Der andere Iran. Geschichte und Kultur von 1900 bis zur Gegenwart
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Zitiervorschau

Peyman Jafari

DER ANDERE IRAN Geschichte und Kultur von 1goo bis zur Gegenwart

Aus dem Niederländischen von Waltraud Hüsmert

Verlag C. H. Beck

Titel der niederländischen Originalausgabe:

Für meine Eltern

«Her andere Iran. V an de revolutie tot vandaag"

Shahnaz und Fereydoun

2009 by PeymanJafari Originally Published by Ambo I Anthos Uitgevers, Amsterdam Der Autor hat das Buch für die deutsche Ausgabe aktualisiert und um ein Kapitel erweitert.

Die Übersetzung dieses Buches "lvurde gefordert vom Nederlands Letterenfonds.

Für die deutsche Ausgabe:

(v Verlag C.H.Beck oHG, München 2010 Umschlaggestaltung: www.kunst-oder·reklame.de Umschlagbild: Demonstration in Teheran, Dezember 2009, Foto: Maryam Rahmanian I UPI i laif Satz: Fotosatz Reinhard Amann, Aichstetten Druck und Bindung: CPI - Ebner & Spiegel, Ulm Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier (hergestellt aus chlorfrei gebleichtem Zellstoff) Printed in Germany ISBN

978 3 406 60644 www.beck.de

I

Inhalt

Vorwort 9

1. Vom Zoroastrismus zum Islam 17 Vor dem Islam 19- Der Einzug des Islam in Persien

22-

Der Iran und die

Schia 24- Religion und Politik 2.8

2. Orient trifft Okzident 32 Die wirtschaftliche Entwicklung 33 - Religion und Philosophie 35 - Die Qadscharen und der Westen 37- Zwischen Anpassung und Widerstand 40

3· Die Konstitutionelle Revolution (1905-1909) 45 Der Kampf um die Verfassung 48

Erwachen aus einem Albtraum 46 Vom Bürgerkriegzur Restauration 52.

4· Autoritäre Modernisierung zwischen den Revolutionen (1909-1979) 57 Reza Schah: der Mann der Ordnung 59 Der Staatsstreich gegen Mossadegh 64

Mossadegh und die Ölkrise 62 Die Ruhe vor dem Sturm 67

5· Die unerwartete Revolution (1979) 71 Die «Große Zivilisation» 72

Die Opposition 77

Wirbelsturm von Protesten 82

-

1977-1978: Ein

Februar 1979: «Der Frühling der

Freiheit» 87- 1979-198 3: Die Konterrevolution 89

6. Chomeini: Unter dem Mantel des Ayatollahs (1979-1989) g6 Fundamentalismus oder Populismus? 9 8 - Der längste Krieg Illusion des Totalitarismus 105

roo

Die

1· Rafsandschani: Vom Populismus zum Neoliberalismus

(1989-1997) 109

> als modernisierende und an­

perialismus als von ihrer Liebe zur Demokratie inspiriert. Doch

tikoloniale Kraft ein. Mit dieser B otschaft zog er durch Afghanistan,

während sie ihr Leben entweder bei Hofe oder - wenn sie in Ungnade

die Türkei, Ägypten, Indien, den Iran und Frankreich. Sein Ziel war

fielen

eine Bewegung gegen den Kolonialismus, der die säkulare und reli­

ders bestimmt. Die Gesellschaft wurde von explosionsartigen Protes­

giöse Opposition vereinen sollte.

ten gegen die autoritär herrschenden Qadscharen wie auch gegen die

im Exil verbrachten, wurde der Lauf der G eschichte woan­

Al-Afghanis Ideen haben viele Berührungspunkte mit dem mo­

kolonialen Mächte aufgerüttelt. Neben die Forderung nach natio­

dernen Islamismus, den Chomeini mehr als ein halbes Jahrhundert

naler Unabhängigkeit trat bei diesen Aufständen die Forderung nach

später im Iran einführte. Faktisch handelte es sich bei beidem um na­

sozialer Gerechtigkeit.

tionalistische Reaktionen mit religiösem Anstrich gegen die ausländi­

Der Aufstand der Babi zwischen 1843 und 1852 erschütterte die

sche Dominanz. Beide Bestrebungen speisten sich aus den Frustratio­

Qadscharenmonarchie in ihren Grundfesten. Mirza Ali Mohammed

nen in der Bevölkerung, weil die Regierung vor den Kolonialmächten

(gen. al-Bab, r8I9-185o) formulierte, ausgehend von dem messiani­

in die Knie ging. Beide idealisierten den Islam, indem sie auf die «Fun­

schen Glauben an die Rückkehr des Mahdi und die dissidente Tradi­

damente)) zurückgingen. Bei diesem Prozess der Rückwendung ging

tion innerhalb der Schia, eine neue Religion.14 Er stützte sich auf eine

es jedoch nicht darum, Vergaugenes zu kopieren, sondern neu zu

weltlichere Auslegung des Islam aus dem Anfang des neunzehnten

interpretieren.

Jahrhunderts. Diese Auffassung besagte, dass eine Verbindung zwi­

Es gibt aber mindestens einen wichtigen Unterschied. Wie wir

schen dem verborgenen Imam, dem Mahdi, und seinen Anhängern

noch sehen werden, kombinierte Chomeini seine moderne Neuinter­

existiere. In naher Zukunft würde diese Verbindung in Gestalt eines

pretation viel stärker mit konservativen Ideen als Al-Afghani, der für

Menschen erscheinen, um den Kampf gegen das Unrecht auf der

einen Dialog mit modernen westlichen Ideen aufgeschlossen war. Der

Welt anzuführen. Mirza Ali Mohammed erklärte, dass er «das Ton>

G rund dafür liegt in ihrem unterschiedlichen Lebenskontext. In sei-

(al-Bab) zum Mahdi sei. Seine Ideen gewannen schnell Anhänger

44

2. Orient trifft Okzident

unter den Armen auf dem Land und in den Städten. Schließlich ging

3· Die Konstitutionelle Revolution (1905-1 909)

Mirza AB Mohammed noch einen Schritt weiter und bezeichnete sich selbst als den erwarteten Erlöser, den Mahdi. Für die Qadscharen und die konservativen Ulama ging er damit einen Schritt zu weit, und sie ließen ihn exekutieren. Nach seinem Tod kam es in verschiedenen Gegenden zu Revolten

Als Fath Ali Schah

1831 sein Porträt auf einer Felswand bei Teheran

seiner Anhänger. Die bemerkenswerteste Persönlichkeit in der Babi­

verewigen ließ, war er vermutlich davon überzeugt, dass seine

Bewegung war eine Frau, Qurrat al-'Ain, die wegen ihres Muts und

Qadscharendynastie für immer über den Iran herrschen würde. Doch

ihrer Intelligenz eine führende Rolle spielte . «Die Erscheinung einer

die Geschichte nahm eine ironische Wendung, als wenige Kilometer

solchen Frau wie Qurrat al-'Ain ist in jedem Land ein seltenes Phäno­

von diesem Ort entfernt das Ende der Qadscharen eingeläutet wurde.

men, in einem Land wie Persien jedoch außergewöhnlich, nein, fast

Am 30. April r896 erschoss Mirza Reza Kermani, ein ehemaliger Schü­

ein Wunder», schrieb ein britischer Historiker in jener Zeit. «Unver­

ler Al-Afghanis, Naser ad-Din Schah. EinigeJahre zuvor hatte er mitan­

gleichbar und unsterblich hebt sie sich unter ihren Landesgenos­

sehen müssen, wie der Schah seinen antikolonialistischen Lehrer aus

sinnen hervor. Wenn der Babi-Glaube keinen anderen Anspruch auf

einer Moschee wegschleppen ließ und in die Verbannung schickte .

Größe hätte, dann wäre dies schon genug: dass er eine Heldin wie

Wenig später war er selbst an der Reihe gewesen, weil er die Meinung

Qurrat al-' Ain hervorgebracht hat.>l'' Der Babi-Glaube hatte mit der

vertrat, dass der Schah durch die an Großbritannien und Russland

Botschaft einer mehr egalitären Gesellschaft die Herzen der Armen

vergebenen Konzessionen die Interessen des Volkes verschacherte.

gewonnen, doch er blieb eine elitäre und undemok:ratische Bewe­

Das Attentat war eine Racheaktion für die Demütigung und das Un­

gung. Deren historische Bedeutung liegt darin, dass sie die Aufmerk­

recht, das er und seine Landsleute erdulden mussten.

samkeit vom Himmlischen auf das Irdische verlagerte und die hoff­

Der Schah war nach dem Attentat in seine Kutsche gesetzt wor­

nungsvolle Erwartung der Ankunft des Mahdi durch aktives Handeln

den, und obwohl er bereits tot war, hatte sein Minister den ganzen

zur Veränderung der Welt ersetzte.

Weg nach Teheran so getan, als rede er mit ihm, und seinen Arm

Zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts bildete sich eine neue,

manchmal aus dem Fenster bewegt, als winke der Schah den Men­

viel größere Protestbewegung und griff nicht nur die Forderungen

schen zu. Die N achricht vom Tod des Herrschers sollte sich nicht wie

nach nationaler Unabhängigkeit und sozialer Gerechtigkeit auf,

ein Lauffeuer in der Stadt verbreiten. Die Befürchtung, es könnte zu

sondern stellte auch eine ganz neue Forderung: die Beendigung der

Tumulten kommen, war nicht unbegründet. Mirza Reza Kermanis

autoritären Monarchie der Qadscharen. Inspiriert wurde diese neue

gekränkter Stolz entsprach nicht nur seiner persönlichen, sondern

Bewegung von Ideen, die sowohl der Tradition des Protestes im I ran

einer nationalen Gefühlslage, die in den folgenden Jahren zu einem

als auch den neuen politischen Strömungen in Europa wie dem Libe­

revolutionären Ausbruch gegen inländische Tyrannei und auslän­

ralismus und dem Sozialismus entstammten.

dische Unterdrückung führte - die Konstitutionelle Revolution. Zwi­ schen

1905 und 1909 versuchten die Revolutionäre, die Macht des

Schahs durch eine Verfassung (Konstitution) einzuschränken und ein Parlament (madschles) einzusetzen. Die Demok:ratisierungsbewegung richtete sich auch gegen die ausländischen Großmächte, die die dikta-

46

47

3· Die Konstitutionelle Revolution

Erwachen aus einem Albtraum

torisehen Qadscharen unterstützten, weil sie politisch und wirtschaft­

ziale und finanzielle Bindungen hatten. Auch sie waren unzufrieden

lich davon profitierten.

und wandten sich unter anderem gegen die Einführung säkularer

Es ist kein Zufall, dass der Anfang der modernen iranischen Ge­

Bildung, die ihre religiösen Schulen bedrohte. Die wachsende Gruppe

schichtsschreibung mit dieser Revolution zusammenfallt, die auch als

Intellektueller wurde sich zunehmend der rückständigen Lage des

«das Erwachen der Iraner)) bezeichnet wurde.' Die Ideale der Iraner,

Iran bewusst und trat für eine rasche Modernisierung ein. Die Masse

die seitdem versucht haben, ihr Schicksal selbst zu bestimmen, wur­

der armen Bauern und sehr viele Stadtbewohner, die zunehmend in

den auf dem Schlachtfeld der Konstitutionellen Revolution gebo­

kleinen Werkstätten arbeiteten,

ren: Unabhängigkeit von Fremdherrschaft, Freiheit von inländischer

wirtschaftlichen Misere.

litten

unter

der allgemeinen

Tyrannei, soziale Gerechtigkeit und wirtschaftliche Entwicklung.

Ende 1905 kam es in dieser brisanten Lage zur Explosion. Ein wich­

Jeder politische Umbruch, der seither stattfand, kann als ein Versuch

tiger Anlass war die Krise der Binnenwirtschaft in jenem Jahr, hinzu

gesehen werden, eines dieser Ideale, allerdings auf Kosten der ande­

kamen jedoch externe Faktoren. Die russische Revolution von 1905

ren, zu verwirklichen: die Modernisierung der Wirtschaft unter den

motivierte Iraner zur Rebellion gegen ihren eigenen König. Die Nie­

Pahlavi

derlage Russlands im Krieg gegen Japan im Jahr zuvor gab ihnen die

(1926-1979) und die nationale Unabhängigkeit von ausländi­

Zuversicht, dass es möglich wäre, Russland zu besiegen, falls es dem

schen Mächten unter der Islamischen Republik. Die Konstitutionelle Revolution repräsentiert den allerersten Mo­

Schah zu Hilfe eilen würde.

bereits im frühen zwanzigsten Jahrhundert -

Die ersten Proteste im Jahr 1905 brachen aus, als der Schah den Ba­

den Versuch unternahmen, eine demokratische Politik einzuführen,

zaris Geld schuldig blieb und sie unter Druck setzte, in Zeiten hoher

doch erkennen mussten, dass die Welt inzwischen von Großmächten

Inflation auf Preiserhöhungen zu verzichten. Als Knalleffekt tauchte

beherrscht wurde, die aus Eigeninteresse entschlossen waren, diesen

zudem ein Foto des Belgiers joseph Naus auf, der im Auftrag des

Versuch - mit Unterstützung der herrschenden Klasse in ihrem eige­

Schahs das Zollwesen reformieren sollte. Hatte er sich mit seiner Tä­

nen Land - im Keim zu ersticken.

tigkeit schon unbeliebt gemacht, so ging er mit diesem Foto, auf dem

ment, in dem Iraner

er sich als Mullah (rangniedriger Geistlicher) verkleidet hatte, für viele zu weit. Die Händler und Geistlichen reagierten mit sym­

Erwachen aus einem Albtraum Nach dem tödlichen Attentat auf Naser ad-Din Schah

bolischen Aktionen, indem sie sich an heiligen Stätten wie Moscheen

1896 trat Moz­

einschlossen.

affar al-Din Schah die Nachfolge an und setzte die verhasste Politik

Im Dezember 1905 eskalierten die Proteste; es kam zu immer mehr

seines Vaters fort. Er verkaufte das Monopol zur Ausbeutung der Öl­

Aktionen dieser Art und zu Streiks. Angeführt wurden die Proteste

vorkommen im Süd- und Zentraliran an den Briten D' Arcy und er

von einer Koalition aus Händlern, Geistlichen und Intellektuellen;

nahm hohe Kredite auf, um seine extravaganten Reisen nach Europa

ihre Forderungen wurden nun radikaler. Sie forderten nicht nur die

zu finanzieren. Die Großbritannien und Russland erteilten Konzes­

Entlassung des Gouverneurs von Teheran, der mehrere Demonstran­

sionen ruinierten das Leben von Händlern, Handwerkern und Kauf­

ten hatte erschießen lassen, sondern auch die Einsetzung eines

leuten im traditionellen Basar, der auch das soziale Zentrum jeder

wählten Parlaments

Stadt bildete. Die Handwerker waren meist in Zünften organisiert.

Diplomat berichtete, verwundert über den Charakter dieser Proteste,

Die Ulama machten sich für die Basaris stark, mit denen sie enge so-

nach London:

(madschles)

und eine Verfassung. Ein britischer

3· Die Konstitutionelle Revolution

48

Der Kampf um die Verfassung

49

Zu den bemerkenswerten Merkmalen der Revolution - denn was hier ge­

flug, auch die Dichtkunst erfuhr eine drastische Veränderung. Die

schieht, verdient auf j eden Fall den Namen Revolution

satirische Wochenzeitschrift

gehört, dass der Kle­

rus auf der Seite von Fortschritt und Freiheit steht. Das ist meines Wissens in der Weltgeschichte beispiellos. Wenn die Reformen, für die das Volk mit Hilfe der Geistlichen gekämpft hat, verwirklicht werden, geben sie [die Geistlichen] alle Macht ab.2

((Sur-e Esrafil>�,

das wichtigste und popu­

lärste Blatt aus dieser Zeit, scheute nicht davor zurück, die konser­ vativen Ulama zu verspotten, die imperialistischen Mächte scharf zu kritisieren und sozialistische Ideen zu verkünden. In der ersten Num­ mer beschrieb die Redaktion die Ziele wie folgt:

Am 5· August 1906

erklärte sich Mozaffar al-Din Schah unter dem

Druck der Proteste mit der Einberufung einer Verfassunggebenden Versammlung einverstanden. Damit hatte die Konstitutionelle Revo­ lution ihren ersten offiziellen Sieg errungen, doch der Kampf um die Ausgestaltung der Verfassung stand noch bevor und stieß auf neue Probleme.

In der Verteidigung der Konstitutionellen Sache und der Unterstützung des Parlaments, der Bauern, der Schwächeren, der Armen und der Unterdrückten hoffen wir bis zum Ende standhaft zu bleiben. ( . . . ) Wir haben keine Angst vor Einschüchterung oder vor dem Tod. Wir legen keinen Wert auf ein Leben ohne Freiheit, Gleichheit und W ürde. ( . . . ) Wir fürchten nichts außer dem All­ mächtigen Gott und seinen Gesetzen und den Gesetzen der Nation.4

Der Kampf um die Verfassung

Auch etliche revolutionäre Organisationen erschienen auf der politi­ schen Bühne. Die wichtigsten waren die sogenannten Anjomans, Ver­

In einer Zeit, in der nur eine Handvoll europäischer Länder ein par­

einigungen, die entweder aus den bestehenden Zünften hervorgin­

lamentarisches System mit allgemeinem Wahlrecht hatte, war die

gen oder sich vom Modell der Sowjets inspirieren ließen, der Räte der

Konstitutionelle Revolution ein außergewöhnliches Ereignis, das den

revolutionären Arbeiter, Bauern und Soldaten, die sich während der

Iran auf den Weg der Demokratisierung brachte. Das Parlament trat

Revolution von 1905 in Russland gebildet hatten. Allein in Teheran

zum ersten Mal im Oktober 1906 zusammen und verabschiedete ein

gab es dreißig Anjomans, in denen sich Handwerker, Studenten oder

Grundgesetz, das sich an der Verfassung der belgischen konstitutio­

Schriftsteller zusammenschlossen. Auch ethnische und religiöse Min­

nellen Monarchie orientierte. Die Macht des Schahs wurde einge­

derheiten wie Azeris, Armenier, Juden und Zoroastrier organisierten

schränkt und der Souveränität des Volks unterworfen, das die Minister

sich in Anjomans, um die Konstitutionelle Revolution zu unterstüt­

durch gewählte Vertreter kontrollieren sollte. Das Prinzip der Gleich­

zen.s Das sich daraus entwickelnde Solidaritätsgefühl begann die re­

heit vor dem Gesetz wurde eingeführt, außerdem individuelle Rechte

ligiösen und ethnischen Schranken zu durchbrechen. Der britische

und Freiheiten wie die Pressefreiheit. Nicht nur eine Demokratisie­

Botschafter im Iran berichtete entrüstet über die Anjomans und ((den

rung, sondern auch die nationale Unabhängigkeit war das Ziel der

Geist des Widerstandes gegen Unterdrückung und selbst gegen jede

Konstitutionellen Revolution. Darum machte das Parlament der Kon­

Autorität im ganzen Land».6 Seine Empörung, die auch von den ge­

zessionsvergabe an fremde Mächte und der Kreditaufnahme im Aus­

mäßigten Kräften innerhalb der Revolution geteilt wurde, bezog sich

land ein Ende. Um eine größere finanzielle Unabhängigkeit des Landes

insbesondere darauf: dass die Anjomans eine radikal neue und demo­

zu erreichen, sollte eine eigene Nationalbank gegründet werden.3

kratische Organisationsform verkörperten, in der die normale Bevöl­

Die neuen Freiheiten der Konstitutionellen Revolution ließen im

kerung ihre Macht bündeln konnte.

ganzen Land Zeitungen, Zeitschriften und Organisationen aufblü­

Wie grundlegend die Konstitutionelle Revolution die traditionel­

hen. Nicht nur politische Analyse und Satire erlebten einen Höhen-

len Verhältnisse auf den Kopf stellte, zeigt auch die emanzipatorische

3· Die Konstitutionelle Revolution

Der Kampf um die Verfassung

Wirkung auf Frauen. Die ersten Organisationen und Publikationen

ten vertraten die Qadscharen und waren folglich gegen die politi­

50

51

von Frauen im Iran stammen aus dieser Periode. «Die persischen

schen Reformen. Die Gemäßigten, die die Mehrheit bildeten, vertra­

Frauen waren seit

1907 fast sprungartig die fortschrittlichsten, um

ten einen Teil der Ulama, die Händler und die Zünfte, während in der

nicht zu sagen radikalsten der Welt geworden. Dass diese Behauptung

Gruppierung der Liberalen vor allem Intellektuelle vertreten waren.

den ewigen Weisheiten widerspricht, hat nichts zu besagen. Es ist eine

Gemäßigte und Liberale arbeiteten nach dem Vorbild der belgiseben

Tatsache)), schrieb ein amerikanischer Augenzeuge. Er schilderte, wie

Verfassung ein Dokument aus, das die Bedeutung des Parlaments

die verschleierten Frauen, die «von einem Tag auf den anderen Leh­

festlegte. Am

rerinnen, Journalistinnen, Gründerinnen von Frauenorganisationen

nete Mozaffar al-Din Schah dieses Dokument auf dem Sterbebett.

und Rednerinnen über politische Themen geworden waren», das

Sein Sohn Mohammed Ali Schah, dessen Regierungsstil autoritärer

erreichten, wofür die Frauenbewegung im Westen Jahrzehnte ge­

war, begann den Demokratisierungsprozess jedoch bald zu hinter­

braucht hatte.7 Die Revolution gab Frauen das Selbstvertrauen, für

treiben.

ihre Rechte einzutreten und sogar die herrschenden Tabus in Bezug

30. Dezember 1906, kurz vor seinem Tod, unterzeich­

Zum unvermeidlichen Konflikt kam es, als das Parlament

1907 ein

auf den Schleier oder die Polygamie zur Diskussion zu stellen. Ihr

zweites Dokument vorlegte, das neben einer Garantie individueller

Kampf brachte sie in Konflikt mit den Ulama und den Theologiestu­

Rechte und Gleichheit vor dem Gesetz die Macht des Parlaments ge­

denten, die sich gegen Bildungsmöglichkeiten für Frauen wandten.

genüber der Regierung stärkte. Die Souveränität des Schahs wurde

Die Frauenzeitschrift

nicht auf Gott, sondern auf das Volk zurückgeführt. Das Grundge­

Musdwit

(Gleichheit) druckte zum Beispiel

einen offenen Brief an Theologiestudenten ab, unterzeichnet von

setz berücksichtigte auch den islamischen Charakter des Iran, indem

«Anhängerinnen der Bildung für die unterdrückten Frauen im Iram:

es einen «Hohen Rat» von Mudschtahids vorsah, der die beschlos­ senen Gesetze auf Vereinbarkeit mit der Scharia - den islamischen

Sind wir, die unterdrückten Frauen im Iran, nicht Menschen wie ihr? Sind wir

Rechtsgrundsätzen

nicht Bundesgenossen und Mitstreiter im Kampf für die Menschenrechte?

vom Parlament gewählt werden. Mohammed Ali Schah weigerte

Seht ihr uns nur als stimmlose Lasttiere oder betrachtet ihr uns als Menschen? Wir appellieren an euer Gerechtigkeitsgefüh L Wann werden v.rir nicht länger ausgeschlossen von dem Gebot: «Das Streben nach Wissen ist eine Pflicht für jeden Muslim, ob Mann oder Frau?»8

überprüfen durfte. Die Mudschtahids sollten

sich, das zweite Dokument zu unterzeichnen, und forderte ein Sys­ tem, das seine Legitimität aus den islamischen Rechtsgrundsätzen ableitete und in dem seine Regierung viel größeres Gewicht als das Parlament haben sollte. Unterstützung erhielt er von den konserva­

In dieser gesellschaftlichen Aufbruchsstimmung trat im Oktober 1906

tiven Ulama, die befürchteten, dass die politischen Reformen zu weit

das Parlament zu seinen konstituierenden Sitzung zusammen. Bei

gehen würden. Doch als er begann, die Madschles zu behindern, re­

den Wahlen zum Parlament besaßen Frauen, wie auch in vielen euro­

agierte die Bevölkerung in mehreren Städten mit M assenprotesten

päischen Ländern, kein Stimmrecht, und auch einige Berufe mit nied­

und Streiks. In Teheran fand eine Kundgebung mit

50 ooo Teilneh­

rigem Sozialstatus waren von der Wahlteilnahme ausgeschlossen.

mern statt, darunter

Deshalb bestanden die Abgeordneten vor allem aus Handwerkern,

Anjoman der Azeris, in dem die Sozialisten großen Einfluss hatten.

