirft sich den Regeln dieser Gruppe“, wird die Lösung in der Forderung: „Werde wie wir, höre auf, dich uns von uns zu unterscheiden, und du wirst zu uns gehören“ festgeklopft. „Auf der anderen Seite steht aber die unausgesprochene Einschränkung der [diskursiven und] verinnerlichten Instanz, der konservative Fluch: Je mehr du versuchst, zu sein wie ich, um so klarer wird mir der wahre Wert der Macht, die du mit mir teilen willst, und um so deutlicher wird mir bewusst, dass du nichts bist als ein Emporkömmling, ein Abklatsch, ein Außenseiter.“ Dass „der Außenseiter“ diese ambivalente Sicht verinnerlicht, liegt daran, dass er ihm – zumindest in der Repräsentation – nicht entrinnen kann. Vgl. Sander L. Gilman, Jüdischer Selbsthaß – Antisemitismus und die verborgene Sprache der Juden, Frankfurt a. M., 1993, S. 12–13. Am Beispiel des jüdischstämmigen Schriftstellers Michel Beer kritisiert Heine diese Repräsentation. Bezogen auf dessen Theaterstück Paria schreibt Heine an Moser. „Man muß alles aufbieten, dass es niemand einfalle, letzterer habe Ähnlichkeit mit dem indischen Paria, und es ist dumm, wenn man diese Ähnlichkeit geflissentlich hervorhebt. Am allerdümmlichsten und schädlichsten und stockprügelsten ist die saubere Idee, dass der Paria mutmaßt, seine Vorfahren haben durch eine blutige Missetat ihren traurigen Zustand selbst verschuldet. Diese Anspielung auf Christus mag wohl manchen Leuten gefallen, besonders da ein Jude, ein Wasserdichter [damit meint Heine einen nicht-getauften Juden], sie ausspricht […] Ich wollte, Michel Beer wäre getauft und spräche sich derb, echt almansorig, in Hinsicht des Christentums aus, statt dass er dasselbe ängstlich schont und sogar, wie oben gezeigt, mit demselben liebäugelt.“ Vgl. Brief vom 21. 1. 1824, Werke und Briefe, Bd. 8, S. 132–133.



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kommen.70 Aus diesem Blickfeld wurde ihr ganzes Tun und Sein gesehen. Eine Ambivalenz dieser Veranderung und Festgestelltheit drückt sich darin aus, dass sie umgekehrt werden konnte. Arendt zeigt das aufschlussreich, ohne es explizit so zu nennen, am Beispiel von Benjamin Disraeli auf, der mit dem Judentum zwar kaum noch etwas zu tun hatte, der Zuweisung jedoch nicht entgehen konnte, sie aber für sein Leben, fast könnte gesagt werden, im Versuch eines Empowerments, benutzte – oder auch als eine Überlebensstrategie.71 Er verstand, Arendt zufolge, dass der Juden Chancen nirgends besser waren als dort, wo man gegen sie voreingenommen war. Denn gerade da, wo die Gesellschaft mit der Masse das Judesein für eine Art Verbrechen hielt, war sie geneigt, es gesellschaftlich in ein anziehendes Laster zu transformieren. Disraeili hat aus seiner Erkenntnis alle Konsequenzen gezogen, nicht nur die physische Fremdartigkeit unterstrichen, sondern selbst ein ganz unbegründetes Gerede über die geheime Lasterhaftigkeit seiner Jugend in die Welt gesetzt.72

Allein der historische Schnittpunkt zwischen diesen einander bedingenden rassistischen Diskursen der Ein- und Ausgrenzung von jüdischen Deutschen im christlich-deutschen Wahrheitsregime und dem imperialen Begehren der Zeit, legt eine Verbindung beider Bewegungen nahe. Genau darauf weisen Kalmar und Penslar in ihrer Einführung hin, wenn sie feststellen, dass der 1781 von dem theologisch geschulten Historiker August Ludwig von Schlözer eingeführte Terminus „semitisch“, der für eine Sprachfamilie verwandt wurde, betrayed the mixture of Christianity, science, and evolving ‚race thinking‘ characteristic of the time. In Schlözer’s mind the languages he was referring to were all spoken by races descendend from the biblical character Shem [.]. The category ‚Semitic‘ thus gave support to the truth of the Bible at the same time that it conflated (and confused) relations of language and race in a fashion thoroughly in accord with the latest scientific advances of the period.73

Im Rahmen der wissenschaftlichen Naturalisierung rassistischer Theorien, deren Charakter Young als „mentally populist“ bezeichnet, wur70 Hannah Arendt, Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, S. 158 ff. 71 Das Leben Benjamin Disraelis aus einem Blickwinkel postkolonialer Theorien zu betrachten, bleibt eine Aufgabe für sich, die sicher nicht unabhängig von der Geschichte des Antisemitismus und des Imperialismus Großbritanniens getrennt betrachtet werden kann, hier aber den Rahmen des Artikels sprengen würde. 72 Hannah Arendt, Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, S. 175. 73 Ivan Davidson Kalmar/Derek J. Penslar, Orientalism and the Jews, S. xxix.

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de eine rassische Veranderung, interessanterweise über die Sprachwissenschaften determiniert. Seit Anfang des 19. Jahrhundert und mit dem Erscheinen von Franz Bopps grammatischer Studie „Indo-europäische Sprachen“ wurde unterschieden zwischen den Sprachen der „indo-Europäer“, den „Ariern“, und den „semitischen Sprachen“. „The Other that defined the limits of this Indo-European race was primarily the Semite.“74 Die rassisch begründete Sprachtheorie schloss also von Anfang an Juden aus der deutschen Sprache aus – ungeachtet der Tatsache, dass Juden schon immer Teil Europas und Deutschlands gewesen sind. „At the time, the place of the Jews in Europe was hotly debated […]. Identifying the Jews as Semites gave a scientific sheen to the discussion – especially in the beginning and the middle of the century, when colonial expansion was still in its infancy.“75 Arendt hat die Effekte dieser Veranderung des Juden prägnant in folgender Aussage zusammengefasst: Wann immer die Gesellschaft sich einer politisch und beruflich gesicherten jüdischen Gleichberechtigung gegenübersah, hat sie gesellschaftliche Gleichberechtigung gerade verweigert. Sie hat nie Juden, immer nur Ausnahmen des jüdischen Volkes – Ausnahmejuden – die Türen der Salons geöffnet. Juden, denen man das seltsame Kompliment machte, dass sie Ausnahmen seien, wußten sehr gut, daß sie ihre gesellschaftliche Stellung einer Zweideutigkeit verdankten, die von ihnen verlangte, Juden, aber nicht wie Juden zu sein, und dies ist der Grund, dass sie ‚zu gleicher Zeit Juden sein und Juden nicht sein wollten‘. Was die Gesellschaft verlangte, war, dass sie ebenso ‚gebildet‘ seien wie sie selbst und dass sie sich anders verhielten als ‚gewöhnliche Juden‘, aber nun nicht, als seien sie eben gewöhnliche Sterbliche, sondern als seien sie etwas Ungewöhnliches, da sie ja doch immerhin Juden waren.76

Es verwundert nicht, dass der jüdischstämmige deutsche Dichter die Exotisierungen alles Nichteuropäischen durchschaut.77 Sensibilisiert für eine andere Sicht bzw. für die Sicht des Anderen, als den auch er 74 Ibid., Siehe zur Entstehung des Begriffs Antisemitismus und seine rassische Begründung über die Sprachwissenschaften auch Reinhard Rürup, Emanzipation und Antisemitismus – Studien zur „Judenfrage“ der bürgerlichen Gesellschaft, Göttingen 1975, S. 95 ff. 75 Ibid., S. xxx. 76 Hannah Arendt, Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, S. 141–142. 77 Aus diesem Grunde, eines Gegenbildes, wird Heines Gedicht mit Verärgerung aufgenommen. Es wird als eine Grenzverletzung des dominanten weißen Wahrheitsregimes wahrgenommen. Vgl. Robert Steegers, Heinrich Heines ‚Vitzliputzli‘ – Sensualismus, Heilsgeschichte, Intertextualität, Stuttgart 2006, S. 15.



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sich zu begreifen gezwungen ist und das Groteske dieser europäischen Ambivalenzen, malt er ein Bild der Umkehrung der europäischen Kolonialgeschichte und lässt die Vorstellung einer Durchwanderung, Hybridisierung Europas durch die „entdeckten Welten“ aufkommen. In seinem Gedicht Viztliputzli 78 distanziert sich das lyrische Ich von den „Entdeckern“. Dem bei seinem Anblick „ein Kreuz schlagenden“, bereits kolonisierten Affen, erzählt es: Affe! Fürcht dich nicht, ich bin Kein Gespenst, ich bin kein Spuk; Leben kocht in meinen Adern, Bin des Lebens treuster Sohn. Doch durch jahrelangen Umgang Mit den Toten nahm ich an Der Verstorbenen Manieren Und geheime Seltsamkeiten.

Gleichzeitig vermutet das Ich des Gedichts schmunzelnd die Gerüche der neuen Welt längst in der alten und zeigt damit, dass die Kolonisierung auch die Kolonialmächte transsubstituiert:79 Neckend, prickelnd, leidenschaftlich – Und mein grübelnder Geruchssinn Quält sich ab: Wo hab ich denn Je dergleichen schon gerochen? War’s vielleicht auf Regentstreet, In den sonnig gelben Armen Jener schlanken Javanesin, Die beständig Blumen kaute?

78 Werke und Briefe, Bd. 2, S. 57 ff.; Zum Gedicht und Heines „transkulturellem“ Verständnis vgl. Susanne Zantop, Kolumbus, Humboldt, Heine – Über die Entdeckung Europas durch Amerika, in: Alfred Opitz (Hg.), Differenz und Identität – Heinrich Heine (1797–1856) – Europäische Perspektiven im 19. Jahrhundert, Trier 1998, S. 79–89, dies., Colonialism, Cannibalism, and Literary Incorporation: Heine in Mexico, in: Peter Uwe Hohendahl/Sander L. Gilman (Hg.), Heinrich Heine and the Occident – Multiple Identities, Multiple Receptions, Lincoln/London 1991, S.  110–138 und Hartmut Steinecke, „The Lost Cosmopolite“: Heines’s Images of Foreign Cultures and Peoples in the Historical Poems of the Late Period, in: Peter Uwe Hohendahl/Sander L. Gilman (Hg.), Heinrich Heine and the Occident – Multiple Identities, Multiple Receptions, Lincoln/London 1991, S. 139–162. 79 Ibid., S. 70.

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Oder war’s zu Rotterdam, Neben des Erasmi Bildsäul’, In der weißen Waffelbude Mit geheimnisvollem Vorhang?

Ironisch-subversiv untergräbt das lyrische Ich hier die Hochhaltung von Kolumbus als „Entdecker“ und benennt den Widerspruch des Fortschrittsdenkens als Versklavung des „uns“, des Anderen: Mancher hat schon viel gegeben, Aber jener hat der Welt Eine ganze Welt geschenket, Und sie heißt Amerika. Nicht befreien konnt er uns Aus dem öden Erdenkerker, Doch er wusste ihn zu erweitern Und die Kette zu verlängern.

Abermals hält dann, auf spöttisch-ironische Weise, das Gedicht-Ich „Europa“ den Spiegel vor, was die Wahrung seiner geschätzten Werte anbelangt: Plötzlich werden Treue, Ehre und Freundlichkeit im Angesicht des Anderen, im colonial gaze, zu Merkmalen der Primitivität und Rückständigkeit: Dieser unzivilisierte, Abergläubisch blinde Heide Glaubte noch an Treu’ und Ehre Und an Heiligkeit des Gastrechts.

Auch der Andere kommt im Gedicht zu Wort, der gleichsam die Ausbeutung und Missionierung „entdeckt“ und rachsüchtig nach Europa flüchten will, um sich etwas wiederzuholen, was ihm genommen ward; vielleicht ist das seine Subjektivität, sein „Ich“80:

80 Die Frage, ob Heines Lyrik ebenfalls in einer eurozentrischen Manier die Anderen als „exegetischen Horizont der Differenz“ gebraucht oder sie eher „zur aktiven Quelle der Artikulation“ macht, werden weitere Arbeiten noch erörtern müssen. Siehe zu dieser Problematik der Repräsentation im kolonialen Diskurs Homi K. Bhaba, Die Verortung der Kultur, S. 48. Wichtig in diesem Zusammenhang erscheint, dass Heines lyrisches Ich die Pronomen austauscht und sprachlich zumindest zu den Anderen wird; das spricht eher dafür, dass eine bipolare Darstellung aufgelöst wird. Auch das Orientbild Heines lässt eine solche Betrachtung zu, wie im letzten Teil dieses Beitrags deutlich werden mag.



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Warum ließen sie die Heimat? Trieb sie Hunger oder Blutschuld? Bleib im Land und nähr dich redlich, Ist ein sinnig altes Sprüchwort. Was ist ihr Begehr? Sie stecken Unser Gold in ihre Taschen, Und wollen daß wir droben Einst im Himmel glücklich werden! […] Nach der Heimat meiner Feinde, Die Europa ist geheißen, Will ich flüchten, dort beginn ich Eine neue Karriere.

Sprache als Mittel der Macht. Widerstand in der Literatur (counter‑discourse/writing back) Der Ausdruck counter-discourse oder auch writing back beschreibt den Vorgang, durch den subalterne Gruppen ihrer Stimme Ausdruck verleihen, Selbstrepräsentationen initiieren und sich Zugang zum kolonialen Diskurs verschaffen, ihn auf diese Weise verrücken und um ihre Sicht erweitern. Dies ist ein Prozess, der vom dominierenden Diskurs nicht unbedingt willkommengeheißen wird und der für die „Eindringlinge“ auch dann mit Ausgrenzung verbunden bleibt. So können „statements that contradict the discourse“ nicht gemacht werden, „without incurring punishment, or without making the individuals who make those statements appear eccentric and abnormal.“81 Dies 81 Bill Ashcroft/Gareth Griffiths/Helen Tiffin, Post-Colonial Studies – The Key Concepts, London/N. Y. 2002, S. 43; zur Verfremdung und Ausschluss Heines aus dem deutschen literarischen Kanon vgl. Paul Peters, Die Wunde Heine, S. 63 ff. und S. 147 ff. Besonders interessant ist die Analyse Peters bezüglich des Einflusses jüdischstämmiger Heine-Kritiker wie Karl Kraus. Kraus’ Theorien, die stark im antisemitischen Geist wurzelten, konnten vermutlich gerade wegen der Herkunft des Kritikers erst recht zur Verunglimpfung Heines instrumentalisiert und damit naturalisiert werden, weil sich damit das Gegenargument antisemitischer Kritik gut verstecken ließ. Selbst Adorno entging dieser sprachlichen Abwertung Heines nicht, wie hier aufschlussreich untersucht wird. Vgl. zu Kraus’ und Adornos Heine-Rezeption auch António Sousa Ribeiro, Noch einmal: Heine und die Folgen – Ein Kapitel der Heine-Rezeption am Anfang des Jahrhunderts, in: Alfred Opitz (Hg.), Differenz und Identität – Heinrich Heine (1797–1856) – Europäische Pers-

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ist eine Tatsache, der Heine sowohl zu seiner Lebenszeit als auch später nicht entgehen konnte. Denn gerade seine Sprache wird im Laufe des stärker werdenden Antisemitismus zur Angriffsfläche. So schrieb bereits der Heine-Zeitgenosse Rühs „Ist die deutsche Sprache der Juden nicht immer eine fremde, erlernte […] man sehe die deutschen Bücher jüdischer Schriftsteller an. Sie strotzen von undeutschen und falschen Wendungen, verkehrt ausgedrückten Sätzen, unrichtig gebrauchten und geschriebenen Wörtern.“82 Dies ist eine Behauptung, die so neu für die Zeit nicht war. Bereits ein früheres Wörterbuch, indem der Verfasser, „den Juden“ sogar wohlgesonnen, die christlichen Leser zum bessern Umgang mit denselben ermahnen will, beklagt den schlechten Gebrauch der „teutschen“ Sprache durch „die Juden“, „denn sie haben solcher einen gantz fremden Thon und Laut gegeben/die guten teuflischen Wörter gestümmelt […] neue uns unbekannte erdacht/wie auch unzählig viele Hebreische Wörter und Red-Arten in das Teutsche gemischt.“83 Die hier religiös begründete, rassische Abgrenzung des Deutschen von „den Juden“, zeigt gegen den Strich gelesen, wie wichtig deutsche SchriftstellerInnen jüdischer Herkunft für die Entwicklung und Erweiterung der deutschen Sprache anscheinend waren. Auch wenn es LiteraturkritikerInnen gegeben hat, die die Originalität der heineschen Sprache sehr wohl schätzten, mehrten sich zum Ende des 19. Jahrhunderts antisemitische Stimmen, um Heines Dichtung und Person zu diffamieren. Selbst wenn der Grund der Kritik an Heine durch dessen Politisierung der Poesie84 gesehen wird, ist es augenfällig, dass diese Kritik nicht inhaltlicher Art war, sondern raspektiven im 19. Jahrhundert, Trier 1998, S. 101–111. Besonders wertvoll erscheint mir hier die Analyse Yoshihiko Hiranos „Heine – Kraus – Adorno. Eine Konstellation um die ‚Wunde‘ bei Celan im Jahre 1962“, in: Dietmar Goltschnigg/ Charlotte Grollegg-Edler/Peter Revers (Hg.), Harry … Heinrich … Henri … Heine – Deutscher, Jude Europäer, Berlin 2008, S. 327–334. 82 Friedrich Rühs, Die Rechte des Christentums und des deutschen Volkes, Berlin 1816, S. 26 f., zitiert nach Paul Peters, Die Wunde Heine, S. 65. 83 Johan Christian Wagenseil, Belehrung der jüdisch-teutschen Red- und Schreibart, Frankfurt a. M. 1715, Fürtrag B., zitiert nach Paul Peters, Die Wunde Heine, S. 65–66. 84 Heine benutzte die Poesie nicht nur um der Poetik willen, sondern schrieb, um auf politische Missstände aufmerksam zu machen und zu bewegen. Peters zufolge ist Heine „und nicht Brecht“ „der klassische Dichter der proletarischen Bewegung in Deutschland.“ Heines Lyrik habe eine „agitatorische Wirkung“ entfalten können, die Brecht eher verwehrt geblieben sei. In der Literaturgeschichte sei diese Kraft Heines aber völlig außer Acht gelassen worden. Paul Peters, Die Wunde Heine, S. 46–47 und S. 55 ff.



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sistisch und antisemitisch darauf ausgelegt war, ihn von der deutschen Literatur per se zu trennen. Während zunächst noch ein ambivalentes Bild des Dichters gezeichnet wurde, in dem er als „gesinnungsloser Jude, Apostel des Umsturzes“ und gleichzeitig als „großer deutscher Dichter“ gefeiert wurde, gingen die „Kritiken“ dazu über, seine Position als Lyriker ganz in Frage zu stellen.85 So sei Heine vor allem „ein gefährlicher Sprachverdreher“, ein „Pfahl in unserem Fleische“, der als „fremdrassiges Element […] deutsche Sprache und deutsches Wesen zu unterhöhlen drohe.“86 In dieser Abwehr ist auch die Repräsentation alles Jüdischen als Orientalischem, d. h. vor allem Nichteuropäischen, enthalten. Wolfgang Menzel, ein weiterer Literaturhistoriker, etwa beschreibt Heine als „mit der Physiognomie […] eines aus Paris kommenden […] durch Lüderlichkeit entnervten Judenjünglings mit specifischem Moschus und Knoblauchgeruch.“87 Von den Rassismen blieb Heine nicht unbeeindruckt. Sie mögen mit eine Rolle gespielt haben, dass Heine sich, mit seiner Übersiedlung 1831 nach Paris, räumlich aus Deutschland zurück zog. Seine Texte beherbergen so auch – auch wenn sie sich darin alles andere als erschöpfen – die gesellschaftspolitische Kritik einer Minderheitensicht eines „Ichs“. Daher kann in seinen Schriften von einem counter-discourse gesprochen werden. Ein besonderes Merkmal dieser Texte ist, dass sie bestimmte kanonisierte Maßstäbe und Metaerzählungen in Frage stellen oder subversiv aushebeln, indem sie z. B. eine Erfahrung aus Sicht der Marginalisierten und Repräsentierten schreiben. Oft werden dabei Techniken der Mimikry und Ironie verwendet. Die ironische Brechung taucht in Heines Poesie und Prosa wie wir schon gesehen haben besonders häufig auf, vor allem dort, wo er gegen etablierte Meinungen sein Wort erhebt, aber auch, um antisemitisches Gedankengut offen zu legen und Erfahrungen mit dem Antisemitismus zu benennen. Er „entkleidet“ die Sprache dabei und entblößt ihre versteckten Bedeutungen. Das ist vermutlich auch der Grund, warum ihm z. T. mit einer Skepsis begegnet wurde, die ihres Gleichen sucht: Er verhöhnt dominante Bilder und bringt damit „altehrwürdiges“ Denken, den autoritativen Rahmen, in dem die Sprache sich artikuliert, ins Wanken. Damit schafft er sich als jüdischstämmiger Deutscher, als Subjekt, das Recht auf Repräsentation. Wie Stuart 85 Paul Peters, Die Wunde Heine, S. 78. 86 Franz Sandfoß, Was dünket euch um Heine?, Leipzig 1888, S. 100, zitiert nach Paul Peters, Die Wunde Heine, S. 81. 87 Wolfgang Menzel, Deutsche Dichtung von der ältesten bis auf die neueste Zeit, Stuttgart 1875, S. 467, zitiert nach Paul Peters, Die Wunde Heine, S. 72.

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Hall in Bezug auf die kultur-politische Bewegung von Minderheiten in Großbritannien feststellt, drückt diese Strategie, sich als Subjekte eines Zugangs zum Repräsentationsregime zu bemächtigen, einen „Kampf“ aus „gegen die Marginalisierung, gegen die stereotype Qualität und die fetischisierte und naturalisierte Art der Bilder“88. Das sorgt für Irritationen. Das wahrhaft Unschuldige dabei ist, dass keine Bösartigkeit oder, wie oft behauptet wurde, „Rebellion“ dahintersteckt, sondern die Schlichtheit einer anderen Erfahrung, die ihre Stimme im Diskurs zu platzieren versucht und die Suche oder vielleicht sogar das Verlangen nach Wahrheit – und nicht Autorität – ausdrückt. Um diese Erfahrungen aber, im wahrsten Sinne des Wortes, zur Sprache bringen zu können, muss er eben dieselbe, schon belegte, ausschließende, benutzen, um aus ihr eine eigene, neue schaffen zu können. Es beschreibt den Vorgang, sprachlos sprechen zu lernen und zu müssen, als eine Erfahrung marginalisierter Gruppen, ihre Stimmen in den dominanten und für „normal“ befundenen Diskurs einzubringen, aus dem sie eigentlich herausfallen. Die ironischen Brechungen sind das Merkmal heinescher Ausdrucksmittel, um als Veranderter sprechen zu können – und eben nicht nachsprechen zu müssen. Dieses Ausdrucksmittels bedient sich Heine in zahlreichen Gedichten und Texten. So etwa im Atta Troll. Ein Sommernachtstraum. Dieses, an die romantische Dichtung angelehnte Stück mokiert sich auch über dieselbe. Es ist zum großen Teil aus der Sicht eines Bären geschrieben, welchen das lyrische Ich begleitet. Die Benutzung dieser Kreatur ermöglicht es dem Dichter, gesellschaftspolitische Doppelmoral und die Selbstzufriedenheit von (staatlichen) Autoritäten und jener, die mit ihnen konform gehen, aber vor allem die der politischen Opposition, einer scharfsichtigen Kritik zu unterziehen. Atta Troll ist ein überaus komplexes, kaum entschlüsselbares Gedicht. Mehrere, sich überlagernde Positionierungen werden aufgezeigt und gleichzeitig von anderen überschrieben. Es liest sich wie ein Kaleidoskop an zeitgenössischer politischer Kritik, die zwischen Ernst und Ironie, Tragik und Komödie auch die kolonialen Facetten deutscher Politik vermischt und (wider-) spiegelt. Das lyrische Ich bleibt unverfangen frei, beobachtend, während es ein ganzes Bündel von Kritik an und Spott über zeitgenössischem Kunst- und Politikverständnis mit voller Wucht ausbreitet. Was in diesem Gedicht – wie überhaupt im heineschen Stil – abermals fasziniert, ist, dass Heine den „nutzlosen Enthusiasmusdunst“ und die Falschheit manch politischer „Tendenzen“ ans Licht führt und 88 Stuart Hall, Rassismus, S. 16.



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nicht davor zurückschreckt, ihre Blindheit zu benennen. Dabei analysiert und verspottet er die Falschheit oppositioneller Kräfte, die Tendenzpolitik, z. B. gegenüber der jüdischen Minderheit, welche hinter den hehren Zielen zum Vorschein kommt. Dieser politischen Dichtung setzt Heine seine eigene gegenüber, in welcher er die kritisierte teilweise gleichsam parodiert. Das lyrische Ich besteht dabei auf dem schlichten Recht des Menschen auf Gleichheit – in der Differenz, die im Kampf für die Gleichheit gerne vergessen wird; also spricht der Bär: Grundgesetz sei volle Gleichheit Aller Gotteskreaturen, Ohne Unterschied des Glaubens Und des Fells und des Geruchs. […] Was den Hund betrifft, so ist er Freilich ein serviler Köter, Weil Jahrtausende hindurch Ihn der Mensch wie’n Hund behandelt; Doch in unsrem Freistaat geben Wir ihm wieder seine alten Unveräußerlichen Rechte, Und er wird sich bald veredeln, Ja, sogar die Juden sollen Volles Bürgerrecht genießen Und gesetzlich gleichgestellt sein Allen anderen Säugetieren. Nur das Tanzen auf den Märkten Sei den Juden nicht gestattet; Dies Amendement, ich mach es Im Interesse meiner Kunst. […] Weiter will ich nicht berichten, Wie der Bär in seinem frechen Gleichheitsschwindel räsonnierte Auf das menschliche Geschlecht. Denn am Ende bin ich selber Auch ein Mensch, und wiederholen Will ich nimmer die Sottisen, Die am Ende sehr beleidigend. […]

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Durch die Begegnung mit dem Mohrenfürsten entsteht am Schluss des Gedichts eine Art Spiegelung des lyrischen Ichs89 – und wie so oft in den Texten Heines, lässt auch diese Stelle eine Verwandtschaft zwischen dem Mohren und dem Juden erahnen, die sich aus dem diskursiven Dasein als unterschiedliche Andere im Repräsentationsregime zu ergeben scheint. Schmunzelnd sprach zu mir ein Neger, Der zu uns herangetreten: … Ich bin ja der Mohrenfürst, Der bei Freigligrath getrommelt. Damals gings mir schlecht, in Deutschland Fand ich mich sehr isoliert. Aber hier, wo ich als Wärter Angestellt, wo ich die Pflanzen Meines Tropenvaterlandes Und auch Löw und Tiger finde: Hier ist mir gemütlich wohler, Als bei Euch auf deutschen Messern, Wo ich täglich trommeln musste Und so schlecht gefüttert wurde! Hab mich jüngst vermählt mit einer Blonden Köchin aus dem Elsaß. Ganz und gar in ihren Armen, Wird mir heimlich zu Mute!

Die gleiche Balance zwischen ernsthafter Kritik und ironischer Verspottung durchzieht Heines Umgehen mit dem stereotypen Bild des Juden und des Anderen in der deutschen Gesellschaft insgesamt. Er verhehlt nicht, dass er den antisemitischen Ton durchschaut – er bleibt ihm aber nicht ausgeliefert. Seine Sprachlosigkeit übersetzt er, sich empowernd, indem er den Antisemitismus benennt, sich ironisch dar89 Auch Heine war Deutschland 1831 entflohen, einer Zeit, in der er besonders isoliert wurde und auch er heiratete eine „nicht standesgemäße Person“, eine christliche Französin, der er sich – geistig – haushoch überlegen, bei der er sich aber irgendwie zu hause, fühlte. Vgl. hierzu auch die Farbsymbolik, schwarz ist hier, wie in vielen Gedichten Heines, dem Jüdischsein/Schwarzsein zugewiesen und positiv besetzt, während Weißsein mit barbarisch verknöpft wird. Siehe hierzu auch Adjaï Paulin Oloukpona-Yinnon: „Der ‚schwarze Bruder‘ des Atta Troll“, in: Dietmar Goltschnigg/Charlotte Grollegg-Edler/Peter Revers (Hg.), Harry … Heinrich … Henri … Heine – Deutscher, Jude Europäer, Berlin 2008, S. 467–478.



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über lustig macht – und sich auf diese Weise darüber stellt. Er lässt sich – zumindest in seiner Kreativität – nicht zensieren. So heißt es beispielsweise an einer Stelle90: Ich kenne einen guten Hamburger Christen, der sich nie darüber zufrieden geben konnte, daß unser Herr und Heiland von Geburt ein Jude war. Ein tiefer Unmut ergriff ihn jedes Mal, wenn er sich eingestehen musste, dass der Mann, der, ein Muster der Vollkommenheit, die höchste Verehrung verdient, dennoch zur Sippschaft jener ungeschneuzten Langnasen gehörte, die er auf der Straße als Trödler herumhausieren sieht, die er so gründlich verachtet und die ihm noch fataler sind, wenn sie gar wie er selber, sich dem Großhandel mit Gewürzen und Farbstoffen zuwenden und seine eigenen Interessen beeinträchtigen.   Wie es diesem vortrefflichen Sohne Hammonias mit Jesus Christus geht, so geht es mir mit Wilhelm Shakespeare.

Heine verdeckt hier als Mensch jüdischer Herkunft nicht kompromissbereit den alltäglichen Antisemitismus eines deutschen Durchschnittsbürgers christlicher Herkunft, um anzukommen. Darin liegt sein freies Sprechen begründet. Er stellt vielmehr dar, wo der Antisemitismus begründet liegt, nämlich in Neid und Missgunst. Dabei bringt er die Absurdität dieses Rassismus’ zur Sprache, indem er das „Heiligste“ des Christentums als im Grunde jüdisch kennzeichnet – eine Kritik an seinen christlich deutschen MitbürgerInnen, mit der er sich auf einen gesellschaftlichen Seilakt der Anerkennung stellt, weil er das herrschende Repräsentationsregime über den Juden kippt. Doch von der Kritik und das ist ebenfalls so typisch für Heines Sprache, nimmt er sich selbst nicht aus, indem er selbstironisch und -reflektiert, seine eigene kritische Position als Dichter Shakespeare gegenüber im Moment der Äußerung bereits in Frage stellt. Dadurch verliert seine Kritik den Ton einer reinen Anklage und spiegelt vielmehr die lebensnahe Erfahrung über die so durchschaubaren menschlichen Abwehrmechanismen wider, in denen sich die Lesenden – bestenfalls – vielleicht selbst wiederfinden können. Dass sie dies oft genug nicht taten, bezeugt die bereits weiter oben erwähnte, ins Rassistische reichende Literaturmeinung über ihn. Die Kehrseite dieser Diffamierungen scheint die Bewunderung heinescher Sprache in dessen Vereinnahmung als großen europäischen Dichter zu sein, welche nun allmählich in den Diskursen über ihn zu Tage tritt.91 90 Werke und Briefe, Bd. 5, S. 461. 91 So heißt es etwa bei Nietzsche, dass Heine ihm „den höchsten Begriff von Lyrik gegeben habe“. Heine habe die deutsche Sprache wie kaum ein anderer

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Was wiederum in diesen neueren Lobpreisungen Heines als deutschen Dichter nachdenklich macht, ist die Vereinnahmung seiner Differenz im Sinne einer nationalepischen Erfolgsnarration. Wie Ha in Bezug auf den türkisch-deutschen Regisseur Fathi Akin feststellt, werden hier nicht individuelle Leistungen betont wie bei weißen Deutschen, sondern die Leistungs- und Konkurrenzfähigkeit Deutschlands.92 Darin kommt auch wieder die Politik der sich manchmal durchaus auszahlenden „Tolerierung“ und des Nutzwertes des Anderen für Deutschland zum Ausdruck. Das Erleben der Verfremdung und Veranderung des Dichters und seine Subjektivität werden dabei ausgeblendet. Heine selbst ließen die rassistischen „Anremplungen“ nicht kalt, doch am Ende wusste er seine Stimme zu verteidigen und einzubringen – auch wenn er litt, in seiner Sprache fühlte er sich nicht besiegt. Viele seiner Gedichte, so z. B. das Enfant Perdu aus dem Romanzero, bezeugen diese Widerstandskraft des lyrischen Ichs, die ihm offensichtlich bis zu letzt die Kraft verlieh, seiner Sprache Raum und Gehör zu verschaffen:93 Verlorener Posten in dem Freiheitskriege, Hielt ich seit dreißig Jahren treulich aus. beherrscht und sei wie Goethe und Hegel „ein europäisches Ereignis“ gewesen. Nietzsche, Ecce homo, Frankfurt a. M. 1977, S.  62, zitiert nach Josef Rattner/ Gerhard Danzer, Aufklärung und Fortschrittsdenken in Deutschland 1750–1850 – Von Kant und Lessing bis Heine und Feuerbach, Würzburg 2004, S. 303. Vgl. aber auch David Midgley, „Heine bei Nietzsche“, in: Dietmar Goltschnigg/ Charlotte Grollegg-Edler/Peter Revers (Hg.), Harry … Heinrich … Henri … Heine – Deutscher, Jude Europäer, Berlin 2008, S.  301–306. An anderer Stelle heißt es verblüffend vereinfacht, Heine „bleibt stets ein ‚deutscher Dichter‘, ein Ehrentitel, auf den er bis zu seinem Tode stolz ist“ (Bernd Kortländer, Heinrich Heine, Stuttgart 2003, S. 46), während diese dominante Sicht und Sprache einige Seiten zuvor Heine eigenes Verschulden an seinem gesellschaftlichen Ausschluss bescheinigt (S. 34). So habe er seine „Integration in die bürgerliche Gesellschaft“ „nur halbherzig“ betrieben (problematisch erscheint dabei gerade das Wort Integration. Denn es wird nicht hinterfragt, warum und von wem diese für nötig befunden wird und was sie konkret bedeutet – insbesondere in Anbetracht der Tatsache, dass Heine sich sogar taufen ließ) und als „Intrige gegen sich“ „interpretiert“ (es wird nicht ersichtlich, worauf diese Behauptung basiert. Können etwa antisemitische Kritiken eine Frage der Interpretation sein? Und wenn ja, wessen?) und je mehr er dagegen gekämpft habe, desto sicherer wäre das „Scheitern seiner Pläne“ geworden. Der Absatz provoziert zu der Frage, ob Heine sich am Ende als Jude doch nicht so verhalten hat, wie er sich nach dem zeitgenössischen deutschen Mainstream als Jude hätte verhalten müssen? 92 Kien Nghi Ha, Hype um Hybridität, S. 104. 93 Werke und Briefe, Bd. 2, S. 124.



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Ich kämpfte ohne Hoffnung, dass ich siege, Ich wußte, nie komm ich gesund nach Haus. […] Ja, wachsam stand ich, das Gewehr im Arme, Und nahte irgendein verdächt’ger Gauch, So schoß ich gut und jagt ihm eine warme, Brühwarme Kugel in den schnöden Bauch. Mitunter freilich mocht es sich ereignen, Daß solch ein schlechter Gauch gleichfalls sehr gut Zu schießen wußte – ach, ich kann’s nicht leugnen – Die Wunden klaffen – es verströmt mein Blut. Ein Posten ist vakant! – Die Wunden klaffen – Der eine fällt, die andern rücken nach – Doch fall ich unbesiegt, und meine Waffen Sind nicht gebrochen – Nur mein Herze brach.

Die Rückseite der Sprechtaktik ironischer Brechungen ist durch die Resignation und die Trauer darüber gekennzeichnet, eben doch kein Gehör gefunden zu haben, auf Unverständnis gestoßen und abgelehnt geblieben zu sein und damit die Machtverhältnisse nicht wirklich verändert zu haben. Der Schmerz darüber kehrt sich sprachlich in leise Verbitterung, in Wehmut, um; diese nach innen gekehrte Sprache ähnelt dem, was Bhabha als das „desolate Schweigen der wandernden Menschen“ bezeichnet, „jene ‚orale Leere‘, die sich auftut, wenn der Türke die Metapher einer heimlichen nationalen Kultur fallen läßt: für den türkischen Einwanderer ist die letztendliche Rückkehr ein Mythos, ‚sie ist‘ […] ‚der Stoff für Sehnsucht und Gebete … wie man sie sich vorstellt, sie aber nie eintritt. Es gibt keine letztendliche Rückkehr‘“.94 Das lyrische Ich bleibt ein Marginalisierter und Ausgeschlossener und führt ein Selbstgespräch; das Vaterland, aus dem die Liebe auf deutsch spricht, bleibt ein Traum:95 Ich hatte einst ein so schönes Vaterland. Der Eichenbaum Wuchs dort so hoch, die Veilchen nickten sanft. Es war ein Traum. Das küsste mich auf deutsch und sprach auf deutsch (Man glaubt es kaum, 94 Homi K. Bhabha, Die Verortung der Kultur, S. 246–247. 95 Werke und Briefe, Bd. 1, S. 279.

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Wie gut es klang) das Wort: „Ich liebe dich!“ Es war ein Traum.

Heine gelingt es aber, durch diese Benennung gleichzeitig die orale Leere zu füllen, indem er mit seiner Subjektivität in die Sprache, deren Bedeutungen er allzu gut kennt, eindringt. Dieses Wissen über die (deutsche) Sprache verleiht ihm die Macht, seine eigene Sicht in ihr unauflöslich einzuschreiben.

Heine und der Orient „Vielen gilt es als selbstverständlich, Heine in unmittelbarem Zusammenhang mit dem Orient zu begreifen. Er war schließlich Jude und als solcher ein ‚Orientaler‘. Eine zweischneidige Bezeichnung allerdings. Hat ihn z. B. Alexander Pache als den ‚klassischen Orientalen unserer Literatur‘ aufgewertet, so warf H. v. Treitschke dem ‚Orientalen‘ Heine vor, nicht vermocht zu haben ,nach Germanenart zu zechen‘.“96

Der Orient spielt in den Werken Heines in mehrfacher Hinsicht, nämlich sowohl als geographische als auch als imaginäre Orte, eine entscheidende Rolle. Es gibt in seinen Schriften einige Stellen, in denen Heine sich selbst orientalisiert, sich z. B. als Perser bezeichnet und viele Stellen belegen seine fast naiv-nostalgische Sehnsucht nach dem und Identitätssuche im Orient.97 Diese (Selbst‑)‌Ethnisierung, die Heine betreibt, kommt der Definition und Funktion von Ethnizität wie Hall sie versteht nahe. Hall plädiert dafür, Ethnizität, die als wesenhafte oder naturgegebene Eigenschaft dargestellt wird, als ein historisches, kulturelles und politisches Konstrukt zu begreifen und in einem emanzipatorischen Sinne zu gebrauchen.98 Im herrschenden Repräsentationsregime, das Heine betritt, ist er bereits als Jude mit all seinen (negativen) Bedeutungen – im Sinne eines Eingefrorenseins – im Orient eingeschrieben. Heine bezieht mit seinem Anknüpfungspunkt am Judentum und Orient Position, um in die Sprache eindringen, 96 Mounir Fendri, Halbmond, Kreuz und Schibboleth – Heinrich Heine und der islamische Orient, Hamburg 1980, S. 9. 97 Siehe zur Bezeichnung Heines Brief an Moser vom 21. 1. 1824 (Werke und Briefe, Bd.  8, S.  131); zu Heines „Orientsehnsucht“, Mounir Fendri, Halbmond, Kreuz und Schibboleth, S. 176 ff. 98 Stuart Hall, Rassismus, S. 13 und S. 21 ff.



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um sprechen zu können. Damit betritt er das Feld des herrschenden Repräsentationsregimes, indem er seine fremdbestimmte Ethnisierung eigenständig neu deutet. So verharrt er nicht in der Zuweisung, um die Stereotype zu wiederholen, sondern um die koloniale Anrufung durch Selbstbenennung zu dekolonisieren und aus dem Objektstatus heraus zu treten. Damit geschieht das, was Hall über die Ästhetik moderner Volksmusik des Hybriden und der Diaspora sagt. Bei der Konzeptualisierung, Neuschöpfung dieser Musikformen geht es nicht darum, sich anzugleichen, sondern darum, mit einer eigenen Sprache über eigene Bedingungen zu sprechen. Auf diese Weise findet eine Delokalisierung auf dem Bedeutungsfeld des kolonialen Diskurses statt, „dann ist der Andere nicht, wo er ist. Der Primitive hat sich irgendwie der Kontrolle entzogen.“99 Durch solcherlei „Bedeutungsverschiebungen“ und „Überschreibungen“ gelingt es Heine, rassistisch festgelegte Codes aufzubrechen100 – und mehr noch diese selbst als ethnisch zu entlarven. Damit bricht er die für universell erachteten, maßregelnden Bedeutungen, provinzialisiert sie und schafft auf diese Weise ein Gegengewicht zum herrschenden Verständnis. Er begeht so im wortwörtlichen Sinne eine „Grenzverletzung“, welche durch „aggressive Reaktionen“ bestraft wird.101 „Natürlich operiert der Rassismus mit der Konstruktion von unüberschreitbaren symbolischen Grenzen zwischen ‚rassisch‘ konstituierten Kategorien, sein typisch binäres Repräsentationssystem markiert, fixiert und naturalisiert unaufhörlich die Differenz zwischen Zugehörigkeit und Anderssein. Entlang dieser Grenzen entsteht das, was Gayatri Spivak (1987) die ‚epistemische Gewalt‘ der Diskurse über die Anderen nennt – die imperialistischen, orientalistischen, exotischen, anthropologischen und folkloristischen Diskurse und die über die Kolonisierten und die Primitiven.“102 Viele ihm nicht wohl gesonnene Personen seiner Zeit und auch spätere Antisemiten, die sich durch seine unbequemen Schriften bedroht fühlten, versuchten denn auch, wie bereits angedeutet, das Stereotyp wieder aufnehmend, Heine auf Grund seiner Abstammung zu diffamieren, ihm das Können der deutschen Sprache abzusprechen und ihn auf diese Weise in das herrschende Wahrheitsregime wieder einzu99 Ibid., S. 65. 100 Kien Nghi Ha, Hype um Hybridität, S. 113–114. 101 Ibid., S. 116. Ha stellt dies für die heutige Debatte am Beispiel der Reaktionen auf die Bücher Feridun Zaimoglus heraus. 102 Stuart Hall, Rassismus, S. 20.

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gliedern, ihn verstummen zu lassen.103 Und obwohl Heine inzwischen unbestritten als der größte deutsche Dichter nach Goethe (oder überhaupt?) gilt, haben sich bestimmte „Reserviertheiten“ ihm gegenüber latent erhalten können; sichtbar dürfte das vor allem darin sein, dass bezüglich der Aufarbeitung seiner Werke und Person – auch außerhalb der Wissenschaft, im kollektiven Bewusstsein des Deutschseins – wenig geschah und noch immer daran gearbeitet werden muss, das teilweise immer noch stigmatisierte Bild von ihm abzubauen. Es gibt drei neuere Arbeiten, die sich mit Heines Orientbild im Besonderen beschäftigen.104 Fendri tut dies explizit, wie der Titel seiner Arbeit unmissverständlich verrät. Sein Werk ist die bisher grundlegendste und dichteste Arbeit bezüglich des heineschen (muslimischen) Orientbildes. Er stellt in Heines Orientbild Brüche fest und auch Widersprüche, die er mit seiner Lebenssituation kontextualisiert. Er stellt aber heraus, dass Heine nicht dem „Zeitgeist“ gleich eine Orientalisierung des Orients betreibt, sondern, am deutlichsten mit seinem ersten Drama Almansor, ein neues Islambild setzt, in dem der Islam nicht das „germanisch-christliche Feindbild“ schlechthin liefert. „Folglich muß ‚Almansor‘ auf die unmittelbaren Zeitgenossen nicht nur in religiöser, sondern auch in kulturgeschichtlicher Hinsicht provozierend, ja schockierend gewirkt haben.“105 Nach Fendri gibt es aber in den Werken Heines auch orientalisierende Momente und orienta103 Vgl. Paul Peters, Die Wunde Heine, S. 59 ff.; diese immer heftiger werdende, sich gegen ihn ereifernde „Kritik“ mündete schließlich im Nationalsozialismus fast zu seiner totalen Verleumdung – fast deswegen, weil Heine aus der deutschen Sprache und Kultur nicht mehr wegzudenken war, so dass selbst in der Zeit des Nationalsozialismus bekanntlich seine Gedichte unter dem für sich sprechenden Ausdruck Dichter unbekannt als nationales Kulturgut auftauchten. Erst in den sechziger Jahren wurde Heine allerdings in der (west‑) deutschen Literaturgeschichte wieder entdeckt und fand Würdigung. Siehe außerdem George F. Peters, The Poet as Provocateur, S. 99–172. 104 Eine besonders ausführliche Arbeit, die sich Heine und den Orient, sowohl im geographischen wie im imaginären Sinn zur Grundlage gemacht hat, ist immer noch Mounir Fendris Halbmond, Kreuz und Schibboleth. Christiane Barbara Pfeiffer (Heine und der islamische Orient, Wiesbaden 1990) nähert sich Heines Orientbild aus einem Genderblickwinkel und Mirjam Webers, Der „wahre Poesie-Orient“ – Eine Untersuchung zur Orientalismus-Theorie Edward Saids am Beispiel von Goethes „west-östlichem Divan“ und der Lyrik Heines, Wiesbaden 2001, hinterfragt Saids Thesen bezüglich der Erschaffung des Orients in den Werken beider Dichter. 105 Mounir Fendri, Halbmond, Kreuz und Schibboleth, S. 74.



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lisierende Klischees der Zeit, die dieser übernimmt.106 Dennoch ist es schwierig, darin eine übliche Orientalisierung zu sehen; denn Heine versteht sich als Vertreter der Ideen der Aufklärung und des Fortschritts, die er von allen einfordert, sowohl von der französischen und deutschen politischen Wirklichkeit, von den Christen und Juden als auch von Muslimen.107 Pfeifers Arbeit, die Heines Lyrik im Rahmen eines Geschlechterdiskurses, insbesondere der Darstellung „orientalischer“ Frauenfiguren, untersucht, verortet Heines Thematisierung des Orients in seiner „Paria“-Stellung.108 Obwohl die Arbeit ansonsten 106 Ibid., z. B. S.  204, 211, 230 ff. Von einem islamfeindlichen Bild spricht Fendri Heine aber frei (S. 241); eine ähnliche Doppellung des kolonialen Diskurses ist bei Freud zu erkennen. „Freud’s theorizations of culture, gender, and sexuality […] represent a massive attempt to refute the charge of Jewish effeminacy (closely linked to homosexuality) by asserting a Jewish version of Protestant-Aryan masculanity (articulated as heterosexuality). […] Thus, Freud’s desire to erase his own Jewish difference, which was coded as effiminate, drives him to normatize aggressive heterosexual white European masculinity and to effeminize and emasculate the colonized Others. […] If Freud’s theorizations of culture, gender, and sexuality fed colonial conceptions of Asiatic effeminacy, did notions of effeminacy elaborated on Oriental theaters of colonialism nourish fin-de-siécle European perceptions of Jewish effeminacy? After all, the Sanskrit distinction between Arya and un-Arya found its way to Europe through Orientalists scholarships and played a role in the consolidation of the Jews as a Semitic ‚race‘ (in Freud’s own lifetime).“ Revathi Krishnaswamy, Effeminism, S. 30–31. 107 Diese Position ist außerdem nicht als Widerspruch zu verstehen, sondern mag den rhizomartigen Positionierungen entsprechen, die unterprivilegierte Menschen, welche den dominanten Diskursen angehören, inne haben können. Vgl. zum Begriff des post-postkolonialen Rhizoms z. B. Bill Ashcroft, Post-Colonial Transformation, S.  50 ff. Das gleiche gilt für weiße Frauen und vielleicht wegen ihrer „rassischen“ Zugehörigkeit zum „weißen Mann“, der die Norm darstellt(e), in einem viel höheren Maße. Ihr wird die Gleichwertigkeit abgesprochen, in Bezug auf die kolonisierten Menschen wiederum gehört sie eindeutig zur Herrschaft, solange sie den selben Diskurs über die Anderen bedient. In ähnlicher Weise mag das auch für Theorien der Postkolonialität gelten, wie von einigen KritikerInnen bemerkt wurde. Dazu findet sich in Stuart Halls grundlegendem Artikel (When was ‚The Post-Colonial?‘ Thinking at the Limit, in: Ian Chambers/Lidia Curti (Hg.), The Postcolonial Question – common skies – divided horizons, London/N. Y. 1998, S. 242–260) eine gute Übersicht. 108 Pfeifer bemerkt, Heine habe „erkannt“, dass er „im Ausland immer ein Deutscher bleiben wird – als geborener Jude, immer ein Jude.“ (C. B. Pfeifer, S. 7). Auch wenn diese Aussage einen wahren Kern beinhaltet, und ein möglicher Grund für das Exilleben Heines gewesen sein mag, ist doch die Kernfrage, warum das der Fall ist, ausgeblendet. So erscheint die Komplexität der Positionierung jüdisch und deutsch zugleich zu sein (oder sein zu müssen?), unhinterfragt und normalisiert.

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überzeugt, greifen dabei zwei Punkte zu kurz. Zum einen klingt darin die Fortsetzung eines orientalisierenden Diskurses nach, wonach es selbstverständlich ist, Heine auf Grund seiner Abstammung mit dem Orient in Zusammenhang zu bringen.109 Eine Sicht, die ausblendet, dass das Jüdische im kolonialen Diskurs nach wie vor wie selbstverständlich in den Orient verortet wird, während das Christentum ganz norm-al als europäisch begriffen werden kann. Zum anderen ist es mindestens auch möglich, Heines z. T. misogyn wirkende Darstellung von Frauenfiguren als Darstellungsformen der Zurückweisung und des Rassismus zu interpretieren, die von Frauen ausgeübt wurden.110 Gerade in der Lyrik thematisiert Heine diese rassisch begründeten Zurückweisungen. Sie kennzeichnen so das Verandern „des“ anderen Mannes durch den weißen, „weiblichen“ Blick. Eine der Stellen, an denen das am deutlichsten hervorbricht, ist das Gedicht Dona Clara. Die „AlkadenTochter“ liebt einen schönen, geheimnisvollen Ritter, dessen Namen sie nicht kennt und während sie Zärtlichkeiten austauschen, schimpft sie gehörig über die Juden und die Mohren. Als es Zeit zum Abschied wird, will sie schließlich wissen, wer ihr geliebter Ritter nun ist. Und der Ritter antwortet freundlich kosend:111 „Ich Senora, Eu’r Geliebter, Bin der Sohn des vielbelobten, Großen, schriftgelehrten Rabbi Israel von Saragossa.“

Hier – am Schluss des Gedichts – wird die Ambivalenz eines erotisierten femininen colonial gaze aufgebrochen, die die Differenz gleichzeitig verabscheut, verleugnet und begehrt. Dadurch, dass das verabscheute 109 Siehe dazu auch Mounir Fendri, Halbmond, Kreuz und Schibboleth, S. 9 ff. 110 Zu Heines Frauenbild vgl. hierzu insbesondere die Studie Koon-Ho Lees, Heinrich Heine und die Frauenemanzipation, Stuttgart 2005. Heines fiktive Frauenfiguren stellen noch immer einen relativ offenen Forschungsraum dar. Nach Lee ist es „in der Heine-Forschung eine auffällige Tatsache, dass die Auseinandersetzung mit der Frauenthematik bislang im Grunde auf Heines private Liebeserfahrungen und seine persönlichen Beziehungen zu einzelnen Frauen beschränkt worden ist.“ (S. 1). Siehe auch Christoph Bartscherer, Heinrich Heine und die Frauen – ‚Und immer irrte ich nach Liebe‘, Freiburg i. Br. u. a. 2006. 111 Werke und Briefe, Bd. 1, S. 154 ff. Vgl. zu dieser Abschiedsszene auch Erika Tunner, „La noblesse de l’adieu – Der Sohn des Rabbi Israel – Der Sklave Mohamet – Der Dichter Heine“, in: Dietmar Goltschnigg/Charlotte Grollegg-Edler/Peter Revers (Hg.), Harry … Heinrich … Henri … Heine – Deutscher, Jude Europäer, Berlin 2008, S. 33–38.



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und begehrte Objekt aber hier spricht und erkennt, übernimmt es die Kontrolle über sich selbst und untergräbt nicht nur als Subjekt seiner eigenen Geschichte die imperiale Autorität dieses Blickes auf sich, sondern wirft ihn auch ethnisiert und entlarvend zurück. Die „holistische Sicht“ des kolonialen Raumes wird verfremdet und aus der „Spaltung von Zeit und Geschichte entsteht für den Migranten“ nicht nur „ein seltsames, machteinflößendes Wissen, das zugleich schizoid und subversiv ist“,112 sondern darüber hinaus – oder vielmehr dazwischen – auch Raum für die eigenständige Platzierung des „Ichs“ in dieser Geschichte. Auch Weber, die Saids Orientalisierungsthese an Hand der Werke Goethes und Heines überprüfen will, verbindet Heines Orientmotive mit seiner jüdischen Herkunft. Wie Fendri stellt sie ebenfalls fest, dass Heines Orientbilder überwiegend nicht als Exotismus zu betrachten sind, sondern von Heine zur Dekonstruktion orientalisierender Bilder seiner Zeit und „als ‚witziger‘ Kontrast zum Eigenen, als Ort der Entfremdung“113 dienen. Genau dieser Satz scheint mir der entscheidende Punkt zu sein. Der Witz heinescher Sprache liegt in seiner Subversion des Repräsentationsregimes, in der das Eigene-Andere mit dem Ort der Entfremdung verschmilzt und die binären Lager auflöst. Viele Stellen in Heines Texten deuten darauf hin, dass er „den Orient“ als einen gemeinsamen Ort der Geschichte und des Imaginären (des Judentums und des Islam) begreift; dies nicht nur in geographischer Hinsicht, sondern auch durch historische Schnittpunkte, metaphorische Spiegelungen und sogar ein gemeinsames Leiderlebnis. Besonders deutlich wird das in dem Drama Almansor und dem gleichnamigen Gedicht, wo eine große Nähe, fast Identifizierung, des lyrischen Ichs zum Protagonisten aufgebaut wird. Dies bedeutet keineswegs, dass Heine das Judentum und den Islam gleichsetzt oder zwischen beiden nicht differenziert. Vielmehr stellt er aus einem jüdisch-deutschen und jüdisch-europäischem Selbstverständnis heraus auch ein kulturelles und historisches Beziehungsgeflecht mit dem muslimischen „Morgenlande“ her. Was hier entsteht ist das, was Bhabha als den „Dritten Raum der Äußerung“, „als die Vorbedingung für die Artikulation kultureller Differenz“ bezeichnet, in dem nach gewaltvollen Erfahrungen ein Neues beginnen kann. Es ist der Raum kolonialer und postkolonialer Herkunft, in dem „die theoretische Anerkennung der Gespaltenheit 112 Homi K. Bhabha, Die Verortung der Kultur, S. 251. 113 Mirjam Weber, Der „wahre Poesie-Orient“, S. 61.

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des Äußerungsraumes den Weg zur Konzeptualisierung einer internationalen Kultur weisen könnte, die nicht auf der Exotik des Multikulturalismus oder der Diversität der Kulturen, sondern auf der Einschreibung und Artikulation der Hybridität von Kultur beruht. Dabei sollten wir immer daran denken, dass es das ‚inter‘ – das Entscheidende am Übersetzen und Verhandeln, am Raum da-zwischen – ist, das den Hauptanteil kultureller Bedeutung in sich trägt. Dadurch wird es uns möglich, Schritt für Schritt nationale, anti-nationalistische Geschichten des ‚Volkes‘ ins Auge zu fassen und indem wir diesen Dritten Raum erkunden, können wir der Politik der Polarität entkommen und zu den anderen unserer selbst werden.“114 Gerade in der Behandlung orientalischer und orientalisierender Motive, Themen und Orte schafft Heine diesen Raum da-zwischen. Dies zeigen nicht nur jene Stellen seines Werkes, die explizit im Orient spielen oder in denen die ProtagonistInnen muslimischer Herkunft sind, wie beispielsweise das Drama Almansor. Eine Tragödie, das Gedicht Almansor oder die Nachtigall, Falter-Kerze-Motive sowie die LiebesTod-Motive der arabisch-persischen Poesie.115 Es sind vielmehr die eher zufälligen, jüdisch-muslimischen Kreuzungs- und Begegnungsstellen, in denen eine Art Raum und Zeit durchbrechende Öffnung statt findet, in welchem oft auch der europäisch-christliche Raum einbezogen bleibt. Einer der wohl komplexesten Gedichtzyklen, die diesen Raum da-zwischen öffnen, ist das drei Gedichte (Prinzessin Sabbat/Jehuda Ben Halevy/Disputation) umfassende Epos Hebräische Melodien aus dem Romanzero.116 Prinzessin Sabbat erzählt das Leben eines – in Europa? – wie in Arabiens Märchenbuche verwünschten Prinzen. Die Erzählung des jüdischen Prinzen Israel wird in Arabiens Märchenbuche platziert. Der in einen Hund verhexte Prinz, den es also eigentlich gar nicht geben darf und den es doch gibt, kann einmal die Woche, freitagabends, die Gestalt eines Menschen mit menschlichen Gefühlen und erhobenem Haupt und 114 Homi K. Bhabha, Die Verortung der Kultur, S.  58. Zum begriffsgeschichtlichen Verständnis von Hybridität im europäischen Denken und der Rezeption von Bhabhas Hybriditätskonzept vgl. Kien Nghi Ha, Hype um Hybridität und ders. Kolonial-rassistisch – subversiv – postmodern – Hybridität bei Homi Bhabha und in der deutschsprachigen Rezeption, in: Rebekka Habermas/Rebekka von Mallinckrodt (Hg.), Interkultureller Transfer und nationaler Eigensinn, Göttingen, S. 53–69. 115 Vgl. dazu Mounir Fendri, Halbmond, Kreuz und Schibboleth, S.  96 ff. und Mirjam Weber, der „wahre Poesie-Orient“, S. 121. 116 Werke und Briefe, Bd. 2, S. 125–178.



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Herzen annehmen, wenn er die Freiheit hat, ein Fest seiner Herkunftsstätte, seiner Geschichte zu feiern, sich selbst zu werden – statt einem namenlosen Hund, Gassenbuben zum Gespötte. Im zweiten Gedicht Jehuda Ben Halevey tauchen Verse auf, die dem Geist der Rubayyat des iranischen Dichters Omar Khayyam (1048–1122) stark ähneln:117 Jahre kommen und vergehen – In dem Webstuhl läuft geschäftig Schnurrend hin und her die Spule – Was er webt, das weiß kein Weber.

Heine ist diese Einfädelung bewusst, denn er spricht von meinem westöstlich dunklen Spleen. Dieser westöstliche Gemütszustand erscheint jedoch nicht als der Versuch vereinender Gegensätze, sondern als ein tiefes Verständnis, eine Verinnerlichung des Sinnes, den der östliche Andere im eigenen Ich zum Ausdruck bringen will. In diesem Gedicht scheint auch die weltumspannende Verbindung einer verknöpften Geschichte, besonders deutlich hervor.118 Symbolisch wird diese Wanderung durch Eine kleine güldene Truhe und deren Inhalt, eine Perlenkette, die Tränenperlen, verdinglicht. Die Perlenkette wechselt im Laufe der Geschichte die BesitzerInnen, bleibt aber in ihrer Bedeutung als etwas von unschätzbarem Wert für unterschiedliche Epochen und Völker erhalten. Dies gilt auch für die Truhe, das Kästchen des Darius, das das jeweils als Wertvollstes geltende aufbewahrt. In dieses Kästchen hätte das lyrische Ich, hätte er es gekonnt, die Gedichte des Jehuda ben Halevy gelegt. Damit räumt das lyrische Ich dieser spanisch-islamisch-jüdischen Dichtung einer Minderheit einen besonderen Wert, einen Platz in der gemeinsamen Geschichte ein. Das Gedicht erzählt mit diesem Symbol der Tränenperlen einer schönen Menschenseele das Leben in der Diaspora mit seinem melancholischen Schmerz, der aber als Quelle großer Kreativität dargestellt wird, welche in die Welt einfließt und für alle, die damit in Berührung kommen, von großem Wert ist. Der Name scheint so als Schlüsselbegriff für die diasporische, verwobene und fruchtbare jüdische Minderheitengeschichte zu stehen, die aber von der dominanten, christlich geprägten Historiographie ausgeblendet, deren Wert verschwiegen wurde:119 117 Ibid., S. 138–139. 118 Vgl. insbesondere zu diesem Gedicht Bluma Goldsteins Interpretation und Analyse des Gedichts im Rahmen der Jewish und Cultural Studies, Heine’s „Hebrew Melodies“. 119 Werke und Briefe, Bd. 2, Berlin 1961, S. 153.

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„Sonderbar!“ – setzt sie [die Frau des Gedicht-Ichs] hinzu – „Daß ich niemals nennen hörte Diesen großen Dichternamen, Den Juhda ben Halevy.“ Liebstes Kind, gab ich zur Antwort, Solche holde Ignoranz, Sie bekundet die Lakunen, Der französischen Erziehung.

Während alle möglichen Unmöglichkeiten und Nichtigkeiten gelernt würden, so der Dichter, bleiben die großen Namen aus dem großen Goldzeitalter der arabisch-althispanisch, jüdischen Poetenschule unbekannt. Diesen blinden Fleck füllt Heine just im Moment seiner Dichtung und lässt auf diese Weise gleichzeitig die jüdische Literaturgeschichte – in den deutschen literarischen Kanon – einfließen. Eine besondere Stellung im Rahmen dieses Epos nimmt die historischkulturelle jüdisch-muslimische Schnittstelle ein. Darin wird ein Zusammenleben mit und trotz der Differenz veranschaulicht. Der in Cordoba ansässige jüdische Dichter Gabirol120 wurde von seinem weniger begnadeten Kollegen, einem Mohren, so sehr beneidet, dass er schließlich von ihm ermordet wird. Doch der Mord wird durch den Kalifen persönlich aufgeklärt und der Mohr gehängt. Der Gerechtigkeit, so könnte interpretiert werden, wird wegen der Differenz keinen Abbruch getan und vielmehr der Wert der Kunst über die Wahrheit der Differenz gestellt. Im letzten Gedicht dieser Reihe Disputation werden wiederum die Verbindungen zwischen dem jüdischen, christlichen Raum sichtbar. Die Berührungen mit dem Christentum beinhalten dabei zwei Punkte. Zum einen wird hier die Ebenbürtigkeit der Argumentationsstärke der jüdischen Religion mit dem Christentum aufgezeigt. Mehr noch, während in diesem Wortgefecht der Mönch ausfallend wird, zeigt sich der Rabbi diesem zunächst überlegen (Mit Mistkarren voll Schimpfwörter/ Hast du mich beschmissen wacker/So folgt jeder der Methode/Dran er nun einmal gewöhnet), lässt sich aber zum Schluss doch provozieren und fängt selbst an zu schimpfen – so dass die Orthodoxien in beiden Religionen sich widerspiegeln und auch darin ebenbürtig erscheinen, daß sie alle beide stinken – und nicht nur, wie im christlichen Abendland behauptet, das jüdische Andere.121 120 Angelehnt ist die Figur wohl an den jüdisch-spanischen Philosophen und Dichter Salomo Ibn Gabirol (1020–1058). 121 Bezeichnend ist, dass Heine hier eine Frau, Dona Blanka, diese Aussage machen lässt. Möglicherweise tut er dies auf Grund seiner Sensibilisierung für



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Heines lyrisches Ich wird so beständig zum anderen seiner selbst. Er wird das allein durch seine bloße Existenz, im Kern des Deutschseins, in der deutschen Sprache, als deutscher Dichter jüdischer Herkunft:122 Hörst du nicht die Klagetöne Selbst im Ton der eigenen Kehle? In der Nacht seufz ich und stöhne Aus der Tiefe deiner Seele.

So zeigen seine Texte die Verflechtung von internationalen Geschichten und ihre vielschichtigen Berührungspunkte und Hybridität bis in die Subjekte hinein, die sie formen. Aber auch das gewaltsame Verschweigen dieser Kollisionen in der deutsch-nationalen Geschichtsschreibung wird deutlich, dem er seine Stimme vielschichtiger, diasporischer Erfahrungen der inneren Fülle und der äußeren Ausgrenzung entgegensetzt. Im Gedicht An Edom! 123 kommt diese Stimme beeindruckend klar und ergreifend zur Geltung: Ein Jahrtausend schon und länger Dulden wir uns brüderlich; Du, du duldest, dass ich atme, Daß du rasest dulde ich. Manchmal nur, in dunklen Zeiten, Ward dir wunderlich zumut’, Und die liebefrommen Tätzchen Färbtest du mit meinem Blut. Jetzt wird unsre Freundschaft fester, Und noch täglich nimmt sie zu; Denn ich selbst begann zu rasen, Und ich werde fast wie du! — Brich aus in lauten Klagen, Du düstres Martyrerlied, Das ich so lang getragen, Im flammenstillen Gemüt! die politische Emanzipation von Frauen, die in sämtlichen Dogmatiken das Andere darstellen – und daher eine „unkeuschere“ Beziehung zur Dogmatik haben. Eine solche Interpretation würde die Schlussfolgerung Lees bezüglich Heines Frauenbild bestätigen. Zu Lee vgl. Anm. 108. 122 Werke und Briefe, Bd. 2, S. 280. 123 Ibid., S. 298–299.

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Es dringt in alle Ohren, Und durch die Ohren ins Herz; Ich habe gewaltig beschworen Den tausendjährigen Schmerz. Es weinen die Großen und Kleinen, Sogar die kalten Herrn, Die Frauen und Blumen weinen, Es weinen am Himmel die Stern’. Und alle die Tränen fließen Nach Süden im stillen Verein, Sie fließen und ergießen Sich all’ [ganz entscheidend wegen der kolonialen Geschichte Deutschlands, noch immer] in den Jordan hinein.

Es ist das immer noch aktuelle Denken Heines (des postkolonialen Dichters und Theoretikers?), das die „zeitliche Synchronie“ durchbrechend, zu einem Begreifen der Geschichte „als unüberwindlichen Widerstreit der Lebenden, als inkommensurable Erfahrungen von Auseinandersetzung und Überlebenskampf“124 anregt. Aus dieser postkolonialen Situation und der verfänglichen Positionierung als Andere in Deutschland können wir vielleicht nur herausfinden, wenn wir ein Sprechen im Zuhören lernen, den Platz für die Abwesenden in uns nicht besetzen, um so die Kartographie einer gemeinsamen dritten Natur von Geschichte entwickeln und als Subjekte leben zu können.

124 Homi K. Bhabha, Die Verortung der Kultur, S. 226 ff.

Spengler und der Islam Nachdenkliches und Persönliches B. Radtke Die Preußischen Jahrbücher von 1923 enthalten im 193. band auf mehr als hundert seiten nicht weniger als neun beiträge über Oswald SPENGLER,1 darunter den artikel „Spenglers „Arabische Probleme“.2 Im selben jahr erschien auch der aufsatz Carl H. BECKERs „Spenglers Magische Kultur“ in der Zeitschrift der Deutschen Morgenländischen Gesellschaft3 und in der zeitschrift Wissen und Leben eine anzahl weiterer aufsätze zu Spengler.4 Eine reihe wissenschaftler anderer fächer hatte sich bereits mit SPENGLERs ansichten in der zeitschrift LOGOS – überwiegend kritisch ablehnend – auseinandergesetzt.5 Ob BECKER, 1 A. a. o. 129–234. 2 A. a. o. 151–164. Verfasser Edgar PRÖBSTER (1879–1942); zu ihm Gotthard, Jäschke, in: Die Welt des Islams 24 (1942), 129–132. 3 77 (1923) 255–271. – BECKERs aufsatz wird bei HARIDI, Das Paradigma 118 f. kurz besprochen. HARIDI geht auf die frage der „magischen kultur“ nicht näher ein. – Den hinweis verdanke ich, wie so vieles in diesem aufsatz, Werner ENDE. 4 17 (1923). Die aufsätze beziehen sich vor allem auf den zweiten band des UdA, der 1922 erschien. Im einzelnen: Friedrich MEINEKE: „Über Spenglers Geschichtsbetrachtung“ (s. 549–561); Karl JOḪL: „Zum zweiten band Spengler. Kritik an seinen Begriffen“ (561–575); Hermann SCHOOP: „Angelsächsische Vorläufer Spenglers und ihr Kritiker“ (575–88); Tim KLEIN: „Spengler und W. v. Humboldt“ (588–592); Ernst HOWALD: „Die Wissenschaftler und Oswald Spengler“ (592–594); Max RYCHNER: „Dr. Oswald Spengler“ (594–597); Konrad FALKE: „Die Unfruchtbarkeit des zivilisierten Menschen“ (597–599); Manfred SCHRÖTER: „Zwischen den Fahrten“ (599–604); Siegmund FEILBOGEN: „Spengler als politischer Warner“ (604–606); Hans HONEGGER: „Anmerkungen zu Kulturproblemen“ (606–609) – SPENGLERs schöpfung „magische kultur“ wird zwar erwähnt, sein verständnis des islams jedoch nur gestreift: s. 567; 596; 604. 5 Karl JOḪL: „Die Philosophie in Spenglers ,Untergang des Abendlandes‘“ (s.  135–170); Eduard SCHWARTZ: „Ueber das Verhältnis der Hellenen zur Geschichte“ (171–187); Wilhelm SPIEGELBERG: „Aegyptologische Kritik an Spenglers Untergang des Abendlandes“ (188–194); Ludwig CURTIUS:

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was die diskussion über Spengler angeht, nachfolger in der zunft gefunden hat, ist mir nicht bekannt. Erst 1959 nahm Jörg KRÄMER in seinem büchlein Das Problem der islamischen Kulturgeschichte das thema wieder auf.6 Im essayband Spengler heute, der 1980 erschien,7 spielt SPENGLERs konzept der arabischen kultur jedoch keine rolle. Das gilt auch für den sammelband Der Fall Spengler von 1994.8 Selbst im vergleich, den Jörg FISCH im Archiv für Kulturgeschichte9 zwischen SPENGLER und Ibn Ḫaldūn10 anstellte, spielt SPENGLERs begriff „Magische Kultur“ keine rolle. Erst in zwei rezenten monografien über SPENGLER findet seine konzeption der magisch-arabischen kultur ausführliche darstellung, und zwar bei Francis Wilhelm LANTINK, Oswald Spengler oder die „zweite Romantik“, in dem kapitel „Die magische Kultur oder die Diskontinuität des „Christentums“11und bei Detlev FELKEN, Oswald Spengler 119–122.12 Überhaupt: Das geistige klima nach 1945 war SPENGLER, anders als nach dem Ersten Weltkrieg,13 nicht günstig. Er hatte eben zur politischen „rechten“, also zu den gegnern der Weimarer Republik, zu den gegnern der demokratie, gehört, und hatte damit in gewissem sinn an der deutschen katastrofe mitschuld, zumindest in den augen „Morphologie der antiken Kunst“ (195–221); Erich FRANK: „Mathematik und Musik und der griechische Geist“ (259); Edmund MEZGER: „Oswald Spenglers »Untergang des Abendlandes«. Eine neue Geschichts- und Gesellschaftslehre“ (260–283); Gustav BECKING: „Die Musikgeschichte in Spenglers ‚Untergang des Abendlandes‘“ (284–295). – Bewertung dieser beiträge bei Manfred SCHRÖTER, Metaphysik des Untergangs, passim; vgl. das Namenverzeichnis am schluss. Der erste teil des buches (17–158) enthält die von SCHRÖTER 1922 veröffentlichte schrift Der Streit um Spengler. Kritik seiner Kritiker. 6 Seine bemerkungen zu SPENGLER sind allerdings sehr kurz. Weiteres zu ihm, s. u. 7 Enthält sechs beiträge, u. a. von G. L. ULMEN: „Metaphysik des Morgenlandes – Spengler über Russland“ (123–173). 8 Mit neun beiträgen. 9 67, 1985, 263–309: „Kausalität und Physiognomik. Zyklische Geschichtsmodelle bei Ibn Ḫaldūn und Oswald Spengler“. 10 Bei FELKEN, Oswald Spengler 58 wird die Muqaddima Ibn Ḫaldūns als Mukkadina zitiert. 11 A. a. o. 210–216. Das buch ist eine niederländische dissertation (proefschrift) von 1995 (Utrecht). 12 Erschienen 1988. 13 Zur Spenglerrezeption nach dem Ersten Weltkrieg vgl. u. a. FELKEN, Oswald Spengler 238 ff.; BOTERMAN, Oswald Spengler 213 ff.; LANTINK, Oswald Spengler 15 ff.



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nachkriegsdeutschlands.14 Ob diese beschuldigung zurecht geschah, soll hier nicht weiter erörtert werden. Es sei daneben auf die äusserungen von Karl JASPERS,15 von Theodor ADORNO,16 von Ernst JÜNGER17 und Karl POPPER18 zu SPENGLER verwiesen, die sich allerdings nicht auf die politischen aspekte seines denkens und schreibens beziehen, sondern auf die filosofischen. Man möge mir die folgenden biografischen äusserungen gestatten. – Ohne von allen diesen bedenklichkeiten zu wissen, geriet ich in sehr frühem alter an eine gekürzte ausgabe von SPENGLERs Untergang des Abendlandes19 –und sein inhalt faszinierte mich, besonders die teile über die „magische kultur“.20 Vieles blieb mir verständlicherweise – ich war 17–18 jahre alt und mit einer mittelmässigen gymnasialbildung ausgestattet – unzugänglich. Aber es bildete sich der wunsch, diese historische welt bzw. diese welten, die SPENGLER beschreibt, näher kennenzulernen, vor allem die kultur und die sprachen der „magischen kultur“ zu studieren. Und das u. a. brachte mich zum studium der orientalischen sprachen. Auch möchte ich nicht verschweigen, dass mich SPENGLERs gedankenwelt in nicht geringe innere schwierigkeiten brachte, denn 14 Wohl am extremsten bei LUKACS, Die Zerstörung der Vernunft, dort vor allem 401 ff.; dazu auch FELKEN, Oswald Spengler 244. – Ich kann mir die bemerkung nicht versagen, dass Lukacs’ buch von einer trostlosen oberflächlichkeit zeugt, nicht nur im fall SPENGLER – ja ich scheue vor dem wort nicht zurück – dass sie in seinen verallgemeinerungen und abqualifizierungen geradezu von einer erschreckenden primitivität zeugt. Man verstehe mich recht: Ich wende mich nicht gegen die marxistische einstellung LUKACZ’, sondern gegen seine grob vereinfachende darstellung deutscher geistesgeschichte. SPENGLER etwa in eine reihe mit Alfred ROSENBERG (Zerstörung 412) zu nennen, ist lächerlich, polemisch und irreführend. – Dümmlich, oberflächlich und nicht weiter zu erörtern sind Edward SAIDS auslassungen zu SPENGLER, Orientalism 208. 15 Vom Ursprung und Ziel der Geschichte 264. 16 „Spengler nach dem Untergang“. 17 An der Zeitmauer 75 ff. 18 Elend IX; POPPER nennt die geschichtsphilosophie Spenglers pseudowissenschaftlich; bei CORETH et al., Philosophie des 20. Jahrhunderts, ist Spengler nicht einmal als filosof verzeichnet. – Sollte jemand meinen, dass es sinnvoll ist, so lese er Rudolf STEINERs besprechungen vom UdA, in: Der Goetheanumgedanke inmitten der Kulturkrisis der Gegenwart 81–100. 19 München 1959. Ich zitiere diese ausgabe als UdAk. – Die gesamtausgabe zitiere ich als UdA. Für den ersten band habe ich die fünfte auflage, München 1920, für den zweiten band die ausgabe der sechzehnten bis dreissigsten auflage, München 1922, benutzt. 20 UdAk 260 ff.

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ich begriff und fühlte damals, dass er dem „mainstream“ der fünfziger und sechziger jahre diametral widersprach. Sein pessimismus21, sein deterministisches geschichtsbild liessen sich mit dem allgemeinen fortschrittsglauben jener jahre nicht vereinbaren. Erschwerend für das jugendliche bemühen, eine stellung zu finden, war SPENGLERs faszinierender stil,22 der in seiner wirkung auf ein jugendliches, unerfahrenes gemüt nicht ungefährlich war. Aber dennoch: Ich verdanke SPENGLER entscheidendes: Einmal die erkenntnis, dass es andere kulturen und andere bewusstseinsformen als die westliche gibt, die gleichberechtigt neben ihr stehen und nicht als „primitiv“, unverständlich u. a. zu bezeichnen sind. Das war anfang der sechziger durchaus nicht allgemein akzeptiert. Während meines studiums habe ich allerdings, so denke ich, den namen Spengler nie vernommen. Und doch blieb die erinnerung und das verlangen, nach gesichertem urteilen darüber zu kommen, ob das, was ich bei SPENGLER gelesen hatte, irgendwie mit den resultaten der „herkömmlichen“ wissenschaft zu vereinen wäre. Und noch ein anderes: In den vergangenen anderthalb jahrzehnten „tobte“ vornehmlich in der deutschsprachigen islamwissenschaft eine debatte über die möglichkeit einer autochthonen islamischen aufklärung, an der auch der verfasser teilgenommen hat.23 Hinter der hypothese standen im weitesten sinne hegelsche und marxistische geschichtskonzeptionen, und ich erinnere mich, dass sich mir irgendwann der seufzer entrang: Warum kümmert man sich nicht einmal um SPENGLERs universalhistorische konzeption, die, wie es auch immer mit ihrer wissenschaftlichen „richtigkeit“ stehen mag, zumindest interessant, ja fast genialisch zu nennen ist. Aber wir wollen uns jetzt SPENGLER selbst zuwenden.24 SPENGLER will eine geschichtsfilosofie schreiben, und darum ist der Titel seines hauptwerkes Der Untergang des Abendlandes eigentlich irreführend, weil er diese absicht nicht ausdrückt. Das ziel war, durch aufdeckung der regeln des historischen ablaufes der welt „wis21 Spengler hat sich bekanntlich gegen den vorwurf des pessimismus in seinem aufsatz „Pessimismus?“ von 1921 zur wehr gesetzt. 22 Dazu auch FELKEN, Oswald Spengler 114 ff.; ADORNO, Spengler 51 ff. 23 Dazu RADTKE, Autochthone islamische Aufklärung; ders., NkG 298. 24 Zusammenfassende Darstellungen: BECKER, „Magische Kultur“ 257 ff.; FELKEN, Oswald Spengler, u. a. 40 ff.; 119 ff.; LANTINK, Oswald Spengler 186 ff.; BOTERMAN, Oswald Spengler 91 ff.



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senschaftliche“ voraussagen für die zukunft möglich zu machen.25 Geschichte, das zeitliche geschehen und das menschliche handeln darin, verfolgt keine „höheren“ zwecke, geschichte ist „sinnlos“.26 Es gibt keine zweckgerichtete historische kausalität. Vielmehr ist weltgeschichte eine zeitliche abfolge oder ein nebeneinander von kulturen, also nicht etwa die abfolge von Altertum – Mittelalter – Neuzeit.27 Eine kultur ist für SPENGLER ein organismus, und wie dieser hat sie entwicklungsfasen: jugend, reife, alter, tod.28 Vor allem die letzten beiden werden weiter differenziert.29 Jede kultur macht diese fasen durch, und dadurch wieder sind sie in diesen fasen miteinander zu vergleichen, es kann in diesem sinn von „gleichzeitigkeiten“30 unter den kulturen gesprochen werden. Jugend- und reifefase einer kultur umfassen ca. 1000 jahre.31 Jede kultur besitzt und ist zu erkennen durch ein urfänomen.32 SPENGLERs modell gehört somit in die reihe der zyklischen geschichtsbilder. Der vergleich mit Ibn Ḫaldūn besteht demnach in gewisser hinsicht zu recht.33 Es werden von SPENGLER acht hochkulturen unterschieden:34 Die chinesische;35 die indische;36 die babylonische;37 die ägyptische;38 die antike, griechischrömische;39 die magische oder arabische;40 die europäische, „faustische“;41 die altmexikanische.42 Uns soll es allein um die arabische, magische kultur gehen, die überhaupt entdeckt zu haben SPENGLER sich als persönliches verdienst 25 UdA 1, 3. 26 UdA 2, 52. 27 UdA 1, 20 f.; LANTINK, Oswald Spengler 177. 28 UdA 1, 154. 29 S. u. 30 UdA 1, 155, 161, 162, 293; 2, 238; auch I. Tafel „Gleichzeitiger“ Geistesperioden, UdA 1, nach s. 71. 31 UdA 1, 158. 32 UdA 1, 243 ff.; FISCH, „Kausalität“ 294 f. 33 FISCH, „Kausalität“ 303 ff. 34 Vgl. die tabellen UdA 1, nach s. 71. 35 UdA 2, 47. 36 UdA 2, 47. 37 UdA 2, 46. 38 UdA 2, 46. 39 UdA 2, 47. 40 UdA 2, 49. 41 UdA 2, 44 ff. 42 UdA 2, 51.

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anrechnet,43 zurecht, wenn man seine entdeckung überhaupt akzeptiert.44 Die benennung „arabisch“ ist vielleicht nicht ganz glücklich, denn die also bezeichnete kultur umfasst durchaus weitere völker als die „araber“.45 „Magische kultur“ trifft das, was SPENGLER meint, besser, obwohl der begriff, soweit ich sehe, nirgends von ihm definiert wird. Das urfänomen dieser kultur ist die welthöhle, bzw. das lebensgefühl46 der magischen kultur erlebt die welt als eine höhle.47 Es ist „märchenhaft“.48 Die geschichte, die frühzeit dieser kultur beginnt um 700 vor Chr. u. a. mit dem auftreten der alttestamentlichen profeten – beispiele sind Jesaja und Zarathustra.49 Ihre reife, ihr mannesalter erreicht sie mit der entstehung und ausbreitung des christentums und der anderen, vorderasiatischen, gnostischen religionen (manichäismus, mandäer usw.).50 Mit dem islam beginnt das alter, das schliesslich ca. 1000–110051 in die geschichtslosigkeit des fellachendaseins übergeht.52 Wichtig für das verständnis dieser kultur ist der begriff pseudomorfose, den SPENGLER der mineralogie entnimmt.53 Pseudomorfose erleidet eine kultur, die durch alte, stehengebliebene formen gehindert wird, ihre eigenen in freiheit zu entwickeln, sondern sich in diesen alten formen, denen einer älteren kultur, zu entwickeln gezwungen wird. Das geschah der magischen54 und widerfährt zur zeit der russischen kultur,55 für Spengler die kultur der zukunft.56 Für die magische kultur hiess das, dass sie gezwungen wurde, in den formen der „greisenhaften“ hellenistischen kultur, die durch die Alexanderzüge über Vorderasien verbreitet worden waren, zu leben. Erst der islam befreite 43 UdA 2, 49. 44 Als grund des bisherigen nichterkennens nennt er die blindheit der fachwissenschaft. UdA 2, 199; 304–307. 45 UdA 1, 183, 250; 2, 80, 83, 203, 205, 214; 2, 211, 260; auch hier anm. 46 BECKER, „Magische Kultur“ 267 f. 47 UdA 2, 283; 2, 286, 288. 48 UdA 2, 288. 49 UdA 2, 201, 208, 247. 50 UdA 1, 566; 2, 83, 240, 241. 51 UdA 1, 1. tafel nach s. 71. 52 UdA 2, 125, 387, 394. 53 UdA 2, 227 ff.; 281. 54 UdA 2, 227. 55 UdA 2, 231. 56 Er hatte damit selbstverständlich nicht den sowjet-kommunismus im auge! Dazu UdA 2, 231–237.



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die magische seele aus der gefangenschaft der pseudomorfose: einer der gründe für seinen siegeszug.57 Ohne auf ein für und wider dieses entwurfs einzugehen: Festzuhalten ist, dass bei SPENGLER der islam nicht als etwas neues, eigenes in die geschichte eintritt, sondern als letzte stufe einer schon in das alter übergehenden kultur begriffen wird.58 Das ist zumindest eine hypothese, die in der hinsicht anregend wirken kann, dass man unter diesen prämissen über die islamische kultur nachdenken könnte. Auffällig ist, dass es die magische kultur ist, die unter allen anderen kulturen von SPENGLER am detailreichsten beschrieben wird.59 Er widmet ihr ja ein ganzes eigenes kapitel.60 Dass bei SPENGLER ein „grosser wurf“ vorliegt, hat Carl Heinrich BECKER erkannt und anerkannt61, und er unterscheidet sich damit wohltuend von dem kleinlichen gezeter einiger beiträge in Logos, so berechtigt sie sachlich sein mögen.62 Allerdings: BECKER spricht von SPENGLERs werk als von einer „monumentalen Dichtung“63, also nicht von einer wissenschaftlichen arbeit, und er stellt ruhig und souverän fest: „(…) stehen sich auch die Anschauungen SPENGLERs und der zeitgenössischen Orientalistik in Sachen der magischen Kultur unvereinbar gegenüber. Auch sollte man ruhig erkennen, woher der Gegensatz kommt, und sich nicht gleich die Köpfe einschlagen“.64 Und auf der folgenden seite: „Doch man soll nicht mit Sophistik und kleinlicher Mäkelei eine Leistung wie die Spenglers herabwürdigen wollen. Bei aller Ablehnung seines Schemas – der ganze Wurf ist ein Kunstwerk von hohem Rang“.65 Diese einstellung soll uns für das folgende ein vorbild sein. Unser ziel ist dabei nicht zu diskutieren oder zu überprüfen, ob SPENGLERs gesamtkonzeption, vor allem ihre filosofischen und anthropologischen voraussetzungen, zu akzeptieren sind. Wir sind bescheidener und wollen sehen, ob SPENGLERs aussagen, soweit sie einige aspekte 57 UdA 1, 290. 58 Vergleich islam luthertum, s. u. 59 Kapitel Probleme der arabischen Kultur, UdA 2, 223–399. 60 Dazu auch LANTINK, Oswald Spengler 211. 61 „Magische Kultur“ 266. 62 Vgl. u. a. das vorwort s. 133 f.; das erinnert an WILAMOWITZ’ kritik an Nietzsche. 63 „Magische Kultur“ 255. 64 Ibid. 269. 65 Ibid. 270.

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des islams betreffen, heute noch zu halten sind, und, sollte das der fall sein, ob sie als denkanregungen fruchtbar gemacht werden könnten. Man hat SPENGLER, vom standpunkt herkömmlicher wissenschaft aus gesehen zurecht, vorgeworfen, dass viele seiner aussagen auf „intuitiven“ erkenntnissen beruhen – wobei der begriff „intuition“ seitens der kritiker allerdings recht unbestimmt bleibt.66 Aber SPENGLER hat selbstverständlich auch extensives literaturstudium getrieben. Was den islam, bzw. die magische kultur anbetrifft, so werden in den anmerkungen zitiert: Max HORTEN, Die religiöse Gedankenwelt des Volkes im heutigen Islam;67 Richard REITZENSTEIN, Das iranische Erlösungsmysterium;68 Marc LIDZBARSKI, Das Johannesbuch der Mandäer;69 Wilhelm BOUSSET, Hauptprobleme der Gnosis;70 Richard REIZENSTEIN, Das mandäische Buch des Herrn der Grösse;71 Marc LIDZBARSKI, Mandäische Liturgien;72 Eduard SACHAU, Die Chronik von Arbela;73 Eduard MEYER, Ursprung und Geschichte der Mormonen.74 Alles sehr respektable autoren also. Wir wollen weiter so vorgehen, dass wir von der betrachtung von einzelheiten ausgehen und dann auf die allgemeinen urteile SPENGLERs eingehen. Das mag anfechtbar sein. Es ist damit gewiss die gefahr einer missinterpretation SPENGLERs verbunden, denn auch die sogenannten einzelheiten sind eigentlich nur innerhalb des spenglerschen systems als „ganzheit“75 zu verstehen. Und „ganzheitliche“ systeme haben es bekanntlich an sich, dass sie zu kollabieren drohen, wenn man nur einen ihrer bausteine entfernt. Als allgemeine aussagen betrachte ich: 1. Die charakterisierung des islams. 2. Die ausbreitung des islams als befreiung der magischen kultur und der magischen nationen. 3. Das reifealter der arabischen kultur. 4. Der islam als puritanismus der magischen kultur. 5. Die rolle Mohammeds. 6. Der islam im fellachenstadium. 66 Zu „intuition“ vgl. WITZENMANN, Intuition, besonders 73 ff. 67 UdA 2, 79, anm. 2; 386, anm. 1. 68 UdA 2, 258 f., anm. 3; 2, 259, anm. 1. 69 UdA 2, 259, anm. 1. 70 UdA 2, 259, anm. 1. 71 UdA 2, 259, anm. 1. 72 UdA 2, 259, anm. 1. 73 UdA 2, 272, anm. 1. 74 UdA 2, 299, anm. 1; SPENGLER bezieht sich auf den Exkurs: Der Ursprung des Islâms und die ersten Offenbarungen Mohammeds (67 ff.). – Zu seinem verhältnis zu Eduard MEYER vgl. FELKEN, Oswald Spengler 170 f. 75 Zur „ganzheit“ auch NkG 10 f.



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Als einzelne fragen wären zu nennen: 1. Die magische konzeption von weltgeschichte. 2. Das verhältnis von geist und seele. 3. Das vorhandensein einer geheimen offenbarung. 4. Die sufik. 5. Ġazzālīs rolle. Gehen wir die einzelnen punkte durch und beginnen, wie gesagt, mit den einzelheiten. 1.  Die magische konzeption von weltgeschichte. – Weltgeschichte, die weltzeit, hat einen anfang und ein ende.76 Sie ist begrenzt. „Alles hat seine zeit“. Es ist zudem eine moralische, eine moralisierte geschichte,77 im wesentlichlichen der kampf der guten gegen die bösen.78 – Dem kann, was die islamische darstellung von weltgeschichte angeht, zugestimmt werden.79 Das argument, die konzeption stamme von Augustin,80 verfängt bei SPENGLER nicht, denn für ihn gehört Augustin nicht zur westlichen, europäischen kultur, sondern ist „der letzte grosse Denker der früharabischen Scholastik und nichts weniger als ein abendländischer Geist“.81 2.  Das verhältnis von geist und seele. – Geist und seele – SPENGLER gebraucht die hebräischen worte ruach und nephesh, arabisch wäre rūḥ und nafs zu setzen – bilden einen gegensatz. Die seele gehört zum „unten“, zum finsteren, bösen, der geist zum „oberen“, göttlichen.82 Individuum ist der mensch nur durch die seele, am überindividuellen geist hat er nur eine teilhabe83: „(…) ist der magische Mensch mit seinem geistigen Sein nur Bestandteil eines pneumatischen Wir, das von oben sich herabsenkend in allen Zugehörigen ein und dasselbe ist“.84 Und das führt zur „Unmöglichkeit eines denkenden, glaubenden, wissenden Ich“.85 Und weiter: „Nach Philo und der islamischen Theologie zerfallen die Menschen von Geburt in Psychiker und Pneumatiker (die „Auserwählten“ […])“.86 76 UdA 2, 289, 291. 77 UdA 2, 249 f. 78 UdA 2, 290 f. 79 Weltgeschichte 2; RADTKE, „Versuch“ 269. 80 Weltgeschichte, ibid.; „Versuch“, ibid. 81 UdA 2, 293; Spengler beruft sich hier auf das buch von Ernst TROELTSCH, Augustin, die christliche Antike und das Mittelalter, die stelle a. a. o. 6 f. 82 UdA 2, 284; das ist noch mutatis mutandis im Ibrīz des marokkaners Aḥmad b. al-Mubārak al-Lamaṭī aus dem 18 jh. überall deutlich; dazu RADTKE, Der Ibrīz Lamaṭīs 327 f. 83 UdA 2, 285. 84 UdA 2, 286. 85 UdA 2, 286. 86 UdA 2, 284.

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Hier ist dem meisten zuzustimmen, einiges etwas diffenzierter zu sehen. Das bild der nafs ist richtig gezeichnet: ihre verbundenheit mit der erde, auch ihre gegenschaft gegen einen höheren teil im menschen, der rūḥ genannt werden kann. Andere bezeichnungen sind ʿaql oder qalb.87 Das ist in den systemen der sufik klar herausgearbeitet. Richtig gesehen scheint mir auch das fehlen eines ichbegriffs, zumindest etwa im Fichteschen sinn, zu sein.88 Leider gibt SPENGLER seine quellen für die islamische theologie nicht an. Seine aussage, so allgemein formuliert, scheint mir fraglich. Allerdings gibt es ein starkes islamisches auserwähltheitsbewusstsein.89 3.  Das vorhandensein einer geheimen offenbarung. – „Viel wichtiger noch ist die in allen magischen Religionen nachweisbare Annahme einer geheimen Offenbarung oder eines geheimen Schriftsinns, die nicht durch Aufzeichnung, sondern durch das Gedächtnis berufener Männer erhalten und mündlich fortgepflanzt werden“.90 – Im islam hat bereits früh die schia behauptet, über diese geheime offenbarung zu verfügen,91 und darüber geht die auseinandersetzung bis heute fort.92 Auch die sufik spricht von einem bāṭin des koran, das durch eine besondere seelische anstrengung (istinbāṭ) gefunden werden kann.93 4.  Die sufik. SPENGLERs aussagen zur sufik sind nicht sehr ergiebig. Gut scheint mir dieser satz: „Die Pietisten des Islam finden sich im Sufismus, der nicht „persischen“, sondern allgemein aramäischen Ursprungs ist und sich im 8. Jahrhundert von Syrien aus über die ganze arabische Welt verbreitet“.94 Die charakterisierung als „pietismus“ gilt, wohlgemerkt, bei SPENGLER für die sufik im allgemeinen und nicht etwa erst für die des 18. jh.s, schon deshalb nicht, weil er schwerlich von ihr etwas wissen konnte.95 In rezenten islamwissenschaftlichen arbeiten hat es versuche gegeben, die neuere sufik zu einer parallelbewegung einer autochthonen aufklärung zu machen.96 SPENGLER findet diese aufklärungstendenzen zurecht schon im Bagdad der abba87 Dazu in einzelheiten RADTKE, „Ibn Ṭufayl“, passim. 88 Weiteres RADTKE, „Unio mystica“ 56, 59 f. 89 Dazu RADTKE, „Auserwähltheitsbewusstsein“ 70 f. 90 UdA 2, 301. 91 ThG 1, 280 ff. 92 Darüber BRUNNER, Die Schia und die Koranfälschung. 93 EIran, s. v. Bāṭen. 94 UdA 2, 379. 95 Eine forschungsübersicht gibt NkG 294–296. 96 Ibid. 293.



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siden.97 – Anfechtbar ist der satz: „Das magische Schauen ist bei Spinoza98 als amor intellectualis dei bezeichnet, bei den gleichzeitigen99 Sufisten Mittelasiens als mahw (Auslöschen in Gott)“.100 Als quelle gibt SPENGLER Horten. – Die vorstellung vom entwerden, ausgelöschtwerden in Gott ist zum einen weder räumlich noch zeitlich auf Mittelasien beschränkt, zum anderen wird in der sufik durchaus zwischen schau (mušāhada, ruʾya u. a.) und entwerden (fanāʾ, maḥw, talāšī u. a.) unterschieden. 5.  Ġazzālīs rolle. Zu Muḥammad al-Ġazzālī (gest. 1111) äussert SPENGLER sich so: „Al Ghazali (um 1050), der die „zweite Religiosität“ der islamischen Welt vollenden half, ist (…)“.101 Das ist zu verstehen, wenn man sich SPENGLERs begriff der „zweiten Religiosität“ vor augen führt: „Was nun folgt, nenne ich die zweite Religiosität. Sie erscheint in allen Zivilisationen, sobald diese zur vollen Ausbildung gelangt sind und langsam in den geschichtslosen Zustand hinübergehen, für den Zeiträume keine Bedeutung mehr haben“.102 Dagegen kann man BECKERs worte halten: „Und steckt nicht die ganze faustische Problematik in einem Manne von der geistigen und seelischen Höhenlage Ghazālīs?“103 Von der gesamtkonzeption her gesehen sind beide urteile nicht zu vereinbaren. Zu tadeln ist bei SPENGLER aber doch, dass sein urteil sehr oberflächlich zu sein scheint und hier von wenig detailkenntnis zeugt. Aber über Ġazzālīs rolle lässt sich immer noch streiten. Nun zu den allgemeinen aussagen. 1.  Die charakterisierung des islams. Treffend ist die beschreibung der stellung des rechtes: „(…) das arabische Gesetz stammt von Gott, der es durch den Geist der Berufenen und Erleuchteten verkündet“.104 Es ist aber ein gewaltiger Unterschied im Gefühl des Menschen, ob er ein Gesetz als Willensausdruck eines Mitmenschen oder als Bestandteil der göttlichen Ordnung hinnimmt. Im einen Falle sieht er das Richtige ein oder weicht der Gewalt, im anderen beweist er seine Erge97 UdA 2, 375, 377, anm. 1; s. u. 98 Spinoza gehört also für Spengler zur magischen kultur. 99 Zu gleichzeitig s. o. 100 UdA 2, 296. 101 UdA 2, 387. 102 UdA 2, 382. 103 „Magische Kultur“ 268 und anm. 1, wo auf die arbeiten Julian OBERMANNs und Hellmut RITTERs zu Ġazzālī hingewiesen wird. 104 UdA 2, 84.

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bung (‚islam‘)“. Die wahrheit wird durch iğmāʿ gefunden.105 „Für das magische Menschendasein aber ergibt sich (…) eine ganz einzige Art von Frömmigkeit (…) eine willenlose Ergebung, die das geistige Ich überhaupt nicht kennt106 (…)“. Das arabische Wort dafür ist „islam“, Ergebung, aber „islam“ war auch die beständige Fühlweise Jesu (…) „islam“ ist gerade die Unmöglichkeit eines Ich als einer freien Macht dem Göttlichen gegenüber“.107 Alles eigenwollen gehört in die sfäre des bösen.108 Es gibt in dieser welt keine kausalverkettung, weder bei schuld und strafe noch in den naturabläufen109 – also die leugnung der causa secunda von seiten der islamischen theologie.110 2.  Mit der erklärung der gründe für die rasante ausbreitung des islams hat sich die forschung seit eh schwer getan. SPENGLERs erklärung führt den muslimischen erfolg, die vehemenz der ausbreitung, darauf zurück, dass es sich nicht eigentlich um eine eroberung feindlichen gebietes, sondern um eine befreiung der länder handelte, die bis anhin unter dem „joch“ der pseudomorfose litten und durch den islam endlich zu ihrem eigenen wesen fanden.111 – Diese erklärung ist reizvoll, aber selbstverständlich nur akzeptabel, wenn auch die Spenglersche gesamtkonzeption akzeptiert wird, also sein verständnis des islams als altersstufe der magischen kultur.112 3.  Entscheidend ist die interpretation der zeit, die dem auftreten des islams vorangegangen ist,113 als hochblüte der magischen kultur, beginnend mit der „Hochscholastik der arabischen Frühzeit.“114 „Aber daneben erscheint in diesen frühen Jahrhunderten auch eine prachtvolle Scholastik und Mystik magischen Stils, die an den berühmten Hochschulen des gesamten aramäischen Gebiets zu Hause ist: den persischen von Ktesiphon, Resain115 Dschondisabur, den jüdischen 105 UdA 2, 86. 106 S. u. 107 UdA 2, 292. 108 UdA 2, 293; vgl. als beispiel den islamischen mystiker Ḥakīm Tirmiḏī aus dem 3./9. jh.; RADTKE, Drei Schriften 2, u. a. 27. 109 UdA 2, 293. 110 Dazu RADTKE, „Astrologie“ 264 f. 111 UdA 1, 290. 112 NOTH, „früher Islam“ 58 ff. 113 Schon UdA 1, 566. 114 UdA 2, 83. Hier steht eine bemerkung Spenglers zum verhältnis des ḥadīṯ zum koran, die zeigt, dass er dieses falsch auffasst. Er versteht den ḥadīṯ als eine art kommentar zum koran. 115 D. h. Rīšʿaynā.



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von Sabur, Nehardea und Pumbadita, denen anderer „Nationen“ in Edessa, Nisibis, Kinnesrin. Hier sind die Hauptsitze einer blühenden Astronomie, Philosophie, Chemie und Medizin, aber nach Westen hin wird diese grosse Erscheinung durch die Pseudomorphose verdorben“.116 – Und mit „wünschenswerter“ deutlichkeit etwas später die fundamentalen sätze: „Damals und nicht mit dem Islam beginnt die arabische Wissenschaft. Aber weil unsere Philologen nur das entdeckten, was in spätantiker Fassung in Alexandria und Antiochia erschien, und von dem ungeheuren Reichtum der arabischen Frühzeit und den wirklichen Mittelpunkten ihres Forschens und Schauens nichts ahnten, konnte die absurde Meinung entstehen, „die Araber“ seien geistige Epigonen der Antike gewesen.117 In Wirklichkeit ist so gut wie alles, was – von Edessa aus gesehen – jenseits der Philologengrenze118 dem heutigen Auge als Frucht spätantiken Geistes gilt, nichts als der Widerschein früharabischer Innerlichkeit. Damit stehen wir vor der Pseudomorphose der magischen Religion“.119 Gewiss: SPENGLER gibt keinerlei belege für diese wahrlich revolutionären behauptungen, die alle konzeptionen vom islam als dem vermittler und einer synthese von semitischer religiosität und griechischem geist und griechischer wissenschaft120 „souverän“ abtun. Sie mögen einen filologen, der auf diesem gebiet arbeitet, geradezu ergrimmen. Aber vielleicht lohnt es sich doch – sine ira et cum studio – über SPENGLER zumindest nachzudenken. Ich sehe für die frage nach der entstehung der islamischen mystik121 durchaus fruchtbare anregungen. 4.  Der islam als puritanismus der magischen kultur. Wenn mit dem islam keine neue kultur oder religion anhebt, er vielmehr als abschluss einer schon alten zu sehen ist, so ist zumindest seine frühfase nach dem prinzip der „gleichzeitigkeit“ als puritanismus zu bezeichnen: „Den Islam muss man als den Puritanismus der gesamten Gruppe frühmagischer Religionen betrachten, der nur in Form einer neuen Religion aufgetreten ist [d. h. des Islams, B. R.] (…). In dieser tieferen Bedeutung und nicht allein in der Wucht des kriegerischen Ansturms liegt 116 UdA 2, 240. 117 Dazu BECKER, „Magische Kultur“ 263; vor allem KRAEMER, Problem, passim. 118 S. o. 119 UdA 2, 241. 120 KRAEMER, Problem, vor allem 29 ff. 121 RADTKE, „Woher“, wo ich auch über die frage von „übernahmen“ nach­ denke.

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das Geheimnis seiner märchenhaften Erfolge122“.123 Puritanismus wird näher charakterisiert als „die einzige grosse Schöpfung im Religiösen (…), die Eigentum der Spätzeit ist und zwar jeder“.124 Und darum: „Der Islam ist eine neue Religion fast nur in dem Sinne, wie das Luthertum eine war. In Wirklichkeit setzt er die grossen Frühreligionen fort“.125 Folge des puritanismus ist auf der einen seite, wie wir sahen, die sufik, andererseits der rationalismus: „Aber im Puritanismus liegt schon der Rationalismus verborgen, der nach einigen Generationen der Begeisterung überall hervorbricht und die Herrschaft an sich nimmt. Es ist der Schritt von Cromwell zu Hume“. Mit letzterer aussage sind wir bei einem weiteren punkt, nämlich der rolle Muḥammads: „Man muss sich vom Oberflächenbilde der Geschichte befreien und ganz über die künstlichen Grenzen hinwegsetzen können, welche die Methodik abendländischer Einzelwissenschaften gezogen hat, um zu sehen, dass Pythagoras, Mohamed (sic) und Cromwell in drei Kulturen ein und dieselbe Bewegung verkörpern“.126 „Die grossen Gestalten der Umgebung Mohameds wie Abu Bekr und Omar sind durchaus den puritanischen Führern der englischen Revolution wie John Pym und Hampden verwandt“. – SPENGLER betitelt das kapitel, in dem diese aussagen zu finden sind, ausdrücklich Pythagoras, Mohamed, Cromwell.127 Zur bestimmung der gegenwartssituation der islamischen welt müssen wir nun noch SPENGLERs begriff fellachendasein128 betrachten: „Es entsteht der Typus des Fellachen“.129 „Was einer kultur folgt, nenne ich Fellachenvölker nach ihrem berühmtesten Beispiel, den Ägyptern seit der Römerzeit“.130 Aus dieser zweiten Religiosität131 gehen endlich die Fellachenreligionen hervor (…). Was das bedeutet, lehrt der Begriff des Fellachenvolkes. Die Religion ist völlig geschichtslos geworden; wo einst Jahrzehnte eine Epoche bedeuteten, haben jetzt Jahrhunderte keine Bedeutung mehr“.132 122 S. o. 123 UdA 2, 321. 124 UdA 2, 371. 125 UdA 2, 374. 126 UdA 2, 374. 127 UdA 2, 323–399. 128 Auch hier s. u. 129 UdA 2, 125. 130 UdA 2, 202. 131 S. u. am beispiel Ġazzālīs ausgeführt. 132 UdA 2, 387 f.



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In diesem stadium befindet sich also Spengler zufolge seit ca. 1000– 1100 die islamische welt, und so ist es auch nur konsequent, wenn er z. b. die jungtürkische revolution von 1908 fellachenhaft nennt.133 Die abendländische, „faustische“ kultur befindet sich nach SPENGLER im stadium des cäsarismus,134 sie ist also mit der „fellachenhaften“ arabisch-magischen kultur gänzlich „ungleichzeitig“ – das ist oder kann zumindest ein anstoss und gesichtspunkt sein, von dem aus über die gegenwärtigen probleme zwischen west und ost nachzudenken wäre. Kommen wir zum abschluss. Was positiv ins auge fällt ist, dass erstaunlicherweise nur sehr wenige „sachliche“ fehler festzustellen sind, die zudem auf die von SPENGLER benutzte literatur zurückzuführen sein mögen. So ist z. b. sein urteil über die sufik fundierter als das Max WEBERs.135 Diese kleinen fehler bringen zudem sein system nicht zum einsturz. Aber daneben stehen treffliche einsichten, so über das wesen des islams, über die nachzudenken sich noch immer lohnt. Zu fragen ist, ob sein system als ganzes, also die „ideologie“, den „fakten“ gewalt antut. Das ist zu verneinen, wenn man über das „cäsarische“ und suggestive von SPENGLERs stil hinwegsehen kann. Dann wirkt Der Untergang des Abendlandes immer noch inspirierend. Über die Spenglerrezeption in der arabischen und islamischen welt ist bisher, soweit ich weiss, wenig bekannt. Es gibt arabische übersetzungen von werken Spenglers.136 Jörg KRÄMER weist darauf hin, dass ʿAbdarraḥmān BADAWĪ mit dem Spenglerschen werk bekannt gewesen sein muss.137 Was bleibt von SPENGLER? Gewiss: Die tradition der grossen universalgeschichtlichen entwürfe138 ist zumindest im deutschen sprachgebiet abgerissen,139 die „grosse kelle“ ist „ausgeleert“ – nicht zuletzt deshalb, weil die letzte universalhistorische heilslehre- und konzeption ja unlängst „mit glanz“ gescheitert ist. Und das macht es aber auch, 133 UdA 2, 394. 134 UdA 2, 521 ff.; FELKEN, Oswald Spengler 127 ff.; LANTINK, Oswald Spengler 240 ff. 135 NkG 257 ff. 136 UdA = Tadahwur al-ḥaḍāra al-ġarbiyya, 1–3, Beirut 196, übers. von Aḥmad aš-Šawkānī. – Jahre der Entscheidung = al-Aʿwām al-ḥāsima, Kairo 1948, übers. von Ali Ḥ. al-Hākiʿ. – Ich verdanke diese hinweise Werner ENDE. 137 Problem 6 und anm. 16. 138 Ausser SPENGLER wären u. a. Karl LAMBRECHT und Kurt BREYSIG zu nennen, vor ihnen etwa Ernst von LASAULX (Philosophie der Geschichte). 139 Sie scheint jetzt im englischen sprachraum fröhliche urständ zu feiern: FUKUJAMA, HUNTINGTON, Kennedy.

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wie es scheint, möglich, abgeklärter über den „Fall Spengler“ zu reden und sich von seinen kulturgeschichtlichen einsichten anregen zu lassen, ohne sofort des obskurantismus verdächtigt zu werden, also eben das zu tun, was Carl Heinrich BECKER schon 1923 gefordert hatte.

Einige bibliografische Hinweise Theodor Adorno, „Spengler nach dem Untergang“. In: Prismen 51–81. Frankfurt 1969. Frits Boterman, Oswald Spengler en Der Untergang des Abendlandes. Proefschrift. Amsterdam 1992. Rainer Brunner, Die Schia und die Koranfälschung. Würzburg 2001. Emerich Coreth, Philosophie des 20. Jahrhunderts. Suttgart, Berlin, Köln 1993. Detlev Felken, Oswald Spengler. Konservativer Denker zwischen Kaiserreich und Diktatur. München 1988. Alexander Haridi, Das Paradigma der „islamischen Zivilisation“ – oder die Begründung der deutschen Islamwissenschaft durch Carl Heinrich Becker (1876–1933). Würzburg 2005. Karl Jaspers, Vom Ursprung und Ziel der Geschichte. Frankfurt 1956. Ernst Jünger, An der Zeitmauer. Stuttgart 1959. Jörg Krämer, Das Problem der islamischen Kulturgeschichte. Tübingen 1959. Francis Wilhelm Lantink, Oswald Spengler oder die „zweite Romantik“. Proef­schrift. Utrecht 1995. Georg Lukács, Die Zerstörung der Vernunft. Köln 1960. NkG – Bernd Radtke, Neue kritische Gänge. Zu Stand und Aufgaben der Sufikforschung. Utrecht 2005. Albrecht Noth, „Früher Islam“. In: Ulrich Haarmann (hrsg.), Geschichte der arabischen Welt 11–100. München 1987. Karl Popper, Das Elend des Historizismus. Tübingen 2003. Bernd Radtke, „Das Verhältnis der islamischen Theologie und Philosophie zur Astrologie“. In: Saeculum 39 (1988) 259–267. – „Auserwähltheitsbewusstsein und Toleranz im modernen Islam“. In: Saeculum 40 (1989) 70–79. – „Der Ibrīz Lamaṭīs“. In: Holger Preißler und Heidi Stein (ed.), XXVI. Deutscher Orientalistentag. Annäherung an das Fremde. Stuttgart 1998, 326–333. – „How can man reach the mystical union? Ibn Ṭufayl and the divine spark“. In: The World of Ibn Ṭufayl (ed. L. Conrad) 165–194. Leiden 1996. – „Unio mystica und coniunctio. Mystisches Erleben und philosophische Erkenntnis im Islam“. In: Saeculum 41 (1990) 53–61.



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– „Versuch einer Grundsatzbetrachtung über das Allgemeine und das Individuelle in der islamischen Historiographie“. In: XXIV. Deutscher Orientalistentag, 264–270. Köln 1990. – „Eine alte frage: Woher stammt die islamische Mystik?“ In: Persica. – Autochthone islamische Aufklärung im achtzehnten Jahrhundert. Theoretische und filologische Überlegungen. Fortsetzung einer Debatte. Utrecht 2000. – Drei Schriften des Theosophen von Tirmiḏ. Zweiter Teil: Übersetzung und Kommentar. Bibliotheca Islamica 35b. Beirut-Stuttgart 1996. Rudolf Steiner, besprechung vom UdA. in: Der Goetheanumgedanke inmitten der Kulturkrisis der Gegenwart 81–100. Dornach 1961. Edward Said, Orientalism. New York 1979. Manfred Sschröter, Metaphysik des Untergangs. München 1949. Oswald Spengler, „Pessimismus?“. In: Reden und Aufsätze 63–79. München 1951. ThG – Josef van Ess, Theologie und Gesellschaft im 2. und 3. Jahrhundert Hidschra. 1–6. Berlin 1991–1997. Ernst Troeltsch, Augustin, die christliche Antike und das Mittelalter. Aalen 1963. Weltgeschichte – Bernd Radtke, Weltgeschichte und Weltbeschreibung im mittelalterlichen Islam. Beirut-Stuttgart 1992. Herbert Witzenmann, Intuition und Beobachtung. Stuttgart 1977.

