Charmed, Zauberhafte Schwestern, Bd. 9: Kampf gegen die Gotter
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Zitiervorschau

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Charmed Zauberhafte Schwestern Kampf gegen die Götter

Roman von Elisabeth Lenhard

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Klapptext: Endlich ist Prues große Chance gekommen: Wenn sie ein wirklich tolles Foto schießt, soll es auf dem Cover des angesagten Stadtmagazins 415 erscheinen. Das könnte für sie der Durchbruch sein, wenn sie nur ein überzeugendes Konzept hätte. Da kommt ihr die Idee, eine Gruppe von Models als griechische Gottheiten zu fotografieren. Sie will sogar eine alte Kamera benutzen, um dem Foto die nötige Patina zu verleihen. Doch als Prue auf den Auslöser drückt, geschieht das Unfassbare: Die Models sinken als seelenlose Körperhüllen zu Boden! Um die unschuldigen Opfer zu retten, steigen die Charmed-Schwestern hinab in den Hades, das Totenreich der griechischen Mythologie. Dort entpuppt sich Phoebes neuer Schwärm Nikos als skrupelloser Sohn des Unterweltgottes, der sie gefangen nimmt und zu seiner Gattin machen will. Wird es Piper und Prue gelingen, ihre Schwester und die Models aus dem Reich der Finsternis zu befreien?

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Aus dem Amerikanischen von Christina Deniz Die Deutsche Bibliothek – CIP-Einheitsaufnahme Charmed – zauberhafte Schwestern. – Köln: vgs (ProSieben-Edition) Kampf gegen die Götter: Roman von Elisabeth Lenhard. Aus dem Amerikan. von Christina Deniz. – 1. Aufl. – 2001 ISBN 3-8025-2861-1 Erstveröffentlichung bei Pocket Books, New York 2001 Titel der amerikanischen Originalausgabe: Soul of the Bride von Elizabeth Lenhard Das Buch »Charmed – Zauberhafte Schwestern. Kampf gegen die Götter« von Elizabeth Lenhard entstand auf der Basis der gleichnamigen Fernsehserie von Spelling Television ausgestrahlt bei ProSieben. © des ProSieben-Titel-Logos mit freundlicher Genehmigung der ProSieben Televisions GmbH ™ und © 2001 Spelling Television Inc. All Rights Reserved. 1. Auflage 2001 © der deutschsprachigen Ausgabe: Egmont vgs Verlagsgesellschaft mbH Alle Rechte vorbehalten. Produktion: Wolfgang Arntz Umschlaggestaltung: Sens, Köln Titelfoto: © Twentieth Century Fox Film Corporation 2001 Satz: Kalle Giese, Overath Druck: Clausen & Bosse, Leck Printed in Germany ISBN 5-8025-2861-1

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1 Prue? Würden Sie bitte in mein Büro kommen?«

»

Prue Halliwell sah von dem Kontaktbogen auf, den sie gerade geprüft hatte, während sie darauf wartete, ihren Chefredakteur, Nick Caldwell, zu sprechen, der sie nun in sein Reich bat. Sie schluckte. Als Fotografin für das 415, San Franciscos angesagtestes Stadtmagazin, hatte sie es meistens nur mit einfachen Redakteuren zu tun – mit dem Fotoredakteur, dem Moderedakteur oder dem Restaurantkritiker –, für die sie ihre Bilder machte. Doch so gut wie nie hatte sie mit Mr. Caldwell persönlich gesprochen. Er gehörte zum Management des Verlags, und wenn sich ihre Wege einmal kreuzten, so war ihr Kontakt über ein höfliches »Guten Tag« nie hinausgegangen. Prue steckte den Kontaktbogen in einen Ordner und nickte ihrem Boss zu. Er sah wie immer gepflegt und fast ein bisschen zu glatt aus mit seinen grauen Schläfen und dem DesignerAnzug. »Natürlich, Mr. Caldwell, bin sofort bei Ihnen«, rief sie, erhob sich von ihrem Schreibtisch und durchquerte die Redaktionsräume des 415, ein großzügiges City-Loft im Industriedesign mit rotem Zementboden und einem Röhrensystem unter der Decke. Prue liebte das coole Ambiente der Büroräume, und sie liebte ihren Job als angestellte Fotografin für das Stadtmagazin. Für sie war es die bislang befriedigendste und aufregendste Arbeit überhaupt. Doch nun wollte sie der Häuptling höchstpersönlich sprechen … Sie schauderte. Wollte er sie womöglich vor die Tür setzen?

Prue vertrieb diesen schrecklichen Gedanken und fuhr sich mit den Fingern durch ihr glänzendes schwarzes Haar. Als sie seine Bürotür erreichte, schenkte sie Mr. Caldwell ihr strahlendstes Lächeln. »Was kann ich für Sie tun, Mr. Caldwell?«, fragte sie leicht nervös. »Kommen Sie herein, Prue«, sagte der Chefredakteur und nahm hinter seinem Schreibtisch Platz. »Und schließen Sie bitte die Tür hinter sich.« Oh, dachte Prue, wenn das mal kein schlechtes Zeichen ist. »Prue«, begann Mr. Caldwell, »ich muss Ihnen sagen …« Sie krümmte sich innerlich. Was nützt es, dachte sie, wenn man eine Hexe ist und sich doch nie aus solchen Situationen herauswinden kann? »… dass ich Ihre Arbeit liebe.« »Wie bitte?«, platzte sie heraus, und ihre blauen Augen weiteten sich ungläubig. Sie hatte so sicher mit einem Rüffel, wenn nicht mit einem Rausschmiss gerechnet, dass sie ihren Ohren kaum trauen mochte. »Ihre Fotos sind so dynamisch«, sagte Mr. Caldwell. »Sie haben ohne Zweifel großes Talent, auch wenn das eine oder andere natürlich noch ausbaufähig ist.« »Danke schön!«, entfuhr es ihr, und sie fühlte, wie sich ihre Wangen vor Freude röteten. Wer braucht schon Magie, dachte sie, wenn man Talent hat? »Ich möchte Ihnen daher Folgendes vorschlagen«, fuhr Mr. Caldwell fort. »Wir haben noch nichts für das August-Cover geplant. Ich möchte Ihnen eine Chance geben. Wenn Sie mir ein

Foto liefern, das mich aus den Latschen haut, dann haben Sie das Cover.« »U-und … zu welchem Thema?«, stotterte Prue. »Das überlasse ich Ihnen«, erwiderte Mr. Caldwell mit einem knappen Lächeln. »Das könnte einen Quantensprung für Ihre Karriere bedeuten. Doch Sie sollten wissen, dass andere Kollegen ebenfalls für dieses Cover arbeiten werden. Mit anderen Worten: Sie haben einiges an Konkurrenz zu erwarten, also geben Sie Ihr Bestes.« »Selbstverständlich«, sagte Prue und stand auf. Natürlich kannte Mr. Caldwell sie nicht wirklich gut. Wären ihre beiden Schwestern, Piper und Phoebe, hier, hätten sie ihrem Chef versichert, dass Prue stets ihr Bestes gab. Sie war eine ausgesprochene Perfektionistin, das typische älteste Kind, das seine Verantwortung stets ernst nahm. »Danke, dass Sie mir diese Chance geben, Sir. Ich versprechen Ihnen, Sie bekommen ein Foto, das sie aus den Latschen haut.« Mit einem Grinsen wandte sie sich um und verließ Mr. Caldwells Büro. Genauer gesagt verließ sie auch die Redaktionsräume des 415. Sie war viel zu aufgeregt, um sich weiter mit Kontaktabzügen zu beschäftigen. Sie musste sich ein absolutes Überfliegermotiv für das Cover überlegen, und das konnte sie nur zu Hause. Vielleicht sogar mit ein wenig Unterstützung und Inspiration von ihren Schwestern. Seit Prue, Piper und Phoebe in das Herrenhaus ihrer Großmutter gezogen waren, hielten die drei Schwestern wie Pech und Schwefel zusammen und konnten sich blind aufeinander verlassen. Das betraf sowohl Ratschläge in Liebesdingen als auch Tipps für Partyoutfits und natürlich alles, was mit ihren magischen Fähigkeiten zusammenhing.

Nachdem Phoebe auf dem Speicher des Anwesens das Buch der Schatten entdeckt hatte, wussten die Schwestern, dass sie Hexen waren, weiße Hexen aus der Dynastie der Zauberhaften. Es hatte sich herausgestellt, dass der alte schwere Foliant unzählige Beschwörungsformeln, Zaubersprüche und hilfreiche Einträge enthielt und dass das Buch in der Halliwell-Familie seit Generationen von Mutter zu Tochter weitervererbt worden war. Dem Schicksal hatte es gefallen, dass ihre Großmutter und auch ihre Mutter nicht mehr unter den Lebenden weilten, und so war es nun an Prue und ihren Schwestern, das Vermächtnis der Zauberhaften anzutreten und vielleicht eines Tages weiterzutragen. Und wie sie bald feststellen sollten, waren sie die mächtigsten Hexen dieser Dynastie überhaupt. Schon jede Schwester für sich war mittels ihrer Fähigkeit imstande, Großes zu vollbringen. Doch im Verbund verfügten sie über die Macht der Drei, eine Energie, die sie nahezu unschlagbar machte. Was Dämonen und Hexer allerdings nicht davon abhielt, sie töten und ihnen ihre Kräfte rauben zu wollen. Tja, dachte Prue nicht ohne Sarkasmus, als sie die Fahrertür ihres BMW aufschloss, aller guten Dinge sind drei … Die andere Seite der Medaille war, dass das Leben einer mit besonderen Fähigkeiten ausgestatteten Hexe oft ziemlich stressig war. »Oder wie erklärt man seiner Verabredung, dass man mittels Telekinese Dinge aus dem Fenster befördern kann?«, murmelte Prue, als sie nach Hause fuhr. »Oder dass Piper die Zeit einzufrieren vermag und dass Phoebe Visionen von der Zukunft hat und zu allem Überfluss auch noch fliegen kann?«

Phoebes Fähigkeit, sich in die Lüfte zu erheben, war eine Sache, die die Schwestern erst kürzlich herausgefunden hatten und die das Nesthäkchen noch nicht vollständig erforscht hatte. Ich kann es schon bildlich vor mir sehen, dachte Prue und lachte trocken auf. Da will mir der Typ, mit dem ich den Abend verbracht habe, vor der Haustür noch einen Gute-Nacht-Kuss geben, und ich muss mich beeilen zu erklären: ›Keine Sorge, die Hexe, die da auf dem Staubsauger durch die Gegend fliegt, ist nur meine kleine Schwester …‹ Auch die Verpflichtung, die die drei Schwestern mit ihrem Erbe eingegangen waren, nämlich die Unschuldigen und Hilflosen vor allem Bösen zu beschützen, konnte mitunter zu einer großen Last werden. Was kein Wunder ist, dachte Prue, denn wann kommt die Aufgabe, die Welt zu retten, überhaupt mal gelegen? »Doch nichts dergleichen darf diesmal passieren«, murmelte sie. »Nichts soll und darf sich zwischen mich und dieses Magazin-Cover stellen. Nichts!«

Kann es was Schöneres geben, als hier in der Kunstklasse zu sein?, fragte sich Phoebe Halliwell, als sie am Ausguss stand und ihre Pinsel auswusch. Sie warf einen Blick über die Schulter in den Raum, in dem außer ihr noch viele andere Kunststudenten mit ihren Arbeiten beschäftigt waren. Phoebes derzeitiges Werk stand beim Fenster – direkt neben der winzigen rothaarigen Professor Winters. Tatsächlich, so musste Phoebe erschrocken feststellen, musterte Frau Professor – ihre Kunstlehrerin und härteste Kritikerin – soeben ihre Leinwand. Ach du liebe Güte, dachte sie, ließ ihre Pinsel fallen und flitzte zu ihrer Staffelei.

»Ich hab mich mal an einer Mischung aus O'Keefe und van Gogh versucht«, verkündete sie, als sie sich hinter ihre Professorin stahl. »Ja, das sehe ich«, sagte Professor Winters, als sie Phoebes abstrakte Schwertlilien betrachtete. »Ein bisschen zu imitiert für meinen Geschmack, und das, obwohl Sie doch durchaus dazu im Stande sind, etwas Eigenes zu schaffen.« Sprach's und ließ Phoebe mit offen stehendem Mund stehen. Imitiert!, dachte sie enttäuscht. Ich dachte, meine Idee sei originell, zumal ich O'Keefes Stil eine völlig neue, verrückte Wendung gegeben habe. Offensichtlich lag ich da wohl falsch. »Und ein weiterer akademischer Fehlschlag für Phoebe«, murmelte sie und seufzte tief. Die Schule war noch nie ihre große Stärke gewesen, doch seit sie wieder zum College ging, versuchte sie, nicht erneut in den alten »Eine-Vier-reicht-auch«Trott zu verfallen. Ganz klar, dachte sie, ich hab mich einfach nicht genug angestrengt. Gerade als sie sich in Selbstzweifeln ergehen wollte, sagte eine tiefe, unglaublich erotische Stimme an ihrem Ohr: »Hör nicht auf sie. Dein Bild ist toll.« Phoebe fuhr herum und hätte heute fast zum zweiten Mal mit offenem Mund dagestanden, wenn sie nicht rechtzeitig die Fassung wiedererlangt hätte. Vor ihr stand ein schwarzhaariger, über und über mit Farbe verschmierter Traumboy in beklecksten Levis und einem Jeanshemd, das ebenfalls mit sämtlichen Regenbogenfarben verziert war. Wo ist der denn so plötzlich hergekommen?, dachte sie erstaunt. Als ob er ihre Gedanken gelesen hätte, sagte der Junge mit einem gewinnenden Lächeln: »Heute ist mein erster Tag hier.

Ich heiße Nikos. Und Sie sind zweifellos die Starstudentin aus Kurs 201. Ihre Lilien sind einfach unglaublich, Miss …« »… Phoebe«, platzte sie heraus, während sie in Nikos' wunderschöne blaue Augen starrte. »Ich meine, ähm, Halliwell, ich meine, Phoebe Halliwell. Aber Sie können mich einfach …« »… Phoebe nennen?«, fragte Nikos mit einem verschmitzten Gesichtsausdruck. Am liebsten hätte sich Phoebe vor die Stirn geschlagen, doch ihre Hände waren voller Farbe, daher verfluchte sie sich nur im Stillen. Ein atemberaubender Typ reicht, um mich in einen brabbelnden Vollidioten zu verwandeln, dachte sie. Muss ich dringend dran arbeiten … »So«, sagte sie. »Nikos. Was ist das für ein Name?« »Ein griechischer«, sagte er mit einem verwegenen Lächeln. »Ich stamme aus einer großen, sehr alten griechischen Familie. Unsere Wurzeln reichen sehr weit zurück.« So, so, dachte Phoebe und musste grinsen. Dann deutete sie auf Nikos' diverse Pinsel in seiner Hand. »Und woran arbeiten Sie gerade?« Sie schob sich an ihm vorbei zu seiner Staffelei und warf einen Blick auf die Leinwand. Fast musste sie einen erstaunten Aufschrei unterdrücken. Das mag ja sein erster Tag in diesem Kurs sein, dachte sie, aber dieser Junge ist mit Sicherheit kein Anfänger. »Es ist … geradezu hypnotisierend«, flüsterte sie, als sie auf die grauen und braunen Wirbel starrte, die Nikos zu einer Sumpf- und Waldszene komponiert hatte. Als sie genauer hinsah, konnte sie durch die Bäume ein gespenstisches Gebäude erkennen. Schemenhafte Wesen schienen in seinen Schatten zu lauern.

Phoebe konnte sich nicht von dem Bild losreißen. Je länger sie darauf starrte, desto mehr Details wurden sichtbar, desto mehr zog es sie in sich hinein. »Es ist so dunkel«, sagte sie atemlos. Dann endlich riss sie sich zusammen und drehte sich zu dem Künstler um. »Auf positive Weise natürlich«, fügte sie schnell hinzu. »Keine Sorge«, meinte er augenzwinkernd, »alle meine Abgründe werden durch die Malerei kompensiert. Im wahren Leben bin ich ein hoffnungsloser Optimist.« »Ach, wirklich?«, flirtete Phoebe. »Lassen Sie es mich Ihnen beweisen«, erwiderte Nikos. »Kaffee?« »Zufällig hab ich gleich eine Freistunde«, erwiderte sie. Ihr Herz hüpfte vor Aufregung. Im Moment kann es wirklich nichts Schöneres geben, als hier in dieser Kunstklasse zu sein, dachte sie. Sie schenkte Nikos ihr bezauberndstes Lächeln, als sie fortfuhr: »Lassen Sie mich nur schnell die Farbe von meinen Händen abwaschen.« Sie lachte. »Und dann können wir von hier verschwinden.«

Piper saß am Küchentisch, einem ihrer Lieblingsplätze im weitläufigen, hoffnungslos überladenen Halliwell Manor. Doch das sonnige Fleckchen bot ihr an diesem Nachmittag keinen Trost, weil sie eine ihrer unangenehmsten Aufgaben zu erledigen hatte – die monatliche Abrechnung für ihren Club P3. Lustlos hackte sie auf den Taschenrechner ein. Immer wieder warf sie einen sehnsuchtsvollen Blick durch das

Buntglasfenster. Mit einem Seufzer stellte sie fest, dass sie sich zu Tode langweilte. Alles, was ich tue, dachte sie, ist arbeiten! Nachts spiele ich die Mutter und Geschäftsführerin für meine Angestellten im Club. Und meine gesamte Freizeit scheint dafür draufzugehen, Unschuldige zu beschützen und Dämonen, die mir und meinen Schwestern ans Leder wollen, den Garaus zu machen. Sogar meine eigene Fähigkeit, so fand sie, ist irgendwie langweilig. Klar, ich kann die Zeit anhalten, und dennoch stagniert mein Leben. Prue hat eine neue aufregende Karriere als Fotografin gestartet, und Phoebe hat sich wieder den Freuden des Collegelebens zugewandt. Darüber hinaus sind die beiden wahre Männermagneten. Sie erschauderte und dachte mit Reue an Leo, seines Zeichens ein Wächter des Lichts und ihr Beschützer. Ja, sie betete Leo an, doch es konnte nicht normal sein, sich mit einem in Wahrheit über achtzigjährigen himmlischen Sendboten zu treffen. Und er war in dieser Funktion überaus beschäftigt, genauer gesagt bekam sie ihn in letzter Zeit so gut wie gar nicht mehr zu Gesicht. Zudem schien sie für richtige Männer, sprich sterbliche Männer, so gut wie nicht mehr zu existieren. Sie war eben einfach nur Piper, die mittlere Schwester – unsichtbar, langweilig, blaß. »Hey, du glaubst nicht, was mir heute passiert ist!«, rief eine Stimme aus dem Flur. Es war Prue, die gerade die Eingangshalle betreten hatte. »Ich lege meinen Fall nieder«, murmelte Piper, doch dann versuchte sie ein Lächeln. Schließlich war es nicht Prues Schuld, dass sie so unzufrieden mit ihrem Leben war. »Was ist denn los?«, fragte sie, als ihre Schwester in die Küche stürmte, ihre Handtasche auf die Theke warf und sich zu

ihr an den Tisch setzte. Ihre Wangen waren vor Aufregung gerötet. »Nun«, begann Prue, »ich habe …« Rumms! Mit einem Knall fiel die Eingangstür ins Schloss. Das muss Phoebe sein, dachte Piper. »Jemand zu Hause?«, rief die jüngste Halliwell-Schwester aus dem Foyer. »Ihr glaubt nicht, was mir heute passiert ist!« Sprach's und schoss direkt auf den Kühlschrank zu. »Ich hab heute in der Redaktion eine fantastische Chance bekommen«, fuhr Prue fort und lehnte sich aufgeregt vor. »Ich hab heute in der Schule einen fantastischen Typen kennen gelernt«, platzte Phoebe heraus, während sie sich mit einem dicken Stück Käse und etwas Obst eindeckte. Und schon legten die beiden los, während Piper mit offenem Mund von Prue zu Phoebe und wieder zu Prue sah. Es ist, als ob ich einem Pingpong-Spiel zusehe, dachte sie amüsiert. Als sie ihre Schwestern beim Kampf um die Redezeit beobachtete, wunderte sie sich wieder einmal, dass sie alle so gut miteinander auskamen. Was fast ein Wunder war, denn das Trio konnte unterschiedlicher kaum sein. Prue mit ihrem rabenschwarzen Haar und der blassen Haut war der direkte, sachliche und eher vernünftige Typ. Ganz im Gegensatz zur inzwischen erblondeten Phoebe mit ihrem stets gebräunten Teint, die sich vor allem durch ihre sorglose, offene Art und ihre hochfliegenden Zukunftspläne auszeichnete. Und schließlich sie selbst, die brünette, zart gebaute Piper, die – wieder einmal – irgendwie dazwischen lag. Sie war zwar eine sehr professionelle

Geschäftsfrau, doch im Grunde war sie immer ein bisschen zu schüchtern, hoffnungslos romantisch und ziemlich gutmütig. Wenn man bedenkt, wie unterschiedlich wir sind, dachte Piper, ist es erstaunlich, wie nah wir uns doch stehen. Das stimmte. Denn seit die Schwestern herausgefunden hatten, dass sie die Zauberhaften waren, waren sie einander so verbunden, wie, nun, wie es die Mitglieder eines Hexenzirkels eben nur sein konnten. Sie wandte ihre Aufmerksamkeit wieder ihren Schwestern zu und schaffte es irgendwie, ihrem Redeschwall ein paar Basisinformationen zu entreißen: Soweit sie verstand, sollte Prue ein Foto für das Cover des 415 machen, und Phoebe hatte am College offensichtlich einen ziemlich heißen Typen kennen gelernt. Ja, sie hatten sogar schon ihre erste Verabredung gehabt. »Er heißt Nikos …«, sagte Phoebe gerade. »Mein Abgabetermin ist in zehn Tagen …«, erklärte Prue. »Hey!«, platzten beide gleichzeitig heraus. »Hast du überhaupt ein Wort von dem mitbekommen, was ich gesagt habe?« Das war der Moment, in dem Piper in schallendes Gelächter ausbrach. »Lasst mich euch kurz ins Bild setzen«, sagte sie, während Phoebe an ihrem Käsestück kaute. Und so war es an ihr, Phoebe von Prues großer beruflicher Chance und Prue von Phoebes neuer Eroberung zu unterrichten. »Gut gemacht, Prue!«, kommentierte Phoebe mit vollem Mund. »Und ich hab auch schon das richtige Model für dein Foto – Nikos! Der Typ ist soooo süß. Steck ihn in ein paar Calvin-Klein-Unterhosen, und fertig ist das Starfoto! Und natürlich brauchst du auch eine Assistentin, richtig? Ich melde

mich freiwillig. Die perfekte Gelegenheit, Nikos besser kennen zu lernen!« Sie grinste zufrieden und biss ein großes Stück von ihrem Apfel ab. »Immer mit der Ruhe, Phoebe!«, rief Prue lachend. »Ich weiß ja noch nicht mal, was für ein Motiv ich auswähle. Findest du es da nicht ein wenig voreilig, Nikos schon jetzt zu bitten, für mich zu modeln?« Doch Piper wusste, dass Phoebe sich nicht so einfach von ihrem Vorhaben würde abbringen lassen. Denn wie sie Phoebe »Ich kriege immer den Mann, den ich will« Halliwell kannte, war das Projekt Nikos bereits beschlossene Sache. Angesichts dieses Plans konnte sie sich ein Seufzen nicht verkneifen. »Was ist denn?«, fragte Phoebe, die sich gerade noch ein Stück Käse abschnitt und sich dann zur ihren Schwestern an den Tisch setzte. Ich weiß wirklich nicht, wo Phoebe die ganzen Kalorien lässt, dachte Piper. Sie kann essen und essen und behält trotzdem die Figur eines Fotomodells. »Nichts«, erwiderte sie, nahm sich ihrerseits ein Stück Käse und kaute langsam darauf herum. »Na komm schon«, sagte Prue. Sie lehnte sich vor und sah ihre Schwester prüfend an. »Raus damit. Was ist los mit dir?« »Es ist …«, begann Piper, »ach, ich bin einfach etwas müde. Und außerdem fühle ich mich ein bisschen, na ja, auf dem Abstellgleis, wenn ihr es genau wissen wollt. Ihr beide erlebt gerade so viel Neues und Aufregendes, wohingegen ich mich immer nur mit der Buchhaltung für den Club beschäftige und meine Samstagabende ohne Begleitung verbringe. Tatsächlich haben die ganze Arbeit und der fehlende Spaß aus mir ein ziemlich langweiliges Etwas gemacht.«

Es entstand eine kleine Pause, dann brachen Prue und Phoebe in schallendes Gelächter aus. »Vielen Dank«, sagte Piper beleidigt. »Es ist schön, wenn man sich auf die moralische Unterstützung seiner Schwestern verlassen kann.« »Tut mir Leid, Süße«, sagte Prue japsend, »aber ich bitte dich: Du bist eine Hexe mit Superfähigkeiten, du bist wunderschön, du führst den heißesten Club in der Stadt, und das nennst du ein langweiliges Leben?« »Ich weiß, was du brauchst«, meldete sich nun Phoebe zu Wort. »Ein bisschen Nachtleben! Was haltet ihr davon, wenn wir mal wieder einen draufmachen? Sobald Prue ihren Auftrag erledigt hat, organisieren wir einen Abend unter Schwestern und machen einen Ort unsicher, an dem wir noch nie waren, zum Beispiel dieses neue Cabaret namens Schattenreich. Ich hab gehört, dort tritt auch eine tolle Sängerin auf. Das wird bestimmt ein super Abend!« »Na ja …« Piper musste zugeben, dass diese Idee nicht schlecht klang. »Finde dich damit ab! Du hast jetzt eine Verabredung«, sagte Phoebe und drückte Piper einen Kuss auf die Wange. »Es wird ein unvergesslicher Abend werden, und es wird dir noch Leid tun, dass du jemals behauptet hast, dein Leben sei langweilig!«

2 Am

nächsten Morgen führte Prue ihr erster Weg in die Bibliothek. Noch immer zerbrach sie sich den Kopf über das perfekte Coverfoto und benötigte daher ein wenig Inspiration. Vielleicht wird es mir helfen, dachte sie, wenn ich mir ein paar Bücher mit historischen Motiven anschaue. Es ist schon komisch, überlegte sie. Da beschweren sich die Fotografen immer, dass sie keine Aufträge bekommen und um jede Gelegenheit, ihr Talent unter Beweis stellen zu können, betteln müssen. Und jetzt, wo ich die Chance habe, zu zeigen, was ich draufhabe, bin ich wie paralysiert! In ihrer typischen Entschlossenheit durchforstete sie die Regale in der Bildband-Abteilung systematisch nach Themen, die ihr geeignet schienen. Schließlich schleppte sie einen riesigen Bücherstapel zu einem der Lesetische. Als sie den ersten Band durchblätterte, stieß sie auf eine Reihe von Schwarzweißfotos mit Suffragetten. Hmmm, dachte sie, vielleicht sollte ich eine Serie über starke Frauen in San Francisco machen? Doch dann verwarf sie den Gedanken wieder. Vielleicht sollte ich ein etwas populäreres Motiv ins Auge fassen, ein Motiv, mit dem sich jeder irgendwie identifizieren kann, sogar Mr. Caldwell. Der nächste Band enthielt Landschaftsaufnahmen von Dorothea Lange. Ich mag die romantische Anmutung dieser Fotos zwar sehr, dachte sie, aber so was ist einfach nichts für das 415. Ein Titelfoto für dieses Magazin muss etwas Urbanes haben. Plötzlich erklang hinter ihr eine tiefe Stimme, so samtig wie ein exquisiter Wein. »Ich kann mir nicht helfen, aber es sieht so aus, als ob Sie sich die halbe Fotoabteilung ausgeliehen haben.«

Prue schnaubte und verdrehte die Augen. Was für eine lahme Anmache, dachte sie. Man sollte doch meinen, dass man wenigstens in der Bibliothek vor baggernden Typen sicher ist. Gereizt wirbelte sie herum und wollte dem Störenfried gerade eine passende Antwort geben, als sie innehielt. Wie gebannt starrte sie in ein Paar grau-grüne Augen mit langen dunklen Wimpern und auf das süßeste Lächeln, das sie je gesehen hatte. »Ähem«. sagte sie und konnte nicht fassen, wie sehr sie dieser Mann aus dem Konzept gebracht hatte. Was ist bloß aus der resoluten Prue geworden, schalt sie sich, dass ich angesichts eines Lächelns außer Fassung gerate? Ganz zu schweigen von seinem athletischen Körper und dem wunderschönen braunen Haar … »Es tut mir Leid, Sie gestört zu haben«, sagte der Mann. »Aber ich bin Journalist, und ich befürchte, sie haben in diesem Stapel ein Buch, das ich dringend für meine Arbeit brauche.« »Oh«, platzte Prue heraus, »ich bin Fotojournalistin! Wollen Sie nicht Platz nehmen?« O mein Gott, dachte sie. Du kennst noch nicht mal seinen Namen und bittest ihn schon, sich zu dir zu setzen? Was ist bloß in dich gefahren, Prue? Du hast noch genau neun Tage Zeit, um dieses Projekt hinter dich zu bringen, und plötzlich hast du nichts Besseres zu tun, als dich mit einem Fremden auf ein Schwätzchen einzulassen? »Ich heiße Mitchell«, stellte sich der Mann vor und zog sich einen Stuhl heran. Dann streckte er Prue seine Hand entgegen. »Mitchell Pearl vom National Geographie.«

»Das ist doch ein Witz, oder?«, sagte Prue. »Ich fasse es nicht! Für National Geographie zu arbeiten ist der Traum eines jeden Journalisten. Was ist Ihr derzeitiges Projekt?« »Ich bin auf dem Weg nach Vietnam, um eine Reportage über das neue Saigon zu machen. In diesem Zusammenhang bin ich auf der Suche nach einem bestimmten Buch mit Kriegsfotos«, erklärte Mitchell und warf einen Blick auf Prues BildbandAusbeute. »Ah, da ist es ja schon! Macht es Ihnen was aus, wenn ich's mir mal anschaue?« »Mein Name ist Prue Halliwell«, sagte sie und errötete. Ich erröte!, dachte sie erschüttert. Seit wann zum Teufel erröte ich? »Nein, bedienen Sie sich nur«, sagte sie hastig. »Ich selbst bin auf der Suche nach Ideen für das 415.« »Für das 415? So, so. Einige der besten Fotografen der Stadt arbeiten für dieses Magazin«, sagte Mitchell anerkennend, während er das Vietnam-Buch aus dem Stapel zog. »Sie müssen sehr gut sein.« »Eines Tages vielleicht«, sagte Prue bescheiden. »Momentan stehe ich noch ganz am Anfang. Ich bin erst seit diesem Jahr dabei. Doch jetzt soll ich schon Fotovorschläge für ein Cover machen und dachte, dass ich hier vielleicht die perfekte Idee dazu finde.« »Da sind Sie hier genau richtig«, bestätigte Mitchell, fischte sich einen weiteren Band aus Prues Bücherstapel und blätterte ihn flüchtig durch. »Sehen Sie sich zum Beispiel mal diese zeitgenössischen viktorianischen Porträts an«, sagte er. Er zeigte Prue ein sepiafarbenes Gruppenfoto von neun Frauen, das im Stil der klassischen Antike arrangiert war. Die Modelle trugen schlichte weiße Gewänder, Oberarmreifen und

auf dem Kopf goldene Kränze. Eine der Damen hielt eine Lyra, eine andere Pfeil und Bogen in den Händen. »Darf ich mir das mal ansehen, Mitchell?«, fragte sie und nahm das Buch an sich. Dann las sie die Bildunterschrift: »›Viktorianische Aristokraten nehmen sich des neuen Mediums Fotografie an, indem sie selbst vor der Kamera posieren und dabei historische Charaktere darzustellen versuchen. Die zu dieser Zeit beliebtesten Motive waren zumeist klassischer Natur. Diese Gruppe beispielsweise stellt die neun Musen des mythologischen Griechenlands dar.‹« Prue schnappte nach Luft. »Ich hab's!«, flüsterte sie aufgeregt. »Ich mache eine Reportage über San Franciscos viktorianische Architektur. Ich könnte etwas im klassizistischen Stil arrangieren, so wie auf diesem Foto. Und ich weiß auch schon, wo ich das Ganze aufnehmen werde.« »Na, also«, bemerkte der unglaubliche Fremde. »War das jetzt wirklich so schwer?« »Mitchell, ich danke Ihnen«, sagte Prue. »Sie haben mir soeben aus meinem Dilemma geholfen. Mit anderen Worten: Sie können die anderen Bücher gerne haben. Ich muss los und mich um mein Projekt kümmern.« Sie nahm den Bildband mit den viktorianischen Fotos an sich und stand auf. Mitchell erhob sich ebenfalls. »Meinen Glückwunsch, Prue«, sagte er. »Doch danken Sie nicht mir. Auf diese tolle Idee sind Sie ganz allein gekommen.« Prue konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen. »Aber Sie haben den richtigen Riecher gehabt«, erwiderte sie. »Ohne Sie wäre ich gar nicht darauf gekommen.«

»Nun, wenn Sie wirklich darauf bestehen, mir zu danken«, sagte Mitchell grinsend, »darf ich Sie dann morgen zum Lunch einladen?« »Also, ich weiß nicht …«, sagte sie zögernd. »Ich hab noch so viel zu erledigen, um diesen Abgabetermin zu halten. Und wie steht es überhaupt mit Ihnen? Wollten Sie nicht nach Vietnam?« »Erst in zwei Wochen«, erklärte er. Sein Lächeln verblasste. »Doch hören Sie, wenn Sie kein Interesse haben, ist das okay für mich. Ich kann damit leben.« »Nein«, entfuhr es Prue, und sie erinnerte sich an das gestrige Gespräch am Küchentisch. ›Die ganze Arbeit und der fehlende Spaß haben aus mir ein ziemlich langweiliges Etwas gemacht‹, hatte Piper gesagt. Sie hätte genauso gut von mir sprechen können, dachte sie. Sobald ich mich auf meine Arbeit konzentriere, geht mein Privatleben zum Teufel. Eine schlechte Angewohnheit, die ich mir wirklich mal abgewöhnen sollte. Also warf sie sämtliche Vorsicht über Bord, schlug die guten Ratschläge, die sie ihren Schwestern so gern erteilte, in den Wind und schenkte Mitchell ein strahlendes Lächeln. »Was ich sagen wollte, ist, ja, ich würde morgen wirklich sehr gern mit Ihnen zu Mittag essen.« »Fein!«, rief Mitchell und zeigte ihr seine umwerfend weißen Zähne. »Und ich habe genau den richtigen Treffpunkt für uns. Im Castro hat ein neuer Vietnamese aufgemacht, und ich habe gehört, die Küche soll wirklich sehr authentisch sein. Wenn Sie mich dorthin begleiten, würden Sie mir Ihrerseits bei meinen Recherchen helfen.« »Ich glaube zwar nicht, dass Sie meine Hilfe benötigen, Mr. National Geographie«, witzelte Prue, »aber vietnamesische Küche klingt wirklich verlockend.«

»Soll ich Sie morgen Mittag abholen?«, fragte Mitchell. »Das wäre toll«, sagte sie und warf sich ihre Tasche über die Schulter. Rasch gab sie ihm ihre Adresse und eilte dann zum Ausgabeschalter, um den Bildband auszuleihen. Als sie die Bibliothek verließ, waren ihre Wangen vor Aufregung gerötet. Während sie kurz darauf Richtung Parkplatz ging, versuchte sie Mitchells unwiderstehliches Lächeln aus ihrem Kopf zu vertreiben. Ich muss mich schleunigst wieder meiner Arbeit widmen, beschwor sie sich. Insbesondere, wenn ich mir morgen Mittag schon wieder eine Auszeit gönne. Prue stieg in ihren Flitzer und fuhr los. Sie hatte Mitchell die Wahrheit gesagt, als sie meinte, sie wüsste genau, wo sie die Fotos machen wolle. Tatsächlich schwebte ihr dafür der wohl passendste Ort überhaupt vor. Denn welches Gebäude in San Francisco war ein typischeres Beispiel für die viktorianische Architektur als Halliwell Manor?