Ulama, Händlern und einer kleinen Zahl von Intellektuellen und

Der Schah musste einlenken; die Konstitutionelle Revolution war

Mitgliedern der königlichen Familie. Im Parlament bildeten sich drei

einstweilen gerettet, doch die Gegenkräfte formierten sich neu, und

Fraktionen: Monarchisten, Gemäßigte und Liberale. Die Monarchis-

die Gegensätze innerhalb der Bewegung nahmen stark zu.

3000 bewaffuete Freiwillige, vor allem aus dem

3· Die Konstitutionelle Revolution

52

Vom Bürgerkrieg zur Restauration Als die liberalen Parlamentarier das Wahlrecht ausweiten und für re­ ligiöse Minderheiten das Recht auf eine eigene Vertretung einführen wollten, kam der Gegensatz zur Fraktion der Gemäßigten an die

53

Vom Bürgerkrieg zur Restauration

Es ist kennzeichnend für diese Bewegung, dass das Parlament und die Mo­ schee, Seite an Seite, ihren Mittelpunkt bilden. In und um diese beiden Gebäude versammelte sich eine so große Menschenmenge wie noch nie für den uralten Kampf gegen die M ächte der Tyrannei und Finsternis. Ver­ westlichte junge Männer mit weißen Kragen, Mullahs mit weißen Turbanen, Seyyids [Nachfahren des Propheten] mit den grünen und blauen Insignien

Oberfläche. Außerhalb des Parlaments führten die radikalen, sozialis­

ihrer Abstammung, die kulah-namadis (Filzkappen tragende Bauern und Ar­

tisch orientierten Kräfte eine Kampagne für säkulare Reformen, um

beiter), die braunen Abayas (Umhänge) der einfachen Händler. In den lierzen

die Macht der Ulama zurückzudrängen und die sozialen Missstände

aller brannte das heilige Feuer des Kampfes für die Freiheit.9

in Angriff zu nehmen. Die Konstitutionalisten spalteten sich nicht nur auf, ihre Popularität wurde auch stark erschüttert, als hohe Le­

Dieser massenhafte Widerstand wehrte den Putschversuch ab, jedoch

bensmittelpreise und wirtschaftliche Stagnation die Lage der unteren

nur für kurze Zeit. Aufgrund mehrerer Faktoren gelang es dem Schah,

sozialen Schichten verschlechterten. Die reaktionären Kräfte, die die

die reaktionären Kräfte neu zu formieren und zu stärken. Russland

autoritäre Monarchie wiederherstellen wollten, profitierten davon

und Großbritannien teilten den Iran in einen nördlichen (russischen)

und begannen einen Teil der Bevölkerung zu mobilisieren.

und südlichen (britischen) Einflussbereich auf und steigerten ihre Ak­

Sie erhielten massiven Beistand von dem erzkonservativen Scheich

tivitäten gegen die Konstitutionelle Revolution. Außerdem erhielt

Fazlollah Nuri, einem der höchsten geistlichen Würdenträger, der die

der Schah von einem ausländischen Magnaten ro ooo Pfund Sterling,

Konstitutionelle Revolution zuvor unterstützt, jedoch Angst vor den

um Stammesführer zu bestechen und gegen die Konstitutionalisten

radikalen sozialen Veränderungen bekommen hatte. Die Trennlinie

zu bewaffuen.10 Im Juni rgo8 fühlte er sich stark genug, um mehrere

zwischen Anhängern und Gegnern der Revolution verlief ansonsten

Revolutionsführer zu verhaften, das Parlament zu beschießen und so

nicht zwischen Religiösen und Säkularen. Zwei andere hohe Geistli­

die alte Ordnung wiederherzustellen. Daraufhin kam es zu einem

che, mit denen Nuri zusammengearbeitet hatte, standen weiter auf

Bürgerkrieg, der das Land bis Juli r909 im Griff hatte .

der Seite der Konstitutionalisten. Auch die Bevölkerung entschied

Die Beschießung des Parlaments und die Eroberung Teherans

sich nicht einfach für die Seite von Scheich Fazlollah Nuri, weil er ein

durch Truppen des Schahs und seiner Verbündeten lösten einen Sturm

hoher Geistlicher war. Das zeigte sich, als er im Dezember r907 eine

der Entrüstung aus. Drei der fünf bedeutendsten schiitischen Wür­

Massendemonstration von Geistlichen, Theologiestudenten, B auern

denträger wandten sich gegen den Schah und bekundeten ihre Un­

und den Allerärmsten in der Stadt gegen das Parlament anführte,

terstützung des Parlaments: «Allah hat Tyrannen verflucht. Für den

unterstützt vom Schah, der von einem Staatsstreich träumte. Aufs

Augenblick haben Sie gewonnen, aber nicht auf Dauer.>>u Die Ret­

Neue gingen große Gruppen der Bevölkerung auf die Straße, um die

tung für die Revolution kam tatsächlich schon bald, nicht von oben,

Revolution zu verteidigen. Hunderttausende, darunter mehrere tau­

sondern aus Täbris im Nordwesten und Isfahan im Süden.

send bewaffuete Freiwillige, versammelten sich vor dem Parlament in

Die Stadt Täbris erfreute sich einer wirtschaftlichen Entwicklung

im

Teheran. Ein britischer Augenzeuge berichtet, wie er diese Szene

auf relativ hohem Niveau und spielte eine wichtige Rolle

inter­

erlebte:

nationalen Handel. Nicht zuletzt, weil mehrere zehntausend Iraner gleich hinter der Grenze im Russischen Reich arbeiteten, war die Stadt eine Brutstätte für revolutionäre und sozialistische Ideen. Die

54

3- Die Konstitutionelfe Revolution

Vom Bürgerkrieg zur Restauration

55

Bewohner von Täbris unter Sattar Chan lieferten den Truppen des

Recht auf einen garantierten Sitz im Parlament. Einige wichtige Geg­

Schahs und der Stämme, die die Stadt umzingelt hatten, einen hef­

ner der Revolution wurden vor Gericht gestellt und zum Tode ver­

tigen Kampf.

urteilt. Insbesondere die Hinrichtung des Geistlichen Scheich Fazlol­

Der Bürgerkrieg hatte eine radikalisierende Wirkung auf die kons­

lah Nuri, die große Teile der Bevölkerung guthießen, war auffallig in

titutionelle Bewegung. Manche Teilnehmer sahen den Bürgerkrieg

einem Land, in dem die Macht der Ulama angeblich unangreifbar

immer mehr als einen Klassenkampf zwischen den einfachen Händ­

war. Im November 1909 konstituierte sich das zweite Parlament, doch

lern, Handwerkern, Bauern und Arbeitern auf der einen und den

die Anjomans, die im Widerstand die Hauptrolle gespielt hatten,

reichen Händlern und Großgrundbesitzern, darunter vielen Geist­

wurden als Zugeständnis an die alten Machthaber und ihre ausländi­

lichen, auf der anderen Seite. Die

schen Beschützer kaltgestellt.

1904 in Baku gegründete Sozial­

demokratische Partei des Iran gewann in raschem Tempo massenhaft

Die alte Zerrissenheit innerhalb der Madschles kehrte zurück,

Anhänger. Dieser radikale Teil der Bewegung strebte nicht nur nach

noch dazu in einem höheren Maß. Die Sozial-Gemäßigte Partei, die

politischer, sondern auch nach wirtschaftlicher Demokratisierung,

die Unterstützung der Großgrundbesitzer und der Ulama genoss,

die soziale Gerechti gkeit und Gleichheit garantieren sollte. u

war zu Kompromissen mit der alten Ordnung bereit und geriet des­

Auch Frauen nahmen aktiv am Bürgerkrieg teil, und es gab interna­ tionale Bekundungen von Solidarität. Verschleierte Frauen kämpften

halb in Konflikt mit der Demokratischen Partei, die wiederum mehr politische und soziale Reformen forderte.

Seite an Seite mit den Männern auf den Barrikaden, ebenso Dutzende

Das bedeutendste Hindernis für die Demokratie kam jedoch aus

Freiwillige aus Geergien und Armenien. Der internationalistische

dem Ausland. Das Parlament hatte im Mai 19n den Amerikaner Mor­

Charakter der Revolution zeigte sich auch in dem tragischen Schick­

gan Shuster mit der Sanierung der Staatsfinanzen beauftragt. Russ­

sal des jungen Amerikaners Howard Conklin Baskerville. Er war als

land, das der Ansicht war, der Iran benötige dazu seine Zustimmung,

christlicher Missionar nach Täbris gegangen, gab diese Position jedoch

benutzte dies als Vorwand für eine Invasion. Großbritannien wiede­

auf, um an der Seite der Revolutionäre zu kämpfen. Beim Versuch,

rum stationierte mit größerem Eifer denn je Truppen im Süden des

mit einer von ihm angeführten Gruppe von Studenten die Umzinge­

Landes; nur wenige Jahre zuvor

lung der Stadt zu durchbrechen, wurde er erschossen. '3

etwas entdeckt, was viel wertvoller war als alle wirtschaftlichen Mo­

Im April

1909 eroberten russische Truppen Täbris und entwaffue­

ten die Bewohner, doch deren Kampf hatte inzwischen mehrere Pro­

(1908) hatte der Brite D' Arcy dort

nopole, die der Iran Großbritannien bis dahin eingeräumt hatte: Erdöl.

vinzen zu Aufständen ermutigt. Aufständische aus dem Norden und

In den großen Städten kam es zu Massendemonstrationen unter

Süden des Landes zogen nach Teheran und eroberten die Stadt imJuli

der Losung «Unabhängigkeit oder Tod;;, doch die zögerlichen Par­

1909 im Kampf gegen die Truppen des Schahs zurück. Der Bürger­

lamentarier fügten sich den Forderungen der Großmächte . Tausende

krieg war endlich vorbei. Mohammed Ali Schah wurde zur Abdan­

von ausländischen Soldaten besetzten das Land, das Parlament funk­

kung gezwungen und sein zwölfjähriger Sohn Ahmad, der einige

tionierte kaum noch, die Anführer der Konstitutionellen Revolution

Monate später nach Russland ging, wurde zum neuen Herrscher aus­

flohen, und der Iran glitt langsam in ein Chaos. In den Provinzen

gerufen. Die Revolution hatte erfolgreich eine konstitutionelle Mo­

sorgten die Stämme für Unruhe und erhielten dabei Unterstützung

narchie zustande gebracht. Das Wahlrecht wurde auf die unteren

von Großbritannien und Russland, die den Ersten Weltkrieg zum An­

Schichten ausgedehnt, und die religiösen Minderheiten erhielten das

lass nahmen, ihre Präsenz im Iran zu verstärken . Es wurde nun deut-

56

3· Die Konstitutionelle Revolution

lieh, dass sich die Großmächte angesichts der strategischen Lage und der großen Ölvorkommen nicht ohne weiteres zurückziehen wür­ den. Dazu ließe sich noch einiges sagen, doch das letzte Wor t soll

4. Autoritä re Modern isierung zwischen den Revol utionen (1909-1979)

Morgan Shuster haben: Die Fähigkeit der Perser, sich selbst zu regieren, wurde scheinheilig von Krei­ sen in Abrede gestellt, die etwas bestreiten, ohne sich vorher sachkundig zu machen. Dass sich die Perser in der praktischen Politik und in der Hand­ habung einer repräsentativen konstitutionellen Regierung ungeschickt an­ stellten, lässt sich nicht bestreiten; aber dass sie das volle Recht hatten, sich

In der Zeit zwischen der Konstitutionellen Revolution und der Revo­ lution von

I979 erlebte der Iran drei tiefgreifende politische Wandlun­

gen. In den zwanziger Jahren hatte ein Kosakenoffizier, Reza Chan,

entsprechend ihren eigenen Gebräuchen, ihrem Naturell, ihren Eigenschaf

mit britischer Unterstützung das Chaos beendet, das nach der Nieder­

ten und Neigungen zu entwickeln, ist ebenso offenkundig. Fünf Jahre sind

lage der Konstitutionellen Revolution im Iran herrschte . Reza Chan

nichts im Leben einer Nation; es ist nicht einmal eine lange Zeit für eine ein­

bestieg den Pfauenthron und gründete die Dynastie der Pahlavi. In

zelne Reform; und dennoch verkünden nach nur fünfJahren, in denen es dem persischen Volk trotz aller Schwierigkeiten und Obstruktionen durch die sogenannten befreundeten Mächte gelang, die Versuche eines Diktators ab­ zuwehren, der ihnen die hart erkämpften Freiheiten entreißen wollte, zwei

den vierziger Jahren fand eine Wachablösung statt: Großbritannien zwang Reza Schah, abzudanken, und sein junger Sohn Mohammed Reza trat die Nachfolge an.

europäische Nationen [Großbritannien und Russland] der ganzen Welt, dass

Das wichtigste Merkmal der Pahlavi-Ära war der autokratische

diese Menschen ungeeignet, rückständig und unfahig seien, eine stabile und

Stil, mit dem Vater und Sohn das Land regierten und die Wirtschaft

wohlgeordnete Regierungsform zu schaffen. Wenn sie die Fakten über Per­

modernisierten. Mit ihrer Politik schadeten sie sich jedoch selbst, da

siens Niedergang zur Kenntnis nehmen, fallt es sogar den größten Skeptikern

sie die gesellschaftliche Basis ihrer M acht unterhöhlten. Reza Schah

wie Schuppen von den Augen, und es wird deutlich, dass dieses Land ein hilf­ loses Opfer des infamen Spiels mit gezinkten Karten war, das ein paar euro­ päische Mächte mit dem Geschick jahrhundertelanger Übung noch immer

brachte die Nomadenstämme, die zu Beginn des zwanzigsten Jahr­ hunderts noch eine große Rolle spielten, unter die Kontrolle der

spielen, mit den schwächeren Ländern als Einsatz und mit den Leben, der

zentralen Staatsgewalt, indem er ihre Wanderungen einschränkte, sie

Würde und dem Fortschritt ganzer V ölker als Pfand.•4

entwaffnete, ihre Führer sabotierte und interne Konflikte schürte. Hintergrund seines Handeins war das Ziel, einen modernen Staat mit

einem Volk, einer Kultur und einer Sprache zu schaffen. In der Vergan­ genheit waren Stammesführer und ihre Truppen zwar eine poten­ zielle Gefahr für die Zentralmacht gewesen, doch die Schahs hatten sich ihrer auch jederzeit bedienen können, wenn ihre eigene Position gefahrdet war. Reza Schahs Modernisierungsprojekt hatte zur Folge, dass sein Sohn nach dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr auf die Macht der Stammesführer zurüc kgreifen konnte. Unter Mohammed Reza verschwand ein weiterer Stützpfeiler der Monarchie: die Macht der Großgrundbesitzer. Der Schah verwen­ dete die gestiegenen Öleinnahmen, um das Land zu industrialisieren,

58

4. Autoritäre Modernisierung zwischen

den Revolutionen

und änderte die politische Struktur, in der die Grundbesitzer früher viel zu sagen hatten. Unter den Pahlavi wuchs die Macht des Staates,

Reza Schah: der Mann der Ordnung

59

Reza Schah: der Mann der Ordnung

er entfernte sich jedoch zugleich von der Gesellschaft. Die Moderni­

Die Fronten, an denen der Erste Weltkrieg ausgetragen wurde, be­

sierung der Wirtschaft brachte außerdem neue soziale Kräfte hervor,

fanden sich in großem Abstand vom Iran, der vom Beginn des Krieges

die nicht mehr zu der alten Ordnung passten.

an seine Neutralität erklärt hatte. Das konnte jedoch nicht verhin­

Die zweite Wandlung erfolgte innerhalb der Opposition gegen die

dern, dass vier Mächte das Land zu einem Schlachtfeld machten. 1914

Pahlavi und die sie unterstützenden ausländischen Mächte. Bis in die

marschierten die Armeen des Osmanischen Reichs in die Provinz

fünfziger Jahre bildeten zwei säkulare Bewegungen, Nationalismus

Aserbaidschan ein. Ihre deutschen Bündnispartner bewaffueten einige

und Kommunismus, wie in der gesamten Region die wichtigsten Ge­

Stämme im Süden des Iran und organisierten einen Aufstand gegen

genkräfte in der Gesellschaft. Viele politische Parteien, Zeitungen

die britischen Truppen, die dort aktiv waren. Russland, ein Bündnis­

und gesellschaftliche Organisationen wie etwa die Gewerkschaften

partner Großbritanniens, stationierte Truppen im N orden.1

standen unter dem Einfluss dieser Strömungen. Seit den sechzigerJah­

Bis zu der Zeit, als diese Mächte den Iran wieder (teilweise) ver­

ren begannen die Islamisten unter der Führung des charismatischen

ließen, hatten sie eine immense Verwüstung angerichtet. Viele Iraner

Geistlichen Ayatollah Chomeini die Rolle der Opposition zu über­

gelangten zu der Schlussfolgerung, dass ein unabhängiger und star­

nehmen. Die Wende hatte sich 1953 angebahnt, als der demokratisch

ker Iran nicht nur ein Ideal war, sondern auch zum Überleben not­

gewählte Premierminister Mossadegh durch einen von den USA und

wendig. Da die Zentralregierung geschwächt war, blühten überall

G roßbritannien initiierten Putsch gestürzt wurde. Die nationalisti­

im Land für kurze Zeit wieder revolutionäre und demokratische Be­

schen und kommunistischen Bewegungen, die ihn unterstützt hat­

wegungen auf, die nicht zuletzt von den Ereignissen in Russland

ten, wurden verfolgt und verloren ihre Kraft und ihren Elan. Die Folge

inspiriert waren. Dort hatten die Bolschewiki eine sozialistische Re­

war ein politisches Vakuum in der Gesellschaft. Bekanntermaßen dul­

volution gegen den Zaren angeführt und eine Rätedemokratie er­

det die Politik ein Vakuum ebenso wenig wie die Natur. Den Raum,

richtet. Als Zeichen ihres Internationalismus zog die neue Regierung

den die säkularen Kräfte hinterließen, nahmen die Islamisten ein. Die dritte Wandlung vollzog sich auf internationaler Ebene. Bis zum Zweiten Weltkrieg war Großbritannien der größte Akteur auf

die russischen Truppen vom iranischem Territorium ab und machte alle Geheimabkommen zwischen dem Zaren und Großbritannien über den Iran öffentlich.

der Weltbühne, der seine Macht auch im Nahen und Mittleren Osten

Der Abzug der Besatzer im Norden schuf Raum für die sozialen

geltend machte. Nach dem Krieg änderte sich das politische Kräfte­

Bewegungen, die stark nach links tendierten. In der kaspischen Re­

verhältnis; Sowjetunion und USA standen sich als Supermächte ge­

gion führte Mirza Kutschek Chan, ein Mullah, der Guerillero gewor­

genüber und teilten die Welt in den westlichen und östlichen Einfluss­

den war, die Bewegung der Dschangali (Männer aus dem Dschungel)

bereich auf. Der Iran blieb nicht nur in der westlichen Hälfte, als die

an, die vom Islam inspiriert eine demokratische und egalitäre Gesell­

USA den Platz ihres Bündnispartners Großbritannien übernahmen,

schaft anstrebten. 1920 gründeten einige sozialistische Veteranen der

unter Mohammed Reza Schah entwickelte sich das Land sogar zu

Konstitutionellen Revolution die Kommunistische Partei des Iran. 2

einem wichtigen Stützpfeiler.

Für kurze Zeit entstand sogar eine Sozialistische Sowjetrepublik im Norden des Iran.J Die ersten Gewerkschaften wurden gegründet, und in der Provinz Aserbaidschan ließ die Demokratische Partei den

60

4· Autoritäre Modemisierung zwischen den

Revolutionen

Reza Schah: der Mann der Ordnung

61

Traum von der Konstitutionellen Revolution wieder aufleben. «Es

dem er sogar seinen Beamten Angst einjagte. «.ll

65

Dollar an ihre CIA-Agenten zur Ausführung der Operation Ajax. Mit

im

März 1951 Premierminister wurde, begriffen

diesem Geld wurden Verbündete von Mossadegh im Parlament, in

seine Gegner, dass es ernst war. In Großbritannien und in den USA

der Armee und in der Bürokratie bestochen. Der fundamentalistische

entbrannte eine wahre Propagandaschlacht; die Medien bezeichne­

Ayatollah Kaschani erhielt Geld, um seine Unterstützung Mossa­

ten Mossadegh als wutschäumenden «Extremisten» oder einfach als

deghs aufzugeben und zu Demonstrationen gegen die Regierung

«Irrem. Britische Politiker und ihre iranischen Verbündeten verbrei­

aufzurufen. Die berüchtigten Schläger von Teheran wurden dafür be­

Als Mossadegh

teten das Gerücht, er wolle den Schah absetzen, um den Iran der

zahlt, ihre Banden zusammenzutrommeln und mit Krawallen Chaos

Sowjetunion auszuliefern. Die amerikanische Regierung, die keine

anzurichten, damit die Armee einen Vorwand zum Einschreiten

unmittelbaren Interessen am iranischen Öl hatte und von der brö­

hatte. Schließlich wurden Dutzende Journalisten bestochen, damit

ckelnden Position Großbritanniens zu profitieren hoffte, schlug an­

sie Mossadegh als Spion der Sowjetunion anschwärzten.

fangs einen vorsichtigen Kurs gegenüber Mossadegh ein, fügte sich

Am r6. August 1953 schlugen die Putschisten zu, doch ihre Pläne

jedoch 1953 der harten Linie Großbritanniens, die Regierung Mos­

waren dank Mitgliedern der Tudeh-Partei in der Armee nach außen

sadegh durch einen Putsch zu stürzen. Dass in jenem Jahr der Re­

gesickert. Am folgenden Tag organisierte die Tudeh Massendemons­

publikaner Eisenhower den Demokraten Truman im Amt des Prä­

trationen, um die demokratische Regierung zu unterstützen. Die

sidenten ablöste, spielte dabei eine nicht unwesentliche Rolle.

CIA ersann jedoch eine List, um den Gang der Dinge zu ihrem Vorteil urnzusteuern. CIA-Informanten erhielten den Auftrag, sich unter die

Der Staatsstreich gegen Mossadegh

Demonstranten zu mischen, Läden und Moscheen anzugreifen und so einen Keil zwischen Mossadegh und die Tudeh zu treiben, die sich

Zwischen April 1951 und August 1953 geriet Mossadegh immer wie­

ohnehin schon misstrauten. Außerdem überzeugte der amerikani­

der in Konflikt mit monarchistischen Politikern und Offizieren, die

sche Botschafter Mossadegh davon, dass Ausländer bedroht würden,

von Großbritannien unterstützt wurden. Er konnte sich jedoch -

und forderte ein Ende der Proteste. Mossadegh hegte großes Miss­

dank des Rückhalts

im

Volk

behaupten. Als er zum Beispiel 1952

trauen gegenüber Großbritannien, kam jedoch nicht auf den Gedan­

vom Schah derart sabotiert wurde, dass er zurücktreten musste, bra­

ken, dass sich die USA imperialistischer Praktiken schuldig machen

chen im ganzen Land spontane Proteste aus, und die Nationale Front

würden. Er glaubte dem Botschafter aufs Wort und rief die Demons­

und die Tudeh-Partei riefen zu einem Generalstreik und zu Demons­

tranten dazu auf, nach Hause zu gehen; die Polizei erhielt den Auf­

trationen auf. Der Schah machte einen Rückzieher und beauftragte

trag, für Ruhe und Ordnung zu sorgen. Dieser verhängnisvolle Schach­

Mossadegh mit der Bildung einer neuen Regierung.

zug führte zu Verwirrung bei Mossadeghs Anhängern und gab den

Von diesen Entwicklungen alarmiert, begannen einige Offiziere,

Putschisten die Gelegenheit, sich zu reorganisieren und einen neuen

Am 19. August 1953 griffen mehrere Panzer Mossa­

mit Hilfe der britischen Geheimdienste und der CIA unter dem Code­

Versuch zu wagen.

namen «Operation Ajax» einen Putsch vorzubereiten. '2 Ein iranischer

deghs Haus an, doch diesmal blieb es auf der Straße ruhig - der Staats-

66

67

Die Ruhe vor dem Sturm

4· Autoritäre Modernisierung zwischen den Revolutionen

streich gelang. Der Schah kehrte zurück, Nationale Front und Tudeh­

Iran «Tod Amerika)) gerufen wurde.