Bild und Trugbild Der Orient in der deutschsprachigen Reiseliteratur des 19. Jahrhunderts als Teil der europäischen Reiseliteratur M. Khalifa „Wer eine gründliche Gelehrsamkeit erlangen will, muß sich vornehmlich einer anschauenden Erkenntnis befleißigen, denn diese ist die beste und gewisseste. Er muß also nicht allein Bücher lesen, sondern sich auch bemühen, viele Dinge selbst zu sehen und mit seinen Sinnen zu empfinden.“1

Dieser Rat aus den „Anweisungen“ des Göttinger Historikers Köhler benennt symptomatisch die Ziele der Reisen seit der Renaissance. Neugierde und Selbsterfahrung sollen in Form der Reise verschmelzen, um damit durch den Erkenntnisgewinn der Wissenschaft zu dienen.2 Dieses ehrenhafte Ziel wurde ab der Zeit des Humanismus mittels Fragekatalog in eine verbindliche Form gebracht.3 Bei den von uns zu untersuchenden Reiseschriftstellern des 19. Jahrhunderts handelt es sich also um reisende Wissenschaftler. Dies lässt sich sehr deutlich an Reiseberichten festmachen, die diesem wissenschaftlichen Anspruch aus irgendwelchen Gründen nicht gerecht werden können. So entschuldigt sich Bogumil Goltz in seinem 1853 erschienenen Reisebericht „Ein Kleinstädter in Ägypten“ ausdrücklich für seine nichtwissenschaftliche Darstellung.4 Die wissenschaftliche Neugierde war ein Beweggrund des Reisens, der auch am Schreibtisch zu bewältigen 1 Johann David Köhler, Anweisung zur Reiseklugheit für junge Gelehrte, Bd.  1 Magdeburg 1788, S. IX. 2 Eric J. Leed, Die Erfahrung der Fremde, Frankfurt a. M./New York 1993. S. 194. (engl. „The Mind of the Traveler“, New York 1991). 3 Cornelia Neutsch, Die Kunst, seine Reisen wohl einzurichten – Gelehrte und Enzyklopädien, in: Hermann Bausinger, u. a., Reisekultur, München 1991, hier 2 1999, S. 149. 4 Bogumil Goltz, Ein Kleinstädter in Aegypten, Berlin 1853, S. XV.

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gewesen wäre, doch eine Heroisierung des Reiseschriftstellers und die Verfassung von Quellen, die nur durch Verifizierung in der Praxis zu primären und somit glaubhaften werden konnten, drängten den Mann und die respektive Frau des 19. Jahrhunderts in die Ferne. Eine Eigenart der Reiseliteratur dieses Jahrhunderts ist besonders prägend dafür, dass so viele Frauen die Möglichkeit hatten diese Reiseerfahrung zu erleben. Diese aus gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Veränderungen zu erklärende Erscheinung zu beobachten, ist vor allem auf Grund des unterschiedlichen Agierens der Frauen interessant. Oft als Männer verkleidet, sind ihre Erfahrungen doch ganz unterschiedlich zu denen der männlichen Reisenden und fokussieren die Geschlechterpolarität.5

I. Reisen als Selbsterfahrung Ein wichtiger Grund, die Grenzen der eigenen Zivilisation zu verlassen, war die Suche nach Abenteuer. Diese Suche bringt uns auch mitten in den Topos der orientalischen Reisen. Neben europäischen Reisezielen, war der Orient und insbesondere Ägypten, das durch die französische bzw. britische Besatzung in den Blick Europas gerückt war, zum gelobten Ziel der Exotismusbewegung des 19. Jahrhunderts geworden. Da man in europäischen Ländern aber weder neue Erfahrungen, geschweige Abenteuer erleben konnte, wurde man zwangsläufig zum Touristen, der Reisende blickte Richtung Osten. Dort fand er das „Fremde“, eine „fremde“ Gesellschaft, eine „fremde“ Kultur, sozusagen „fremde“ Identitäten, die er mit seiner Identität vergleichen und abgrenzen konnte. Das „Fremde“ ist aber nicht einfach da und kann beobachtet werden, vielmehr ist das „Fremde“ eine Mischung aus der Opposition zum Eigenen und einem vorgefertigten Bild, das sich aus sekundären Erfahrungen oraler und/oder schriftlicher Art zusammensetzt und als Teil unseres kulturellen Gedächtnisses mit uns transportiert wird. Dieses „Vorwissen“ aber erzeugt bei jeder Beobachtung des „Fremden“ unweigerlich ein Trugbild, eine verfälschte Wahrnehmung der Wirklichkeit. Der Reichtum der Reiseliteratur liegt nun gerade darin, dass durch die literaturwissenschaftliche Differenzierung der Trugbilder und tatsächlichen Bilder in den Texten, sich das Eigene im Fremden offenbart. Das Fremde wird nur durch das Eigene zum Fremden und umgekehrt. So unternimmt der Reisende letztend5 S. hierzu besonders: Annette Deeken/Monika Bösel, An den süßen Wassern Asiens. Frauenreisen in den Orient, Frankfurt a. M./New York, 1996.



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lich eine Reise zu sich selbst. Nachdem durch zahlreiche Expeditionen in die Ferne, damals noch unbekannte Länder gegen Ende des 18. Jahrhunderts die meisten Kontinente erforscht wurden, ergaben sich nun vermehrt dichterische Werke über diese fremden Welten. Die Beschreibungen von den unternommenen Reisen überschreiten verschiedene literarische Rubriken, so dass nicht nur Reiseberichte, sondern auch Romane bis hin zu fiktiven Reiseromanen entstehen. Während der Reisende über das Fremde und das Ungewöhnliche schreibt, bringt er das Erlebte in eine für sich „vertraute“ Form, so dass es dem Leser damit auch „vertraut“ wird. Diese „vertraute“ Form entsteht immer dann, wenn das Fremde durch die Augen der eigenen Kultur betrachtet, geschildert wird. An einem konkreten Beispiel erklärt, schildert ein deutscher Schriftsteller Ägypten aus der Sicht seiner kulturellen Identität – der deutschen – und schafft somit eine „vertraute“ – deutsche – Perspektive für den deutschen Leser. Die Grenzen zwischen den beiden Kulturen, der des Schreibers und der des bereisten Landes, werden somit nur selten überwunden, selbst wenn dies mancher Reisende von sich behauptet. Schon im 17. Jahrhundert benutzten europäische Schriftsteller den Orient als Handlungsraum in ihren literarischen Werken und verarbeiteten dessen Mythen und Bilder in ihren Phantasien, die sie niederschrieben. Im 19. Jahrhundert wurde dann das Interesse an den orientalischen islamischen Ländern sehr groß. Durch die Berichte über die unternommenen Expeditionen bekannter Weltreisender, wurde die Neugier bei den Menschen immer größer, mehr über diese fremde Kultur zu erfahren. Das Leseinteresse in Europa wuchs ständig und dies galt besonders für den arabischen Raum, mit seiner orientalischen Kultur und der fremden Religion. Ein besonders großes Interesse weckte das vierundzwanzig bändige Werk „Discription de l’Egypte“ von Françoise Champollion.

II. Ägypten als stellvertretendes Reiseziel für den Orient Die europäische Literatur hat von der griechischen und römischen Literatur das Interesse an Ägypten bzw. seiner Geschichte und Geographie, den Sitten und Gebräuchen seines Volkes sowie am Nil, seinen Quellen und den Gründen für die Überschwemmungen durch ihn, geerbt. Dies war eine Zeitlang rein theoretisch, aber in der Zeit der Ptolemäer und mit der Eroberung Ägyptens durch Alexander den Großen wurde die praktische Seite dieses Interesses betont.

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Schon zur Zeit des römischen Imperiums wurde die erste Reise unternommen, um die Nilquellen zu entdecken. Die römischen Schriftsteller zeigten großes Interesse über das Land Ägypten zu schreiben und dies war der Anfang der Reiseliteratur über Ägypten. Jahrhunderte später, als Ägypten ein Teil der islamischen Welt wurde, bzw. Teil eines sprachlich und religiös einheitlichen Gebiets, das sich von Zentralasien nördlich bis in den Sudan und Nubien südlich sowie von Persien im Osten bis an die Atlantikküste im Westen erstreckte, hat das Interesse an Ägypten zugenommen. Viele der muslimischen Reisenden kamen nach Ägypten, um über Land und Leute sowie die Nilquellen zu berichten. Diese Reiseschriftsteller hatten bessere Chancen als ihre römischen und griechischen Vorgänger, da die arabische Sprache die Kommunikation mit den Einheimischen erleichterte, wozu die allgemein harmonische Lage zwischen den islamischen Ländern auch noch wesentlich beitrug. Ein weiterer Grund für das damalige große Interesse an Ägypten war seine Lage als Zwischenstation für Pilgerreisende aus afrikanischen Ländern auf ihrem Weg nach Mekka. Für diese Pilger war Kairo der große Treffpunkt auf ihrem Hin- und Rückweg. Später im Zeitalter der europäischen Renaissance – bestand ein großes Interesse an der Übersetzung griechischer und römischer literarischer Werke, sowie arabischer und islamischer Schriften ins Lateinische, als vermittelnde Sprache zwecks einer weiteren Übersetzung in verschiedene europäische Sprachen. In dieser Zeit wurde die antike Reiseliteratur über Ägypten wieder entdeckt. In der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts wuchs das Interesse an Ägypten durch Übersetzungen der klassischen Reisebücher auch beim Lesepublikum der europäischen Mittelschicht, die finanziell gut situiert war und danach strebte, sich mehr Wissen über Ägypten und seine Geheimnisse anzueignen. Andererseits standen die katholische und protestantische Kirche miteinander im Wettbewerb, ihre jeweiligen Lehren zu verbreiten und jede der beiden Kirchen wollte die ägyptischen Christen, die Kopten, für sich gewinnen, weshalb beide viele Vertreter nach Ägypten und Äthiopien schickten. In seinem Reisebuch schreibt J. Antes über seine Versuche in der Stadt Bahnassa6 in Ägypten, die dortigen Kopten dazu zu bewegen sich der protestantischen Kirche anzuschließen.7 Mit dem Kolonia6 Bahnassa: Stadt im Bezirk Menia, ca. 380 km südlich von Kairo 7 J. Antes, Confidence in God, London 1799 P. G.



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lismus und infolge der Industrialisierung in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts und Anfang des 19. Jahrhunderts erlebte die Reiseliteratur einen großen Aufschwung und hatte ein großes Lesepublikum gefunden. Eine große Anzahl europäischer Reisender kam, um Ägypten zu bereisen oder es zum Ausgangspunkt für Reisen nach Afrika oder in die arabischen Länder zu machen oder um die klassischen Handelswege mit dem Orient durch die arabische Halbinsel und den Golf bzw. über das Rote Meer nach Indien wieder zu entdecken.8 Die britische und französische Kolonialisierung, die Erleichterungen durch die Verbesserungen der Verkehrsmittel nach der Entdeckung und Anwendung der Dampfkraft sowie das Aufkommen der Mittelschicht in der europäischen Gesellschaft, all dies trug dazu bei, dass viele Europäer in den Orient reisten, nicht nur um zu den heiligen Städten des Christentums und vor allem nach Jerusalem zu pilgern sondern auch um des Wissens willen. Der normale Weg der Reisenden nach Afrika bzw. Ägypten ging übers Mittelmeer nach Alexandria, Damita oder Rositta, dann mit Schiffen auf den Nil bis nach Bulak, dem ersten Nilhafen in Kairo. Von dort aus schloss sich der Reisende einer der Karawanen, die nach Suez zogen, an, wo die Reise mit dem Schiff über das Rote Meer nach Indien fortgesetzt wurde. Viele Reisende haben diese Karawanenwege, sei es der von Kairo nach Suez, der über Sinnar im Sudan oder sei es der über Äthiopien, genauestens beschrieben. Dies hat dazu beigetragen, dass Ägypten nach und nach an Berühmtheit gewonnen hat.

Innere Beweggründe für Ägyptenreisen – Mission und Neugierde Während des 19. Jahrhunderts erweckte die arabische Welt sehr großes Interesse und aktive Bewegung seitens der Reisenden und Missionare der westlichen Welt. Dieses Interesse führte wesentlich zur Mehrung des Wissens sowie der verschiedenen Auffassungen über das Wesen der Araber und die arabisch-orientalische Welt. Jenes Gedankengut jedoch, dass sich in der europäischen Gesellschaft verbreitet hatte, beeinflusste die nachfolgenden Reisenden und Missionare und hatte 8 1768 versuchte der Reisende James Bruce den Landweg zwischen England (Britannien) und Indien, der durch Ägypten verlief, zu entdecken.

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einige davon bereits während ihrer Reisevorbereitung geprägt. Viele Reisende kamen in diese Region mit vorgefassten Bildern und Informationen, die seit mehreren Generationen über deren Bewohner überliefert wurden. In den meisten Fällen sah der Reisende im „Anderen“ bzw. im Araber seinen Gegenpol, der rückständig und unkultiviert im Gegensatz zum „aufgeklärten“ und „erlösten“ europäischen Missionar gesehen und als „verloren“ betrachtet wurde. Diese Art und Weise den „Anderen“ zu beschreiben sollten wir im Rahmen der politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen sowie der Beziehung zwischen Orient und Okzident in diesem Jahrhundert sowie in vergangenen Jahrhunderten verstehen. Aus diesem Grund scheint es mir wichtig einen Blick über die geschichtlichen, kulturellen und gesellschaftlichen Hintergründe in Europa zu werfen um die Verhaltensweisen und Schriften der Orientreisenden nachvollziehen zu können. Das Reisen spielte immer eine wichtige Rolle in der europäischen Literatur sowie dem europäischen Leben überhaupt. Bereits im Mittelalter beschrieb man den Pilgerweg zum Mittelpunkt der Welt – Jerusalem. Das Leben im christlichen Denken wird als eine Reise betrachtet, die voller Leiden ist und eine Suche nach Reue und Erlösung darstellt. Die Reise wurde auch bei vielen christlichen Reisenden zum Versuch das zweite Königtum bzw. neue Jerusalem wiederherzustellen. Dieses Thema wurde von Carsten Niebuhr in seinen Reisebeschreibungen der arabischen Welt angesprochen.9 Andere Christen reisten in den Orient aus der Überzeugung heraus die Länder dort zum Christentum zu bekehren bzw. die heiligen Stätten vom Joch der Juden und Muslime zu befreien, was in diesen Fällen zu den Kreuzzügen führte. Dabei spielte der Missionar eine große Rolle. Viele der europäischen Christen bereisten aus christlich-ideologischen Gründen auf zum Teil sehr beschwerliche Weise die arabischen Länder, um das Licht der Bibel in die dortige Dunkelheit zu verbreiten. Der Reisende war fest davon überzeugt, dass er damit den Weg Gottes gehe und dies Gottes Wille sei. Diese Gedanken spiegelten sich wieder in den Beschreibungen und Reiseberichten. Eine weitere Motivation für viele Reisende war zur Zeit der schon erwähnten Exotismusbewegung des 19. Jahrhunderts die Suche nach „Utopia“ und Romantik. Die Faszination der Wüste, die Beduinen mit ihren Kamelkarawanen und die orientalische Atmosphäre beflügelten 9 Carsten Niebuhr, Beschreibung von Arabien – Aus eigenen Beobachtungen und im Lande selbst gesammelten Nachrichten abgefasst (1772), Graz 1969.



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die Phantasie vieler Reiseschriftsteller. Ähnliche Beweggründe führten Reisende auch nach Italien, wo sich scheinbar „unberührte“ Natur und kulturelle Schätze zu einer idealen Landschaft vereinen, die, ähnlich wie Orientmotive, Eingang in die romantische Malerei und auch in die Literatur fanden. Die Behauptung, dass die Äußerungen der europäischen Reiseschriftsteller im 19. Jahrhundert über den arabischen Orient auf das 15. Jahrhundert zurückgehen, mag ungewöhnlich klingen: Tatsache ist jedoch, dass es in der Renaissance, genauer am Ende des 15. Jahrhunderts, einen großen Entdeckungsdrang gab, den Kolumbus das „Projekt der Indischen Inseln“ nannte. Die andere Hälfte der Welt galt es zu entdecken. Das Mittelmeer war unter Kontrolle der islamischen Länder, daher die Idee, die islamische Macht zu umfahren. Christopher Kolumbus selbst sah in seiner Reise auch eine missionarische Arbeit. Sein Vorhaben war unter anderem die Völker der von ihm entdeckten bzw. bereisten Länder sowie deren Herrscher zum Christentum zu bekehren und mit ihrer Hilfe gegen die islamische Welt zu kämpfen. In einem Brief an König Ferdinand und Königin Isabella von Kastilien versicherte Kolumbus, dass die orientalischen Völker konvertiert und die Anhänger Mohammeds besiegt werden müssten. Die Idee der Mission war in erster Linie eher eine ideologische Bewegung. So hielt sich der Europäer selbst für aufgeklärt und kultiviert, während der Orientale in Dunkelheit und Unwissenheit lebte. Diese Klischees hielten sich bis zum 19. Jahrhundert. So hieß es z. B. im Bericht des Komitees des amerikanischen Rates für missionarische Delegationen ins Ausland von 1819, dass es den Muslimen, Christen und Indern in den islamischen Ländern sehr schlecht gehe, sie seien rückständig, unwissend und genössen kein göttliches Wissen.10 Der Gedanke der Missioniere wie auch das gleichzeitige Feindbild vom Araber begleitete viele der europäischen Orientreisenden bis ins 19. Jahrhundert. Daher ist es kein Wunder, dass ein Reiseschriftsteller wie J. V. C. Smith11, der im 19. Jahrhundert Palästina bereiste, als Endergebnis seiner Reise schreibt, dass die Moral der Länder, in denen die mohammedanische Religion herrscht, total verfallen ist und dass die schlimmsten Sünden dort verübt werden, weil die Begierden der Angehörigen dieser Religion sehr triebhaft seien.

10 Vgl. Jessup Hett, The Mohammedan Missionary Problem, Philadelphia 1879. 11 J. V. C. Smith, A Pilgerimage to Palestine, Boston 1853, S. 118–119.

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Vordergründig wurde dies als humanistische Motivation begründet, denn die kulturelle Okkupation durch den Missionar bzw. Reisenden wurde als Segen für die Menschen dort gesehen, die die Ideen der Aufklärung dort verankern würde. Diese Gedanken fanden natürlich auch Eingang in die Wissenschaft der Orientalistik. In einem Bericht über Orientalistik schreibt „The Knickerbocker“12 1853 über die Notwendigkeit, dass die westliche Kultur und Religion, also das Christentum, die Seele der Muslime befreien und ihren kranken Geist heilen müsse. Immer wieder wird auch die Überlegenheit des Westens genannt. Die Karawane des Quran bzw. des Islam würde mit der Entwicklung der Dampfmaschine nicht mithalten können. Der Hilal13 müsse weichen, aber nicht durch die Begegnung mit dem Kreuz, sondern durch den Eifer und das fortschrittliche Wissen der Christen. In den Schriften der Missionare herrschte allgemeinhin der Gedanke, dass die Moslems, indem sie sich gegen die missionarischen Ideen stellten, nicht nur gegen das Christentum ankämpften, vielmehr würden sie sich dem wissenschaftlichen und kulturellen Fortschritt verweigern, weshalb sie auf längerer Sicht zwangsläufig als Verlierer das Feld räumen würden. Nicht zu vergessen ist aber, dass diese Meinungen nur eine Seite der Öffentlichkeit widerspiegeln. Tatsache ist, dass es kein einheitliches Bild der Araber in der Literatur des Westens gab, denn im Laufe der Jahrhunderte gab es immer wieder die unterschiedlichsten Darstellungen des Orients.14

III. Europäische Reisende im Ägypten des 19. Jahrhunderts Wie wir bereits sahen, war Ägypten schon öfters ins Zentrum des Interesses von Europa gerückt. Das Land besaß nicht nur eine strategische Bedeutung in Bezug auf Afrika und Asien, sondern war auch eine wesentliche Abkürzung für die Händler auf ihrem Weg nach Indien.15 12 „Orientalism“, The Knickerbocker, v. XLI, no. 6 (june 7 1853), 487. 13 Halbmond, Symbol des Islam, Anm. d. Verf. 14 Vgl. Edward W. Said, Orientalism, arabic Edition, Beirut (Lebanon) 1981. 15 Vgl. Abdel-Noor, Ägypten in der deutschen Literatur des 19. Jahrhunderts, München 1986, S. 14–17.



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So war die Idee einer französischen Invasion in Ägypten durch Napoleon Bonaparte nicht neu. Außerdem versetzte man dem Gegner England und seiner Verbindung nach Indien einen schweren Schlag, als Frankreich das Land am Nil kontrollierte. So setzte am 1. Juli 1798 Napoleon seine Idee in die Tat um. In der Zeit der Besatzung durch Napoleon wurde nun die Voraussetzung geschaffen, die später zum ersten ägyptischen Staat unter Mohammed Ali führte. Doch auch in Europa machte sich Napoleons Expedition bemerkbar, denn mit ihm reisten nicht nur Soldaten sondern auch viele Wissenschaftler, die nun begannen das Land am Nil unter die Lupe zu nehmen. Durch sie wurden die zahlreichen berühmten Bauwerke der Pharaonen wieder entdeckt und mit ihnen kamen eine Vielzahl von abenteuerlichen Geschichten nach Europa, die das Interesse, in dieses ferne Land zu reisen, weckten.16 In diesen ganzen Euphemismus wurde eine neue Wissenschaft hinein geboren, die Ägyptologie. Françoise Champollion legte der Wissenschaft mit seinem Werk „Discription de l’Egypte“, wo er mit Hilfe griechischer Texte Hieroglyphen entziffert, einen Grundstein. 17 Im Jahre 1850 hielt die Ägyptologie in Deutschland unter Richard Lepsius Einzug. Der junge Sprachwissenschaftler unternahm 1842 eine Expedition nach Ägypten, von der er zahlreiche Altertümer mitbrachte. Diese Sammlung bildete den Grundstein für die Gründung des Museums in Berlin, deren Direktor Lepsius 1865 wurde. Mit dieser ägyptischen Abteilung wurde nun jedem die ägyptische Kultur nähergebracht.18 Fuhr man also im 18. Jahrhundert am liebsten nach Italien um die kulturellen europäischen Wurzeln zu suchen, sehnten sich die Reisenden jetzt nach noch südlicheren Gefilden – Ägypten, auf der Suche nach den Spuren der menschlichen Zivilisation. Die ersten Europäer, die über ihre Reise nach Ägypten schrieben, kamen aus England und Frankreich. So seien Namen genannt, wie Alexander William Kinglake mit „Eothen, or Traces of Travel brought home from East“ (1844), William Makepiece Thackeray mit „A Legend of the Rhine. Notes of a Journey from Cornhill to Grand Cairo“ (1846) oder Alphones de Lamartine „Souvenirs, impressions, pensées et paysages, pendant un voyage en Orient“ (1835), Gustave Flau16 Ebd. 17 Ebd., S. 17. 18 Ebd., S. 34–35

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bert (1849–1851) „Voyage en Égypte“, Gérard de Nerval und Théophil Gautier, „Une nuit de Cléopâtre“ (1838); „Le Pied de Momie“ (1840); Le Roman de la Momie (1857); Eugene Fromentin, Voyage en Égypte (1969); Alfred de Vigny L. Almeh, „Fragments d’un Roman“ (1831).19 Auch in Deutschland hat die Begeisterung über Ägypten ihre Spuren hinterlassen. Einer der Ersten war Bogumil Goltz, der 1849 eine Reise an den Nil unternahm und diese später in „Ein Kleinstädter in Ägypten“ niederschrieb. Aus reinen wissenschaftlichen Gründen reiste der Ägyptologe Georg Ebers nach Ägypten. Sein Interesse für das Land galt der Ägyptologie, jedoch vermittelt Ebers in seinen historischen Romanen, die in Deutschland überaus populär waren, alles andere als den Versuch der Annäherung an eine historische „Wahrheit“, vielmehr zeichnet er ein Bild aus der typisch deutschen Sicht der damaligen Zeit.20 So versucht er die ägyptische Kunst im Sinne des romantischen Kunststils seiner Zeit zu kritisieren.21 Ebenfalls in der Mitte des 19. Jahrhunderts begab sich der Weltreisende Hermann Fürst von Pückler-Muskau auf die Fahrt ins Land am Nil. Aus dieser Reise ging später das Werk „Aus Mehemed Alis Reich“ hervor, das einen hohen historischen und kulturgeschichtlichen Inhalt besitzt.22

IV. Joseph Russegger als Beispiel für einen deutschsprachigen Orientreiseschriftsteller des 19. Jahrhunderts Mitte des 19. Jahrhunderts bereiste der Österreicher Joseph Russegger Europa, Afrika und Asien, um diese Reiseeindrücke in einem fünfbändigen Reisebericht „Reisen in Europa, Asien und Afrika“ literarisch zu verarbeiten. Seine Schilderungen bemühen sich einerseits um einen akribischen wissenschaftlichen Stil, was sich in Tabellen und Diagrammen bzw. Zeichnungen und detailgenauen Beobachtungen niederschlägt. Anderseits mischt er subjektive Wahrnehmungen, die er als teilweise abenteuerliche Erlebnisberichte verfasst, immer wieder mit

19 Ebd., S. 10–11. 20 Ebd., S. 12. 21 Ebd., S. 186 f. 22 Aleya Khattab, Das Ägyptenbild in den deutschsprachigen Reisebeschreibungen der Zeit von 1285–1500, Frankfurt a. M. 1982, S. 119–120.



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seinen wissenschaftlichen Exkursen, damit – nach eigenen Aussagen – der Leser nicht allzu sehr gelangweilt wird. Für Russegger schien also die Kombination einerseits aus realistischer Erzählung der Vorfälle, anderseits aus einer, in die Tiefe gehenden, detaillierten Untersuchung von Besonderheiten eine geeignete Mischung zu sein, um eine möglichst umfangreiche Landeskunde zu präsentieren. Da Russegger seine Leser auf seine „Reise“ mitnehmen und mit der Fremde vertraut machen wollte, hatte er seinen anfänglichen Plan, seine Arbeit in einen wissenschaftlichen und einen historischen Abschnitt zu teilen, wieder fallengelassen: Ich hatte anfänglich den Plan, den historischen Theil der Reise ganz von dem Wissenschaftlichen zu trennen und jeden für sich zu behandeln. Doch ging ich davon aus triftigen Gründen wieder ab. Der wissenschaftliche Theil der Reise, ganz abstrahiert vom historischem, und isoliert hingestellt, wird zu trocken, zu ungenießbar, selbst für den Gelehrten vom Fach, wenn er außer diesem noch für etwas Menschliches Sinn hat. Außerdem würde es in diesem Falle viele Leser geben, die sich nicht würden orientieren können. Der Autor muss den Leser mit sich reisen lassen, er muss ihn in die fremden, fernen Lokalitäten einführen, dann wird derselbe dort zu Hause sein, sonst nicht. (1. Bd., 1. Theil, S. 8)23

Um seinen Beschreibungen mehr Authentizität zu verleihen, d. h. dem Leser als Rezipienten ein plastischeres Bild seiner Reise vor Augen zu führen, bedient sich Russegger vieler Quellen, die ihm damals zur Verfügung standen. Ziel war es ein umfassendes Portrait der von ihm vorgestellten Landschaft mit seinen Bewohnern zu zeichnen. Dabei musste er sich mangels Bildquellen der Sprache bedienen, die ein „sprachliches“ Bild im Kopf des Lesers erzeugen soll. Die Ausführungen müssen also so beschaffen sein, dass sie zu solch einer Transformation der Zeichen in Bilder benutzbar sind. D. h. die Information in Form von Schrift als Text für den Leser muss in der Lage sein von ihm in „Kopfbilder“ umgewandelt zu werden. Diese Bilder unterteilen sich in zweierlei Bedeutung. Zum einen das optische Bild, das man von einer Person oder einer Landschaft hat, indem man es mit dem Auge aufnimmt. Landschaften aber auch Personen müssen mit Detailtreue beschrieben werden, aber ohne den Leser mit allzu großer Ausführlichkeit zu langweilen, schließlich soll dieser nur einen Eindruck in Form eines Überblicks bekommen. Die andere Bedeutung, 23 Aus: Russegger, Reisen in Europa, Asien und Afrika, Stuttgart 1841.

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nämlich das „Bild, welches man von einer Person hat“, sprich eine Meinung, eine Einschätzung einer Person darzustellen, gestaltet sich ungleich schwieriger. Diese Meinung oder Einschätzung setzt sich aus vielerlei Komponenten zusammen. Das Verhalten gegenüber anderen Personen, Gebräuche, Vita, um die wichtigsten zu nennen. Das „Bild“ vieler Personen ergibt dann das „Bild“ eines Volkes, beeinflusst durch Geschichte, Kultur und Verhalten gegenüber anderen Völkern. Das Didaktische, Lehrreiche bildet bei Russegger, der sich auch als Aufklärer und Bildungsmensch sieht, das zentrale Element. So gibt er dem Leser eine klare Übersicht über die Art und Weise, wie und warum er seine Reise beschreibt: Da meiner Arbeit die Ansicht zugrunde liegt, die Ergebnisse der Reise nur ganz einfach zu erzählen und die wissenschaftlichen Beobachtungen mit den sich daraus ableitenden Folgerungen hinzustellen, folglich das Bestreben vorliegt, nur Fakta zu liefern, so umgehe ich soviel möglich alles nicht zum Zwecke führende Raisonnement und die Aufstellung von Hypothesen, die den Eingeweihten nichts helfen und den Jüngern nur Vorurtheile in den Kopf setzen, die sich beunruhigen, die Natur anzuschauen. (1. Bd., S. 10 f.)

Um seine Arbeit glaubwürdig darzustellen und ihr einen wissenschaftlichen Rahmen zu geben hat Russegger viele andere Autoren gelesen, zitiert und kommentiert. Immer begegnet er den Leistungen anderer Wissenschaftler oder Reisender mit Respekt, auch wenn er viele Aussagen widerlegt oder kritisch hinterfragt. Ihm sind sehr wohl die Strapazen einer Reise und deren Entbehrungen wie Hunger, Durst, körperliche Bedrohung, das Klima und anderes, bewusst: Darum beuge ich mich mit so viel Achtung vor den Namen eines Mungo Park, eines Browne, eines Burkhardt, eines Clapperton, Deniam, Oudney und so vieler jener, die der Wissenschaft auf afrikanischem Boden zum Opfer fielen. (2. Bd., 1. Theil, S. 2)

So sieht er sich denn auch als Wegbereiter der Wissenschaft(en) im Sinne eines humboldtschen Bildungsideals. Seine ihm selbst gestellte Aufgabe als Universalgelehrter, besteht darin, neben naturwissenschaftlichen, kunsthistorischen, historischen und sozialen Beobachtungen zu versuchen dem Leser in einer Mischung aus erzählerischem Stil und empirischen Erhebungen gerecht zu werden. Was ihn von anderen Reiseschriftstellern seiner Zeit abhebt, ist sicherlich die wissenschaftliche Akribie seiner Vor- und Nachbereitungen. Die Literaturliste, sozusagen seine ersten „virtuellen“, gelesenen Erfahrungen mit der Fremde,



Bild und Trugbild

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umfasst nahezu 200 Titel. Eine beachtliche Anzahl, die den Anspruch der Reise, neue Erkenntnisse zu gewinnen, nochmals unterstreicht. Ganz zentral bleibt jedoch, bei aller Faktenvermittlung, die Absicht, den Leser mittels der niedergeschriebenen Reiseerlebnisse eben auf diese Reise noch einmal „geistig“ mitzunehmen.

V. Schlussfolgerung Das Fremde soll quasi von der heimischen Studierstube aus für den Rezipienten erfahrbar werden. Nicht mehr, aber auch nicht weniger, wollte Russegger mit seiner Arbeit erreichen. Und dies galt letztendlich für alle Reiseschriftsteller, die im 19. Jahrhundert jenseits von unserem bunten, medialen Zeitalter der engen Räume und dem Zusammenwachsen der fremden Orte, eben diese Orte sichtbar machen wollten. Ihre Bilder entstanden erst beim Lesen im Kopf, ihre schwarz-weißen Zeichen, werden erst durch ihre literarischen Künste zu lebendigen, plastischen Szenarien. Solche Szenarien unterlagen aber in allen Fällen dem subjektiven Filter des Betrachters, sein Auge projizierte das Bild der Fremde, ein „Trugbild“ freilich, war es doch individuell verschwommen. Die heutigen Photos oder gar Fernsehbilder sind dennoch nur scheinbar schärfer, auch hier werden nur vorselektierte Bilder vermittelt. Die nichtaufgenommenen, dem Kameramann entgangenen Bilder, fehlen uns, um diese „Trugbilder“ scharf zu stellen.24

24 Siehe Mohammed Khalifa, Die literarische Darstellung Ägyptens und des orientalischen Lebens in der deutschsprachigen Reiseliteratur – Eine kritische Analyse der Reiseberichte Joseph von Russeggers, Universität Salzburg, 2002.

The Orient Within Orientalism, Anti-Semitism and Gender in 18th to early 20th Century Germany A. Rohde This chapter addresses German-Jewish history between the late 18th and the early 20th centuries. It focuses on public debates concerning the emancipation and integration of the Jewish minority into German society and on the development of both Christian German and Jewish German self-perceptions. Simultaneously, this chapter discusses the shared history of Jewish and Islamic Studies in German academia and thus contributes a hitherto neglected aspect to the growing body of research on the history of German Oriental Studies as an academic discipline.1

German Orientalism? Studies on the history of Western colonialism and post-colonial theory have established themselves in many parts of the social sciences. Questions relating to German history and society are rarely being discussed in such works. According to the founding thesis of post-colonial studies, Edward Said’s ‘Orientalism’, the German view of the Orient both in the academy and the wider social context was hardly affected by this discourse, as Germany played only a marginal role among the colonial powers.2 Some of Said’s critics point to the prestigious German Orientalist scholarship of 19th and early 20th century as an example for a value-neutral, ‘pure scholarship’ and argue that by neglecting the German Orientalist tradition, Said basically devalued his whole argu1 For a longer German version of this chapter, see Rohde, Achim, “Der innere Orient. Orientalismus, Antisemitismus und Geschlecht im Deutschland des 18. bis 20. Jahrhunderts,” Die Welt des Islams 45, 3 (2005): 370–411. 2 Said, Edward, Orientalism (New York: Vintage Books, 1978), 19.

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ment.3 Only a few German speaking Orientalists such as the first chair of Hamburg University’s Institute for the History and Culture of the Near East Carl-Heinrich Becker (1876–1933), who later served as Prussian Minister of Culture, or the Dutch Christian Snouck Hurgronje (1857–1936) have been linked to a colonialist world-view.4 Even during the Nazi era, German Orientalist scholarship remained largely apolitical and philologically oriented, although there were notable exceptions like the later dean of Oriental Studies at Hamburg University, Bertold Spuler (1911–90), who in the early years of the Nazi regime was a member of the SA and since 1937 also a member of the Nazi party. During WW II Spuler worked for the Ministry of Occupied Eastern Europe and gave seminars to Turkmen and Caucasian auxiliary troops for the army and SS.5 Numerous scholars have pointed out that Western discourses on ‘the Orient’ were not simply a tool of European colonialism, but a rather multi-layered and ambivalent ensemble of negative and positive references. Along this line of research, European Orientalists interacted 3 Vgl. Macfie, A. L. (ed.), Orientalism. A Reader (Edinburgh: Edinburgh UP, 2000). For recent works on the history of German Oriental Studies, which are notably skeptical concerning the applicability of Said’s arguments on the German context, see Hanisch, Ludmila, Die Nachfolger der Exegeten. Deutschsprachige Erforschung des Vorderen Orients in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts (Wiesbaden: Harrassowitz, 2003); Mangold, Sabine, Eine weltbürgerliche Wissenschaft. Die deutsche Orientalistik im 19. Jahrhundert (Stuttgart: Franz Steiner, 2004). 4 Fähndrich, Hartmut, “Orientalismus und Orientalismus: Überlegungen zu Edward Said, Michel Foucault und westlichen ‘Islamstudien’,” Die Welt des Islams 28 (1988), 178–86; Johannsen, Baber, “Politics and Scholarship: The Development of Islamic Studies in the Federal Republic of Germany,” in Middle Eastern Studies. International Perspectives on the State of the Art, ed. Ismael, Tariq Y. (New York: Praeger, 1990), 71–130; Haridi, Alexander, Die Entdeckung der ‘islamischen Zivilisation’ im ‘Orient’: Zur Entstehungsgeschichte der ‘Islamkunde’ im deutschen Wissenschaftsbetrieb und ihren geschichtstheoretischen Implikationen – unter besonderer Berücksichtigung des Werkes von CARL HEINRICH BECKER (Unpublished MA dissertation, Universität Hamburg, 1995); Freitag, Ulrike, “Der Orientalist und der Mufti. Kulturkontakt im Mekka des 19. Jahrhunderts,” Die Welt des Islams 43, 1 (2003): 37–60. More recently, see also Abbas Poya, Maurus Reinkowsky eds., Das Unbehagen in der Islamwissenschaft. Ein klassisches Fach im Scheinwerferlicht der Politik und der Medien (Bielefeld: transcript, 2008). 5 Rohde, Achim, “Elfenbeinturm Revisited. Zur Geschichte der Orientalistik im Nationalsozialismus: Das Beispiel der Hamburger Universität,” Orient 41, 3 (2000): 435–60; Hanisch, Ludmila, Die Nachfolger der Exegeten.



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with the societies they studied in ways that proved mutually formative for both sides and did not constitute a colonialist one-way street.6 John J. Clarke, for example, has highlighted the influence of Eastern art and philosophy on numerous German and other European intellectuals between the 18th and the 20th centuries. He argues “that the West has endeavoured to integrate Eastern thought into its own intellectuel concerns in a manner which, on the face of it, cannot be fully understood in terms of ‘power’ and ‘domination’. Where Said, drawing on Michael Foucault’s work concerning the relationship between knowledge and power, saw Orientalism as a ‘master narrative’ of Western imperialism which constructs and controls its subjugated other, I shall portray it as tending to confront the structures of Western knowledge and power and to engage with Eastern ideas in ways which are more creative, opentextured, and more reciprocal than are allowed for in Said’s critique”.7 Although Said himself implicitly acknowledged a certain heterogeneity of Orientalist discourse by distinguishing between what he called manifest Orientalism, i. e. academic research, and latent Orientalism, i. e. fantasies of the Orient in arts and literature that often remained unconscious and could carry a variety of meanings and connotations, Said glossed over the implications of such differences for his overall thesis.8 The ‘Orient’ was both an object of analysis and control and simultaneously also an uncontrollable and often threatening object of desire, a region open to intellectual penetration by modern science, but also a mysterious and confusing entity that remained incomprehensible for outside observers. Homi K. Bhabha turns this ambivalent structure of Orientalism into a point of departure for understanding the split character of colonialist discourse between a rational and a libidinal dimension.9 The ambivalence is most visible in the gendered and sexualised imagery that Western discourses often associate/d with 6 Freitag, Ulrike, “Der Orientalist und der Mufti”. See also Franco, Eli (ed.), Beyond Orientalism: The Work of Wilhelm Halbfass and its Impact on Indian and Cross-Cultural Studies (Amsterdam: Rodopi, 1997). For a conceptual approach to Islamic Studies based on the dialogical hermeneutics of Hans-Georg Gadamer, see Schöller, Marco, Methode und Wahrheit in der Islamwissenschaft. Prolegomena (Wiesbaden: Harrassowitz, 2000). 7 Clarke, John James, Oriental Enlightenment: The Encounter between Asian and Western Thought (London: Routledge, 1997), 8; see also Gerstle, Andrew (ed.), Recovering the Orient. Artists, Scholars, Appropriations (Chur: Harwood Academic Publ., 1994). 8 Said, Edward, Orientalism, 206–07. 9 Bhabha, Homi K., The Location of Culture (London: Routledge, 1994).

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the ‘Orient’. Along this line of thought, Meyda Yeğenoğlu argues for a feminist critique of Orientalism that emphasises its ambivalent structure by applying a gender perspective: “To engage in an analysis of the unconscious site of Orientalism should not be seen as an alternative to its historical analysis. Indeed, if the power of Orientalism is not, as vulgar Marxism would have it, a mere reflection of an economic power, but is rather a power that is rooted in the production and dissemination of knowledge, concepts, and commonsense, then we must be able to root this knowledge itself in a certain libidinal economy that drives it. Therefore we need to subject Orientalist discourse to a more sexualized reading. By doing so, we can understand how the representation of otherness is achieved simultaneously through sexual as well as cultural modes of differentiation. The Western acts of understanding the Orient and its women are not two distinct enterprises, but rather are interwoven aspects of the same gesture”.10 Unlike Said, both Bhabha and Yeğenoğlu portray colonial power not as a homogenous discourse, but rather as a contradictory economy that struggles to dominate and control, but also desires its subjugated and/or impenetrable Other, and which simultaneously sparks the resistance of the latter. Since the mid-1990s, a growing number of academic works have focussed on the evolution of a specifically German colonialism and on the comparably limited, but partly genocidal colonial activities of the German Empire.11 These works apply a broad perspective that 10 Yeğenoğlu, Meyda, Colonial Fantasies: Towards a Feminist Reading of Orientalism (Cambridge: Cambridge UP, 1998), 26. 11 Zantop, Susanne, Colonial Fantasies: Conquest, Family, and Nation in Precolonial Germany, 1770–1870 (Durham: Duke UP, 1997); Prein, Phillip, “Mission to Arcadia: The Moravian Invention of an African Missionary Object as an Example of the Culture of German Nationalism and Colonialism,” German History 16, 3 (1998): 328–57; Friedrichsmeyer/Lennox/Zantop (eds.), The Imperialist Imagination. German Colonialism and Its Legacy (Ann Arbor: U of Michigan P, 1998); Möhle, Heiko (ed.), Branntwein, Bibeln und Bananen. Der deutsche Kolonialismus in Afrika – eine Spurensuche in Hamburg (Hamburg: Verlag Libertäre Assoziationen, 1999); Conrad, Sebastian und Randeria, Shahini (eds.), Jenseits des Eurozentrismus. Postkoloniale Perspektiven in den Geschichts- und Kulturwissenschaften (Frankfurt a. M./New York: Campus, 2002); Zimmerer, Jürgen, “Holocaust und Kolonialismus. Beitrag zu einer Archäologie des genozidalen Gedankens,” Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 51, 12 (2003): 1098– 1119. Zimmerer discovers a colonial dimension also in National Socialism, see his “Die Geburt des «Ostlandes» aus dem Geist des Kolonialismus. Die nationalsozialistische Eroberungs- und Beherrschungspolitik in (post‑)‌kolonialer Perspektive,” Sozial.Geschichte 19, 1 (2004): 10–43.



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includes the history of science, ideas and mentalities, literature and arts. By doing so, these works show that Orientalist and colonial fantasies were part of German identity politics, that they constituted a contrast foil and a stabilising tool for the German national project of modernity.12 The reasons for Said’s lack of attention to German history remain unknown. It is remarkable that Said repeatedly pointed to a structural similarity between Orientalism as perceived by him and Western antiSemitism, but he never elaborated on this claim.13 The limits of such a comparison become quickly evident by looking at the German context: The genocide of European Jewry as the monstrous climax of German anti-Semitism in the 20th century, outgrows the conceptual framework of Said’s Orientalism. The evolution of German Oriental Studies differs in important aspects from the British, French and US American cases, which are the focus of Said’s critique. Neglecting the German context seems to have been a pre-condition for Said’s homogenising and ahistorical model of Orientalism as a discourse of colonial domination levelled against Arabs/Muslims throughout the centuries. Many critics of Said point to a nationalist subtext in his ground-breaking thesis against the background of the Israeli-Palestinian conflict. From this perspective, Said’s Orientalism could be discounted as a kind of victim discourse that was formed in analogy to the main argument cited as legitimising the existence of the state of Israel – i. e. Western anti-Semitism – by ignoring, of all things, the history of German anti-Semitism. 12 Stauth, Georg, Islam und westlicher Rationalismus. Der Beitrag des Orientalismus zur Entstehung der Soziologie (Frankfurt a. M.: Campus, 1993); Hermann/ Blitz/Moßmann (eds.), Machtphantasie Deutschland: Nationalismus, Männlichkeit und Fremdenhaß im Vaterlandsdiskurs deutscher Schriftsteller des 18. Jahrhunderts (Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1996); Berman, Nina, Orientalismus, Kolonialismus und Moderne: Zum Bild des Orients in der deutschen Kultur um 1900 (Stuttgart: Metzler, 1997); El-Tayeb, Fatima, Schwarze Deutsche. Der Diskurs um Rasse und nationale Identität von 1890 bis 1933 (Frankfurt a. M.: Campus, 2001); Steinmetz, George, “‘The Devil’s Handwriting:’ Precolonial Discourse, Ethnographic Acuity, and Cross-Identification in German Colonialism,” Comparative Studies in Society and History 45, 1 (2003), 41–95; Steyerl, Hito, “Postkolonialismus und Biopolitik. Probleme der Übertragung postkolonialer Ansätze in den deutschen Kontext,” in Spricht die Subalterne deutsch? Migration und postkoloniale Kritik, eds. Steyerl, Hito and Gutiérrez Rodríguez, Encarnación (Münster: Unrast, 2003), 38–55. 13 Said, Edward, Orientalism, 27–28; ders., “Orientalism Reconsidered,” in Europe and Its Others, Vol.  1, Proceedings of the Essex Sociology of Literature Conference, eds. Barker/Hulme/Iversen/Loxley (Colchester: U of Essex P, 1985), 14–27.

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Yet, a number of recent works published mainly in US-American Jewish Studies also point to a connection between Saidian Orientalism and Western anti-Semitism. They apply the analytical categories developed by Said and later proponents of post-colonial theory on German-Jewish history between the late 18th and the early 20th centuries. In the course of emancipation, the marginalisation of German Jews on the juridical and political levels was gradually overcome. Thus, this chapter does not deal with an institutionalised colonial domination of the Jewish minority in Germany comparable, for example, to French rule over Algeria. It rather looks at discourses and imagery regarding Jews and Judaism popular among the Christian majority population, as well as at Jewish self-perceptions.

The Dark Side of Emancipation Until the 18th century, Jews had been economically and politically marginalized to varying degrees and often persecuted in all German speaking countries. Jews were allowed to settle only in restricted areas, could work only in certain, mostly marginal, professions. They were allowed to practice their religion only in so far as it remained low profile and did not arouse opposition from the Christian majority etc. Social segregation and a labour market split along ethnic and religious categories that reserve – de jure or de facto – professions with high social status to members of the dominant group and pushes the peripheral group into economic niches with low social status, has been aptly described as a form of internal colonialism.14 In view of enlightenment philosophy and due to the erosion of the traditional social and economic order, German state building elites increasingly came to regard the marginalisation of the Jews as a problem. Christian Wilhelm Dohm (1751–1820), author of the famous study ‘On the Civil Improvement of the Jews’ (1781–83) emerged as the single most influential proponent of Jewish emancipation. In the 14 Hechter, Michael, Internal Colonialism: The Celtic Fringe of British National Development, 1536–1966 (London: Routledge & Keagan Paul, 1975); “Group Formation and Cultural Division of Labour,” American Journal of Sociology 84 (1978): 293–318; Hind, Robert J., “The Internal Colonial Concept,” Comparative Studies in Society and History 26 (1984): 543–68; Peled, Yoav, Class and Ethnicity in the Pale. The Political Economy of Jewish Workers’ Nationalism in late Imperial Russia (New York: St. Martin’s Press, 1989).



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course of the 19th century, Jews gained important improvements of their status and increasingly participated in all walks of life.15 Despite the notable success of emancipation and the flowering of Jewish cultural and religious life in Germany in this period, German-Jewish history can hardly be taken as an example for a successful integration of a formerly peripheral group into mainstream society. Jewish emancipation was an effect of profound changes and modernisation processes that paved the way for the evolution of a bourgeois capitalist nation state. However, the social and spatial segregation between Jews and the Christian majority remained largely in place and was even mutually reinforced by both sides. While the Jewish orthodoxy saw emancipation as a danger to the survival of Jews as a distinct religious and cultural community, the Christian-German majority regarded it as a threat to the established order on both the factual level (economic competition, loss of privileges) and the symbolic level (challenging the concept of Christian superiority). German nationalism, at least in its völkisch version, further strengthened this trend by promoting concepts of national, religious and social homogeneity that contradicted the idea of Jewish emancipation.16 Modern discourses on Jews and Judaism were partly shaped by the emerging modern sciences. During the 19th century, Hebraic Studies developed out of an earlier religious tradition into a science based on positivist philology and historical source critique, parallel to the various currents of Oriental Studies (Arabistik, Iranistik, Turkologie, Indologie, Sinologie, later on Islamwissenschaft). Hebrew was often taught alongside Arabic in Oriental Studies institutes, a number of scholars were specialists in both fields.17 Christian Hebraists usually viewed Judaism and Christianity as two essentially different religions and argued for the latter’s superiority. Many of them distinguished between what they revered as an original prophetic Judaism in the ancient Orient and what they portrayed as a degenerate rabbinical Judaism frozen 15 Meyer, Michael unter Mitw. von Brenner, Michael (ed.), Deutsch-Jüdische Geschichte in der Neuzeit, Bd. 2: Emanzipation und Akkulturation: 1780–1871 (München: Beck, 2000). 16 Erb, Rainer und Bergmann, Werner, Die Nachtseite der Judenemanzipation. Der Widerstand gegen die Integration der Juden in Deutschland 1780–1860 (Berlin: Metropol, 1989), 18. 17 Heschel, Susannah, Abraham Geiger and the Jewish Jesus (Chicago: U of Chicago P, 1998); Pasto, James, “Islam’s ‘Strange Secret Sharer’: Orientalism, Judaism, and the Jewish Question,” Comparative Studies in Society and History 40, 3 (1998): 437–74.

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in rigid laws and traditions, particularly in the Diaspora. The teachings of Jesus were presented by them as a radical departure from Judaism. Hebraic Studies dealt almost exclusively with ancient Jewish history until the destruction of the second temple.18 Many took an active part in the debate on emancipation. Among them was the Christian biblical scholar and Orientalist Johann David Michaelis (1717–91), a contemporary of Dohm and his most influential adversary. His work will be portrayed later on in this paper.19 During the same period, a second current of Jewish Studies evolved outside academia, headed by a group of liberal Jewish theologians and historians. In 1819 they founded the Wissenschaft des Judentums (WJ) as a secular science that studied both ancient and contemporary Judaism. Proponents of the WJ were critical both of the work of Christian Hebraists and of the Jewish orthodoxy. They aimed at modernising Jewish culture and identity, thereby reproducing the wide-spread perception of the degeneracy of contemporary Diaspora Jewry, albeit from a different perspective. In the broader German context they strove to present Jews as a thriving cultural tradition throughout the centuries of the Diaspora, which contributed to the emerging bourgeois society of 19th century Germany.20 Such works posed a challenge to Christian Hebraists, and the latter sometimes clashed with Jewish scholars associated with the WJ. Thus, between 1850 and 1870 Abraham Geiger (1810–74), a reform minded rabbi and Islamic scholar, published some major and widely published works that presented both Christianity and Islam as rooted in Jewish tradition. Geiger met furious opposition by Christian Hebraists. Susannah Heschel argues that Geiger’s work constitutes a counter narrative challenging mainstream perceptions of Judaism as a negative foil, which reinforced the idea of a superior

18 See Schulin, Ernst, “Das Geschichtlichste Volk”. Die Historisierung des Judentums in der deutschen Geschichtswissenschaft des 19. Jahrhunderts, in his Arbeit an der Geschichte. Etappen der Historisierung auf dem Weg zur Moderne (Frankfurt a. M.: Campus, 1997), 114–63. 19 Löwenbrück, Anna-Ruth, Judenfeindschaft im Zeitalter der Aufklärung. Eine Studie zur Vorgeschichte des modernen Antisemitismus am Beispiel des Göttinger Theologen und Orientwissenschaftlers Johann David Michaelis, 1717–1791 (Frankfurt a. M.: Lang, 1995). 20 Livné-Freudenthal, Rachel, “Der ‘Verein für Cultur und Wissenschaft der Juden’ (1819–1824). Zwischen Staatskonformismus und Staatskritik,” Tel Aviver Jahrbuch für Deutsche Geschichte 20 (1991): 103–25.



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Western and Christian modernity.21 In 1885 the Deutsch-Israelitische Gemeindebund (German-Israelite Union), a roof organisation of numerous German-Jewish congregations, formed a historical commission designed to gather a comprehensive collection of historical sources concerning the history of German Jewry and to make them accessible to the public. In 1889 a member of the Gemeindebund stated that this move was aimed at breaking the predominance of Christian Hebraists and Orientalists in the study of Jewish history.22 However, the WJ was never formally acknowledged by the German academe. Only in 1963 a first chair for Jewish Studies was founded at the Free University of Berlin.

Jews as effeminate Orientals A dichotomy between an ‘Oriental’ Judaism and an ‘Occidental’ Christianity is visible already in the art and philosophy of the Middle Ages. Such perceptions were influential also in modern times. Modern anti-Semitism was based on a secular scientific discourse, rather than on religious traditions.23 According to Suzanne Zantop, colonial fanta21 Heschel, Susannah, “Revolt of the Colonized: Abraham Geiger’s Wissenschaft des Judentums as a Challenge to Christian Hegemony in the Academy,” New German Critique 77 (1999): 61–86; Lassner, Jacob, “Abraham Geiger: A Nineteenth-Century Jewish Reformer on the Origins of Islam,” in The Jewish Discovery of Islam. Studies in Honor of Bernard Lewis, ed. Kramer, Martin (Tel Aviv: The Moshe Dayan Center for Middle Eastern and African Studies, 1999), 103–35. 22 Schorsch, Ismar, Jewish Reactions to German Antisemitism, 1870–1914 (New York: Columbia UP, 1972), 44–46; see also Wiese, Christian, Ein Schrei ins Leere? Die Auseinandersetzung der Wissenschaft des Judentums mit dem Judentumsbild der protestantischen Theologie im Kontext der Diskussion über die Stellung der jüdischen Gemeinschaft im wilhelminischen Deutschland 1890– 1914 (Tübingen: Mohr, 1999). 23 The voluminous body of research concerning the history of modern anti-semitism in Germany cannot be seriously discussed in the framework of this paper. For the function of anti-semitism as part of German nationalist discourses see Hoffmann, Christhard, “Das Judentum als Antithese. Zur Tradition eines kulturellen Wertungsmusters,” in Antisemitismus in der politischen Kultur nach 1945, eds. Bergmann, Werner und Erb, Rainer (Opladen: Westdeutscher Verlag, 1990), 20–38; Alter, Peter (ed.), Die Konstruktion der Nation gegen die Juden (München: Wilhelm Fink, 1999); Holz, Klaus, Nationaler Antisemitismus: Wissenssoziologie einer Weltanschauung (Hamburg: Hamburger Edition, 2001); Volkov, Shulamit, “Talking of Jews, Thinking of Germans – the Ethnic Dis-

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sies emerged in Germany after the late 18th century, alongside the evolution of the professional historiography of the 19th century.24 Oriental Studies, too, emerged during this period. Based on a philological differentiation between Semitic and other languages, Christian Hebraists/ Orientalists in the 19th century developed discourses on Semitic languages, religions, later on Semitic races, which they contrasted against Indo-Europeans and other “civilised peoples” (Kulturvölker). Similar to historiography, comparative philology and in particular Oriental Studies served German identity politics insofar as they were dedicated to finding the roots and the cradle of European modernity. Several recent works deal with Johann David Michaelis, whose books were published in numerous editions far into the 19th century and were translated to English, French, Dutch and Danish. His privileged professorial status as a respected expert on Judaism turned him into an early key figure in the evolution of modern anti-Semitism. But Michaelis was an Orientalist, too. He founded the Chair for Oriental Studies at Göttingen University and as such is held in high esteem by our colleagues there until today.25 The expert status of Michaelis regarding Judaism was based mainly on his reception of travel accounts to the Middle East by his contemporaries. He considered the ‘authentic’ culture of the ancient Hebrew tribes to have been preserved among the contemporary Bedouins. He considered a thorough knowledge of the geography, languages, and ancient ruins of the Orient to be the key for developing an understanding of the Bible based on modern science. Thus, contemporary Arabs were of peripheral interest to him. Michaelis was an influential and politically involved intellectual. One of his major works, a 6 volume study on Jewish law (‘Mosaisches Recht’, 1770–75), is meant to expose the “foreign” and “Asian” character of Jewish law in the historical context of its development. Jonathan M. Hess shows that Michaelis had set out to formulate nothing less than a genealogy of European law codes that was to legitimise the superior status of European modernity: By appropriating Jewish law in the historical context of its emergence, Michaelis wanted to liberate European law codes of what he saw as their Oriental roots. He thus wanted to course in 19th Century Germany,” Tel Aviver Jahrbuch für deutsche Geschichte 30 (2002): 37–49. 24 Zantop, Susanne, Colonial Fantasies: Conquest, Family, and Nation in Precolonial Germany, 1770–1870 (Durham: Duke UP, 1997). 25 Nagel, Tilman, Begegnung mit Arabien. 250 Jahre Arabistik in Göttingen (Göttingen: Wallstein Verlag, 1998).



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establish in the realm of jurisdiction the same kind of succession that early Christianity had imposed in the religious realm.26 While Michaelis admired ancient Prophetic Judaism as the cradle of modern occidental civilisation, he looked down on contemporary Diaspora Jewry and argued that the Jewish rabbis of his time did not understand the meaning of the scripts. In his view, Jews were physically and mentally degenerate, Diaspora Judaism was contradictory and frozen in rigid laws. Michaelis ardently opposed Jewish emancipation. He held that Jews, as descendents of a “southern race”, could not possibly be integrated into German society. Instead, he fancied the idea of deporting the Jews to – not yet existing – German colonies overseas, where they should be put to work in agriculture and production. Hess concludes: “In articulating his views on Jews, Judaism, and the Orient in explicit relation to the logic of modern colonialism, Michaelis forces us to reject Said’s account of German Orientalist scholarship as lacking direct connection to the power dynamics of imperial expansion. Certainly, the lack of German colonial activity in the Near East left its mark on German Orientalist scholarship; when it comes to the Near East, German Orientalism may indeed be much more ephemeral than its French and British equivalents, concerned almost exclusively with its intellectual authority over the East. When it comes to Jews and the Jewish question, however, Michaelis’s Orientalist concerns are hardly academic. With his invention of a racially charged, colonialist antisemitism, his Orientalism intervenes directly into the German political scene, articulating a fantasy of Germany as an imperial power supported by the slave labor of its racially degenerate Jews.”27 Ernest Renan (1823–92) had a formative influence on the development of scientific racism. He claimed a dichotomy existed between what he presented as the dynamic and creative Aryan civilization as opposed to a petrified Semitic culture of dead laws and backward traditions. The creativity of a given civilization, according to Renan, could be measured by the existence of ancient mythologies. Thus, he contrasted the Greek and Aryan mythologies to the Jewish and Islamic traditions. Remarkably, Jews and Arabs were denied the status of a 26 Hess, Jonathan M., “‘Sugar Island Jews’? Jewish Colonialism and the Rhetorik of ‘Civic Improvement’ in Eighteenth-Century Germany,” Eighteenth-Century Studies 32 (1998): 92–100; “Johann David Michaelis and the Colonial Imaginary: Orientalism and the Emergence of Racial Antisemitism in EighteenthCentury Germany,” Jewish Social Studies 6, 2 (2000): 56–101. 27 Hess, “Johann David Michaelis and the Colonial Imaginary,” 93.

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Kulturvolk for the same reason. In this context, a further counter narrative in Susannah Heschel’s sense can be discerned, formulated by a notable proponent of the WJ, Ignaz Goldziher (1850–1921), a liberal Jewish theologian from Budapest, whose ground breaking studies on the history of Islam also turned him into one of the founding sages of Islamic Studies.28 He challenged the asserted monopoly of Aryan civilization on ancient mythologies and, based on his reading of the Torah, sought to prove that “the creation of mythologies stems from a psychological necessity that is common to all peoples at some point in their history”.29 Goldziher and Geiger alike claimed a place for Jews among the ‘civilised peoples’, in contrast to Renan and his like. The infamous anti-Semitism-debate of 1879 in Berlin, a reflection of the growing ethnic nationalism in the German Empire, pinned the doyen of German historians at the time, Heinrich von Treitschke (1834–91), against his colleague and prominent proponent of the WJ, Heinrich Graetz (1817–91). The publication of Graetz’s groundbreaking studies on what he presented as a continuous Jewish national history reaching from antiquity to the present (1853–76), in which he highlighted the role of Jews in German cultural life, triggered a furious response by Treitschke who attacked the Jews as being “arrogant”. According to him, the Jew’s Oriental origins and other reasons prevented them from becoming part of the German nation. They would always remain strangers to some degree and would, through their disturbingly ambivalent presence, endanger the very existence of the nation.30 28 Conrad, Lawrence I., “Ignaz Goldziher on Ernest Renan: From Orientalist Philology to the Study of Islam,” in The Jewish Discovery of Islam, ed. Kramer, Martin (Tel Aviv: The Moshe Dayan Center for Middle East and African Studies, 1999), 137–80; Hanisch, Ludmila (ed.), “Machen Sie mir doch unseren Islam nicht gar zu schlecht”: Der Briefwechsel der Islamwissenschaftler Ignaz Goldziher und Martin Hartmann 1894–1914 (Wiesbaden: Harrassowitz, 2000). 29 Olender, Die Sprachen des Paradieses, 119. 30 Treitschke, in his study of German literature from the time of the failed revolutions of 1848, claims that those days had produced a “distinctive half-Jewish literature“, through which Jewish writers had “cloaked their Oriental worldview and their inherited hatred of Christians in occidental forms”. See von Treitschke, Heinrich, Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert, Bd. 3 (Leipzig: G. Hizel, 1896), 703; vgl. Boehlich, Walter (ed.), Der Berliner Antisemitismusstreit (Frankfurt a. M.: Insel Verlag, 1965); Wyrwa, Ulrich, “Heinrich von Treitschke. Geschichtsschreibung und öffentliche Meinung im Deutschland des 19. Jahrhunderts,” Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 51, 9 (2003): 781–92.



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Like anti-Semitism, modern perceptions of essential gender differences between women and men developed in the course of the enlightenment and the evolution of modern science.31 The emergence of nationalist movements in Europe was accompanied by scientific efforts to define norms and deviancy.32 Medicine and later on psychology played a leading role in this respect. Anti-Semitic and sexist imagery overlaps with regard to majority discourses on German Jewry. Jewish men were perceived as being effeminate and infirm. Haemorrhoids were seen as a typically Jewish illness in 18th and 19th century, an image associated with their alleged hyperactive and perverse sexuality, with unhealthy food, lack of physical activity and frequent loss of blood.33 Jews were said to be prone to melancholy, hysteria and hypochondria, similar to women. Michaelis opposed Jewish emancipation by pointing to their alleged Oriental character and by claiming that even after “ten generations” of equal rights Jews would not be fit enough to serve in a German army – in short, he claimed Jews could never be real men and full members of the German nation.34 According to Sander Gilman, the 31 Honneger, Claudia, Die Ordnung der Geschlechter. Die Wissenschaft vom Menschen und das Weib (Frankfurt a. M.: Campus, 1991); Laqueur, Thomas, Making Sex: Body and Gender from the Greeks to Freud (Cambridge/Mass.: Harvard UP, 1990). 32 Mosse, George, Nationalism and Sexuality. Respectability and Abnormal Sexuality in Modern Europe (New York: Howard Fertig, 1985); The Image of Men: The Creation of Modern Masculinity (Oxford/New York: Oxford UP, 1996). 33 Already in ancient Greece people had linked male haemorrhoids to women’s menstruation. According to medieval typologies, male Jews menstruated, too. See Kassouf, Susann, “The Shared Pain of the Golden Vein: The Discursive Proximity of Jewish and Scholarly Diseases in the Late Eighteenth Century,” Eighteenth-Century Studies 32, 1 (1998): 101–10. In Renaissance Italy Jews were often forced to wear clothes and other outward signs that linked them to prostitutes, see Owen Hughes, Diane, “Distinguishing Signs: Ear-Rings, Jews and Franciscan Rhetoric in the Italian Renaissance City,” Past and Present 112 (1986): 3–59. In his recent documentation of anti-Muslim art in Church architecture in the Romanic period, i. e. the times of the crusades during the 11th13th centuries, Claudio Lange has pointed to the strikingly sexualized imagery employed in church architecture to denounce the Muslim enemy, who was also often associated with Jews. See Lange, Claudio, Der nackte Feind. Anti-Islam in der romanischen Kunst (Berlin: Parthas, 2004). 34 Hess, Jonathan M., “Johann David Michaelis and the Colonial Imaginary,” 58. The perception of Jews in the German public was mostly limited to Jewish men. The specific discourses on Jewish women and their own experiences, cannot be seriously discussed in the framework of this paper. On these issues see Kaplan, Marion, The Making of the Jewish Middle Class: Women, Family and Iden-

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religious rite of circumcision performed on Jewish boys was the most widely held sign for the castration and feminisation of Jewish men, “the feminizing of the Jew in the act of making him a Jew”.35 Proponents of Jewish emancipation did not reject the notion of a pathological physical and mental state of Diaspora Jewry, but linked these deficiencies to the century-old oppression of the Jews and expected them to improve themselves once granted the opportunity to do so. The Viennese Jewish philosopher Otto Weininger (1880–1903) wrote a very influential dissertation entitled “Sex and Character” that was published only after his suicide and subsequently became one of the most widely debated studies on human sexuality for decades in both Europe and the US. In Germany, his work reached 26 editions from the time of its first publication in 1903 until 1925. Weininger claimed to have discovered the laws governing the affinity between the sexes. According to him, men and women did not really exist, but rather a male and a female essence embodied in each individual to varying degrees. Thus, he claimed to have observed essential similarities between women and Jewish men, both of whom he contrasted against Aryan men, calling his lifetime the “most Jewish and most effeminate” era in human history.36 Several scholars point to linkages between Judaism and homosexuality in Western discourses of that period, associated with the Jews’ alleged soft and effeminate voice and hyperactive sexuality.37 Indeed, Western perceptions of the Orient contained a sexualised imagery that outgrows Said’s somehow static notion of the Orient as the West’s feminised subservient Other. The artistic representations of Salomé, e. g. by Oscar Wilde or Gustave Flaubert, to which Said alludes in his thesis, were tity in Imperial Germany (New York: Oxford UP, 1991); Hyman, Paula E., Gender and Assimilation in Modern Jewish History: The Roles and Representations of Women (Seattle: U of Washington P, 1995); Frankel, Jonathan (ed.), Jews and Gender: The Challenge to Hierarchy. Studies in Contemporary Jewry, 16 (Oxford/New York: Oxford UP, 2000); Hahn, Barbara, Die Jüdin Pallas Athene. Auch eine Theorie der Moderne (Berlin: Berlin Verlag, 2002). 35 Gilman, Sander L., Sexuality: An Illustrated History (New York: John Wiley and Sons, 1989), 265. 36 Weininger, Otto, Geschlecht und Charakter (Wien und Leipzig: Verlag Wilhelm Braunmüller, 1903); see also Sengoopta, Chandak, Otto Weininger. Sex, Science, and Self in Imperial Vienna (Chicago: U of Chicago P, 2000). 37 Garber, Marjorie, Vested Interests. Cross-Dressing and Cultural Anxiety (New York & London: Routledge, 1992), 226; see also Blumenfeld, Warren J., “History/Hysteria: Parallel Representations of Jews and Gays, Lesbians, and Bisexuals,” in Queer Studies. A Lesbian, Gay, Bisexual, and Transgender Anthology, eds. Beemyn, Brett and Eliason, Mickey (New York: NYUP, 1996), 146–62.



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more complex then he suggested and contained a homosexual and gender ambivalent dimension. True, the veiled Muslim woman became a mighty symbol in Western perceptions of the Orient’s backwardness and served to legitimise an allegedly civilising intervention by European powers in the Middle East that was said to be aimed at liberating and modernising the Orient. But the veil was always more then just a symbol of backwardness and repression. It also signalled the invisibility and mysteriousness of the Orient to the Western observer, which seemed both attractive and threatening at the same time, mainly reflecting the multiple layers of one’s own identity.38 It was the negation of this ambivalence of modernity regarding both national and gender identities, which came to be expressed in Orientalism and anti-Semitism alike.

Jewish Self-Perceptions The important contributions of Jews to the cultural, scientific, economic and political life in Germany during the 19th and early 20th century should not lead one to ignore their prolonged marginalisation and the growing impact of anti-Semitism during this period. Even Germany’s relatively acculturated and liberal Jewish community did not simply assimilate into German society, but rather developed a heterogeneous German-Jewish subculture. Christians and Jews interacted in ways that also formed their respective self-perceptions. In colonial and related situations this relationship is best described as a contradictory pattern of attraction, rejection and mutual dependence, as shown by Homi Bhabha’s work or by Albert Memmi’s timeless portray of ‘The Coloniser and the Colonised’.39 Susannah Heschel points to precisely such a pattern in her re-evaluation of the WJ, portraying it as a counter narrative to mainstream discourse on Jews and Judaism40 According to Jona38 Showalter, Elaine, Sexual Anarchy. Gender and Culture at the Fin de Siècle (London: Virago, 1990); Schmidtke, Sabine, “Die westliche Konstruktion Marokkos als Landschaft freier Homoerotik,” Die Welt des Islams 40, 3 (2000), 375–411; Aldrich, Robert, Colonialism and Homosexuality (London & New York: Routledge, 2003). 39 Bhabha, Homi K., The Location of Culture (London: Routledge, 1994), 40–65; Memmi, Albert, Der Kolonisator und der Kolonisierte. Zwei Portraits (Hamburg: Europäische Verlagsanstalt, 1994, originally published in French in 1966). 40 Heschel, Susannah, “Revolt of the Colonized: Abraham Geiger’s Wissenschaft des Judentums as a Challenge to Christian Hegemony in the Academy,” New German Critique 77 (1999): 61–86, here 67–68.

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than Boyarin, “the ninetheenth-century German Jewish founders of Wissenschaft des Judentums (…), through objectivist research modeled on colonial ethnological science, maintained ties to their Jewish identity while distancing themselves from their ‘primitive’ contemporaries and forebears. Wishing to purify Judaism of elements of folkloric ‘superstition’, the proponents of Wissenschaft separated out those universal elements that could inform a modern Judaism compatible with ecumenical liberalism”.41 Similar to Heschel, Boyarin points to the need to consider the historical context in which the WJ evolved: “Pending more detailed archeology, especially of the German tradition, it is safe to assert that both Christian and Jewish scholars, whether studying ancient Jews or colonized peoples, were motivated in complex and semiconscious ways by images of the colonized savage and the superseded Jew. Moreover, such scholarship could be a technique of self-defense as well as an aggression against the Other. Thus, cultural folklorists arose in debate with, and partly as a defense against, the rise of physical/racialist anthropology”.42 Between the mid 19th and the early 20th centuries, Orientalist imagery often served as a positive point of reference among German Jews for shaping their own self-perception. Thus, the important contributions of Jewish scholars to the development of German Oriental Studies partly transcend the general orientalist paradigm.43 Beyond scholarly interest, romanticising views of the Orient like the image of Muslim Spain as a Jewish golden age, became a fashion among Jewish artists and intellectuals. It served their vision of a socially integrated, rational and universalist Judaism rooted in European modernity.44 As such, this discourse was part and parcel of the debate on whether to integrate or assimilate Jews into German society. Muslim Spain was revered in this context as a high point of Jewish culture and as a successful example of Jewish integration – not: assimilation – into society. A number of Jewish artists and intellectuals in this period positively defined themselves as 41 Boyarin, Jonathan, “The Other Within and the Other Without,” in The Other in Jewish Thought and History. Constructions of Jewish Culture and Identity, eds. Silberstein, Lawrence J. and Robert L. Cohn (New York: NYUP, 1994), 433. 42 Ibid, 434. 43 Martin Kramer (ed.), The Jewish Discovery of Islam. Studies in Honor of Bernard Lewis (Tel Aviv: The Moshe Dayan Center for Middle Eastern and African Studies, 1999). 44 Schorsch, Ismar, “The Myth of Sephardic Supremacy,” Yearbook, Leo Baeck Institute 34 (1989): 47–66.



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Orientals, like Else Lasker-Schüler (1869–1945), Friedrich Wolf (1888– 1953), Franz Werfel (1890–1945), Jacob Wassermann (1873–1934) und Lion Feuchtwanger (1884–1958). All of them used the Orient as a foil to negotiate their status in contemporary Germany as a formally emancipated but continuously exoticised and/or rejected minority. For Nina Bermann, this current amounts to a “self-affirmative minority discourse”, a conscious appropriation and mimicry of the Orientalism these artists encountered amongst their contemporaries.45 The most graphic example for this appropriation of the Orient by German Jewry (and elsewhere in Europe, later also in the US) were the many splendorous synagogues built in Oriental style architecture in many cities between 1850 and the early 20th century.46 When in 1866 the New Synagogue in Berlin was inaugurated in the presence of Bismarck, it was the world’s largest synagogue.47 This trend of synagogue architecture was particularly popular among reformist liberal communities.48 Ivan Davidson Kalmar points to personal and intellectual links between liberal Jewish communities and Free Masonry that contributed to the popularity of this fashion not only among Jews, whose quintessence was Lessing’s ‘Nathan the Sage’. With growing anti-semitism in the last third of the 19th century, Orientalist synagogue architecture was increasingly attacked as a symbol for the Jews’ asserted provocative Otherness. On a lesser scale, Oriental style synagogues continued to be built in Germany until the early 20th century.49

45 Berman, Nina, Orientalismus, Kolonialismus und Moderne: Zum Bild des Orients in der deutschen Kultur um 1900 (Stuttgart: Metzler, 1997), 343; Heizer, Donna, Jewish-German Identity in the Orientalist Literature of Else LaskerSchüler, Friedrich Wolf, and Franz Werfel (Rochester, NY: Camden House, 1996); Levesque, Paul, “Mapping the Other: Lion Feuchtwangers Topographies of the Orient,” The German Quarterly 71, 2 (1998): 145–65. 46 Künzl, Hannelore, Islamische Stilemente im Synagogenbau des 19. und frühen 20. Jahrhundert (Frankfurt a. M.: Lang, 1984). 47 For a virtual reconstruction of German synagogues destroyed by the pogrom of November 1938, see http://www.cad.architektur.tu-darmstadt.de/synagogen/ menu.html. See also Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland (ed.), Synagogen in Deutschland. Eine virtuelle Rekonstruktion (Bonn 2000). 48 See Lerner, L. Scott, “The Narrating Architecture of Emancipation,” Jewish Social Studies 6, 3 (2000): 1–30. 49 Kalmar, Ivan Davidson, “Moorish Style: Orientalism, the Jews, and Synagogue Architecture,” Jewish Social Studies 7, 3 (2001): 68–100.

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Conclusions Even at its peak, Jewish emancipation was not a straightforward success story. While it offered Jews equal rights on an individual basis, their existence as a distinct cultural and religious minority was never quite accepted even by many proponents of the emancipation, as by a majority of Christian Germans and by state institutions. The material presented in this chapter portrays modern German anti-Semitism as an attempt to de-orientalise and masculinise the evolving German nation. Jews were portrayed in this context not simply as Germany’s Oriental Others, but rather as an ambivalent and fluid third element that confounded the binary order of both ethnic German nationalism and patriarchy, as a threatening hybrid entity that endangered the vitality of the nation at large. Thus, Jews were often viewed as degenerate, neither as authentic heirs of the ancient Orient nor as equal participants in European modernity, not as ‘real men’ but as effeminate homosexuals, whose assimilation was simultaneously demanded and declared impossible.50 The Orient discussed here was not a geographic location but rather an imagery that served as a foil in German identity politics of the time. As such they were not simply fantasies aimed at achieving a mere intellectual authority over the Orient. Orientalist/Hebraist scholarship significantly contributed to the wider political debate regarding the character of the German nation, which gave rise to some historically disastrous but always disputed views. Through their affirmative selfOrientalisation in architecture, arts and literature, a sizeable faction of German Jews openly insisted on a hybrid position within German society. Proponents of the WJ and Jewish Orientalist scholars created a discourse that emphasised the equal value of Judaism with regard to Christianity and Jewish contributions to European modernity. To some extent, this was a debate among German Orientalist scholars themselves. The various conflicting discourses in this context served as foils in a domestic struggle regarding the character of the German nation, one between proponents of an ethnically and culturally homogeneous German Volk on the one and supporters of a more pluralist concept on the other hand. All this confirms Said’s original thesis in ways per50 See Holz, Klaus, “Die Figur des Dritten in der nationalen Ordnung der Welt,” in Wie wird man fremd?, ed. jour fixe initiative berlin (Münster: Unrast, 2001), 26–52.



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ceived neither by himself nor by those of his critics who pointed to German Orientalist scholarship as an argument against him.51

51 The reception in late 19th century Great Britain of George Eliot’s novel Daniel Deronda, in which an English lord discovers his Oriental Jewish origins, indicates the existence of a similar debate between Jews and Non-Jews in the centre of the British Empire. See Lewis, Reina, Gendering Orientalism: Race, Femininity, and Representation (London: Routledge, 1996), 191–235.

Feindbild Islam revisited K. Hörner Der Islam ist in Europa, er ist in Deutschland angekommen. Ein solcher Satz wird heute ganz anders aufgefasst als noch vor fünfzehn Jahren, als ich mich erstmals mit dem Thema „Feindbild Islam“ beschäftigte. Damals gab es guten Grund, vor einem solchen Feindbild in Deutschland zu warnen.1 Die Verhältnisse haben sich stark verändert. Auf diese Veränderungen möchte ich aufmerksam machen; denn eine Positionsbestimmung mit vergleichenden Seitenblicken in die jüngste Geschichte soll dazu beitragen, ausgetretene Pfade der Integrationspolitik als solche zu erkennen. Solche Orientierung anzubieten, gehört auch heute noch zu den gesellschaftlichen Pflichten einer Islamwissenschaft, die Geschichtsforschung mit offenen Augen für ihre eigene Zeit treibt. Der Rückblick dient der Sichtung von Handlungsmöglichkeiten, nicht von Voraussagen. Mein Interesse gilt ausschließlich dem zivilisierten Umgang im Inneren, im Gegensatz zu Samuel Huntington, der mit seiner Hypothese eines clash of civilizations die ganze Welt meint. Ein Rückblick erleichtert es, den zum Nachdenken nötigen Abstand zum aktuellen Durcheinander der Integrationsdebatte zu finden. Aus der Distanz betrachtet, steht das Feindbild Islam in Deutschland heute nicht stärker im Zentrum öffentlicher Debatten als andere globale Verfeindungsangebote wie Terrorismus und Antisemitismus. Meine Skepsis gegen die früher stark verbreitete Vermutung, das Feindbild Islam ersetze einfach die frei gewordene Position des Großfeindes Kommunismus, hat sich bewährt; denn diese Vermutung erwies sich selbst als zu stark dem alten bipolaren Weltbild verhaftet. 1 Karin Hörner: „Der Begriff Feindbild: Ursachen und Abwehr“ in: Das Schwert des ‚Experten‘ – Peter Scholl-Latours verzerrtes Araber- und Islambild. Hg. von Verena Klemm, Karin Hörner. Heidelberg: Palmyra, 1993, S.  34–43. Der vorliegende Artikel wurde im Juli 2006 weitgehend abgeschlossen. Folgendes neues Sammelwerk konnte ich nicht mehr berücksichtigen: Zwischen Antisemitismus und Islamophobie: Vorurteile und Projektionen in Europa und Nahost. Hg. von John Bunzl und Alexandra Senfft. Hamburg: VSA-Verl., 2008

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Es geht beim Feindbild um allgemeine Werthaltungen, dennoch ist das Thema nicht „theoretisch“ oder „abstrakt“ im umgangssprachlichen Sinne. Das Feindbild-Projekt der Hamburger Islamwissenschaft hätte es ohne konkrete Anlässe nicht gegeben, und ohne jüngere paradigmatische Fälle wäre auch heute kaum eine prägnante Position bestimmbar. Das Feindbild Islam ist nach wie vor methodisch am leichtesten in seiner massenmedialen Gestalt fassbar. Die „Fatwa“ gegen Rushdie bildet den Anfang einer Kette von detailliert dokumentierten Medienskandalen, deren vorläufiger Endpunkt der „Karikaturen-Streit“ ist. In beiden Affären bilden moderne Medienprodukte – ein Buch, eine Zeitung – nach einer gewissen Inkubationszeit den Zündstoff für eine durch Gewalttaten eskalierende Medienschlacht zwischen empörten Verteidigern „des Islams“ und angeklagtem „Westen“. Mir geht es bei den folgenden Überlegungen um Veränderungen von Schlüsselbegriffen und Veränderungen von Handlungshorizonten. Gewandelte Sprachmuster dienen mir als Indikatoren für neue Schwerpunkte in der sozialen Aufmerksamkeit. Verschiebt sich der Fokus, so verschieben sich auch die Perspektiven für Handlungshorizonte. Methodisch gab es in den letzten fünfzehn Jahren keine bahnbrechenden Fortschritte in Fragen der sozialpsychologischen Analyse von Feindbildern. Daher kann ich mich im ersten definitorischen Teil auf eine Zusammenfassung der wichtigsten Merkmale und die Seite der Handlungsoptionen konzentrieren. – Das Feindbild besteht aus Wertungen und ist weitgehend resistent gegen Tatsachenargumente. – Es vermittelt sichere Orientierung und trägt damit zur Bildung einer Wir-Gruppe bei, bleibt aber auch abhängig von deren Attraktivität im allgemeinen sozialen Gefüge. – Es schottet zwar gegen Kritik ab, macht aber empfindlich für Handlungen, die Distanz zu Normen schaffen können. – Das Feindbild Islam hat ähnliche Bausteine wie das Feindbild Kommunismus. Für aktuelle Handlungsoptionen ist allerdings der Blick auf die feinen Unterschiede nützlicher als die großen Linien. Ein taktisch wichtiger Unterschied liegt dem Exkurs im zweiten Abschnitt zugrunde, in dem ich den älteren Fachbegriff „Feindbild Islam“ mit dem neuerdings auch im deutschen Sprachraum geläufigen Konkurrenzbegriff „Islamophobie“ vergleiche. Die Mehrheit und die muslimischen Minderheiten in Deutschland haben eine andere Abgrenzungs- und Vereinnahmungsgeschichte als die europäischen Nachbarn, und diese Unterschiede spiegeln sich im wissenschaftlichen Zugriff.



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Danach wende ich mich im dritten Teil den offiziellen Bezeichnungen der hier wohnenden Menschen zu, die mit dem Feindbild Islam ausgeschlossen wurden und werden. Die Schlüsselbegriffe „Gastarbeiter“, „Migranten“ und „Menschen mit Migrationshintergrund“ weisen auf die sprachliche Ent- und Neuverwurzelung des Feindes – und damit des Eigenen! Die neue Ebene der Verankerung ist jener schillernde Werte-Diskurs einer neuen Religiosität, die gegenwärtig diffus wirkt. Der vierte Teil ist wiederum ein kleiner Exkurs und widmet sich der Nostrifizierung von negativen Vorurteilen der Mehrheit zur Identitätsbildung durch die ausgegrenzte Minderheit selbst. Diese Umfunktionierung von Normen, die auch Baustein des mehrheitlichen Feindbildes sind, ist zugleich eine Integrationsleistung, weil diese Art der Identitätsbildung ebenso wie beispielsweise Kenntnis und Nutzung von Klagemöglichkeiten fester Bestandteil der hiesigen Kultur ist. Im fünften Teil komme ich auf zwei spezielle Aktionstypen gegen die Macht von Feindbildern zu sprechen: vor allem das Verlachen von Vorurteilen und das Angebot alternativer Werte durch vorbildliches Verhalten. Komik setzt gültige Normen voraus, kann die Autorität von Normen aber unterhöhlen – gleichgültig ob es sich um religiöse Werte handelt oder um Feindbilder. Der Ausblick geht auf wertsetzendes Andershandeln: Das gute Vorbild kann ein Feindbild schwächen.

1. Feindbild allgemein 1.1. Feindbild und Fakten Ein Feindbild ist ein Komplex2 ausschließlich negativ bewerteter Wesensmerkmale, mit dessen Hilfe eine Fremdgruppe und – über diese Abgrenzung – eine „Wir“-Gruppenidentität bestimmt wird. Normen und ihre mediale Verbreitung haben nicht unmittelbar mit der Realität der sogenannten „harten“ Fakten zu tun, also mit Veränderungen im politischen, wirtschaftlichen und sozialen Gefüge. Der wissenschaftliche „Konstruktivismus“, in den Neunziger Jahren als 2 Reemtsma deutet die unsystematische amorphe Menge werthaltiger Aussagen mit dem Begriff „Konglomerat“ an, den er für einen Aspekt des positiven Selbstverständnisses der (modernen) Wir-Gruppe verwendet: „Soziales Vertrauen ist ein […] Konglomerat von Annahmen über die Welt als Normalfall.“ In: Jan Philipp Reemtsma: Vertrauen und Gewalt: Versuch über eine besondere Konstellation der Moderne. Hamburg: Hamburger Edition, 2008, S. 55.

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Relativismus oder blauäugiger Idealismus verschrieen, hat in den Sozial- und Politikwissenschaften an Boden gewonnen. Ein reiner Konstruktivismus übersähe in diesem Zusammenhang die Möglichkeit, dass die Attraktivität eines Feindbilds an die Macht der Gruppe gekoppelt ist, die dadurch ihre Grenze bestimmt. Die in dieser Analyse an den Rand gerückte objektive Realität bietet also den festen Untergrund, in den die „weichen“ Interpretationen eingeschrieben sind. Die Sinnstiftungen selbst sind Teil des Wirkungsgefüges der sozialen Realität, zu deren Konstruktion sie beitragen. Sie können als self fulfilling prophecies das Verhalten der Wir-Gruppe so auf Abwehr einstimmen, dass die Fremdgruppe sich bedroht fühlt und ein Eskalationszyklus entsteht. Außerdem können sich die vom Feindbild Ausgeschlossenen Vorurteile des Feindbildes aneignen und sie umwerten – darauf komme ich im vierten Abschnitt noch zu sprechen. Das Maß des sozialpsychologischen Einflusses auf die „harte“ Wirklichkeit ist nicht genau und schon gar nicht allgemein bzw. kontextfrei bestimmbar, muss darum aber nicht gering sein. Ein Feindbild beschreibt keine Wirklichkeit, sondern es ist ein normatives Konstrukt. Daher sind Menschen, die ihr Selbstbild in bestimmten Zusammenhängen über ein Feindbild bestimmen, nicht dümmer, unwissender, böswilliger oder gewaltbereiter als andere Leute. Wer ein Feindbild hegt, ist nicht lügnerischer Propaganda, ist nicht Fehlinformationen aufgesessen. Die Unterstellung von Täuschungsabsichten gehört selbst zum Fundus des Feindbildes und dient der Immunisierung gegen Kritik angesichts unübersehbarer Freundlichkeit des angeblichen Feindes.3 Ähnlich verhält es sich mit der Auf3 Die Unterstellung übler Absichten bietet wie jedes Misstrauen gegen den Lauf der Welt allgemein und speziell gegen die Menschen einer abgelehnten Gruppe gute Chancen auf die Gratifikationen des Rechthabens. Der Verdacht als Handlungsmaxime ist allerdings kein Erfolg versprechendes Instrument der gesellschaftlichen Integration; denn Misstrauen ist bekanntlich leichter zu säen, als Vertrauen zu erringen. Wer Konflikte lösen oder entschärfen will, sollte daher Suggestivfragen wie folgende eher vermeiden: „Ist ihr [der Mitglieder des ZMD] Bekenntnis zu Demokratie und religiösem Pluralismus aufrichtig oder Iham, also bewusste Täuschung der Ungläubigen, die nach dem Koran ausdrücklich erlaubt ist?“ (Bassam Tibi: „Selig sind die Betrogenen: christlich-islamischer Dialog – Täuschungen und westliches Wunschdenken“. In: Feindbild Christentum im Islam: eine Bestandsaufnahme. Hg. von Ursula Spuler-Stegemann. 3. Auflage. Freiburg i. Br.: Herder, 2004, S. 54–61, Zitat S. 59.) Die theoretisch eher schlichte Einsicht in die normative Konstruktion ist im Rahmen der üblichen Publikumsvorträge, wie ich immer wieder erfahren musste, kaum vermittelbar. Gerade die dem Fremden aufgeschlossene bildungsnahe



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fassung, dass nur kranke Hirne derartige Verteufelungen des Feindes brauchen, ersinnen oder übernehmen können. Die Pathologien radikaler Weltanschauungen mögen in der Individualpsychologie erfolgreich sein;4 innerhalb und angesichts von Feindbildern taugen sie nur als Abwehrgesten. Der methodische Ansatz der Richtigstellung von Lügen dient darum eher der Selbstvergewisserung der Rechtschaffenen. Ein typisches Beispiel dafür ist ein Handbuch von Jonas Lanig und Marion Schweizer, in dem 44 „Lügen“ von der angeblich höheren Ausländerkriminalität bis zum angeblich ubiquitären Kopftuchzwang widerlegt werden. Wie schwierig es ist, sich offensichtlicher Wertungen zu enthalten, zeigt sich vor allem bei solchen Themen, bei denen die Verfasser sich der Zustimmung der Mehrheit ihrer Leserschaft sicher sind. Hier treten Urteile mit dem Anschein der Unbezweifelbarkeit von Fakten zum Vorschein. Als Prüfstein für Wertungen leistet die Frauenfrage gute Dienste. Die Verfasser bieten statt einer Widerlegung die übliche normative Sicht, klar markiert mit der Beteuerung der Unbezweifelbarkeit. In dem Abschnitt mit dem Titel „Gewalt gegen Frauen hat verschiedene Gesichter“ geht es um Prügel, Vergewaltigung, Zwangsehen und Ehrenmorde. Am Ende heißt es: „Allerdings lässt sich nicht bestreiten, dass bestimmte (z. B. islamistische) Organisationen die Bildung von abgeschotteten Gemeinschaften, so genannten ‚Parallelgesellschaften‘, bewusst fördern und Integration damit auch von dieser Seite oft erschwert wird. So befürwortet etwa die vom Verfassungsschutz beobachtete islamistische Organisation ‚Milli Öffentlichkeit von Akademien ignoriert gewöhnlich diese Aussagen oder sie reagiert irritiert. Die Ursache liegt vermutlich in der populären Identifizierung von Wissen mit Faktenwissen bzw. von wissenschaftlicher Expertise mit einem Vorsprung an geprüften, durch extensive Zeugenschaft als „wahr“ autorisierte Informationen. Auf dieser Grundlage muss es zu einem Konflikt zwischen Rollenerwartung und Botschaft kommen. Zu den alten und neuen Leiden diplomierter Islamwissenschaftler als neuer Auslandsexperten vgl. den bitteren Bericht des ehemaligen holländischen Nahost-Experten Joris Luyendijk, der seine Arbeit als jüngster Nahostexperte im Irak-Krieg anfing und nach wenigen Jahren vor den Machtstrukturen der Informationswirtschaft kapitulierte: Wie im echten Leben: von Bildern und Lügen in Zeiten des Kriegs. Aus dem Niederländ. übersetzt von Anne F. Middelhoek, Berlin: Tropen-Verlag, 2007 (= Het zijn net mensen, 2008 in 11. Auflage). 4 Vgl. zu den unterschiedlichen Krankheitsbildern von Fanatikern: Günter Hole: Fanatismus: der Drang zum Extrem und seine psychologischen Wurzeln. Freiburg i. Br., Basel, Wien: Herder 1995, Typologie S. 84–94.

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Görüs‘ ausdrücklich nur Eheschließungen zwischen Türken bzw. Muslimen […].“5

Vorurteile sind keine falschen Verallgemeinerungen, sondern Interpretationsregeln. Sie treten nicht in Konkurrenz zu wissenschaftlich-korrekten Verallgemeinerungen.6 Für die Handlungsfelder ergibt sich aus diesen Überlegungen eine klare Schlussfolgerung: Die verstärkte Verbreitung von „objektiven“ Informationen, die Schulung durch mehr Faktenwissen über den vorgeblichen Feind sind keine geeigneten Mittel, negative Vorurteile zu beeinflussen. Denn wer ein Feindbild hegt, filtert die Informationsangebote entsprechend; für ihn oder sie sind nur schlechte Nachrichten über den Feind gute Nachrichten. Was eine Fortbildung mit guten Nachrichten sehr wohl vermag, ist die Bestätigung der ohnehin Wohlmeinenden und Zweifelnden. So begrüßenswert daher Informationsveranstaltungen über „den“ Islam, über „die Frau im Islam“ sein mögen, sie helfen definitiv nicht beim Abschwächen von Feindbildern. Das Gleiche gilt übrigens für Tage der Offenen Tür in Moscheen und vergleichbare muslimische Veranstaltungen: Wer Muslime für den Feind hält, geht dort gar nicht erst hin. 1.2. Feindbild-Identität und individueller Multipass Im Unterschied zur Identität der Wir-Gruppe ist das individuelle Selbstbild ein Geflecht all jener unterschiedlichen Zugehörigkeiten, die nicht selbstverständlich sind – die selbstverständlichen sind unmerklich und unzweifelhaft. Identitäten sind nichts Naturwüchsiges. Daher halte ich Ausdrücke mit terminologischen Obertönen aus der Biologie wie Homi Bhabhas „Hybridität“ für irreführend. Weil (Teil‑) Identitäten den Zweifelsfall voraussetzen, ändert sich das individuelle Selbstbild mit den Anforderungen des Lebens. Könnte man ein Selbstbild fotografieren wie ein Passfoto, so müsste es eine Art historische 5 Jonas Lanig, Marion Schweizer: „Ausländer nehmen uns die Arbeitsplätze weg!“ Rechtsradikale Propaganda und wie man sie widerlegt. Hg. von Wilfried Stascheit, mit Fotografien von Bernd Schäfer. Vollständig aktualisierte Neuauflage. Mühlheim a. d. R.: Verlag an der Ruhr, 2005, S. 183. 6 Vgl. zu einer Beschwerde wegen falscher Verallgemeinerung in einem Zeitungskommentar Julian Petley: „Still no redress from PCC.“ In: Muslims and the news media. Ed. by Elizabeth Poole and John E. Richardson. London: I. B. Tauris, S. 53–62, insbes. S. 57–58.



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Datumseinblendung geben, die den gesellschaftlichen Kontext festhält. Individuelle Identitäten sind, um es mit einem Modewort auszudrücken, multiplex. Manche behaupten sogar, im Zuge der Globalisierung seien die Identitäten so flexibel und flüssig geworden und damit in die Nähe von Rollenspielen gerückt – daher habe ich den Ausdruck „Multipass“ für den Zwischentitel gewählt, der in der Spielewelt eine Art Passepartout für mehrere Identitäten bezeichnet. Wo traditionelle Gruppenzugehörigkeiten aufweichen, mag der Verlust an Autorität oder Kohäsionskraft als Zugewinn von Freiheitsspielraum erfahren werden. Es besteht m. E. allerdings kein Grund für die Annahme einer generellen Lockerung von Loyalitäten. Wer seine Identität bestimmen und verteidigen muss, hat es nötig. Ohne Krise und Verunsicherung gibt es keine Identitätsdebatten. Die Einheit des Feindes garantiert eine scharfe Grenze der Wir-Gruppe. Der „monolithische“ Charakter des Feindbildes Islam meint nichts anderes als das: eine starre Grenze. Die gewaltsame Abstraktion, die in dieser rigiden Identitätskonstruktion liegt, entspricht der wahrgenommenen Gewalt der Bedrohung. In bestimmten Situationen – die sich durchaus zu Lebenslagen verfestigen können! – kann die Verunsicherung so radikal sein, dass scheinbar nur eine radikale Identitätskonstruktion wie ein Feindbild Entlastung schafft: Zumindest weiß man, wer schuld an der Misere ist. Für die Handlungsoptionen ergibt sich in diesem theoretischen Rahmen: Wer in bestimmten Situationen ein Feindbild, also einen Sündenbock braucht, ist darum noch nicht selbst böse und muss nicht mit sich völlig uneins sein. Feindbilder können durchaus situationsspezifisch aktiviert werden, d. h. in gewissen anderen Kontexten völlig in den Hintergrund treten. Feindbilder machtloser kleiner Gruppen mögen als harmlose Spinnereien auftreten. Dennoch sollten selbst individuelle Äußerungen solcher Art aufhorchen lassen, insbesondere in den Medien, und insbesondere Anfeindungen durch Meinungsführer sind alles andere als lässliche Sünden, die stillschweigend übergangen werden sollten. 1.3. Gefeit gegen Kritik, gefasst auf Gewalt Feindbilder unterstellen Wesensmerkmale. Sie sind „essentialistisch“, behaupten also die Unveränderlichkeit der Merkmale der Gegen- und damit indirekt auch der eigenen Seite. Anders gesagt, ein Feindbild ver-

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kündet nicht bloß die Unsterblichkeit der Feindschaft, sondern auch die ewige Wahrheit der eigenen Normen. Feindbilder sind immunisiert gegen Kritik durch historische Einschränkungen. Aus dem Essentialismus folgt für Handlungsoptionen: Ein Feindbild ist als Essenz des Feindes nicht durch Argumente der Kontingenz und der Veränderlichkeit der Welt zu entkräften. Hinweise auf vergangene Meriten des gegenwärtigen Feindes oder künftiges Einlenken der Gegenseite können den Mechanismus eines Feindbildes nicht brechen. Wer „den Muslim“ als solchen hasst, wird sich von der Blüte der islamischen Zivilisation im Mittelalter und muslimischen Beteuerungen der besten Absichten nicht beeindrucken lassen. Feindbilder fokussieren diffuse Ängste und aggressive Stimmungen und können gewaltvorbereitend wirken. Sie rechtfertigen vergangene und künftige Gewalttaten als präventive Schutzmaßnahmen oder Notwehr und unterstützen sie damit. Darum ist es wichtig, die Verfestigung und Verbreitung von Feindbildern zu behindern. Was hemmt ein Feindbild? Die öffentliche Benennung von Verteufelung ist ein alltagsmagischer Sprechakt, dessen bannende Wirkung allerdings unzuverlässig, weil von der Gestimmtheit der Gruppe abhängig ist: Die populäre falsche Gleichsetzung von Vorurteil mit Uninformiertheit und Dummheit schlägt sich in der Verurteilung des Vorurteils nieder. Zumindest hier und jetzt lässt sich niemand gern nachsagen, er habe Vorurteile und mache andere zum Sündenbock. Die bloße Behauptung, jemand habe ein Vorurteil, ist ein Vorwurf, der zunächst einmal der anderen Seite die Pflicht des Gegenbeweises auflädt. Bleibt es dabei, so meint „Feindbild“ nichts als ein politisches Schlagwort. Die Geltung von Normen wird am besten durch den Gebrauch anderer Normen wahrnehmbar gemacht. Ob eine Wir-Gruppe ihre Identität einem Feindbild verdankt, also der einseitig negative normative Charakter des Bildes, kann durch die Anwendung einer menschlichen Grundregel zum Vorschein gebracht werden. Analytisch ausgedrückt, ist die Goldene Regel nichts anderes als eine Ersetzungsregel für Identitätspositionen: „Was du nicht willst, dass man dir tu, das füg auch keinem anderen zu!“ Wirkt die Substitution komisch, wahnhaft oder gar empörend, sind Wir auf gar keinen Fall und niemals so wie der Feind, handelt es sich nicht um ein Stereotyp, das positive und negative Wertungen verbindet, sondern um ein Feindbild, das nur negative Wertungen zulässt. Gelächter und Empörung sind also wichtige Signale einer möglichen Anfeindung. Die Verminung des politischen Dis-



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kurses erfordert den Zusatz, dass dieser Satz nicht einfach umgekehrt werden kann. Lächerlich und unverschämt sind die meisten und viele Äußerungen und Verhaltensweisen, die rein gar nichts mit Feindbildern zu tun haben. Die Goldene Regel selbst entkräftet Feindbilder nicht, weil ihre Anwendung bereits eine Distanzierung von der eigenen Position voraussetzt. Die komische Wirkung dieser Anwendung kann allerdings einen Menschen, der sich als Islamfeind versteht, überrumpeln und blitzartig aus dem aktuellen Gruppenkontext herausreißen.7 Eine kunstvolle Entkräftungstechnik fiel mir erst 2005 auf. Sie ist nicht aggressiv wie das komische Verlachen und hat auch nicht dessen gruppenbildende Potenz. Eliot Weinberger stellt in seinem Beitrag über den Irak-Krieg in Lettre vor alle Berichte ein „Ich hörte“, benennt die Quelle und setzt dann die Propositionen konsequent in den Konjunktiv. Damit wird der Faktizitätsanspruch der Berichterstattung brillant sabotiert.8 Diese wirkungsvolle Rhetorik irritiert allerdings auf Dauer ebenso wie die Holzhammermethode von Werbung und Propaganda. 1.4. Kommunismus, Islamismus: Rekombinationen von Versatzstücken Ein Feindbild ist, obzwar nicht ewig, wie es selbst behauptet, so doch auch niemals ganz neu. Es wird nicht „erfunden“, sondern es kombiniert und variiert Traditionen. Vor fünfzehn Jahren war das ältere Traditionsmuster des Feindbildes Kommunismus als Folie des Feindbildes Islam klar erkennbar. Der über das Analytische hinausgehende argumentative Wert dieser Feststellung lag damals darin, dass sich damit das Konzept der Fünften Kolonne, der Verräter in der Wir-Gruppe einführen ließ. Denn kurz nach der „Wende“ war ein wichtiger Aspekt der deutschen Identitätsdebatte geprägt durch das Misstrauen gegen politische „Wendehälse“, durch die Suche nach Stasi-Mitarbeitern. In dem Vergleich der Feindbilder Kommunismus und Islam steckte der implizite Appell, mit muslimischen Menschen bei aller Kritik an Einzelnen ebenso selbstverständlich sozialen Frieden zu halten wie mit 7 Vgl. zum demonstrativen Ernst auch, aber nicht nur in der Gretchen-Frage nach der Religion und zur Goldenen Regel Reemtsma: Vertrauen und Gewalt: Versuch über eine besondere Konstellation der Moderne. Hamburg: Hamburger Edition, 2008, S. 49, 89 und S. 214. 8 Eliot Weinberger: „Was ich hörte vom Irak im Jahr 2005“. In: Lettre 72 (2006), S. 35–43. Die erste Folge erschien im Heft 68 (2005).

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den Menschen der ehemaligen DDR. Die vor zehn Jahren einsetzende Wiedererweckung und gegenwärtige Konjunktur des TotalitarismusKonzeptes, das Bassam Tibi schon in der Fundamentalismus-Diskussion Anfang der Neunziger Jahre benutzt hatte,9 hat auch die Parallele zwischen Kommunismus und Islam wieder salonfähig gemacht. So erkennt der Soziologe Alexander Schuller eine Verwandtschaft zwischen dem marxistischen Weltherrschaftsmodell und dem al-Qaidas. In beiden Fällen gehe es um dezentrale, deterritorialisierte Netzwerke für eine utopische „Kulturrevolution“: „Beide Konzepte sind radikal und totalitär.“10 Die Ausgrenzung des Feindes im Inneren findet heute in einem anderen Identitätsdiskurs unter dem Banner „Parallelgesellschaften“ statt. Mögen also die Versatzstücke des Feindbildes Islam auch weitgehend unverändert scheinen, es ist nicht derselbe Feind geblieben. Das Feindbild Islam hat sich mit dem gesellschaftlichen Kontext verändert. Damals gehörte zum identitätspolitischen Umfeld die Entstehung von „Ossis“ und „Wessis“. Vor fünfzehn Jahren wurden Türken, die vormals stellvertretend für alle fremdartigen Ausländer standen, zu Stellvertretern für alle Muslime. Es gab die ersten Auslands- und Kriegseinsätze der Bundeswehr in Ex-Jugoslawien mit seinen muslimischen Gruppen und die logistische Beteiligung am Golfkrieg gegen den Irak; es gab steigende Zahlen von Flüchtlingen aus den neuen Kriegsgebieten und Brandanschläge wie die in Solingen und Hoyerswerda. Das Feindbild Islam bildete damals eine neue Feindgruppe aus „Gastarbeitern“ und „Asylanten“ als Muster des gefährlich Fremden, deren fremde Herkunft stets mitgedacht wurde. Mit der Veränderung der weltpoli9 Islamismus als Totalitarismus vgl. Bassam Tibi: Die Verschwörung: al-Muʾamara, das Trauma arabischer Politik, Hamburg: Hoffmann und Campe, 1993, ausführlich: Der neue Totalitarismus: Heiliger Krieg und westliche Sicherheit, Darmstadt: Primus, 2004. 10 Alexander Schuller: „Usama Bin Ladins Medien- und Mordagentur: Al Qaida hat den Kampf um die Weltherrschaft revolutioniert: Die Umma wird global und unfaßbar. Und paßt am Ende doch zum Westen?“ In: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 21 (28. Mai 2006), S.  13. Vgl. z. B. die Position Paul Bermans, der sich selbst als „(links‑)liberal“ einordnet und dessen Werk. „Terror und Liberalismus“ seit 2004 von der Bundeszentrale für Politische Bildung verbreitet wird. Er grenzt sich durchaus von einem allzu schlichten Verständnis von Samuel Huntingtons These eines „Kampfes der Kulturen“ ab, indem er auf die westlichen Wurzeln und die westlichen Mitglieder der Terrornetzwerke hinweist. Trotzdem ist der Islamismus für ihn heute ein totalitärer, nihilistischer Todeskult.



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tischen und wirtschaftlichen Position Deutschlands verschoben sich die Koordinaten nicht nur der Außen- und Wirtschaftspolitik, sondern auch des Feindbilddiskurses.

2. Exkurs: Feindbild Islam oder Islamophobie „Feindbild Islam“ und „Islamophobie“ sind heute konkurrierende Begriffe. Das war nicht immer so, und daher lohnt es sich, einen Blick auf beide Konzepte zu werfen. Im Internet wirken sie gegenwärtig auf den ersten Blick quantitativ gleichwertig. Denn wer im Internet googelt, fand im Mai 2006 zum Stichwort „Feindbild“ 575 000, zum Stichwort „Islamophobie“ 528 000 Nachweise, im Oktober 2008 freilich nur noch 326 000 („Feindbild“) bzw. 350 000 Treffer („Islamophobie“). Doch diese Suche setzt bereits voraus, dass „der Islam“ bzw. „die Muslime“ der neue Generalfeind „des Westens“, der Nachfolger des Kommunismus sind. Das sehr simple Netzinstrument bestätigt diese Annahme nicht: Die Suche nach „Feindbild Islam“ ergab im Mai 2006 noch 26 400, im Oktober 2008 nur 11 400, „Feindbild Muslim“ nur 24 (2008: 34) Treffer. Der Begriff „Feindbild“ stammt aus dem militärischen Bereich und wanderte dann in Medien und Wissenschaft. Er ist im Gegensatz zu „Islamophobie“ nicht an konkrete Verfeindungen gebunden. Der Terminus Feindbild ist neutraler insofern, als er selbst in nichtwissenschaftlichen Kontexten nicht unmittelbar mit Krankheiten assoziiert wird. Das Gegenstück zum propagandistischen Feindbild ist der „Feind“ selbst, mit dem sich die Instrumente der informationsbeschaffenden Aufklärung befassen. Der „Islamophobie“ entspräche die komplementäre Symptomatik einer „Islamomanie“ – ein heutzutage befremdlich wirkendes Konstrukt. Der Begriff „Islamophobie“ entstand im Kontext des britischen Antirassismus. In der Regel wird der Bericht der Commission on British Muslims des Runnymede Trust „Islamophobia: a challenge for us all“ (1997, Follow-up Report 2004) als erster Nachweis des wissenschaftlichen Gebrauchs zitiert. Das Vorläuferprojekt war übrigens ein Bericht über den Antisemitismus in Großbritannien. Der Bericht zielt auf die Bekämpfung vielfältiger Formen von Diskriminierung, die als Folgen von Islamophobie angesehen werden. Er hat wie die kommunikationswissenschaftliche Forschung einen starken Medienschwerpunkt. „Feindschaft“ ist in dieser Studie nur eines von acht binären

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Unterscheidungsmerkmalen, mit der sich die „geschlossene“ Islamophobie von einer „offenen“ Sicht des Islams unterscheidet.11 Die Charakterisierung der grundlegenden Vorurteilsstrukturen von Islamophobie stimmt weitgehend mit der deutschsprachigen FeindbildForschung überein. Es gibt allgemeinere Vorurteilskomplexe wie Aggressivität, Heimtücke, Heuchelei und Irrationalität, Einheit, Konstanz, Exklusivität, Isoliertheit, und speziellere Normen, die kulturelle Unterlegenheit signalisieren: Sexismus, Primitivität, Brutalität, Barbarei überhaupt.12 Diese Bestimmung von Islamophobie wurde von französischen antirassistischen Plattformen übernommen.13 Es liegt daher nahe, „Islamophobie“ als ungefähre Übersetzung von „Feindbild“ ins Englische bzw. ins Französische anzusehen, ergänzt um einen antirassistischen Akzent. In diesem Sinne verwendet ihn etwa eine von Heitmeyer herausgegebene Studie.14 Damit würde allerdings der polemische Unterton unterschlagen, der nach dem Import des Begriffes im Deutschen hörbar wird. Der aktuell-politische Aspekt spielt in der Behandlung des Themas durch die virtuelle Definitionsgroßmacht Wikipedia eine große Rolle. Die deutsche Version bietet einen relativ kurzen Artikel zu „Feindbild“ mit wenigen Links (zuletzt geändert 31. 8. 2008) und ohne den geringsten Hinweis auf konkrete Feinde, schon gar keinen auf den Islam oder Islamophobie. „Islamophobie“ ist hingegen ein ausgefeilter, aktueller Artikel. Der Terminus wird demnach zweifach gebraucht: sowohl in sozialwissenschaftlicher Forschung, „aber auch als politisches Schlagwort zur Abwehr von Kritik“. Die Darstellung der Kritik lässt zwei Ebenen erkennen: Einerseits geht es um terminologische Kritik an der bereits erwähnten Implikation der Pathologisierung, die in „-phobie“ offenkun11 Die binäre Methodologie, die mit Modell-Gegenmodell arbeitet, wirkt klarer in der Zielsetzung, als sie tatsächlich ist, und unterstellt implizit dem Feindbild Islam eine systemähnliche Geschlossenheit, die nicht vorausgesetzt werden kann. Die Kriterien sind im Einzelnen: monolithic/diverse, separate/interacting, inferior/different, enemy/partner, manipulative/sincere, criticism of West rejected/considered, discrimination defended/criticised, Islamophobia seen as natural/ problematic. Einige Dichotomien wie unterlegen/anders, Feind/Partner wirken gezwungen und vernachlässigen mehr als zweidimensionale Alternativen, z. B. sind folgende Wertungsreihen denkbar: unterlegen/gleichwertig/überlegen; eigenes/gleichgültiges/unbestimmtes; manipulativ/naiv/aufrichtig. 12 Zusammenfassung: http://www.runnymedetrust.org/uploads/publications/pdfs/ islamophobia.pdf, 28. 5. 2006. 13 www.islamophobie.net, 24. 10. 2008. 14 Deutsche Zustände: Folge 4. Hg. von Wilhelm Heitmeyer. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 2005.



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diger als im Falle des Begriffs „Feindbild“ ist. Anderseits läuft die Kritik auf den feindbildkonformen Vorwurf hinaus, Muslime benutzten „Islamophobie“ in heuchlerischer Absicht, um liberale Islamkritiker mundtot zu machen und vom eigenen Antisemitismus abzulenken. Folgerichtig wurde zeitweise von „Islamophobie“ auf „Islamfaschismus“ verwiesen.15 Die jüngste Instrumentalisierung von „Islamophobie“ als ideologisches Schlagwort unterstreicht die Berechtigung der terminologischen Bedenken. Auf dem 33. Außenministertreffen der OIC im Juni 2006 in Baku stand das Thema „Islamophobie“ wegen der Veröffentlichungen der Muhammad-Karikaturen auf der Agenda. Die Konferenz einigte sich auf die „Baku Declaration“.16 „Feindbild“ ist daher zumindest im deutschen Kontext besser für den wissenschaftlichen Gebrauch geeignet als „Islamophobie“.