Während Prue auf dem Weg nach Hause war, traf Phoebe gerade dort ein. Genauer gesagt kam sie direkt aus der Schule und von ihrem zweiten Date mit Nikos. Sofort suchte sie ihren Lieblingsplatz im Haus auf – das Sonnenzimmer – und ließ sich in einen der superbequemen Rattansessel fallen. Verträumt starrte sie aus dem Fenster. Nikos ist perfekt, dachte sie, als sie immer tiefer in die Kissen sank. Die anderthalb Stunden im Café sind wie im Fluge vergangen, und ich kann kaum glauben, dass er auch so ein

großer Fan von Georgia O'Keefe ist. Und genau wie ich sucht er verzweifelt nach einer beruflichen Zukunft, die ihn erfüllt. »Malen ist das Einzige, was ich wirklich will«, hatte er gesagt und sich dabei eine seiner unbändigen Locken aus den Augen gepustet. »Und das Einzige, was ich wirklich gut kann.« »Damit könntest du verdammt Recht haben«, hatte Phoebe geantwortet und sich an seine mystische Waldszene erinnert. »Wo ist also das Problem?« »Allein vom Malen kann man nicht existieren«, hatte Nikos erwidert. »Zumindest sagt das mein Vater. Er setzt Himmel und Holle in Bewegung, damit ich Steuerberater werde.« Phoebe hatte daraufhin ihre Hände um ihren Hals gelegt und mit verdrehten Augen einen schrecklichen Tod imitiert. »Damit triffst du den Nagel auf den Kopf«, hatte Nikos lachend gemeint. »Doch ich hab eine Idee. Von heute an werde ich nur noch dich malen. Mit deinem Gesicht als Vorlage werde ich in kürzester Zeit ein gemachter Mann sein.« »Ha!«, hatte sie gekichert und einen Schluck von ihrem Cappuccino geschlürft. »Das ist mein Ernst, Phoebe«, hatte er gesagt. »Du bist einfach atemberaubend. Es wäre eine große Ehre für mich, dich ab und an porträtieren zu dürfen.« Zurück im Sonnenzimmer, schloss Phoebe die Augen und stellte sich vor, wie sie hingegossen auf einer grünen Samtchaiselongue läge, während Nikos sie malte. Aus dem Weg, Kate Winslet!, dachte sie und musste kichern. Und während er sie eine Stunde oder länger porträtierte, würde er sich völlig in seiner Arbeit verlieren. Und mit jedem

Pinselstrich würde er sie interessanter machen, als sie im wahren Leben je aussehen konnte, faszinierend und … »Perfekt!« Beim Klang dieses Wortes riss Phoebe ihre dunkelbraunen Augen auf und erwartete fast, Nikos vor sich stehen zu sehen. Doch es war nur Prue, die gerade schwer bepackt mit ihrer Fotoausrüstung das Sonnenzimmer betreten hatte. »Danke, Prue«, sagte Phoebe und hob eine Augenbraue. »Doch wie hab ich dieses Kompliment verdient?« »Dich hab ich gar nicht gemeint«, sagte Prue nur. »Oh …« »Herrgott, Phoebe, du weißt doch, dass du toll aussiehst«, sagte Prue und verdrehte die Augen. Sie hob ihre Nikon aus der Tasche. »Ich habe mir nur das Sonnenzimmer angesehen, und ich glaube, es ist die perfekte Umgebung für mein Foto.« Mit dem Wohnraum durch einen wunderschönen holzgetäfelten Torbogen verbunden, war das Sonnenzimmer fast so etwas wie ein verglaster Vogelkäfig. Diese Zuflucht mit ihren geweißten Wänden stand in großem Kontrast zu dem in dunklen Holztönen gehaltenen Wohnzimmer. Beide Räume waren durch einen blassgrünen Samtvorhang voneinander getrennt, den die Schwestern jedoch zumeist offen ließen, damit das hereinfallende Sonnenlicht das ganze Geschoss durchfluten konnte. »Du machst dein Foto hier drinnen?«, fragte Phoebe und erhob sich aus dem Sessel. Das war die Chance, Nikos noch mal ins Spiel zu bringen. Doch bevor sie das Thema anschneiden konnte, erschien Piper im Durchgang und schaute zu ihnen herein. »Hallo und auf

Wiedersehen, Leute«, sagte sie. »Ich gehe zur Arbeit – zurück auf das allabendlich auslaufende Galeerenschiff namens P3.« »Halt!«, rief Prue. »Piper, warte. Ich brauche mal kurz deine Hilfe.« »Wobei?«, fragte Piper argwöhnisch und ließ ihre Tasche fallen. »Bei meinem Foto für das 415. Ich hab alles schon genau geplant«, sagte sie und zeigte ihren Schwestern das mythologisch angehauchte Porträt aus dem Bildband. »Ich möchte genau so eine Gruppe, aber mit Paaren«, erklärte sie. »Vielleicht vier insgesamt. Alle sollen wallende Gewänder, Sandalen und Lorbeerkränze tragen, ihr wisst schon, dieser ganze antike Griechenland-Kram. Und ich will das Ganze so arrangieren, wie man es um die Jahrhundertwende getan hat. Ich finde, das ist das ideale Covermotiv, um eine Story über San Franciscos viktorianische Architektur einzuleiten.« Während sie sprach, hatte sie ihre Kamera zur Hand genommen und ein paar Fotos vom Zimmer gemacht. »Nur ein paar Testaufnahmen«, erklärte sie. »Doch ich glaube, das Ambiente hier ist einfach perfekt.« »Das ist eine ausgezeichnete Idee«, stimmte Piper zu. »Doch wozu brauchst du mich?« »Zum Beispiel wegen deines umfassenden Wissens«, sagte Prue. »Du kennst dich doch bestens in der antiken Mythologie aus. Soweit ich mich erinnere, warst du die Einzige an der Highschool, die freiwillig Latein genommen hat.« »Vielen Dank, dass du mich daran erinnerst, was für eine Streberin ich war«, sagte Piper und verdrehte die Augen.

»Piper, bitte!«, protestierte Prue. »War nur Spaß«, gab sie zurück. »Also, du willst vier Paare für dein Foto. Das ist nicht so schwer. Nehmen wir uns mal die Götter des Olymp vor. Da hätten wir den großen Zeus und seine Hera, dann Artemis und Apollon, diese beiden waren Zwillinge, und natürlich die weltberühmten Götter Venus und Mars …« »Du bist auch göttlich, Piper«, sagte Prue und drückte ihre Schwester fest an sich. »Ich wusste, dass du mir helfen kannst.« »Keine Ursache«, meinte Piper und schnappte sich ihre Tasche. »Wenn ihr mich aber jetzt entschuldigen würdet, ich muss los …« »Ähem, tja, das war eigentlich noch nicht alles«, sagte Prue und schaute schuldbewusst in die Runde. »Na ja«, erklärte sie, als ihre Schwestern sie fragend ansahen. »Ich müsste acht Fotomodelle anheuern und …« »Das musst du nicht!«, unterbrach Phoebe sie und sprang aus dem Rattansessel. »Wie meinst du das?«, fragte Prue. »Na ja, Nikos wäre das perfekte Model für dieses Foto, vertrau mir!«, rief sie. »Und ich glaube, er würde dir gern Modell stehen. Ich meine, alles im Interesse der Kunst, versteht sich. Und im Interesse meiner Person natürlich auch.« Sie grinste. »Mannomann«, entfuhr es Piper. »Ihr beide verliert aber wirklich keine Zeit.« »Ich bin verrückt nach ihm«, erklärte Phoebe leidenschaftlich und ließ sich wieder in den Sessel zurückfallen. »Doch mehr als Kaffeetrinken ist bisher noch nicht gewesen. Das Shooting wäre doch die perfekte Gelegenheit, die Dinge ein wenig voranzutreiben – ein ausgiebiger Fototermin in meinem Haus …

Wir könnten die Pausen auf der Veranda verbringen, oder auf der Couch …« »Phoebe!«, riefen ihre Schwestern wie aus einem Munde. »Hey! Darf ein Mädchen nicht auch mal ein bisschen träumen?«, gab Phoebe zurück. »Also, was sagst du, Prue? Soll ich Nikos fragen, ob er für dich arbeiten will? Bitte, bitte, bitte!« Prue seufzte. »Na ja, eigentlich wollte ich ja Profi-Models buchen, und Nikos zu engagieren würde die Kosten natürlich erheblich senken, aber …«, begann Prue. Als ihr Blick auf Phoebes enttäuschte Miene fiel, fuhr sie fort: »Also gut, Nikos ist dabei. Jetzt muss ich mich nur noch um sieben Models kümmern.« »Sechs«, rief Phoebe und sprang wieder auf die Füße. »Phoebe, ich kann rechnen«, meinte Prue bissig, »vielen Dank.« »Warum teure Fotomodelle buchen, wenn du eine perfekte und willige Schwester hast?«, meinte Phoebe und stemmte die Hände in die Hüften. »Warst nicht du es, die mir noch vor wenigen Minuten gesagt hat, wie umwerfend, toll und atemberaubend ich sei?« »Sagt mal, hab ich vielleicht die Stunde der Wahrheit verpasst, oder was?«, witzelte Piper. »Phoebe, ich kann bei meiner Arbeit nicht auch noch eine hinter Nikos hersabbernde Schwester gebrauchen«, erwiderte Prue. »Mit diesen vielen Models wird mich das Shooting ohnehin den ganzen Tag kosten.« »Sabbernd?«, wiederholte Phoebe. »Das verletzt mich. Ich kann genauso professionell sein wie jedes beliebige Supermodel, wenn ich auch nicht ganz so knochig bin. Ich

schwöre dir, ich bin echt gut. Ich könnte die Hera verkörpern, und Nikos könnte diesen Oberheini darstellen, wie hieß er noch gleich?« »Zeus«, sagte Piper. »Der Göttervater.« »Ja, genau der«, meinte Phoebe gedankenverloren. »Das wäre doch perfekt!« Prue biss sich auf die Lippen. »Also, ich weiß nicht …« »Wie wär's damit?«, insistierte Phoebe. »Ich gehe auf den College-Campus und suche dir sechs weitere Modelle. Mein Gott, die Schule ist voller attraktiver junger Menschen … Natürlich wähle ich nur solche aus, die das Ganze auch ernst nehmen, versprochen. Mit dieser Maßnahme könntest du deine Kosten wirklich senken. Was glaubst du, was für einen tollen Eindruck das bei deinem Chefredakteur machen würde?« »Auf Phoebes verquere Art hat sie damit gar nicht so Unrecht«, bemerkte Piper zu Prue. Prue runzelte die Stirn und sah ihre jüngste Schwester zweifelnd an. Phoebe war schon immer die Schwester Leichtfuß der Halliwells gewesen – die chronische Zuspätkommerin mit dem stets leer gefahrenen Tank und den selten eingehaltenen vollmundigen Versprechungen … Doch seit sie ins Herrenhaus gezogen war, hatte sie viel von ihrer Unzuverlässigkeit abgelegt. Prue wollte ihr wirklich vertrauen. Und schließlich nickte sie. »Okay, okay«, sagte sie. »Du weißt, ich stand dir noch nie im Weg, wenn du etwas wirklich wolltest, Phoebe. Und tatsächlich würde dein Vorschlag mir sehr helfen, meinen Termin zu halten. Doch vergiss nicht, dass eine Menge davon abhängt. Bitte lass mich nicht hängen!« »Nein, ich werde mich nicht über diese letzte Bemerkung ärgern«, sagte Phoebe grinsend. »Wenn es mich nur Nikos näher

bringt, besorge ich dir die heißesten Sahnetörtchen, die der Campus zu bieten hat. Dein Foto ist so gut wie im Kasten, Prue. Vertrau mir.« Glücklich ließ sie sich in den Rattansessel zurückfallen. »Gut«, sagte Piper. »Dann braucht ihr mich ja nicht mehr.« Zum zweiten Mal pflückte sie ihre Handtasche vom Boden und eilte Richtung Haustür. Sie wollte sie gerade öffnen, als Prue wie aus dem Nichts vor ihr auftauchte. Genauer gesagt erschien ein Schemen ihrer Schwester, der ihr nun mit in die Hüften gestemmten Händen den Weg versperrte. »Prue!«, rief Piper und verdrehte die Augen. »Du weißt doch, dass ich es hasse, wenn dein Astralkörper im Haus herumgeistert.« Der Schemen löste sich auf. Gleichzeitig trat Prue mit schuldbewusster Miene aus dem Wohnzimmer in den Flur. »Ich konnte dich noch nicht weggehen lassen, Piper«, sagte sie. »Ich hab da nämlich noch ein kleines Attentat auf dich vor.« »So?«, fragte Piper. »Na ja, Phoebe hatte Recht, was die Kosten und das Timing betrifft«, erklärte sie. »Und wie ich schon sagte, die Session wird mich den ganzen Tag auf Trab halten, und, tja, ich muss die Darsteller ja auch irgendwie verköstigen …« »Verstehe ich das richtig? Du willst, dass ich für dich und acht Models koche?«, fragte Piper. »Und außerdem brauche ich eine Fotoassistentin«, sagte Prue schnell und bohrte ihren rechten Zeh ins Parkett. »Bitte, Piper, das wird bestimmt total witzig. Und hattest du nicht ohnehin vor, ein paar neue Rezepte fürs P3 zu kreieren? Jetzt hättest du die Gelegenheit dazu. Und außerdem geht's auch um meinen

großen beruflichen Durchbruch. Ich brauche wirklich eure Hilfe.« Piper biss sich auf die Unterlippe. Natürlich wollte sie Prue helfen. Doch gerade diese Bitte verstärkte in ihr das Gefühl, dass ihre Schwestern zur Zeit großen Dingen entgegensahen, während sie außen vor blieb … und Abendessen kochte. »Na ja, nachdem ich ja sowieso nie vor Einbruch der Dunkelheit in den Club muss, kann ich wohl nicht nein sagen«, sagte sie widerwillig. »Danke, Süße«, sagte Prue und drückte ihre Schwester fest an sich. »Was würde ich bloß ohne dich tun?« »Keine Ahnung. Vielleicht Pizza bestellen?«, sagte Piper grinsend, öffnete die Haustür und ging zur Arbeit. Am nächsten Tag klingelte es zur Mittagszeit an der Haustür. Prue warf noch schnell einen Blick in den Spiegel im Flur, bevor sie öffnete. Sie war froh, dass sie Phoebes Rat gefolgt war und sich für das pinkfarbene Bustier und das türkisfarbene Seidenkapries entschieden hatte. Mit ihrem zu einem losen Knoten aufgesteckten schwarzen Haar war sie daher gerade noch passend für einen Lunch gekleidet und doch wiederum apart genug, um Mitchell zu beeindrucken. Als sie die Tür öffnete, verriet sein Gesichtsausdruck, dass sie die gewünschte Wirkung durchaus erzielt hatte. »Wow …«, hauchte er atemlos. »Hallo«, begrüßte Prue ihn und merkte, dass sie wieder rot anlief. Mitchell trat ein. »Prue, du siehst einfach toll aus.«

Dann sah er sich im Foyer um und betrachtete staunend die antike Standuhr, die geschwungene Treppe aus Walnussholz, die üppig gepolsterten Rosshaarsofas und die Samtvorhange. »Also, ich muss schon sagen, dein Haus ist fast so überwältigend wie du«, bemerkte er. »Hier lässt es sich leben.« »Es ist das Haus meiner Großmutter«, erklärte Prue, die gegen einen der mit aufwändigen Schnitzereien verzierten Stühle gelehnt stand. »Man kann sagen, sie hatte ein Faible für Antiquitäten.« »Darf ich einen Vorschlag machen?«, fragte Mitchell, als er das Sonnenzimmer betrat. »Dieses viktorianische Foto, das du erwähntest … Du solltest es hier aufnehmen. In genau diesem Raum.« »Du wirst es nicht glauben, aber die Idee hatte ich auch schon«, sagte Prue. Als sie ihm in den lichtdurchfluteten Raum folgte, konnte sie von der Sonne gebleichte Strähnen in seinem Haar entdecken. Auch konnte sie nicht umhin festzustellen, dass sein graues Hemd genau die Farbe seiner Augen hatte. »Die Fotosession findet in genau zwei Tagen statt – in diesem Zimmer.« »Wirklich?«, fragte Mitchell. »Ich hätte es mir denken können, Prue. Du bist wirklich tüchtig und dazu auch noch so unglaublich talentiert.« Bei diesen Worten wurde Prue von einem warmen Gefühl durchströmt. Bei vielen Männern konnte man solche Komplimente mit Fug und Recht als leeres Gefasel abtun, doch bei Mitchell klang das alles so aufrichtig. Sie konnte es kaum erwarten, einen ganzen Abend mit ihm zu verbringen.

»Und?«, fragte sie lächelnd. »Wie sieht's aus? Hast du Hunger? Ich schlage vor, du führst mich jetzt zu deinem Vietnamesen.«

Zwanzig Minuten später saßen sie an einem kleinen Tisch vor dem Bien Hoa, einem winzigen Restaurant im Castro-Viertel. Eine ältere weißhaarige Frau servierte ihnen gerade einen süßen sahnigen Eistee. »Haben Sie schon gewählt?«, fragte sie mit schwerem Akzent. Mitchell wandte sich ihr zu und sprach sie auf Vietnamesisch an. Prues Augen weiteten sich erstaunt. Offensichtlich hatte sich Mitchell gut auf seine Reise in das südostasiatische Land vorbereitet. Sie war beeindruckt. Die alte Frau schien das ähnlich zu sehen, denn sie antwortete ihm mit einem strahlenden Lächeln, und so verlief ihre Konversation einige Minuten lang sehr angeregt. Schließlich tätschelte sie wohlwollend Mitchells Schulter und ging davon. »Wir kriegen die Spezialität des Hauses«, berichtete Mitchell lächelnd, als er sich wieder Prue zuwandte. »Sie sagt, wir sollen uns überraschen lassen, sie kümmert sich höchstpersönlich darum.« »Das klingt gut«, erwiderte Prue lachend. »Ich hätte ohnehin nicht gewusst, was ich essen soll.« »Du wirst diese Küche lieben, das verspreche ich dir«, sagte Mitchell. »Aber nun erzähl mir von deiner Arbeit. Wie bist du dazu gekommen?« Und so berichtete Prue ihm, wie sie ihren trockenen Job als Antiquitätenhändlerin gegen den einer Fotografin für das hippe Stadtmagazin eingetauscht hatte. »Ich glaube, das war schon ein

ziemlich krasser Wechsel«, sagte sie. »Manchmal frage ich mich, wie um alles in der Welt ich den geschafft habe.« »Ich kenne das Gefühl«, sagte Mitchell. »Glaube mir, wenn man so viel reist wie ich, dann vergisst man manchmal sogar, in welcher Stadt man gerade aufgewacht ist.« Prue lachte. »Weißt du, wir haben National Geographic abonniert«, sagte sie. »Ich habe mir einige ältere Ausgaben angesehen und auch den Artikel gelesen, den du über Prags Jugendszene geschrieben hast. Er war so lebendig, so fesselnd. Du bist wirklich sehr gut.« Verlegen starrte Mitchell in sein Eisteeglas. »Hör auf, mir um den Bart zu gehen, Prue«, sagte er. »Sonst werde ich noch überheblich.« Doch als er wieder aufblickte und sie ansah, konnte Prue sehen, dass er sehr stolz auf seine Arbeit war. Schon jetzt fühlte sie sich ihm sehr verbunden. Endlich hatte sie einmal jemanden getroffen, der ihre berufliche Begeisterung teilte. »Komm, erzähl mir ein paar Geschichten aus der Fremde«, bat sie ihn. Und während Mitchell sie mit einigen ebenso amüsanten wie spannenden Erlebnissen auf seinen Reisen unterhielt, brachte die ältere Frau ihnen zwei riesige Schüsseln mit einem vietnamesischen Eintopf. Er bestand aus viel Gemüse mit kleinen Rindfleischstückchen. Vorsichtig nahm Prue einen Löffel und war gleich darauf entzückt. »Mmmh!«, sagte sie. »Das ist köstlich!« »Die Küche fremder Länder zu entdecken ist ein netter Nebeneffekt meiner Arbeit«, sagte Mitchell.

»Das glaube ich dir aufs Wort«, erwiderte Prue kauend. »Aber es ist natürlich nicht halb so spannend wie Bilder für die Ewigkeit festzuhalten, so wie du es tust«, fuhr er fort. ›»Tausend Worte vermögen nicht zu sagen …‹, du weißt schon. Moment mal, mir ist da gerade was eingefallen.« »Ja?« »Hast du schon einen Assistenten für dein Shooting?« Prue blinzelte. »Nein, noch nicht«, sagte sie und nahm einen Schluck von ihrem süßen Tee. »Eigentlich wollte ich das noch mit meinem Fotoredakteur besprechen.« »Lass es«, sagte Mitchell. »Ich werde dir assistieren. Nenn es unsere zweite Verabredung.« »Du?«, fragte Prue nervös. O nein, dachte sie, wie kann ich dieses Angebot bloß taktvoll zurückweisen? Immerhin musste sie sich schon mit einem Haufen Amateurmodels herumschlagen. Und in diesem Chaos auch noch Mitchell zu sagen, was er zu tun und zu lassen hatte, erschien ihr nicht gerade sehr förderlich für ihre Beziehung. »Nichts für ungut, Mitchell«, sagte sie vorsichtig. »Aber du bist in erster Linie ein Schreiber. Meinst du, du kommst so ohne weiteres mit einem Belichtungsmesser klar und so?« »Ich bin in erster Linie Journalist«, korrigierte Mitchell sie. »Und dazu ein Absolvent der Columbia Journalistenschule – einer sehr traditionsreichen Lehranstalt. Jeder Student dort lernt auch das Fotografieren und die Grundlagen für die Assistenz bei einem Shooting.« Erstaunt starrte Prue ihn an. Konnte dieser Typ eigentlich noch perfekter sein?

»Und es macht dir nichts aus, Anweisungen von deiner Verabredung entgegenzunehmen? Sei gewarnt, ich bin sehr kritisch bei meiner Arbeit und führe ein strenges Regiment.« »Kein Problem«, meinte Mitchell. »Ich würde dir wahnsinnig gern bei der Arbeit zusehen.« Während Prue aß, dachte sie über den Vorschlag nach. »Okay«, stimmte sie schließlich zu. »Aber nur, wenn das 415 dich dafür bezahlt. Ich bestehe darauf.« »Kommt gar nicht in Frage«, gab Mitchell zurück. »Wegen des Geldes mache ich es nicht.« »Ach, nein?«, sagte Prue. »Und warum schießt du darin einen ganzen Tag Recherche in den Wind, um in meinem Haus rumzuhängen. während ich fotografiere?« »Darum«, flüsterte Mitchell, beugte sich vor und drückte ihr einen warmen weichen Kuss auf die Lippen. Als er sich wieder in seinen Stuhl zurücklehnte, grinste er geradezu anbetungswürdig. Das Nächste, an das Prue sich erinnerte, war, dass sie sich zu ihm herüberbeugte und es ihm gleichtat. Sein Kuss war warm und betörend … Sie vergaß alles um sich herum – das Essen, die Leute, den Straßenverkehr –, bis die ältere Frau mit einem Teller kalter Frühlingsrollen an ihren Tisch trat. Peinlich berührt und mit geröteten Wangen fuhren sie und Mitchell auseinander. Doch die alte Frau zwinkerte dem Journalisten nur zu und kniff ihn mütterlich in die Wange, während sie etwas auf Vietnamesisch sagte. Als sie wieder fort war, bemerkte Prue, wie sie rot anlief. »Was hat die Bedienung zu dir gesagt?« »Sie sagte ›Kümmert euch nicht um die alte Frau. Küss dein Mädchen weiter‹«, sagte Mitchell.

»Das ist doch eine Lüge«, sagte Prue grinsend. »Nein, im Ernst«, erwiderte Mitchell und sah ihr tief in die Augen. »Und dann sagte sie noch etwas über dich.« »So? Was denn?« »Sie sagte: ›Dieser Fisch ist magisch. Lass ihn nicht davonschwimmen.‹« Rasch senkte Prue den Blick und starrte in ihren Suppenteller. O Mitchell, dachte sie wehmütig, wenn du nur wüsstest …

3 Phoebe! Bist du schon wach?«

»

Müde hob Phoebe den Kopf von ihrem Kissen und sah blinzelnd zur Tür. Ihr Blick fiel auf Prue, die mit einem ungeduldigen Gesichtsausdruck im Rahmen stand. »Wie spät ist es?«, krächzte sie. »Acht Uhr,« sagte Prue gehetzt. »Das Shooting findet in zwei Stunden statt, und wir haben noch so viel zu tun …« »Als da wäre?«, fragte Phoebe, die sich nun ächzend in eine aufrechte Position brachte und dabei herzhaft gähnte. »Ich meine, abgesehen von der Tatsache, dass ich sieben Models für dich gesucht, gefunden und für zehn Uhr hierher bestellt habe. Ich finde, das Einzige, was ich an diesem Tag noch zu tun hätte, ist, genug Schönheitsschlaf zu bekommen.« Prue lächelte reuevoll und lehnte sich gegen den Türrahmen. »Ich weiß«, sagte sie. »Du hast dich für mich wirklich ins Zeug gelegt. Ich hatte so viel mit den Kostümen und dem Set zu tun, dass ich nicht weiß, was ich ohne deine Hilfe getan hätte.« »Dankbar angenommen.« Phoebe grinste und ließ sich wieder in die Kissen zurückfallen. »Wird Nikos denn nun unter den schönen Collegekids sein oder nicht?«, fragte Prue. »Was für eine Frage«, meinte Phoebe und grinste ihre Schwester an. »Er war total begeistert, als ich ihn im Unterricht darauf ansprach. Und stell dir vor, was er gesagt hat: ›Ich? Ein griechischer Gott? Du machst Witze …‹ Hach, wunderschön, talentiert und bescheiden dazu! Ich muss ihn einfach zu meinem Freund machen.«

»In diesem Fall solltest du aber schleunigst aufstehen, findest du nicht?«, fragte Prue und wedelte mit einer Hand in Richtung ihrer Schwester. Im gleichen Moment flog die Bettdecke in die Luft und landete auf dem Fußboden. Schweigend starrte Phoebe auf ihre nackten Füße. Dann sah sie zu ihrer Schwester, die sich über diesen kleinen Streich köstlich zu amüsieren schien. »Telekinese vor dem Frühstück, Prue?«, knurrte sie und sprang aus dem Bett. »Was bist du doch für eine Hexe.« »Was du nicht sagst«, kicherte Prue. »Und jetzt schnell unter die Dusche. Ich brauche deine Hilfe bei den Kostümen.« »Das hört sich nach einem langen Tag an«, grummelte Phoebe, als sie im Badezimmer verschwand. Als sie in den Spiegel schaute, stellte sie mit Schrecken fest, dass sie dunkle Ränder unter den Augen hatte, und auch ihre blonde Lockenpracht hatte schon bessere Tage gesehen. Vielleicht ist es doch keine so gute Idee gewesen, bis zwei Uhr morgens fernzusehen, wo doch heute mein großer Tag mit Nikos bevorsteht, dachte sie. »Denn man weiß nie, ob der Nächste nicht dein zukünftiger Ehemann ist«, sagte sie zu ihrem Spiegelbild. »Also, verbock es nicht.« »Genau!«, rief sie und sprang kichernd unter die Dusche. Im Erdgeschoss flitzte Prue zur selben Zeit mit einem Arm voller fein gewobener Gewänder in die Küche. Piper warf gerade einen Blick in den Ofen, in dem sie Honigbrote backte. Dann wandte sie sich wieder der riesigen Schüssel mit Nudelsalat zu, den sie parallel dazu vorbereitete. »Piper, das riecht ja köstlich«, bemerkte Prue, als sie die Roben vorsichtig über den Küchenstuhl legte. »Mal sehen, ob

ich alle Darsteller zusammenhabe: Also, da wären Zeus und Hera in der Mitte, weil sie sozusagen die Herrscher des Himmels sind, richtig?« »Richtig«, bestätigte Piper, während sie die Tomaten für den Salat würfelte. »Zeus ist der Herrscher des Olymp, der Boss gewissermaßen. Und dann wären da noch Ares, der Gott des Kampfes, und Aphrodite, die Göttin der Liebe, besser bekannt als Mars und Venus, wie sie bei den Römern hießen.« »Heißt das, Mars und Venus waren ein Liebespaar?«, fragte Prue lachend. »So ist es«, sagte Piper. »Aphrodite war eigentlich die Frau des Hephaistos, dem rußigen Schmied und einzigen äußerlich unattraktiven Gott auf dem Olymp. Also hatte sie eine Affäre mit Ares, dem Gott des Kampfes.« »Also, diese griechischen Götter hatten offensichtlich ihre ganz eigene Seifenoper, wie es scheint«, meinte Prue, während sie goldfarbene Schnürsandalen für die Models bereitlegte. »Das kannst du laut sagen! Dabei hab ich noch gar nicht richtig angefangen zu erzählen«, sagte Piper und verdrehte die Augen. »Also, Artemis und Apollon waren Zwillinge. Artemis ist die Göttin der Jagd, und Apollon ist unter anderem der Gott der Poesie, des Gesanges und der Musik.« »Also muss er die Lyra in Händen halten?«, fragte Prue und zog eine kleine goldfarbene Harfe aus einer Kiste mit Utensilien, die sie gestern in einem Laden für Theaterbedarf ausgeliehen hatte. »Ja, genau. Perfekt!«, sagte Piper. »Und last but not least darf natürlich das nervöse Pärchen Hades und Persephone nicht fehlen.« »Wie ist denn ihre Geschichte?«, wollte Prue wissen.

Piper huschte zum Ofen, zog das Blech mit den Brotlaiben heraus und schob ein weiteres hinein. »Hades ist der Gott der Unterwelt, doch dies nicht freiwillig«, sagte sie über ihre Schulter hinweg. »Er hat zwei Brüder, Zeus und Poseidon. Als sie die Welt unter sich aufteilten, fiel Hades das nach ihm benannte Totenreich zu, während Zeus als Herrscher über das Himmelreich und Poseidon als Gebieter über die Meere aus diesem Handel hervorgingen. Hades entführte die junge Göttin Persephone in sein dunkles Reich und machte sie zu seiner Frau. Zeus jedoch schickte einen Götterboten in die Unterwelt und ließ Hades befehlen, die Entführte zu ihrer Mutter Demeter zurückkehren zu lassen. Hades gehorchte, steckte Persephone zuvor aber noch einen Granatapfelkern in den Mund. So traf sie reichlich benommen beim Göttervater ein und musste zur Strafe einwilligen, ein Drittel des Jahres bei Hades und den Rest bei ihrer Mutter zu verbringen.« »Krass«, sagte Prue. »Aber es macht mein Foto bestimmt noch interessanter, wenn ich den dunkelsten und geheimnisvollsten Charakter aus der Gruppe den Hades verkörpern lasse. Ich kann es kaum erwarten zu sehen, wie meine Models eigentlich aussehen!« »Da musst du nicht mehr lange warten«, sagte Piper, als es im gleichen Moment an der Tür klingelte. Prue warf einen Blick auf ihre Armbanduhr. »Mindestens einer von ihnen scheint überpünktlich zu sein«, sagte sie stirnrunzelnd und huschte aus der Küche. »Warte!«, rief Piper ihr nach, ließ die Brote Brote sein und folgte ihr in die Eingangshalle. »Ich will auch schöne Menschen sehen!«

Prue riss die Eingangstür auf und schnappte nach Luft. Vor ihr stand ein großer, stattlicher junger Mann mit dichtem glänzendem Lockenschopf und dunkelblauen Augen. Er trug zerrissene Zimmermannshosen und ein lässiges T-Shirt, ein Outfit, dass jedermann geradezu »Achtung, Künstler!« entgegenschrie. Auch schien er schwer an einer Holzbox zu tragen, die offensichtlich auf einem Stativ mit drei langen Beinen stand. Ein schwarzes Samttuch hing von einem der Enden herab. »Wow«, wisperte Prue, als sie Piper über die Schulter einen Blick zuwarf. »Sieht so aus, als hätten wir unseren Hades schon gefunden. Er ist einfach überwältigend!« »Prue Halliwell?«, fragte der junge Mann mit einem warmen Lächeln. »Ich bin Nikos. Phoebes Freund.« »Komm doch herein«, sagte Prue und trat einen Schritt beiseite. Sie deutete auf den braunen Kasten, den Nikos jetzt hereintrug. »Ist das, was ich glaube, dass es ist?«, fragte sie. Nikos stellte das geheimnisvolle Etwas vor ihr ab. »Erraten – es ist eine alte Plattenkamera aus dem letzten Jahrhundert«, sagte er. »Mein Vater … na ja, man könnte sagen, er ist ein Sammler. Er hat 'ne Menge altes Zeug im Keller. Und als ich von deinem viktorianischen Thema erfuhr, dachte ich, du möchtest vielleicht einen Blick auf dieses Schätzchen werfen.« »Und ob ich das möchte!«, rief Prue entzückt. »Die ist einfach perfekt. Warum bin ich nicht selbst daraufgekommen? Eine Jahrhundertwendekamera mit Einstelltuch und Glasplatten anstelle von modernem Film. Die Fotos, die sie macht, werden aussehen, als ob sie aus einem anderen Zeitalter stammen. Das wird mir meinen Konkurrenten gegenüber einen Riesenvorsprung verschaffen. Nikos, wie kann ich dir nur dafür danken?«

»Nicht der Rede wert«, sagte er mit einem Grinsen. »Für eine Schwester von Phoebe würde ich alles tun.« »Wie wäre es dann, wenn du Phoebe endlich guten Tag sagen würdest?«, sagte eine Stimme hinter ihnen. Das Trio fuhr herum und staunte nicht schlecht, als es Phoebe in einem der luftigen griechischen Gewänder vor sich stehen sah. Das Kleid wurde durch einen geflochtenen goldfarbenen Stoffgürtel in der Taille zusammengehalten und passte gut zu den Schnürsandalen in der gleichen Farbe. Ein Oberarmreif und eine einzelne Perle an einer Goldkette um ihren Hals komplettierten den Look. Mehr noch, Phoebe wirkte, als ob sie soeben einem griechischen Götterdrama entstiegen wäre. »Phoebe, du siehst einfach umwerfend aus!«, rief Nikos. »Und du erst!«, meinte Phoebe. »Einfach perfekt für unser Foto.« »Ich hab mein Kostüm in der Küche gefunden und mich schon mal umgezogen«, erklärte sie Prue, als sie heranrauschte und Nikos einen zärtlichen Kuss in den Nacken gab. »Hallo, mein olympischer Gott!«, säuselte sie. »Ach du liebe Güte«, murmelte Piper und verdrehte die Augen. »Komm, Prue, lass uns ein Kostüm für Hades aussuchen.« Prue nahm die wertvolle Kamera an sich und verließ mit ihrer Schwester das Foyer, sodass Phoebe und ihre neueste Eroberung einen Moment lang ungestört sein konnten. »Das ist der Beweis«, sagte Nikos zu Phoebe. »Du bist in jeder Epoche eine Schönheit, sei es nun in der Antike, im viktorianischen Zeitalter oder in der Gegenwart …« »Ach, Quatsch«, unterbrach sie ihn und klimperte mit ihren goldfarbenen Wimpern. »Mach weiter …«

»Wie du willst«, sagte Nikos und kam einen Schritt auf sie zu. Jetzt wird er mich endlich küssen, dachte Phoebe und schloss die Augen. Mein Plan hat ja super funktioniert! Rrrring! »Ups«, machte Nikos und wich erschrocken zurück. »Ich glaube, es hat gerade an der Tür geklingelt.« »Scheint so«, seufzte Phoebe. Irritiert öffnete sie. Es war Chloe, eine blonde Schönheit mit blassem, fast durchsichtigem Teint. Ihr perfekter Schmollmund war zu einer blasierten Schnute verzogen. Als Phoebe sie auf dem Campus entdeckte, hatte sie sofort gewusst, dass sie die Richtige für Prues Gruppenfoto war. Leider hatte sie nicht wissen können, dass Chloe das Gehabe eines Supermodels an den Tag legen würde. Sie seufzte und rollte mit den Augen. Aber was hab ich denn erwartet?, fragte sie sich. Neben Chloe stand ein ziemlich attraktiver, muskulöser Mann. Er hatte kurzes braunes Haar und trug eine ausgebeulte Tasche bei sich, die offensichtlich allerlei Zeug enthielt. »Hi, ich bin Mitchell«, sagte er freundlich und reichte Phoebe die Hand. »Ich werde Prue bei dem Shooting assistieren.« Endlich beschloss auch Chloe, ihr Schweigen zu brechen. »Hallo, Phoebe«, sagte sie träge. »Scheint, ich bin hier richtig. Es wurde doch hoffentlich für Make-up und Haarstyling gesorgt, oder?« »Ich glaube, das ist mein Job«, seufzte Phoebe und schob das Mädchen in die Küche. Dann sah sie zu Nikos und verzog das Gesicht. »Schätze, wir müssen an die Arbeit«, flüsterte sie ihm zu.

»Kein Problem. Ich werde mir merken, wo wir stehen geblieben waren«, flüsterte er zurück und zwinkerte ihr zu. Okay!, jubelte Phoebe innerlich. Alles nach Plan!

Eine Stunde später bevölkerten vier Männer und drei Frauen die Halliwellsche Küche. Alle waren gewandet in goldgefasste hauchdünne Stoffbahnen und gegürtete Chitons, und alle standen in griechischen Schnürsandalen in der Gegend herum. Der Küchentisch war überladen mit antiken Waffen, Lyras und Hirtenflöten. Und die Luft war geschwängert von den weltbewegenden Themen amerikanischer Collegestudenten. »Und da sagte ich zu dem Prof: ›Sie müssen mich zulassen, immerhin hatte ich an dem Tag ein Vorsprechen‹«, sagte Kurt, der strohblonde Darsteller des Apollon. »Ist ja ein Ding«, meinte Madelaine, eine beeindruckende Rothaarige im vollen Hera-Outfit, die gerade auf einem von Pipers Canapés herumkaute. »Kann mir eigentlich jemand sagen, ob diese Hors d'œuvres fettfrei sind?« Phoebe hielt sich unterdessen mit Nikos und Mitchell im Sonnenzimmer auf. Der Journalist war gerade dabei, Reflektoren aufzustellen, während Nikos und Phoebe wieder einmal flirteten. »Also, ich muss schon sagen, Nikos, du hast echt tolle Beine«, bemerkte Phoebe und starrte unverhohlen auf das kurze Gewand ihres Fast-Freundes. »Ich wette, dass sagst du zu allen Göttern«, witzelte er.