Partei wurden verboten. Zwei Minister wurden exekutiert. Mossadegh

CIA für das Phänomen benutzt, dass Geheimoperationen in anderen

und einige andere hohe Politiker wurden zu Gefangnisstrafen verur­

Ländern wie ein Bumerang zurückkehren können, ist der Schlüssel

teilt. Die härtesten Maßnahmen trafenjedoch die Aktivisten der Tu­

zu einer Antwort auf diese Frage. '3

Blowback,

der Begriff, den der

deh-Partei. Mehr als 3000 Mitglieder wurden verhaftet, 200 erhielten lebenslängliche Gefängnisstrafen, und Dutzende wurden exekutiert. Unweigerlich stellt sich die Frage: Wie konnte der Putsch trotz

Die Ruhe vor dem Sturm

Mossadeghs großer Popularität gelingen? Der Ölboykott der west­

«

gewerbe und im modernen Diensdeistungssektor begann zudem einen starken Gegenpol zur Wirtschaftselite zu bilden. Die Tatsache,

Der Schah wollte sich an den großen Perserkönigen des Altertums

dass relativ mehr Arbeiter in Großbetrieben arbeiteten und besser

messen und behauptete, die «Große Zivilisation» zu errichten; zwi­

ausgebildet waren, äußerte sich in einem gesteigerten Selbstbewusst­

schen seiner Rhetorik und den Erfahrungen der einfachen Iraner

sein, das zur Forderung nach besseren Arbeitsbedingungen führte.

klaffte jedoch ein Abgrund. Der Iran des Schahs war ein Land immen­

Eine seit jeher wichtige Gruppe, die von der Modernisierung der

ser Gegensätze. Gleich neben modernen Industriezentren lagen Dör­

Wirtschaft hart getroffen wurde, war die traditionelle Mittelschicht.

fer, die weder Wasser noch Elektrizität hatten. In den Städten konnte

Vor allem der Basar, ein wirtschaftliches Netzwerk von Händlern,

zumindest ein Teil der Bevölkerung eine Universität besuchen, die

Handwerkern und Geschäftsinhabern, bekam den Druck zu spüren.

Entwicklung in der Welt verfolgen und sogar ins Ausland reisen und

Ein Bazari äußerte gegenüber einem amerikanischen Journalisten:

74

s. Die unerwartete Revolution

75

Die «Große Zivilisation»

«Wenn wir den Schah gewähren lassen, wird er uns vernichten. Die

Zu einem bedeutenden Teil ging dieses Wachstum auf das Konto

Banken übernehmen alles. Große Geschäfte nehmen uns die Exis­

der städtischen Armen, die Chomeini die mostazafan (die Unterdrück­

tenzgrundlage weg. Und die Regierung will den Basar planieren, um

ten oder Entrechteten) nannte. Sie strandeten in den sich ausdeh­

Raum für Bürogebäude zu schaffen.>>4 Der Basar hatte und hat nicht

nenden Elendsvierteln und mussten versuchen, ihr Brot als Tage­

nur eine wirtschaftliche, sondern auch eine soziale und religiöse

löhner oder Straßenverkäufer zu verdienen, und oft wurden sie wie

Funktion, sodass die Unzufriedenheit, die dort aufkam , sich schnell

Abschaum behandelt. Die gebildete und westlich orientierte Mittel­

und weit verbreitete.5 In jedem Basar stehen eine oder mehrere

schicht in den Städten sah die Zugezogenen als Dörfler

Moscheen, die von den Bazaris finanziert werden. Die Ulama, die da­

kennbar an ihrem Akzent und ihrer religiösen, traditionellen Lebens­

mals fast

weise. Die ländlichen Zuwanderer fühlten sich in der Stadt entwur­

90 ooo Mitglieder zählten und ebenfalls ihre traditionellen

(dehati),

er­

Werte und Normen bedroht sahen, hatten seit jeher enge (Familien-)

zelt und fanden Halt in ihrem Glauben und den sozialen Netzen rund

Bande mit den Bazaris und waren über Tausende Moscheen und re­

um die Moscheen. Die sozialen Gegensätze bekamen damit auch

ligiöse Einrichtungen bis tief in die Kapillaren der Gesellschaft vor­

eine kulturelle und religiöse Dimension.

gedrungen .

Durch den Ausbau des Bildungssystems wuchs die neue Mittel­

Die sogenannte «Weiße Revolution)) des Schahs hatte gravierende

schicht. Zwischen

1963 und 1977 stieg die Zahl der Hochschulstuden­

Folgen für die ländlichen Regionen, wo die Lebensbedingungen der

ten von

Bevölkerung nicht anders waren als ein Jahrhundert zuvor. Das wich­

Führungsebene der Armee und der Bürokratie aufgenommen wurde,

tigste Element der ((Weißen Revolution)) war die Bodenreform, mit

hatten die meisten Absolventen große Schwierigkeiten, Arbeit zu

der der Schah die Macht der alten Großgrundbesitzer schwächen und

finden, und endeten nicht selten als Taxifahrer.

24 885 auf 154 215/ Während ein kleiner Teil davon in die

mehr Rückhalt bei den Bauern gewinnen wollte. Er war erfolgreich

Das Modernisierungsprojekt des Schahs unterhöhlte nicht nur die

beim ersten Teil dieses Vorhabens, scheiterte jedoch beim zweiten

alten Gesellschaftsstrukturen, sondern auch die politische Legitimi­

Teil, sodass die alte Basis seiner Macht schwand, ohne dass eine neue

tät seiner Regierung. Er schaffte es, fast die gesamte Gesellschaft -

hinzukam.

sieht man einmal von der allerhöchsten Führungsebene ab -, dem

Mehr als eineinhalb Millionen Familien erhielten ein kleines Stück

politischen System zu entfremden. Seine Macht basierte nicht auf

Land. Das bedeutete freilich, dass eine von drei Familien leer ausging.

Rückhalt im Volk, sondern auf den Streitkräften, dem Geheimdienst

Für die, die ein Stück Land bekommen hatten, reichte die Größe des

SAVAK, der Bürokratie und den Politikern, die sich von ihm gängeln

Besitzes nur in einem von vier Fällen aus, um einen eigenen Betrieb

ließen. Zwischen

zu gründen. Der Rest musste sein Grundstück an große Agrarbe­

rigen von

triebe verkaufen. Wie in der Stadt begannen moderne kapitalistische

in diesem Zeitraum um den Faktor 25 zu. 8 über ein weit gespanntes

Unternehmen auch auf dem Land die traditionelle Wirtschaft zu er­

Informantennetz hatte der SAVAK eine große Dosis Misstrauen in

setzen. Die bedeutendste Folge war, dass das Problem der Armut und

die Gesellschaft gestreut. Kaum jemand wagte es, seine Meinung zu

Arbeitslosigkeit nicht gelöst wurde und viele Bauern in die großen

äußern, da der Taxifahrer, der Arzt, der Lehrer, im Grunde j eder auf

Städte abwanderten. Die Urbanisierung erfolgte in rasantem Tempo.

der Gehaltsliste des Geheimdienstes stehen konnte. Die Erzählungen

Von 1966 bis

über die grausamen Foltermethoden des SAVAK schürten zudem die

1977 stieg die Einwohnerzahl Te herans von zweieinhalb

auf viereinhalb Millionen. 6

1963 und 1977 wuchs die Zahl der Militärangehö­

20 ooo auf 410 ooo Mann, und der Verteidigungsetat nahm

Angst, irgendein Risiko einzugehen.

76

s. Die unerwartete

Die Opposition

Revolution

Die Kluft zwischen diesem archaischen System politischer Ver­

77

Die Opposition

flechtungen und einer sich modernisierenden Gesellschaft wurde in den siebziger Jahren nur noch größer. Während der Schah ein Jahr­

G egen Ende der siebziger Jahre bahnte sich die Unzufriedenheit mit

zehnt zuvor noch zwei Parteien gegründet hatte, damit bei den Parla­

den sozialen und politischen Verhältnissen, die sich unter der Ober­

mentswahlen der Schein einer Alternative gewahrt blieb, löste er die

fläche aufgebaut hatte, einen Weg. Wie sich dieser Unmut manifes­

Parteien 1975 auf und schuf die Partei der Wiederauferstehung. Auf

tierte, welche Strategien er wählte und welche Alternativen er an­

kritische Journalistenfragen antwortete er: ((Gedankenfreiheit! Ge­

strebte, wurde durch die politischen und intellektuellen Strömungen

dankenfreiheit! Demokratie, Demokratie ! Fünfjährige, die streiken

bestimmt, die am Vorabend der Revolution die Opposition bildeten.

und auf die Straße gehen! . . . Demokratie? Freiheit? Was bedeuten

Die wichtigsten waren:

diese Wörter? Ich will nichts damit zu tun habenß Die Legitimität des Schahs litt vor allem unter seinem innigen Ver­

Die politischen Organisationen. Die kommunistische Tudeh-Partei war

hältnis zu den USA, die seine Diktatur unterstützten. Aufgrund der

in den siebziger Jahren nur noch ein S chatten ihrer Vergangenheit.

strategischen Lage war der Iran neben Israel zum wichtigsten Stütz­

Die Unterdrückung durch den Schah hatte sie stark geschwächt, und

pfeiler der amerikanischen Dominanz im Nahen und Mittleren Osten

wegen ihrer Loyalität mit dem stalinistischen Ostblock hatte sie an

geworden. Nachdem Großbritannien 1968 seine Präsenz im Persi­

Popularität eingebüßt. Dank ihrer realen Wurzeln in der Bevölkerung

schen Golf verringert hatte, nutzte der Schah seine Chance, die Rolle

erholte sie sich einigermaßen und propagierte über verschiedene

der regionalen Macht zu übernehmen. Anfang der siebziger Jahre

Publikationen und eine Rundfunkstation eine friedliche Umwälzung

organisierte er sogar mehrere militärische Interventionen in der Re­

durch Demonstrationen, Streiks und, falls der Schah es zuließe, Wah­

gion, unter anderem gegen die Rebellen in Oman, um seine Rolle als

len. Ihre Strategie basierte auf der Bildung einer Koalition mit der

Amerikas ((Golf-Polizist)) zu unterstreichen. Zwischen r972 und 1976

Nationalen Front, den «progressiven Ulama)) und dem «liberalen Flü­

wurde er von den USA mit Waffen im Wert von 10 Milliarden Dollar

gel der nationalen Bourgeoisie».u

belohnt. Die enge Beziehung zu den USA manifestierte sich auch in

Die Nationale Front selbst war auch geschwächt, doch einige alte

der Anwesenheit einer großen Zahl amerikanischer Experten und

Mitstreiter Mossadeghs hauchten ihr neues Leben ein und erklärten:

Berater, die Mitte der siebziger Jahre von 24 ooo auf fast 6o ooo an­

«Wir sind Muslime, Iraner, Konstitutionalisten und Mossadeghisten:

stieg.W Da sie viele Privilegien hatten und Immunität vor der irani­

Muslime, weil wir uns weigern, unsere Prinzipien von unserer Politik

schen Gerichtsbarkeit genossen, verbreitete sich in der iranischen

zu

Bevölkerung das Gefühl, nicht der Schah, sondern die Amerikaner

tionalisten, weil wir Freiheit des Denkens, freie Meinungsäußerung

hätten in Wirklichkeit das Sagen. Die Abneigung gegen den ameri­

und Vereinigungsfreiheit fordern; Mossadeghisten, weil wir die natio­

trennen; Iraner, weil wir unser nationales Erbe achten; Konstitu­

kanischen Einfluss war im übrigen nicht gleichbedeutend mit einer

nale Unabhängigkeit wollen.>P Die Nationale Front hatte einen säku­

Vorliebe für die Sowjetunion; gegen dieses Land hegte die Bevölke­

laren und einen religiösen Flügel. An der Spitze der Religiösen stan�

rung genauso großes Misstrauen.

den Bazargan von der Iranischen Freiheitsbewegung und Taleqani, ein hoher Geistlicher, der ein bedeutendes Werk verfasst hatte, in dem er ausführlich begründete, dass die Schia gegen Autokratie und für Demokratie sei. Diese Religiösen strebten ein demokratisches

78

s. Die unerwartete

Revolution

System an, innerhalb dessen die islamischen Werte respektiert wurden. In den sechzigerJahren verloren einige Studenten von der Nationa­ len Front und der Tudeh-Partei die Geduld mit den in ihren Augen zu moderaten und wirkungslosen Methoden ihrer Parteien und spra­ chen sich für den bewaffneten Kampf aus. Am Vorabend der Revolu­ tion gab es zwei wichtige Guerillaorganisationen: die kommunistisch orientierte Organisation der Volksfedayin (Fedayin) und die links-isla­ misch orientierte Modschahedin-e Chalq. Neben diesen landesweit operierenden Organisationen wuchs in einigen Provinzen der Einfluss politischer Parteien, die sich für die Rechte nationaler Minderheiten stark machten. Die wichtigste war die Kurdische Demokratische Partei des Iran (KPD-1), die mit dem Slogan «Demokratie für Iran, Autonomie für Kurdistan» gegen den Schah kämpfte.1.J Die

religiösen Intellektuellen. Die intellektuellen Debatten des zwan­ zigsten Jahrhunderts waren durch das Ringen mit der Moderne ge­ kennzeichnet, mit der der Iran wie der Rest der Dritten Welt in der Form von militarisiertem Imperialismus Bekanntschaft machte. I4 Die Abneigung gegen das autoritäre Modernisierungsproj ekt des Schahs und die Enttäuschung über das Scheitern der säkularen Reaktionen darauf (Nationalismus und Kommunismus) ebneten religiösen Ideo­ logien den Weg. Eine wichtige Mittlerfunktion erfüllte Dschalal Al-e Ahmad; er entstammte einer Familie von Geistlichen, schloss sich mit zwanzig der Tudeh an, verließ die Partei jedoch wegen seiner Kritik am Sta­ linismus und entwickelte sich zu einem tonangebenden Intellektuel­ len. Er führte den Begriff gharbzadegi («vom Westen geschlagen>; oder «vergiftet>;) ein, der sowohl bei säkularen wie religiösen Aktivisten sehr populär wurde. Gharbzadegi war für ihn eine «Krankheit», die von außen in die Gesellschaft eindringt und sie zersetzt. Die Ursache sah er in der wirtschaftlichen Abhängigkeit der Dritten Welt vom Westen, und die Symptome beschrieb er als Entfremdung, Materialis-

Die Opposition

79

mus und Nachahmung der westlichen Kultur. Hatten bisher die poli­ tischen und wirtschaftlichen Ursachen des Imperialismus irn Fokus gestanden, so rückte der Begriff gharbzadegi nun die kulturellen Fol­ gen in den Mittelpunkt. Von dieser Position aus war es ein kleiner Schritt, die kulturellen Veränderungen nicht als Folge des Imperialismus zu sehen, sondern als die Ursache. Diese Ansicht war populär unter den Ulama, die die ökonomische Benachteiligung des Iran und die Vorherrschaft des Westens darauf zurückführten, dass Muslime ihren «wahrem) Glau­ ben gegen westliche Einflüsse eingetauscht hätten. Al-e Ahmad repräsentierte die Bewegung säkularer Intellektueller in Richtung Religion, doch auch das Umgekehrte geschah unter dem Einfluss der nationalistischen und linken Befreiungsbewegungen in der Dritten Welt. Ein Beispiel dafür ist Ali Schariati; seine Ideen spiel­ ten eine nicht zu unterschätzende Rolle bei der Bildung einer ganzen Schicht von Intellektuellen und Aktivisten, die zu den führenden Ak­ teuren der Revolution von 1979 gehörten.1' Während Schariati Anfang der sechziger Jahre an der Sorbonne promovierte, ließ er sich als gläubiger Muslim von den nationalen Be­ freiungsbewegungen in Algerien inspirieren und vom Marxismus, zu dem er eine Art Hassliebe entwickelte. Er bewunderte die Fähigkeit des Marxismus, die Welt zu erklären, lehnte jedoch die materialisti­ sche Sichtweise ab. Nach seiner Rückkehr in den Iran machte er sich zwischen 1967 und 1972 einen Namen mit einer Reihe von Vorträgen, in denen er eine revolutionäre Auslegung des Islam formulierte; er sprach damit vor allem junge, gebildete Menschen an, die auf der Su­ che nach einer politischen Strategie waren statt der religiösen Haar­ spaltereien, mit denen sich die Ulama beschäftigten. Schariati gelangte zu neuen Einsichten durch seine Erfahrung mit dem Putsch von 1953 , seine Arbeit als Lehrer in einer armen Provinz und seine Bekanntschaft mit radikalen westlichen Ideen. Dass sein politischer Islam eine Neuinterpretation aus dem Blickwinkel der siebziger Jahre und nicht der Zeit des Propheten Mohammed war, zeigt sich an Folgendem: Während seiner Tätigkeit als Lehrer brachte

s. Die

80

81

Die Opposition

unerwartete Revolution ((Abu Zarr Qe­

ßes Problem zu sein, da die Mehrheit der Ulama der apolitischen Tra­

fari: der Gott anbetende Sozialist)), heraus, das auf einem Roman des

dition des Quietismus folgte. Bis zur Wiederkehr des Mahdi würden

radikalen ägyptischen Schriftstellers Abd ol-Hamid Dschaudat al­

die weltlichen Angelegenheiten ja vom Staat geregelt werden. Man­

Sahar beruhte. Das Buch handelte von einem der ersten Anhänger

che Akteure ignorierten den Schah und andere unterstützten ihn so­

des Propheten, der nach Mohammeds Tod die Kalifen als korrupt ab­

gar. Außerdem reagierten die Ulama mehrheitlich auf die Probleme,

lehnte und Ali, den ersten Imam der Schiiten, unterstützte. Nachdem

die sie am meisten empörten - Prostitution, Alkoholismus, Drogen­

Ali besiegt worden war, zog sich Abu Zarr in die Wüste zurück, wo er

konsum und Kriminalität

ein einfaches Leben führte und predigte, dass der Islam für die Armen

kritisierten nicht das soziale und politische System, sondern den mo­

und gegen die Reichen kämpfe. Abu Zarr wurde für Schariati zu einer

ralischen Verfall der Gesellschaft.

er das Buch

Abu Zarr Ghifari: Choda-parast-e Socialist,

wie Konservative das in der Regel tun. Sie

mythischen Figur, auf die er seine modernen Ideale proj izierte. Abu

Diejenigen, die sich mit der Politik einließen, waren gemäßigte

Zarr wandelte sich so in eine islamische Entsprechung von Camus,

Geistliche wie Ayatollah Taleqani, der die Nationale Front unter­

Sartre, Fanon oder Che Guevara.

stützte. Sie wollten nicht den Sturz des Schahs, sondern forderten die

Für viele religiöse Iraner war Schariati deshalb eine islamische Ant­

Einhaltung der Verfassung. Als der Schah zwischen

1975 und 1977

wort auf Marx, dessen Ideen große Anziehungskraft auf junge Leute

mehr Druck auf die Ulama ausübte, unter anderem durch eine stär­

hatten, allerdings in einer völlig deformierten Gestalt - der des Sta­

kere staatliche Kontrolle der religiösen Seminare, wurde die Position

linismus. Schariati sprach ebenfalls von einer klassenlosen Gesell­

der moderaten Kleriker untergraben, und eine dritte Gruppe gewann

schaft, jedoch einer islamischen

an Boden: die radikalen Geistlichen.

(nezam-e towhidi).

Ausgehend von

diesen Ideen konnten die islamischen Aktivisten, die hauptsächlich

Die wichtigste Persönlichkeit aus dieser Gruppe war Ayatollah

aus der Mittelschicht stammten, den Marxismus ablehnen und doch

Chomeini, der bis Anfang der sechziger Jahre einen apolitischen Kurs

ihrer Wut über Armut und Ungleichheit Ausdruck geben. Sie konn­

verfolgt hatte. Er änderte seine Haltung während der «Weißen Revo­

ten sich gegen die Diktatur des Schahs und die amerikaDisehe Vor­

lution)}, und er wandte sich gegen die Bodenreform und die Diktatur

herrschaft auflehnen und den Iran dennoch durch die Übernahme

als solche. Der Autor einer wichtigen Biographie bemerkt, dass Cho­

westlicher Technologien und sogar sozialwissenschaftlicher Erkennt­

meinis Rhetorik nach

nisse voranbringen. Sie wollten Modernisierung ohne gharbzadegi und

und der Stolz des Iran> hielten nun Einzug in das Vokabular der Geist­

unter Wahrung ihrer nationalen Identität. Schariati trat auch für ein

lichen im Allgemeinen und Chomeinis im Besonderen und machten

gleichwertigeres Verhältnis zwischen Mann und Frau ein. Kurzum,

Chomeini für die nicht-klerikalen Aktivisten akzeptableu16 Dieser

Schariati ermöglichte es religiösen jungen Menschen, sich von den

Schritt ging mit einem bedeutenden Wandel seiner Ideen einher.

konservativen Ulama abzuwenden, ohne dem Islam Lebewohl zu

1964 nationalistischer wurde: ); der ameri­

schaftsordnung als gottgegebene Realität. Die Armen sollten sich in

die Tatsache, dass Menschenrechtsorganisationen wie Amnesty Inter­

ihr Schicksal fügen , ohne die Reichen zu beneiden, die Reichen wie­

national das Schah-Regime an den Pranger stellten, spielte eine wich­

derum sollten Korruption und Verschwendung vermeiden und den

tige Rolle. Die Wirtschaftskrise motivierte mehr Menschen, aktiv zu

Armen helfen. Chomeini brach mit dieser Tradition und sprach nun

werden, und die Lockerung der Repression bedeutete, dass es weni­

von Klassen und Revolution

ger Hindernisse gab, die sie aufhalten konnten.

Begriffe, die mit politisch linken Vor­

stellungen assoziiert wurden. Die Gesellschaft, so Chomeini, sei in

Die gängige Deutung der Revolution schreibt den Sturz des Schahs

(die Verworfenen,

vor allem den Geistlichen und den Intellektuellen zu. Es stimmt, dass

die Unterdrückten) und die mostakberin (die Unterdrücker). Zu Letz­

ab Mai 1977 Schriftsteller und Rechtsanwälte die «Carter-Brise» nutz­

teren gehörten nicht nur der Schah und die reiche Elite, sondern auch

ten, um mit Manifesten und offenen Briefen Bürgerrechte einzu­

die Imperialisten aus West und Ost:

fordern. Aber diese Art «respektabler» Aufrufe war nichts Neues;

zwei feindliche Klassen gespalten: die

mostazafan

bedrohlich wurde die Lage für den Schah durch zwei andere Äuße­ Der Schah hat den Ausländern alle unsere Bodenschätze und die lebens­ wichtigen Belange des Volkes überlassen. Amerika hat er Öl gegeben, der Sowjetunion Gas, Großbritannien und anderen Ländern Weideland, Wälder und einen Teil des Öls.( . . . ) Das imperialistische System hat die Kontrolle über die Armee, das Bildungswesen und die Wirtschaft unseres Landes

rungen des Protestes im Sommer und Herbst 1977Zu physischen Konfrontationen mit dem Regime kam es zum ersten Mal in den Armenvierteln am Rande Teherans, als die Stadt­ verwaltung im Sommer Bulldozer, Polizisten und SAVAK-Agenten

übernommen und verwehrt unserem Volk die Möglichkeit der Entwick­

schickte, um die Behausungen der Bewohner zu räumen. Das eska­

lung.'7

lierte in Straßenschlachten, bei denen mitunter so ooo Menschen gegen die Vertreter der Behörden kämpften. Im Herbst folgten noch

1977-1978: Ein Wirbelsturm

von Protesten

mindestens dreizehn Angriffe auf die Armenviertel, bei denen es auch Tote gab.'8

1977 erwartete niemand, dass große Proteste ausbrechen, geschweige

Die zweite M anifestation des Protestes waren Sabotageakte und

denn, dass diese Aktionen das Schah-Regime stürzen würden. Die

Streiks in der Industrie. Im Juli wurde zum Beispiel in der Niederlas­

Opposition war schwach und uneinig, Armee und SAVAK schienen

sung von General Motors in Teheran Feuer gelegt; daraufhin wurden

unbesiegbar. Doch unter der Oberfläche hatten sich Wut und Enttäu­

300 Arbeiter verhaftet. In den folgenden drei Monaten kam es in etwa

schung angestaut; eine explosive Situation war entstanden. Es lässt

130 Betrieben zu ähnlichen Brandstiftungen. Im gleichen Zeitraum

84

1977-1978: Ein

s. Die unerwartete Revolution

Wirbelsturm von Protesten

85

fanden mehrere Streiks gegen Lohnsenkungen und die Streichung

Ein auffalliges Merkmal dieser Proteste war, dass die Teilnehmer

von Zulagen statt. Die Wirtschaftskrise brachte die iranischen Arbei­

kaum Gewalt gegen Personen anwandten. «Vor allem die Banken

ter gegen die Regierung in Stellung, aber es sollte noch ein Jahr dau­

wurden zur Zielscheibe der Proteste, aber seltsamerweise wurden sie

ern, bis eine Streikwelle dem Regime den Todesstoß versetzte. In der

nicht geplündert. ( . . . ) Alles in allem kann man, abgesehen vom pro­

Zwischenzeit spielten die Intellektuellen und die Geistlichen die

vozierenden Auftreten des SAVAK, nicht davon sprechen, dass es in

sichtbarste Rolle.

den vergangenen Wochen zu , «Ein Hoch auf freie Gewerkschaften und echte Schuras» und

Anfang als ein weitgehend demokratisches System und zögerten den

«Gleicher Lohn für Männer und Frauen)) .23

Entwurf einer Verfassung hinaus.