3. Vom Gastarbeiter zum Menschen mit Migrationshintergrund Der Islam ist in Europa, er ist in Deutschland angekommen. Wer hier „Gastarbeiter“ statt „Islam“ einsetzt, erhält eine Aussage, die vor fünfzehn Jahren noch nicht trivial war; denn Deutschland war damals zumindest für die Regierung und ihre Klientel kein Einwanderungs15 http://de.wikipedia.org/wiki/Islamophobie, 11. 6. 2006; am 24. 10. 2008 per Wayback machine unbestätigt. Der Rückverweis von „Islamfaschismus” auf „Islamophobia“ besteht zu diesem Zeitpunkt noch. 16 Am 18. Juni 2006 gab es eine Online-Presseerklärung: „Baku Conference is the first meeting at the Ministerial level of the OIC member countries that takes place after the emergence of the crisis as a result of publication of the defamatory caricatures. This issue as well as the issue of Islamophobia in general will be among the main issues to be deliberated by the ICFM.“ Die Deklaration kündigt im 4. Punkt die Gründung einer Medienbeobachtungsstelle in Sachen Islamophobie an: „We express our deep concern over the growing tendency towards Islamophobia […] we welcome the work of the OIC General Secretariat to establish the OIC Observatory aimed at monitoring manifestations of Islamophobia.“ http://www.oic2006baku.gov.az/eng/Baku_Declaration.shtml, 24. 10. 2008. Der „1st OIC Observatory Report on Islamophobia – May 2007 – March 2008“ beginnt mit der Feststellung, Islamophobie habe es seit Beginn des Islams gegeben, doch die Rechtfertigung des Berichts ist aktuell und verbindet die religiösen und rassistischen Vorurteile: „Defamation of Islam and racial intolerance of Muslims in the western societies are on the rise.“ (S. 1) Als Beispiele deutscher Islamophobie werden vor allem die Regensburger Papstrede vom 12. 9. 2006 und der Streit um die neue Kölner Großmoschee erwähnt, vgl. http:// www.oic-oci.org/oicnew/is11/english/Islamophobia-rep-en.pdf, 24. 10. 2008.

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land. „Gastarbeiter“ war das Schlüsselwort für eine politische Wahrnehmung, die ein mögliches Bleiben diskursiv ausblendete. Die nationale oder – vor allem bei Menschen aus Palästina oder Kurdistan – die territorial-ethnische Herkunft hatte Vorrang vor der religiösen und politischen Heimat, und das galt nicht nur für die amtliche Wahrnehmung, sondern auch für jene Teile der betroffenen Minderheiten, die sich dank politischer Organisation Medienpräsenz errungen hatten. In den Neunziger Jahren war es comme il faut in der „Ausländerarbeit“ zu betonen, das es „den“ Ausländer nicht gebe, sondern Spanier, Chinesen, Türken, Kurden, kurz: Menschen aus unterschiedlichen Gegenden des Erdballs. Entsprechend war es eine gerechtfertigte Klage, wenn Politiker oder Journalisten alle Muslime über einen Kamm schoren und „Türke“ mit „Muslim“ gleichsetzten, obwohl doch viele Türken gar nicht in die Moschee gingen oder eher säkularisierte Aleviten waren. Migranten waren in der Öffentlichkeit schwach vertreten. Ihre Sprecher definierten sich in erster Linie über ihre nationale oder ethnische Herkunft und erst in zweiter Linie als Menschen mit einer bestimmten politischen oder religiösen Identität. Sie wollten keine Ausländer sein; denn „Ausländer“ war für sie ein deutsches Konstrukt, das sie mit ihren Feinden in einen Topf warf und ihnen die rechtmäßige Heimat absprach. Ein typischer Stoßseufzer türkischstämmiger deutscher Intellektueller lautete damals: „Wieso fragen die Leute mich, warum Frauen in Saudi-Arabien nicht Auto fahren dürfen?!“ Heute meldet sich der damals sogenannte „Spätzle-Türke“ Özdemir als Muslim zum Karikaturenstreit. Die Wiederentdeckung des Religiösen durch früher als säkularistisch bekannte Intellektuelle zeichnete sich im Nahen Osten bereits vor dem Zusammenbruch des Ostblocks ab. Ein guter Gradmesser für den Umschwung ist der feministische Diskurs im Nahen Osten, der sich im Rückblick in einer scheinbar zwingenden Richtung entwickelt hat. Ursprünglich verbündet mit dem aufstrebenden Nationalismus und dessen Kampf gegen die Traditionsmacht der Religiösen, gewannen zunächst transnationale regionale Orientierungen (vor allem in der Kritik am mediterranen Patriarchat) und dann die religiöse Dimension an Einfluss. So entdeckte sogar Fatima Mernissi lange vor dem Golfkrieg ihre muslimische Identität und beschwor die Veränderungsmöglichkeiten durch alternative „weibliche“ Lesarten der islamischen heiligen Quellen. „Integration“, so wussten alle „Ausländerbeauftragen“ schon früher, bedeutet, dass beide Seiten sich aufeinander zu bewegen. Beide



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haben sich tatsächlich bewegt, oft zögerlich oder gar widerstrebend, aber durchaus erfolgreich. Aber das bedeutet nicht, dass sie sich eindeutig aufeinander zu bewegt hätten. Denn etwa seit der Jahrtausendwende hat die Religion auf beiden Seiten, der sogenannten „Menschen mit Migrationshintergrund“ und der sogenannten „Mehrheitsgesellschaft“, als differenzierendes Merkmal an Bedeutung gewonnen. Der religiöse Zug im europäischen Westen bewegte sich mit deutlicher Verspätung. Typisch für die Neunziger Jahre waren Aktionen mit konkretem Anlass, wie Marion Gräfin Dönhoffs Aufruf in der Zeit nach den Anschlägen von Mölln und Solingen, die Bürger müssten neue Ziele anstreben. Die Anschläge des 11. September 2001 verbreiterten und glätteten den neuen religiösen Pfad, dessen Wegzeichen in Deutschland durch das triumphale „Wir sind Papst“ markiert worden ist. Die Angriffe auf den Westen auf seinem eigenen Territorium konzentrierten den Blick auf das Innere und damit auf den inneren Feind. Die räumliche Entwurzelung, die schon im Begriff „Ausländer“ und noch im schon halb hier angekommenen „Migrant“ lag, kommt als „Deutscher mit Migrationshintergrund“ in neuer Gestalt zum Vorschein. Die neue bürokratische Bezeichnung signalisiert eine abgeschwächte Ablehnung ohne religiöse Assoziationen. Die Religion kommt allerdings durch die Hintertür als territorialer Faktor wieder herein.

4. Exkurs: „Muslimherkunft“ und No-go-areas Der Diskurs über islamzentrierte Themen in Deutschland hat sich stark verändert: Es gibt einige neue Personen und neue Gruppierungen mit einem deutlich gewachsenen öffentlichen Gewicht und Selbstbewusstsein; es gibt veränderte Erwartungen und Ansprüche, Wünsche und Ängste; es gibt neue politische Rahmenbedingungen und Prioritäten, neue Schlagworte; nicht zuletzt hat sich auch die Rolle der Islamwissenschaft in Deutschland verändert. Ich möchte nur einen besonders heiklen Punkt aus dieser Fülle von Aspekten herausgreifen: die Zweitverwertung negativer Vorurteile. Feindbilder haben identitätsbildende Potenz nicht nur für die Wir-Gruppe, sondern auch für die Identitätsbildung aller, die sich nicht ernst genommen, abgelehnt oder gar ausgestoßen, rechtmäßig also zugehörig fühlen. Jugendliche bilden eine solche unzufriedene Randgruppe. Was sie als Feindbild kennen lernen, wird einige von ihnen nicht abschrecken. Die Angst vor dem Feind verleiht ihnen Aufmerksamkeit und Macht, zwei in der Mehrheits-

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gesellschaft hochbedeutsame Mittel zur Gruppenbildung. Wer offen Abgrenzungssignale ins Zentrum aussendet, geht schlimmstenfalls das Risiko der Kriminalität ein, gewinnt allerdings sicher und schnell ein klares Profil. Die Wünsche nach Anerkennung als deutsche Einwanderer und nach gleichzeitiger Bewahrung des Andersseins drückten sich in den Neunziger Jahren in Assimilationsängsten auf Seiten der Zugezogenen und Überfremdungsängsten der Alteingesessenen aus. Darüber legten und legen sich die Individualisierungs- und Gruppenzwänge und -chancen der spätkapitalistischen Gesellschaft. Der herrschenden Ideologie nach konkurrieren alle gegeneinander und jeder Gewinner in spe hat daher etwas Besonderes zu sein. Das Besondere ist in erster Linie das Medien-Auffällige; damit konform ist also zum Beispiel der Hidschab in einer mehrheitlich nichtmuslimischen Öffentlichkeit. Nikola Tietze beschreibt, wie junge Männer die Dialektik der Innen-/Außenperspektive erleben. Er charakterisiert die komplexe Verflechtung von Ausgrenzung durch Mehrheiten, „Hyperintegration“ in Mode- und Freizeitverhalten und einer Islamisierung des Selbstbewusstseins, die zugleich Halt gibt und bei der Emanzipation vom Elternhaus hilft. Der Prozess „Vom ‚Ausländer‘ zum ‚Muslim‘“ geht nicht selten, aber auch nicht immer einher mit einer „Kulturalisierung“ des Islams.17 Alternativen zur Kulturalisierung sind ethische, utopische oder ideologische Auffassungen der eigenen muslimischen Identität, mit denen sich junge Männer in der Öffentlichkeit positionieren. Die kulturalisierte Variante ist hier allerdings von besonderem Interesse. Tietze beschreibt sie als „abwartende Religiosität“. „Kulturalisiert-muslimische“ Jugendliche überlassen das Feld der einschlägigen öffentlichen Diskussionen, beispielsweise über Fragen des Schächtens, anderen. 18 Doch sie pflegen ebenso leidenschaftlich wie andere Jugendliche die Abgrenzung durch äußere Merkmale wie z. B. den Bart. Sie entsprechen dem öffentlichen Bild, das die Mehr-

17 Nikola Tietze: „Muslimische Selbstbeschreibungen unter jungen Männern: Differenzkonstruktionen und die Forderung nach Respekt.“ In: Jenseits des Paradigmas kultureller Differenz: neue Perspektiven auf Einwanderer aus der Türkei. Hg. von Martin Sökefeld. Bielefeld: transcript, 2004, S. 123–137. 18 Nikola Tietze: „Formen der Religiosität junger männlicher Muslime in Deutschland und Frankreich“. In: Islam in Sicht: der Auftritt von Muslimen im öffentlichen Raum. Hg. von Nilüfer Göle, Ludwig Ammann. Bielefeld: transcript, 2004, S. 239–264, insbes. S. 245–250, 252–254.



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heit von ihnen propagiert, weil sie es als Ressource der Selbstdefinition benutzen. Die traditionelle Territorialisierung der religiösen Zugehörigkeit, die in der Gleichsetzung von „Türke“ oder „Araber“ und „Muslim“ steckt, wird durch Kulturalisierung und Globalisierung des Islams nicht völlig aufgehoben, sondern sie verschiebt sich zumindest teilweise in den Nahbereich verrufener Stadtviertel, -quartiere, oft auch nur bestimmter Ecken und Plätze, wo sich zumindest zeitweise die gefürchteten Jungmännergruppen aufhalten. Das bestätigt eine bestimmte Auffassung von Globalisierung. Demnach produziert Globalisierung sowohl weltweit als auch lokal neue soziale Grenzen, die räumlich wahrnehmbar sind. Zusammengebrochene Staaten mit mehrheitlich muslimischer Bevölkerung tauchen dann in Forschungskontexten als „wild zones“ oder „badlands“ gleich neben lokalen Kontexten von gated communities auf.19 „Muslimherkunft“ meinte vor fünfzehn Jahren die „muslimische“ Volkszugehörigkeit in Ex-Jugoslawien. Heute kann ein niederländischer Antirassismus-Aktivist damit ein bestimmtes städtisches Umfeld bezeichnen: „In den Niederlanden wohnen heutzutage etwa 800 000 Menschen mit einer Muslimherkunft. Es geht dabei um eine Vielfalt von Ethnizitäten und eine Vielfalt von Religiosität. Die Hälfte aller Migranten hat einen Muslimhintergrund.“20

Wer ein Feindbild hegt, muss sich fragen, was dieser seltsame Euphemismus verbergen soll. Die politisch korrekte Verdrängung beruhigt nicht, sondern verleiht dem so Dargestellten erst recht eine sinister verschattete Aura des Halbverborgenen. Gut gemeinte Schönfärberei vermag die im Feindbild eingebunkerte Identität nicht zu beeindrucken, sondern bestätigt im Gegenteil die Erwartung feindlicher Täuschung und Verstellung.

19 Ronaldo Munck: Globalization and social exclusion: a tranformationalist perspective. Bloomfield, CT: Kumarian Press, 2005, S. 115, Munck diskutiert ausführlich den Terminus „glocal“, S. 132–142. 20 Gé Grubben : „Islam auf dem Lande – Europäische Erfahrungen: Islamophobie in den Niederlanden – Entwicklungen nach dem 11. September 2001“, http:// www.interkulturellerrat.de/Themen/Archiv/Arbeit_auf_dem_Lande/Islam_ auf_dem_Lande/Allgemein.shtml, 24. 10. 2008.

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5. Mittel gegen die Macht von Feindbildern Begriffe sind für Identitätsbildungen wesentlich, Taten aber nicht minder. Erwähnt wurde bereits, dass Feindbilder durch Richtigstellung nicht aufbrechen, während die u. U. normensprengende Komik durchaus einen – aggressiven – Ausweg darstellen kann. Doch ist Verlachen tatsächlich das einzig probate Heilmittel gegen Verfeindung? Wo bleibt die aufbauende Kritik? Gibt es keine freundliche Perspektive, wie attraktive „positive Werte“ aufgebaut werden können, die an die Stelle der angeblich verfallenen traditionellen Werte treten und verunsicherten Gruppen eine weniger schädliche, weniger gewaltsame Identifizierung anbieten?

5.1. Humor und Respekt Die Analyse von hochemotionalisierten Konflikten wie der Karikaturenstreit profitieren davon, wenn sie sich dem Gegenstand vom Rande her nähert. Ich möchte daher ein unauffälliges Merkmal im hiesigen Diskurs über den Karikaturenstreit herausgreifen: die Asymmetrie von Verlachen und Respekt. Ein genauer Blick auf die einschlägige Titelgeschichte in Der Spiegel zeigt, wie sich die Aufmerksamkeit nach sparsamen Andeutungen des Wertehorizonts auf „Wir gegen den Islam“ verengt. Der Spiegel titelt im Februar 2006 „Der heilige Hass“ und kündigt den Artikel zum Karikaturenstreit im Inhaltsverzeichnis als „Zusammenprall der Unkultur: hysterischer Streit um die Mohammed-Karikaturen“ an. Nun könnte sich das Publikum fragen, welche hysterische Unkultur wo aufprallt, gäbe es nicht schon eine klare Antwort in der eigenen Tradition: Das orientalistische Orientbild verweiblicht den Fremden und weist ihm damit die Rolle des stärker emotional bestimmten Menschen zu. Im traditionellen Islambild ist „der Muslim“ auch „der Fanatiker“. Die „hysterische Unkultur“ kann daher nur die islamische sein. Im langen Untertitel von „Tage des Zorns“ wird das Eigene sichtbar: Wir, Europa, der Westen sind anders als die Anderen: Aufruhr bei den Muslimen in aller Welt: Weil europäische Zeitungen Karikaturen über den Propheten Mohammed gedruckt hatten, bezichtigen die Gläubigen den Westen der Gotteslästerung. Botschaften wurden überrannt, Fahnen brannten. Der Zusammenprall der Kulturen eskaliert.



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Wie Scholl-Latour betont das Autorenkollektiv des Artikels, dass ein verfeindender Ausdruck vom Feind selbst stammt:21 Scheich al-Qaradawi habe einen „Internationale[n] Tag des Zorns“ ausgerufen, der die Menschen im „islamischen Krisenbogen“ aufrütteln solle. Manche differenzierende Aussage geht nach dieser brachialen Einleitung leicht unter. Der Einstieg in den Artikel positioniert ihn im normativen Rahmen der Mehrheitsgesellschaft, indem er an die Gegenüberstellung von griechischer Antike und Orient anknüpft, einem Motiv der einflussreichsten Gründungsgeschichte Europas. Die Autoren stellen die „heitere“ Antike und ihre lachenden Götter dem humorlosen monotheistischen Gott gegenüber. Die Gruppenbindung durch Verlachen hat zunächst einmal gar nichts mit „dem modernen Individualismus der europäischen Aufklärung“ zu tun, wie die Spiegel-Autoren meinen. Die Aufklärung ist ein zweites Identitätsschlüsselwort im Gegensatz Europa versus Islam. Dann versteigen sie sich in die Behauptung, es gäbe eine bevorzugte Beziehung zwischen Lachen und Blasphemie. Als könne man nur über Religion so recht herzlich lachen, und als könnten nur Atheisten Jesus-Witze erzählen, wird sogar behauptet, Witze über Gott seien per se Gotteslästerung: „Durch seinen Witz, durch Sarkasmus und Ironie macht sich der Mensch Gott ebenbürtig […] er macht Gott Konkurrenz.“22 Sind Islamisten humorlos? Das passt gut ins Feindbild des verbiestert-freudlosen Fanatikers. Lachen aus welchem Grunde auch immer, Mitlachen und Verlachen lassen sind unterschiedliche Dinge. Ob jemand in einer bestimmten Situation eine Gruppe zum Lachen bringen kann, oder es lieber gar nicht erst versuchen sollte, ob jemand selbst zur lachenden Gruppe gehört – und sei es durch gequältes Mitlachen auf eigene Kosten – oder eben nicht, macht große Unterschiede. Es ist eine psychologische Binsenweisheit, dass Komik für den, der lacht, angstlösend und daher befreiend wirkt. Lachen steckt an und vielleicht ist dies der Grund dafür, dass es sogar widerwillig Lachende befreien kann. Das Lächerliche hält eine halbe Distanz ein: nah genug, um betroffen zu sein, fern genug, um es sich vom Leibe zu halten. Komisches muss freilich kei21 Karin Hörner: „Peter Scholl-Latours Buch Allah ist mit den Standhaften oder: Die Lage war noch nie so ernst“, in: Das Schwert des ‚Experten‘ – Peter SchollLatours verzerrtes Araber- und Islambild. Hg. von Verena Klemm, Karin Hörner. Heidelberg: Palmyra, 1993, S. 59–106, insbes.S. 70–71, 104. 22 Der Spiegel 6 (2006), S. 88.

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ne selbstkritische Potenz entfalten, im Gegenteil: Es kann genauso gut zur Selbstzufriedenheit beitragen, wenn man über den dummen Nachbarn lacht. Tabus und Heiliges allgemein sind nicht komisch für diejenigen Menschen, die sich dem normativen Anspruch auf erhaben-faszinierenden Ernst beugen. In den Ohren des Frommen klingt das Gelächter nicht befreiend, sondern höhnisch und demütigend. Bei ausgeprägtem Reinheitskult kommt dann regelmäßig die Schmutzmetaphorik zum Einsatz, weil das egalitäre Lachen als ein Herunterziehen des Heiligen in den Schmutz des Profanen wahrgenommen wird. Die beliebte Charakterisierung von Fanatikern, Fundamentalisten oder wie sie gerade bevorzugt genannt werden, als „humorlos“ besagt daher kaum mehr der Begriff „Fanatiker“ und seine Verwandten selbst: Der Fanatiker meint es furchtbar ernst. Das gilt freilich nur für seine religiöse Identität. Nichts spricht dagegen, dass er über stolpernde Clowns, Schwiegermutterwitze, die Regierung oder andere Religionen ebenso herzlich oder sarkastisch lacht wie andere Leute auch. Anders als im Karikaturenstreit gab es im Falle von Rushdies Werk auf Seiten der westlichen Medien keine handwerkliche Kritik an ungelungener Komik. Denn Rushdies Roman ist kein komischer oder humoristischer Roman, der sein Publikum vor allem lachen machen will. Schon damals riefen nicht nur Muslime, sondern auch biedere Christen wie jetzt im Zuge des Karikaturenstreits nach gesetzlichen Verboten der Blasphemie und moralischen Einschränkungen der Pressefreiheit, also nach Zensur im Namen höherer religiöser Werte. Der Spiegel unterstellt der Wir-Gruppe mangelnden Kampfgeist, was als Appell zur defensiven Ermannung, nicht als Klage über Schwäche zu lesen ist: „Die“ dank Islam pauschal zusammenfassbaren „christlichen Kirchen“ hätten „im Kampf gegen eine ständig wachsende (sic!) Gesellschaft von Gotteslästerern längst aufgegeben“, während sich „die muslimische Welt“ gegen die „Blasphemie“ der Karikaturen erhoben habe.23 Die „in ihren religiösen Gefühlen Beleidigten“ – und das gilt nicht nur für Muslime, sondern auch für christliche Solidaritätsbezeugungen – benutzen die Opfer-Rhetorik für den Ausbruch, für die Überwindung von Demut und Scham, sie fordern Respekt. Auch hier ist eine neue Akzentuierung festzuhalten. Die früher verbreitete Toleranz23 A. a. O. – Der Artikel erschien lange vor Edmund Stoibers Vorschlag im Juni 2006, Gotteslästerung härter zu bestrafen.



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Rhetorik wird zunehmend durch die selbstbewusstere Rede von „Respekt“ verdrängt. Respekt meint indessen mehr und anderes als bloße Anerkennung oder Rücksicht unter Gleichgestellten. Im Gegensatz zu Toleranz kann man sich Respekt verschaffen, nämlich mit Gewalt. Respekt gebietet den demütigen Blick nach oben. Die zugrunde liegende Furcht verstärkt die Motivation des Feindbildes. Respekt vor Muslimen und das Feindbild Islam schließen sich also nicht aus. 5.2. Vielfalt oder gute Geschichten Wer Toleranz und Dialog predigt, dem liegt es nahe, die eigene Position zur Lösung zu erklären. So stellt Günter Hole den „Kampf gegen die Tyrannei der Werte“, gegen den Wertemonismus der Fanatiker, unter den Leitspruch „Wertevielfalt als eigener Wert“: „Erhaltung oder Herstellung von Wertevielfalt – Vielfalt von Idealen, ethischen Zielgrößen, Glaubensformen und Lebensweisen – ist somit also direkte Gegenstrategie gegen Fanatismus.“24 Das scheint plausibel, wissen wir Konsumentinnen und Konsumenten doch bekanntlich die Warenvielfalt zu schätzen. Aber ganz so wörtlich sollte man den Ausdruck „Supermarkt der Religionen“ nicht nehmen; denn die Bilder der Warenvielfalt sind ganz traditionelle Symbole des Reichtums. Eine nichtmaterialistische, abstrakte Vielfalt verwirrt bloß. Hole erkennt jedoch anderswo Hindernisse bei der konkreten Durchsetzung solchen Poly-Werteaufbaus, nämlich vor allem bei identitätsschwachen Jugendlichen. Solche Probleme will er mit Hilfe der Goldenen Regel überwinden. Mich überzeugt dies so wenig wie Hans Küngs Projekt „Weltethos“, weil sie als Aufbauhilfe empfehlen, was entweder schon da ist oder gerade erst erzielt werden soll. Wie werden Normen vermittelt? Jeder Pädagoge weiß es: durch attraktive Vorbilder. Wo findet man diese, wenn die Situationen, in denen sich vorbildliches Verhalten offenbaren kann, vermieden werden? Sicher gibt es außerordentliche Heldinnen und Helden des Alltags, doch erweisen sich erstaunlich wenig Bundesverdienstkreuzträger als wirkungsvolle Vorbilder. Die wichtigsten Kraftwerke für Normierung sind Medienerzeugnisse. Claus Leggewie erinnerte vor über zehn Jahren an Hannah Ahrendts Reportage über den Eichmann-Prozess und Spielbergs Film „Schindlers Liste“, der von manchen Intellektuel24 Hole: Fanatismus, S. 163–164.

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len voreilig als „ästhetische Entsorgung, ja Relativierung des Holocaust“ abgetan worden sei: Die Kraft solcher Geschichten, wenn sie denn endlich erzählt und weitergegeben werden, kann die verhängnisvolle Selbstaffirmation des Bösen durchbrechen.25

Die Hauptproduzenten fiktiver Situationen sind Filme und Rollenspiele. Wer im Ernst glaubt, dass Splatterfilme und Ego-Shooter gewisse Wertvorstellungen von Jugendlichen untergraben, sollte sich einmal mit den positiven Normen befassen, die mit Hollywoodfilmen und Rollenspielen bestätigt oder verstärkt werden. Denn nicht nur die abgelehnten Normen der Feindseligkeit brauchen Bestätigung, sondern auch die erwünschten Orientierungen. Was darf man sich bestenfalls von den richtigen Geschichten über Muslime erhoffen? Feindbilder können nur abgeschwächt, nicht völlig beseitigt werden. Es ist nicht ernsthaft wünschenswert, alle negativen Vorurteile abschaffen zu wollen; denn sie schaffen Entlastung und verbinden Menschen. Wünschenswert sind – wenn denn das Wünschen hilft – gemischte Stereotypen, die im Anderen sowohl Liebenswürdiges oder gar Beneidenswertes als auch Abschreckendes oder Verachtetes bieten. Wenn sich das öffentlich vorherrschende Islambild in Deutschland zu einer Mischung aus exotistischer Faszination und vehementer Ablehnung entwickeln könnte, käme dabei eine ganz und gar unspektakuläre, aber passabel zivilisierte Wir-Gruppe heraus.

25 Claus Leggewie: „Das Böse hat sich als radikaler erwiesen als vorgesehen: die Reaktion der Sozialwissenschaftler.“ In: Überall Haß: Krisen, Kriege und Gewalt – Gründe und Auswege. Hg. von Norbert Sommer. Berlin: Wichern, 1994, S. 35–50, Zitat S. 49.

Zweiter Teil

Das Andere im innerislamischen Kontext

Freud am Abbasidenhof? Die Sexualtheorie des Dichters Gahiẓ D. Gerlach Es lässt sich streiten über den Sinn eines Vergleichs von Personen, die zu verschiedener Zeit und verschiedenen Orten lebten. Solche Vergleiche bestätigen uns bestenfalls in der Annahme, es gebe transzendente Denkmodelle, die nicht nur die Zeiten überstehen, sondern immer wiederkehren, da sie im Grunde schon vorhanden waren und nur aus politischen oder sonstigen niederen Beweggründen verdrängt wurden. Zwischen 1917 und 1940 erschienen weltweit Druckausgaben der „Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse“ des Wiener Nervenarztes Sigmund Freud, darunter zehn deutschsprachige, sieben englische sowie französische, italienische, japanische, chinesische und hebräische und zahlreiche andere.1 Freuds Thesen zu Trieblehre, Neurosen, „Ich und Es“ und dem Verhältnis von Kultur und Sexualität bestimmten die europäische und von vielen Nicht-Europäern adaptierte Humanwissenschaft. Das Freudsche Konzept der Sexualtheorie wurde von manchen gelehrten Köpfen als letztgültige Antwort auf das „Irrationale“ und Okkulte gefeiert, dessen Ursachen und Wirkung Freud endlich im Menschen selbst lokalisiert hatte. Freud hatte das Geschlechtliche von der Fortpflanzung, das „Unanständige“ vom „Anständigen“ emanzipiert, indem er es zum Gegenstand wissenschaftlicher – sowohl theoretischer als auch empirischer – Analyse machte. Von Sigmund Freud zu Wilhelm Reich, Herbert Marcuse oder Michel Foucault war der Weg nicht mehr weit, je nachdem, ob man mit der Trieblehre unter physikalischen, politischen oder geschichtsphilosophischen Vorzeichen operierte. Die Sexualität wurde zu einer elementaren Größe der modernen Wissenschaft. 1 S. Freud, „Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse“, in: A. Freud (Hg.), Sigmund Freud – Gesammelte Werke, Bd. XI, London 1940 (Nachdruck Frankfurt a. M. 1999).

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In einem Vortrag am Wiener Zentrum der Sigmund-Freud-Gesellschaft bemerkte der palästinensische Literaturwissenschaftler Edward Said, dass Freud, der Begründer der Psychoanalyse und Verfasser bemerkenswerter Abhandlungen über die „Primitiven“, wenig über die Kulturen außerhalb Europas gewusst habe und sie – mit Ausnahme Ägyptens – auch kaum als Kulturen wahrgenommen habe.2 Das Gegenteil lässt sich nicht beweisen, und so bleibt es eine verlockende Spekulation, sich vorzustellen, was Freud wohl zu den Schriften eines basrischen Dichters namens al-Gahiz gesagt hätte – eines Adab-Literaten der frühen Abbasidenzeit, der sich zu Phänomenologie und gesellschaftlicher Bedeutung von Sexualität einige Gedanken machte. Dass Gahiz3 mehr als tausend Jahre früher und in einem anderen Kulturkreis als Sigmund Freud lebte, soll an dieser Stelle nicht die Sicht auf die Geisteswelten beider trüben: Nicht Freuds Werk, sondern das des Gahiz’ ist Gegenstand dieses Aufsatzes, doch ebenso wie der basrische Dichter im kulturellen und epistemologischen Umfeld seiner Zeit verhaftet war, ist es auch der heutige Betrachter. Und der ist eben maßgeblich von Freud geprägt. Wie kaum ein anderes literarisches Vermächtnis gestattet das Werk des Gahiz Einblicke in die Sitten der arabisch-islamischen Zivilisation jener „Blütezeit“, der ersten Hälfte des 9. Jahrhunderts unserer Zeitrechnung. Gahiz gehörte der theologischen Schule der Muʾtazila an. Diese Gruppe lehnte die Hadith-Dogmatik, die sich mit der Konsolidierung des Abbasidenreichs durchgesetzt hatte, zugunsten einer rationalistisch argumentierenden Weltanschauung ab. Daraus leitete Gahiz auch eine Glaubens- und Sozialethik ab. Da sich der Islam in Tradition und Dogma als eine die Sexualität bejahende Religion darstellt, liegt nichts näher als die Frage, nach welchen Kriterien geschlechtliches Verhalten damals wohl beurteilt wurde. Die Denker und Dogmatiker des islamischen „Mittelalters“, allen voran der orthodoxe Theologe und Traditionsgelehrte al-Ghazali, bezogen gelegentlich Stellung zu Detailfragen des Geschlechtlichen.4 Weil jedoch weder der Koran, noch die prophetischen Überlieferungen umfassend Auskunft darüber geben, entwickelte sich ein Ethik2 Vgl. E. Said, Freud and the Non-European, London 2003, S. 13 ff. 3 Geboren in Basra um das Jahr 776, gestorben zwischen 20. 12. 868 und 18. 1. 869 in seiner Heimatstadt. 4 Al-Ghazali, Islamische Ethik II (übersetzt und erläutert von H. Bauer), Halle a. d. S. 1917.



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Kanon, der den Alltag des Ehelebens – und wenig darüber hinaus – regeln konnte. Rund 300 Jahre vor Ghazali hatte jedoch Gahiz erkannt, weshalb die Ahadith kaum Antworten auf die drängenden Frage des Geschlechtlichen zu geben hatten: Über sein Intimleben, argumentiert er, habe der Prophet eben nicht viel preisgegeben. Mit der Prüderie der Traditionsgelehrten habe das jedoch nichts zu tun.5 Für Gahiz ergibt sich die Sexualethik auch aus den natürlichen Umständen und dem Wesen von Sexualität, denn die Vernunftanwendung hat für ihn, den Muʾtaziliten, Vorrang vor dem taqlid, dem Gehorsam vor dem Dogma. Die Motivation seiner Beschäftigung mit der Sexualität besteht nicht nur in der Suche nach der gottgefälligen Ethik. Er sucht auch Anhaltspunkte und Vergleichsgegenstände, um die Sexualität in ein kategorisierendes Weltbild einzuordnen. Dieser Relativierungsprozess wirft einige Fragen auf. Welche Beobachtungen macht Gahiz zur Sexualität und zu ihren Aspekten und Erscheinungsformen? Welches Interesse hat er am Gegenstand der Sexualität, wenn nicht, was zuvor ausgeschlossen wurde, ein rein ethisches? Inwiefern ist Sexualität für ihn ein rationales Konzept? In welchem gegenseitigen Verhältnis stehen Sexualität und Psyche? Welchen Zusammenhang sieht Gahiz zwischen sexuellen und sozialen Phänomenen? Gahiz ist eine Herausforderung. Für Studenten der Islamwissenschaft erschließt sich die Schönheit seines strukturell und sprachlich komplizierten Werkes nur unter Schweiß und Tränen. Meist erspäht man nur eine kleine, unvollständige Facette dieser Schönheit. So ist es gestandenen Orientalisten wie Gernot Rotter zu verdanken, dass der Dichter Gahiz bei seinen neuen Lesern einen Vertrauensvorschuss genießt. Man nimmt große Anstrengungen auf sich, ohne vorher zu wissen, ob es sich lohnt. Rotters Wort ist die einzige Bürgschaft dafür. Als Türöffner und Aufklärer zwischen der islamischen Welt und dem Westen wird Rotter von den Medien wahrgenommen. Seine Studenten indes danken ihm für seine Arbeit als Vermittler zwischen ihnen und den großen Dichtern des Adab. Während die Adab-Literatur, deren wohl prominentester Vertreter Gahiz ist, zu den klassischen Betätigungsfeldern der Orientalistik zählt, ist die Sexualität in der islamischen Geschichte ein vergleichs5 Vgl. F. Rosenthal: „Fiction and Reality: Sources for the Role of Sex in Medieval Muslim Society“, in: A. L. al-Sayyid-Marsot (Hg.), „Society and the Sexes in Medieval Islam“, Malibu/CA 1979, S. 3–22.

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weise junger Forschungsgegenstand. Es ist wenig verwunderlich, dass erst in den vom Strukturalismus beseelten 1970er Jahren begonnen wurde, Sexualität als Parameter entdeckt wurde, mit dem auch Orientalisten rechnen können. Franz Rosenthal6 und Abdelwahhab Bouhdiba7 leisteten dazu Pionierarbeit. Heute wirkt der Umgang früherer Übersetzer mit Gahiz kurios: Der Franzose Charles Pellat8, ließ Passagen aus Texte des Gahiz „aus Geschmacksgründen“ unübersetzt. Der Orientalist H. Bauer etwa, der die sexualethischen Schriften al-Ghazalis ins Deutsche übertrug, neigte dazu, an delikaten Passagen in die lateinische Gelehrtensprache zu verfallen.9 Gahiz teilte diese Haltung nicht, sondern nannte die Dinge beim Namen. Die Beschäftigung mit dem vermeintlich Unanständigen war für ihn eine intellektuelle und sicher auch sehr unterhaltsame Pflicht, woraus man nicht, wie es verlockend nahe liegen könnte, eine besondere oder gar „fortschrittliche“ sexualethische Toleranz ableiten sollte. Und ohne dem Gahiz Freudsches Gedankengut andichten zu wollen, kann man doch vermuten, dass der Adab-Dichter zustimmend genickt hätte, wenn er als Gast in einer Vorlesung zur „Einführung in die Psychoanalyse“ folgende Worte zum Thema „abnormer“ Sexualpraktiken vernommen hätte: Nun, meine Damen und Herren, wie stellen wir uns zu diesen ungewöhnlichen Arten der Sexualbefriedigung? Mit der Entrüstung, der Äußerung unseres persönlichen Widerwillens und der Versicherung, dass wir diese Gelüste nicht teilen, ist offenbar nichts getan. Danach werden wir ja nicht gefragt. Am Ende ist es ein Erscheinungsgebiet wie ein anderes. Eine ablehnende Ausflucht wie, es seien ja nur Kuriositäten, wäre selbst leicht abzuweisen.10

Paarung als Gottesbeweis – das „Buch der Tiere“ Eine der wichtigsten Quellen für die muʾtazilitische Anthropologie des Gahiz ist das Kitab al-Hayawan, das „Buch der Tiere“, in dem der Dichter umfassende Betrachtungen zu Formen, Phänomenen und Ver6 Rosenthal, op. cit. 7 A. Bouhdiba, La sexualité en Islam, Paris 1975. 8 C. Pellat, „Liwat“, in: E. I., Bd. V, S. 776–779; sowie ders., „Al-Gahiz jugé par la postérité“, in: ARABICA XXVII 1980, Fasc. 1, S. 1–67, und „Gahiziana III – Essai d’inventaire de l’oeuvre gahizienne“, in: ARABICA III 1956, Fasc. 2, S. 147–180. 9 Al-Ghazali, op. cit. 10 S. Freud, „Vorlesungen“ (op.cit.), S. 319.



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haltensweisen der Tierwelt wiedergibt. Ausgehend von der Prämisse, dass Gott der Schöpfer aller Dinge sowie derer Folgeerscheinungen und Konsequenzen ist, zeigt Gahiz, wie sich Gottes Vollkommenheit in der Schöpfung manifestiert. Die Lebewesen sind Beweise für die Existenz Gottes. Es gibt Indizien dafür, dass diesem Umstand überhaupt das Entstehen des Kitab al-Hayawan zu verdanken ist: Mit diesem Buch wollte Gahiz eine unwiderlegbare Zahl von Argumenten für einen muʾtazilitischen Gottesbeweis zusammentragen.11 Gahiz vergleicht unablässig menschliches und tierisches Verhalten miteinander. Er klassifiziert die Begriffe, die seiner Ansicht nach dieses Verhalten bestimmen: Bei den Tieren handelt es sich um ein intuitives Wissen, den Instinkt, den Gott ihnen nebst ihren Mitteln zu Angriff und Verteidigung gegeben hat. Dieser Instinkt ist laut Gahiz nicht progressiv. Er entwickelt sich nicht. Die Tiere verfügen von ihrer Geburt bis zum Tod über ein und dieselbe Intuition, die für ihr Überleben sorgt.12 Intelligenz – oder Verstand – ist ein Privileg des Menschen. Mensch und Tier haben nach Gahiz die inneren Kräfte oder Triebe (quwat) gemein. Paarungs-, Fortpflanzungs- oder Sexualtrieb sind bei beiden am meisten ausgeprägt.13 In diesem wie in allen anderen Bereichen zielen die Triebe auf ein ausgeglichenes Temperament hin, und Gahiz hält es für nicht verurteilenswert, „wenn die Lebewesen sich der ihnen von der Natur gegebenen Anlagen bedienen“,14 um diesen Zustand der Zufriedenheit herzustellen. Beim Menschen macht Gahiz neben dem grundsätzlichen Bedürfnis der Fortpflanzung noch einen zweiten, diesem inhärenten Trieb aus, nämlich den nach größtmöglicher Vermehrung. Er erklärt die ständige wiederkehrende Lust am Geschlechtsverkehr. Mit der Darlegung die11 Siehe auch Hayawan III, 298–302, wo Gahiz eine theologische Abhandlung darüber vorlegt, dass sich in der Natur „Gutes und Böses verbindet, das Nützliche und das Schädliche zusammenfügt“. Außerdem mahnt der Dichter, dass Gott keine lästigen, gefährlichen oder gar tödlichen Tiere erschaffen habe, um den Menschen zu schaden, sondern vielmehr um bei ihnen die Ausprägung positiver Eigenschaften wie etwa der Geduld im Leid oder im Erfahren von Unheil zu fördern. Vgl. auch Hayawan II, 109: „Wenn Er […] der Schöpfer ihr Äußeres mit Seinem Beweis bedeckt, ihr Inneres mit Weisheit erfüllt und durch sie zur Betrachtung und zur Nutzanwendung anregt, so soll dadurch jeder vernunftbegabte Mensche erkennen, dass Er die Schöpfung nicht umsonst erschaffen und die Geschöpfe nicht sich selbst überlassen hat […]“. 12 Hayawan I, 35. 13 Hayawan I, 108. 14 Ibid.

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ses Triebes weicht Gahiz von der Kategorie der natürlichen Anlagen ab und bezieht pragmatische, psychosoziale und ethisch-religiöse Maßstäbe ein: Das Bedürfnis nach einer zahlreichen Nachkommenschaft, die die Verteidigung von Besitz und Leben gewähren soll, ferner das Fortleben in der Erinnerung der Kinder, das Erlangen der Dankbarkeit Gottes für die Vergrößerung der muslimischen Umma und eine allgemeine Liebe zu Kindern, „die Gott in das Herz aller Menschen gelegt hat“.15 Im Kitab al-Hayawan gibt Gahiz auch Beobachtungen über das soziale Verhalten der Tiere preis. So stellt er fest, dass die Vierbeiner polygam, genauer gesagt, polygyn sind. Langfristige Partnerschaften zwischen einem Männchen und einem Weibchen sind ihnen fremd. Im Normalfall, so beobachtet der Dichter, setzt sich ein männliches Leittier, das seine Kraft und Überlegenheit im Kampf mit den Konkurrenten unter Beweis gestellt hat, an die Spitze einer Gruppe und greift auf wechselnde weibliche Geschlechtspartner zurück.16 Die Monogamie findet sich laut Gahiz nur bei den Zweibeinern, bei „Menschen, Vögeln und Straußen“.17 Beim manchem Federvieh beobachtet der Autor sogar, dass weder Männchen noch Weibchen einen festen sexuellen Bezugspartner haben. So berichtet er, dass sich die Hennen von jedem Hahn besteigen ließen und dies auch entsprechend umgekehrt der Fall sei.18 Gahiz beobachtet, dass die Tiere – bis auf einige Ausnahmen aus der Vogelwelt – nur zu bestimmten Zeiten im Jahr das Bedürfnis zur Fortpflanzung verspüren. Diesbezüglich besteht für ihn auch kein Unterschied zwischen wilden und domestizierten Arten.19 Anders der Mann: Sein Sexualtrieb ist nicht saisonabhängig.20 Gahiz weiß, wann bei den verschiedenen Tierarten die Geschlechtsreife (ghulma) einsetzt und wann der sexuelle Appetit wieder erlischt,21 verzichtet jedoch darauf, diese seinen Zeitgenossen wohl hinreichend bekannten Phänomene mit dem menschlichen Reifezyklus zu vergleichen. Überhaupt ist auf15 Hayawan I, 109. 16 Hayawan VII, 69. Hier findet sich ein Widerspruch, da Gahiz an anderer Stelle (IV 54) behauptet, dass es bei den Löwen keine Konkurrenz gebe, da jedes Männchen sein Weibchen habe. 17 Hayawan VII, 69. 18 Ibid. 19 Hayawan VII, 16. 20 Ibid. 21 Hayawan VII; Hayawan II 219.



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fällig, dass sich Gahiz zumeist auf die Beobachtung beschränkt und selten Schlüsse anbietet. Großen Wert legt der Dichter auf den Einfluss der geografischen, topografischen und klimatischen Umgebung auf den Sexualtrieb sowie auf die jeweilige Entscheidung der Tiere, sich in einem bestimmten Moment zu paaren oder nicht. Gahiz gibt dafür folgendes Beispiel: Der Wolf, der nach Gahiz ein sehr scheues Tier ist, macht viel Aufhebens um den Paarungsakt. So zieht er sich zur Begattung in den sichersten und entlegensten Schlupfwinkel zurück, um eine etwaige Störung durch andere Tiere zu vermeiden. Der Dichter fügt hinzu, dass eine solche Störung, etwa durch einen zufällig des Weges kommenden Passanten, den Tod eines der beiden Sexualpartner zur Folge haben könne.22 Gahiz beobachtet, dass manche Tiere den Sexualakt länger hinauszögern als andere – als größte Genießer nennt er hier die Eidechse und das Wildschwein – und andere, wie etwa der Ziegenbock, über eine enorme sexuelle Potenz verfügen.23 Er führt dazu beduinische Erzählungen an, in der die buchstäblich legendäre Zeugungskraft einiger Tiere beschrieben wird.24 Auf die Frage, ob häufiger oder seltener Geschlechtsverkehr der Zeugungsfähigkeit und dem Lebensalter zuträglich sind, heißt es, die Taube kopuliere demnach sehr häufig und wird – ebenso wie die Menschen – dadurch mit der Zeit unfruchtbar.25 Der Sperling paart sich laut Gahiz sehr häufig, lebt jedoch am kürzesten von allen den Menschen bekannten Tieren. Hier sieht der Dichter eine bemerkenswerte Analogie zum Menschen: Unter denen sind nämlich die Mönche diejenigen, die am längsten leben. Und Gahiz folgert: „Die sexuelle Enthaltsamkeit ist einer der wichtigsten lebensverlängernden Faktoren“26. Das Kitab al-Hayawan gibt ferner Auskunft über den genauen Ablauf von Paarungsritual, „Vorspiel“ und Geschlechtsakt. Gahiz beobachtet, dass die allgemeine Paarungsbereitschaft der Männchen zwar zyklisch ist, aber durch visuelle, akustische oder Geruchsreize ausgelöst werden kann. Diese Impulse können so stark sein, dass ein 22 Hayawan II, 217. Siehe auch N. Bel-Haj Mahmoud, La psychologie des animaux chez les arabes, notamment à travers le Kitâb al-Hayawân, Paris 1977, S. 175. 23 vgl. Hayawan IV, 94; V, 251; II, 218–240. 24 Ibid, an den angegebenen Stellen sagt Gahiz „die Leute behaupten, oder die Banu-Himman berichten etc.“, vgl. auch III, 401. 25 Hayawan III, 186. 26 Hayawan VII, 221.

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Hund schon vor seiner eigentlichen Geschlechtsreife sexuell aktiviert werden kann, wenn er eine läufige Hündin erblickt oder den Geruch ihres Urins wahrnimmt.27 Manche Tiere werden nach Gahiz auch spontan von sexueller Erregung befallen, unabhängig davon, ob ein Impulsreiz vorausgeht. So bemerkt der Dichter, dass sich das männliche Kamel – im Gegensatz zu Pferd und Esel – wenn es in der Brunft ist, sexuell erregt, ob nun ein Weichen zugegen ist oder nicht. Was das „Vorspiel“ des Geschlechtsaktes anbelangt, so beobachtet Gahiz eine weitere Gemeinsamkeit zwischen Menschen und Tauben: Beide haben die Eigenschaft, sich zunächst zu berühren und zu küssen. Gahiz bemerkt lakonisch, dass sich „diese Gewohnheit mit dem Alter legt“.28 Bei der Beschreibung des Geschlechtsaktes bei den verschiedenen Tieren findet Gahiz einen erstaunlichen Vergleich: „Der Mensch und das Krokodil begatten das Weibchen, indem sie sich auf seinen Bauch legen.“29 Was auch immer diese Beobachtung der Reptilienforschung nutzen mag – es sagt doch etwas über die Sitten der Zeitgenossen unseres Dichters aus. Über die tierische Sittengeschichte berichtet Gahiz noch eine weitere Besonderheit, für die er jedoch keine Analogien zum Menschen zieht: Der Sexualtrieb einiger Tierarten weicht, wie im Kitab al-Hayawan zu lesen ist, gelegentlich von seiner eigentlichen Bestimmung, der Fortpflanzung, ab. So berichtet Gahiz davon, dass männliche Rebhühner, Wachteln und Hähne häufig andere Männchen bespringen, um ihre Überlegenheit zu demonstrieren.30 Es gebe jedoch noch ein zweites Motiv für gleichgeschlechtliche Aktivität: die sexuelle Befriedigung. Gahiz nennt hier den Esel, das Wildschwein und die Tauben, die ihre Lust gelegentlich an einem männlichen Partner erleichtern – dann erzählt der Dichter eine Anekdote über zwei Kater, von denen der eine den andere zuweilen bestieg. Der passive Kater habe sich dagegen nicht gewehrt, „obwohl er nicht die gleiche Lust verspürt wie der andere“.31 Einen bemerkenswerten Fall weiblicher Homosexualität schildert Gahiz aus den Gewohnheiten der Tauben. Weibliche Tauben „begatten“ sich gelegentlich untereinander, „küssen sich mit den Schnäbeln, und man erzählt, dass sie danach transparente Eier legen“.32 27 Hayawan II, 220. 28 Hayawan III, 117. 29 Hayawan IV, 173. 30 Hayawan III, 185. 31 Hayawan III, 186. 32 Hayawan III, 177.



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Die sexualkundlichen Ausführungen sind letztlich nichts anderes als eine Sammlung isolierter Beobachtungen und spontaner Gedanken. Übergreifende Schlüsse und Ergebnisse sind nicht vorhanden. Das Stilmittel der Anekdote verleiht diesem Adab-Werk großen Unterhaltungswert. Immerhin findet Gahiz für merkwürdige Verhaltensweisen der Tiere die eine oder andere natürliche Erklärung33. Einen praktischen Grund für die Vielgestalt und Unterschiedlichkeit des Sexualverhaltens gibt es nicht. Die Lebewesen sind verschieden, denn sie sind Zeugnis der für den Menschen unfassbaren schöpferischen Fähigkeit und Vorstellungskraft Gottes. Und weil sie verschieden sind, paaren sie sich eben auf sehr unterschiedliche Weise.

Eunuchen – das dritte Geschlecht Gahiz beschäftigt sich intensiv mit den Eunuchen. Er stellt die Frage, ob die Kastration und der Handel mit kastrierten Sklaven mit islamischen Sittlichkeitsvorstellungen vereinbar seien.34 Dabei scheint es dem Dichter vor allem darum zu gehen, den Propheten und seine Getreuen gegen den Vorwurf zu verteidigen, sie hätten Eunuchen besessen und möglicherweise sogar mit ihnen gehandelt.35 Seine Beweggründe sind also mitnichten humanitärer Natur. Weder Gahiz noch seine muslimischen Zeitgenossen dürften sich über die Ethik der Entmannung den Kopf zerbrochen haben: Kastration war zwar verboten, doch man überließ es Christen und Juden, diesen grausamen Eingriff vorzunehmen, der den Preis eines Sklaven 33 Bel-Hadj Mahmoud (op. cit.) gibt zu Bedenken, dass Gahiz durchaus „wissenschaftliche“ Überlegungen anstellte, die sich jedoch auf die „rationale Erklärung“ tierischer Verhaltensweisen beschränken (siehe S. 208): „Nul part, Djahiz n’essaie de tirer de conclusions générales comparatives de ces comportements qu’il se limite à décrire. Ce grave défaut de son étude est dû, sans doute, à l’absence d’analyse microscopique du ‚fait‘ animal telle que nous la connaissons aujourd’hui. De plus, son inquiétude scientifique se suffisait des explications rationelles que ses amis ou lui-même trouvaient ou donnaient aux ‚phénomènes observés‘. Cela dit, force nous est de croire que Djahiz a été le seul auteur arabe à avoir eu le mérite de dépasser le stade de l’observation pour atteindre celui de l’analyse et du commentaire rationnel des comportements animaux.“ 34 Hayawan I, 163–165. 35 Vgl. A. Cheikh-Moussa, „Gahiz et les Eunuques ou la Confusion du même et de l’autre“, in: ARABICA XXIX (1982) Fasc. 2, S. 185.

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um ein vielfaches erhöhte.36 Auch die rechtsgelehrten Fuqaha konnten keine wirksamen Sanktionen gegen die Kastration durchsetzen.37 Charles Pellat, der Doyen der Gahiz-Forschung, ist darüber hinaus der Auffassung, dass Muslime ohne Konflikt mit den Glaubensvorschriften Eunuchen kaufen und besitzen konnten, wenn diese von Nichtmuslimen, „bevorzugt außerhalb des Dar al-Islam“ kastriert worden waren.38 Gahiz stellt uns Kastraten aus vielen Herkunftsländern vor. Unter ihnen befänden sich auch rechtschaffene Muslime, ja sogar ein Muʾtazilit.39 Um den Leser nicht zu langweilen, schöpft er aus seinem reichen Vorrat an volkstümlichen Anekdoten und persönlichen Erlebnissen und erzählt von einem Eunuchen (Khasiyy) mit Namen al-Tayyan, der eigentlich ein Halbeunuche ist, da ihm von Geburt an der linke Hoden fehlt. Gahiz weiß jedoch, dass al-Tayyan einen Sohn gezeugt hat, der ihm durchaus ähnlich sieht. Ebenso unverdrossen konnte sich demnach auch der Muʾtazilit Dawud ibn Gaʾfar al-Hatib fortpflanzen, dessen linker Hoden infolge einer schmerzhaften Krankheit – möglicherweise eines Tumors – chirurgisch reseziert wurde.40 Für Gahiz ist klar: Die damals verbreitete Meinung, die Samen für die Zeugung männlicher Nachkommen würden im linken Hoden produziert, kann nur Aberglaube sein.41 Er nutzt die Gelegenheit für eine Anekdote: Schlimm erging es Abu Hammam al-Sanut, dem „Bartlosen“, der während eines Kriegszuges (magazi) im Meer landet, und dem dort ein Raubfisch (luhm) beide Hoden abbeißt.42 Der glück- und bartlose Abu Hammam ist uns schon als notorisch schlecht gelaunter Hausherr im 36 Bis ins 19. Jh. waren etwa ägyptische Kopten dafür zugleich berühmt und verrufen, dass sie Sklaven kastrierten und auf den Märkten verkauften. Für Gahiz ist diese Praxis wohl ein Beleg für die niedere moralische und sittliche Wertigkeit der Ahl al-Kitab. Für ihn sind übrigens die Byzantiner die Erfinder der Kastration. Vgl. Hayawan I, 124–125. 37 R. Brunschvig, „ʾAbd“, in: EI, 2. Auflage, Bd. I, S. 34. 38 C. Pellat, „Khasi“, in: EI, 2. Auflage, Bd. IV, S. 1120. 39 Hayawan I, 122–123. 40 Ibid. 41 Ibid. Cheikh-Mousa („Eunuques“, op.cit., S.  189), weist zurecht daraufhin, dass wir anhand der Texte im Falle Ga’fars nicht entscheiden können, ob der Halbkastrat „walad“, „wild“, oder „wuld“, in die Welt setzte; ob er also männliche Nachkommen zeugte oder nicht. Dieser Hinweis ist spitzfindig, jedoch letztlich überflüssig, da die Geschichte al-Tayyans uns ja bereits den Beweis erbracht hat, dass man auch mit dem rechten Hoden das Potenzial zur Zeugung eines Sohnes hat. 42 Hayawan I, 122–123.



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satirischen Kitab al-Bukhala, dem „Buch der Geizhälse“ begegnet, und Gahiz ist es nach allem, was wir über ihn wissen, zuzutrauen, dass er die Geschichte von dessen peinlicher Entmannung aus purer Schadenfreude referiert.43 Die Folgen der Kastration veranschaulicht der Dichter am Beispiel der nicht-arabischen, nicht-muslimischen Eunuchen: Die schwarzen Sklaven, bei denen laut Gahiz häufig die Gibab, die totale Sektion der Genitalien vorgenommen wird,44 neigen zu hervortretenden Bauchnabeln oder Leistenhernien, bekommen mit der Zeit aufgeblähte Bäuche und einen weißen Fleck auf der Innenseite der Lippen.45 Laut Gahiz erfahren die schwarzen Kastraten einen sichtbaren körperlichen Verfall. Ihre Gliedmaßen werden schlaffer und dicker, ihre Muskulatur erweicht, die Füße werden länger, Finger und Nägel verkrümmen.46 Die Slawen (Saqlabi) tragen demnach keine negativen körperlichen Veränderungen davon. Ihr Verhalten wird vornehmer und kultivierter. Der Grund: Gahiz glaubt, dass diese aus klimatisch rauen Regionen stammenden Slawen im Mutterbauch nicht ausreifen konnten, und dass dieser Reifeprozess (nudg) nun durch die Kastration vervollkommnet wird.47 Sie wirke sich positiv auf Geist (tazkiyyat aqlihi), Intelligenz (irhaf haddihi) und Geschicklichkeit aus, die bei den Slawen nicht sehr ausgeprägt sei.48 Sexualtrieb oder erotische Neigungen werden nach Gahiz von der Kastration nicht beeinträchtigt. So berichtet der Dichter von dem sabäischen Eunuchen Abu l-Mubarak als-Sabi, der, obwohl er nach Art der Schwarzen vollständig kastriert wurde, von seiner erotischen Zuneigung zu Frauen erzählte.49 Bemerkenswert auch, was Gahiz über die aus religiösen Motiven und von ihren eigenen Eltern kastrierten byzantinischen Eunuchen berichtet: Sie, denen man lediglich die Hoden aus dem Scrotum entfernt hat, bleiben potent, pflegen weiterhin sexuelle Beziehungen und übertreffen hinsichtlich ihrer Lust sogar die nicht-kastrierten jungen Männer. Und nicht ohne Spott vermerkt der Autor, dass die Byzantiner ihre Söhne wohl nicht aus Verehrung 43 Vgl. Kitab al-Bukhala, Edition Al-Hagiri, Kairo 1976, S. 209–210. 44 Hayawan I, 119. 45 Ibid. 46 Hayawan I, 106–107. 47 Hayawan III, 245. 48 Hayawan I, 117. 49 Hayawan I, 125–128.

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der Keuschheit entmannen, sondern aus Angst, ihre Töchter und gar ihre Nonnen vorzeitig schwanger zu sehen.50 Überraschenderweise haben Eunuchen laut Gahiz sogar bei den Frauen einen gewissen Schneid: Sie heiraten, unterhalten Konkubinen und verstehen viel davon, wie man eine Frau zufrieden stellt.51 Von Gahiz erfahren wir also sehr Widersprüchliches über die Natur der Eunuchen. Es liegt nahe, in seiner Darstellung die Akzeptanz eines dritten Geschlechts zu sehen. Im Kitab al-Hayawan begegnen wir tapferen, sanften, gebildeten, treuen, verschlagenen, wollüstigen und tierischen Eunuchen, die in ihrer Neigung sowohl homo- als auch heterosexuell sind. Wichtig ist jedoch, dass sie selbst bei Unfähigkeit zur Fortpflanzung Sexualität besitzen und ausleben. Für Gahiz, der von Hormonen und Stoffwechselprozessen im menschlichen Körper sicher eine andere Auffassung hatte als die moderne Medizin, finden sich Motivation und Motor des Sexualität des Menschen also woanders als in den Fortpflanzungsorganen und lassen sich nicht nur durch den naturgegebenen Vermehrungstrieb erklären. Er schreibt: Wir gehen davon aus, dass auch wenn das Organ, mit dessen Hilfe wir Lustgewinn und Erleichterung anstreben, nicht mehr vorhanden ist, der Trieb fortbesteht und sich auf unseren körperlichen Zustand auswirkt. Dadurch wird nämlich nur der Weg, über den sich der Trieb im Normalfall äußert, abgeschnitten, als hülle man eben diesen Trieb in einen Schleier. Er sucht sich also einen anderen Weg […] Wenn man einen Trieb zurückdrängt, tritt er auf andere Art und Weise und an anderer Stelle in Erscheinung, vor allem dann, wenn er sich auf dem Höhepunkt seiner Stoßkraft befindet.52

Philosophie im Bordell – Die Liebeskrankheit (ishq) In der Zoologie des Gahiz ist die Fortpflanzung der einzige Sinn von Sexualität. Dennoch sagt der Dichter, dass diese in vielfältiger Weise empfunden und gelebt wird, ohne dass die Erhaltung von Art, Sippe und Familie dabei eine Rolle spielt. Welche Energie bewegt nun den Menschen – vor allem natürlich den aufrichtigen, gläubigen und vor 50 Hayawan I, 124. 51 Hayawan I, 167. 52 Hayawan I, 111.



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sexuellen Abirrungen gefeiten Mann – dazu, sich emotional zu binden? Wie erklären sich Liebe, Zuneigung, Leidenschaft und sexuelles Verlangen und inwiefern kanalisieren sie den natürlichen Fortpflanzungstrieb? Ishq, die Liebeskrankheit, ist der Schlüssel zu seiner Erotologie. Der Begriff ist nicht koranisch, fand jedoch schon bei den Arabern vor der Eroberung des Fruchtbaren Halbmonds weithin Verwendung.53 Gahiz erklärt: Es ist ein Übel, das die Seele [ruh] befällt und sich durch Ansteckung der benachbarten [Organe] ausbreitet, ebenso wie sich die Gewalt [äußerer Einflüsse] auf die Seele auswirkt und wie körperliche Erschöpfung auch Gemütsschwäche zu Folge haben kann. Dass sich dieses Übel in dieser Form im Körper ausbreiten kann, liegt an der [zentralen] Lage des Herzens zu den anderen Organen. Es ist umso schwerer zu behandeln, als es eine Vielzahl von Ursachen hat. Die Krankheit setzt sich zusammen aus mehreren Faktoren, wie das Fieber, das von Kälte und Schleim herrührt:54 Wenn man nur einen der beiden Faktoren kuriert, ist die Behandlung unzureichend, denn sie verstärkt dadurch die Auswirkungen der Zweiten. Dauer und Langwierigkeit [der Krankheit] hängen von der Kraft dieser ihrer Elemente ab. Die Liebeskrankheit setzt sich zusammen aus der reinen Liebe55 [hubb], der Leidenschaft [hawa], der natürlichen Anziehung [mushakala] und der Vertrautheit [ilf]. Sie setzt ein, wird stärker, erstarrt auf dem Höhepunkt, nimmt wieder ab bis hin zu ihrem vollständigen Zerfall im Zustand des Überdrusses.56

Jedes der hier beschriebenen Elemente ist laut Gahiz weder schädlich noch gefährlich – erst ihre Kombination hat dramatische Folgen. So kann ein Mensch beispielsweise Liebe und Leidenschaft für sein Land, seinen Freund oder seine Familie empfinden, ohne dass sein Gemüt ernsthaft befallen wird.57 Die Liebeskrankheit ist für Gahiz identisch mit dem Gefühl, das sich zwischen Mann und Frau entwickelt. Auch zwischen Männern kann es zum Ausbruch des ishq kommen, nämlich 53 Siehe dazu M. Arkoun, „ʾIshk“, in: E. I., Bd. IV, S. 118–119. 54 Die Bedeutung von Kälte und Schleim leitet sich aus den von Galen und Hippokrates geprägten medizinischen Vorstellungen der Zeitgenossen des Gahiz ab. 55 In seiner frz. Übersetzung der Epistel al-Qiyan bietet C. Pellat (ARABICA X, 1963, S. 139) für „hubb“ den Begiff „amour-sentiment“. Aufgrund der Definition, die Gahiz an anderer Stelle dazu angibt, scheint die Übersetzung „reine Liebe“ angebracht, da hier die natürlich Gefühlsbindung des Vaters zum Sohn, Gottes zum Gläubigen, eines Menschen zum Freund zum Land und zur Familie gemeint ist. 56 Vgl. Risalat al-Qiyan in J. Finkel, Ṭalaṭ Rasa’il, Kairo 1926, S. 67. 57 Ibid.

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dann, wenn sie einander sexuell begehren. Die Liebeskrankheit zeigt sich für Gahiz nicht in romantisch-höfischer, körperloser Verehrung, sondern in sexuellem Appetit.58 Über sexuelle Praxis und ihre moralische und gesellschaftliche Bewertung gibt auch seine meisterhafte Epistel über die Sängersklavinnen (Qiyan) Auskunft. Nach Meinung der französischen Arabistin Frédérique Sicard idealisiert Gahiz die Qiyan – und zwar in Hinblick auf ein universelles Weiblichkeitsideal: C’est donc sur l’image de la qayna et de la Grande Dame que va se dessiner l’image de l’idéal féminin qui, malgré des variantes, va se préciser au cours des siècles. Qu’elle soit de haute naissance ou qayna, tout le charme de la Dame réside dans sa dualité: coquette et pudique, traîtresse et exigeante, modeste et provocante, avare et généreuse. Omniprésente, susceptible, inhumaine, elle entretient la passion de l’amant en lui laissant toujours un faible espoir jamais comblé, en le faisant sans cesse passer de disgrâce en retour en grâce.59

Die Begeisterung, mit der Sicard die Worte des Gahiz aufnimmt, ist wohl nicht weniger romanesk als die Emotionen, die sie glaubt, in der Risalat al-Qiyan zu entdecken. Stilisiert Gahiz die Sängersklavin – also die kultivierte Prostituierte – zum idealen Frauenbild, und sieht er sie somit als sexuell handelndes Wesen? Würde dies bedeuten, dass die Frau laut Gahiz sexuell aktiv sein kann? Laut Sicard sind die Gahiz’schen Sängersklavinnen dazu nicht in der Lage. Sie reproduzieren nur ein vollkommenes Bild, und zwar zum kommerziellen Zweck. Aus dieser Schlussfolgerung wäre jedoch wiederum zu schließen, dass es gewissermaßen eine Vorlage zur Kopie geben muss: die „Grande Dame“: Experte dans l’art codifié de l’amour et de la séduction, la qayna reproduit l’idéal féminin incarné par la Dame des poètes.60

Weder mit dieser positiven Einschätzung der Qiyan noch mit der hier gezeichneten romantisch-höfischen Darstellung des Frauenideals ist Abdallah Cheikh-Moussa einverstanden. Über die Sängersklavin bei Gahiz urteilt er: Le plaisir qu’elle procure est foncièrement ambigu, il peut et doit se révéler mauvais parce qu’elle est versatile, infidèle, trompeuse, vénale, perfide, sans 58 Vgl. Qiyan, S. 68. 59 F. Sicard, „L’amour dans la Risalat al-Qiyan – essai sur les esclaves chanteuses – de Gahiz“, in: ARABICA XXXIV (1987) Fasc. 3, S. 334. 60 Sicard, op.cit., S. 335.



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autre vertu que le désir qu’elle sait si bien susciter, et parce qu’elle porte à l’extrème les défauts que l’on reproche habituellement aux femmes, 61

Cheikh-Moussa fügt hinzu: On est bien loin de l’idéal féminin incarné par la Dame des poètes qu’au dires de F. Sicard la qayna reproduirait. 62

Die Sängersklavin verkörpert die weiblichen Eigenschaften – ob diese gut sind oder schlecht – auf exemplarische Weise. Sie weckt und stimuliert die Liebeskrankheit, was für den Mann im Falle eines mit ordentlicher Heirat verbundenen ordentlichen Geschlechtsverkehrs sehr positive, im Falle eines dramatischen und glücklosen Begehrens einer Professionellen sehr schlimme Folgen haben kann. Für ihre Verführungskünste hat Gahiz den Sängersklavinnen moralisch nichts vorzuwerfen, denn er beteuert: Wenn der Teufel keine andere List zum Töten hätte, keine anderen Erkennungszeichen, keinen anderen Zauber, um zu verführen, so würden ihm die Qiyan genügen. Doch was ich sage, ist kein Vorwurf, sondern ein besonderes Lob. In den Überlieferungen steht, die besten Eurer Frauen sind jene, die die Gabe der Bezauberung und Verführungskunst besitzen.63

Die Prostituierte kommt hier moralisch nicht schlechter weg als die Frau im Allgemeinen. Beide können nämlich aufgrund ihrer Natur gar nicht ethisch oder vernünftig handeln. Mit der folgenden Stellungnahme löst Gahiz einen ethischen Konflikt seiner Zeit auf und formuliert zugleich seine Auffassung von der Rolle der Geschlechter: Der Frau, selbst der Prostituierten, ist, wie allen Dingen in der Natur, nichts Schlechtes inhärent. Die aus dem Verkehr mit ihnen erwachsenen Risiken, nämlich die beschriebenen temporären Krankheitssymptome stellen eine Herausforderung an die sittliche Vernunft des Mannes dar. Nur er kann der Liebeskrankheit mäßigend begegnen. Wenn er dieses beherrscht, ist nichts dagegen einzuwenden, die Ehe und den Dienst der Sklavinnen gleichsam zu genießen. Wenn die Liebe vom Mann gemäßigt und kontrolliert wird, so ist es möglich, dass sie als „hubb“ dauerhaft besteht64. Man könnte davon ausgehen, dass laut Gahiz eine 61 A. Cheikh-Moussa, „La négation d’Eros ou le ’ishq d’après deux épîtres d’alGahiz“, in: Studia Islamica LXXII (1990), S. 115. 62 Ibid. 63 Vgl. Qiyan, S. 72. 64 Vgl. Risalat fi-l ’ishq wa l-nisa’a, Edition Harun, Kairo 1969, S. 139 und 140. Stärker als in den Qiyan verweist Gahiz hier auf die strenge Differenzierung von „reiner“ und unkontrollierter Liebesleidenschaft hin.

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„reine“ Liebe nur gegenüber einer Ehefrau empfunden werden kann, wäre da nicht folgende Passage: „Manchmal passiert es jedoch, dass sie sich auf ihr eigenes [unechtes] Spiel einlässt und die Leiden ihres Liebhabers mit ihm teilt. Sie begibt sich zu ihm, gewährt ihm einen Kuss und gibt sich ihm am meisten, wenn er sie denn annimmt, hin“.65 Die Prostituierte, die sich ihrerseits in den Kunden verliebt – wie so oft findet sich hier im Werk des Gahiz etwas, das sein psychologisches Paradigma sprengt. Dennoch gilt: Liebe, Leidenschaft und sexuelles Verlangen gehen vom Mann aus und müssen auch von ihm kontrolliert werden. Um dieses Bild zu schematisieren, benutzt A. Cheikh-Moussa den Begriff des „Isomorphismus“ nach Michel Foucault, auf den wir später noch zurückkommen werden. Auf Gahiz angewandt bedeutet dies nach A. Cheikh-Moussas Meinung: La relation homme/femme est pensée à partir d’une polarité qui oppose le masculin au féminin, le supérieur à l’inférieur, l’actif au passif, bref celui qui domine, qui doit dominer, et celui qui est dominé. Or Gahiz affirme que celui qui joue le rôle de dominé dans l’échange amoureux ne saurait valablement occuper la place de dominant dans la sphère socio-politique.66

Über diese Interpretation des Gahiz’schen Epistems gelingt vielleicht die Verknüpfung von menschlicher Natur und gesellschaftlichem Leben. Als Beobachter natürlicher und sozialer Phänomene bejaht unser Dichter die Sexualität als solche und stellt auch keine Vorschriften auf, in welcher Spielart sie zu leben ist. Mäßigung und Sitte sind eine Herausforderung für den edlen und gebildeten, den elitären Geist. Erotische und sexuelle Ausschweifungen sind nach seiner Auffassung nicht an und für sich böse, sie hemmen den Mann nur und werden ihm lästig. Die Sängersklavinnen sind ein beredtes Beispiel für diese Sichtweise: Gahiz hat die durch die islamischen Eroberungszüge und die Verstädterung stark wachsende Zahl der Sklavinnen und Prostituierten im Reiche des Kalifen als soziales Problem erkannt. Weder die Mädchen noch ihre „Zuhälter“ (muqayyin) sind jedoch für das, was sie tun, zu verurteilen. Es liegt allein in der Hand und im Interesse der Freier, mit diesen nach Maßen zu verfahren.67 Man kann davon ausgehen, dass dieser Standpunkt – wie es bei Gahiz so oft der Fall ist – eine Reaktion auf die unter seinen Zeitgenossen verbreitete moralische Ablehnung der Prostitution ist. Wir haben den 65 Vgl. Qiyan (S. 71). 66 Cheikh-Moussa, „négaton d’Eros“, op.cit., S. 73. 67 Siehe das Abschlussplädoyer für qayna und muqayyin, in: Qiyan, S. 72 ff.



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basrischen Dichter auch als Advokaten der gemäßigten Weintrinker kennen gelernt.68 Seine Abneigung gegen das Pharisäertum bestimmter Rechtsgelehrter illustrieren zwei polemische Schriften, mit denen wir uns kurz und abschließend beschäftigen wollen: die absurd-satirische Epistel „die Vorteile des Bauches vor dem Rücken“ und der „Prahlerischen Wettstreit zwischen einem Päderasten und einem Schürzenjäger“, in dem es direkter und wortgewaltiger zur Sache geht, und zwar in einem Maße, dass C. Pellat, der bereits zitierte Altmeister der Gahiz-Forschung, „aus Gründen des guten Geschmacks“ sich damals weigerte, den Text zu übersetzen.69 Dass Gahiz am Unterhaltungswert seiner Schriften viel gelegen war, ist keine Neuigkeit. Dass Deftigkeiten und schlüpfrige Geschichten diesem immer dienlich sind, ist eine Weisheit, die damals ebenso gültig war wie heute. Hier sind sie doch in einer Weise präsent und programmatisch, dass sie ein didaktisches Konzept vermuten lassen, nämlich, die Dinge beim Namen zu nennen. Da es für Gahiz kein von Gott geschaffenes Wesen und keinen Gegenstand gibt, der in seiner Essenz schlecht ist, kann schlussendlich auch kein Begriff, kein Wort schlecht sein, sofern es etwas von Gott Geschaffenes benennt. Laut Gahiz gab und gibt es jedoch genügend Menschen, die diesen Umstand nicht begriffen haben, und der Dichter scheint es sich zum Ziel gesetzt zu haben, falsche Tugenden zu entlarven. So schreibt er: „Manche Leute, die sich von Selbstzwang und Selbstverleugnung begeistern lassen, sind beklemmt und peinlich berührt, wenn von Penis, Vagina und Geschlechtsverkehr die Rede ist. Die meisten dieser Leute haben überdies hinaus weder Wissen noch Ehre noch Würde.“70 In einem syllogistischen Kunstgriff, der auch den Rechtsgelehrten stichhaltig vorkommen muss, belegt Gahiz, dass die erwähnten Begriffe – so wie zahlreiche andere – nicht unflätig sein können: Vom Kalifen Ali sei überliefert, dass er vom „Penis“ gesprochen habe.71 Die Sprache des Rechtgeleiteten, so muss jeder Gläubige wissen, konnte nicht obszön gewesen sein. Auch andere Prominente der islamischen Geschichte, der Propheten eingeschlossen, werden im „Prahlerischen Wettstreit“ bemüht, um Argumente für unterschiedliche sexuelle Vorlieben zu finden. Die 68 Vgl. Epistel „al Sharib wa-l Mashrub“, in: Rasa’il al-Gahiz, Ed. Harun, Buch 4, S. 261–281 und „Madh al-Nabidh“, in: ders., Buch 3, S. 113–128. 69 Charles Pellat, Arabische Geisteswelt: ausgewählte übersetzte Texte des Amr ibn Bahr al-Gahiz, Zürich 1967. 70 Vgl. „Mufakharat al-Gawari wa l-ghilman“, in: Ed. Harun, Buch 2, S. 92. 71 Ibid.

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Dramaturgie des Wettstreits ist ein Charakteristikum vieler AdabWerke. Im „Prahlerischen Wettstreit“ bezieht der Dichter keine moralisch-ethische Position. Er stellt zwei Charaktere einander gegenüber, die gesellschaftlich nicht gerade angesehen sind, aber an dieser Stelle auf ernsthafte, argumentativ fundierte und poetisch-kurzweilige Weise ihre Leidenschaften vertreten: Der eine stellt jungen Mädchen nach, der andere Knaben oder jungen Männern.72 Nachdem die beiden sich gegenseitig mit Koransuren und Überlieferungen überhäufen, um jeweils die Verwerflichkeit von Unzucht und Päderastentum anzuklagen, wechseln sie das Terrain und übertrumpfen sich mit Hoheliedern auf die Schönheit und Lieblichkeit der Objekte ihrer Lust. Auch dieser Wettkampf endet im Remis. Daraus lässt sich schließen: Für Gahiz ist einer nicht besser oder schlechter als der andere. Ganz als ob der Dichter plötzlich die Lust an dem Gespräch verloren habe, bricht er den Wettstreit ab und erzählt nun eine Reihe schlüpfriger und volkstümlicher Anekdoten aus den Überlieferungen vom Leben der arabischen Stämme, vor allem der alten Medinenser.73 Sie bewegen sich je nach Geschmack des Lesers zwischen Albernheit und gutem Witz. Darin tummeln sich Hubba, die Mutter, die dem Sohn erklärt, in welcher Position er einer Frau die größere Lust bereitet,74 der Omaijade Hisham ibn Abd al-Malik, der sich über die enorme Größe seines Geschlechtsorgans den Kopf zerbrechen muss75 und die „schamlose“ Salama, die sich dafür verteidigen muss, dass sie einen Homosexuellen mit einem Kunstglied penetriert hat.76 Auf den „Wettstreit“ ließe sich die in der Literatur- und Theaterwissenschaft gängige Unterscheidung von Charakteren und Typen anwenden. Während auf der ersten Ebene die Helden der islamischen Geschichte als sittliche Vorbilder zitiert werden, folgen auf der zweiten die Mimen der volkstümlichen Unterhaltung. Bei allen Parallelen sollte jedoch bemerkt werden, dass dem zotigen Nachtwächter aus „Macbeth“ trotz aller Schminke die Schamesröte ins Gesicht gestiegen wäre, wenn nicht Shakespeare, sondern Gahiz seinen Monolog verfasst hätte. 72 Möglicherweise handelt es sich auch um eine Diskussion zwischen zwei Fürsprechern (sahih), die in der Rolle von Anwälten auftreten. Siehe dazu „Mufāḫarat al-Ǧawārī wa-l-Ġilmān“, in: Kindlers Literatur Lexikon, München 1988, Bd. 6, S. 17. Vgl. auch E. Wagner, Die arabische Rangstreitdichtung in der allgemeinen Literaturgeschichte, Wiesbaden 1963. 73 Mufakharat, S. 123 ff. 74 Mufakharat, S. 131. 75 Mufakharat, S. 133. 76 Mufakharat, S. 135.



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Im Wettstreit behandelt Gahiz nun auch das Thema Homosexualität mit der ihm eigenen Nonchalance. Der Päderast bleibt für ihn ein vollwertiger Mann, denn er penetriert ja und wird nicht penetriert. Diese Unterscheidung ist, abgesehen davon, dass sie in großen Teilen des muslimischen Kulturkreises – und bei weitem nicht nur dort – bis heute getroffen wird, für das Sexualverständnis des Gahiz sehr wichtig. Wie wir bereits gesehen haben, lassen sich vor allem Frauen und Eunuchen penetrieren – aber auch Männer, die körperlich, geistig und moralisch schwach und dominierbar sind. Anhand dieses Paradigmas gewinnt die kuriose Anekdote der schamlosen Salama nun doch einen tieferen Sinn, von dem wir nicht wissen, wie Gahiz ihn tatsächlich bewertet. Die Figur der Salama ist insofern skandalös, als sie selbst den „aktiven“ Geschlechtspart übernimmt. Salama wird laut der besagten Anekdote auf frischer Tat ertappt, geprügelt und auf einem Kamel herumgeführt. Auf die Frage eines Bekannten, was sie sich denn dabei gedacht habe, antwortet sie: „Halte bei Gott bloß den Mund! Es gibt auf dieser Welt keine größeren Tyrannen als die Männer. Ihr penetriert uns fortwährend, und wenn wir das einmal mit Euch tun, bringt ihr uns um.“77 Für Gahiz offenbart die geschlechtliche Veranlagung den Rang in der sozialen Ordnung. Sein Urteil ist soziologisch – aber auch ästhetisch, was die Epistel über die „Vorteile des Bauches gegenüber dem Rücken“ bestätigt, in der er in satirisch-polemischer Manier seine eigenen sexuellen Präferenzen, nämlich den „Bauch“, zum Besten gibt.78

Sexualität und Gesellschaft – Trieb und Kultur Wie wir gesehen haben, will Gahiz das Thema Sexualität dem Urteil der Rechtsgelehrten überlassen. Hier offenbart sich seine muʾtazilitische Gedankenwelt: Wie die Natur, wie Mensch und Tier ein Beweis für die Existenz des Schöpfers sind, so ist es auch die Sexualität. Sie kann also mitnichten an und für sich schlecht sein. Ebenso verhält es sich mit den Zuständen und Emotionen, die sie mit sich bringt. Gahiz leitet den richtigen und gottgefälligen Umgang mit dem Geschlechtlichen aus den natürlichen Phänomenen ab – und zwar mit Hilfe des von Gott gegebenen Verstandes. Sexualethik ist für ihn nicht das Befolgen von Gesetzen, sondern eine Herausforderung für den vornehmen und 77 Vgl. Mufakharat, S. 135. 78 „Risala fi tafdil al-batn ala l-zahr“, in: Ed. Harun, XX, Bd. 2, S. 100–166.

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gebildeten Mann. Sie wird folglich nicht dem Metaphysischen entnommen und auf das Physische oktroyiert, sondern entsteht synthetisch aus beiden, also Glauben und Natur, denen ja gemeinsam der Wille des Schöpfers zugrunde liegt. Gahiz zeigt, dass sich die sexuellen Phänomene der Menschen auch in der Tierwelt mannigfaltig wieder finden. In diesem Kontext steht auch seine Feststellung, dass Frauen, Prostituierte und Verführerinnen an sich nicht schlecht sein können, da sie für ihre natürlichen Eigenschaften nicht verantwortlich sind. Hieraus erschließt sich letztlich das soziologische Epistem, das Gahiz aus der Beobachtung der Sexualität ableitet: Frauen, Eunuchen und „passive“ Homosexuelle sind für ihn Gegenstand zoologischer Kategorisierung. Sie sind vergleichbar mit den Pfauen, Sperlingen, Löwen und Wildschweinen, die er in seinem „Buch der Tiere“ so ausführlich beschreibt. Es wäre folglich überflüssig, männliche Sittlichkeitswerte auf sie zu übertragen, also von ihnen sittliches Verhalten und Selbstkontrolle zu verlangen. Michel Foucault hat für diese Haltung den Begriff des Isomorphismus geprägt.79 In „L’usage des plaisirs“ beschreibt Foucault eine Sittenwelt, die verblüffend nah an die des Gahiz herankommt. Im antiken Griechenland des vierten vorchristlichen Jahrhunderts war laut Foucault die freie und kontrollierte Entscheidung des Mannes die einzige Grundlage des ethischen Lebens. Der Mann entschied, inwiefern er seine Leidenschaften im Zaume hielt oder ihnen nachgab. Passivität galt als das eigentliche Übel, denn sie war ein Charakteristikum der Unfreien und Dominierten, also der Frauen und Sklaven. Während sich Freiheit und Aktivität im Akt der Penetration manifestierten, wurde Passivität mit dem Gegenteil gleichgesetzt. Auch bei Gahiz sind wir darauf gestoßen: Wer selbst penetriert wird, kann unmöglich herrschen und soziale Macht oder Kompetenz ausüben. Die Auseinandersetzung mit Lüsten und Trieben, ihre Kontrolle, aber auch ihr gezielter Einsatz und Genuss sind notwendig für die Mitglieder einer männlichen Elite, zu der sich Gahiz selbst zählt. Die Epistel über die Sängersklavinnen belegt das. Nur freie und kontrollierte Männer können die Liebeskrankheit (ishq) an sich selbst ausmachen und unter Kontrolle bringen. Die Knabenliebe oder andere Arten von homosexuellem Verkehr lehnt Gahiz nicht grundsätzlich ab. Sie soll – 79 M. Foucault, „L’usage des plaisirs“, in: Histoire de la sexualité, Bd. 2, Paris 1984. Auch Cheikh-Moussa greift dieses Konzept auf. Vgl. Cheikh-Moussa, „négaton d’Eros“, op.cit., S. 73.



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und kann schlechterdings auch – nicht zwischen souveränen Männern stattfinden, da dadurch einer der beiden Partner in die Rolle des Passiven verfallen würde. Einem Mann ist es laut Gahiz dennoch nicht untersagt, einen sozial niedrigeren, dominierten Menschen männlichen Geschlechts zu penetrieren. Sich ausschließlich auf den homosexuellen Verkehr zu konzentrieren, hält Gahiz für unsittlich, weil, wie in seiner Epistel „Tadel der Knabenliebe“ nachzulesen ist, damit ja das Bestehen der Menschheit gefährdet wäre.80 Wieder einmal zeigt sich, wie Gahiz ethische Normen aus natürlichen und sozialen Realitäten ableitet. Der Trieb dringt, wie wir im Kitab al-Hayawan gesehen haben, ohnehin nach außen und sucht sich seine Bahn. Die Herausforderung liegt darin, ihn zu lenken und zu nutzen. Und damit kehren wir zurück zu Freud, der sich über die Ideen des Gahiz bestimmt nicht gewundert hätte. Freuds Primat des Sexualtriebes, das der niederländische Romancier Harry Mulisch als „das sexuelle Bollwerk“ bezeichnet hat,81 gründet sich auf die menschliche Libido, die ihren Weg nach außen sucht und durch sozial bedingte Unterdrückung in anderen Erscheinungsformen – wie etwa als Verursacherin von Neurosen – auftritt. Wir erinnern uns an die Beobachtung des Gahiz, die stark von der spätantiken Temperamentenlehre Galens beeinflusst ist: Demnach manifestiert sich der Geschlechtstrieb auch, wenn man, wie im Falle der Eunuchen, einen Menschen der Möglichkeit beraubt, ihn auf herkömmliche Weise auszuleben. Was hätte Gahiz wohl zur Orgon-Theorie des Freud-Schülers Wilhelm Reich gesagt, die die Libido physikalisch zu ergründen suchte?82 In einer anderen Hinsicht stehen sich der basrische Gelehrte Gahiz und der Wiener Nervenheiler Freud noch näher, nämlich in ihrer Vorstellung vom Verhältnis von Sexualität und Gesellschaft – oder besser: von Trieb und Kultur. Der Zusammenhang ist beiden evident: Für Gahiz bedeutet die Kontrolle des Geschlechtstriebs, aber auch ihr Genuss, die Voraussetzung höherwertigen kulturellen Lebens. Für Freud ist die Unterdrückung desselben die Voraussetzung von Kultur.83 Beide treffen sich in dem, was Freud als Sublimation des Triebs 80 Siehe O. Rescher (Hg.), Excerpte und Übersetzungen aus den Schriften des Philologen und Dogmatikers Gahiz aus Bacra, Teil 1, Stuttgart 1931, S. 108–109. 81 H. Mulisch, Das sexuelle Bollwerk – Sinn und Wahnsinn von Wilhelm Reich, München 1997. 82 Siehe u. a., W. Reich, The Function of Orgasm, The Function of Orgasm, London 1969. 83 Vgl. S. Freud, Das Unbehagen in der Kultur, in: A. Freud (Hg.), Sigmund Freud – Gesammelte Werke, Bd. XIV, London 1940.

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bezeichnet, also als Hinlenkung zu sittlich Höherstehendem. Nur geht Freud einen Schritt weiter, weil er die Zivilisation insgesamt als Derivat des Triebes begreift. Für Gahiz, in dessen Weltbild ja der Wille Gottes allem Sein und Handeln zugrunde liegt, ist der Geschlechtstrieb lediglich ein bedeutender Teil der Natur, aus dem sich soziale und kulturelle Strukturen ableiten lassen. Weder bei Gahiz noch bei Freud lässt sich aus der Phänomenologie des Sexuellen eine besondere Toleranz gegenüber „abnormem“ Sexualverhalten ableiten. Eine soziale und moralische Gleichstellung von Hetero- und Homosexuellen fehlt, und es macht auch keinen Sinn, irgendwelche Toleranzbegriffe in das Weltbild des einen oder anderen hineinzupressen. Beide haben Sexualität als ein rationales Konzept begriffen und ihr somit den prominenten Platz der Kultur zugewiesen, den sie tatsächlich verdient. Für Freud und Gahiz war sie nicht mehr und nicht weniger als eine elementare Größe menschlichen Seins. Ihre Anerkennung, aber auch ihre Kontrolle bilden die Grundlagen gesellschaftlichen Lebens.

Bibliografie Quellen a) Al-Gahiz-Editionen in arabischer Sprache Kitab al-Bukhala, Edition Al-Hagiri, Kairo 1976. Kitab al-Bukhala, Edition Van Vloten (op. posth.), Leiden 1903. Kitab al-Hayawan Abi ʿUthman Amr bin Bahr al-Gahiz, Edition al-Migmaʾ al-ʿAlami al-ʿArabi al-Islami, Kairo 1979 (Reprint), 7 Vol. Rasaʾil al-Gahiz, Edition Abd al-Salam Harun, Kairo 1969, 2 Vol. Ṯalaṯ Rasaʾil, Edition J. Finkel, Kairo 1926.

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Freud am Abbasidenhof?

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Qarmaṭen und Zanǧ Das Andere als Societas malorum K. Franz

1. Rebellion und Heterodoxie1 Die Geschichte des Islams ist reich an Aufstandsbewegungen, die sich ein religiöses Gepräge gaben, und ebenso an religiösen Bewegungen, die eine Aufstandsneigung an den Tag legten. Die beiden Phänomene lassen sich schwerlich auseinanderhalten, da der Islam die Kraft besaß, sich den unterschiedlichsten sozialen und spirituellen Bewegungen wie von selbst aufzuzwingen. Zwar fand nicht jede heterodoxe Glaubenslehre notwendigerweise militanten Ausfluß, doch hat umgekehrt keine militante Bewegung die Bedeutung einer lokalen Bauernunruhe überstiegen, ohne Anleihen beim Islam zu machen und ein lehrartiges Bekenntnis zu propagieren. Gleich der sozialen Unrast im europäischlateinischen Mittelalter, welche weithin im Zeichen des Christentums stand, war im Geltungsbereich des Islams eine bloß säkular begründete Rebellion schwerlich denkbar. Dringender noch als in Lateineuropa waren hier oppositionelle Gruppierungen zu religiöser Artikulation genötigt, denn durch den Aufstieg Muḥammads zum Oberhaupt von Yaṯrib/Medina waltete ein beispiellos inniger Wechselbezug zwischen offenbarter Heilsbotschaft und politischer Macht. Wie sich geistliche und weltliche Führung in der Person des Propheten unauflöslich verschränkt hatten, konnte späterhin einzig die Nachfolge zu ihm im Amte des Imams, das Kalifat, allgemeine Legitimität spenden; jedwede nachrangige und räumlich beschränkte Rechtmäßigkeit hatte sich idealerweise durch Stellvertretung von diesem abzuleiten. 1 Dieser Aufsatz geht aus dem Sonderforschungsbereich „Differenz und Integration“ der Universitäten Halle-Wittenberg und Leipzig hervor, gefördert von der Deutschen Forschungsgemeinschaft. Eine erste Fassung vorzutragen hatte ich auf Einladung von Axel Havemann an der Freien Universität Berlin Gelegenheit. Ich danke ihm und Heinz Halm für die Durchsicht des Manuskripts.

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Ob dieses Paradigmas bildeten auch Rebellion und Heterodoxie gedanklich eine Einheit. Mit dem Begriff ḫurūǧ bezeichneten die einheimischen Schriftsteller ein ‚Hinaustreten‘ aus dem islamischen Gemeinwesen, welches sowohl in der Erhebung gegen die politische Ordnung als auch im Abfall vom rechten Glauben bestand.2 So ließen sich Aufstandsbewegungen der Häresie bezichtigen und religiöse Strömungen politisch beargwöhnen. Diese wechselseitige Kompromittierung war realgeschichtlich bedeutsam, weil sie die Obrigkeit gleichermaßen gegen Insurgenten und Glaubensreformer ins Recht setzte. Sie wurde aber auch von Schriftstellern betrieben, die mit Bedacht auf heilsgeschichtliche Sinnstiftung der Apologie des Kalifats frönten, erlaubte sie es ihnen doch, vielschichtige Konfliktlagen zu vereinfachen und zugleich zu überhöhen. In frühʿabbāsidischer Zeit noch recht vordergründig, in den späteren Jahrhunderten zunehmend subtiler gerannen wichtige innerislamische Auseinandersetzungen durch normative Darstellung zu Kämpfen zwischen Glaube und Irrglaube, zwischen einem legitimen Selbst innerhalb der Gemeinschaft der Rechtgläubigen und einem usurpatorischen Anderen außerhalb ihrer. Dabei nahmen der Verfasser und die adressierte Leserschaft stets wie selbstverständlich den Binnenstandpunkt ein.3 Man versteht: Die hinaustreten, sind die Anderen. 2 Vgl. Lewis, „Islamic Concepts of Revolution“, 35–37 (Nachdruck: 259 f.); ders., Die politische Sprache des Islam, 31, 161 f. 3 So verfuhren selbst Schriftsteller, die einer der inkriminierten Bewegungen angehörten, denn auch sie sahen die je eigene Gruppe im Recht und also im Zentrum. Allerdings mußten sie zusätzlichen Begründungsaufwand treiben, um die bestehende Obrigkeit als illegitim und die herrschende Glaubensauffassung als falsch hinzustellen, denn die einfache Argumentation per ḫurūǧ war ihnen verwehrt. Nun kann sich derartiges Material eigentlich nur erhalten, wenn eine Bewegung siegreich verläuft und eine eigene Textüberlieferung zu gewährleisten vermag, Reinterpretation der Anfänge eingeschlossen. Darum kennen wir Stücke hāšimitisch-ʿabbāsidischer Revolutionspropaganda, etwa dank den anonymen Aḫbār al-ʿAbbās. Vgl. Sharon, Black Banners from the East; Lassner, Islamic Revolution and Historical Memory. Hingegen pflegt die Sicht der Besiegten unterzugehen. Eine einzigartige Ausnahme bildet der Bericht vom Aufstand der Zanǧ aus der Feder des Aufstandsteilnehmers Šailama, selbst wenn er in einer erst von ihm selbst und erneut von seinem Bearbeiter aṭ-Ṭabarī perspektivisch gebrochenen Form überliefert wurde. Vgl. Halm, Traditionen, 8–12, 29, 78, 114 f., 122 f.; Kennedy, „Caliphs and Their Chroniclers“, 33; Franz, Kompilation, 84–88, 107– 112, 183 f., 208–212, 258–260, 268 f. mit Anm. 5, vgl. Register 338: Muḥammad b. al-Ḥasan. Eine ähnlich detaillierte Innenansicht der ‚qarmāṭischen‘ Ismāʿīlīya des ʿIrāqs, Syriens und al-Baḥrains ist nie verfaßt worden oder fehlt, auch weil die fāṭimidisch-ismāʿīlitischen Schriftsteller diesen Zweig als unzugehörig behan-



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Allerdings war diese Vorstellung auch mit Schwierigkeiten behaftet. Auf unterschiedlichste aufständische und/oder heterodoxe Erscheinungen angewendet, behinderte sie in gleichmacherischer Weise das Verständnis von deren Spezifika. Dieser Mangel wiederum erschwerte es, den Gedanken eines Zusammenhanges aller Heterodoxien mit dem Bemühen um ihre Taxierung in sektengeschichtlichen bzw. häresiolographischen Systemen zu vereinbaren. Es mußte deshalb eine besondere Herausforderung bedeuten, wenn zwei Bewegungen zwar zeitlich und räumlich derart eng beieinanderstanden, daß es nahelag, Überschneidung und Wechselwirkung anzunehmen, zugleich aber keine substantiellen Anhaltspunkte dafür vorlagen. Gerade so verhält es sich mit zwei der am übelsten beleumundeten Oppositionsbewegungen des islamischen Mittelalters, dem Aufstand der Zanǧ und der Ausbreitung der frühen Ismāʿīlīya (sogenannte Qarmaṭen). Beide ereigneten sich in der zweiten Hälfte des 3./9. Jahrhunderts im südlichen ʿIrāq und in Ḫūzistān, erhielten rasch volkstümlichen Zulauf und vermochten jene als Kornkammer und Steuerquelle für das Kalifat zentralen Provinzen zu erschüttern; jedoch waren und sind sie ausweislich sozialer Zusammensetzung, Programm und Praxis für verschieden anzusehen. Nun findet sich allerdings bei etlichen arabischen Historikern die Nachricht, ‚Qarmaṭen‘ und Zanǧ hätten ein Bündnis angebahnt. Im Mittelpunkt steht dabei zum einen das Oberhaupt der ismāʿīlitischen Untergrundbewegung im ʿIrāq, der Werber (dāʿī) Qarmaṭ (zwei Quellen zufolge: Mihrawaih), zum anderen der „Herr der Zanǧ“ ʿAlī b. Muḥammad, seines Zeichens Anführer des Aufstandes der schwarzen, Zanǧ genannten Sklaven und anderer Bevölkerungselemente im südlichen ʿIrāq und in Ḫūzistān (255–270/869–883). Der Episode zufolge suchte der dāʿī den Herrn der Zanǧ in dessen Stadt (al-Muḫtāra) zu einem Bündnisgespräch auf, disputierte zu diesem Zweck mit ihm unter vier Augen Fragen der religiösen Observanz, konnte jedoch keine Verständigung erzielen, zog sich darum erfolglos von ihm zurück und begab sich fort in den Sawād al-Kūfa. Diese Episode, ich nenne sie die Qarmaṭ/ʿAlī-Erzählung, leistet eine häresiologische Aufladung der historischen Faktenlage, ohne die offenkundige Disparität der beiden Bewegungen zu leugnen. Sie erlaubt, eine kontingente Nähe zwischen diesen zu denken, die, wie ephemer auch immer, die Gefahr der Verschwörung birgt. So verandelten. Vgl. Ivanow, Ismaili Tradition, 90 f.; Halm, „Die Söhne Zikrawaihs“, 31, 39–41; Franz, Beutezug, 59–61, 68 f.

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schaulicht sie das dem islamischen Selbst gegenüberstehende Andere als Societas malorum, Gesellung der Unheilbringer Die implizite Aufforderung, sich das aus einem solchen Komplott möglicherweise erwachsende Unheil auszumalen – etwa das Massaker der Zanǧ in Basra von 257/871 mit der Verschleppung des Schwarzen Steines von 317/929 durch die Qarmaṭen zu potenzieren –, scheint mir den Überlieferungserfolg der Erzählung im chronikalen Schrifttum und ebenso ihre noch größere Beliebtheit in der modernen Forschungsliteratur zu erklären. Daß das Geschehen fiktiv ist, hat ein einziger Autor bemerkt, und die Zeugniskraft der Erzählung für die Vorstellungswelt der muslimischen Schriftsteller ist dabei noch kaum gestreift worden. Ich will darum einmal eigens der Frage nachgehen, ob ein gewisser Qarmaṭ (oder Mihrawaih) dem ʿAlī b. Muḥammad wirklich begegnet ist, und zwar (im 2. Abschnitt) anhand der ältesten erhaltenen, von aṭ-Ṭabarī stammenden Erzählfassung und anderen zeitnahen Quellen. Wir wenden uns sodann (3.) der Überlieferungsgeschichte bis ins 9./15. Jahrhundert zu, bevor (4.) Entstehung und Divergenz der Erzählung sowie (5.) ihr Reiz und Überlieferungserfolg erklärt werden sollen.

2. aṭ-Ṭabarīs Qarmaṭ/ʿAlī-Erzählung Die Erzählung von Qarmaṭs Begegnung mit ʿAlī b. Muḥammad liegt bis ans Ende des 9./15. Jahrhunderts in wenigstens zehn Fassungen vor. Die älteste erhaltene ist auch die einzige zeitgenössische und überdies die ausführlichste Fassung, und der Vergleich mit den späteren Fassungen wird zeigen, daß sie die unmittelbare oder mittelbare Vorlage der meisten anderen bildet. Fassung 1 also, die Hauptquelle, ist eine im Druck rund sechs Zeilen kurze Stelle der Chronik des großen, für seinen Berichtszeitraum (bis 302/915) bald hernach als autoritativ anerkannten Geschichtsschreibers aṭ-Ṭabarī. Zeitlebens in Bagdad ansässig, beobachtete er von dort aus die beiden Bewegungen und schöpfte sein Material aus den in der Stadt eintreffenden mündlichen Nachrichten, der zeitgeschichtlichen Literatur und bisweilen auch amtlichen Schriftstücken. Im vorliegenden Fall verwertet er einen Bericht vom Verhör eines gefangenen ‚Qarmaṭen‘. Der Abschnitt steht im Kapitel auf das Jahr 278 h. (begann am 15. April 891 n. Chr.) im Kontext der ersten in Bagdad eintreffenden Berichte von der Ausbreitung der Ismāʿīlīya im Umland von al-Kūfa. Aus diesem Anlaß hat der Verfasser auch undatierte Stücke zur Vorgeschichte der Bewegung wie eben



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das folgende hinzugenommen. Er bezieht es laut der zugehörigen drei­ gliedrigen Überliefererkette von einem ungenannten „Kollegen“, der seinerseits eine Person aus dem Umkreis des dāʿī Zikrawaih b. Mihrawaih (st. 294/907) wiedergibt. Dieser war ein silf Zikrawaih, Schwager von Zikrawaihs Frau,4 und ist vielleicht mit einem gewissen al-Muntaqim (gefangengenommen 294/907) identisch.5 Er will den Bericht von der Zusammenkunft aus allererster Hand von Qarmaṭ selbst erzählt bekommen haben: 1. aṭ-Ṭabarī (st. 310/923), Taʾrīḫ III, 2129u–21308:6

‫وكان مصير قرمط الى سواد الكوفة قبل قتل صاحب الزنج وذلك ان بعض اصحابنا‬ ُ ‫ذكر عن سلف زكرويه انه قال قال لي قرمط صر‬ ‫ت الى صاحب الزنج ووصلت اليه‬ ُ ‫وقلت له ا ّني على مذهب وورائي مائة الف سيف فناظْرني فان اّتقفنا على المذهب ِمل‬ ‫ت‬ ُ ‫بمن معي اليك وان تكن االخرى انصرفت عنك وقل‬ ‫ت له طعتيني االمان ففعل قال‬ ‫فناظرتُه إلى الظهر فتب َّين لي في آخر مناظرتي اياه انه على خالف امري وقام الى‬ ُ ‫ت خارجا من مدينته وصر‬ ُ ‫ت فمضي‬ ُ ‫الصالة فانسلل‬ .‫ت الى سواد الكوفة‬ Qarmaṭs Reise ins Schwarzland von al-Kūfa fand noch vor der Tötung des Herrn der Zanǧ statt. Und zwar berichtete einer unserer Kollegen auf Autorität des Gatten einer Schwester der Frau von Zikrawaih. Dieser sagte: Qarmaṭ sagte zu mir: „Ich zog zum Herrn der Zanǧ, langte bei ihm an und sagte zu ihm: ‚Ich hänge einer gewissen Glaubensregel an, und hinter mir stehen einhunderttausend Schwerter. So dispu­tiere denn mit mir. Wenn wir uns über die Glaubensregel einigen, schließe ich mich samt den Meinen dir an; wenn es aber anders kommt, ziehe ich mich von dir zurück.‘ Ich sagte zu ihm: ‚Gewähre mir Schutz‘, und er tat es.“ Er sagte: „Ich disputierte mit ihm bis in die Mittagszeit, doch am Ende meines Disputs wurde mir klar, daß er anderer Auffassung als ich war. Als er sich zum Gebet erhob, schlich ich mich davon. Ich ging aus seiner Stadt fort und zog ins Schwarzland von al-Kūfa.“

Diese Erzählung hat sich in der mittelalterlichen Historiographie festgesetzt, wie der dritte Abschnitt zeigen wird. Für die Haltung der arabischen wie westlichen Forschung ist die Überlieferungsgeschich4 Zur Problematik des Verwandtschaftsbegriffes silf vgl. Lane, An Arabic-English Lexicon, 1409. 5 Aṭ-Ṭabarī, Taʾrīḫ III, 2277. Vgl. Rosenthals Kommentar in seiner Übersetzung The History of al-Ṭabarī XXXVIII, 168 Anm. 815, 182 Anm. 889. 6 Frz. von de Goeje, Mémoire, 26, und Farsi, „Le qarmatisme“, 36 f.; engl. von de Goeje, „Carmaṭians“, 223, und Fields in The History of al-Ṭabarī XXXVII, 175. Zum Zweck der Synopse mit den späteren Fassungen folgt in Anm. 53 der Text noch einmal in Transliteration.

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te aber unbedeutend, da fast immer allein aṭ-Ṭabarīs Fassung rezipiert wurde. Auch von den Modernen ist die Erzählung für authentisch erachtet worden. Eher zurückhaltende Autoren beschränken sich darauf, aṭ-Ṭabarī zu paraphrasieren. Andere walzen die Stelle zu großer Redundanz aus und ergehen sich in Spekulationen über Querverbindungen zwischen den beiden Bewegungen. Beliebt ist der wohlfeile Schluß, daß zwar das Bündnisgespräch erfolglos blieb, jedoch der Aufstand der Zanǧ auf vielfältige Weise der Ismāʿīlīya den Boden bereitete; ein Übertrag allgemeinster Art habe gewissermaßen in der Luft gelegen, zumal der südliche ʿIrāq und der Sawād al-Kūfa Gebiete einer endemischen Aufstandsneigung gewesen seien. Variationen dieser unkritischen Auffassung finden sich von M. J. de Goejes Geschichte der Baḥrainqarmaṭen und T. Nöldekes Aufsatz „Ein Sklavenaufstand im Orient“ über die Zanǧ-Monographien von F. as-Sāmir, A. ʿUlabī und A. Popovic bis zu den Ismāʿīliten- bzw. Fāṭimidendarstellungen von F. Daftary und M. Brett. Zumal zahlreiche arabische Autoren haben die vermutete Kontinuität zwischen beiden Bewegungen zur Projektion einer Sozialgeschichte arabischer Revolutionen bemüht. Angesichts der durchweg unkritischen Grundhaltung genüge an dieser Stelle eine bibliographische Fußnote.7 Die Vielzahl derartiger Themenaufgriffe dürfte außerdem dafür verantwortlich sein, daß auch Autoren, die nicht ausdrücklich zu der Episode Stellung nehmen, eine die beiden Bewegungen verbindende revolutionäre Grundstimmung im südlichen ʿIrāq anerkennen und vermuten, daß Überlebende des Aufstandes der Zanǧ später bei den Ismāʿīliten eine neue Heimat fanden.8 7 In der Reihenfolge der Erstveröffentlichung: de Goeje, Mémoire, 16, 26; Nöldeke, Orientalische Skizzen, 161; de Goeje, „Carmaṭians“, 223; Casanova, „La doctrine secrète des Fatimides d’Égypte“, 124; ad-Dūrī, Dirāsāt, 78, 160; as-Sāmir, Ṯaurat az-Zanǧ, 79, 87 f., 182; Farsi, „Le qarmatisme“, 10; Cahen, Leçons d’histoire musulmane II, 65; ʿUlabī, Ṯaurat az-Zanǧ wa-qāʾiduhā, 160 f.; Ḥasan, „Ḥaqīqat ṯaurat az-Zanǧ“, 132; ʿUlaiyān, Qarāmiṭat al-ʿIrāq, 38–40, doch s. u., Anm. 36; el-Sāmarrāie, Agriculture in Iraq, 117 f.; Popovic, La révolte des esclaves, 122, 167, 179 f.; al-Qaisī, „aṭ-Ṭabarī wa-ḥarakat az-Zanǧ“, 76; Lamour, Mystique et politique en Islam, 144 (die Begegnung ein Traum Ḥamdāns), vgl.  142, 151; Daftary, The Ismāʿīlīs, 116 f.; Akbar, „Secular Roots“, 381; Bazzūn, al-Qarāmiṭa, 123 f., 182; Daftary, Kurze Geschichte der Ismailiten, 53; Brett, The Rise of the Fatimids, 57–60, bes. 58, 128. 8 Hitti, History of the Arabs, 445; Ivanow, Ismaili Tradition, 71 f.; Tāmir, al-Qarāmiṭa, 78 f., ohne Bezug auf personelle Übergänge; Dachraoui, „al-Mahdī ʿUbayd Allāh“, 1242; Colpe, „Platonismus“, 75.



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Dem hat meines Wissens bislang einzig H. Halm widersprochen. Er bewertet die Erzählung als erdachte Anekdote und weist auf den topischen Wert von Berichten hin, die den Kontakt zweier bedeutender Zeitgenossen behaupten, bloß weil räumliche Nähe, zeitliche Koinzidenz und Gemeinsamkeiten im Auftreten einen solchen haben naheliegend erscheinen lassen. Als literarische Parallele in nächster Nähe zur Qarmaṭ/ʿAlī-Erzählung führt er al-Bīrūnīs Bericht von einem Briefwechsel zwischen dem Herrn der Zanǧ und al-Ḥasan b. Zaid an, dem Führer der ʿalīdischen Sezessionsbewegung in Ṭabaristān (reg. 250–270/864–884); ein realgeschichtlicher Beweis für den Kontakt fehlt, und die Geschichte ist auch innerlich wenig plausibel: „die ganze Episode ist […] augenscheinlich erfunden, um den ‚Herrn der Zanǧ‘ als Betrüger hinzustellen.“9 Halms Feststellungen hätten der Gutgläubigkeit gegenüber aṭ-Ṭabarīs Qarmaṭ/ʿAlī-Erzählung abhelfen sollen, sind jedoch, 1967 in deutscher Sprache im Dissertationsdruck veröffentlicht und wenige Zeilen umfassend, in der Literatur unbeachtet geblieben. Die Erzählung harrt darum einer eingehenden historisch-kritischen Diskussion, die aṭ-Ṭabarīs Überliefererkette (isnād), der Person Qarmaṭs, der Perspektive der anonymen Gewährsleute und der Stichhaltigkeit der Handlung zu gelten hat. Sie ist auch die Voraussetzung dafür, daß das Fortleben des Stoffes bei anderen Schriftstellern und sein weitergehender kultureller Gehalt kenntlich werden. Zunächst zu aṭ-Ṭabarīs Quelle. Die Stelle bildet ausweislich des isnād die Fortsetzung eines rund dreieinhalb Druckseiten umfassenden Berichts im selben Jahreskapitel, mit welchem aṭ-Ṭabarīs Ismāʿīlitenbericht anhebt.10 Der ausführlichere isnād jenes ersten Berichtsabschnittes besagt, daß das Verhör des silf von Abū ʿAbdallāh Muḥammad b. Dāwūd b. al-Ǧarrāḥ (Schriftsteller, Sekretär und nachmaliger Wesir, hingerichtet 296/909) durchgeführt wurde, und daß er den silf vernahm, weil dieser unter den Mitgefangenen als Autorität (šaiḫ) und bester Kenner von Qarmaṭs Geschichte (aḫbar an-nās bi-qiṣṣatihī) galt.11 Das Verhör fand vermutlich 294/907 statt, nämlich im selben Jahr, da unter Ibn al-Ǧarrāḥs Befehl der letzte Rest der Zikrawaihschen Ismāʿīlīya in Nordarabien niedergeworfen und einige 9 Halm, Traditionen, 120 f. 10 Aṭ-Ṭabarī, Taʾrīḫ III, 2124–2127. 11 Ebd., 2127. Zur Überlieferungssituation Halm, „Die Söhne Zikrawaihs“, 52; Franz, Kompilation, 151. Zu Ibn al-Ǧarrāḥ GAS I, 347; Sourdel, Le vizirat ʿabbāside I, 371–375, bes. 372 Anm. 3; II, Register 773.

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Überlebende, darunter eben jener silf, nach Bagdad gebracht worden waren.12 Ihre Einvernahme diente offensichtlich dazu, die Umtriebe der frühen Ismāʿīlīya nachrichtendienstlich aufzuarbeiten. Ein dritter und letzter Berichtsabschnitt, der laut isnād jener anonymen Quelle entstammt, handelt auf rund einer halben Druckseite davon, wie Zikrawaih als Aufstandsführer hervorgetreten war, und steht richtig im Kapitel auf das Jahr 293 h. (begann am 2. November 905).13 Von dem Verhör von 294/907 müssen bis zur erzählten Zeit der Begegnung in al-Muḫtāra wenigstens 23 ½ Jahre zurückgerechnet werden, wenn man dafür den spätestmöglichen Termin annimmt, ein Datum kurz vor dem Tod des Herrn der Zanǧ am 2. Ṣafar 270/11. August 883.14 Es liegt allerdings näher, diesen, bündnisunwillig, am Tage der Begegnung noch im Vollbesitz seiner Macht zu sehen. Dies war bis Anfang 267/ Ende 879 der Fall, so daß bis zu dem Verhör 27 Jahre oder mehr vergangen sein dürften. Wir werden aber noch sehen, daß der anzunehmende Zeitabstand wenigstens 34 Jahre betrug. Eine Folge dieser Chronologie ist es, daß der Teil des isnād, der in aufsteigender Richtung unmittelbar vor dem silf den dāʿī Qarmaṭ als den ursprünglichen und personalen Gewährsmann nennt, in Zweifel gerät. Bei aṭ-Ṭabarī kommen infolge des ersten Berichtsabschnittes zwei Personen als Qarmaṭ in Frage: der erste dāʿī im Sawād al-Kūfa, ein Mann aus Ḫūzistān, dem später der Name ‚Karmīta‘ beigelegt wurde, welcher sich sodann zu ‚Qarmaṭ‘ verschleift haben soll; oder aber derjenige, von dem der Name herrührt, nämlich sein zeitweiliger Gastgeber im Sawād, der einheimische Ochsenkarrenlenker Ḥamdān, mit Spitznamen ‚Karmīta‘ oder ‚Qarmaṭ‘ genannt.15 Betrachten wir zunächst Ḥamdān, weil er der jüngere ist, also dem silf zeitlich nähersteht. Wir wissen aus anderer Quelle, daß Ḥamdān im ʿIrāq als ersten Anhänger einen gewissen ʿAbdān al-Kātib warb; dieser wiederum warb Zikrawaih.16 Nach verbreiteter Ansicht handelt es sich bei diesem Mihrawaih um den Vater von Zikrawaih, um dessen silf es hier geht. Weder ist eine besondere Nähe zwischen Ḥamdān Qarmaṭ und dem silf zu konstatieren, noch ist überhaupt gewiß, daß sich ihre Tätigkeit für die Untergrundbewegung zeitlich überschnitt. Der silf ist allein im Zusam12 Die Datierung von Daftary, The Ismāʿīlīs, 107, auf ungefähr 291/903–904 erfolgt ohne mir ersichtlichen Grund. 13 Aṭ-Ṭabarī, Taʾrīḫ III, 2266. 14 Ebd., 2091. 15 Ebd., 2127, zu ‚Karmīta‘ schon 2125. 16 Aḫū Muḥsin bei Ibn ad-Dawādārī, Kanz VI, 47, und al-Maqrīzī, Ittiʿāẓ I, 155.