Phoebe lachte. »Warum? Du bist doch der einzige Gott, den ich kenne und …« »Phoebe!« Sie zuckte zusammen und fuhr herum. Da stand Prue neben der Plattenkamera im Eingang des Sonnenzimmers. Sie trug einen bequemen Overall und einen ziemlich sauren Gesichtsausdruck zur Schau. »Prue!?«, rief Phoebe alarmiert. »Prue!«, rief Mitchell erfreut. »Hallo, Mitchell«, begrüßte sie ihn und versuchte ein Lächeln in Richtung ihres anbetungswürdigen Assistenten, während sie gleichzeitig wütend ihre jüngste Schwester fixierte. »Ähem, gibt's ein Problem?«, fragte Phoebe und warf einen Blick durch das Wohnzimmer in die überfüllte Küche. »Die Crew scheint jedenfalls ganz zufrieden zu sein.« »Ja … aber ist dir zufällig aufgefallen, dass wir eine Darstellerin zu wenig haben?«, fragte Prue so ruhig wie möglich, obwohl sie innerlich kochte. Ich hätte mich nicht auf Phoebe verlassen dürfen, dachte sie. Natürlich musste wieder irgendwas schief gehen. »Das kann doch gar nicht sein«, sagte Phoebe leise. »Ich hatte von allen eine Zusage.« »Tatsache ist, eins der Mädchen ist nicht erschienen«, sagte Prue knapp. »Und das heißt, wir haben ein Riesenproblem.« In diesem Moment kam Piper mit einem Tablett ins Sonnenzimmer. »Phoebe, du musst unbedingt mal meine frittierten Krabben probieren«, sagte sie und reichte ihrer

Schwester die köstlich riechenden Vorspeisen. »Keins der Models will sie anrühren, weil sie in Fett gebacken sind.« »Nicht jetzt, Piper«, sagte Phoebe. »Wir haben nämlich ein großes … Moment mal … Piper.« Sie lächelte ihre Schwester strahlend an. Prues Augen weiteten sich vor Erstaunen, als sie ahnte, was Phoebe vorhatte. Doch eine Sekunde später bemühte auch sie ihr süßestes Lächeln. »Piper …«, begann sie. Das war der Moment, in dem Pipers Kinnlade herunterklappte, sie sich gleichzeitig auf dem Absatz umdrehte und zurück in die Küche schoss. »O nein!«, rief sie ihren Schwestern über die Schulter zu. »Diesen Ton in deiner Stimme kenne ich, Prue. Ihr wollt noch einen Gefallen von mir, stimmt's? Und ich weiß schon jetzt, dass mir euer Ansinnen nicht gefallen wird.« »Aber du würdest in diesem Teil so hübsch aussehen«, meinte Prue und hielt das letzte verbliebene Kostüm in die Höhe, ein kurzes, in Falten gelegtes Kleidchen. »Und … du liebst griechische Küche!«, fiel Phoebe ein. »Unbedingt, Phoebe«, sagte Piper grimmig und knallte das Tablett auf die Küchentheke. »Unbedingt.« »Du hast Recht«, sagte Prue. »Wir brauchen unbedingt deine Hilfe. Eines der Models ist nicht gekommen, und wenn du nicht für sie einspringst, geht mein ganzer Tagesplan zum Teufel und damit auch meine große Chance beim 415.« »Okay, okay«, sagte Piper. »Ich mache es. Aber versteckt mich bitte irgendwo in der Menge. Das ist mir alles so gottverdammt peinlich …«

Kurz darauf hatte Prue die Darsteller auf diversen antiken Möbelstücken im Sonnenzimmer arrangiert. Mit Mitchells Hilfe posierten sie in klassischen Posen: Joey, der den Ares verkörperte, hielt grimmig einen Speer in die Höhe, während Aphrodite, auch bekannt unter dem Namen Piper, sich schüchtern über seine Schulter beugte. Dabei zerrte sie unentwegt am kurzen Saum ihres Röckchens und zog unbehaglich den Kopf ein. Phoebe alias Persephone, die von Hades geraubte Braut, musste in einer dramatischen Geste die Hand gegen ihre Stirn pressen und sich von Nikos abwenden, der den Gott der Unterwelt darstellte. »Mhm, Phoebe«, flüsterte Mitchell ihr zu, »findest du es richtig, so nah bei Hades zu sitzen? Ich meine, immerhin verabscheust du deinen ungeliebten Ehemann zutiefst.« »Pssst«, machte Phoebe, zwinkerte ihm zu und rückte noch ein bisschen näher an Nikos heran. Mitchell zwinkerte zurück und hielt ihr einen Belichtungsmesser ans Gesicht. »Sieben Komma vier, Prue«, verkündete er. »Großartig«, sagte Prue und verschwand unter dem Einstelltuch der Kamera. »Ja, das sieht gut aus. Alles bereit?« »Eigentlich fühle ich mich nicht sonderlich gut«, ließ sich nun Chloe vernehmen, die Platinblonde, die die Artemis darzustellen hatte. Sie musste mit Pfeil und Bogen gegen eine der Wände zielen, während sie gleichzeitig einen glutvollen Blick in die Kamera werfen sollte. »Diese Canapés waren einfach zu salzig. Mir klebt die Zunge am Gaumen. Könnte ich bitte ein Glas Stilles Wasser haben? Aber nur Stilles Wasser, auf keinen Fall Mineralwasser.«

Prue stemmte die Fäuste in die Hüften und war kurz davor, der Primadonna mitzuteilen, was diese von ihr aus mit dem Stillen Wasser machen könne, als Mitchell ihr besänftigend eine Hand auf die Schulter legte. »Natürlich, ich hole dir das Wasser«, sagte er zu Chloe. »Evian oder Pellegrino?« »Evian«, orderte Chloe. »Du bist ein wahrer Heiliger«, raunte Prue Mitchell zu und grinste. »Wozu sind Assistenten sonst da?«, flüsterte er zurück. Dann verschwand er in Richtung Küche, um das Gewünschte zu besorgen. Prue tauchte wieder unter das Samttuch und fühlte ein erregendes Prickeln in sich. Dies würde ein einmaliges Foto werden. Sie konnte es schon im wahrsten Sinne des Wortes bildlich auf dem Cover des Magazins sehen. »Sieht schon fast perfekt aus«, rief sie. »Also, Phoebe, wenn du dich jetzt von Nikos losreißen könntest, und Piper, wenn du bitte ein bisschen weniger erschreckt dreinschauen würdest, mache ich jetzt das erste Bild.« »Wer ist gestorben und hat aus ihr Annie Leibovitz gemacht?«, nörgelte Piper leise durch ihr aufgesetztes Lächeln, während Phoebe ein Prusten unterdrückte. »Okay«, sagte Prue, während sie ihr altertümliches Blitzgerät in die Höhe hielt. Psfffflttt! Piper sah das Licht aufflammen und war für einige Sekunden geblendet. Gleichzeitig stöhnte sie vor Schmerz auf. Der Grund

dafür lag ihr zu Füßen, genauer gesagt lag er mitten drauf. Kurz: Ares war kollabiert, aus ihren Armen geglitten und am Boden zusammengesunken. »Prue …«, sagte Piper und sah sich um. Nikos, Chloe … und all die anderen College-Schönheiten lagen ebenfalls reglos auf dem Parkett. Nur Phoebe saß aufrecht an ihrem Platz und blinzelte verwirrt in die Gegend. Prues Kopf kam hastig unter dem Tuch hervor; in ihren Augen blitzte Panik auf. »Was zum Teufel ist passiert?«, keuchte sie, rannte nach vorne und beugte sich über Kurt alias Apollon. Sie stieß ihn sanft an und legte dann ihr Gesicht an das seine. »Er atmet«, sagte sie. »Hera auch«, berichtete Piper und ließ Madelaines Hand wieder los, die daraufhin schlaff herabfiel. »Genauer gesagt schnarcht sie.« Phoebe hatte sich über Nikos gebeugt. »Er sieht so friedlich aus«, sagte sie. »Sie sind einfach alle … in Schlaf gefallen.« »Scheint so«, sagte Prue und stieß Kurt erneut an. Er öffnete leicht den Mund und tat einen leisen Schnarcher, doch er wachte nicht auf. »Da liegen sie und … können nicht aufstehen.« »Ein Glas Evian mit Strohhalm kommt sofort!«, kam es plötzlich aus Richtung Küche. »Mitchell!«, rief Phoebe alarmiert. Aus den Augenwinkeln konnte Piper die Stiefelspitzen des Journalisten in den Wohnraum spazieren sehen. Ohne groß nachzudenken, wedelte sie mit der Hand und fror die Zeit ein. Das Schnarchgeräusch von Hera und das Ticken der Standuhr verstummten im gleichen Moment. Was nicht weiter tragisch war, da die Zeit ohnehin still stand.

»Gute Reaktion, Piper«, lobte Phoebe und sah sich ratlos im Sonnenzimmer um. »Ich weiß nicht, was hier geschehen ist, aber es ist ganz bestimmt etwas Übernatürliches im Spiel.« »Was bedeutet, dass Mitchell lieber nichts davon erfahren sollte«, beendete Prue den Gedanken für sie. Sie flitzte zu dem hölzernen Durchgang, der das Sonnenzimmer vom Wohnraum trennte, und schloss den blassgrünen Vorhang zwischen den beiden Räumen. Gerade rechtzeitig, denn nur Sekunden später kam wieder Leben in den Journalisten, und er setzte seinen Weg ins Wohnzimmer fort. Als er das Sonnenzimmer betreten wollte, versperrten ihm Prue und der Vorhang den Weg. »Was? Jetzt schon Pause?«, fragte er verwundert. »Ich dachte, du führst ein strenges Regiment?« »Ähem …«, stotterte Prue. »Mir sind beide Träger gerissen«, kreischte Phoebe aus dem Sonnenzimmer. »Wir haben ein Kostümproblem hier drinnen und müssen uns umziehen. Ich stehe so gut wie nackt da, also nicht reinkommen, hörst du, Mitchell!« »Ja, so ist es«, platzte Prue heraus. Innerlich krümmte sie sich angesichts einer solch plumpen Lüge. Doch nun konnte sie aus dieser Nummer nicht mehr raus. »Kaum zu glauben, wie fummelig diese Kostüme sind«, ereiferte sie sich künstlich, während sie Mitchell ins Foyer schob. »Ich werde sie alle wieder zurück in den Verleih bringen und welche verlangen, die ein bisschen mehr aushaken.« »Das kann ich doch für dich erledigen«, bot Mitchell an. »Immerhin bin ich der Assistent.« »Nein!«, schrien Piper und Phoebe aus dem Sonnenzimmer.

»Ähem … was sie meinen, ist, dass die ganzen Bestellungen ja auf meinen Namen liefen. Ich werde mich wohl persönlich darum kümmern müssen, und dann wiederholen wir das Shooting am Nachmittag.« Sie öffnete die Haustür. »Insofern kann ich dich wirklich nicht guten Gewissens länger hier festhalten«, fuhr sie fort und schob Mitchell über die Schwelle nach draußen. »Aber du warst einfach großartig, danke für deine Hilfe. Ich wüsste nicht, was ich ohne dich getan hätte. Also dann, auf Wiedersehen!« »Warte«, rief Mitchell und stellte seinen Fuß zwischen die Tür, als Prue diese gerade zuwerfen wollte. »Was ist mit heute Nachmittag? Brauchst du denn keinen Assistenten für die Fortsetzung des Shootings?« »Weißt du«, sagte sie und bedauerte zutiefst, Mitchell nun endgültig abservieren zu müssen, »du bist ein hervorragender Assistent, aber ich glaube, ich arbeite lieber allein.« »Nun …«, sagte Mitchell langsam. »Ich finde, das ist verständlich.« »Großartig!«, meinte Prue und versuchte erneut, die Tür hinter ihm zu schließen. »Prue!«, rief Mitchell, während er sie abermals daran hinderte. »Wenn ich schon nicht dein Assistent sein darf, so gehe wenigstens morgen Abend mit mir essen. Ich würde dich wirklich gern wieder sehen.« »Sehr gern!«, sagte sie hastig und fühlte Panik und Erleichterung zugleich. Vielleicht bestand ja doch noch eine Chance, aus diesem ganzen Dilemma herauszukommen, ohne dass sie es sich völlig mit Mitchell verdarb. »Warum holst du

mich nicht einfach um acht Uhr hier ab, okay? Wir sehen uns also morgen!« Endlich gelang es ihr, die Tür zu schließen. Schwer atmend lehnte sie sich von innen dagegen. Sie hasste diese peinlichen und kniffligen Situationen, von denen es in ihrem kurzen Hexenleben schon mehr als genug gegeben hatte. Seufzend ging sie zurück ins Wohnzimmer und zog den Vorhang beiseite. Piper und Phoebe saßen schweigend am Boden und schauten betreten auf die schlafenden AmateurModels. »Wir haben sie noch mal untersucht«, berichtete Piper. »Es scheint ihnen gut zu gehen bis auf die Tatsache, dass sie alle in einen geradezu komatösen Schlaf gefallen sind.« »So viel zu meinen großen ›Nach-dem-Fototermin‹-Plänen mit Nikos«, sagte Phoebe tonlos und stieß den anbetungswürdigen, aber reglosen Körper ihres Liebsten an. »Und so viel zu meinem Coverfoto für das 415!«, rief Prue wütend. »Und das alles habe ich deinem feinen Freund hier zu verdanken. Was glaubst du, was er ist? Ein Dämon oder ein Hexer? Schwer zu sagen bei einer so göttlichen Erscheinung.« »Warum glaubst du, dass es Nikos' Schuld ist?«, protestierte Phoebe und sprang auf ihre sandalenbeschuhten Füße. »Die Kamera gehört ihm nicht einmal. Er sagte doch, dass er sie im Keller seines Vaters gefunden hat. Sie hätte von überall her stammen können.« »Richtig, Phoebe«, erwiderte Prue eisig, während sie die Negativplatte aus der Kamera zog und in einem metallenen Schutzbehälter verstaute. »Und weißt du was? Das alles interessiert mich im Moment einen feuchten Kehricht. Alles, was ich weiß, ist, dass du ihn hier angeschleppt hast. Und jetzt

liegen sechs besinnungslose Leute, die unter irgendeinem perversen Bann stehen, in unserem Wohnzimmer. Mein ruiniertes Shooting ist nichts im Vergleich zu dem Ärger, den wir kriegen werden, wenn wir diese Models nicht wieder beleben können.« »Da hat sie Recht«, meinte Piper, zog an ihrem noch immer zu kurzen Röckchen und biss sich auf die Unterlippe. »Ich verstehe das alles nicht«, murmelte Phoebe und umrundete die Kamera. »Für mich sieht das Ding aus wie ein ganz gewöhnlicher alter Fotoapparat.« Sie legte eine Hand auf den Kasten, und im gleichen Moment durchlief ein leichtes Beben ihren Körper. Sie schnappte nach Luft und schloss die Augen. Sie konnte es kommen fühlen – eine ihrer Visionen stand bevor. Und dann ging sie durch einen dunklen, sumpfigen Wald. Als sie zu Boden blickte, sah sie, wie ihre Sandalen in dem morastigen Fußweg versanken. Die Bäume um sie herum wirkten wie dürre Skelette, und von fern war ein unheimliches Kreischen zu hören. Sie sah sich um, aber es war zu neblig, um Genaueres erkennen zu können. Doch Moment mal! Versteckten sich nicht dort hinter den Bäumen geisterhafte Schemen, wie um ihr aufzulauern? Sie verspürte schreckliche Angst, und doch hatte dieser Ort auch etwas … Vertrautes. In diesem Moment wurden ihre Sinne abrupt aus der Szenerie gerissen und tauchten wieder ein in die Gegenwart. Als sie blinzelnd die Augen öffnete, erkannte sie ihre Schwestern, die sich mit besorgten Mienen über sie beugten. Sie war direkt neben der Kamera zu Boden gestürzt. »Eine Vorhersehung?«, fragte Piper.

»Uh – ja«, krächzte Phoebe. »Ich war in einem Sumpf, keine Ahnung, wo das war. Aber irgendwas lässt mich ahnen, dass unsere Models jetzt genau dort sind.« Prue und Piper sahen einander an. »Das Buch der Schatten«, sagte Prue. »Du nimmst mir die Worte aus dem Mund«, antwortete Piper. Und schon eilten die drei Schwestern die Treppe hinauf zum Speicher. Der Dachboden war voll gestellt mit alten Rosshaarsofas, Stühlen aus Weidengeflecht, abgewetzten Kleiderpuppen und verrosteten Vogelkäfigen. Doch die Mitte des Raums war von altem, ausrangiertem Krempel verschont geblieben. Dort stand ein antikes Lesepult, auf dem das riesige ledergebundene Buch der Schatten lag. Wie schon so oft beugten sich die drei Schwestern über den alten Folianten, und Phoebe begann durch die Seiten zu blättern. »Mal sehen …«, murmelte sie. »Fotos, Verwünschungen, Kamera … Ah! Kamera.«

Schlaf,

Piper und Prue hörten aufmerksam zu, als sie laut vorlas. »›Primitivere Kulturen wurden lange für ihren Glauben verlacht, dass eine Kamera die Seele des Fotografierten zu stehlen vermag. Nur wenige unter den Sterblichen wissen jedoch, dass eine Kamera auch das Portal zu Orten auf der anderen Seite sein kann.‹« »Portal zu Orten auf der anderen Seite?«, fragte Piper. »Was und wo genau soll das sein?« »Du kennst doch das Buch«, seufzte Prue. »Kryptisch wie eh und je.«

›»Bei einer verzauberten Kamera wird die Seele von einem Strudel aus Energie mitgerissen‹«, fuhr Phoebe fort. ›»Sie muss durch ebendieses Portal wieder heimgeführt werden.‹« »Klingt, als ob wir durch diese Kamera reisen und die Seelen der Models wieder zurückholen könnten«, überlegte Prue. »Aber uns hat die Kamera doch gar nicht mitgenommen«, stellte Piper fest. »Wahrscheinlich haben unsere Kräfte uns davor beschützt. Wie wollen wir es also anstellen?« Die drei Schwestern sahen sich einige Sekunden lang schweigend an. Dann riefen sie wie aus einem Mund: »Zauberspruch!« »Gut, mal sehen, was wir zu Stande bringen«, sagte Phoebe und blätterte wieder durch das Buch. »Hört mal, wie wäre es hiermit: ›Auf dass wir von nun an Sterbliche seien‹«, las sie. »›Sodass man uns führe zu jenem Ort, und uns die Kräfte wieder verleihen, sobald wir eintreffen ebendort!‹«, beendete Prue den Spruch, während Piper rasch die Zeilen mitschrieb. »Ich glaube, das dürfte klappen«, meinte Phoebe und schlug das Buch wieder zu. »Und jetzt lasst uns schnell nach unten gehen und durchstarten.« Grrrrrrrrr. »Moment mal«, sagte Piper und warf einen Blick über ihre Schulter in den im Dunkeln liegenden hinteren Teil des Dachbodens. »Habt ihr das auch gehört?« »Was denn?«, fragte Prue, die schon auf dem Weg zur Treppe war. GRRRRRRRRR!

»Okay, wartet mal 'ne Minute«, sagte Phoebe mit zitternder Stimme und ergriff Pipers Arm. »Jetzt habe ich es auch gehört.« Grrrrr-OWR! Mit einem weiteren schrecklichen Knurren kam plötzlich etwas aus der hintersten Ecke des Speichers hervor. In dem dämmrigen Licht meinte Phoebe den Eindringling schemenhaft zu erkennen. Es war ohne Frage eine Art Tier, und es kam näher. Kurz darauf stieß sie einen gellenden Schrei aus. Das Tier war ein Hund, ein monströser, bösartiger Riesenhund. Seine unglaublichen Muskeln spielten unter dem glänzenden Fell bei jedem Schritt, den er tat. Die rasiermesserscharfen Klauen schlugen hörbar in die Bodendielen des Speichers, als er knurrend auf sie zukam. Doch das Schrecklichste an dieser Höllenkreatur war, dass sie nicht einen, nicht zwei, sondern gleich drei Furcht erregende Köpfe besaß, die nun geifernd nach ihnen schnappten.

4 G

» ütiger Gott!«, schrie Piper und wedelte panisch mit den Händen. Die dreiköpfige Bestie fror auf der Stelle ein. Eine ihrer mit Reißzähnen bewehrten Schnauzen war nur wenige Zentimeter von Pipers Kehle entfernt. »Ooo-kay«, sagte Phoebe, sichtbar um Fassung bemüht. »Das ist neu.« In diesem Moment kam Prue wieder die Stufen zum Dachboden heraufgerannt, um ihren Schwestern zu helfen. Sie rang hörbar nach Luft, als sie die drei aufgerissenen Mäuler der Bestie sah, ihre sechs blutunterlaufenen gelben Augen und den massiven, vor Muskeln strotzenden Körper von der Größe eines Grizzlybären. Sie konnte ihren Blick kaum von der abscheulichen Kreatur abwenden, als sie fragte: »Irgendwelche Vorschläge?« »Schickt ihn zurück in die Hölle!«, jammerte Phoebe außer sich. »Aber wie?«, fragte Piper. Niemand antwortete, denn in diesem Moment kam wieder Leben in die Bestie, und sie schnappte abermals knurrend nach den Schwestern. Prue machte eine Handbewegung, und der Hund flog in hohem Bogen quer durch den Dachboden. Er krachte hart in einen Standspiegel, sodass die Splitter durch den ganzen Raum flogen. Doch das Tier schien nicht ansatzweise verletzt zu sein. Im Gegenteil, nur noch wütender kam es jetzt auf Prue zugerannt. Grrr-ROWR!

Prue vollführte einen Roundhouse-Tritt gegen seine mächtige Brust, und die Bestie wurde wieder zurückgeschleudert. Schnell versetzte sie ihr einen Schlag mit dem Unterarm, sodass das Tier die Treppe hinunterstürzte und hart am unteren Absatz aufschlug. AAAAAAARRRP!, jaulte es. »Endlich scheint das Vieh was abbekommen zu haben!«, rief Phoebe hoffnungsfroh und sah sich hektisch nach einer Zuflucht um. Da fiel ihr Blick auf eine alte Lampe, die sie vor einigen Wochen auf dem Speicher zwischengelagert hatte, weil das Kabel zu heiß geworden war und die Ummantelung durchschmort hatte. Sie hatte sich vorgenommen, das gute Stück reparieren zu lassen, wenn es ihre Zeit zuließ. »Physik war zwar noch nie meine große Stärke«, sagte sie, »aber ich hab da eine Idee.« Sie wandte sich an Piper. »Du spielst den Köder.« »Was?«, quietschte Piper. »Hast du gerade ›Köder‹ gesagt?« »Prue«, fuhr Phoebe fort und drückte ihr den Stecker der Lampe in die Hand, »Stöpsel den mal ein.« Prue tat, wie ihr geheißen. Gleichzeitig pulte Phoebe vorsichtig die Gummiisolierung vom Kabel, sodass schließlich nur noch der nackte Draht übrig blieb. Dann nahm sie die Lampe zur Hand und legte das Kabel quer über den oberen Absatz der Treppe. Grrrrr. Das nervenzerfetzende Knurren war nicht mehr weit. Der Hund hatte mit dem Wiederaufstieg in den Speicher begonnen. »Phoebe«, sagte Piper mit zitternder Stimme. »Ich finde, der Köter klingt irgendwie ziemlich sauer.«

»Bleib da stehen und beweg dich nicht«, wies Phoebe sie an. »Und halte dich bereit, die Bestie einzufrieren, falls es nötig werden sollte.« GRRRRRRRR! »Er kommt!«, schrie Piper. Phoebe konnte hören, wie der Riesenhund die letzten Stufen zum Dachboden im Sprint nahm – das Knirschen seiner mächtigen Kiefer und Klauen, das Knurren und das Grollen wurden immer lauter. Schon erschien der erste Kopf auf dem Treppenabsatz und schnappte nach Piper. »Phoebe!«, kreischte sie in höchster Not. »Jetzt!«, rief Phoebe und spannte das Kabel, als die Bestie gerade ihren ersten Schritt in den Dachboden tun wollte. Der freiliegende Draht erwischte sie direkt an der Brust; brutzelnd verschmorte das Fell und auch das Fleisch darunter. Die Bestie jaulte und heulte, ihre drei Köpfe zuckten hin und her. Es roch nach verbranntem Fleisch und Fell, ein Funkenregen nach dem anderen stob durch die Luft, und die Schwestern zogen sich langsam in den hinteren Teil des Dachbodens zurück. Und plötzlich, mit einem fürchterlichen Heulen, bäumte sich das Tier ein letztes Mal auf, bevor es in einem Feuerball explodierte. Dann trat Stille ein. Phoebe, die sich auf den Boden geworfen hatte, hob langsam den Kopf. Die Kreatur war verschwunden, nur eine kleine schwarze Rauchwolke zeugte von dem zurückliegenden Kampf mit dem Monsterhund. Hinter ihr hatten sich ihre Schwestern in eine der Ecken gekauert. Jetzt erhoben sie sich mit weichen Knien und kamen zu Phoebe.

»Bist du okay?«, fragte Prue. Sie nickte. »Lasst uns zur Kamera gehen!«, sagte Piper. Während die drei Schwestern durch die Eingangshalle eilten, sagte Prue: »Ich muss einen Fernauslöser anbringen, damit wir alle drei vor der Kamera sitzen können, wenn ich das Foto mache.« »Okay, ich besuche unterdessen unsere schlafenden Schönheiten«, sagte Phoebe. Sie rannte ins Sonnenzimmer und sah nach den bewusstlosen Models. »Ich habe den Spruch!«, rief Piper und wedelte mit einem Blatt Papier. Prue wollte gerade das lange Selbstauslöserkabel aus ihrer Fototasche nehmen, als sie ein Geräusch vernahm. Ein schreckliches Geräusch. Ca-caw, ca-CAW! Ihre Nackenhaare stellten sich auf, und sie fröstelte, als sie aufsah. »Piper! Phoebe!«, schrie sie, als sie taumelnd auf die Füße sprang. Mitten auf der alten Boxenkamera saß eine Kreatur, die noch grotesker aussah als der dreiköpfige Hund, falls das überhaupt möglich war. Sie hatte einen Frauenkopf – das Gesicht war kalkweiß, mit Hakennase und einem lippenlosen Mund. Der Torso war schuppig und hatte vage menschliche Formen. Doch dort, wo sich normalerweise die Arme befinden sollten, saßen zwei riesige lederne Schwingen, und anstelle von Beinen hatte

die Kreatur Greifvogelklauen. vervollständigten das skurrile Bild.

Lange

Schwanzfedern

»Was zum Teufel macht …«, entfuhr es Piper. Doch Prue wollte sich im Moment nicht mit der Frage aufhalten, was diese Kreatur vorhatte. Stattdessen schoss ihr Zauberarm vor und beförderte das Vogelwesen in die Lüfte. Das Biest stieß ein schreckliches Kreischen aus, doch bevor es mit der Wand zu kollidieren drohte, breitete es seine Schwingen aus und blieb in der Luft hängen. Dann flatterte es kreischend geradewegs aus Prues telekinetischem Energiestrahl heraus und unter die Decke. »Pass auf die Models auf!«, rief Prue, als die Kreatur Anstalten machte, ins Sonnenzimmer zu fliegen. Piper hetzte hinüber, doch die Vogelfrau schien kein Interesse an den reglosen Gestalten zu haben. Stattdessen stürzte sie sich nun auf Piper. Die messerscharfen Klauen verfehlten ihr Auge nur um wenige Zentimeter. »Ich glaube, das Vögelchen ist nicht an unseren Models interessiert!«, schrie sie. »Sieht so aus«, keuchte Prue, während sie im letzten Moment den krallenbewehrten Raubvogelfüßen auswich. »Ich glaube, man kann mit ziemlicher Sicherheit behaupten, dass das Ding unseretwegen hier ist.« »Und ich glaube, hier ist wieder mal Super-Phoebe gefragt«, ließ sich die jüngste Schwester vernehmen. Piper und Prue fuhren herum und sahen, wie Phoebe sich gerade in die Luft erhob, um die Vogelfrau auf sich aufmerksam zu machen. Das Wesen stieß einen ohrenbetäubenden Schrei aus und schoss geradewegs auf sie zu. Phoebe erwartete es mit einer

Reihe wohlgezielter Karateschläge. Das Vogelmonster versuchte seine Angreiferin mit seinen ledrigen Schwingen zu Boden zu schlagen, doch Phoebe vollführte einen eleganten Tritt gegen seinen Körper. Dann duckte sie sich geschickt, um den scharfen Krallen und machtvollen Schwanzfedern auszuweichen. »Phoebe scheint zu wissen, wie man mit diesem fliegenden Ungeheuer klarkommt«, bemerkte Piper zu Prue. »Worauf du dich verlassen kannst«, gab diese zurück. Dann rief sie ihrer jüngsten Schwester zu: »Soll ich übernehmen?« »Bei drei!«, rief Phoebe zurück, während sie wieder nach der Kreatur schlug. »Eins … zwei …« Sie wirbelte zweimal um ihre eigene Achse und trat dem Biest mitten in sein hässliches Gesicht, sodass es laut aufkreischte. »Drei!« Wütend flatterte die Vogelfrau zurück ins Foyer, wo Prue sie bereits erwartete und mit kraftvollen telekinetischen Schlägen auf sie eintrommelte. Geschwächt wurde die zeternde Bestie gegen die Wand geschleudert. Der Aufschlag war so hart, dass sie in einer Wolke aus Federn und Asche explodierte. Erleichtert ließ sich Phoebe auf den Boden plumpsen. »Mannomann«, stöhnte sie. »Das Fliegen wird zwar immer einfacher, nur die Landung macht mir noch Sorgen.« »Lasst uns endlich die Sache mit dem Foto hinter uns bringen, bevor noch weitere ungebetene Gäste hier erscheinen«, sagte Piper ungeduldig. »Phoebe, komm her zu mir.« Piper und Phoebe platzierten sich vor der Kamera, während Prue den Selbstauslöser anbrachte.

»Das Ding ist so alt, ich hoffe, ich kriege das Kabel überhaupt angeschlossen«, murmelte sie. »Pruuuuue! Beeil dich!«, rief Phoebe alarmiert und deutete in eine Ecke des Wohnzimmers, wo die Luft plötzlich zu schimmern und flackern begann. »Ich glaube, wir kriegen schon wieder Besuch!« »Fast fertig«, knurrte Prue und brachte das Kabel mit fliegenden Fingern am Auslöser der Kamera an. »Schnell!«, schrie Piper. »Geschafft!«, verkündete Prue genau in dem Moment, als sich eine riesige neunköpfige Viper im Wohnzimmer materialisierte und sich ihnen zischelnd näherte. »Los! Sagt den Spruch auf«, rief Prue und hechtete zu ihren Schwestern vor die Kamera. »Auf dass wir von nun an Sterbliche seien …«, intonierten die Schwestern. Ssssssss. »Sodass man uns führe zu jenem Ort …« Die Riesenschlange war nun schon recht nahe. »Und uns unsere Kräfte wieder verleihen, sobald wir eintreffen ebendort!« In diesem Moment schoss einer der Schlangenköpfe vor und züngelte nach ihnen. »Jetzt!«, riefen Phoebe und Piper gleichzeitig. Prue betätigte den Selbstauslöser, und im gleichen Moment explodierte das Blitzlicht. Dann bemerkte sie, wie ihr Körper zu

Boden ging. Gleichzeitig wurde ihr Geist in einen dunklen tobenden Strudel gezogen. Sie fühlte die Hände der Schwestern in den ihren, dann wurde alles um sie herum schwarz und totenstill. Phoebe blinzelte und schüttelte den Kopf. Sie hockte auf Händen und Knien, und sie war sich sicher, für einen Moment das Bewusstsein verloren zu haben. Als sie sich umwandte, sah sie Prue und Piper neben sich stehen. Sie sahen genauso verwirrt aus, wie sie sich fühlte. Phoebe stand auf und begann zu zittern. Sie stand mitten in einer matschigen Pfütze, und ihr hauchdünnes griechisches Kostüm war über und über mit Dreck beschmiert. Mit einem schmatzenden Geräusch versanken ihre Füße im morastigen Untergrund. »Pfui Teufel«, sagte Piper und zog ihrerseits einen Fuß aus dem Schlamm. »Wo sind wir bloß gelandet?« »Keine Ahnung«, sagte Phoebe und schaute sich unbehaglich um. Sie waren umgeben von dunklen, kahlen Bäumen. Durch den Nebel glaubte sie die Schemen von hellen, irgendwie körperlosen Gestalten zwischen den Stämmen hindurchhuschen zu sehen. Ob das wohl Geister sind?, fragte sie sich. In der Ferne erkannte sie die Umrisse eines maroden Gebäudes, das ganz mit wildem Wein bewachsen war. »Moment mal«, murmelte sie. »Ich hab zwar keinen blassen Schimmer, wo wir sind, aber das ist genau der Ort, den ich in meiner Vision gesehen habe.« Und dann begriff sie noch etwas anderes, das sie geradewegs erschütterte. Nun wusste sie, warum ihr diese Gegend so

vertraut vorgekommen war. Sie standen mitten in Nikos' Gemälde! Alles war hier: die geisterhaften Wesen, das verfallene Gebäude, die toten Baumskelette … Gerade wollte sie ihren Schwestern von dem Bild erzählen, als etwas sie davon abhielt. Sie wusste selbst nicht, was das alles zu bedeuten hatte, aber sie wusste, dass Prue Nikos für all das verantwortlich machte. Wenn sie ihr nun von dem Gemälde erzählte, würde das ihren Verdacht nur noch bestärken. Doch Phoebe war sich sicher, dass Nikos nicht die Schuld an dieser Sache trug. Das kann, das darf einfach nicht sein, dachte sie. Er ist doch so wunderbar. Und so süß. Und so entzückend … Da steckt bestimmt irgendein Trick dahinter, überlegte sie weiter. Vielleicht ist das Gemälde ja nur der Auslöser für alles gewesen? Egal, wenn wir nicht schleunigst wieder aus diesem Schlamassel rauskommen, werden wir es nie erfahren. Sie stahl sich in den Schatten der Bäume und suchte die Gegend nach etwas ab, das ihnen die Richtung weisen konnte. Piper, die neben sie gehuscht war, fragte: »Wo auch immer wir sein mögen, hast du eine Ahnung, wo wir hingehen sollen?« Phoebe zuckte die Achseln und fühlte sich ein bisschen unbehaglich bei dem Gedanken, ihre Schwestern nicht in das Geheimnis von Nikos' Bild eingeweiht zu haben. »Hey!«, rief ihnen Prue aus einigen Metern Entfernung zu und schlug sich durch das Dickicht. »Habt ihr das gesehen?« Piper und Phoebe eilten zu ihr zurück. »Was gesehen?«, fragte Piper und folgte Prues Blick. »Ich habe Lichter aufflackern sehen«, sagte sie aufgeregt. »So ein Glimmen, wie man es von Leuchtkäfern kennt.«

Phoebe starrte angestrengt in den Nebel hinaus. »Bist du sicher, dass das kein Wunschdenken war, Prue?« Sie rieb sich über die Gänsehaut auf ihren Armen. »Immerhin befinden wir uns nicht gerade in hochsommerlichen Gefilden, in denen sich diese Insekten normalerweise aufzuhalten pflegen.« Plötzlich konnte sie ein schwaches Flackern durch die Bäume erkennen. »Da ist es!«, rief sie. »Ist dies das Licht, das du gesehen hast, Prue?« »Genau«, erwiderte sie. »Ich hab's auch gesehen«, bestätigte Piper. »Na ja, sieht so aus, als ob wir jetzt wenigstens ein Ziel haben«, sagte Phoebe. »Los, kommt, Schwestern! Sehen wir uns das mal genauer an.«

Sie brauchten fast eine Stunde, um sich durch das Unterholz des sumpfigen Geisterwaldes zu schlagen. Eulen und Fledermäuse umschwirrten sie auf ihrem Weg, sodass sie fortwährend vor Schreck aufkreischten und den heranflatternden Geschöpfen ausweichen mussten. Ihr Haar verfing sich in dornigem Gestrüpp, und zu allem Überfluss tropften permanent übel riechende, kalte, schleimige Substanzen aus den Baumkronen auf ihre Köpfe und nackten Schultern. »Dagegen war der Survival-Trip mit der Belegschaft des P3 ja die reinste Vergnügungsfahrt«, beschwerte sich Piper, die gerade feststellte, dass sich ihr Gewand in einem Dornenbusch verfangen hatte und zerriss. »Vergiss nicht den Tag, an dem du dein Maskottchen im MüllContainer verloren hast«, grummelte Phoebe, als sie auf Zehenspitzen einen blubbernden Strom aus brauner Brühe

durchquerte. »Ich glaube, das war noch ein bisschen widerlicher.« »Kommt schon, Leute!«, rief Prue, als sie über einen zerklüfteten Felsblock kletterte. »Wir sind fast da. Ich habe das Licht wieder aufflackern sehen, und diesmal war es ganz nah!« Schließlich erreichten sie ein sandiges Ufer. »Ist das ein See?«, fragte Phoebe und deutete auf die ausgedehnte Wasserfläche vor ihnen, über der dicke, stinkende Nebelschwaden hingen. »Nein, ein Fluss«, sagte Piper und deutete hinaus auf die langsame Strömung. Brackige, gelbe Wellen liefen am Ufer aus und benetzten ihre Zehen. »Igitt!«, rief Prue und sprang einen Schritt zurück. »Fragt sich nur, wo unser Leuchtkäfer ist?,« murmelte Piper und starrte zitternd vor Kälte aufs Wasser hinaus. »Ich frage mich, wie wir auf die andere Seite kommen sollen«, sagte Prue. »Ich sehe hier nirgends eine Brücke.« Plötzlich tauchte aus dem Nebel ein Boot auf und trieb gemächlich auf sie zu. Im Bug hing an einem Stab eine Glaslampe, in der eine schwache Flamme flackerte. Daneben stand eine dunkle Gestalt in einer langen schwarzen Kapuzenrobe, die das Boot mit einer Stange auf sie zusteuerte. »Wenn man vom Teufel spricht«, sagte Phoebe unbehaglich. »Oder wer auch immer das ist.« Die Schwestern verharrten sprach- und reglos, bis das Boot direkt vor ihnen am Ufer Halt machte. Doch die dunkle Gestalt stand einfach nur schweigend da und schien auf irgendetwas zu warten.