Chomeini griff zu Repression und nutzte außerdem den Einfluss

30. März 1979 hielt er ein Referendum ab. Die Bevöl­

Die Abfassung des Textes und das Referendum über die Verfassung

seiner Mitstreiter in den Betrieben, um die Streikbewegung zu bre­

im Dezember

chen und die vielen hundert Schuras, die ein alternatives Machtzent-

Prinzip der

1979 verliefen dann sehr undemokratisch. So kam das

welayat-e faqih

zustande. Der faqih, der Oberste Führer,

92

5· Die unerwartete

Revolution

sollte als der höchste islamische Rechtsgelehrte an der Spitze des neuen politischen Systems stehen (siehe Anhang S. 206). Chomeini wurde zumfaqih auf Lebenszeit ernannt. Derfaqih wird nach der Ver­ fassung vom Expertenrat gewählt, dessen Mitglieder durch allge­ meine Wahlen bestimmt werden. Außerdem gibt es einen Wächter­ rat, der aus sechs geistlichen und sechs weltlichen Rechtsgelehrten besteht. Der faqih beruft die sechs Geistlichen, und das Parlament wählt sechsJuristen, deren Einsetzung der- vomfaqih ernannte- Lei­ ter derJustiz zustimmen muss. Der Wächterrat überprüft, ob die Ge­ setze des Parlaments mit islamischem Recht vereinbar sind. Neben diesen theokratischen Strukturen wurden auch demokratische Ele­ mente in die Verfassung aufgenommen. Eine der zentralen Parolen der Revolution lautete ja «Freiheit». Die Verfassung sprach von Pres­ sefreiheit und gleichen Bürgerrechten unabhängig von Rasse, Ethni­ zität und Geschlecht. Der Wille des Volkes wurde durch Wahlen für das Parlament (madschles), die Regierung und den Präsidenten an­ erkannt. Die Kandidaten mussten jedoch vom Wächterrat zugelas­ sen werden . Außer diesen politischen Elementen enthielt die neue Verfassung auch einige soziale und ökonomische Artikel, die den populistischen Charakter der Chomeinisten unterstrichen: Renten, Versorgung mit Wohnraum, soziale Sicherheit und Bildung, Bekämp­ fung von Armut und Arbeitslosigkeit; alle wichtigen Unternehmen müssen sich im Besitz des Staates befinden. Ende des Jahres I979 war es den Chomeinisten gelungen, die Macht größtenteils in ihren Händen zu konzentrieren. Nachdem sie zu­ nächst mit der Interimsregierung des religiös-liberalen Bazargan zu­ sammengearbeitet hatten, um die Schuras und die linke Opposition auszuschalten, wandten sie sich nun gegen ihn und erzwangen im November seinen Rücktritt. Seine gemäßigte Haltung war jetzt ein Hindernis für die Wendung, die Chomeini vollziehen wollte, um die Kräfteverhältnisse endgültig zu seinem Vorteil zu verändern. Eine ausgezeichnete Gelegenheit dazu ergab sich, als am 4. No­ vember I979 islamistische Studenten, die sich «Befolger der Linie des Imam Chomeini» nannten, die amerikanische Botschaft stürmten

1979-1983: Die Konterrevolution

93

und 66 Diplomaten als Geiseln nahmen. Sie forderten von den USA die Auslieferung des Schahs, damit er für seine Verbrechen vor Ge­ richt gestellt werden konnte, eine Entschuldigung für das dem Iran angetane Unrecht und eine Freigabe der gesperrten Bankkonten. Wundersamerweise gelang es den Studenten, die Dokumente, die das Botschaftspersonal in den Reißwolf geworfen hatte, zu rekons­ truieren und Spionageaktivitäten zu enthüllen. Die Botschaft galt fortan als «Spionagenest». Als die Verhandlungen mit der iranischen Regierung ergebnislos blieben, stimmte Präsident Carter einem Geheimplan zur Befreiung der Geiseln zu. Was die Umsetzung betraf, war dieser Plan in etwa so realistisch wie der Plot eines James-Bond-Films. Von einem Luftstütz­ punkt in Ägypten aus sollten Flugzeuge mit speziell trainierten ame­ rikanischen Kommandos in den Iran fliegen. In der Nähe Teherans sollten sich die Amerikaner ein paar hundert iranischen Informanten anschließen, die bereits mit Trucks bereitstanden, um von dort aus zur Botschaft zu fahren. Nach der Befreiung sollten die Geiseln von Helikoptern abgeholt werden. Die Rettungsoperation endete im Ap­ ril 1980 in einem Fiasko, als die amerikanischen Helikopter in einem Sandsturm havarierten. Die Geiselnahme dauerte schließlich 444 Tage. Nachdem der Schah im Juli 1980 an Krebs gestorben war, nahmen die Amerikaner erneut Verhandlungen auf und akzeptierten diesmal die meisten Bedingun­ gen der iranischen Regierung. Im Januar 1981 konnten die Geiseln in die USA ausreisen. Durch die Geiselnahme des amerikanischen Botschaftspersonals war es den Chomeinisten gelungen, mit ihrem Antiimperialismus die linken Kräfte zu übertrumpfen und die gemäßigte Übergangsregie­ rung aufs Abstellgleis zu schieben. Die Geiselnahme lenkte auch die Aufmerksamkeit von der umstrittenen Verfassung ab, die am r. De­ zember 1979 durch ein Referendum angenommen wurde. Außerdem enthüllte die misslungene militärische Rettungsaktion, dass die irani­ sche Armee von amerikanischen Agenten infiltriert war, und die Cho­ meinisten profitierten von der Angst vor einem von den USA gelenk-

94

S· Die unerwartete

Revolution

1979-1983: Die Konterrevolution

95

ten Putsch wie im jahr 1953. Sie nutzten diesen für sie günstigen Zeit­

denen viele hingerichtet wurden. Die Krone des Schahs wurde gegen

raum, um gemäßigte Ulama zu isolieren und die Gegenkräfte, vor

den Turban des Ayatollahs eingetauscht, und auf den « Frühling der

allem die Fedayin und die Modschahedin-e Chalq, die während der

Freiheit)) folgte ein langer Winter von Krieg, wirtschaftlichem Nieder­

Revolution stark gewachsen waren, gezielt auszuschalten.

gang und Repression. In den achtziger Jahren überlebte die Islami­

Es gab noch eine Machtbastion, die Chomeini nicht in der Hand hatte. Im Januar 1980 gewann Bani Sadr, ein respektierter liberal-reli­ giöser Politiker, die Präsidentschaftswahlen. Die Chomeinisten hatten ein halbes Jahr zuvor ihre Kräfte in der Islamisch-Republikanischen Partei (IRP) gebündelt, doch ihr Kandidat erzielte ein beschämend niedriges Ergebnis. Mit vorausschauendem Blick hatte Chomeini nach der Revolution den Islamischen Revolutionsrat gegründet, der als Parallelregierung fungierte. Damit untergrub er die Position von Bani Sadr, um ihn schließlich zu stürzen. Zuvor aber hatte Bani Sadr sich noch durch die Unterstützung von Chomeinis «Kulturrevolu­ tion» verdient gemacht, die die linken Oppositionellen an den Univer­ sitäten aus dem Weg räumen sollte. Chomeini nutzte die Chance, mit Bani Sadr abzurechnen, als im September 1980 Saddam Husseirr den Iran angriff. Als Oberbefehls­ haber der Streitkräfte gab er ihm die Schuld an dem ungünstigen Ver­ lauf des Krieges, und als er auch noch Chomeini kritisierte, fiel er in Ungnade und floh im Juli 1981 aus dem Land. Die Modschahedin-e Chalq, die auch mit Chomeini in Konflikt geraten waren, stellten sich auf Bani Sadrs Seite und riefen zum bewaffueten Kampf auf. Sie ver­ übten 1981 zwei Bombenanschläge, bei denen Dutzende Führer der Islamisch-Republikanischen Partei umkamen. Sie waren jedoch kein ernstzunehmender Gegner für die Militärmacht der Islamischen Re­ publik und ließen sich später im Irak nieder, wo sie militärische und finanzielle Unterstützung von Saddam Husseirr erhielten und zu einer Sekte degenerierten. Vor allem durch diesen Schritt, den die übergroße Mehrheit der Iraner als Verrat ansah, verloren die Mo­ dschahedin-e Chalq das Ansehen, das sie sich erworben hatten. Die Tudeh-Partei und der größte Teil der Fedayin unterstützten Chomeini weiterhin, bis auch sie 1983 verboten wurden. Die Gefäng­ nisse füllten sich weiter mit Tausenden neuer linker Aktivisten, von

sche Republik nicht nur den Krieg mit dem Irak und die Wirtschafts­ krise, sondern konsolidierte auch ihre Macht.

6. Chomeini: Unter dem Mantel des Ayatollahs

97

Kanarienvögel am Bratspieß

6. C homei n i : U nter dem Ma nte l des

Ayato l l a h s (1979-1 989)

Auf Feuer von Lilien und Jasmin. Es ist eine seltsame Zeit, du Liebliche.

Satan sitzt Siegestrunken Zum Festschmaus bei unserem TrauermahL Gott muß man im hintersten Zimmerdes Hauses verbergen.

IN DIESER SACKGASSE Dieses Gedicht von Ahmad Schamlu1 aus dem Juli I979 war ein Vor­ Sie schnüffeln an deinem Mund, Ob du - Gott bewahre! - etwa gesagt hast, ich liebe dich. Sie schnüffeln an deinem Herzen. Es ist eine seltsame Zeit, du Liebliche.

zeichen für das, was den Iranern in den achtziger Jahren bevorstand. Die Revolution hatte eine Tür zu unbegrenzten Möglichkeiten ge­ öffuet, doch dadurch, dass Chomeini an die Macht kam, wandelte

Und die Liebe

sich der Iran in eine Sackgasse. Aus dem Frühling der Freiheit wurde

Geißeln sie an Straßensperren

der Winter der Angst. Angst vor den Pasdaran, die an Straßensperren

Mit Peitschenhieben.

Autos stoppten, um nach Waffen, Musik und Alkohol zu suchen. Angst, seine Meinung zu äußern. Angst, zu erfahren, dass der Sohn

Die Liebe muß man im hintersten Zimmer des Hauses verbergen.

In dieser winklig-krummen Sackgasse der Kälte Verbrennen sie

oder die Tochter exekutiert worden war. Angst, wegen «unmora­ lischen> Kleidung verhaftet zu werden. Und dann war da auch noch der Krieg mit dem Irak, der zwischen r980 und r9 88 jeden Tag Tod und Verderben brachte. Ein Regime, das die Freiheit in Ketten gelegt

Im Feuer Lieder und Gedichte.

hatte, und ein Krieg, der nicht enden wollte - das waren für viele Ira­ ner die achtziger Jahre.

Bring dich nicht durch Denken in Gefahr. Es ist eine seltsame Zeit, du Liebliche. Jener, der an deine Tür klopft zur Nachtzeit, Ist gekommen, deine Lampe zu zerschlagen.

Das Licht muß man im hintersten Zimmer des Hauses verbergen.

Kennzeichnend für diesen Zeitraum waren auch die langen Schlan­ gen vor den Geschäften. Es mangelte an allem, doch die Regierung hatte ein Rationierungssystem für die notwendigsten Produkte ein­ geführt. Obwohl die Wirtschaft in Scherben lag, boten die sozialen Programme der Regierung den Armen einigen Schutz. Viele erwarteten, dass die Islamische Republik den Krieg und die

Die da sind Schlächter

Wirtschaftskrise nicht überleben würde; wenige glaubten, die Mul­

An verrammelten Durchfahrten

lahs seien fähig, einen modernen Staat zu lenken. Doch der Staatskle­

Mit blutigen Beilen und Blöcken. Es ist eine seltsame Zeit, du Liebliche.

Sie schneiden das Lächeln von den Lippen Und die Melodien aus dem Mund.

rus überlebte nicht nur die schwierigen achtziger Jahre, sondern kon­ solidierte auch seine Macht. Unter Chomeini entwickelte sich der Staatsapparat zu einer Machtstruktur, von der die Pahlavi nur hatten träumen können. Aber anders als in jener Zeit trieb der Staat seine

Die Leidenschaft muß man im hintersten Zimmer des Hauses verbergen.

Wurzeln viel tiefer in die Gesellschaft hinein. Die Islamische Republik

99

6. Chomeini: Unter dem Mantel des Ayatollahs

Fundamentalismus oder Populismus?

absorbierte in gewisser Weise einen großen Teil der Gesellschaft, in­

krieg in vielen Entwicklungsländern aufkam. Populismus wird hier

ternalisierte damit jedoch auch deren Gegensätze. Gegensätze, die in

nicht in der gewöhnlichen Bedeutung von Demagogie verstanden,

den achtziger Jahren als Konflikt zwischen einer rechten und einer

sondern als politische Bewegung der Mittelschicht, die versucht, die

linken Fraktion innerhalb der Machtelite in Erscheinung traten.

Unterschichten mit Verbalattacken gegen die Machtelite und Ver­

98

sprechungen sozialer Gerechtigkeit zu mobilisieren.4

Fundamentalismus oder Populismus?

Die Bazaris hatten Chomeini durch ihr Netzwerk und auch finan­ ziell unterstützt. Die Mullahs popularisierten seine Ideologie, um der

Die iranische Revolution führte zu einer weltweiten Flut von Publi­

gesamten Bevölkerung die Richtung vorzugeben. Vertreter der mo­

kationen und politischen Diskussionen über die Ideologie und die

dernen Mittelschicht wie Intellektuelle, Ingenieure, Anwälte, Ärzte,

Praxis Chomeinis und seiner Islamischen Republik. :>-3

diese Gruppen mit einer populistischen Ökonomie an sich zu binden.

Viel mehr als mit «Fundamentalismus)) hat Chorneinismus mit

Eine der ersten Maßnahmen Chomeinis war die Gründung der Stif­

Populismus gemeinsam, jener Politik, die nach dem Zweiten Welt-

tung der Unterdrückten (Bonyad-e Mostazafan), die einen Teil der kon-

101

6. Chomeini: Unter dem Mantel des Ayatollahs

Der längste Krieg

fiszierten Besitzungen des Schahs erhielt, um damit den Armen zu

Chaos, in dem sich der Iran nach der Revolution befand, als hervorra­

helfen. Diese Stiftung erhielt außerdem eine große Zahl verstaatlich­

gende Gelegenheit, den Grenzkonflikt zum Vorwand zu nehmen, um

ter Betriebe, die Schätzungen zufolge 700 ooo Menschen Arbeit bo­

die Kräftebalance zwischen den beiden Staaten drastisch zu verän­

ten.? Neben der Stiftung der Unterdrückten wurden weitere

bonyads

dern. Er befürchtete, dass die Umwälzung im Iran die Kurden und

gegründet, die wie ein Staat im Staat funktionierten. Ende der acht­

Schiiten im Irak auf ähnliche Ideen bringen könnte, und er wollte die

100

ziger Jahre empfingen 12,4 Millionen Menschen in irgendeiner Form

Islamische Republik schwächen. Außerdem ging er davon aus, dass

Hilfe von solchen Stiftungen.8 Viele junge Leute, vor allem aus länd­

kein anderer Staat dem Iran zu Hilfe kommen und dass er den Krieg

lichen Gegenden und den städtischen Armenvierteln, fanden ihren

in kurzer Zeit gewinnen würde. Der erste Teil seines Kalküls ging auf,

Weg nach oben in die Ränge der Pasdaran, der Revolutionsgarde. Die

der zweite Teil erwies sich als großer Irrtum. Der Irak erhielt aber

Unterschichten profitierten auch von den Subventionen für Grund­

tatsächlich Hilfe von mehreren arabischen Ländern, darunter Saudi­

bedürfnisse wie Brot, Reis, Zucker, Öl, Elektrizität und Wasser, die

Arabien und Kuwait, vor allem j edoch von den USA und in geringe­

ein Viertel der Ausgaben der öffentlichen Hand ausmachten. Das

rem Umfang von der Sowjetunion, während der Iran mit der Unter­

Ergebnis war eine reale Umverteilung des Wohlstandes, die in dem

stützung Syriens auskommen musste.

Jahrzehnt des Krieges und der wirtschaftlichen Misere Millionen

Die Reaktion des UN-Sicherheitsrats war schockierend, passte

Menschen das Leben erträglicher machte. Der Anteil der ärmsten

freilich zu seinem Ruf als politischem Instrument der Großmächte.

40 Prozent der Bevölkerung am Nationaleinkommen stieg von

Ohne einen Unterschied zwischen Angreifer und Opfer zu machen,

n,4 Prozent im Jahr 1977 auf 13,4 Prozent im Jahr 1991.

rief der Sicherheitsrat zu einem Waffenstillstand auf. Saddam Hussein

Obwohl die Islamische Republik für viele Iraner Unterdrückung

erklärte sich dazu bereit, wenn der Iran seinen Teil des Schatt al-Arab

und Leid bedeutete, brachte sie auch Millionen Menschen soziale

dem Irak übereignen würde. Der Iran weigerte sich und beharrte

und materielle Vorteile. Dass das neue Regime im Übrigen nicht vor

darauf, dass der Irak als «Aggressor» angesehen werden müsse.

Gewaltanwendung zurückschreckte, zeigt die Tatsache, dass zwi­

Durch den Überrumpelungseffekt rückten die irakiseben Truppen

schen Juni 1981 und Juni 1985 mehr als 8ooo Mitglieder hauptsächlich

anfangs schnell auf iranisches Territorium vor, gerieten jedoch bald

linker Gruppierungen hingerichtet wurden. Durch Repression, aber

in eine Pattsituation. Der traumatischste Moment für die Iraner war

auch durch soziale Programme und den Druck des Krieges blieben

die Eroberung von Chorramschahr, «Stadt der Freude)), die nach dem

die politischen G egensätze in den achtziger Jahren größtenteils unter

Blutbad, das die irakiseben Truppen dort angerichtet hatten, in Chu­

der Oberfläche.

ninschahr, «Stadt des Blutes;;, umbenannt wurde. Die Wiedererobe­ rung der Stadt im Mai r983 war ein wichtiger Markstein des Krieges:

Der längste Krieg

Der Iran drängte die irakiseben Truppen hinter die offiziellen Gren­ zen zurück.

Am 22 . September 1980 überrumpelte S addam Hussein die neuen

Die Unterstützung, die Saddam Hussein während des Krieges von

Machthaber im Iran mit einer militärischen Invasion.9 Schon in frü­

den USA erhielt, spielte eine große Rolle. So bekam die irakisehe Ar­

heren Zeiten war es zwischen den beiden Ländern zu Streitigkeiten

mee nicht nur Waffen, sondern auch Satellitenbilder der iranischen

wegen des Grenzverlaufs an dem Fluss gekommen, der im Irak Schatt

Truppenbewegungen

al-Arab und im Iran Arwandrud heißt. Saddam Hussein sah das

hatte. Außerdem waren die USA und Buropa bereit wegzuschauen,

ein Privileg, das bis dahin nur Israel genossen

102

103

6. Chomeini: Unter dem Mantel des Ayatollahs

Der längste Krieg

als Saddam Hussein Chemiewaffen einsetzte. Mehr noch, der Irak

gehörten Jungen ab 14 und Männer über so. Vor allem sie waren ein

erhielt das Know-how und das Material aus westlichen Ländern. Der

Teil der {(Menschenwellen;), die die Minenfelder unter Einsatz ihres

UN-Bericht von 1992 über die Chemiewaffen des Irak umfasst eine

Lebens räumen mussten. In den folgenden Jahren wuchs die Gesamt­

Liste westlicher Unternehmen, die zu der Entwicklung dieser Waffen

zahl iranischer Soldaten auf 1,2 Millionen.

beigetragen haben. Mehr als die Hälfte der rund 150 dort erwähnten

Als Saddam Hussein erkannte, dass der Bodenkrieg nicht zu gewin­

Firmen stammten aus Deutschland. Auch die USA waren mit 24 Un­

nen war, setzte er seine überlegene Luftwaffe in maximaler Weise ein.

ternehmen gut vertreten. Die niederländischen Firmen Melchemie,

Die Folge waren der «Tankerkrieg» und der «Städtekrieg;). In den ers­

KBS und van Anraat lieferten Schätzungen zufolge 45 Prozent der

ten Monaten des Jahres 1984 bombardierte der Irak Häfen und Tank­

Rohstoffe für das irakisehe Chemiewaftenprogramm. 10 Zwischen

schiffe, die iranisches Öl transportierten, und der Iran zahlte dies mit

Dezember 1980 und März 1984 meldete der Iran 36 einzelne Giftgas­

gleicher Münze heim. Als er auf diese Weise nicht weiterkam, ließ

angriffe, doch die USA sahen darin keinen Grund, ihre Unterstützung

Saddam Hussein zwischen M ärz und Juni 1985 iranische Städte bom­

Saddam Husseins einzustellen.

bardieren; Tausende Bürger kamen dabei um, Zehntausende flohen.