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menhang mit dem Kämpfen des Jahres 294/906-907 zu bemerken, als die ismāʿīlitische Werbung (daʿwa) bereits eine entwickelte Organisation darstellte. Wenn er Ḥamdān begegnet sein soll, dann allenfalls zu einer Zeit, da er einen der unteren Ränge in der Stufenleiter der Werber bekleidete. Es ist deshalb unwahrscheinlich, daß ihm Ḥamdān persönlich von der Begegnung mit dem Herrn der Zanǧ berichtete. Das gilt um so mehr für jenen älteren dāʿī aus Ḫūzistān. Vielmehr sind Zwischenglieder anzunehmen, und am ehesten könnte es sich so verhalten haben, daß der silf aus ismāʿīlitischem Erzählgut schöpfte, welches entweder in seinen Kreisen allgemein umlief oder ihm auf einer höheren Stufe der Initiation in die ismāʿīlitische Lehre enthüllt wurde. In beiden Fällen wird es sich um mündliches Erzählgut gehandelt haben. Außerdem scheint mir die Identität Mihrawaihs fragwürdig. Bei zwei nicht von aṭ-Ṭabarī abhängigen Schriftstellern und gewiß auch schon bei ihrer Vorlage, dem Traktat von Ibn Rizām (dazu gleich), kommt auch die offenkundig verstellte Namensform Mihrawaih b. Zikrawaih vor, was von Unsicherheit über den Namen zeugt.17 Sie ist wohl drei ineinandergreifenden Umständen geschuldet: Reimwirkung der Namen aufgrund ihrer morphologischen Gleichheit (beide sind ursprünglich persische Kosenamen),18 Obskurität der Person des Vaters, Unachtsamkeit eines Überlieferungsgliedes. Die Verwechslung bedeutet, daß auch der Name ‚Mihrawaih‘ allein für Zikrawaih stehen mag und gar nicht mit Sicherheit angenommen werden kann, daß schon der Vater eine Rolle in der daʿwa spielte. Zwischen dem silf und aṭ-Ṭabarī steht der namenlose „Kollege“ (baʿḍ aṣḥābinā). Er läßt sich nicht eruieren. Es drängt sich die Frage auf, warum aṭ-Ṭabarī ihn anonymisiert. Dazu stellt M. Farsi richtig die Spekulation an, daß aṭ-Ṭabarī Informantenschutz im Sinn gehabt habe. Immerhin war Ibn al-Ǧarrāḥ im Jahre 296/909 wegen Hochverrats als Wesir gestürzt und hingerichtet worden, und wie in solchen Fällen üblich, hatten enge Vertraute Nachteile zu befürchten. Das Ereignis war zum Zeitpunkt der Niederschrift der Erzählung durch aṭ-Ṭabarī (kurz vor Abschluß der Chronik 302/915) längstens sechs Jahre her und zweifellos noch hinlänglich in Erinnerung, um Anlaß zu geben, den Gewährsmann, der Ibn al-Ǧarrāḥs Empfang (maǧlis) beigewohnt hatte, nicht bloßzustellen.19 Ebenfalls nicht zu klären ist die Frage, 17 Aḫū Muḥsin bei Ibn ad-Dawādārī, Kanz VI, 46, und al-Maqrīzī, Ittiʿāẓ I, 155. 18 Mihrōya (Klein-Mithras), Zakarōya (Klein-Zacharias); Halm, „Methoden und Formen“, 125 Anm. 8; ders., Das Reich des Mahdi, 68. 19 Farsi, „Le qarmatisme“, 20.

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ob die Erzählung des Anonymus auf mündlichem oder schriftlichem Wege an aṭ-Ṭabarī gelangte. Beides erscheint vorstellbar, wenn man bedenkt, welche zeitliche Nähe zwischen dem Verhör und der Aufnahme in die Chronik bestand, und daß sich Chronist und Gewährsmann in Bagdad, dem Regierungssitz und mutmaßlichen Ort des Verhörs, begegnet sein können. Ibn al-Ǧarrāḥ war selbst Schriftsteller. Unter anderem verfaßte er ein – verlorenes – Kitāb al-Wuzarāʾ, worin Notizen aus dem Verhör durchaus ihren Platz gehabt haben mögen. Daß er aber ein spezielles Kitāb Aḫbār al-Qarāmiṭa schrieb, wie S. Zakkār meint,20 habe ich nirgends angezeigt gefunden. Hingegen ist bei Ibn Ḫallikān ein Kitāb al-Qarāmiṭa von aṣ-Ṣūlī (st. 335/947) verzeichnet.21 Dieses dürfte identisch sein mit einer bei dem Biobibliographen Ibn an-Nadīm (schr. 377/987) genannten Schrift aṣ-Ṣūlīs, deren Titel in Flügels Ausgabe Kitāb Aḫbār al-Ǧubbāʾī Abī Saʿīd lautet,22 aber auch Kitāb Aḫbār al-Ǧannābī Abī Saʿīd gelesen werden kann.23 Ein Buch über Abū Saʿīd al-Ǧannābī wäre aber gleichbedeutend mit einem Buch über die von diesem begründete Qarmaṭenherrschaft in al-Baḥrain, worin auch Nachrichten über die ʿirāqischen Ursprünge der daʿwa zu erwarten stünden. Der Verlust dieser Schrift ist höchst bedauerlich, denn es ist nicht unwahrscheinlich, daß aṣ-Ṣūlī, Zeitgenosse der frühen Ismāʿīlīya und als Literat am Hofe sowie Gesellschafter mehrerer Kalifen in vieler Hinsicht bestens informiert, den Bericht jenes „Kollegen“ benutzen konnte. Schon hinsichtlich der Zanǧ scheint aṣ-Ṣūlī mir als einer von wenigen über die beste Quelle, die Monographie des Šailama, verfügt 20 Zakkār, „at-Taqdima“, *27*. 21 Ibn Ḫallikān, Wafayāt al-aʿyān IV, 356 Nr.  648 (engl. III, 69). Er folgt Ibn an-Nadīms Fihrist vielfach sehr eng. 22 Ibn an-Nadīm, Fihrist I, 151 (engl. I, 331): ‫الجباءى‬. Die Annahme des Übersetzers Dodge (engl. II, 1025), es handle sich bei diesem um einen zweitrangigen Dichter, scheint einzig aus der Stellung des Schriftentitels in aṣ-Ṣūlīs Werkliste zwischen zwei Dichtermonographien abgeleitet. 23 Der Nachlaß von Fück enthält Kopien von Handschriften des Fihrist. Demnach zeigen Chester Beatty 3315, fol. 92v, und Paris 4457, fol. 205v, die Form ‫الحباى‬ (Sturm, Historikerkapitel I, 160, liest ‫)الحٮاٮى‬, Tonk (Abschrift), 7, hat ‫الجبائى‬. Beide Formen laden zur Verlesung al-Ǧannābī ein. Daß eben dies vorkommt, belegt in umgekehrter Richtung der folgende – gar noch gravierendere – Überlieferungsfehler: wal-Ǧubbaʾī (‫ )والجبئى‬bei Miskawaih, Taǧārib, fol.  53v, wird in ʿUyūn IV, 36, zu wal-Ǧannābī. Es handelt sich dabei um einen Befehlshaber der Zanǧ namens Aḥmad b. Mahdī al-Ǧubbāʾī. Vgl. Franz, Kompilation, 175 mit Anm. 10.



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zu haben.24 Die drei Überlieferungsabschnitte bei aṭ-Ṭabarī scheinen vorderhand glaubwürdig, werden sie doch im wesentlichen von einer unabhängigen Quelle bestätigt, der Streitschrift gegen die Ismāʿīlīya von Ibn Rizām aus al-Kūfa (schr. zwischen 341–345/953–956), der offenkundig über zeitnahe ismāʿīlitische Originalzeugnisse verfügte.25 In selbständiger Form verloren, sind umfängliche Auszüge aus Ibn Rizāms Werk in den ebenfalls antiismāʿīlitischen Traktat des Scherifen Aḫū Muḥsin aus Damaskus (schr. um 374/984–985)26 eingegangen. Diesen wiederum überliefern vor allem Ibn an-Nadīm27 sowie drei Geschichtsschreiber des 8.–9./14.–15. Jahrhunderts: an-Nuwairī, Ibn ad-Dawādārī und al-Maqrīzī. Unter diesen übernehmen die beiden letzteren die Erzählung von der Begegnung.28 Die Kontrastierung ihrer Fassungen mit derjenigen aṭ-Ṭabarīs bringt Differenzen ans Licht, die die Authentie der Begegnung in Zweifel ziehen. Eine erste Differenz betrifft die Identifizierung des Mannes, der in der Erzählung von der Begegnung als Qarmaṭ angesprochen wird. Es heißt, er habe den Herrn der Zanǧ getroffen, bevor er in den Sawād al-Kūfa zog und die daʿwa dorthin trug. Ausgangspunkt der Reise ist Ḫūzistān, und sein letztes Ziel ist die Gegend von Damaskus, wie aṭ-Ṭabarī im ersten Berichtsabschnitt feststellt.29 All das paßt nun gar nicht auf jenen Ḥamdān, der sowohl laut aṭ-Ṭabarī als auch Ibn Rizām aus dem Sawād al-Kūfa gebürtig war, wo er seinen Lebensunterhalt als Fuhrmann bestritt. Die Überlieferung nach Ibn Rizām und Aḫū Muḥsin weist keinen solchen Widerspruch auf, weil ihr zufolge die Angaben, die aṭ-Ṭabarī mit dem einen Namen ‚Qarmaṭ‘ verbindet, drei unterschiedlichen Personen gelten: Erstens nennt sie den Begründer der Ismāʿīlīya, ihren ersten Großmeister ʿAbdallāh al-Akbar (d. i. ʿAbdallāh der Ältere). Er stammte aus ʿAskar Mukram in Ḫūzistān, floh irgendwann von dort nach Basra und wich um das Jahr 250/864 24 Ebd., 114 f., 147 f. mit 156 Abb. 1. Zu Šailama s. o., Anm. 3. 25 D. i. Abū ʿAbdallāh Muḥammad b. ʿAlī b. Rizām aṭ-Ṭāʾī. Vgl. Ivanow, Ibn alQaddah, 3; Madelung, „Fatimiden und Baḥrainqarmaṭen“, 59 Anm. 1 = „Fatimids and Qarmaṭīs“, 62 f. Anm. 156; Halm, Das Reich des Mahdi, 17, 35–37, 65. 26 D. i. Abū l-Ḥusain Muḥammad b. ʿAlī b. al-Ḥusain b. Aḥmad b. Ismāʿīl b. Ǧaʿfar aṣ-Ṣādiq ad-Dimašqī. Vgl. Halm, „Die Söhne Zikrawaihs“, 31; Daftary, Kurze Geschichte der Ismailiten, 17 f. 27 Ibn an-Nadīm, Fihrist I, 187 (engl. I, 462–467). Weitere Ausgabe von Riżā Taǧaddud, Teheran 1391/1350 h. š./1971, 238 f. 28 S. u., Fassungen 8 und 10. Textstellen, Übersetzungen und Literatur verzeichnet Franz, Beutezug, 12 Anm. 20. 29 Aṭ-Ṭabarī, Taʾrīḫ III, 2124, 2127.

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nach Salamya in Syrien aus, wo er sich inkognito endgültig niederließ.30 Zweitens tritt jener dāʿī auf, der als erster im Sawād al-Kūfa tätig geworden sein soll. Er heißt al-Ḥusain al-Ahwāzī. Wenn man seinem Beinamen glauben darf, stammte er aus Sūq al-Ahwāz, der Hauptstadt Ḫūzistāns, oder überhaupt aus Ḫūzistān. Er war schon während ʿAbdallāhs Aufenthalt in ʿAskar Mukram zur daʿwa gestoßen und ihm sodann nach Basra gefolgt;31 von dort aus begleitete er den Großmeister nach Salamya.32 Er trat also die Aufbauarbeit im Sawād al-Kūfa von Syrien kommend an. Nach den ersten Anwerbungen verliert sich seine Spur. Drittens begegnet der eigentliche Ḥamdān Qarmaṭ, nämlich derjenige, der bei aṭ-Ṭabarī im ersten Berichtsteil als Ochsenkarrenlenker unter dem Namen Karmīta figuriert, in einem Dorfe bei al-Kūfa lebte und den erkrankten al-Ḥusain al-Ahwāzī zur Pflege in sein Haus aufnahm, allwo er von diesem gewonnen wurde.33 Sein voller Name lautet Ḥamdān b. al-Ašʿaṯ Qarmaṭ.34 Er folgte al-Ḥusain al-Ahwāzī an der Spitze der ʿirāqischen daʿwa nach. Offensichtlich sind bei aṭ-Ṭabarī diese drei Personen im zweiten Berichtsabschnitt zu einer verschmolzen, ohne daß auch das Personal 30 Ibn Rizām bei Ibn an-Nadīm, Fihrist I, 186–188 (engl. I, 462–464, 469 f.); Aḫū Muḥsin bei Ibn ad-Dawādārī, Kanz VI, 8, 18 f., und al-Maqrīzī, Ittiʿāẓ I, 25 f. Ibn Rizām hing ʿAbdallāh al-Akbar eine häretische Affiliation an, die Qaddāḥidenlegende, was erst von Ivanow, Ibn al-Qaddah, durchschaut wurde. Zu ʿAbdallāh vgl. Halm, Das Reich des Mahdi, 15–20, 22 f. 31 Aḫū Muḥsin bei Ibn ad-Dawādārī, Kanz VI, 19, 44, an-Nuwairī, Nihāya XXV, 189 f., und al-Maqrīzī, Ittiʿāẓ I, 25 f., 151–153. Vgl. Halm, Das Reich des Mahdi, 19 f., 33, 35 f. 32 Aḫū Muḥsin bei Ibn ad-Dawādārī, Kanz VI, 19, und al-Maqrīzī, Ittiʿāẓ I, 26. 33 Aṭ-Ṭabarī, Taʾrīḫ III, 2125, 2127. 34 Ibn Rizām bei Ibn an-Nadīm, Fihrist I, 187 (engl. I, 463 f.); Aḫū Muḥsin bei an-Nuwairī, Nihāya XXV, 187–191, 229–232, Ibn ad-Dawādārī, Kanz VI, 19, 44–46, 65, und al-Maqrīzī, Ittiʿāẓ I, 26, 151–153, 155 f., 167 f. Vgl. Halm, Das Reich des Mahdi, 35–37. Bei aṭ-Ṭabarī, Taʾrīḫ III, 2124, heißt das Dorf an-Nahrain. Laut der Stelle bei Ibn an-Nadīm war Ḥamdān Qarmaṭ ein Landpächter und Viehtreiber (akkāran baqqāran) aus Quss Bahrām oder (so wohl der spätere Name) Raʾs Qarmaṭ. Nach Aḫū Muḥsin bezeichnet Quss Bahrām die Nähe zum Ort des Zusammentreffens von al-Ḥusain und Ḥamdān Qarmaṭ, während dessen Heimatdorf ad-Dūr in mhrwsā/mhrwnqyā (Mahrausā?) im Distrikt Furāt bādqly/bādfly (Bādaqlā) bei al-Kūfa sei; dies bei an-Nuwairī, Nihāya XXV, 189, Ibn ad-Dawādārī, Kanz VI, 44, und al-Maqrīzī, Ittiʿāẓ I, 152. Die Namen an-Nahrain und Quss Bahrām mögen denselben Ort bezeichnen; de Goeje, Mémoire, 17. An-Naubaḫtī, Firaq aš-Šīʿa, 61 (frz. 87), und al-Qummī, Maqālāt, 83, bringen die persifizierte Namensform Qarmaṭōya (arabisch Qarmaṭawaih zu lesen).



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des ersten Berichtsabschnittes harmonisiert worden wäre. Zunächst läßt sich nicht sagen, ob er selbst oder die Quelle dafür verantwortlich ist, denn aṭ-Ṭabarīs am Ḥadīṯ geschulte Bereitschaft, Widersprüchliches aus Rücksicht auf die Autoritäten ungeglättet stehenzulassen, ist auch aus seiner Chronik hinlänglich bekannt. Kennzeichen der Verschmelzung ist jedenfalls die Angabe im ersten Berichtsteil, der Rufname Qarmaṭ sei als vereinfachte Form des ‚aramäischen‘ Namens Karmīta von Ḥamdān auf den von ihm beherbergten ersten dāʿī übergegangen.35 Dagegen ist der differenzierteren und in sich stimmigen Überlieferung nach Ibn Rizām und Aḫū Muḥsin der Vorzug zu geben. Dieser zufolge war Ḥamdān der Nachfolger des ersten dāʿī, was eine Wanderung des Namens ausschließen läßt, denn er hätte in diesem Fall vom jüngeren auf den älteren übergehen müssen. Von den bei Ibn Rizām und Aḫū Muḥsin aufgeführten Personen kommt für den Weg der Figur des Qarmaṭ – von Ḫūzistān über das südʿirāqische al-Muḫtāra in den Sawād al-Kūfa – einzig der erste dāʿī al-Ḥusain al-Ahwāzī in Frage. Um die syrische Etappe vervollständigt, würde sein Itinerar lauten: ʿAskar Mukram–Basra–Salamya–al-Muḫtāra–Sawād al-Kūfa. Aber auch al-Ḥusain al-Ahwāzī war nicht das Vorbild der Figur, wie die Zusammenschau aller Fassungen noch zeigen wird. Halten wir vorerst nur fest, daß aṭ-Ṭabarīs Qarmaṭ/ʿAlī-Erzählung nicht von einer Begegnung zwischen dem historischen Ḥamdān Qarmaṭ und dem Herrn der Zanǧ handelt.36 Eine zusätzliche Komplizierung ergibt sich aus der Perspektive des silf auf ‚Qarmaṭ‘ (der Name von aṭ-Ṭabarīs Figur sei hiernach in Anführungszeichen gesetzt oder durch die Bezeichnung dāʿī vertreten). Was aṭ-Ṭabarī nicht bekannt war, aber von W. Ivanow und H. Halm anhand der Überlieferung der antiismāʿīlitischen Traktate und zweier fāṭimidischer Werke nachgewiesen wurde, ist der religiös-politische Gegensatz zwischen der Gruppe um Zikrawaih und der Gruppe um den historischen Ḥamdān Qarmaṭ infolge des Schismas von 286/899.37 35 Aṭ-Ṭabarī, Taʾrīḫ III, 2127, vgl. 2125. Vgl. Ivanow, Ismaili Tradition, 69, 72, 74–76; Zakkār, „al-Muqaddima“, *28* f. 36 Schon kurz, jedoch folgenlos bemerkt von ʿUlaiyān, Qarāmiṭat al-ʿIrāq, 38, gestützt auf Handschriften von Sibṭ Ibn al-Ǧauzī und Baibars al-Manṣūrī. Zu diesen s. u., Fassungen 6 und 7. 37 Ivanow, „Ismailis and Qarmatians“, 84 f.; ders., Ismaili Tradition, 69 f., 80, 87, 93; Halm, „Die Söhne Zikrawaihs“, 34, 42–44, 48; ders., Das Reich des Mahdi, 64–67. Zum Schisma vgl. Madelung, „Imamat“, 59–65; Daftary, „A Major Schism“, 123, 128 f., 133–135, 137. Bei den fāṭimidischen Werken handelt es sich um die offiziösen Frühgeschichten der Fāṭimiden von al-Qāḍī an-Nuʿmān,

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Die damit einhergehenden Turbulenzen liegen zwar nach der Zeit, die uns hinsichtlich der etwaigen Verbindung mit den Zanǧ interessieren muß, begründen aber die Perspektive des silf. Und zwar folgten die Werber um Zikrawaih – fast als einzige – dem Großmeister Saʿīd b. al-Ḥusain, als dieser die ismāʿīlitische Doktrin revidierte und in eigener Person der verheißene mahdī zu sein beanspruchte. Die der Ismāʿīlīya innewohnende chiliastische Erlösererwartung wurde von der Gruppe um Zikrawaih sogar noch radikalisiert, indem sie ab dem Jahr 289/902 mit Hilfe beduinischer Gruppen einen Eroberungszug durch Syrien veranstalteten, 290/903 im Namen des mahdī vorauseilend eine staatsförmige Herrschaft mit Zentrum in Ḥimṣ gründeten und dadurch den Großmeister drängten, endlich hervorzutreten, um sich an die Spitze der Bewegung zu setzen; so kam es jedoch zum Bruch mit dem öffentlichkeitsscheuen Großmeister (der erst sieben Jahre darauf in Nordafrika den Schritt wagen sollte, sich als der erste Fāṭimidenkalif ʿAbdallāh al-Mahdī zu proklamieren).38 Die große Mehrzahl der Ismāʿīliten hingegen, geführt von Ḥamdān Qarmaṭ und seinem Schwager ʿAbdān, bewahrte das ursprüngliche legitimistische Dogma, in dessen Mittelpunkt der ʿAlīde Muḥammad b. Ismāʿīl (st. vor 193/809) stand. Als ein letzter Versuch zur Befriedung der Radikalen durch einen Emissär des Großmeisters fruchtlos blieb und ʿAbdān von einem Anhänger Zikrawaihs ermordet wurde, tauchte Ḥamdān unter. Gleichwohl behielten die Altgläubigen im ʿIrāq die Oberhand und fahndeten ausdauernd nach ihren Widersachern. Zikrawaih hielt es während vier Jahren für tunlich, sich im Keller des Hauses seines silf zu verstecken, wie aus dem dritten Berichtsabschnitt bei aṭ-Ṭabarī, allgemeiner gehalten aber auch aus der Überlieferung nach Aḫū Muḥsin hervorgeht.39 Im Lichte dieser Konfrontation sind auch die Aussagen des silf zu sehen: Wenn er einen Erlebnisbericht von ‚Qarmaṭ‘ wiedergab, dann nicht als dessen Parteigänger, wie der Vernehmungsbericht glauben machen will, sondern durch die Brille des Gegners. Statt mit der Innenansicht einer einheitlichen häretischen Gruppe haben wir es also mit der Darstellung der einen Fraktion durch einen Vertreter der anderen Iftitāḥ ad-daʿwa wa-btidāʾ ad-daula, und an-Naisābūrī, Istitār al-imām, sowie die von Muḥammad b. Muḥammad al-Yamānī redigierte Autobiographie Sīrat al-ḥāǧib Ǧaʿfar b. Alī. Sie tun hier nichts zur Sache. 38 Vgl. Halm, „Die Söhne Zikrawaihs“, 32–47; ders., Das Reich des Mahdi, 67–82. Zur beduinischen Komponente Franz, Beutezug, 47–83. 39 Aṭ-Ṭabarī, Taʾrīḫ III, 2266; Aḫū Muḥsin bei an-Nuwairī, Nihāya XXV, 230– 232, Ibn ad-Dāwādārī, Kanz VI, 66 f., und al-Maqrīzī, Ittiʿāẓ I, 168.



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zu tun. Diese zusätzliche sektiererische Brechung entgeht aṭ-Ṭabarī, weswegen er und die von ihm abhängigen Schriftsteller den Verhörbericht für bare Münze nehmen. Wir dagegen müssen, noch immer unabhängig von der Frage nach der Authentie der Handlung, die Möglichkeit in Rechnung stellen, daß die Erzählung eine Distanzierung des silf von dem Protagonisten oder einen Angriff auf ihn birgt. Anlaß zu übler Nachrede gegen die Altgläubigen um den historischen Ḥamdān Qarmaṭ war durchaus gegeben, denn zum einen war die Gruppe des silf zum Zeitpunkt des Verhörs schon rund acht Jahre mit ihnen zerfallen, zum anderen war sie ihnen in dem Streit von Anfang an unterlegen gewesen. Während die Altgläubigen im ʿIrāq und in Nordarabien fest verankert waren und in al-Baḥrain sogar eine uneinnehmbare Bastion erobert hatten, von der aus sie immer wieder einmal die Oberhand im südlichen ʿIrāq gewannen, hatte sich die Gruppe um Zikrawaih durch ihre Wendung sowohl gegen die alte Ismāʿīlīya als auch gegen ihren Hoffnungsträger, den (proto-)fāṭimidischen mahdī-Prätendenten, völlig isoliert. Durch jahrelange Kämpfe in Syrien immer weiter aufgerieben, war sie eben jüngst von dem Expeditionskorps unter Ibn al-Ǧarrāḥ ihrer grauen Eminenz und letzten Führergestalt Zikrawaih beraubt und endgültig niedergeworfen worden – Grund genug also zur Bitterkeit gegen die obsiegenden Traditionalisten von einst. Die Gegnerschaft des silf drückt sich im pejorativen Charakter der Darstellung aus. Allein schon der vorgestellte Sachverhalt einer Zusammenkunft mit dem Herrn der Zanǧ ist tendenziös, weil er ‚Qarmaṭ‘ in der Gesellschaft eines Renegaten und falschen Propheten40 zeigt, dem in allen Quellen – und zweifellos auch schon bei den Zeitgenossen – die größte Abscheu entgegenschlägt. Die ubiquitäre Verfluchung des Herrn der Zanǧ (er heißt ʿadūw Allāh, al-laʿīn, al-māriq, al-ḫabīṯ, al-fāsiq, qāʾid al-fussāq, al-ḫāʾin, al-muhlik al-muḫrib lil-madāʾin, ṣāḥib al-fuǧǧār wal-murrāq, raʾs kull bidʿa wa-qāʾid, šaiḫ ḍalāl šarra min Firʿaun usw.)41 ist geeignet, jeden zu verunglimpfen, der mit ihm in Beziehung trat, und so auch den dāʿī. Erschwerend kommt hinzu, daß der dāʿī die weltliche und geistliche Stellung des Herrn der Zanǧ als legitim anerkannte, indem er ihn um seinen Schutz (amān) bat und ihm die Verrichtung des islamischen Gebetes (ṣalāh) zubilligte. Dies spricht der damaligen Auffassung Hohn, daß der Herr der Zanǧ einen

40 Aṭ-Ṭabarī, Taʾrīḫ III, 1982. 41 Franz, „Recht der Dichtung“, 70 f.

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Irrglauben lehrte und das Gebetshaus von al-Muḫtāra keine Moschee gewesen sei.42 Ein weiterer Hinweis auf den tendenziösen Gehalt ergibt sich aus der Tatsache, daß die Erzählung im Kontext der ‚Qarmaṭen‘Geschichte plaziert ist, statt, wie es chronologisch richtig wäre, innerhalb der Berichterstattung vom Aufstand der Zanǧ. Die Digression ist in Ansehung von aṭ-Ṭabarīs strenger Annalistik erstaunlich genug. Sie verrät, daß sein Augenmerk ‚Qarmaṭ‘ und seiner Bewegung gilt. Die Verfemtheit des Herrn der Zanǧ hat er zuvor ausgiebig beteuert, so daß ‚Qarmaṭ‘ nun daran gemessen werden kann. Zweifellos ist es der Herr der Zanǧ, dessen Gegenwart den dāʿī kompromittiert, nicht umgekehrt.43 Diese Rangfolge im Schlechten mag überraschen, weil nach heutiger Kenntnis die Ausbreitung der Ismāʿīlīya eine tiefere Zäsur bedeutete als der Aufstand der Zanǧ. Sie ist aber nicht erstaunlich, wenn man bedenkt, daß aṭ-Ṭabarī für die ‚Qarmaṭen‘ nur über rund ein Sechstel der Materialmenge verfügte, welche ihm Šailamas Buch über den Aufstand der Zanǧ lieferte,44 und daß er die genetische Zusammengehörigkeit der verschiedenen Strömungen der Ismāʿīlīya verkannte, ja aufgrund der von seiner Warte aus zu beobachtenden Heterogenität und räumlichen Streuung wohl auch verkennen mußte. Erst Ibn Rizām gewahrte später im Jahrhundert die gemeinsame Wurzel der vielen regionalen Zweige der Altqarmaṭen, der Fāṭimiden und der Gruppe um Zikrawaih. Die unterschwellige Invektive gegen den dāʿī mag Ausdruck einer Aussagestrategie des silf sein, mit der er sich im Verhör – man darf wohl ergänzen: unter der Folter – bestmöglich salvieren wollte, indem er nämlich eine Auskunft über die ʿirāqische daʿwa gab, die von Ibn al-Ǧarrāḥ als Belastungsmaterial gebraucht werden konnte, ihn selbst aber von der inkriminierten Bewegung fortrückte. Dabei fällt auf, daß er sich zwar über ‚Qarmaṭ‘, aber nicht auch über die eigene, Zikrawaihsche Strömung ausließ. Ein sicheres Urteil über diesen Umstand ist nicht möglich, weil seine Aussagen bei aṭ-Ṭabarī vielleicht nur fragmentarisch überliefert sind; allerdings wäre nicht recht verständlich, warum uns der „Kollege“ bzw. unser Chronist etwas von dem, was dem silf entlockt wurde, vorenthalten haben sollte. Wie dem auch sei: Die ‚Qarmaṭ‘-feindliche Tendenz läßt in Verbindung mit der Nichter42 Es wurde nach der Eroberung der Stadt geschleift; aṭ-Ṭabarī, Taʾrīḫ III, 2035. 43 Vgl. Ibn ad-Dawādārī, Kanz VI, 541 (s. u., Anm.  61): wa-huwa (ʿAlī b. Muḥammad) aḫbaṯ minhū (Mihrawaih). 44 S. o., Anm. 3.



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wähnung der Zikrawaihschen Zelle den Eindruck entstehen, daß der Verhörte in vollem Wissen um das innerismāʿīlitische Zerwürfnis eine frisierte Darstellung abgab, welche auf einen Streich einen Widersacher diskreditierte, die Regierung irreleitete und sie von seiner eigenen Zelle ablenkte. Ob der Versuch fruchtete, wissen wir nicht, jedenfalls ist nichts von einer etwaigen Hinrichtung bekannt. Wir kommen später auf weitere Facetten der gegen den dāʿī gerichteten Tendenz zu sprechen, die auch die Identität der Figur klären helfen. Die historische Stichhaltigkeit der Erzählhandlung ist bisher hintangestellt worden, um den Vorrang von grundsätzlichen Einwänden gegen die Echtheit der Erzählsituation zu beachten. Selbst wenn die Überlieferung nach Aḫū Muḥsin noch Differenzierungen ergeben wird, seien zumindest die erzählte Zeit und der Ort des Geschehens gleich an dieser Stelle angesprochen, weil alle späteren Erzählfassungen diese in knapperen Worten oder gar nicht erwähnen. Nach zeitgenössischer Lesart waren vom Ende des Aufstandes der Zanǧ (Anfang Ṣafar 270/August 883) bis zur offiziellen Kenntnisnahme der Ismāʿīlīya (278/891–892) acht Jahre vergangen. Obzwar man aufgrund der klandestinen Organisationsweise der Ismāʿīlīya nicht wissen konnte, wie lange ihre Anfänge im ʿIrāq damals bereits zurücklagen, mußte man natürlich annehmen, daß schon Jahre vergangen waren; außerdem mochte der besagte erste Werber nach seiner Ankunft im ʿIrāq einige Zeit verstreichen lassen haben, bevor er die daʿwa in Angriff nahm. Darum war es in chronologischer Hinsicht durchaus billig, die Möglichkeit einer Begegnung mit dem Herrn der Zanǧ einzuräumen, die vor der Ankunft von ‚Qarmaṭ‘ im Sawād al-Kūfa stattfand. Diese relative Datierung wird auch von der Überlieferung nach Ibn Rizām und Aḫū Muḥsin gestützt, indem sie die daʿwa dort schon im Jahre 264/877–87845 bzw. 261/874–87546 beginnen läßt. Den eigentlichen Terminus ante quem bringt indessen W. Madelungs Feststellung, daß eine erste Widerlegung der Ismāʿīlīya, betitelt ar-Radd ʿalā l-Qarāmiṭa, von dem imāmitischen Gelehrten al-Faḍl b. Šāḏān aus Naisābūr verfaßt wurde, welcher 260/873–874 starb;47 der dāʿī muß also noch geraume Zeit vor diesem Jahr tätig geworden sein und mag demzufolge den Herrn der Zanǧ recht zu Beginn seiner Herrschaft aufgesucht haben. 45 Aḫū Muḥsin bei an-Nuwairī, Nihāya XXV, 191, Ibn ad-Dawādārī, Kanz VI, 46, und al-Maqrīzī, Ittiʿāẓ I, 153. 46 Ibn Rizām bei Ibn an-Nadīm, Fihrist I, 187 (engl. I, 464). ̣ armaṭī“, 660. 47 Madelung, „K

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Ort der Unterredung ist „seine Stadt“ (madīnatihī), was unzweideutig für al-Muḫtāra steht, denn nur sie erscheint bei aṭ-Ṭabarī mit dem Epitheton des Herrn der Zanǧ als madīnat al-ḫabīṯ (die Stadt des Schlechten).48 Alle anderen Stützpunkte der Zanǧ waren ebenfalls mit einem bestimmten Befehlshaber verbunden: Sūq al-Ḫamīs/al-Manīʿa war die Stadt von Sulaimān b. Mūsā aš-Šaʿrānī und Ṭahīṯā/al-Manṣūra die von Sulaimān b. Ǧāmiʿ (beide 262–267/876–880), al-Ahwāz unterstand ʿAlī b. Abān al-Muhallabī (266–267/879–880). Al-Muḫtāra lag am Nahr Abī l-Ḫaṣīb, einem rechten Zufluß des Tigris flußabwärts von al-Ubulla. Die Lokalisierung des Zusammentreffens liefert den Terminus post quem, nämlich das Jahr der Stadtgründung 256/870.49 Die Begegnung sollte also, wenn überhaupt, in die Zeit zwischen diesem und dem Jahr 260/873–874 fallen, realistischerweise aber zu Beginn dieses Intervalles stehen. Bis zum Verhör des silf wären also eher 38 denn 34 Jahre vergangen. Aus dieser ungefähren Datierung folgt ein weiteres Argument gegen die Identifizierung des dāʿī mit dem historischen Ḥamdān Qarmaṭ. Dieser hatte sich nach dem Mord an ʿAbdān versteckt, um nicht gleichfalls den Häschern Zikrawaihs in die Hände zu fallen. Wie Madelung zeigt, gab er jedoch bald die altqarmaṭische Doktrin zugunsten der revisionistischen Linie des Großmeisters auf und nahm in dessen Dienst eine neue Identität an. Unter dem Namen Abū ʿAlī al-Ḥasan b. Aḥmad tauchte er in Ägypten wieder auf, oblag der Koordination der daʿwa und anderen Aufgaben und starb schließlich 321/933 in al-Mahdīya im fāṭimidischen Tunesien.50 Wenn er zwischen 261/874–875 und 264/877–878 als junger Mann von rund 20 Jahren von ʿAbdān geworben worden war und also im Alter von ungefähr 80 Jahren starb,51 dann zählte er zur Zeit der vorgestellten Begegnung mit dem Herrn der Zanǧ 15 bis 19 Lenze. Es ist aber ganz ausgeschlossen, daß der dem Herrn der Zanǧ zum Disput und Bündnisgespräch gegenübertretende dāʿī ein solcher Jüngling gewesen sei. Wenn die Begegnung wirklich stattgefunden haben soll, kann sie nicht von dem historischen Ḥamdān Qarmaṭ ausgegangen sein. Ich fasse die bisherige Kritik der Qarmaṭ/ʿAlī-Erzählung zusammen. Aṭ-Ṭabarī und der „Kollege“ haben sich an keiner Stelle eines Eingriffes in die Erzählung des silf verdächtig gemacht und lassen 48 Aṭ-Ṭabarī, Taʾrīḫ III, 1924. 49 Ebd., 1835, 1983. 50 Madelung, „Ḥamdān Qarmaṭ“. 51 Ebd., 117.



Qarmaṭen und Zanǧ

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sich als weitgehend unbeteiligte Überlieferer begreifen. Was an Ungereimtheiten gegenüber der differenzierteren Überlieferung nach Ibn Rizām und Aḫū Muḥsin auftritt, ist gewiß das Werk des silf. Dazu gehört erstens die Verschmelzung der drei historischen Personen ʿAbdallāh al-Akbar, al-Ḥusain al-Ahwāzī und Ḥamdān Qarmaṭ zu einer Figur namens ‚Qarmaṭ‘, zweitens die Einordnung des Zusammentreffens mit dem Herrn der Zanǧ in einen Reiseweg von Ḫūzistān nach dem Sawād al-Kūfa und drittens die Behauptung, den Bericht von der Unterredung aus dem Munde von ‚Qarmaṭ‘ selbst erhalten zu haben, während doch eher eine ismāʿīlitische Erzählung wiedergegeben wird. Zugleich macht sich eine gegen die Figur des dāʿī gerichtete Tendenz bemerkbar, die sowohl Zweifel an der Zugehörigkeit des Erzählers zu ihm als auch an der Echtheit der vorgetragenen Erzählung weckt. Dies läßt an eine ältere Schicht denken, in die der silf verfälschend eingriff, wohl um die amtliche Untersuchung in die Irre zu führen.

3. Die Überlieferung bis ins 9./15. Jahrhundert Die Erzählung von der Begegnung zwischen dem dāʿī und dem Herrn der Zanǧ ist auch in weitere Chroniken eingegangen. Solche späteren Belege dürfen, wie ich bereits früher anhand der Überlieferung vom Aufstand der Zanǧ darzulegen versucht habe, nicht vernachlässigt werden, wenn man außer der Frage der Authentie auch den kulturellen Gehalt und Stellenwert einer Erzählung ermessen will.52 Das muß diachron geschehen, nämlich im Hinblick auf den die Überlieferung begründenden Kompilationsprozeß und ihren Beitrag zum Wissenshorizont des arabischsprachigen Lesepublikums. Erhaltene spätere Fassungen der Erzählung als diejenige aṭ-Ṭabarīs53 stammen von: 52 Vgl. Franz, Kompilation, 24, 272–274 und passim. 53 Aṭ-Ṭabarī, Taʾrīḫ III, 2129u–21308: wa-kāna maṣīr Qarmaṭ ilā Sawād al-Kūfa qabla qatl Ṣāḥib az-Zanǧ wa-ḏālika inna baʿḍ aṣḥābinā ḏakara ʿan silf Zikrawaih annahū qāla qāla lī Qarmaṭ ṣirtu ilā Ṣāḥib az-Zanǧ wa-waṣaltu ilaihī waqultu lahū innī ʿalā maḏhab wa-warāʾī miʾat alf saif fa-nāẓirnī fa-in ittafaqnā ʿalā l-maḏhab miltu bi-man maʿī ilaika wa-in takun al-uḫrā nṣaraftu ʿanka waqultu lahū taʿṭīnī al-amān fa-faʿala qāla fa-nāẓartuhū ilā ẓ-ẓuhr fa-tabaiyana lī fī āḫir munāẓaratī īyāhu annahū ʿalā ḫilāf amrī wa-qāma ilā ṣ-ṣalāh fa-nsalaltu fa-maḍaitu ḫāriǧan min madīnatihī wa-ṣirtu ilā Sawād al-Kūfa.

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2. (Pseudo?-)Ṯābit b. Sinān (st. 365/976), Taʾrīḫ aḫbār al-Qarāmiṭa,54 129–12.55 3. Miskawaih (st. 421/1030), Taǧārib al-umam, fol. 71v11–16.56 4. Ibn al-Ǧauzī (st. 597/1201), al-Muntaẓam XII, 2917–10.57 5. Ibn al-Aṯīr (st. 630/1233), al-Kāmil fī t-taʾrīḫ VII, 31222–3132.58 6. Sibṭ Ibn al-Ǧauzī (st. 654/1256), Mirʾāt az-zamān, fol. 250v6–8.59 7. Baibars al-Manṣūrī (st. 725/1325), Zubdat al-fikra, fol. 96r15–96v1.60 54 Zu der Möglichkeit, daß es sich hierbei um eine Fälschung nach Ibn al-Aṯir handelt, siehe den dritten Abschnitt. 55 (Pseudo?-)Ṯābit b. Sinān: wa-kāna masīr Qarmaṭ ilā Sawād al-Kūfa qabla qatl Ṣāḥib az-Zanǧ fa-sāfara Qarmaṭ ilaihī wa-qāla lahū innī ʿalā maḏhab warāʾī wa-maʿī miʾat alf ḍārib saif fa-tanāẓarnī fa-in ittafaqnā ʿalā l-maḏhab miltu ilaika wa-in takun al-uḫrā nṣaraftu ʿanka fa-tanāẓarā fa-ḫtalafat ārāʾuhumā fa-nṣarafa Qarmaṭ ʿanhū. Im Nachdruck 1400/1980: 111–5. 56 Miskawaih: wa-kāna maṣīr Qirmiṭ ilā Sawād al-Kūfa qabla qatl Ṣāḥib az-Zinǧ wa-ḥukiya ʿan Qirmiṭ annahū qāla ṣirtu ilā Ṣāḥib az-Zinǧ wa-qultu lahū innī ʿalā maḏhab wa-warā[ʾī miʾ]at alf saif fa-tanāẓarnī fa-in ittafaqnā ʿalā l-maḏhab miltu bi-man maʿī kullihim ilaika wa-in takun al-uḫrā nṣaraftu ʿanka wa-ṭalabtu minhū al-amān fa-aʿṭānīhu fa-nāẓartuhū ilā ẓ-ẓuhr fa-tabaiyana fī āḫir munāẓaratī ai muḫālif fa-qāma ilā ṣ-ṣalāh (Text: ṣlwt) wa-nsalaltu wa-ḫaraǧtu min ʿindihī ilā Sawād al-Kūfa. 57 Ibn al-Ǧauzī, gesagt von Karmītah, genannt Qarmaṭ: wa-kāna qad laqiya Ṣāḥib az-Zanǧ fa-qāla lahū anā ʿalā maḏhab warāʾī miʾat alf saif fa-nāẓirnī fa-in ittafaqnā miltu bi-man maʿī ilaika wa-in takun al-uḫrā nṣaraftu fa-nāẓarahū fa-ḫtalafā fa-fāraqahū. In der Ausgabe von Fritz Krenkow, 6 Bde., Haiderabad 1357–60/1938–41: V.  2, 112u–1132; in der Teilausgabe von Muḥammad aṣ-Ṣabbāġ, al-Qarāmiṭa, Beirut 21388/1968: 443–6. 58 Ibn al-Aṯīr: wa-kāna masīr Qarmaṭ ilā Sawād al-Kūfa qabla qatl Ṣāḥib az-Zanǧ fa-sāra Qarmaṭ ilaihī wa-qāla lahū innī ʿalā maḏhab warāʾī wa-maʿī miʾat alf ḍārib saif fa-tanāẓarnī fa-in ittafaqnā ʿalā l-maḏhab miltu ilaika mimman maʿī wa-in yakun al-uḫrā nṣaraftu ʿanka fa-tanāẓarā fa-ḫtalafat ārāʾuhumā fa-nṣarafa Qarmaṭ ʿanhū. 59 Sibṭ Ibn al-Ǧauzī, gesagt von Karmī[t]ah, genannt Qarmaṭ: wa-fī riwāya wa-kāna hāḏā r-raǧul qad laqiya al-Ḫabīṯ Ṣāḥib az-Zanǧ fa-qāla lahū warāʾī miʾat alf saif fa-wāfiqnī ʿalā maḏhabī ḥattā uṣīra ilaika bi-man maʿī wa-tanāẓarā fa-ḫtalafā wa-lam yaqiʿ bainahumā ittifāq fa-ftaraqā min ġair šaiʾ. Nahezu gleichlautend der Auszug bei ʿUlaiyān, Qarāmiṭat al-ʿIrāq, 38: wa-fī riwāya kāna hāḏā r-raǧul qad laqiya Ṣāḥib az-Zanǧ fa-qāla lahū warāʾī miʾat alf ḍārib saif, zitiert nach der Handschriftenreproduktion Kairo, Dār al-Kutub al-Qaumīya, 551 Tārīḫ (= Paris 1505; identifiziert anhand von Fihris al-kutub al-ʿarabīya V, 341 Nr.  551, ʿAbdalbadīʿ, Fihris II.  1, 244 Nr.  466, und Saiyid, Fihris II. 3, 271 Nr. 1221; vgl. de Slane, Catalogue, 286 f. Nr. 1505, und Sauvan/ Balty-Guesdon, Catalogue II. 5, 55 f. Nr. 1505). 60 Baibars al-Manṣūrī, gesagt von Karmīṯa (sic), genannt Qarmaṭ: wa-qīla innahū kāna qad laqiya Ṣāḥib az-Zanǧ fa-qāla lahū warāʾī miʾat alf saif fa-wāfiqnī ʿalā maḏhabī ḥattā uṣīra ilaika bi-man maʿī wa-tanāẓarā fa-ḫtalafā wa-lam yaqiʿ



Qarmaṭen und Zanǧ

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8. Ibn ad-Dawādārī (st. nach 736/1335), Kanz ad-durar VI, 541–6.61 9. Ibn Ḫaldūn (st. 808/1406), al-ʿIbar IV, 18310–13.62 10. al-Maqrīzī (st. 845/1442), Ittiʿāẓ al-ḥunafāʾ I, 1596–8.63

Bekanntlich kommen zur Klärung von Abhängigkeitsverhältnissen im arabischen Schrifttum des Mittelalters zwei Elemente der Überlieferung in Frage, Überliefererkette (isnād) und Berichtstext (matn). Indes bietet einzig Miskawaih eine Überlieferungsangabe; dabei komprimiert er die Überliefererkette auf den ursprünglichen Gewährsmann (fa-ḥukiya ʿan Qirmiṭ). Außerdem weist weder er noch ein anderer auf aṭ-Ṭabarī oder sonst eine schriftliche Vorlage hin. Daher ist der Weg des Textvergleiches einzuschlagen. Trotz ihrem geringen Umfang weisen die Texte genügend Binde- und Trennfehler auf, um den Gang der Überlieferung sicher zu rekonstruieren. Grundsätzlich ist die Verwandtschaft aller Fassungen festzustellen, da weitgehende stoffliche Korrespondenz mit der Fassung aṭ-Ṭabarīs besteht und teilweise, zumal bei direkter Rede, auch die Stilistik übereinstimmt. Zum Kern der Erzählung gehören die Ich-Erzählung des ‚Qarmaṭ‘, das Bild der Anhängerschaft von einhunderttausend Mann und das Entweder-Oder in seiner Rede sowie, im Negativen, die Unbestimmtheit der religiösen Observanz (maḏhab) beider Personen. bainahumā ittifāq fa-ftaraqā ʿan ġa[i]r šaiʾ. Die Stelle wird angezeigt, aber nicht wiedergegeben von ʿUlaiyān, Qarāmiṭat al-ʿIrāq, 38, aufgrund einer Handschriftenreproduktion in Kairo, Maktabat Ǧāmiʿat al-Qāhira (24027 = Paris 1572; identifiziert anhand von ʿAbdalbadīʿ, Fihris II. 1, 150 f. Nr. 276; vgl. De Slane, Catalogue, 296 Nr.  1572, und Sauvan/Balty-Guesdon, Catalogue II.  5, 120 f. Nr. 1572). Die Namensform Karmīṯa tritt übrigens schon fol. 95v15–17 auf. 61 Ibn ad-Dawādārī: ṯumma inna Mihrawaih hāḏā samaʿa bi-ʿAlawī l-Baṣra annahū qad ẓahara ʿalā s-sulṭān fa-sāra ilaihī li-yaḫdaʿahū fa-lamma waṣala ilaihī qāla lahū warāʾī miʾat alf ḍārib saif uʿīnuka bihim arāda bi-ḏālika an yuṭammiʿahū li-yatamakkana minhū fa-lam yaltafit ilaihī al-musammā bi-ʿAlawī l-Baṣra wa-lā samiʿa qaulahū wa-lam yaǧid fīhi maṭmaʿan li-anna ḏālika aiḍan yadʿū (sic) ilā nafsihī wa-huwa aḫbaṯ minhū wa-yaddaʿī annahū min wuld Zaid b. ʿAlī b. al-Ḥusain wa-lam yakun ka-ḏālika ḥasabamā taqaddama min ḏikrihī wa-nasabihī fa-raǧaʿa min ʿindihī ḫāʾiban. 62 Ibn Ḫaldūn, gesagt von Qarmaṭ: wa-qad yuqāla anna ẓuhūr hāḏā r-raǧul kāna qabla maqtal Ṣāḥib az-Zanǧ wa-annahū sāra ʿalā l-amān wa-qāla lahū inna warāʾī miʾat alf saif fa-nāẓirnī laʿallanā nattafiqu wa-nataʿāwanu ṯumma ḫtalafā wa-nṣarafa Qarmaṭ ʿanhū. 63 Al-Maqrīzī, gesagt von Mihrawaih: fa-ṣāra ilā Ṣāḥib az-Zanǧ lammā ẓahara ʿalā s-sulṭān wa-qāla lahū warāʾī miʾat alf ḍārib saif uʿīnuka bihim fa-lam yaltafit ilā qaulihī wa-lam yaǧid lahū fīhi maṭmaʿan fa-raǧaʿa. In der Ausgabe von Hugo Bunz, Leipzig 1909: 1074–6.

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Abweichungen von der ältesten Fassung ergeben sich aus der Kombination der allenthalben vorgenommenen Kürzungen mit Paraphrasierungen des Wortlauts (etwa wa-ḫaraǧtu min ʿindihī bei Miskawaih gegen fa-maḍaitu ḫāriǧan min madīnatihī) und halten sich im Rahmen der für das historiographische Überlieferungswesen charakteristischen Freiheiten. Nirgends kommt es zu einer sinnentstellenden Änderung oder Interpolation. So schrumpft zwar der Überlieferungsumfang gegenüber aṭ-Ṭabarī und verliert die Handlung an Eindrücklichkeit, doch der Mitteilungskern, die Begegnung und Kontroverse der beiden Anführer, bleibt erhalten und teilt sich auch dem Leser der am kürzesten geratenen Fassung mit. Wir könnten es daher mit einem ‚konzentrisch verengten‘ Kompilationsprozeß zu tun haben.64 Bereits de Goeje hat erkannt, daß sich die Überlieferung von der frühen ʿirāqischen und syrischen Ismāʿīlīya zweiteilt.65 Unter dem Buchstaben A faßt er die Nachfolger von Ibn Rizām und Aḫū Muḥsin zusammen, B bezeichnet aṭ-Ṭabarī. (Belassen wir es bei dieser Benennung, wenngleich nach heutiger textkritischer Konvention andere Siglen gewählt würden.) Die Kollation aller Fassungen unserer Erzählung zeigt, daß sich diese Gruppierung auch hier niederschlägt: Die Fassungen 8 und 10 bilden Gruppe A; aber auch um B versammelt sich mit den Fassungen 2–6 und 9 eine ganze Gruppe. Die bloße Zweispaltung der Überlieferung bedingt, daß der Text einer anzunehmenden ersten Quelle Q nicht sicher wiederhergestellt werden kann.66 Betrachten wir nun die Abhängigkeitsverhältnisse, und zwar mit Rücksicht auf die zeitliche Reihenfolge der Variantenträger aṭ-Ṭabarī und Aḫū Muḥsin zunächst in Gruppe B. Diese fächert sich in vier Linien auf: Miskawaih < aṭ-Ṭabarī < baʿḍ aṣḥābinā Die Übernahme erfolgt, ganz wie schon hinsichtlich des Aufstandes der Zanǧ,67 inhaltstreu und außerdem textlich nahezu identisch. Die Fassung kann nicht die – weniger vollständige – Fassung Ṯābit b. Sināns zur Vorlage haben, sondern muß unmittelbar von aṭ-Ṭabarī abhängen. Ibn al-Aṯīr und Ṯābit b. Sinān < aṭ-Ṭabarī < baʿḍ aṣḥābinā 64 Vgl. Franz, Kompilation, 172 f., 180, 261, 266. 65 De Goeje, Mémoire, 16 f. 66 Maas, Textkritik, 6 Nr. 7c. 67 Franz, Kompilation, 89 f., 139, 268 mit Anm. 5.



Qarmaṭen und Zanǧ

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Die Fassungen von Ṯābit b. Sinān und Ibn al-Aṯīr stehen der von aṭ-Ṭabarī sehr nahe. Sie mindern den Textumfang gleichermaßen und entsprechen sich wörtlich; Abweichungen wie etwa fa-sāra gegen fa-sāfara führen nicht zu Bedeutungsunterschieden und können jederzeit unwillkürlich unterlaufen sein. Die äußerst enge Anlehnung Ibn al-Aṯīrs an aṭ-Ṭabarī ist bekannt und trifft insbesondere auch auf die Überlieferung vom Aufstand der Zanǧ zu.68 Gemeinsames Sondergut der beiden gegen alle anderen bilden die Varianten masīr, wa-maʿī und fa-ḫtalafat ārāʾuhumā. Ob es sich bei den Aḫbār al-Qarāmiṭa, wie F. C. de Blois meint,69 um eine aus Ibn al-Aṯirs Kāmil zusammengesetzte Fälschung handelt, die Ṯābit nur zugeschrieben ist, läßt sich anhand der hier in Frage stehenden Passagen nicht entscheiden. Allerdings stützt das unten zur Übernahme aus Gruppe B Gesagte diese These nicht. Baibars < Sibṭ Ibn al-Ǧauzī < Ibn al-Ǧauzī < aṭ-Ṭabarī < baʿḍ aṣḥābinā Ibn al-Ǧauzī rafft den Umfang der Vorlage auf ein Drittel, indem er nach kurzer Einleitung den Eröffnungsteil der Rede von ‚Qarmaṭ‘ wörtlich übernimmt, hingegen den Ausgang mit wenigen, eigenen Worten zusammenfaßt; dies entspricht dem Verfahren einer stückweise texttreuen, dabei springenden Stellensammlung, das er schon am Gegenstand der Zanǧ übt.70 Trennend gegen Ṯābit und Miskawaih steht bi-man maʿī ilaika wie bei aṭ-Ṭabarī. Daß sich die Fassung Sibṭ Ibn al-Ǧauzīs trotz weitgehender Umformulierung auf die seines Großvaters Ibn al-Ǧauzī stützt – anders als bei der Geschichte der Zanǧ, wo dieses Zwischenglied nicht auftritt71 –, zeigt das beibehaltene Incipit mit qad laqiya. Baibars gibt, um einige Wörter gekürzt, Sibṭ Ibn al-Ǧauzīs Text wieder. Dabei wiederholt er auch dessen Metathese ilaikā bi-man maʿī.72 Ibn Ḫaldūn < aṭ-Ṭabarī < baʿḍ aṣḥābinā

68 Ebd., 93 f., 139, 268 mit Anm. 5. 69 De Blois, „Ṣābiʾ“, 673 Nr. 4. 70 Franz, Kompilation, 92 f., 139, 268 mit Anm. 6. 71 Ebd., 96 f., 140, 268 mit Anm. 6. 72 Das trennt ihn vom Text Ibn al-Aṯīrs, seiner Hauptquelle bei der Darstellung der Zanǧ; Franz, Kompilation, 99, 144, 268 mit Anm. 7. Es bestätigt zugleich die Linie Baibars < Sibṭ Ibn al-Ǧauzī, welche ich schon früher identifiziert hatte, ohne diese Stelle bei Baibars zu kennen; ebd., 146.

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Ibn Ḫaldūn bewahrt das Ansuchen des dāʿī um den Schutz (amān) des Herrn der Zanǧ, wie es sonst nur Miskawaih tut. Während aber bei diesem die Aufforderung zum Disput im 6. Verbstamm fa-tanāẓarnī lautet, hat Ibn Ḫaldūn wie aṭ-Ṭabarī im 3. Verbstamm fa-nāẓirnī. Er schöpft also geradewegs aus seiner Chronik, nicht wie noch gelegentlich der Zanǧ aus der von Ibn al-Aṯīr.73 Gruppe A umfaßt zwei Linien: Ibn ad-Dawādārī < Aḫū Muḥsin < Ibn Rizām al-Maqrīzī < Aḫū Muḥsin < Ibn Rizām Ibn ad-Dawādārī und al-Maqrīzī schöpfen bekanntermaßen ihre ganze ‚Qarmaṭen‘-Geschichte parallel zueinander aus dem Traktat Aḫū Muḥsins. Dieser muß auch bei der in Rede stehenden Erzählung als Quelle angenommen werden. Daß al-Maqrīzī hier – und nur hier – statt dessen Ibn ad-Dawādārī zur Vorlage nähme, ist unwahrscheinlich. Man würde gerne die Aḫū-Muḥsin-Verzweigung anhand der Chronik von an-Nuwairī überprüfen, des dritten Verfassers, der nennenswerte Stücke aus Aḫū Muḥsins Schrift überliefert, doch berührt er die bewußte Begegnung nicht. Geht man also von Aḫū Muḥsins Traktat als der gemeinsamen Quelle der beiden Chronisten aus, gilt es auch die Linie zurück zu dem Traktat von Ibn Rizām zu ziehen, welches allem Anschein nach seine einzige Vorlage darstellt. Verbindendes Merkmal dieser beiden gegen die Fassungen der Gruppe B ist zuvörderst der Umstand, daß der dāʿī, der das Bündnis mit dem Herrn der Zanǧ gesucht haben soll, Mihrawaih genannt wird. Es wurde oben schon die Möglichkeit angesprochen, daß es sich dabei nicht um Zikrawaihs Vater, sondern um diesen selbst handelt. Da der besagte Namensfehler Mihrawaih b. Zikrawaih in den beiden Fassungen parallel auftritt, muß die Verantwortung dafür in der ihnen vorausgehenden Überlieferung liegen. Ob Aḫū Muḥsin, Ibn Rizām oder ein noch früheres Überlieferungsglied den Fehler beging, ist in gewissermaßen stemmatischer Hinsicht ohne Belang; da aber an Aḫū Muḥsin sonst nichts Derartiges auszusetzen ist, mag er auf Ibn Rizām zurückgehen. Die Schwierigkeit des Itinerars bei aṭ-Ṭabarī stellt sich hier nicht, da weder Ibn ad-Dawādārī noch al-Maqrīzī die Episode in al-Muḫtāra mit dem Gang in den Sawād al-Kūfa in Verbindung bringen. Zikrawaih kam im Sawād al-Kūfa 73 Ebd., 103 f., 145, 268 mit Anm. 5 und 6.



Qarmaṭen und Zanǧ

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zur Welt,74 weshalb sich auch sein Vater schon lange vor Beginn der daʿwa dort aufgehalten haben muß. Es ist also chronologisch ausgeschlossen, daß es sein Vater war, der dem Herrn der Zanǧ begegnet und erst infolgedessen in den Sawād gelangt sei. Wir greifen die Frage der Identität des ‚Mihrawaih‘ unten noch einmal auf. So oder so kommt diesem Namen der Wert eines Leitmerkmals der Gruppe A gegen Gruppe B zu. Gemeinsames Sondergut besteht außerdem in ḍārib saif, uʿīnuka und maṭmaʿan. Bereits im zweiten Abschnitt behandelt wurde die nicht zu klärende Frage einer von aṭ-Ṭabarī unabhängigen Linie: aṣ-Ṣūlī < baʿḍ aṣḥābina? Eine weitere Schwierigkeit sei noch bemerkt: Ibn al-Aṯīr < Ṯābit b. Sinān < Ibn Rizām oder Pseudo-Ṯābit b. Sinān < Ibn al-Aṯīr < Aḫū Muḥsin < Ibn Rizām? Wie erwähnt, haben Ṯābit und Ibn al-Aṯīr die Texterweiterung warāʾī miʾat alf ḍārib saif gegen aṭ-Ṭabarī mit Ibn ad-Dawādārī und al-Maqrīzī gemeinsam. Das beruht schwerlich auf Zufall. Chronologisch gesehen, ist es möglich, daß die älteste Quelle der letzteren, Ibn Rizāms Traktat, auch Ṯābit als Vorlage diente, die Überlieferung an dieser Stelle also früh kontaminiert war. Verwunderlich wäre in diesem Falle nur, warum dieser nicht noch mehr herübernahm, sondern sich sonst ausschließlich und aufs Engste an aṭ-Ṭabarī hielt. Abwegig erscheint mir indessen die schon erwähnte Überlegung, daß die unter Ṯābits Namen firmierenden Aḫbār al-Qarāmiṭa eine Fälschung auf der Grundlage Ibn al-Aṯīrs seien. In diesem Falle müßte eine (durch Aḫū Mūḥsin vermittelte) Linie von Ibn Rizām zu diesem Autor des 7./13. Jahrhunderts angenommen werden, obwohl er doch hinsichtlich der Berichtszeit ganz von aṭ-Ṭabarīs abhängt.75 Bis die Frage der Echtheit der Aḫbār al-Qarāmiṭa hoffentlich einmal geklärt sein 74 Aṭ-Ṭabarī, Taʾrīḫ III, 2261: aus aṣ-Ṣauʾar oder Ǧunbulāʾ, vgl. 2262 zur Lage von aṣ-Ṣauʾar 4 mīl (8 km) von al-Qādisīya; Aḫū Muḥsin bei an-Nuwairī, Nihāya XXV, 192, und Ibn ad-Dawādārī, Kanz VI, 47: aus al-Mansānīya/al-Maisānīya am Nahr Hadd in der Nähe von aṣ-Ṣauwān/aṣ-Ṣauʾar; dagegen bei al-Maqrīzī, Ittiʿāẓ I, 155: aus einem Dorfe am Nahr Hadd. 75 Zu den ergänzenden Quellen Ibn al-Aṯīrs Brockelmann, Verhältnis, 26–58, hier besonders 37 f. Nr. 12, 39 Nr. 13 und 14, 50, sämtlich mit negativem Resultat. Für die Zeit der Zanǧ vgl. Franz, Kompilation, 93 f., 139, 268 mit Anm. 5.

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wird, bleibt die Verbindung zwischen Gruppe A und Gruppe B mit Zweifeln behaftet. Einstweilen legt jedoch die Zeitgenossenschaft von Ṯābit und Ibn Rizām die Vermutung nahe, daß der Übertrag bereits kurz nach der Abfassung des Traktats stattfand. Das hier vorgestellte Korpus zählt also zehn Fassungen bei namhaften Geschichtsschreibern des 4./10. bis 9./15. Jahrhunderts. Angesichts dieser Verbreitung dürfen wir die Erzählung von der Begegnung zwischen dem ersten ismāʿīlitischen dāʿī des ʿIrāq und dem Herrn der Zanǧ für ein Gemeingut der mittelalterlichen arabischen Geschichtsschreibung ansehen, von dem jeder historisch interessierte Leser leicht erfahren haben kann. Eine ebenfalls beträchtliche Zahl von Schriftstellern, die sowohl den Aufstand der Zanǧ als auch die Ismāʿīlīya behandeln,76 übergeht die Erzählung stillschweigend; ablehnende Äußerungen sind mir nicht bekannt. Die zwei nicht gesicherten Linien ausgenommen, lassen sich alle Schriftsteller einer der beiden Überlieferungsgruppen zuordnen: Kennzeichnend für aṭ-Ṭabarī und sieben weitere (Gruppe B) ist die Bezeichnung des dāʿī als ‚Qarmaṭ‘, alternativ haben die beiden Schriftsteller in der Nachfolge zu Ibn Rizām und Aḫū Muḥsin (Gruppe A) an gleicher Stelle den Namen ‚Mihrawaih‘ gemeinsam. Die stoffliche und teils auch stilistische Verwandtschaft der beiden parallelen Stränge spricht für einen gemeinsamen Ursprung, die hypothetische erste Quelle Q, die auch den ersten Verzweigungspunkt darstellt. Es ist oben der Gedanke begründet worden, daß sich der silf nicht wirklich auf den dāʿī, sondern auf eine ismāʿīlitische Erzählung von wohl oralem Charakter stützte. Entscheidend ist nun, ob diese Annahme zur Rekonstruktion der etwaigen Quelle Q verhilft und die Ursache des Widerspruches zwischen A und B erklären kann. Textvergleich führt uns dabei angesichts des geringen Umfangs der Überlieferung nicht weiter, vielmehr bedarf es eines interpretierenden historischen Arguments.

76 Eine unvollständige Liste umfaßt al-Masʿūdī (Murūǧ aḏ-ḏahab und at-Tanbīh wal-išrāf), die anonyme Chronik al-ʿUyūn wal-ḥadāʾiq, Ibn Wāṣil (at-Taʾrīḫ aṣ-Ṣāliḥī, Forschungsbibliothek Gotha, Ms. orient. A 1558), Ibn Abī l-Ḥadīd (Šarḥ Nahǧ al-balāġa), al-Makīn (al-Maǧmūʿ al-mubārak), Ibn aṭ-Ṭiqṭaqā (al-Faḫrī), an-Nuwairī (Nihāyat al-arab), aḏ-Ḏahabī (Taʾrīḫ al-islām), Ibn Kaṯīr (an-Nihāya wal-bidāya) und Ibn Taġrībirdī (an-Nuǧūm az-zāhira). Zu ihrer Beachtung des Aufstandes der Zanǧ Franz, Kompilation, 84–106 mit 156 Abb. 1.



Qarmaṭen und Zanǧ

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Q altqarmaṭische Erzählung* betr. Zikrawaih b. Mihrawaih

Gruppe B silf Zikrawaih* betr. Qarmaṭ

baʿḍ aṣḥābina*†?

Gruppe A

aṭ-Ṭabarī aṣ-Ṣūlī? Ṯābit b. Sinān?

Ibn Rizām† betr. Mihrawaih

Aḫū Muḥsin† Miskawaih

Ibn al-Ǧauzī Ibn al-Aṯīr Sibṭ Ibn al-Ǧauzī Baibars al-Manṣūrī Ibn ad-Dawādārī Ibn Ḫaldūn

* †

oral literal, nicht selbständig erhalten gesichert vermutet

al-Maqrīzī

Abb.: Überlieferung der Erzählung von Zikrawaih b. Mihrawaih und Alī b. Muḥammad bis ins 9./15. Jahrhundert

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4. Propaganda Ich halte dafür, daß der Widerstreit um die Person des dāʿī aus der Kombination von zwei Ursachen herrührt: historische Falschheit des Erzählstoffes zum einen, Unechtheit der Mehrzahl der überlieferten Erzählfassungen zum anderen. Wie gezeigt, ist die Identifizierung des dāʿī mit ‚Qarmaṭ‘ durch den silf historisch nicht haltbar, sondern stellt eine Falschaussage dar, die den historischen Ḥamdān Qarmaṭ anzuschwärzen und zugleich von der eigenen, Zikrawaihschen Strömung abzulenken geeignet war. Hingegen kommt die eigentliche Identität des dāʿī in jenen Fassungen zum Ausdruck – wenngleich in versehentlich leicht getrübter Form –, die Bestandteil der umfangreicheren, differenzierteren und stichhaltigeren Ismāʿīlitengeschichte nach Ibn Rizām und Aḫū Muḥsin sind. Hier lautet der Name ‚Mihrawaih‘, worunter, wie ebenfalls schon besprochen, Zikrawaih b. Mihrawaih zu verstehen ist. Als ursprünglicher Gegenstand der Erzählung ist demnach Zikrawaihs Bündnisangebot an den Herrn der Zanǧ zu erkennen. Wohl hat der silf Person und Namen des Protagonisten und damit die Zeigerichtung des Stoffes verfälscht, doch den denunziatorischen Grundzug kann er nicht erfunden haben, denn ein Fraternisieren mit dem Herrn der Zanǧ wollte gewiß schon in der frühesten Erzählfassung als schändlich verstanden sein. Als innerismāʿīlitische Schmähung ist die Entstehung der Erzählung in die Zeit nach dem Schisma von 286/899 zu datieren. Der silf gab sie dann im Verhör durch Ibn al-Ǧarrāḥ zum Besten und vertauschte dabei Roß und Reiter. Setzt man aber für ‚Qarmaṭ‘ Zikrawaih ein, kommt die Urfassung wieder zum Vorschein: eine gegen Zikrawaih und seine Gruppe gemünzte Propagandageschichte aus der Fabrikation der altgläubigen Ismāʿīliten um Ḥamdān Qarmaṭ und ʿAbdān. Es war ja in ihren Augen Zikrawaih zum Renegaten geworden, weil er der revisionistischen Linie des Großmeisters Folge leistete, und überdies war es einer seiner Leute, der ʿAbdān ermordet hatte. Außer diesem Motiv spricht auch der ʿirāqische Schauplatz für die Urheberschaft der Altgläubigen des Sawād al-Kūfa. Der Großmeister brach zwar ebenfalls mit Zikrawaih, kommt aber mangels Gefolgschaft im ʿIrāq schwerlich als Urheber der Erzählung in Frage. Aufs Ganze gesehen, haben wir es also mit zwei unterschiedlichen Erzählperspektiven und Dramatis personae zu tun. Die hypothetische erste Quelle Q besteht in einer altqarmaṭischen Erzählung, 286/899 oder bald darauf entstanden, die sich gegen Zikrawaih b. Mihrawaih richtete



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und sich aller Wahrscheinlichkeit nach mündlich fortpflanzte. Nach der einen Seite hin von unbekannten Ismāʿīliten übermittelt, wurde sie rund fünfeinhalb Jahrzehnte später von dem antiismāʿīlitischen Schriftsteller Ibn Rizām aufgegriffen. Daß es sich bei dessen ismāʿīlitischen Gewährsleuten tatsächlich speziell um Altqarmaṭen handelte, geht aus der spürbaren Empörung über die Revision der Lehre durch den Großmeister und den Mord an ʿAbdān hervor, liegt aber auch angesichts von Ibn Rizāms Wohnsitz in al-Kūfa, mitten im Stammland der Altqarmaṭen, nahe. Die Verkürzung des Namens des dāʿī zu ‚Mihrawaih‘ ist vielleicht schon vor Ibn Rizām, eher aber durch ihn selbst geschehen. Auf dem Weg über Aḫū Muḥsin fand die Erzählung ab dem 8./14. Jahrhundert Eingang in die Fassungen der Gruppe A (Ibn ad-Dawādārī und al-Maqrīzī). Nach der anderen Seite hin wurde die Ausgangserzählung höchstens acht Jahre nach ihrer Entstehung von einem silf Zikrawaihs in ʿabbāsidischer Gefangenschaft zu Protokoll gegeben und dabei mehrfach verfälscht und ergänzt: Er ersetzte Zikrawaih durch ‚Qarmaṭ‘ und kehrte damit die Tendenz der Erzählung gegen ihre Urheber, die Altqarmaṭen; die Bündnissuche in al-Muḫtāra ordnete er dergestalt in den Lebensweg des ‚Qarmaṭ‘ ein, daß unterstellt wird, der Ausgang der Unterredung sei eine Ursache für die Wahl des Sawād al-Kūfa als Brückenkopf der daʿwa gewesen; zugleich damit verschmolz er das Wirken mehrerer Vorkämpfer der Ismāʿīlīya in dieser einen Figur. Solchermaßen entstellt von einer anonymen hochstehenden Bagdader Persönlichkeit mitgeteilt, fand der Stoff als Qarmaṭ/ʿAlī-Erzählung Niederschlag in den Fassungen der Gruppe B (aṭ-Ṭabarī und Nachfolger). Bis ins 8./14. Jahrhundert gelangte der Stoff dem arabischen Lesepublikum nur in dieser Form zur Kenntnis (s. Abb.).

5. Häresiologie Der fiktive Charakter der Erzählung liegt also nicht in einer auf den Herrn der Zanǧ zielenden Verleumdungsabsicht, sondern im innerismāʿīlitischen Fraktionenkampf nach dem Schisma von 286/899 begründet. Allein diese Bewandtnis erklärt die inneren chronologischen und sachlichen Ungereimtheiten sowie die Divergenz der beiden Überlieferungslinien. Freilich hat die Erzählung eine bestimmte konstruktive Eigenschaft mit der besagten Geschichte vom Briefwechsel zwischen dem Herrn der Zanǧ und dem ʿAlīdenführer in Ṭabaristān

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sowie mit anderen Geschichten von fruchtlosen Kontakten zwischen Häretiker-Rebellen gemeinsam: Sie ist der Widerlegung durch Fakten entzogen. Der ergebnislose Rückzug des dāʿī stellt den einzig möglichen Ausgang einer solchen Propagandageschichte dar, weil doch jedes positive Ergebnis sich nur allzu leicht als haltlose Erfindung entlarven lassen müßte. Auch ist die Unterredung günstigerweise als Geheimgespräch unter vier Augen angelegt. So ist die größtmögliche Exklusivität des Berichterstatters gegeben und wird seine Rede in der ersten Person plausibel. Diese Anlage der Figur des dāʿī als Akteur und Gewährsmann in Personalunion hat offenkundig verfangen; keines der uns bekannten Überlieferungsglieder zieht seine Autorität als Sprecher oder die sachliche Richtigkeit der Darstellung in Zweifel. Der Zirkelschluß von Echtheits- und Wahrheitsannahme bildet eine Voraussetzung für den beträchtlichen Überlieferungserfolg der Erzählung. Die zweite Voraussetzung besteht darin, daß die Entstehungsbedingung der Erzählung, der Zwist im Inneren der Ismāʿīlīya, unter den Schriftstellern – sunnitischen wie imāmitischen – weithin unverstanden war. Statt dessen entfaltete der vermeinte Kontakt zwischen den beiden Führergestalten den Reiz einer über das Ismāʿīlitenthema hinausreichenden weltanschaulichen Ordnungsvorstellung. Mit dem Gedanken an den drohenden Schulterschluß der beiden Gruppierungen geht der allgemeinere Argwohn einher, die heterodox-aufständischen Bewegungen stünden als ein Ganzes der Gemeinshaft der Rechtgläubigen gegenüber. Dieser Eindruck eines Kontinuums der Häresien wird sogar besonders deutlich von Werken hervorgerufen, die nicht von der Begegnung erzählen und statt dessen geradenwegs die doktrinäre Verwandtschaft und politisch-militärische Gleichgerichtetheit von Zanǧ und ‚Qarmaṭen‘ insinuieren. Vier Beispiele sollen genügen. ʿAbdalǧabbār b. Aḥmad al-Hamaḏānī (st. 415/1025 oder 416/1026), sunnitischer Oberrichter von ar-Raiy, berichtet von dem zweiten Herrscher der Baḥrainqarmaṭen, Abū Ṭāhir b. Abī Saʿīd al-Ǧannābī (reg. 305–332/917–944), unter welchem sie im Jahre 317/‌930 Mekka erobert, den Schwarzen Stein zerbrochen und ihn nach al-Qaṭīf verschleppt hatten. Dabei hält er ihn für schlimmer als Bābak und den Herrn der Zanǧ.77 ʿAbdalǧabbārs Urteil ist vor dem Hintergrund zu sehen, daß er den Traktat Ibn Rizāms ausschrieb,78 weshalb er auch dessen Erzählung von der Begegnung in al-Muḫtāra gekannt haben muß. 77 ʿAbdalǧabbār, Taṯbīt II, 340. 78 Franz, Beutezug, 101.



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Niẓāmalmulk (st. 485/1092) teilt aus Anlaß des Todes des Herrn der Zanǧ (bei ihm: Muḥammad b. ʿAlī Burquʿī ʿAlawī) mit, dieser habe den Glauben von Mazdak, Bābak, Abū Zakariyāʾ, der Ḫurramdīniten und der Qarmaṭen geteilt.79 An anderer Stelle stellt er ihn in eine Reihe mit solchen, die die šarīʿa aufhoben: al-Muqannaʿ al-Marwazī, Abū Saʿīd al-Maġribī (lies: ʿAbdallāh al-Mahdī) und Abū Saʿīd al-Ǧannābī.80 Überhaupt hätten die Bāṭiniten unter einer Vielzahl von Namen überall Aufstände angezettelt; zu ihnen zählten – neben denen von Iṣfahān, den Ismāʿīliten von Aleppo und Kairo, den Sabʿiten von Qum, Kāšān, Ṭabaristān und Sabzawār, den Mubārakiten von al-Kūfa, den Rāwanditen von Basra, den Ḫalafiten von ar-Raiy, den Muḥammiriten von Gurgān, den Mubaiyiḍiten Syriens und den Saʿīditen Nordafrikas – auch die Burquʿiten von Basra (lies: die Anhänger Muḥammad Burquʿīs, Herrn der Zanǧ), die Qarmaṭen von Bagdad, Transoxanien und Ġazna sowie die Ǧannābiten von al-Aḥsāʾ und al-Baḥrain (lies: die Anhänger von Abū Saʿīd al-Ǧannābī oder Baḥrainqarmaṭen).81 Der Anonymus des Kitāb al-ʿUyūn wal-ḥadāʾiq (5.–6./11.–12. Jahrhundert) bezeichnet die Zanǧ in seiner Schlußbewertung ihres Aufstandes als das größte Unheil, das dem Islam und den Gläubigen außer dem Auftreten des Erzketzers Bābak al-Ḫurramī widerfahren sei; dessen Irrlehre habe sowohl den Herrn der Zanǧ als auch die Qarmaṭen (lies: Baḥrainqarmaṭen) und die Bāṭiniten (lies: Fāṭimiden) inspiriert.82 Ibn aṭ-Ṭiqṭaqā (schr. 701/1302) wirft die Zanǧ gar vollends mit den Qarmaṭen zusammen, wenn er schreibt, die schwarzen Kämpfer des Herrn der Zanǧ seien außer im ʿIrāq auch in al-Baḥrain und Haǧar ausgeschwärmt.83 Damit bezeichnet er den Herrschaftsbezirk der altqarmaṭischen Abūsaʿīdidendynastie. Es kann nicht unbeachtet bleiben, daß derartige Zuordnungen mit wachsendem zeitlichem Abstand vom Geschehen und schrumpfendem Nachrichtenumfang nur um so schwungvoller vorgenommen werden. Während die Erzählung von der Begegnung des dāʿī mit dem Herrn der Zanǧ eine Societas malorum bloß der Möglichkeit nach unterstellt, machen sich bei den zuletzt angeführten Schriftstellern realgeschichtliche Gleichsetzungen bemerkbar. Es sind nun Tatsachenbehauptungen, daß heterodoxes Gedankengut wie das des Bābak al-Ḫurramī (hinge79 Niẓāmalmulk, Siyāsatnāma, 273 f. (engl. 227). 80 Ebd., 277 (engl. 230 f.). 81 Ebd., 278 (engl. 231). 82 ʿUyūn IV, 58. 83 Ibn aṭ-Ṭiqṭaqā, Faḫrī, 342 (frz. 435).

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richtet 223/838) sich während Jahrhunderten mitteile, daß die Zanǧ bzw. ‚Burquʿiten‘ eine Sekte darstellten, und daß Qarmaṭen und Zanǧ Spielarten derselben Ketzerei seien. Gleichzeitig muß erstaunen, daß die Vorstellung einer Verquickung von Qarmaṭen und Zanǧ nicht auch im Fachschrifttum über das Sektenwesen gepflegt wird. Zeitnahe Häresiographen wie die Imāmiten an-Naubaḫtī (st. 310/922) und al-Qummī (st. 301/914) behandeln zwar die frühe Ismāʿīlīya und weisen ihr eine bestimmte Stelle in der Taxonomie der Abspaltungen vom Islam zu, nehmen jedoch von einer Begegnung zwischen dem dāʿī und dem Herrn der Zanǧ keine Notiz. Zwei Ursachen dafür sind zu erkennen. Zum einen gelten ihnen die Zanǧ – trotz ihrer vielfältigen Verfluchung durch das historische Schrifttum – nicht als firqa, als distinkte heterodoxe Gruppierung, so daß auch ein etwaiges Bündnis zwischen ihnen und den Qarmaṭen keinen genuinen Gegenstand der Häresiographie bildet. Zum anderen kamen diese beiden Schriftsteller nicht mit der Erzählung in Berührung, denn das frühere der beiden Werke, an-Naubaḫtīs Firaq aš-Šīʿa, wurde bereits vor dem Schisma von 286/899 verfaßt,84 ist also älter als die innerismāʿīlitische Propaganda. Damit war vorgezeichnet, daß die Erzählung auch später nicht in die Häresiographie eindrang.85 Indem das Weitertragen der ursprünglichen Propagandaerzählung allein von den Chronisten und Pamphletisten besorgt wurde, ist die wechselseitige sektenmäßige Stigmatisierung von Qarmaṭen und Zanǧ nicht der Häresiographie, sondern der vergleichsweise vulgären Häresiologie der Chronisten geschuldet. An einer Stelle allerdings bringt der Blick auf die Häresiographie eine denkwürdige Übereinstimmung mit der Erzählung zutage. Obwohl an-Naubaḫtī vor der Entstehungszeit unserer Erzählung schrieb, lassen er und ihm zufolge al-Qummī die ‚Qarmaṭen‘ im Sawād al-Kūfa und alYaman 100 000 Anhänger zählen.86 Dieselbe Zahl beziffert in allen Fassungen der Erzählung die dem Herrn der Zanǧ angediente Streitmacht und gehört zum Kernbestand der Erzählung. Hinzu kommt eine weitere Nennung des Zahlausdruckes bei aṭ-Ṭabarī, nunmehr in Bezug auf 84 Vgl. Madelung, „Firaq-Literatur“, 37, 39. 85 Al-Ašʿarī, Maqālāt, 85, reiht den Herrn der Zanǧ unter die aufständischen ʿalīdischen Prätendenten ein. Al-Malaṭī, Tanbīh, 26 f., ordnet den Herrn der Zanǧ nur kurz den Zaiditen zu. Al-Baġdādī, Farq, 354 (engl. I, 229), erwähnt ihn (al-Burquʿī) als Beispiel für die Vortäuschung ʿalīdischer Abstammung. 86 An-Naubaḫtī, Firaq, 64 (frz. 91); al-Qummī, Maqālāt, 86.



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die Gefolgschaft Zikrawaihs.87 So man nicht gewillt ist, diesen Gleichklang voneinander unabhängiger Quellen dem Zufall anheimzustellen, ist anzunehmen, daß die Hunderttausendzahl hinter das Schisma zurückgeht und zum Erzählgut der frühesten Ismāʿīlīya gehört. Fazit: Die Erzählung von der Begegnung in al-Muḫtāra als dem Gipfeltreffen zweier notorischer Häretiker-Rebellen ist legendärer Natur und muß von der historischen Betrachtung ausgeschieden werden. Das dennoch enthaltene Körnchen Wahrheit ist ideen- und überlieferungsgeschichtlicher Art. In den auf uns gekommenen Fassungen konstruiert die Erzählung das Andere als kontingente Verschwörung gegen das Selbst. Dabei ist die Bedrohung der rechtmäßigen Ordnung des Islams zu schrecklich vorzustellen, als daß sie nicht wahrheitsgemäß erschiene. Um so mehr tröstet der Ausgang der Geschichte, denn er versichert den Fehlschlag der Bündnissuche, die Unreife der Übeltäter und als Grund dessen die Hinfälligkeit ihrer Irrlehren. Schließlich scheinen zum Zeitpunkt der ersten und wichtigsten Schriftfassung die tatsächlichen Ereignisse – die Niederwerfung der Zanǧ und der Tod ihres Herrn, ferner die Ermordung ʿAbdāns und das Abtreten Ḥamdāns sowie der Untergang Zikrawaihs und seiner Anhänger – zu beglaubigen, daß Ketzerrebellionen stets vergeblich sind; eine Gewißheit, die als Verheißung gerade auch nach dem Siegeszug der Fāṭimiden zupaß kam und später von ihrem Sturz erst recht bekräftigt wurde. Man versteht: Die hinaustreten, müssen scheitern.

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Rassismus und Sklaverei als Rechtsproblem in Nord- und Westafrika R. Oßwald

1. Das Nach- und Fortleben der Sklaverei in den Grenzländern der Sahara Die halbarabischen Staaten am südlichen Saum der Sahara tragen schwerer als andere islamische Gebiete an der Erblast der Sklaverei. In vielfacher Form ist sie nach wie vor präsent. Der Nilsudan und vor allem Mauretanien sind in diesem Zusammenhang während der letzten Jahren verstärkt ins Visier der Menschenrechtler geraten. Politische Instrumentalisierung und wissenschaftliche Untersuchungen der heutigen Verhältnisse konnten da kaum ausbleiben,1 und auch literarisch hat man diese Problematik aufgegriffen.2 In Mauretanien, wo die Sklaverei im 20. Jahrhundert nicht weniger als dreimal, 1905, 1961 und 1981 offiziell abgeschafft worden ist, haben sich die ehemaligen Sklaven (Ḥarāṭīn) politisch formiert. Sie sollen die Hälfte der arabophonen Bevölkerung ausmachen,3 jedoch mögen solche Zahlenangaben tendenziös sein. Die Ḥarāṭīn sehen nicht zuletzt einen althergebrachten Rassismus lebendig, der ihnen das Leben schwer macht: Zwar sei zugegebenermaßen nicht jeder Sklavenhalter ein Weißer gewesen, aber die Sklaven waren grundsätzlich schwarz.4 Auf der anderen Seite ist bīẓān (Wei1 S. die in der Bibliographie aufgeführten Titel von Bales, Bullard, Clausen, Daddah, Hormatollah, Lobban, Miers, Mint Ainina, Pipes und Waal. S. ferner Ould Bah, Littérature 245 speziell zur Zögerlichkeit der Qāḍīs, die staatliche Abschaffung einer vom hergebrachten islamischen Recht immerhin anerkannten Einrichtung zu akzeptieren. Für Mauretanien ist im übrigen besonders Ending Slavery, die profunde soziologische Untersuchung von Urs Peter Ruf, hervorzuheben. 2 Der Held des Romans al-Asmāʾ al-mutaġaiyira von Aḥmadu wuld ʿAbd al-Qādir ist ein Sklave, dessen Schicksal von der vorkolonialen Ära über die Kolonialzeit bis zum unabhängigen Staat Mauretanien verfolgt wird. 3 Hormatollah, Cri 142. 4 Ibid. S. 139.

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ße) die traditionelle Eigenbezeichnung der zwischen Südmarokko und dem Senegalfluss lebenden und sprachlich durch den Ḥassānīya-Dialekt verbundenen Araber. Dabei findet sich diese dialektale Aussprache des hocharabischen bīḍān auch schriftlich schon in alten Texten. Das zeigt, dass es sich um einen Terminus technicus handelt, denn wo dieser Begriff fällt, ist nicht von der Gesamtheit der Weißen die Rede, sondern gemeint sind eben die im arabischen Osten nach der Stadt Šinqīṭ (Chinguetti) ehemals als Šanāqiṭa bekannten Araber der westlichen Sahara. Die Identität dieser in der Wissenschaft üblicherweise mit der Bezeichnung „Mauren“ belegten Sprach- und Kulturgemeinschaft hat sich somit seit alters gerade aus der Abgrenzung zu den sūdān, d. h. den schwarzafrikanischen Völkerschaften, gespeist. Dabei bildet für diese Bezeichnung bīẓān die biologische nur eine von vielen Komponenten eines Merkmalbündels, das in der spezifischen gesellschaftlichen Umgebung der westlichen Sahara für die Zuordnung des einzelnen zu dieser Gruppe verantwortlich ist. Im gesprochenen Arabischen nämlich werden die Schattierungen der Hautfarbe außerordentlich präzise auf einer Skala erfasst, wonach nur die wenigsten bīẓān unter „weiß“ einzugruppieren wären.5 Offensichtlich hat man es hier also mit zwei voneinander unabhängigen Referenzsystemen zu tun. Aber gleichviel, in unserem Zusammenhang ist nur die Dichotomie „schwarz-weiß“ entscheidend, und wer wohin gehört, das war und ist von den Beteiligten mit leidlicher Sicherheit feststellbar.6

2. Der Schwarze als „natürlicher“ Sklave Identität bedeutet Abgrenzung. Diese muss nicht zwingend bösartig aufgeladen sein, aber hier lässt sich eine solche Implikation kaum leugnen. Das überwiegend negative Bild des Schwarzen in der arabisch-is5 Nachtigal I 428 gibt folgende Reihe: abyaḍ-aḥmar-aṣfar-asmar-aḫḍar-azraq-aswad und bemerkt, daß unter abyaḍ außer den Europäern nur noch Teile der Stadtbevölkerung der nordafrikanischen Küste fallen, während die meisten Araber und Berber zu den Kategorien aḥmar, aṣfar und asmar gehören. Nach Walz, Slavery 140 war auf den ägyptischen Sklavenmärkten ein ähnliches System in Übung, das nach Streck, Ethnologie 139 zumindest bei den Arabern im Niltal südlich von Assuan nach wie vor gebraucht wird. Die Hausa scheinen es ebenfalls zu kennen, s. Hiskett, Verse 145. Ich unterstelle hier einmal, daß auch im Arabischen der westlichen Sahara in dieser Art differenziert wird. 6 Für die starke soziale Komponente bei der Zuordnung im vorkolonialen Marokko s. Ennaji, Serving the Master 64, 102–104 und passim.



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lamischen Gesellschaft hat Gernot Rotter vor bald 40 Jahren in seiner Doktor-Dissertation herausgearbeitet, die als Gesamtdarstellung dieser Thematik bis heute nicht ersetzt ist.7 Die Schwarzen galten demnach als Sklavenrasse par excellence. Bis in die jüngere Vergangenheit haben Schwarzafrikaner deswegen apologetische Schriften verfasst.8 Die Bestimmung der Schwarzen zum Sklaventum und damit korrespondierend ihre Minderwertigkeit besonders in Hinblick auf die geistigen Fähigkeiten wurde, wenn Erklärungsbedarf überhaupt empfunden wurde, aus der Legende über die Verfluchung Hams durch Noah zu schwarzer Hautfarbe und Sklaventum abgeleitet,9 die man in dieser Funktion von Ostafrika10 bis Marokko11 nachweisen kann. Daneben führte man naturwissenschaftliche Theorien ins Feld, die im Kern auf antike Vorstellungen zurückgehen und meist klimatische Ursachen für die Deformierung gerade des schwarzen Menschen ausmachen.12 Rotters Untersuchung schließt mit dem 16. Jahrhundert. Entscheidende Änderungen sind aber später nicht eingetreten, im Gegenteil; denn im Laufe der Neuzeit wurde das subsaharische Afrika zum einzig verbleibenden substantiellen Sklavenreservoir für die islamische Welt. Man hat geschätzt, dass die dorthin verschleppten Schwarzafrikaner zahlenmäßig nicht hinter den über den Atlantik in die Neue Welt 7 Für eine weitere Verbreitung von Rotters Ergebnissen hat Bernard Lewis gesorgt, der – nach eigener Aussage – große Teile von Rotters Arbeit auf englisch paraphrasiert hat. S. Bernard Lewis, Race and Color in Islam sowie als zweite etwas erweiterte Version Race and Slavery in the Middle East. Die vielen hundert jüngst von Ullmann, Neger zusammengestellten Belege aus der Bildersprache der arabischen Dichter bestätigen im wesentlichen Rotters Ergebnisse. 8 S. Hilliard, Zuhur 164–173 zum Ẓuhūr al-basātīn fī tārīḫ as-sawādīn des 1945 verstorbenen Senegalesen Šaiḫ Mūsā Kamara. Hunwick, Law and Polemics 62–63 und in der Einleitung zu seiner Ed. von Aḥmad Bābās Miʿrāǧ, S. 7 erwähnt ein Tanbīh ahl aṭ-ṭuġyān ʿalā ḥurrīyat as-sūdān, das vermutlich Ende des 19. Jh. am mittleren Niger verfaßt wurde, und dessen Autor sich speziell über den Rassismus der Marokkaner im Zusammenhang mit der Sklaverei beklagt. 9 S. hierzu Rotter, Neger 141–152. Spätere Äußerungen zu dieser Thematik sind, soweit mir bekannt, bezüglich des islamischen Raumes über Rotter nicht hinausgekommen. 10 S. Klein-Arendt, Mogadishu 22, 30 für die Ham-Legende in einer arabischen Chronik aus Ostafrika. 11 Ennaji, Serving the Master 62–63. 12 S. Rotter, Neger 152–162. Defizite wurden zwar auch bei den nördlichen Völkern ausgemacht, aber nicht in diesem Ausmaß. Wirkliche Kultur konnte sich nach diesen Vorstellungen nur im klimatisch gemäßigten Mittelmeerraum entwickeln.

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abtransportierten zurückstehen.13 Alles spricht dafür, dass man eine Ende des 19. Jahrhunderts gemachte Feststellung des marokkanischen Autors Salāwī verallgemeinern darf. Sie lautet: „Die einfachen Leute glauben vielfach, dass die gesetzliche Rechtfertigung für Versklavung in der schwarzen Hautfarbe liegt.“14 Nun dürfen nach dem islamischen Gesetz bekanntlich nur Ungläubige versklavt werden, die in keinem Vertragsverhältnis zum islamischen Staat stehen, wenngleich der Übertritt zum Islam am Sklaventum des Konvertiten nichts ändert. Zwar existiert in menschlichen Gesellschaften sicherlich kein Gesetz, dass bei passender Gelegenheit nicht auch übertreten würde. Im Falle der Schwarzafrikaner aber wurde dieser Gesetzesbruch aus den genannten Gründen zu einem endemischen Dauerproblem. Dabei lassen sich zwei Bereiche unterscheiden, die wir hier auf der Grundlage bisher unbekannter Quellen näher beleuchten wollen. Da ist einmal die Versklavung schwarzafrikanischer Muslime in ihren Heimatgebieten, die sich allerdings durchaus nicht auf eine bloße Konfrontation zwischen weiß und schwarz reduzieren lässt, weil als Sklavenjäger keineswegs etwa nur Araber und Berber aktiv waren. Diese innerafrikanischen Versklavungen geschahen nicht nur im großen Maßstab der Kriegszüge und organisierten Sklavenjagden, sondern auch als individuelles Kidnapping. Ein solcher Fall steht im Mittelpunkt der Hausa-Erzählung Shehu Umar von Alhaji Abubakar Tafawa Balewa: Der Held, damals natürlich noch kein Shehu (Šaiḫ), wurde als Junge im Hausaland von einem durchreisenden Fremden gekidnappt, in Kano an einen arabischen Sklavenhändler verkauft und nach Ägypten verbracht. Nach vielen Abenteuern, die in der Ausbildung zum Gelehrten gipfeln, gelingt ihm die Rückkehr in die Heimat, wo er eine Schule eröffnet und den Schülern seine Geschichte erzählt.15 Zweitens, und hier steht nun eindeutig der Rassismus im Vordergrund, erwies sich die Stellung des freien oder freigelassenen Schwarzafrikaners in weißer Umgebung immer wieder als überaus prekär. Er musste damit rechnen, aufgegriffen und erneut versklavt zu werden. Als die Mutter des eben erwähnten, als Kind im Hausaland gekidnappten Shehu Umar sich auf die nach Norden weisende Spur ihres verschleppten Sohnes setzt, gibt ein in der Karawane mitreisender Kaufmann sie kurzerhand als seine Sklavin aus. Eine Klage bei dem 13 Austen, Slave Trade schätzt die Zahl auf 12 Millionen. Vgl. Rotter, Neger 5. 14 Aḥmad b. Ḫālid an-Nāṣirī as-Salāwī, K. al-Istiqṣāʾ li-aḫbār duwal al-maġrib alaqṣā. Casablanca, 1955–1956, V 131, zitiert nach Hunwick, Law and Polemics 44. 15 Vgl. dazu auch Hiskett, Enslavement 106, 110 ff.



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korrupten, von besagtem Kaufmann bestochenen Qāḍī in Murzuk, der alten Karawanenstadt im heutigen Libyen, wird abgewiesen, die unglückliche Frau verkauft. Zwar handelt es sich hier um Fiktion, aber es fehlt nicht an Hinweisen für die mutmaßlich realen Hintergründe einer solchen Geschichte. In seiner erhellenden Studie auf der Grundlage von Archivmaterial vorwiegend aus dem 19. Jahrhundert hat Mohammed Ennaji nachgewiesen, dass die freien Nachkommen schwarzer Sklaven in Marokko mit der ständigen Gefahr leben mussten, gekidnappt und verkauft zu werden.16 Ennajis Eindruck, dass die Opfer meist Frauen waren, wird durch die Sammlung von Musterurkunden bestätigt, die der 1261/1845 verstorbene Bannānī aus Fās für den notariellen Gebrauch zusammengestellt hat. Hier findet sich neben einer unverdächtigen Freilassungsurkunde (ʿaqd ʿitq)17 nämlich auch das Formular für eine Bescheinigung, dass die Frau Sowieso frei und Tochter eines Freien sei.18 Es geht somit nicht um den Freilassungsakt, sondern um den Beleg, dass jemand, der offenbar von Geburt an frei war, auch wirklich frei ist, dessen Freiheit somit vom Augenschein her offenbar nicht als selbstverständlich betrachtet wurde, also wohl einer Schwarzen. Inwieweit eine solche Bescheinigung dem Opfer tatsächlich geholfen hat, ist eine andere Frage. Eine von Terence Walz durchgeführte, stichprobenartige Durchsicht des Archivmaterials ägyptischer Gerichtshöfe hat für das 19. Jahrhundert entsprechende Fälle zutage gefördert: Schwarze konnten ihrer Freiheit nicht sicher sein, und durften wie in Marokko kaum damit rechnen, die Behörden auf ihrer Seite zu finden.19 Auch für die westliche Sahara zeigen Dokumente, dass man vielfach nicht gesonnen war, die Freiheit der Ḥarāṭīn zu respektieren. Am 1. Ḏū l-Ḥiǧǧa 1254 (26. Februar 1839) musste in Šinqīṭ ein Freigelassener, der Opfer einer Körperverletzung geworden war, vor Gericht erst einmal den Beweis für seinen Status als Freier antreten.20 Eine undatierte, aber vermutlich aus dem 19. Jahrhundert stammende Bezeugung besagt, dass ein in der Landschaft Afṭūṭ (Aftout) 16 Ennaji, Serving the Master 65–87 mit zahlreichen Fällen. 17 Bannānī, Waṯāʾiq 63. 18 Ibid. S. 67: ʿaqd istirʿāʾ fī ḫurrīya. 19 Für die verschiedenen gerichtsnotorisch gewordenen Fälle s. Walz, Slavery 141, 148, 149. 20 Rebstock, Sammlung Nr.  1068 (Waṯāʾiq muḫtalifa), S.  31–32 (ein beidseitig beschriebenes Blatt).

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geraubtes und dann verkauftes Mädchen (ǧāriya) von ihrer Eigentümerin tatsächlich freigelassen worden war. Alle Beteiligten werden namentlich genannt, der Anführer der Räuber ebenso wie der Stamm der Käufer, die ehemalige Eigentümerin und die Verschleppte selbst.21 Über den Zweck des Dokuments verlautet nichts, es war aber sicher als Beweismittel gegen den Käufer gedacht, der sich – Gutgläubigkeit vorausgesetzt – nach Freigabe des Mädchens dann seinerseits am Verkäufer hätte schadlos halten müssen. Wie so etwas ablaufen konnte, lässt sich einem anderen Dokument entnehmen. Es handelt sich um das Protokoll eines zu Beginn des Rabīʿ II 1278 (Okt. 1861) in Walāta (Oualata) stattgehabten Gerichtsverfahrens. Ein Mann namens ʿAballa al-Ğakanī, d. h. vom Stamm der Taǧakānat, hatte in Walāta von einem Händler einen Sklaven gekauft und war dann nach Azawād, der Gegend nordwestlich von Timbuktu, abgereist. Wenig später taucht eine Gruppe mutmaßlicher Ḥarāṭīn22 auf, behauptet, der Verkaufte sei in Wirklichkeit als Nachkomme von Freigelassenen ein Freier und fängt, weil der Käufer selbst nicht mehr greifbar ist, mit dessen in Walāta befindlichen Stammesgenossen Streit an. Man einigt sich dann aber auf einen Schiedsrichter (muḥakkam) und ein geordnetes Verfahren. Die Kläger bekommen die Beweislast zugewiesen und können schließlich mit einiger Mühe durch Zeugen belegen, dass der Verkaufte als Sohn einer Freien den ehemaligen Eigentümern nur noch durch das Band des walāʾ verbunden war. Daraufhin wird das Urteil gefällt: Der Verkaufte ist in Freiheit zu setzen. Wenn das aber, aus welchen Gründen auch immer, nicht möglich sein sollte, hat der Käufer das Blutgeld (diya) zu bezahlen. Soweit das Urteil.23 Wie der Fall dann wirklich ausging, ist eine andere Frage, weil der Käufer zunächst ja nicht mehr greifbar war. Für den Verkäufer interessierte sich niemand. In den Fatwā-Sammlungen tauchen solche Fälle in abstrahierterer Form auf. So wurde der 1235/1819 verstorbene Walāter Gelehrte Qaṣrī24 gefragt, was zu geschehen habe, wenn jemand Freie raubt und 21 Rebstock, Sammlung, Nr.  785 (Waṯāʾiq wa-ʿuqūd), S.  20–21 (ein beidseitig beschriebenes Blatt). 22 Der Text spricht von abnāʾ al-ḥurma. Mit ḥurma wurde eine bestimmte Art von Tribut bezeichnet. Der ganze Zusammenhang legt nahe, daß es sich um Ḥarāṭin gehandelt hat. 23 Rebstock, Sammlung, Nr.  1032 (Waṯāʾiq muḫtalifa), S.  3–4 (ein beidseitig beschriebenes Blatt). 24 S. MLG, Nr. 625.



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auf Nimmerwiedersehen verkauft. Die Antwort – gestützt auf Zitate aus mehreren Kommentaren zum Muḫtaṣar Ḫalīl – lautet, mindestens habe ein solcher Gesetzesbrecher das Blutgeld zu bezahlen. Als zusätzliche Strafe hielten manche Autoritäten ein Jahr Haft und 1000 Peitschenhiebe für angemessen.25 All diese Fälle lassen vermuten, dass man auf innermaurischen Raubzügen Schwarze aufgriff und verkaufte, wie man Vieh raubte. Das Szenario darf man sich so vorstellen, wie es in einer Frage an den Walāter Gelehrten Ṭālib al-Bašīr26 formuliert wurde. Es ging hier generell um die rechtliche Einschätzung der maurischen Kriegerstämme, um Leute, die kein ehrbares Gewerbe trieben, sondern, wenn sich die Gelegenheit böte, „über einen Stamm (qabīla), eine Siedlung (qarya) oder Reisende (ṭarīq) herfallen, gewaltsam Güter rauben, Blut vergießen, die Frauen entehren, indem sie ihnen die Gewänder ausziehen, und Sklaven (ʿabīd) und Freie in Gefangenschaft führen.“27 Auch bei diesen „Freien“ muss es sich um Schwarze gehandelt haben, bei denen der Sklavenstatus ohne weiteres unterstellt wurde. Generell haben wir es bei solchen Konstellationen auch dort, wo es nicht ausdrücklich gesagt wird, mit Freigelassenen, also dunkelhäutigen Ḥarāṭīn zu tun. Weiße wurden in dieser Gegend ja nicht als Sklaven gehalten. Selbstverständlich hat es sich bei diesen Ḥarāṭīn um Muslime gehandelt, zumal der Übertritt zum Islam bei Sklaven erzwungen werden sollte, wie es in den einschlägigen maurischen Fatwās immer wieder heißt,28 und es besteht kein Grund daran zu zweifeln, dass man sich daran nicht gehalten hätte. Im übrigen waren die Sklaven und Freigelassenen zwar schwarz, hatten als Bestandteil der maurischen Gesellschaft aber keine spezifischen ethnischen und sprachlichen Charakterzüge mehr. Anders liegen die Dinge, wenn wir die Welt der „Weißen“ verlassen und die Sklavenimporte aus dem Süden ins Auge fassen. 25 Qaṣrī, Nawāzil (Rebstock, Sammlung Nr. 93), S. 357, Z ‑1 bis S. 358, Z 12, Fall 577. Die kommentierte Ḫalīl-Stelle lautet ka-ḥurrin bāʿahū wa-ta ʿaḏḏara ruğūʿuhū und findet sich in der mir vorliegenden Ausgabe des Muḫtaṣar S. 227, Z 10–11. 26 Für aṭ-Ṭālib (Muḥammad) al-Bašīr b. al-Ḥāǧǧ al-Hādī al-Īdailabī (gest. 1197/1783) aus Walāta s. MLG, Nr. 430. 27 Ṭālib al-Bašīr, Nawāzil (Rebstock, Sammlung, Nr. 382), S. 134, Z 6–9, Fall 138. 28 Als locus probans dient hier das wa-ǧabruhū tahdīdun wa-ḍarbun aus dem Muḫṭaṣar des Ḫalīl (S. 169, Z 10), dem schon erwähnten Standardreferenzwerk der malikitischen Schule seit dem 15. Jh. Dieser – nicht unumstrittenen Zwangsbekehrung – unterlag aber bloß der mağūsī, nicht der kitābī. Anders als beim abtrünnigen Muslim darf hier aber nicht mit dem Tod, sondern nur mit Schlägen gedroht werden.

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3. Der Sudan als Sklavenreservoir Kamen schwarze Sklaven von dort auf den Markt, so konnte es auch hier vorkommen, dass sie in ihrer Eigenschaft als widerrechtlich versklavte Muslime die Freiheit reklamierten. Oder andere taten es für sie. Als nach jetzigem Kenntnisstand ältester aktenkundiger Fall darf der von Qalqašandī überlieferte Brief aus dem Jahr 794/1391–1392 gelten, in dem sich der Herrscher von Bornu an den Mamlūken-Sultan aẓẒāhir Barqūq wendet, er möge sich um die Befreiung von Muslimen aus Bornu kümmern, die von den Ğuḏām-Arabern versklavt worden seien. Der Bornu-Herrscher beruft sich nicht nur auf die islamische Religion seiner von den Arabern versklavten Untertanen und Verwandten, sondern betont auch – doch wohl in der Befürchtung, dass bei einem Schwarzen der Hinweis auf die richtige Religionszugehörigkeit womöglich nichts verschlägt – seine Abkunft von Saif b. Ḏī Yazan, „dem Quraišiten und Araber“.29 Bekannt geworden sind in diesem Zusammenhang dann die Stellungnahmen des Aḥmad Bābā at-Tinbuktī (963/1556–1036/1627)30, insbesondere sein Miʿrāǧ31, ein längeres Fatwā, mit dem er auf die im Jahr 1023/1614–1615 gestellten Fragen eines gewissen Saʿīd b. Ibrāhīm al-Ğirārī aus der im heutigen Algerien gelegenen Oasengruppe von Tuwāt antwortet. Kern dieser Fragen ist das Problem, wie man es mit aus dem Süden importierten schwarzen Sklaven halten solle, die ganz offensichtlich Muslime seien. Nachdem dieses Werk Ende des 19.  Jahrhunderts der westlichen Fachöffentlichkeit durch eine abgekürzte französische Übersetzung bekannt geworden war, geriet es in Vergessenheit und wurde erst von Gernot Rotter wieder ausführlich gewürdigt und verwertet.32 Seither ist es im Bewusstsein der Fachwelt präsent geblieben, bis schließlich John Hunwick und Fatima Harrak auch noch eine brauchbare Edition mit englischer Übersetzung vorgelegt haben, dies zusammen mit einer Antwort Aḥmad Bābās auf Fragen, die ihm ein sonst unbekannter Yūsuf b. Ibrāhīm al-Īsī ver29 Qalqašandī, Subḥ al-aʿšā VIII 116–117, Teilübers. bei Rotter, Neger 44–45, vollständige engl. Übers. bei Hopkins/Levtzion, Sources 347. 30 S. Zouber, Ahmad Baba de Timbouctou (1556–1627), sa vie et son oeuvre. Paris 1977. 31 Der volle Titel lautet Miʿrāğ aṣ-ṣuʿūd ilā nail ḥukm as-sūd oder al-Kašf walbayān li-aṣnāf mağlūb as-sūdān. 32 Rotter, Neger 19, 49–52.



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mutlich während seines marokkanischen Exils zur nämlichen Problematik gestellt hatte.33 Aḥmad Bābās Miʿrāǧ nimmt insofern eine Sonderstellung ein, als wir es hier mit dem einzig mir bekannten Fall zu tun haben, wo im Rahmen einer rechtlichen Stellungnahme die Verfluchung Hams und andere Theorien zu Minderwertigkeit und natürlichem Sklaventum der Schwarzen abgehandelt werden. Sonst unterbleibt das, weil rechtlich nicht von Belang, obwohl gerade die Volkstümlichkeit der Ham-Legende mit ihren verschiedenen Versionen kaum zu bezweifeln ist und, im kollektiven Bewusstsein fest verankert, sicherlich ganz allgemein zur Rechtfertigung für die Versklavung schwarzer Muslime bemüht wurde.

4. Beweislast und Herkunft Weniger originell und teilweise auch widersprüchlich34, wenngleich durch die Aufzählung islamischer und heidnischer Völkerschaften wertvoll für die historische Ethnographie und unsere Kenntnisse zur Islamisierung des subsaharischen Afrikas, sind Aḥmad Bābās rechtliche Ausführungen. Neben andalusischen Präzedenzfällen aus dem Nawāzil-Werk des Ibn Sahl (gest. 486/1093) beruft er sich dabei auf ein Fatwā des nach 940/1533–1534 verstorbenen Maḫlūf b. ʿAlī b. Ṣāliḥ35 aus der nordsaharischen Oase Tabalbala, der im Sudan weit herumgekommen war, sowie auf seinen entfernten Onkel Maḥmūd b. ʿUmar b. Muḥammad Aqīt (868/1463–1464 bis 955/1548), den langjährigen Ober-Qāḍī von Timbuktu.36 33 Aḥmad Bābā, Miʿrāǧ aṣ-ṣuʿūd. Ed. John Hunwick et Fatima Harrak. Dort in der Einleitung S. 7–8 zur Rezeptionsgeschichte. Hinter Īsī vermutet Hunwick, Aḥmad Bābā on Slavery 132 einen Schüler Aḥmad Bābās aus der Zeit seines von 1593 bis 1608 währenden marokkanischen Zwangsaufenthaltes. Aḥmad Bābā war nach der marokkanischen Eroberung Timbuktus mit anderen Gelehrten der Stadt verschleppt worden, weil man deren subversive Tätigkeit fürchtete. 34 Dies betrifft insbesondere das zentrale Problem der Beweislast, wenn ein widerrechtlich Versklavter seine Freiheit reklamiert. Anders als im Miʿrāǧ vertritt Aḥmad Bābā in der wohl älteren Antwort auf Īsī die in der malikitischen Rechtsschule herrschende Meinung, wonach der Sklave den Beweis für seine behauptete Freiheit erbringen muss (vgl. Anm. 43). 35 S. ALA II 25. 36 S. die von Aḥmad Bābā verfasste Biographie Nail 343–344 und bei Saʿdī, Tārīḫ as-sūdān, Übers. Hunwick, S. 53–54 und vgl. Saad, Timbuktu 234.