»Meint ihr, er wird etwas zu uns sagen?«, wisperte Phoebe. »Vielleicht wartet er darauf, dass wir den Anfang machen«, flüsterte Prue zurück. »Piper, mach dich bereit, ihn einzufrieren, wenn er irgendeine krumme Tour versucht oder so.« »Okay«, gab sie zurück. Dann machte Prue einige Schritte vorwärts, wobei sie sich möglichst nah beim Heck hielt. Sie versuchte das Gesicht der Gestalt zu erkennen, doch es wurde von der Kapuze verhüllt. »Können Sie uns vielleicht sagen, was auf der anderen Seite des Flusses ist?«, fragte sie. Die Gestalt schüttelte schweigend den Kopf. Über die Schulter warf Prue ihren Schwestern einen nervösen Blick zu. Dann wandte sie sich wieder an den Fremden. »Gut, aber können Sie uns sagen, ob hier irgendwo eine Brücke ist?« Wieder schüttelte der Mann den Kopf. »Okay«, meinte Prue. »Aber vielleicht könnten Sie uns freundlicherweise übersetzen? Ginge das?« Endlich nickte der Mann. »Phoebe«, wisperte Piper ihr zu, »bist du sicher, dass das eine gute Idee ist? Erinnere dich daran, was unsere Mutter immer gesagt hat: Lass dich nie von Fremden mitnehmen.« »Ich glaube nicht, dass wir eine andere Wahl haben«, wandte Phoebe unwirsch ein und machte Anstalten, in das Boot zu klettern, aber der Fährmann trat ihr in den Weg. Dann hielt er seine Hand auf.

Phoebe sah sie an und stöhnte auf vor Schreck und Ekel. Die Hand war vollkommen verrottet! Das Fleisch war schwarz und verfault und übersät mit nässenden Wunden. Auch ging von dem Mann ein süßlich-modriger Gestank aus. Es war der Geruch des Todes. Dieser Fährmann scheint auf einem sehr schmalen Grat zwischen Leben und Tod zu wandeln, dachte Phoebe. Die Hand des Mannes schloss und öffnete sich, wie um sie aufzufordern, etwas hineinzulegen. »Kann es etwa sein …«, murmelte sie laut, und dann fühlte sie leicht schwindelig angesichts ihrer sich plötzlich ungeheuerlichen Vermutung. Sie erstarrte, als der Fährmann sich plötzlich seine Kapuze vom Kopf schob und darunter ein grauenvolles Gesicht zum Vorschein kam. Die Nase war halb zerfressen, durch den schmutzverkrusteten Bart konnte Phoebe eine Reihe brauner Zahnstümpfe erkennen. Die Augenhöhlen waren leer und schwarz. Flöhe und Läuse wimmelten in der langen zottigen Mähne auf seinem Kopf. Da schrie Piper hinter ihr auf. Gleichzeitig verstärkte sich in Phoebe das Gefühl, den Boden unter den Füßen zu verlieren. Plötzlich passten alle Puzzlestücke, die ihnen dieser schreckliche Tag präsentiert hatte, zusammen. Langsam wandte sie sich zu ihren Schwestern um und sagte: »Ich … ich weiß jetzt, wer das ist. Das ist … Charon!« »Charon?«, fragte Prue mit gepresster Stimme und starrte den lebenden Toten angeekelt an. »Und wer ist das bitte?« »Jetzt ergibt alles einen Sinn«, murmelte Piper. »Der dreiköpfige Hund auf dem Speicher, das war Kerberos, der Hund, der den Eingang zur Unterwelt bewacht. Und diese hässliche Vogelfrau, das war eine Harpyie, eine andere grauenvolle Kreatur aus der griechischen Mythologie.«

»Und diese tausendköpfige Schlange, die in unserem Wohnzimmer auftauchte, kurz bevor wir verschwunden sind?«, fragte Phoebe. »Das war die Hydra«, sagte Piper. »Definitiv die Hydra.« »Ist ja alles schön und gut«, meinte Prue ungeduldig, »aber jetzt weiß ich immer noch nicht, wer dieser Charon eigentlich ist.« »Charon«, sagte Piper mit zittriger Stimme, »ist der Fährmann, der die Menschen in seinem Boot über den Acheron bringt. Aber nur … tote Menschen.« »Tote Menschen?«, fragte Prue fassungslos. »Was ist denn das für ein Fluss, dieser Acheron, meine ich?« »Der Acheron«, sagte Piper leise, und ihr Gesicht wurde grau vor Angst, »ist einer der vier Ströme der Unterwelt und der Eingang in den Hades – das Totenreich der griechischen Antike.«

5 Während Piper die grausame Wahrheit, dass sie geradewegs in den Hades katapultiert worden waren, bereits verdaut hatte, verspürte Phoebe plötzlich einen kalten Schauer, der ihren Körper durchströmte wie Eiswasser. Langsam fuhr ihr Finger zur Halsschlagader. Als sie ihren Puls fühlen konnte, atmete sie erleichtert auf. »Wollte nur sehen, ob ich noch lebe«, flüsterte sie ihren Schwestern zu. »Oh …«, sagte Prue und deutete auf Charon. »Was macht er da?« Die unheimliche Gestalt hob einen Arm und winkte sie herbei. »Ich weiß es«, sagte Piper. »Er will, dass wir die Überfahrt bezahlen. Charon nimmt nur die mit, die ihm irgendetwas geben. Im alten Griechenland wurden den Toten deshalb Geldstücke mit ins Grab gelegt, sodass sie den Fährmann entlohnen konnten.« »Danke für die interessante Geschichtsstunde«, murmelte Phoebe und zeigte auf ihr dünnes, taschenloses Gewand, »aber leider hab ich meine Kreditkarten heute nicht dabei.« Prue durchwühlte die Taschen ihres Overalls. »Ich hab nur einen Vierteldollar bei mir«, sagte sie betrübt. »Der würde uns hier ohnehin nicht weiterhelfen«, meinte Piper. »Soweit ich mich erinnere, kostet die Überfahrt einen Obolus.« »Schön«, meinte Prue, »auch wenn ich nicht weiß, was und wie viel ein Obolus ist, so weiß ich doch, dass wir keinen haben. Was machen wir also?«

Mit einem schrecklich schmatzenden Geräusch hob Charon erneut seinen Arm und deutete mit einem schmutzstarrenden Finger auf Phoebes Hals. »Was will er?«, fragte sie irritiert. Piper folgte Charons Fingerzeig. Ihr Blick fiel auf die Perle, die an einer zarten Goldkette um den Hals ihrer Schwester hing. »Vermutlich will er uns sagen, dass er deine Kette als Bezahlung für die Überfahrt annehmen würde«, sagte sie beklommen. »Aber ich liebe dieses Schmuckstück!«, protestierte Phoebe und legte schützend eine Hand darüber. Dann löste sie den Lorbeerkranz aus goldfarbenem Metall aus Pipers Frisur und hob ihn in die Höhe. Doch der Fährmann schüttelte seine lange zottelige Mähne und deutete erneut auf Phoebes schöne Halskette. »Ich glaube, man kann Charon nicht bescheißen«, sagte sie enttäuscht. »Also gut.« Widerwillig nahm sie die Kette ab und legte sie in Charons verfaulte Hand. Dann kletterte sie rasch in den Kahn und half ihren Schwestern beim Einstieg. Mit einer langen Stange stieß sich der Fährmann vom Ufer ab und wendete. Und dann tauchte das Boot mit den drei HalliwellSchwestern ein in den Nebel, der über dem Fluss der Seelen lag.

Nur wenige Minuten später hörten sie, wie das Boot knirschend auf sandigen Grund lief. Sie hatten das andere Ufer des Acheron erreicht. Piper sah zu Charon, der wieder seinen Arm erhoben hatte und nun nach links deutete.

»Wahrscheinlich weist er uns den rechten Weg«, vermutete Phoebe. »Offensichtlich ist er ja schon eine Weile hier.« Die Schwestern stiegen aus und betraten einen sumpfigen Pfad, der am Flussufer entlang führte. Erwartungsvoll schauten sie sich um. Doch alles, was sie sahen, waren noch mehr tote, dürre Bäume und dorniges Gestrüpp. »Rechts der Wald und links der nebelige Fluss«, konstatierte Prue. »Ich frage mich, wo das alles hinführen soll. Ich fühle mich wie im Niemandsland.« Plötzlich drehte sich der Wind und trieb eine Wand aus übel riechendem Nebel auf sie zu, die sie in dicke Schwaden hüllte. »Und nicht zu vergessen dieser Nebel«, ergänzte Piper mürrisch die Bestandsaufnahme ihrer Schwester. »Stinkender Nebel, um genau zu sein.« Sich den unangenehmen Dunst aus dem Gesicht wedelnd, setzten die drei Schwestern ihren Weg fort. Schließlich klärte sich die Luft wieder, und das Trio sah sich um. Sie waren immer noch in diesem geisterhaften Wald. Doch als sie weiterstapften, lichtete sich der Baumbestand allmählich und wich verdorrten Feldern, schwarzen Bächen, die nach saurer Milch rochen, und ab und an einer erbarmungswürdigen Hütte, um die der Wind pfiff. Sie waren ausnahmslos winzig und schäbig und unbewohnt. Nirgendwo gab es etwas Grünes, Lebendes, geschweige denn eine Menschenseele. »Habt ihr auch bemerkt, dass hier einfach alles düster und braun-grau ist?«, fragte Phoebe nach einer Weile. »Selbst diese Hütten haben alle die Farbe von Treibholz.«

»Genau wie das Erdreich«, sagte Prue und deutete auf den Boden. »Und die Bäume«, ergänzte Piper und sah sich fröstelnd um. Ihre Schritte wurden immer schwerfälliger. »Was für eine gottverdammt eintöniger Ort«, jammerte Phoebe und schleppte sich mühsam weiter. »Hört auf, euch zu beschweren, Leu … huaaaaaa …« Prues Satz ging in einem herzhaften Gähnen unter. »Ich beschwer mich ja gar nicht«, murmelte Piper. »Ich bin … nur so … entsetzlich müde.« Phoebe steuerte einen toten Baumstumpf am Wegesrand an und ließ sich darauf nieder. »Nur … eine Minute … Rast«, gähnte sie. »Mehr brauche ich nicht.« Piper sank neben Phoebe zu Boden und legte ihren Kopf auf das Knie der Schwester. »Gute Idee«, murmelte sie und schloss die Augen. Nur wenige Sekunden später schliefen die beiden tief und fest. Verwirrt blieb Prue stehen und starrte auf ihre schnarchenden Schwestern. Gleichzeitig versuchte sie angestrengt, nicht ebenfalls einzunicken. Da … stimmt was nicht, dachte sie träge. Warum … so müde? Mir ist, als … unter Drogen gesetzt … Ihre Augen weiteten sich bei dem Gedanken. Drogen! Das musste es sein. Sie riss sich zusammen und stolperte auf ihre beiden Schwestern zu. »Aufwachen«, flüsterte sie. »Drogen … wir wurden … betäubt … ein Trick … vielleicht dieser Nebel, der … vom Fluss …«

Doch sie konnte kaum noch die Augen offen halten und merkte, wie sie vornüber auf die Knie fiel. Gerade wollte sie den Kampf gegen die bleierne Müdigkeit als verloren betrachten, als sie aus der Ferne einen Laut vernahm. Ah-ha-ha-ha-ha! »Was …?«, murmelte Prue. Ah-ha-ha-ha-ha! Ihre Lider flackerten. Was war das? Es klang wie ein weit entferntes, drohendes, gackerndes … Gelächter. »Piper!«, keuchte sie. »Phoebe! Aufwachen!« Sie rüttelte und schüttelte ihre Schwestern. »Was?«, grummelte Piper ungehalten, als sich ihre Augen langsam öffneten. »… schlafen«, murmelte Phoebe und schlug Prues Hand weg. »Zzzzzzz …« AH-HA-HA-HA-HA! »Prue«, rief Piper, die jetzt hellwach war, alarmiert, »was ist das?« »Ich weiß es nicht, und ich bin auch nicht scharf darauf, es zu erfahren«, gab Prue zurück und rappelte sich mühsam auf. In ihrem Kopf drehte sich alles. »Wir müssen hier verschwinden.« Auch Piper kam wieder auf die Füße. »Mann«, grummelte sie. »Mein Kopf fühlt sich an, als ob er mit Watte gefüllt wäre.« »Meiner auch«, sagte Prue. »Wir müssen weg von hier. Weck Phoebe auf!«

Piper machte gerade Anstalten, ihre jüngste Schwester wach zu rütteln, als sie ein Krachen und Rumpeln im Unterholz der Baumgruppe nicht weit von ihnen vernahm. Auch das bösartige Gegacker war wieder zu hören, diesmal sehr nah. »Okay«, rief Prue entnervt. »Welche Kreatur hat bloß ein derart hinterhältiges Pferdegewieher-Lachen?« »Vielleicht die da?!«, schrie Piper und deutete auf die Baumgruppe. Das Tier – oder war es ein Mann? – kam gerade aus dem Dickicht gestürmt, wobei es Äste und Erde aufwirbelte. »Ach du liebe Güte«, stöhnte Piper, als sie begriff. »Das ist ein Zentaur. Halb Mann, halb Pferd – die schlimmsten Rabauken in der gesamten griechischen Mythologie.« In einer Mischung aus Faszination und Abscheu starrte Prue auf das Tierwesen. Von der Hüfte abwärts sah es aus wie ein ganz gewöhnlicher stämmiger Rappe. Vier behufte Beine, kräftige Flanken, ein buschiger Schwanz. Doch dort, wo eigentlich Hals und Kopf des Tieres sein sollten, ragte der nackte Torso eines muskulösen Mannes aus dem Pferdekörper. Er war recht dunkelhäutig, Brust und Arme waren stark behaart, er hatte dichtes gelocktes Haupthaar und kräftige schwarze Augenbrauen. Stampfend galoppierte der Zentaur auf sie zu. Seine Hufe wirbelten Staub und Dreckklumpen in die Luft. Dann legte er den Kopf in den Pferdenacken und lachte das ihnen wohl bekannte höhnische Lachen, wobei er eine Reihe brauner Zähne entblößte. »Verdammt«, presste Prue hervor, »wie viele dieser missgestalteten Kreaturen gibt es eigentlich in der griechischen Mythologie?«

»Zu viele!«, sagte Piper beklommen und beugte sich über ihre immer noch schlafende kleine Schwester. »Phoebe! Wach auf. Wach endlich auf!« »Was … was ist denn?«, murmelte Phoebe benommen und hob mühsam den Kopf. Sie fühlte sich, als ob sie aus einer dunklen Höhle ins Licht zurückgekehrt sei. Ihre Augenlider waren schwer und drohten immer wieder zuzuklappen. Kann nicht …, dachte sie. Kann nicht … aufwachen. Plötzlich packte sie jemand um die Hüften und hob sie in die Luft. »Hey!«, rief sie empört. Doch der Trick hatte funktioniert. Ihre Augen klappten auf – und dann erstarrte sie vor Schreck. Sie lag quer über dem Rücken eines Pferdes, festgehalten von einer kräftigen Männerhand. Und das Pferd raste in vollem Galopp durch die Landschaft. Träge drehte sie den Kopf, um einen Blick auf ihren Entführer werfen zu können. »Aaaaah!«, schrie sie. »Das ist ja … gar kein Pferd!« Entgeistert starrte sie auf den behaarten Rücken eines Kerls, der wundersamerweise aus dem Körper eines Pferdes gewachsen war. Der schwarz gelockte Kopf des Pferdemannes drehte sich zu ihr um und grinste hämisch. »Ah-ha-ha-ha-ha!«, lachte er laut, wobei er seine verrotteten Zähne bleckte. Dann trug er sie weiter in die dämmrige Ödnis des Hades. »Prue!«, schrie Phoebe panisch. »Piper! Rettet mich!« Wie paralysiert starrten Prue und Piper ihrer vom Zentaur geraubten Schwester nach. Schließlich wedelte Piper mit ihren Armen in der Luft, aber das Biest war schon zu weit entfernt, als dass es noch eingefroren werden konnte. Alarmiert sah sie ihre

älteste Schwester an. »Wir können nichts machen außer ihnen nachzurennen!«, schrie sie. Gesagt, getan. Schon Verfolgungssprint an.

setzten

die

beiden

zu

einem

»Pruuuuuuue! Piiiiiiper!«, drang die Stimme ihrer Schwester an ihr Ohr – verzweifelte Hilferufe, die sich mehr und mehr von ihnen entfernten. »Ah-ha-ha-ha-ha!«, lachte der Zentaur. »Wir kommen!«, keuchte Piper. Doch nach zwei Minuten Verfolgungsjagd mussten Prue und Piper erkennen, dass sie ein allzu voreiliges Versprechen abgegeben hatten: Sie spürten eine zunehmende Erschöpfung. »Kann nicht … mehr rennen«, japste Prue. »Hätte ich bloß nicht … mit Aerobic aufgehört …« »Los, weiter!«, trieb Piper sie an und stolperte durch eine kleine Gruppe aus toten Bäumen. »Nein!«, sagte Prue. Sie war stehen geblieben und stützte sich schwer atmend gegen einen der Stämme. Dann ließ sie sich auf einen Baumstumpf sinken. »Ich hab 'ne bessere Idee.« Mit diesen Worten fiel ihr Kopf auf die Brust, und ihr Körper wurde schlaff. Besorgt sah Piper ihre Schwester an und biss sich auf die Lippe. Sie wusste, Prue hatte sich in den Astralmodus versetzt. Sie hoffte nur, dass ihr Geist auch wirklich den Ort erreichte, an den der Zentaur Phoebe verschleppt hatte.

Phoebe hatte das Gefühl, sich jeden Moment übergeben zu müssen. Der Pferdemann galoppierte so schnell über Stock und Stein, dass sie kaum klar sehen und denken konnte. Daher glaubte sie zunächst auch an eine Halluzination, als sie plötzlich sah, wie ihre älteste Schwester hinter einem der Bäume hervortrat und ihnen in den Weg trat. »Prue, pass auf!«, schrie sie vom Rücken des Pferdes. »Aaaaack«, bellte der Zentaur und bremste scharf ab, kurz bevor er mit Prue zu kollidieren drohte. Und schon galoppierte er in die entgegengesetzte Richtung davon. Doch da hatte sich Prue schon wieder vor ihm aufgebaut und zwang ihn wieder abzubremsen. Dabei hatte sie ihre Hände in die Hüften gestemmt und blickte ihn herausfordernd an. Da wusste Phoebe, dass sie es mit der Projektion ihrer Schwester zu tun hatte, die gekommen war, um sie zu befreien. Erschreckt schnaubte der Zentaur auf und wich dem unerwarteten Hindernis erneut aus. Doch jedes Mal, wenn er die Richtung änderte, stellte sich Prue ihm wieder in den Weg, bis der Pferdemann sich schließlich wiehernd aufbäumte und mit den Vorderhufen heftig durch die Luft paddelte. »Aaaah!«, schrie Phoebe, als sie mit Schwung abgeworfen wurde und auf einem Haufen Laub und toter Äste landete. Der Zentaur schnaubte noch einmal wütend auf, dann galoppierte er in ein Wäldchen hinein und verschwand. Bald verklangen seine Hufschläge auf dem weichen Untergrund. Er war fort. Torkelnd kam Phoebe wieder auf die Beine und rieb sich den Allerwertesten. Dann sah sie seufzend an sich hinunter. Ihr

Kleid war nur noch ein Lumpen, aber ihre Knochen waren alle noch intakt. »Danke, Schwester«, sagte sie zu Prue, doch die starrte sie nur mit leerem Blick an; dann löste sich ihre Gestalt mit einem Flimmern in Nichts auf. »Ach, ja«, murmelte Phoebe. »Hätte fast vergessen, dass es Prues Astralkörper war, der mir aus der Patsche geholfen hat.« Sie legte die Hände trichterförmig um ihren Mund und rief: »Haaaaalllooooooo!« »Phoebeeeeee!« Das war Pipers Stimme, und sie klang noch ziemlich weit entfernt. »Hier drüben! Hallo!«, schrie Phoebe in die Einsamkeit hinaus, bis ihre Schwestern endlich durch das Unterholz brachen und zu ihr stießen. »Meine Heldin!«, rief Phoebe, eilte auf Prue zu und drückte sie fest an sich. »Was war das bloß für ein schreckliches Untier?« »Ein Zentaur«, erklärte Piper. »Wie man unschwer übersehen kann, sind diese Burschen halb Mensch, halb Pferd, und sie haben einen verdammt schlechten Ruf, wenn ich mich recht erinnere. Ich wette, dieser Typ hat im Auftrag von jemandem gehandelt.« »Aber in wessen?«, fragte Phoebe. »Lasst uns weitergehen«, drängte Prue und fächerte sich die letzten Reste des Nebels aus dem Gesicht. »Möglicherweise erfahren wir es dann.« »Na ja, aber wir sind total vom Weg abgekommen«, stellte Piper stirnrunzelnd fest und sah sich um. Doch alles, was sie

erkennen konnte, waren die allgegenwärtige Düsternis und die toten Bäume in so ziemlich jeder Richtung. »Wohin also?« »Ich finde, wir sollten die dem Ziel des Zentauren entgegengesetzte Richtung einschlagen,«, schlug Phoebe vor. »Das ist in unserer Situation so gut wie jeder andere Vorschlag auch«, nickte Prue grimmig. Und wieder schlugen sie sich durch das Unterholz, bis sie auf eine Lichtung stießen, die von einem Fluss durchschnitten wurde. »Wir sollten dem Wasserlauf folgen«, überlegte Piper. »Der Fluss wird uns schon irgendwohin führen.« Prue und Phoebe zuckten die Schultern und folgten ihr schweigend. Plötzlich machte der Fluss eine Biegung und führte mitten durch einen weiteren Wald aus toten Bäumen. Es war nicht zu erkennen, wohin er floss, doch sie hatten kaum eine andere Wahl, als ihren einmal eingeschlagenen Weg fortzusetzen. So liefen sie eine Weile unbeirrt und schweigend am Ufer entlang, bis Prue plötzlich innehielt. »Seht mal dort«, sagte sie und streckte ihren Finger aus. Der Strom floss direkt in eine gigantische Höhle in einem noch gigantischeren Berg. Die Schwestern standen da und staunten. »Ich kann noch nicht mal den Gipfel erkennen«, sagte Piper atemlos, als sie an der schroffen, abweisenden Bergwand hinaufsah. Die Spitze des Massivs ragte weit in den wolkenverhangenen Himmel hinein. Als sie näher traten, erkannten sie, dass der Eingang aus Felsen geformt worden war, die zu einem fast perfekten

Torbogen behauen waren. Eindeutig das Werk denkender Wesen und keine Laune der Natur. »Gehen wir rein«, sagte Phoebe entschlossen. Zögernd betraten sie die dämmrige, feuchte Grotte. Doch alles, was sie erkennen konnten, war eine kleine unscheinbare Kammer. Phoebe stieß Prue an und deutete in den hinteren Teil des Raumes. »Da ist ein Durchgang«, flüsterte sie. »Scheint, als ob er in eine weitere Kammer führt.« Als sie sich unter dem niedrigen Sturz hindurchduckten, fanden sie Phoebes Vermutung bestätigt. Auch diese Kammer war eng und dunkel, und sie hatte, welche Überraschung, einen Durchgang in eine weitere Kammer, die wiederum in die nächste führte … So durchquerten sie einen Raum nach dem anderen, bis Piper plötzlich stehen blieb. »Prue, Phoebe«, wisperte sie, »mir ist gerade was aufgefallen. Dieses Licht hier … es kann längst nicht mehr von draußen hereinfallen.« »Du hast Recht«, sagte Phoebe und bemerkte, wie es ihr kalt den Rücken herunterlief. »Es muss also aus der Höhle selbst kommen«, stellte Prue fest. Sie nickten sich zu und betraten die nächste Kammer. Doch hier erwartete sie eine große Überraschung. Mitten im Raum saß eine Gestalt auf einem Thron aus grob behauenen Steinen – es war Nikos! Sein griechisches Göttergewand war ebenso verschwunden wie der Habitus des genialen Künstlers. Stattdessen trug er einen Anzug aus Samt, der denselben erdigen Braunton hatte wie alles

im Hades. Seine wilden schwarzen Locken waren streng zurückgekämmt. Und er rauchte eine stinkende Zigarre. Lässig kreuzte er seine langen Beine, als die Schwestern eintraten. »Wo wart ihr denn so lange?«, fragte er gelangweilt. »Du liebe Güte, ihr seht ja furchtbar aus.« »Nikos!«, rief Phoebe und eilte auf ihn zu. »Geht's dir gut? Was … was ist denn mit dir geschehen? Wo sind die anderen?« »Mir geht's blendend«, sagte er. »Nun, wo ich meinem elenden Leben als Hungerkünstler auf Erden endlich entfliehen konnte.« Mit verächtlicher Miene deutete er nach oben. »Herr der Finsternis, was hab ich nicht alles unternommen, um euch in mein Reich zu locken.« Er warf den Kopf in den Nacken und stieß ein lautes Lachen aus. Phoebe fühlte sich, als hätte sie einen Schlag in den Magen bekommen. Verzweifelt sah sie zu ihren Schwestern, die mit versteinerten Gesichtern von ihr zu Nikos schauten. »Wer bist du?«, fragte Prue leise. »Ich hatte mich doch schon vorgestellt«, sagte Nikos. »Mein Name ist Nikos. Allerdings habe ich euch meinen wahren Beruf noch nicht verraten.« »Stimmt«, sagte Piper kühl. »Leider hatten wir bisher noch keine Gelegenheit, unsere Visitenkarten auszutauschen. Ich nehme an, du bist kein Maler, richtig?« »Richtig, ich bin ein Prinz.« »Ha!«, entfuhr es Phoebe. »Der Prinz des Hades, um genau zu sein«, ergänzte Nikos und warf Phoebe einen niederträchtigen Blick zu. »Auch genannt

Herrscher der Unterwelt, Peiniger der Toten, Schrecken der Nacht und so weiter und so fort. Ein ziemlich langweiliger Job, wenn ihr mich fragt. Mein Vater hasst ihn.« »O mein Gott«, krächzte Phoebe. »Noch nicht, meine liebe Phoebe, noch nicht. Denn noch ist mein verehrter Herr Vater der Gott der Unterwelt«, sagte Nikos leichthin. »Aber vielleicht werde ich es eines Tages sein. Lustiger Zufall, nicht wahr, Prue, dass du mir ausgerechnet die Rolle des Hades für dein albernes Foto zugedacht hattest. Besser hätte ich das auch nicht drehen können.« Phoebe konnte kaum glauben, was sie da hörte. Von allen arrangierten Kontaktaufnahmen und Verabredungen mit den Sendboten der dunklen Seite war diese Sache hier eindeutig der Gipfel. »Wo sind die Models?«, fragte Prue drohend und trat entschlossen vor Nikos' Thron. »Hast du sie auch hierher gelockt?« »Heh-heh-heh«, sagte Nikos und erhob sich gemächlich. »Ja, sie sind hier, und es geht ihnen gut. Sie sind in Sicherheit, glaubt mir, obwohl sie ebenso abgerissen aussehen wie ihr. Sie wurden schon weggebracht.« Mit einer lässigen Geste deutete er in Richtung einer Kammer hinter sich. Dieser Ort scheint aus einem ziemlich komplexen Höhlensystem zu bestehen, dachte Phoebe. Und natürlich muss sich der Sitz des Herrschers der Unterwelt in einer feuchten unterirdischen Höhle befinden … »Warum hast du die anderen überhaupt hierher gebracht?«, verlangte Piper zu wissen.

»Ist das nicht offensichtlich?«, fragte Nikos. »Sie sind Geiseln und Köder zugleich. Sie haben euch in mein Netz gelockt.« »Okay, aber was willst du von uns?«, fragte Prue. Nikos warf seine Zigarre auf den Boden und fixierte sie mit rot glühenden Augen. »Von dir will ich gar nichts!«, zischte er. »Du solltest noch nicht mal hier sein, große Schwester.« Erschrocken hob Piper eine Hand vor ihren Mund. »Es ist Phoebe, die du willst, richtig?«, flüsterte sie. »Deswegen hast du den Zentaur geschickt, um sie zu entführen …« »Ah, die schüchterne mittlere Schwester ist gar nicht so dumm, wie sie aussieht«, bemerkte Nikos herablassend. Phoebe fühlte, wie ihr Herz sank. »Du willst damit sagen«, fragte sie mit brüchiger Stimme, »dass du die Models entführt hast und ich das Lösegeld bin?« »Eine Seele«, kicherte Nikos, während seine Augen wieder ihre normale blaue Farbe annahmen. »Das ist alles, was ich brauche. Aber es durfte nicht irgendeine Seele sein. Das hätte nicht funktioniert. Was ich brauche, ist Göttlichkeit.« »Tja, ich glaube, da bist du einem Irrtum aufgesessen«, sagte Phoebe giftig. »Ich bin nicht wirklich eine Göttin, Nikos, ich spiele lediglich eine im Fernsehen.« »Bitte, ich bin Realist«, sagte Nikos und musterte Phoebe von oben bis unten. »Weißt du, das war nämlich mein Problem. Wahre Göttinnen sind heutzutage nicht eben üppig gesät.« »Was für ein Jammer«, murmelte Prue und verzog das Gesicht. »Stimmt, man muss Kompromisse machen«, gab Nikos zurück, und sein Ausdruck wurde plötzlich hart. »Wenn man

keine Göttin finden kann, muss man eben mit einer Hexe vorlieb nehmen.« Bei diesen Worten umfasste er Phoebe mit einem seiner starken Arme, sodass sie sich kaum mehr rühren konnte. Sie trat um sich und zappelte, doch Nikos' Griff war kräftig, übermenschlich stark. Piper hob eine Hand, um die Zeit anzuhalten, doch ohne Erfolg. Nikos legte den Kopf zurück und lachte. »Glaubst du etwa, dass du deinen kleinen Trick auf mich anwenden kannst?«, bellte er spöttisch. »Du bist nichts gegen mich. Ich herrsche hier!« »Sagtest du nicht eben, Papa herrscht hier?«, fragte Prue höhnisch. Nikos' Gesicht verdunkelte sich, und seine Augen begannen wieder rot zu glühen. »Ich verdamme euch! Ich verdamme euch zurück auf die Erde!«, schrie er donnernd und wedelte mit seiner freien Hand in Prues und Pipers Richtung. Die beiden Schwester schrien auf, als sie rückwärts durch all die Kammern wirbelten, die sie kurz zuvor durchquert hatten. Eine Sekunde später wurden sie wieder in den dunklen Strudel gezogen, der sie in den Hades getragen hatte. Der Sog war ohrenbetäubend, das Geräusch erinnerte an ein grollendes Unwetter. Dann plötzlich trat Stille ein, und Prue und Piper fanden sich auf dem Orientteppich im Sonnenzimmer von Halliwell Manor wieder – direkt vor der Kamera. Nichts hatte sich während ihrer Abwesenheit verändert. Noch nicht einmal die Zeiger der Standuhr waren vorgerückt.

Es war, als wären sie nie fort gewesen. Nur eine Sache war anders. Phoebe fehlte.

6 Piper rappelte sich auf und sah sich gehetzt im Wohnzimmer um. Etwas in ihr hoffte, dass Phoebe vielleicht hinter der Couch gelandet war. Oder dass das Zurückliegende nie passiert war und ihre kleine Schwester gerade den Kühlschrank plünderte. »Phoebe?«, rief sie hoffnungsvoll. Sanft berührte Prue ihre Schwester an der Schulter und zeigte auf den Boden. Piper sah, dass die leblosen Körper der Models noch immer dort herumlagen und leise vor sich hin schnarchten. »Es war kein Traum«, sagte Prue mit bebender Stimme. »Wir waren da. Und er hat Phoebe.« »Er hat Phoebe«, sagte Piper und deutete auf den wohl schönsten Körper unter den schlafenden Models: Nikos' irdisches Selbst, friedlich schlummernd und mit rosigen Wangen und schwarzen Locken, die ihm adorabel in die wohlgeformte Stirn fielen. »Er sieht aus wie ein Engel«, zischte Prue wütend. »Wer konnte schon ahnen, dass er ein wahrer Teufel ist?«, sagte Piper. »Mach ihn fertig, Schwester.« Prue deutete auf Nikos' schlafenden Körper und bewegte ihre Hand so heftig sie konnte. Ich werde ihn gegen die Wand schmettern, dass es ihm jeden einzelnen Knochen im Körper zermalmt, dachte sie grimmig. Doch nichts geschah. Nikos ruhte nach wie vor friedlich zwischen Hera und Ares.

»Was zum Teufel …«, presste Prue hervor und wiederholte ihren telekinetischen Schlag. Doch ohne Erfolg. Piper sprang auf und stieß Nikos an der Schulter an. Sie erschrak, als ihre Hand glatt durch ihn hindurchfuhr. »Ich fürchte, du bist nicht die Einzige, die Astralprojektion draufhat, Prue«, sagte sie. »Der Idiot ist gar nicht mehr hier. Wahrscheinlich wusste er ganz genau, dass wir an seinem irdischen Körper Rache nehmen würden, wenn wir wieder zu Hause sind.« »Also hat er seinen feigen Arsch in Sicherheit gebracht«, stieß Prue aufgebracht hervor. Verärgert trat Piper nach Nikos' Projektion und stürmte aus dem Sonnenzimmer. »Was machen wir jetzt?«, fragte sie ihre Schwester. »Dachboden!«, sagte Prue nur. Und schon rannten sie die Stufen zum Speicher hinauf, um das Buch der Schatten zu konsultieren. Aufgeregt blätterte Prue durch den Helfer in der Not. »Mal sehen, ob hier irgendwas zum Thema Hades drinsteht …«, murmelte sie. »Hades … Hades …« Nach einigen Minuten vergeblichen Suchens meinte Piper: »Versuch's mal unter dem Stichwort ›Unterwelt‹ oder ›Totenreich‹ …« »Nein, nichts …«, seufzte Prue nach einer Weile. »Okay, lass uns mal was anderes versuchen. Du weißt schon, Piper, das, was Phoebe mal mit dem Buch gemacht hat.« Prue hielt ihre vor Aufregung zitternden Hände über den geöffneten Folianten, während Piper das Gleiche tat. Sie waren

beide Zeuge gewesen, als Phoebe das Buch einmal auf diese Weise zum automatischen Suchen veranlasst hatte. Vielleicht klappte es ja diesmal auch? Gebannt starrten die Schwestern auf das aufgeschlagene Buch. Die Seiten schienen zurückzustarren und rührten sich nicht. »Konzentrier dich!«, befahl Prue. »Was glaubst du, was ich mache?«, fragte Piper und lächelte grimmig. Dann schloss sie wieder fest die Augen. Als nach einigen Minuten noch immer nichts passierte, ließ Prue ihre Hände wieder sinken. »Das funktioniert nicht«, sagte sie frustriert. »Möglicherweise, weil darin nichts zum Thema Hades oder Unterwelt steht? Und ich dachte immer, das Buch der Schatten wüsste alles und sei unfehlbar …« »Na ja«, erinnerte Piper sie, »es wurde ja ausschließlich von den Hexen unserer Familie geschrieben. Vielleicht hatte bisher einfach keine von ihnen mit dem Hades zu tun?« »Da sind wir also die Ersten«, stellte Prue verdrießlich fest. »Ich hasse es, mich so hilflos zu fühlen. Was um Gottes willen sollen wir jetzt bloß tun?«

Sprachlos stand Phoebe in dem steinernen Kerker und starrte in den Spiegel. Sie konnte immer noch nicht begreifen, was mit ihr geschehen war. Nachdem Nikos ihre Schwestern aus der Unterwelt verbannt hatte, hatte er sie einfach in diese schrecklich Kammer verschleppt. Alles Schreien und Umsichschlagen hatte nichts genützt.

Nun stand sie hier in diesem düsteren Verließ, das überladen war mit dunklen schweren Möbeln, einem riesigen Pfostenbett mit schwarzem Samtvorhang, satinbezogenen Liegen und Sesseln, einem Kleiderschrank mit Onyx-Intarsien, einem Teppich, der aus einem grauen, irgendwie schmierigen Material gewebt zu sein schien, und einem mannshohen Wandspiegel, der von Wasserspeiern flankiert wurde. Und sie war nicht allein. Vier weitere junge Frauen lungerten ebenfalls hier herum. Sie alle trugen hautenge silberfarbene Bodys, und ihre schwarze Lockenpracht reichte ihnen bis zur Taille. Alle waren ausnahmslos blasshäutig mit schwarz umrandeten Augen und barfuß. »Was soll das hier sein?«, schnappte Phoebe in Richtung Nikos. »Ein Goth-Abend in der Gruft, oder was? Ehrlich, mein Lieber, ich hatte dir wirklich ein bisschen mehr Geschmack zugetraut. Wie klischeehaft!« »Halt den Mund!«, blaffte Nikos sie an. »Was glaubst du denn? Meinst du, Götter und Göttinnen gehen nicht mit der Zeit? Ich habe diesen Look im Mittelalter gesehen und fand ihn einfach großartig. Ich bin sicher, auch du wirst lernen, ihn zu lieben. Es wird dir nämlich nichts anderes übrig bleiben, verstehst du?« Er schnippte mit den Fingern in Richtung der vier jungen Frauen. »Kümmert euch um sie. Sie sieht ja grauenvoll aus!« Mit diesen Worten rauschte Nikos aus der Kammer. Wie von Zauberhand rollte sodann ein mächtiger Felsen vor den Eingang und verschloss ihn perfekt. Phoebe stampfte mit dem Fuß auf und schrie vor Wut und Enttäuschung. Dann warf sie sich mit voller Wucht gegen den Felsblock und trommelte wie rasend mit den Fäusten dagegen, bis ihre Hände schmerzten.