Ende 1983 reiste Donald Rumsfeld, der zwanzig Jahre später als

Ein irakischer General erklärte die Logik dieser grausamen Strategie

Verteidigungsminister den Krieg gegen den Irak leiten sollte, nach

so: «Wir wollen die iranische Bevölkerung an die Kriegsfronten brin­

Bagdad, wo er Saddam Hussein die Botschaft übermittelte, eine iraki­

gen. Wir hoffen, dass sie dann gegen ihre Regierung revoltiert und

sehe Niederlage «schade den Interessen der USA». Das war eine diplo­

den Krieg beendet.;)n Diese Strategie bewirkte jedoch das Gegenteil;

matische Erklärung, dass die USA den Irak voll unterstützen würden. Durch die ausländische Unterstützung konnte Saddam Hussein

Chomeini konnte nun auf die Barbarei Saddam Husseins verweisen, um den Zusammenhalt im Volk zu stärken.

den Krieg fortsetzen, doch die Machthaber in Teheran trugen ebenso

1986 verzeichnete der Iran einige militärische Erfolge, sodass die

viel Schuld. Nachdem die irakischeu Truppen im Mai 1982 von ira­

Pattstellung allmählich durchbrachen wurde . Andererseits geriet das

nischem Territorium vertrieben worden waren, hätte sich Chomeini

Land wirtschaftlich in schweres Wetter. Die Ölpreise, und damit auch

um einen Friedensvertrag b emühen können. Doch er befürchtete,

die Einnahmen, sanken dramatisch. Dem Irak machte das weniger zu

dass nach dem Ende des Krieges die inneren Gegensätze auflodern

schaffen, da das Land jährlich 12 Milliarden Dollar von den USA, den

würden. Außerdem glaubte er, durch die Eroberung von irakisehern

Golfstaaten und der Sowjetunion erhielt. Das iranische Volk litt im­

Gebiet könne der Iran seine Forderungen erzwingen: die Absetzung

mer mehr unter der Wirtschaftskrise und dem Krieg, doch das Sys­

Saddam Husseins, die Einsetzung eines internationalen Tribunals,

tem der Rationierung über Bezugsscheine wirkte als Puffer. Die Re­

um den Aggressor zu benennen, sowie Reparationszahlungen.

gierung benutzte dieses egalitäre System, um breiteren Rückhalt in

Aus dem Konflikt wurde schon bald ein Stellungskrieg, den der

der Bevölkerung zu gewinnen. Die wurde

Frauen und Kindern, die das iranische Fernsehen ausstrahlte, scho­

im Westen und unter den iranischen Emigranten eine populäre Be­

ckierten die ganze Welt. Obwohl die USA bis ins Detail über den Ein­

zeichnung für das neue Regime; man ging davon aus, dass es das Den­

satz von Chemiewaffen durch den Irak informiert waren, betrieben

ken und das politische und soziale Leben der Bevölkerung vollkom­

sie eine Desinformationskampagne, um den Druck auf den Irak zu

men beherrschte. Doch in den achtziger Jahren zeigte sich, dass das

verringern und dafür zu sorgen, dass der Iran den Krieg nicht gewin­

Regime nicht einmal alle seine Mitstreiter auf eine gemeinsame ideo­

nen konnte. 12 Indem sie Saddam Hussein nach Halabdscha weiterhin

logische Linie festlegen konnte, geschweige denn den Rest der Bevöl­

unterstützten, gaben die USA ihm grünes Licht, die Unterdrückung

kerung.

der irakiseben Bevölkerung, insbesondere der Kurden und Schiiten,

Trotz entsetzlicher und einschüchternder Repressionen erlangte

zu intensivieren und die Chemieangriffe gegen den Iran fortzusetzen.

das Regime nicht die totale Kontrolle, auch wenn manche seiner Mit­

In der ersten Hälfte des Jahres 1988 setzte Saddam Hussein bei ver­

glieder sicherlich totalitäre Träume hatten. Oberflächlich betrachtet

schiedenen Offensiven chemische Waffen ein, und die USA versenk­

gab es nur eine große Partei, die Islamisch-Republikanische Partei,

ten mehrere iranische Schiffe. Aufgrund dieser schweren Verluste an

faktisch aber war die gesamte politische Elite uneinig. Die unter-

106

6. Chomeini: Unter dem Mantel des Ayatollahs

Die Illusion des Totalitarismus

107

schiedlichen Auffassungen über die Wirtschafts- und Gesellschafts­

und von Chomeini aufgelöst wurde. Bisher hatte Chomeini stets auf

form führten zu Bruchlinien innerhalb der Machtelite, sodass ver­

einen Ausgleich zwischen beiden Fraktionen geachtet, entschied sich

schiedene Fraktionen im Parlament und auch außerhalb davon ent­

jedoch am Ende seines Lebens immer häufiger für die Seite der Lin­

standen, die in zunehmend heftigere Konflikte miteinander gerie­

ken. Im Januar 1988 setzte er Freund und Feind in Erstaunen, als er der

ten. 1984 gaben sogar Rafsandschani (der Parlamentsvorsitzende)

linken Regierung von Ministerpräsident Mir Hoseyn Musawi freie

und Chamenei (der Präsident) zu, dass innerhalb der politischen Elite

Hand ließ und die große Rolle des Staates betonte. Er erklärte, die Re­

zwei ideologische Positionen bestanden, eine konservative und eine

gierung sei «eines der wichtigsten Gebote des Islam)) und stehe «über

radikale. Die beiden Flügel galten auch als «rechts)) und (> Islam hatte nach der

Führers wurde erweitert und gerrauer definiert. Der Schwerpunkt lag

Revolution verschiedene Gruppen zusammengebracht und inspi­

nun mehr auf dessen politischen statt religiösen Qualitäten. Der

riert, einen neuen Staat und eine neue Gesellschaft aufzubauen. Doch

Grund dafür war, dass nach der Entmachtung von Ayatollah Monta­

was genau unter Islam zu verstehen war, ließ sich nicht eindeutig in­

zen kein anderer bedeutender Geistlicher als Nachfolger Chomeinis

terpretieren. Anfang der neunziger Jahre erkannten die Kleriker, dass

in Frage kam. Der einzige, den Chomeini für akzeptabel hielt, war

ihre Bemühungen, den ((Kindern der Revolution» - also jenen Ira­

Chamenei, und der war kein Ayatollah. Nach der Verfassungsände­

nern, die kurz vor oder nach 1979 geboren waren

rung war das kein Problem mehr. Chomeini starb am 3. Juni 1989 in

I slam nahezubringen, nicht besonders erfolgreich gewesen waren.

den «wahren))

der Annahme, dass seine Islamische Republik einer viel stabileren Zu­

Zudem herrschte unter ihnen und den Islamisten der ersten Stunde

kunft entgegensah.

große Uneinigkeit; es gab alte und neue Differenzen. Der zweite Bereich war die Unabhängigkeit. Die Islamische Repu­ blik hatte zwar in vielerlei Hinsicht versagt, doch ein Versprechen er­ füllt: Unabhängigkeit von ausländischen Mächten. Sobald innenpoli­ tische Probleme überhand nahmen, griff die Regierung deshalb zu antiimperialistischer Rhetorik. Doch auch hier entstand, wenngleich in viel geringerem Umfang, ein Gegensatz: Die Islamische Republik wollte politisch unabhängig bleiben, war aber gleichzeitig gezwun­ gen, die wirtschaftlichen Beziehungen zum Westen zu intensivieren.

110

J. Rajsandschani: Vom Populismus zum Neoliberalismus

«Führer des Aufbaus»

111

Der dritte Bereich war die Politik: Die Legitimität der Islamischen

Theokratie versus Demokratie, Kapitalismus versus Populismus,

Republik basierte auch auf dem Versprechen, dass die Bevölkerung

Antiimperialismus versus Beziehungen mit dem Westen. Kein Wun­

selbst über ihr Schicksal bestimmen dürfe. Durch die Wahlen für das

der, dass ein Blick auf den Iran bestürzend und verwirrend ist, doch

Parlament und den Staatspräsidenten spielte die Bevölkerung nach der

die vielen Widersprüche, die das Land kennzeichnen, haben nichts

Revolution eine größere Rolle als zuvor. Andererseits wurde diese Be­

Geheimnisvolles. Sie resultieren daraus, dass die Revolution von ver­

teiligung an der Politik stark beschränkt durch die Führungsrolle der

schiedenen Gruppen mit verschiedenen Interessen und Ideen ge­

hohen Geistlichen, die vor allem in der Macht des Obersten Führers,

macht wurde: den Arbeitern, den städtischen Armen, der modernen

des Wächterrats und des Expertenrats zum Ausdruck kam. Es entstand

Mittelschicht, den Bazaris und den Geistlichen.

ein Widerspruch: Die Souveränität kann nicht zugleich bei den «Ver­

Die inneren Gegensätze der Islamischen Republik, die nach dem

tretern>> Gottes und beim Volk liegen, Theokratie und Demokratie

Ende des Krieges und dem Tod von Ayatollah Chomeini ständig zu­

sind nicht miteinander vereinbar. Nach Chomeinis Tod spitzte sich der

nahmen, schufen einen Raum, in dem gesellschaftliche Gruppen wie

Gegensatz zwischen den theokratischen und demokratischen Elemen­

Frauen, junge Menschen, Intellektuelle und Gewerkschaften ihre

ten in der Islamischen Republik zu und erreichte, wie wir in diesem

Position dem Staat gegenüber stärkten und aktiv wurden. Die sozia­

Kapitel sehen werden, zwischen 1997 und 2005 einen Höhepunkt.

len und ökonomischen Veränderungen beschleunigten diesen Pro­

Ökonomischer Populismus schließlich war die wichtigste Säule,

zess noch und führten zu einem Konflikt zwischen Gesellschaft und

auf der die Islamische Republik ruhte. Mit dieser Politik gelang es ihr,

Staat. Haschemi Rafsandschani, der 1989 Präsident wurde, und seine

einen großen Teil der Unterschichten, vor allem in den ländlichen Ge­

Nachfolger rangen seitdem mit dem gleichen Problem: Wie lässt sich

genden, an sich zu binden (siehe das vorhergehende Kapitel). Im Iran

eine neue gesellschaftliche Basis für die Islamische Republik schaffen,

sollte, mit Chomeinis Worten, «der Islam der Slumbewohner, nicht

um diesen Konflikt zu vermeiden?

der der Palastbewohner>> regieren. Die Islamische Republik sollte einen «dritten Weg)) zwischen Kapitalismus und Sozialismus verwirk­ lichen, indem der Staat sowohl ein soziales Netz für Schwächere ga­

«Führer des Aufbaus»

rantierte wie auch das Wirtschaftswachstum förderte. Doch seit den

Im Juli 1989 gingen die Iraner zur Urne, um den Staatspräsidenten zu

neunziger Jahren lag der Schwerpunkt auf der zweiten Funktion, da

wählen und über mehrere Verfassungsänderungen abzustimmen. Raf­

wirtschaftlich mächtige Gruppen wie die Bazaris und die Direktoren

sandschani, der bisherige Parlamentsvorsitzende, wurde mit 94 Pro­

von Staatsbetrieben und

bonyads den Staat dazu benutzten, ihre eige­

zent der Stimmen gewählt, und die Verfassungsänderungen wurden

nen wirtschaftlichen Interessen zu verfolgen. Der islamische «dritte

mit 97 Prozent angenommen. Die beiden wichtigsten waren die Ab­

Weg>> führte in die gleiche Richtung wie seine säkularen Varianten im

schaffung des Amtes des Ministerpräsidenten und die Übertragung

Westen und entpuppte sich als eine eher kapitalistische Wirtschafts­

von dessen Befugnissen auf den Staatspräsidenten sowie die Hinzu­

form.

fügung des Wortes ((absolut» an den Begriff welayat-e faqih. Die erste

Diese inneren Gegensätze wurden seit den neunziger Jahren grö­

Änderung hatte den Zweck, die Machtstruktur rationaler zu machen,

ßer, nicht zur gleichen Zeit und im gleichen Tempo, aber mit der glei­

und die zweite sollte die Position des neuen Obersten Führers Cha­

chen Wirkung. Sie drängten die Islamische Republik in verschiedene

menei, der nicht über das Charisma seines Vorgängers verfügte, in­

Richtungen: traditioneller Islam versus reformorientierter Islam,

nerhalb des politischen Systems stärken.

«Führer des Aufbaus»

-,. Raftandschani: Vom Populismus zum Neoliberalismus

112

Die Wahlbeteiligung war mit 55 Prozent deutlich niedriger als beim ersten Referendum 1979

ein Zeichen, dass die Begeisterung für

113

Wirtschaft aus der Talsohle führen würde. Seine PR-Maschinerie gab ihm den Spitznamen

sardar-e sazandegi, «Führer des Aufbaus». Im kuseh, wörtlich «Hai», wegen

die Islamische Republik in der Bevölkerung nachzulassen begann.

Volksmund war er besser bekannt als

Die Hauptursache war das Chaos infolge der acht Kriegsjahre. Einige

seines bartlosen Gesichts; ebenso gut konnte es aber auch eine An­

Städte bestanden nur noch aus Ruinen, die Infrastruktur war zerstört

spielung auf die gewieften Tricks sein, mit denen er seine politischen

und das Herz der Wirtschaft, die Ölindustrie, klopfte nur schwach.

Gegner ausschaltete und sich und seine Verbündeten in wichtige Äm·

An der Grenze zum Irak waren durch den Krieg 1,6 Millionen Men­

ter manövrierte.

schen obdachlos geworden, und 2 Millionen Flüchtlinge waren aus

Rafsandschanis Plan zur Rettung der Wirtschaft basierte auf Prin­

dem Irak und aus Afghanistan ins Land geströmt.' Außerdem war die

zipien des Neoliberalismus, die vom Internationalen Währungsfonds,

Bevölkerung von fast 40 Millionen 1980 auf ungefähr 55 Millionen

der Weltbank und westlichen Regierungen bereits seit den achtziger

1990 angewachsen. Aufgrund der stockenden Wirtschaft bedeutete

Jahren in anderen Entwicklungsländern propagiert wurden. Es han­

das die Fortdauer der Mängel, die im Krieg geherrscht hatten. Das

delte sich um ein Paket von M aßnahmen zum Ausbau des freien

Nationaleinkommen pro Kopf der Bevölkerung war seit der Revo­

Markts, u. a. durch Privatisierung, Streichung von Subventionen und

lution um fast 40 Prozent gesunken.2

Aufhebung von Handelsbarrieren. An die Stelle des Prinzips der Aut­

Nicht nur die Wirtschaft war erschöpft, auch das Volk. Fast jede Fa­

arkie (chod kafa'i) trat das der wirtschaftlichen Entwicklung (towseeh).

milie hatte im Krieg einen Angehörigen verloren. In der Gesellschaft

Rafsandschani nahm Abstand vom Ethos der achtziger Jahre, in dem

entstand eine offene Wunde, als viele Soldaten nicht von der Front zu­

Kapitalisten als «Blutsauger)) bezeichnet wurden, und plädierte für

rückkehrten; ein Teil von ihnen war in Gefangenschaft geraten, und

einen Islam, in dem Konsumieren keine Schande war: «Warum sollte

Gefallene hatten nicht geborgen werden können. Die Rückkehret

man sich Dinge versagen, die Gott möglich gemacht hat? Gottes Seg­

waren an Leib und Seele versehrt. Die Jugendlichen, die in den achtzi­

nungen sind für die Menschen und die Gläubigen. Askese und Ver­

ger Jahren aufwuchsen, sahen sich selbst als «verlorene Generation».

zicht führen zu Armut und wirken als Bremse für Produktion, Arbeit

Die gesamte Gesellschaft war vor allem müde von der grauen Stim­

und Entwicklung.»

mung der achtziger Jahre, die sie an Tod und Elend erinnerte - von

Rafsandschani wollte auch eine offenere Außenpolitik und schloss

den Kriegsfilmen im Fernsehen bis zu den Fotos der Märtyrer in den

Beziehungen zu den USA nicht aus: «Unser Ziel war es nie, die Revo­

Straßen. Viele Menschen wollten nur noch eines: der erstickenden

lution mit Gewalt zu verbreiten ( . . . ). Wenn Leute glauben, dass wir

Atmosphäre entrinnen. Kurzum, der Rückhalt in der Bevölkerung,

hinter verschlossenen Türen leben können, irren sie sich. Obwohl wir

den der Krieg dem Regime verschafft hatte, fiel teilweise weg, nach­

unsere Unabhängigkeit bewahren müssen, brauchen wir auch

dem der Krieg vorbei war.

Freunde und Verbündete in der Welt. ( . . . ) Solange die USA sich nicht

Rafsandschani begriff besser als jeder andere in der politischen

benehmen, können sie keine Beziehungen zu uns haben.))> Aufgrund

business as usual in dieser Situation nicht angezeigt war. Er

dieser Haltung und wegen seines Wirtschaftsliberalismus erschien

war auch derjenige gewesen, der aus Sorge über die Folgen des Krie­

Rafsandschani manchem westlichen Beobachter als der «Gorbat­

ges Chomeini davon überzeugt hatte, einem Waffenstillstand mit

schow des Iran>),

Elite, dass

dem Irak zuzustimmen. Er bildete ein Tandem mit dem konservati­

Diese vorsichtige Annäherung brachte nur vorübergehend Tau­

ven Chamenei und warb für sich selbst als Retter in der Not, der die

wetter in die Beziehungen zwischen dem Iran und dem Westen. Die

114

7· Rafsandschani: Vom Populismus zum Neoliberalismus

«Führer des Aufbaus»

Islamische Republik strebte nach einer Vormachtstellung in der Re­

ten durch Wirtschaftssanktionen geschwächt werden. Unter dem

gion, während die USA nicht bereit waren, ihre Dominanz im Mitt­

Druck der Konservativen im Kongress und der Israel-Lobby wurde

leren Osten aufzugeben. Das war auch der wichtigste Grund für den

I995 ein umfassendes Handelsembargo verhängt. Als 1996 in Saudi­

Krieg, den die USA 1991 unter dem Namen

den

Arabien ein Anschlag auf Unterkünfte von Angehörigen der US­

Irak führten, als Saddam Hussein in Kuwait einfiel. Die National

Armee verübt wurde, behauptete die amerikanische Seite ohne je­

Security Directive, die die Regierung von George H. W. Bush am Vor­

den Beweis, dass der Iran daran beteiligt gewesen sei. Das bereitete

abend dieses Krieges ausfertigte, begann mit den Worten: «Der Zu­

den Weg für den Iran-Lybia Sanctions Act, der das Embargo ab August

gang zum Öl des Persischen Golfs und die Sicherheit befreundeter

1996 auf nicht-amerikanische Firmen ausweitete, die bedeutende

Schlüsselstaaten in der Region sind entscheidend für die nationale

Investitionen im iranischen Energiesektor tätigten. Im selben Jahr

Sicherheit der USA. ( . . . ) Die Vereinigten Staaten halten daran fest,

sickerte durch, dass die Regierung Clinton 1 8 Millionen Dollar für

ihre grundlegenden Interessen in der Region zu verteidigen, notfalls

Geheimoperationen bereitgestellt hatte, um die Regierung Rafsan­

mit militärischer Gewalt, gegen jede Macht, deren Interessen den un­

dschani zu unterminieren. Unter Präsident Clinton (I993-2oor) wurde

seren schaden.»4 Diese Botschaft war natürlich nicht nur an den Irak

faktisch die Grundlage für die neokonservative Außenpolitik ge­

gerichtet, sondern auch an den Iran. Durch den Sturz des Schahs hat­

schaffen, die George W. Bush später verfolgen sollte (200I-2009).6 So

ten die USA 1979 einen wichtigen Stützpfeiler verloren. Die neuen

formulierte die Clinton-Regierung die drei Anschuldigungen an die

Machthaber im Iran waren sicherlich nicht schlimmer als die in den

Adresse des Iran, die später bei j eder passenden und unpassenden

Desert Storm gegen

115

mit den USA befreundeten Staaten Saudi-Arabien oder Ägypten,

Gelegenheit in verschiedenen Kombinationen eingesetzt wurden:

wenn es um Menschenrechte und Demokratie ging, doch sie verfolg­

Unterstützung des internationalen Terrorismus, Streben nach Atom­

ten einen politisch unabhängigen Kurs. Für die USA bedeutete dies,

waffen und Blockieren des israelisch-palästinensischen Friedenspro­

dass sie den Ölstrom aus dem Persischen Golf nicht voll unter Kon­

zesses.

trolle hatten, und das betrachteten sie als einen Nachteil für ihre

Die internationalen Sanktionen führten nicht nur zu einer Ver­

«grundlegenden Interessen». Außerdem war und ist der Iran mit den

schlechterung der Beziehungen zwischen den USA und dem Iran,

zweitgrößten Öl- und Gasreserven der Welt von großer wirtschaft­

sondern wirkten sich auch im Land selbst aus. Sie verstärkten das

licher Bedeutung.

Misstrauen in der Bevölkerung gegenüber den USA und trugen dazu

Während des Krieges gegen den Irak versetzten die USA dem mili­

bei, dass die Liberalisierung der Wirtschaft scheiterte. Was Letzteres

tärischen und politischen Apparat Saddam Husseins einen schweren

betrifft, war der Einfluss inländischer Faktoren noch viel größer. Die

Schlag. Die amerikanische Regierung und ihre Bündnispartner in der

Freigabe des Wechselkurses der iranischen Währung, die Streichung

Region befürchteten, dass die Islamische Republik von der Schwäche

von Subventionen, die Aufhebung von Preiskontrollen und die Öff­

des Irak profitieren und ihre Macht ausdehnen würde. Der Aufstand

nung der Grenzen für den Import führten zu großem sozialen Unfrie­

der Schiiten im Südirak, die als potenzielle Verbündete des Iran gal­

den, sodass die Liberalisierung teilweise zurückgenommen wurde.

ten, war für die USA eine Warnung, und die US-Armee ließ zu, dass

Die Inflation stieg auf so Prozent, und die Auslandsschulden des Iran

Saddam Hussein den AufStand blutig niederschlug.'

gerieten außer Kontrolle. Die Privatisierungspläne stießen auf den

1993 kündigte der neue amerikanische Präsident Clinton die Stra­ tegie des Dual Containment an: Sowohl der Irak als auch der Iran soll-

Widerstand der Leiter von Staatsbetrieben und

bonyads,

die eigene

wirtschaftliche Interessen entwickelt hatten und sich darüber im Kla-

116



Rafsandschani: Vom Populismus zum Neoliberalismus

Mullah-Millionäre und die mostazafiin

117

ren waren, dass ihre Betriebe ohne staatliche Hilfe keine Chance ge­

Wirtschaftsmagazin Forbes schrieb 2003 nach einer ausführlichen Ana­

genüber ausländischer Konkurrenz haben würden.

lyse: «Die Revolution von 1979 machte aus dem Rafsandschani-Clan

Das bedeutete nicht, dass sich überhaupt nichts änderte. Die

Paschas des Wirtschaftslebens. Einer seiner Brüder stand an der Spitze

Schicht der Bürokraten, die die Betriebe und bonyad.s kontrollierte,

einer der größten Kupferminen des Landes, ein anderer war der Chef

öffuete die Wirtschaft nur da, wo es ihr zupass kam, und benutzte den

des staatlichen Fernsehens, ein Schwager wurde Gouverneur der Pro­

Staat weiter als Motor der Industrialisierung. Staatsintervention blieb,

vinz Kerman, während ein Cousin von ihm ein Unternehmen leitet,

aber ihre Zielsetzungen änderten sich. Die Islamische Republik hatte

das den Pistazienexport im Wert von 400 Millionen Dollar kontrol­

die Staatsbetriebe und die bonyads einerseits zur sozialen Unterstüt­

liert. Ein Nefle und einer von Rafsandschanis Söhnen erhielten hohe

zung der Unterschichten und andererseits zur wirtschaftlichen Ent­

Ämter im Ölministerium, ein anderer Sohn leitet das Bauprojekt der

wicklung benutzt. Als die Stiftung für die Unterdrückten (Bonyad-e

Teheraner Metro ( . . . ). Über verschiedene Stiftungen und Scheinfir­

Mostazafan) zwischen März 1995 und März I996 einen Gewinn von

men kontrolliert die Familie angeblich eines der größten Öl-Unter­

170 Millionen Dollar verbuchte, rechtfertigte ihr Direktor das mit der

nehmen im Iran, die Fabrik, die die Daewoo-Autos montiert, und die

Behauptung, die Stiftung «verdiene Geld im Bereich der Wirtschaft,

beste private Fluggesellschaft des Iran.)) 8 Aufgrund dieser Verflech­

um es im Bereich des Sozialen zu verwendem.7 Das war tatsächlich

tung zwischen politischer und wirtschaftlicher Macht identifizieren

einst der Zweck gewesen, doch das Geld floss immer weniger in so­

viele Iraner Rafsandschani mit Korruption und Selbstbereicherung.

ziale Programme und immer mehr in die Taschen der Topmanager

1995 stand das Land kopf, als bekannt wurde, dass der Bruder von Raf­

und deren Freunde. Mit dem Gewinn wurden auch Anteile an priva­

sandschanis Schwager Rafiqdoust, der an der Spitze der Stiftung für

tisierten Firmen gekauft, oder es wurde anderweitig investiert.

die Unterdrückten stand, 400 Millionen Dollar unterschlagen hatte.