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Auf Qāḍī Maḥmūd wird in Zusammenhang mit der Beweislastfrage nur verwiesen,37 das ziemlich kurze Fatwā des Maḫlūf zitieren al-Īsī, der unbekannte marokkanische Frager, und Aḥmad Bābā in seiner späteren Antwort an den Tuwater Ğirārī in extenso.38 Über den Anlass, zu welchem der Qāḍī und Maḫlūf diese Meinungen abgegeben haben, verlautet bei Aḥmad Bābā nichts. Was den Qāḍī Maḥmūd betrifft, so lässt sich das nun durch ein Zitat aus den Nawāzil des schon erwähnten maurischen Rechtsgelehrten Ṭālib al-Bašīr aus Walāta ergänzen, der sich zu seiner Zeit mehrfach mit der Problematik mutmaßlich zu unrecht versklavter schwarzafrikanische Muslime auseinandersetzen musste. Ausgangspunkt war demnach eine briefliche Frage, die Leute aus dem südwestlichen Marokko im Jahr 936/1529–1530 an den Qāḍī von Timbuktu gerichtet hatten. Sie lautet: An den … Ober-Qāḍī (qāḍī al-ǧamāʿa) in Timbuktu, Sīdī Maḥmūd39, … von allen, die sich im Lande der Ğazūla um das Gesetz sorgen. Gebt uns Sicherheit, damit unsere Bedenken zerstreut werden, indem ihr uns ein Problem erklärt, das sich um die Sklaven (ʿabīd) dreht, die, zu verschiedenen Stämmen der Schwarzen (qabāʾil as-sūdān) gehörig, aus Wādān, Tīšīt und Īwalātī [sc. Walāta] zu uns gelangen – was aus Timbuktu kommt, danach fragen wir – Lob sei dem erhabenen Gott – nicht, weil wir eine viel zu gute Meinung von euch haben, [als dass wir glauben könnten], in eurem Land würden freie Muslime (aḥrār al-muslimīn) verkauft. Erkläre uns also, die Angehörigen welcher Stämme man kaufen darf, und wer diese Leute einfängt und exportiert, und erkläre uns ferner, welche Leute man nicht kaufen darf, weil es sich um Muslime handelt. Regierung und Herrschaft existieren nämlich nicht in jener Gegend, weil die Bewohner von Wādān [von Tyrannen] unterworfen sind (maġlūbūna): Sie können die Unterdrückung (ẓulm) nicht mit ihren eigenen Händen abwehren, und was sie sagen, kann nicht akzeptiert werden. Auf der anderen Seite braucht jeder Mann von Religion (ḏū dīn) nun einmal jemanden, der seine Ehefrau bedient, Sklavinnen (ḫuddām) aber können wir nur aus dem Sudan beziehen. Einige von denen, die zu uns kommen, rezitieren nun Koransuren, während andere die Sprache des Korans sprechen können, 37 Aḥmad Bābā, Miʿrāǧ (ed. Hunwick/Harrak) 28/58. 38 Aḥmad Bābā, Miʿrāǧ (ed. Hunwick/Harrak) 28–29/58 (im Miʿrāǧ im Anschluss an den Verweis auf Qāḍī Maḥmūd) und 41/79 (in den zeitlich früheren Fragen des Īsī, separat noch einmal abgedruckt 11–12/95). Vgl. Hunwick, Aḥmad Bābā on Slavery 133, wo der spätere Fund einer selbstständigen Handschrift von Maḫlūfs Fatwā vermeldet wird. 39 Der Text hat fälschlich Muḥammad.



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was daraufhin deutet, dass sie Muslime sind. Deshalb ist uns die Sache unklar.   Darauf antwortete der gottselige [Qāḍī]: Friede über euch und Gottes Barmherzigkeit und Segen. Der Verkauf von Freien ist in jenen Ländern in der Tat üblich. Jedem, der aus diesem Gebiet kommt, sei es aus der Gegend [von Tīšīt und Īwalātī], aus der Gegend von Wādān oder sonst woher, ist deshalb zu glauben, wenn er seine Freiheit reklamiert, [d. h. es gilt seine Aussage], solange er nicht offenkundig lügt, [und derjenige, der ihn als Sklaven hält, muss beweisen, dass er dies mit einem einwandfreien Rechtstitel tut].40

Im Anschluss wird – mit den in solchen Fällen üblichen Abweichungen im Wortlaut – das erwähnte, später auch von Īsī und Aḥmad Bābā gebrachte Fatwā des Maḫlūf b. ʿAlī b. Ṣāliḥ al-Balbālī zitiert, der die Bewohner einiger Hausa-Staaten (Kano, Zakzak und Gobir), die Sonġai und alle Fulbe als Muslime einstuft. Würden im übrigen Sklaven aus solchen Gebieten importiert, wo der Verkauf freier Muslime notorisch sei, so gelte das Wort der Sklaven, wenn sie ihre Freiheit reklamierten, während die Gegenseite die Beweislast habe. Für diese Rechtsmeinung beruft sich Maḫlūf auf die Rechtsgelehrten von Andalus und auf die Richter von Fās41 und sagt zum Schluss, auch „Maḥmūd, der gegenwärtige Qāḍī von Timbugtu fällt seine Urteile in diesem Sinne“ (wa-bi-hāḏā yaḥkumu Maḥmūd Qāḍī Tinbugtu l-ān).42 Da Maḫlūf sich nachweislich auch in Timbuktu aufgehalten hat, war er mit dem Qāḍī sicher persönlich bekannt, zumal er in Walāta bei dessen Bruder studiert hatte. Anfangs des 16. Jahrhunderts werden in Timbuktu also zwei wichtige Rechtsprinzipien etabliert, die sich Aḥmad Bābā später zueigen macht:

40 Ṭālib al-Bašīr, Nawāzil (Rebstock, Sammlung, Nr. 382), S. 262, Z ‑8 bis S. 263, Z 7, Fall 281. 41 Nach Ennaji, Serving the Master 86–87 wurde diese Meinung auch im 19. Jahrhundert in Marokko in Zusammenhang mit dem oben erwähnten grassierenden Kidnapping von Ḥarāṭīn vertreten, ohne dass sich die Behörden darum kümmerten, die weiterhin von den wirklichen oder vermeintlichen Sklaven Beweise für ihre Freiheit forderten. Auf die historische Dimension dieser Frage geht Ennaji nicht ein. Auch nach den von Walz untersuchten Fällen im Ägypten des 19. Jahrhunderts scheinen schwarze Sklaven, die ihre Freiheit reklamierten, die Beweislast gehabt zu haben, was freilich der herrschenden Meinung zumindest der Malikiten entsprach. S. Walz, Slavery 148–149 u. vgl. Anm. 43. 42 Ibid. S. 263, Z 7–19.

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Erstens hat bei entsprechenden Umständen nicht, wie im Normalfall43, der seine Freiheit reklamierende Sklave die Beweislast, sondern sein Käufer oder Verkäufer. Dies gilt dann, wenn in seinem Herkunftsland die Versklavung freier Muslime bekanntermaßen üblich ist. Diese Meinung, die sich auf geschichtlich weit zurückliegende Präzedenzfälle stützen konnte, hat in Timbuktu offensichtlich erstmals der Qāḍī Maḥmūd vertreten. Der zweite auch für die Zukunft wirkungsmächtige Grundsatz, geht offenbar auf Maḫlūf b. ʿAlī aus Tabalbala zurück. Er besagt, dass der Status des Muslims nach ethnischer Zugehörigkeit festgestellt wird. Weder werden dazu Autoritäten zitiert, noch sind mir hierzu Vorbilder aus der Rechtsliteratur bekannt.

5. Die westliche Sahara und der marokkanische Sklavenbedarf Im Jahr 936/1529–1530 galt die westliche Sahara im südlichen Marokko offenbar tatsächlich als so etwas wie der „wilde Westen“, während man Timbuktu vom zivilisatorischen Niveau her ohne weiteres der islamischen Ökumene zurechnete – zurecht, denn in den Gebieten westlich von Timbuktu beginnt sich eine substantielle bodenständige Gelehrsamkeit, die diesen Namen verdient, erst sehr viel später auszubilden. Zu dieser Zeit werden dann, zumindest in Tīšīt (Tichit) und Walāta, die von Qāḍī Maḥmūd und Maḫlūf al-Balbālī vertretenen Prinzipien übernommen, und zwar scheint dies mit einer von den marokkanischen Sultanen ausgehenden verstärkten Aktivität beim illegalen Sklavenraub zusammenzuhängen. Um sich ein von den maßgeblichen gesellschaftlichen Kräften unabhängige Machtbasis zu verschaffen, hatte sich schon der Sultan Aḥmad al-Manṣūr (1578–1603), der Eroberer des Sonġai-Reiches, auf eine in der islamischen Welt seit den abbasidischen Türkengarden probates, wenngleich zweischneidiges Konzept besonnen: Er stellte ein Sklavenkorps auf. Auch Lokalpotentaten 43 Ausgangspunkt der Diskussionen ist meist Ḫalīl 183, Z 3: wa-in qālat anā mustauladatun lam taḥrum walākinnahū ʿaibun in raḍiya bihī baiyana. Das besagt, wenn eine verkaufte Sklavin behauptet, sie habe vom Vorbesitzer ein Kind, womit der Verkauf rechtswidrig wäre, so ist ihr selbst dann nicht zu glauben, wenn ein Zeuge ihre Behauptung bestätigt, und analog gilt das für Sklaven, die behaupten frei zu sein. Allerdings wird eine solche Behauptung als Mangel gewertet, der beim Weiterverkauf nicht verschwiegen werden darf.



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scheinen sich um diese Zeit mit Sklavengarden umgeben zu haben.44 Eine Beschaffung auf dem Markt erwies sich als zu kostspielig. Mit der Unterstellung, es handle sich um entsprungene Sklaven, wurden auf Befehl des Sultans daher alle freien Schwarzen Marokkos, derer man habhaft werden konnte, zwangsweise in diese Truppe eingereiht. Zur Legitimation dieser Maßnahme wandte sich der Herrscher brieflich an die Gelehrten Ägyptens, jedoch scheint sich deren Antwort nicht erhalten zu haben.45 Tatsächlich kann das Sklaventum rechtlich betrachtet nur durch einen aktiven, formalen Freilassungsakt aufgehoben werden, der bloß passive Verzicht auf die Ausübung der Eigentumsrechte genügt nicht.46 Die Involvierung auswärtiger Gutachter lässt auf Widerstände der lokalen Gelehrtenkreise immerhin schließen. Aktenkundig wurde eine solche Opposition, als dann der Sultan Maulāy Ismāʿīl (reg. 1672–1727) die Politik seines Vorgängers wieder aufnahm. Auch dieses Mal ließ der Herrscher unter der Prämisse, dass es freie Schwarze nicht geben könne, alle Dunkelhäutigen soweit als möglich für die neue Sklaventruppe zwangsrekrutieren. Der Widerstand der Gelehrten von Fās gegen dieses Vorgehen wurde mit brutaler Gewalt gebrochen.47 Auf Widerstand traf dieses Vorgehen aber nicht nur in Fās; denn anscheinend war der Sklavenbedarf für die Armee48 mit den geschilderten Methoden allein nicht zu decken. Die Folge waren Sklavenraubzüge zunächst in die Sahara und dann bis tief in den Sudan hinein, die auch nach dem Tod des Sultans noch bis in die 1770er Jahre andauerten. Vielfach wurden sie offenbar von irregulären Stammesmilizen der westsaharischen Araber durchgeführt.49 Die Opfer in den derart 44 Nach Abitbol, Maraboutism and State Formation 139 stellte der amīr von Tāzerwalt im Sūs-Tal zu eben dieser Zeit eine hauptsächlich aus schwarzen Sklaven bestehende Truppe auf. Nach Ennaji, Serving the Master 6–7 und passim diente eine Leibwache aus bewaffneten Sklaven jedem Angehörigen der Oberschicht, der sich das leisten konnte, als unerläßliches Statussymbol. 45 Hunwick, Law and Polemics 52–53. 46 Hier schlägt z. B. ein von Qaṣrī, Nawāzil (Rebstock, Sammlung Nr.  93), S.  87–89 begutachteter Fall über einen ausgesetzten Sklavensäugling ein, den jemand findet und sich aneignet, um damit ganz legal ein Eigentumsrecht zu begründen. 47 S. Batran, The ʿUlama of Fas, M. Ismaʿil and the Issue of the Haratin of Fas. 48 Nach vorsichtiger Abwägung der Quellenangaben, die hier Zahlen bis zu 150 000 nennen, schätzt Terrasse, Maroc II 257 die Stärke dieser Truppe auf 30 bis 50 000 eigentliche Soldaten. 49 Curtin, Economic Change 51; Robinson, Chiefs and Clerics 12; Gomez, Pragmatism 70; Hunwick, Law and Polemics 57.

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heimgesuchten Gebieten, für die der spanische Geograph Bakrī (gest. 487/1094) schon für den Beginn des 11. Jahrhunderts islamisierte Fürstentümer vermeldet,50 sind mit Sicherheit häufig, wenn nicht überwiegend freie Muslime gewesen. In Walāta und Tīšīt, wo sich inzwischen eine respektable bodenständige Gelehrsamkeit gebildet hatte, führte das dazu, dass man wie einst Sīdī Maḥmūd, der Qāḍī von Timbuktu, Maḫlūf b. ʿAlī aus Tabalbala und Aḥmad Bābā die Beweislast zugunsten der Sklaven verschob, die ihre Freiheit reklamierten. Vielleicht noch in Zusammenhang mit diesen Raubzügen wurde der Šarīf Muḥammadnā li-llāh (Muḥammad Naḍḍa) b. Aḥmad b. al-Imām Aḥmad51 um Auskunft gebeten, wie man bei ihre Freiheit reklamierenden Sklaven verfahren solle, da die Meinungen der Autoritäten hier hinsichtlich der Beweislast widersprüchlich seien.52 Gelte grundsätzlich entweder die Aussage des Eigentümers oder die des Sklaven? Oder gelte die Aussage des Sklaven nur in Zeiten, in denen die Versklavung Freier häufig vorkomme, wie das während der Rebellion des Ibn Ḥafṣūn53 der Fall gewesen sei? Der Šarīf antwortete, an die letzte der drei genannten Meinungen habe sich sein Lehrer und Onkel (ḫāl) Muḥammad b. Fāḍil aš-Šarīf54 gehalten, „als die marokkanischen Regierungstruppen unser Land als Stützpunkt benutzten, um von dort aus den Sudan zu unterwerfen“ (fī zamani stīlāʾi l-maḫāzinīyati ʿalā baladi s-sūdāni min arḍinā). Und es heißt weiter, der Onkel habe viele der damals widerrechtlich Versklavten befreit, wenngleich sich unser Gewährsmann über das Wie leider 50 Übers. bei Hopkins/Levtzion, Sources 77–78. 51 S. MLG, Nr. 515 und 779 (hinter beiden Einträgen steht dieselbe Person). Die genauen Lebensdaten sind nicht bekannt, aber der Mann gehört mit Sicherheit ins Tīšīt des 18. Jahrhunderts. 52 Vgl. Anm. 43. 53 Die Rebellion des muwallad gotischer Abstammung Ibn Ḥafṣūn, der sich jahrzehntelang bis zu seinem Tod im Jahr 918 in der südspanischen Festung Bobastro behaupten konnte und schließlich vom Islam abfiel, hat die spanische Geschichtsforschung immer wieder beschäftigt. Zusammenfassend s. Maribel Fierro, Questions, die sich dort S. 319–321 auch mit dem Problem der versklavten Freien befaßt. Die einschlägigen Stellen, wie sie in Wanšarīsīs Miʿyār eingegangen sind, untersucht Francisco Vidal Castro, Compraventa. Die während der Rebellion des Ibn Ḥafṣūn abgegebenen Rechtsmeinungen sind der wichtigste Präzedenzfall für die Beweislastumkehr von Freiheitsreklamanten unter bestimmten Umständen. Die Überlieferungswege der Zitate sind dabei unterschiedlich. Aḥmad Bābā etwa zitiert sie im Miʿrāğ (Ed. Hunwick/Harrak 27/57) – offenbar direkt – nach den Nawāzil des Ibn Sahl (gest. 486/1093 in Granada). 54 Dieser Šarīf aus Tīšīt starb 1160/1747, s. MLG 297.



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nicht äußert. Berufen aber habe der Onkel sich dabei auf Aḥmad Bābā, der nun in extenso zitiert wird.55 Ebenfalls u. a. auf Aḥmad Bābās Ḥāšiya stützt sich in diesem Zusammenhang der schon zitierte Walāter Gelehrte Ṭālib al-Bašīr (gest. 1197/1783) in einem einschlägigen Fatwā. Und er bestätigt die Aussage des Šarīfen Muḥammadnā li-llāh, dass dieser von Aḥmad Bābā vertretenen Meinung nicht nur die Rechtsprechung in Walāta traditionell folge, sondern auch die in Tīšīt „seit der Zeit des Šarīfen M. b. Fāḍil, als die marokkanischen Truppen (maḥālla) den Sudan unterwarfen.“56 Dass dies der Rechtsbrauch (ʿamal) des Landes sei, bestätigt noch einmal Qaṣrī (gest. 1235/1819) aus Walāta.57 Eine rechtliche Meinung für verbindlich zu erklären, ist das eine. Aber wie sah es in der Praxis aus, gerade in einer Gegend, wo es an staatlichen Strukturen gänzlich fehlte, also kein Machtapparat hinter dem stand, was zunächst so oder so nicht mehr als die private Meinung von Rechtsgelehrten darstellte? Soviel lässt sich immerhin sagen, dass die Haltung dieser Gelehrten nicht völlig wirkungslos geblieben ist. Wie der erwähnte Tīšīter Šarīf die vielen widerrechtlich versklavten Schwarzen in Freiheit setzte, wissen wir nicht, zumal es offenbar auch Idealisten gab, die für solche Zwecke ihren privaten Säckel öffneten: Von dem 1187/1772–1774 verstorbenen Gelehrten Sīdī Muḥammad b. al-Ḥāǧǧ ʿAbdallāh b. Abī Radda al-ʿAllūšī heißt es, er habe viele widerrechtlich versklavte Schwarze (aḥrār as-sūdān) gekauft und in Freiheit gesetzt.58 Es haben aber mit Sicherheit Sklaven auch als Ergebnis regulärer Gerichtsverfahren ihre Freiheit wiedererhalten. In welchem Ausmaß dies geschah, ist dagegen eine Frage, die sich aufgrund der Quellenlage nicht beantworten lässt. Ein Fatwā des Ṭālib al-Bašīr (gest. 1197/1783) aus Walāta setzt eine solche nach dem Kontext mit aller Wahrscheinlichkeit auf ein 55 Aš-Šarīf Muḥammadnā li-llāh (Muḥammad Naḍḍa) b. Aḥmad b. al-Imām Aḥmad, Nawāzil (Rebstock, Sammlung Nr. 384 A) S. 73, Z ‑3 bis 74, Z 14 mit ausführlicher Wiedergabe von Aḥmad Bābās Zitat der Nawāzil des Ibn Sahl (vgl. Anm. 53), aber hier nicht nach dem Miʿrāğ, sondern nach Aḥmad Bābās Ḥāšiya zum Muḫṭaṣar Ḫalīl, wo er dessen Worte lā ṣadāqa ḥurratin kommentiert (in der mir vorliegenden Druckausgabe von Ḫalīls Muḫtaṣar S. 229, Z 2). Dies gilt für alle mir aus der maurischen Sahara bekannten Aḥmad Bābā-­Zitate zum Thema. Sie beziehen sich, wo der Titel genannt wird, immer auf die Ḥāšiya, nie auf das Miʿrāğ. 56 Ṭālib al-Bašīr, Nawāzil (Rebstock, Sammlung Nr. 382), S. 266 in Fall 281. 57 Qaṣrī, Nawāzil (Rebstock, Sammlung Nr. 93), S. 443 in Fall 659. 58 Burtulī, Šakūr 133, Biogr. Nr. 119.

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Gerichtsverfahren zurückgehende In-Freiheit-Setzung eines widerrechtlich versklavten Schwarzen voraus. Der Wortlaut der Frage ist nicht bekannt, jedoch lässt sich der Fall aus der Antwort gut rekonstruieren: Eine Vermögensmasse, vielleicht ein Erbe, ist unter die einzelnen Mitglieder einer Teilhabergemeinschaft (šarika) aufgeteilt worden. Dabei war ein schwarzer Sklave mit zur Verteilung gekommen, der später erfolgreich seine Freiheit reklamierte. Deshalb ist die prinzipielle Rechtsfrage, die hier behandelt wird, ob der Besitzer dieses freigekommenen Sklaven durch die anderen Anteilseigner entschädigt werden muss. Dabei kommen aber auch viele Aspekte der widerrechtlichen Versklavung überhaupt zur Sprache, so dass dieses Fatwā des Ṭālib al-Bašīr eines der interessantesten im Rahmen unserer Problematik überhaupt ist.59 Einen wirklich authentischen Einblick bietet das auf Ende Ğumādā I (März 1819) datierte Gedächtnisprotokoll60 eines wenige Monate zuvor vermutlich in Walāta stattgehabten Gerichtsverfahrens: Ein gewisser ʿAbd al-Ḥaqq hatte in S-n-[…] von einem Tuwāter namens Muḥammad Lagṣīr einen Schwarzen gekauft, der nun seine Freiheit reklamierte. Auf Befragung des Richters hin stellte es sich heraus, dass der Mann ethnisch zu den Soninke gehörte, [Arabisch] lesen, beten und den Koran rezitieren konnte und zu einer Zeit verkauft wurde, als die widerrechtliche Versklavung von Freien üblich war. Der Mann war unter dem Namen Sālim verkauft worden, hieß aber, wie sich weiter herausstellte, Māma, Sohn des Māmi.61 Auf dieser Grundlage urteilte der Richter, dass der vermeintliche Sklave in Freiheit zu setzen sei, der gutgläubige Käufer aber den Verkäufer in Regreß nehmen dürfe. Drei weitere Männer beglaubigen dieses Urteil, wobei zwei davon die rechtlichen Grundlagen erläutern, d. h. die einschlägigen Autoritäten zitieren. Auch hier rangieren an prominenter Stelle die Ausführungen des spanischen Juristen Ibn Sahl, der aber nicht direkt, sondern nach dem Ḫalīl-Kommentar des Ḥaṭṭāb62 zitiert wird. 59 Ṭālib al-Bašīr, Nawāzil (Rebstock, Sammlung Nr. 382), S. 266, Z 14 bis S. 267, Z 4, Fall 286. 60 Rebstock, Sammlung Nr.  1760 (Kunnāš, Rasā‘il), S.  181–182 (ein beidseitig beschriebenes Blatt). 61 Zur Auslöschung der bisherigen Identität des Sklaven gehört die Umbenennung. Daher auch der Titel des eingangs genannten Romans von Aḥmadu wuld ʿAbd al-Qādir: al-Asmā‘ al-mutaġaiyira. Zum Namenswechsel bei einem neuen Eigentümer s. auch Ennaji, Serving the Master 35–36. 62 Gest. 954/1547. S. Aḥmad Bābā, Nail 337–338 auch zu seinem in der Westsahara häufig zitierten Ḫalīl-Kmt., der GAL S II 526–527 nicht aufgeführt ist.



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6. Religion, Volkszugehörigkeit und Rasse Außerdem war der Mann Soninke, das ist hier ebenfalls wichtig; denn seit man das – zumindest im afrikanischen Kontext – erstmals von Maḫlūf b. ʿAlī formulierte Prinzip in der westlichen Sahara rezipiert hatte, wonach die religiöse Zuordnung kollektiv nach Ethnie oder Sprachgemeinschaft erfolgt, erscheinen Soninke und Fulbe als Muslime und die Bambara als Ungläubige. Die erste mir bekannte Einteilung in diesem Sinne findet sich in einem Fatwā des Tīšīter Šarīfen Ḥimāllāh (Ḥmāḍḍa) b. Aḥmad b. al-Imām Aḥmad (1107/1695–1696 bis 1169/1755–1756),63 wir treffen sie bei Ṭālib al-Bašīr (gest. 1197/1783), der ihn zitiert, und auch bei Qaṣrī (gest. 1235/1819).64 Diese Methode mag die Einfachheit für sich haben, besonders zuverlässig ist sie nicht. Schon Aḥmad Bābā hatte die Frage des Marokkaners Īsī mit Stillschweigen übergehen müssen, ob nicht rechtmäßig versklavte Ungläubige oder deren Nachkommen soweit akkulturiert seien, dass sie vor Außenstehenden leicht die zu unrecht versklavten Angehörigen von als islamisch geltenden Ethnien spielen könnten.65 In den mir bekannten Stellungnahmen und Fragen ist dieses Problem, vielleicht wegen seiner Unlösbarkeit, nie wieder angesprochen worden. Wohl aber der andere Fall, dass Angehörige als islamisch eingestufter Völker ganz offensichtlich ungläubig waren. Bei Annahme der Kollektivprämisse blieb hier vom rechtlichen Standpunkt aus betrachtet nichts anderes übrig, als in solchen Leuten Abtrünnige (murtaddūn) zu sehen. Das dürfte teilweise eine rechtliche Fiktion gewesen sein, in anderen Fällen aber bekanntermaßen zugetroffen haben: Qaṣrī aus Walāta wurde gefragt, ob man jene Soninke und Fulbe versklaven dürfe, die sich hinsichtlich ihrer Religion, aber auch sonst seit vier Generationen an die heidnischen Bambara angepasst hätten?66 In der Antwort wird ein leider nicht genau identifizierbarer Qāḍī Abū Bakr al-Walātī 63 Das Fatwā zitiert zweimal komplett, einmal auch mit der dazugehörigen Frage Ṭālib al-Bašīr, Nawāzil (Rebstock, Sammlung Nr. 382), S. 260, Z 3–12 zu Fall 279 und S. 264, Z ‑5 bis Z ‑1 am Schluss von Fall 281. Zum Šarīfen Ḥimāllāh s. MLG, Nr. 338. Wie der oben erwähnte Šarīf Muḥammadnā li-llāh war er Schüler des Šarīfen Muḥammad b. Fāḍil, der zur Zeit der marokkanischen Sklavenjagden in Tīšīt die Beweislastumkehr zugunsten des Freiheitsreklamanten eingeführt hatte. 64 Qaṣrī, Nawāzil (Rebstock, Sammlung Nr. 93), S. 443 in Fall 659. 65 Aḥmad Bābā (ed. Hunwick/Harrak) 48–49/88–89. 66 Qaṣrī, Nawāzil (Rebstock, Sammlung Nr. 93), S. 454, Fall 673.

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zitiert, dem man dieselbe Frage, aber allgemein auf „die Schwarzen“ (sūdān) bezogen, gestellt hatte: Was sei mit denen, die (kollektiv) als Muslime eingestuft würden, de facto aber Ungläubige seien. Die Antwort ist hier, wie in allen mir bekannt gewordenen derartigen Fällen67, dieselbe: Jene Leute seien als Abtrünnige nicht versklavbar, heißt es, aber nicht nur das. Unter Berufung auf Ḫalīls wa-baqiya waladuhū musliman68 und andere Autoritäten soll sich nämlich der Status des Abtrünnigen ad infinitum weiter vererben: Einmal Muslim, immer Muslim, man kann den Islam nicht verlassen, auch die entferntesten Nachkommen nicht. Diese Interpretation ist indessen durchaus eigenwillig. In den von mir zu dieser Stelle konsultierten Ḫalīl-Kommentaren von Dardīr, Dasūqī, Ḫiršī, ʿAdawī und Mauwāq ist immer nur von den Kindern des Abtrünnigen die Rede, nie von den folgenden Generationen, und bei den Kindern ist die Meinung hinsichtlich derer geteilt, die erst nach dem Abfall der Eltern geboren wurden und inzwischen das Erwachsenenalter erreicht haben. Sie gelten nach einer Meinung als normale Ungläubige, was Vor- und Nachteile haben kann.69 Nach der maurischen Interpretation wäre es also entscheidend gewesen, zur richtigen Volkgruppe zu gehören. Dieses Prinzip stand aber im Gegensatz zu dem offenbar auch in Gelehrtenkreisen fest eingewurzelten Rassismus. In zwei seiner einschlägigen Gutachten prangert der schon mehrfach zitierte Walāter Ṭālib al-Bašīr dies mit aller Deutlichkeit an: Die Fulbe und Soninke sind gläubige Muslime, denen die Freiheit deshalb zwingend zusteht. Von der Freiheit ist bei ihnen als Normalzustand auszugehen, während das Sklaventum im Unglauben wurzelt, wie er bei den Bambara als Normazustand vorauszusetzen ist.70

Im folgenden wird ausgeführt, dass es genügt, das Glaubensbekenntnis auszusprechen, um Muslim zu sein. Dieses Kriterium erfüllten die Fulbe und Soninke. Es sei verboten, sie zu versklaven, denn die Freiheit ist ihnen genauso eingeboren wie den weißen Mauren (bīẓān). Sie sind hinsichtlich der Freiheit genauso wie die weißen Mau-

67 In den schon zitierten Fatwās des Šarīfen Ḥimāllāh und des Ṭālib al-Bašīr (s. Anm. 63). 68 Ḫalīl 283, Z ‑5. 69 DDI IV 305, HHA VIII 66, HM VIII 374. 70 Ṭālib al-Bašīr, Nawāzil (Rebstock, Sammlung Nr. 382), S. 263, Z ‑8 bis Z ‑7, in Fall 281.



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ren (bīẓān). Denjenigen Gelehrten71 (ṭalaba), die die Versklavung freier Schwarzer aber für erlaubt erklären, weil diese einer peniblen Glaubensprüfung nicht standhalten und beim Rezitieren des Korans Fehler machen, sollten einmal die tributpflichtigen Weißen (laḥma) und andere Gruppen aus der ungebildeten Masse der weißen Mauren (ʿawāmm min al-bīẓān) überprüfen. Sie werden bei diesen ähnliche und schlimmere Mängel feststellen. Dennoch erklären sie es gewohnheitsmäßig (ʿalā l-ʿurf) für erlaubt, die Schwarzen selbst wie auch deren Eigentum zu rauben, und sie bescheinigen den Kriegerstämmen (ʿarab), es sei erlaubt, sich [auf ihren Raubzügen] der Schwarzen zu bemächtigen, eben weil sie Schwarze sind. Zwischen schwarz und weiß aber steht nur die Hautfarbe, und die hat auf rechtlichem Gebiet nichts zu sagen, sondern hier zählt nur die Religion.72

Zur Bekräftigung wird auf die weißen christlichen Sklaven in der weiteren arabischen Welt verwiesen, denen ihre Hautfarbe schließlich auch nichts nütze. Ganz ähnlich äußert sich derselbe Gelehrte in einem anderen Fatwā: Dies aber ist merkwürdig, d. h. die Art und Weise, wie sowohl die Gelehrten dieses Landes als auch die ungebildete Masse einem Sklaven Glauben schenken, der seine Freiheit reklamiert. Denn wen sie als Schwarzen eingruppieren, der ist ein Sklave, würde er auch den Koran in seinen sieben Lesarten und die Mudauwana73 auswendig wissen. Reklamiert er nun seine Freiheit, so examinieren sie ihn und unterziehen ihn einer Befragung in Glaubensdingen. Macht er dabei einen Fehler, so verdammen sie ihn unerbittlich zum Sklaventum. Das aber ist verboten …74 Würde man die tributpflichtigen Weißen (laḥma) und überhaupt die ungebildete Masse der weißen Mauren (bīẓān) derartigen Befragungen in Glaubensdingen unterziehen, fände man bei ihnen manche Lücke. Dass sie deswegen versklavt werden könnten, erscheint ihnen jedoch undenkbar, weil sie eben weiße Mauren (bīẓān) sind. Der Schwarze an sich hingegen ist ein Sklave, 71 Schon in der Biographie des erwähnten Sīdī Muḥammad b. al-Ḥāğğ ʿAbdallāh b. Abī Radda al-ʿAllūšī wird gesagt, er habe widerrechtlich versklavte Schwarze von Kriegern (ʿarab) und Zawāyā losgekauft (vgl. o. Anm. 58). 72 Ibid. S. 264, Z 2–6. 73 Die von Saḥnūn (gest. 240/854) zusammengestellte Mudauwana ist das üblicherweise als umm al-maḏhab bezeichnete Grundlagenwerk der malikitischen Rechtsschule. 74 Es folgen Ausführungen, dass es genügt, die Worte der beiden šahādas auszusprechen, um als Muslim zu gelten. Nach Fierro, Questions 317–318 waren solche Prüfungen auch während der Rebellion von Ibn Ḥafṣūn üblich, um Muslime und Christen zu unterscheiden. Wer auf diese Weise nach Erstürmung einer Festung als Christ entlarvt wurde, war des Todes.

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und hätte er auch das gesamte Wissensgut unserer Rechtsschule verinnerlicht. Das entscheidende Kriterium ist ihrer Ansicht nach ausschließlich die schwarze und weiße Farbe, und danach ist der Schwarze ein Sklave, und würde er auch, Gottes Gewohnheit durchbrechend, auf der Meeresoberfläche wandeln. Der Weiße hingegen ist frei, mag er in den Dingen des Glaubens und der islamischen Religion auch noch so unbedarft sein. Diese Einstellung aber ist rechtlich ganz ohne Zweifel inakzeptabel. Ferner sind die Menschen von Natur aus frei und verfallen dem Sklaventum nur unter der Voraussetzung, dass sie als Ungläubige in Gefangenschaft geraten.75

6. Resümee Die schon zu Beginn des 16. Jahrhunderts vom Ober-Qāḍī Maḥmūd in Timbuktu wie auch von dem im Sudan vielgereisten Maḫlūf b. ʿAlī aus Tabalbala unter bestimmten Umständen vertretene Beweislastumkehr bei (schwarzen) Sklaven, die ihre Freiheit reklamieren, wird von Aḥmad Bābā knapp 100 Jahre später erneut bekräftigt. Und nach weiteren knapp 100 Jahren wird dieses Prinzip unter dem Eindruck der von der marokkanischen Regierung damals initiierten und forcierten Sklavenraubzüge auch in der westlichen Sahara, zumindest in den Städten Tīšīt (Tichit) und Walāta (Oualata) zur Grundlage der Rechtsprechung gemacht. Der wichtigste Präzedenzfall, auf den man sich dabei berief, waren von Anfang an einschlägige Gutachten spanischer Juristen aus der Zeit des Aufstandes von Ibn Ḥafṣūn im 9./10. Jahrhundert. Übernommen wurde auch der zweite, offensichtlich von Maḫlūf ohne Vorbild völlig neu ins Spiel gebrachte Grundsatz, die Entscheidung, wer Muslim sei, pauschal von der Volkszugehörigkeit abhängig zu machen, die nach uns freilich unbekannten Kriterien offenbar mit hinreichender Genauigkeit feststellbar war. Nach diesem Prinzip konnte theoretisch niemand versklavt werden, der zur „richtigen“ Ethnie gehörte, denn auch bei offenkundigem Unglauben galten er selbst wie auch seine Nachkommen immer noch als unversklavbare Renegaten. Umgekehrt konnte Zugehörigkeit zur falschen Völkerschaft für einen wirklich Gläubigen fatal sein. Pauschal als Muslime eingestuft werden in den mir bekannten maurischen Gutachten die Soninke und Fulbe, während die Bambara summarisch als Ungläubige gelten. 75 Ṭālib al-Bašīr, Nawāzil (Rebstock, Sammlung Nr. 382), S. 266, Z 22 bis S. 267, Z 1 in Fall 286.



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Diese Prinzipien wurden auch – in allerdings unbekanntem Ausmaß – in der Rechtsprechung angewendet. Auf der anderen Seite blieb aber der teils unterschwellige, teils offene Rassismus im Zusammenhang mit der Sklaverei lebendig und wirkungsmächtig, worunter im innermaurischen Kontext die Ḥarāṭīn und ansonsten die islamischen Sudanvölkerschaften zu leiden hatten.

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stattgehabten Gerichtsverfahrens: Der einer Körperverletzung zum Opfer gefallene Kläger muss seinen Status als Freier beweisen. Nr. 1760 (Kunnāš, Rasāʾil), S. 181–182 (ein beidseitig beschriebenes Blatt als vorletztes Blatt der Sammlung): Auf Ende Ğumādā I 1234 (März 1819) datiertes Protokoll eines in Walāta stattgehabten Gerichtsverfahrens, das mit In-Freiheit-Setzung eines widerrechtlich versklavten Soninke endete.

„Und schlagt sie …“ Über die Behandlung widerspenstiger maurischer Ehefrauen U. Rebstock Muslimischen Juristen blieb und bleibt wenig erspart. Dass sie sich auch mit der Widerspenstigkeit von Ehefrauen beschäftigen mussten, verlangt unmissverständlich der Vers 34 der Sure 4: „Und wenn ihr fürchtet, daß irgendwelche Frauen sich auflehnen [nušūz], dann vermahnt sie, meidet sie im Ehebett und schlagt sie! Wenn sie euch (daraufhin wieder) gehorchen, dann unternehmt (weiter) nichts gegen sie! Gott ist erhaben und groß.“1 Parets kongeniale Übersetzung von ‚nušūz‘ – eigentlich Hochheben, Höherstellen – mit ‚Auflehnung‘ kolportiert – vielleicht ungewollt – die inferiore Stellung der muslimischen Ehefrau. Doch steht sie in deutlichem Missverhältnis zu der anderslautenden Übersetzung des dazugehörenden Vers 128 der selben Sure: „Und wenn eine Frau (ihrerseits) fürchtet, dass ihr Mann ihr (dauernd) Schwierigkeiten macht [nušūz], oder ihr abgeneigt ist, ist es für die beiden keine Sünde, sich friedlich zu einigen. Es ist besser, sich friedlich zu einigen (als weiter im Unfrieden zu leben).“ Das grammatikalische Symbol dieser semantischen Schräglage von nušūz wird die ‚nāšiz‘, die sich Auflehnende, die Widerspenstige oder, juristisch ausgedrückt, die die ehelichen Pflichten Verletzende, ein Partizip Aktiv im natürlichen Feminin, auf deren nušūz sich die Rechtsexperten der formativen Periode des islamischen Rechts konzentrieren; der männliche nāšiz bleibt, abgesehen von theoretischen Erwägungen2, 1 Übersetzung der Koranverse nach Rudi Paret. Der Koran, Stuttgart: Kohlhammer 1979. 2 So von Nāfiʿ b. Ḥabīb b. az-Zāʾid (Fatwā Nr. 44), der den nušūz eines Ehemannes nicht als klaren Scheidungsgrund (ṣarīḥ aṭ-ṭalāq) wertet. Er schrieb ein Gedicht von al-Muḫtār b. al-Ḥabīb (st. 1391/1971–1972, MLG Nr. 2257) aus, gehört also in die 2. Hälfte des 20. Jh. Ibn Rušd (Kitāb al-Muqaddamāt, I–II, Beirut: Dār aṣ-Ṣādir, o. J., II, S. 430) erhebt in drei Zeilen zum männlichen nušūz die Versöh-

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außen vor. Als Unterparagraph von Heirat (nikāḥ) und Scheidung (ṭalāq, ḫulʿ ) wird nušūz zu einem Rechtsterminus ausgeformt, mit dessen Hilfe von nun an muslimische Juristen angehalten sind, in zerrüttete Ehen sanktionierend einzugreifen. Die folgenden Einblicke in die juristische Behandlung von Ehen, deren Zerrüttungsgrad die Stufe des nušūz erreicht hat, entstammen einer unveröffentlichten Sammlung von ca. 4800 maur(etan)ischen Fatwās aus den letzten fünf Jahrhunderten3. 32 davon befassen sich direkt mit nušūz und einschlägigen Detailfragen. Die dort erhaltene älteste lokale Stellungnahme geht auf den ostmaurischen Juristen ʿUmar b. Bāba al-Walātī (st. 1145/1732–1733)4 zurück, die jüngsten Einlassungen auf zeitgenössische Autoren. Aus der besonderen geographischen und literaturgeschichtlichen Randlage der maurischen Kultur, der die Entwicklung der maurischen regionalen Rechtstraditionen viele Eigenheiten verdankt, eröffnet dieser nušūz-Corpus die Möglichkeit zu beobachten, in welcher Weise die klassischen mālikitischen Rechtspositionen zu diesem Problem rezipiert und in einem emanzipatorischen Prozess umgesetzt bzw. den örtlichen gesellschaftlichen und rechtlichen Bedingen angepaßt wurden. Um die Lebendigkeit und Souveränität dieser Entwicklung wiederzugeben, konzentrieren sich meine Beobachtungen dabei ganz auf die Inhalte der zur Verfügung stehenden Fatwās. Die Identifikation der dort enthaltenen Zitatbelege wird ohnehin erschwert durch die äußerst dürftige Editionslage maurischer Rechtstexte. Überdies bewegen sich die maurischen Autoren bei Entlehnungen von ihren ‚Autoritäten‘ – in der Regel regionale Kommentatoren der Standardwerke von Saḥnūn, Ibn Rušd oder Ḫalīl b. Isḥāq – auf dünnem Eis. So berichtet ein gewisser Aḥmad al-Afram b. nung (ṣulḥ) zwischen den Ehepartnern zur Pflicht; erst nach Ausschöpfung aller Möglichkeiten obliegt dem Ehemann die Scheidung. Über männlichen nušūz wird noch im ḫulʿ-Paragraphen räsoniert: Darf der Ehemann für die Scheidung von seiner Frau Geld nehmen?, vgl. Saḥnūn, al-Mudauwana al-kubrā, I–IV, Kairo: Maṭbaʿat as-Saʿāda (o. J.), II, S. 335, Kitāb Irḫāʾ as-sutūr. 3 Yaḥyā wuld el-Barāʾ: al-Miʿyār [Arbeitstitel], Nouakchott 2005 [Kopie des Manuskriptkapitels in meinem Besitz]; Redaktion und Drucklegung des neunbändigen Werks ist Gegenstand eines laufenden, von der Gerda Henkel Stiftung geförderten Forschungsprojektes. Die hier zitierten Fatwās sind mit Nummern ausgezeichnet, die jenen der entstehenden Edition nicht entsprechen; sie werden aber mithilfe der dort beigegebenen Indices leicht zu identifizieren sein. 4 Näheres zu ihm (und allen weiteren maurischen Autoren) in Ulrich Rebstock: Maurische Literaturgeschichte (= MLG), I–III, Würzburg: Ergon Verlag 2001, Nr. 256.



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Muḥammad b. Hāhī al-Ğakanī (st. gegen 1934)5 von einer Anfrage, die sein Lehrer Aḥmad b. al-Muḫtār (st. um 1834)6 von dessen Kommilitone und Lehrer Sīdī ʿAbdallāh b. al-Ḥāğğ Ibrāhīm (st. 1233/1817–1818) zu einer diesem erinnerlichen Textpassage in ‚at-Tauḍīḥ‘, einem Kommentar des Ḫalīl b. Isḥāq al-Ğundī (st. 767/1366) zum Muḫtaṣar alfurūʿ von Ibn al-Ḥāğib (646/1249)7, bekam. Aḥmad b. al-Muḫtār leitete daraufhin die Anfrage an seinen Schüler weiter, mit dem Auftrag, die Passage zu identifizieren. Ratlos stellt Aḥmad al-Afram fest: Ich konsultierte [at-Tauḍīḥ ] tagelang, konnte aber die Stelle (…) nicht finden. Ich teilte dies Aḥmad b. al-Muḫtār mit und sagte, daß sie sich vielleicht in einer anderen Kopie finden ließe. Er aber antwortete: ‚Nein, sie alle zitieren nur aus dieser Kopie.‘ Ich weiß nicht, vielleicht war er nachlässig oder hat sich geirrt8.

Der zeitgenössische Jurist Muḥammad Fāl Abbah b. ʿAbdallāh al-ʿAlawī (geb. 1355/1936–1937)9 nimmt in Fatwā Nr. 45 diese Unsicherheit noch einmal auf und weist nicht nur darauf hin, daß Muḥammad b. Ḥankūš (st. 1273/1858–1859)10, ein weiterer Schüler von Sīdī ʿAbdallāh, sich in seinem Fatwā (Nr. 22) gleichfalls auf die von seinem Lehrer bemühte Stelle in at-Tauḍīḥ berief, sondern prüft die Richtigkeit des Zitats auch eigenhändig nach. Auch Muḥammad b. al-Ḥasan al-Yaʿqūbī (geb. 1357/1938)11 hat Nachweisprobleme: Er findet (Fatwā Nr.  46) das bekannte und berüchtigte Fatwā zur Nicht-Annullierung des Ehevertrags bei nušūz von Muḥammad al-Yadālī (st. 1166/1752–1753)12 nicht mehr. Das sind typische technische Defizite einer Lernkultur, in welcher wegen schlichten Büchermangels die ausschließlich textgestütz5 Die Angabe zu einem gleichnamigen Autor in MLG Nr. 1736 beruht auf der Auskunft eines Nachfahren; nach Auskunft von Yaḥyā b. al-Barrāʾ soll dieser („Aḥmad al-Afram w. M. al-Muḫtār w. Sīdī Aḥmad Bāba“) 1346/1927 gestorben sein. Das Fatwā suggeriert allerdings seine Zeitgenossenschaft zu Sīdī ʿAbdallāh b. al-Ḥāğğ Ibrāhīm (MLG Nr. 624). Weitere mündliche Nachforschungen ergaben, daß der andere, ältere Aḥmad al-Afram „Wuld M. al-Muḫtār w. Sīdī ʿAbdallāh w. al-Ḥāğğ (st. 1270/1853)“, der Autor des Fatwās, tatsächlich Schüler von Aḥmad b. al-Muḫtār war. 6 MLG Nr. 664. Beide studierten bei al-Muḥtār b. Būna (MLG Nr. 587). 7 GAL S I, S. 538; az-Ziriklī: al-Aʿlām, I-X, Beirut [o. O., o. J.], II, S. 364. Der in den Fatwās oft zitierte Ibn Šās (s. u. Fn. 74) schrieb dazu seine Ğawāhir. 8 Fatwā Nr. 19. 9 MLG Nr. 2545. 10 MLG Nr. 891. 11 MLG Nr. 2552. 12 MLG Nr. 334. Näheres dazu unten III a.

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te Aussagen-Legitimation nach Kompensation verlangt: Wo sich viele unterschiedlich an dieselbe Textpassage erinnern müssen, gedeiht die Meinungsvielfalt und zugleich die Bereitschaft, das Kriterium der Glaubwürdigkeit zu personalisieren. Die folgliche notwendige Selbstautorisierung der maurischen Gelehrten geht soweit, die Mißachtung oder Verspottung von Gelehrten – seinen Turban (ʿimāma) etwa als ‚Turbanchen‘ (ʿumaima) zu bezeichnen – als einen Fall von ridda (Glaubensabfall) zu sanktionieren (Fatwā Nr. 225). Ohne selbstständige Reflektion lässt sich aber die Konkurrenz um Reputation nicht gewinnen. So entsteht ein Diskussionsforum, in welchem das textgestützte Element zwar nach wie vor unverzichtbar ist, seine souveräne Einbettung in die Gedankenführung aber erst eigentlich zur Akzeptanz führt. Um die besonderen Varianten der Argumentation zu nušūz soll es im folgenden gehen.

I. Die Definition von nušūz In sieben Fatwās äußern sich die Autoren zur Definiton von nušūz. Alle beziehen sich direkt oder indirekt einmütig auf die grundlegende Formulierung Ḫalīl b. Isḥāqs: „[nāšiz ist], wer sich dem Gehorsam des Ehegatten entzieht durch Verweigerung des Geschlechtsverkehrs (waṭʾ) oder der ehelichen Zärtlichkeit (istimtāʿ) oder durch unerlaubtes Verlassen [der ehelichen Wohnung] – wenn sie nicht schwanger ist.“13 Einer der ersten maurischen Kommentatoren des Muḫtaṣar, Atfaġa b. Maḥamm b. Gabba (st. 1196/1782)14, bemühte sich schon um eine Präzisierung dieser Tatbestände: Gehorsamsverstoß (ḫurūğ ʿan ṭāʿatihī) sei auch ganz generell bei Mißachtung (ʿadam mubālātihā) des Ehemannes, bei Beleidigung mit Worten15 und beim Reden mit Fremden16 gegeben, und vor allem dann, wenn die Ehefrau von ihrem Gatten mehr als die 13 Muḥammad al-Amīn aš-Šinqīṭī: Šarḥ Ḫalīl b. Isḥāq al-Mālikī, I–VI [in 2. Bd.; o. O., o. J.] III, S. 117. 14 Fatwā Nr.  16. Es handelt sich wohl um Ašfaġa al-Ḫaṭṭāṭ al-Walātī (MLG Nr. 427). 15 M(a)ḥanḍ Bāba (st. 1277/1860–1, MLG Nr. 900), bedeutender Dichter und Qāḍī des Emirs von Trārza, unterstreicht diesen Punkt in Fatwā Nr.  25 mit einem Verweis auf Ibn Rušd (Muqaddamāt II, S. 428), der die Bedeutung der koranischen (4: 15 ff.) ‚unzüchtigen Frau’ (fāḥiša) mit nušūz und verbaler Beschimpfung gleichsetzte. 16 Muḥammad al-Ḥasan al-Ğakanī (st. 1954, MLG Nr.  2110) formuliert das in Fatwā Nr. 41 genauer: „wa-hiya mutabarriğa li l-ağānib“ (und sich für Fremde aufputzt).



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rechtlich zulässigen Zuwendungen einfordert und erzwingt. Sīdī ʿAbdallāh weist wenig später darauf hin, dass nur „fortgesetzte“ Gehorsamsverweigerung nušūz bedeute, und nicht nur „ein- oder zweimalige“.17 Sein Schüler, Muḥammad b. Ḥankūš begründet dies damit, dass gelegentlicher Ungehorsam nämlich zum Wesen (ṭabʿ) und zur Natur (ğibla) der Frau gehöre.18 Die Einschränkung Ḫalīls „wenn sie nicht schwanger ist“ wird zwar um die Stillzeit erweitert. Unkommentiert bleibt aber, ob sich diese Einschränkung auf jeden einzelnen der oben aufgezählten Tatbestände bezieht. al-Ḥāriṯ b. M(u)ḥanḍ aš-Šuqrawī (st. 1319/1901–1902), ein Schüler M(u)ḥanḍ Bābas19, stellt jedoch klar, dass jeder einzelne der aufgezählten Tatbestände nušūz bedeutet. Auffallend ist, dass keines der Fatwās die Diagnose eines tatsächlichen nušūz-Falles enthält. Das Verhältnis zwischen den Ehepartnern scheint erst durch die a posteriori-Behauptung des Ehemannes – oder die der Ehefrau (s. III d) – justiziabel zu werden. Nicht die Frage, ob nušūz vorliegt oder gar abgewendet werden kann, wird entschieden, sondern welche Handlungsspielräume der Beteiligten sich eröffnen und welche Sanktionen rechtmäßig sind.

II. Was tun? Prinzipiell ist nušūz ein unhaltbarer Zustand. Wer dessen bezichtigt wird, verliert – analog zum entlaufenen Sklaven und dem der Fürsorgepflicht für seine Eltern nicht nachkommenden Kind – sein Recht auf religiöse Pflichterfüllung: Ihr Gebet wird nicht anerkannt (ṣalātuhum ġairu maqbūla)20. Unmittelbar auf die einmal erhobene Behauptung des Ehemanns, seine Gattin sei eine nāšiz, folgt deshalb im Verfahrensablauf die auf Koran 4: 34–35 und 128 gegründete beidseitige Versöhnungspflicht (iṣlāḥ). Der bedingungslosen Rückkehr der Ehefrau ins Ehebett – eine nur rhetorische Figur, die den Fall beendet – steht die bedingte gegenüber. In beiden Fällen ist das Versöhnungsgebot zuerst privater, dann – falls unwirksam – öffentlicher Natur. Zu den privaten Versöhnungsmaßnahmen gehört die koranisch legitimierte Züchtigung (taʾdīb, ḍarb). 17 Fatwā Nr. 18. 18 Fatwa Nr. 22. 19 MLG Nr. 1312, s. auch Nr. 1327. Er vertrat in der Frage der legalen Verzehrbarkeit von Gummi arabicum (ʿilk) eine striktere Haltung als sein Lehrer. 20 So al-Ḥāriṯ b. Maḥanḍ aš-Šuqrawī in Fatwā Nr. 32.

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a) Private Versöhnungsmaßnahmen: Disziplinierung und Züchtigung Schon an-Nābiġa al-Ġallāwī (st. 1245/1829–1830)21 beschäftigt sich eingehender mit der Verabreichung von Schlägen. Er zitiert dazu eine Passage aus Miftāḥ al-kunūz fī ṭalāq an-nušūz von Muḥammad b. Muḥammad al-Wādānī (st. um 1245/1830)22, der sich auf eine Stelle in aš-Šāmil fī l-fiqh von ad-Damīrī (st. 856/1452), dem Stiefsohn Ḫalīls23, beruft, wo nach der Ermahnung der nāšiz, ihre Meidung (hağr) und erst dann, wenn dies alles nichts nützt, erlaubt wird, sie leicht (ġair maḫūf) zu schlagen – allerdings nur dann, wenn der Ehemann auch der Meinung ist, dass es nützt. An anderer Stelle präzisiert er diesen Gedanken: Zwar ist das Schlagen, das keinen Knochenbruch und keine Fleischwunde erzeugt, aber ohne Überzeugung vom Nutzeffekt erfolgt (ʿinda ʿadam ẓann al-ifāda), vom Gesetz nicht vorgesehen. Denn es ist ein Mittel, das zur Lösung des Falles eingesetzt werden soll; und ein Mittel, bei welchem die Überzeugung vom Nutzeffekt nicht vorherrscht, ist vom Gesetz nicht vorgesehen. Doch ist es angemessener als das, was vom Gesetz überhaupt nicht vorgesehen ist. Es ist doch allgemein bekannt, daß ein Schlag (lakza)24 oder ähnliches weniger schlimm ist (aḫaffu ḍararan) als ihre bedingte Verstoßung über ein Jahr oder mehr. Vielleicht verbliebe eine von ihnen sogar ein Leben lang in einem [solchen] Zustand, der sie dadurch, daß man sie darin beläßt, nur noch mehr zugrunderichtet.25

Andere berufen sich bei der näheren Bestimmung der unerlaubten Schläge auf die von Ibn Rušd, Ibn Ğuzaiy und Abū l-Ḥasan ʿAlī b. Aḥmad az-Zarwīlī (st. 1125h)26 benutzten Begriffe ‚schmerzhaft‘ (ġair mubarriḥ) und ‚verstümmelnd, entstellend‘ (muṯla). Maḥanḍ Bāba macht zudem ausdrücklich klar, dass eine Ehefrau, deren Gatte ohne Glauben an den Nutzeffekt sie wegen ihres nušūz nicht heftig (ġair 21 MLG Nr. 713; Fatwā Nr. 21, ausgestellt anlässlich der Scheidung der Ehefrau eines gewissen al-Muḫtār b. ʿAbba. Näheres dazu unten III. 22 Wahrscheinlich identisch mit MLG Nr. 715, der auch Nawāzil verfasste. Von einer in Mauretanien erhaltenen Kopie des Miftāḥ, vielzitierte Quelle in den hier besprochenen frühen Fatwās, ist mir nichts bekannt. 23 GAL S II, S. 100. 24 Nach M. Ullmann, Wörterbuch der klassischen arabischen Sprache (= WKAS), II, Teil 1, Wiesbaden: Harrassowitz 1983, s. v. lakaza, Schlagen, Stoßen, Boxen mit der Hand, Faust oder (verbal) mit etwas. Eine juristische Quelle ist nicht angeführt. 25 Fatwā Nr. 21. 26 Vgl. Ziriklī, Aʿlām, III, s. n.: az-Zarwīlī (st. 1125h).



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mubarriḥ) bzw. im Glauben an den Nutzen ihr muṯla-Schläge verabreicht, die Scheidung wegen Schädigung (lahā at-taṭlīq bi ḍ-ḍarar) verlangen kann. In Fatwā Nr. 34 stellt as-Sālik b. Bāba al-ʿAlawī (st. 1333/1914–5)27 fest, dass eine nāšiz, die mubarriḥ geschlagen wird, die Option (ḫiyār) zur Scheidung hat. Muḥammaddu b. al-Barrāʾ adDaimānī (st. 1362/1943)28 greift das aḫaff aḍ-ḍararain-Prinzip in einem anderen Kontext auf: Heiratet ein Ehemann, dessen nāšiz-Gattin ihm bei der Heirat die Monogamie zur Bedingung (šarṭ) gemacht hatte, ein Zweitfrau, dann bedeutet dies, da er sie damit (nur) disziplinieren (taʾdīb) möchte, den ‚kleineren Schaden‘ für sie, als wenn er sie prügelt. In wieder größer gefasstem Zusammenhang, dem ‚allgemeinen Zwang‘ (ikrāh), dem der Ehemann durch nušūz ausgesetzt ist, u. a. dadurch, dass die von ihm unerfüllbaren Geldforderungen seiner nāšiz-Gattin ihn mit Scham erfüllen und öffentlich bloßstellen könnten, stellt Ibrāhīm Abba al-Lamtūnī (st. 1380/1960–1)29 fest: „Es gibt keinen Zweifel darüber, dass die Schmerzen (īlām), die nušūz den Ehemännern zufügt, heftiger sind als Ohrfeigen (ṣafʿ) oder Schlagen.“ Diesseits des heftigen oder von entstellenden Folgen begleiteten Schlagens, ausgeführt im guten Glauben an seine Nützlichkeit, wird die körperliche Züchtigung der nāšiz-Ehefrau von keinem der FatwāAutoren in seiner Legitimität in Frage gestellt. Es rangiert im obligaten Versöhnungsverfahren hinter der Ermahnung und Meidung – der Bestrafung durch Enthaltsamkeit – als maximales und letztes privates legales Mittel des Ehemanns, seine Gattin zu maßregeln.30 Im Räsonieren darüber, wo denn die Grenze zwischen Disziplinierung und Körperverletzung liege, steckt zugleich ein Element der Machtlosigkeit des Ehemanns, dem unbotmäßigen Treiben seiner Gattin – sämtlich Spielarten der Gehorsamsaufkündigung, wie Verlassen der ehelichen Wohnung, Verweigerung des Geschlechtsverkehrs oder despektierliches Verhalten – ein Ende zu setzen. In der Spirale der privaten Maßnahmen zur Versöhnung, deren Pflichtigkeit (wuğūb) auf die rechtliche und menschliche Unerträglichkeit einer durch nušūz zerrütteten Ehe zurückgeht, verliert nun der Ehemann die Handlungshoheit. Er wird 27 MLG Nr. 1437. 28 MLG Nr. 1824, Fatwā Nr. 36, geschrieben am 31. 8. 1926. 29 MLG Nr. 2154; verfasste u. a. eine einschlägige Risālat ḥukm ḫulʿ an-nāšiz (ibid. t12). 30 Der süddeutsche Volksmund formuliert diese Mittelanwendung ganz unbeschwert: „Die rechte Liebe erst gedeiht * durch einen Schlag zur rechten Zeit.“

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dadurch zum Erfüllungsgehilfen des Versöhnungsverfahren, dass er zu den Forderungen seiner nāšiz-Gattin Stellung beziehen muss. b) Private Versöhnungsmaßnahmen: Ausgleichsleistungen Wie schon Atfaġa Maḥamm b. Gabba al-Ğakanī betont, gehört auch „das Fordern von mehr als ihr von Rechts wegen zusteht“ zum Tatbestand des nušūz der Ehefrau.31 Die Wortlaute der wenigen Fallschilderungen als auch die dazugehörigen juristischen Einlassungen sind nicht detailliert genug, um diese Phase der Zerrüttung bzw. Maßnahme der Versöhnung als lebendiges Szenario beschreiben zu können. Es handelt sich ganz offensichtlich um illegitime Forderungen der Ehefrau an ihren Gatten, die entweder zu nušūz oder, durch Erfüllung von Seiten des Ehemanns, zum Einlenken und zur ‚Rückkehr‘ (ruğūʿ) der nāšiz führen. Im Fatwā des langjährigen Qāḍīs von Trārza, Muḥammaḏin Fāl b. Muḥammad Fāl (st. 1384/1966–1967)32 findet sich jedoch ein deutlicher Hinweis auf die näheren Umstände: Ich habe Aḥmad b. Umbārik auferlegt, den Beweis zu erbringen, daß Maryam ihr Einverständnis [zur Rückkehr] nach dem, was geschehen war, verweigerte und es ablehnte, in die eheliche Wohnung zurückzukehren und die anderen [Dinge abzustellen], auf die der Zeuge seine Entscheidung auf nušūz gründete. Er aber ging auf Reisen und lies die Sache in der Schwebe. Mir bleibt nun noch zu ergründen, ob er die Güter (māl), mit denen er sie versöhnte (ṣālaḥahā), mit dem Unterhalt (nafaqa) und dem Kleidergeld (kiswa), zu denen er nach der Versöhnung verpflichtet ist, verrechnen kann. Ich gewähre ihm 13 Tage Aufschub.

Sīdī b. al-Muḫtār Ummu33 nennt sogar die Bezeichnung auf Ḥassānīya, dem lokalen Dialektarabisch, für die Güter, „ohne welches in diesem Land üblicherweise die Frauen nicht zu ihren Ehemännern zurückkehren (…) denn dies bedeutete eine Schande (maʿarra) für sie und ihre Familie“: al-marẓ. Nicht nur die Frauen der Araber, auch die der Zawāyā (Gelehrtenadel), der Znāga (i. e. ‚Ṣanhāğa‘), Mawālī und sogar die der Sklaven folgten diesem Brauch (ʿurf). Sīdī al-Muḫtār betont 31 Fatwa Nr. 16. Sein Autor, der in die zweite Hälfte des 18. Jh. gehört, ist in MLG nicht erfasst. 32 Fatwā Nr. 43. Der Autor (s. MLG Nr. 2215) war 56 Jahre lang Richter. 33 Fatwā Nr. 37. Der Autor (s. MLG Nr. 4636) lebte Mitte des 20. Jh. und verfasste unter anderem eine Nuqla fī l-ʿāda wa l-ʿurf.



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aber, da sich die Fragen dazu gehäuft hätten, ob denn diese Güter – es dürfte sich in der Regel um Kleinvieh (ġanam) oder Rinder (baqar) gehandelt haben – nicht ‚aus freien Stücken‘ (ʿan ṭaiyib nafs) und ohne Rechtsgrund ausgehändigt würden. Er weist dann zwar auf die normierende Wirkung des Gewohnheitsrechtes hin, präzisiert aber in einem anderen Fatwā (Nr. 37) seine persönliche Haltung dazu mit dem Grundsatz: „Das Gut eines Muslim ist nur aus freien Stücken zulässig“. Er beruft sich bei seiner Argumentation, dass in einer solchen Situation Nötigung oder Zwang (ikrāh) im Spiel ist, zuerst auf ein Zitat aus ad-Durra al-maknūna34: „Die Furcht vor dem Zorn des Ehepartners wird zum Zwang gezählt“, dann auf eine Stelle der Nawāzil alMiʿyār35: „Wenn der Ehemann sein Gut gewährt aus Furcht vor dem Groll (suḫṭ) seiner Gattin, dann wird das unter Zwang eingeordnet und er kann es zurückfordern, auf direkte oder indirekte Weise.“ Noch deutlicher hatte diese Haltung schon Muḥmmaḍin b. M(u)ḥanḍ Bāba (st. 1319/1901–1902)36 vertreten: Nichts, was der Ehefrau aus Selbstverpflichtung oder freiwillig gewährt wurde, sei es zur freien Verfügung, in Form von Übereignung oder von Geld, aus dem Wunsch heraus, daß sie ihre Verweigerung, ihren Ungehorsam (nušūz) oder Zorn aufgibt, obliegt ihrem Eheman; denn auf ihn trifft die Rechtsbestimmung des Genötigten (ḥukm al-mukrah) zu, und dem Genötigten obliegt nichts. So haben die Rechtskundigen dieses Landes gegutachtet, wie etwa Aḥmad b. al-ʿĀqil37 und [mein Vater] M(u) ḥanḍ Bāba b. Aʿbaid ad-Daimānī und andere. Aḥmad hat dies begründet mit einem Problem, das der Autor von al-Mudḫal 38 erwähnt hat: ‚Was der Ehefrau für das Aufbinden seiner Sarāwīl gewährt wird, muß sie ihm zurückgeben‘.

Die Formulierung ‚Aufbinden des Sirwāls‘ lässt wenig Spielraum für anmutige Auslegungen. Der Sirwāl (pl. sarāwīl), der als persische Unterhosen arabisiert wurde39, wurde in der Westsahara ausschließ34 Von Abū Zakarīyāʾ Yaḥyā al-Maġīlī (st. 883/1478, GAL II, S.  247), Sohn des Abū ʿImrān Mūsā al-Mazūnī (ibid.), dessen Nawāzil er kommentierte. 35 al-Wanšarīsīs Miʿyār (GAL S II, S. 348) war unter den maurischen Juristen recht bekannt, s. MLG Index. 36 Fatwā Nr. 31. MLG Nr. 1327, Schüler seines schon oben zitierten Vaters. 37 MLG Nr. 712: st. 1243/1828; Verfasser bekannter Fatāwā fiqhīya. Gemeint ist Fatwā Nr. 20. 38 In der Fatwā-Sammlung mehrfach zitiertes Werk des nordafrikanischen Mālikiten Ibn al-Ḥāğğ al-ʿAbdarī (st. 737/1336, GAL S II, S. 95). 39 Vgl. Yedida Stillman: Arab Dress. From the Dawn of Islam to Modern Times. A Short History. Leiden: Brill 2000, S. 10–11 und passim.

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lich von Männern und auf der Haut getragen. Aḥmad b. al-ʿĀqil, von dem das obige Zitat aus al-Mudḫal seinen Ausgang nimmt, benutzt die Metapher ganz nüchtern: „Der Brauch in einigen Ländern, dass die Gattin Dirhame für das Aufbinden seiner sarāwīl nimmt, ist eine verbotene Neuerung, die abgeschafft gehört.“40 Mit weiteren Textbelegen argumentiert er dahingehend, dass diese Art von erkauftem Liebesdienst unter die Kategorie Zwang (ikrāh) fällt, da damit dem Ehemann Schmerzen, wie beim Schlagen (ḍarb), zugefügt würden. Die Auseinandersetzungen zwischen den Ehepartnern um zusätzliche Leistungen finden in einer kritischen Phase der Zerrüttung statt. Eine bereits vollzogene temporäre Trennung – in der Regel der Rückzug der Ehefrau zu ihrer Familie, deren tatkräftige Unterstützung dabei die Gelehrten immer wieder kritisieren – soll damit zu einem versöhnlichen Abschluss gebracht werden. Die Leistungen des Ehemanns können neben materiellen Zugeständnissen auch darin bestehen, der im Laufe der Auseinandersetzung erhobenen ‚Bedingung‘ (šarṭ) der Ehefrau zuzustimmen. Diese Bedingung enthält die eidesstattliche Verpflichtung des Ehemanns zur Monogamie. Die feinsinnige Bemühung des ikrāh-Paragraphen offenbart eine gewisse Hilflosigkeit der Juristen gegenüber einer von in allen Schichten der maurischen Gesellschaft üblich gewordenen Bereitschaft der Ehefrau, ihre individuellen Ansprüche an den Ehemann mit Nachdruck einzufordern. Dabei geht es nicht nur um ‚Sex gegen Geld‘. Die Strategie der Ehefrau, um deren nušūz-Verhalten die Streitschlichtung in Form von Forderungen und Ausgleichsleistungen erfolgt, zielt – betrachtet man die weitere Fallentwicklung – ganz offensichtlich aufs Ganze, die rechtsgültige Trennung. c) Öffentliche Versöhnungsmaßnahmen Bei festgestelltem nušūz und gescheiterten privaten Versöhnungsmaßnahmen erhebt sich die Frage, wie der koranischen Versöhnungsvorschrift (4: 35): „… dann bestellt einen Schiedsrichter [ḥakam] aus seiner und einen aus ihrer Familie! Wenn die beiden sich aussöhnen wollen, wird Gott ihnen zu ihrem Zusammenleben Gelingen geben“, entsprochen werden kann. Auf das Versgebot wird üblicherweise kurz mit ‚al-ḥakamān‘ verwiesen. Über die Zusammensetzung dieses ‚Schiedsgerichts‘ herrscht keine Einigkeit. Von ‚Schiedsrichtern‘ (ḥukkām), 40 Fatwā Nr. 20.



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von zwei Schiedsrichtern oder ‚Rechtschaffenen‘ (ʿadalān)41, aber auch nur von einem, vom Qāḍī oder auch nur unbestimmt verbal von rāfaʿahā bzw. arfaʾahā (beide Stämme werden für ‚vor Gericht bringen‘, ‚Anklage erheben‘ benutzt) ist die Rede. al-Ḥāriṯ b. Maḥanḍ aš-Šuqrawī zitiert in Fatwā Nr. 32 aus ‚al-Ḥaṭṭāb‘ dazu folgende Stelle: Gemeint ist mit ‚und er konnte sie nicht zur Rückkehr bewegen‘, [die Frage, ob nun] der Ḥākim [bemüht werden muß] oder ob es genügt, nach ihr zu schicken, und sie sich dann weigert [einzulenken]. Abū ʿImrān42 sagte dazu: ‚Ich halte es für richtig, zu ihr zu sagen: ‚Entweder Du kehrst in Dein Haus zurück und bringst Deinen Gatten vor Gericht (tuḥākimī) und läßt ihm Gerechtigkeit widerfahren, oder Du verlierst Deinen Unterhalt, wegen der Unmöglichkeit in diesen Zeiten, die Rechtsbestimmungen und Gerechtigkeit [durchzusetzen].‘ al-Ğazūlī bemerkte zur Rechtsmeinung von Abū Muḥammad: ‚Ihr steht kein Unterhalt zu.‘ Das ist die herrschende Lehre (mašhūr). Es wird aber auch gesagt, er stehe ihr zu. Dies gilt für ein Land, in dem es keinen (Schieds‑)‌Richter (ḥakam) gibt. In einem Land aber, in dem es einen (Schieds‑)‌Richter gibt, steht er ihr zu; denn solange er sie nicht vor Gericht bringt (yurfiʿuhā), ist er ja einverstanden.

Hier steht zwar die nafaqa-Frage, auf die weiter unten eingegangen wird, im Vordergrund. Vorgeschaltet ist jedoch eine andere, die die maurischen Juristen ganz allgemein beschäftigte. Häufig findet sich der Hinweis auf die besonderen örtlichen Bedingungen. „In diesem wüsten Land“ (fī hāḏihī l-bilād as-sāʾiba), „in dem es an Richtern mangele“ (aš-šāʾiġa ʿan al-ḥukkām)43, fehlte nicht nur die richterliche Instanz, sie hatte sich – ihre örtliche Existenz einmal vorausgesetzt – auch mit einer anderen Autorität auseinanderzusetzen. Diese Auseinandersetzung ist Gegenstand eines ausführlichen Fatwās (Nr. 25) von Muḥammad an-Nābiġa44, der für sei41 Muḥammad Fāl (Fatwā Nr. 45) zitiert dazu Ibn ʿĀṣim (st. 829/1427, GAL S II, S. 375), wohl aus dessen in Mauretanien oft kommentierter und zitierter Tuḥfat al-ḥukkām (vgl. MLG III, Titelindex), zum Entsenden zweier Schiedsrichter: „Wenn sich zwei Rechtschaffene unter ihren Familien finden; wenn nicht, woanders her.“ 42 Wahrscheinlich nicht Abū Imrān Mūsā (s. o. Fn. 34), sondern Abū ʿImrān alFāsī (GAL S II, S.  961), zu dessen Kitāb ad-Dalāʾil wa l-aḍdād Muḥammad al-Māmī (st. 1282/1865–6, MLG Nr.  966, t1 und Anm.) das Lehrgedicht adDulfīnīya zu zakāt-Fragen im bilād as-sāʾiba verfasste. 43 Aḥmad b. M. al-Ḫarāšī in Fatwā Nr. 40 und Sīdī b. al-Muḫtār Ummu in Fatwā Nr. 37. 44 Fatwā Nr. 25 von M. an-Nābiġa al-Ġallāwī (st. 1245/1829–30, MLG Nr. 713).

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nen Lehrer, Muḥammad b. al-ʿĀqil45, in die Bresche sprang. Ibn al-ʿĀqil hatte sich geziert („Zum guten Islam des Mannes gehört, daß er unterläßt, was ihn nichts angeht“), sich der Streitfrage anzunehmen, ob man denn dem Urteil eines Gelehrten (ṭālib), das dem der ‚Gemeinschaft‘ (ğamāʿa) widerspricht, folgen solle. Er beruft sich mit seinem deutlichen ‚nein‘ auf eine Gründerfigur des maurischen qaḍāʾ, den Richter ʿAbdallāh al-Maḥğūbī aus Walāta46: „Demütigende Peitschen für denjenigen, der den Bruch von Rechtsurteilen der Gelehrten der Gemeinde vorhat.“ ʿAbdallāh legt die Latte für einen solchen ‚Bruch‘ (naqḍ) hoch. Wer sich – etwa auf Initiative einer der streitenden Parteien – mit seiner Rechtsmeinung gegen rechtskräftige Bestimmungen stellt, der muß über erhebliche Qualifikationen verfügen: Er muss fähig sein zur kritischen Prüfung (naẓar) der Rechtsbestimmungen, muss den Rang eines Qāḍī oder Muftī besitzen, muss mithin über die Beherrschung der Abwägung (tarğīḥ), der Kenntnis der Rechtsgrundlagen (uṣūl al-fiqh), des Arabischen, der Rechtsziele (maqāṣid), der Überlieferung und der Rechtsbeweise aus Qurān, Sunna, Konsens und Analogie den Rang eines ‚absoluten‘ oder schulinternen Muğtahid erreichen. Erst dann kann er sich kritisch mit einem bestehenden Urteil auseinandersetzen, nachdem es ihm die beiden streitenden Parteien oder der Qāḍī, der es ausgesprochen hat, vorgelegt haben. Mit den hochgesteckten Kriterien für ein legitimes Minderheitenvotum, das sich gegen die herrschende Lehre, gegen die informelle Mehrheitsmeinung der Gelehrten, der ğamāʿa, richtet, korrespondiert die elitäre Selbsteinschätzung der maurischen Gelehrten. Muḥammad Ṣāliḥ b. ʿAbdalwahhāb (st. 1271/1854–5)47 treibt diese notorische Selbsteinschätzung auf eine pikante Spitze. Er zitiert dazu aus den bekannten Nawāzil des Šarīf Ḥimāllāh (st. 1169/1755–6)48 die Aufforderung, die Beleidigung von Gelehrten (ʿālim) „in diesem wüsten Land ohne Imām“ mit 40 Peitschenhieben oder – alternativ – 80 Kamelen zu bestrafen. Kollegen aus dem Westen des Landes (qibla) würden Leute, die den Gelehrten nicht ehrten, sogar mit dem Blutgeld (diya) belegen. Vor diesem Hintergrund nimmt es nicht Wunder, dass die juristische Einmütigkeit im Versöhnungsprozess bei nušūz genau dann endet, 45 St. 1243/1827–1828, MLG Nr. 712. Er und an-Nābiġa standen bezeichnenderweise als Qāḍī in den Diensten des Emirs Aʿmar b. al-Muḫtār. 46 St. um 1037/1627, MLG Nr. 109. 47 Fatwā Nr. 180; MLG Nr. 883; er war selbst Qāḍī im Osten (Laʿyūn?) des Landes. 48 MLG Nr. 338, t1; der Autor vertrat die Auffassung, daß in einem bilād sāʾiba modifizierte Strafmethoden zur Anwendung kommen könnten.



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wenn die Versöhnungsmaßnahmen in die Hände einer öffentlichen Instanz gelegt werden müssen. Strukturell betrachtet beginnen an dieser Stelle die Meinungsverschiedenheiten (iḫtilāf). Sie erstrecken sich auf alle Konsequenzen des Verfahrens.

III. Rechtsfolgen bei nušūz Darf oder muss bei festgestelltem nušūz und gescheiterten Versöhnungsmaßnahmen (taʿaḏḏur al-iṣlāḥ) die Ehe geschieden werden? Noch einhellig wird die temporäre Trennung (taʿlīq) als Dauerlösung zurückgewiesen. an-Nābiġa beruft sich dazu auf eine Nāzila von Ibn al-Aʿmaš, in welcher der Fall einer Frau geschildert wird, die sieben Jahre lang „in Ungehorsam“ bei ihrer Familie lebte und von ihrem Mann die „Auslösung“ (fidya) forderte. Der aber beharrte darauf, dass sie doch rechtschaffen sei, und den Muslimen mit allen Kräften die Versöhnung obliege. Ibn al-Aʿmaš äußert sich unmissverständlich zu dieser Lage: Die Muslime dürfen die beiden nicht in dieser Sünde (maʿṣiya, iṯm) belassen. a) Scheidung (ṭalāq) Der Ehemann muss die Auslösung akzeptieren; wenn er dies nicht tut, muss die ğamāʿa die Scheidung (taṭlīq) vollziehen, „unabhängig von der Zuneigung eines von beiden“ (maḥabbat aḥadihimā).49 Dass hier nur die des Ehemannes gemeint sein kann, erschließt sich aus der Logik der Situation. Durch ihr nušūz-Verhalten, das in eine rechtlich wie ethisch unhaltbare Lage führt, versucht die Ehefrau, ihren Gatten zur Scheidung zu bewegen. In Auslegung des Grundsatzes von Ḫalīl („Die Scheidung der beiden wird durchgeführt, auch ohne Einverständnis der beiden Ehegatten“) erkennen die Kommentatoren auf alternativlose Scheidung und beziehen dabei auch den Richter mit ein: Auch wenn der ḥākim nicht einverstanden sein sollte, muss die Ehe geschieden werden. Maḥanḍ Bāba, der sich ebenfalls mit diesem Fatwā von Ibn al-Aʿmaš auseinandersetzt, weist jedoch auf zwei problematische Aspekte dieser Entscheidung hin. Zum einen sei eine ḫul ʿ-Scheidung – die offenbar als Lösung in Erwägung gezogen wurde – nicht akzeptabel und ohne erkennbare Präzedenz (ġair ẓāhir), da Nötigung 49 In Fatwā Nr. 21, zitiert aus Miftāḥ al-kunūz von al-Wādānī (s. o. Fn. 22).

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(ğabr) von einer der beiden Seiten nicht ausgeschlossen werden könne. Zum anderen gibt er50 zu Bedenken: Was gegen die Scheidung der nāšiz, sobald sich nušūz ergibt, spricht, ist, daß eine Tür geöffnet würde, die man nicht mehr schließen kann, würde man erlauben, daß die Ehefrau, wenn sie die Scheidung wünscht, nur ungehorsam sein müsse, so daß ihr Ehemann dann [zur Scheidung] gezwungen würde. Das würde eine Aufhebung (nasḫ) Seiner Rede: ‚Die Scheidung liegt in der Hand dessen, der den Schenkel hebt‘ [d. h. des Ehemanns] ohne rechtlichen Aufhebungsgrund bedeuten.

Die Bedenken richten sich gegen die Strategie der Ehefrau, eine Situation zu provozieren, in welcher die Unhaltbarkeit des Ehezustands – das Verhalten der nāšiz blockiert den Rechtsanspruch des Ehemannes an seine Frau sowie die Wiederverheiratung beider51 – mit der Aufrechterhaltung der Ehegewalt (milk an-nikāḥ) des Ehemannes konfligiert und mit dem Grundsatz, dass eine Scheidung nur dann rechtens ist, wenn ohne sie dem Ehemann alleine oder – was aber umstritten ist – auch beiden Ehepartnern ein Schaden (ḍarar) erwächst. In dem im maurischen Milieu weit verbreiteten Sonderfall des Bestehens einer Gültigkeitsbedingung der Ehe (šarṭ an-nikāḥ) – die Braut lässt sich von ihrem zukünftigen Gatten eine monogame Ehe beeiden – eröffnet sich ein grundsätzlicher Ausweg: Vor die Diskussion der eigentlichen Rechtsfolgen setzen die Juristen die Frage, ob denn nušūz nicht ohnehin diese Gültigkeitsbedingung der Ehe (šarṭ an-nikāḥ) hinfällig mache. aṭ-Ṭālib al-Bašir b. al-Ḥāğğ al-Īdailabī (st. 1197/1783)52 referiert dazu eine Meinungsverschiedenheit, die bis auf Muḥammad b. ʿAbdalkarīm al-Māġīlī (st. um 909/1504)53 zurückgeht. 50 Die Urheberschaft dieser Stelle in Fatwā Nr. 25 ist unklar. Nach einem längeren Zitat von Ibn Rušd wird die Argumentation mit einem unspezifischen „laḥiqa“ (es folgt) weitergeführt. Die Schenkel-Metapher soll sich, nach mündlicher Auskunft des Herausgebers der Fatāwā, auf männliche GV-Praktiken beziehen. 51 Die Situation besitzt eine gewisse Ähnlichkeit mit dem von B. Johansen in „Wahrheit und Geltungsanspruch: Zur Begründung und Begrenzung der Autorität des Qadi-Urteils im islamischen Recht“ [in: Settimane di Studio del Centro Italiano di Studi sull’alto Medioevo 44/2 (1997): La Giustizia Nell’alto Medioevo (secoli IX–XI), S. 975–1074, S. 1015 ff.] beschriebenen Konflikt zwischen dem forum internum und forum externum und dem darauf basierenden „kontrafaktischen Fehlurteil“. 52 Fatwā Nr. 17, MLG Nr. 430. 53 Vgl. dazu die ausführliche Biographie in John O. Hunwick: Sharīʾa in Songhay: the replies of al-Maghīlī to the questions of Askia al-Ḥajj Muḥammad, New York: Oxford University Press 1985, S. 29–42.



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Dessen Entscheidung auf Ungültigkeit (ibṭāl) der ‚Ehebedingung‘ wurde von al-Ḥabīb b. Aidda in einem gesonderten Fatwā bestätigt.54 Entschieden dagegen hatten sich aber schon so bekannte Gelehrte wie ʿUmar b. Bābā al-Walātī (st. 1145/1732)55 und der eigene Lehrer, Abū Bakr b. al-Ḥāğğ ʿĪsā al-Ġallāwī (st. 1146/1734)56, auf den auch al-Qaṣrī in seinen Nawāzil zurückgriff, ausgesprochen. Eine inhaltliche Begründung wird von aṭ-Ṭālib nicht mitgeliefert. Er bemerkt nur – mit einem kritischen Seitenhieb auf al-Maġīlī –, dass „die Gelehrten üblicherweise die Meinungen der ‚Späteren‘ (mutaʾaḫḫirūn) nur dann übernehmen würden, wenn sie auf solch sicheren Quellen wie etwa die Mudauwana gestützt seien“. Der zeitgenössische Jurist Muḥammad b. al-Ḥasan al-Yaʿqūbī (geb. 1357/1938)57 führt die Meinungsverschiedenheit in dieser Frage auf Muḥammad al-Yadālī (st. 1166/1752–3)58, der sich wie ʿUmar b. Bābā und Abū Bakr b. al-Ḥāğğ gegen die Annullierung der šarṭ an-nikāḥ ausgesprochen hatte, zurück. Er bemerkt weiter dazu, dass auch Maḥanḍ Bāba, der sich zuerst der Meinung von Ibn Aid(da) angeschlossen hatte, dann wieder die Position von Muḥammad al-Yadālī vertrat. Über die argumentativen Hintergründe dieser über zwei Jahrhunderte belegten Auseinandersetzung teilen die Fatwās nichts mit. In der Sache entzündet sie sich an der (passiven) Strategie der Ehefrau – in den Fatwās taucht nur das Verlassen der ehelichen Wohnstätte auf –, ihren Ehemann, der entgegen der ‚Heiratsbedingung‘ eine zweite Frau heiratet, durch ihren nušūz zur Scheidung zu bewegen. Šarṭ annikāḥ und nušūz, beides anerkannte mālikitische Rechtsparagraphen, kombinieren sich so in einer Gesellschaft, in welcher der traditionell starke verwandtschaftliche Rückhalt der Ehefrau der Eheautorität des Ehemannes enge Grenzen setzte, zu einem druckvollen Instrument. Auf der Scheidungsfolge für nušūz zu beharren, würde für den Ehemann einem Pyrrhussieg gleichkommen. Das Verhalten seiner stan54 In MLG Nr. 688 ist ein aṭ-Ṭālib al-Ḥabīb b. Īdlamīn al-Ğakanī mit seiner: Risāla fī buṭlān aš-šarṭ aufgeführt. Es dürfte sich hier aber um al-Faqīh Sīdī al-Amīn b. Aid(da) al-Ğakanī (MLG Nr. 323), einen Zeitgenossen von Muḥammad alYadālī (MLG Nr. 334, und siehe unten Fn. 58) handeln, dem wohl auch diese Risāla zugeschrieben werden muss. 55 MLG Nr. 256, Schüler von al-Ḥasan b. Aġbuddī (MLG Nr. 209). 56 MLG Nr. 257 und s. Nr. 430. 57 Fatwā Nr. 46, MLG Nr. 2552. 58 MLG Nr. 334. Das Fatwā al-Yadālīs, das sich bei Muḥammad Sālim b. Alummā (st. 1383/1963–4, MLG Nr.  2197) befunden haben soll, ist – so al-Yaʿqūbī – „nicht mehr zu finden“.

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desbewussten Ehefrau aber als nušūz deklarieren und damit implizit die ‚Heiratsbedingung‘ annullieren zu lassen, würde dagegen nicht nur die Scheidungsforderung der Ehefrau schwächen, sondern zugleich, gleichsam durch die Hintertür, die Rechtmäßigkeit der Polygamie stärken. Die Kontroverse wiederspiegelt einen Interessenskonflikt zwischen der Durchsetzung dieser islamischen Rechtsnorm und den frauen- und familienrechtlichen Besonderheiten der arabisch-maurischen Gesellschaft.59 Der Streit um die Rechtsfolgen erstreckt sich auch auf den Vollzug und die materiellen Konsequenzen einer Scheidung aufgrund nušūz. b) materielle Rechtsfolgen der nušūz-Scheidung Der Streit um nušūz kulminiert um die Frage, welche materiellen Folgen denn die letztliche Scheidung für die nāšiz-Ehefrau mitsichbringen. Ganz unmittelbar beschäftigen sich 8 Fatwās damit; in einigen wird der Punkt nur am Rande erörtert.60 Von der Scheidung betroffen werden können der Unterhalt (nafaqa), das ‚Kleidergeld‘ (kiswa), die Morgengabe (ṣadāq) und das Anrecht auf das gesetzliche Erbteil (mīrāṯ). Der Unterhalt und das ‚Kleidergeld‘ werden in der Regel zusammen behandelt. al-Ḥāriṯ b. Maḥanḍ aš-Šuqrawī, der sämtliche Entschädigungsleistungen des Ehemanns bestreitet, erwähnt jedoch (Fatwā Nr. 32) auch dazu eine Meinungsverschiedenheit aus der mālikitischen Schulliteratur:61 „Die Gelehrten sind unterschiedlicher Ansicht darüber, ob die Versorgung mit Kleidern Bestandteil des Unterhalts ist oder nicht. Die übereinstimmende Meinung aber ist, daß sie zum Unterhalt, der bestimmt ist als ‚Unterhalt der Ehefrauen‘, gehört.“ aš-Šuqrawī schließt daraus, dass „nach dem, was vorausgegangen ist, auch die Versorgung mit Kleidern bei nušūz entfällt.“ 59 Eine 2003 vorgelegte Untersuchung (Pierre Bonte: Evaluation du systeme culturel Mauritanien sous l’angle des problemes de developpement. Rapport final. Nouakchott, S. 127–131) belegt dies deutlich: Nur 4 % der arabophonen ­Frauen, gegenüber 33 %–55 % der nichtarabophonen, anerkennen die Polygamie; mit 27 %, gegenüber 10 %–21 %, ist bei ihnen auch die Scheidungsrate signifikant höher. 60 Etwa von Aṭfaġa Maḥamm, der in Nr. 16 bei nušūz auf sofortigen Wegfall des Unterhalts entscheidet. 61 Zitiert aus den „Iltizāmāt“ (Taḥrīr al-kalām fī masāʾil al-iltizām) von (Ibn) alḤaṭṭāb (st. 954/1547, GAL S II, S. 526: Ibn al-Ḥaṭṭāb).



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Der Erbanspruch muß allgemein und in besonderen Fällen, etwa wenn der nāšiz ihr Ehemann wegstirbt, berücksichtigt werden. Sīdī ʿAbdallāh b. al-Ḥāğğ Ibrāhīm (st. 1233/1817–1818)62 erwähnt dazu eine in Walāta, im Osten des Landes, zirkulierende Sondermeinung von al-Mašaḏḏālī (st. 866/1462)63, der der nāšiz-Ehefrau in diesem Falle ihr Erbteil zuspricht. „Von Sīdī al-Muḫtār“ (st. 1226/1811–1812)64, so setzt Sīdī ʿAbdallāh dagegen, „ liege ihm ein Blatt (waraqa) vor, in dem der sagt, dass eine deutliche Mehrheit der Mālikiten die Meinung vertrete, dass [der nāšiz] weder der Unterhalt, noch das Kleidergeld, die Brautgabe und das Erbe zustehe.“ Diese kategorische Haltung wird von einigen Juristen geteilt, darunter Aḥmad b. Muḥammad ʿAbdarraḥmān al-Ḫarāšī65 und Muḥammad al-Ḥasan b. al-Imām (st. 1954)66, die sich dabei allerdings beide auf die Nāzila von Sīdī ʿAbdallāh berufen. Aus dem Fatwā eines anderen jüngeren Juristen, Ibrāhīm b. Abāh b. Amānat Allāh (st. 1380/1960–1961)67, geht Näheres zu diesem ‚Blatt‘ von Sīdī al-Muḫtār hervor. Ibrāhīm weist nämlich darauf hin, dass unser Lehrer Sīdī al-Muḫtār Blätter mit Überlieferungen zusammengestellt habe, die beweisen, daß nušūz Nötigung ist und daß dem, der ihr unterliegt, nichts [an Zahlung] obliege, was sich aus der Scheidung ergibt, egal ob es sich dabei um eine Gegenleistung (ʿiwaḍ) handelt oder nicht. Muḥammad al-Ḫiḍr b. Māyābā (st. 1354/1935–6)68 verfaßte zwei Aufsätze mit dem Inhalt, daß der Unterhalt der nāšiz hinfällig sei und auch ihre Morgengabe, egal ob sie schon ausgehändigt worden ist oder nicht. Sīdī ʿAbdallāh Ibrāhīm schrieb dazu, daß ihr kein Erbteil (mīrāṯ) zustehe, wenn [der Ehemann] der nāšiz stirbt. Und ich sehe niemanden, der ein Fatwā verfaßt hätte, das diesen beiden Rechtsgelehrten widersprechen 62 Fatwā Nr. 18, Näheres und bibliographische Hinweise zu dieser zentralen Figur der maurischen Gelehrsamkeit des ausgehenden 18. Jh. in MLG Nr. 624. 63 Im Fatwā „al-M-š-d-ālī“ geschrieben. Er war mālikitischer Muftī in der westtunesischen Küstenstadt Biğāya und verfasste eine Glosse zur Mudauwana sowie ein Muḫtaṣar al-Bayān li-Ibn Rušd, s. Ziriklī: al-Aʿlām VII, S. 228. 64 aš-Šaiḫ Sīdī al-Muḫtār al-Kuntī, der wohl bedeutendste maurische QādirīyaGelehrte seiner Zeit (dazu MLG Nr. 552). 65 Fatwā Nr. 40; vielleicht identisch mit MLG Nr. 3181. 66 Fatwā Nr. 41, MLG Nr. 2110. 67 Fatwā Nr. 42, MLG Nr. 2154; bei dem Fatwā könnte es sich um Teile aus t12 handeln: Risāla fī ḥukm ḫalʿ an-nāšiz. Fatwā Nr. 40 von Aḥmad b. M al-Ḫarāšī betont ebenfalls diese Bedeutung von ikrāh. 68 MLG Nr. 1744; verfasste eine Qaṣīda (ibid. t20) zur Scheidung. Aus Furcht vor der französischen Kolonialpolitik emigrierte er – wohl um 1905 herum – nach Marokko, dann in den Ḥiğāz, wo er Muftī für mālikitisches Recht wurde.

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würde.69 Dagegen stimmt dies völlig überein mit dem, was die Rechtsgelehrten als Nötigung bezeichneten. Ḫalīl sagte: ‚Nötigung entsteht durch Furcht vor Schmerzhaftem.‘ Und er zählte darunter das Wegnehmen von Gütern. Es ist doch bekannt, daß die Zärtlichkeit (istimtāʿ) der Ehefrau eine Gegenleistung für die ihr als Morgengabe (mahr), Unterhalt oder Kleidergeld bezahlten Güter ist. Nušūz bedeutet in diesem Sinne das Wegnehmen von Gütern, ja es ist für den Einzelnen die schlimmste Form des Wegnehmens von Gütern. (…) Auch die Scham [der er ausgesetzt ist, wenn sie von ihm etwas verlangt, das er nicht erfüllen kann] ist Nötigung.

Die Vertreter dieser rigorosen Position, die der aufgrund von ‚Ungehorsam‘ geschiedenen Ehefrau sämtliche materiellen Ansprüche verweigern, berufen sich – immer unterstützt von älteren mālikitischen Autoritäten – auf zwei, manchmal auch gleichgesetzte70, Argumente: nušūz bedeutet Nötigung, und die Verweigerung von Intimitäten (imtināʿ) die Aufkündigung der Ehevertragsbedingungen. Das Fatwā von Sīdī ʿAbdallāh dient dafür als entscheidender Quellenverweis. Doch schon einer seiner Zeitgenossen, Muḥammad an-Nābiġa, äußert sich dazu zurückhaltender. Der Vorzug seiner und ähnlicher Argumentationen in anderen Fatwās liegt in der Differenzierung der einzelnen Rechtsfolgen. c) Besonderheiten der Unterhaltszahlung Die Einhelligkeit, mit der die Muftīs der nāšiz den Unterhalt absprechen, wird nur durch eine isolierte Bemerkung von aš-Šuqrawī (Fatwā Nr. 32) gestört. Wie schon zum Kleidergeld verweist er auch auf eine Meinungsverschiedenheit zum Unterhalt. Hier behauptet er sogar, niemanden gefunden zu haben, der den Wegfall des Unterhalts nach Feststellung von nušūz vertrete, außer Ibn Muttālī (st. 1287/1870–1871)71. Auch al-Ḥaṭṭāb habe dies nur für ‚die wegen ihrer Hurerei (sifāḥ) Bekannten‘ vorgesehen. „Vielleicht aber“, so der skeptische Autor, „müsse man einfach nochmals in den ‚Gesammelten Problemen‘ (almasāʾil al-malqūṭa) suchen, um dazu etwas zu finden.“ 69 Aus Fatwā Nr.  44 (s. u. III d), dessen Autor ein älterer Zeitgenosse Ibrāhīms war, spricht eine gänzlich andere Sprache. 70 In Fatwā Nr.  40: „Nušūz und imtināʿ sind Nötigung, wie es in ad-Durar almaknūna, in den Nawāzil von von Māzūnah, den Nawāzil von al-Qaṣrī, den Nawāzil von Ibn Muttālī und Mağmaʿ an–nawāzil steht.“ 71 MLG Nr. 952. Hier (Fatwā Nr. 32) wird auf seine in Verse gefasste nuqla zu alMudauwana al-muḫtaliṭa (?) verwiesen.



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an-Nābiġa72 beschäftigt die Situation einer schwangeren nāšiz. Er habe schon viele gesehen, die die Unterhaltszahlung an ihre (nāšiz‑) Ehefrauen eingestellt hätten, egal ob sie schwanger waren oder nicht, ohne dass sie dabei die „Heilung ihres Zornes“ beabsichtigt hätten. Er habe auch schon Frauen gesehen, die schwanger waren, ein Kind gebaren oder schon entwöhnt hatten, die von ihrem Ehemann keinerlei Unterhalt bekamen. Er habe den ganzen Schaden gesehen, der der Frau durch den Stopp der Unterhaltszahlung entsteht. Selbst wenn sie nāšiz wäre, würde dies nicht ihren Unterhalt annullieren. Der Kontext dieser Bedenken dürfte sich allerdings noch auf die Phase der Trennung vor der Scheidung beziehen. d) Morgengabe (ṣadāq) und Erbanspruch (irṯ) Sehr viel konkreter und präziser drückt sich Nāfiʿ b. Ḥabīb az-Zāʾid aus. In seinem Mitte des 20. Jh. verfassten Fatwā (Nr. 44) beantwortet er systematisch fünf an ihn gerichtete Fragen, darunter 1.: Steht der nāšiz, die die Ehe noch nicht vollzogen hat (qabla d-duḫūl), die Morgengabe, der Unterhalt, der Erbanspruch zu? Und 2.: Gehören Morgengabe und Erbanspruch insofern zusammen, als der Erbanspruch entfiele, wenn die Morgengabe entfällt? Die Beantwortung erfolgt dreiteilig. Im ersten Teil arbeitet der Autor einzeln die gestellten Fragen ab. Im zweiten Teil zitiert er in voller Länge die beiden Fatwās Nr. 22 und Nr. 23 von Muḥammad b. Ḥankūš, dem Lehrer Sīdī ʿAbdallāhs, in denen kategorisch jeglicher Anspruch der nāšiz zurückgewiesen wird. In den Worten von Ibn Ḥankūš zum Anspruch der Ehefrau auf ihre Morgengabe wird der merkantile Grundcharakter des Ehevertrags ganz deutlich: „Denn die Ehefrau ist die Verkäuferin ihrer (eigenen) Ware (bāʾiʿat silʿatihā), und wenn die Verkäuferin das Verkaufte verweigert, dann hat sie keinen Anspruch auf den Kaufpreis.“73 Im dritten und abschließenden Teil, einer Art Conclusio, wiederholt und begründet der Autor sein abweichendes Votum, nicht ohne mit den Worten Dritter auf die anerkannte Gelehrsamkeit Sīdī ʿAbdallāhs hinzuweisen und in Erwägung zu ziehen, dass „dieser sich in seinem Fatwā vielleicht nicht die ganze Bedeutung seiner Argumentation vor Augen geführt hätte“. Es fällt auf, dass 72 Fatwā Nr. 21. 73 Fawā Nr. 22.

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Nāfiʿ selbst nicht auf die Morgengabe zu sprechen kommt. Ihr Wegfall scheint somit auch für ihn außer Diskussion zu stehen, hätte er doch sonst auch diese Gelegenheit zur Kontroverse ergriffen. Dass er die nicht scheut, belegt seine unmissverständliche Haltung in beiden gestellten Fragen. Säuberlich zählt er zuerst die unbestrittenen Erbgründe (ʿiṣma, walāʾ, nasab) und die sieben (mālikitischen) Hinderungsgründe (mawāniʿ : kufr, šakk, riqq, liʿān, qatl, nasab az-zinā, ʿadam alistihlāl) auf. Da sich nušūz nicht darunter befinde, müsse die nāšiz wie jede andere Ehefrau behandelt werden. Dazu zitiert und interpretiert er Ibn Šās74 aus dem Kapitel der Ğawāhir zu den Zeugnissen (šahādāt): Wenn die Ehefrau behauptet, daß ihr Gatte sich definitiv (dreimalig) von ihr schied (batta), dafür aber keinen Beweis erbringt, der Gatte dann stirbt und sie von der Behauptung der definitiven Scheidung zurücktritt, indem sie sagt: ‚Ich sagte dies doch wegen meines nušūz !‘, dann beeidet sie damit, daß das, was sie zu der Behauptung der definitiven Scheidung getrieben hat, nur das nušūz sei. Folglich erbt sie. Dieser Text sagt deutlich, daß die nāšiz erbt. Er ist deshalb deutlich, weil sie letztlich ihr Eingeständnis (iqrār) des nušūz deutlich macht und für sich in Anspruch nimmt, mit ihrer Behauptung einer definitiven Scheidung gelogen zu haben. Die Intensität ihres nušūz leitete sie zur Lüge und trieb sie zu der lügenhaften Behauptung, daß ihr Gatte sie definitiv geschieden habe. Denn sie wollte von ihm loskommen und sei es auf verbotene Weise. Dies ist ein Hinweis auf die Intensität ihres nušūz.

Der Charme dieser Argumentation, für die Nāfiʿ gleich darauf auf ein prominentes Vorbild, den bekannten Šinqīṭer Qāḍī Muḥammad Fāl b. Muḥammaḏin (st. 1334/1915–1916)75 zurückgreift, überdeckt ihre ambivalenten Konsequenzen: Der ‚Ungehorsam‘ der Ehefrau birgt in sich einen Zeugnisdefekt, der sich einschränkend auf ihre volle Rechtsfähigkeit auswirkt und sich damit zu den eingangs erwähnten besonderen femininen Dispositionen gesellt. Andererseits relativiert diese Position entscheidend die Qualität des nušūz als Scheidungsrechtsgrund. Ohne anderweitigen Beweis kann die Ehefrau durch ihren ‚Ungehorsam‘ alleine keine Scheidung erzwingen. Dies bleibt das Privileg des Ehemannes, den das Gesetz nur dann, wenn die ‚Schädigung‘ (ḍarar) der Ehe alleine von ihm oder nach Befinden der beiden Schiedsrichter anteilig von beiden Ehepartnern ausgeht, zur Scheidung zwingt. 74 ʿAbdallāh b. Muḥammad (st. 616/1319), ägyptischer Mālikit und Autor des in diesen Fatwās oft zitierten Ğawāhir, s. GAL S I, S. 538, und Ziriklī: al-Aʿlām IV, S. 269. 75 MLG Nr. 1432.



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Mit der Abwertung des nušūz als Scheidungsgrund geht aber zugleich die Wahrung der materiellen Interessen der nāšiz-Ehefrau einher. Wie ihr Anspruch auf irṯ wird auch der auf ihre Einbehaltung der Morgengabe losgelöst vom Delikt des nušūz behandelt. Wie bei der Nichtnāšiz entscheidet darüber zuerst die Gültigkeit des Ehevertrags, dann – in Abhängigkeit von der expliziten Benennung (tasmiya) der Höhe der Morgengabe – der Zeitpunkt des Streitfalls: Hat der Ehemann bereits die Ehe vollzogen, ist er mittlerweile gestorben oder schied er sich von seiner Ehefrau vor der Errichtung eines gemeinsamen Ehehaushalts – jede dieser Situationen begründet jeweils eine andere Regelung. Einzig die vorzeitige Scheidung oder das Ableben des Ehemanns vor dem Ehevollzug ohne explizite Festlegung der Morgengabe lassen die Ehefrau – sei sie nāšiz oder nicht – leer ausgehen.76 Auch die Beantwortung der zweiten Frage richtet sich gegen die unspezifische Behandlung der Rechtsfolgen des nušūz. Nāfiʿ unterscheidet vier Fälle, in denen auf jeweils unterschiedliche Weise der Erbanspruch und Anspruch auf Einbehaltung der Morgengabe zusammenfallen, zusammen entfallen, oder ein Anspruch den anderen ausschließt. Das Spezifische (ḫuṣūṣ) und das Allgemeine (ʿumūm) der beiden Regelungen verhalte sich eben in Abhängigkeit der vier unterschiedenen Fälle unterschiedlich zueinander. Nur im Falle des vorzeitigen Ablebens des Ehemanns kongruiere der Wegfall des einen mit dem Wegfall des anderen Anspruchs. „Und durch all dies“, so rekapituliert Nāfiʿ nach weiteren Ausführungen im letzten Teil, wird die Beweisführung von aš-Šaiḫ Muḥammad b. Ḥankūš für den Wegfall der Morgengabe und dem Junktim (iltizām bainahumā) zwischen beiden der nāšiz hinfällig. (…) Wir bewiesen die Ungültigkeit der Behauptung eines Junktims mit gesicherten Beispielen der Aussagen von Leuten (unserer) Rechtsschule in zuverlässigen Büchern.

IV. Schluss Die Beschäftigung mit nušūz im maurischen Milieu geht nachweislich bis in die Mitte des 17. Jh. zurück.77 Sie bleibt von Beginn an eingebunden in außermaurische mālikitische Referenzliteratur, entwickelt sich 76 Nāfiʿ folgt damit im Großen und Ganzen den detaillierten Ausführungen Ibn Rušds (Muqaddamāt II, S. 415–429) zur nāšiz. 77 Das älteste erhaltene Traktat dazu stammt von Ibn al-Aʿmaš (s. MLG Nr. 174, t17 und Index).

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nachhaltig, und verzweigt sich in eine lebendige Kontroverse. Man las nicht nur die ‚Älteren‘, sondern überprüfte auch deren Referenzen, um gegebenenfalls die herkömmliche Meinung zu kritisieren und die eigene, davon abweichende, zu begründen. Regelrechte und langlebige Schultraditionen lassen sich erkennen. Die Vehemenz, mit der diese traditionellen Meinungen vorgetragen, mitunter gegen den eigenen „Šaiḫunā“ verteidigt und selbstständig argumentativ weiterentwickelt werden, zeugt vom hohen Selbstbewusstsein der maurischen Fuqahāʾ. Dabei dürften jedoch auch die Brisanz des Themas und der notorische Hinweis auf das „bilād as-sāʾiba“ eine Rolle gespielt habe. Die großzügige Auslegung der klassischen nušūz-Kriterien,78 die wiederholten Verweise auf die Charaktereigenschaften der maurischen Frauen und die gleichzeitige Betonung der recht- und richterlosen Zeiten fügen sich zu einem ernsthaften Motiv, Rechtsklarheit zu schaffen, zusammen. Dass sich dabei signifikante Meinungsunterschiede herausbildeten, nimmt nicht Wunder. Das zentrumslose Lehrnetzwerk und die segmentären Stammesstrukturen leisteten dazu Vorschub. Aus den Fatwās lässt sich somit weitaus mehr als eine gelehrte juristische Spiegelfechterei rekonstruieren. Sie bewahren die Details der Bemühungen einer über Jahrhunderte ‚geschlossenen Gesellschaft‘, eine niemals vereinheitlichte mālikitische Rechtsnorm auf eine soziale Wirklichkeit abzubilden, die dieser Norm weder entsprach noch sie dauerhaft durchsetzen konnte.

78 Muḥammad al-Ḥasan b. al-Imām al-Ğakanī (st. 1954, MLG Nr.  2110, Fatwā Nr. 41) geht soweit zu diagnostizieren, dass „jemand, auf den diese Beschreibung passt [d. h.: ḫarağat bi-ġair iḏan], keinen Verstand (ʿaql) besitze.“

Konversion und Konfession Die Reproduktion konfessioneller Gegensätze im frühen Bagdad B. Jokisch Der frühe Islam zeigt bekanntlich eine besondere Vielfalt an Gruppen, Zirkeln und Bewegungen unterschiedlicher ideologischer Ausrichtung. Mangels einer für alle oder viele Muslime verbindlichen Instanz – wie etwa dem christlichen Papsttum – ist die konzeptionelle Heterogenität im Prinzip ein bis heute prägendes Merkmal des Islam geblieben. Dennoch ist nicht zu leugnen, dass sich mit dem Sunnismus und dem Imamismus (Zwölfer-Šīʿa) zwei islamische Hauptströmungen herausbildeten, die in politischen, theologischen und rechtlichen Fragen jeweils charakteristische Positionen vertreten und sich damit als zwei große Konfessionen1 des Islam mehr oder weniger unversöhnlich gegenüberstehen.2 Spätestens im 9. und 10. Jahrhundert, als der Prozess der Selbst- und Fremddarstellung, etwa in Form häresiographischer Schriften, konkretere Formen annimmt, werden bewusst feindliche Wahrnehmungen der jeweils anderen Seite manifest. Die sich verstärkende gegenseitige Abgrenzung bis hin zur expliziten Ausgrenzung der anderen Gruppe als nicht-islamisch hat zweifellos innerislamische Ursachen, die in ihrer Gesamtheit noch gar nicht erforscht sind. Darüber hinaus – und dies soll hier als Hypothese formuliert werden – dürfte der sunnitisch-schiitische Antagonismus aber auch in einem parallelen, konfessionellen Konflikt außerhalb des Islam 1 Der Konfessionsbegriff geht eigentlich auf das Christentum des 19. Jahrhunderts zurück (G. Feige, Art. Konfession, Lexikon für Theologie und Kirche, 6/226), lässt sich aber – und wird üblicherweise auch – im weiteren Sinne auf entsprechende Phänomene in anderen Religionen übertragen. 2 Die Gegensätze bestehen bis heute und ließen sich auch trotz vereinzelter Annäherungsbemühungen nicht aufheben (R. Brunner, Annäherung und Distanz. Schia, Azhar und die islamische Ökumene im 20. Jahrhundert, Berlin 1996, 296–299).

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begründet sein, der auf den Islam überging und dort in einer spezifisch islamischen Ausprägung fortlebte. Dies wäre ein Beispiel dafür, dass innerreligiöse Konflikte und daraus resultierende Feindbilder über kulturelle und religiöse Grenzen hinweg reproduzierbar sind und insoweit im inneren Kontext der rezipierenden Religion lediglich ein Konstrukt darstellen. Entgegen einer weit verbreiteten Auffassung3 in der Islamwissenschaft wird hier von der These ausgegangen, dass die Grenzen zwischen dem Islam und den benachbarten Religionen und Kulturen stets äußerst fließend waren und folglich nicht alle Phänomene des Islam aus dem Islam selbst heraus zu erklären sind.4 Das gilt auch, so die Annahme, für die Entstehung konfessioneller Gruppen im Bagdad des 9. Jahrhunderts. Es ist mittlerweile unumstritten, dass massenhafte Übertritte zum Islam nicht unmittelbar nach den arabischen Eroberungen einsetzten, sondern erst 100–150 Jahre später5, als der Prozess der sprachlichen und kulturellen Assimilation weit fortgeschritten war6 und der Islam somit an Fremdheit verloren hatte. Zusätzliche Faktoren wie sozialer Status, berufliche Karriere, steuerliche Benachteiligung oder andere Diskriminierungen7 führten dazu, dass die Konversionskurve im ʿIrāq Ende des 8. Jahrhunderts exponentiell anstieg und Muslime zum ersten Mal die Mehrheit im eigenen Lande bilde3 Die jüngste Bestätigung dieser Auffassung, die die islamische Kulturoriginalität betont und daher die Methode des Kulturvergleichs skeptisch sieht, findet sich bei M. Schöller, Methode und Wahrheit in der Islamwissenschaft. Prolegomena, Wiesbaden 2000, 24–38. 4 Zu einem ähnlichen, auf andere Kulturen bezogenen, Ansatz siehe S. Conrad/S. Randeria, ‚Einleitung: Geteilte Geschichten – Europa in einer postkolonialen Welt‘, in: S. Conrad/S. Randeria (Hg.), Jenseits des Eurozentrismus. Postkoloniale Perspektiven in den Geschichts- und Kulturwissenschaften, Frankfurt a. M./New York 2002, 9–49; S. Subrahmanyam, ‚Connected histories: notes towards a reconfiguration of early modern Eurasia‘, Modern Asian Studies 31 (1997), 735–762. 5 Bedeutsame Dimensionen nahm die Konversion zum Islam erst im 9. Jahrhundert an (R. Bulliet, ‚Conversion to Islam and the emergence of a Muslim society in Iran‘, in: N. Levtzion (Hg.), Conversion to Islam, New York 1979, 31. 6 In jener Zeit wurde das Arabische z. B. für die im Kalifat lebenden orthodoxen Christen zur Erstsprache (N. Levtzion, ‚Conversion to Islam in Syria and Palestine and the survival of Christian communities‘, in: M. Gevers et al. [Hg.], Conversion and continuity. Indigenous Christian communities in Islamic lands eighth to eighteenth centuries, Toronto 1990, 302–303. 7 Die von al-Mutawakkil verordnete, für Juden und Christen gültige Kleiderregelung, die die Religionszugehörigkeit öffentlich erkennbar machen sollte (siehe dazu H. Kennedy, Art. Al-Mutawakkil, EI², VII, 778) mag den Konversionsdruck zusätzlich erhöht haben.



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ten. Konvertiten zeigten dabei die Neigung, theologische Konzepte8, ja ganze soziale Strukturen9, in die neue Religion hineinzutragen. Im folgenden sollen die Bezüge der Sunniten in ihrer radikalen (Hanbaliten) und gemäßigten (Šāfiʿiten) Form sowie der Imamiten (Zwölfer-Šīʿa) zu entsprechenden Gruppierungen im Christentum jener Zeit näher dargelegt werden. Es soll aufgezeigt werden, dass Konvertiten „kompatible“ Plattformen im Islam schufen, die dann für spätere Konvertiten derselben konfessionellen Provinienz eine bevorzugte Heimstätte bildeten.