Doch es war hoffnungslos. Der Felsblock bewegte sich nicht einen Millimeter – die Kammer war hermetisch abgeriegelt. Kurz überlegte sie, ob sie nicht einen Kung-Fu-Tritt probieren sollte, verwarf die Idee aber sofort wieder. Das Letzte, was sie hier zu allem Überfluss gebrauchen konnte, war ein gebrochener Fuß. Fluchend zog sie sich wieder in die Kammer zurück und blieb dann unschlüssig stehen. »Mein Gott!«, murmelte sie. »Kaum zu glauben, dass ich diesen Typen mal richtig süß gefunden habe.« Plötzlich erinnerte sie sich, dass sie hier nicht allein war. Langsam wandte sie sich zu den düsteren Mädels um. Sie lagen noch immer träge auf den diversen Liegen und Sofas und sahen sie aus ihren dunklen und doch ausdruckslosen Augen gelangweilt an. »Ja, hallo … wie geht's denn so?«, sagte Phoebe nervös. Die Mädchen antworteten nicht. Stattdessen richteten sie sich langsam auf und kamen auf sie zu, wobei sie ihre Hüften aufreizend kreisen ließen. Phoebe bemerkte, dass ihre nackten Füße den Boden kaum zu berühren schienen. Und bei genauerem Hinsehen musste sie feststellen, dass dies auch nicht der Fall war. Sie unterdrückte einen Aufschrei und drehte sich instinktiv zum Ausgang um. Natürlich war der Felsblock noch immer da. Sie wirbelte herum; ihr Blick flog über die Wände – kein Fenster weit und breit. Sie saß in der Falle. Ihre einzige Chance bestand darin, es mit Höflichkeit zu versuchen. »Ähem, wir sind … uns noch nicht vorgestellt worden«, begann sie zögernd. »Also, ich heiße … Phoebe.«

Die Mädchen kreisten sie ein und zogen den Ring immer enger. Dabei starrten sie ihren Gast unverwandt an; doch ihr Blick war kalt und leer. »Tja, schön, euch kennen zu lernen«, sagte Phoebe und streckte ihre Hand aus. Eines der Mädchen senkte den Kopf und schnupperte an ihren Fingern. »Okay«, sagte Phoebe. »Mit der Etikette habt ihr's offensichtlich nicht so … Aber das ist okay für mich … wirklich …« Das Mädchen schnüffelte an ihrem Handgelenk. Plötzlich zischte es, und dann schoss seine Zunge hervor – eine gespaltene Zunge! »O mein Gott!«, schrie Phoebe auf. Panisch durchbrach sie den Kreis der Schlangenmädchen und flüchtete in den hinteren Teil der Kammer. Hisssssssss. Schon waren sie wieder bei ihr, und für Phoebe gab es kein Entrinnen mehr. Sie schrie, als die Mädchen mit eiskalten Händen nach ihr griffen, ihr das schmutzige Kostüm vom Körper rissen und an ihren Haaren zerrten. »Geht weg von mir!«, kreischte sie. »Lasst mich in Ruhe!« Doch sie hatte keine Chance.

Eine Stunde später stand Phoebe wieder vor dem Spiegel. Die Mädchen hatten ganze Arbeit geleistet und die Kammer inzwischen wieder verlassen.

»Hier war das Schönheitsstudio der Hölle am Werk«, sagte sie resigniert. »Ich komme mir vor, als ob ich in einem Cher-Video gelandet bin.« Die Mädchen hatten ihr kein Leid angetan. Stattdessen hatten sie Nikos' Anweisungen peinlich genau befolgt. Ihr zerrissenes Fähnchen war einem langen, engen, weinroten Samtkleid gewichen, das glockenförmige Ärmel und eine goldfarbene Kordel als Gürtel besaß. Ihre Augen waren tiefschwarz umrandet, die Lippen blass geschminkt. Ihr Haar hatte nun die Farbe schwarzer Tinte und umrahmte mit langen glänzenden Locken ihr Gesicht. Tatsächlich hatte sie auf einmal große Ähnlichkeit mit den Schlangenmädchen. »Verdammter Egomane«, schimpfte Phoebe, als sie ihr neues Outfit betrachtete. »Wie ätzend!« Sie wollte sich gerade aufs Bett schmeißen, als der Felsblock vor dem Eingang knirschend beiseite geschoben wurde. Diesmal betrat ein Mann ihre Kammer. Er hatte dieselben toten schwarzen Augen wie die Schlangenmädchen und eine gespaltene Zunge, die immer wieder abstoßend hervorschoss. Nikos scheint eine ganze Armee dieser reptilienhaften Diener verpflichtet zu haben, dachte sie und sah den Besucher trotzig an. Er schien direkt durch sie hindurchzuschauen, als er seine Hände nach ihr ausstreckte. »Auf keinen Fall!«, protestierte Phoebe. »Finger weg!« Der Diener zischelte, als er auf sie zugeschossen kam, sie packte und mit einer Leichtigkeit hochhob, als sei sie eine Stoffpuppe. Dann schwebte er mit ihr aus der Kammer. »Lass mich runter!«, kreischte Phoebe und trat nach seinen kalten Beinen. Doch sie wusste, es war vergeblich. Dieser Kerl

würde sie bringen, wohin er wollte. Phoebe fühlte einen dicken Kloß im Hals. Wie sollte sie ohne die Macht der Drei jemals wieder aus diesem Schlamassel herauskommen? Was immer dieser Schlamassel auch war. Sie hatte immer noch keine Ahnung, warum Nikos sie hierher gelockt hatte und gefangen hielt. Einfach nur aus Boshaftigkeit? Ging es um Machtspielchen? War es eine Vater-Sohn-Angelegenheit? Oder warum? Der Diener trug sie durch eine Flucht aus felsengesäumten Korridoren. Ab und an passierten sie weitere steinerne Kammern, in denen Phoebe noch mehr Mädchen entdeckte, die inmitten der aufwändigen alten Möbel ihre Zeit totzuschlagen schienen. Sie konnte auch einen Blick auf ein riesiges Esszimmer erhaschen, in dem ein Tisch stand, an dem mindestens vierzig Personen Platz fanden. Doch trotz all des Luxus, der an diesem unterirdischen Ort herrschte, ging von ihm nicht die geringste Spur von Wärme aus. Die Wände waren feucht und dunkel, in den Räumen und Fluren war es dämmrig und empfindlich kühl. Phoebe klapperte schon mit den Zähnen, als der Diener endlich in eine der Kammern einbog und seine Last ziemlich unsanft auf einen großen geschnitzten Holzstuhl fallen ließ. Phoebe sah sich um. Der Raum war voller roter Samtsofas und Ruheliegen. Die Tische bogen sich unter Schalen und Platten mit Obst, Gebratenem, Käse und riesigen Weinkrügen. Und inmitten dieses Bacchanals saß Nikos in einer Art Hausmantel und Pantoffeln. Er war gerade damit beschäftigt, den Nacken eines der Schlangenmädchen zu beschnuppern, das ihm zu Füßen saß. Andere ihrer Art hingen im Raum herum und flirteten mit ihm, wobei sie aufreizend züngelten. Geräuschvoll trank Nikos einen großen Schluck Wein aus einem Glaspokal und grinste eines der Mädchen herausfordernd an. Sie kicherte schrill und schüttelte ihre langen schwarzen Locken.

»Gütiger Gott«, murmelte Phoebe und erhob sich. »Was geht hier vor, Nikos?«, verlangte sie zu erfahren. Nikos nahm einen weiteren Schluck Wein und wandte sich dann gelangweilt zu ihr um. »Ach, Phoebe, du bist's … Hm, diese Frisur sieht doch schon gleich viel besser aus. Blond ist wirklich nicht deine Farbe, Schatz.« »Wie dem auch sei«, rief sie aufgebracht, »ich will jetzt endlich wissen, warum du mich hierher gebracht hast. Und wo zum Teufel sind die Models?« »Weißt du, Phoebe«, sagte Nikos träge. Er kreuzte seine Beine und schob sich eine Weintraube in den Mund. »Ich sehe nicht, wie eine anständige Konversation zwischen uns möglich sein soll, wenn du solcher Laune bist. Setz dich, entspann dich, trink etwas Wein …« Mit diesen Worten drückte ihr eines der Schlangenmädchen einen Glaskelch mit Rotwein in die Hand. Phoebe starrte den Pokal einige Sekunden lang schweigend an. Für ihn scheint das alles nur ein Spiel zu sein, dachte sie. Angewidert schmetterte sie den Kelch zu Boden, wo er in tausend Stücke zerbrach. Der Wein ergoss sich über die Steinplatten wie eine frische Blutlache. »Ich will Antworten!«, rief sie. »Und ich will sie sofort!« Nikos' Blick streifte Phoebe flüchtig, dann schnippte er mit dem Finger, und ein männlicher Diener erschien in der Tür. Sofort schnappte sich dieser einen Lappen und beseitigte die Glassplitter und den vergossenen Wein. Schwerfällig kam der Prinz auf die Beine. Als er stand, schwankte er leicht.

Er ist betrunken, dachte Phoebe. »Du solltest dich wirklich glücklich schätzen, weißt du«, sagte Nikos. »Nicht jeden Tag widerfährt einem Mädchen die Gnade, zur Braut des Herrschers eines Königreichs gemacht zu werden.« »Zur was?«, platzte Phoebe heraus. »Hast du gerade … Braut gesagt?« Nikos seufzte und verdrehte die Augen. »Ich weiß«, sagte er, »dieses Wort macht mich auch krank.« Dann zuckte er die Achseln. »Aber es ist beschlossene Sache.« »Moment mal!«, sagte Phoebe. »Wovon redest du eigentlich?« »Setz dich, Phoebe«, sagte er eisig. Wütend verschränkte Phoebe die Arme vor der Brust. Sie hatte nicht vor, dieser Aufforderung Folge zu leisten. Doch dann sah sie sich um: Die Tür war bewacht, und Nikos schien sie nicht wirklich behelligen zu wollen. So entschied sie, es auf die coole Tour anzugehen. Sie strafte den hochlehnigen protzigen Holzstuhl mit Verachtung und ging hinüber zu einem kleinen samtbezogenen Sessel. Auf ihm räkelte sich eines der Schlangenmädchen und knabberte an einer Birne. »Ich nehme diesen hier, danke«, sagte Phoebe. Das Mädchen zischte sie an, doch als Nikos ihm einen scharfen Blick zuwarf, erhob es sich auf der Stelle und gab den Platz frei. Phoebe sank in die weichen Polster und rieb sich über ihre eiskalten Arme. Dann sah sie auf und wartete. »Phoebe«, begann Nikos, wobei ein spöttisches Grinsen seine Mundwinkel umspielte, »ich möchte, dass du mich heiratest.«

»Ja, natürlich«, sagte sie trocken. »Insbesondere, da du mir neuerdings so viel Aufmerksamkeit, Respekt und Zuneigung zuteil werden lässt.« »Ich bitte dich!«, schnaubte Nikos verächtlich und rollte mit den Augen. »Als ob Zuneigung und Heirat etwas miteinander zu tun hätten.« »Auf der Erde schon«, gab Phoebe zurück. »Ha!«, lachte Nikos. »Nun, hier im Hades ist die Ehe nicht mehr als eine mehr oder weniger lästige Verpflichtung. Sieh dir nur meine Eltern an.« »Verschone mich mit deinem Psychogequatsche«, sagte sie. »Alles, was mich interessiert, ist, zu erfahren, warum du mich heiraten willst.« »Von Wollen kann keine Rede sein«, sagte er und schob sich eine weitere Traube in den Mund. »Ich muss dich heiraten. Papa will es so.« »Papa? Du meinst Hades persönlich?«, fragte Phoebe und spürte, wie sich ihre Nackenhaare aufstellten. »So ist es«, seufzte Nikos. »Mein Vater hält mich für unzuverlässig und leichtlebig.« »Nein, wirklich?«, murmelte Phoebe, während ihr Blick über das Gelage wanderte. »Also hat er mir befohlen, dass ich mir bis zu meinem fünfundzwanzigsten Geburtstag eine Braut zu suchen habe«, fuhr er fort. »Andernfalls werde ich verbannt.« »Verbannt? Wohin?«, fragte sie und hob eine Augenbraue. »Auf die Erde!«, schnaubte Nikos verächtlich. »Verdammt dazu, ein langweiliges Leben ohne Magie und ohne meine

besonderen Kräfte zu führen. Verdammt, zwischen Sterblichen zu leben, die, unter uns gesagt, nicht unbedingt zur attraktivsten Sorte zählen.« »Ich verstehe«, spottete Phoebe gelangweilten Schlangenweiber.

mit

Blick

auf

die

»Der Countdown für den Fluch meines Vaters hat schon begonnen«, fuhr Nikos fort und ignorierte ihre Bemerkung. »Wenn am Morgen meines fünfundzwanzigsten Geburtstags kein Ring an meinem Finger steckt, schickt er mich auf der Stelle … nach oben.« Er erschauderte sichtlich bei dem Gedanken. »Und wie ich bereits deinen Schwestern erzählte«, sagte er und strich sich selbstgefällig über seine zurückgekämmten Locken, »kann ich mir jede Braut nehmen, die ich will. Immerhin bin ich der Prinz der Unterwelt. Ein göttliches Wesen.« »Natürlich«, erwiderte Phoebe gleichgültig. »Schade nur, dass es heutzutage so wenige allein stehende Göttinnen gibt«, beklagte er sich. »Du warst das Beste, was ich auftreiben konnte. Ich wusste, dass du die Richtige warst, als ich deinen Namen hörte – Phoebe. Vielleicht weißt du es ja schon, aber die echte Phoebe entstammte dem alten Göttergeschlecht der Titanen. Du siehst, Darling, alles war gewissermaßen vorherbestimmt.« »Und unsere romantischen Treffen im Café …«, fragte Phoebe und vergaß für einen Moment ihren tief sitzenden Hass. »Darauf bist du reingefallen?«, wunderte sich Nikos amüsiert. »Bitte, Schatz, du bist überhaupt nicht mein Typ. Ich meine, du siehst nicht schlecht aus … zumindest noch.«

»Was willst du damit sagen?«, verlangte Phoebe zu wissen und sprang auf. Sie spürte, wie die Angst mit klammen Fingern nach ihr griff. »Na ja«, meinte Nikos leichthin, »wir werden heiraten, und du wirst fortan die Eisenkugel an meinem Bein sein. Aber ich bin sicher, es dauert nicht lange, und du wirst dich gehen lassen.« Er kicherte und deutete mit dem Daumen auf einen der überladenen Tische. Auf diesem standen ein ganzer Truthahn in einem Nest aus Gemüse, eine dampfende Terrine mit cremiger Suppe, zahlreiche süße Kuchen und Tabletts, auf denen sich die Schokolade türmte. »Von mir aus kannst du gleich damit anfangen«, schnarrte er und reichte ihr einen Teller. »Iss, bis du aufgehst wie ein Hefekuchen. Mir ist's egal. Alles, was mich im Zusammenhang mit dir interessiert, ist die Hochzeitszeremonie.« »Niemals!«, schrie Phoebe und schleuderte den Teller zu Boden. Am liebsten hätte sie dem Diener, der gleich darauf herbeigeeilt kam, um die Scherben zu beseitigen, seine toten Augen ausgekratzt. »Du irrst, meine Liebe«, gab Nikos zurück. Seine langen Beine brauchten nur wenige Schritte, schon war er an ihrer Seite und packte ihr Handgelenk so fest, dass es schmerzte. Dann griff er in die Tasche seines Hausmantels. Phoebe keuchte vor Schreck auf und spannte jeden Muskel an in der Erwartung, dass Nikos nun ein Messer, einen Dolch oder eine andere Waffe hervorzog. Seine Augen glühten rot vor Zorn, als er seine Hand vor ihr Gesicht hob. Seine Finger umklammerten einen Ring. Es war ein Verlobungsring, und Phoebe entfuhr ein weiteres Keuchen. Diesmal vor Bewunderung. Der mittlere Stein war ein riesiger Diamant von mindestens sieben Karat, so protzig wie

jedes einzelne Möbelstück in diesem grotesken Höhlenpalast. Und doch übte er ein merkwürdige Faszination auf sie aus. Der monströse Edelstein war gebettet in einen Kranz aus perfekten Rubinen, so tiefrot wie der zuvor verschüttete Wein, so rot wie Nikos' bösartig funkelnde Augen. Der Prinz der Unterwelt ergriff Phoebes rechte Hand und schob ihr den Ring auf den dafür vorgesehenen Finger. Erpasste wie angegossen. Das ist zu unheimlich!, schrie es tief in ihr. Dann ließ er Phoebes Hand fallen, als ob er es mit einer Pestkranken zu tun hätte, und ließ sich auf eine Couch sinken, direkt zwischen zwei ihn anschmachtende Mädchen. »Nun, da du dein Verlobungsgeschenk bekommen hast«, sagte er mit schneidender Stimme, »solltest du dir etwas Passendes für mich überlegen. Immerhin habe ich bald Geburtstag. Am 15. August, um genau zu sein.« »Das ist ja …«, rechnete Phoebe und legte eine Hand auf ihre Stirn. »Richtig«, sagte Nikos, »das ist in genau fünf Tagen. Was bedeutet, dass unsere göttliche Verbindung in vier Tagen offiziell besiegelt wird.«

7 Piper lag auf ihrem Lieblingssofa im Wohnraum und starrte niedergeschlagen in das Sonnenzimmer. »Wie können sie einfach nur so daliegen und schlafen?«, murmelte sie und fühlte einen Anflug von Neid. Wenn doch nur auch sie endlich schlafen und diesen real existierenden Albtraum für einige Stunden vergessen könnte. Phoebe war im Hades gefangen, und Prue und sie schienen keine Lösung für das Problem zu finden. Nicht dass Prue es aufgegeben hätte. Sie saß mit angezogenen Beinen in einem Sessel in ihrer Nähe und studierte aufmerksam Seite für Seite das Buch der Schatten, das auf ihren Knien lag. Ab und zu schüttelte sie den Kopf und blätterte seufzend weiter. »Vielleicht sollten wir uns einfach noch mal fotografieren und auf diese Weise in den Hades zurückkehren«, schlug Piper betrübt vor. »Und dann fahren wir einen Überraschungsangriff, schnappen uns Phoebe und verschwinden wieder.« »Ich glaube nicht, dass das funktioniert«, sagte Prue. »Erinnere dich nur, wie lange die Reise gedauert hat, bis wir endlich diese Höhle erreicht haben. Wir wären bei unserem Eintreffen so erschöpft, dass wir nichts mehr auf die Reihe kriegen würden. Besonders ohne unsere Kräfte …« »… die bei Nikos ohnehin nicht funktionieren«, sagte Piper frustriert. »Außerdem glaube ich nicht, dass wir einfach so da reinspazieren und Phoebe rausholen können«, sagte Prue. »Und wenn es uns tatsächlich gelingen sollte, bis zu ihr vorzudringen, so glaube ich, dass sie in diesem Höhlenpalast auf eine ganz besondere Art festgehalten wird.« Sie wandte sich wieder dem

Buch der Schatten zu. »Warte mal, ich glaube, ich hab hier was gefunden.« »Was denn?«, fragte Piper aufgeregt und rannte zu ihr hinüber. »Hier, ein Zauberspruch für verlorene Seelen«, sagte Prue und zeigte auf eine verschmutzte Seite. »›Wenn eine wandernde Seele verloren scheint, nimm diesen Spruch, auf dass er Geist und Körper eint …‹« »Also, ich finde, das klingt ganz gut! « Piper stieß ihre Schwester hoffnungsvoll an. »Ja, aber wir verfügen nicht über die Macht der Drei«, erinnerte Prue sie. »Also, lass uns den Spruch zur Sicherheit lieber dreimal aufsagen.« Die Schwestern nahmen sich bei den Händen und lasen laut aus dem Buch vor: »› Geist, o Geist, wo immer magst sein, vernimm unseren Ruf und kehre heim.‹« Sie wiederholten den Spruch dreimal und verschränkten ihre Finger so fest ineinander, dass die Knöchel weiß hervortraten. Schließlich öffneten sie die Augen und sahen sich erwartungsvoll an. Piper blickte sich suchend um, doch Phoebe war nirgends zu sehen. Enttäuscht sah sie Prue an und seufzte. Doch die Augen ihrer Schwester waren fassungslos auf einen Punkt hinter ihrem Rücken gerichtet. »Was?«, schrie Piper panisch auf und fuhr herum. Prues Blick ging starr in Richtung eines kleinen vergoldeten Wandspiegels, eines der Lieblingsstücke ihrer Großmutter, der neben der Küchentür hing.

»O mein, Gott … Phoebe!«, rief sie und rannte darauf zu. Prue folgte ihr. Bestürzt starrten sie in den Spiegel. Anstelle ihrer eigenen Abbilder sahen sie ihre jüngste Schwester darin, oder zumindest ihre Projektion. Ärgerlich stampfte Phoebe in einem Gemach mit Steinboden auf und ab. »Sieht aus, als ob sie in einer Art Schlafzimmer gefangen gehalten wird«, presste Prue hervor. »Siehst du das große Pfostenbett? Und diesen Samtvorhang?« »Und wie sieht sie eigentlich aus?«, keuchte Piper bestürzt und deutete auf Phoebes geschmackloses Gothic-Outfit und das lange schwarz gelockte Haar. Gerade blickte die Schwester auf etwas Glänzendes an ihrem Finger, als das Bild immer schwächer wurde, bis es schließlich ganz verschwand. Verzweifelt schlug Prue gegen den Spiegelrahmen, doch die beiden Schwestern starrten nur noch in ihre eigenen entgeisterten Gesichter. »Nun, damit ist der Fall wohl erledigt«, sagte Piper ironisch. »Nun wissen wir, dass Phoebe in Nikos' unterirdischem Domizil gefangen gehalten wird und dass sie von jemandem ausstaffiert wurde, der einen ziemlich kranken Geschmack hat.« »Immerhin scheint es ihr gut zu gehen«, murmelte Prue. Sie begann im Wohnzimmer auf und ab zu tigern, wie es noch vor Sekunden die Schwester in ihrer unterirdischen Kemenate getan hatte. »Aber dieser Spruch taugt offensichtlich nicht dazu, uns Phoebe zurückzubringen!« »Von unseren anderen verlorenen Seelen ganz zu schweigen«, erinnerte Piper sie und deutete auf die schnarchenden CollegeStudenten im Sonnenzimmer. Prue warf die Hände in die Höhe und stampfte vor Frustration auf. Verzweifelt sah sie sich im Zimmer um, als sie plötzlich

etwas am Boden liegen sah – gleich neben der antiken Kamera. Es war das Buch mit den viktorianischen Porträts aus der Leihbücherei, das ihr die ganze Sache erst eingebrockt hatte. Aber wer weiß?, dachte sie. Wenn ich Nikos nicht mit aufs Bild genommen hätte, wäre das alles vielleicht gar nicht passiert. »Verdammt!«, fluchte sie. »Hätte ich das blöde Buch doch nie gefunden!« Mit einem Wutschrei packte sie den Fotoband und schmetterte ihn gegen die Wand. Aufgeschlagen plumpste er auf den Orientteppich zurück. Piper wollte das Buch an sich nehmen, um es vor Prue in Sicherheit zu bringen, als ihr Blick auf die aufgeklappte Seite fiel. Das Bild zeigte einen Mann mit einem langen grauen Bart und breiter Brust, der seine kräftigen Hände hochmütig in die Hüften gestemmt hatte. ›Zeus – Göttervater des Olymp‹, war in der Bildunterschrift zu lesen. In Pipers Kopf schlugen die Gedanken Purzelbäume, und sie begann die Puzzlestücke der letzten Stunden zusammenzusetzen. Plötzlich kam ihr eine Idee. Eine geradezu brillante Idee! »Natürlich!«, rief sie aus und eilte zu ihrer Schwester. »Ich glaube, ich weiß jetzt, was da vor sich geht!« »Ach, ja?«, fragte Prue stirnrunzelnd. »Hast du den Ring an Phoebes Finger gesehen?« »Ja«, erwiderte Prue. »Sah aus wie ein riesiger Diamant mit Rubinen drumherum oder so. Irgendwelche roten Steine jedenfalls.«

»Ein Diamantring«, Verlobungsring!«

bestätigte

Piper

atemlos.

»Ein

»Was?«, fragte Prue entsetzt. »Ich glaube, Nikos hat Phoebe entführt, damit sie seine Frau wird«, erklärte Piper. »Immerhin hat Hades, sein Vater, genau das Gleiche getan. Er raubte Persephone und zwang sie, die Königin der Unterwelt zu werden.« »Das stimmt«, erinnerte sich Prue. »Aber hast du mir nicht erzählt, dass sie nur für eine gewisse Zeit im Jahr im Hades sein musste?« »Genau, weil sie während ihres Aufenthaltes dort einen Granatapfelkern gegessen hat, der kurzfristig ihre Sinne verwirrte«, führte Piper aus. »Deshalb musste sie ein Drittel des Jahres bei Hades zubringen.« »Okay, Piper«, meinte Prue, »wenn mich das jetzt irgendwie beruhigen soll, so kann ich dir sagen, dass das nicht der Fall ist.« »Ich bin noch nicht fertig«, rief Piper aufgeregt. Sie deutete auf das Foto in dem Bildband. »Es war Zeus, der König aller Götter und Herrscher des Himmels, der für diesen Deal verantwortlich war. Er hatte beschlossen, dass Persephone für den Genuss des Granatapfelkerns büßen sollte. Dass sie den Hades deshalb zwar nicht verlassen, ihren Aufenthalt dort aber verkürzen durfte.« »Also, was du meinst, ist …«, begann Prue. »Wenn Zeus dergleichen für Persephone tun konnte, könnte er es doch auch für Phoebe tun, oder nicht?«, fragte Piper und schlug das Buch zu. »Zeus ist der Boss. Er hat alle Macht über die Götter, also auch über seinen Bruder Hades und damit über die Unterwelt.«

»Also, wenn wir Kontakt mit Zeus aufnähmen …«, überlegte Prue. »Und warum sollte das nicht möglich sein? Schließlich sind wir schon bis in den Hades vorgedrungen«, unterbrach Piper sie. »Also wissen wir, der Olymp muss existieren!« »Und wir könnten Zeus bitten, anzuordnen, dass Phoebe freigelassen wird«, schlussfolgerte Prue. »Wir müssen nur herausfinden, wie wir auf diesen Berg hinaufkommen«, sagte Piper und griff nach dem Buch der Schatten. »Erstens das, und zweitens sollten wir inständig hoffen, dass Phoebe in der Zwischenzeit im Hades nichts zu sich nimmt«, gab Prue zu bedenken. Pipers Teint wurde fahl. »Du hast Recht«, sagte sie leise. »Und du weißt doch, wie gerne sie isst«, fügte Prue hinzu. Sie war ebenfalls sehr blass geworden. »Ständig futtert sie. Sie hat einfach immer Hunger, wie du weißt.« »Lass uns das Beste hoffen«, sagte Piper und blätterte mit fliegenden Fingern im Buch der Schatten. »Vielleicht ist ihr die Idee, den Prinzen der Unterwelt ehelichen zu müssen, ja auf den Magen geschlagen.« Wider Erwarten fand sich im Buch der Schatten, das keinen einzigen Eintrag zu Thema Hades hatte, etwas zum Berg Olymp. »So überraschend ist das nun auch wieder nicht«, bemerkte Piper, als sie die Seite studierte. »Immerhin ist der Sitz der Götter ein wesentlich attraktiveres Reiseziel als die Unterwelt.« »Wenn man die Sache als Ausflug betrachtet, hast du vermutlich Recht«, sagte Prue und sah ihrer Schwester über die Schulter. »Also, was haben wir denn hier?«

»Einen Trank und einen Zauber«, sagte Piper, während sie das Rezept für das Elixier studierte. »Es scheint, als ob die Sonne als eine Art Portal in den Olymp fungiert. Man kann ihn nur bei Sonnenaufgang betreten und bei Sonnenuntergang wieder verlassen.« »Das klingt machbar«, befand Prue. »Und wie stellen wir das nun an?« »Na ja, jetzt kommt der Haken«, sagte Piper. »Es scheint, als ob nur eine von uns gehen kann.« »Was? Warum?« »Also, die Person, die zum Olymp reist, muss den Trank zu sich nehmen. Aber jemand auf der Erde muss sie dorthin schicken und, was noch wichtiger ist, sie von dort wieder zurückholen.« »Also muss diese Person bei Sonnenaufgang …« »… den Zauber sprechen«, beendete Piper den Satz ihrer Schwester. »Damit wird die andere zum Portal entsandt, das in den Olymp führt.« »Gut«, sagte Prue. »Ich denke, so können wir es machen. Alles, was wir tun müssen, ist … Achtung!!!« »Was?«, schrie Piper, als sie das vor Schreck verzerrte Gesicht ihrer Schwester sah. Sie duckte sich gerade noch rechtzeitig, als sie auch schon etwas an ihren Haaren vorbeizischen spürte. Abrupt richtete sie sich kerzengerade auf und starrte auf den Pfeil, der in der Wand stecken geblieben war. Langsam wandte sie sich um. Die Kreatur, die in der Küchentür stand, war die wohl schrecklichste, die sie bisher gesehen hatte. Sie war einäugig,

ihre Haut war grau und schuppig, und ihr Haar – nun ja, es war nicht wirklich Haar, was sich da auf ihrem Kopf kringelte und wand. Es waren zischende Schlangen! Schon nahm die Kreatur einen weiteren Pfeil aus einem Köcher, den sie über der Schulter trug. Als sie den Kopf senkte, um das Geschoss in den Bogen einzulegen, packte Piper ihre Schwester und riss sie mit sich hinter die Couch. »Was tust du da?«, protestierte Prue und versuchte sich aus Pipers Griff zu befreien. »Lass uns dieses Ding erledigen. Das schaffen wir doch locker.« »Nein, Prue«, quietschte Piper panisch. »Ich kenne diese Kreatur aus der griechischen Mythologie. Das ist eine Gorgo.« »Ich geb's auf«, sagte Prue, als ein weiterer Pfeil durch die Luft sauste und sich in die Couch bohrte. »Was zum Henker ist eine Gorgo? – Verdammt, diese Couch ist eine Antiquität!« »Vergiss die Couch!«, keuchte Piper entsetzt. »Hast du schon mal von der Medusa gehört? Sie war eine der Gorgonen. Die Legende sagt, jedermann, der sie erblickte, wurde zu Stein.« »Also werden wir entweder von einem Pfeil durchbohrt, oder sie versteinert uns?«, fragte Prue. »Oder wir überlegen uns, wie wir ihr den Garaus machen können, ohne Augenkontakt mit ihr zu haben«, sagte Piper. »Also für strategische Kriegsführung haben wir jetzt wirklich keine Zeit«, schrie Prue, als ein weiterer Pfeil durch die Luft schoss. »Wir sollten uns lieber darauf konzentrieren, Phoebe zu retten.« »Ich glaube, deswegen hat man uns die Gorgo ins Wohnzimmer geschickt«, sagte Piper. »Um genau das zu verhindern.«

»Mag sein«, grummelte Prue. Dann erhellte sich ihre Miene. »Warte mal, ich hab 'ne Idee!« Sie deutete auf den kleinen Wandspiegel, in dem sie noch vor wenigen Minuten Phoebe gesehen hatten. Er hing ganz in ihrer Nähe. »Piper«, fragte sie, »meinst du, du kannst dieses Biest einfrieren, ohne es anzusehen?« »Keine Ahnung«, gab Piper zurück. »Ich kann's ja mal versuchen.« Sie schloss ihre Augen und konzentrierte sich; versuchte sich die Gorgo in ihrer ganzen schleimigen, schlangenhaften Hässlichkeit vor ihr inneres Auge zu führen. Dann hob sie die Hand und bewegte sie wedelnd über der Couch. Die Standuhr hörte auf zu ticken. Ein Staubkorn, das eben noch zwischen ihnen geschwebt hatte, blieb reglos in der Luft hängen. »Es hat geklappt«, flüsterte Piper. Prue wollte sich schon erheben, doch die Schwester hielt sie zurück. »Möglich, dass selbst eine eingefrorene Gorgo uns zu Stein erstarren lassen kann«, gab sie zu bedenken. »In der griechischen Sage war Medusas Kopf sogar noch tödlich, als er schon abgeschlagen war.« »Ich passe schon auf«, versicherte ihr Prue. »Gib mir Deckung.« Mit zu Boden gerichtetem Blick standen die Schwestern auf. Sie konnten die Klauenfüße der Gorgo sehen, die noch immer auf der Schwelle zur Küche stand. Rasch kroch Prue auf die Wand zu und nahm den Spiegel ab. Dann hielt sie das gute Stück wie einen Schild vor ihr Gesicht, ging hinüber zu der Kreatur und hielt es der Gorgo direkt vor die Nase. Über die Ränder des Spiegels konnte sie einen Blick auf die ehemals

wimmelnden Schlangenleiber erhaschen, die nun starr und steif in die Luft ragten. Sie hielt den Atem an. Die Sekunden verstrichen und kamen Prue vor wie Stunden. Schließlich lief die Zeit wieder an; der Wind rauschte durch die Bäume vor dem Fenster, die Uhr begann wieder zu ticken, und dann stieß die Gorgo einen Schrei aus, der ihnen durch Mark und Bein ging. Begleitet von einem knackenden Geräusch wurden ihre grässlichen Füße grau und leblos. Auch die Schlangen auf ihrem Kopf versteinerten inmitten ihrer Bewegungen. Mit ihrer Schuhspitze berührte Prue vorsichtig die Zehen der teuflischen Kreatur. Sie waren hart wie Fels. »Prue, das war einfach genial!«, rief Piper, als sie ihrer Schwester den Spiegel aus den zitternden Händen nahm. »Du hast genau denselben Trick angewandt, den Perseus benutzt hat, um die Medusa zu bezwingen.« Prue ließ den Spiegel sinken und starrte die Gorgo fassungslos an. Selbst als steinerne Statue war sie noch grauenvoll anzusehen. Insbesondere, da ihre ohnehin abstoßenden Züge vor Schmerz und Ekel völlig verzerrt waren, festgehalten in dem Augenblick, da sie ihre eigene Fratze hatte anschauen müssen und an dem Anblick zugrunde gegangen war. »Ich wollte eigentlich vorschlagen, sie im Garten aufzustellen, aber irgendwie ist sie einfach zu hässlich als Rasenschmuck«, sagte Prue trocken. »Zudem wiegt das Ding bestimmt über eine Tonne!«, beschwerte sich Piper. »Wie sollen wir es nur aus dem Haus schaffen?«

»Darum kümmern wir uns später«, meinte Prue. »Im Moment sollten wir uns mit diesem Zaubertrank beschäftigen. Morgen bei Sonnenaufgang muss eine von uns hinauf auf den Olymp.«

Eine Stunde später standen die beiden Schwestern in der Küche, die nun im wahrsten Sinne des Wortes eine Hexenküche war. »Gut, ich glaube, wir haben die Zutaten für den Trank zusammen«, sagte Prue. »Lavendel, Thymian, Salbei und Safran …« »Genau genommen einen ganzen Teelöffel Safran«, nörgelte Piper. »Es ist ja auch nur das teuerste Gewürz unter der Sonne. Zumal ich nächste Woche Paella machen wollte …« »Deine Sorgen möchte ich haben«, bemerkte Prue. »Wie dem auch sei, wir haben auch den roten Ton, die Rosendornen und die Schuppen eines silbernen Fischs …« »Gut, dass ich den Lachs eingefroren hatte«, murmelte Piper. »Und zu guter Letzt etwas Stein von einer Skulptur.« »Was für ein wunderbarer Zufall«, grinste Piper. Sie öffnete den Schrank unter der Spüle und begann in einem Werkzeugkasten herumzuwühlen. Schließlich ging sie mit einem Hammer bewaffnet hinüber zu der erstarrten Gorgo, die noch immer im Kücheneingang stand. Mit einem einzigen Hieb schlug sie eine der versteinerten Schlangen von ihrem Kopf und warf sie ihrer Schwester zu. »Rache ist süß«, rief sie. »Was müssen wir als Nächstes tun?« »Jetzt muss das Ganze vier Stunden lang gekocht werden«, las Prue vor. »In Rotwein und begleitet von einem … Lied.«

»Hmmmm«, machte Piper. Dann zwinkerte sie ihrer Schwester verschwörerisch zu und zog einen kleinen Karton aus dem Geschirrschrank. »Der tragbare CD-Player«, erklärte sie, »ist des Küchenchefs bester Freund.« Sprach's und stöpselte das Gerät direkt neben dem Herd ein. Dann wühlte sie in einem Stapel von CDs herum, bis sie eine Scheibe von Green Day gefunden hatte, legte sie ein und drückte den Wiedergabe-Knopf. »Den Göttern sei Dank für ›Auto-Replay‹«, murmelte Prue. Als Piper begann, die Zutaten für den Trank abzumessen und in einem Topf miteinander zu vermengen, biss sich Prue nervös auf die Lippe. »Ist dir klar, dass wir den wichtigsten Teil unseres Plans noch gar nicht besprochen haben?«, sagte sie. »Ich meine die Frage, wer von uns beiden denn nun auf den Olymp gehen wird.« »Ich nehme an, das wirst du sein«, erwiderte Piper. »Du bist die Ältere von uns beiden und verfügst über die aktiveren Fähigkeiten und so weiter. Ich werde daher am besten zu Hause bleiben … wie immer.« »Eigentlich«, warf Prue ein, »hab ich es mir gerade andersherum überlegt. Du wärst eigentlich viel geeigneter, mit dem alten Zeus zu verhandeln.« »Ach nee?« Piper lächelte dünn und ließ den Messlöffel sinken. »Wie kommst du denn auf die Idee?« »Na ja, einerseits verfügst du über das fundierteste Wissen zur griechischen Mythologie«, erklärte Prue. »Ich meine, ich hab immer gedacht, dass du eine ziemliche Streberin warst, aber wer konnte schon ahnen, dass dein Fleiß eines Tages unsere Familie retten könnte?«

»Ähem, ja, vielen Dank«, murmelte Piper und verdrehte die Augen. »Außerdem könnte ich hier unten viel nützlicher sein für den Fall, dass noch andere sagenhafte Horrorgestalten in unserem Haus auftauchen«, fuhr Prue fort und wackelte mit ihrem Telekinese-Finger. »Ich könnte sie erledigen, bevor sie sich an unseren schlafenden Schönheiten vergreifen.« »Das ist ein Argument«, sagte Piper und wandte sich wieder dem Rezept zu. »Also ist es beschlossene Sache: Ich gehe rauf, und du bleibst hier.« Obwohl sie dies so leichthin sagte, fühlte sie eine unbändige Erregung in sich aufsteigen. Schon als Kind, als sie die griechischen Sagen in der Schule durchgenommen hatten, hatte sie immer versucht sich vorzustellen, wie es wohl auf dem Sitz der Götter aussehen mochte. Lustige Fantasien waren ihr dabei in den Sinn gekommen, zum Beispiel wie es wäre, wenn sie wie Mary Poppins einfach dorthin fliegen oder wie Ebenezer Scrooge in der Zeit zurückreisen könnte. Und nun, sie konnte es kaum fassen, würde sie tatsächlich auf den Olymp gehen! Und nicht zuletzt aus Sorge um ihre Schwester Phoebe konnte sie es kaum erwarten, dorthin zu kommen. »Weißt du eigentlich, was das bedeutet, Prue?«, fragte sie plötzlich. »Morgen werde ich im Himmel sein, während Phoebe in der Hölle festsitzt.« Angesichts dieser Vorstellung konnte Prue ein Kichern nicht unterdrücken. »Eigentlich ist das ja alles andere als lustig«, sagte sie, »aber findest du nicht auch, dass dieser Geschichte eine gewisse poetische Gerechtigkeit anhaftet?«

»Hehe«, kicherte Piper, doch dann unterbrach alarmierendes Geräusch diesen Anflug von Heiterkeit.

ein

Es hatte an der Tür geklingelt! Die beiden Schwestern wechselten einen panischen Blick. »Wer kann das bloß sein?«, krächzte Prue. »Er oder sie darf auf keinen Fall die Models sehen!«, stieß Piper hervor. »Prue, du musst schnell den Vorhang schließen und auf sie aufpassen. Ich wimmele unseren Besucher inzwischen ab.« »Alles klar!«, rief sie, und dann stürmten sie aus der Küche. In Windeseile hatte Prue den Vorhang zwischen Sonnen- und Wohnzimmer geschlossen. »Madelaine schnarcht wieder!«, rief sie von drinnen. »Wer immer es ist, lass ihn oder sie auf keinen Fall herein!« Piper nickte und schluckte. Dann eilte sie ins Foyer und riss mit den Worten »Es ist sechs Uhr! Wissen Sie nicht, dass anständige Menschen um diese Zeit zu Abend essen?« die Tür auf. »Mitchell!«, platzte sie heraus. Da stand Prues anbetungswürdiger potentieller Liebhaber auf der Schwelle und lächelte sie freundlich an. Piper konnte nicht umhin festzustellen, wie attraktiv sein muskulöser Körper in dem blauen Shirt und der perfekt sitzenden Levis aussah. »Äh, hallo«, sagte sie mit einem schiefen Grinsen. »Du bist mit Prue verabredet, stimmt's?« »Yep«, erwiderte er und scharrte ein bisschen auf der Stelle. Natürlich wartet er darauf, dass ich ihn hineinbitte, dachte Piper. Was soll ich jetzt bloß machen?