Die Wirtschaft wurde ein wenig liberalisiert, änderte jedoch stark

Rafsandschanis Aufstieg wird oft als ein Beweis dafür gesehen, dass

die Orientierung; sie richtete sich nun weniger auf Um verteilung und

die reichen Bazaris die mächtigste gesellschaftliche Gruppe im Iran bil­

mehr auf Kapitalbildung durch private und staatliche Unternehmen.

den. In Wirklichkeit ist etwas Komplexeres geschehen. Die Bürokra­

Was sich auf jeden Fall nicht änderte, war die große Abhängigkeit der

ten an der Spitze der Staatsbetriebe und bonyads haben ihre eigenen

Ökonomie von den Öleinnahmen, über die der Staat verfügte. Dieser

wirtschaftlichen Interessen entwickelt, und ein Teil der traditionellen

letztgenannte Faktor ist zugleich der wichtigste Grund, warum die

Händler fand über sie die Möglichkeiten, Investitionen zu tätigen.

verschiedenen Machtgruppen ihre Kontrolle über den Staat nicht ver­

Aus dieser Kooperation ging eine neue Schicht moderner Kapitalis­

lieren wollten.

ten hervor: die Mullah-Millionäre. Der Zusammenschluss vollzog sich an wichtigen Orten wie der

Mullah-Millionäre und die mostazafan

iranischen Handelskammer und den bonyads. Hohe Beamte, Bazaris und Industrielle konnten sich hier gegenseitig helfen und bereichern.

Es war unvermeidlich, dass sich die ökonomischen Veränderungen

Diese Gruppe von Neureichen wird von Iranern auch scherzhaft die

auf die gesellschaftliche Basis der Islamischen Republik auswirkten.

aghazadehha genannt, «die Kinder der hohen Herren)). Laut einem

Rafsandschani verkörperte den Aufstieg einer neuen Gruppe von Mil­

Buch, das im Iran mittlerweile verboten ist, entstand in den neunziger

lionären. Er war nicht nur ein Mullah, sondern auch einer der reichs­

Jahren ein wirtschaftliches Netzwerk von n ooo Familien und deren

ten M änner des Landes mit Tentakeln in die gesamte Wirtschaft. Das

Freunden und Klientel. Der Name verweist auf die Tatsache, dass

7. Rafsandschani: Vom Populismus zum Neoliberalismus

Pragmatiker gegen Konservative

viele Kinder der «hohen Herren)) die gesellschaftliche Stellung ihrer

dem sie ihre eigenen wirtschaftlichen Interessen zu stark verfolgen

Familie nutzten, um ein Finanz- oder Industrieimperium aufzubauen.

und so zu noch mehr Unmut in der Gesellschaft beitragen würden.

So wurden die neunziger Jahre im Iran, wie im Westen, das neolibe­

Die Zufriedenheit der Bevölkerung durch Importwaren zu erhalten,

rale Jahrzehnt der S elbstbereicherung in den oberen Etagen der Ge­

gelang Rafsandschani ebenso wenig. Ein Teil der Mittelschicht pro­

sellschaft. Die Kehrseite der Medaille war, wie im Rest der Welt, eine

fitierte von seiner Wirtschaftspolitik, doch die hohe Inflation und die

relative Verarmung und die Zunahme sozialer Unsicherheit an der

Arbeitslosigkeit waren ein gigantisches Problem für die städtischen

Basis.

Arbeiter.

118

119

Da die Regierung unter Rafsandschani mehr zu den Bazaris und

Rafsandschanis neoliberale Politik versagte nicht nur bei dem Ver­

Mullah-Millionären tendierte, verlor sie ihren Rückhalt bei den Un­

such, eine neue gesellschaftliche Grundlage zu schaffen, sie unter­

terschichten. Erste Anzeichen von Unmut ließen nicht lange auf sich

höhlte zudem einen der wichtigsten Stützpfeiler der Islamischen Re­

warten. Zwischen 1991 und 1992 kam es in den Armenvierteln Tehe­

publik: den Populismus. Die politische Elite hatte nach wie vor ein

rans und einiger anderer Städte zu Krawallen, als die Regierung ille­

Problem : Sie steckte in einer Legitimitätskrise.

gal errichtete Häuser abreißen wollte. Die Proteste nahmen 1995 eine dramatische Wendung, als eine wütende Menge von Demonstranten

Pragmatiker gegen Konservative

in Eslamschahr bei Teheran Häuser, Fahrzeuge und eine Tankstelle in Brand steckte und von Helikoptern aus beschossen wurde . Unmittel­

Rafsandschani stand nicht nur vor ökonomischen, sondern auch vor

barer Anlass der Protestaktionen waren die Sparmaßnahmen unter

politischen Problemen. 1993 gewann er erneut die Präsidentschafts­

Rafsandschani, der Mangel an Trinkwasser und die hohen Brennstoff­

wahlen, unter anderem, weil es keinen glaubwürdigen Gegenkandi­

preise.9 Sogar

Chaneh-ye Kargar, die von der Regierung kontrollierte

daten gab, jedoch mit einem schwächeren Mandat als 1989. In seiner

Gewerkschaft, ging auf eine gewisse Distanz zu Rafsandschani. Nicht

zweiten Amtszeit nahmen die politischen Spannungen noch zu. Seit

zuletzt durch diese Proteste dämmerte es der politischen Elite, dass

Anfang der neunziger Jahre bildete sich um Rafsandschani eine neue

die Regierung das Land nicht allein durch Repressionen unter Kon­

politische Fraktion von Technokraten, die den Namen ({Pragmatiker»

trolle halten konnte.

(oder auch Moderne Rechte) bekam. Wie die Konservativen (die

Rafsandschani versuchte deshalb, die Macht der Islamischen Re­

Traditionalistische Rechte), die mit dem Obersten Führer Chamenei

publik auf eine neue gesellschaftliche Grundlage zu stellen. Auf der

liiert waren, strebten sie eine freie Marktwirtschaft an. Rafsandschani

einen Seite war er bestrebt, das Netzwerk der reichen Bazaris und der

arbeitete deshalb auch anfangs mit den Konservativen im Parlament

Mullah-Millionäre mit dem bürokratischen Netzwerk des politischen

zusammen, um die linke Fraktion, die bis 1992 die Mehrheit inne­

Establishments zu verknüpfen, um so die Basis des Regimes zu ver­

hatte, zu isolieren und die Wirtschaft zu liberalisieren. Es gab j edoch

breitern. Auf der anderen Seite versuchte er, die Masse der Bevöl­

auch wichtige Unterschiede. Während die Pragmatiker vor allem die

kerung zufriedenzustellen, indem er sie mit Konsumgütern aus dem

Industrie forderten und für eine etwas freiere gesellschaftliche und

Westen überhäufte. Beide Strategien zeigten freilich nicht die er­

kulturelle Praxis eintraten, setzten sich die Konservativen für das Ba­

wünschte Wirkung. Die staatliche Machtelite war zwar bereit, den

sarwesen ein und bestanden auf einer strikten Befolgung der islami­

Neureichen einen größeren Einfluss zuzugestehen, fürchtete jedoch

schen Regeln.

gleichzeitig, dass diese das gesamte Regime untergraben würden, in-

Von 1993 an führten die unterschiedlichen Auffassungen der Kon-

1 20

7· Rafsandschani: Vom

Populismus zum Neoliberalismus

servativen und der Pragmatiker unter dem Druck der wirtschaft­ lichen Probleme immer häufiger zu Konflikten. Ein Teil von Rafsan­ dschanis Wirtschaftspoliti.l) schloss alle Kräfte ein, die Reformen anstrebten, sowohl Politiker als auch gesellschaft­ liche Organisationen und soziale Bewegungen. Ironischerweise hat­ ten die Konservativen selbst zu Chatamis Wahlsieg erheblich beige­ tragen. In den zwei Jahren vor seiner Wahl hatten sie ihre Offensive gegen «unislamische)) Werte und Normen verstärkt. Auf der Straße wurden Frauen und Jugendliche von Ordnungskräften schikaniert,

129

Andersdenkende wurden von Mitgliedern der Ansar-e Hizbollah ein­ geschüchtert. Die Angst vor Rechtlosigkeit und Willkür nahm da­ durch enorm zu. Vor diesem Hintergrund konnte Chatamis Botschaft über die Be­ deutung von Freiheit und die Beachtung von Bürgerrechten auf viel Unterstützung zählen. Zwei Langzeittrends brachten Reformen an die Spitze der politischen Agenda. Erstens wurde deutlich, dass die sozialen und kulturellen Veränderungen mit den politischen Macht­ strukturen in Konflikt gerieten. Zweitens hatten die Fraktionen sehr unterschiedliche Ansichten zu der Frage, wie dieser Konflikt gemeis­ tert werden sollte. Freiheiten einschränken oder Freiheiten erweitern waren die beiden Antworten. Nach dem Scheitern Rafsandschanis zwischen 1989 und I997 unternahm Chatami einen neuen Versuch, der Islamischen Republik gesellschaftlichen Rückhalt zu verschaffen. Rafsandschanis ökonomische Liberalisierung hatte die Gegensätze zwischen großen Teilen der Gesellschaft und dem Staat nur verschärft. Vor allem durch die Krawalle I995 war ein Teil der politischen Elite zu der Erkenntnis gelangt, dass zur Erhaltung des sozialen Friedens mehr nötig war als Repression. Diese Gruppierung unter der Führung von Chatami plädierte für politische Reformen, um die Gegensätze zwi­ schen Staat und Gesellschaft zu verringern und eine politische Grund­ lage für die Legitimität der Islamischen Republik herzustellen. Die Millionen Wähler, die für Chatami stimmten, hatten äußerst hohe Erwartungen und glaubten fest daran, dass seine Regierung Reformen durchführen würde. Er trug zwar wie die anderen Mullahs ein Gewand und einen Turban, doch im Gegensatz zu ihren abge­ nutzten Predigten härte man von ihm Begriffe wie , «Rechtsstaat>> und «islamische Demokratie>>. Als dann jedoch konkrete Reformen ausblieben, schlug die Hoffuung in Enttäuschung um. Direkt nach Chatamis Wahl hatten seine kon­ servativen Gegner nichts unversucht gelassen, um das Reformprojekt zu sabotieren. Chatami reagierte mit einem Zugeständnis nach dem anderen, bis von seinen Versprechen nichts mehr übrig und die Ge­ duld seiner Wähler, die ihn 2oor wiedergewählt hatten, am Ende war.

130

8. Chatami: Von der Euphorie zur Enttäuschung

m

Zwischen Demokratie und Theokratie

Seit dem Beginn seiner ersten Amtszeit musste Chatami faktisch

Menschen zum Herrn über sein eigenes Schicksal gemacht ( . . . ). Das

zwischen zwei Kräften lavieren: den Wählern, sozialen Bewegungen

Volk kann dieses göttliche Recht entsprechend der in den folgenden

und Organisationen, die eine Veränderung forderten, und den Kon­

Artikeln benannten Weise ausüben.)) Doch nach Chatamis Wahlsieg

servativen, die das politische System benutzten, um Veränderungen

erklärte der erzkonservative Ayatollah Dschannati: «Verschiedene [po­

zu verhindern. Der Verlauf des Reformprojekts wurde letztendlich

litische] Präferenzen sind die eine Sache, das herrschende System - die

innerhalb dieser Dreiecksbeziehung bestimmt.

Islamische Republik, das Vorbild von Imam Chomeini und so wei­ ter - eine andere ( . . . ). jeder muss sich darüber im Klaren sein, dass

Zwischen Demokratie und Theokratie

dieser Staat der Staat der

welayat-e faqih

ist ( . . . ). Der Herr Präsident

muss sich der Tatsache bewusst sein, dass er Rechenschaft ablegen

Das politische System des Iran lässt sich schwer in Kategorien wie

muss, erstens gegenüber Gott, weil er sein Amt Ihm zu verdanken

«Demokratie» oder «Diktatun fassen; es ist eine komplexe Kombi­

hat, zweitens dem Obersten Führer, dem

nation von beidem, doch anders, als viele denken, sind die politischen

kommt die Wählerschaft.))' Die Verfassung enthält somit einen fun­

Verhältnisse im Iran viel freier als in anderen Ländern der Region.

damentalen Gegensatz zwischen der S ouveränität des Volkes und der

Die Debatten im iranischen Parlament zum Beispiel sind lebendiger

der Geistlichen; zwischen Reformern und Konservativen kam es des­

und kritischer als die im ägyptischen, und die Bürgerrechte etwa in

halb zu heftigen Diskussionen. Der größte Teil der Reformer akzep­

wali-ye faqih,

und danach

Saudi-Arabien sind mit denen im Iran nicht einmal vergleichbar. Ob­

tierte jedoch, dass die Verfassung der Rahmen war, innerhalb dessen

wohl das Parlament unter enormen Beschränkungen arbeitet, ist sein

die politischen Veränderungen stattfinden sollten, und Chatami

Spielraum viel größer als zu Zeiten des Schahs.

wandte sich nicht gegen das Prinzip der welayat-efaqih.

Der hybride Charakter des politischen Systems, in dem demokra­

Wie verwirrend die Funktionsweise des politischen Systems im

tisch gewählte Einrichtungen und theokratische Strukturen ineinan­

Iran ist, zeigt das Verhältnis zwischen den wichtigsten M achtzentren

dergreifen, resultiert aus der Revolution selbst, Historikern zufolge

des Staates (siehe schematische Übersicht im Anhang). Das Volk be­

eine der am breitesten unterstützten Revolutionen in der Geschichte.

stimmt durch Direktwahl die Stadträte , das Parlament

Das Volk hatte massenhaft daran teilgenommen und seine Souverä­

und den Präsidenten, der die Regierung zusammenstellt und dem

nität eingefordert. Dieses Element manifestierte sich in mehreren

Parlament zur Genehmigung unterbreitet. Die Bevölkerung wählt

Einrichtungen, die unmittelbar von der Bevölkerung gewählt wer­

die 86 Geistlichen im Expertenrat, der dann den Obersten Führer

den. Doch die führende Rolle Chomeinis und anderer Geistlicher

wählt. Der Oberste Führer hat die letztendliche religiöse und welt­

bedeutete , dass sie die Souveränität des Volkes begrenzen wollten, da

liche Macht inne. Er kann die allgemeine politische Richtung der Isla­

für sie die letztendliche Macht bei Gott liegt und nicht bei den Men­

mischen Republik bestimmen und führt den Befehl über die Streit­

schen. Sie installierten mehrere Machtzentren, die den Ulama als den

kräfte. Er ernennt auch den Obersten Richter.

(madschles)

Vertretern Gottes die Macht gaben, die Freiheiten der Bevölkerung

Dann gibt es noch zwei wichtige Organe, die eine indirekte, aber

einzuschränken. Schon der offizielle Name des Landes enthält einen

dennoch wichtige Funktion haben. Der Wächterrat besteht aus sechs

Gegensatz zwischen den Begriffen «islamisch>> und «Republik)).

geistlichen Rechtsgelehrten, die vom Obersten Führer ernannt, und

Artikel s6 der Verfassung lautet zum Beispiel: ((Die absolute Souve­

sechs weltlichen Rechtsgelehrten, die von der Justiz berufen werden.

ränität über die Erde und die Menschen gebührt Gott, und Er hat den

Sie haben die Befugnis, die Beschlüsse des Parlaments auf ihre Verein-

132

133

8. Chatami: Von der Euphorie zur Enttäuschung

Religiöse Intellektuelle und die Säkularisierung

barkeit mit den islamischen Rechtsgrundsätzen zu überprüfen. Da

15 Prozent der Inhalte verändert, d a es sich i n der Praxis als unmög­

sie auch die Kandidaten für das Präsidentenamt, das Parlament und

lich erwies, eine islamische Wirtschaftswissenschaft, Soziologie oder

den Expertenrat ablehnen können, haben sie eine mächtige Position.

Physik einzuführen.2 Um den religiösen Gehalt des Hochschulstu­

Weil es zwischen Parlament und Wächterrat in der Vergangenheit oft

diums zu verstärken, wurden die Beziehungen zwischen den isla­

wegen bestimmter Gesetze zu einer Pattsituation kam, wurde ein

mischen Seminaren in Qom und den Universitäten intensiviert. Die

Schlichtungsrat eingesetzt, der feststellt, was das Beste für die Regie­

Einflüsse wirkten sich jedoch auch in die andere Richtung aus. Reli­

rung ist. Die Mitglieder dieses Rats werden vom Obersten Führer er­

gionsstudenten machten Bekanntschaft mit Marx, Weber, Durkheim

nannt und haben die Befugnis, ihn zu beraten. Außerdem kontrollie­

und anderen westlichen Denkern.

ren sie die Arbeit aller anderen Organe.

Abdol-Karim Sorusch, einer der wichtigsten intellektuellen Dissi­

Die Spaltung des politischen Systems in rivalisierende Machtzent­

denten des heutigen Iran, ist in gewisser Weise die Personifizierung

ren führte dazu, dass diese in den politischen Kampf zwischen den

der Gegensätze in der Islamischen Republik. Als Professor an der Uni­

verschiedenen Fraktionen einbezogen wurden. Als Chatami 1997 Prä­

versität von Teheran hatte er seine Karriere dazu benutzt, politisch

sident wurde, befanden sich alle anderen Organe in den Händen der

linke Ideen zu verbannen. Um seine Gegner aus dem Feld zu schla­

Konservativen. Seine Anhänger gewannen 1999 die Kommunalwah­

gen, hatte er sich in westliche Philosophie und Gesellschaftstheorien

len und 2000 die Parlamentswahlen und stärkten dadurch ihre Posi­

vertieft, darunter in den Marxismus. Dass das keine Einbahnstraße

tion. Die Konservativen konnten j edoch auf die theokratischen Or­

war, zeigte sich, als er zu sozialwissenschaftliehen Methoden griff,

gane und die Streitkräfte zurückgreifen, um das Reformproj ekt zu

um die konservativen Ulama zu kritisieren. Trotz der komplizierten

unterminieren.

Sprache, die er benutzt, ist seine Argumentation sehr einfach: Reli­ gion selbst ist unveränderlich, doch das Wissen des Menschen über

Religiöse Intellektuelle und die Säkularisierung

sie ist abhängig von Zeit und Ort. Es gibt zwar, so Sorusch, einen wahren Islam, doch dessen Auslegungen sind menschlich und somit

Die Auseinandersetzungen zwischen Reformern und Konservativen

fehlbar. Durch seine Betonung von Vernunft, Philosophie und wis­

über individuelle Freiheiten und die Souveränität des Volkes gegen­

senschaftlicher Methodik leistete er einen wichtigen Beitrag zur

über der Macht der Geistlichen kamen nicht überraschend. Bereits in

Säkularisierung des islamischen Denkens.3 Er riskierte auch politi­

den frühen neunziger Jahren entstand eine Strömung unter Intellek­

sche Äußerungen und plädierte für eine Trennung von Religion und

tuellen, die zu den Islamisten der ersten Stunde gehört, sich dann

Staat, für Toleranz, freie Meinungsäußerung, Frauenrechte und eine

aber zu scharfen Kritikern des politischen Systems und dessen religiö­

«religiöse Demokratie>>. «Eine ideale religiöse Gesellschaft kann auf

ser Rechtfertigung gewandelt hatten. Ihre Metamorphose war das Er­

nichts anderem als dem demokratischen Argument basierem>, schrieb

gebnis des G ärungsprozesses, den die Revolution in ihrem Denken

er.4 Die konservativen Ulama sahen darin eine Unterminierung der

bewirkte. Sie hatten versucht, die Auffassungen über die Gesellschaft

welayat-e faqih, und sie durfte ab 1996 nicht mehr lehren. Sorusch hält

zu ändern, änderten sich aber auch selbst.

sich seitdem oft im Ausland auf, u. a. in Berlin, doch seine Ideen ha­

Nach der Revolution wurden die Universitäten für einige Jahre ge­

ben nur an Boden gewonnen.

schlossen, um alle Fakultäten und das Studienmaterial zu islamisie­

Viele religiöse Intellektuelle, die die konservativen Ulama kritisier­

ren. Laut Aussage eines der Beteiligten wurden schließlich nur 10 bis

ten, hatten einen ähnlichen Hintergrund wie Sorusch. Zwei bekannte

134

8. Chatami: Von der Euphorie zur Enttäuschung

Das Reformprojekt

135

Dissidenten, die später aus dem Land flohen, Gandschi und Sazegara,

dass mehr als

waren sogar in der Revolutionsgarde. Unter den Dissidenten sind auch

der täglichen Gebete hielten und dass weniger als 2 Prozent dem Frei­

Geistliche zu finden, wie Schabestari und Kadiwar. Ayatollah Monta­

tagsgebet in der Moschee beiwohnten.5 Eine dritte, viel kleinere

zeri, ein hoher Geistlicher, der bis zu seinem Tod im Dezember

Gruppe wurde areligiös.

unter Hausarrest lebte, wandte sich gegen das Prinzip der

faqih,

2009

70 Prozent d e r Bevölkerung sich nicht a n die Pflicht

welayat-e

wie es heute im Iran ausgeübt wird, und plädierte dafür, dass

der Oberste Führer sich von der Tagespolitik fernhält und sich nur sehr allgemein mit politischen Fragen beschäftigt.

Das Reformprojekt Chatami nannte als größte Aufgabe seiner Regierung, «das elemen­

Die neue Richtung, die die ehemaligen Islamisten wie Sorusch ein­

tarste Recht des Volkes zu verwirklichen, das Recht, seine Zukunft

schlugen, resultierte in drei verschiedenen Standpunkten. Die erste

selbst zu bestimmem. Das führte bei manchen Iranern zu der Erwar­

Auffassung erkennt die Rolle der Ulama und des Obersten Führers in

tung, dass er die Islamische Republik demokratisieren würde. In sei­

der Politik an, will diese jedoch einschränken, z. B. dadurch, dass der

ner Antrittsrede formulierte er sein Reformprojekt wie folgt:

Oberste Führer nur ein Vetorecht erhält oder dass er von der Bevölke­ rung direkt gewählt wird. Der zweite Standpunkt räumt der Religion

Der Schutz der Freiheit des Individuums und der Rechte der Bevölkerung ist

zwar eine Rolle in der Politik ein, lehntj edoch den unmittelbaren Ein­

die grundlegende Pflicht des Präsidenten, entsprechend dem von ihm abgeleg­

fluss der Ulama ab und plädiert für die Trennung von Kirche und Staat in einer «religiösen Demokratie». Die dritte, am wenigsten ver­ tretene Auffassung tritt für eine säkulare Demokratie ein. Die erste und in geringerem Maße auch die zweite Gruppe religiö­

ten Eid, und ergibt sich zwangsläufig aus der Würde des Menschen in der gött­ liehen Religion ( . . . ). [Diese Pflicht erfordert,] dass er die notwendigen Voraus­ setzungen schafft zur Realisierung der verfassungsmäßigen Freiheiten, zur Stärkung und Erweiterung der Institutionen der civil society ( . . . ) und zur Ver­ hütungvon Gewalt gegen persönliche Integrität, Rechte und gesetzliche Frei­

ser Intellektueller erhielten Beifall von den Politikern der linken Frak­

heiten. ( . . . ) In einer Gesellschaft, die ihre Rechte gut kennt und die von Geset­

tion. Auch ein Tei l der Pragmatiker um Rafsandschani war anfangs

zen regiert wird, werden die Rechte und Pflichten der Bürger anerkannt. 6

auf ihrer Seite. Die veränderte Haltung von Intellektuellen zur Religion korres­

Das waren sehr ehrgeizige Pläne, doch sie liefen nicht auf eine grund­

pondierte mit den Entwicklungen in der G esellschaft. Der Glaube

legende Änderung der institutionellen Verhältnisse wie etwa die

hatte für viele Menschen immer noch eine große Bedeutung, doch sie

Abschaffung oder Änderung der Rolle des Obersten Führers hinaus.

gingen anders damit um, als die Regierung es ihnen vorschrieb. Vor

Faktisch hatten die Reformer drei spezifische Ziele, die durchaus die

allem viele junge Menschen deuteten den Islam selbst neu, statt die

Voraussetzungen für eine Demokratisierung hätten schaffen können:

Gebote und Verbote der Ayatollahs zu befolgen. Sie stellten nicht in

den Schutz der individuellen Freiheiten, die Förderung gesellschaft­

Abrede, dass Religion eine politische und soziale Dimension besitzt,

licher Organisationen und das Anregen des «Dialogs der Kulturen)).

wollten jedoch selbst bestimmen, wie sie mit ihrem Glauben umge­

Letztgenanntes Element hatte sowohl eine inländische wie eine

hen. Andere entwickelten eine eher individualistische Haltung zur

ausländische Dimension. Unter «Dialog» verstand Chatami, dass die

Religion; sie wollten ihren Glauben nicht allzu stark mit ihrem sozia­

verschiedenen politischen Fraktionen und ideologischen Strömun­

len und politischen Leben vermengen, soweit das in der Islamischen

gen einander Raum gewähren sollten, doch der Begriff bezog sich vor

Republik möglich war. Nicht von ungefahr beklagten die Geistlichen,

allem auf die internationalen Beziehungen, die Chatami zufolge

136

137

8. Chatami: Von der Euphorie zur Enttäuschung

Der " Teheraner Frühling»

durch die Ideologie vom «Zusammenprall der Kulturen)) dominiert

den Wahlen war das auf jeden Fall eine erfolgreiche Strategie, da Stu­

wurden. Seine Regierung verbuchte auf diesem Gebiet einen Erfolg,

denten, Frauen, die städtische Mittelschicht und die Arbeiter massen­

als die U N den Vorschlag des Iran übernahmen, das Jahr 2001 zum

haft für Chatami stimmten und sich mobilisieren ließen, um den

Jahr des «Dialogs der Kulturen» auszurufen.