Sunnismus Im 9. Jahrhundert erscheint zum ersten Mal der Begriff ahl as-sunna waʾl-ğamāʿa,10 der sich auf alle frommen und rechtgläubigen Muslime bezieht und vor allem das Bekenntnis zur Unerschaffenheit des Qurʾān impliziert. An eben dieser Frage hatte sich Ende des 8. Jahrhunderts einer der bedeutendsten theologischen Konflikte der islamischen Geschichte entzündet. Im Jahre 833, als Maʾmūn die Erschaffenheit des Qurʾān per Edikt zur Staatsdoktrin erhob, erreichten die Auseinandersetzungen einen neuen Höhepunkt und es kam zu einer dramatischen Polarisierung der islamischen Gesellschaft im ganzen Kalifat. Die z. T. gewaltsame Konfrontation der Lager ging als die vierte Fitna bzw. als Miḥna in die islamische Geschichte ein. Wie sich aus den Edikten selbst, aber auch aus den Opferlisten der Miḥna ergibt, richtete sich die staatliche Kampagne gegen die Traditionalisten,11 allen voran Aḥmad b. Ḥanbal (st. 854), der schon bald zur Gallionsfigur der traditionalistischen Opposition erhöht wurde und dem auch die hanbalitische Rechtsschule ihren Namen verdankt. Bis heute sind die Ursachen des Konflikts umstritten und insbesondere die Fixierung auf den Erschaf8 Ganz offensichtlich gibt es eine Verbindung zwischen Konversion und der Entstehung islamischer Sekten (M. Morony, ‚The age of conversion: A reassessment‘, in: M. Gevers et al. [Hg.], Conversion and continuity. Indigenous Christian communities in Islamic lands eighth to eighteenth centuries, Toronto 1990, 140. 9 R. Bulliet, Conversion to Islam in the Medieval period, Cambridge 1979, 36. 10 Der Hanbalite Ġulām Ḫalīl (st. 888) wendet sich in seinem Kitāb Šarḥ as-Sunna ausdrücklich an die ahl as-sunna wa’l-ğamāʿa (M. Jarrar/S. Günther, ‚Ġulām Ḫalīl und das Kitāb šarḥ as-Sunna. Erste Ergebnisse einer Studie zum Konservatismus hanbalitischer Färbung im Islam des 3./9. Jahrhunderts‘, ZDMG 153 [2003], 12). 11 J. Nawas, al-Ma’mūn: Miḥna and caliphate, Nijmegen 1992, 67, 75.

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fenheitsaspekt gibt Rätsel auf, zumal der Begriff maḫlūq (erschaffen) noch nicht einmal im Qurʾān vorkommt. Sieht man diese Entwicklungen im Zusammenhang mit parallelen Vorgängen in Byzanz, erscheint die Frage in einem anderen Licht. Zur gleichen Zeit tobte in Byzanz der ikonoklastische Konflikt und eines der Hauptargumente der Bilderstürmer – die Erschaffenheit des Bildes – korreliert auf frappierende Weise mit der Erschaffenheitsdoktrin im Kalifat. Von Anfang an hatte der ikonoklastische Konflikt sowie der diesem vorausgehende monotheletische Konflikt eine Entsprechung im Islam.12 Während die äußerst traditionalistische Bewegung der Dyo­ theleten und ihre Gegenbewegung der Monotheleten in Form jeweils der Qadariten und Murğiiten auf den Islam überschwappten, gab das gegen die Dyotheleten und damit auch gegen die Qadariten gerichtete ikonoklastische Edikt von Yazīd II. den Auftakt zum byzantinischen Ikonoklasmus. Die erste Phase des byzantinischen Ikonoklasmus korreliert mit einer Welle bilderfeindlicher Traditionen13 im Kalifat und wird Ende des 8. Jahrhunderts durch eine kürzere Phase der staatlichen Orthodoxie abgelöst. Während der letzteren Phase wendet sich auch die kalifale Regierung unter Hārūn ar-Rašīd einer orthodoxen Politik zu, indem sie die Traditionalisten auf besondere Weise fördert und hoffähig macht.14 Aber statt das Bilderverbot aufzuheben – was eine direkte Parallele zum Politikwechsel in Konstantinopel, aber angesichts der zahlreichen ikonoklastischen Traditionen im Islam unmöglich gewesen wäre – rekurrierte die Regierung in Bagdad auf jene Instanz, die bereits im orthodoxen Christentum die logische Alternative zum Bild darstellte: die Hl. Schrift.15 Das Ende des 8. Jahrhunderts markiert den 12 Zur Parallelität dieser Entwicklungen siehe B. Jokisch, Islamic imperial law. Hārūn al-Rashīd‘s codification project, New York/Berlin 2007, 443 ff. 13 Eine Übersicht über diese Traditionen gibt D. v. Reenen, ‚The Bilderverbot, a new survey,‘ Der Islam 67 (1990), 27–77. 14 M. Madelung, Art. Shīʿa, EI², IX, 424; T. El-Hibri, Reinterpreting Islamic historiography. Hārūn al-Rashīd and the narrative of the ʿAbbāsid caliphate, Cambridge 1999, 22; M. Hodgson, The venture of Islam. Conscience and history in a world civilization, Bd.  1, Chicago 1974, 294. Zum neuen orthodoxen Konformismus unter Rašīd siehe auch M. Chokr, Zandaqa et zindiqs en Islam au second siècle de l’hégire, Damaskus 1993, 249. 15 H. Maguire, Art and eloquence in Byzantium, Princeton 1994, 9–10; P. Alexander, The Patriarch Nicephoros of Constantinople. Ecclesiastical policy and image worship in the Byzantine empire, Oxford 1958, 38; H. Menges, Die Bilderlehre des hl. Johannes von Damaskus, Münster 1937, 169–70; H.-J. Schulz, ‚Die Ausformung der Orthodoxie im byzantinischen Reich‘, in: W. Nyssen (Hg.), Handbuch der Ostkirchenkunde, Bd. 1, Düsseldorf 1984, 77.



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Beginn einer intensiven Qurʾān-Verehrung, die es vorher in der Form nicht gegeben hatte. Vieles spricht dafür, dass die kalifale Regierung nicht erst mit Maʾmūn die Haltung gegenüber der Erschaffenheitsfrage änderte, sondern dass bereits Rašīd es war, der bald nach dem Putsch in Byzanz durch den ikonoklastischen General Nikephoros (reg. 802– 811) eine erneute politisch-theologische Kehrtwende einleitete und die Erschaffenheitsdoktrin zumindest duldete. Inwieweit im Einzelnen die Ḫalq al-Qurʾān-Doktrin Anfang des 9. Jahrhunderts entwickelt war, lässt sich schwer sagen. Sicher ist aber, dass vor allem der muslimische Theologe Bišr al-Marīsī (st. 833), dem eine gewisse Vertrautheit mit griechischen Schriften nachgesagt wird,16 mit dieser Doktrin in Verbindung steht. Auch wenn muslimische Gelehrte die Lehre auf Ğahm b. Ṣafwān (st. 746) zurückführen17 – weshalb die Lehre als Ğahmismus bezeichnet wird – so kann Bišr al-Marīsī doch als der eigentliche Begründer der ğahmitischen Lehre gelten. Ende des 8. Jahrhunderts und nochmals in der Regierungszeit des Ibrāhīm b. al-Mahdī geriet er mit seiner Lehre unter den Beschuss der Traditionalisten.18 In den 20er-Jahren erscheint er dann im engeren Zirkel des Maʾmūn, sodass ihm ein erheblicher Einfluss bei der staatlichen Sanktionierung der Lehre im Jahre 833 zugeschrieben werden muss. Darüber hinaus kann es aber auch direkte Impulse aus Byzanz gegeben haben wie etwa der offizielle Besuch des ikonoklastischen Chefideologen Johannes Grammatikos in Bagdad im Jahre 829.19 Die Edikte des Maʾmūn markieren den Beginn einer landesweiten, staatlichen Repression gegen die Traditionalisten. Weniger als drei Monate nach dem ersten Edikt Maʾmūn’s erlässt Theophilos, ein inniger Bewunderer Rašīd’s, ein gleichermaßen repressives Edikt gegen Mönche und ikonophile Staatsbeamte.20 Die Kontrolle und Durchführung der Säuberungsaktionen oblag jeweils dem Patriarchen in Konstantinopel – seit 837 Johannes Grammatikos – und dem Oberrichter in Bagdad – seit 833 Ibn Abī Duʾād. Um das Kalifat vor einer weiteren ikonophilen Infiltration zu schützen, ließ Ibn Abī Duʾād alle aus Byzanz kommenden muslimischen Gefangenen 16 M. Watt, Art. Djahmiyya, EI², II, 388a. 17 W. Madelung, ‚The origins of the controversy concerning the creation of the Koran‘, in: ders., (Variorum) Religious schools and sects in medieval Islam, London 1985, 505, Fn. 2. 18 M. Watt, Art. Djahmiyya, EI², II, 388a. 19 Zu diesem Staatsbesuch siehe J. Rosser, ‚John the Grammarian‘s embassy to Baghdad and the recall of Manuel‘, Byzantinoslavica 37 (1976), 168–171. 20 G. Ostrogorsky, Geschichte des byzantinischen Staates, München 1963, 173.

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bezüglich der Erschaffenheitsfrage überprüfen.21 Innerhalb des Kalifats beschränkte sich die Inquisition interessanterweise auf herausragende Traditionarier und Staatsbeamte. Sowohl in Byzanz als auch im Kalifat endete die Repressionsphase mit dem offiziellen Widerruf der jeweiligen Staatsdoktrin und der baldigen Absetzung der Chefinquisitoren.22 Vor diesem Hintergrund lässt sich wohl auch die wundersame Nachricht interpretieren, dass der Kalif Mutawakkil, der die endgültige Wende zur Orthodoxie einleitete, dem Jesus-Bild eine besondere Hochachtung entgegenbrachte.23 Nähere Einzelheiten zur Halq al-Qurʾān-Doktrin finden sich in den Edikten des Maʾmūn,24 in denen folgende Elemente in enger Verknüpfung auftreten: 1)  Einheit Gottes (tawḥīd; wörtl.: Vereinigung) 2)  Transzendentalismus und 3)  Erschaffenheit des Qurʾān. All diese Elemente entpuppen sich in analoger Gestalt als wesentliche Elemente der ikonoklastischen Doktrin in Byzanz. Im Horos des 1. ikonoklastischen Konzils von 754, Grundlage der Bilderlehre des 2. ikonoklastischen Konzils von 815, wird die Einheit (ἕνωσις; wörtl.: Vereinigung) Gottes besonders betont.25 Nach Auffassung der Ikonoklasten wird die eine Einheit bildende Trinität durch die Verehrung des Jesus-Bildes zur Quaternität erweitert und dadurch die in der Dreifaltigkeit bestehende Einheit Gottes aufgehoben. Zugleich impliziert das strenge Einheitsprinzip das Freisein Gottes von jeglichen menschlichen Eigenschaften, sodass Gott in eine gänzlich transzendentale Ebene entrückt. Der Anthropomorphismus der Ikonodulen wird strikt abgelehnt. Die Bilder, so die weitere Argumentation,26 sind das Produkt menschlicher Erschaffung (κτίσμα) und können daher nicht Gegenstand der Vereh21 Al-Masʿūdī, Abū‘l-Ḥasan ʿAlī at-Tanbīh wa‘l-išrāf, ed. ʿAbdallāh Ismāʿīl aṣṢāwī, Bagdad 1938, 162. 22 Die Wende in Byzanz erfolgte im Jahre 843, während es im Kalifat noch ca. sechs Jahre bis zur Beendigung der Miḥna dauerte. Aber unmittelbar nach der öffentlichen Widerrufung des Ikonoklasmus in Konstantinopel kam es in Bagdad zu gewaltsamen Übergriffen von Ḫalq al-Qurʾān-Gegnern auf Ğahmiten wie den Richter Šuʿayb b. Sahl (al-Ḫaṭīb al-Baġdādī Tārīḫ Baġdād, Kairo 1931, 9/243). 23 M. Cooperson ‚The ʿAbbāsid trials: Aḥmad b. Ḥanbal and Ḥunayn b. Isḥāq‘, al-Qanṭara 22 (2001) 380. 24 Siehe aṭ-Ṭabarī, Abū Ğaʿfar Aḥmad b. Muḥammad Tārīḫ ar-rusul wa’l-mulūk, M. de Goeje, Leiden 1879–1898, III, 1112 ff. 25 T. Krannich et al., Die ikonoklastische Synode von Hiereia 754. Einleitung, Text, Übersetzung und Kommentar ihres Horos, nebst einem Beitrag zur Epistula ad Constantiam des Eusebius von Cäsaria, Tübingen 2002, 36–37, 40–41, 62–63. 26 T. Krannich, Die ikonoklastische Synode, 34–35, 40–41, 50–51, 52–53.



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rung sein. Es ist nun bemerkenswert, dass die Muslime die Frage des tawḥīd ausgerechnet in jener Zeit und innerhalb des Islam diskutierten. Ein Stein des Anstoßes war diese Frage bis dahin lediglich in Bezug auf das Trinitätsprinzip im Christentum sowie andere, als polytheistisch eingestufte Religionen gewesen. Noch bemerkenswerter ist es aber, dass sie die Frage direkt mit dem speziellen Aspekt der göttlichen Attribute sowie dem eigentümlichen Kriterium der Erschaffenheit der Hl. Schrift verknüpften, die für die Bilderverehrer – wie angedeutet – die logische Alternative zum Bild darstellte. Nach der offiziellen Verwerfung der Erschaffenheitsdoktrin nahm die islamische Orthodoxie in Form des Sunnismus27 konkretere Züge an und gab sich, wie oben dargelegt, die spezielle Bezeichnung ahl assunna wʾal-ğamāʿa. Während westliche Experten das Element ğamāʿa (= Gemeinschaft) mit dem verwandten Terminus iğmāʿ (= Konsensus) in Verbindung bringen28, ließe der Begriff sich einfacher und plausibler als eine arabische Übersetzung von ecclesia apostolica et catolica interpretieren. Genau jene Bewegung der Bilderverehrer, die sich parallel zu den Sunniten der Staatsdoktrin widersetzte und am Ende als Orthodoxie triumphierte, trug diese seit dem Konzil von 787 zum Schlagwort avancierte Bezeichnung.29 Dabei ist zu berücksichtigen, dass jedes einzelne Element des christlichen Begriffes eine ziemlich genaue Entsprechung im arabischen Pendant hat: ahl/ecclesia – sunna/ apostolica30 – wa/et – ğamāʿa/catolica. Sogar der analoge, aber weniger gebräuchliche Begriff ahl al-ʿaqd wa‘l-ḥall (wörtl.: Leute des Bindens und Lösens)31 ist dem orthodoxen Christentum in einer griechischen Version bekannt. Weitere, eng mit der islamischen Orthodoxie zusammenhängende Begriffe wie fitna (Bürgerkrieg),32 miḥna (Heimsu27 Die Sunniten, die gegenüber den Schiiten und anderen islamischen Sekten die große Mehrheit bilden, betrachten sich als die Gemeinschaft der Rechtgläubigen (J. Sourdel, Art. Sunnisme, Dictionaire historique de l’Islam, Paris 1996, 775). 28 L. Gardet, Art. Djamāʿa, EI² II, 411. 29 M.-F. Auzepy, ‚Manifestations de la propagande en faveur de l’orthodoxie‘, in: L. Brubaker et al. (Hg.), Byzantium in the ninth century: Dead or alive?, Aldershot 1998, 91; P. Alexander, ‚The iconoclastic council of the St. Sophia (815) and its definition (Horos)‘, Dumbarton Oaks Papers 7 (1953), 45. 30 Apostolica steht für apostolische Tradition ebenso wie sunna für die prophetische Tradition steht. 31 Zur Bedeutungsverwandtschaft der beiden Begriffe siehe L. Gardet, Art. Djamāʿa, EI² II, 411. 32 Der koranische Begriff fitna (wörtl.: Verführung) erhielt im 7. Jh. die zusätzliche Bedeutung von „Bürgerkrieg“ (A. Sirri, Religiös-politische Argumentation

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chung),33 ʿaqīda (Glaubensbekenntnis)34 oder bidʿa (Neuerung)35 korrelieren ebenfalls mit zentralen Begriffen des damaligen orthodoxen Christentums.36 Zu bemerken ist hier, dass die Begriffe fitna und ʿaqīda Übersetzungen der griechischen Termini in ihrer Grundbedeutung sind, während sie gleichzeitig die spezifische, von der Grundbedeutung abgehobene Zweitbedeutung annehmen. Besondere Erwähnung verdient der für den Sunnismus zentrale Begriff ġayr maḫlūq (nicht erschaffen), der das Gegenstück zum maḫlūq-Begriff der Ğahmiten bildete und im Laufe des 9. Jahrhunderts in Umlauf kam. Auch dieser Terminus hat mit ἀχειροποίητος (= nicht von Menschenhand gemacht) eine griechische, im orthodoxen Christentum wohl bekannte Entspreim frühen Islam (610–685). Der Begriff Fitna: Bedeutung und Funktion, Frankfurt a. M. 1990, 138–139; L. Gardet, Art. Fitna, EI², II, 931b. 33 M. Hinds, Art. Miḥna, EI², VII, 2. 34 M. Watt, Art. ʿAqīda, EI², I, 332–336. 35 Der Begriff bidʿa, der in Q. 6: 101 in der Form von badīʿ (= Schöpfer) auf Gott selbst bezogen wird, erhält sehr bald eine negative Konnotation (B. Lewis, ‚Some observations on the significance of heresy in the history of Islam‘, Studia Islamica 1 [1953], 52) und erscheint als Gegensatz zum Sunna-Begriff (M. Gronke, ‚„Alles Neue ist ein Irrweg.“ Zum mittelalterlichen arabischen Schrifttum über religiöse Mißbräuche‘, in: R. Brunner et al. (Hg.), Islamstudien ohne Ende. Festschrift für W. Ende, Würzburg 2002, 135; D. Macdonalds, Art. Bidʿa, EI², I, 742). 36 Der Begriff σκάνδαλον (wörtl.: Verführung) bezieht sich wie fitna auf politischtheologisch motivierte Unruhen, die teilweise sogar gleichzeitig stattfanden. Zu Fällen dieser Art siehe P. Speck, ‚Bilder und Bilderstreit‘, in: M. Brandt/A. Effenberger (Hg.), Byzanz. Die Macht der Bilder, Hildesheim 1998, 60; G. Dagron, ‚Kirche und Staat – Von der Mitte des 9. bis zum Ende des 10. Jahrhunderts‘, in: ders. et al. (Hg.), Bischöfe, Mönche und Kaiser (642–1054), Freiburg i. Br. 1993, 212; P. Alexander, The Patriarch Nicephoros, 84; Maximus Confessor, Relatio Motionis, Patrologia Graeca 99/111. Das griechische Gegenstück von miḥna bildet πάϑος (Leiden, Unheil), das seit dem frühen Christentum mit dem Märthyrer assoziiert wird (F. Murphy, Art. Passio, New Catholic Encyclopaedia 10/1052) und im 9. und 10. Jahrhundert besonders in der Hagiographie thematisiert wurde (H.-G. Beck, Kirche und theologische Literatur, 506). Der Begriff συμβολή (Glaubensbekenntnis, wörtl.: Bund, Vertrag – siehe dazu M. Vinzenz, Art. Symbolum Lexikon für Theologie und Kirche, 9/1164–1165) korreliert mit ʿaqīda (der unmittelbar verwandte Begriff ʿaqd bedeutet „Vertrag“). Bidʿa (Neuerung) findet in dem ebenfalls negativ behafteten Begriff νεωτερισμός oder καινοτομία seine Entsprechung (zu diesen Begriffen siehe Y. Congar, Tradition und die Traditionen, Mainz 1965, 136; J. Pelikan, ‚„Council or father or scipture“: The concept of authority in the theology of Maximus Confessor‘, in: D. Neiman et al. (Hg.), The heritage of the early Church. In honor of G. Florovsky, Rom 1973 = Orientalia Christiana Analecta 195 [1973], 286).



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chung.37 Einige der Darstellungen Jesu galten unter den damaligen Bilderverehrern als „nicht erschaffen“ und konnten, so die weit verbreitete Überzeugung, wie Jesus selbst Wunder bewirken. Vielleicht wäre immer noch an Zufall zu denken, wenn sich die Ähnlichkeiten in einem allgemeinen Synchronismus der Ereignisse oder einigen terminologischen Parallelen erschöpfen würden. Doch weitere inhaltliche Übereinstimmungen sowie das Zusammentreffen sehr spezifischer Umstände lassen kaum noch Zweifel an einer direkten sunnitisch-ikonophilen Interaktion in jener Zeit. Trotz des durch zahlreiche Traditionen festgeschriebenen Bilderverbotes im Islam ist es gerade das Kalifat, in dem der christliche Ikonophilismus für lange Zeit seine wichtigste Heimstätte fand.38 Im Gegensatz zum Patriarchat in Konstantinopel hatten alle Patriarchate unter islamischer Herrschaft zwischen 726 und 843 eine klare ikonophile Ausrichtung, was nicht zuletzt durch mehrere anti-ikonoklastische Partikularsynoden im Kalifat bezeugt ist. Bedeutende Vertreter der Bilderverehrung – und dazu gehörten neben Johannes von Damaskus zahlreiche weitere Gelehrte wie Abū Qurra, Georg von Zypern, Michael Synkellos, Theophanes Graptos, Johannes von Jerusalem, Theosebos oder Photios – lebten und wirkten zumindest zeitweilig im Kalifat, wo sie vor den Zugriffen der ikonoklastischen Kaiser sicher waren.39 Bereits in der ersten ikonoklastischen Phase (726–782) wurde den verfolgten Bilderverehrern das Kalifat als einer von mehreren möglichen Fluchtorten ausdrücklich empfohlen.40 Wie sich in der umfangreichen Korrespondenz des in Bithynien eingekerkerten Theodor Studitis zeigt, haben Bilderverehrer tatsächlich das Kalifat als Exil gewählt. Einer der Flüchtlinge, so darf man schließen, muss der dann zum Islam konvertierte Theologe 37 G. Dagron, ‚Byzantinische Kirche und byzantinische Christenheit. Zwischen Invasionen und Ikonoklasmus (von der Mitte des 7. Jahrhunderts bis zum Beginn des 8. Jahrhunderts)‘, in: G. Dagron et al. (Hg.) Bischöfe, Mönche und Kaiser (642–1054), Freiburg i. Br. 1993, 87–88. 38 G. Troupeau, ‚Kirchen und Christen im muslimischen Orient‘, in: G. Dagron et al. (Hg.) Bischöfe, Mönche und Kaiser (642–1054), Freiburg i. Br. 1993, 411. 39 H.-G. Beck, Kirche und theologische Literatur, 476–488; S. Griffith, ‚Images, Islam and Christian icons‘, in: P. Canivet et al. (Hg.), La Syrie de Bycance à l’Islam VIIe–VIIIe siècle, Damaskus 1992, 137–138. S. Gero (‚Notes on Byzantine iconoclasm in the eighth century‘, Byzantion 44 [1974], 37) bezeichnet das Kalifat als einen „Garten für ikonophile Flüchtlinge“. 40 A. Giakalis, Images of the divine. The theology of icons at the seventh ecumenical council, Leiden 1994, 11; P. Schreiner ‚Legende und Wirklichkeit des byzantinischen Bilderstreites‘, Saeculum 27 (1976), 172.

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Ibn Kullāb gewesen sein. Er gilt als Kopf der Nābita-Bewegung,41 die im Jahre 816 in Bagdad in Erscheinung trat.42 Ein Zusammenhang mit dem 2. ikonoklastischen Konzil im Jahre 815 und der dadurch ausgelösten Fluchtbewegung liegt nahe,43 zumal der Begriff Nābita – von J. v. Ess als „Junggemüse“ übersetzt44 – auf den christlichen Begriff νεόφυτος zurückzugehen scheint.45 Auch das Element kullāb (wörtl.: Haken) im Namen des Theologen verweist auf Fremdeinfluß, da der Artikel fehlt und selbst islamische Quellen46 eine programmatische Deutung vorschlagen: Ibn Kullāb betrachtet sich als den „Haken“, der die widerstrebenden Parteien an sich heranzieht. Der von den Quellen47 in diesem Kontext benutzte Begriff ğarra (= zusammenziehen) indiziert auf subtile Weise die zweite Bedeutung, die sich aus der arabischen Transkription des griechischen Wortes κολλάω (wörtl.: zusammenleimen) ergibt. Die kullabitische Doktrin wurde zum Motor einer Bewegung, die als Vorläufer des Ašʿarismus gelten kann.48 Ibn Kullāb soll sie seiner christlichen Schwester gewidmet haben und von muslimischen Theologen wird sie unmittelbar mit dem Christentum in Verbindung gebracht.49 Nicht einmal Ibn Kullāb selbst verhehlt die christliche Provinienz, indem er offen feststellt, dass all das, was die Sunniten über den Qurʾān sagen entsprechend für Jesus gelte.50 Angesichts des in Byzanz tobenden Konfliktes zwischen Ikonoklasten und Bilderverehrern ist 41 C. Pellat, Art. Nābita, EI², VII, 843b. 42 In islamischen Quellen werden die Nawābit in Verbindung mit militant-traditionalistischen Gruppierungen in Bagdad genannt, die im Jahre 816 zu den Waffen griffen (I. Alon, ‚Fārābī‘s funny flora: al-Nawābit as „opposition“‚ The Journal of the Royal Asiatic Society [1989], 237). 43 Darüber hinaus dürfte die militant-ikonophile Oppositionsbewegung von Bedeutung gewesen sein, die Thomas der Slawe in jenen Jahren im Osten des byzantinischen Reiches, d. h. in unmittelbarer Nähe zum Kalifat, organisierte. Als gefährlicher Gegner des byzantinischen Kaisers wurde Thomas sogar von Ma’mūn unterstützt. 44 J. v. Ess, Theologie und Gesellschaft, 3/468. 45 Zur christlichen Provinienz dieses Begriffes siehe auch I. Alon, op. cit. 237. 46 aṣ-Ṣafadī, Ḫalīl b. Aybak al-Wāfī bi‘l-wafayāt, Wiesbaden et al. 1962–2004, 17/198. 47 aṣ-Ṣafadī al-Wāfī bi‘l-wafayāt 17/198. 48 J. v. Ess, ‚Ibn Kullāb und die Miḥna‘, Oriens 18–19 (1965–1966), 99; M. Watt, Politische Entwicklungen und theologische Konzepte. Der Islam, Bd. 2, Stuttgart 1985, 312. 49 aṣ-Ṣafadī al-Wāfī bi‘l-wafayāt 17/198. 50 aṣ-Ṣafadī al-Wāfī bi‘l-wafayāt 17/492.



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mit Jesus hier wohl das Jesus-Bild gemeint. Nach Ibn al-Nadīm51 übernahm Ibn Kullāb die Doktrin von einem Christen in Bagdad, der ihm das Konzept „Das Wort Gottes ist Gott“ näher erläuterte. Jener als Fatyūn bezeichnete Christ ist höchst wahrscheinlich identisch mit dem berühmten Photios (st. ca. 890), der sich nachweislich im Kalifat aufgehalten hatte und ein maßgeblicher Vertreter der gemäßigten Bilderverehrung war. Die Doktrin des Ibn Kullāb folgt einem Mittelweg,52 indem sie sich einerseits gegen die Erschaffenheitslehre der Ğahmiten richtet, andererseits aber nicht so weit geht, den Qurʾān vollständig mit Gott zu identifizieren. Die christologische weder-getrennt-noch-vermischt-Formel, die sich seit 451 entgegen den Positionen der Nestorianer (Trennungschristologie) und der Monophysiten (Einheitschristologie) wie ein roter Faden durch alle ökumenischen Konzile zieht, spiegelt sich in der lā hiya huwa wa-lā hiya ġayruhāFormel des Ibn Kullāb wider.53 Ebenso wenig, wie das Bild mit Jesus selbst gleichgesetzt werden kann, während es aber vom letzteren nicht zu trennen ist, kann der Qurʾān mit Gott selbst identisch sein, obwohl er mit letzterem eine untrennbare Einheit bildet. Der Qurʾān, da unerschaffen und ewig, besitzt göttliche Eigenschaften, ist zugleich aber Materie, da man ihn sehen, anfassen und rezitieren kann. Kritiker, die hier eine Trennungslinie zwischen irdisch und göttlich nicht mehr zu erkennen vermochten, schlossen – analog ihren Kollegen in Byzanz – auf Polytheismus, da es ja schließlich viele Qurʾān-Exemplare gebe. Interessanterweise benutzt Ibn Kullāb den Begriff rasm (wörtl.: Bild, Skizze), um auf die Buchstaben oder, wie J. v. Ess als freiere Übersetzung vorschlägt, das „äußere Erscheinungsbild“ des Offenbarungstextes zu verweisen. Die Wahl dieses eher sinnfremden Begriffes wäre schwer zu erklären, würde man ihn nicht als eine direkte Übersetzung von ἐικών (= Bild), dem Pendant zum Qurʾān, entlarven. Bestätigung findet diese Annahme darin, dass Ibn Kullāb,54 ebenso wie die Bilderverehrer,55 dem „Sehen“ (ra’y bi‘l-abṣār) eine ganz besondere Rolle einräumt. Das Schauen des Bildes und die Prostration vor demselben – in jener Zeit ein charakteristisches Element des orthodox51 Ibn an-Nadīm, al-Fihrist, engl. Übersetzung B. Dodge, New York 1970, 1/448. 52 J. v. Ess, Theologie und Gesellschaft, 4/179. 53 Zu dieser Formel siehe J. v. Ess, Art. Ibn Kullāb, EI² (Suppl.) 391; ders., Theologie und Gesellschaft, 6/403 (Nr. 4), 6/404 (Nr. 6), 6/411 (Nr. 24). 54 J. v. Ess, Theologie und Gesellschaft, 4/191. 55 K. Parry, Depicting the word. Byzantine iconophile thought of the eighth and ninth centuries, Leiden 1996, 156, 161.

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christlichen Kultus56 – finden auf islamischer Seite ihren Niederschlag in der Instrumentalisierung des Teppichs (sağğāda) als Medium der Gottesverehrung.57 Statt Gott mittels einer Ikone zu „schauen“ und zu verehren, bedienen sich die sunnitischen Muslime eines Teppichs, der im Prinzip dieselben Funktionen erfüllt, ja sogar dieselben Heilbzw. Wunderkräfte besitzt wie die Ikone. Da die Teppiche auf dem Boden liegen und die Muslime auf ihnen niederknien, können letztere mit Abbildungen von Lebewesen versehen sein und damit, neben dem Qurʾān, als höchst adäquates Surrogat der Ikone fungieren. Neben der theologischen scheint auch die davon abhängige juristische Ebene einen christlichen Hintergrund zu haben. In seiner Risāla erwähnt der Jurist Šāfiʿī (st. 820) – wie Ibn Kullāb ein gemäßigter Repräsentant des Sunnismus – an mehreren Stellen das Vier-QuellenSchema Qurʾān-Sunna-Iğmāʿ-Qiyās, das etwas später zum verbindlichen Bestandteil der uṣūl-Wissenschaft wird. Als allgemeine Hierarchie der Quellen bzw. Methoden ließe sich das Schema vielleicht endogen islamisch erklären oder auch auf ein ähnliches Modell im Judentum zurückführen.58 Übereinstimmungen im Detail lassen sich dagegen nur mit einem analogen Modell im orthodoxen Christentum nachweisen. Bereits Maximus Konfessor hatte das ursprüngliche Drei-Stufen-Modell Hl. Schrift-Tradition-Konsensus um das Element der Ratio erweitert und damit ein Vierer-Schema geschaffen.59 Wie oben dargelegt, wurden Qurʾān und Ikone jeweils von Christen und Muslimen im selben theologischen Kontext behandelt. Auch das zweite Element des Schemas, die Tradition, entwickelte sich seit dem 7. Jahrhundert in 56 Das Konzil von 787 machte Proskynese und Kuß zur Verpflichtung (G. Dagron, ‚Ikonoklasmus und Begründung der Orthodoxie‘, in: G. Dagron et al. (Hg.), Bischöfe, Mönche und Kaiser (642–1054), 134. 57 Der nicht-koranische Begriff sağğāda taucht erstmals im Zusammenhang mit al-Ḥallāğ und anderen Mystikern um die Wende zum 10. Jahrhundert auf (A. Knysh, Art. Sadjdjāda, 3. Mysticism, EI², VIII, 742). Er leitet sich von dem verwandten Begriff suğūd (= Prostration) ab, der dem griechischen προσκύνησις (=  Prostration) entspricht. Die durch den Akt der Niederwerfung bezeugte Verehrung gilt aber nicht dem sağğāda/ἐικών selbst, sondern dem mit diesen verknüpften Gott und wird jeweils durch die Begriffe ʿibāda und λατρεία zum Ausdruck gebracht. 58 Zu Parallelen mit der jüdischen Rechtsquellenlehre siehe J Wegner, ‚Islamic and Talmudic jurisprudence: the four roots of Islamic law and their Talmudic counterparts,‘ American Journal of Legal History 26 (1982), 25–71. 59 G. Bausenhart In allem uns gleich 186. Ein ähnliches Konzept findet sich in der Epanagoge des Photios (S. Troianos, ‚Nomos und Kanon in Byzanz,‘ Kanon 10 [1991], 41).



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beiden Religionen synchron, d. h. bestimmte Elemente des Traditionalismus wurden jeweils zur gleichen Zeit thematisiert. Bereits im 7. Jahrhundert entwickelte sich das byzantinische Christentum zu einem Bollwerk des Traditionalismus, in dem die Autorität der Kirchenväter und ihrer Schriften für eigene Meinungen keinen Raum ließ.60 Die Ausweitung der bis dahin primär schriftlichen Tradition auf mündliche Überlieferungen infolge des Trullanischen Konzils von 69261 und das verstärkte Aufkommen von Traditionssammlungen seit dem 8. Jahrhundert62 bezeugen die Intensivierung dieses Prozesses. Es ist wohl in jener Zeit, dass muslimische Gelehrte den isnād (Überlieferungskette) ins Gespräch bringen63 und erstmals formalisierte Traditionen in Umlauf kommen.64 Diese Traditionen haben formal und inhaltlich viele Gemeinsamkeiten mit den christlichen Überlieferungen65 und werden seit dem 8. Jahrhundert ebenfalls in Sammlungen schriftlich fixiert.66 Der Gegensatz monotheletischer und dyotheletischer Traditionen spiegelt sich in der Polarität murğiitischer und qadaritischer Traditionen im Kalifat wider. Mit dem Einsetzen des Ikonoklasmus auf beiden Seiten verlagerte sich der Schwerpunkt zunehmend auf bilderfeindliche Traditionen, die sich jeweils so ähnlich sehen, dass byzantinische Ikonoklasten ohne weiteres die muslimischen Versionen hätten 60 G. Bausenhart, In allem uns gleich außer der Sünde, Mainz 1992, 184. 61 K. Parry, Depicting the word, 158. Insbesondere die Dyotheleten und die Bilderverehrer nutzten die mündliche Tradition (L. Barnard, ‚The theology of images‘, in: A. Bryer et al. (Hg.), Iconoclasm, Birmingham 1977, 13; C. Andresen, Die Kirchen der alten Christenheit, Stuttgart 1971, 673–675; S. Gero, Byzantine iconoclasm during the reign of Constantine V, with particular attention to the oriental sources, Louvain 1977, 32). 62 M. Richard, Art. Florilèges Dictionaire de Spiritualité, Ascétique et Mystique. Doctrine et Histoire, ed. M. Viller, Paris 1932 ff., 5/476. 63 G. Juynboll, ‚The date of the great fitna‘, Arabica 29 (1973), 159; ders., ‚Some isnād-analytical methods illustrated on the basis of woman-demeaning sayings from ḥadīt literature’, al-Qanṭara 10 (1989), 354. 64 G. Juynboll, Art. Sunna, EI², IX, 878. 65 Hier wäre eine genauere Untersuchung lohnend. Die aus dem Zusammenhang gerissenen und oftmals kurzen Exzerpte aus den Schriften der Kirchenväter weisen schon äußerlich eine starke Ähnlichkeit mit islamischen Traditionen auf. Viele Traditionen kommen sich darüber hinaus thematisch, in manchen Fällen sogar in der Formulierung, sehr nahe. 66 M. Rauf, ‚Ḥadīth-Literature – I: The development of the science of Ḥadīth,‘ in: A. Beeston et al. (Hg.), Arabic literature to the end of the Umayyad period, Cambridge 1983, 272; H. Motzki, Die Anfänge der islamischen Jurisprudenz. Ihre Entwicklung in Mekka bis zur Mitte des 2./8. Jahrhunderts, Stuttgart 1991 245.

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nutzen können.67 Ende des 8. Jahrhunderts erhielt der Traditionalismus – angespornt durch die orthodoxe Kehrtwende in Konstantinopel und Bagdad – einen neuen Schub. Traditionen werden nun nicht mehr nur auf Apostel bzw. frühe islamische Autoritäten sondern auf Jesus bzw. Muḥammad selbst zurückgeführt.68 Diese im Islam als rafʿ (wörtl.: Erhebung)69 bezeichnete Aufwertung von Traditionen wird in den Konzilsakten von 787 mit ἀνάϑεσις (wörtl.: Erhebung)70 oder ähnlichen Begriffen umschrieben. Traditionen, die nicht auf die höchsten Autoritäten zurückgehen, gehören dagegen in die Kategorie „apostolisch“ (ἀπόστολος, wörtl.: gesandt) bzw. mursal (wörtl.: gesandt).71 Andere Begriffe des Traditionswesens wie naql/παράδοσις (Überlieferung),72 tawātur/διαδοχή (Mehrstrangigkeit der Überlieferungen, wörtl.: Sukzession),73 ḥadīt/χρῆσις, λόγος, ἀπόϕϑεγμα (Ausspruch),74 ṣaḥābī/γνώριμος (Gefährte)75 oder ḫabar al-wāḥid/λόγος εἶς (einstrangige Überlieferung)76 erweitern die Reihe terminologischer Parallelen. Der iğmāʿ (Konsensus) bildet das 3. Element des Vier-QuellenSchemas, erscheint aber insofern konstruiert, als es im Islam an einer zentralen Einrichtung zur Feststellung des Konsensus fehlt. Da die Anforderungen an den Konsensus sehr hoch sind – Mehrheitsmeinungen reichen nicht aus – ist in der Praxis nur in vergleichsweise wenigen Fällen ein wirklicher Konsensus erzielt worden. Die offensichtliche Diskrepanz zwischen der theoretischen und praktischen 67 R. Paret, ‚Textbelege zum islamischen Bilderverbot‘ Das Werk des Künstlers. Festschrift zu Ehren von H. Schrade, Stuttgart 1960, 47. 68 M.-F. Auzépy, l’hagiographie et l’iconoclasme byzantin, Aldershot 1999, 234; Nikephoros, Antirrheticus, Patrologia Graeca 100/219 – G. Juynboll, Art. Sunna, EI², IX, 879. 69 G. Juynboll, Art. Rafʿ, EI², VIII, 384. 70 Mansi, Sacrorum conciliorum nova et amplissima collectio, Graz 1960, XIII, 268D. 71 Zu mursal siehe G. Juynboll, Art. Rafʿ, EI², VIII, 384. 72 G. Blum, Tradition und Sukzession. Studien zum Normbegriff des Apostolischen von Paulus bis Irenäus, Berlin 1963, 94. 73 G. Juynboll, Art. Tawātur, EI², X, 381 – G. Blum, Tradition, 202. 74 W. Bousset, Apophthegma. Studien zur ältesten Geschichte des Mönchtums, Tübingen 1923, 81; K. Frank, Art. Apophtegmata Patrum, Lexikon für Theologie und Kirche, 1/849; Johannes von Damaskus, De imaginibus oratio, Patrologia Graeca 94/1257C. 75 A. v. Harnack, Lehrbuch der Dogmengeschichte, Bd. 2, Tübingen 1931, 96. 76 aš-Šāfiʿī, Muḥammad b. Idrīs, ar-Risāla, ed. Aḥmad Muḥammad Šākir, Kairo 1940, 369 (Nr. 998) – 461 (Nr. 1261) – Johannes von Damaskus, De imaginibus oratio, Patrologia Graeca 94/1257C.



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Bedeutung des iğmāʿ ließe sich damit erklären, dass Muslime auf das christliche Konsensus-Konzept zurückgriffen, das gerade in jener Zeit unter den Christen heftig diskutiert wurde. Die große Ära der ökumenischen Konzile war nach 787 endgültig zu Ende gegangen. Im 8. und 9. Jahrhundert trat das Christentum in eine Phase, in der sich Konzile, teilweise mit Anspruch auf Ökumenizität, gegenseitig annullierten. Dabei stellte sich zwangsläufig die Frage, wie die Gültigkeitskriterien der Konzile zu bestimmen seien.77 Einen besonders umfassenden Niederschlag fand diese Diskussion in einer arabisch verfassten Schrift des Bilderverehrers Abū Qurra (st. 823),78 der sich Anfang des 9. Jahrhunderts wahrscheinlich in Bagdad aufhielt. Es wundert nicht, dass verschiedene Details wie die Begründung,79 Universalität,80 Nicht-Abrogierbarkeit oder die zeitliche Eingrenzung des Konsensus auf eine Generation81 bzw. 30 Jahre82 in beiden Konzepten gleichermaßen enthalten sind. Sogar spezifische Formen wie der Konsensus der Medinenser83 oder der Konsensus der Prophetenge-

77 J. Pelikan, The Christian tradition. A history of the development of doctrine. 2. The spirit of Eastern Christendom (600–1700), Chicago 1974, 22–25; ders., ‚Council or father or scripture‘, 286; H. Sieben, Die Konzilsidee der alten Kirche, Paderborn 1979, 309; H.-G. Thümmel, ‚Patriarch Photios und die Bilder‘, in: H. Goltz (Hg.), Eikon und Logos, Halle 1981, 278; B. Studer, Die theologische Arbeitsweise des Johannes von Damaskus, Speyer 1956, 71, Fn. 87. 78 Abū Qurra Mīmar, hg. und ins Französische übersetzt C. Bacha, Un traité des œuvres arabes de Théodore Abou-Kurra, évèque de Harran, Rom 1905; siehe auch H. Sieben, Die Konzilsidee der alten Kirche, 171–197. 79 Die christliche/muslimische Gemeinschaft einigt sich nicht auf einen Irrtum (Abū Qurra, Mīmar, 31 (arab. Teil); Johannes von Damaskus, Oratio apologetica I, Patrologia Graeca 94/1233; siehe auch B. Studer, Die theologische Arbeitsweise, 67 – M. Bernand, Art. Idjmāʿ, EI², III, 1023; aš-Šāfiʿī, ar-Risāla, 472 [Nr. 1312]), da sie als Ganzes durch den Hl. Geist bzw. etwas Heiliges inspiriert sei (siehe die zahlreichen Verweise auf rūḥ al-quds [Hl. Geist] im Mīmar des Abū Qurra – B. Krawietz, Hierarchie der Rechtsquellen im tradierten sunnitischen Islam, Berlin 2002, 182). 80 H.-J. Schulz, ‚Die Ausformung der Orthodoxie im byzantinischen Reich‘, 50 – B. Jokisch, Islamisches Recht in Theorie und Praxis. Analyse einiger kaufrechtlicher Fatwas von Taqī‘d-Dīn Aḥmad b. Taymiyya, Berlin 1996, 146; B. Krawietz, Hierarchie der Rechtsquellen im tradierten sunnitischen Islam, Berlin 2002, 197–198. 81 Diese Regelung besagt, dass sich die Muslime innerhalb einer Generation geeinigt haben müssen (B. Jokisch, Islamisches Recht, 144). 82 H. Sieben, Die Konzilsidee der alten Kirche, 316. 83 B. Jokisch, Islamisches Recht, 144.

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fährten84 scheinen Analogien jeweils zum Konsensus der Römer85 und zum consensus patrum86 zu sein. Das 4. Element des Vier- Quellen-Schemas ist durch die Ratio repräsentiert. Šāfiʿī reduziert sie auf die Analogie, die er wiederum in den qiyās aš-šabah (Ähnlichkeitsanalogie) und den qiyās al-maʿnā (ratio legis) untergliedert.87 Der Terminus maʿnā bezeichnet für Šāfiʿī den in einer expliziten Regelung verborgenen Rechtsgrund und kommt damit dem von Ibn Kullāb benutzten maʿnā-Begriff sehr nahe. Ibn Kullāb, wie Šāfiʿī ein gemäßigter Traditionalist, unterscheidet – auf einer theologischen Ebene und auf den Qurʾān bezogen – zwischen Prototyp (maʿnā) und dessen konkreten Manifestationen.88 Zur gleichen Zeit versucht Nikephoros in Konstantinopel das Verhältnis von göttlichem Archetypos und Bild zu bestimmen, indem er auf der Grundlage eines aristotelischen Syllogismus den ersteren als Grund (αἰτία) für den letzteren präsentiert.89 Bilder, die als Handlungsanweisungen für den Schauenden gedacht sind, leiten sich kausal vom Prototyp ab und verkörpern somit konkrete, analoge Manifestationen Gottes. Im Laufe des 9. Jahrhunderts ersetzt der Begriff ʿilla (1. Ursache, 2. Mangel) – eine arabische Übersetzung von αἰτία (1. Ursache, 2. Mangel) – den maʿnā-Begriff Šāfiʿī‘s. Dass die aristotelisch begründete Bilderdoktrin die islamische Analogie-Debatte beeinflusste, wird durch eine weitere, auf beiden Seiten gleichzeitig geführte Debatte bestätigt. Wie dargelegt, setzte Šāfiʿī der freien Rechtsfindung (iğtihād i. w. S.) Grenzen, indem er sie auf bestimmte Formen der Analogie (iğtihād i. e. S.) einschränkte. Damit wandte er sich einerseits gegen den freieren Billigkeitsgrundsatz (istiḥsān) der Hanafiten und andererseits gegen den restriktiveren taqlīd (wörtl.: Nachahmung) der radikalen Traditionalisten, die eine Rechtsfindung über eine strikte Befolgung der Tradition hinaus nicht zuließen. Da Šāfiʿī trotz Bejahung der Analogie immer noch ein entschiedener Befürworter der Tradition war, stellt sich der Gegensatz iğtihād (i. e. S.) – taqlīd als ein Konflikt innerhalb des tradi84 B. Jokisch, Islamisches Recht, 116. 85 H. Sieben, Die Konzilsidee der alten Kirche, 322. 86 K. Parry, Depicting the word, 146; J. Pelikan, The Christian tradition, 21–22; H. du Manoir, ‚L’Argumentation patristique dans la controverse Nestorienne‘, Recherches de Science Religieuse 25 (1935), 546. 87 aš-Šāfiʿī, ar-Risāla, 479 (Nr. 1334). 88 J. v. Ess, ‚Ibn Kullāb und die Miḥna‘, 104–105. 89 M.-J. Baudinet, ‚La relation iconique à Bycance au IXe siècle, d’après Nicéphore le patriarche: un destin de l’aristotélisme‘, Les Études Philosophiques 78 (1978), 96.



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tionalistischen Lagers dar, während die Hanafiten – verächtlich als ahl ar-ra’y (Leute der persönlichen Meinung) beschimpft – in jener Zeit nicht zum Lager der Traditionalisten (ahl al-ḥadīt) gezählt wurden. Derselbe Konflikt mit analogen Begriffen und in derselben Gruppenkonstellation ist in jener Zeit auch in Konstantinopel zu beobachten. Dort standen sich innerhalb der Orthodoxie die Anhänger jeweils der οἰκονομία (i. e. S.) und der ἀκρίβεια gegenüber,90 die sich aber gemeinsam gegen die bis dahin übliche Deutung der οἰκονομία als Dispensprinzip wandten.91 Οἰκονομία ist ein zentraler Begriff des Christentums,92 der – aus der Philosophie stammend – zunächst als Dispensprinzip im Sinne göttlicher Milde interpretiert und zunehmend im Rechtsbereich instrumentalisiert wurde.93 Ende des 8. Jahrhunderts kam es im Rahmen der Moichianischen Affäre zu einem Streit über dieses Prinzip, als der radikale Bilderverehrer Theodor Studitis eine strikte Beachtung der Gesetze und der Tradition forderte.94 Dieses als ἀκρίβεια bezeichnete Prinzip deckt sich weitgehend mit dem in monastischen Kreisen verbreiteten Prinzip des μίμισης (Nachahmung),95 das ganz offensichtlich die Vorlage für das islamische taqlīd bildet. Das Prinzip der οἰκονομία (wörtl.: Haushaltung) ist seinerseits eng mit Begriffen wie πόνος (Anstrengung),96 ϕιλοπονία (Eifer),97 σπουδή (Mühe)98 oder ζήτησις (Suche)99 verknüpft. Der mit einem freien Willen ausgestattete Mensch ist verpflichtet, sich um die Verwirklichung des göttlichen Heilsplanes zu bemühen und Wissen von Gott zu erlangen. Wie die 90 D. Stiernon, Konstantinopel IV, Mainz 1975, 14–15. 91 G. Dagron, ‚Kirche und Staat‘, 212. 92 Zur Komplexität dieses Begriffes siehe G. Lampe, Art. Oἰκονομία, Patristic Greek Lexikon, S. 940–943; H. Thurn, Oikonomia von der frühbyzantinischen Zeit bis zum Bilderstreit. Semasiologische Untersuchungen einer Wortfamilie, München 1961. 93 A. Kallis, Art. Ökonomie (II), Lexikon für Theologie und Kirche, 7/1015. 94 G. Dagron, ‚Kirche und Staat‘, 211. 95 Zur Bedeutung der Imitatio im byzantinischen Mönchswesen siehe P. Speck, ‚Die Ursprünge der byzantinischen Renaissance‘, in: The 17th International Byzantine Congress, Major Papers, Dumbarton Oaks 1986, 560; P. Kawerau, Das Christentum des Ostens, Stuttgart 1972, 118. 96 W. Völker, Maximus Confessor als Meister des geistlichen Lebens, Wiesbaden 1965, 309. 97 W. Völker, Maximus Confessor, 299. 98 W. Völker, Maximus Confessor, 287. 99 V. Croce, Tradizione e ricerca. Il metodo teologico di san Massimo il Confessore, Milano 1974, 57.

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Muslime,100 betont Maximus Konfessor die Notwendigkeit, dabei das „größtmögliche“ Maß an Mühe aufzubringen.101 Hat ein Gelehrter die höchste Stufe des Wissens erreicht, muss er den Laien mit seinem Rat unterstützen.102 Letztere Pflicht (χρεώσιμα) besteht allerdings nicht bei ἀϕϑονία (Genüge), d. h. sie erlischt, wenn genügend andere weise Männer um Rat gefragt werden können.103 Im Islam wird diese spezielle Form der Pflicht als farḍ al-kifāya (wörtl.: Pflicht der Genüge) bezeichnet. Sowohl nach orthodox-christlicher104 als auch nach muslimischer Auffassung105 sorgt Gott dafür, dass in jeder Generation mindestens ein weiser Mann bzw. muğtahid zur Verfügung steht. Bereits Maximus Konfessor bringt die Wissenssuche in den engeren Kontext der Analogiebildung.106 Da die Wirklichkeit ein Abbild der göttlichen Weisheit (σοϕία) ist, so Maximus, muss mit Hilfe äußerer Indikatoren (σύμβολα) auf die inneren Gründe (λόγος) geschlossen werden. Diese sind zwar nicht identisch mit der σοϕία, befähigen aber weise Männer dazu, analoge Fälle zu beurteilen. Dasselbe Konzept findet sich später bei den Bilderverehrern, die es in der oben beschriebenen Weise weiterentwickeln, sowie auch bei Šāfiʿī.

Imāmismus Die bisherige Vergleichsanalyse erlaubt die Annahme, dass sich die Entwicklungen der christlichen und islamischen Orthodoxie wechselseitig bedingten und der Triumph des Sunnismus Mitte des 9. Jahrhunderts in einer direkten kausalen Beziehung zur orthodoxen Wende in Byzanz steht. Dasselbe gilt für die Interaktion von Ikonoklasmus und Ğahmismus. Es ist daher zu vermuten, dass noch weitere Gruppierungen beider Religionen – vor allem solche, die im Laufe des 9. Jahrhunderts entstehen oder konkretere Formen annehmen – in einem Abhängigkeitsverhältnis stehen. So fällt z. B. auf, dass die in Byzanz verfolgten Paulikianer Widerstandsbasen im Kalifat errichten, wäh100 B. Jokisch, Islamisches Recht, 205. 101 W. Völker, Maximus Confessor, 287. 102 Maximus Confessor, Expositio in Psalmum LIX, Patrologia Graeca 90/864C. 103 W. Völker, Maximus Confessor, 446. 104 W. Völker, Maximus Confessor, 445. 105 Siehe dazu E. Landau-Tesseron, ‚The „cyclical reform“: a study of the mujaddid tradition‘, Studia Islamica 70 (1989), 79–117. 106 W. Völker, Maximus Confessor, 298–301.



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rend etwa zur gleichen Zeit im Islam die Sekte der Barāhima entsteht. Viele Spekulationen ranken sich um die Ursprünge dieser Sekte,107 doch folgender Umstand ist festzuhalten: Paulikianer und Barāhima bilden in jener Zeit die einzigen Sekten, die die Propheten offen als „Lügner“ diffamieren.108 Beide Gruppen stehen in einem krassen Gegensatz zur Orthodoxie und zeigen eine gewisse Affinität zum mittlerweile tabuisierten Ikonoklasmus bzw. Ğahmismus. Charakteristisch für beide Häresien sind zudem die manichäisch anmutenden dualistischen Tendenzen. Ibn ar-Rāwandī, der über die Barāhima berichtet und wohl selbst zu ihren Reihen gehörte, könnte, wie sein Name verrät, durchaus armenischer Abstammung sein.109 Vor der Etablierung im Kalifat bildete Armenien das Zentrum des Paulikianismus.110 Sowohl Paulikianer als auch Barāhima verlieren sehr bald wieder an Bedeutung. Eine viel größere Gefahr für die Orthodoxie ging auf byzantinischer Seite von den Monophysiten und auf islamischer Seite von den Schiiten aus. Inwieweit die frühe Entwicklung des Schiismus durch jüdische oder christliche Einflüsse bestimmt wurde, ist höchst umstritten. Einzelne Elemente der heterogenen Bewegung tragen durchaus jüdische Züge.111 Andererseits tritt der ursprünglich neutrale Begriff Šīʿa (Partei) in einer Zeit auf, als in Byzanz für ähnliche religiöse Gruppen der Begriff μέρος (Partei) benutzt wurde. Die Bewegung der tawwābūn (Büßer), die Ende des 7. Jahrhunderts entstand und als grundlegend für die Entwicklung des Schiismus gilt, könnte auch im Kontext des 6. ökumenischen Konzils von 680/681 gesehen werden, auf dem die Monotheleten mit der besonderen Beto107 S. Stroumsa, ‚The Barāhima in early kalām‘, Jerusalem Studies in Arabic and Islam 6 (1985), 239–241; N. Calder, ‚The Barāhima: literary construct and historical reality‘, Bulletin of the School of Oriental and African Studies 57 (1994), 49. 108 J./B. Hamilton, Christian dualist heresies in the Byzantine world, Manchester 1998, 73 – F. Rahman, Art. Barāhima, EI², I, 1031. 109 Das Namenselement Rāwand(ī) bzw. Rēwand(ī) kommt lautlich dem armenischen Namen Ghevond sehr nahe. 110 C. Ludwig, Art. Paulikianer, Lexikon für Theologie und Kirche, 7/1487. 111 Der muslimische Gelehrte aš-Šaʿbī, der vor seiner Konvertierung zum Qadarismus Schiite war, betont ausdrücklich die Ähnlichkeit von Schiismus und Judaismus (J. v. Ess, ‚Das Kitāb al-irğāʿ des Ḥasan b. Muḥammad b. al-Ḥanafiyya‘, Arabica 22 [1975], 36). Zu speziellen Übereinstimmungen siehe M. Gil, ‚The exilarchate‘, in: D. Frank (Hg.) The Jews of medieval Islam. Community, society and identity, Leiden 1995, 41; S. Wasserstrom, ‚„The Shīʿīs are the Jews of our community“. An interreligious comparison within Sunnī thought‘, Israel Oriental Studies 14 (1994), 297–298, 302.

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nung der Prädestination unterlagen. Das Motiv der Erbsünde, die die Menschen von vorneherein und auf ewig stigmatisiert, könnte sich in jener kollektiven Schuld widerspiegeln, die sich den Schiiten zufolge nach jenem verhängnisvollen Versagen in Kerbela von einer Generation auf die andere vererbt. Zumindest gab es enge Verbindungen zwischen der Šīʿa und dem Theologen Ḥasan b. Muḥammad b. al-Ḥanafiyya, der als Vertreter des Murğiismus einen eindeutigen Bezug zum christlichen Monotheletismus aufweist. Schiitische Begriffe wie rağʿa (Rückkehr)112 oder ẓuhūr (Erscheinen),113 die jeweils mit παρουσία114 und ἐπι­ϕάνεια (Erscheinen)115 genaue Entsprechungen im christlichen Vokabular haben, erhöhen die Wahrscheinlichkeit christlicher Einwirkungen. Nach der Miḥna, während der die Schiiten mit dem Staat paktierten und die Ḫalq al-Qurʾān-Doktrin zumindest duldeten, werden die Bezüge deutlicher. Um die Wende zum 10. Jahrhundert bildet sich der Imāmismus als die Hauptströmung innerhalb der Šīʿa heraus und wird damit zum wichtigsten Gegner der Orthodoxie. Wesentliche Elemente der imāmitischen Konzeption haben eine christliche Entsprechung und sind vermutlich durch monophysitische Konvertiten vermittelt worden. So korreliert die als ġayba bezeichnete Entrückung des zwölften Imāms Muḥammad im Jahre 878 mit der als ἀνάστασις (wörtl.: Entrückung) bezeichneten Auferstehung Jesu. Die Unterscheidung zwischen kleiner und großer ġayba116 scheint auf den Umstand zurückzugehen, dass Jesus erst nach einer kurzen Abwesenheit von drei Tagen endgültig auferstanden sein soll.117 Wie bei Muḥammad fand die letzte Rückkehr Jesu im Kreis der Vertrauten statt. Die Beschreibungen Jesu ähneln denjenigen des Mahdī. Beide Erscheinungen sind jung, haben lange, schwarze Haare, einen Bart und ein strahlendes Gesicht. Die Verbindung zwischen dem Mahdī und der schiitischen Glaubensgemeinschaft wurde während der kleinen ġayba durch vier Botschafter (sufarā’) hergestellt, die die Anordnungen des letzten Imām übermittelten.118 Im Christentum sind es die vier Evan112 E. Kohlberg, Art. Radjʿa, EI², VIII, 372. 113 E. Kohlberg, Art. Radjʿa, EI², VIII, 372. 114 Dieser Begriff wird von den Christen i. S. von „Rückkehr“ interpretiert, wenn er auch die wörtliche Bedeutung von „Ankunft“ hat (W. Radl, Art. Parusie, I. Biblisch-theologisch, Lexikon für Theologie und Kirche, 7/1402). 115 W. Radl, Art. Parusie, I. Biblisch-theologisch, Lexikon für Theologie und Kirche, 7/1402. 116 D. Macdonald [M. Hodgson], Art. Ghayba, EI², II, 1026. 117 Mt 28; Lk 24; Mk 16. 118 E. Kohlberg, Art. Safīr, EI², VIII, 811.



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gelisten – die wörtliche Bedeutung von εὐαγγελιστής ist Botschafter – die Jesus persönlich kannten und seine Anweisungen überlieferten.119 Sunnismus und Imāmismus, vermutlich gespeist durch Konvertiten der beiden wichtigsten rivalisierenden Konfessionen im damaligen Christentum, etablierten sich als die größten polarisierenden Bewegungen innerhalb des Islam, und stützten sich wie ihre christlichen Pendants, auf jeweils eigene Traditionen. Während sich die Verbindungen von orthodoxem Christentum und Sunnismus recht deutlich herausarbeiten lassen und im Hinblick auf den steilen Anstieg der Konversionsrate in jener Zeit äußerst plausibel erscheinen, kann eine monophysitisch-schiitische Interdependenz aufgrund der vergleichsweise geringen Übereinstimmungen nur vermutet werden. Dennoch erscheint die These gerechtfertigt, dass nicht nur die Orthodoxie, sondern auch der Gegenpol und damit der gesamte konfessionelle Konflikt – sei es in der speziellen Form Orthodoxie versus Ikonoklasmus oder der allgemeineren Form Reichskirche versus Monophysitismus – auf den Islam übergeschwappt ist.

119 Mt 28.

Pilgerfahrt und Glaubensstreit Die „Zehn Argumentationen“ des Sayyid ʿAbdallāh Šīrāzī W. Ende Gegen Ende des Jahres 1361h (1942) brach der schiitische Gelehrte ʿAbdallāh Šīrāzī von Nadschaf aus zu einer Pilgerfahrt auf, die ihn zu den Heiligen Stätten des Islam im Hedschas führen sollte. Zusammen mit einigen Glaubensbrüdern begab er sich zunächst nach Basra, dann nach Kuwait und weiter über Riad nach Mekka. Dort vollzog er die Riten des ḥağğ und reiste anschließend nach Medina. Der Monat der Mekka-Pilgerfahrt des Jahres 1361h hatte am 10. Dezember 1942 begonnen. So war bereits das Jahr 1362h (1943) angebrochen, als Šīrāzī – auf demselben Wege, auf dem er gekommen war – den Rückweg nach Nadschaf antrat. Über seine Reiseeindrücke und besonders über die Aufenthalte in Mekka und Medina hatte er anscheinend allerlei Aufzeichnungen gemacht. Jahre später faßte er (auf wiederholtes Drängen iranischer Freunde, wie er betont) diejenigen Notizen, die sich auf seine Diskussionen mit sunnitischen (meist wahhabitischen) Gesprächspartnern beziehen, zu einem Büchlein zusammen. Dem Kolophon zufolge war der Manuskriptentwurf am 6. Rabīʿ I des Jahres 1377h (1. Oktober 1957) abgeschlossen. Bald darauf erschien der Text auch im Druck. Er trägt den Titel Al-iḥtiǧāǧāt al-ʿašara maʿa l-ʿulamāʾ fī Makka al-Mukarrama wa-l-Madīna al-Munawwara, also „(Die) Zehn Argumentationen mit den Gelehrten in Mekka und Medina“. Die zweite Auflage wurde bereits 1379h (1959/60) bei der Maṭbaʿat al-Ġarīy in Nadschaf gedruckt. Die mir in Kopie vorliegende vierte Auflage (o. O.) trägt das Datum 1393h (1973). Sie umfaßt 32 Druckseiten.1 Eine persische 1 Kūrkīs ʿAwwād: Muʿğam al-muʾallifīn al-ʿirāqīyīn, II, Bagdad 1969, S.  328; Muḥammad Hādī al-Amīnī: Muʿğam al-maṭbūʿāt an-nağafīya, Nadschaf 1966, S. 67 Nr. 32. Ein Exemplar der 4. Auflage befindet sich in der Universitätsbibliothek Leiden unter der Signatur 8085 F 41.

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W. Ende

Übersetzung aus der Feder eines Sayyid Abū l-Faḍl al-Ḥusaynī wurde im Šawwāl 1385h (beg. 23. Januar 1966) fertiggestellt und noch im selben Monat in Teheran veröffentlicht. Der Titel lautet Munāẓarāt-i Āyatullah Šīrāzī dar Makkah wa Madīnah.2 Unten auf dem Titelblatt der persischen Übersetzung findet sich der Satz: „Für jeden Schiiten ist die Lektüre dieser Broschüre nützlich“. Damit ist zugleich gesagt, was das Hauptanliegen dieser Veröffentlichung ausmacht – nämlich die Festigung schiitischer Leser in der Überzeugung, daß die Doktrin der schiitischen Glaubensrichtung unüberwindlich sei, wenn sie von Gelehrten wie Šīrāzī gegen die Einwände sunnitischer (und hier besonders wahhabitischer) Widersacher vertreten wird. Somit richtet sich diese Schrift – sowohl in ihrer arabischen als auch in ihrer persischen Fassung – nicht oder höchstens sekundär an potentielle sunnitische Leser. Es entzieht sich meiner Kenntnis, ob sie jemals von Sunniten ernsthaft wahrgenommen oder gar kommentiert bzw. „widerlegt“ worden ist. Sayyid ʿAbdallāh b. as-Sayyid Muḥammad Ṭāhir b. as-Sayyid ʿAlī aṭ-Ṭāhirī aš-Šīrāzī (oder: Mūsawī Šīrāzī Naǧafī) wurde 1309h (1891/92) in Schiraz geboren. Sein Vater, Sayyid Muḥammad Ṭāhir (gest. 1345h, d. i. 1926/27), war zeitweilig ein Schüler des berühmten Mīrzā Ḥasan aš-Šīrāzī, bekannt als muğaddid (gest. 1895), gewesen. Sein Sohn, unser Sayyid ʿAbdallāh, kam 1339h (1920/21) nach Nadschaf. Seine wichtigsten Lehrer daselbst waren Ḍiyāʾ ad-Dīn al-ʿIrāqī (gest. 1942) und Ḥusayn Nāʾīnī (gest. 1936). Nachdem er sich als Gelehrter und Prediger ein gewisses Ansehen erworben hatte, drängte es ihn, Anerkennung als marğaʿ at-taqlīd zu erlangen. Zunächst scheiterte er allerdings in diesem Bemühen. Er verließ Nadschaf und begab sich nach Maschhad. Es scheint, daß ihm in Iran in den 1960er Jahren (oder schon früher?) die Würde eines Ayatollah zugefallen war. Zumindest erscheint diese Ehrenbezeichnung (geschrieben mit drei Punkten anstelle von „-allāh“) auf dem Titelblatt der oben genannten persischen Übersetzung von 1966 sowie auf dem der vierten arabischen Auflage von 1973 (hier sogar als āyatullāh ʿuẓmā). Aufgrund seiner Opposition gegenüber der Politik des Schahs war er zeitweilig in Haft. Nach seiner Freilassung ließ er sich erneut in Nadschaf nieder. In den frühen 1970er Jahren galt er dort als einer der führenden marāğiʿ, kehrte aber 1975 – 2 Čāp-ḫānah-yi Ḥaydarī. Ein Exemplar dieser Ausgabe befindet sich in der Bibliothek des Orientalischen Seminars der Universität Köln unter der Signatur S 852.1974.



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vermutlich im Zusammenhang mit willkürlichen Repressionsmaßnahmen der irakischen Regierung gegen Geistliche und Studenten iranischer Herkunft, bzw. deren gezielter Vertreibung – nach Iran zurück.3 Nach der „Islamischen Revolution“ von 1979 hat Šīrāzī anscheinend zu jenen Ayatollahs gehört, die bestimmte Aspekte der Politik des neuen Regimes wiederholt kritisiert haben. Er starb am 27. September 1984 in Maschhad.4 Die Zahl der gedruckten Werke Šīrāzīs ist anscheinend nicht sonderlich hoch. Ihre genaue bibliographische Erfassung kann im Rahmen des vorliegenden Beitrags nicht geboten werden. Noch weniger geht es hier um eine Inhaltsanalyse dieser Schriften. Aus einer Titelliste am Ende der „Iḥtiğāğāt“ geht hervor, daß er auch einem „modernen“ Thema, nämlich der Frage der Tötung von Tieren mit Hilfe von elektrisch betriebenen Apparaten, eine Abhandlung (evtl. in Gestalt einer Fatwa) gewidmet hat.5 Die „Zehn Argumentationen“ sind möglicherweise das einzige seiner Werke, denen eine gewisse Popularität im schiitischen Lesermilieu beschieden gewesen ist. Als sein Gelehrtestes gilt es „in Fachkreisen“ wahrscheinlich nicht. Formal gesehen sind Šīrāzīs „Iḥtiğāğāt“ eine Mischung aus Reisebericht und (mehr oder weniger authentischem) Disputationsprotokoll. Das Büchlein gehört somit zu jenen Genres von Dialog und Streitgespräch, die in den islamischen Literaturen eine sehr lange Tradition haben und auch in der Gegenwart gepflegt werden. Diese Genres haben verschiedenartige Ursprünge und Funktionen (z. B. im Lehrbetrieb der madrasa) und zeigen unterschiedliche formale Ausprägungen im theologischen und schariarechtlichen Schrifttum sowie in der Unterhaltungs- und Reiseliteratur, und zwar sowohl als Prosa als auch in Gedichtform.6 3 Zum Hintergrund dieser Entwicklung und zu den Deportationen s. Ferhad Ibrahim: Konfessionalismus und Politik in der arabischen Welt. Die Schiiten im Irak, Münster 1997, S. 259–285. 4 Die obigen biographischen Angaben stützen sich hauptsächlich auf Muḥammad Hādī al-Amīnī : Muʿğam riğāl al-fikr wa-l-adab fi n-Nağaf ḫilāl alf ʿām, 2. Aufl. o. O. (Beirut?) 1992, II, S. 782 f.; Ḫānbābā Mušār: Muʾallifīn-i kutub-i čāpī, III, Teheran 1961, Sp.  971–972; M. Momen: An Introduction to Shiʿi Islam, New Haven u. London 1985, S. 321. 5 Al-iḥtiğāğāt, 4. Aufl., S. (32), Titel Nr. 7. 6 J. van Ess: Disputationspraxis in der islamischen Theologie. Eine vorläufige Skizze, in: Revue des Études Islamiques, XLIV (1976), S. 23–60 und ders.: Theologie

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Zu den zahlreichen Varianten dieser Werke gehört naturgemäß auch das Streitgespräch zwischen Anhängern dieser oder jener Richtung des Islam, also beispielsweise zwischen Sunniten und Schiiten, Sufis und Sufi-Gegnern oder Traditionalisten und Reformern.7 Bereits in ihren Titeln bzw. Untertiteln finden sich die meisten der Begriffe, mit denen diese Gattung von Kontrovers- bzw. Dialogliteratur bezeichnet wird, so etwa „ḫilāf“, „ğadal“, „munāẓara“, „munāqaša“, „muḥāwara“ und „musāğala“.8 Im Folgenden soll mit Bezug auf diese Genres nur von Diskussionen zwischen Schiiten und Sunniten die Rede sein. Einige der gedruckt vorliegenden Schriften dieses Inhalts haben den Charakter nachträglicher Rechenschaftsberichte (mehr oder weniger erfolgreicher) Missionare (duʿāt, sg. dāʿī), andere stellen den Versuch dar, die eigenen Glaubensgenossen auf einen Disput mit konfessionellen Gegnern vorzubereiten, und manche vereinen in sich beide Intentionen. Es gibt Dispute in Gestalt eines längeren Briefwechsels9, aber auch (Pseudo‑)Protokolle der Gespräche ökumenisch gesinnter Schiiten und Sunniten, die mit dem Bekenntnis zur Annäherung und letztendlichen Einheit schließen.10 und Gesellschaft im 2. und 3. Jahrhundert Hidschra, IV, Berlin u. New York 1997, S. 725–730. 7 Zahlreiche Beispiele für den Streit (und die entsprechenden Streitgespräche) um das Sufitum finden sich in F. de Jong/B. Radtke (Hg.): Islamic Mysticism Contested, Leiden u. a. 1999. Eine der bekanntesten (fiktiven) Disputationen zugunsten der Argumente des islamischen Modernismus sind die Muḥāwarāt al-muṣliḥ wa-l-muqallid von Muḥammad Rašīd Riḍā, Kairo 1325h (1907/1908). Zum sunnitisch-schiitischen Disput in der Neuzeit s. Brunner: Islamic Ecumenism (wie unten Anm. 9). 8 S. dazu die Artikel „Munāẓara“ und „Masāʾil wa-Adjwiba“ in: The Encyclopaedia of Islam, 2nd ed., s. v. (Bde. VI u. VII), sowie van Ess (wie Anm. 6); ferner B. Krawietz; Hierarchie der Rechtsquellen im tradierten sunnitischen Islam, Berlin 2002, Index. Zu dem von Šīrāzī im Titel und Text seines Berichts verwendeten Begriff des iḥtiğāğ s. dort S. 457. Die Bände 9 und 10 der Biḥār al-anwār von Muḥammad Bāqir Maǧlisī (= Teil IV, Ausg. 1983) tragen den Titel Kitāb al-iḥtiğāğāt wa-l-munāẓarāt. – Über eine ausgefeilte Disputationskunst verfügte offenbar die fatimidische daʿ wa, s. dazu H. Halm: Die Kalifen von Kairo, München 2003, bes. S.  350–355, u. a. gestützt auf V. Klemm: Die Mission des fātimidischen Agenten al-Mu‘ayyad fî d-dīn in Šīrāz, Frankfurt a. M. u. a. 1989. 9 Zu den in zwölferschiitischen Kreisen hoch geschätzten, aber in der gedruckten Fassung weitgehend fiktiven Murāğaʿāt, einem angeblichen Briefwechsel zwischen dem schiitischen Gelehrten ʿAbd al-Ḥusayn Šaraf ad-Dīn (gest. 1957) und einem Šayḫ al-Azhar, nämlich Salīm al-Bišrī (gest. 1917), s. R. Brunner: Islamic Ecumenism in the 20th Century, Leiden u. Boston 2004, S. 51–81. 10 Bereits ʿAbd ar-Raḥmān al-Kawākibīs um 1900 entstandenes, fiktives Kongressprotokoll Umm al-qurā hat – im Rahmen seiner allgemeinen panislamischen



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Nach wie vor zeigen jedoch die meisten dieser Schriften die Tendenz, die Position des konfessionellen Widersachers in allen Punkten als nichtig oder jedenfalls als höchst brüchig zu erweisen. Von bilateraler Annäherung kann da keine Rede sein. Ein Beispiel von sunnitischer Seite ist die Streitschrift Kayfīyat al-munāẓara maʿa š-šīʿa wa-r-radd ʿalayhim des berühmten mekkanischen Gelehrten Aḥmad b. Zaynī Daḥlān (gest. 1886), die 1324h (1906/07) in Kairo zusammen mit ʿAbdallāh as-Suwaydīs ḥuğağ qaṭʿīya, einem polemischen Werk aus dem 18. Jahrhundert, erstmals gedruckt wurde.11 Obwohl Daḥlān aufgrund seiner antiwahhabitischen Position in Saudi-Arabien nicht geschätzt wird, ist seine Kayfīyat al-munāẓara von einigen wahhabitischen Autoren der Gegenwart immerhin für würdig befunden worden, als Beispiel effektiver Widerlegung schiitischer Ansichten zitiert zu werden. Sie ist mehrfach nachgedruckt worden.12 Im Rahmen des vorliegenden Beitrags geht es hauptsächlich um Šīrāzīs „Zehn Argumentationen“ (s. o.), also um einen Bericht, in dem die Begegnung eines Schiiten mit mehreren Sunniten während des ḥağğ bzw. während der ziyāra nach Medina den Anlaß zu Auseinandersetzungen liefert. Dabei ist zu bedenken, daß beide Ereignisse bzw. Schauplätze für manche Pilger die erste und einzige Gelegenheit bieten, Anhänger der jeweils anderen Konfession zu treffen und (wenn sie es denn überhaupt wagen bzw. sprachlich vermögen) mit ihnen zu reden. Insofern bilden derartige Berichte eine aufschlußreiche, bisher – was den Aspekt des konfessionellen Dialogs betrifft – noch kaum untersuchte Materialbasis. Zielsetzung – auch diesen Aspekt. Spätere, tatsächlich durchgeführte Kongresse, so etwa der von Jerusalem von 1931, haben allerdings, was die sunnitischschiitische Annäherung betrifft, die Störanfälligkeit solcher Veranstaltungen gezeigt, s. Brunner: Islamic Ecumenism, S. 88–102. 11 Yūsuf Ilyān Sarkīs: Muʿğam al-maṭbūʿāt al-ʿarabīya wa-l-muʿarraba, Kairo 1928, Sp. 991 Nr. 11, sowie ebd., Sp. 1067, Nr. 2. Zu den ḥuğağ qaṭʿīya und ihrer Nachwirkung s. Brunner (wie Anm. 9), Index s. n. Suwaydī. 12 Zu Daḥlān s. The Encyclopaedia of Islam, II, Leiden u. London 1965, S.  91, und Yūsuf Asʿad Dāġir: Maṣādir ad-dirāsa al-adabīya, II/1, Beirut 1956, S. 364– 366. Wahhabitische Schriften gegen Daḥlān sind verzeichnet bei Abū ʿUbayda Mašhūr b. Ḥasan Āl Salmān: Kutub ḥaḏḏara minhā l-ʿulamāʾ, I, Riad 1410h/1995, S. 250–252. Der wahhabitische Autor Nāṣir b.ʿAbdallāh b. ʿAlī al-Qafārī nennt in seiner (in den 1970er Jahren entstandenen) antischiitischen Polemik Mas‘alat at-taqrīb bayn ahl as-sunna wa-š-šīʿa (Riad, 7. Aufl. 1424h/2003–2004) einen Nachdruck der Streitschrift Daḥlāns, die ein Muḥammad ʿAlī Ḥusayn unter dem Titel Kayfīyat ar-radd ʿalā r-rawāfiḍ herausgegeben hat (Masʾalat at-taqrīb, II, S. 392; Ort u. Jahr hier nicht genannt).

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Diese fiktiven oder tatsächlich geführten konfessionellen Debatten anläßlich der Pilgerfahrt zu den Ḥaramayn gewähren interessante Einblicke sowohl in die Gedankenwelt und emotionale Befindlichkeit der direkt Beteiligten, als auch ihres potentiellen Publikums. Da zeigen sich viel Unversöhnlichkeit und verbissener Eifer. Freilich ändert dies nichts an dem generellen Eindruck, den man sowohl aus der Mehrzahl der ḥağğ-Beschreibungen, als auch der innerislamischen Medienberichterstattung gewinnen muß: Die große Masse der Pilger empfindet ihre Aufenthalte in Mekka und Medina als eine Folge außerordentlicher spiritueller Erfahrungen, die nicht zuletzt vom Erlebnis der Verbundenheit mit den Glaubensbrüdern und ‑schwestern geprägt sind. Voraussetzung dafür ist allerdings, daß dogmatische Unterschiede nicht betont werden bzw. gänzlich „ausgeklammert“ bleiben. Das gelingt nicht immer und wird – auf beiden Seiten – auch nicht von allen wirklich angestrebt. Šīrāzīs Büchlein ist ein Beispiel für eine nach wie vor existierende, unverdrossen polemische Haltung – in diesem Falle auf schiitischer Seite. Es gehört zu jenen Schriften über den ḥağğ, in denen sich muslimische Autoren auf den Glaubensstreit konzentrieren und den Bericht über ihren Aufenthalt in Mekka und Medina mehr oder weniger nur als Kulisse benutzen. Andererseits gibt es zahlreiche Pilgerberichte, die zwar eindrucksvolle Protokolle (bzw. auch Pseudo-Protokolle) über konfessionelle Streitgespräche enthalten, daneben (oder hauptsächlich) jedoch auch ausführliche Erlebnisberichte, Ortsbeschreibungen und religiöse Reminiszenzen zu bieten haben. Eine umfassende Untersuchung des Themas „Pilgerfahrt und Glaubensstreit“ müßte natürlich Werke der letztgenannten Art ebenfalls einbeziehen. Was die Polemiken sunnitischer Autoren angeht, so konnten diese – aufgrund der politischen Herrschaftsverhältnisse im Hedschas – über lange Zeit ziemlich offen an die Pilgerscharen verteilt werden. Schiiten war dies (jedenfalls öffentlich) verwehrt. Hier herrschte schon unter osmanischer und haschimitischer Herrschaft keine Waffengleichheit, und noch weniger unter der der Saudis. Hinweise auf diese Situation gehören zum üblichen Repertoire schiitischer Kritiker besonders an der saudisch-wahhabitischen Religionspolitik im Allgemeinen und an deren Praxis mit Bezug auf den ḥağğ im Besonderen. In einer Petition schiitischer Staatsbürger Saudi-Arabiens aus dem Jahre 2003 wird die Problematik des Verbots schiitischer Literatur innerhalb des Landes einerseits und der gleichzeitig fortbestehenden, z. T. massiven Verbrei-



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tung antischiitischer Schriften andererseits ungewöhnlich offen angesprochen.13 Šīrāzīs „Iḥtiğāğāt“ haben mit dem Gedanken einer echten Annäherung, also des taqrīb (der zumindest partiell Kompromisse erfordern würde), nichts zu tun. Der Autor vertritt die Rolle, die der des mukāsir in der einstigen fatimidischen Religionspropaganda recht nahe kommt: Es geht darum, alle Argumente des Widersachers vollständig zu „zerbrechen“.14 Insofern besteht das, was er schildert – entgegen dem im Titel der persischen Übersetzung zu findenden Begriff der munāẓara (s. o.) – nicht, wie man denken könnte, in einem wechselseitigen, wiederholten Austausch von Gesichtspunkten, sondern in der möglichst knappen Abfertigung des Widersachers: Dessen Fragen oder Einwände sollen meist schon nach wenigen Antwortsätzen als erledigt erscheinen. Der Vertreter der anderen Seite hat den Argumenten des schiitischen Gesprächspartners nichts oder nur sehr wenig entgegenzusetzen. Šīrāzī macht sich seine Sache zusätzlich noch dadurch einfach, daß er einige seiner Dialogpartner – oft ohne dies auszusprechen – als naiv, generell ungebildet und theologisch unbedarft darstellt. Deutlich wird dies besonders im Falle eines von ihm vorgestellten Predigers aus Palästina namens Sayyid Aḥmad, der meint, Nadschaf liege in Iran. Im Disput mit Šīrāzī erweist er sich (in der Darstellung seines schiitischen Widersachers) als ein nicht ernst zu nehmender Gegner. Vielmehr dient er (seinerseits unbewusst) nur als Stichwortgeber.15 Im Grunde trifft Šīrāzī – seinem Bericht zufolge – während seiner Pilgerreise nur einen einzigen Wahhabiten, der ihn aufgrund seiner Tatkraft und Hilfsbereitschaft (hinsichtlich der Muḥarram-Feierlichkeiten in Medina) positiv beeindruckt (s. u.). Es lohnt sich, an dieser Stelle auf ein weniger als zwanzig Jahre später entstandenes Werk hinzuweisen, in dem ein schiitischer Gelehrter aus 13 Der arabische Text, den ca. 450 schiitische Staatsbürger Saudi-Arabiens mit vollem Namen unterzeichnet haben, erschien u. a. in der Beiruter Tageszeitung „As-Safīr“ vom 22. Mai 2003. S. dazu meine kommentierte deutsche Übersetzung der Petition (unter dem Titel „Teilhaber an dem einen Vaterland“) in M. Ritter/R. Kauz/B. Hoffmann (Hg.): Iran und iranisch geprägte Kulturen. Studien zum 65. Geburtstag von Bert G. Fragner, Wiesbaden 2008, S. 336–346, bzw. eine englische Fassung in Fouad Ibrahim: The Shiʿis of Saudi Arabia, London 2006, S. 257–262. – Zur neueren wahhabitischen Polemik s. I. Hasson: Les šīʿites vus par les néo-wahhābites, in: Arabica, 53 (2006), 299–330. 14 S. dazu Klemm: Die Mission (wie Anm. 8), S. 203 f. 15 Al-iḥtiğāğāt, S. 19, 21.

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dem Libanon die Diskussionen schildert, die er anläßlich seines ḥağğ im Jahre 1383h (1964) und der anschließenden ziyāra nach Medina mit wahhabitischen Gelehrten geführt hat. (Ob diese Gespräche im Detail so verlaufen sind, wie der Autor es darstellt, mag man bezweifeln, aber rein erfunden sind sie sicher nicht.) Es handelt sich um Muḥammad Ğawād Muġnīya (gest. im Dezember 1979) und sein Buch Hāḏī hiya al-wahhābīya, in dem es ein Kapitel über seine Diskussionen im Hedschas gibt.16 Letztere werden relativ ausführlich wiedergegeben. Bei den Gesprächspartnern (die er namentlich nennt) handelt es sich nicht, wie bei Šīrāzī, überwiegend um anonym bleibende Moscheebedienstete oder Zufallsbekanntschaften, sondern um hochrangige Richter und andere Vertreter des wahhabitischen Establishments. Muġnīya findet unter ihnen solche, die ihm hoffnungslos verstockt erscheinen, aber auch einige wenige, die ihm geistig offen, nachdenklich und gesprächsbereit begegnen. Mit Bezug auf einen – der aus der Familie Muḥammad b. ʿAbd al-Wahhābs, den Āl aš-Šayḫ, stammt – erlaubt er sich den Hinweis, daß die saudische Regierung in ihrem eigenen Interesse gut beraten wäre, einen aufgeklärten Mann dieses Kalibers zum Botschafter in einem islamischen Land zu machen.17 Zurück zu Šīrāzī. Dieser hat seinem Büchlein ein kurzes Vorwort vorangestellt (S.  3–4) und den eigentlichen Bericht über seine Diskussionen in zwei Teile (faṣl) gegliedert. Der erste, kürzere (S. 5–12) enthält die skizzenhafte Beschreibung seiner Streitgespräche in Mekka (iḥtiğāğāt Nr. 1–4), der zweite (S. 13–30 bzw. 33) diejenigen, die er in Medina geführt hat und die er wiederum mit iḥtiǧāǧ Nr. 1 beginnen lässt. Der letzte (Nr. 6, insgesamt also der zehnte) bildet mit vier Seiten das längste Unterkapitel. Im ersten Teil geht es um folgende Themen, d. h. Fragen bzw. Einwände von Sunniten, die der Autor zu beantworten hat: 1. Was hält Šīrāzī von dem Hadith, dem zufolge Muḥammad gesagt haben soll, wenn es nach ihm überhaupt einen weiteren Propheten (nabī) geben könnte, dann müsste dies ʿUmar sein. Der schiitische Autor erklärt diese Überlieferung zu einer reinen Lüge und verweist auf einen bekannten, auch von Sunniten anerkannten Hadith, wonach ʿAlīs Verhältnis zu Muḥammad dem Aarons gegenüber 16 In der mir vorliegenden Auflage (Teheran 1987) findet sich dieses Kapitel auf S. 34–55. 17 Es handelt sich um den Generaldirektor der Kontrollbehörde für Religionsfragen, Šayḫ Muḥammad b. ʿAbdallāh Āl aš-Šayḫ, lt. Šīrāzī einen Bruder des damaligen Awqāf-Ministers (al-iḥtiğāğāt, S. 42–44).



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Moses entspreche – mit dem Unterschied, daß es nach Muḥammad keinen weiteren Propheten gebe.18 Der Wahhabit muß sich geschlagen geben: Fa-bahata wa-sakata. 2. Wie kann die Zwölferschia die Erlaubnis der Zeitehe (mutʿat an-nisāʾ) rechtfertigen? Šīrāzī bringt seinen sunnitischen Gesprächspartner mit dem seit Jahrhunderten üblichen Argument zum Schweigen, daß der Prophet (gerade auch dem Zeugnis ʿUmars zufolge) die mutʿa erlaubt habe. ʿUmar sei nicht legitimiert gewesen, daran etwas zu ändern. Das von ihm ausgesprochene Verbot sei eine bidʿa und insofern nichtig. Von der in der Neuzeit beliebten Rechtfertigung der mutʿa als Mittel zur Lösung sozialer Probleme ist hier nicht die Rede19. 3. Trifft es zu, daß die Schiiten die (ersten zwei oder auch spätere) Kalifen schmähen, und warum tun sie das? Šīrāzī macht zunächst einen Unterschied zwischen der Masse (ʿawāmm), deren Mehrheit tatsächlich Schmähungen ausspricht, und den Gelehrten der Schia. Unter letzteren gebe es nur einige, die diese Beschimpfungen gutheißen20. Es folgt die traditionelle Darlegung der zwölferschiitischen Beurteilung der Prophetengefährten und die Verurteilung der Schmähung ʿAlīs durch Muʿāwiya und andere; ferner die Rechtfertigung der Ansicht, jeden töten zu dürfen, der die Imame der Schia beschimpft. Die Schmähung der Kalifen gehöre nicht in dieselbe Kategorie, denn die Liebe zu den Āl al-bayt sei eine religiöse, sich aus Koran und Hadith genauso ergebende Pflicht wie z. B. das Fasten. Für eine etwaige Liebe zu den Kalifen gelte dies keineswegs. Diese ersten drei Fragen werden Šīrāzī von einem Gelehrten gestellt, der ihn vor einer Buchhandlung in Mekka in ein Gespräch verwickelt. Dessen Vorurteil gegenüber einem Schiiten versucht der Autor bereits in einem kurzen Vorspann zur ersten Frage dieses Mannes zu zeigen (S.  5): Während Šīrāzī ein dort ausliegendes Koranexemplar ergreift, 18 A. J. Wensinck et al.: Concordance et indices de la tradition musulmane, VI, Leiden 1967, S. 422a. 19 Einen Überblick über die Entstehung und Entwicklung des innerislamischen Streits um die Zeitehe bietet A. Gribetz: Strange Bedfellows: Mutʿat an-Nisāʾ and Mutʿat al-ḥajj, Berlin 1994. Zur neuzeitlichen Diskussion s. W. Ende: Ehe auf Zeit (…), in: Die Welt des Islams, 20 (1980), S. 1–43. 20 Zur Frage der Beurteilung der ṣaḥāba, ihrer Schmähung (sabb) etc. s. L. Wiederhold: Blasphemy against the Prophet Muhammad and his Companions (…), in: Journal of Semitic Studies, 42 (1997), S. 39–70; zur Behandlung dieser Streitfrage zwischen Sunniten und Schiiten in der Gegenwart s. Brunner: Islamic Ecumenism, Index s. v. ṣaḥāba und cursing.

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um die Qualität des Druckbildes zu prüfen, fragt ihn der in der Nähe sitzende sunnitische (wahhabitische?) Gelehrte sofort, ob er etwa den Korantext zur Wahrsagerei missbrauchen wolle. Mit der Zurückweisung dieser Vermutung beginnt das Gespräch der beiden.21 4. Iḥtiğāğ Nr. 4 leitet ein Thema ein, das vom Verfasser im Folgenden mehrfach aufgegriffen wird und in der Tat eine zentrale Streitfrage berührt: Das Berühren und Küssen heiliger Gegenstände und die wahhabitische Position in dieser Sache. Der letzteren zufolge sei dies širk oder müsse zwangsläufig dazu führen. Im an dieser Stelle geschilderten Fall geht es darum, daß ein Mekka-Pilger das Gitterwerk um den Maqām Ibrāhīm küßt und von einem saudischen Schutzmann grob zurechtgewiesen wird: Dies sei širk, denn es handle sich nur um einfaches Eisen. Daraufhin mischt sich Šīrāzī ein: Der Schwarze Stein in der Kaʿba sei doch auch nichts weiter als Stein. Wie könne es also erlaubt sein, ihn zu küssen? Aber auch nach wahhabitischer Überzeugung sei das ja der Fall. Šīrāzī greift dieses Thema bereits im ersten Unterkapitel von Teil 2 (d. h. bei den von ihm geschilderten Begebenheiten in Medina) wieder auf, nämlich im Zusammenhang mit der bei Zwölferschiiten üblichen Verwendung von Gebetssiegeln beim ṣalāt.22 Er verweist in diesem Zusammenhang darauf, daß ja auch die vier sunnitischen Rechtsschulen sich hinsichtlich bestimmter Details des rituellen Gebets unterscheiden. Außerdem sei klar, daß die Berührung des Gebetssiegels mit der Stirn keine Anbetung des Gegenstandes an sich bedeute. Im zweiten Unterkapitel des zweiten Teils wird diese Auseinandersetzung mit Bezug auf das Küssen des Gitterwerks vor dem Prophetengrab weitergeführt. Es geht Šīrāzī um das Argument, daß ganz 21 Der wahhabitische Gelehrte vermutet, Šīrāzī wolle aus dem Korantext ein gutes Omen (faʾl) für sich herauslesen. Da er in seinem Gegenüber einen Schiiten erkennt, ist er überzeugt, daß es da nicht mit rechten Dingen zugehen kann.Eine Zusammenstellung von Titeln arabischer Literatur, in denen zahlreiche jener Formen der Wahrsagekunst, Magie etc. beschrieben und „entlarvt“ werden, die den Wahhabiten verdächtig bzw. verhaßt sind, findet sich (mit zahlreichen Zitaten) bei Āl Salmān (wie Anm. 12), I, S. 99–143. Breiten Raum nimmt hier (bes. S. 108 ff.) der Nachweis ein, daß es sich bei dem Kitāb al-ğafr um eine gefährliche Fälschung handle. Dieses Werk wird (vor allem von Schiiten) dem 6. Imam Ğaʿfar aṣ-Ṣādiq (bzw. ʿAlī b. Abī Ṭālib) zugeschrieben. S. dazu Art. „Djafr“ in: The Encyclopaedia of Islam, 2nd ed., II, Leiden 1965, S. 375–377, vgl. auch den Art. „Fa‘l“, ibid., S. 758–760. 22 S. dazu H. Venzlaff: Mohr-e Namāz. Das schiitische Gebetssiegel, in: Die Welt des Islams, 35 (1995), S. 250–275.



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profane Materialien durch ihre Nähe zu einem heiligen Ort oder durch die enge Verbindung mit einem heiligen Gegenstand selbst eine religiöse Weihe annehmen können. Daher sei es im Prinzip erlaubt, sie mit dem Wunsch der Erlangung göttlichen Segens zu küssen. Das gelte für das (aus Istanbul stammende) metallene Gitterwerk vor dem Prophetengrab ebenso wie etwa für den Ledereinband eines Koranexemplars: Tierhaut bzw. Leder sei an sich keineswegs schutz- und verehrungswürdig, ein lederner Koraneinband jedoch sei es nach gemeinsamer Überzeugung aller Muslime in hohem Maße. Im dritten Unterkapitel des 2. Teils (S.  19–21) bedient sich Šīrāzī einer bei Schiiten generell beliebten Argumentationsmethode, nämlich der Stützung der eigenen Position durch einen auch bei Sunniten als echt anerkannten Hadith. Es geht hier, mit Berufung auf Fāṭima, um den Imam Ḥusayn, die künftige Bestrafung seiner Mörder durch Gott sowie um die Verheißung des Paradieses für all jene, die um Ḥusayn Tränen vergießen. Es ist der sunnitische Prediger aus Palästina (s. o.), der diese Überlieferung zitiert und beglaubigt. Ein von Šīrāzī herbeigerufener saudischer Wachmann ist nicht so recht von der Echtheit des Hadith und schon gar nicht von seiner Auslegung zugunsten der Schia zu überzeugen, aber ein paar ägyptische Pilger zeigen sich immerhin beeindruckt. Im vierten Unterkapitel beschreibt unser Autor seinen Disput mit einem Angehörigen der „Hayʾat al-amr bi-l-maʿrūf wa-n-nahy ʿan almunkar“23 über die Frage, wo das Grab Fāṭimas zu suchen sei. Šīrāzī ist, wie viele Schiiten, überzeugt, daß es im Hof der Prophetenmoschee liege, während der Wahhabit darauf beharrt, daß es sich auf dem Friedhof von Medina, dem Baqīʿ al-Ġarqad, befinde. Das stehe auf Grund des Konsensus aller (sic) Muslime fest, und dementsprechend habe der König (Ibn Saʿūd) verfügt, daß allein die Grabstelle auf dem Baqīʿ besucht werden dürfe.24 Šīrāzī bleibt bei seinem Vorsatz, innerhalb der Prophetenmoschee erst das Grab Fāṭimas und dann das des Propheten zu besuchen. Der Wahhabit entfernt sich, und unser Autor bedauert nur, keine Gelegenheit mehr gehabt zu haben, diesem Widersacher weitere Argumente für die Richtigkeit seines eigenen Standpunktes zu liefern.25 23 Zu dieser Organisation, einer Art Religionspolizei, s. G. Steinberg: Saudi-Arabien, München 2004, S. 148–151. 24 Zum Baqīʿ s. die unter Anm. 30 genannte Literatur. 25 Auch moderne schiitische Autoren räumen (auf der Basis älterer Überlieferungen) ein, daß zumindest drei unterschiedliche Örtlichkeiten in Medina als wahrscheinliche Begräbnisstätten Fāṭimas in Frage kommen, darunter der Baqīʿ, s.

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Das fünfte Unterkapitel von Teil 2 enthält die knappe Beschreibung eines Disputs mit medinensischen Gelehrten über die Vorzüge ʿAlī b. Abī Ṭālibs und, davon ausgehend, über das Erlaubtsein der Verfluchung nicht nur des Umayyadenkalifen Yazīd, sondern auch seines Vaters Muʿāwiya.26 Der Disput ergibt sich (ohne daß der Autor diesen Zusammenhang deutlich ausspricht) angesichts der Tatsache, daß ʿĀšūrāʾ näher gerückt war. Šīrāzī und seine Gefährten wollten den Trauertag im Bustān Ṣafā begehen – einem traditionellen Gebets- und Versammlungsort schiitischer Pilger, der vielen von ihnen auch als Herberge diente.27 Er erwähnt, daß sich auch etwa 20 Sunniten aus einigen Dörfern Khorasans (die er, von ökumenischem Geist unberührt, als „abnāʾ al-ʿāmma“ bezeichnet) in dem Garten aufhielten. Diese waren bereit, ihren schiitischen Landsleuten zusätzlichen Platz für deren mağlis-taʿziya einzuräumen. Šīrāzī musste allerdings damit rechnen, daß jene khorasanischen Sunniten an der bei solchen Zusammenkünften üblichen Verfluchung (laʿn) Yazīds und Muʿāwiyas Anstoß nehmen würden. In seiner Diskussion mit den medinensischen Gelehrten – die eigentlich in dem Garten waren, um ihre sunnitischen Glaubensgenossen aus Khorasan zu sehen – kommt Šīrāzī, ausgehend von der Frage des laʿn, auch auf den Koranvers über den Gehorsam gegenüber den ūlū l-amr (4: 59) und dessen Auslegung zu sprechen. Er besteht darauf, daß der Vers niemals im Sinne einer allgemeinen Gehorsamspflicht gegenüber allen real existierenden Machthabern in der Geschichte des Islam hätte verstanden werden können bzw. heute so verstanden werden dürfte. Vielmehr müsse er allein auf die Imame der Āl al-bayt bezogen werden, und somit auch auf den 12., den Mahdī. Deutlicher wird der Autor nicht. Vielmehr beschränkt er sich auf den Schlußsatz: „Dem Verständigen genügt die Andeutung“. Man kann annehmen, daß seine Zurückhaltung (auch) mit einer gewissen Rücksichtnahme auf die staatliche Zensur im Irak und in Iran zusammenhängt, d. h. mit dem Misstrauen der jeweiligen Regierungen gegenüber dem grundsätzlichen Politikverständnis großer Teile des schiitischen Klerus. Angesichts einer Flut von Publikationen über die Vorgeschichte der „Islamischen Revolution“ in Iran (1979) muß dies hier nicht weiter ausgeführt werden. Yūsuf Raġdā al-ʿĀmilī: Maʿālim Makka wa-l-Madīna bayn al-māḍī wa-l-ḥāḍir, Beirut 1997, S. 307–310. 26 S. dazu W. Ende: Arabische Nation und islamische Geschichte, Beirut u. Wiesbaden 1977, S. 23 f. und 52–55. 27 Zum Ṣafā-Garten s. W. Ende: The Nakhāwila, a Shiite Community in Medina. Past and Present, in: Die Welt des Islams, 37 (1997), S. 263–348, dort 324 f.



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Im sechsten und letzten Unterkapitel skizziert Šīrāzī eine Diskussion, die er mit einigen seiner Gefährten im Hause des Scherifen Šāhīn, eines Notablen von Medina, führte.28 Diesem Gespräch war eine Aufforderung der Polizeibehörde an alle sich in Medina aufhaltenden Schiiten vorausgegangen, in den kommenden Tagen jegliche taʿziya-Feiern zu unterlassen. Unter den Gästen des Scherifen Šāhīn befand sich auch ein Mann, den der Herr des Hauses als eine wichtige Persönlichkeit aus der Entourage (oder der Verwandtschaft) von Ibn Saʿūd vorstellte (Šīrāzī verwendet den nicht eindeutigen Begriff mansūb). Jener hörte sich die Beschwerde Šīrāzīs über das Verbot der taʿziya an und erwirkte daraufhin durch seine Intervention beim Gouverneur einen Beschluß, dem zufolge die taʿziya–Veranstaltungen stattfinden dürften. Allerdings kam Šīrāzī und seinen Reisegefährten bald darauf ein Gerücht zu Ohren, wonach die sunnitischen Einwohner von Medina den 10. Muḥarram als Freudentag zu begehen pflegten. Das veranlaßte sie, sich am Vortage nicht in Medina, sondern außerhalb der Stadt zu versammeln und dort am Tage danach ʿĀšūrāʾ zu begehen. (Eine Reihe von Ortschaften in der unmittelbaren Nähe von Medina, so etwa Al-ʿAwālī, waren damals ausschließlich von Schiiten bewohnt). Šīrāzī fordert die saudischen Behörden auf, die verwerfliche Praxis eines Freudentages (die er anscheinend für erwiesen und generell verbreitet hält) zu unterbinden und öffentliche taʿziya-Veranstaltungen generell zuzulassen. Repräsentanten des Staates sollten – ähnlich wie in anderen islamischen Ländern – bei solchen Gelegenheiten anwesend sein. Das war damals, und ist auch heute noch (ungeachtet leichter Lockerungen) eine unrealistische Forderung.29 Nach einem vagen Hinweis auf die Frage der Errichtung von Bauten über Gräbern – von der er sagt, sie könne hier nicht im Detail behandelt werden – bricht Šīrāzīs Bericht unvermittelt ab. Sein Verzicht auf 28 Es handelt sich um den Angehörigen einer in Medina seit Jahrhunderten einflußreichen, sich ursprünglich (mehr oder weniger offen) zur Schia bekennenden Familie von ašrāf; s. dazu The Nakhāwila, S. 279–287. 29 Sie wird neuerdings von schiitischen Staatsbürgern Saudi-Arabiens verstärkt erhoben, so etwa in der oben Anm.  13 erwähnten Petition von 2003. – Hinsichtlich der Angabe Šīrāzīs, in Medina habe um 1942 der Brauch bestanden, ʿĀšūrā‘ als Freudentag zu begehen, sind starke Zweifel angebracht. Mit Bezug auf diesen Zeitraum und diese Stadt sind mir keine weiteren Belege bekannt. Bereits der bei den Wahhabiten hoch geschätzte Gelehrte Ibn Taymīya (gest. 1328) hat sich gegen eine derartige Praxis einiger Schiitenhasser ausgesprochen, s. Su‘āl fī Yazīd b. Mu‘āwiya, ed. Ṣ. al-Munağğid, in: Revue de l’Académie Arabe de Damas, 38 (1963), S. 452–464 u. 672–678.

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W. Ende

die Behandlung dieses strittigen Themas (und der damit zusammenhängenden Probleme des Gräber- und Heiligenkults) ist auffällig. Aufgrund der Tatsache, daß auf dem Baqīʿ vier Imame der Schia begraben liegen (also mehr als irgendwo sonst) und daß die Zerstörung ihres Mausoleums durch die Wahhabiten (1926) ein zentrales Thema schiitischer Berichte über Medina darstellt,30 ist dies nahezu unerklärlich. Freilich könnte es sein, daß Šīrāzī in der Tat keine Gelegenheit gefunden hat, während seines Aufenthalts daselbst über dieses Thema mit einem Widersacher zu diskutieren. Aber die Sache bleibt merkwürdig. Abschließend sei noch kurz auf die politischen Verhältnisse verwiesen, unter denen Šīrāzīs Reise stattfand: Aufgrund des 2. Weltkrieges waren die Pilgerzahlen seit 1939 stark zurückgegangen. Für das Jahr 1942, als unser Autor seine Wallfahrt antrat, wird die Zahl von lediglich 25 000 aus dem Ausland kommenden Pilgern genannt.31 Saudi-Arabien – damals noch kein reicher Staat, und folglich auf Einnahmen aus dem ḥağğ angewiesen – hatte ein starkes Interesse daran, auch unter den obwaltenden Umständen Besucher seiner beiden Heiligen Stätten anzuziehen. Darunter durften, ungeachtet aller Vorbehalte aufgrund der wahhabitischen Lehre, durchaus auch Schiiten sein. Die Machtübernahme der Wahhabiten im Hedschas (1924–1925), die Zerstörung der Grabmale auf dem Baqīʿ (1926) und andere ihrer Zwangsmaßnahmen blieben allerdings gerade bei den Schiiten im Irak, in Iran und in Indien unvergessen. Zwar reisten entgegen allen Boykottaufrufen (und entsprechenden Fatwas) schon bald nach 1926 wieder schiitische Pilger zu den ḥaramayn, aber nicht wenige Schiiten hielten es nach wie vor nicht für angebracht (bzw. für zu gefährlich), ḥağğ und ziyāra unter wahhabitischer Kontrolle durchzuführen. Mehr oder weniger zutreffende Berichte über vielfältige Schikanen, denen schiitische Pilger seitens der saudischen „Religionspolizei“ ausgesetzt waren, verfehlten nicht ihre Wirkung. Um 1940 soll ein schiitischer Geistlicher aus dem Irak (wahrscheinlich der damals auch politisch einflußreiche Gelehrte Muḥammad Ḥusayn al-Kāšif al-Ġiṭāʾ) sich unter Hinweis auf diese 30 Aus der Fülle (polemischer) schiitischer Stellungnahmen sei genannt: Ğa‘far Subḥānī: Maʿa l-wahhābīyīn fī ḫiṭaṭihim wa-ʿaqā‘idihim, Teheran 1406h (1985/86). – Zum Baqīʿ, zur Zerstörung der Mausoleen, Grabsteine etc. durch die Wahhabiten sowie zur schiitischen Reaktion darauf s. etwa al-ʿĀmilī (wie Anm.  25), S.  401 ff., sowie Yūsuf al-Hāğirī: Al-Baqīʿ, Beirut 1411h (1990), vgl. Ende: The Nakhāwila, S. 265 f. und 318–320. 31 S. Art. „Makka“ in The Encyclopaedia of Islam, 2nd ed., VI (1991), S. 169 sowie D. Long: The Hajj Today, Albany, N. Y. 1979, S. 128 f.



Pilgerfahrt und Glaubensstreit

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Verhältnisse gegen die Mekka –Pilgerfahrt ausgesprochen haben. Daß die Atmosphäre generell gespannt war und leicht in eine Art Lynchjustiz umschlagen konnte, zeigt ein Vorfall, der sich im Dezember 1943, ein Jahr nach Šīrāzīs Reise, in Mekka zutrug: Ein junger iranischer Pilger wurde unter der Beschuldigung, er habe die Kaʿba willkürlich beschmutzen wollen, von den Wahhabiten unverzüglich hingerichtet. Dies führte zum zeitweiligen Abbruch der diplomatischen Beziehungen zwischen Iran und Saudi-Arabien.32 Auch in der Folgezeit hat es im Zusammenhang mit Mekka-Pilgerfahrt und Medina-Besuch zwar Gesten der Brüderlichkeit zwischen Sunniten und Schiiten, aber auch diesen oder jenen Glaubensstreit gegeben. Für Außenstehende kann der im vorliegenden Beitrag skizzierte Bericht Šīrāzīs einige Einblicke in die Themen liefern, die da verhandelt wurden und werden, sowie in die Atmosphäre, in denen solche Dispute stattfinden (oder nachträglich als solche erfunden werden). Ohne Zweifel möchten die meisten Muslime zumindest während des ḥağğ sowie bei der ziyāra nach Medina jeglichen konfessionellen Streit vermeiden, und missbilligen daher das Auftreten von Störenfrieden. Viele von ihnen sind überzeugt, daß die Pilgerfahrt zu den beiden Heiligen Stätten die Brüderlichkeit unter den Muslimen tatsächlich stärkt: Eine von drei Mitarbeitern der Kennedy School of Government der Harvard University angefertigte Studie aus dem Jahre 2006, in deren Rahmen die Meinung von mehr als 1600 pakistanischen Mekkapilgern eingeholt worden war, führte zu einem (wohl nicht jeden überzeugenden, aber bemerkenswerten) Befund: Nach Meinung der befragten Personen fördert die Wallfahrt nach Mekka die innerislamische (interethnische und interkonfessionelle) Toleranz und Harmonie ganz eindeutig. Sogar die Haltung der Muslime gegenüber Nichtmuslimen werde durch diese Pilgerreise positiv beeinflußt.33 Diese Botschaft hören wir gern.

32 Brunner: Islamic Ecumenism, S. 130 f. mit Anm. 40. 33 P. K. Abdul Ghafur: Haj Promotes Tolerance, Confirms Harvard Study, in: Arab News (Dschidda), 6. Mai 2008.

„Franchising“ ʿAlī Šarīʿatī: von der Übernahme und Verzerrung eines iranischen Ideologen in Südafrika* S. Fathi „Well, if you take all his major works, there are different concepts and obviously these were seminal works and had been exposed to people we had already studied like Frantz Fanon and others. But also his understanding of European and possibly universal political trends and philosophies …. There was a writer who came from a traditionally Islamic background and had actually lived in those circles (French existentialism, Sorbonne), (…). The fact that he was martyred in London in 1977 that was also to his credit (…) It is not every person that is fortunate to be martyred based on propagation of his ideas. We had Trotzky who was martyred by Stalin, Hassan al-Banna, Qutb (…). So, when he talks about martyrdom you are talking to a person who was on his route towards martyrdom already.“1

* Dieser Aufsatz ist aus meiner in Arbeit befindlichen Habilitationsschrift entstanden, die sich in detaillierter Weise der Rezeption ʿAlī Šarīʿatīs in Südafrika widmet. Ich bin Gernot Rotter bei der Wahl dieses Themas in vielerlei Hinsicht verpflichtet. Durch sein persönliches Interesse am Islam in Afrika hat er mir dieses bis dahin verschlossene Thema nahe gebracht. Zu Beginn meiner Assistentur an der Universität Hamburg entstand in zahlreichen Gesprächen eine schemenhafte Vorstellung meines zu bearbeitenden Themas und letztlich kam ich durch Professor Rotters Beteiligung am Sonderforschungsbereich 520 „Umbrüche in afrikanischen Gesellschaften und ihre Bewältigung“ in Kontakt mit Wissenschaftlern aus unterschiedlichen Disziplinen und einem reichen Bestand an zusammengetragener Literatur, die mir in meinen Recherchen unendlich nützlich waren. Hiermit sei mein Dank an alle Beteiligte ausgesprochen. Ein Wort zur Umschrift: Ich halte mich an die Umschrift der DMG, außer in direkten Zitaten und Interview Auszügen. Der besseren Lesbarkeit wegen verzichte ich auf die Kennzeichnung falscher Umschrift durch [sic]. Südafrikanische Namen und Organisationen werden in ihrer gängigen Form wieder gegeben. 1 Interview mit Ahmad Cassim, Begründer von Qibla and Chairperson der IUC, 1. und 6. Oktober, 2002.

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„(…) I mean there were a number of people that we revered at the time. I mean, there’s Fazlur Rahman, there’s (…) there’s this Iranian… what’s his name (…)“2 „We would get contemporary scholars to our shores to address our major programmes. And contemporary scholars, yes, we had people like Shariati also (…) Those are contemporary scholars that visited our shores and we learnt a lot from them and basically a lot of what they have brought to us, we’ve basically taken seriously.“3 „60 % of the success of the Iranian revolution was due to him because it was the youth who made it and he drew the youth (…) Shariati went underground and the youth still followed him (…) [he] got us out of the slumber and realize the potential and confront the evil of apartheid and it was driven more home when we realized this man was martyred.“4 „The first article I read about Shariati was half a page (half in English and half in Farsi) in 1976. We were thirsty for more. (…) the feeling we got was that the clergy preferred us not to ask about literature from Shariati, but that did not stop us because we needed guidance in our struggle against the apartheid regime (…). Shariati is more specific, Imam Khomeini is more general. Shariati relates to Africa, he takes on their minds and tells them get out of this slavery and remove the chains. And at the same time talking to the armchair intellectuals. We could easily identify with him because all the issues that he raised, were issues that we were confronted with in our struggle against apartheid. So we could easily adopt some of those ideas, esp. in our halqas.“5 „(…) and we went to Ali Shariati’s translation of the Qurʾan“6 „When I read Shariati or Abdu or Afghani I think that they were wonderful children of their times but I think that (…)“ questioner completes sentence: the time and the challenges have changed. Esack agrees: „absolutely“.7 2 Interview mit Mastura Sadan, Mitglied des Call of Islam, aufgezeichnet von Ursula Günther, 12. November, 2001. 3 Interview mit Mahdi Samodien, Mitglied der MYM, aufgezeichnet von Inga Niehaus, 19. Oktober, 2000. 4 Interview mit Shu’aib Booley, Leiter des Imam Sadeq Islamic Research Council und in enger Kooperation mit dem Gugulethu Islamic Center, 30. September, 2002. 5 Interview mit Shu’aib Booley. 6 Interview mit Fatima Noordien, Mitglied der MYM, aufgezeichnet von Ursula Günther, 16. August, 2000. 7 Interview mit Farid Esack aufgezeichnet von Stefan Fix, 13. und 15. Juli, 2001 in Hamburg.