»Ich hab's irgendwie geschafft, ihr die Verabredung zum Dinner abzuschwatzen, bevor sie mich vor die Tür gesetzt hat«, erklärte er und lachte befangen. »Ich hoffe, der Rest des Shootings lief gut?« »Oh, ja«, rief Piper. »Es war einfach toll! Geradezu umwerfend toll. Mitchell … könntest du einen Moment hier warten? Ich glaube, Prue ist noch nicht so weit. Warum setzt du dich nicht ein bisschen auf die Veranda und genießt die gute Luft? Ich bin sofort wieder zurück!« Sprach's, warf die Tür zu und rannte zurück ins Wohnzimmer. Prue klebte förmlich am Samtvorhang zum Sonnenzimmer. Entsetzt hatte sie eine Hand auf den Mund gepresst. »Ich hab Mitchell total vergessen! Wir waren für heute Abend miteinander verabredet«, keuchte sie. »Ich muss ihm sagen, dass ich nicht mitkommen kann.« Piper konnte sehen, wie sehr es ihrer Schwester Leid tat, Mitchell einmal mehr enttäuschen zu müssen. Prue seufzte. »Ich glaube, das war's dann mit uns beiden. Welcher Mann lässt sich schon zweimal hintereinander vor den Kopf stoßen? Und wieder wurde eine hoffnungsvolle Beziehung das Opfer meines Hexendaseins …« Sie seufzte erneut und machte sich auf in Richtung Haustür. Doch Piper hielt sie zurück. »Warte mal«, sagte sie. »Weißt du was? Wir können bis Sonnenaufgang doch ohnehin nichts mehr unternehmen. Uns sind quasi die Hände gebunden, bis ich auf dem Olymp eingetroffen bin. Und ich kann die Sache mit dem Trank auch allein machen – also, warum gehst du nicht einfach mit Mitchell aus?« »Bist du verrückt?«, rief Prue. »Phoebe schwebt in Todesgefahr, und ich verlustiere mich mit meinem Liebsten?«

»Jetzt mal halblang, Prue«, sagte Piper sanft. »Da draußen steht ein wundervoller Mann. Du möchtest ihn nicht verlieren. Und falls du es noch nicht bemerkt haben solltest: Wir schweben jede Woche mehr oder weniger in Todesgefahr. Ich kümmere mich um alles. Geh du bitte essen mit Mitchell, und wenn es auch nur dem Zweck dient, dass er sich daraufhin auch in Zukunft mit dir treffen möchte. Das ist ein schwesterlicher Befehl!« »Na gut«, murmelte sie. »Ich würde wahrscheinlich sowieso nur hier rumsitzen und die Wände anstarren.« Sie biss sich auf die Unterlippe. »Bist du sicher, dass du meine Hilfe bei dem Trank nicht brauchst?« »Das ist ein Kinderspiel«, gab Piper zurück. »Einfacher als Paella, so viel ist klar.« »Nun denn … okay«, sagte Prue und rannte die Stufen zu ihrem Zimmer hinauf. »Ich muss mich nur noch ein wenig zurechtmachen. Bitte sag ihm, ich bin in fünf Minuten fertig. Und, Piper …?« »Ja?« »Danke. Du bist wirklich die Beste.« »Darauf kannst du wetten«, sagte Piper augenzwinkernd. Sie freute sich für ihre Schwester, und doch war da wieder dieses Gefühl der Schwermut. Wann hatte das letzte Mal ein Mann auf sie vor der Tür gewartet? Seufzend ging sie zurück in die Küche, wo sie Mitchell einen kühlen Drink eingoss. Als sie wieder die Haustür öffnete, fand sie Prues Freund auf der obersten Stufe sitzend vor. Mit einem hoffnungsvollen Blick fuhr er herum und ließ enttäuscht die Schultern sinken, als er Piper erblickte.

»Sie ist wie immer zu spät dran«, verkündete diese und unterdrückte ein Kichern angesichts dieser ungeheuerlichen Lüge. »Aber länger als fünf Minuten wird sie nicht mehr brauchen.« »Großartig«, sagte Mitchell, und seine Miene hellte sich wieder auf. »Für eine Sekunde dachte ich, dass sie mir wieder eine Abfuhr erteilen wird.« »Wo denkst du hin?«, sagte Piper und lächelte auf ihn herab. Dann drückte sie ihm das Glas mit dem Drink in die Hand. »Limo?«

8 Mitchell chauffierte sie in seinem Geländewagen in ein altes Viertel mit Kopfsteinpflaster in Downtown San Francisco. »Ich hoffe, es ist dir recht, dass ich uns einen Tisch in einer Trattoria reserviert habe«, sagte er, als er aus dem Wagen sprang, um Prue die Tür zu öffnen. »Ich bin sehr oft hier. Ich dachte, nach unserem vietnamesischen Abenteuer wäre etwas Bodenständigeres zur Abwechslung ganz nett.« Prue stieg aus und strich sich ihr Kleid glatt, eine kürbisfarbene Satinkreation mit tiefem Rückenausschnitt. Dann fiel ihr Blick auf das Schild vor dem Eingang. »Rose von Neapel« war dort zu lesen, und sogleich erschienen vor ihrem geistigen Auge knusprige, warme Brötchen, Nudeln in roter Soße mit frischem Parmesan und süffiger Chianti. Mit anderen Worten: wohl vertraute, tröstliche Küche. Dankbar sah sie Mitchell an. »Eine gute Wahl. Es ist, als ob du meine Gedanken gelesen hättest.« »Perfekt«, freute er sich anbetungswürdiges Lächeln.

und

schenkte

ihr

ein

Als sie sich an einem kleinen gemütlichen Ecktisch niederließen, konnte Prue nicht umhin, an Phoebe zu denken. Ihre Schwester war zur Zeit an einem Ort, der in keinem krasseren Gegensatz zu diesem hier stehen konnte. Selbst der Gedanke an Essen verursachte ihr Schuldgefühle, angesichts der Folgen, die eine Mahlzeit für ihre Schwester haben konnte. Als Mitchell eine Flasche Rotwein bestellte und ihr ein Glas eingoss, nahm Prue hastig einen großen Schluck, um die Angst und Sorge zu vertreiben, die sich in ihrer Magengegend breit machte.

Nach einem Teller ›Penne Primavera‹ und zwei weiteren großzügig eingeschenkten Gläsern Wein fühlte sie sich schon viel besser. Tatsächlich konnte sie sogar ausgelassen über die Geschichte von Mitchells erstem Job lachen. »Und da fragte mich die Herausgeberin: ›Wann haben Sie denn dieses Abenteuer, das Sie so lebhaft in Ihrem Leitartikel beschreiben, erlebt? Die Story ist einfach toll erzählt!‹«, berichtete er gerade. »Und ich sagte: ›Gar nicht. Das habe ich mir ausgedacht.‹« »Was?«, kicherte Prue. »Ich war solch ein Grünschnabel. Ich wusste noch nicht mal, dass man keine hypothetischen Schauplätze und Ereignisse in seine Geschichte einbauen darf«, fuhr er fort. »Also nahm sie mich zur Seite und sagte mir: ›Aber so funktioniert Journalismus nicht. Sie können sich die Dinge nicht einfach nach Ihrem Gusto zusammenfantasieren!‹« »Ich kann es mir geradezu bildlich vorstellen«, lachte Prue. »Der junge, ernsthafte Reporter, der sich kurzerhand eine fesselnde Geschichte ausdenkt.« »Ja, du lachst«, sagte Mitchell. »Aber mich hätte es fast die Karriere gekostet, noch ehe sie richtig begonnen hatte.« »Wie es scheint, hast du dich von diesem Einbruch ja prächtig erholt«, bemerkte Prue. »Ich meine, immerhin arbeitest du für National Geographic, der Nummer eins unter den Reise- und Abenteuerzeitschriften. Bitte erzähl mir, wie ist es, für dieses Magazin tätig zu sein.« »Wie wäre es, wenn ich das beim Nachtisch tue?«, schlug er vor und bat den Kellner um die Rechnung. »Ich kenne da genau den richtigen Ort …«

Kurz darauf schaute Prue in einen atemberaubenden Sternenhimmel. Sie sah Mitchell an und lächelte. Dann versuchte sie eine etwas bequemere Sitzposition auf der Motorhaube des Geländewagens einzunehmen. Sie hatten auf einem hoch gelegenen Kliff über dem Pazifik geparkt und betrachteten nun gegen die Windschutzscheibe gelehnt den wunderschönen Nachthimmel. »Dies ist mein Lieblingsplatz fürs Dessert«, erklärte Mitchell mit einem schüchternen Grinsen. Er setzte sich auf und präsentierte ihr die beiden Schachteln, die er aus dem italienischen Restaurant mitgenommen hatte. »Cannoli oder lieber Tiramisu?« »Definitiv Tiramisu«, sagte Prue mit gespielter Ernsthaftigkeit. Mitchell reichte ihr das cremige Dessert zusammen mit einer Plastikgabel. Prue nahm einen Bissen und verdrehte verzückt die Augen. »Das ist das beste Tiramisu, das ich je gegessen habe!«, schwärmte sie. »Probier mal meins«, sagte er und reichte ihr die Schachtel mit der Cannoli. »Danach wirst du glauben, du wärst gestorben und direkt nach Sizilien überführt worden.« Prue lachte und naschte auch von der knusprigen Nachspeise. »Verdammt«, rief sie. »Du hast nicht übertrieben, das ist einfach köstlich!« Dann schüttelte sie fassungslos den Kopf. »Ich habe so eine tolle Zeit mit dir. Kaum zu glauben, dass …« Abrupt hielt sie inne. Sie fühlte sich so wohl in Mitchells Gegenwart, dass sie fast die Sache mit Phoebe ausgeplaudert hätte. Und in der Folge natürlich auch, dass sie eine Hexe war. Was wiederum jegliche Chance auf eine gemeinsame Zukunft

mit Mitchell zunichte gemacht hätte. Prues Lächeln schmolz dahin, und sie starrte betrübt auf ihre Hände. Während sie so grübelnd dasaß, rutschte Mitchell von der Motorhaube und erschien eine Minute später mit seiner Kamera vor dem Wagen. Jäh aus ihren Gedanken gerissen, hob Prue den Kopf und sah ihn entsetzt an. »Was machst du da?«, fragte sie und fühlte sich plötzlich alles andere als wohl. »Du warst einfach so wunderschön, wie du da gesessen und in die Sterne geblickt hast«, sagte Mitchell mit einem treuherzigen Grinsen. »Und da fiel mir ein, dass ich meine Kamera im Kofferraum habe.« »Ach so«, sagte Prue und schüttelte den Kopf. Was ist so schlimm daran?, dachte sie. Er will doch nur ein Bild von dir machen. Doch irgendetwas in ihr rebellierte bei diesem Gedanken. »Ich … ich glaube nicht, dass ich jetzt fotografiert werden will«, sagte sie und zog den Kopf ein. »Ich sehe bestimmt schrecklich aus. Es ist total windig hier …« »Ach, gehörst du etwa auch zu den Fotografinnen, die austeilen, aber nicht einstecken können?«, zog Mitchell sie auf und hob die Kamera vor seine Augen. »Komm schon. Nur ein einziges Foto.« »Bitte nicht!«, sagte Prue und versuchte dabei freundlich zu klingen. Tatsächlich kämpfte sie gerade einen Anflug von Panik nieder. Ihr Gesicht brannte, und da war auch ein Sausen in ihren Ohren … »Lächeln, Prue. Bitte«, drängte Mitchell und schaute durch den Sucher.

»Nein!«, rief Prue und sprang von der Motorhaube. Ich halte das nicht mehr länger aus, dachte sie. Das Leben meiner Schwester hängt am seidenen Faden, und ich vergnüge mich romantischerweise unter Sternen? Was bin ich nur für ein Mensch? Ich muss sofort nach Hause! »Es … es tut mir Leid«, stotterte sie, als sie Mitchells erschreckten Gesichtsausdruck sah. Sie lehnte sich gegen den Wagen und dachte fieberhaft über eine Ausrede nach. »Es ist … ich hab momentan einfach so viel Stress wegen meines Jobs«, erklärte sie. »Und als du die Kamera ins Spiel gebracht hast, da kam einfach alles wieder hoch …« »O Mann«, murmelte Mitchell, hängte sich den Fotoapparat über die Schulter und kam auf sie zu. »Ich hab's richtig verbockt, was? Da wollte ich dich eigentlich nur ein bisschen von deiner Arbeit ablenken, und genau das Gegenteil ist dabei herausgekommen.« In einer liebevollen Umarmung drückte er sie an sich, und Prue fühlte, wie sich aufgrund ihrer Lüge das schlechte Gewissen einstellte. Andererseits, so dachte sie, habe ich ja wirklich 'ne Menge Stress wegen meines Jobs, wenn auch nicht in dem Sinne, den Mitchell vermutet. »Bitte sag mir, was ich tun kann, damit du deine Probleme für eine Weile vergisst«, sagte er. »Es tut mir Leid«, erwiderte Prue. »Aber ich weiß, im Moment kann keiner von uns beiden etwas daran ändern. Ich hatte so einen tollen Abend, und ich denke, es ist das Beste, wenn ich jetzt nach Hause gehe.« »Natürlich«, sagte er. »Das verstehe ich.« Doch er bewegte sich nicht vom Fleck. Seine warmen Hände ruhten auf ihrem Nacken, und dann begann er plötzlich, ihre verspannten Halsmuskeln zu massieren. Zu ihrer größten Verwunderung

fühlte Prue, wie ihr Widerstand nachließ und sie sich an ihn schmiegte. Mitchells Hände wanderten sanft ihre Wirbelsäule hinab und streichelten die Haut im Rückenausschnitt ihres Kleides. Prue seufzte still, und plötzlich bedeckten Mitchells Lippen die ihren in einem sanften warmen Kuss. Sie schloss die Augen, während sie ihre Arme um seinen Hals legte. Seine Lippen liebkosten ihren Nacken, ihre Ohrläppchen, und dann küsste er sie wieder auf den Mund, leidenschaftlicher, fordernder diesmal. Und Prue ließ es geschehen. Mehr noch, auf einmal wollte sie nicht mehr nach Hause, wollte hier mit Mitchell unter den Sternen verweilen – für immer. Ein wenig atemlos hielt er sie plötzlich von sich und berührte sie zärtlich an der Nasenspitze. Dann sah er ihr tief in die Augen. »O Prue«, flüsterte er, »ich bin im Himmel.« Himmel … Olymp … Plötzlich hatte die Realität Prue wieder eingeholt. Was ist nur los mit mir?, dachte sie erschrocken. Eben noch war ich drauf und dran, nach Hause zu gehen und mich um das Wichtigste überhaupt zu kümmern, und einen Kuss später sind meine Schwestern schon wieder völlig vergessen! »Ich … ich muss jetzt wirklich gehen«, sagte sie traurig. Mitchell seufzte tief und nickte. Dann öffnete er die Beifahrertür und half ihr beim Einsteigen. Kurze Zeit später standen sie vor dem Halliwellschen Anwesen. »Mitchell«, sagte Prue, »es tut mir wirklich Leid, dass ich heute so launisch und unentschlossen war.« Sie streichelte ihm sanft über sein weiches braunes Haar. »Ich … ich hatte wirklich einen wundervollen Abend mit dir. Aber es gibt da einfach ein paar Dinge, um die ich mich jetzt dringend kümmern muss.«

»Tja, meinst du denn, dass in deinem überfüllten Terminkalender noch Platz für ein weiteres Treffen mit mir drin ist?«, fragte er und sah sie aus seinen großen grau-grünen Augen bittend an. »Aber natürlich«, erwiderte sie. »Ich meine … ich hoffe. Ich meine … ich rufe dich an, okay?« Wieder sah er ihr tief in die Augen, als ob er ihre Gedanken zu lesen versuchte, und wieder einmal wünschte sie sich, weniger vorsichtig in allem sein zu müssen. Rasch drückte sie ihm einen Kuss auf die Lippen, öffnete die Tür und stieg aus dem Wagen. Als sie den Weg zum Haus hinaufging, drehte sie sich noch einmal um und winkte ihm zu. Nachdem sich die Eingangstür hinter ihr geschlossen hatte, lehnte sie sich erst einmal von innen dagegen und versuchte ihre Gedanken zu ordnen. Aus irgendeinem unerfindlichen Grund schien es ihr genauso wichtig zu sein, die Beziehung mit Mitchell voranzutreiben, wie sich um die Rettungsaktion für ihre Schwester zu kümmern. Tadelnd schüttelte sie den Kopf. Was ist nur mit mir los?, fragte sie sich wieder. Ich kenne Mitchell doch kaum, und nichts kann vorrangiger sein, als Phoebe wieder sicher bei uns zu Hause zu wissen. »Muss am Chianti liegen«, murmelte sie und ging in die Küche. Als sie eintrat, fiel ihr Blick auf eine sorgfältig verkorkte Flasche, die einsatzbereit auf der Theke stand. Nachdem sie einige Aspirin mit einem Glas Wasser heruntergespült hatte, ging sie in ihr Zimmer. Sie stellte den Wecker auf 4 Uhr 30 – eine halbe Stunde vor Sonnenaufgang – und legte sich ins Bett. Kurz darauf schlief sie tief und fest.

Es war noch dunkel am nächsten Morgen, als Piper die Küche betrat. Sie trug bequeme Leggins und ein weiches Baumwollshirt. Gerade zog sie sich ihre Laufschuhe an, als Prue hereinkam. »Willst du da oben an den olympischen Spielen teilnehmen?«, witzelte sie. »Man kann nie wissen, was einen erwartet – in Anbetracht unseres Ausflugs in den Hades, meine ich«, gab Piper zurück. »Ich möchte lediglich bereit sein – für alle Fälle.« »Guter Plan«, sagte Prue. »Ich für meinen Teil bin mehr als bereit für einen Kaffee.« »Hab gerade 'ne ganze Kanne gekocht«, sagte ihre Schwester und wies auf die Maschine in der Ecke. »Immerhin hast du einen ziemlich langen Tag des Wartens vor dir.« »Ich bitte dich, das ist doch nichts im Vergleich zu dem, was dir bevorsteht«, erwiderte Prue besorgt. »Bist du bereit?« »Ja, und sehr aufgeregt«, gab Piper zu. »Mein Gott, der Olymp! Nicht viele Sterbliche haben die Gelegenheit, diesen sagenhaften Ort zu besuchen.« »Dann mach dich bereit, diese Gelegenheit jetzt zu ergreifen«, sagte Prue, als sie einen Blick aus dem Küchenfenster warf. »Ich kann das erste Licht des Tages schon sehen. Ich würde sagen, bis Sonnenaufgang sind es nur noch fünf Minuten.« »Wow«, sagte Piper und huschte neben ihre Schwester. »Ich weiß nicht, wann ich das letzte Mal vor Sonnenaufgang aufgestanden bin.« »Ich glaube, das war am Weihnachtsmorgen des Jahres 1979«, sagte Prue.

Piper lachte. Dann drückte sie die Schwester fest an sich. »Wir schaffen das«, flüsterte sie. »Mach dir keine Sorgen.« »Ich weiß«, sagte Prue, während sie eine Träne wegblinzelte. Dann reichte sie Piper den Trank und nahm den Spruch aus dem Buch der Schatten zur Hand. »Fertig?« »Fertig«, antwortete Piper und holte tief Luft. Und dann begann Prue zu lesen: »›So nimm diese Reisende mit hinauf zum Sitz der Götter, da die Sonne geht auf. sie wandeln sogleich, Über Wolken möge geleite sie sicher ins Himmelreiche‹« Während Prue den Spruch anstimmte, entkorkte Piper die Flasche mit dem Zaubertrank und leerte sie mit zwei tiefen Schlucken. Mit großen Augen musste Prue mit ansehen, wie die Gestalt ihrer Schwester langsam verblasste. Piper lächelte und winkte ihr zum Abschied noch einmal zu. Gleich darauf explodierte ihr Schemen in einem Blitz aus Licht, der bis zur Decke reichte – dann war sie verschwunden. Benommen stolperte Prue auf die Veranda und sah in den Himmel hinauf, der sich langsam rosa färbte. »Viel Glück, Piper«, flüsterte sie.

Piper stöhnte vor Erleichterung auf, als sie sich wieder materialisierte und ihren Körper fühlen konnte.

Als die Küche langsam um sie herum verblasste, war sie alles andere als sicher gewesen, wie ihre Reise enden würde. Doch als sich ihre Hände nun von geisterhaften Schemen wieder in feste Materie zurückverwandelten, wusste sie – oder hoffte zumindest –, dass sie auf dem Olymp angekommen war. Mit klopfendem Herzen sah sie sich um und blinzelte ungläubig. Gut, das ist nicht das, was ich erwartet habe, dachte sie. Wo sind sie Wolken, die geflügelten Himmelsboten, wo die korinthischen Säulengänge …? Tatsächlich stand – oder vielmehr schwebte – sie in einer Art wirbelnder silberfarbener Blase, deren Inneres flimmerte wie Quecksilber. Trotz seiner anorganischen Anmutung fühlte sich dieser Kokon irgendwie warm und weich an und vermittelte ihr ein Gefühl von Geborgenheit. Piper sah nach unten und hielt den Atem an. Ihre praktischen Leggings und Laufschuhe waren verschwunden und einem eleganten Ganzkörperanzug gewichen, der dieselbe metallische Farbe hatte wie ihre Umgebung. Sie machte einen Schritt vorwärts, obwohl sie keinen Boden unter sich spürte. Trotzdem fühlte sie, wie sie sich in der merkwürdigen Blase vorwärtsbewegte. »Gut, es existiert hier also so etwas wie Bewegung«, flüsterte sie. »Die Frage ist nur, wohin ich mich bewege. Ich meine … huch!« Die Blase hatte sich unter ihr geöffnet, und nun rutschte sie in einen langen engen Tunnel. Es gab nichts, an dem sie sich festhalten konnte, und die Geschwindigkeit, mit der sie dahinsauste, war geradezu atemberaubend.

»Aaaaaahhh!«, schrie sie, doch dann begann sie zu ihrem eigenen Erstaunen plötzlich zu lachen. Die Sache machte einen Heidenspaß! Nach dem ersten Schreck des freien Falls fühlte sie sich, als ob sie auf einer warmen Wasserrutsche hinabschoss, und insgeheim hoffte sie, dass diese aufregende Fahrt niemals enden möge. Natürlich wurde ihr Wunsch nicht erfüllt. Plötzlich fand sich Piper in einem neuen Raum wieder. Doch im Gegensatz zu dem quecksilbrigen Ballon hatte dieser Ort etwas Wattiges und zugleich Fragiles, schien gar nicht wirklich existent zu sein. Sie rappelte sich auf und sah sich um. »Willkommen.« Erschrocken fuhr sie herum, aber es war niemand da. Dieser Raum, oder was immer es war, war vollkommen leer. »Hallo?«, rief sie nervös. »Du bist Piper Halliwell«, sagte die Stimme. Es war eine weibliche, sanfte und sehr melodiöse Stimme. »Ich glaube, ich drehe gleich durch«, murmelte Piper. Und das nicht nur, weil die Stimme meinen Namen kennt, dachte sie weiter, sondern weil es sich anfühlt, als ob sie aus meinem Kopf herausspricht. »Hab keine Angst«, sagte die Stimme. Aus irgendeinem Grund war es ihr möglich, dieser Aufforderung zu folgen. Mehr noch, sie entspannte sich und fasste Vertrauen. Sie fühlte sich sicher. »Also«, begann sie. »Ich bin hier, um …« »… Zeus zu sehen«, beendete die Stimme Pipers Satz. »Ja, genau«, rief sie aufgeregt aus. »Wissen Sie, ich habe …«

»… eine Schwester, die in großer Gefahr schwebt«, fuhr die Stimme fort. »Du musst nicht weiterreden. Ich kann deine Gedanken lesen.« »Oh«, sagte Piper und fühlte wieder Panik in sich aufsteigen. Nervös zerrte sie an dem engen Rollkragen ihres Körperanzugs. »Du fühlst dich nicht wohl in deiner Kleidung«, stellte die Stimme fest. »Doch keine Sorge. Du wirst sie nicht länger benötigen. Du hast die erste Prüfung bestanden und dich aus dem Vorraum befreit.« »Prüfung?«, fragte Piper. »Was meinen Sie damit?« Dann entfuhr ihr ein leiser Aufschrei der Überraschung, als der silberne Körperanzug plötzlich verschwand und durch ein langes, hautenges Gewand ersetzt wurde, gewoben aus dem wohl wärmsten und geschmeidigsten Material, das sie je gesehen hatte. Darüber hinaus schimmerte das Kleid in einem wunderschönen überirdischen Blauton. »Nicht jeder schafft es bis auf den Olymp«, sagte die Stimme. »Das ist dir sicherlich bekannt.« »Allerdings«, erwiderte Piper. »Aber wie habe ich diesen Test bestanden? Ich hab doch gar nichts gemacht.« »Mittels der Reinheit des Geistes«, antwortete die Stimme. »Aufrichtigkeit und wahrhafte Bedrängnis sind der Schlüssel. Wir haben dich auf diese Voraussetzungen hin geprüft.« »Mich geprüft?«, fragte sie. »Das hört sich an wie aus einem schlechten Arnold-Schwarzenegger-Film. Was kommt als Nächstes?« »Weitere Prüfungen«, sagte die Stimme. »Du wirst durch eine Reihe von Portalen gehen müssen. Wenn du dich als würdig erweist, wirst du vor Zeus treten dürfen.«

»Ach du liebe Güte«, sagte Piper beklommen. »Hab keine Angst«, sagte die Stimme wieder. »So setze nun deinen Weg fort.« Piper holte tief Luft und tat, wie man ihr geheißen hatte: Sie ging weiter durch den Raum. Dann schob sie sich kurzerhand durch eine der Wände, die sich noch wärmer und weicher anfühlte als der Stoff ihres wunderbaren Kleides. Das Nächste, was ihr bewusst wurde, war, das sie in einem neuen Raum trieb, der ganz mit Wasser gefüllt war. Angst überfiel sie, und sie warf sich herum, um wieder dahin zurückzukehren, woher sie gekommen war. Doch das war nicht mehr möglich. Sie öffnete den Mund, um zu schreien, und stellte zu ihrer Überraschung fest, dass sie atmen konnte. Sie atmete unter Wasser! Mit einem zufriedenen Grinsen durchschwamm sie die Kammer, nicht ohne ein paar Purzelbäume und andere Kapriolen unter Wasser zu schlagen, bevor sie sich auch schon im nächsten Raum wiederfand. Die Wände dieser Kammer schimmerten opaleszent, und die Luft war durchflutet von pastellfarbenen Strahlen. Piper seufzte verzückt und ertappte sich dabei, wie sie sich diese wunderbaren Effekte in ihrem Club vorstellte. Ganz in der Nähe gähnte ein weiteres Portal. Beherzt trat Piper hindurch und ließ sich in den dahinter wartenden Tunnel fallen. Diese Schussfahrt war kürzer und weniger rasant als ihre erste, doch die Ankunft war umso spektakulärer. Denn am Fuß des Tunnels erwartete sie ein riesiger Mann. Er war weit über zwei Meter groß und baumstark. Über seine breiten Schultern fiel eine langes, blassgraues Gewand. Das Haar hatte denselben wunderschönen Farbton wie seine Robe und floss in weichen Wellen seinen Rücken hinab.

»Zeus?«, fragte Piper atemlos. Er muss es einfach sein, dachte sie. Und auch er war nicht der, den sie erwartet hatte. Auf allen Gemälden, bei allen Statuen war ihr der Göttervater als Furcht einflößender, bärtiger Patriarch erschienen. Doch dieser Mann verströmte sowohl überirdische Warmherzigkeit als auch entsetzliche Strenge. Ihn umgab so unendlich viel mehr Macht, als Piper je bei einem anderen Individuum gespürt hatte. »Der bin ich«, sagte Zeus. »Komm mit mir.« Nur einen Herzschlag später fand sich Piper in einem völlig weißen Raum vor dem Gott sitzend wieder. Überall um sie herum war Nebel. Durch die Schwaden konnte sie eine Gruppe von Personen erkennen; es waren junge Männer und Frauen in ähnlichen Gewändern wie dem ihren. Sie selbst saß auf einem irgendwie formlosen und doch unendlich bequemen Kissen – genau wie der Göttervater selbst. »Erzähle«, sagte Zeus nur und legte eine mächtige Hand auf sein Knie. Kurz und taktvoll – immerhin war Nikos ein Neffe ihres Gegenübers – berichtete Piper ihm alles, was sich zugetragen hatte, von dem Moment an, da Nikos die Kamera in ihr Haus gebracht hatte. »Und wir befürchten nun, dass er unsere Schwester auf genau dieselbe Weise zur Frau nehmen will, wie Hades es seinerzeit mit Persephone gemacht hat«, schloss sie. »Ich bitte Sie, großer Zeus, wir sind Hexen, die dazu auserkoren wurden, die Unschuldigen zu beschützen. Ohne die Macht der Drei sind wir nichts!« »Du kennst unsere Geschichte?«, fragte der Göttervater ruhig. »Ja.«

»Dann weißt du auch, was mit Persephone geschah?« »Sie aß den Kern eines Granatapfels«, erwiderte Piper. »Hat deine Schwester im Hades etwas zu sich genommen?«, fragte Zeus. »Das weiß ich nicht«, antwortete Piper, die immer nervöser wurde. Zeus schlug sich mit der Hand auf sein Knie. »Hier ist deine Aufgabe: ›Bei Dunkelheit erscheinen sie ungerufen, bei Licht indes sind sie verloren, ohne geraubt zu sein.‹« Piper fühlte, wie Panik in ihr aufstieg. Sie kannte das Szenario aus der griechischen Mythologie nur zu gut. Als Preis für einen Gefallen, den ihm die Götter erweisen sollten, musste der Sterbliche ein Rätsel lösen. War der Bittsteller im Stande, die richtige Antwort zu geben, wurde ihm der Wunsch erfüllt. Und jetzt war die Reihe an Piper. Das Schicksal ihrer gesamten Familie hing nun allein von ihrem Scharfsinn ab. Sie schloss die Augen und grübelte über die sibyllinischen Worte nach. Bei Dunkelheit kommen sie …, überlegte sie, … bei Licht verschwinden sie. Dunkel … Nacht … Himmel … Plötzlich schlug sie die Augen auf und rief: »Die Sterne! Damit sind die Sterne am Nachthimmel gemeint, richtig?« Nachdem sie mit ihrer Antwort herausgeplatzt war, saß Zeus einige Zeit nur still da und schaute sie an. Schließlich klatschte er in die Hände. »Deine Schwester sei frei«, verkündete er und erhob sich. »Doch nur, sofern nicht das geringste Krümchen Speise ihre Lippen berührt hat.« »Oh, vielen Dank!«, rief Piper aus. Aufgeregt sprang sie auf. »Werden Sie sie auch aus dem Hades befreien, oder …«

»O nein«, sagte Zeus und erhob seine Hände. »Niemals würde ich in das Reich meines Bruders vordringen. Du musst selbst gehen, sie finden und mit nach Hause nehmen. Alles, was ich tun kann, ist, dafür zu sorgen, dass die Kreaturen der Unterwelt ihren Fortgang nicht behindern werden.« »Oh …«, sagte Piper enttäuscht, und sie fragte sich plötzlich, warum sie überhaupt die Mühen auf sich genommen hatte, Zeus zu konsultieren. Doch dann riss sie sich zusammen, da sie wusste, dass die Bewohner des Olymp Gedanken lesen konnten. Doch zu spät. »Meine Liebe, ich weiß, dass dies nicht die Lösung all deiner Probleme ist«, sagte Zeus und sah sie durchdringend an. »Doch sei versichert, ohne meine Verfügung würde deine Schwester den Hades niemals verlassen können. Wenn du sie findest, noch bevor Nikos sie zu seiner Frau gemacht und noch bevor sie auch nur das Geringste zu sich genommen hat, wird sie bei ihrer Reise aus der Unterwelt unter dem Schutz meiner Macht stehen.« »Ich verstehe«, sagte Piper demütig und verschränkte ihre Finger. »Und ich kann Ihnen gar nicht genug dafür danken.« »Auf Wiedersehen«, sagte Zeus abrupt und wandte sich um. »Darf ich noch eine Frage stellen?«, sagte Piper befangen. »Was ist mit unseren Models? Stehen sie auch unter Ihrem Schutz?« »Für sie«, sagte der Göttervater, »seid ihr ganz allein zuständig. Ich fühle mich allein für die Macht der Drei verantwortlich.« Er klatschte in die Hände, und sofort traten einige Geschöpfe aus seinem Gefolge vor und geleiteten Piper aus dem Raum.

Noch bevor sie einen klaren Gedanken fassen konnte, wurde sie zu einem Portal eskortiert. »Nun, ich denke, das ist wieder mal so ein Fall von ›Nimmwas-du-kriegen-kannst‹«, murmelte sie, als sie durch einen strahlend hellen Tunnel zurück ins Diesseits flog. »Halte durch, Phoebe. Die Rettung naht!«

9 Nachdem

Piper verschwunden war, einigermaßen hilflos in der Küche um.

sah

sich

Prue

Sie war immer die Macherin in der Familie gewesen, diejenige, die die Dinge ins Rollen brachte und vorantrieb. Doch nun war sie dazu verdonnert, untätig auszuharren und die Stellung zu halten, während ihre Schwestern an jenseitigen Orten die großen Schlachten ausfochten. Noch nicht einmal Hausarbeit gab es zu erledigen – Piper hatte, nachdem sie den Trank gemixt hatte, noch gleich ein Großreinemachen angeschlossen. Die Küche blitzte vor Sauberkeit. Prue ging in den Wohnraum und lugte hinter den Samtvorhang ins Sonnenzimmer. Sie schnaubte, als sie die schlafenden Aushilfsmodels sah – rotwangig und schön wie immer. »Wie machen die das bloß?«, wunderte sie sich, als sie in den Spiegel sah und ihr eigenes aufgedunsenes Gesicht, die müden Augen und ihre ruinierte Frisur betrachtete. »Man sollte doch meinen, dass ein Vierundzwanzig-Stunden-Schlaf nicht ohne Konsequenzen bleiben kann.« Schließlich war sie es leid, die Models anzustarren, insbesondere das Trugbild dieses unheimlichen Nikos. Sie wollte den Vorhang gerade wieder schließen, als ihr Blick auf die antike Kamera fiel, die noch immer an ihrem alten Platz stand. »Hmmm«, murmelte sie, »eigentlich könnte ich ja mal nachschauen, was aus der Filmplatte geworden ist.« Sie konnte sich kaum noch vorstellen, wie wichtig das Cover ihr gestern noch gewesen war.