Druck auf die Konservativen zu erhöhen.

Um Chatarni und sein Reformprojekt bildete sich eine Koalition, die nach dem Datum seiner Wahl benannt wurde: die Front des Zwei­

Der « Teheraner Frühling»

ten Chordad. Diese Koalition bestand aus achtzehn Organisationen, von denen die Islamische Partizipationsfront ( IPF) unter der Führung

Journalisten, die den Iran in den ersten Jahren von Chatamis Präsi­

von Chatamis Bruder die wichtigste war. Auch einige gesellschaft­

dentschaft besuchten, berichteten über den «Teheraner Frühling».

liche Organisationen gehörten dazu: der Islamische Studentenbund

Das Land sprudelte über von politischen Debatten, Kunst und Kultur

(Daftar-e Tahkim-e Wahdat) und die Vereinigung der Streitbaren Geist­

blühten auf, Frauen und jugendliche reizten die Grenzen der Verhal­

lichen. Entscheidend war auch die Teilnahme von Rafsandschanis

tensregeln aus, und die Sittenpolizei ließ die Zügel schleifen. Filme

Partei

Chatami die Unterstützung

und Musik, die vorher verboten waren, wurden erlaubt, und zum

des Bürgermeisters von Teheran und dessen populärer Zeitung er­

ersten Mal fanden sogar Popkonzerte statt. Den sichtbarsten Fort­

hielt.

schritt konnten die Medien verzeichnen. Journalisten gründeten

Kargozaran-e Sazandegi, durch die

Der strategische Kopf hinter dem Reformprojekt war Said Had­

einen eigenen Verband, und Schriftsteller hatten weniger Probleme

dschariyan. Als glühender Anhänger Chomeinis hatte er in den acht­

mit der Zensur. Zwischen März 1999 und März 2000 wurden mehr als

ziger Jahren den Geheimdienst rnitaufgebaut, sich dann jedoch von

20 ooo Bücher veröffentlicht und erschienen 1500 Zeitungen und Zeit­

den Konservativen abgewandt. 1989 gründete er das Zentrum für

schriften, eine Verdopplung innerhalb von vier Jahren.f$ Mit diesem

Strategische Forschung, das eine Inkubationsstätte wurde, in der ver­

quantitativen Wachstum der Medien ging eine qualitative Verbesse­

schiedene Intellektuelle einen neuen Diskurs über religiöse Demo­

rung einher. Dutzende investigative Journalisten schrieben Reporta­

kratie anstießen. Als Rafsandschanis Vorstellungen der wirtschaft­

gen über Korruption und Repression im Staatsapparat. Sie berichte­

lichen Entwicklung nicht seinen Plänen entsprechend umzusetzen

ten über die undurchsichtigen

waren, brachte Haddschariyan das Konzept towseeh-ye siyasi, «politi­

ihrer Verflechtung wirtschaftlicher und politischer Interessen. Die

sche Entwicklung», ins Spiel. Politische Entwicklung, so seine Be­

Zeitungen und Magazine waren nicht nur informativ, sondern auch

gründung, sei von strategischer Bedeutung, da sie erstens eine Vor­

eine wichtige Plattform für Debatten zwischen Politikern und der

aussetzung für die wirtschaftliche Entwicklung bilde und zweitens

Gesellschaft.

negative Folgen von Wirtschaftswachstum (Ungleichheit und soziale Unruhe) abmildere.7 Das Reformprojekt war also zu einem großen Teil aus der Not­

bonyads, die mächtigen Stiftungen mit

Eine symbolische, aber wichtige Entscheidung, die Chatami bei der Zusammensetzung seines Kabinetts traf, war die Ernennung einer Frau zu einem der Vizepräsidenten

zum ersten Mal in der ira­

wendigkeit hervorgegangen, auf Veränderungen in der Islamischen

nischen Geschichte. Masumeh Ebtekar war 1979 eine Wortführerin

Republik zu reagieren. Die wichtigste Frage aber lautete, wie es zu­

der Studenten gewesen, die das amerikanische Botschaftspersonal als

stande kommen sollte. Die Antwort der Reformer war: «mobilisieren

Geiseln genommen hatten. Als Mutter von zwei Kindern leitete sie

an der Basis und verhandeln an der Spitze». Für das Abschneiden bei

später ein Zentrum für Frauenstudien und eine Vierteljahrszeitschrift

139

8. Chatami: Von der Euphorie zur Enttäuschung

Der « Teheraner Frühling»

über Frauenrechte. Unter Chatami hatte sie das Umweltressort inne, keine geringe Herausforderung in einem Land, wo Smog eines der größten Gesundheitsprobleme ist und regelmäßig für Unmut sorgt. 1998 wurde das Familienrecht modifiziert, sodass sich die Stellung der Frau in der Ehe etwas verbesserte. Der Mann konnte sich nicht mehr ohne Gerichtsverfahren von seiner Frau trennen, und wenn er es ohne ihre Zustimmung tat, hatte sie das Recht auf die Hälfte seines Besitzes. Auch auf dem Gebiet der Zivilgesellschaft war ein Fortschritt zu verzeichnen. Die Zahl der nichtstaatlichen Organisationen nahm stark zu, auf 2500 im Jahr 2001. Die Zahl der Umweltorganisationen wuchs von 5 im Jahr 1994 auf 30 im Jahr 1998. Die Zahl der Frauen­ organisationen betrug bereits 230 im Jahr 2ooo und wuchs in den fol­ genden drei Jahren weiter an auf 330. Die Studentenbewegung grün­ dete ihre eigene Nachrichtenagentur (ISNA, lranian Students News Agency), veröffentlichte eine landesweite Zeitung und 700 lokale Zeitschriften. An den Universitäten entstand ein Netzwerk von 1437 kulturellen, wissenschaftlichen und sozialen Vereinigungen. Die Uni­ versitäten wurden zur Inkubationsstätte für politische Diskussionen, und viele Studenten setzten sich für die Reformbewegung ein. Gegen Ende desJahres 2000 waren 95 neue politische Parteien und Organisa­ tionen registriert, während es zu Beginn von Chatamis Präsident­ schaft nicht mehr als 35 gewesen waren.9 Kurzum, Zehntausende von Menschen fanden verschiedene Wege, sich für politische und gesell­ schaftliche Veränderungen zu engagieren. Auf wirtschaftlichem Gebiet geschah zu Anfang wenig unter Cha­ tami, der seine ganze Energie auf die politischen Entwicklungen richtete. Doch im Jahr 2000 legte seine Regierung den dritten Fünf­ jahresplan vor, der - auf einer Linie mit der Liberalisierungstendenz unter Rafsandschani - die Rolle des freien Marktes erweiterte. Er ver­ suchte vor allem die Staatsbetriebe zu privatisieren, und obwohl er dabei erfolgreicher war als sein Vorgänger, blieb der private Sektor im Iran auf einen Anteil von 20 Prozent an der Gesamtwirtschaft be­ schränkt. Wie schon zuvor profitierten die gehobene Mittelschicht

und die Neureichen von Chatamis Wirtschaftsliberalismus, während das Leben für die Arbeiter und die Arbeitslosen schwieriger wurde. Armut blieb ein großes Problem, und die Ungleichheit nahm noch zu. Gegen Ende von Chatamis Amtszeit 2oos lebten nach Angaben des Forschungsinstituts des Parlaments 50 Prozent der Menschen auf dem Land und 20 Prozent der städtischen Bevölkerung unterhalb der relativen Armutsgrenze.10 Nach inoffiziellen Quellen kamen wäh­ rend des Fünfjahresplans 1,7 Millionen Arme hinzu. 1997 fehlten einer Durchschnittsfamilie 2,3 Millionen Rial pro Jahr zum Leben. Dieser Betrag stieg unter Chatami auf 3,3 Millionen im Jahr 2004. II Ein wich­ tiger Indikator für das anhaltende Armutsproblem war der Anteil der urbanen Bevölkerung, der in Armenvierteln lebte. Den Zahlen der UN zufolge waren das sr,9 Prozent imJahr i990 und 44,2 imJahr2oor. Das lässt sich kaum als Fortschritt bezeichnen, wenn man bedenkt, dass die Städte 1990 einen enormen, durch den Krieg ausgelösten Flüchtlingsstrom zu bewältigen hatten.n Ein noch größeres Problem als Armut war die soziale Ungleichheit. Nach den Zahlen der Weltbank von 2006 betrug der Anteil der reichs­ ten 20 Prozent der Bevölkerung am Nationaleinkommen 50 Prozent, während die ärmsten 20 Prozent sich mit 5,1 Prozent begnügen muss­ ten.'J Gerade in einem Land wie dem Iran, wo - auch durch die Revo­ lution von 1979 das Prinzip der sozialen Gleichheit im Bewusstsein der Bevölkerung tief verankert ist, ist diese Ungleichheit eine Quelle des Unmuts. Die Ungleichheit ist im Iran größer als in vergleichbaren Entwicklungsländern wie Ägypten, Indien und der Türkei. Wie wir im folgenden Kapitel sehen werden, unterminierte Chatami letztlich sein eigenes Projekt, indem er politische Freiheit und soziale Gleich­ heit voneinander trennte und damit Raum für den Neopopulismus von Ahmadinedschad schuf.

138

140

8. Chatami: Von der Euphorie zur Enttäuschung

Wandel und Widerstand in der Gesellschaft

Die Jugend: Auf der Suche nach Spaß, Jobs und Demokratie

141

Aktivität junger Menschen, die sich außerhalb der Kontrolle durch die Behörden frei fühlen wollten. Jugendliche schufen auch ihre eige­

Die Ideen, die die religiösen Intellektuellen und die reformorientier­

nen Subkulturen. Keller erhielten eine neue Funktion, als illegale

ten Politiker zur Diskussion stellten, hätten kaum für so viel Aufruhr

kleine Bands Auftritte organisierten und eine neue Musikrichtung ins

gesorgt, wenn sie nicht auf breite Zustimmung in der Gesellschaft

Leben riefen. Die staatlichen Instanzen fühlten sich so bedroht, dass

gestoßen wären. Sorusch wäre heimlich inhaftiert oder kaltgestellt

sie Genehmigungen für Popmusik mit «keuschem> Texten vergaben.

worden, wenn seine Vorlesungen nicht Hunderte von Studenten an­

Die Verbreitung des Internets spielte eine wichtige Rolle für die Ent­

gezogen hätten. Chatami wäre nie gewählt worden, und seine Regie­

stehung einer soziokulturellen Bewegungjunger Menschen. 1998 gab

rung hätte keine Begeisterung ausgelöst ohne die Zehntausende von

es erst 22 ooo Internet-Nutzer, die Zahl stieg von 130 ooo im Jahr 2000

Menschen, die in Zeitungen, Weblogs, Versammlungen und Kampa­

auf 1,3 Millionen im Jahr 2002/'

gnen Veränderungen forderten. Mehr noch, bevor religiöse Intellek­

Eine andere Form der Reaktion war die «subversive Anpassung»:

tuelle und reformorientierte Politiker so populär wurden, existierte

Jugendliche funktionierten die Rituale der Islamischen Republik auf

in der Gesellschaft bereits die Sehnsucht nach Veränderung. Die ge­

kreative Weise um. «Husain-Party» ist der Begriff, den sie sich für

sellschaftlichen Gruppen, die 1997 für Chatami stimmten, wollten

den Gede nktag zum M artyrium von Imam Husain ausdachten.

eine Öffnung erzwingen, um ihre Stimme hören zu lassen und aktiv

Während Tausende von Menschen tagsüber und abends die Straßen

zu werden. Vor allem Jugendliche, Studenten, Frauen und Gewerk­

füllten für die religiösen Zeremonien, benutztenJugendliche die An­

schaftsaktivisten wurden in den folgenden Jahren zu Schrittmachern.

onymität der Masse, um sich herauszuputzen, zu flirten und sich zu

Ihre Begeisterung war es, aus der das gesamte Reformprojekt seine

vergnügen.

Kraft bezog.

Mit diesen Entwicklungen ging ein Prozess stetiger Säkularisie­ rung einher. 1995 verbrachten 85 Prozent der Jugendlichen ihre Frei­

Die Jugend: Auf der Suche nach Spaß, Jobs und Demokratie

zeit vor dem Fernseher, doch nur 6 Prozent schauten sich religiöse Sendungen an. Fast 6o Prozent von ihnen gaben an, Bücher zu lesen,

Chatamis Wahl gab der jungen Generation Aufwind, die die vielen

aber nur 8 Prozent hatten Interesse an religiöser Literatur. Fast

Gebote und Verbote satt hatte. Die strengen Kleidungsvorschriften,

8o Prozent standen den Ulama neutral oder ablehnend gegenüber,

die Schikanen der Sittenpolizei

(Monkerat) und das Verbot von Pop­

und 86 Prozent hielten sich nicht an die tägliche Gebetspflicht. '6 Das

musik, Tanz und freiem Umgang mit dem anderen Geschlecht wur­

bedeutete übrigens nicht, dass alle Jugendlichen anti- oder areligiös

den als ein Krieg gegen das Jungsein als solches empfunden.

wurden, sondern nur, dass sie eine individuellere Haltung zum Glau­

Diese erstickende Situation führte zu verschiedenen Reaktionen.

ben entwickelten. Viele Jugendliche sind zum Beispiel tiefgläubig und

Manche Jugendliche flüchteten aus dem Elternhaus. Nach offiziellen

wollen dennoch selbst entscheiden, ob sie bestimmten Geboten der

Zahlen liefen 6o ooo Mädchen in Teheran im Jahr 2002 von zu Hause

Geistlichen Folge leisten oder nicht, so wie viele gläubige Christen

weg.'4 Andere flüchteten sich in Drogen. Schätzungen zufolge be­

die Ansichten des Papstes über Abtreibung oder die Benutzung von

wegt sich die Zahl der Drogenkonsumenten zwischen 2 und 2,5 Mil­

Kondomen ignorieren.

lionen. Eine andere Form der Reaktion war das Ignorieren oder Um­

Die Konservativen rügten diese Veränderungen scharf und stem­

gehen der Einschränkungen. Bergwanderungen wurden eine beliebte

pelten sie als «kulturelle Invasion)) aus dem Westen ab. Die Kommen-

142

8. Chatami: Von der Euphorie zur Enttäuschung

tare vieler westlicher Journalisten spiegelten diese Sichtweise. In ihren Reportagen schien die iranische Jugend vom «westlichen Le­ bensstil>) besessen zu sein. Das Problem dieser Einschätzung ist, dass sie die Kultur eines Teils der Jugend, vor allem in der gehobenen Mit­ telschicht, auf den Rest der Jugendlichen verallgemeinert. Überse­

Die Jugend: Auf der Suche nach Spaß, Jobs und Demokratie Legally I'm nobody, when I cross the border J'm somebody mean My international rights are in some politician's thoughts I ' m just a dream As I turn to this microphone and scream.

hen wird dabei außerdem, dass viele Jugendliche nicht passiv «die

I just wanna watch Dylan play live

westliche Kultun absorbieren, sondern eine subjektive Auswahl tref­

I won't fly into Pentagon alive

fen, die Elemente abwandeln und mit anderen Einflüssen aus der islamischen und vorislamischen Kultur ihres eigenen Landes vermi­ schen. In diesem Sinn sind sie viel eher Teil eines allgemeinen Globa­ lisierungstrends innerhalb der jungen Generation. In ihren Blogs und in ihrer Musik reagieren sie zum Beispiel direkt auf die weltweiten

And if they catch me on a plane from Amsterdam Believe me it's not for a political crime. I'm a living catastrophe Look how important J've become And my brother in Palestirre

Entwicklungen und beschäftigen sich mit ihrer Position darin auf

He's even ten times more strong

eine Weise, die den falschen Gegensatz zwischen westlich und nicht­

But when they went to Afghanistan

westlich durchbricht und die Grundlage für eine kosmopolitische Kultur bereitet. Nehmen wir zum Beispiel ((My Sweet Little Song)) der Band 127. Die­ ses Lied handelt davon, was es bedeutet, im heutigen internationalen

Or flied to free Iraq I was singing in my room When it bloomed in Japan And all the years of Vietnam I wasn't even born This miserable world.

Kontext Iraner zu sein, und die Tatsache, dass es auf Englisch gesun­ gen wird, drückt den Wunsch aus, mit dem Rest der Welt zu kommu­ nizieren. Es handelt davon, dass junge Leute, die voller Begeisterung in den Westen reisen wollten, die Erfahrung machen mussten, dass sie als eine «Gefahr für die Sicherheit)) empfangen wurden:

We appear on their TV shows like creatures from another planet. If they ever knock on my door, it's just for the oil Or mysteries left from my ancient parents. I got my friend in California, I die to see her but I can't And my sweet cousin in Paris Believe me, she just wants to show me around.

I' m detained Captured, «in-framed>>

But J'm detained

I' m detained

Captured, auf die Straße. Die Zahl der verhafteten Studenten stieg

Dann ging der Angriff auf die Reformbewegung in eine gewalt­

auf über tausend, doch die Proteste gingen weiter, als am I2. JuliJour­

tätige Phase über. Die Grundlage dafür war schon geschaffen, da Pres­

nalisten vieler Zeitungen in den Streik traten. Chatami rief die Stu­

suregroups wie die Ansar-e Hizbollah freie Hand bekommen hatten,

denten an diesem Abend auf, Ruhe zu bewahren und die Proteste zu

die Reformer einzuschüchtern. Im November 1998 geriet das Land in

beenden. Was die Staatsmacht tatsächlich zu beunruhigen begann,

Aufruhr durch die bestialische Ermordung von Dariusch Foruhar, der

war die Tatsache, dass die Studentenproteste auch zu einem Kristal­

direkt nach der Revolution Minister gewesen war, und dessen Frau.

lisationspunkt für die Wut der Arbeiter in den Städten wurden. Als

Kurze Zeit später wurden drei Intellektuelle ermordet, die geplant

sich am nächsten Tag Studenten erneut vor der Universität von Te­

hatten, einen Schriftstellerverband zu gründen. Von Chatami einge­

heran versammelten, schlossen sich ihnen Jugendliche aus den süd­

leitete Ermittlungen ergaben, dass die Täter Mitarbeiter des Informa­

lichen Arbeitervierteln an. Während die Demonstranten Losungen

tionsministeriums waren und rund hundert Morde an Dissidenten im

wie «Das Volk hungert, die Geistlichen leben wie die Könige>> riefen,

In- und Ausland auf dem Gewissen hatten. Das war ein bedeutender

wurden sie von Ansar-e Hizbollah, Mitgliedern der Revolutionsgarde

Sieg für Chatami, doch er unternahm keine weiteren Schritte, um von

und den Basidsch angegriffen.

dieser Grundlage aus die Konservativen in die Defensive zu drängen.

In zweierlei Hinsicht sollte sich dieser Studentenaufstand als ein

Nicht zuletzt durch die Art und Weise, in der die konservativen

Wendepunkt erweisen. Erstens veränderte sich dadurch die Bezie­

Zeitungen auf die Morde reagierten, wurde deutlich, wo die Konser-

hung zwischen Chatami und der Studentenbewegung. Das Image

152

8. Chatami: Von der Euphorie zur Enttäuschung

Chatamis und seiner Regierung als Verteidiger von Bürgerrechten und

Die Konservativen und die Gegenreformen

153

Als reformorientierte Intellektuelle und Geistliche im April 2000

politischen Freiheiten erlitt erheblichen Schaden, weil sie nicht in der

an einer Konferenz der Heinrich-Böli-Stiftung in Berlin teilnahmen,

Lage waren, die Angriffe auf die Studenten zu verhindern. Schlimmer

wurden sie nach ihrer Rückkehr verhaftet. Das war das Startsignal für

noch, als «Nicht-Studenten» sich den Protesten anschlossen, nannte

einen massiven Angriff auf Zeitungen und Zeitschriften. Innerhalb

Chatami die Slogans der Demonstranten «demagogisch, provokativ

eines Jahres wurden wo Zeitungen verboten, die Redaktionsmitarbei­

und eine Gefahr für die nationale Sicherheit».26 Er wollte sein Reform­

ter festgenommen und mehrere von ihnen zu Gef) bezeichnete

würden seine Verhandlungsposition gegenüber den Konservativen in

und der Unterstützung von Al-Qaida bezichtigte, obwohl der Iran

Gefahr bringen. Bezeichnend für seine Haltung zu den Protesten ge­

den USA in Afghanistan bei der Vertreibung der Taliban geholfen

gen die konservative Offensive waren die Worte, die er nach seinem

hatte.