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I. Um es vorwegzunehmen: ʿAlī Šarīʿatī8 war niemals in Südafrika, er hat nie den Qurʾān übersetzt und er war niemals aktiv an der Antiapartheidbewegung oder dem Kampf gegen den Schah beteiligt. Er starb 1977 an einem Herzleiden im Londoner Exil – ein Umstand, der unter seinen Anhängern bis heute angefochten wird und als nicht endgültig geklärt gilt, da es einer posthumen hagiographischen Konstruktion und dem Märtyrerimage entgegenwirkt. Er lässt sich auch nicht unbedingt als Aktivist bezeichnen. Der iranische Soziologe und Ideologe hat die islamische Revolution im Iran maßgeblich beeinflusst, indem er die mehrheitlich säkular eingestellte, urbane iranische Jugend mit der Ideologisierung der Religion vertraut machte.9 Er „entstaubte“ den Islam der traditionellen Gelehrten, so dass dieser in politisierten, universitären Kreisen salonfähig wurde und damit dem Monopol der etablierten Geistlichkeit entrissen wurde. Šarīʿatī durchlief im iranischen Kontext einen Prozess der Mystifizierung, Symbolisierung und ikonographischen Überhöhung10. Interessant ist, dass dieser Prozess zu einem gewissen Grad in Südafrika dupliziert wurde, wenn auch unter anderen Vorzeichen und mit unterschiedlichen Abstufungen. Was den Prozess in Südafrika jedoch noch interessanter macht, ist, dass Šarīʿatī unter den dort ansässigen muslimischen Bevölkerungsgruppen als ein Fremdkörper bezeichnet werden kann. Er ist nicht dem ethnisch näher liegenden „indo-pakistanischen“ Hintergrund zuzuordnen (wie z. B. Mawdūdī, der in der indisch-stäm8 Über die Person und Rolle ʿAlī Šarīʿatīs gibt es eine Fülle von Informationen. Verwiesen sei auf Rahnema 1998, Dabashi 2006, Mirsepassi 2000, Chehabi 1990, Abrahamian 1988, Algar 1983 und viele andere. Es wird an dieser Stelle nicht weiter auf seine Bedeutung für die Revolution im Iran eingegangen, nur im Vergleich zu der Situation in Südafrika und der vergleichbaren Rezeption einiger ausgewählter Konzepte. 9 Auch dazu gibt es natürlich umfangreiche Literatur, die hier im einzelnen nicht weiter aufgeführt werden soll. Šarīʿatī ist in keiner Hinsicht der erste oder der einzige, der diese Ideologisierung vorgenommen hat. Im islamischen und auch im spezifisch iranisch-islamischen Kontext gibt es viele Vorläufer und Impulsgeber, z. B. Āl-e-Aḥmad und Kasravī, auf die hier aber nicht weiter eingegangen wird. 10 Šarīʿatī ist im iranischen Kontext weiterhin sehr umstritten. Über die Kreise hinaus, die ihm von Anfang an sehr skeptisch bis feindlich gegenüberstanden, gibt es heute zunehmend mehr Stimmen, die sich kritisch mit seinen Inhalten und Auswirkungen beschäftigen.

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migen muslimischen Bevölkerung Südafrikas stark rezipiert wird) und er entstammt auch nicht dem arabischen ‚mainstream‘ der Ideologen, wie z. B. Sayyid Quṭb und anderen, publizierte somit nicht auf Arabisch, sondern Persisch – einer Sprache, die wohl auch den gelehrtesten muslimischen Intellektuellen in Südafrika nicht geläufig sein dürfte. Aber vor allem, und dies ist von viel größerer Bedeutung, ist Šarīʿatī eindeutig und zweifelsfrei dem šīʿitischen Spektrum zuzuordnen. Seine Ausführungen bedienen sich in großem Maße šīʿitischer Symbolik und sind aus diesem Kontext kaum auf einen sunnitischen Islam, wie er in Südafrika vorherrscht, zu übertragen. Nichtsdestotrotz wird und wurde ʿAlī Šarīʿatī in einigen muslimischen Kreisen in Südafrika im Zuge ihrer Politisierung während des Antiapartheid-Kampfes wahrgenommen, rezipiert und in Teilen übernommen. Die Rezeption Šarīʿatīs durchlief dabei unterschiedliche Phasen, die jeweils in einen spezifischen Kontext eingebunden sind. Das Wechselspiel der Annahme, in dem die Ideen Šarīʿatīs ein Bestandteil des Selbstbilds werden und der Ablehnung, in dem sie einem klar umrissenen Fremd/Feindbild zugeordnet wurden, sind Thema dieses Aufsatzes. Dabei wird vor allem deutlich, in welchem Maße das Eigene und das Fremde keine festen Konzepte sind, sondern fluid, im Wandel begriffen und ihre Orientierung ändern können. Sie sind Bestandteil von Gruppenbildungsprozessen und immer eng mit der Frage verbunden, wie und zu welchem Zweck Identitäten konstruiert werden, von welcher Gruppe für wen. Das Fremde ist dabei keine feste Größe, es bestimmt sich nicht durch sich selbst, sondern nur in Abgrenzung zu anderen und im Zusammenhang mit konkreten Hegemonialverhältnissen. Nach Bielefeld können diese Grenzziehungsprozesse „real, symbolisch oder imaginär sein bzw. sie sind immer eine Kombination aus diesen. (…) [und] sie sind nur als Interaktionsprozesse sinnvoll vorund darstellbar.“11 Gerade die Untersuchung der Muslime in Südafrika hebt das situative Element und den prozessartigen Charakter dieser Entwicklung hervor. Es wird sichtbar, wie stark die Konstruktion des Eigenen und des Fremden gesellschaftlich und sozial bedingt ist, wobei ich als Einschränkung einfügen muss, dass ich in meiner Diskussion zwei wichtige Ebenen auslasse: die sozialpsychologisch-individuelle und die politisch-rechtliche, und mich stattdessen auf die gesellschaftlich-soziale Ebene konzentriere. 11 Bielefeld 1998a: 105.



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II. Die Rezeption Šarīʿatīs in Südafrika, wie eklektisch und verzerrt sie auch sein mag, erscheint dennoch als Phänomen so weit hergenommen und auf den ersten Blick so unwahrscheinlich, dass dieser Tatbestand an sich eine Untersuchung rechtfertigt. Tatsächlich hat sich jedoch im Zuge der Recherchen gezeigt, dass vom sensationalistischen Standpunkt abgesehen, hier einige Prozesse am Werk sind, die an Hand des Beispiels Südafrikas quasi mikroskopisch und mikrokosmisch – und vielleicht auch modellhaft – untersucht werden können. Die muslimische Minderheit Südafrikas, gerade mal 2 % der Bevölkerung12, bildet nämlich dennoch einen reichen Mikrokosmos islamischer Denkarten und Lebenswelten. Darüber hinaus hat sich, zumindest im Bewusstsein der muslimischen Bevölkerung, die gesamte muslimische Minderheit überproportional im Kampf gegen das Apartheidregime engagiert. Tatsächlich sieht es eher so aus, dass einzelne Individuen als Motoren von Organisationen aktiv waren.13 Die Vielfalt muslimischen Lebens und Glaubens in Südafrika erklärt sich durch die ethnische Zusammensetzung und die unterschiedlichen Formen der Einwanderung. Ironischerweise war es ausgerechnet der europäische, sprich der holländische und britische, Kolonialismus, der den Islam nach Südafrika brachte. In zeitlich versetzten Einwanderungswellen, bestehend aus Sklaven, politischen Gefangenen und Exilierten, Fremdarbeitern, Zwangsarbeitern, Vertragsarbeitern und Händlern, kamen vom 17. bis zum 19. Jahrhundert aus der indonesischen und malaysischen Inselwelt, dem indischen Subkontinent und auch aus Ostafrika Muslime an das Kap der Guten Hoffnung und die Ostküste Südafrikas um Durban. Während die späteren Einwanderer, zunehmend Vertragsarbeiter und Händler aus dem indo-pakistanischen 12 Für die demographischen Aufschlüsselungen dieser Minderheit und die genauen Zahlen des letzten Zensus siehe Haferburg 2000. 13 Als Beleg kann ein Zitat von Ebrahim Rasool, Chairman des ANC Western Cape, früheres Mitglied der Muslim Youth Movement (MYM) und Mitbegründer der Organisation Call of Islam dienen: „If I was to look back, I would basically say that an organisation like Call of Islam was a fig leaf in the Adam and Eve sense for the Muslim community. It created the impression that Muslims were strong in the struggle against apartheid and it’s a good impression to maintain. […] But I think we did it successfully and I would say that there has been a contribution of Muslims to overthrow the apartheid state, not as big as it should have been, but big enough to cover our shame.“ (Interview conducted by Günther und Niehaus, 15. 8. 2000).

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Raum, sich hauptsächlich in Kwa-Zulu/Natal, Gauteng und Transvaal ansiedelten und einen eher exklusiven, orthodoxen Islam praktizierten14, bildete sich am Kap eine reiche und vielfältige Mischung, die sich durch einen eklektischen, offenen, synkretistischen, „creole“15 Islam auszeichnet. Bis in die frühen 1960er praktizierten die Muslime am Kap einen quietistischen Islam, der auf rein religiöse Belange ausgerichtet war. Angepasst an die herrschenden Unrechtsverhältnisse im Südafrika der Apartheid, gestaltete sich dieser Islam passiv und beschränkte sich auf die religiösen und familienrechtlichen Aspekte, ohne die vorherrschenden Verhältnisse durch öffentliche Aktionen in Frage zu stellen. Er orientierte sich damit am bewährten islamischen Prinzip, dass eine geordnete, etablierte Herrschaft – auch wenn sie nicht allen ethischen Standards entspricht – dem Chaos (fitna) vorzuziehen sei. Als Teil einer rückblickenden Legendenbildung wird gern von Seiten der Muslime Südafrikas ein Vermächtnis des aktiven, politischen Widerstands vom 18. Jahrhundert an aufgeführt, doch bei genauerer Betrachtung erweist sich dieser Widerstand lediglich als Ansammlung vereinzelter Aktionen, um gewisse Freiräume im religiösen Sinne zu erwirken.16 Die führenden ʿulamāʾ empfahlen, den Minderheitenstatus als Muslime 14 Für eine Aufgliederung nach Regionen und ethnischer Herkunft siehe Haron 1997. Weitere Einzelheiten zu der Besiedlung Südafrikas und den historischen Ursprüngen sind zu finden u. a. bei Davids 1985, Esack 1988, Jeppie 1991, Da Costa 1992, Tayob 1995, and Moosa 1995. 15 Diese Bezeichnung wurde von Shamil Jeppie geprägt (siehe Jeppie 1996: 157). Er führt zu diesem Thema, anlässlich der Feier zum 300 jährigen Bestehen der muslimischen Präsenz am Kap, weiter aus: „The elaboration of a Malay ethnic identity, however powerful and resonant with local interest groups, is but one of a range in a palimpsest of identity. The discourses of Arab-centered Islam, through Saudi and to a lesser extent Egyptian-schooled clerisy; of South Asian Islamic traditions through the tablighi jama’at and seminarians educated there; even the dissenting rhetoric of official Iranian Islam all have local representatives, and of course, an intellectual ‚modernism‘ is also present among a small highly educated elite.“ (Jeppie 1996: 86–87). Für Jeppie machen diese politischen und kulturellen Diskurse einen neuen „South Africanism [aus und stellen] the dynamic nature and ambivalent character of identity“ (S. 87) unter Beweis. 16 Siehe u. a. Davids 1985. Als Beispiele für diese Art der Aktionen steht z. B. der Kampf um muslimische Friedhöfe 1886 oder die Tumulte, als bekannt wurde, dass der Impfstoff, der während der Pockenepidemie des Jahres 1882 benutzt wurde, gegen islamische Vorschriften verstößt. Esack sagt es am deutlichsten, wenn er anklagend darauf hinweist, dass „there is nothing to suggest that they [Muslime] identified with the struggles of the indigenous people or that they were interested in the spreading of a politically meaningful Islam.“ Esack 1987: 2.



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zu akzeptieren so lange die grundlegenden religiösen Anforderungen und Bedürfnisse erfüllt werden. Jene, die im Widerstreit mit der Regierung stehen, sollten diese nicht bekämpfen, sondern in ein islamisches Land emigrieren (hiğra).17 So ist auch zu erklären, dass Belegstellen für einen frühen muslimischen Aktivismus nicht unter islamischer Ägide stattfanden, sondern als Teil der indischen Zivilrechtskampagne18 – z. B. Ghandi’s passiver Widerstand 1906 in Natal und Transvaal, an dem auch viele Muslime indischer Herkunft teilnahmen. Erst im Jahre 1961 erklärte der Muslim Judicial Council (MJC), der damals führende Dachverband islamischer Institutionen, die Apartheid als Häresie im islamischen Sinn.19 Drei Jahre später beugte sich der MJC, sonst eher eine konservative religiöse Instanz, dem wachsenden Druck der muslimischen Bevölkerung und berief eine nationale Konferenz ein, um gegen die Implementierung des ‚Group Areas Act‘20 zu demonstrieren. 1969 starb Imam Abdullah Haron in polizeilichem Gewahrsam und wurde somit der erste šahīd der Muslime Südafrikas21. Der Prozess der ‚Märtyrisierung‘ Imam Harons wird im folgenden noch genauer untersucht. Interessant ist es, jetzt schon festzuhalten, dass abgesehen von einer Massenkundgebung anlässlich seines Begräbnisses, der Märtyrerkult erst mit zehnjähriger Verspätung – unter dem Eindruck der iranischen Revolution, wie ich meine – aufgenommen wurde. Überhaupt zeichnen sich die frühen 70er Jahre eher durch generelle passive Erduldung immer stärkerer Repressionen und theoretischer Bewusstseinsbildung einiger organisierter Muslime aus, denn durch politischen Aktivismus. 17 Chidester 1992: 167. 18 Moosa 1995: 143. 19 Siehe Davids 1985. Ihm zufolge wurde am 7. Mai 1961 im Rathaus von Kapstadt eine Erklärung abgegeben, dass „apartheid in any form can not be condoned by Islam“. Dabei wurde Bezug genommen auf den Qurʾān (49: 13): „O Mankind! We created you from a single male and female, and made you into nations and tribes, that you may know each other not that you may despise one another. Verily the most honoured of you in the sight of Allah is one who is most righteous“. 20 Der Group Areas Act von 1950 regulierte den Wohnort nach ethnischer Herkunft und Hautfarbe, was dazu führte, dass townships und nach Rassen getrennte Wohnviertel entstanden, die die Bevölkerung ihrer gewachsenen Umgebung entrissen. Diese Gesetzgebung verkörpert die Essenz der Apartheid. Der MJC demonstrierte hauptsächlich gegen die Demontage der Moscheen in den angestammten Vierteln. 21 Eine ausführliche Analyse der Rolle Imam Harons ist zu finden bei Günther 2002.

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Seit den Schüleraufständen in Soweto 1976 sieht man ein stärkeres Engagement der Muslime im Widerstand, das bis zur Endphase der Apartheid anhält. Im Zeitraum von 1976 bis 199022 durchliefen Südafrikas Muslime mehrere Entwicklungsstufen, die durch die Notwendigkeit bedingt waren, auf veränderte Rahmenbedingungen zu reagieren. Es entstanden nicht nur neue Organisationen, sondern diese veränderten auch ihre Zielrichtung je nach den bestehenden politischen Umständen. All dies geschah in komprimierter Weise und war eng verknüpft mit dem sich ändernden muslimischen Selbstverständnis. Der hier betrachtete Zeitraum ist durch mehrere einschneidende Ereignisse gekennzeichnet, die alle Rückwirkungen auf das Selbstverständnis der Muslime hatten. Zu erwähnen seien im internationalen Kontext der Erfolg der islamischen Machtübernahme im Iran und die Folgen, die diese für die Identifikation der Muslime weltweit hatte, aber auch der libanesische Bürgerkrieg, der Iran-Irak-Krieg und der Ausbruch der ersten palästinensischen Intifada. Dies alles führte zu einem gestärkten, radikalisierten und polarisierten Bewusstsein unter muslimischen, politisch aktiven Bewegungen weltweit. In Südafrika fanden zur gleichen Zeit wichtige politische Veränderungen statt: so wurde 1983 das Dreikammer-Parlament konzipiert, die Nederduitse Gereformeerde Kerk (NGK) erklärte, dass der Islam eine „false religion“ sei und das Kairos Dokument von 1985 legte den Grundstein der Befreiungstheologie in Südafrika und eröffnete somit die Möglichkeit der interkonfessionellen Zusammenarbeit im Kampf gegen die Apartheid. Südafrikas Muslime durchliefen nun drei klar von einander abgegrenzte Phasen. Beginnend mit der rein religiösen und kulturellen Identifikation über eine politisierte Identität, die sich an der islamischen umma orientierte bis hin zur Kontextualisierung, also ein Selbstverständnis, das sich im spezifisch südafrikanischen Kontext verortet. Tayob, der ausführlich über diese drei Phasen gearbeitet hat, schreibt über den Umbruch von der ersten zur zweiten Phase, also der islamischen Politisierung: „…the ideology of Islamic resurgence, with its promise of an Islamic society and an Islamic state, has captured the imagination of a wide range of social groups in the Muslim world. No longer a marginal movement, therefore, Islamism has become central to the modern Islamic paradigm.“23 Hier nimmt er auch direkt Bezug 22 1990 wurde Nelson Mandela aus dem Gefängnis entlassen, das Verbot gegen politische Organisationen wurde aufgehoben und Mehrparteiengespräche begannen. 23 Tayob 1995: 28.



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auf Šarīʿatī, wenn er schreibt: „In Iran, for example, the popularity of Khomeini among the mullahs and the masses was matched by Shariati’s appeal among the educated youth.“24 Im Folgenden soll gezeigt werden, in welchem Maße der Einfluss der iranischen Revolution, am Beispiel Šarīʿatīs, in der zweiten Phase – der islamischen Politisierung oder Islamisierung der Muslime Südafrikas – spürbar ist und zu einer positiven Identifikation beigetragen hat. Anschließend wird auf die Gegenbewegung und die Manifestation eines Feindbilds, im Zuge der Kontextualisierung, eingegangen.

III. Nicht alle Rezipienten in Südafrika haben sich wie Tayob in detaillierter Weise mit Šarīʿatī beschäftigt. Häufig ist der Name Šarīʿatī in Diskussionen und Interviews präsent, aber er reduziert sich auf ein Symbol, dessen Kontext verwischt ist (siehe die einführenden Zitate!). Tayob gehört zu den wenigen, die ein fundiertes Wissen von Šarīʿatīs Konzepten demonstrieren, z. B. wenn er ausführt: „Shariati also explained the malaise of the Muslim in his trinity of political oppression, economic exploitation, and religious hypocrisy.“25 Dabei nimmt Tayob Bezug auf einige von Šarīʿatīs wichtigsten Konzepten, die dieser in einer für ihn typischen griffigen und eingängigen persischen Alliteration zusammenfasst: „zar-zūr-tazvīr“.26 Gemeint im iranischen Kontext ist damit die Trilogie der politischen Unterdrückung, der ungerechten Verteilung von Reichtum und der Doppelzüngigkeit des Klerus, die er zusammen genommen für die iranische Malaise verantwortlich macht. Šarīʿatī führt dieses Konzept weiter aus, wenn er schreibt: Throughout history, the powerful rulers of society have been one of three groups: the powerful, the wealthy and the clergy. They exercised political and economic power with each other and control over the faith of the people. They co-operated with each other in ruling the people. Their collaboration, whether or not they shared the same views, was in order to rule the people …27

24 Ebd.: 29. 25 Ebd.: 31. 26 Šarīʿatī 1979: 115. 27 Šarīʿatī, ʿA (n. d.) „Šahādat“ in: http://www.shariati.com/

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Diese Elemente: politische, finanzielle und durch den Klerus propagierte Unwissenheit und Passivität sind Aspekte von Unterdrückung, die weltweit zu finden und daher auch auf die südafrikanischen Verhältnisse anzuwenden sind. Speziell die Haltung der Geistlichkeit, die sich in frommer Abschottung realer Zustände in eine passive, angepasste Rolle zurückgezogen hatte, war den jungen Intellektuellen in Südafrika ein Dorn im Auge. Šarīʿatīs Kategorisierung erschien ihnen dagegen vertraut und auf das eigene Beispiel anwendbar. So ist es zu erklären, dass Tayob auch bei der vermeintlichen Lösung des Problems Šarīʿatī zitiert: The goal of Islamic resurgent training was a psychological attitude first and foremost. Ali Shariati called for new intellectuals (roshanfikr) who would take over the leadership of the Muslim society. (…) Since the modern paradigm was located firmly among educated groups, its major activity was not the communal prayer or the collective dhikr, but the study circles, discussion forums, seminars, and conferences.28

Tatsächlich hat die größte und erste der progressiven islamischen Organisationen in Südafrika, die Muslim Youth Movement (MYM)29 ein System der ḥalaqāt (study circles) entwickelt, in denen eine alternative religiöse Elite befähigt werden sollte, ein neues islamisches Idiom zu finden. Moosa sagt es eindringlich: „the Islamic revolution in Iran in 1979 provided a vital impetus for global Islamic political discourse“30. Dieser neue Diskurs wurde geprägt von südafrikanischen Muslimen, die zum größten Teil in den ḥalaqāt ausgebildet wurden, welche wiederum stark von der islamischen Revolution im Iran beeinflusst waren. Die Begeisterung, mit der die iranische Revolution in Südafrika aufgenommen wurde, ist der Tagespresse aus dieser Zeit, speziell al-Qalam, eine Publikation, die am Anfang der MYM nahe stand, später eher Qibla, und der etablierten Muslim News, später Muslim Views, zu entnehmen. Im Dezember 1979, zum Beispiel, organisierte al-Qalam eine 28 Tayob 1995: 35. 29 Gegründet 1970, wurde die MYM zur größten und einflussreichsten Organisation, die versuchte, den Muslimen Südafrikas ein neues Bewusstsein zu vermitteln. MYM präsentierte einen ganzheitlichen Islam, der als ‚way of life‘ gesehen wurde. Sie orientierte sich dabei an den islamistischen Chefideologen Quṭb und Mawdūdī, aber auch Šarīʿatī. Die MYM trat dem Prozess der Kontextualisierung recht spät bei und versuchte mit ihrem Prinzip der ‚positive neutrality‘ bis zuletzt, der Frage der Allianzbildung mit Nichtmuslimen im Antiapartheid Kampf aus dem Wege zu gehen. 30 Moosa 1995: 149.



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Demonstration in Kapstadt zur Unterstützung der Revolution. Der neue Diskurs wurde auch durch die Bücher Šarīʿatīs, und später Ḫumaynīs und Muṭahharīs, informiert, die sich in den Buchläden der MYM fanden und die Leselisten der ḥalaqāt ergänzten.31. Moosa zufolge war es von nicht zu unterschätzender Bedeutung, dass diese Revolution in einem Staat erfolgte, der aus Sicht der südafrikanischen Muslime zum Zentrum der islamischen Welt gezählt wurde und somit die Verbindung zwischen Zentrum und Peripherie herstellte und den universellen Charakter des Islam unterstrich: for those Muslim communities far away from the Muslim heartland, like South Africa, it had special significance. For the first time, Muslims found a point of reference for their religious and moral struggle, which coincided with the revolutionary zeal prevalent at the time among liberation movements in South Africa.32

Zwar liegt der Iran geographisch gesehen im Zentrum der islamischen Welt, er ist jedoch aufgrund seiner religiösen Ausrichtung und Sprache eher der Peripherie zuzuordnen. Also könnte man dieses Argument auch einfach umdrehen, indem man den šīʿitischen Inhalt dieser Revolution, repräsentativ lediglich für eine Minderheit innerhalb der umma, in den Vordergrund stellt und sich davon distanziert. Wie zu zeigen sein wird, wurde genau dieses Argument im weiteren Verlauf von der Mehrheit der Muslime Südafrikas vorgebracht. Zu Beginn der iranischen Revolution und des parallel verlaufenden südafrikanischen Bewusstwerdungsprozesses jedoch waren der šīʿitische Inhalt der Revolution und der šīʿitische Charakter von Šarīʿatīs Slogans zunächst kein Stein des Anstoßes. Vielmehr wurde in der zweiten Phase, der Politisierung und Islamisierung, der universelle Anspruch des Islam betont. Hauptziel war es, sich anhand unterschiedlicher Literatur in der islamischen Rhetorik zu schulen und ein der umma zugehöriges Bewusstsein, „an ummatic consciousness“, zu erlangen.

31 Nach Tayob 1995: 148. Er distanziert sich allerdings von seiner Ausführung des iranischen Einflusses wenn er in einer Fußnote erklärt: „support for Khomeini was taken to mean support for Islam, and a pro-Iran rally was organised for Dec. 14, 1979. When the MYM was attacked for reading Shiʾi literature, it defended its position by pointing out that their ‚spiritual guide was Prophet Muhammad‘ but they will read ‚Khomeini to al-Banna‘“. 32 Moosa 1995: 149–150.

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The ḥalaqat circulated ideas about various Islamist movements in the Muslim world. … The books, the Iranian revolution and the small group discussions all combined to develop a vocabulary for Islamism in South Africa. It provided a useful means to describe the state and the Muslim community. The apartheid state became unequivocally ṭāġūt (evil) towards the end of this phase; something that had not been identified as such in the earlier phase.33

Der hier verwendete Begriff ṭāġūt ist nur im Zusammenhang mit der islamischen Revolution wieder bekannt geworden, wo er in Abwandlung seiner ursprünglichen Bedeutung (Idol, falscher Gott) zur Umschreibung des prä-revolutionären Regime des Schahs benutzt wurde. Im Laufe der Zeit entwickelte er sich zum Synonym für die monarchische Herrschaft schlechthin. An diesem Beispiel ist zu erkennen, dass bestimmte Termini erst über das Vehikel der iranischen Revolution nach Südafrika gelangten. Auch Šarīʿatīs Ideen hielten – von einigen wenigen Ausnahmen abgesehen – erst mit der Revolution und durch sie Eingang in Südafrika. Seine Schriften wurden in englischer Übersetzung, meist der in Kalifornien ansässigen Mizan Press und Hamid Algar, durch die Islamic Book Services (IBS) verbreitet und durch Impress in Durban neu aufgelegt. Es gibt Hinweise darauf, dass einige Schriften durch die offizielle iranische Vertretung verbreitet wurden, zumindest bis zu dem Zeitpunkt, zu dem Šarīʿatī im Iran selbst noch nicht zur persona non grata erklärt worden war. Eine echte Rezeption, durch ein Studium und eine Bearbeitung der Originaltexte, fand somit nicht statt. Vielmehr stand Šarīʿatī sinnbildlich für die Faszination des Erfolgs der iranischen Revolution. Die Revolution wurde anfangs von allen Gruppierungen, ungeachtet ihrer politischen und ideologischen Ausrichtung, als Vorbild angenommen. Ein Vorbild für die Verwirklichung islamischer Ideale in der Neuzeit. Noch 1985 verkündete eine Schlagzeile der Muslim News „Iran an example for all!“34 Der Artikel betonte, es sei dringend notwendig („imperative“) für Muslime weltweit „to draw lessons from the Islamic Revolution in Iran in order to confront oppression and establish Islam against all odds.“35 Die Gründe für diese Vorbildfunktion variieren, an vorderster Stelle jedoch war häufig die Aktualisierung des 33 Tayob 1992: 115–116. Auch hier schwächt Tayob sein Argument rückblickend wieder ab, indem er darauf hinweist, dass dieses MYM Mitglieder waren, also „‚movement‘ people distinct from other Muslims“. 34 Muslim News, 29. März, 1985: 3. 35 Ebd.



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Konzeptes eines islamischen Staates zu finden, wie Shuʾaib Manjra, der Mitbegründer und ehemalige Präsident des MYM, im Interview ausführt: … clearly one of the most dramatic events was the Islamic revolution of Iran, without doubt. It inspired the movement. And I think the reason it did that is that we spoke about an Islamic State in a vacuum. And when we spoke about a model Islamic State, you always had to go back 1400 years to the time of the Prophet. But here there was the potential for an Islamic State in the twentieth century, a concretisation of something that we had spoken about, but clearly it was an inspiring event for the Islamic movement in South Africa in particular.36

Es lässt sich nachweisen, dass die islamischen Zeitungen – eine der Hauptquellen meiner Untersuchung – nicht immer mit ganz lauteren Mitteln arbeiten. In ihrem Bestreben, die Revolution als relevant für die südafrikanische Situation darzustellen, werden stellenweise Zitate und Bezüge aus ihrem zeitlichen Kontext gerissen. Ein Beispiel dafür ist wiederum eine Schlagzeile in der Muslim News vom 8. Februar, 1985, die lautet: „Struggle against oppressors will continue – Address of Imam Khomeini on the First Anniversary of the Revolution“. Mit keinem Wort wird erwähnt, dass dies eine Ansprache Ḫumaynīs aus dem Jahre 1980 ist, vielmehr wird darauf spekuliert, dass dieses Datum nicht allen gegenwärtig ist, und der revolutionäre und euphorische Tenor des iranischen „Revolutionsübervaters“ wird auf die bestehende Situation in Südafrika übertragen. Dieser Eindruck, dass Ḫumaynī hier über die aktuelle Situation Südafrikas spräche, wird verstärkt durch einen Artikel auf der gleichen Seite unter der Überschrift: „Iran to support fight against apartheid“. Dieser Artikel ist ein „exclusive message to Muslim News by Mustafa Seyed Aghaie, Iranian Charge d’Affaires in Harare, Zimbabwe, [wo es heißt] (…) the Islamic Republic pledges its support to all those fighting for the abolishment of apartheid. It also calls for the liberation of al-Quds and the expulsion of the foreign invaders from Afghanistan.“ Der Kampf gegen die Apartheid ist damit lediglich ein weiteres Beispiel in einer langen Reihe ruhmvoller Kämpfe, die der Iran zu unterstützen vorgibt. Tatsächlich handelt es sich bei dieser Solidaritätsadresse um kaum mehr als ein bloßes Lippenbekenntnis. 36 Transkript eines Interviews mit Shu’aib Manjra aufgezeichnet von Inga Niehaus, 23. Oktober 2000.

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In dieser Phase der Islamisierung wird, wie schon angedeutet, bewusst die šīʿitische Komponente der Revolution im Iran verharmlost. Südafrikanische Besucher des Landes sind nach ihrer Heimreise voll des Lobes von den revolutionären Errungenschaften und bagatellisieren den Unterschied zwischen Šīʿiten und Sunniten. When I got to Iran, I realized that most of the things that we are told by our ulema concerning the beliefs of the Shias are unfounded. Many a time I went to a masjid and picked up a Qurʾan and it was the same Qurʾan that we read; there was no difference in it.37

Implizit kommt hier eine Ablehnung der traditionellen, konservativen ʿulamāʾ in Südafrika zum Ausdruck, die zwar schon länger virulent war, sich aber angesichts der offenen Bewunderung für den revolutionären Iran erst später öffentlich artikulieren konnte. Saadullah Khan von der al-Jaamia Masjid in Claremont, der an der dritten ‚Islamic Thought Conference‘ in Tehran teilnahm, ging die Frage nach dem šīʿitischen Charakter der iranischen Revolution offensiv an und unterstellte: „It is only in the minds of those hypocrites who wish to undermine the strength and power of Islam through ploys of disunity that this issue is raised.“38 Auch Manjra bestätigt: to many of our compatriots around the world, the Shiʿa-Sunni thing was a major problem. And they saw it as a major stumbling block, which hindered their support for the Islamic revolution. … we didn’t see it as a major issue. To us it was a non-issue. 39

Unterschiede in der Glaubensdoktrin wurden absichtlich ignoriert, um die Einheit der islamischen Kräfte im Kampf gegen die Apartheid zu wahren. Dies war ein bewusster Vorgang speziell bei Anhängern von Qibla40, einer 1981 gegründeten Organisation, die einen radikalen 37 Zitat eines Imams aus Transvaal zitiert in: „Lessons of the Islamic Revolution for South Africa’s Muslims“, Muslim News, 29. März 1985. 38 Zitiert in Ebd. An dieser Konferenz nahmen 400 Schriftsteller, Gelehrte, ʿulamāʾ und Politiker aus 50 Staaten teil, unter ihnen: „Husain Fadlullah (Libanon), Muhammad Siddiq (Afghanistan), Allameh Salih al-Nifar (Tunesien), Shaikh Ahmad Toure (Senegal), Shaikh Sa’eed Sha’ban (Libanon), etc.“. 39 Transkript eines Interviews mit Shu’aib Manjra aufgezeichnet von Inga Niehaus, 23. Oktober 2000. 40 Qibla verzeichnete zu Beginn der 80er Jahre einen Zuwachs unter der politisierten Jugend speziell in Kapstadt, da die Organisation die radikalste Lösung anbot und gleichzeitig islamische Werte mit der Auslöschung von Ungerechtigkeit gleichsetzte. Ahmad Cassim, der mehr oder minder im Alleingang Qibla gründete und formte, hat es aufgrund eines ausgeprägten Persönlichkeitskults



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Islam befürwortet und in Verkennung der demographischen Tatsachen in Südafrika einen islamischen Staat nach dem iranischen Vorbild ausrufen möchte. Das folgende Zitat eines Qibla-Anhängers zeigt, wie die Unterschiede und die starke Iranorientierung mit dem pragmatischen Argument abgetan wird, dass es in Südafrika nicht genügend Gelehrte gäbe, die sie in ihrem Kampf leiten könnten: Rashad idealizes the Ayatollah Khomeini, agreeing with his principles and methods of revolution. Doctrinal differences with the Shiites are dismissed. ‚They are not as great as one thinks, and at present we in South Africa do not have enough leaders to interpret the Holy Book. Our leaders are not effective enough to head the struggle‘.41

Andere Autoren und Aktivisten übernahmen in schlichter Unwissenheit und Euphorie den iranischen Diskurs kritiklos und duplizierten, fast schon formelhaft, die im Iran vorzufindenden Formulierungen, so z. B. der Autor eines Zeitungsartikels, der im Zusammenhang mit den šīʿitischen ʿAšūrā Gedenkfeiern das Apartheid-Regime als Yazīd bezeichnet42, im fast ausnahmslos sunnitischen Südafrika ist das schwer nachzuvollziehen.

IV. Für Formeln und Slogans ist Šarīʿatī bekannt. Und so war es auch in Südafrika der eklektische Mix aus eingängigen Formeln, Symbolen, aus westlichen Theorien und islamischen Bezugspunkten und – nicht zu unterschätzen – die Herausforderung an die Adresse der traditionellen Gelehrten, die Šarīʿatī attraktiv machten. In den Worten eines anderen Vizepräsidenten des MYM, Aslam Fataar: verstanden, Segmente der Bevölkerung zu motivieren und zu radikalisieren. Er propagiert ğihād und repräsentiert eine der wenigen Organisationen, die in townships präsent sind. Seine bedingungslose Annahme und Nachahmung des iranischen Vorbilds bedeutet allerdings nicht, dass er sich theoretisch mit Konzepten von Šarīʿatī bis Muṭahharī auseinander gesetzt hätte. Er steht eher im Verdacht, offizielle Verbindungen zum Iran der Gegenwart zu haben. Des weiteren wird Qibla Anhängern und Cassim nachgesagt, sie seien konvertiert und Šīʿiten geworden. Es gibt dafür keine stichhaltigen Beweise, doch führte dieser Vorwurf zu einem Legitimationsverlust. 41 Zitiert in „Opposing Apartheid“, in: Arabia, October 1986: 20–21. 42 In der Muslim News, 22/19 vom 22. Oktober 1982 in einem editorial mit der Überschrift: „Muharram: a Call to Sacrifice“.

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in the MYM to be reading Shariati was really to challenge the orthodox line. But the challenge wasn’t a threatening one, rather it was mind-widening, never antagonistic or censured. Because what Shariati produces is a model that combines or mixes secular thought with Islamic thinking. It opens up the MYM, (…) He absolutely had an impact. It is more part of structuring the discourse in the MYM rather than affecting its programme.43

Šarīʿatīs Schriften lassen sich wegen dieser beschriebenen Mischung aus religiösem, modernistischem und sozialrevolutionärem Gedankengut nur schwer einordnen oder wissenschaftlich kategorisieren. Das gilt für den iranischen Zusammenhang ebenso wie für den südafrikanischen. Indem er die eschatologische Mahdī-Erwartung aufhebt, betont er den eigenverantwortlich handelnden Muslim, der nicht mehr des Klerus als Mittler bedarf. Šarīʿatī steht symbolhaft für einen gerechten ideologischen Kampf, er selbst wird zur Ikone des ‚tier-mondism‘, mit dem sich die entfremdete, entwurzelte und benachteiligte Jugend identifizieren kann – in Südafrika genauso wie im Iran. Dabei nehmen seine Gedankenkonstrukte im Verständnis seiner Rezipienten eine dem südafrikanischen Rahmen angepasste Form an. Für die Muslime Südafrikas war es von besonderem Interesse, westliche, marxistisch anmutende Konzepte mit dem vertrauten, religiösen Eigenen verbinden zu können. Dies zeigt auch das folgende, längere Zitat, das einem meiner Interviews, nämlich mit Shuʾaib Manjra entnommen ist, der versucht, dieses scheinbare Paradoxon zu erläutern: Ali Shariati was one of the more contemporary scholars who came in and I think the youth particularly and students could identify more readily with Shariati and the discourse of Shariati than possibly with the discourse of Maududi and Qutb (…) probably because of Shariati’s own exposure to the West, his own grasp of western philosophy and civilisation, a critique and an attempt to find a simple synthesis….I find it fairly contradictory (…) I mean Shariati wrote works on the sociology of Islam, he wrote a critique of Marxism, but Shariati was very much driven by what I find to be a Marxist attitude himself. Much of Shariati’s own writing and his own thinking and philosophy were actually informed by Marxist thinking, if not in solution, then at least in analyses, he used Marxist tools in his analysis of society. And I think in South Africa we face a very similar dilemma, that many of us who were involved in the Islamic movement, did not see a direct relevance of Maududi and Banna and Qutb in our 43 Interview mit Aslam Fataar, Mitglied des MYM und Vizepräsident von 1990– 1996 am 1. Oktober 2002.



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own context. I think we used them in a very civilizational sense, in a kind of a much more global sense (…). I think there was a dominant discourse of the left in the struggle against apartheid in South Africa and many of us in a paradoxical way (…) while we were settling with the discourse of religious fundamentalism we also were radical left-wing Marxists in our own way (…) especially in our analysis (…) we were searching in ourselves for some kind of solution (…). So we stayed on home base, while trying to explore alternative terrains, not having the confidence or the chuzpa to leave home base…we still felt an affinity towards our own cultural heritage….. We believed in Shariati more within a political struggle context, liberation (…). His writings are so much more relevant. 44

Fataar verstärkt diesen Eindruck, wenn er den säkularen und soziologischen Aspekt der Ideen von Šarīʿatī hervorhebt. The idea that you have to understand society and how it operates, the idea that there could be a connection teleologically and epistemologically between metaphysical discourses and historical discourses, sociological discourses; those were the ideas that were appealing and that we polemically or rhetorically drew from.45

1980 erschien der Auszug einer komprimierten Version von Šarīʿatīs Ḥajj, ein in Südafrika oft gelesener Beitrag, in der Muslim News mit einem Vorwort über die Bedeutung Šarīʿatīs, der sehr erhellend ist: Dr. Shariati, one of the factors inspiring the Iranian Islamic Revolution, was hounded by the Shah and his secret police until his martyrdom in exile in 1977. (…) As a Muslim sociologist, he sought to explain the problems of Muslim societies in the light of Islamic principles. He was neither a reactionary fanatic who opposed anything that was new without any knowledge nor was he of the so-called westernised intellectuals who imitated the west without independent judgement. (…) He vigorously tried to reintroduce the Qurʾan and Islamic history to the youth so that they may find their true selves in all their dimensions and fight all the decadent societal forces.46

So ist es vor allem die Aufnahme westlichen Gedankenguts ohne Verleugnung des eigenen bekannten Bezugsrahmens, die Šarīʿatī auch in Südafrika so populär machten. Diese Aufnahme ermächtigte die pro44 Interview mit Shu’aib Manjra, Gründungsmitglied und Ex-Präsident der MYM, 8. Oktober 2002. 45 Interview mit Aslam Fataar, Mitglied des MYM und Vizepräsident von 1990– 1996, 1. Oktober 2002. 46 Muslim News, 19. September 1980: 11.

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gressiven Bewegungen, allen voran MYM, Qibla, aber auch den Call of Islam (COI)47, einen spezifischen Diskurs zu entwickeln, der den Islam als revolutionäre Ideologie präsentiert. Der COI ist diejenige Organisation, die die Kontextualisierung, also die dritte Phase in der Entwicklung muslimischer Bewegungen weg vom universalistischen, an der umma orientierten Anspruch des Islam hin zu einer spezifisch südafrikanischen Lesart, besonders vorantrieb. Obwohl er nicht in die islamistische Phase einzuordnen ist, hat der Mitbegründer und die Leitfigur des COI, Farid Esack, als er noch in der MYM aktiv war, aber auch später, Konzepte von Šarīʿatī für den Entwurf seiner Ideologie verwendet. Abū Darr al-Ġiffārī, der vom reinen Glauben beseelte Frühkonvertit, wird schon bei Šarīʿatī zum Rollenmodel für den gläubigen Sozialisten (ḫodāparast-e sosialīst)48. Bei Esack mutiert er dann zu „Abu Dhar, the illustrious companion of the Holy Prophet, who struggled for a classless society“.49 Nach eigenem Bekunden war Abū Darr für Esack ein Vorbild, das ihn bei der Gründung des COI inspiriert hat.50 Aber auch die MYM sieht Abū Darr als Vorbild, dazu Manjra im Interview: Shariati introduced us to Abu Dharr, a completely new take on Abu Dharr. Shariati painted him as the first Marxist figure, socialist figure in Islamic history, emphasizing social justice and clearly we related to Abu Dharr, he opened up a new vista of one of the important companions of the prophet and again we used him as an iconic figure, very applicable to South Africa.51 47 Der Call of Islam entstand 1984 als Splittergruppe des MYM und im Zuge der Bildung der United Democratic Front (UDF), die als Dachorganisation die einzelnen Antiapartheid Organisationen zu bündeln versuchte. Zu dem Bruch mit der MYM kam es, als die Frage der Allianzen mit nicht-muslimischen Organisationen erörtert wurde, der die MYM ablehnend gegenüberstand, während der COI dieses befürwortete. Der COI entwickelte sich zu einer publikumswirksamen und effektiven, wenn auch kurzlebigen, politischen Organisation, die es verstand – hauptsächlich durch das rhetorische Potential ihrer schillernden, charismatischen Leitfigur Esack – die relevanten Eckpunkte im südafrikanischen Kontext zu thematisieren, dazu gehörte der Kampf gegen die Unterdrückung und das Bemühen, ein kommunales Bewusstsein zu entwickeln. 48 Siehe ʿAlī Šarīʿatī, „Abū Ḏarr“ in: Mağmū’a-ye Ātār 3, o. O., 1357. 49 Call of Islam, Pamphlet des COI, 1986: 4. 50 Transkript eines Interviews mit Farid Esack, aufgezeichnet von Ursula Günther, 4. Juli 2000. 51 Interview mit Shu’aib Manjra, Gründungsmitglied und Ex-Präsident der MYM, 8. Oktober 2002.



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Esack interpretiert in diesem Zusammenhang noch andere islamische Termini um, so z. B. im folgenden Zitat: … mustadʾaf refers to someone who is oppressed or deemed weak and of no consequence and is treated in an arrogant fashion. The mustadʾafun are thus those people of ‚inferior‘ social status who are vulnerable, marginalized or oppressed in the socio-economic sense. The Qurʾan also uses other terms to describe the lower and impoverished classes of society, (…) The major difference in the term mustadʾafun is that someone else is responsible for that condition. (…) as a consequence of the behaviour or policies of the arrogant and powerful.52

Um sein Argument, welches hauptsächlich auf die damals vorherrschenden Verhältnisse in Südafrika bezogen ist, zu verfestigen, benutzt Esack eine Beweisführung, die eindeutig auf Šarīʿatī zurückgeht, nämlich dass: „virtually all the prophets, including Muhammad, came from peasant or working-class backgrounds and the option for the marginalized seems to be implicit in their very origins.“53 Von der befremdlichen anachronistischen Beschreibung des sozialen Umfelds des Propheten als ‚working class‘ einmal abgesehen, geht auch diese Behauptung auf Šarīʿatī zurück, der die Herkunft der monotheistischen Propheten als ein unterscheidendes Merkmal herausstellt. Diese Art der „hermeneutischen Gymnastik“54 der südafrikanischen Muslime ist bei allen religiös-politischen Bewegungen der Zeit zu finden. In ihrem Bestreben, qurʾānische Verse und historische, islamische Bezugspunkte oder Rollenmodelle mit neuem Inhalt zu versehen und sie damit relevant für den Antiapartheid-Kampf zu machen, finden sie einen geduldigen Lehrmeister in Šarīʿatī, der schon im iranischen Kontext für seine neue Hermeneutik berüchtigt ist. Ich werde in diesem Zusammenhang noch einmal Manjra zitieren, der recht selbstkritisch über diese Phase resümiert: Every book is a mirror of yourself, and your own context and your own struggles. We had our own search and we looked in Shariati for what we wanted to find because of our own search. The issue of martyrdom was 52 Esack 1997: 98. 53 Ebd.: 99. 54 Ein Terminus, den ich aus Hiskelt 1994: 175 entlehnt habe. Er führt einschränkend aus: „(…) one may question whether such ancient, decontextualized scriptural reference can be successfully adapted to fit modern socio-political contexts – and even whether the attempt to do so is morally honest. None the less, there is no denying the intellectual agility of this new hermeneutical gymnastics of the South African Muslims.“

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clearly taken up, but I think the issue of martyrdom in a Shiʿa context is very different from the issue of martyrdom in a Sunni context. You are probably right, we didn’t really study Shariati the way we studied Maududi and Qutb and Banna. Shariati remained a symbol, rather than a deeper exploration of his works and what it meant. Shariati was everything to everybody.55

Auch Qibla deutet Begriffe unter Rückgriff auf Šarīʿatī für seine eigenen Zwecke um. So wird, exemplarisch, aus ğihād in der südafrikanischen Befreiungsrhetorik „the Islamic paradigm of the liberation struggle (…) an effort, an exertion to the utmost, a striving for truth and justice“.56 Noch deutlicher wird Qiblas Umdeutungsprozess bei dem Begriff tauḥīd. Dieser Begriff ist zentral in Šarīʿatīs Gedankenkonstrukt, der damit nicht nur die strikte qurʾānische Interpretation der Einheit und Einzigartigkeit Gottes meint, sondern auch eine Einheit von Gott, Mensch und Natur postuliert. In der Übernahme durch Qibla wird aus dieser religiösen Einheit die antirassistische Einheit der umma: racism is a disruptive and divisive force, it disintegrates and devastates individuals, families and entire communities (…) [in contrast Islam has tawhid] as its most important concept; and amongst other things it means the unity of life (…) a united ummah.57

Tauḥīd wird so zum Kernstück einer inklusiven soziopolitischen Weltsicht. Diese steht im Gegensatz zu einer Gesellschaft, die sich ethnisch und rassisch definiert. Die Segmentierung der Gesellschaft nach rassischen und ethnischen Gesichtspunkten steht für širk und bildet den diskursiven Gegenpart zu tauḥīd. Auch Esack und der COI entsprachen dieser Interpretation des tauḥīd: The conviction that tawhid is at the heart of a comprehensive socio-political worldview, although not entirely novel, has grown enormously in the last few decades, particularly in some of the ideological currents in Iran that led to the 1979 revolution. Foremost among those who advocated tawhid as a worldview aimed at realizing the unity of God in human relations and socio-economic systems was ʿAlī Shariʾati (1933–77) and the MujahidinI-Khalq of Iran (…). Apartheid was denounced as ‚openly rejecting the tawhid nature of mankind as told to us in the Qurʾan: mankind is a single 55 Interview mit Shu’aib Manjra, Gründungsmitglied und Ex-Präsident der MYM, 8. Oktober 2002. 56 Qibla, n. d. Rise and Bear Witness: 2. 57 Cassim 1992: 30–31.



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nation‘ (Call of Islam 1985, Interfering with the Sanctity of Islam, p. 2). It was viewed as a form of shirk because, in terms of social outlook and practice, it consciously divided people along ethnic lines, thereby denying the unity of humankind, which is a reflection of tawhid.58

Ein Konzept, das neben tauḥīd die weiteste Verbreitung und Anwendung unter den in progressiven Bewegungen organisierten, südafrikanischen Muslimen fand, ist das Märtyrertum. Der Šahīd ist ein zentraler Bestandteil des šīʿitischen Selbstverständnisses und aus der Ideologie Šarīʿatīs, wo der šahīd zum Inbegriff des Revolutionärs wird, nicht wegzudenken. Im südafrikanischen Kontext wurde die Figur des Imam Haron zu einem Märtyrer stylisiert. Über diesen Prozess der Instrumentalisierung des Imams und die Bedeutung seines Andenkens wurde ausführlich berichtet.59 Interessant für diese Arbeit ist die Tatsache, dass der Tod des Imams erst nach zehnjähriger Verspätung, sinnbildlich für die Repression des Apartheid Regimes aufgefasst wurde. Imam Haron, der 1969 nach viermonatiger Haft unter ungeklärten Umständen im polizeilichen Gewahrsam starb, war zehn Jahre lang nicht im kollektiven Gedächtnis der Muslime Südafrikas verankert. Erst 1979 wurde er von den politischen Organisationen als Symbol wiederentdeckt und zum Subjekt einer vielfältig konstruierten Legendenbildung. Betrachtet man die einschlägigen Zeitungen der Zeit und sowohl die Häufung und große Bedeutung, die dem Begriff des Märtyrers beigemessen wird, als auch die direkte Übernahme iranischer Slogans (z. B. ‚Every month is Muharram, every day is ʿAshura, and every place is Kerbela‘ oder ‚A society that forgets its Martyrs, forgets itself‘), so erscheint der Zeitpunkt der Instrumentalisierung Imam Harons nicht mehr willkürlich.

V. Der Märtyrerkult wurde ursprünglich von allen Gruppierungen gepflegt. Heißt es noch 1982 in der Muslim News über ʿĀšūrā: „our deep identification with the Martyr of Martyrs, Imam Hussain, who 58 Esack 1997: 91–92. Um sein Argument zu belegen, zitiert Esack sogar einige Male Šarīʿatī, z. B.: „The Qurʾan places humankind in a ‚world of tawhid where God, people and nature display a meaningful and purposeful harmony‘ (Shari’ati 1980, p. 86)“, Esack 1997: 94. 59 Siehe Günther 2002, aber auch Dessai 1978 oder Haron 1986 und 1994.

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strived [sic!] against the forces of oppression and was gloriously successful by attaining that most exalted of positions – martyrdom,“60 so fand man diesen Jargon 1988 nur noch in der Qibla-nahen al-Qalam.61 In den frühen 80er Jahren des vergangenen Jahrhunderts war Imam Haron die Ikone aller progressiven Bewegungen, die sich gegenseitig mit immer aufwändigeren Jahresfeiern überboten. Fünf bis zehn Jahre später war es nur noch Qibla, die dem Andenken Imam Harons huldigte und ihn sozusagen zum Hausheiligen erhob. Was war in der Zwischenzeit geschehen? Zum einen hatte der Iran einen Teil seiner Attraktivität als Vorbild eingebüßt. Die Umsetzung des islamischen Staats verlief nicht so reibungslos, wie man es erwartet hatte, und drohte an ganz weltlichen Machtfragen zu scheitern. Dazu kam der Iran-Irak Krieg, der speziell aus Sicht einer sunnitischen Peripherie die Loyalitäten zum Iran stark strapazierte. Die Rushdie-Affäre62 tat ihr Weiteres, um insbesondere im offenen, creole Kap-Islam Unverständnis hervorzurufen. Aber hauptsächlich waren es die Ereignisse in Südafrika selbst, die zu einer Distanzierung von Iran – und damit Šarīʿatī, der durch das Vehikel der islamischen Revolution im Iran Eingang in Südafrika gefunden hatte – führten. Ein Ereignis von einschneidender Bedeutung war 1983 die Einführung des Dreikammern-Parlaments, das die Muslime entsprechend ihrer ethnischen Zugehörigkeit (Indian und Coloured) in begrenzter Weise am Entscheidungsfindungsprozess beteiligte und sie somit kooptierte. Zusammen mit der Offensive der NGK (Nederduitse Gereformeerde Kerk), den Islam als „false Religion“ zu denunzieren, der eine Bedrohung für das Christentum darstelle, sowie die Gegenoffensive der südafrikanischen Befreiungstheologie durch das Kairos Dokument beschleunigten den Prozess der Kontextualisierung. Hinzu 60 Muslim News 22/19: 16 (1982). 61 Z. B. in der Ausgabe 13/8: 12 (August 1988), in der es heißt: „[of] particular relevance to the struggle of oppressed and exploited people in South Africa is the martyrdom of Imam Husayn, the beloved grandson of the Prophet Muhammad (SAW).“ Yazīd hingegen wird in dieser Ausgabe als „naïve, with a weak and fickle character, [who] was in no way suited for this responsibility“ beschrieben. 62 Siehe Trewhela 1998. Die Rushdie-Affäre wurde auch in Südafrika polarisiert aufgenommen. Aber die konservativen Kräfte wie das MJC waren trotzdem sehr bemüht, sich von der iranischen, sprich šīʿitischen Position zu distanzieren, wie folgender Interviewauszug zeigt: „We condemned him [Rushdie], we took a very strong stand. But we did not support the shi’a fatwa, we have our own fatwa!“ Transkript eines Interviews mit Sheikh Nazeem, damaliger Leiter des MJC, aufgezeichnet von Ursula Günther, 27. Juni 2000.



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trat die Einsicht, dass das Ideal des islamischen Staates in Südafrika nicht zu verwirklichen sein würde, und man besann sich auf die realen südafrikanischen Verhältnisse mit dem Bestreben, dort in einem Minderheitenkontext aktiv zu sein. COI und auch später MYM widmeten sich den drängenden Fragen, die im Zusammenhang mit dem Status der Muslime als Minderheit einhergingen sowie der Bekämpfung eines Unrechtsystems. Von zentraler Bedeutung war hier auch die Frage der Allianzen mit nichtmuslimischen Gruppierungen im Antiapartheid-Kampf. Qibla allein hielt an seinem Standpunkt „One Solution, Islamic Revolution“ und „Justice before Peace“ fest und musste sich daher den Vorwurf gefallen lassen, ein Lakai des Iran zu sein. Quasi um dies zu bekräftigen, wurde Qibla-Mitgliedern vorgeworfen, zur Šīʿa konvertiert zu sein. Dies mag für einige Mitglieder zutreffen, aber eine organisationsweite Konversion, ähnlich wie bei al-Jihaad63, schließe ich aus. Jedoch hatte von da an eine zu große Nähe zum Iran oder die Rezeption iranischer Konzepte sofort den Vorwurf der Konversion zur Folge. Die orthodoxe südafrikanische Geistlichkeit hatte von je her Probleme mit der Orientierung an iranischen, šīʿitischen und progressiven Konzepten. Sie fürchtete eine alternative Elite, die ihrer Meinung nach nicht gut ausgebildet war und ihr trotzdem das Auslegungsmonopol streitig machte. Besonders bedroht fühlte sie sich durch Šarīʿatīs Kritik an den angepassten Geistlichen des Iran, ein Umstand, der genauso auch auf Südafrika zutraf. Die Verquickung der Geistlichkeit mit der Herrschaftselite führt dazu, dass der Klerus eingebunden ist in ein festes, der Mehrheit der Bevölkerung entgegenstehendes Gesellschaftssystem. Wie eingangs schon erwähnt, wird er ein Teil der repressiven Trilogie (zar-zūr-tazvīr) und ist stärker daran interessiert, seinen Machtstatus zu erhalten, denn aktiv für die Mehrheit der Muslime zu kämpfen. Die muslimischen Geistlichen in Südafrika waren zwar niemals Teil der Herrschaftselite, doch propagierten sie einen quietistischen Islam, der, 63 Al-Jihaad ist eine etwas obskure Gruppe mit einer relativ kleinen Anzahl von Mitgliedern, die sich um die schillernde Person Tatamkhulu Africa schart. Tatamkhulu, ursprünglich Ismail Joubert, war das ägyptisch-türkische Adoptivkind weißer Südafrikaner, die ihn christlich erzogen. Er konvertierte zum Islam, wurde in dem militärischen Flügel des ANC aktiv und konvertierte unter dem Eindruck der Revolution im Iran zur Šīʿa. Tatamkhulu und seine Anhänger, die meisten konvertierte Šī’iten, waren politisch fest in den ANC eingebunden, pflegen aber eher eine mystische Beziehung zum Islam und meines Wissens hat in dieser Organisation keine systematische Auseinandersetzung mit islamischen, politisierenden Konzepten stattgefunden.

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um die wenigen Privilegien zu wahren, zur Anpassung an die herrschenden Verhältnisse aufrief. Während des Höhepunkts der Begeisterung mit dem Iran hielten sich die ʿulamāʾ mit Kritik zurück, doch 1988 starteten sie eine großangelegte anti-šīʿitische Kampagne. Eine Anzahl internationaler Redner wurde eingeladen „(…) to speak against the evils of Shiʾism, culminating in a nation-wide ʿulama proclamation in 1988 against the threat of the Shiʾah“.64 Eine zielsichere Waffe der konservativen Geistlichkeit war der Vorwurf der „politischen“ Konversion zur Šīʿa. Den radikalen/progressiven Muslimen wurde vorgeworfen, sich den Kräften des kufr angeschlossen zu haben und sich damit aus der Gemeinschaft der Gläubigen zu entfernen. Federführendes Organ dieser Kampagne war die Zeitung The Majlis, „Voice of Islam“ mit Sitz in Port Elizabeth65. Sie intensivierte ab 1987 ihren Ansturm auf Šīʿiten mit dieser Art von Schlagzeilen (eine beispielhafte Auswahl, die für sich spricht): „Anarchy of Shiʾism, violence, anarchy, conspiracy and murder are integral constituents of Shiʾism“, „Shiʾism is not Islam“, „Shiʾa hatred for the Sahaabah“, „Blasphemous Doctrine“, „Enemies of Rasulullah and the Sahaaba“, „Who are the Shiʾa? The Vices of their Heart“, „Shiʾism – the Sect of Baatil“, „Shiʾi Deception“,“Shiʾi Kufr“, „Obscenity of the Pro-Shiah Rabble“, usw.66 Einige Male richtete sie ihre Kritik direkt an die MYM, die für die ‚Mujlisul ulama‘ eine direkte Bedrohung darstellte, da sie den Anspruch und das Monopol der geistigen Führung der ʿulamāʾ streitig machte. Auf diese Bedrohung wurde dann auch mit dieser Schlagzeile gekontert: „Baseless Claims of Pro-Shiah MYM“67. Dazu sei anzumerken, dass die MYM zu dem Zeitpunkt schon ihren Richtungswechsel zur Kontextualisierung vollzogen hatte und ihre Begeisterung für den Iran sich entsprechend gelegt hatte. 64 Tayob 1995: 155–6. 65 Dies ist ein Auszug aus ihrer Eigenbeschreibung: „The Mujlisul ulama is a body of qualified ulama who has qualified Muftis in its ranks. The Islamic subjects are thoroughly researched and the Fatawa are all in terms of the principles of the Shariah. The Mujlisul ulama does not accept the views and opinions of nonulama to be authoritative, hence the views, which we publish in The Majlis, are rulings of the Shariah, which Muslims should accept and act on.“ (http:// www.inkofscholars.com/inkofscholars.php?file=mujlis/mu_about.php – letzter Zugriff am 6. 7. 2006). 66 Eine Auswahl gefunden in The Majlis, Vol. 5–8 (1987–1990). 67 Z. B. The Majlis 8/1 (1990). Die Zeitung hatte die MYM schon vorher der fitna bezichtigt, da sie der iranischen Richtung folge.



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Die Artikel im Majlis sind von sehr geringem informativem, sprachlichem oder analytischem Wert. Dennoch zeugen sie von einer Geisteshaltung, die man gut am folgenden Beispiel belegen kann. Ein Zeitungsbericht über die Ermutigung des damaligen iranischen Präsidenten Rafsanğānī, šīʿitische Zeitehen (ṣīġa) einzugehen,68 wird so kommentiert: This evil practice (…) muʾtah is an established and a holy practice of the Shiah religion … Muʾtah is not only permissible, but is considered a lofty act of ibaadat, In the Shiah book of Tafseer, Minhaajus Saadiqeen, it is claimed that indulgence in muʾtah once secures the rank of Imaam Husain for the perpetrator, [es wird eine ausführliche Rangfolge aufgestellt, nach der die 2. mutʿa Eheschließung einen auf die Ebene mit Ḥassan gleichsetzt, die dritte mit ʿAlī usw. Mir ist so eine Staffelung bisher unbekannt, außerdem ist die innere Logik der Rangfolge nicht ersichtlich und entspricht nicht der šīʿitischen Heiligenrangfolge] (…) It is no wonder that modernists feel an inclination towards Shiʾism. The acts of sexual laxity for which kuffaar universities are notorious are accorded the highest ranks of ibaadat and merit. A religion which elevates immorality advertises its falsehood.69

Dieses Beispiel hat trotz seiner Absurdität erhellenden Wert, da hier die Zielrichtung der Attacke deutlich wird. Es ist weniger der šīʿitische Islam, wie er in Iran praktiziert wird, als vielmehr die südafrikanische, modernistische Jugend, die sich aus Majlis-Sicht nicht traditionell bilden will, sondern an Universitäten (kuffār Institutionen!) studiert, die für ihre sexuelle Freizügigkeit bekannt sind (hier werden mehrere Ebenen durchmischt), um dann der Geistlichkeit ihr Monopol streitig zu machen. Die MYM hatte sich zu diesem Zeitpunkt von der iranischen Revolution mit allem, was sie mit sich brachte, distanziert. Manjra resümiert die Beteiligung seiner Organisation: We were exposed to Shariati through the revolution and the consulates of the Islamic Republic of Iran, so we used him but there was a deep ambiguity we kind of realized that. There were certain other books of Shariati which were circumspect here in South Africa and those were the books that were distinctly Shiʾa, Fatima is Fatima was one of them and Red Shiʾism which had a distinctly Shiʾa flavour and we were kind of weary 68 Die Gründe dafür sind schwer nachzuvollziehen. Vermutlich liegen sie im Mangel an Männern nach dem Krieg mit dem Irak und dem Bestreben, möglichst vielen Frauen die Möglichkeit der Eheschließung zu eröffnen. 69 Quoted from The Majlis 9/5:11 (1991).

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of that. (…) We, the younger generation, we were prepared to believe in the saying of Khomeini, ‚lā šīʿīya wa lā sunnīya‘. In a very idealistic way we went ahead in saying we don’t see any distinction between Shiʾa and Sunni. But the older cadre of the MYM was always circumspect about it and careful that there wasn’t some kind of missionarizing in it.70

Er weist weiterhin auf die Gegensätze hin, die sich im Iran selbst herauskristallisierten. Manjra hat Kontakt mit Abdolkarim Soroush („I spoke to him and others who were persecuted, and people I could identify with, people who were good Muslims, people who thought the way we did but were persecuted in Iran. We saw human rights abuses taking place […]“71) und ist in der iranischen Dissidentenszene bewandert, ein Umstand, der wohl auf sehr wenige Südafrikaner zutreffen dürfte und daher nicht weiter für diese Arbeit berücksichtigt werden kann. Im heutigen Diskurs in Südafrika ist Ahmad Cassim, der Gründer der radikalen Organisation Qibla, der einzige südafrikanische muslimische Aktivist, der noch aktiv seine Bewunderung für Iran kund tut und im Bemühen, einen politisch relevanten Islam auszuformen, am symbolischen und rhetorischen Kapital Šarīʿatīs festhält.72 Unter anderem präsentiert er sich in der Tradition der Märtyrer als einzigen würdigen Nachfolger von Imam Haron. Und dieser wiederum wird in eine eklektische Reihe islamischer Märtyrer, angefangen mit Imām Ḥusayn, eingeordnet.73 Dementsprechend zogen Cassim und seine Organisation mehr als andere den Zorn der konservativen ʿulamāʾ auf sich, die Cassim als pious frauds74 bezeichnet. Die ʿulamāʾ hingegen setzten das Gerücht in Umlauf, dass Cassim und seine Qibla-Anhänger kollek-

70 Interview mit Shu’aib Manjra, Gründungsmitglied und Ex-Präsident der MYM, 8. Oktober 2002. 71 Ebd. 72 Cassim erhielt vor einigen Jahren eine Einladung in den Iran und hielt ungebrochen unkritische Lobeshymnen auf das iranische System, nachzulesen unter: http://www.inminds.co.uk/visit-to-iran.html (letzter Zugriff am 6. 7. 2006). Seine Rezeption Šarīʿatīs beschränkt sich auf das Konzept humanology von Šarīʿatī, dass Cassim unreflektiert und ohne Kontext zitiert und in seinem Unterricht am Teacher Training College weiter verwendet. 73 Zu finden z. B. im Qibla Pamphlet „Every Day is Ashura, Every Place is Kerbala!“: „O, Imam Husayn, your tradition continues: Imām Hassan al-Banna, Omar Mukhtār, Ayatūllāh Behsti [Beheshtī], Imām Abdullāh Haron, … these are our proof!“ 74 Interview mit Ahmad Cassim, 1. Oktober 2002.



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tiv zur Šīʿa übergetreten wären. Um dieses Gerücht zu entkräftigen, schrieb die damals Qibla-nahe al-Qalam: In order to disguise their real objectives, the vigilantes here raised the spectre of a Shia bogey in order to whip up public sentiments against Muslim progressives (…). Although the progressive Islamic Movement had been much inspired by the anti-imperialist policies of Iran, it has consistently maintained that the introduction of Shiʾism on South African soil is a retrogressive step in an exclusively Sunni environment (…). They [the vigilantes] have also construed dubious theological arguments to discredit Shaheed Imaam Abdullah Haron, and dispute his martyrdom.75

In dieser späteren Phase also bedeutete die Rezeption Šarīʿatīs Hinwendung zur Šīʿa, Abkehr vom wahren Glauben und eine zu große Nähe zum Iran der Gegenwart, sei es politisch oder ideologisch. Zehn Jahre vorher wurde Šarīʿatī als Sinnbild des progressiven Erneuerers gesehen. So bietet er eine ideale Projektionsfläche. Die aufgeführten Beispiele sind exemplarisch aufzufassen. Auf keinen Fall soll impliziert werden, dass ʿAlī Šarīʿatī eine herausragende Rolle im Antiapartheid-Kampf gespielt habe. Andere Autoren wurden in den jeweiligen Phasen in mindestens gleicher Weise rezipiert. Vielmehr sollte anhand der erwähnten Beispiele gezeigt werden, wie Konzepte aus einem anderen Bezugsrahmen angenommen werden können, um dann wieder abgestoßen zu werden. Es sollte gezeigt werden, inwieweit kollektive Selbstverständnisse sich wandeln und verwandeln können, und die soziale Konstruktion des Fremden – das nicht an sich existiert, sondern nur als soziale und kontextabhängige Deutung vorkommt – von gesellschaftlichen Institutionen vorgegeben wird.

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Mastura Sadan, Mitglied des Call of Islam, aufgezeichnet von Ursula Günther, 12. November 2001. Mahdi Samodien, Mitglied der MYM, aufgezeichnet von Inga Niehaus, 19. Oktober 2000.

Zeitungen (südafrikanische, verschiedene Ausgaben) Ad-Daʾwah Al-Qalam Boorhaanol Islam Call of Islam Muslim News Muslim Views Qibla Bulletin Risalatuna The Majlis

Dritter Teil

Das Andere jenseits des Islam: Muslimische Wahrnehmungen und Betrachtungen

Mistakes and Defences Foreign (Greek) Words in Arabic and their visual Recognition N. Serikoff*

Defences The public propaganda of the first Russian Bolshevist Government in 1918–late 1920s was to a significant extent influenced by the Bible. It was not uncommon to see expressions like “Who is not with us is against us”1 or “Let us beat swords into plowshares”2 on early Soviet china ware. An idea of “beating … swords into plowshares” was indirectly represented in the new Soviet insignia which had the hammer and sickle on it. Ironically, the reality was quite the opposite. During the Civil War in 1918–1921 many things were destroyed and damaged, among them publishing houses where the “excessive” fonts were remoulded into bullet cartridges. The latter fact, insignificant compared to the great and irreparable damage to property and huge loss of life, cannot, however, remain unnoticed for the purposes of the present article. The lack of fonts and the general difficult economic situation in Soviet Russia during the early 1920s indirectly influenced the development of the theory of textual “defences” in type-setting formulated by Aleksandr Aleksandrovitsch Reformatskij (1900–1978). He worked in the late 1920s in different publishing houses where he tried to earn a livelihood. A talented linguist and theoretician, he produced a pio* I am most grateful to Dr. Nigel Allan (London) for reading this article with me and correcting my English. 1 Mt 12: 30: “he that is not with me is against me.” 2 Is 2: 4, Mich 4: 3 “They shall beat their swords into plowshares.”

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neering work “The technical book-editing”3 which owed much to his experience in the type-setting. In his book he proposed a theory of “defences” based on “semiotic abilities” of the printed script. Reformatskij approached a printed script from the point of view of the reader’s psychological perception of it. The script depends, not only on the punctuation and the literary content, but also on the type of font used. He stressed that one has to be especially careful in applying different fonts to various parts of the text like title, main text, footnotes, etc. E. g. one expects to find the body of the text in large type-face with footnotes in smaller font than the other way around. Reformatskij stressed the psychological significance of the text by pointing out that “similar visual impressions cause similar irritations in the cerebral cortex. When the impressions are not similar the irritations are likewise non-similar”4. In other words the reader is confused when the same fonts are used for different purposes, e. g. title heading, body of the text and footnote. To denote the means which guide the “reader’s irritation” he adopted a word from chess terminology: “defences”5.

Defences of an Arabic text The term “defences” introduced into linguistics by Reformatskij is very convenient for the purposes of the present article. It helps to answer the question how medieval readers and writers approached and treated foreign words in Arabic texts. Medieval Arab calligraphers ware aware of the system of textual defences although they did not use this term. However the “correct irritations in the cortex” were caused by a number of conditions. Among them was size of the sheet of paper in relation to the width of the nib, as pointed out by Ibn an-Nadīm in the 10th century. (Fihrist 7.23–8.22). Numerous manuals for secretaries often contained chap3 Reformatskij A. A. (in collaboration with Kaushanskij M. M.) Tekhnicheskaja redaktsiya knigi. Moscow 1933. Hereafter quoted after Reformatskij A. A. Lingvistika i poetika (ed. by A. V. Vinogradov). Moscow 1987. 4 Reformatskij A. A.: Lingvistika I poetika, p. 142. 5 Being a passionate chess-player Reformatskij saw the similarity between two processes – chess play and reading. In both cases an opponent or a reader is forced by a system of defences to obey either the opponent in chess or an author (a type-setter) in reading.



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ters on how to achieve perfect hand-writing6. The experience accumulated from these manuals is mirrored in the voluminous work written by the 15th century adīb Šihāb ad-Dīn Abūʾ-lʿAbbās Aḥmad b. ʿAlī b. Aḥmad b. ʿAbdallāh al-Qalqašandī (1355–1418 AD). In his Ṣubḥ al-Aʿšā fī Ṣināʿat al-Inšāʾ (“Morning dawn for a Sufferer of Night blindness. [This is a book] about Secretarial Art”)7 he gives advice on how to improve handwriting by constant exercise. It is apparent from the book that the correct writing of Arabic letters and the connecting to the left of those that require to be ligatured to the following letter were important since it enabled a scribe to make the correct spaces between the words and so reduce the number of mistakes. Finally, there was another defence particularly characteristic of Arabic script, i. e. visual memorizing. The Arabs themselves admitted that the Arabic script although beautiful was inadequate, especially for scientific purposes. This was primarily due to the “doubled letters”, i. e. letters which had the same shape but were distinguished by a dot, placed above or below, e. g. ‫ ﺹ‬and ‫ﺽ‬. Apart from this, Arabic uses a consonant script where short vowels are not written. This increases the possibility of variant readings of one and the same word. Complaints of Arab intellectuals about the inadequacy of Arabic script are numerous. To quote one example. Yūsuf b. Ismāʿīl b. Ilyās al-Ḫuwaiyī al-Kutubī (d. ca. 754 AH/1353 AD), who wrote a Digest from the Materia medica by Ibn al-Bayṭār under the title Mā lā yasaʿu ṭ-Ṭabīb Ğahluh (“Things which a Physician cannot afford to ignore”). He gave an evaluation of the works of his predecessors in the preface and commented: “Besides I have discovered that the majority of works are either very short or very long, full of negligent mistakes, with incorrectly placed dots and misplaced consonants”8. To reduce the number of mistakes in the Arab educational tradition it was advisable to master an unknown text by heart with a skilled 6 E. g. Šams ad-Dīn Muḥammad b. Maḥmūd al-Āmulī: Nafā’is al-Funūn fī ʿArā’is al-ʿUyūn .Teheran 1377 AH, p.  24–25, which contains advice about how to sharpen a pen and to write beautiful script. 7 Al-Qalqašandī Abū’-lʿAbbās Aḥmad: Ṣubḥ al-Aʿšā fī Ṣināʿat al-Inšā’. Cairo 1913–1919 III, p. 1–218. 8 MS Bursa Hüseyn Çelebi 839. Cit. after Dietrich A.: Medicinalia Arabica. Studien über arabische medizinische Handschriften in türkischen und syrischen Bibliotheken. Göttingen 1966, no.  48. Cf. Wellcome MS (Ḥaddād) no.  39 (1) (Ḥaddād Farīd Sāmī, Biesterfeld Hans Hinrich: Fihris al-Maḫṭūṭāt aṭ-Ṭibbiyya al-ʿarabiyya fī Maktabat ad-Duktūr Sāmī Ibrāhīm Ḥaddād. Ḥalab 1404/1984, no. 70, fol. 1b.

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instructor. This system, specific for all the Islamic countries, survived in Buḫārā even at the beginning of the 20th century. However it was not very productive. Thus an average medrese-student was able to master about six-seven books in nineteen years9. It is worth noting in this context that the Arabic word qarā “to read” does not mean “to learn something new”, but “to collect [the information] and to recite it”10. However, the exact meaning of e. g. the Greek verb “to read” ἀναγιγνώσκω means “to recognize” and thus “to learn”. For foreign and rare words which could not be verified by the means of grammar, Arab intellectuals recommended visual memorizing according to the “shape” – rasm or ṣūra. In a detailed introduction to his dictionary of rare words and medical terms Muḥammad b. Zakariyā al-Rāzī (b. 251 AH/ 865 AD) explicitly states: “ If you cannot find the shape (ṣūra) of an unknown word you can find something similar to it – which consists of the same letters11”. The same advice – to learn difficult words visually ʿalā naẓar is also given by Ibn al-Tilmīd (d. 549 AH / 1154 AD or 560 AH / 1165 AD) in his Maqāla12.

Foreign Words and their visual Recognition Foreign words although not listed in Arabic national dictionaries were widely used in the every day life. Apart from foreign personal names, Syriac, Greek, Persian, Indian, Latin, and Coptic vocabulary was known, since it was employed in the sciences and trade. One recalls here numerous medical wordlists with names of drugs and medicines, mentioned e. g. by al-Rāzī13. Quite often foreign words looked similar to Arabic words although they were not in fact Arabic. The name of the Byzantine Emperor Staurakios (811), which is written in Arabic with alīf protheticum as Istibrāq 9 Aini S.: Bukhara. Vospominanija. Dushanbe 1980 vol., 1 p. 140. 10 The Arabic National Dictionary, Lisān al-ʿarab, explains the reading in the terms of “gathering” ğamaʿa and damma, but also of “articulating” lafaẓa: Lisān, s. v. ‫ﻘﺭﺍﺀ‬. 11 Rāzī: Ḥāwī XXII 66.1–2. 12 Al-Maqāla al-amīniyya fī l-Adwiyya al-Bimaristāniyya (“The Amīn’s Treatise. [A book] on Drugs used in Hospitals”). Iskandar A. Z.: A Catalogue of Arabic manuscripts on Medecine and Science in the Wellcome Historical Medical Library. London 1967, WMS Or 9, fol. 156a. 8–157a.3. 13 Rāzī: Ḥāwī XXII 66.4–16.



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(‫( )ﺍﺴﺗﺒﺭﺍﻖ‬Masʿūdī Tanbīh 168.16 and passim), is a good example. The same graphic form (‫ )ﺍﺴﺗﺒﺭﺍﻖ‬is used to render the maṣdar of the 10th stem of a verb baraqa “to shine”14. Were Arab readers able to make an immediate and clear distinction between a foreign word and an indigenous which looked like a foreign word and vice versa? Apart from numerous wordlists of non-Arabic words there are no works by Arab writers where this problem arises. However, the words themselves and various mistakes made by the Arab scribes in their orthography can be informative. The question is answered, however, on the basis of Greek words written in Arabic characters. These words have been collected in the “Lexicon of Greek Loan-Words and Borrowings in Arabic” compiled by the author of this article15. Only such words which in Arabic sources are commonly labelled as yūnānī, i. e. “old Greek” or even “scientific”16 are considered here. These words – quite often written without diacritical dots – were widely used in scholarly writings. Being of foreign origin, they belonged to the vocabulary which al-Rāzī or Ibn al-Tilmīd advised to be learned according to their shape (rasm, ṣūra). Let us consider here whether this shape (rasm) in transliteration exactly corresponded to the original Greek (or Syriac) form and how Arab scribes treated some of the components17 of the Greek words which were misleading. In the course of the transliteration of proper names and scientific termini technici from Greek into Arabic (via Syriac or directly) many Greek words, starting with ἀπο-, ὑπο-, ἱππο-, ἐπι-, στρ-, αλ-, ἐλ-, ἑλ-, λα- have acquired in the Arabic script misleading orthography. We will consider the following. 14 The 10th stem of the root ‫ ﺒﺭﻖ‬seems to be artificial since it is not registered in the dictionaries. Theoretically, however, it was possible. 15 Serikoff N.: A Dictionary of Greek Borrowings and Loan-Words in Arabic: Tasks, Methods, preliminary Results. In: Graeco-Arabica 5 (1993), pp. 267–273. 16 Serikoff N.: Rūmī and Yūnānī. Towards the Understanding of the Greek language in the medieval Muslim World. In: East and West in the Crusader States. Context – Contacts – Confrontations. K. Ciggaar, A. Davids, H. Teule (eds.). Leuven 1996, p. 169–194. 17 Transliterated foreign words were often misspelt by the Arabs and some confusion arose. As an example one can refer to the words “Patriarch” ‫ ﺒﻄﺭﻴﺭﻚ‬and “patrician” ‫ﺒﻄﺭﻴﻖ‬, ‫ ﺒﻄﺭﻴﻚ‬which were frequently confused. Cf.: Commentary on the military rank of patrician by Mākāriyūs b. az-Zaʿīm. Polosin Val., Polosin V., Serikoff N.: A Descriptive Catalogue of the Christian Arabic Manuscripts preserved at the St. Petersburg Branch of the Institute of Oriental Studies of the Russian Academy of Sciences. Leuven (forthcoming) (MS B 1227 no.  40), al-Marwāzī 465.10, al-Bīrūnī AB p. 289.16–290.9, Ibn Ḥauqal 1.196.3–4, Yāqūt al-Ḥāmawī 1.54.8–13, al-Ḫwarīzmī Mafātīḥ 128.14, al-Ǧawālīqī 33.14–34.1.

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1.  The Greek letter grouping ἀπο-, ὑπο-, ἱππο- were rendered with the Arabic ‫ ﺍﺒﻭ‬regardless of whether they were taken directly from Greek or via Syriac. This shape which resembled the word abū “father” was broken by introducing defences in form of an additional wāw or qāf thus converting the familiar shape ‫ ﺍﺒﻭ‬into ‫ ﺍﻭﺒﻭ‬or ‫ ; ﺍﻗﻭ‬cf. Examples 1. 2.  The Greek letter grouping ἀστ, στ, ἰστ was frequently rendered in Arabic as ‫ ﺍﺴﺖ‬which resembled the beginning of the 10th stem of the Arabic verb pattern. To avoid confusion a defence of an emphatic “s” = ṣād instead of sīn or even the changing tā into ṭā was introduced. The shape ‫ ﺍﺴﺖ‬therefore evolved into ‫ ﺍﺴﻄ‬and subsequently ‫ﺍﺻﻄ‬. Forms of Greek names starting with στ and rendered in Arabic with ‫( ﺴﺖ‬without the alīf protheticum) are not numerous. Usually there are variants where ‫ ﺴﺖ‬is represented as ‫ ﺴﻄ‬thus breaking the shape of the 10th stem. Forms starting with ‫ ﺴﻄ‬and as a variant ‫ ﺻﻄ‬are frequent, e. g. ‫ ﺴﻄﺭﻭﺒﻴﻠﻭﺍ‬στρόβιλοι (Dtr. I 20.1 – II 1. no. 33), ‫ﺴﻄﺭﺍﻄﻳﻭﻄﺲ‬ στρατιώτης (IB Tafsīr) 324.2 – IV no. 91, etc.: cf. Examples 2. 3.  The Greek letter groupings ἀλ and ἐλ were usually rendered in Arabic as al ‫ ﺍﻠ‬resembling the article. This mistake was very common and misleading. To break this shape Arab scribes used another defence by either eliminating the whole component ‫ ﺍﻠ‬or by inserting an additional alīf; cf. Examples 3. In conclusion, it can be suggested that numerous mistakes found in Arabic medieval texts concerning Greek transliterations sometimes were not mistakes, in fact probably the opposite: defences against mistakes. Thus these defences are a defence against the activity of textual critics18.

Examples (‫ ﺍﺒﻭ‬shape) a1 Examples al-Ḫwarīzmī Mafātīḥ 248.1 ‫ﺍﻠﻤﺧﻝ‬

ὑπομόχλιον   ‫ﺍﺒﻭﻤﺧﻠﻴﻭﻦ‬

‫ﻭﻫﻭ ﺻﺤﺭ ﻴﻭﻀﻊ ﺗﺤﺖ ﻫﺬﺍ‬

In the MSS this word is clearly written in two components the first of which is presenting abū: ‫ ﺍﺒﻭﻤﺧﻠﺒﻭﻦ‬and ‫ﺍﺒﻭﻤﺠﻠﺒﻭﻦ‬ 18 Cf. E. g. Kenderova S., Beshevliev B.: Balkanskiyat poluostrov izobrazen v kartite na al-Idrisi. Paleografsko i istoriko-geografsko izsledvane. Sofia 1990.



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ποιητική (τέχνη)   ‫ﺍﺒﻭﻃﻴﻘﺎ‬ Fihrist 1. 248.19 – tr. 598 cf. QT 34.17 ‫ﻭﻴﻘﺎﻝ ﺒﻭﻄﻴﻘﺎ ﻤﻌﻨﺎﻩ ﺍﻠﺷﻌﺭ‬

The form ‫ ﺒﻭﻄﻴﻘﺎ‬is obviously a transliteration of the Syriac ‫ יקיתּפוי‬TS 3048 subsequently “corrected” into abū ṭīqā. Yāqūt 1. 882.10 ‫ﻘﻠﻤﻭﻦ‬

ὑποκάλαμον   ‫ﺍﺒﻭ ﻘﻠﻤﻭﻦ‬ ‫ﻭﺒﻬﺎ ﺗﻌﻤﻝ ﺍﻠﺛﻴﺎﺐ ﺍﻠﻤﻠﻭﻨﺔ ﻭﺍﻠﻓﺭﺶ ﺍﻻﺒﻭ‬

On the meaning of this word “Steckmuschel Pinna” cf. commentary by Wiedemann in AGNWT 3 (1912) 51–52 note 1.

Ἱππῶναξ   ‫ﺍﺒﻭ ﻧﻛﺲ‬ A Greek poet, 6 cent. BC – Aetius Arabus 222.5 num. 14 th

Ἀπολλόδωρος   ‫ﺍﺒﻭﻠﻭﺬﺭﺲ‬ Aetius Arabus 100.6 num. 13 ‫ﺍﺭﺸﻼﻭﺲ ﺒﻦ ﺍﺒﻭﻠﻭﺬﺭﺲ‬

In some cases abū could be converted into abā, cf.: ‫– ﺍﺒاﻠﻭﺩﻭﺭﺲ ﺍﻠﺫﻯ ﻤﻥ‬ ‫ ﻤﺩﻴﻨﺔ ﻄﻠﻤﻴﺴﻭﺱ‬Ἀπολλό­δωρος ὁ Τελμησσεύς Artem. Ar. 170.4 – Artem. Gr. 92.18, (in the MS ‫)ﺍﻧالﻭﺪﻭﺭﺱ‬.

Examples 1b (broken shape) ὑπόγλοσσον   ‫ﺍﻭﺒﻐﻠﺻﻦ‬ Siggel 17, Ġafiqī fol. 66b.6–7 ὁνοχειλές   ‫ﺍﻭﺒﻭﺤﻠﻳﻭﺲ‬ Ġafiqī fol. 66b.10, Harawī Ğawāhir fol. 26b.11–13 with a variant ‫ﺍﺒﻭﺧﻠﺴﺎ‬ ὑποδιάκονος   ‫ﺍﻭﺒﻭﺩﻴﺎﻘﻦ‬ Graf Verzeichnis 16; B 1227 passim ὀβολός   (‫ﺍﻭﺒﻭﻠﻭﺲ )ﺍﻭﺛﻭﻠﻭﺲ‬ This form occurs frequently. In Syriac it is written ‫אבולום‬, however a more correct form from Peshitta sounds like ‫ אובלום‬TS 11.

ἱππόκαμπος   ‫ﺍﻘﻭﻘﻤﻘﺲ‬ IB Tafsīr 371.5 – II no. 3 The form ‫ ﻠﻭﻴﺵ‬instead of ‫( ﺍﺒﻭﻠﻭﺲ‬ὀβολός) occurs frequently

‫ﻠﻭﻴﺵ‬

Examples 2a (shape ‫)ﺍﺴﺖ‬ Στέφανος   ‫ﺍﺴﺗﺎﻔﺎﻨﺲ‬ Eutychios 52.12 – tr. 44 στοιχάριον   ‫ﺍﺴﺗﺧﺎﺭﻩ‬

Graf Verzeichnis 8

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στρατηγός   ‫ﺍﺴﺗﺭﺍﺘﻴﻐﻭﺲ‬

Rosen Yaḥyā 69.5 – tr. 72

Examples 2b (broken shape) στάδια   ‫ﺍﺴﻄﺍﺪﻱ‬ Aetius Arabus 164.20 no 107, Artemidorus Ar. 122.14 – Gr. 66.8 A variant for ἰσατις   ‫ﺍﺴﻄﺎﻄﻴﺱ‬ Suwaidī fol. 19b. 4, Dtr. I 71.17 – II. 2. no. 165

ἀστρονομία   ‫ﺍﺻﻄﺭﻮﻨﻭﻤﻴﺎ‬

Masʿūdī Tanbīh 13.16

Examples 2c (shape ‫)ﺴﺖ‬ στοιχάς   ‫ﺴﺗﺨﺎﺪﺲ‬ IB Tafsīr 352.19 – III no. 27

‫ﺴﺗﺭﺍﺘﻴﻘﻭﺲ‬ ‫ ﺍﺴﻄﺭﺍﻄﻴﻘﻭﺲ‬ZDMG 11 (1857) 193 – as a variant for ἀστήρ ἀττικός στρογγύλη   ‫ﺴﺗﺭﻨﺠﻴﻠﻲ‬ Graf Verzeichnis 58 ‫ﺴﻄﺭﻨﺠﻴﻠﻲ‬ στρούϑιον   ‫ﺻﻄﺮﻭﺗﻴﻭﻦ‬ Dtr. I.72.6 – II 2. no. 166 and passim ‫ﺴﻄﺭﻭﺛﻴﻭﻦ‬ Examples 3c (shape ‫)ﺍﻝ‬ ἐλατίνη   ‫ﺍﻻﻄﻴﻧﻲ‬ IB Tafsīr (ed) 331.5 – IV no. 36 λαγώπουν   ‫ﻻﻏﻭﺒﻦ‬ Gal. Arab. fol. 121a. 5–8 ‫ ﺍﻻﻏﻭﺒﻦ‬IB Tafsīr 333.4 – IV no. 17 Λευκάτη sc. οδός   ‫ﺍﻻﻔﻘﺎﻄﻰ‬ Masʿūdī Tanbīh 139.18 – tr. 192 – a way from Dār al-Islām to Constantinople Examples 3b (broken shape)  ‫ﺍﺍﻠﺛﺎﺁ‬ Ġafiqī fol. 52a.8

ἀλϑέα  

19 Instead of ‫ﺍﻠﺛﺎﺁ‬.

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 ‫ﺍﺨﺭﻭﺲ‬ Dtr. I 134.1 – II 4 no. 50 and Ġafiqī fol. 57b.13

ἐλίχρυσον  

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 ‫ ﻤﻘﻴﺩﺭﺲ‬،‫ﺍﻤﻘﺩﺭﺲ‬ Steinschneider 2.148, 186, 187

Ỏλυμπιοδώρος  

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Imagining Mary – Disputing Jesus Reading Sūrat Maryam and related Meccan texts within the Qurʾānic communication process A. Neuwirth

1. Introduction It is striking to observe that, although Christianity certainly exerted a major impact on the late antique society of the Arabian peninsula1, the figure of Jesus in the Qurʾān is little prominent. He makes his first appearance via the story of his mother Mary and is from then on more often than not directly related to her, the Qurʾānic Jesus bearing the “matronym” ʿĪsā b. Maryam. His Qurʾānic life story is little consistent. Accounts about him are dispersed over diverse texts, both Meccan and Medinan2, without ever being crystallised into a memorable vita3 made up of distinctive phases as they are sketched by the Qurʾān concerning 1 Cf. Tor Andrae, Der Ursprung des Islam und das Christentum. Uppsala 1927, Sidney H. Griffith, “Christians and Christianity”, in: Jane McAuliffe (ed.) The Encyclopaedia of the Qurʾān (EQ) I Leiden 2001, 307–316, Jane McAuliffe, Qurʾānic Christians. An analysis of classical and modern exegesis. Cambridge 1991, Heribert Busse, Die theologischen Beziehungen des Islams zu Judentum und Christentum. Darmstadt 1994, and Neil Robinson, Christ in Islam and Christianity. The Representation of Jesus in the Qurʾān and the Classical Muslim Commentaries. London 1991, and more recently Martin Bauschke, Jesus im Koran. Köln 2001, and the contributions by Harald Suhrmann and Barbara Finster to: Michael Marx, Angelika Neuwirth, Nicolai Sinai (eds.): The Qurʾān in Context. (forthcoming) 2 Jesus (ʿĪsā) is mentioned individually 19 times in the Qurʾān, the only Meccan instances of longer discussion being in Sūrat Maryam (Q 19:1–33) and Sūrat az-zuḫruf (Q 43:47–65), short reminiscences are found in Q 21:91, Q 23:50, and Q 42.13. 3 Cf. Kenneth Cragg, Jesus and the Muslim. An exploration. Oxford 1985, 1991.

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other prophets, particularly Moses4. The story of Mary in the Qurʾān is extraordinary from another point of view: it focuses the annunciation of her motherhood and her giving birth to Jesus, in the later, Medinan, version even her own birth, therewith limiting her to a large extent to her female gender role as the mother of a prophet, whose ritual and sexual purity is repeatedly underscored, but who is hardly conceded any meaningful interaction with other (human) protagonists. The Qurʾānic texts about Mary and Jesus and their respective functions, thus, appear somewhat elusive. What do Mary and Jesus mean to the early community? The texts remain obscure as long as they are read as mere fragments of Christian canonical and/or apocryphal traditions that need to be complemented through reference to the “original” Christian texts5. Although identifying extra-Qurʾānic traditions is certainly an indispensable step in Qurʾānic scholarship, it should not be expected to offer more than a glimpse of the wide range of traditions current among the contemporaries of the early community – it will certainly not help to unearth the “sources” of the Qurʾān6. It is true that the previously cherished – oversimplified – imagination of the Prophet Muḥammad as the “author” of the Qurʾān who selected particular material from the various monotheistic traditions to integrate it into his text and communicate it to pagan listeners has by now given way to a more open perception. John Wansbrough and his school7 have justly maintained that not only full-fledged Islam but also the Qurʾān itself should have 4 Cf. Angelika Neuwirth, “Erzählen als kanonischer Prozess. Die Musa-Erzählung und ihre Entwicklung in der Geschichte des Koran”. In: Rainer Brunner & al. (ed.): Islamstudien ohne Ende. Würzburg 2002, 323–344. 5 See for source-critical studies in the monotheistic traditions reflected in the Qurʾān, Heinrich Speyer. Die Biblischen Erzählungen im Qoran. Gräfenhainichen 1937, reprint Darmstadt 1961, Josef Horovitz, Koranische Untersuchungen, Berlin/Leipzig 1926, Joseph Henninger, Spuren christlicher Glaubenswahrheiten im Koran. Schoeneck/Beckenried 1951, Erwin Gräf, “Zu den christlichen Einflüssen im Koran II”, in: Rudi Paret (ed.), Der Koran. Darmstadt 1975, Erwin Gräf, “Zu den christlichen Einflüssen im Koran III”, in: Al-Bahit. Festschrift Joseph Henninger. St. Augustin 1976. 6 Pace Christoph Luxenberg, Die Syro-Aramäische Lesart des Koran. Ein Beitrag zur Entschlüsselung der Koransprache. Berlin 2000, 2004, cf. the review by Hopkins in JSAI 23 (2003). 7 John Wansbrough, Qurʾānic Studies. London 1977, Patricia Crone and Michael Cook, Hagarism. The Making of the Islamic World. Cambridge 1977, cf. G. R. Hawting, The Idea of Idolatry and the Emergence of Islam. From Polemic to History. Cambridge 1999, 10–19.



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emerged from a sectarian milieu alerting us again to the polemic-apologetic framework8 of the Qurʾānic communications. The Qurʾān thus should be understood as a re-reading of a plethora of earlier traditions9. This observation, however, – pace Wansbrough – does not contradict, let alone exclude, the assumption that both, the Qurʾānic text corpus and the early Muslim community, developed synchronously in Mecca and later in Medina. Considering the Qurʾān as a documentation of that crucial social-political process, the present paper relocates the focus from the notion of a text authored by the Prophet (or later compilers) to the communication process itself as well as its agencies, the Prophet and the collective of the early community. To investigate the community’s possible religious background, to understand their debates, extra-Qurʾānic traditions of late antiquity have to be introduced into the investigation. To approach Qurʾānic texts primarily through extra-Qurʾānic material, would, however, fail to do justice to their intra-Qurʾānic referentiality and blur the Sitz im Leben of individual communications within the process of a community’s emergence. Neglecting the intra-Qurʾānic context, due to the dismissal of Qurʾānic chronology, gravely impairs even the most substantial contributions to the topic, such as Heribert Busse’s Die theologischen Beziehungen and Martin Bauschke’s Jesus im Koran that ignore the development of the community’s attitudes towards Christian tradition during Muḥammad’s phase of activity. 8 Polemic against idolatry is the topic of an entire monograph by G. R. Hawting, The Idea of Idolatry and the Emergence of Islam. From Polemic to History. Cambridge 1999. Unfortunately, the author of that otherwise thoughtful and well-documented study dispenses with a micro-structural reading and thorough historical analysis of the Qurʾānic evidence he uses. In the chapter dedicated to “Idols and Idolatry in the Koran” no attempt is made to sketch a development of the Qurʾānic discourse of idolatry. Nor does the author neatly confine himself to the Qurʾān, but conflates arguments drawn from exegesis with those drawn from the Qurʾān. Its results, though inspiring as far as Islamic tradition is concerned, are forcibly imposed on the Qurʾān, a text that does not receive due consideration in the book. Cf. Ludwig Amman, Die Geburt des Islam. Historische Innovation durch Offenbarung. Göttingen 2001, who dedicates an excursus (pp. 105–107) to the discussion of Hawting’s attempt to interpret Qurʾānic polemics as intramono­theist polemics and to relocate the polemical-apologetic scenario from Mecca and Medina to the Fertile Crescent. He diagnoses Hawting’s argument as relying on a priori historical decisions. 9 Wansbrough’s hypothesis of a milieu temporally and geographically different from the traditionally assumed Meccan/Medinan environment has not stood up to critical evaluation.

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Both authors indiscriminately refer to the Prophet Muḥammad as both an “author” who collates texts from various traditions and as a leader of a community who debates verbally with contemporaries, thus conflating two different literary discourses. Neal Robinson in his book Christ in Islam and Christianity, though respecting chronology, is more interested in a dogmatic comparison between Christianity and Islam and thus refrains from a micro-structural reading of the Qurʾānic texts. It has, however, to be kept in mind that the Qurʾānic texts, before being integrated into the text corpus and arranged irrespectively of their chronological sequence, should have been communicated to the early listeners in response to particular discourses that the community had been engaged in, later communications presupposing the memory of earlier communications. Only through close consideration of these intra-Qurʾānic contexts does the multilayered structure of the Qurʾānic text come to the fore. This is a step that has been overleapt by the Wansbrough school which set out to strip the Qurʾānic text off of its temporary and cultural coordinates, thus rashly projecting it into the realm of literary myth that entails no clues to its historical positioning. In view of recent findings, both in terms of manuscript10 and philological-historical evidence11, a later dating of the Qurʾān cannot be upheld, the relocation of the Qurʾānic emergence from the Ḥiǧāz to another cultural area thus becoming obsolete. Literary evidence, finally – that remained excluded from “revisionist” historical scholarship since the text as a literary artefact had been “abolished” – strongly argues in favour of the Qurʾān’s genesis from an oral, i. e. actually staged, communication process involving the historical figure of the Prophet Muḥammad and his listeners12. The following essay attempts to re-read the texts about Mary and Jesus not within the fixed corpus of the Qurʾān, but as a chain of successive developments in the process of the Qurʾān’s communication to the early listeners whose expectations and whose religious background are assumed to be implied in the 10 Cf. Gerd-Rüdiger Puin, “Observations on early Qurʾān manuscripts in Sanʿa”, in: Stefan Wild (ed.), The Qurʾān as Text. Leiden 1996, 107–111. 11 Cf. Francois de Blois, “Naṣrānī (Nazoraios) and ḥanīf (ethnikos): Studies on the religious vocabulary of Christianity and of Islam”, in: BSOAS, 65, 1 (2002) 1–30, Susanne Krone, Die altarabische Gottheit al-Lat. Frankfurt 1992. Ludwig Amman, Die Geburt des Islam. Historische Innovation durch Offenbarung. Göttingen 2001. 12 Cf. Angelika Neuwirth, “Form and Structure in the Qurʾān”, in: EQ II. 245– 266.



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Qurʾānic texts. This reading that also takes extra-Qurʾānic traditions into consideration will allow us in the end to draw some conclusions about the Meccan community’s position towards Mary and Jesus and thus Christianity itself. For reasons of limited space this essay will be confined to Meccan texts.13 The earliest instance of Mary’s appearance in the Qurʾān is found in Sūrat Maryam (Q 19). To locate this text within the Qurʾān we have to take into account that the sūra is marked by the use of a particular divine name, ar-raḥmān, and that it is part of an ensemble of sūras that are known in Qurʾānic scholarship14 as the “raḥmān sūras.” This group is limited to seven sūras15 that for formal and stylistic reasons conventionally are ascribed to the middle Meccan phase of Muḥammad’s activities. The use of the divine name ar-raḥmān later disappears from the Qurʾānic texts and is not used again. Although the common features of the “raḥmān sūras” have not yet been studied, it is obvious that Sūrat Maryam is closely related particularly to two other raḥmān sūras that discuss similar and occasionally identical topics, though only containing reminiscences of Mary’s or Jesus’ story, namely Sūrat az-zuḫruf (Q 43) and Sūrat al-anbiyāʾ (Q 21). A synopsis of the polemics against the assumption of God as a father that is put forward in these three sūras will help to clarify the context in which the figure of Jesus entered the Qurʾānic communications addressed to the Meccan listeners. Whereas 13 See for the Medinan development, Angelika Neuwith, “Mary and Jesus – Counterbalancing the Biblical Patriarchs. A re-reading of surat Maryam in surat Āl ʿImran (Q 3:1–62)”. In: Parole de l’Orient 30 (2005) 231–260. 14 See Theodor Nöldeke, Geschichte des Qorans. Bearbeitet von Friedrich Schwally, 2. Aufl. Leipzig 1909, reprint Hildesheim 1961 (GdQ), 121. It is noteworthy that the Fātiḥa whose existence and cultic use is affirmed in Sūrat al-Ḥiǧr (Q 15) – see Angelika und Karl Neuwirth, “Sūrat al-Fātiḥa – Eröffnung des Text-Corpus Koran oder ‘Introitus’ der Gebetsliturgie?”. In: Walter Gross, Hubert Irsigler, Theodor Seidl (ed.), Text, Methode und Grammatik. Wolfgang Richter zum 65. Geburtstag. St. Ottilien 1993, 331–357 – is among the raḥmān sūras. The problem why ar-raḥmān was the current divine name for a particular time will therefore be dependent for its solution on the clarification of the introduction of the Fātiḥa into the earliest Islamic cultus. The divine name ar-raḥmān remains, of course, in use through the basmala that in the canonical text precedes the text of every single sūra. The basmala may even be an indicator for the use of writing in the transmission of the texts during the Prophet’s activities, since it is quoted in the Qurʾān itself in the function of opening a written document compiled by a prophet. 15 They are the following: Q 19, Q 20, Q 21, Q 25, Q 36, Q 43, Q 67, plus Sūrat al-Fātiḥa.

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there are no further stories about Mary and Jesus in Meccan texts, both figures receive new attention in the Medinan period, where a long sūra, Āl ʿImrān (Q 3), is partly dedicated to them16. This text that does not confine itself to Mary’s miraculously conceiving and giving birth to Jesus, but dwells on her own birth and childhood as well as on some events from the adult life of Jesus, reveals traces of intensified theological exchange with Christian or perhaps Jewish and Christian believers, without, however, displaying any polemical attitude towards particular Christian dogmas17. Such polemic occurs in later reminiscences, particularly frequently in Sūrat an-nisāʾ (Q 4)18, within texts that are no longer embedded in a narrative. – The following article will first discuss the stories in Sūrat Maryam and locate them in their discursive context, briefly comparing the polemics of that sūra to that of Sūrat az-zuḫruf. It will then propose some conclusions concerning the community to which the Meccan texts about Mary and Jesus were addressed.

2. Sūrat Maryam 2.1. Lower criticism Sūrat Maryam is a text that attests to a stage of development where the person of the Prophet appears already fully recognised as the bearer of the Qurʾānic message (Q 19:97).19 In terms of form, the sūra displays a markedly poetical style; the two-to-four-cola verses20 end up in a par16 See Neal Robinson, “Jesus” in EQ III, 7–21 and Barbara Freyer Stohwasser, “Mary” in EQ III, 288–96, see also Johan Bouman, Das Wort vom Kreuz und das Bekenntnis zu Allah. Frankfurt a. M. 1980, Geoffrey Parrinder, Jesus in the Qurʾān, London 1965, Nilos Geaga, Mary of the Koran. New York 1984 (this work was inaccessible to me), Jane McAuliffe, “Chosen of all Woman. Mary and Fatima in Qurʾānic Exegesis”, in: Islamochristiana 7 (1981) 19–28. Claus Schedl, Muhammad und Jesus, Wien 1976, Mathias A. H. Zahniser: “The Word of God and the Apostleship of ʿĪsā: a narrative analysis of Āl-ʿImrān (3:33–42)”, in: Journal of Semitic Studies 36 (1991), 77–112. 17 See Frantz Buhl, “Zur Koranexegese”, in: Acta Orientalia 3 (1924) 97–108. 18 See for the development, Busse, Die theologischen Beziehungen 128–140, and Robinson, Christ, 127–141. 19 See the attempt to classify Qurʾānic texts into periods according to their progressing degree of self-authorization presented by Nicolai Sinai, in: Stefan Wild (ed.), Self-Referentiality in the Qurʾān. (forthcoming) 20 See for the Qurʾānic rhymes Angelika Neuwirth, Studien zur Komposition der mekkanischen Suren. Berlin 1981, 65–123.



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ticularly expressive rhyme (-iyya, or ayya), only from Q 19:75 onward admitting other consonants than –y to constitute the rhyme, which thus turns into the alleviated pattern of a/i/uCCa21. The rhyme pattern iyya in the Qurʾān is uniquely reserved to Sūrat Maryam. There are some strikingly poetical verses such as Zechariah’s self-presentation using an analytical construction22 and an expressive metaphor23: innī wahana l-ʿaẓmu minnī wa-štaʿala r-raʾsu šayban (Q 19:4). There are further tropes like frequent paronomasias (tajnīs), such as Q 19:23/79/83–84, and parallelisms, like in Q 19:15/20/30–31/33, and a chiastic construction in Q 19:13 – all phenomena pointing to a relatively early composition, as is assumed by Nöldeke24. This impression of a particularly artistically shaped text is blurred somehow by a section immediately following the story of Mary with rhymes of the simple pattern of ūn/īn. It also strikingly diverges from the rest of the sūra through its use of the divine name allāh instead of ar-raḥmān. These formal divergences raise the question whether the section was originally part of the sūra or whether it should rather be considered as a later addition, necessitated by the development of the theological expectations of the community – a question that can only be decided on the basis of further criteria to be derived from a comparison with related Qurʾānic texts (see below, 3). There is one other verse whose form arouses doubts as to its original position within the sūra, Q 19:58, seemingly a conclusion of the narrative sequence. It strikes the reader as extraordinary in length (seven cola25 as against five cola as the limit of verse length throughout the rest of the sūra):

ąǶƎȀąȈƊǴăǟĄǾǴËƊdzơăǶăǠąǻƊƗăǺȇĉǀËƊdzơăǮĉƠƊdzȁƌƗ

Those are the ones whom God favoured

ǵăƽƕĉƨËăȇǁËƎ ƌƿąǺĉǷăśËƎȈƎƦËăǼdzơăǺĉǷ

From among the Prophets of the progeny of Adam 21 Nöldeke’s argument in favour of a later dating of this second part of the sūra (GdQ 130) is little convincing, see below, 4. 22 Analytical expressions like al-ʿaẓmu minnī instead of simple ʿaẓmī are characteristic of ancient Arab poetry. See Alfred Bloch, Vers und Sprache im Alten Arabien. Metrische und syntaktische Untersuchungen. Basel 1946. 23 The exact phrasing ištaʿala r-raʾsu šayban is not attested in Albert Arazi, Salman Masalha, Six Early Arab Poets. New Edition and Concordance. Jerusalem 1999. 24 GdQ, 130. 25 A colon roughly matches a phrase. See for a colometric analysis of the Qurʾān Angelika Neuwirth, Studien zur Komposition der mekkanischen Suren. Berlin 1981, 117 ff.

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ƉƵȂĄǻăǞăǷƢăǼƒǴăǸăƷąǺËăǸĉǷăȁ

Of those We carried with Noah

ƊDzȈĉƟơăǂąLJƎƛăȁăǶȈĉǿơăǂąƥƎƛĉƨËăȇǁËƎ ƌƿąǺĉǷăȁ

Of the progeny of Abraham and Israel

ƢăǼąȈăƦăƬąƳơăȁƢăǼąȇăƾăǿąǺËăǸĉǷăȁ

And of those We have guided and elected.

ƎǺăǸąƷËăǂdzơĄƩƢăȇƕąǶƎȀąȈƊǴăǟȄƊǴąƬĄƫơƊƿƎƛ

When the Revelations of the Compassionate were recited to them,

ƢËȈĆǰĉ Ąƥȁă ơĆƾËăƴĄLJơȁËĄǂăƻ

They fell down prostrated and weeping. Q 19:58

The concept that particular prophets should constitute a genealogical unit is alien to the context of the core part of Sūrat Maryam. Not only does the lexeme “prophets” – in the plural form nabiyyūna, anbiyāʾ – and thus the idea of a group of prophets closely related for some reason or other, not occur in early sūras, but the genealogical relation between prophets, even when a given fact such as in the case of Ibrāhīm and Ismāʿīl (Q 19:41–46/ 54–55) simply goes unnoticed within the core part of Sūrat Maryam. The concept of a divine project of prophecy embodied in diverse figures legitimised by genealogy is still outside the scope of Meccan prophetology. It will be fully developed only in Medinan texts where it is closely connected to the family of Maryam, Āl ʿImrān. Q 19:58 is best explained as a later addition26 inspired by Sūrat Āl ʿImrān where a similar genealogy, Ādam – Nūḥ – Āl Ibrāhīm (though not Isrāʾīl) – Āl ʿImrān (i. e. the family of Mary and consequently the Christians, who are not explicitly mentioned in Q 19:58, but are represented by the description of the humble elects), figures as the prologue (Q 3:33) of an extended story of Mary which is in the focus of a genealogical discourse27. 26 The verse is even acknowledged as a Medinan addition in Islamic tradition itself. See Tilman Nagel, Medinensische Einschübe in Mekkanischen Suren. Göttingen 1995. 27 See Angelika Neuwirth, “Mary and Jesus – Counterbalancing the Biblical Patriarchs. A re-reading of Sūrat Maryam in Sūrat Āl ʿImrān (Q 3:1–62)”, in: In: Parole de l’Orient 30 (2005) 231–260, see also Michael Marx: “Glimpses of a Mariology. From hagiography via religious debate to theology”, to appear in: Angelika Neuwirth, Nicolai Sinai, and Michael Marx: The Qurʾān in Context. Historical and Literary Investigations into the Milieu of the Qurʾān.



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2.2. Analysis and comment 2.2.1. The stories of Mary and Zechariah, Q 19:1–33 Let us turn first to the stories about and around Mary in Sūrat Maryam. As in the Gospel of Luke, two miraculous birth stories are juxtaposed, that of John the Baptist, named Yaḥyā in the Qurʾān, and that of Jesus, who remains unnamed in the story. Contrary to the narrative strategy of the Gospel however, the Qurʾānic stories, that focus a parent rather than the child, are not connected to form an interrelated event. They are related to each other less as parts of one divine salvific plan than through their analogous motifs, the miraculous birth of a child and the temporary muteness of a parent. John is born to the aged Zechariah and his barren wife, Mary’s son Jesus is conceived and born without a male partner involved. The priest Zechariah, serving in the temple, miḥrāb28, experiences muteness over a limited period perceiving his handicap as a sign of God’s true intention to work wonders announced to him. He commissions others to utter speech: his community shall praise God in the morning and in the evening (Q 19:11: sabbiḥū bukratan wa-ʿašiyyan). Their praise of God takes the place of the hymn that was uttered, according to Luke 1:67–79, by Zechariah himself. That text has become part of the morning laudes in Church liturgy, known as the benedictus; it functions as the counterpart to the Lucan hymn of Mary, the magnificat (Luke 1:46–56)29, recited in the evening. The Qurʾānic insistence on the two liturgical times for the praise to be recited by the community may perhaps reflect the already established ecclesiastic tradition of using the benedictus and the magnificat in the morning and evening prayers. – Mary, in turn, is told to refrain from speaking, to remain mute – so as not to expose herself to violent repercussions to her scandalously having given birth out of wedlock. In her stead, her infant child will speak up. Mary’s remaining mute thus, again, triggers a miracle. – The stories end up in analogous developments: Both the sons of Zechariah and of Mary are destined to become prophets. They will have access to Scripture (Q 19:12/30) 28 The Temple is called miḥrāb only in the stories of Zechariah (Q 19:11, Q 3:37/39) and Mary (Q 3:37), it appears otherwise as masǧid (Q 17:1 ff.). 29 See for the history of the two texts that stem from a “Baptist” militant hymn (i. e. a Maccabean psalm written by partisans of John the Baptist), David Flusser, “The Magnificat, the Benedictus and the War Scroll”, in David Flusser, Judaism and the Origins of Christianity. Jerusalem 1988, 126–149.