Eine kleine Entführung in der Familie, und schon erscheinen die Dinge in einem ganz neuen Licht, dachte sie nicht ohne Bitternis. Sie schnappte sich den Metallbehälter, in den sie die Negativplatte gelegt hatte, und ging in ihre Dunkelkammer im Keller. Immerhin habe ich jetzt etwas zu tun, dachte sie. Im schwachen Licht der roten Lampe bereitete sie die Chemikalien vor und erstellte dann eine Papiervergrößerung von der zerbrechlichen Glasplatte. Schließlich legte sie das belichtete Bild in die Entwicklerlösung. Während die Konturen des Motivs langsam hervortraten, hielt Prue den Atem an. Als der Kontrast zufriedenstellend war, legte sie das Foto ins Fixierbad und gab noch ein wenig Sepiatönung in die letzte Wässerungsschale, um den gewünschten altertümlichen Farbton zu erzielen. Schließlich hielt sie das fertig entwickelte Foto ins Licht und betrachtete es. Sofort fiel ihr Blick auf Nikos. »Jetzt zeigt er uns sein wahres Gesicht«, murmelte sie grimmig, als sie daran dachte, wie ekelhaft dieser Junge sie hinters Licht geführt hatte. Doch je länger sie den gelockten Adonis, der Besitz ergreifend seinen Arm um die Schulter ihrer Schwester gelegt hatte, betrachtete, desto mehr wurde ihr klar, dass nichts darauf schließen ließ, dass er der Prinz der Unterwelt war. Tatsächlich sah er richtig süß aus. Sie hielt das Bild in einiger Entfernung von sich, um es ganz auf sich wirken zu lassen. Sie mochte es kaum glauben, aber das Foto war perfekt. Jedes der acht Models, einschließlich Piper, sah überirdisch schön aus. Das goldene Licht, das das Sonnenzimmer durchflutet hatte, verlieh dem Ganzen eine

warme Atmosphäre, ja, die Komposition war ausgewogen und mutete sehr zeitgenössisch an. »Das ist ja unglaublich«, flüsterte Prue. »Meine erste und einzige Aufnahme lässt nichts mehr zu wünschen übrig! Vielleicht ist diese Kamera auch noch in anderer Hinsicht verzaubert?« Kopfschüttelnd stieg sie wieder die Stufen zur Eingangshalle hinauf. Ihre Arbeit in der Dunkelkammer war beendet, aber vielleicht gab ja noch etwas anderes für sie zu tun. Nachdem sie einen weiteren Blick auf die Models geworfen hatte, die nach wie vor gesund und wunderschön darnieder lagen, und das Haus nach mythologischen Ungeheuern abgesucht hatte, sah sie auf ihre Uhr. »Ach du liebe Güte! Erst neun?«, jammerte sie. »Der Sonnenuntergang ist noch Stunden entfernt! Hoffentlich bin ich bis dahin nicht durchgedreht!«

»Ich werde durchdrehen, wenn ich noch eine Nacht hier verbringen muss«, murmelte Phoebe. Zu Tode gelangweilt lag sie auf einer opulenten Couch in ihrer fensterlosen Kammer und haderte mit dem Schicksal. Den ganzen Morgen über waren Schlangenmädchen zu ihr gekommen und hatten Tabletts mit Essen gebracht. Doch Phoebe hatte sie jedes Mal aus dem Zimmer gescheucht. Die Letzte war gerade erst vor wenigen Minuten gegangen. »Lass mich in Ruhe!«, hatte sie die Dienerin angeschrien, ihr das Tablett mit der Lammkeule und dem Kartoffelbrei aus der Hand gerissen und das Ganze in den Vorraum geschleudert.

Das Mädchen hatte ihre toten Augen zusammengekniffen, sie böse angezischt und dann den Raum verlassen. Wütend presste Phoebe nun die Hände auf ihren knurrenden Magen. Sie war völlig ausgehungert, doch die Vorstellung, etwas von dem zu essen, das diese züngelnden Vipern berührt hatten, ekelte sie zutiefst. »O Prue, o Piper«, flüsterte sie. »Wo seid ihr?« Knirsch! Phoebe wirbelte herum, als sich der Felsblock vor ihrer Tür erneut beiseite schob, und sprang auf die Füße. Wie machen die das bloß, fragte sie sich frustriert? Gerade wollte sie eine weitere Schimpftirade in Richtung Tür anstimmen, als es ihr die Sprache verschlug. Auf der Schwelle zu ihrer Kammer stand eine junge Frau in ihrem Alter, und sie hatte rein gar nichts Reptilienhaftes an sich. Tatsächlich trug sie ein ähnliches Kleid wie Phoebe selbst und einen Korb unter dem Arm. Darin lagen frisches Obst, Käse, ein Teller mit Kaviar, ein Baguette und verschiedene Pasteten – ein typisch französisches Picknick. »Wer bist du?«, fragte Phoebe. Die junge Frau kam auf sie zu und reichte ihr die Hand. »Hi«, sagte sie, während sich die Tür wieder hinter ihr schloss. »Ich heiße Jessica.« Phoebe erwiderte den Handschlag nicht. Stattdessen setzte sie sich und starrte die Besucherin verwirrt an. »Bist du auch eine Gefangene?«, fragte sie schließlich. Jessica warf den Kopf in den Nacken und lachte so heftig, dass ihre schwarzen Locken hin und her flogen. »Mitnichten!«, sagte sie und ließ sich neben Phoebe auf der Couch nieder. Dann griff

sie in den Korb und legte die mitgebrachten Köstlichkeiten auf einen kleinen Tisch, der vor ihnen stand. »Ich lebe freiwillig im Hades.« »Ach, wirklich?«, sagte Phoebe. Dann erschien ein bestürzter Ausdruck auf ihrem Gesicht, und sie hob eine Hand vor den Mund. »Bist du etwa … bist du tot?« Wieder lachte Jessica herzlich und schüttelte den Kopf. »Gut«, sagte Phoebe misstrauisch und verschränkte die Arme vor ihrer Brust. »Fassen wir also zusammen: Du bist weder hier, weil du mit einem Obolus beerdigt wurdest, noch, weil man dich entführt hat. Verbringst du also deinen Urlaub hier, weil kein Hotelzimmer mehr in der Karibik frei war, oder was?« »Warum so despektierlich, Phoebe?«, sagte Jessica und vermied damit eine Antwort auf die Frage. »Freu dich, dass du hier sein darfst, und genieße die Zeit.« »Das ist mir zu hoch«, sagte Phoebe. Da fiel ihr Blick auf den Ring, den Jessica trug und der genauso aussah wie der, den Nikos ihr geschenkt hatte. Doch statt mit Rubinen war er über und über mit Brillanten geschmückt. »Moment mal«, platzte Phoebe heraus. »Hast du etwa …« »… in die Sippe eingeheiratet?«, beendete Jessica kichernd Phoebes Frage. »So ist es. Ich bin die Frau von Nikos' älterem Bruder Philip. Er ist genauso umwerfend wie Nikos. Warte nur, bis du ihn kennen lernst.« »Wann? An meinem Hochzeitstag, wenn er mich mit Reis bewirft?«, fragte Phoebe bissig. Erstaunt sah sie, wie Jessica begeistert nickte. »Wir freuen uns alle so sehr, dass du hier bist«, sagte die junge Braut. »Ich und meine Schwägerinnen, meine ich. Wir sind elf

Frauen, und Nikos, der jüngste Bruder, ist der einzige Sohn des Hades, der noch nicht verheiratet ist.« »O mein Gott«, presste Phoebe hervor. »Du willst also damit sagen, dass man euch auch entführt hat, um die Ehefrauen dieser … Männer zu werden?« »Entführt? Was für ein hässliches Wort«, sagte Jessica. Sie verteilte etwas Kaviar auf einem Cracker und verzehrte ihn mit Genuss. »Mmmm. Möchtest du auch etwas?« Sie reichte Phoebe einen Löffel mit glänzendem Kaviar, doch diese schüttelte nur den Kopf. Ich muss vorsichtig sein, dachte sie. Diese Frau hat eindeutig eine Gehirnwäsche hinter sich. Ich will auf keinen Fall dem gleichen Fluch zum Opfer fallen. »Bitte erzähle mir, was mit dir geschehen ist«, sagte sie stattdessen. »Ich bin nun schon ein Jahr, ein wundervolles Jahr, mit Philip verheiratet …«, begann Jessica. »Nein, das meine ich nicht«, unterbrach Phoebe. »Ich möchte wissen, wie es dazu kam, dass du seine Frau wurdest?« »Ich habe mein Schicksal angenommen«, sagte Jessica verträumt. »Phoebe, du hast ja keine Ahnung … du glaubst ja gar nicht, wie toll das alles werden wird.« »Toll?«, fragte Phoebe ungläubig. »Wenn du es annimmst«, sagte Jessica und naschte von der Pastete. »Das Leben hier ist eine nie enden wollende Party.« »Was meinst du mit ›es‹?«, fragte Phoebe ungeduldig. »Also, diese Pastete ist einfach grandios«, schwärmte Jessica mit verzücktem Gesichtsausdruck. »Die musst du einfach mal probieren. Hast du schon mal Pastete gegessen, Phoebe?«

»Herrgott, ich bitte dich«, sagte Phoebe gereizt. »Meine Schwester ist Köchin. Ich habe in meinem Leben schon Unmengen von Pastete gegessen.« »Ich dachte mir, vermutlich magst du das Essen nicht besonders, das dir diese Dienerinnen gebracht haben«, sagte Jessica und lehnte sich mit einem verschwörerischen Lächeln zu Phoebe hinüber. »Unter uns, diese Weiber jagen auch mir einen Schauer über den Rücken. Deswegen habe ich dieses kleine Picknick für uns vorbereitet.« Sie nahm sich eine saftige Erdbeere, tauchte sie in eine Silberschale mit geschlagener Sahne und biss ein Stück davon ab. »Mmmmm«, sagte sie wieder. »Wie köstlich! Die musst du einfach mal probieren.« »Ich glaube, du gehst jetzt besser«, sagte Phoebe kalt. Bestürzt schlug Jessica die Augen nieder. Sie wirkte verletzt. »Ich dachte, wir könnten Freundinnen werden«, sagte sie. »Es würde dir den Wechsel sehr erleichtern, weißt du.« »Es wird keinen Wechsel geben, Jessica!«, schrie Phoebe. »Und jetzt verschwinde von hier!« Jessica starrte Phoebe einige Sekunden lang an, dann warf sie schnaubend die Reste ihrer Erdbeere über die Schulter und stand auf. »Wie du willst«, sagte sie und ging in Richtung Tür. Knirschend glitt der Fels zur Seite. »Aber du solltest etwas essen«, sagte sie und drehte sich noch einmal zu ihr um. »Du hast ein paar anstrengende Tage vor dir. Du weißt schon, die ganzen Hochzeitsvorbereitungen und so …« »Raus!«, schrie Phoebe so laut, dass Jessica erschreckt über die Schwelle floh. Der Fels rollte wieder an seinen Platz und versiegelte ihr Gefängnis.

»Uff!«, machte sie und ließ sich wieder auf die Couch fallen. »Ein Schwätzchen unter Frauen mit der lieben Verwandtschaft. Was kommt als Nächstes?« Zum tausendsten Mal versuchte sie, sich des riesigen Verlobungsrings zu entledigen, doch er steckte an ihrem Finger wie angewachsen. Frustriert stieß sie einen leisen Schrei aus. Was fand diese Jessica nur daran, im Hades zu leben? Als geraubte Braut, die hier nichts zu tun hatte, als den ganzen Tag faul herumzuliegen und sich mit Delikatessen voll zu stopfen? Delikatessen, die noch immer auf dem kleinen Tisch lagen und die Phoebe zu verhöhnen schienen … Wieder zog sich ihr Magen vor Hunger schmerzhaft zusammen. Tatsächlich konnte sie kaum ihren Blick von den Leckereien abwenden. Bestimmt schmeckten sie so gut, wie sie aussahen … Auch glaubte sie Jessica, dass die abstoßenden Schlangenfrauen diese Lebensmittel nicht berührt hatten. Gierig befeuchtete sie ihre trockenen Lippen. Dann griff sie nach dem Löffel mit dem Kaviar … Doch als sie ihn berührte, wurde sie von einer ihrer Visionen heimgesucht, hässliche Bilder, die blitzlichtartig durch ihren Kopf zuckten: Sie sah Jessica schreiend und jammernd gegen die Tür einer Kammer trommeln. Und dann saß die junge Frau bleich und matt auf einem riesigen Pfostenbett und wurde von jemandem gefüttert, den Phoebe nicht erkennen konnte. Um ihre eingefallenen Augen lagen dunkle Schatten, und ihr Blick war leer. Dann schob sich ein anderes Bild vor Phoebes geistiges Auge: Jessica und eine andere Frau mit dunklen Locken tanzten ausgelassen in einem Salon. Eine Gruppe äußerst attraktiver Männer mit stechend blauen Augen stand am Band und sah ihnen gelangweilt zu …

Mit einem Keuchen kehrte Phoebe wieder in die Realität zurück; klappernd fiel der Kaviarlöffel auf den kalten Steinboden. Wie immer erklärte sich auch diese Vorhersehung nicht von selbst. Doch sie hatte Phoebe eindeutig gezeigt, dass Jessica in dem Moment eine Wandlung vollzogen hatte, als sie etwas gegessen hatte. Die wundersame Wandlung von einer verzweifelten Gefangenen in ein oberflächliches, willenloses Party-Mäuschen. In Phoebes Hirn arbeitete es fieberhaft, als sie den mit Speisen überladenen Tisch anstarrte. Seit der Stunde ihrer Ankunft war sie permanent genötigt worden, etwas zu essen. Der Zug der Dienerinnen, die mit überladenen Tabletts in ihre Kammer geschwebt waren, wollte nicht abreißen. Und nun auch noch diese Vision. Phoebe war sicher: Das Essen im Hades war gefährlich. Vor Hunger und Ärger außer sich, fegte sie die Silberschale mit der Schlagsahne vom Tisch. Sie flog in hohem Bogen durch den Raum und bekleckerte die Wände mit weißen Flocken, bevor sie klappernd zu Boden fiel. Verzweifelt warf sich Phoebe auf ihr Bett und barg den Kopf unter dem Kissen. »Das ist wirklich mein schlimmster Albtraum«, flüsterte sie. »Nie hätte ich gedacht, dass ich, Phoebe Halliwell, die unersättlichste Schwester der Familie, mal in den Hungerstreik treten muss!«

Ihr Rückweg führte Piper wiederum durch eine Reihe von Kammern – durch den opaleszenten Raum mit den wunderschönen Lichteffekten, die wassergefüllte Halle und schließlich in das wattige, warme Nest. Dann wurde sie aufwärts

durch den Wildwassertunnel gezogen, um schließlich wieder in der quecksilbrigen Empfangshalle zu landen. Auch trug sie wieder den silbernen Körperanzug, was bedeutete, dass ihre Uhr verschwunden war, genauso wie die anderen Sachen, in denen sie hier angekommen war. So vermochte sie nicht festzustellen, wie lange sie schon auf dem Olymp weilte, als sie in die merkwürdige Blase zurückkehrte. Abwartend sah sie sich um. Der Sitz der Götter ist magischer und jenseitiger, als ich es mir vorgestellt habe, dachte sie. Kaum zu fassen, dass ich ihn sehen durfte. Dann runzelte sie die Stirn. »Ich kann nur hoffen«, flüsterte sie, »dass sich dieser Besuch auch gelohnt hat und dass wir Phoebe rechtzeitig finden … Hey, was ist das?« Plötzlich verdunkelte sich das gleißende Innere der Blase, und der Boden begann orange zu glühen. »Das muss der Sonnenuntergang sein«, stieß Piper aufgeregt hervor. Sie mochte kaum glauben, dass der Tag so schnell vergangen war. Ich muss in eine Art Zeitschleife geraten sein, als ich den Olymp betreten habe, überlegte sie, während sie die Augen schloss und sich auf die Rückreise zur Erde vorbereitete. Jeden Moment, dachte sie, wird Prue den Spruch aufsagen und mich wieder nach Hause holen.

Gemächlich trottete Prue die Treppe von Halliwell Manor hinunter und warf einen Blick auf die alte Standuhr in der Halle. Sechs Uhr. Demnach hatte sie noch eine ganze Stunde Zeit bis Sonnenuntergang.

Sie seufzte. Tatsächlich hatte sie bereits ihre gesamten Negative archiviert, ein ausgiebiges Bad genommen und sogar einen weiteren Dämon aus dem Hades bekämpft: eine andere Gorgo diesmal. Schon überlegte sie, ob sie nicht fünf Monate im Voraus damit anfangen sollte, Weihnachtsgrüße zu schreiben, als es klingelte. »Man ist ja für jede Abwechslung dankbar«, murmelte sie, als sie zur Tür ging. Schnell zupfte sie ihr altes Tank-Top und die bequemen Shorts in Form und öffnete. »Mitchell!«, rief sie überrascht. »Hi, Prue«, sagte er und überreichte ihr einen großen Strauß pinkfarbene Tulpen. »Ich hoffe, es macht dir nichts aus, dass ich dich so einfach überfalle … aber ich … ich musste dich unbedingt wieder sehen. Ich hab nicht aufgehört, an dich zu denken, seit ich dich gestern nach Hause gebracht habe. Ich weiß, du bist sehr beschäftigt, aber ich dachte, vielleicht kann ich dich ja zu einer kleinen Pause überreden?« »Ähem … also«, stotterte sie und fuhr sich hektisch durch die Frisur. Nicht nur, dass Mitchell sie zu einem äußerst ungünstigen Zeitpunkt aufgesucht hatte, darüber hinaus sah sie auch noch ziemlich schlampig aus. »Lass mich wenigstens reinkommen und die hier«, er deutete auf die Blumen, »ins Wasser stellen, okay?« »Ja, natürlich«, erwiderte Prue zögernd. »Tut mir Leid. Komm doch herein.« Mit einem schnellem Blick ins Wohnzimmer überprüfte sie die korrekte Position des Vorhangs und geleitete ihren Besucher in die Küche. Dort suchte und fand sie eine Vase und füllte sie mit Wasser. »Hast du ein paar Pennys?«, fragte Mitchell.

»Was?« »Pennys«, wiederholte er. »Wenn du sie Blumenwasser legst, gehen die Tulpen besser auf.«

mit

ins

»Nein, ich werde dich jetzt nicht fragen, wo du diesen Tipp herhast«, lachte Prue und griff in einen Tontopf, der auf der Küchentheke stand und in dem die Schwestern ihr Kleingeld deponierten. »Das ist eine Berufskrankheit«, erklärte Mitchell. »Mit jeder Story, die man recherchiert, schnappt man mehr und mehr Trivialitäten des Alltags auf. Die Sache mit den Pennys zum Beispiel habe ich vom Chelsea-Blumenmarkt in New York.« »Sicher, dass dir das nicht eine verflossene Freundin geflüstert hat?«, fragte Prue, als sie einige Geldstücke in die Vase gab. »Ganz sicher«, sagte er. »Komm, gib mir auch einen!« Als Prue ihm einen Penny reichen wollte, berührten sich ihre Finger, und es war wie ein Elektroschock. »Wow«, entfuhr es Prue, dann presste sie ihre Lippen aufeinander. Hoffentlich hat er das nicht gehört, dachte sie. »Ich weiß«, sagte er, während sein Grinsen verblasste und sein Blick weich wurde. »Ich habe es auch gespürt.« »Mitchell«, begann Prue. »Ich kann …« Er unterbrach sie, indem er ihr einen Finger auf die Lippen legte. Prue fühlte, wie ein weiteres elektrisierendes Prickeln durch ihren Körper ging. Und plötzlich küsste sie ihn. Er nahm ihr Gesicht in seine Hände und erwiderte den Kuss leidenschaftlich. Seufzend lehnte sie sich gegen die Küchentheke und legte ihre Arme um seinen Hals. Dann schloss sie langsam die Augen. Seine Küsse waren einfach

überwältigend, ließen sie eintauchen in ein Meer aus Wärme und Leidenschaft, ließen sie einfach alles vergessen.

Das orangefarbene Glühen schien seine größtmögliche Intensität erreicht zu haben. Piper war wie hypnotisiert und konnte kaum fassen, wie schön der Sonnenuntergang von hier aus war. Die leuchtenden Rottöne, die zu ihr in die quecksilbrige Hülle drangen, boten ein so faszinierendes Schauspiel, dass sie sich fast in dieser traumhaften Atmosphäre verlor. Doch plötzlich griff die Realität wieder nach ihr und riss sie jäh aus diesem Rausch. Gleichzeitig verblassten die Farben, und Piper fühlte, wie die Panik ihr langsam die Luft abschnürte. »Prue«, murmelte sie. »Wo bist du?« Das orangefarbene Licht wurde von Minute zu Minute schwächer. »O nein!«, rief sie und wirbelte hektisch herum. Kein Portal weit und breit. Kein Entkommen aus dieser Kammer, die ihr mit jedem Herzschlag, der verging, enger vorkam. Sie schloss die Augen. Atme, beschwor sie sich. Atme regelmäßig und tief. Prue ist das Pflichtgefühl in Person. Und sie ist meine große Schwester. Sie wird mich nicht im Stich lassen. Immerhin ist der Sonnenuntergang ja noch nicht vorbei … Erneut griff die Angst mit klammen Fingern nach ihr. Ihr Puls beschleunigte sich. Sie hielt die Augen geschlossen und faltete die Hände vor ihrer Brust in der Hoffnung, dass ihr Körper nun immer leichter wurde, um schließlich ganz von hier zu verschwinden. Um sich schließlich in der guten alten Halliwellschen Küche wieder zu materialisieren.

Wieder holte sie tief Luft und dankte Phoebe dafür, dass sie ihr diese Yoga-Technik beigebracht hatte. Doch irgendwo in ihrem Kopf flüsterte ihr eine schwache Stimme zu: Vergiss den ganzen Yoga-Kram, Piper! Irgendwas läuft hier gerade schrecklich schief! Sie schlug die Augen auf und erschrak. Ihre schlimmsten Befürchtungen hatten sich bewahrheitet: Die Kammer war schwarz, und der Sonnenuntergang war schon seit Minuten vorbei! Was bedeutete, dass sie einen weiteren langen Tag auf dem Olymp festsaß. »Prue!«, rief Piper in die bedrückende Stille hinein. Dann begann sie zu schluchzen. »Wo bist du?«

Prue zog Mitchell näher zu sich heran und legte ihre Arme um seine schlanke Taille. Sie küssten sich noch immer leidenschaftlich. Ihre Augen waren fest geschlossen und sämtliche Gedanken aus ihrem Kopf vertrieben. Sie war ganz erfüllt von der Wärme seiner wundervollen Küsse und Berührungen … Plötzlich ging ein Ruck durch ihren Körper – ihre Sinne hatten etwas vernommen, das nicht hierher gehörte. Es klang wie eine Stimme, ein angstvoller Ruf, der aus den Tiefen ihres Geistes in ihr Bewusstsein vordrang. Prue schlug die Augen auf, und was sie sah, ließ ihr das Blut in den Adern gefrieren. Hastig stieß sie Mitchell von sich. »O mein Gott!« »Was ist los?«, fragte er bestürzt. »Alles okay mit dir?« Prue stolperte zum Küchenfenster und zeigte wortlos hinaus.

Alarmiert wirbelte Mitchell herum, doch dann breitete sich Verständnislosigkeit auf seinem Gesicht aus. »Was? Ich sehe nichts.« Und genau dies war das Problem. Sie war so sehr mit Mitchell beschäftigt gewesen, dass sie ihre beiden Schwestern völlig vergessen und den Sonnenuntergang verpasst hatte. Was bedeutete, dass Piper auf dem Olymp und Phoebe im Hades festsaß und sie die beiden einen weiteren langen, grausamen Tag einem ungewissen Schicksal ausgeliefert hatte. Und möglicherweise hatte sie mit ihrer Pflichtvergessenheit alles ruiniert. Prue war so entsetzt angesichts dessen, was sie getan hatte, dass sie fast hyperventilierte. Panisch schob sie Mitchell beiseite und raste in der Küche umher, wobei sie sich gelegentlich an der Theke festhielt und tief durchatmete. Denk nach!, beschwor sie sich. Es muss einen Weg geben, das Ruder noch herumzureißen. Konzentrier dich! »Prue?«, ließ sich Mitchell hinter ihr vernehmen. »Was ist denn los?« Doch sie schüttelte nur den Kopf und wedelte mit den Händen, ohne sich auch nur nach ihm umzudrehen. »Ich muss … mich konzentrieren«, presste sie hervor. »Du musst gehen, Mitchell. Es tut mir Leid, aber du musst auf der Stelle gehen.« »Das glaube ich nicht, Prue«, erwiderte er. Für einem Moment dachte sie, nicht richtig gehört zu haben. Mitchells sanfte, liebevolle Stimme hatte auf einmal so etwas Kaltes, Abweisendes, Furcht einflößendes … »Außerdem«, fuhr er fort, »ist es zu spät. Du kannst deine Schwestern jetzt nicht mehr retten.«

Sie wirbelte herum und schrie vor Entsetzen laut auf. Mitchells wunderschönes Gesicht hatte sich verändert. Seine Haut hatte eine kranke grünliche Farbe angenommen. Seine schwärzlichen Lippen waren grausam zurückgezogen, um Platz für die enormen Fangzähne zu schaffen, von denen ein zäher gelber Speichel tropfte. Doch auch sein Körper transformierte: Die Schultern wurden breiter, und seine schwellende Brust sprengte die Nähte seines grauen T-Shirts. Und er wuchs und wuchs vor ihr in die Höhe. Und dann ragte vor Prue ein Biest auf, das schrecklicher war als alle Dämonen, die bisher in Halliwell Manor eingefallen waren. Das Ding, das einmal Mitchell gewesen war, beugte sich zu ihr hinab und packte sie mit eisenharten Klauen an der Schulter. Sein heißer, ätzender Atem versengte ihr fast das Gesicht. Prue wand sich vor Angst und Ekel und versuchte sich aus dem Griff des Monsters zu befreien. Tränen der Verzweiflung liefen ihr über die Wangen, während sich die grausame Wahrheit langsam einen Weg in ihr Bewusstsein bahnte. Die Wahrheit, die Mitchell, oder das, was er wirklich war, nun für sie aussprach: »Ohne die Macht der Drei wirst du es niemals schaffen, Phoebe zu retten«, grunzte er. »Euer Bund ist zerstört. Und das alles wegen eines Kusses. Dich abzulenken war wirklich lächerlich einfach. Nikos, mein Gebieter, wird sehr zufrieden sein.«

10 Nein!«, schrie Prue.

»

Das Monster, das noch vor Minuten der anbetungswürdige Mitchell und der beste Küsser unter der Sonne gewesen war, warf seinen hässlichen grünen Kopf in den Nacken und lachte. »O ja!«, rief er mit schwerer gutturaler Stimme. Seine Klauen umfassten ihre Schultern noch fester. »Du hast deine Schwestern verraten, Prue.« »Nicht … möglich«, schluchzte Prue. »Wie …« »Das weißt du sehr genau«, höhnte das Monster. Und das stimmte. Sie erinnerte sich nur zu gut an das erste Treffen mit Mitchell in der Bibliothek. Er war so charmant und zuvorkommend gewesen, als er ihr … das Buch gegeben hatte. Das Buch mit den viktorianischen Porträts hatte sie geradewegs in den Hades befördert! Sie fröstelte, als sie erkannte, mit welcher List und Tücke sich Mitchell an sie herangemacht hatte. So auch, als er ihr angeboten hatte, bei dem Shooting zu assistieren. Nikos hatte ihm gewiss befohlen, in der Nähe zu sein, falls irgendetwas nicht nach Plan verlief mit der verfluchten Kamera, die der Prinz der Unterwelt ins Haus gebracht hatte. Und plötzlich fiel ihr noch etwas ein. »Du hast auch versucht, mich noch mal in den Hades zu schicken!«, stieß sie hervor. »Und zwar, als du mich gestern unbedingt fotografieren wolltest. Darum hast du mich so bedrängt!«

»Sehr richtig«, sagte die Kreatur. »Wie kommt es, dass du auf einmal so scharfsinnig bist? Wie dem auch sei, als du partout nicht wolltest, musste ich eben hierher kommen und einen anderen Weg finden, dich zur Kooperation zu bewegen. Ich hoffe, es hat dir Spaß gemacht … Prue.« Er verzog seine hässliche Fratze zu einem Grinsen und leckte sich über seine gesprungenen schwarzen Lippen. In diesem Moment sah Prue rot, und sie schrie vor Zorn laut auf. Und obwohl Mitchell ihre Arme festhielt, schaffte sie es irgendwie, ihre Hände zu bewegen und ihre telekinetischen Kräfte zu mobilisieren. Ihre unbändige Wut half ihr dabei, und so wurde die Kreatur plötzlich in hohem Bogen durch die Küche geschleudert. Sie landete direkt auf dem Frühstückstisch, der krachend unter dem enormen Gewicht zusammenbrach. Das machte Prue nur noch rasender. Sie war es Leid, dauernd Möbelstücke ersetzen zu müssen, die irgendwelche marodierenden Dämonen zertrümmert hatten! »Argh!«, kreischte sie und wedelte mit dem Arm in Richtung ihres ehemaligen Freundes. Das Monster wurde wieder zurückgeschleudert und machte diesmal Kleinholz aus dem Gewürzregal. Prue schüttelte den Kopf und schoss vor, um dem Mitchell-Monster ihren Absatz in sein hässliches Maul zu rammen. »Aaaaaahhh!«, bellte die Kreatur, schwang eine riesige Faust und erwischte Prue direkt am Wangenknochen. Kleine Wellen aus Schmerz breiteten sich in ihrem Gesicht aus, während sie rückwärts zu Boden taumelte. Gerade rechtzeitig kam sie wieder auf die Füße, als Mitchell seinen mit Stacheln bewehrten Schwanz so schnell über dem Kopf schwang, dass die Luft sirrte.

Plötzlich schnellte das Ding vor wie eine Froschzunge und erwischte Prue an den Knöcheln, als sie sich gerade mit einem Sprung in Sicherheit bringen wollte. Hart krachte sie gegen die Küchentheke. Das war der Moment, in dem ihr klar wurde, wie schmerzlich sie die Hilfe ihrer Schwestern vermisste. Mit Pipers Fähigkeit, die Zeit anzuhalten, Phoebes ausgefeilter Kung-Fu-Technik – ganz zu schweigen von der Macht der Drei – konnten es die Schwestern mit nahezu jedem Gegner aufnehmen. Doch im Moment zweifelte Prue ernsthaft daran, ob sie gegen den monströsen Mitchell eine Chance hatte. Mit zusammengebissenen Zähnen umfasste sie ihren vor Schmerz pochenden Knöchel und kroch hinter der Theke in Deckung. »Hast wohl Schiss?«, höhnte Mitchell knurrend, als er auf sie zustampfte. Prue konnte den grässlichen Schwanz wieder durch die Luft peitschen hören. Sie sammelte ihre Kräfte, stand auf und stieß einen Schrei der Vergeltung aus. Dann bewegte sie ihre Hand in Richtung des hin und her peitschenden Schwanzes. Die Kraft der Telekinese erfasste ihn sofort, und er wickelte sich fest um Mitchells schuppigen Hals. In einer Mischung aus Überraschung und Atemnot japste das Monster laut auf. Prue wiederholte die Aktion, und die Schlinge zog sich enger. Panisch schlug das Monster mit seinen rasiermesserscharfen Klauen nach seinem eigenen Schwanz, und fast musste Prue lachen angesichts seiner schmerzverzerrten und entsetzten Grimasse. Um seinen Hals zu retten, müsste er sich den eigenen Schwanz abreißen, stellte sie hoch zufrieden fest. »Und? Wer hat jetzt Schiss … Mitchell?«, schrie sie ihm entgegen und bewegte wieder ihre Zauberhand. Diesmal zog der Schwanz seinen Besitzer durch die Küchentür. Das Monster stolperte und wollte nach ihr ausholen, doch Prue lachte nur und

versetzte ihm einen weiteren Energieschlag. Mitchell wurde ins Wohnzimmer gestoßen. Inzwischen hatte seine Gesichtsfarbe von kränklich Grün zu kränklich Grau gewechselt. Sein Atem ging stoßweise, und es war offensichtlich, dass es ihn große Kraft kostete, bei Bewusstsein zu bleiben. Gut!, befand Prue und versetzte ihm einen weiteren Telekinesehieb. Dann preschte sie an dem wankenden Dämon vorbei, zog den Vorhang zum Sonnenzimmer beiseite und beförderte ihn mit aller Energie in die Mitte des Raums. Hier ließ Prue endlich von ihm ab. Schwer atmend stand Nikos' Handlanger im Sonnenzimmer; matt hing sein abstoßender Kopf auf die eingesunkene grüne Brust herab. »Armer Mitchell«, kicherte Prue, und seine gelben Augen flackerten böse auf. Rasch duckte sie sich unter das Einstelltuch der verfluchten Kamera und richtete sie auf das Monster aus. »Sag mal ›Hades‹«, rief sie und drückte auf den Auslöser. Mit letzter Kraft warf Mitchell, das Monster, seinen Kopf in den Nacken und brüllte, dass die Wände erzitterten. Als sich die Blende wieder schloss, schien es, als ob seine Beine sich verflüssigten, und dann brach er unter seinem eigenen Gewicht zusammen. Er fiel direkt auf das Trugbild von Nikos, das daraufhin in einer Wolke aus Rauch verpuffte. Nur eine Sekunde später war auch der teuflische Mitchell verschwunden. Schnell überzeugte sich Prue, dass er mit seinem Fall keines der herumliegenden Models verletzt hatte, dann atmete sie erleichtert auf. Der Dämon war aus dem Weg geräumt, doch damit fingen die Probleme erst an. Denn nun musste sie herausfinden, wie sie ihren schrecklichen Fehler wieder rückgängig machen konnte.

Sie ging zurück ins Wohnzimmer und tigerte auf und ab. Okay, dachte sie, es muss einen Weg geben. Doch wie? Sie wusste, das Buch der Schatten konnte hier nicht helfen. Immerhin hatte es ihnen eine Möglichkeit aufgezeigt, Piper auf den Olymp zu schicken, und sie hatte die einfachste Sache der Welt, den Spruch bei Sonnenuntergang aufzusagen, in den Sand gesetzt! Wie konnte das nur passieren?, fragte sie sich zum wiederholten Male. Den ganzen Tag hab ich hier einzig und allein zu dem Zweck untätig herumgehangen, um diese einfache Aufgabe zu erledigen. Doch als der entscheidende Moment kam, hab ich alles verbockt! Sie hielt inne, als sie begriff, dass Mitchells Küsse schuld daran gewesen sein mussten, dass er sie auf diese Weise mit irgendeinem Zauber belegt hatte, der sie sämtliche Verantwortung hatte vergessen lassen. Nur so war zu erklären, dass sie jedes Mal, wenn sich ihre Lippen nur berührten, in eine Art Rausch versetzt wurde und die Welt um sie herum versank. Doch das ist verdammt noch mal keine Entschuldigung!, schalt sie sich kopfschüttelnd. Sie hatte gehörigen Bockmist gebaut, und das war etwas, das Prue Halliwell niemals tat. Schon gar nicht, wenn so viel davon abhing. Sie musste unbedingt eine Lösung für das Problem finden! Doch verzweifelt musste sie feststellen, dass ihr Kopf total leer war. Sie war mental wie blockiert angesichts dieses Dilemmas. Sie hatte keine Ahnung, was sie tun sollte, und sie war ganz allein. Langsam ließ sie sich auf einen Stuhl in der Halle nieder und starrte stumpf auf die alte Standuhr, deren Pendel eintönig hinund herschwang und ihr so das unerbittliche Verstreichen der Sekunden anzeigte.

Und da hatte sie plötzlich eine Eingebung. Rasch sprang sie auf, eilte hinüber zur Uhr, umarmte sie kurz und rannte dann die Stufen zum Speicher hinauf. »Natürlich!«, murmelte sie. »Wir haben ja noch den ZeitreiseSpruch von Phoebe, den wir benutzt haben, um Hunderte von Jahren in die Vergangenheit zurückzugehen – warum also nicht auch eine Stunde?« Sie öffnete den Schrank, in dem Phoebe die Zutaten für Tränke, einige Flaschen, ein Kompendium aller Dämonen, die die Schwestern bekämpft hatten, sowie sämtliche selbst verfasste Sprüche aufbewahrte. Zu Prues Erstaunen lagen dort auch einige Plüschtiere aus Phoebes Kindheit. Sie seufzte und wühlte weiter in dem Durcheinander, bis sie auf einige Stapel Papiere und sogar ein paar Servietten stieß, auf denen Phoebe ihre Zaubersprüche niedergeschrieben hatte. »Also gut«, murmelte Prue. »Was haben wir denn hier: einen Liebeszauber … eine Beschwörungsformel, um Tote herbeizurufen … einen weiteren Liebeszauber … noch einen Liebeszauber – Herrgott, Phoebe!« Sie rollte mit den Augen und setzte ihre Suche mit fliegenden Fingern fort. Gerade wollte sie eine weitere uninteressante Notiz auf den Boden werfen, als sie bemerkte, dass auf der Rückseite des Zettels etwas notiert war. Sie drehte das Papier um und seufzte erleichtert auf. »Zeitreise in die Vergangenheit«, las sie und lachte leise auf. »Oh, und hier ist auch der Spruch für die Zeitreise in die Zukunft. Hoffentlich verwechsle ich die beiden am Ende nicht!« Rasch warf sie einen Blick auf die Zeilen und verstaute den Zettel in der Tasche ihrer Shorts. Dann holte sie tief Luft und begann zu singen:

»›Verleih mir die Kraft, zu lösen das Band, vom Leben geknüpft mit ewiger Hand, und führ mich zurück in jene Zeit, wo es hat seinen Anfang – ich bin bereit.‹« Nachdem sie die Worte dreimal aufgesagt hatte, öffnete sie die Augen und sah auf die Uhr. Die Anzeige hatte sich nicht verändert! Irritiert rannte sie zu dem kleinen Fenster im hinteren Teil des Speichers und starrte hinaus. Draußen war es noch immer stockdunkel. Doch wie konnte das sein? Früher hatte dieser Spruch von Phoebe doch auch funktioniert … Doch noch bevor sie sich diese Frage gestellt hatte, wusste sie die Antwort: Es fehlte die Macht der Drei. Prue lachte trocken auf. Welch eine Ironie des Schicksals: Sie konnte ihre Schwestern nicht retten ohne ihre Schwestern! Erschöpft setzte sie sich auf den Boden, schlug verzweifelt die Hände zusammen und sah zur Decke. Sie konnte ihr Elend kaum fassen und kämpfte gegen die Tränen an. »O Piper«, sagte sie mit erstickter Stimme. »Es tut mir so Leid!« Matt ließ sie ihre Hände wieder sinken; da berührten ihre Finger etwas Weiches, Flauschiges. Sie wandte den Kopf, und da fiel ihr Blick auf einen arg mitgenommenen Plüschhund. Prue musste lächeln. Sie kannte das alte Ding nur zu gut – Phoebe hatte es überall mit hin geschleppt, als sie noch sehr klein gewesen war. Sie hatte ihn Charles genannt. »Moment mal!«, dachte sie und legte einen Finger an ihr Kinn. Zwar waren Piper und Phoebe nicht hier, aber sie hatte Charles. Was, wenn sie persönliche Dinge, zu denen ihre Schwestern eine sehr enge Beziehung aufgebaut hatten, zur Hilfe nahm? Vielleicht beherbergten diese Gegenstände ja ein wenig vom Geist ihrer Besitzer – und ihrer Kräfte?