Abgang äußerte: «Wir glaubten, dass innere Konflikte und Chaos ein

Die harte Kriegssprache aus Washington war für die Konservati­

tödliches Gift für den Fortbestand des Landes und die Souveränität

ven in Teheran wie ein Geschenk des Himmels. Sie beriefen sich auf

der Islamischen Republik seien.))z9

das Argument der «nationalen Sicherheit», um die Repressionen ge­

Der zweite Faktor war der Charakter der Reformbewegung, die

gen alle Regimegegner zu verstärken. Die Kriegsdrohung gab ihnen

auf die moderne städtische Mittelschicht beschränkt blieb. Das politi­

die Möglichkeit, ihre Anhänger durch das Anstacheln nationalisti­

sche Programm, der Stil und die Rhetorik der Reformer machten es

scher Gefühle zu mobilisieren und jeden, der die Einheit des Landes

ihnen schwer, eine Brücke zum Rest der Bevölkerung zu schlagen.

bedrohte, als Verräter hinzustellen. Die Aussicht auf eine mögliche

Während viele Arbeiter unter Chatami mit Inflation und ausbleiben­

militärische Intervention bedeutete , dass die Oppositionellen im Iran

den Lohnzahlungen konfrontiert wurden, hatten die Reformer kaum

eine weitere schwere Sorge hatten. Schirin Ebadi, die Menschenrechts­

ein soziales Programm. Die Begriffe, mit denen die Reformer war­

aktivistin, die 2003 den Friedensnobelpreis erhielt, sprach im Namen

ben, wie «Zivilgesellschaft» und ((Pluralismus)), sprachen Menschen

vieler Iraner, als sie sagte: «Eine Intervention der USA wird die Situa-

1 56

8. Chatami: Von der Euphorie zur Enttäuschung

tion nicht verbessern, das hat die Erfahrung des Irak gezeigt. Wir wer­ den nicht zulassen, dass auch nur ein einziger amerikanischer Soldat einen Fuß auf iranischen Boden setzt. Wir werden unser Land bis

g. Ahmadi nedschad: Die

Farce des Popu l ismus (2005-2010)

zum letzten Blutstropfen verteidigen.>)-31

Bisher hat sich jede Präsidentenwahl im Iran als historischer Ein­ schnitt erwiesen. Rafsandschanis Wahl markierte das Ende der Pe­ riode revolutionärer Politik und des Krieges und den Beginn des wirt­ schaftlichen Wiederaufbaus. Chatamis Wahl war ein Zeichen für das Wiederaufleben der Gesellschaft. Ahmadinedschads Sieg bei den Prä­ sidentschaftswahlen von 2005 bedeutete den Aufstieg einer neuen politischen Kraft: des Neokonservatismus. Was den Zielen dieser drei Präsidenten jeweils eine historische Dimension gibt, ist die Tatsache, dass sie nicht nur eine Antwort waren auf die Frage: «Wie soll die Isla­ mische Republik regiert werden?», sondern auch auf die Frage : «Was ist die Islamische Republik?}) In jedem der drei Fälle handelte es sich um den Versuch, durch die Neudefinition der Islamischen Republik eine stabile gesellschaftliche Basis zu finden. Der große Unterschied zwischen Ahmadinedschad und seinen Vorgängern war, dass niemand den Wahlsieg vorhergesehen hatte. Den Kommentatoren fehlten die Worte, als Ahmadinedschad nicht nur die Kandidaten der Reformer besiegte, sondern auch den mäch­ tigen Ex-Präsidenten Rafsandschani. Wer war dieser Mann, und was war da eigentlich geschehen? Das tonangebende Wochenmagazin

The Economist schrieb:

«Das Wahlergebnis widerlegte die Auffassung,

( . . . ) dass der öffentliche Diskurs im Iran im Wesentlichen ein Kampf zwischen der Bevölkerung, die Freiheit will, und einem repressiven Staat ist. ( . . . ) Anders als der vorrevolutionäre Iran ist die Islamische Republik partiell eine Demokratie, und die Bevölkerung hat am Wahltag Dampf abgelassen.»' Der Iran-Kenner Dilip Hiro beschrieb, warum diese Wahl so be­ merkenswert war: «Zum ersten Mal im postrevolutionären Iran wurde die Präsidentenwahl auf der Basis der sozialen Zugehörigkeit ent-

158

159

9-Ahmadinedschad: Die Farce des Populismus

«Aus dem Geschlecht der Frommen"

schieden - Bauern, Arbeiter und die untere Mittelschicht unterstütz­

auf einen der Namen des Propheten Mohammed verweist und wört­

ten Ahmadinedschad, der Rest des Mittelstandes und die gehobenen

lich ,>

ist immer noch nicht einfach. Ahmadinedschad legte zusammen

Als Ahmadinedschad am 28. Oktober 1956 geboren wurde, hätten

mit 150 ooo anderen Studenten den äußerst strengen Zulassungstest

seine Eltern nicht im Traum daran gedacht, dass ihr Sohn einmal Prä­

(Concours) ab und kam auf Platz 132,

sident werden könnte. Zudem schien der Schah, obwohl der Putsch

schrieb sich für ein Studium als Bauingenieur ein und promovierte

gegen Mossadegh erst drei Jahre her war, fest im Sattel zu sitzen. Ge­

später. Anders als in vielen anderen Bildungseinrichtungen, in denen

rade sein Sturz war es, der für Leute wie sie den Weg zum Fortschritt

der linke Einfluss groß war, dominierten an seiner Universität die Isla­

ebnete.

misten. Er gründete die Islamische Studentenvereinigung und wurde

Mahmud war das vierte von sieben Kindern der Familie Sabba­ ghiyan

ein hervorragendes Ergebnis. Er

während der Revolution Vorstandsmitglied des landesweiten Isla­

ein Name, der vom Beruf teilte. Mit verächtlichen Äuße­

den Iran müssen Teil der Verhandlungen sein. Ich hoffe, ( . . . ) dass die

rungen wie der Leugnung des Holocaust goss Ahmadinedschad Öl

USA irgendwann mehr Engagement zeigen.})12 Die USA haben sich

ins Feuer und löste einige Kontroversen aus, doch im Kern drehte sich

jedoch nicht nur geweigert, dem Iran eine Sicherheitsgarantie zu ge­

der Konflikt mit den USA weiterhin um das Nuklearprogramm. Als Ahmadinedschad im April 2006 bekannt gab, der Iran gehöre

ben, sondern auch immer wieder betont, dass die militärische Option nicht vom Tisch ist.

durch die erfolgreiche Anreicherung von Uran fortan zu den Ländern

Das Tauziehen um das iranische Atomprogramm lässt sich wie

mit Atomtechnologie, wurde unter dem Druck der USA der ON-Si­

folgt zusammenfassen. Mal für Mal wiederholt die IAEO, dass die

cherheitsrat eingeschaltet. Im Dezember beschloss der Rat ökonomi­

permanente Überwachung der iranischen Nuklearanlagen keinen

sche und diplomatische Sanktionen gegen den Iran, die Anfang 2007

Beweis erbracht habe, dass das Land an einem Atomwaffenpro­

noch verschärft wurden. Durch diese Schritte nahmen die internatio­

gramm arbeite, obgleich noch einige Fragen offen seien. So berich­

nalen Spannungen um den Iran weiter zu, und in den Medien wurde

tete el-Baradei am 27. Februar 2006, die IAEO habe im Iran keinen

kräftig über einen bevorstehenden Militärschlag der USA oder Israels

Beweis für «den Gebrauch von Nuklearmaterial für Kernwaffen oder

gegen die iranischen Nuklearanlagen spekuliert. Obwohl es laut

andere nukleare Sprengsätze» gefunden. Doch weil sich der Iran

mehrerer Berichte der IAEO keinen einzigen Beweis für die Existenz

weigerte, Resolutionen des ON-Sicherheitsrates Folge zu leisten, die

171

9· Ahmadinedschad: Die Farce des Populismus

Der Iran, die USA und das Nuklearprogramm

einen Stopp der U rananreicherung forderten, wurden unter starkem

Westens die autoritären Kräfte und schadete den Gruppen, die eine

Druck der USA drei verschärfte Sanktionsrunden gegen das Land ver­

Demokratisierung anstrebten. Kernenergie wurde zu einer Frage des

hängt.

Nationalstolzes, und sogar Dissidenten stellten sich hinter das Recht

170

Die Wurzeln des Konflikts zwischen den USA und dem Iran rei­

auf Urananreicherung zu friedlichen Zwecken. Das festigte die Posi­

chen bis weit vor den Beginn des Nuklearprogramms zurück. 1979

tion von Ahmadinedschad, und die Kriegsrhetorik sowie die finan­

verloren die USA mit dem Schah einen wichtigen Verbündeten in der

zielle Unterstützung der «Demokratisierung>) aus den USA gaben

Golfregion. Die Islamische Republik war seither unabhängig von den

ihm den Stock in die Hand, mit dem er die Dissidenten schlagen

USA und bildet mit ihrer Unterstützung für die islamistischen Wider­

konnte. Das erste Anzeichen dieser Entwicklung waren die Ereig­

standsgruppen wie Hamas und Hizbollah eine Bedrohung für die

nisse auf dem Internationalen Frauentag 2006. Die Demonstration

amerikanische Dominanz in der Region. Diese Dominanz zu erhal­

mehrerer hundert Frauen für Gleichberechtigung wurde mit mas­

ten, ist gerade der Kern der amerikanischen Politik im Nahen und

siver Gewalt aufgelöst. In den folgenden Wochen kursierte ein offe­

Mittleren Osten. Die enormen Ölreserven spielen dabei nicht nur

ner Brief, in dem NGO und Initiativgruppen erklärten, trotz der

eine wichtige Rolle als Treibstoff für die amerikanische Wirtschaft;

Repression mit ihren Aktivitäten weiterzumachen. Sie sprachen sich

die Kontrolle darüber verschafft den USA auch einen strategischen

zugleich gegen die Einmischung ausländischer Mächte in ihren

Vorteil gegenüber wirtschaftlichen Konkurrenten wie Europa und

Kampf aus und versprachen, das Geld >18

Zentralbank geht hervor, dass sich die Ausgaben für beispielsweise

Privatisierte Unternehmen werden häufig von staatlichen Institu­

Bildung, Gesundheit, Soziales und Wohnungswesen zwischen März

tionen, bonyads oder der Revolutionsgarde wieder aufgekauft. Im

2005 und März 2007 inflationsbereinigt nicht erhöht hatten, obwohl

Juni 2009 wurde zum Beispiel das Tehran International Expo Centre

die Öleinnahmen rapide gestiegen waren. Ahmadinedschads Finanz­

privatisiert. Die Organisation für Privatisierung übertrug 95 Prozent

politik führte zu einer Spekulationsblase auf dem Immobilienmarkt,

des Grundbesitzes und sonstigen Eigentums an die Organisation für

sodass es für Familien aus der Mittel- und Arbeiterschicht unmöglich

Soziale Sicherheit der Streitkräfte; andere Interessenten bekamen gar

wurde, Wohneigentum zu erwerben, während Reiche von den stei­

nicht erst die Möglichkeit, ein Angebot abzugeben. Ein weiteres Bei­

genden Immobilienpreisen immens profitierten.

spiel ist die Privatisierung der National Iranian Copper Industries

Die Regierung versuchte den finanziellen Druck auf diese Bevölke­

Company im Jahr 2007, die für I,I Milliarden Dollar veräußert wurde.

rungsgruppen zu verringern, indem sie günstige Darlehen für Rent­

In diesem Fall waren die Käufer andere staatliche Institutionen, dar­

ner, j unge Ehepaare, Käufer von Eigentumswohnungen und Bauern

unter die Pensionsfonds der Stahlindustrie und die staatliche Rund­

anbot, doch die meisten von ihnen waren bereits hoch verschuldet.

funk- und Fernsehanstalt.

Als die Inflation im September 2008 auf 29 Prozent stieg, wurde es für viele einfache Iraner schwierig, über die Runden zu kommen. Während Ahmadinedschads erster Amtszeit verdoppelten sich für

Ahmadinedschad versuchte diese Praktiken zu tarnen, indem er Privatisierung als Grundlage für anpries. Seine Regierung sah vor, dass 40 Prozent der zu privatisierenden

176

177

g. Ahmadinedschad: Die Farce des Populismus

Gebrochene Versprechen und Repression

Staatsbesitzungen Menschen mit geringem Einkommen über «Ge­

Staatsbeamter und heute ein freiberuflich tätiger Wirtschaftswissen­

rechtigkeitsanteile» zugute kommen sollten. Schätzungen zufolge

schaftler in Teheran, sagt schlicht, die Pasdaran seien ein, wo sie miteinan­

seiner populistischen Rhetorik gegen die reiche Elite war Ahmadi­

der diskutierten. In Zeitungen und im Internet erschienen kritische

nedschad bei einem Teil der Wähler nach wie vor sehr beliebt. Den­

ArtikeL Doch vor allem die live ausgestrahlten Fernsehdebatten zwi­

noch hatte sich die allgemeine Stimmung im Vergleich zum Wahlj ahr

schen den Kandidaten, die zum ersten Mal in der Islamischen Repub­

2005 verändert. Das übersahen Kommentatoren, die den Unterschied

lik stattfanden, gaben dem Wahlkampf eine neue Dynamik.

zwischen Ahmadinedschads und Musawis Anhängern zu rigoros auf

10.

182

Der Anfang vom Ende

Der Riss an der Spitze

183

einen Unterschied zwischen den Unterschichten und der Mittel­

Die führenden Akteure in Musawis Wahlkampfteam entstamm­

schicht reduzierten. Ahmadinedschad hatte mit seiner Politik zwar

ten hauptsächlich der Mittelschicht und wurden von Angehörigen

einen Teil der armen Bevölkerung an sich gebunden, vor allem in den

der Oberschicht unterstützt; ein Symbol dafür ist die Rolle Rafsan­

Provinzen, in denen er Straßen und Schulen bauen ließ; die allge­

dschanis hinter den Kulissen. Doch das Versprechen einer «Zukunft

meine wirtschaftliche Misere hatte aber dazu geführt, dass sich viele

ohne Armut>> fand auch bei Wählern aus der Arbeiterschaft Anklang,

von ihm abwandten.

ebenso wie die Zusage, dass sie unter Musawis Präsidentschaft mehr

In dieser Situation war es kein Zufall, dass sich das Reformlager für

demokratische Rechte erhalten würden. Sie hatten aus erster Hand

Musawi entschied. Ebenso wie der Rest der «linkem Fraktion hatte er

Erfahrungen mit staadicher Repression, wann immer sie demons­

sich nach rechts bewegt und b efürwortete die freie Marktwirtschaft,

triert oder gestreikt hatten. Viele von ihnen hatten außerdem ihre

profilierte sich aber auch als der Premierminister, der in den achtziger

Kinder schon einmal von der Polizeiwache abholen müssen, wenn

Jahren für eine gerechtere Verteilung des Reichtums gesorgt hatte.

die gegen die «Sittenregelm verstoßen hatten. Als die Proteste ausbra­

Den Reformern war bewusst, dass sie sich unter Chatami zu sehr auf

chen, waren sie deshalb Ausdruck eines schichtenübergreifenden Zu­

die Mittelschicht gestützt hatten und nicht imstande gewesen waren,

sammenschlusses. Nicht nur die Mittelschicht opponierte, auch für

die Stimmen der unteren Schichten für sich zu gewinnen. Die Aufstel­

viele Arbeiter waren die Proteste ein Ventil für aufgestaute Enttäu­

lung Musawis war in dieser Hinsicht ein wohlüberlegter Schachzug.

schung und \Vut. Wie der berühmte Nahost-Korrespondent Robert

Musawi startete seine Wahlkampagne in Nasi Abad, einem Arbei­

Fisk berichtete, waren die D emonstrationsteilnehmer nicht nur «die

terviertel im Süden Teherans, wo er mit dem Slogan «Mir-Hoseyn

modischen jungen Damen mit den großen Sonnenbrillen aus dem

gahraman

Norden Teherans. Auch die Armen waren hier, die einfachen Arbeiter

hamiye mostazafan» - Mir-Hosein ist der Held der Ar­

men - empfangen wurde. In seiner Rede sagte er: «In dieser chao­

und Frauen mittleren Alters im Tschador.))1

tischen Welt ist die Unabhängigkeit der Islamischen Republik eine große Errungenschaft», und er fügte hinzu: «Vor der Revolution wa­ ren ausländische Militärberater in j edem Winkel unseres Landes, und der Iran galt als zentrales Bindeglied im Sicherheitssystem des Wes­

Der Riss an der Spitze Parallel zu dem Drama, das sich nach den Wahlen auf den Straßen

tens in dieser Region.» Um einen Anteil am iranischen Erfolg bei der

des Iran abspielte, fand im Zentrum der Macht eine shakespearesche

Entwicklung von Nukleartechnologie für sich zu reklamieren, be­

Tragödie statt mit allem, was dazugehört: mit Intrigen, Missgunst,

tonte er, dieser Erfolg sei nicht möglich gewesen ohne «Unabhän­

Wahnvorstellungen, \Vutausbrüchen, Machtgier und wahrscheinlich

gigkeit» und den «heiligen Verteidigungskampfi> gegen die irakisehe

mit einem verhängnisvollen Ende für die Protagonisten. Der Kon­

Invasion, in dem er eine zentrale Rolle gespielt hatte . Unter Berufung

flikt zwischen Präsident Ahmadinedschad, dem Obersten Führer

auf das Vermächtnis Chomeinis äußerte er, der wahre Islam gehöre

Chamenei und der Revolutionsgarde auf der einen Seite und Mus­

den Armen, und er fügte hinzu: «Wir sind gegen die Reichen, die mit

sawi, Chatami und Rafsandschani auf der anderen Seite bildete den

ihren Besitztümern protzen, während die Gesellschaft mit so vielen

vorläufigen Höhepunkt eines Geschehens, das in der Spätphase der

Problemen zu kämpfen hat . . . Der Imam [Chomeini] wollte das Ver­

iranischen Revolution begonnen hatte. Persönliche Abneigungen

hältnis zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern nicht stören, aber

standen dabei in engem Zusammenhang mit sozialen Gegensätzen

er wollte auch nicht, dass der Kommerz regiert.»

und konkurrierenden Auslegungen des Islam.

184

Der Riss an der Spitze

10. Der Anfang vom Ende

185

Wie bereits beschrieben, zerfiel die politische Elite der Islamischen

chen Machtposition zu tun. Als er die Nachfolge Chomeinis antrat,

Republik, seit sie ihre Macht konsolidiert hatte, in mehrere Frak­

war er kein Ayatollah und genoss innerhalb des Klerus wenig Anse­

tionen. Der Konflikt zwischen Musawi und Chamenei reicht zum

hen. Außerdem fehlte ihm das Charisma seines Vorgängers. Um seine

Beispiel bis in die achtziger Jahre zurück, als Musawi, damals

Position zu sichern, begann er deshalb bereits Anfang der neunziger

Premierminister und Führer des linken Lagers, regelmäßig mit

Jahre, sich eine Machtstellung innerhalb der Revolutionsgarde aufzu­

Chamenei zusammenstieß, der Präsident und prominentes Mitglied

bauen. Die Kommandanten der Revolutionsgarde wiederum sind

der rechten Fraktion war. Auch die Säuberung staatlicher Organe

auf den obersten Führer angewiesen, da er den Befehl über die Streit­

von Gegnern ist nichts Neues. Die politische Elite der Islamischen

kräfte führt. Ihre politische und wirtschaftliche Rolle hat, wie im vori­

Republik funktioniert nach der Logik des chodi und gheyr-e chodi

gen Kapitel beschrieben, stark zugenommen, sodass man von einer

die «Eigenen», die zum Machtzirkel gehören, und die «Nicht-Eige­

gewissen Militarisierung der Macht sprechen kann. Nach den Wahlen

nen», die abseits stehen.

stand also auch der Charakter des politischen Systems auf dem SpieL

Bis zu den Präsidentschaftswahlen 2009 wurden die Auseinander­

Bis zu diesem Zeitpunkt bestand eine Balance zwischen gewählten

setzungen innerhalb der politischen Elite durch Wahlen reguliert,

und nicht gewählten Machtstrukturen. Letztere hatten schon immer

und Machtpositionen wurden untereinander verteilt. Falls die Wie­

das größere Gewicht gehabt, nach den Wahlen aber neigte sich die

derwahl Ahmadinedschads durch groß angelegten Wahlbetrug zu­

Waagschale noch stärker zu ihrem Vorteil. Der ultrakonservative Aya­

und dafür sprechen einige Indizien2 -, würde es sich um

tollah Mesbah-e Yazdi, Ahmadinedschads religiöser Mentor, rechtfer­

einen Wahlputsch handeln, bei dem der Präsident, der Oberste Füh­

tigte diese Verlagerung: «Wenn der Präsident vom Obersten Führer

rer Chamenei und die Revolutionsgarde zusammenwirkten. Wie und

[Chamenei] akzeptiert wird, ist Gehorsam gegenüber dem Präsiden­

in welchem Umfang sie die Wahlen manipuliert haben, wird sich

ten dasselbe wie Gehorsam gegenüber Gott.» Politiker und Geist­

noch zeigen müssen, doch die Art, wie sie nach den Wahlen auf die

liche, die

Proteste reagierten, hatte alle Merkmale eines Putsches. Die Bewe­

kratischen Charakter der Islamischen Republik betonten, kamen mit

gungsfreiheit der Oppositionsführer, darunter Musawi und Karrubi,

diesem theokratischen Konzept in Konflikt.

stande kam

oft unter Berufung auf Ayatollah Chomeini

den demo­

wurde stark eingeschränkt, und Dutzende von Politikern, Journalis­

Die Krise nach dem Juni 2009 drehte sich nicht nur um das Wahler­

ten und Aktivisten wurden verhaftet. Die Revolutionsgarde und die

gebnis, sondern auch um die Neuverteilung der Macht zwischen den

Basidsch reagierten mit massiver Gewalt auf die Proteste. Ein hoher

verschiedenen politischen Fraktionen und den mit ihnen verbunde­

Offizier der Revolutionsgarde gab später zu, dass nach den Wahlen

nen Gesellschaftsschichten. Der Konflikt zwischen Ahmadinedschad

zwei Monate lang das Militär das Land regiert habe. Der Machtzirkel

und der Revolutionsgarde auf der einen und Rafsandschani auf der

wurde durch den Ausschluss von Altgedienten wie Mussawi und Kar­

anderen Seite hängt zum Beispiel mit dem Aufstieg eines neuen Bür­

rubi auf eine noch kleinere Gruppe beschränkt. Auch die Uneinigkeit

gertums zusammen, das den Machtansprüchen des Staates und der

unter den Geistlichen nahm zu, als sich einige von ihnen hinter

bc:myads gegenübersteht. Das erklärt, warum sich Rafsandschani vor

Ayatollah Chamenei und Ahmadinedschad stellten und andere für

und nach den Wahlen hinter Musawi stellte. Doch er unterstützte

Musawi und die Demonstranten Partei ergriffen.

die Straßenproteste nur sehr zögerlich, da er ebenso wie viele andere

Dass sich der Oberste Führer Chamenei auf die Seite Ahmadined­

Mitglieder der wohlhabenden Elite befürchtete, sie könnten außer

schads und der Revolutionsgarde stellte, hat viel mit seiner schwa-

Kontrolle geraten und die Option eines Kompromisses mit Chame-

186

187

10. Der A nfang vom Ende

Der Aufstand von «Schmutz und Staub»

nei beeinträchtigen. Rafsandschanis Sorge galt nämlich nicht der De­

keine Angst mehr}) - eine Anspielung auf einen populären Slogan der

mokratie, sondern der Teilhabe an den Öleirrnahmen und den Mög­

Revolution von 1979. Abends gingen die Proteste auf den Dächern

lichkeiten, die der Staat den neuen Kapitalisten im Iran bietet, um

mit dem Ruf Allahu akbar! (Allah ist groß) weiter

hohe Profite zu erzielen.

spielung auf die Revolution. Auffallend bei den Protesten war auch

ebenfalls eine An­

Die politische Krise nach der Wahl vom Juni 2009 lässt sich jedoch

die Rolle der Frauen, die bei allen Demonstrationen in den ersten Rei­

nicht auf den Machtkampf innerhalb der politischen und wirtschaft­

hen standen. Das hatte nicht nur etwas mit ihrer Demütigung und

lichen Elite des Iran reduzieren. Die Protestbewegung war nicht nur

Benachteiligung im täglichen Leben zu tun, sondern auch mit der

Ausdruck eines Risses an der Spitze, wenngleich dieser Riss eine wich­

wichtigen Rolle, die die Frauenbewegung in den Jahren zuvor ge­

tige Rolle spielte, sondern vor allem eine Außerung des sehnlichen

spielt hatte. Diese Bewegung hatte nicht nur ein soziales Netzwerk

Wunsches der Bevölkerung nach Demokratie und sozialer Gerech­

geschaffen, auf dem die neuen Proteste aufbauen konnten, sondern

tigkeit.

auch eine neue Mentalität der Kooperation; säkulare und islamische Feministinnen hatten gelernt, zusammen für ihre gemeinsamen

Der Aufstand von «Schm utz und Staub»

Ziele zu kämpfen. Bei der Demonstration vom

rs.Juni wurden mehr als 300 Men­

In den ersten Wochen nach dem 12. juni 2009 kam es zu halbsponta­

schen verhaftet, und es gab 15 Tote. Trotzdem konnte die Regierung

nen Protesten in Teheran, Isfahan, Schiras, Täbris, Maschad, Babol,

nicht verhindern, dass in den darauffolgenden Tagen erneut Hun­

Rascht, Orumiyeh und anderen großen Städten. Tausende von De­

derttausende auf die Straße gingen. Um die Angst zu beschwören,

monstranten riefen «Wo ist meine Stimme?'' und forderten die An­

riefen sie

nullierung des Wahlergebnisses. Am rs. Juni befolgten mehr als eine

Angst, wir stehen zusammen! In dieser ersten Woche nach den Wah­

Million Menschen in Teheran den Aufruf Musawis für eine von der Re­

len erinnerten die Massenproteste an die Anfangstage der Revolution

gierung nicht genehmigte Demonstration. Musawi selbst erschien

von 1979. Noch nie zuvor waren Iraner in der Islamischen Republik in

dort erst, als seine Berater ihn informierten, dass sich die Menschen

so großer Zahl auf die Straße gegangen, um demokratische Verän­

bereits zu Zehntausenden versammelt hatten. Diese Beziehung zwi­

derungen einzufordern. Auf den Straßen herrschte eine euphorische

(matarsid, natarsid - ma hameh baham hastim))

-

Habt keine

schen Musawi und der Protestbewegung zeigte sich in den folgenden

Hoffimng, dass diese Veränderungen sehr schnell kommen würden.

Monaten noch deudicher: Es waren die Massen der Demonstranten,

Manche Demonstranten riefen sogar

die Musawi nach vorn stießen und von ihm Führung erwarteten.

Am Ende der Woche ist Ahmadinedschad fort! Ahmadinedschad be­

Aber auch, als er zurückblieb oder sie entmutigte, machten die

schimpfte die Demonstranten wütend als «Schmutz und Staub;;,

Demonstranten anfangs weiter.

(