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and will show particular piety towards their parent(s) (Q 19:14/32); Zechariah’s son is gifted with the virtue of compassion, ḥanān – a pun on his Biblical name, Yohanan – (Q 19:13), both will be refraining from violent acts (Q 19:14/32). Both are given the obligation of zakāt30 (Q 19:12/31), and will be honoured with an eulogy to be pronounced over them when their names are uttered (Q 19:15/33).

ƢËăȇƎǂƊǯăǃĄǽƾă ąƦǟă ăǮËƎƥăǁĉƨăǸąƷăǁĄǂƒǯƿĉ

This is the story of your Lord’s Mercy unto His servant Zechariah

ƢËĆȈĉǨăƻÅƔơăƾƎǻĄǾƥËăăǁȃăƽƢăǻƒƿƎƛ

When he called upon his Lord secretly

ƢËȈĆǬĉ ăNjËƣ Ǝ ǁă ăǮƟĉƢăǟĄƾƎƥąǺƌǯƊƗąǶƊdzăȁ ƢĆƦąȈăNjĄDžƒƗǂËă dzơƊDzăǠăƬąNjơăȁ ȆËƎǼĉǷĄǶƒǜăǠƒdzơăǺăǿăȁȆËƎǻƎƛËƎƣăǁƊDZƢƊǫ

He said: “Lord, my bones have weakened and my head is aflame with grey hair, and I have not, Lord, in vain called upon You.

ƢËĆȈĉdzăȁăǮąǻĄƾdzƊąǺĉǷȆĉdząƤăȀƊǧ ơĆǂǫĉƢăǟȆĉƫƗƊǂă Ƿą ơĉƪăǻƢƊǯăȁ ȆĉƟơăǁăȁąǺĉǷăȆĉdzơăȂăǸƒdzơĄƪƒǨƻĉ ȆËƎǻƎƛăȁ

In truth, I fear my kinsmen, after I am gone, as my wife is barren. Grant me, then, from Your Bounty, a successor.

ƢËĆȈĉǓăǁËƎƣăǁĄǾƒǴăǠąƳơăȁ ăƣȂƌǬąǠăȇƎDZƕąǺĉǷƌƭǂƎ ȇăȁă ȆƎǼƌƯƎǂăȇ

To inherit me and inherit the house of Jacob, and make him, Lord, wellpleasing to You.”

ƢËĆȈĉǸăLJƌDząƦǫƊąǺĉǷĄǾdzƊƒDzăǠąƴăǻąǶƊdz ȄăȈąƸăȇĄǾĄǸąLJơƉǵȐĄǤƎƥăǭĄǂËĉnjƦăĄǻƢËăǻƎƛƢËăȇƎǂƊǯăǃƢăȇ

(It was said to him): “O Zechariah, We announce to you the good news of a boy whose name is John; We have not hitherto given the same name to anyone else.”

ƢËĆȈĉƬĉǟƎǂăƦĉǰƒdzơăǺĉǷĄƪąǤǴƊƥăąƾƊǫăȁ ơĆǂĉǫƢăǟ ȆĉƫƊƗăǂąǷơĉƪăǻƢƊǯăȁćǵȐƌǣȆĉdzƌǹȂƌǰăȇȄËăǻƊƗËƎƣăǁƊDZƢƊǫ

He said: “O Lord, how shall I have a boy, seeing that my wife is barren and I have reached and advanced old age?”

ƢƆƠąȈăNjĄǮƫăąǶƊdzăȁ ƌDząƦǫƊąǺĉǷăǮĄƬƒǬǴƊƻă ąƾƊǫăȁ ćǺËƎȈăǿËăȆƊǴăǟăȂĄǿăǮËĄƥăǁƊDZƢƊǫăǮĉdzƊǀƊǯƊDZƢƊǫ

He said: “That is what your Lord says. It is easy for Me. Indeed I created you formerly, when you were nothing.”

ƢËĆȇƎȂăLJƉDZƢăȈdzƊƊƭȐƊƯăDžƢËăǼdzơăǶËĉǴƊǰĄƫȏƊƗăǮĄƬȇăƕƊDZƢƊǫ ƆƨăȇƕȆĉdzƒDzăǠąƳơËƎƣăǁƊDZƢƊǫ

He said: “Lord, give me a sign.” He said: “Your sign is that you will not talk to anybody for three nights, although you are sound of body.” 30 The word zakāt in the section on Yaḥyā/John, Q 19:13, may still be understood in the sense of the Aramaic original zaḫuṯa, purity, it may however, in view of the further instances of zakāt in the text, cf. Q 19:31/55, as well be intended in the technical sense of almsgiving.



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ƢËĆȈĉnjăǟăȁƆƧǂă ƒǰĄƥơȂĄƸËƎƦăLJƒǹƊƗąǶȀƎ ąȈƊdzƎƛȄăƷąȁƊƘǧƊ ƎƣơăǂąƸĉǸƒdzơăǺĉǷĉǾĉǷąȂƊǫȄƊǴǟă ăƱăǂăƼƊǧ

He came out to this people from the sanctuary and told them by signs: “Pray and glorify morning and evening.”

ƢËĆȈƎƦăǏăǶƒǰĄƸƒdzơĄǽƢăǼąȈăƫƕăȁ ĊƧËăȂƌǬƎƥăƣƢăƬĉǰƒdzơĉǀĄƻȄăȈąƸăȇƢăȇ

It was then said to John: “O John, hold fast to the Book.” And We granted him wisdom when he was still child;

ƢËĆȈĉǬăƫƊǹƢƊǯăȁƆƧƢƊǯăǃăȁƢËǻăĄƾdzƊąǺĉǷƢĆǻƢăǼăƷăȁ

And tenderness from Us and purity. He was devout;

ƢËĆȈĉǐăǟơĆǁƢËăƦăƳąǺƌǰăȇąǶƊdzăȁ ĉǾąȇăƾĉdzơăȂƎƥơËĆǂăƥăȁ

And devoted to his parents; and he was not arrogant and disobedient.

ƢËĆȈăƷƌƮǠă ąƦĄȇăǵąȂăȇăȁ ĄƩȂĄǸăȇăǵąȂăȇăȁ ƾă dzĉĄȁăǵąȂăȇĉǾąȈƊǴăǟćǵȐăLJăȁ

Peace be upon him the day he was born, the day he dies and the day he is raised from the dead. Q 19:2–15

But whereas Zechariah’s story, told after Luke’s account, is simple – he does not have to change his habitat to enter into contact with the divine and has his personal will miraculously fulfilled through divine intervention – Mary’s story is more complex:

ƢËĆȈĉǫąǂăNjƢĆǻƢƊǰăǷƢăȀĉǴąǿƊƗąǺĉǷąƩƊǀăƦăƬąǻơĉƿƎƛ ăǶăȇąǂăǷƎƣƢăƬĉǰƒdzơȆĉǧąǂƌǯƒƿơăȁ

And remember (the account) of Mary in the Book when she withdrew from her people to an Eastern place.

ƢËĆȇƎȂăLJơĆǂnj ă ƥăƢăȀƊdzƊDzưƊËǸă ƬăǧƊ ƢăǼƷă ȁĄǁƢăȀąȈƊdzƎƛƢăǼƒǴăLJąǁƊƘƊǧ ƢĆƥƢăƴĉƷąǶƎȀƎǻȁĄƽąǺĉǷąƩƊǀăƼËăƫƢƊǧ

She screened herself away from them, and We sent to her Our Spirit and it appeared to her in the form of a well-shaped human being.

ƢËĆȈĉǬăƫăƪąǼƌǯƒǹƎƛ ăǮąǼĉǷƎǺăǸąƷËăǂdzƢƎƥƌƿȂĄǟƊƗȆËƎǻƎƛąƪƊdzƢƊǫ

She said: “I seek refuge with God from you, if you do fear God.”

ƢËĆȈĉǯăǃƢĆǷȐƌǣĉǮƊdzăƤăǿȋ ĉǮËƎƥăǁƌDZȂĄLJăǁƢăǻƊƗƢăǸËăǻƎƛƊDZƢƊǫ

He said: “I am only the messenger of your Lord to grant you a boy most pure.”

ƢËĆȈĉǤăƥĄǭƗƊąǶƊdzăȁ ćǂănjăƥȆƎǼLj ąLj ă Ǹą ȇăąǶƊdzăȁćǵȐƌǣȆĉdzƌǹȂƌǰăȇȄËăǻƊƗąƪƊdzƢƊǫ

She said: “Shall I have a boy, when no man has touched me and I have not been an unchaste woman?”

ƢËĆȈĉǔƒǬăǷơĆǂąǷƗƊƊǹƢƊǯăȁ ƢËăǼĉǷƆƨăǸąƷăǁăȁ ƎDžƢËăǼǴĉdzƆƨăȇƕĄǾǴƊǠă ąƴǼădzĉȁă ćǺËƎȈăǿËăȆƊǴăǟăȂĄǿ ĉǮËĄƥăǁƊDZƢƊǫĉǮĉdzƊǀƊǯƊDZƢƊǫ

He said: “Thus (it will be), your Lord has said: ‘This is an easy matter for Me; that We may make him a sign unto mankind and a Mercy from Us.’” And thus it was decreed. Q 19:16–21

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Mary has, when the divine spirit approaches her, already retreated from society and dissociated herself from her family to a place referred to as situated in the East, makānan šarqiyyan. That location may entail a reminiscence of a messianic Christian tradition that allegorically equals the body of Mary with the Temple, whose (Eastern) gate will only be opened by the Messiah31. Viewed within the Qurʾānic context, however, the location presents itself rather as a station on her way to the remote space where she will give birth. She has covered herself or perhaps hidden herself32 from her relatives and thus entered an “other”, sacred, realm, inaccessible for them. It is in this situation of being outside social space that the spirit approaches her in the shape of a handsome young man – not explicitly that of an angel as in Luke. Mary being a chaste young woman fears sexual aggression and tries to evade his approach, appealing to his decency. He however identifies himself as a divine messenger sent to “give her a son”33. There is no word of a divine election of Mary in this story, nor is there, at this stage, a prediction of the particular rank the child will occupy beyond his becoming a prophet, nabī. Mary at first refuses to believe the message referring, as does the Lucan Mary, to her being without contact to men. Contrary to Luke’s version, however, she is given no explanation, neither a sign; the Qurʾānic speaker contents himself with a simple reference to God’s omnipotence. Only in the end there is the promise that the child – who 31 The Eastern gate of the Temple will be opened according to Ezekiel 44:1 only by God himself. The Old Church (Hieronymos, Ambrosius) using an allegorical interpretation equalling the Temple with Mary applied the prophecy to Jesus: solus Christus clausas portas vulvae aperuit. Mary is hence connected to the area east of the Temple, see Paret, Der Koran. Kommentar und Konkordanz, Stuttgart 1980, ad locum. See for the allegorical dimension of the figure of Mary Michael Marx, “Glimpses of a Mariology. From Hagiography via Religious Debate to Theology”, in: Angelika Neuwirth, Nicolai Sinai, and Michael Marx (eds.), The Qurʾān in Context. (forthcoming) 32 “She has put a curtain between her and them” may, of course, be a reminiscence of the story of Mary’s weaving a curtain reported in the Protoevangelium. The episode does, however, not play a role for the Qurʾānic context. It should, however, be kept in mind that the Qurʾānic account entails an attempt to de-mythologize the figure of Mary but stripping her of her typological significance as the image of the Temple and then the Church. See Michael Marx, “Glimpses of a Mariology. From Hagiography via Religious Debate to Theology”. in: Angelika Neuwirth, Nicolai Sinai, and Michael Marx (eds.), The Qurʾān in Context. (forthcoming) 33 There is a variant li-yahaba (Warš ʿan Nāfiʿ) which makes God’s direct intervention instrumental.



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remains unnamed – will become a sign for the people and an example of divine mercy, qualities that do not go beyond those of other prophets. But the affair is no matter of negotiation, it has – the last colon of Q 19:21 seems to be a comment rather than part of the spirit’s speech – already been decided. The episode is epitomized in a somewhat later text that presents the spirit as the life-giving power that brings about Mary’s pregnancy, Q 21:91: wa-llatī aḥṣanat farǧahā fa-nafaḫnā fī-hā min rūḥinā wa-ǧaʿalnāhā wa-bnahā āyatan li-l-ʿālamīn.

ƢËĆȈĉǐƊǫƢĆǻƢƊǰăǷĉǾƎƥąƩƊǀăƦăƬąǻƢƊǧ ĄǾąƬǴƊǸă Ƹ ă ǧƊ

So, she conceived him and she withdrew with him to a distant place.

ƢËĆȈÊLjąǼǷă ƢĆȈąLjăǻĄƪąǼƌǯȁă ơƊǀǿă ƊDząƦǫƊËƪ Ą Ƿĉ ȆƎǼƬăȈądzƊƢăȇąƪƊdzƢƊǫ ĉƨƊǴąƼËăǼdzơƎǝƒǀƎƳȄƊdzƎƛĄǑƢăƼăǸƒdzơƢăǿÈƔƢăƳƊƘƊǧ

Then labour pangs drove her towards the trunk of a palm tree. She said: “I wish I had died before this and had become completely forgotten.”

ƢËĆȇƎǂăLJĉǮăƬąƸăƫĉǮËĄƥăǁƊDzăǠăƳąƾƊǫ ȆƎǻăDŽąƸăƫȏƊƗƢăȀƬĉƸ ą ƫăąǺĉǷƢăǿơăƽƢăǼǧƊ

Whereupon (the babe (Jesus) or (Gabriel)) called her from beneath her: “Do not grieve. Your Lord has created below you a stream.

ƢËĆȈƎǼăƳƢĆƦƊǗǁĄ ĉǮąȈƊǴăǟƒǖĉǫƢăLjĄƫ ĉƨƊǴąƼËăǼdzơƎǝƒǀƎƴƎƥĉǮąȈƊdzƎƛȅËDŽƎ Ąǿȁă

Shake the trunk of the palm tree towards you and it will drop upon you fresh ripe dates.

ƢĆǷąȂăǏƎǺăǸąƷËăǂǴĉdzĄƩąǁǀƊ ǻăȆËƎǻƎƛȆĉdzȂƌǬƊǧ ơĆƾăƷƊƗƎǂănjăƦƒdzơăǺĉǷËăǺƎȇăǂăƫƢËăǷƎƜƊǧ ƢĆǼąȈăǟȅËƎǂƊǫăȁȆƎƥăǂąNjơăȁȆĉǴƌǰǧƊ ƢËĆȈÊLjąǻƎƛăǵąȂăȈƒdzơăǶËĉǴƊǯƌƗąǺƊǴƊǧ

Eat, drink and rejoice. Then if you see any human say: ‘I have vowed to the Compassionate to fast, and so I shall not talk today to any human being.’”

ƢËĆȇƎǂƊǧƢƆƠąȈăNjĉƪƒƠƎƳąƾƊǬƊdz ĄǶȇăąǂǷă ƢăȇơȂƌdzƢƊǫ ĄǾƌǴǸĉ ąƸƫăƢăȀăǷąȂƊǫĉǾƎƥąƪăƫƊƘƊǧ

Then she brought him to her people, carrying him They said: “O Mary, you have surely committed a strange thing.

ƢËĆȈĉǤăƥĉǮËĄǷƌƗąƪăǻƢƊǯƢăǷăȁ ÇƔąȂăLJƊƗăǂąǷơĉǭȂĄƥƊƗƊǹƢƊǯƢăǷƊǹȁĄǁƢăǿăƪąƻƌƗƢăȇ

Sister of Aaron, your father was not an evil man and your mother was not unchaste.”

ƢËĆȈƎƦăǏĉƾąȀăǸƒdzơȆĉǧƊǹƢƊǯąǺăǷ ĄǶǴËĉƊǰĄǻăǦąȈƊǯơȂƌdzƢƊǫĉǾȈąƊdzƎƛąƩăǁƢăNjƊƘǧƊ

Whereupon she pointed to him. They said: “How will we talk to one who is still an infant in the cradle?”

ƢËĆȈƎƦăǻȆƎǼƊǴăǠăƳăȁ ăƣƢăƬĉǰƒdzơăȆǻƎƢăƫƕĉǾËƊǴdzơĄƾąƦǟă ȆËƎǻƎƛƊDZƢƊǫ

He (Jesus) said “Indeed, I am the servant of God, Who gave me the Book and made me a Prophet.

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ƢËĆȈăƷĄƪąǷĄƽƢăǷ ĉƧƢƊǯDŽăË dzơăȁĉƧȐËăǐdzƢƎƥȆƎǻƢăǏąȁƊƗăȁ ĄƪąǼƌǯƢăǷăǺąȇƊƗƢƆǯăǁƢăƦĄǷȆƎǼǴƊǠă Ƴă ȁă

And He made me blessed wherever I am, and has commanded me to pray and to give the alms, so long as I live;

ƢËĆȈĉǬăNjơĆǁƢËăƦăƳȆƎǼƒǴăǠąƴăȇąǶƊdzăȁ ȆĉƫăƾĉdzơăȂƎƥơËĆǂăƥăȁ

And be devoted to my mother; and He did not make me arrogant and mischievous.

ƢËĆȈƷă ƌƮǠă ąƥƌƗăǵąȂăȇăȁ ĄƩȂĄǷƊƗăǵąȂăȇăȁĄƩąƾdzĉĄȁăǵąȂăȇËăȆƊǴăǟĄǵȐËLj ă dzơăȁ

Peace be upon me the day I was born, the day I die and the day I rise from the dead.” Q 19:22–33

The second stage of the story focuses Mary’s delivery. Since there is no encounter of Mary with the mother of John/Yaḥyā (Elizabeth, unnamed in the Qurʾān), neither a betrothal to Joseph, there is no journey to Bethlehem either. Rather Mary retreats further from the inhabited space to “a remote place” which appears mythic rather than real. When the labours overcome her she finds herself leaning against the trunk of a palm tree34 and utters words of despair. The tree will soon turn out to be of miraculous kind: a voice from below – be it that of the child that has meanwhile been born or that of an angel – calls on her to cheer up, God has provided for her: a water source has sprung up and the palm tree will drop fresh dates upon her. She will also be safe from prosecution by humans, since her infant son will speak up on her behalf, while she will be excused by a vow forbidding her to speak. The stratagem indeed works: the newborn infant identifies himself as a prophet and a servant of God and attests that he has been – like John/ Yaḥyā before – charged with particular religious duties to perform and been deemed worthy of the eulogy to be uttered over prophets. Whereas the account of Zechariah in the Qurʾān roughly corresponds to the Gospel of Luke 1:8–25/57–80, it is obvious that the story of Mary with its allusions to her separation from her family is much closer to the apocryphal Protoevangelium35 of James. That text was extremely influential in late antiquity and has reflected strongly, even in Western Church tradition, on the image of Mary – whose identity as the daughter of Joachim and Anna, two saints of the Church, is due to the Protoevangelium – until it was banned by Pope Gelasius in the 34 The tree is introduced as with a definite article as if it was known. 35 For the text of the Protoevangelium see Ronald F. Hock, The Infancy Gospels of James and Thomas: Introduction, Greek Text, English Translation, and Notes. Scholars Bible. Santa Rosa 1995.



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middle of the sixth century. It has been noted that the version of the Protoevangelium draws an image of Mary different from that of the Lucan text. Mary is thus depicted as rather inactive; there is no Marian fiat, no assertion of her willingness to take upon herself her mission. Nor is there a magnificat (Luke 1:46–55) neither a praeservavit, an uttering of her decision to preserve the prophecies about her son in her heart (Luke 1:19). What rather matters is her ritual purity; she is kept apart from ordinary humans during her first years and then brought to be educated in the temple. She is removed again from the temple when coming into puberty, again for ritual reasons. The central feature in the Protoevangelium is her virginity, that is even miraculously affirmed after her giving birth. As Mary F. Foskett states, here “virginity functions as the most concrete and objectifying indication of Mary’s holiness. By retaining her virginity ante partum, in partu, and post partum, Mary is transformed from being a parthenos in the cult to being a cult object. She embodies a purity that is absolute, untouchable, and unique. Not only is the portrayal of Mary more uniform in this narrative than in Luke-Acts, the nature and significance of her sexual status is absolute”36. In the Qurʾān, the centrality of her purity is obvious not only from Sūrat Maryam but also from the reminiscence of the annunciation in Q 21:91 where she is mentioned not by her name but by a honorific: wa-llatī aḥṣanat farǧahā fa-nafaḫnā fī-hā min rūḥinā wa-ǧaʿalnāhā wa-bnahā āyatan li-l-ʿālamīn. The Qurʾānic version in Sūrat Maryam equally depicts Mary as rather passive. She appears as the instrument of the divine plan rather than its courageous protagonist, falling into despair and uttering the wish to die rather than suffer. But more than that, particularly in the birth story, she appears as a mythic persona. This is, however, less due to the similarities to the Protoevangelium than to the episode of her salvation related to the palm tree. That episode which is missing from both Luke and the Protoevangelium reminds strongly of the salvation of Hagar and her son Ishmael from Gen. 21:8–19 where an angel from heaven shows Hagar the palm tree and the spring. It has, however, a closer counterpart in the Gospel of Pseudo-Matthew37 which was composed “sometime between the middle of the sixth century – the date of Pope Gelasius’ decree to ban the Protoevangelium of James – and the end of 36 Mary F. Foskett: A Virgin Conceived. Mary and Classical Representations of Virginity. Bloomington 2002, 164. 37 Wilhem Schneemelcher (ed.), New Testament Apocrypha, English translation edited by R. Wilson. Cambridge 1991.

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the eighth century – the earliest manuscript evidence”38. The Gospel may thus be later than the Qurʾānic story, it is also markedly different. It tells the story of a palm tree growing in the desert that played a role during the flight of the holy couple to Egypt. Mary, Joseph, and the infant Jesus, exhausted from the journey, long for food and water. Jesus calls upon the palm tree to bow down and spread its fruit over them. At the same time a source of water springs up miraculously to save the holy family from thirst. The context, then, is different from the Qurʾānic story: whereas the Gospel tells about an incident happening to a group – Joseph plays a consoling part; the child is already born and able to act – the Qurʾānic story tells of a birth-giving by a lone female figure that does not enjoy any human assistance. She is “out of place”, totally isolated and in despair. Sulaiman Mourad has alerted us to the fact that “the association of the palm tree with divine persons is not unique to Mary and Jesus. In Greek mythology, one finds the palm tree associated with the worship of Apollo: in particular, the holy palm tree found by the temple of Apollo on the island of Delos. The veneration for that palm tree derives from the legend describing Leto sitting by its trunk while in labour for Apollo. Leto was desperate and trying to hide herself from the angry Hera. She sought the remote and rocky island of Delos, where she sat, aggrieved and distressed by a palm tree alongside the Inopus River and delivered Apollo”. Mourad who has traced the reception of that story through Greek and Latin literature, comes to the conclusion that “the palm tree story in Qurʾān 19:22–24 is an obvious reworking of Leto’s labour in the Greek tradition. It is about a distressed pregnant woman (Leto/Mary) who seeks an isolated place (Delos/remote spot), sits by the trunk (Greek premnon, Arabic ǧiḏʿ) of a palm tree next to a river (Inopos/stream) and delivers a holy child (Apollo/Jesus). (…) The palm tree story in Pseudo-Matthew seems to be an obvious later reworking of the version that found its way, in concise form into the text of the Qurʾān. The Gospel preserves the palm tree miracle, but deletes the association of the birth-place of Jesus with the palm tree. The canonical gospels are almost silent about the circumstances of the birth of Jesus. All that is known comes from Luke 2:1–20, which mentions nothing about Mary’s labour other than the following: ‘While 38 Sulaiman A. Mourad, “From Hellenism to Christianity and Islam: The Origin of the Palm Tree Story Concerning Mary and Jesus in the Gospel of PseudoMatthew and the Qurʾān”, in: Orients Christianus 86 (2002), 207.



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they were there (in Bethlehem), the time came for her to deliver her child. And she gave birth to her firstborn son and wrapped him in bands of cloth, and laid him in a manger, because there was no place for them in the inn.’ (Luke 2:6–7) It is not unlikely, then, that some early Christians, ignorant of the Gospel of Luke or unconvinced by it, circulated a story that was meant to describe the circumstances of Mary’s labour and delivery… A possible group might be the Christian community of Najran, in West Arabia, who used to worship a palm tree before converting to Christianity. Changing the Leto/Apollo palm tree story to fit Mary/Jesus would have permitted them to keep part of their belief yet give it a Christian tone”39. However the exact ways of transmission, the Qurʾānic story of Mary’s delivery of Jesus, though in its beginning (the appearance of the divinely dispatched spirit) a miracle within a monotheistic framework, continues as a mythical story staging a prototypically sacred scenario (woman in a remote place with tree) surrounded by miracles not all of which explicitly derive from God. Through its end – the birth of a prophet, nabī – which is closely related to that of John/Yaḥyā in the preceding story that was devoid of pagan mythical elements, the story of Mary reconnects to the monotheist tradition. Mary, in the final scene, when she is reproached by her relatives, is addressed by them as “sister of Aaron”. This identification with the Old Testament Miriam may be understood as mirroring a typological interpretation cherished by the Old Church, which sought to connect the events around Moses with those around Mary and Jesus. But the reference to Aaron – not Moses – points to a further dimension of significance, to Mary’s theological rank as a “typos” of the Church and thus the Jerusalem Temple (whose sacrificial cult goes back to Aaron). Following this argument, Mary may be called an “Aaronide” insofar as she symbolises the heritage of the Temple: the Church40. Though this symbolic dimension has no bearing on the Qurʾānic story, it will be maintained throughout the Qurʾān and be reflected in Medina in the denomination of Mary’s family as Āl ʿImrān. The infant Jesus who speaks up on behalf of his mother presents himself as a servant of God – a self-designation that in itself does not 39 Mourad, “Palm Tree”, 213. A reminiscence of Greek mythology may be recognized as well in the Qurʾānic images of the paradisiacal virgins, see the contribution of Walid Saleh, in: Angelika Neuwirth, Nicolai Sinai, and Michael Marx, The Qurʾān in Context (forthcoming). 40 Michael Marx, “Glimpses of a Mariology”.

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necessarily reflect a(n anti)‌Christological argument meant to stress his human and thus non-divine nature – the qualification may simply be intended to echo the title of other prophets such as Moses (cf. Deuteronomy 5:34, Nehemiah 10:29, Revelation of John 15:3) or reflect Jesus’ own designation in Christian scripture (cf. Acts 3:13)41. With the reference to the book that he has been given (Q 19:30) we do, however, enter a field of interreligious differences. According to later Qurʾānic texts there are not four accounts about Jesus’ accomplishments written down under divine inspiration by the four canonical evangelists, but Jesus himself is credited with a revelation which is on a par with the Qurʾān and the Torah42. Jesus’ account of his being blessed (Q 19:31) and the final benediction to be uttered over him (Q 19:33) resound Luke 11:27–28. The blessings he has received, ṣalāt and zakāt, may be understood as epitomising the two parts of the Decalogue43. Jesus’ statement about his death, finally (Q 19:33), may, in view of the equally Meccan section Q 43:59–61 where Jesus is introduced as a “sign of the Last Hour”44 be understood as indicating an event imagined to happen in the end of days:

ƊDzȈĉƟơăǂąLJƎƛȆƎǼƦădzĉȐƊưǷă ĄǽƢăǼƒǴăǠăƳăȁ ĉǾąȈƊǴăǟ ƢăǼąǸăǠąǻƊƗćƾąƦăǟȏƎƛăȂĄǿƒǹƎƛ

He was merely a servant whom We favoured and set up as an example to the Children of Israel.

ƊǹȂƌǨƌǴąƼăȇƎǑąǁȋơȆĉǧƆƨƊǰĉƟȐăǷąǶƌǰąǼĉǷƢăǼƒǴăǠăƴƊdzÉƔƢănjăǻąȂƊdzăȁ

Had We wished, We would have made of you angels to be successors on earth.

ćǶȈĉǬăƬąLjĄǷƈǕơăǂĉǏơƊǀăǿĉǹȂĄǠƎƦËăƫơăȁ ƢăȀƎƥËƊǹĄǂăƬąǸăƫȐƊǧ ĉƨăǟƢËăLjǴĉdzćǶƒǴĉǠƊdzĄǾǻËăƎƛăȁ

And it is surely the knowledge of the Hour; so do not doubt it and follow Me. This is a Straight Path. Q 43:59–61 41 Heribert Busse, Die theologischen Beziehungen, 127. 42 Sidney H. Griffith has discussed the two perceptions of the Gospel in detail. It is noteworthy that no translation of the Gospel was extant at Muḥammad’s time. See Griffith, “The Gospel in Arabic: An Inquiry into its Appearance in the First Abbasid Century”, in: Griffith, Arabic Christianity in the Monasteries of Ninth-Century Palestine. Aldershot 1992, 126–167, see also Griffith, “Gospel”, in: EQ II, 342–343. 43 Heribert Busse, Die theologischen Beziehungen, 128. 44 Instead of canonical ʿilmun li-s-sāʿati, Jesus’ qualification should be read as ʿalamun li-s-sāʿati, as transmitted by the uncanonical reader ʿIkrima. See Arthur Jeffery, Materials for the History of the Text of the Qurʾān. Leiden 1937, 173.



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Jesus, in the Qurʾān, is assumed not to have died but been raised to heaven; according to later texts he is expected to return in the end of times to defeat the Antichrist and only then to die. This image of Jesus which seems to be alluded to in Q 43:60 may perhaps be assumed as the backdrop of his story from the beginning. Sūrat Maryam, however, introduces Jesus not as a dramatic figure but rather as a symbol – as if he had long been familiar to the listeners. He is viewed primarily as the miraculously born child of a sacred female figure that, as an icon of purity, eclipses her son in her power to inspire the believers’ pious imagination. 2.2.2. The later Meccan addition Q 19:34–40 The story is followed by a non-narrative section that is not only clearly distinct from its context by the diverging rhyme pattern –ūn/-īn, typical of later sūras, but is also in a way contrapuntal to the preceding one. It starts with the identification of the until then unnamed child as ʿĪsā b. Maryam who is thus endowed with a “matronym”45 in addition to his first name – a naming unique in the Qurʾān where prophets are named by their first names exclusively. The “matronym” which is maintained throughout the Qurʾān is certainly not inspired by Christian tradition where the patronymic “Son of God” would be expected nor is it inspired by Jewish tradition where Jesus’ origins tend to be defamed. It rather sounds like an echo of a substitute for the – obviously unwanted – Christian name, that might point to a Jewish-Christian origin46. The name may, however, equally be due to an intended re-formulation of Christ’s title as the son of God, a reformulation that operates without completely deleting the trace of the early designation. This again should be understood as a hermeneutical strategy, since the 45 The designation appears only once in the New Testament, Mark 6:3, whereas Jesus is otherwise related to Joseph, Luke, 3:23, 4:22, John 1:45, 6:42. The two genealogies of Jesus end with Joseph (Matthew 1:1–17) or start with him (Luke 3:23–38), see Bauschke, Jesus im Koran, 22. 46 See for the hypothesis of a Jewish-Christian background of the Qurʾānic community that still awaits an extensive study Adolph Schlatter, “Die Entwicklung des jüdischen Christentums zum Islam”, in: Evangelisches Missionsmagazin NF 62 (1918) 251–264, Adolph Harnack, Lehrbuch der Dogmengeschichte. 4. Aufl. Tübingen 1909–1910, and Francois de Blois, “Naṣrānī (Nazoraios) and ḥanīf (ethnikos): Studies on the Religious Vocabulary of Christianity and of Islam“”, in: BSOAS, 65, 1 (2002) 1–30.

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preservation of the formal shape of the familiar “Jesus, son of God” in the new, theologically neutral “Jesus, son of Mary”, clearly marks the change as an intended “correction”. With this “official” introduction of the prophetical figure of Jesus the discourse leaves the mythical orbit and enters social reality:

ƊǹȁĄǂăƬąǸăȇĉǾȈĉǧȅĉǀdzËƊơ ËƎǪăƸƒdzơƊDZąȂƊǫăǶăȇąǂăǷĄǺąƥơȄăLjȈĉǟăǮĉdzƊƿ

Such was Jesus, son of Mary; it is the truth which they dispute.

ƌǹȂƌǰăȈƊǧąǺƌǯĄǾdzƊƌDZȂƌǬăȇƢăǸËăǻƎƜƊǧ ơĆǂąǷƊƗȄăǔƊǫơƊƿƎƛĄǾǻăƢăƸąƦĄLJ ĊƾƊdzăȁąǺĉǷƊǀĉƼËăƬăȇƒǹƊƗĉǾËƊǴĉdzƊǹƢƊǯƢăǷ

It is not fitting for God to have a son. Glory be to Him; when He decrees a thing, He simply says: “Be”, and it comes to be.

ćǶȈĉǬăƬąLjĄǷƈǕơăǂĉǏơƊǀăǿĄǽȁĄƾĄƦąǟƢƊǧ ąǶƌǰËĄƥăǁăȁȆËƎƥăǁăǾËƊǴdzơËƊǹƎƛăȁ

God is truly your Lord and my Lord; so worship Him. That is a straight path.

ƉǶȈĉǜăǟƉǵąȂăȇĉƾăȀąnjăǷąǺĉǷ ơȁĄǂǨƊ ǯƊ ăǺȇĉǀËƊǴĉdzƈDząȇăȂƊǧ ąǶƎȀƎǼąȈăƥąǺĉǷĄƣơăDŽąƷȋơăǦƊǴăƬąƻƢƊǧ

Yet, the sects among them differed. Woe to those who have disbelieved from the spectacle of a great Day!

ś Ɖ ƦƎĄǷƉDZȐăǓȆĉǧăǵąȂăȈƒdzơƊǹȂĄǸĉdzƢËƊǜdzơƎǺĉǰƊdz ƢăǼăǻȂĄƫƘƒ ȇăăǵąȂăȇąǂĉǐąƥƊƗăȁąǶƎȀƎƥąǞĉǸąLJƊƗ

How well they will hear and how well they will see, on the Day they will come unto Us; but the wrongdoers today are in manifest error.

ƊǹȂĄǼĉǷąƚĄȇȏąǶĄǿăȁ ĊƨƊǴƒǨƊǣȆĉǧąǶĄǿăȁĄǂąǷȋơăȆǔ ĉ ƌǫƒƿƎƛ ĉƧăǂąLjăƸƒdzơăǵąȂăȇąǶĄǿąǁĉǀąǻƊƗăȁ

And warn them of the Day of sorrow, when the issue is decided, while they are heedless and do not believe.

ƊǹȂĄǠăƳąǂĄȇƢăǼąȈƊdzƎƛăȁ ƢăȀąȈƊǴăǟąǺăǷăȁăǑąǁȋơƌƭǂƎ ǻăĄǺąƸǻăƢËăǻƎƛ

It is We Who shall inherit the earth and whoever is on it, and to Us they shall be returned. Q 19:34–40

Jesus, son of Mary/ʿĪsā b. Maryam does no longer serve as a sign of divine mercy (Q 19:21) but now figures as the object of a dispute (Q 19:34). He has obviously been venerated by some people as offspring of God (walad, or, as read in Q 19:80 by Ibn Masʿūd, wild 47) – an allegation that is countered in the Qurʾānic text with the statement of God’s power to create immediately through his mere word48 and thus being in no need of a child (Q 19:35). Jesus/ʿĪsā himself is quoted to view his 47 See Jeffery, Materials, 59. 48 God’s creation of Jesus solo verbo will be underscored further in later texts about Jesus, where he will be equalled to Adam who was created through the imperative kun before.



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relationship to God as that of a servant towards his lord49 (Q 19:36 – this verse though not explicitly marked as a quotation belongs to Jesus in view of its unambiguous ascription to him elsewhere, see below, 3). The figure of Jesus/ʿĪsā is not only debated in the present, but has caused dissent in the past as well, since after his death a schism occurred (Q 19:37). The section (Q 19:34–40) following the story of Jesus/ʿĪsā immediately, thus, at first sight, looks like a polemic against the Christian belief in Jesus as the son of God. A comparison with the parallel text in sūra 43 (see below, 3), however, will reveal a different objective. 2.2.3. Stories of prophets Q 19:41–65 The section Q 19:34–40 comes as an interruption that separates the stories of Zechariah and Mary from a longer narrative sequence of nabīstories. It is, however, the narrative section that continues the two stories starting with a further account about a parent-child relationship, the dispute between Abraham/Ibrāhīm and his father (Q 19:41–50). Abraham is portrayed as a dutiful son who tries to avert his father from idolatry and finally separates from him in a gentle way (Q 19:47: qāla salāmun ʿalayka). He – similarly to the case of Mary who leaves her family – renounces of his genealogical bonds to enter a transcendent relationship. The sequence continues with a reminiscence of the story of Moses’/Mūsā’s intimate relationship to God (Q 19:51–53) and even shorter reminiscences of Ishmael/Ismāʿīl (Q 19:54 f., Ishmael not being presented as son of Abraham!) and Idrīs (Q 19:56 f.). These prophets are lamented not to have been able to prevent the moral decline that was to occur after them. Yet, there are believers who have maintained faith in the prophets’ message and who will be rewarded with paradise (Q 19:60–63). The narrative section is complemented by a somewhat unconnected verse quoting the direct speech of the angels (Q 19:64) who affirm their being totally dependent on God’s orders – an implicit rejection of their status as daughters of God that has been disputed extensively in several earlier texts50. The final verse of the section is an 49 Q 19:36 cannot be the speech of Muḥammad which is never in the I-form except if introduced by qul. 50 The angels are already in the focus of the early Sūrat an-Naǧm, Q 53, that once contained the “satanic verses”, their status is again object of dispute in Q 43:19, a text closely related to Sūrat Maryam, see below, 3. They reappear as well a third raḥmān sūra, Q 21, again characterised as absolutely dependent on God,

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exhortation of the prophet to patiently continue serving God. For the impact of the prophet stories on the later text Q 43, see below, 4.1. 2.2.4. The polemic section Q 19:66–98 It turns out that the section Q 19:34–40 with its polemic against the father-son relation of God and Jesus not only interrupts the narrative sequence about individual prophets but, on closer look, does not fit in with the ensuing polemic final part of Sūrat Maryam either. This text, Q 19:66–98, argues against the unbelief concerning the Last Judgement (Q 19:66–77), it laments the lack of reverence paid to the qurʾān when recited (Q 19:73 f.). It goes on to address the elusiveness of wealth and offspring (walad/wild) as a token of safety from punishment (Q 19:75–80). But the main offence put forward is the adoption of other deities (āliha), Q 19:81 f., which will be severely punished (Q 19:83–87). It is in this context that the unbelievers are quoted to have claimed ittaḫaḏa r-raḥmānu waladan. With section Q 19:34–40 in mind, this statement might sound as if the Christian dogma of a father-son relation between God and Jesus was discussed, but in view of the use of walad/wild for offspring in general (Q 19:77), it rather appears to target the pagan pantheon made up by a supreme God and his offspring and even allude to divine daughters, such as the angels or other female deities claimed by the unbelievers.

3. Synopsis of Q 19:34–40, Q 43:57–65, Q 21:16–29 A clearer insight into the targets of the seemingly anti-Christian section Q 19:34–40 can be gained from its comparison with Sūrat az-zuḫruf, Q 43, equally belonging to the “raḥmān ensemble”. Sūrat az-zuḫruf reflects a level of debate which already presupposes the knowledge of stories such as the birth of Jesus and his destination for prophethood. It is a sūra that clearly presents itself as later than Sūrat Maryam. Its very beginning attests a high degree of self-reflectivity such as is not yet realized in Sūrat Maryam: The claim to present an Arabic recitation, qurʾān ʿarabī, is nothing less than the claim to ultimate clarity warQ 21:26–29, see below, 3. For the wider religious context of the angels and their disputed competences see Peter Schäfer, Rivalität zwischen Engeln und Menschen. Untersuchungen zur rabbinischen Engelvorstellung. Berlin 1975.



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ranted by native speaker competence, perhaps in response to earlier allegations of being dependent on non-Arabic speaking informers. At the same time the Qurʾān’s “original”, umm al-kitāb, is stated to be preserved with God. The claim to both divinely warranted authenticity and human accessibility marks the climax of the process of Qurʾānic self-authorisation. It is also noteworthy that the final verse of Sūrat az-zuḫruf verbally quotes Abraham’s/Ibrāhīm’s reaction to his father’s worshipping idols from the Abraham/Ibrāhīm story told in Sūrat Maryam: both the prophets Muḥammad (Q 43:89) and Ibrāhīm (Q 19:47) dissociate themselves from idol worship saying farewell, salāmun, to the pagans. Perhaps the most striking progress that has occurred in Sūrat az-zuḫruf as compared to Sūrat Maryam is the new attitude that the prophet assumes towards the allegation of God’s having offspring. Whereas the speaker shows himself shocked in Sūrat Maryam,

ơĆƾƊdzăȁĄǺǸă ąƷËǂă dzơƊǀăƼËăƫơơȂƌdzƢƊǫăȁ

And they say: “The Compassionate has taken to Himself a son.”

ơËĆƽƎƛƢƆƠąȈăNjąǶĄƬƒƠƎƳąƾƊǬƊdz

You have, indeed, made a shocking assertion,

ơËĆƾăǿƌDZƢăƦƎƴƒdzơËǂĄ ĉƼăƫăȁ ĄǑąǁȋơËĄǪănjąǼăƫăȁ ĄǾąǼǷĉ Ɗǹǂą ËƊǘƊǨăƬăȇĄƩơăȁƢăǸËLj ă dzơĄƽƢƊǰăƫ

From which the heavens are almost rent asunder, the earth is split and the mountains fall to pieces.

ơĆƾƊdzăȁƎǺăǸąƷËăǂǴĉdzơąȂăǟăƽƒǹƊƗ

For they ascribe a son to the Compassionate. Q 19:88–91

he figures as a superior opponent in Sūrat az-zuḫruf:

ăǺȇĉƾƎƥƢăǠƒdzơƌDZËȁă ƊƗƢăǻƊƘƊǧ ćƾƊdzăȁƎǺăǸąƷËăǂǴĉdzƊǹƢƊǯƒǹƎƛƒDzƌǫ

Say: “If the All-Compassionate has a child, I would be the first worshipper.” Q 43:81

The central topic of Sūrat az-zuḫruf is the polemic against the acceptance of female deities: Q 43:15–22. The attitude of the unbelievers to adduce their fathers’ beliefs as a justification provokes the recollection of the story of Abraham/Ibrāhīm who rejects his father, a remarkable employment of the Abraham topos that diametrically inverts the Jewish traditional attitude of claiming Abraham as a warrant of the rank of his children as elects. It is obvious that the polemic is directed against the heathen Meccans, who also loom behind the reproachful state-

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ment about the humble social status of the prophet (Q 43:31). Sūrat az-zuḫruf, again, presents the story of Moses/Mūsā, this time as an example of unbelievers ridiculing prophets by claiming to be higher in rank than they are, Q 43:45–56. As a further testimony of the unbelievers’ wilful misunderstanding of the relationship between God and alleged other deities, the case of Jesus, ʿĪsā b. Maryam, is adduced. It is noteworthy that the discussion about Jesus is not with Christians – only in Medinan times will the issue of the dogmatic Ibnu llāh be raised – but with heathens who are obviously knowledgeable about the belief in Jesus as son of God, since they themselves raise the point claiming that their own deities – imagined as daughters of God – are “better” than he. The Qurʾānic speaker rejects both assumptions: the son-father relation of Jesus to God and the existence of a pantheon:

ǹƊ ȁËĄƾǐ ĉ ȇăĄǾąǼǷĉ ăǮĄǷąȂǫƊơƊƿƎƛ ȐƊưăǷăǶăȇąǂăǷĄǺąƥơăƣǂƎ ĄǓƢËăǸƊdzăȁ

And when the son of Mary was held up as an example, behold, your people turned away from him.

ƊǹȂĄǸĉǐăƻćǵąȂƊǫąǶĄǿƒDzăƥ ȏăƾăƳȏƎƛăǮƊdzĄǽȂĄƥăǂăǓƢăǷ Ȃă ĄǿąǵƊƗćǂąȈăƻƢăǼĄƬăȀĉdzƕƊƗơȂƌdzƢƊǫăȁ

They said: “Are our deities better or he?” They only cited it to you disputatiously. Indeed, they are a contentious people.

ƊDzȈĉƟơăǂąLJƎƛȆƎǼƦădzĉȐƊưǷă ĄǽƢăǼƒǴăǠăƳăȁ ĉǾąȈƊǴăǟ ƢăǼąǸăǠąǻƊƗćƾąƦăǟȏƎƛăȂĄǿƒǹƎƛ

He was merely a servant whom We favoured and set up as an example to the Children of Israel. Q 43:57–59

Finally word is given to Jesus/ʿĪsā himself who had come to do away with dissent and call people to worship God as his servants, but who eventually caused the “sects” (al-aḥzāb) to split:

ƊǹȂƌǨĉǴăƬąƼăƫȅĉǀdzËƊơăǒąǠăƥąǶƌǰƊdzăǺƎȈËƥăȋăȁ ĉƨǸă ƒǰĉƸƒdzƢƎƥąǶƌǰĄƬƒƠƳƎ ąƾƊǫƊDZƢƊǫ ĉƩƢăǼËƎȈăƦƒdzƢƎƥȄăLjȈĉǟÈƔƢăƳƢËăǸƊdzăȁ ĉǹȂĄǠȈĉǗƊƗăȁăǾËƊǴdzơơȂƌǬËăƫƢƊǧ ĉǾȈĉǧ

When Jesus brought the clear proofs, he said: “I have come to you with the Wisdom and to make clear to you part of that whereon you are differing. So fear God and obey me.

Ƕć ȈĉǬăƬąLjǷĄ ƈǕơăǂĉǏơƊǀăǿĄǽȁĄƾĄƦąǟƢƊǧ ąǶƌǰËĄƥăǁăȁȆËƎƥăǁăȂĄǿăǾËƊǴdzơËƊǹƎƛ

God is, indeed, my Lord and your Lord; so worship Him. This is a Straight Path.

ƉǶȈĉdzƊƗƉǵąȂăȇƎƣơƊǀăǟąǺĉǷ ơȂĄǸǴƊǛƊ ăǺȇĉǀËƊǴĉdzƈDząȇăȂƊǧ ąǶƎȀƎǼąȈăƥąǺĉǷĄƣơăDŽąƷȋơăǦƊǴăƬąƻƢƊǧ

Then the factions among them fell apart. Woe unto the wrongdoers, from the punishment of a painful Day. Q 43:63–65



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The final verse of this polemic affirming the split of the community into sects is roughly identical with Q 19:37 from the polemic addition Q 19:34–40. The verse preceding it, Q 43:64, is precisely identical with Q 19:36, a verse that in Sūrat Maryam is not marked as a quotation from Jesus’ speech and only through its parallel in Q 43:64 becomes identifiable as a saying of Jesus. Furthermore, it is the discussion in Sūrat az-zuḫruf (Q 43:57–65) that provides a situational context to the full naming of Jesus and that stresses the concept of Jesus’ servanthood as a logical response to an argument, whereas in Sūrat Maryam these issues are presented out of context. The section Q 43:57–65 thus turns out to have been the model for the similar, but stylistically isolated and in terms of composition and argument less fitting section Q 19:34–40. The section Q 19:34–40 is best explained as an addition that was deemed necessary to attach to the Jesus story once an argument about his relation to God has crystallised around him. In the light of a synopsis of both Sūrat Maryam and Sūrat az-zuḫruf it turns out that Q 19:34–40 does not entail a debate with Christians but rather with heathen Meccans who either had adopted Jesus into their pantheon or were at least knowledgeable about his rank in Christianity though themselves little inclined to acknowledge him as superior to their deities. Denying Jesus the rank as offspring of God, at this stage of the development, is not part of a Christological debate with Christians, but an argument to counter the allegations put forward by heathens; it is meant primarily as a rejection of the pagan concept of a pantheon made up by a divine family. This conclusion is enhanced by an observation drawn from another raḥmān sūra, Sūrat al-anbiyāʾ (Q 21), a text focusing polemics against paganism. In Q 21:90–91 the narrative sequence of Zechariah and Mary/Jesus is epitomised, followed by an appeal to preserve unity, obviously assumed as uttered by Jesus (Q 21:92) which however failed (Q 21:93), a section closely connected to Q 19:34–40 and Q 43:57–65. There is furthermore an extensive version of the story of Ibrāhīm’s secession from his pagan home and home country (Q 21:51–73), embedded like in Sūrat Maryam in a sequence of prophet narratives. The core part of the sūra is, however, dedicated to polemics against idolatry. In the beginning the messenger has to cope with the opponents’ challenge who expect a prophet to display super-human qualities (to be immortal, and thus not in need to eat food), his response to them is resumed in Q 21:34. This may entail an implicit refutation of the divine character ascribed by monophysitic Christians to Jesus, but

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if it does, the polemic is only implicit. Explicit polemic is, however, pronounced against the assumption of deities, be it “from the earth” (Q 21:19–24: mina l-arḍi), be it from heaven (Q 21:26–29), i. e. of angels with divine power. The two accusations are bridged by a reminder that all the messengers called to the exclusive service of one God (Q 21:25). The second passage is misunderstood by some scholars as continuing the speech about the messengers, and in that case interpreted as part of a Christological debate, though the description of the angels is unambiguous. This second argument is introduced by a lament that they (the pagans) claim: ittaḫaḏa r-raḥmānu waladan/wildan, a phrase known from Sūrat Maryam and Sūrat az-zuḫruf that should be translated “the Compassionate begot offspring” rather than “begot a son”51. Again, what is intended is the refutation of the pagans’ identification of their goddesses with angels or members of a divine family. Contrary to the assumption of Bauschke52, there is no Christological argument involved here. Sūra 21 is still part of the discourse going on between the community and their pagan opponents about God’s uniqueness versus a pagan pantheon, and about the disputed nature of the messengers, a discourse that implied associations with Jesus and his particular rank. It is, however, noteworthy that Jesus is hardly ever explicitly introduced – an observation that may point to the fact that he is part of the subtext of the discussions rather than outside their horizon. Sūrat Maryam as such – in its shape before the addition was introduced – did not show any interest in the nature of Jesus at all. It did not really focus Jesus either, whose birth is less indicative of his miraculous nature than of that of his mother. It is true that the newborn child works miracles, but bearing no name of his own, he rather figures as an “assistant figure” to his mother and as a kind of “double” of the child whose birth was reported before and whose rank he does not substantially eclipse. The child of Mary, obviously, has only a secondary role in the story. It is only with Sūrat az-zuḫruf 53 that ʿĪsā b. Maryam enters 51 The argument is repeated in Sūrat al-kaḥf (Q 18:4, walad), a related text since it discusses a Christian legend, without however mentioning the Christians or Christianity explicitly. The topic is presented as an issue of debate among Meccans (Q 18:22 f.). 52 Bauschke, Jesus im Koran, 119, adds in Q 21:26: “They, the Christians, claim […].” Paret, Der Koran. Kommentar und Konkordanz, Stuttgart 1980, 341, does not decide. 53 He is mentioned in further Meccan sūras only three times, twice in the context of further messengers, Q 42:13, Ibrāhīm, Mūsā, ʿĪsā, Q 6:85, Zakariyāʾ, ʿĪsā, Ilyās. In Q 23:50 Jesus and his mother (ʿĪsā b. Maryam wa-ummuhu) are



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the stage: as a disputed figure between the pagan unbelievers  – who introduce him as offspring of God, a rival to their female deities – and the new community who does not conceive of a divine family at all. Once become a topic of dispute, he in a new guise belatedly re-enters Sūrat Maryam in order to discard any possibility that the son of Mary might be accepted by the community as offspring of God.

4. Conclusions 4.1. The problem of the Qurʾānic additions: revisions within the communication process, why? It appears as if the later additions – of both the polemic section introduced still in Meccan times, and the Medinan genealogy of the prophets – that in terms of literary form disturb the stylistic unity of the sūra – were deemed necessary to keep the information of the sūra that should have been recited at multiple occasions, “up to date”. Q 19 in its original shape introduced Jesus as a child miraculously born to a virgin and sacred figure. His story and Mary’s are initially edificatory stories attesting to God’s omnipotence and mercy. Sūrat Maryam is furthermore a text that is perhaps more than any other in the Qurʾān imprinted with female associations54. The divine name raḥmān derived from the root that primarily denotes the female womb, raḥm, appears no less than 16 times in the sūra, the by far highest quota in any Qurʾānic text; the word raḥma, another derivative of it, that was not yet used in Qurʾānic texts before, appears twice, Q 19:2/21, a third time it is paraphrased by ḥanān. The two main stories are about child-bearing and birth-giving. Another parent-child relation, though implying a father instead of a mother, continues them. The sūra in its second part (Q 19:66–98) reverses the positive image of the parent-child relation by underscoring the blasphemous character of a parent-child imagination when applied to God. The stories about the diverse prophets (Q 19:41–65) seem to provide an intermediate link between the two main parts since they determine the highest degree of closeness to God that recalled being assigned a divine hospitality. They are meant as a sign, āya. All the instances are late Meccan. 54 A doctoral thesis on the story of Mary focusing gender aspects is being prepared by Husn Abboud, University of Toronto.

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can be attained by a human being who may be God’s prophet, not, however, his child. In view of this ensemble, it must come as a surprise that at the end of the Mary/Jesus story, Jesus – through a textual addition – is introduced as the bearer of a dogmatic truth. He is not left with the rank of a servant of God blessed with the two “essential commandments” of the love of God (epitomised in ṣalāt) and the love of man (epitomised in zakāt), with which the original sūra endows him. But, in the later reading of the sūra, he turns into a clearly determined character associated with a particular motto-like saying (Q 19:36, taken from Q 43:64, remains his motto also in Medinan texts: Q 3:51, Q 5:117): “God is my Lord and your Lord. Serve him. That is a right way”. In a slightly different wording used in Q 21:92, Q 23:52, it re-echoes the first commandment of the Decalogue: “I am your Lord. Serve me.” (cf. Exodus 20:2–23)55 This motto which encapsulates the confession of God’s unity unambiguously excludes a father-son relation between God and Jesus. A second association attracted by the figure of Jesus in the later reading of Sūrat Maryam and other Meccan communications is his ambivalent role in religious history: It is Jesus’ appearance that triggered the cleft that occurred between “the sects”, al-aḥzāb, presumably the Jews and the Jewish-Christians (see below) who had before him been one community. The lament about that splitting of the community is raised first in Q 43:65, hence it appears again in the interpolation in Q 19:37. In later sūras, it is Jesus himself who explicitly calls for unity:

ĉǹȁĄƾĄƦąǟƢƊǧąǶƌǰËĄƥăǁƢăǻƊƗăȁ ƆƧăƾĉƷơăȁƆƨËăǷƌƗąǶƌǰĄƬǷËă ƌƗĉǽĉǀăǿËƊǹƎƛ

Verily, this brotherhood of yours is a single brotherhood, and I am your Lord and Cherisher: therefore serve Me (and no other). Q 21:92

Equally in Q 23:50–53, the call for unity seems to belong to Jesus, since the preceding verse recalls Jesus’ birth:

ƉśĉǠăǷăȁƉǁơăǂƊǫĉƩơƊƿĊƧȂă ąƥăǁȄƊdzƎƛƢăǸĄǿƢăǼąȇăȁƕăȁ ƆƨăȇƕĄǾǷËă ƌƗȁă ăǶăȇąǂăǷăǺąƥơƢăǼƒǴăǠăƳăȁ

And We made the son of Mary and his mother as a Sign: We gave them both shelters on high ground, affording rest and security and furnished with springs.

ćǶȈĉǴăǟƊǹȂƌǴăǸąǠăƫƢăǸƎƥȆËƎǻƎƛƢĆƸĉdzƢăǏơȂƌǴăǸąǟơăȁĉƩƢăƦËƎȈËƊǘdzơăǺĉǷơȂƌǴƌǯƌDzLJĄ ËĄǂdzơƢăȀËĄȇƊƗƢăȇ

O ye messengers! Enjoy (all) things good and pure, and work righteousness: for I am well-acquainted with (all) that ye do. 55 Heribert Busse, Die theologischen Beziehungen, 133.



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ĉǹȂƌǬËăƫƢƊǧąǶƌǰËĄƥăǁƢăǻƊƗăȁ ƆƧăƾĉƷơăȁƆƨËăǷƌƗ ąǶƌǰĄƬǷËă ƌƗĉǽĉǀăǿËƊǹƎƛăȁ

And verily this Brotherhood of yours is a single Brotherhood, and I am your Lord and Cherisher: therefore fear Me (and no other).

ƊǹȂĄƷƎǂƊǧąǶƎȀąȇăƾƊdzƢăǸƎƥƉƣąDŽĉƷËDzƌ ƌǯ ơĆǂĄƥĄǃąǶĄȀăǼąȈăƥąǶĄǿǂă ąǷƊƗơȂĄǠËƊǘƊǬăƬƊǧ But people have cut off their affair (of unity), between them, into sects: each party rejoices in that which is with itself. Q 23:50–53

Cite further the late Meccan verse Q 42:13:

ăǶȈĉǿơăǂąƥƎƛĉǾƎƥƢăǼąȈËăǏăȁƢăǷăȁ ăǮąȈƊdzƎƛƢăǼąȈăƷąȁƊƗȅĉǀƊdzËơăȁƢĆƷȂĄǻĉǾƎƥ ȄËăǏăȁƢăǷ ƎǺȇËĉƾdzơăǺĉǷąǶƌǰƊdzăǝăǂăNj  >«@ĉǾȈĉǧơȂƌǫËăǂƊǨăƬăƫȏăȁăǺȇËĉƾdzơơȂĄǸȈĉǫƊƗƒǹƊƗ ȄăLjȈĉǟăȁȄăLJȂĄǷȁă

  The same religion has He established for you as that which He enjoined on Noah – the one which We have sent by inspiration to thee – and that which We enjoined on Abraham, Moses, and Jesus: Namely, that ye should remain steadfast in religion, and make no divisions therein […] Q 42:13

The insistence of preserving unity is certainly a reminiscence of John 17, particularly 17:11. This image of the development of the religious communities marks the failure of Jesus’ mission to bring about unity. It is thus from a certain stage of the Qurʾānic development onward an atmosphere of dispute that surrounds the figure of Jesus, long before the Medinan texts were to raise the polemics against the concept of trinity and related controversial issues. Indeed, Jesus, who has become a figure of dispute between the community and the pagans, at the same time represents the sole prophetic figure who unintended caused the most momentous dispute in religious history, a dispute that was to subsist for epochs if not until the Last Day. 4.2. The addressees Where are the listeners, the emerging community, to be located? In view of Jesus’ first very undramatic self-introduction as a prophet and a servant of God in the still non-extended composition of Sūrat Maryam (Q 19:30), it appears as if the Christological problem had long been resolved within the community, indeed that there was a consensus on the image of Jesus as a non-divine being, when the dispute with the pagans arose who upheld the belief that God had offspring (Q 43, hence Q 19). Only from then on, a more expressive statement about Jesus’ rank as a servant

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of God was deemed a necessary caveat against the idea of his deification that should be integrated into narrations about him. It may at this point be worth to attempt some first conclusions about the listeners of the Prophet Muḥammad at the time the texts were communicated. His listeners certainly in their majority were not pagans – who are rather to be imagined among his opponents – but adherents to Christian beliefs if though substantially diverging from orthodoxy in the sense it was canonised at the councils of Nicaea (325), Constantinople (381), and Chalcedon (451) when Jesus’ exclusive divine sonship was made a binding dogma. The explicit Qurʾānic statements from the Meccan period: Jesus’ miraculous birth from a virgin, his equally unique gift of working miracles (though in Mecca these miracles are confined to Jesus’ speaking when still in the cradle), his rank of a prophet and his expected return at the end of time (Q 43:60), certainly do point to a background of the listeners close to Christianity; but the low profile picture drawn of Jesus, who nowhere is presented as a divine figure but rather appears as a servant of God and as a messenger, strongly suggests a syncretistic community, perhaps imprinted by Jewish-Christian teachings. The Qurʾānic insistence on the great schism, on the emergence of the aḥzāb after the death of Jesus is best explained as pointing to the separation of Jewish Christianity from Judaism, since neither Jews nor Christians can be expected to have looked back on their respective histories with regret as to the developments that occurred after Jesus, though an understanding of al-aḥzāb in the sense of later Christian sects can, of course, not be excluded. The assumption of a Jewish-Christian background of the Qurʾān has been put forward already by Adolf von Harnack56 and D. A. Schlatter57, it was resumed by Hans Joachim Schoeps58. Günter Lüling in his Der Ur-Qurʾān59, tried to introduce it into Qurʾānic studies, basing his argument, however, on a far-reaching and widely speculative re56 Adolf von Harnack, Lehrbuch der Dogmengeschichte. 3 Bde., Berlin 1909, reprint Tübingen 1990. 57 D. A. Schlatter, “Die Entwicklung des jüdischen Christentums zum Islam”, in: Evangelisches Missionsmagazin 62.8 (1918) 251–267. 58 Hans Joachim Schoeps, Theologie und Geschichte des Judenchristentums, Tübingen 1949. Idem, Urgemeinde-Judenchristentum-Gnosis. Tübingen 1956. Idem, Das Judenchristentum. Untersuchungen über Gruppenbildungen und Parteikämpfe in der frühen Christenheit. Bern/München 1964. 59 Günter Lüling, Über den Ur-Qurʾān. Ansätze zur Rekonstruktion vorislamischer christlicher Strophenlieder im Qurʾān. Erlangen 1974.



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working of the Qurʾānic text. Recently François de Blois60 has tried to argue again for a Jewish-Christian background of the Qurʾān. It should be stressed, however, that the present paper advocates a different view: what is reflected in the Meccan texts is not the “heathen prophet” borrowing from Jewish Christians but rather an interaction between the Prophet and his community that may have been imprinted by Jewish-Christian beliefs and who had long reached at a consensus about a number of theological issues related to Jesus and Christianity, thus not in need of further negotiation. This scenario would explain why the Meccan communications that entail, or at least presuppose familiarity with, substantial Christian beliefs do not engage in polemics with Christians directly, but remain confined to more “local” exchanges with pagans who obviously located Jesus in a divine pantheon similar to their own. Many Qurʾānic utterings reflect Christian tradition without being marked as such, thus suggesting a high degree of familiarity with Jesus’ preaching in the Meccan community. It is only in Medina, when more dogmatically minded Christians entered the horizon of the community, that the debate was extended to include discussions about Christian positions and a more polemic attitude against particular Christian dogmas emerged. This development reminds strongly of the analogous development of the Qurʾānic attitudes towards Jewish tradition held during the Meccan communication on the one hand and towards later Jewish opponents as such in Medina on the other61. Adopting this perspective, one will look at the striking scarcity of speech about Jesus in the Qurʾān from a new angle: The reason of the “under-representation” of Jesus in the Qurʾān may be Jesus’ very familiarity with the listeners, his presence in their consciousness rather than his absence from their thinking. The later readings of Sūrat Maryam and the related later Meccan texts (Q 43, Q 21, Q 23, Q 42) do not contradict this impression. They presuppose the same circles of listeners who may in view of the schism occurring in Meccan society due to the Prophet’s preaching, have become stronger aware of the catastrophe that triggered the emergence of their particular denomination: the schism between Jews and Jewish Christians – a schism that came about through the very message of a prophet calling for unity: Jesus, himself, 60 François de Blois, “Naṣrānī (Nazoraios) and ḥanīf (ethnikos): Studies on the Religious Vocabulary of Christianity and of Islam”, in: BSOAS, 65, 1 (2002) 1–30. 61 Angelika Neuwirth, “Oral Scriptures in Context”, in: Stefan Wild (ed.): SelfReferentiality in the Qurʾān. (forthcoming)

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preacher of unity, had become the landmark of a substantial cleft in religious history, a trigger of dispute.

Postscript Stephen J. Shoemaker62 has lately tried to argue that the Qurʾānic narrative of Jesus’ birth should have been inspired by the liturgical tradition attached to a particular architectural monument, the – newly rediscovered – Kathisma Church situated on the way from Jerusalem to Bethlehem. This church is unique in its combining the two apocryphal traditions of the nativity as located not in Bethlehem but in a deserted spot outside Bethlehem, and the episode of Mary’s being nourished by the palm tree which in Christian apocryphal tradition is associated with the “Flight to Egypt”. Both stories have merged to form one single narrative in the Qurʾānic account Q 19:22–27. – The Church of the Kathisma which represents the only known Christian testimony for a merger of both stories that otherwise in Christian tradition figure separately is not as insignificant a monument as it might appear. According to Shoemaker, it served as the Dome of the Rock’s architectural model63. The Kathisma Church also is reported to have offered to pre-Islamic Christian pilgrims both the shade of a palm tree and the access to a rivulet with fresh water. It further displays, like the Dome of the Rock itself, a mosaic representation of the palm tree that, however, does not go back to the Christian, but only to the Muslim occupation of the site. On the basis of these observations, the church indeed seems to represent a materialized merger of the two traditions reflected also in the Qurʾān, that prominently feature a palm tree nourishing the Virgin in the situation of her delivery, with a stream of water nearby. The fact that this church with its double liturgical purpose – to recall both Mary’s resting on the flight to Egypt and her delivery – was turned into a mosque by the early Muslims, serves Shoemaker as evidence for an assumption that the Qurʾān should have been composed “not by Muhammad but only after the conquests”. 62 Stephen J. Shoemaker, “Christmas in the Qurʾān: The Qurʾānic account of Jesus’ Nativity and Palestinian Local Tradition”, in: JSAI 23 (2003) 11–39. 63 One wonders, of course, if this should imply that Justinian’s martyrdom, hitherto considered the model, did not have role in the Bauprogramm of the Dome? The author remains silent about earlier scholarship.



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Shoemaker adduces relevant texts about the story of Mary and the palm tree, of which he himself, however, is aware that it “circulated in the Christian Near East perhaps as early as the third century, and beyond any doubt by the early fifth century” (p. 19). Does this concession itself not put the assumption in doubt that one particular memorial site acknowledged by the early Muslims as significant (without there being written testimonies about their perusal of the traditions of the church) should be responsible for the Qurʾānic narrative of Mary’s giving birth under a palm tree and being nourished by dates and fresh water? If traditions attached to particular Palestinian monuments are to be immediately regarded as instrumental in the shaping of Qurʾānic narrative, then the Kathisma Church should hardly be the only case in point, but there should be existing analogous Qurʾānic “borrowings” from other monuments such as studied by Klaus Bieberstein, Amiqam Elad, and Andreas Kaplony. Why does the Qurʾān not reflect anything about the traditions attached to the Anastasis Church or the Eleona, sites that equally pertain to relevant Qurʾānic figures? Should the transmission of Christian traditions not be imagined much more complex than what Shoemaker suggests: a mechanical introduction of ready-made Christian narratives by the conquering Muslims into the new Scripture assumed to be in the making? There is the more cautious discussion of the Qurʾānic reading of the earlier traditions by Sulaiman Mourad (see above) that Shoemaker seems to ignore. Shoemaker himself admits to be unfamiliar with Qurʾānic scholarship as a whole. On the basis of a close reading of the Qurʾānic text, the way earlier Jewish and Christian traditions are reread in the Qurʾān rather points to a diffusion of diverse, exegetically informed versions of these in the late antique Near East. The story of Mary is no exception. Reading the Qurʾānic chapter closely one finds a significant reference to the story of Hagar that – contrary to the traditions adduced by the author – points to an Old Testament layer in the Qurʾānic reading of the story: the stream of water is by no means already part of the “deserted landscape” but is miraculously provided for to save Mary and the child. In short, it appears that Shoemaker is not interested in the Qurʾānic narrative as much as he is in the “revisionist potential” of his own speculative combinations. His entire argument, though furnished with valuable and widely new or rediscovered archaeological and liturgy-historical evidence, remains stuck in his petitio principii: “since the revisionists’ hypothesis of the extra-hijazi genesis of the Qurʾān is close to historical truth, the mere similarity of a qurʾānic narrative and the founding legend

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of one single Christian monument, can serve as an argument confirming the post-conquest-genesis of the Qurʾān” (p. 12): “The weight of this new evidence thus adds considerable force to many of the positions advanced by various ‘revisionist’ scholars of early Islam. In the first place, the probability that the Qurʾānic account of the nativity developed under the influence of specific local Palestinian Christian traditions confirms the recognitions (sic!) of Wansbrough and others that the content of the Qurʾānic text almost certainly continued to develop well after the death of Muhammad. Since Muhammad did not live to lead the conquest of Palestine the traditions of the Kathisma church could only have impacted the Qurʾānic text well after Muhammad had already died. This presents us with a very high probability that in at least this one instance the text of the Qurʾān is not Muhammad’s, but rather a later product of his followers who drew on prior Christian traditions in composing the Qurʾānic account of Jesus’ birth. I would argue that this new evidence opens the door significantly to the views of Wansbrough and his followers, many of whom have identified similar evidence of the Qurʾān’s composition in the Levant after the death of Muhammad”. The author does not hesitate to mention the “text of Qurʾān” and its “composition” though that text as a whole remains totally excluded from the horizons of his perception of the Qurʾān. Shoemaker obviously regards the consideration of the text itself as a significant source in the discussion of the Qurʾānic genuineness as a practice reserved for those “faithful Muslims” (p. 14) who are incapable to follow the more enlightened approach that the author claims for Christians: “we assume that the Christian traditions present in the Qurʾān derive from earlier Christian sources, rather than being revealed or composed ex nihilo” (p. 12). The agency of Christian and Jewish traditions in the emergence of the Qurʾān has in Qurʾānic studies never been seriously denied – Shoemaker simply ignores the scholarship of Heinrich Speyer, Josef Horovitz, Theodor Nöldeke, and others – but the assumption that they should have mechanically shaped the composition of the Qurʾān, the early Muslims “copying” haphazard traditions and pasting them into their text, is a novelty of contemporary post-historical scholarship, or more precisely, a new mode of hiding religious polemic in decent academic guise. Shoemaker claims not to be “at all insensitive to the concerns about ‘Orientalism’ that have recently become an important focus of modern academic discourse” (p. 14) – his paper, learned as it looks on first sight, clearly attests to the contrary. – It appears an urgent desideratum to relocate the discussion of the Qurʾān’s genuineness on a more complex level of methodologies.

Ist die Gewaltanwendung von Muslimen gegen Nichtmuslime religiös bedingt? Eine Studie der klassischen ǧihād-Konzeptionen H. Motzki

1. Einleitung1 Als am 11. September 2001 die ersten Bilder über die Anschläge auf die Twin Towers und das Pentagon über die Mattscheiben flimmerten und man begann, über die Attentäter zu spekulieren, fiel der Verdacht sofort auf muslimische Fundamentalisten. Als sich später abzeichnete, dass die Täter tatsächlich Muslime gewesen waren, war man überzeugt, dass sie aus religiösen Motiven gehandelt hatten. Sind diese Reaktionen nicht merkwürdig? Wenn Katholiken oder Protestanten in Nordirland Terroranschläge verüben, kommt niemand auf die Idee, dass die Täter aus religiösen Motiven handeln. Beruht die unterschiedliche Bewertung von Attentaten auf einer kritischen Analyse der Vorgänge oder ist das Urteil westlicher Beobachter etwa durch jahrhundertealte Vorurteile über Muslime und ihre Religion beeinflusst? Diese Frage muss gestellt werden. Die Anschläge in den USA hätten auch durch Nichtmuslime verübt werden können, wie es 1995 in Oklahoma der Fall war. Auch wenn inzwischen feststeht, dass Muslime die Täter gewesen waren, konnten sie nicht politische Motive dafür gehabt haben, wie es bei den irischen Attentätern im Allgemeinen angenommen wird? Wenige Wochen nach den Attentaten des 11. September strahlte der Fernsehsender des Emirats Katar ein Video aus, in dem Usāma b. 1 Dieser Beitrag zur Festschrift für meinen langjährigen Kollegen am Hamburger Seminar für Geschichte und Kultur des Vorderen Orients ist eine erweiterte und verbesserte Version meines niederländischen Aufsatzes „God en Geweld: Legitimatie en Delegitimatie. Bronnen en geschiedenis in de islam“, erschienen in: God en geweld. Red. P. Valkenberg, Budel 2002, 39–64.

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Lādin, einer der Führer der Bewegung, die sich „Internationale Front für den ǧihād gegen Juden und Kreuzfahrer“ nennt, die Anschläge kommentiert. Er rechtfertigt sie als eine religiös verdienstliche Tat. Ist damit bewiesen, dass die Anschläge in erster Linie religiösen Motiven entspringen? Wenn wir uns Ibn Lādins Argumente genauer ansehen, fällt auf, dass sie überwiegend politischer Art sind: 1) Seit über 80 Jahren wird die islamische Welt vom Westen erniedrigt, ihre Söhne getötet, ihr Blut vergossen, ihre Heiligtümer angegriffen. 2) Im Irak sind durch den Boykott der UN Millionen Kinder umgekommen. 3) In Palästina werden die muslimischen Ortschaften durch israelische Panzer zerstört. Auch die Ziele des Kampfes, von dem die Anschläge – so Ibn Lādin – nur der Auftakt sind, sind politisch: Die Arabische Halbinsel ist von den Armeen der Ungläubigen, gemeint sind die der USA, zu säubern und die Unterdrückung der islamischen Welt muss ein Ende haben, sodass die Muslime z. B. in Palästina wieder in Frieden leben können.2 Neben den eindeutig politischen Motiven spielten bei den Attentaten sicher auch religiöse Befindlichkeiten eine Rolle. Das zeigt nicht nur die religiös verbrämte Erklärung Ibn Lādins, sondern auch ein Schriftstück, das in zurückgebliebenen Gepäckstücken der Attentäter des 11. September gefunden wurde und eine Art „geistliche Anleitung“ für das Selbstmordunternehmen enthält.3 Angesichts dieser unterschiedlichen Motive für die Anschläge stellt sich die Frage nach dem Verhältnis zwischen den politischen und religiösen Faktoren. Ist die im Westen weit verbreitete Annahme, dass solche Ausbrüche von Gewalt bei Muslimen in erster Linie religiös bedingt sind, wissenschaftlich haltbar? Ich bezweifele das und vertrete die These: Nicht die Religion bringt die Gewalt hervor, sondern die historischen Umstände, in der sich Menschen befinden. Damit will ich nicht behaupten, dass Religion keine Gewalt hervorbringen kann, sondern lediglich deutlich machen, dass wir bei Anhängern nicht-christlicher Religionen dazu neigen, Religion für Gewaltausbrüche verantwortlich zu machen und andere Faktoren 2 Siehe die inoffizielle Übersetzung von Usāma b. Lādins Erklärung, die von der Presseagentur AP am 8. Oktober 2001 herausgegeben und im Internet verbreitet wurde. Ähnliche Argumente finden sich in älteren Erklärungen Usāma b. Lā­ dins. Siehe Y. Alexander / M. S. Swetnam, Usama bin Laden’s al-Qaida: Profile of a Terrorist. Ardsley, N. Y. 2001. 3 Der arabische Text mit Übersetzung und Analysen ist zu finden in: H. G. Kippenberg / T. Seidensticker (Hg.), Terror im Dienste Gottes. Die „Geistliche Anleitung der Attentäter des 11. September 2001. Frankfurt a. M. 2004.



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zu übersehen, die viel entscheidender dabei sind. Der Erklärungswert von Religion für gewalttätiges oder gewaltloses Verhalten von Menschen ist aus empirischer Sicht beschränkt. Die obige These werde ich im Folgenden am Beispiel des ǧihād, des Kampfes gegen Nichtmuslime, belegen. In Diskussionen über Ereignisse des 11. September vertraten einige christliche Theologen die Auffassung, dass sich die Gewaltbereitschaft unter den Anhängern der verschiedenen Religionen deutlich unterscheide und dass dies durch unterschiedliche Gottesbilder zu erklären sei. Nach dieser Theorie, neigen die Anhänger von Religionen, die sich Gott als kriegerisch, rächend, eifersüchtig, richtend, strafend, herrschsüchtig usw. vorstellen, eher zu Gewaltanwendung als Gläubige, die einen friedfertigen, verzeihenden, liebenden Gott kennen. Solche Auffassungen sind abwegig. Die Geschichte der christlichen Völker widerlegt diese Theorie eigentlich zur Genüge. Dennoch will ich im Folgenden einen möglichen Zusammenhang zwischen Gottesbild und Gewalt im Islam im Auge behalten. Meine These dazu ist: Die religiösen Rechtfertigungen von Gewalt oder des Verzichts auf Gewalt in der islamischen Zivilisation können zwar mit bestimmten Ideen von Gott und Mensch in Verbindung gebracht werden, jedoch haben diese Ideen nur Einfluss auf die Art und Weise der Rechtfertigungen. Die religiösen Ideen sind nicht ursächlich für die konkrete Anwendung von Gewalt oder den Verzicht darauf. Diese Entscheidung wird in erster Linie durch die historische und politische Situation bestimmt. Usāma b. Lādins Rechtfertigung der Anschläge vom 11. September und sein Aufruf zum Kampf gegen die Ungläubigen wurde von einigen Muslimen positiv aufgenommen. Die westlichen Medien haben den Applaus von Muslimen im Nahen Osten und Europa deutlich ins Bild gebracht. In Afghanistan und Pakistan warben vor allem islamische Gelehrte und Prediger um Unterstützung und Sympathie für Usāma b. Lādin.4 Viele Muslime waren dagegen entsetzt über die Anschläge und äußerten ihre Überzeugung, dass Terrorismus nicht mit ihrer Religion vereinbar sei. „Islam bedeutet Frieden“, hörte man von mus4 Laut der irakischen Zeitschrift al-Ṯaura wurde Ibn Lādin bei einer Meinungsumfrage, die im Herbst 2001 im Irak durchgeführt wurde, von 93 % der Befragten zum „Mann des Jahres 2001“ gewählt. Quelle: www.n-tv.de/2896106.html. Angesichts der schlechten ökonomischen Situation des Irak als Folge des internationalen Boykotts, der vor allem den Amerikanern angelastet wurde, verwundert das ebenso wenig wie ähnliche Reaktionen in den besetzten palästinensischen Gebieten.

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limischen Führern und Gelehrten. Die ambivalenten Reaktionen, die die Anschläge unter den Muslimen hervorriefen, deuten an, dass es keine eindeutige, von allen oder der Mehrheit der Muslime akzeptierte Position gegenüber solchen Formen von Gewaltanwendung gibt. Das wirft die Frage auf, welche Konzeptionen religiöser Rechtfertigung oder Ablehnung von Gewalt den Muslimen zur Verfügung stehen und unter welchen Voraussetzungen sie darauf zurückgreifen. Man kann die angesprochenen Thesen und Fragen mit unterschiedlichen Methoden angehen. Hier ist die historische Analyse gewählt, die mehrere Vorteile hat. Erstens treten die verschiedenen Konzeptionen zur Rechtfertigung von Gewalt vor dem Hintergrund der historischen Situationen, in denen sie entstanden sind, deutlicher hervor. Zweitens erlaubt es die diachrone Methode, mögliche Entwicklungen der Konzeptionen festzustellen. Wenn wir die ursprüngliche Bedeutung einer Konzeption kennen, lassen sich deren inhaltliche Verschiebungen im Lauf der Zeit und evtl. auch der Missbrauch von Konzeptionen für politische Zwecke entdecken, z. B. bei der Übertragung einer unter bestimmten historischen Umständen entstandenen Konzeption auf eine andere historische Situation. Um die Untersuchung nicht ausufern zu lassen, beschränke ich mich darauf, vier Konzeptionen des ǧihād vorzustellen, die Muslime zwischen dem 7. und 12. Jahrhundert unserer Zeitrechnung entwickelt haben, um Gewaltanwendung gegen Nichtmuslime zu legitimieren.5 Bevor wir jedoch in die Vergangenheit eintauchen, um die islamischen Konzeptionen zur Rechtfertigung von Gewalt aufzuspüren, ist es sinnvoll, sich noch die Frage zu stellen, mit welchen Konzeptionen wir zu rechnen haben. Gehen wir dafür von unserer heutigen Lebenswelt aus! In welchen Fällen halten wir – oder vorsichtiger gesagt: die meisten von uns – die Anwendung von Gewalt für legitim? Drei Bedingungen sind sicher kaum kontrovers: 1. Selbstverteidigung. Wenn jemand zu Unrecht angegriffen wird, gestehen wir ihm das Recht zu, sich zu wehren und Gewalt mit Gegengewalt zu beantworten (Notwehr). 2. Verteidigung eines anderen. Wird jemand das Opfer ungerechtfertigter Gewalt, darf oder muss man dieser Person zu Hilfe kommen. Auch dabei darf notfalls Gewalt angewandt werden. 3. Strafe. Wer sich nicht an gesellschaftliche Regeln hält, kann dafür bestraft werden; bei schweren Vergehen können auch Leibesstrafen verhängt 5 Legitimationen zur Gewaltanwendung gegen Muslime verdienen eine gesonderte Untersuchung.



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werden. Die Legitimität der körperlichen Züchtigung und der Todesstrafe wurde erst in jüngster Zeit in Frage gestellt und hat noch immer zahlreiche Befürworter. Polizeiliche oder militärische Strafaktionen gegen gewalttätige Gruppen oder Nationen werden in der Regel ebenfalls als legitim angesehen. Gewalt, die nicht unter eine dieser drei Kategorien fällt, wird im Allgemeinen als Aggression verurteilt. Zwei weitere Voraussetzungen für legitime Gewaltanwendung sind eher umstritten: Präventive Gewaltanwendung, d. h. als Antwort auf eine Androhung von Gewalt oder um einer möglichen Aggression zuvorzukommen, und die Frage, ob Gewaltanwendung erlaubt ist, um sein Eigentum wieder in Besitz zu nehmen, das sich jemand (gewaltsam oder nicht) widerrechtlich angeeignet hat. Die genannten fünf Kategorien entstammen unserer heutigen Lebenswelt. Können sie bei der Untersuchung vergangener Lebenswelten oder anderer Kulturen von Nutzen sein? Ich denke schon. Es ist zwar möglich, dass einige der fünf Kategorien in anderen Epochen oder Kulturen keine Rolle spielen oder dass in ihnen noch andere legitime Voraussetzungen für die Anwendung von Gewalt existieren. Nichtsdestotrotz können die fünf Kategorien bei der Untersuchung anderer Lebenswelten eine heuristische Funktion erfüllen. Sie schärfen einerseits unseren Blick für die verschiedenen Rechtfertigungen von Gewalt, die in einer Kultur oder in einem historischen Kontext vorhanden sein können, zum anderen helfen uns solche klar umrissenen Kategorien, die mögliche Besonderheit einer Epoche oder Kultur im Vergleich zu anderen zu verdeutlichen.

2. Gott, Mensch und Gewalt im Qurʾān Gibt es einen Zusammenhang zwischen den Konzeptionen legitimer Gewalt und dem Bild von Gott im Qurʾān? Ein solcher Zusammenhang lässt sich finden, jedoch ist es sinnvoll, dabei auch das Menschenbild einzubeziehen, da Gott und Mensch im Qurʾān vielfach aufeinander bezogen sind. Im Folgenden wird daher die komplexe Beziehung zwischen Gott und Mensch und die möglichen Anknüpfungspunkte für die Rechtfertigung von Gewalt beschrieben. Gott hat die Menschen geschaffen und sorgt für sie. Er erwartet von den Menschen, dass sie ihm dafür dankbar sind und ihm „dienen“, d. h. ihn allein als Gott verehren, ihn loben und preisen, sich ihm rück-

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haltlos anvertrauen und sich seinem Willen unterwerfen.6 Vollständige Hingabe ist die Bedeutung des Wortes islām. Die Menschen weigern sich jedoch oft, Gott die ihm zukommende Dankbarkeit zu bezeugen und ihm zu gehorchen, da sie schwach sind und zum Bösen neigen. Sie vergessen Gott und streben nach irdischen Gütern oder Götzen, von denen sie glauben, dass sie ihnen nützen.7 Doch da Gott barmherzig und bereit ist, Fehler zu vergeben, versucht er, die in die Irre gegangenen Menschen wieder auf den rechten Weg zu führen. Er offenbart sich ihnen durch Propheten und erinnert sie durch seine Botschaften daran, was sie ihm schuldig sind.8 Menschen, die diese Hilfe Gottes, dieses Angebot seiner Gnade, zurückweisen und sich von seinen Propheten nicht zur Umkehr bringen lassen, werden durch Gott bestraft. Wenn Gott straft, dann gebraucht er Gewalt, die bis zur Vernichtung der schuldigen Menschen gehen kann. Gott ist jedoch den Menschen gnädig, die auf die Warnungen der Propheten hören und sich wieder Gott zuwenden.9 Er vergibt ihnen ihre Verfehlungen, erspart ihnen die Bestrafung und offenbart ihnen den rechten Weg. Dieser Weg ist ein Gesetz, das es den Menschen ermöglicht, so zu leben, wie es Gott gefällt. Die Juden haben die Thora, die Christen das Evangelium und die Muslime den Qurʾān von Gott als Richtlinie erhalten.10 Gottes Weg und Wille, besonders in seiner zuletzt offenbarten Version, dem Qurʾān, ist jedoch nicht nur für ein Volk bestimmt, sondern für die gesamte Menschheit.11 Gott hält für die Menschen ein glückliches ewiges Leben nach der Auferstehung vom Tod bereit. Jedoch müssen sie sich das jenseitige Glück erst auf der Erde verdienen. Gottes Offenbarung hilft ihnen dabei. Sie müssen sich nur an Gottes Gebote halten.12 Beim Letzten Gericht prüft Gott, wie gut ihm die Menschen gedient haben.13 Er belohnt diejenigen, die seine Erwartungen erfüllt haben, mit dem Paradies. Die anderen straft 6 Einige der zahlreichen Belegstellen müssen hier und für die folgenden Aussagen genügen. Siehe z. B. Q (= Qurʾān) 32:7–9; 31:11; 27:40; 14:7–9, 37; 2:21, 152; 39:66; 80:17; 17:43–44; 40:46. Das Arabische Wort kafara bedeutet sowohl undankbar sein als auch ungläubig sein. Die Übersetzungen berücksichtigen das nur selten. 7 Q 4:28; 12:53; 100:6–8; 43:15; 17:67. 8 Q 16:36–63. 9 Q 7:59–79. 10 Q 28:43; 32:23; 5:15–16, 44–50, 68; 3:3–4. 11 Q 7:158; 3:19–20; 34:28. 12 Q 17:9; 16:90–97. 13 Q 17:13.



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er, indem er sie in das Höllenfeuer werfen lässt, wo sie unsägliche Qualen leiden.14 Während sich bei Gott Gewaltanwendung auf die Bestrafung des Ungehorsam und der Undankbarkeit seiner Geschöpfe beschränkt, ist sie bei den Menschen ein natürlicher Charakterzug. Sie schrecken im Allgemeinen nicht vor Gewalt und Blutvergießen zurück. Aus diesem Grund versuchten schon die Engel, Gott an der Erschaffung des Menschen zu hindern. Sie fragten ihn, warum er auf der Erde jemanden als seinen Statthalter einsetzen wolle, „der Verderben sät und Blut vergießt“.15 Doch Gott ließ sich nicht von seinem Vorhaben abbringen. Er schuf die Menschen, jedoch verbot er ihnen, sich gegenseitig umzubringen und Verderben auf der Erde zu säen, d. h. sich gegenseitig Schaden zuzufügen.16 Dieses Verbot gehört zu dem Gesetz, das Gott durch seine Propheten den Menschen offenbart hat. Es steht schon in der Thora und ist für alle Menschen bindend, auch für die Muslime.17 Es gibt jedoch Ausnahmen von diesem Verbot der Gewalttätigkeit: 1.  Ein Mensch darf zur Vergeltung oder Strafe für die körperliche Verletzung oder Tötung eines anderen Menschen selbst verletzt oder getötet werden. Allerdings können die Geschädigten auch auf die Vergeltung durch Gewalt verzichten und stattdessen ein Blutgeld akzeptieren.18 2.  Menschen, die „gegen Gott und seinen Gesandten Krieg führen“ oder 3. Menschen, die „Verderben (fasād) auf der Erde säen“, sollen dafür empfindlich bestraft werden. Sie dürfen getötet oder gekreuzigt werden, ihnen darf man Hände und Füße wechselseitig abhacken, oder sie aus dem Land verbannen.19 Menschen dürfen also dem Qurʾān zufolge gegenüber anderen Menschen nur Gewalt anwenden, wenn es darum geht, sie für Gewalttätigkeit und Aggression zu bestrafen. Offenbar ist das als abschreckendes Mittel gedacht, um Gewalt zwischen Menschen zu verhindern oder wenigstens zu beschränken. Wie passt diese Auffassung zur Konzeption des ǧihād, des Kämpfens gegen Nichtmuslime, bei dem es auch um Gewaltanwendung geht? 14 Q 20:74–76; 13:20–25; 11:103–108. 15 Q 2:30. 16 Q 5:32; 4:29, 92–93; 7:33; 10:23. 17 Q 2:178–179; 17:33. 18 Q 5:32–33; 2:178. 19 Q 5:32–33. Die verschiedenen Arten von Strafmaßnahmen sind offensichtlich nach der Schwere der Vergehen zu bemessen.

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3. Der ǧihād als Strafe und zur Verteidigung Die älteste Form des ǧihād finden wir in den Texten, die uns über die Entstehung des Islam Kenntnis geben. Die wichtigste Quelle ist der Qurʾān. Er enthält Texte, die Muḥammad der islamischen Überlieferung zufolge als Offenbarung Gottes verkündigte.20 Bei zahlreichen Offenbarungen ist deutlich, dass sie historische Ursachen hatten. Welche das genau waren, ist aus dem Qurʾān selbst kaum zu ergründen. Die muslimischen Gelehrten interpretierten den Qurʾān daher gern im Licht von Überlieferungen, die über das Leben des Propheten erhalten sind. Wenn wir dieser Methode folgen, lässt sich von Muḥammads Leben, seiner Verkündigung und der Rolle des Kämpfens darin das folgende Bild rekonstruieren.21 Um das Jahr 610 fühlte sich Muḥammad zum Propheten Gottes berufen und trat bald darauf in Mekka öffentlich auf. Er warnte vor dem Gericht Gottes und rief seine Stammesgenossen auf, sich allein dem einen Gott zuzuwenden, der die Welt und die Menschen geschaffen hat. Seine Verkündigung hatte manche Ähnlichkeit mit Ideen des Juden- und Christentums. Viele frühe Suren durchzieht eine Endzeitstimmung.22 Muḥammads Verkündigung fiel in Mekka nicht auf fruchtbaren Boden. Die meisten seiner Stammesgenossen lehnten sie ab. Die führenden Persönlichkeiten der Stadt fürchteten, dass Muḥammads Aktivitäten ihre politische und wirtschaftliche Machtposition untergraben würden. Die beruhte auf der Kontrolle über den polytheistischen Kult in und um Mekka. Die Führer der Stadt versuchten daher, 20 Einige Islamwissenschaftler halten den Qurʾān für ein Produkt, das erst ein oder zwei Jahrhunderte nach Muḥammads Tod seine jetzige Form erhalten hat und keine sicheren Rückschlüsse auf Muḥammads tatsächliche Verkündigung zulässt. Ich halte diese Auffassung für abwegig. 21 Der gleichen Methode zu folgen, bedeutet nicht notwendigerweise, dass man zu den gleichen Ergebnissen kommt. Der Wert der Überlieferungen als historische Quelle ist umstritten, doch ist die Situation für die Quellenkritik nicht so aussichtslos wie manche Fachgenossen annehmen. Die großen Linien der vita des Propheten standen schon im ersten islamischen Jahrhundert fest. Auch manche Details gehen auf sehr alte Überlieferungen zurück. Siehe dazu H. Motzki (Hg.), The Biography of Muhammad: the Issue of the Sources. Leiden 2000, xi– xv, 230–234; ders., „Tussen feit en fictie: Het probleem van de Muhammad-biografie,“ in: Sharqiyyât 11/1 (1999), 1–13; A. Görke / G. Schoeler, „Reconstructing the Earliest sīra Texts: the Hiǧra in the Corpus of ʿUrwa b. al-Zubayr“, in: Der Islam 82 (2005), 209–220. 22 Die Suren 74–104 geben eine gute Übersicht über Muḥammads frühe Verkündigung.



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Muḥammad Steine in den Weg zu legen. Sie machten ihn lächerlich und verspotteten ihn. Sie setzten seine Anhänger unter Druck, um sie ihm abspenstig zu machen. Sie verhängten einen Boykott gegen seinen Klan, damit dieser Muḥammad das Handwerk lege. Die wachsende Feindseligkeit trieb eine große Zahl seiner Anhänger ins Exil. Sie gingen ins christliche Äthiopien. Auch Muḥammad selbst blieb schließlich keine andere Wahl. Er emigrierte 622 mit einer Gruppe von Anhängern nach Medina, einer Siedlung, die neun Tagesreisen nördlich von Mekka lag. Es war eine Flucht, denn die Führer der Klans trachteten ihm nach dem Leben und wollten ihn daran hindern, die Stadt zu verlassen.23 Zehn Jahre lang hielten Muḥammad und seine Anhänger die Feindseligkeit und zeitweise Gewalttätigkeit, die ihnen in Mekka entgegenschlug, aus, ohne selbst Gewalt dagegen zu setzen. Muḥammad reagierte lediglich mit Offenbarungen, in denen seine Gegner gewarnt wurden, dass Gott sie für ihre abweisende Haltung und ihren Unglauben bestrafen werde. Es werde sie das gleiche Schicksal ereilen wie einst das Volk von Noah oder die Ägypter zur Zeit des Moses. Gott werde sie vernichten und nur den Propheten und seine Anhänger vor dieser Strafe bewahren.24 Nach der Emigration nach Medina schlugen die Leidensbereitschaft und der Friedenswille der vertriebenen Muslime in eine aggressive Haltung gegenüber ihren mekkanischen Widersachern um. Die Emi­ granten suchten die Konfrontation mit ihnen, und das führte schnell zu einem Kriegszustand zwischen Medina und Mekka. Diese Kehrtwende im Verhalten der Muslime hatte wahrscheinlich in erster Linie wirtschaftliche Gründe, denn die Emigranten hatten ihre Existenzgrundlage aufgeben müssen und waren in Medina trotz der materiellen Hilfe der medinensischen Glaubensbrüder in großen finanziellen Schwierigkeiten. Durch Überfälle auf mekkanische Karawanen versuchten sie, ihre Lage zu verbessern. Muḥammad und seine Emigrantengruppe konnten eine Konfrontation mit ihren ehemaligen Stammesbrüdern nun wagen, da sie den Schutz zweier großer arabischer Stämme Medinas genossen, die Muslime geworden waren. Selbst jüdische und heidnische Klans von Medina waren bei der Ankunft der muslimischen 23 Diese Skizze von Muḥammads Leben basiert neben dem Qurʾān auf der unter den Muslimen sehr geschätzten frühen Biographie von Ibn Isḥāq (gest. 767) in der Überlieferung durch Ibn Hišām (gest. ca. 830). Eine vollständige englische Übersetzung gibt es von A. Guillaume, The Life of Muhammad. Oxford 1955. Auszüge in deutscher Übersetzung hat G. Rotter unter dem Titel, Ibn Ishâq: Das Leben des Propheten. Tübingen/Basel 1976 veröffentlicht. 24 Siehe z. B. Q 77:16; 73:15–16; 71.

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Emigranten einem Bündnis beigetreten, das alle Mitglieder verpflichtete, gegen Feinde von außerhalb Unterstützung zu gewähren. Im Qurʾān lesen wir nichts von den wirtschaftlichen und politischen Gründen, die die Muslime dazu trieben, mekkanische Karawanen zu überfallen. Hier hat der Kampf der Muslime Medinas gegen die Mekkaner eine religiöse Dimension, die in mehreren Versen durch den Ausdruck ǧihād fī sabīl allāh (sich auf Gottes Weg einsetzen) oder ǧihād fī llāh (sich für Gott einsetzen) charakterisiert ist.25 Dieser Ausdruck ist zwar im Qurʾān nicht synonym mit Kämpfen, doch entwickelt sich das Kämpfen durch die historischen Umstände im Leben Muḥammads zum wesentlichsten Aspekt des Einsatzes für Gott.26 In Sure 8, Vers 30–36 ist die religiöse Begründung für das Kämpfen zu finden: Die Mekkaner haben sich gegen den Propheten Gottes verschworen, sie wollten ihn gefangen nehmen, töten oder vertreiben. Nun versperren sie den Gläubigen den Zugang zum „Haus Gottes“, dem Heiligtum von Mekka. In diesem Tempel pflegen sie einen falschen Kult. Die wirklichen Gläubigen, die Muslime, haben mehr Recht, in diesem Heiligtum ihren Gottesdienst abzuhalten als die Ungläubigen. Diese geben sich alle erdenkliche Mühe, um die Gläubigen vom Weg Gottes abzubringen. Als der Prophet noch in Mekka predigte und mit Gottes Strafe für ihre Verstocktheit drohte, haben sich die Ungläubigen über seine Warnungen lustig gemacht und sogar um diese Bestrafung gebeten. Nun kommt sie über sie. Soweit die Anklage dieser Verse. Gott straft die Mekkaner für ihre Aggression gegen den Propheten und die Muslime, indem er sie bekämpft. Die Muslime vollziehen diese Strafe als Werkzeuge Gottes. Es ist nicht die Rache einer Gruppe von Menschen, die aus Mekka vertrieben wurde, an ihren ehemaligen Unterdrückern. Es ist der Zorn Gottes, der über die Mekkaner kommt. Deshalb sind nicht nur die Emigranten aufgerufen zu kämpfen, sondern alle Gläubigen, im Prinzip auch die Juden von Medina, die nach Muḥammads Meinung denselben Gott verehren wie die Muslime.27 Der ǧihād, das Kämpfen für Gott, ist daher in dieser Situation im wörtlichen Sinn „Gottesdienst“. Das hat Folgen für den Charakter des Kämpfens. Die Aussagen, die der Qurʾān in Sure 8 über die erste gro25 Siehe z. B. Q 2:218; 3:142; 4:95; 5: 35, 54; 8:72; 9: 19, 20, 24, 41; 22:78; 29:69; 60:1; 61:11. 26 Siehe auch E. Landau-Tasseron, „Jihād“, in: J. Dammen MacAuliffe (Hg.), Encyclopaedia of the Qurʾān. Bd. 3, Leiden 2003, 35–43. 27 Q 22:40 geht davon aus, dass nicht nur die Muslime, sondern auch die Juden und Christen durch die Ungläubigen in ihrer Existenz bedroht werden.



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ße Schlacht macht, die die Muslime gegen die Mekkaner zu bestehen hatten, zeigt, dass der Kampf der Muslime für Gott in erster Linie ein Kampf Gottes selbst ist. Gott will diese Schlacht. Ein Teil der Muslime will sie vermeiden, doch Gott zwingt ihnen den Kampf auf.28 Sie müssen sich dafür oder dagegen entscheiden. Diese Entscheidung, die jeder einzelne Muslim für sich treffen muss, wird in der Sure als eine Glaubensprüfung Gottes bezeichnet, die erweisen wird, wer wirklich gläubig ist und wer nur Glauben heuchelt.29 Gott hilft den Gläubigen, die sich für den Kampf entschieden haben, vor der Schlacht. Er lässt sie die Zahl der Feinde unterschätzen, verspricht ihnen Unterstützung durch ein großes Heer von Engeln, und dass er selbst Angst und Schrecken unter den Feinden verbreiten werde.30 Gott bereitet seine Kämpfer auf die Schlacht vor. Er gibt ihnen vor der Schlacht einen ruhigen Schlaf und Siegesgewissheit. Er reinigt seine Kämpfer von ihren Sünden mit Wasser, das er aus dem Himmel über sie regnen lässt.31 In der Schlacht handeln die Kämpfer Gottes nur als seine Werkzeuge. Nicht sie sind es, die eigentlich kämpfen, sondern Gott selbst. Nicht sie töten, sondern Gott ist es, der tötet.32 Der Kampf bringt den Gläubigen nicht den Tod, sondern das Leben, selbst wenn sie fallen.33 Selbstverständlich dürfen Gottes Kämpfer nicht flüchten. Sie müssen es selbst mit einem Gegner aufnehmen, der zehnfach übermächtig ist.34 Wer flüchtet, zieht sich Gottes Zorn zu.35 Gott ist es, der den Sieg gibt und den Gläubigen hilft.36 In der Schlacht Gottes dürfen keine Gefangenen gemacht werden.37 Ein Teil der Beute gehört Gott.38 28 Q 8:7, 42–44. 29 Q 8:74–75. 30 Q 8:43–44, 9, 40, 12, 18. 31 Q 8:9–11. 32 Q 8:17. 33 Q 8:24, 3:169. 34 Q 8:15, 16, 45, 19. Nachträglich ist dies auf eine zweifache Übermacht verringert (K 8:65–66). 35 Q 8:16. 36 Q 8:10, 19, 40, 48. 37 Q 8:67. In der ersten Schlacht hielten sich die Muslime nicht an diese Vorschrift. Gott vergab ihnen jedoch diesen Fehler (Q 8:68–69). Diese Verse geben keine Auskunft darüber, ob das Verbot, während der Schlacht Gefangene zu machen, aufgehoben ist. Die islamischen Gelehrten haben Vers 69 offenbar als Aufhebung verstanden, denn im islamischen Recht ist es nicht verboten, während der Schlacht Gegner gefangen zu nehmen. 38 Q 8:1, 41. Parallelen zu dieser Art von Gotteskampf finden sich in der hebräischen Bibel, vor allem in den Geschichten über den Auszug der Israeliten aus

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Die Muslime besiegten in der ersten Schlacht das Heer der Mekkaner, obgleich es zahlenmäßig weit überlegen war. Die Muslime hatten nur wenige Gefallene zu beklagen, die Mekkaner viele. Dieser Ausgang war für die Muslime ein Gottesurteil. Es war der Beweis, dass Gott mit ihnen war und dass Muḥammads Offenbarungen wahr sind.39 Die erste Konzeption von ǧihād, die Sure 8 widerspiegelt, wurde in den folgenden Zusammenstößen mit den Mekkanern und mit anderen Gegnern der Muslime innerhalb und außerhalb Medinas weiter entwickelt und an die jeweiligen Umstände angepasst. Auch das lässt sich aus dem Qurʾān lesen. Das Ziel des ǧihād wird genauer festgelegt. Es geht nicht darum, die Feinde Gottes und seines Gesandten vollständig zu vernichten, wie das im Qurʾān von den früheren Völkern erzählt wird, welche die Botschaft von Gottes Gesandten zurückwiesen. Das Nahziel des Kampfes ist es, die Feinde der Muslime zu zwingen, ihre Aggression gegen sie und die Versuche, die Muslime von ihrem Glauben abzubringen, einzustellen. Wenn die Mekkaner die Muslime in Ruhe lassen, wird Gott ihnen vergeben und die Muslime müssen den Kampf gegen sie stoppen. Zu einem Frieden mit Mekka gehört jedoch auch, dass die Muslime Zugang zum Haus Gottes in Mekka bekommen und dass dort anstelle des polytheistischen Kultes die Verehrung des einen wahren Gottes eingerichtet wird.40 Das ist dem Qurʾān zufolge das Fernziel des ǧihād gegen die Mekkaner.41 Wenn wir die Qurʾānpassagen, die sich auf das Kämpfen für Gott beziehen, in ihrem Kontext lesen, wird deutlich, dass der ǧihād in erster Linie eine Strafe Gottes ist, die über die Mekkaner wegen ihrer Feindseligkeit gegen Muḥammad und die Muslime kommt.42 Anders Ägypten und über die Eroberung des gelobten Landes (Exodus 11–15, Josua 1–12). 39 Q 8:7–8. 40 Q 8:19, 38–39. Im Kontext von Sure 8 kann sich die Aussage „wa-qātilūhum ḥattā...yakūna al-dīn kulluhu li-llāh” (kämpft gegen sie [die Mekkaner] bis die Religion in ihrer Gesamtheit allein Gott [gewidmet] ist) sich nur auf den Kult von Mekka beziehen. Gemeint ist: Wenn die Gottesverehrung (dīn) in Mekka allein dem einen Gott geweiht ist, dann ist das Ziel des Kampfes erreicht. 41 Nach der Eroberung Mekkas wurden die Araber, die sich nicht dem Islam anschlossen, vom Kult am dortigen Heiligtum ausgeschlossen und die Bündnisse, die Muḥammad mit heidnischen Stämmen hatte, aufgesagt. Die polytheistischen Stämme, die sich weiterhin feindselig verhielten oder eine Bedrohung für die Muslime darstellten, mussten bekämpft werden, bis sie sich dem Islam anschlossen oder emigrierten (Q 9:1–28). 42 Q 8:13–14, 30–35.



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als in den Geschichten über frühere Völker, die Gott strafte, spielt der Unglaube der Mekkaner eine sekundäre Rolle.43 Der Qurʾān spricht zwar oft von ihnen als den Ungläubigen, doch ist ihre primäre Verfehlung die Feindseligkeit gegen die Gläubigen. Aktiver Unglaube ist die passende Beschreibung für den Grund, warum die Mekkaner bestraft werden. Daher kann die Zwangsbekehrung der Mekkaner und anderer Gegner, wie z. B. der Juden und Christen, nicht das Ziel des ǧihād in Muḥammads Zeit gewesen sein. Mehrere Qurʾānverse schließen das auch ausdrücklich aus.44 Die Tatsache, dass sich Muḥammads Gegner durch Überlaufen zum Islam der Bestrafung entziehen können, wird im Qurʾān nicht als ein Prozess der Zwangsbekehrung, sondern der Umkehr und Reue verstanden.45 Die Gründe, mit denen im Qurʾān Gewalt gegen Nichtmuslime gerechtfertigt wird, lassen sich so zusammenfassen: Zu Lebzeiten Muḥammads hatten die Muslime vor allem zwei Gründe für den ǧihād, das Kämpfen für Gott: 1) um ihre Feinde zu strafen – genauer gesagt, um Gottes Strafe an seinen Feinden zu vollstrecken, 2) um sich gegen die Aggression ihrer Feinde zu verteidigen. Neben diesen beiden anfangs wohl wichtigsten Gründen finden sich noch zwei weitere, die erst allmählich an Bedeutung gewannen: Hilfe und Rückeroberung. Die Muslime dürfen kämpfen, um wegen ihres Glaubens unterdrückten Muslimen zu Hilfe zu kommen und sie aus der Unterdrückung zu befreien. Wie Gott den Muslimen Unterstützung in der Schlacht durch ein Heer von Engeln versprach, so dürfen die Muslime auch anderen bedrängten Gläubigen zu Hilfe kommen.46 Wie wir gesehen haben, ist das Fernziel des Kampfes gegen die ungläubigen Mekkaner, die Kontrolle über das Heiligtum von Mekka zu bekommen, um den dortigen Kult dem einen und einzigen Gott zu weihen. Die Eroberung (fatḥ) Mekkas ist legitim, weil die Muslime mehr Recht auf Gottes Tempel haben als die Heiden mit ihrem falschen Kult47 und weil sie von diesem Heiligtum vertrieben wurden.48 Diese Eroberung ist daher eigentlich 43 Siehe z. B. Q 2:217. 44 Q 9:6, 29, 128–129; 2:256. 45 Q 9:5. 46 Q 4:75; 8:72. 47 Q 8:34–35. 48 Das Wort fatḥ bedeutet eigentlich „Öffnung“. Damit wird wohl ursprünglich die Öffnung des freien Zugangs zum Heiligtum von Mekka für die Muslime gemeint gewesen sein. Jüdische Parallelen zur Kritik am heidnischen Kult im Tempel Gottes sind in einigen Prophetenschriften zu finden, z. B. Amos 5:21– 25; Jesaja 1:11–14; Jeremia 6:20; 7:22–23 (auch Psalmen 40:7; 50:8–13; 51:18–19).

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eine Rückeroberung oder Befreiung von etwas, worauf die Gläubigen Recht haben, das jedoch von den Ungläubigen usurpiert wurde.49 Aus dem Qurʾān lassen sich nicht nur die Gründe für das Kämpfen erheben, sondern auch die Reaktionen von Muslimen, die zum ersten Mal mit dem Aufruf zum Kampf gegen die Mekkaner konfrontiert wurden. Ferner lässt sich die Rolle erkennen, die das Kämpfen im Leben der Muslime Medinas spielte. Muḥammad hatte es schwer, seine Anhänger von der Notwendigkeit zu überzeugen, für Gott in den Kampf zu ziehen. Ein Krieg gegen die Mekkaner musste vielen nicht nur gefährlich, sondern angesichts ihrer militärischen, politischen und wirtschaftlichen Macht und ihrer zahlreichen Verbündeten als Selbstmord erscheinen. Der Qurʾān zeugt vom Widerstand gegen das Kämpfen.50 In mehreren Versen werden die Muslime nachdrücklich aufgerufen, Gott und seinem Gesandten zu gehorchen und für Gott zu kämpfen. Das Kämpfen wird zu einem Glaubenstest erhoben.51 Wer den ǧihād nicht mit Leib und Leben unterstützt, ist nicht wirklich gläubig, sondern ein Heuchler,52 jemand der das irdische Leben dem Jenseits vorzieht.53 Neben Peitsche gibt es auch das Zuckerbrot. Der Qurʾān verspricht denen, die glauben und ihren Besitz und ihr Leben im Kampf für Gott einsetzen, den ewigen Aufenthalt im Paradies als Lohn.54 Die Kämpfer, die beim ǧihād für Gott Leib und Leben riskieren, werden im Jenseits einen höheren Rang haben als die Gläubigen, die nicht kämpfen.55 Diejenigen, die körperlich nicht in der Lage sind zu kämpfen, können sich damit trösten, dass Gott ihnen das Fernbleiben nicht negativ anrechnet.56

Eine christliche Parallele ist die Geschichte von Jesus, der die Händler aus dem Tempel verjagt (Markus 11:15–17; Matthäus 21:11–13; Lukas 19:45–46 und besonders drastisch Johannes 2:13–17). 49 Die Eroberung der jüdischen Burgen in Medina durch die Muslime gehört dagegen in die Kategorie der Strafe. Die Burgen wurden erobert und die Juden daraus vertrieben, weil sie mit den Mekkanern gemeinsame Sache machten und sich feindselig gegen Gott und seinen Gesandten verhielten (Q 33:26; 59:2, 4). 50 Zu Versen, die den Widerstand gegen das Kämpfen widerspiegeln, siehe auch R. Firestone, Jihad. The Origin of Holy War in Islam. New York 1999, 77–84. 51 Q 8:5–6, 20, 29, 46, 74–75. 52 Q 9:42–52. 53 Q 9:38. 54 Q 9:20; 88–89; 111; 120–121. 55 Q 4:95. 56 Q 9:91–92.



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Der Qurʾān und in Übereinstimmung mit ihm die Überlieferung über die vita Muḥammads zeigen, dass in der medinensischen Periode der Krieg gegen Mekka und andere Feinde das Leben der Muslime tiefgreifend bestimmte. Der ǧihād entwickelte sich zu einer der Säulen des islamischen Gottesdienstes neben dem täglichen Gebetsritual (ṣalāt) und dem Almosenspenden (zakāt). Das Kämpfen für Gott war in dieser Zeit eine individuelle Pflicht für Männer, die kollektiv ausgeführt wurde, vergleichbar mit dem gemeinschaftlichen Gebetsritus am Freitagmittag.57 Passt die Konzeption des ǧihād zu den anfangs beschriebenen Vorstellungen des Qurʾān von Gottes Handeln in Bezug auf die Menschen?58 Die Rechtfertigung der Gewaltanwendung beim ǧihād lässt sich mit drei Ideen über Gott und Mensch in Verbindung bringen: Erstens hat der ǧihād mit der Vorstellung zu tun, dass Gott diejenigen straft, die sich von seinen Propheten nicht zur Umkehr bewegen lassen. Das ist dem Qurʾān zufolge bei den Mekkanern der Fall. Der Krieg, d. h. die Gewaltanwendung, gegen sie ist Gottes Strafe. Wie beschrieben werden die Mekkaner weniger wegen ihres Unglaubens bestraft, sondern in erster Linie, weil sie sich Gott und seinem Gesandten gegenüber feindselig verhalten. Das bringt uns zum zweiten Anknüpfungspunkt an die qurʾānischen Vorstellungen über die Beziehungen zwischen Gott und den Menschen. Die Mekkaner haben Gottes Gesetz übertreten, das verbietet, „Verderben auf Erden zu säen“. Gottes Gesetz erlaubt es den Betroffenen selbst, sich gegen gewalttätige Übergriffe zur Wehr zu setzen und die Verbrecher zu bestrafen. Drittens lässt sich eine Verbindung ziehen zu der Idee, dass Gott denjenigen hilft, die sich durch seine Prophete