Sofort eilte Prue die Treppe hinunter in Pipers Zimmer. Dort angekommen sah sie sich schnell um. Welcher Gegenstand hier bedeutet Piper am meisten? Was ist ihr kostbarster Besitz? Plötzlich schnippte sie mit den Fingern – natürlich, Großmutters Halskette! Sie öffnete das Schmuckkästchen ihrer Schwester, suchte und fand das wertvolle Amulett der Weißen Magie in einer Samtschatulle und betrachtete es einige Sekunden lang – es zeigte Sonne und Mond. Und Phoebes Lieblingsgegenstand? Immerhin hatte sie den Plüschhund inmitten ihrer wertvollsten Sprüche und Tränke aufbewahrt und ihn in den ersten Lebensjahren von morgens bis abends geküsst und geherzt. Prue fand, dass Charles für ihre Zwecke einfach perfekt war. Mit der Halskette rannte Prue wieder auf den Dachboden hinauf und legte das wertvolle Stück an. Dann nahm sie Charles auf den Arm und drückte ihn fest an sich. Schließlich schloss sie die Augen und intonierte den Zeitreisespruch – einmal, zweimal, dreimal … Plötzlich verspürte sie einen leichten Windhauch, der sich in ihrem Haar verfing und dann genauso schnell wieder verschwand. Sie eilte zum Fenster und sah hinaus. Die letzten Sonnenstrahlen fielen matt durch das farbige Glas. Mit klopfendem Herzen sah sie auf ihre Armbanduhr: Es war 18.45 Uhr. Ja! Noch fünf Minuten bis Sonnenuntergang! Sie schluchzte fast vor Erleichterung, als sie die Treppe hinunterpolterte und sich den Olymp-Spruch von der Küchentheke schnappte. Dann flitzte sie hinaus auf die Terrasse hinter dem Haus, um das nun folgende Naturschauspiel genau im Blick zu haben.

Das Herz hämmerte ihr in der Brust, als sie in die Sonne blinzelte, die soeben den Horizont berührte und sich dabei in einen wunderschönen orangefarbenen Ball verwandelte. Sie wartete noch eine ganze Minute, bis sie fast zur Hälfte verschwunden war. Jetzt! Mit zitternder Stimme sagte Prue den Spruch auf: »So lasst nun die Reisende treten ein in die unsrige Welt, da die Nacht bricht herein. Geleitet sie sicher zurück an den Ort, den sie verließ, als sie ging hinfort.« Sie hielt den Atem an und wartete. Plötzlich verspürte sie den dringenden Wunsch, sich umzudrehen. Als sie durch die offene Küchentür lugte, sah sie, wie sich Piper an genau der gleichen Stelle materialisierte, an der sie bei Sonnenaufgang verschwunden war – in Leggins und Laufschuhen. Ja, sie winkte ihr sogar auf dieselbe Weise zu, wie sie es am Morgen getan hatte. Mit einem fast irren Grinsen stürmte Prue in die Küche zurück. Als Piper wieder vollständig im Hier und Jetzt war, blickte sie sich in der ziemlich demolierten Küche um und schüttelte den Kopf. Dann sah sie an sich selbst herab und lächelte. Schließlich fiel ihr Blick auf Prue. »Piper!«, rief diese glücklich. »Ich bin ja so froh, dich zu sehen!« »Ach, wirklich?«, fragte Piper schnippisch. »Wo zum Teufel warst du? Der Sonnenuntergang kam und ging, ohne dass

irgendwas passiert wäre. Und dann, na ja, dann ging die Sonne noch mal unter …« »Ich musste einen Zeitreisespruch anwenden, nachdem ich den ersten Sonnenuntergang verpasst habe«, erklärte Prue und drückte ihre Schwester schnell an sich. »Was war denn so wichtig, dass ich dafür fast im Olymp festgehangen hätte?«, wollte Piper wissen und sah ihre Schwester anklagend an. »Und warum trägst du eigentlich meine Halskette, wenn ich fragen darf?« Prue wusste, dass Piper total sauer auf sie war, aber sie konnte trotzdem nur glücklich lachen. »Das ist eine lange Geschichte«, sagte sie. »Ich erzähl sie dir später. Doch sag mal, was hast du denn Aufregendes von Zeus zu berichten?« »Nun«, begann Piper und lehnte sich gegen die Küchentheke, »auf den Olymp zu reisen war das überwältigendste Erlebnis, das ich jemals hatte. Diese merkwürdigen Kammern, die mit silbrigen Strudeln und wunderschönem Licht gefüllt sind … oh, und man kann dort sogar unter Wasser atmen!« »Und? Und?«, fragte Prue ungeduldig. »Hast du den Göttervater getroffen?« »Das habe ich«, sagte Piper. »Und … er hat … na ja, es ist nicht gerade die optimalste Lösung für unser Problem, aber …« »Was hat er denn nun gesagt?« »Er sagte, er würde Phoebe vor den Dämonen des Hades und auf ihrem Weg aus der Unterwelt beschützen«, berichtete Piper. »Und die schlechte Nachricht?«, fragte ihre Schwester argwöhnisch.

»Tja, er kann sie nicht einfach mit einem Fingerschnippen zu uns zurückbringen«, seufzte Piper. »Wir müssen selbst dorthin und sie holen.« Für einen Moment zog sich Prues Magen zusammen, als sie sich an die nervenaufreibende, widerwärtige Reise durch die Unterwelt erinnerte, und ihr Herz wurde schwer. Doch nur eine Sekunde später war sie schon wieder gefasst und bereit für das große Abenteuer. Zumal sie keine andere Wahl hatten, wie ihr grausam klar wurde. »Kamera!«, meinte sie nur. »Lass uns gehen.« »Du sagst es«, sagte Piper und folgte ihrer Schwester ins Sonnenzimmer. Wie schon zuvor positionierten sie sich vor dem Objektiv, während Prue den Selbstauslöser fest umklammert hielt. »Fast hätte ich's vergessen«, sagte sie und nickte in Richtung der schlafenden Models. »Was ist mit unseren lieben Freunden hier? Stehen sie auch unter Zeus' Schutz?« »Ähem, also …«, murmelte Piper und knetete ihre Hände. »Piper? Was?« »Für die, so sagte er, sind wir selbst verantwortlich.« »Großartig«, nörgelte Prue. »Einfach großartig. Also müssen wir lediglich Phoebe aus Nikos' Klauen befreien, rasch die Models finden, die überall in seinem riesigen Palast sein können, und dann die ganze Mannschaft wieder sicher zur Erde zurückbringen, richtig?« »So ist es«, erwiderte Piper leise und sah Prue mit großen Augen an. »Meinst du, wir schaffen das?«

»Wir haben keine andere Wahl«, sagte sie und grinste freudlos. Dann begann sie den Spruch herunterzuleiern, der sie in den Hades bringen würde. Gerade als sie den Selbstauslöser betätigen wollte, schrie Piper: »Halt!« »Was ist denn?«, fragte Prue. Piper beugte sich zu ihr hinüber und nahm ihr die Halskette der Großmutter ab. Dann sprang sie auf, sah sich fieberhaft um und schnappte sich schließlich einen alten, aber nicht besonders kostbaren Brieföffner und ein Tintenfass aus Perlmutt vom Schreibtisch aus dem Wohnzimmer. »Das Fährgeld für Charon«, erklärte sie, schob den Brieföffner unter das Gummiband ihrer Leggins und übergab Prue das Tintenfässchen. »Wir können ihn genauso gut mit etwas entlohnen, an dem nicht unser Herz hängt.« »Stimmt«, sagte Prue und verstaute den kleinen Behälter in ihrer Shorts. Dann ergriff sie Pipers Hand und drückte auf den Knopf des Selbstauslösers.

11 Im Hades

schien die Zeit dahinzuschleichen. Phoebe hatte keine Ahnung, wie lange sie schon in ihrem kalten Gefängnis festsaß – es gab hier weder Uhren noch Fenster. Und wer wusste schon, ob die Zeit hier überhaupt normal verging, ob es im Hades überhaupt so etwas wie Morgen, Mittag und Abend gab? Was sie wusste, war, dass dieser Ort in einem stetigen Zwielicht lag, einem dämmrigen, grauen Halbdunkel, wie es auch in jenem Schreckenswald allgegenwärtig gewesen war. Die Vorstellung, auch nur einen weiteren Tag hier verbringen zu müssen, stürzte sie in tiefe Verzweiflung. Die Vorstellung, gar ein ganzes Leben hier zubringen zu müssen, war etwas, an das Phoebe noch nicht einmal zu denken wagte. Wimmernd und zusammengekrümmt lag sie auf ihrem Bett und presste die Hände auf ihren Magen, der vor lauter Hunger schon ganz eingesunken war. Dann schüttelte sie frustriert den Kopf, sodass die verhassten schwarzen Locken hin und her flogen. Hier gab es noch nicht einmal etwas Abwechslung, keine Bücher, keine Bilder, nichts außer Essen. Sie wälzte sich von der Matratze, schlich zur Tür und presste ihr Ohr an den kühlen Stein, der nach wie vor den Eingang blockierte. Vielleicht konnte sie ja ein paar Fetzen Unterhaltung aufschnappen. Doch es war nichts zu hören. Entmutigt ließ sie sich auf dem Boden nieder und versuchte wieder einmal erfolglos, sich den Verlobungsring vom Finger zu ziehen. Ihre Gedanken wanderten zu den Models, und sie fragte sich, wo sie wohl waren. Hatten die jungen Leute nicht ihren Zweck erfüllt, nachdem Nikos sie und ihre Schwestern in den Hades gelockt hatte? Hatte er sie womöglich davongejagt und dazu verdammt,

für immer im Hades umherzuwandern? Oder hatte Nikos sie zu seinem persönlichen Vergnügen behalten? Was hatte Chloe wohl dazu gesagt, als man ihr die Haare schwarz gefärbt und in diese lächerlichen Locken gedreht hatte? Ich frage mich, ob sie hier unten Evian haben, dachte Phoebe und musste kichern. Dann rief sie sich wieder zu Raison – das alles war ganz und gar nicht witzig, und sie allein trug die Schuld daran. Sie hatte die Studenten angeheuert und Nikos mit nach Hause gebracht. Und nun waren fünf Seelen womöglich für immer verloren. Aber vielleicht, so überlegte sie, hat er seine Köder ja laufen lassen, nachdem er bekommen hat, was er wollte. Vielleicht hängen die fünf ja gerade im Sonnenzimmer herum, essen Pipers Canapés und tratschen über die neue Herbstmode. Doch irgendwie wollte sie nicht so recht an diese Möglichkeit glauben. Sie kannte den dämonischen Nikos nicht sehr gut, aber gut genug, um zu wissen, dass Mitgefühl nicht zu seinen herausragenden Eigenschaften zählte. Und gerade als Phoebe sich wieder einer ihrer zahllosen Selbstmitleidattacken hingeben wollte, vernahm sie das inzwischen vertraute Kratzen des Felsens, der beiseite rollte. Reglos und mucksmäuschenstill blieb sie am Boden sitzen – und tatsächlich, eines der Schlangenmädchen schwebte in ihre Kammer und auf den kleinen Beistelltisch zu, ohne sich im Raum umzusehen. Es war offensichtlich, dass die Dienerin nicht bemerkt hatte, dass ihre Gefangene direkt neben dem Eingang hockte. Phoebe warf einen Blick auf ihr Bett: Die dicke Decke darauf war derart zusammengeknüllt, dass man einen schlafenden Körper darunter vermuten konnte. Diese Erkenntnis traf Phoebe wie ein Blitz.

Die Dienerin hatte ihr immer noch den Rücken zugewandt und räumte nun die Reste von Jessicas Picknick auf ihr Tablett. Phoebe hielt den Atem an. Dann kroch sie auf allen vieren langsam aus der Kammer.

Als Prue und Piper ihre Körper wieder spüren konnten, sahen sie sich erstaunt um. Grelles Sonnenlicht blendete sie, und sie schaukelten sanft hin und her. Auch war ein monotones Geräusch von Wasser, das gegen Holz schlug, zu vernehmen. »Oh«, sagte Piper nur. »Wo zum Henker sind wir?«, fragte Prue. »Das ist doch nicht der Hades, wie wir ihn kennen und hassen.« »Wir sind in einem Boot!«, platzte Piper heraus. »Danke, dass du mich darauf hinweist!«, sagte Prue bissig. Sie verdrehte die Augen und sah ihre Schwester tadelnd an. Das schlichte Boot war etwa drei Meter lang und hatte außer den Bänken, auf denen sie saßen, und einem Paar primitiver Paddel nichts zu bieten. Um sie herum war nichts als tiefblaues Wasser. In einiger Entfernung konnte Prue eine bergige Insel mit tropischer Vegetation ausmachen, die einen wunderschönen Sandstrand besaß. Das Boot trieb direkt auf eine traumhafte Lagune mit klarem hellblauem Wasser zu. »Also, das ist definitiv nicht der Styx«, murmelte Piper.

»Kannst du dich vielleicht erinnern, ob es so was wie eine Hintertür zum Hades gibt?«, fragte Prue. »Nicht dass ich wüsste«, erwiderte Piper besorgt. »Ich denke, wir können genauso gut bis an den Strand rudern«, meinte Prue. »Hoffentlich finden wir an Land irgendeinen Weg in die Unterwelt.« Jede der Schwestern griff sich ein Paddel, und dann ruderten sie gemächlich auf die Insel zu. Und obwohl sie weiß Gott nicht zwecks eines Sommerurlaubs hier waren, hatten die Wärme der Sonne und das gleichmäßige Plätschern der Wellen etwas überaus Beruhigendes. Piper ertappte sich sogar dabei, dass sie den Kopf in den Himmel reckte und die Sonnenstrahlen auf ihrem Gesicht genoss. Aufmerksam ließ Prue ihren Blick über die Küste vor ihnen wandern auf der Suche nach Gebäuden oder etwas anderem, das ihnen verraten konnte, wo sie waren. Doch außer den tropischen Bäumen und dem malerischen Strand war nichts zu sehen. Oder doch? »Piper«, rief Prue und zeigte mit dem Finger auf den Küstenstreifen, der die Lagune einschloss, »hast du das auch gesehen?« »Was denn?«, fragte sie und starrte angestrengt in die gleiche Richtung. »Ich dachte, ich hätte dort eine Bewegung gesehen, aber wahrscheinlich … Ja, sieh doch! Da ist es wieder. Dort auf den Felsen hat etwas in der Sonne geblitzt!« »Wirklich?«, fragte Piper nervös. »Was kann das nur sein?«

»Nach den jüngsten Ereignissen kann das so ziemlich alles »Und es ist uns sein«, sagte Prue grimmig. höchstwahrscheinlich nicht freundlich gesinnt.« »Sollen wir um die Insel herumrundern und woanders an Land gehen?«, fragte Piper. Prue biss sich auf die Lippe und schüttelte den Kopf. »Lass uns noch ein bisschen näher heranrudern«, meinte sie. »Diese Lagune scheint der einfachste Zugang auf die Insel zu sein. Ansonsten müssten wir nämlich bergsteigen …« »Stimmt, dazu haben wir im Moment wirklich nicht die Zeit«, sagte Piper und ruderte schneller. »Mach dich bereit, sie einzufrieren, wenn nötig«, flüsterte Prue ihrer Schwester zu, als sie auf den Strand zuhielten. Die Felsen kamen in Sicht, aber ansonsten war weit und breit nichts zu sehen. »Was immer du gesehen hast, es scheint sich zu verstecken«, zischte Piper. »Vielleicht hab ich es mir ja nur eingebildet«, sagte Prue hoffnungsvoll. In der gleichen Sekunde entdeckte Piper ein Augenpaar, das über den Rand eines der Felsen lugte. »Das glaube ich nicht, Prue«, flüsterte sie und deutete mit dem Kopf in die betreffende Richtung. »Da beobachtet uns jemand.« Prue sah unauffällig hin, und tatsächlich, hinter dem Felsen war etwas, das aussah wie … ein Frauenkopf. Je näher sie kamen, umso deutlicher war er zu erkennen. Und seine Besitzerin war wunderschön mit ihrem kupferfarbenen Haar und den großen grünen Augen mit den langen Wimpern.

Plötzlich sprang das Wesen auf den Felsen, als sei dies die einfachste Übung der Welt. »Wow!«, japste Piper. »Hat sie … Flügel?«, fragte Prue leise. »Flügel, Federn und Füße mit Schwimmhäuten«, flüsterte Piper zurück. »Die ganze Palette.« Fassungslos starrten sie auf die Kreatur mit dem Kopf einer Frau und dem Körper einer Möwe. Ihre Federn waren strahlend weiß, die Füße hellrot. Als das Wesen über den Felsen hüpfte, konnte Piper sehen, dass sein wacher Blick und die ruckenden Kopfbewegungen eindeutig vogelhaft waren. Tatsächlich war dieses Mischwesen weitaus weniger grotesk als die grauenvolle Harpyie in ihrem Wohnzimmer und doch um nichts Vertrauen erweckender. »Kopf einer Frau, Körper eines Vogels«, murmelte Piper. »Lebt am Meer … ich weiß, ich kenne diese Kreatur, aber ich komme gerade nicht drauf …« Während sie im Geiste fieberhaft ihr mythologisches Wissen durchforstete, kamen zwei weitere Vogelfrauen in Sicht, die mit einigen kräftigen Flügelschlägen neben ihrer Anführerin landeten. Ihr Haar war sandfarben, und sie sahen die Schwestern aus schwarzen Knopfaugen an. »Gut, sie greifen nicht an«, wisperte Prue. »Das ist doch ein gutes Zeichen, oder?« »Ich denke schon«, sagte Piper, doch sie fühlte sich nicht wohl bei dem Gedanken. Etwas an diesen Wesen flößte ihr Angst ein. Angestrengt presste sie ihre Hand an die Stirn und versuchte sich zu erinnern, mit wem oder was sie es hier zu tun hatten. In diesem Moment öffnete die Anführerin den Mund. Und da fiel es Piper wie Schuppen von den Augen.

Hastig ergriff sie den Arm ihrer Schwester. »Ich weiß, was sie sind«, rief sie. »Das sind Sirenen! Höre nicht auf ihr Lie…« Noch bevor sie den Satz zu Ende sprechen konnte, stimmte die Kreatur plötzlich einen hellen, unglaublich klaren Ton an. Er traf Piper mitten ins Herz, und sie spürte, wie eine Welle aus Glückseligkeit sie durchströmte. Es war der schönste Klang, den sie je vernommen hatte, auch wenn Worte oder so etwas wie eine Melodie fehlten. Er umfing sie wie die wärmste Umarmung der Welt, die zärtlichste Berührung, die sie je gespürt hatte. Und plötzlich waren ihre Angst, die Warnung an Prue, die Sorge um Phoebe wie weggeblasen. Wie in Trance wandte sie sich zu ihrer Schwester um. Der verzückte Ausdruck auf ihrem Gesicht verriet Piper, dass diese ebenso in den Bann der Musik gezogen war wie sie. Da kam Bewegung in die beiden anderen Vogelfrauen: Die eine zog eine Lyra unter ihrem Flügel hervor, die andere eine Flöte, die sie nun an ihre Lippen hob. Und die Töne, die sie diesen Instrumenten entlockten, waren von solch einer Schönheit und Harmonie, dass Piper es kaum ertragen konnte. Und doch wollte sie, nein, sie musste einfach mehr davon hören. Rasch ruderten sie die wenigen verbliebenen Meter zum Strand und zogen das Boot an Land. Dann gingen sie langsam auf die Sirenen zu. Das Lied wurde lauter und wundersamerweise auch immer lieblicher … Wie automatisch erklommen sie den Felsen und setzten sich nieder, wobei sie die Vogelfrauen unverwandt anblickten. Ich möchte, dass dieses Lied nie endet, dachte Piper. Ich möchte es mein ganzes Leben lang hören. Das Gefühl der Glückseligkeit war so überwältigend, dass sie die Augen schloss und sich hinlegte. Als sie noch einmal träge

blinzelte, sah sie, dass Prue dasselbe getan hatte. Piper fühlte sich plötzlich sehr leicht, fast schwerelos. Alle Spannung war aus ihrem Körper gewichen, alle Mühsal von ihr abgefallen, nichts war zurückgeblieben als purer Seelenfrieden.

Auf Zehenspitzen schlich Phoebe durch eine Reihe von steinernen Kammern und Hallen. Direkt nachdem sie aus ihrem Zimmer geflohen war, hatte sie sich verlaufen. Was ihr nur recht war. Sie hoffte, ihr düsteres Gefängnis nie wieder sehen zu müssen. Alles, was sie wollte, war, die Models zu finden und Nikos Horror-Refugium auf schnellstem Wege durch den Notausgang zu verlassen. Sie bog um eine Ecke nach der anderen und ließ Raum um Raum hinter sich. Plötzlich stellte sie fest, dass der Boden leicht abschüssig geworden war und mit jedem Schritt weiter abfiel. Dann und wann erreichte sie einen Torbogen und lugte vorsichtig um die Ecke. Doch dahinter lagen nur leere Schlafkammern, Speisesäle und Wohnzimmer. Der Palast war wie ausgestorben. Wo sind sie bloß alle?, fragte sie sich. Und wie soll ich jemals einen Weg hier herausfinden? Sie kämpfte die aufkeimende Panik nieder und konzentrierte sich wieder auf die Suche nach den Models. Wo würde Nikos sie verstecken? Hmmmmmm … Ihr Blick fiel auf den abschüssigen Steinboden. Natürlich! Dieser Weg muss in ein unterirdisches Verlies führen, schlussfolgerte sie. »Wobei dieser ganze Ort ein einziges Verlies zu sein scheint«, murmelte sie verbittert. Vorsichtig sah sie sich um, ob nicht eine der reptilienhaften Dienerinnen oder gar ein Mitglied der göttlichen Familie in der

Nähe war. Dann raffte sie den Rock ihres schweren Samtkleides zusammen und rannte los. Tiefer und tiefer lief sie dem unterirdischen Kerker entgegen. Sie hetzte um zahllose Ecken, wobei sie auf dem glatten Steinuntergrund immer wieder ins Schleudern geriet. Doch sie vermochte nicht gegen die Sorge und Angst in ihrem Innern anzukämpfen, also rannte sie noch ein bisschen schneller. Schließlich wurde der abschüssige Boden wieder ebener, und Phoebe erreichte eine große Halle. Sie war durch Fackeln, die an den Wänden befestigt waren, schwach erleuchtet. Zwischen den Halterungen konnte Phoebe Felsblöcke erkennen, die in bekannter Weise als Türen fungierten und offensichtlich den Zugang zu Zellen versperrten, genau wie bei ihrer Kammer. »Scheinbar haben die, die nicht in die göttliche Familie einheiraten werden, die dritte Klasse zugewiesen bekommen«, murmelte Phoebe. Wieder meldete sich ihr schlechtes Gewissen, als sie sich fragte, ob die Models wohl in diesen Zellen untergebracht waren. »Chloe?«, flüsterte sie und sah sich furchtsam um. Andererseits, dachte sie und straffte ihre Schultern, lebt Nikos' Sippe wahrscheinlich in einem ganz anderen Teil dieser unterirdischen Anlage. Wer außer seinen Gefangenen kann mich hier schon hören? »Chloe!«, rief sie lauter. »Madelaine? Kurt? Seid ihr hier?« Sie lauschte und hielt den Atem an. War da ein Geräusch gewesen? Ja, es klang fast wie das Wimmern eines Babys. Doch es schien so weit entfernt … »Chloe!«, schrie sie wieder. »Madelaine!«

Sie presste ihr Ohr an eine der Felstüren, und diesmal hörte sie es ganz deutlich. Ein verhaltenes Weinen und einen verzweifelten Ruf. »Hilf uns!« »O mein Gott«, presste Phoebe hervor. »Ich bin's! Phoebe! Ich bin hier unten. Ich hole euch da raus, das verspreche ich euch!« Doch dann lehnte sie ihre Stirn gegen die kalte Mauer und flüsterte: »Aber wie?« »Gute Frage, Phoebe.« Erschrocken wirbelte sie herum, und da stand Nikos nur wenige Meter von ihr entfernt und starrte sie aus rot glühenden Augen an. »Ich bin selbst in deine Kammer gegangen, um dich abzuholen, doch ich konnte dich nicht finden«, sagte er kalt. »Mein Vater gibt ein Bankett zu deinen Ehren, eine kleine Feierlichkeit vor der großen Feier. Meine ganze Familie mitsamt ihrem Gefolge ist anwesend und wartet auf dich.« Ach, dachte Phoebe. Dort hängen sie also alle rum. Kein Wunder, dass der Palast wie ausgestorben ist. »Stell dir nur meine Schmach vor«, zischte er sie wütend an. »Stell dir nur den Schmerz dieser Menschen vor, die du hier unten eingesperrt hast«, gab sie zurück und deutete auf die Zellen, in denen sie die Studenten vermutete. »Du hast mich hierher gelockt, also brauchst du sie nicht mehr. Ich bitte dich, kannst du sie nicht wieder zur Erde zurückschicken?« »Sei nicht naiv, Phoebe«, sagte Nikos. »Und wage es nicht, mich noch einmal deswegen zu belästigen. Ich habe dir wunderschöne Kleider geschenkt, dir das beste Essen servieren und deine schrecklichen Haare in Ordnung bringen lassen, und

wie dankst du es mir? Indem du hier herumschnüffelst? Was soll das? Wolltest du etwa fliehen?« Mit finsterer Miene starrte Phoebe zu Boden, doch Nikos kicherte nur. »Das wird nicht noch einmal passieren, bis du meinen Ehering an deinem Finger trägst, das verspreche ich dir«, grollte er. »Ich würde dich auf der Stelle hier unten einkerkern, wenn meine Familie nicht auf dein Erscheinen warten würde. Wir werden nun auf der Stelle zu diesem Fest gehen. Und morgen früh werden wir heiraten.« »Morgen?«, rief Phoebe entsetzt. »Aber dein Geburtstag ist doch erst …« »… in drei Tagen«, sagte Nikos. »Aber deine Renitenz macht es erforderlich, dass ich ein wenig umdisponiere. Bist du erst einmal meine Frau, gehörst du mir. Flucht ist dann unmöglich. Sofern der allmächtige Zeus nicht eingreift, etwas, das nahezu ausgeschlossen ist.« Er kicherte wieder und packte Phoebes Arm, wobei er seine Nägel schmerzhaft in ihr Fleisch grub. Sie schrie vor Angst, als sie fühlte, wie sich ihre Gestalt auflöste und verschwand. Als sie sich wieder schimmernd materialisierte, hielt Nikos sie noch immer fest. Sie standen in einem riesigen Foyer vor dem Eingang des imposanten Speisesaals, den sie bei ihrer Ankunft gesehen hatte. Stimmengewirr, das Klappern von Silber auf Porzellan und Gelächter drangen an ihr Ohr. »Wir gehen jetzt da rein. Und mach mir keine Schande«, zischte Nikos ihr zu, »oder ich lasse unsere Eheschließung auf der Stelle vollziehen.«

12 Prue wusste nicht, wie lange sie und Piper hier schon lagen und dem Gesang der Sirenen lauschten. Alles, was sie wusste, war, dass es nie aufhören möge. Doch genau dies geschah – die lieblichen Klänge brachen unvermittelt ab. Prue runzelte die Stirn. Wo war die Musik? Sie wollte sie unbedingt wieder hören. Ja, sie brauchte sie! Neben ihr protestierte Piper leise murmelnd vor sich hin. Offensichtlich erging es ihr nicht anders. Bitte, bitte, betete Prue, macht doch um Gottes willen weiter! Nichts auf der Welt kann mich je wieder glücklicher machen als dieses Lied. Doch die Musik setzte nicht wieder ein. Ungehalten und unter größter Anstrengung öffnete Prue die Augen und sah die Vogelfrauen fragend an. Die Kreaturen starrten zurück, doch ihre Münder waren fest verschlossen. Allerdings funkelten ihre Augen jetzt geradezu boshaft, und die Anführerin mit den roten Haaren wirkte am feindseligsten. Unruhig watschelte sie auf ihren roten Möwenfüßen hin und her und kam schließlich langsam auf Piper und Prue zu. Doch damit nicht genug: Unter einem ihrer weißen Flügel blitzte plötzlich ein Messer hervor! Prue versuchte zu schreien, aber irgendwie hatte das Lied sie in einen Zustand der Paralyse versetzt. Sie konnte kaum den Kopf heben, geschweige denn die Energie aufbringen, um Hilfe zu rufen. Sie stöhnte leise und versuchte sich zu bewegen. Muss … Piper warnen …

Die Sirene kam immer näher, wobei sie das Messer nun über ihren Kopf hielt. Prue spürte, wie das Grauen sie zu überwältigen drohte, zudem war sie noch immer so gut wie gelähmt. Lediglich ein Arm ließ sich ein wenig bewegen. Und sie hoffte inständig, dass dies reichen würde. Unter Aufbietung aller ihr verbliebenen Reserven konzentrierte sie ihre telekinetische Kraft und bewegte ihre Hand schwach in Richtung der Sirene. Und es funktionierte! Ein Strom aus Energie stieß die Kreatur zurück, sodass sie vom Felsen ins Meer stürzte. Ihr Wutschrei zerriss die Luft, und das Geräusch war so schmerzhaft und schrill, wie der Gesang überirdisch schön gewesen war. Das Geheul schlug in Prues Kopf ein wie ein Blitz und vertrieb dabei ein wenig diesen Nebel, der ihr Denken und Handeln blockiert hatte. Sie blinzelte und sah zu ihrer Schwester hinüber. Piper hielt sich die Ohren zu und kam gerade wacklig auf die Beine. »Prue«, keuchte sie. »Diese Sirenen … locken Seeleute in den Tod … mit ihrem hypnotischen Gesang. Sie werden uns … töten!« »Nicht, wenn ich es verhindern kann«, erklärte Prue kategorisch und erhob sich ebenfalls. Dann schickte sie Sirene Nummer zwei in die blauen Fluten. Doch da war die Anführerin schon wieder auf den Felsen zurückgeflogen – sie hielt noch immer das Messer und kam rasend schnell auf sie zu. »Piper!«, rief Prue.

Und Piper nickte und hielt die Zeit an. Die Anführerin und die dritte Sirene froren auf der Stelle ein. »Weg von hier!«, schrie Prue, und dann stolperten sie mit noch immer weichen Knien den Felsen hinab und den Strand entlang. Ihr Ziel war ein dichter Hain aus tropischem Gehölz, der in etwa zwanzig Meter Entfernung vor ihnen lag. »Ich fühle mich so schwach«, schnaufte Piper und sah sich ängstlich um. »Geh … einfach … weiter«, presste Prue hervor, doch dann trat sie gegen einen Stein und stürzte. Piper blieb stehen und half ihrer Schwester auf. In diesem Moment drang das grauenhafte Kreischen der Sirenen über den Strand. »Die Zeit läuft wieder weiter«, sagte Prue, die sich mit jedem Schritt kraftvoller fühlte. »Wie geht's dir, Piper?« »Ein bisschen besser«, erwiderte Piper und schüttelte heftig den Kopf. »Mir auch«, sagte Prue. »Ich glaube, wir können sie abhängen.« Sie schlugen einen Haken und rannten auf das dichte Unterholz des tropischen Hains zu. Sie hatten das Wäldchen fast schon erreicht, als Piper plötzlich spürte, wie etwas ihre Wange streifte. Sie keuchte vor Schreck, als sie sah, wie das Messer der Anführer-Sirene vor ihr in den Sand fiel. Es hatte sie nur um Millimeter verfehlt! Entsetzt wirbelte sie herum. Die rothaarige Vogelfrau stand nur wenige Schritte von ihnen entfernt und kreischte vor Wut. Ihre beiden Begleiterinnen waren ebenfalls da und hatten Lyra und Flöte gegen scharfe Dolche eingetauscht. Sirene Nummer zwei reichte ihre Waffe nun der Anführerin, die den Dolch erhob, um ihn auf sie zuzuwerfen.

Ohne lange zu überlegen, griff Piper in den Bund ihrer Leggins und holte den silbernen Brieföffner hervor, der eigentlich für Charon bestimmt war. Dann holte sie weit aus und schleuderte das Erbstück in Richtung der rothaarigen Sirene. Was sie nicht zu hoffen gewagt hatte, trat ein: Der Brieföffner fuhr direkt ins Herz der teuflischen Kreatur! Grünes Blut ergoss sich über weiße Federn, und mit einem letzten ohrenbetäubenden Kreischen fiel die Sirene tot in den Sand. Ihre beiden Begleiterinnen stimmten daraufhin ein schreckliches Geheul an und breiteten klagend und schreiend die Schwingen über ihre Anführerin. In diesem Moment hielt Piper erneut die Zeit an. »Lass uns von hier verschwinden, bevor sie sich an uns rächen!«, rief sie Prue zu. Glücklicherweise waren sie nun wieder so weit bei Kräften, dass sie den Rest des Weges rennend zurücklegen konnten. Rasch hatten sie das Wäldchen erreicht und schlugen sich hastig einen Weg durch das dichte Unterholz. »Ich glaube nicht, dass sie uns folgen«, keuchte Piper. »Wahrscheinlich können sie nicht durch die dicht stehenden Bäume fliegen.« »Wie dem auch sei«, meinte Prue, während sie gerade einen Farn niedertrampelte, »ich möchte so viele Meter wie irgend möglich zwischen uns und diese Biester legen. Unglaublich, welche Macht ihre Musik auf uns ausgeübt hat.« »Die Sage berichtet, dass nur die willensstärksten Seeleute ihrem wunderbaren Gesang widerstehen konnten. Odysseus ließ sich deshalb sogar an den Mast seines Schiffs fesseln und die Ohren mit Wachs verstopfen«, berichtete Piper, als sie einen kleinen Bach durchquerten. »Gott sei Dank konnten wir ihnen entrinnen!« »Ich vermute, nur die willensstärksten Hexen sind dazu im Stande«, sagte Prue grinsend, als sie einen morastigen Weg

entlangeilten. Plötzlich hielt sie abrupt inne. »Piper!«, rief sie aufgeregt. Piper, die mit gesenktem Blick vor ihr hergetrottet war, drehte sich zu ihrer Schwester um. »Sieh dich doch mal um«, sagte Prue. »Ich glaube, wir befinden uns wieder auf Nikos' lieblichem Grund und Boden!« Piper blickte um sich und musste der Schwester zustimmen. Ohne dass sie es bemerkt hatten, hatte sich das Terrain von üppigem, tropischem Grün zu braunem, leblosem Sumpfland gewandelt. An die Stelle der frischen Meeresbrise war das altbekannte nasskalte, neblige Klima getreten. Die Bäume hatten ihre Blätter verloren, Holz und Wurzelwerk waren tot und schwarz. »Halte nach dem Berg Ausschau!«, sagte Piper. »Du erinnerst dich: Der Eingang zu Nikos Höhlenpalast war am Fuß eines hohen zerklüfteten Gebirges.« Suchend liefen sie weiter durch den toten Wald, bis Prue plötzlich »Da ist es!« rief und nach links deutete. Und tatsächlich, durch den Nebel waren schwach die Umrisse eines in den Himmel ragenden Massivs zu erkennen. »Das muss es sein.« »Und sieh mal hier«, sagte Piper und zeigte zu Boden. »Da ist auch der Fluss, der uns beim letzten Mal zur Höhle geführt hat.« »Phoebe, wir kommen!«, rief Prue triumphierend.

Erschöpft saß Phoebe auf dem vergoldeten Stuhl und versuchte die Augen offen zu halten.

Das Bankett dauerte nun schon viele Stunden, doch niemand der Geladenen zeigte auch nur die geringsten Ermüdungserscheinungen. Weinglas um Weinglas wurde geleert, Gang um Gang aufgetischt und unablässig über Nichtigkeiten getratscht und gelacht. Jessica hatte nicht übertrieben, als sie behauptet hatte, das Leben im Hades sei wie eine Party. Und fatalerweise schien es einzig und allein daraus zu bestehen, was Phoebe entsetzlich öde fand. Einige der ausnahmslos schwarz gelockten Partygäste hatten versucht, sie in ein Gespräch zu verwickeln. Doch nachdem sie nicht darauf reagiert und einfach geschwiegen hatte, hatten sie sich schulterzuckend wieder abgewandt. Von da an war es, als ob sie nicht mehr existierte; man sah durch sie hindurch und unterhielt sich über ihren Kopf hinweg. Runde zwei in der Schlacht mit der lieben Verwandtschaft, hatte sie gedacht und die Augen verdreht. Verstohlen warf sie einen Blick auf den Mann, der am Kopf des Tisches saß und der Hades, der Gott der Unterwelt, sein musste. Phoebe erkannte in seinem Gesicht Nikos' dunkelblaue Augen und die ausgeprägte Mundpartie wieder. Auch er hatte tiefschwarze Locken, in denen jedoch die eine oder andere silberne Strähne zu entdecken war. Er war groß gewachsen und beeindruckend, und mit Schrecken wurde ihr bewusst, was für ein mächtiger Gott er doch war. Dennoch wirkte er genauso oberflächlich wie jedermann auf diesem Bankett, zu sehr mit sich und seinem Amüsement beschäftigt, um seine zukünftige Schwiegertochter auch nur wahrzunehmen. Er lachte, aß und trank viel, schäkerte mit den Schlangenmädchen, und bald wandte sich Phoebe angewidert ab. Tatsächlich wanderte ihr Blick immer überquellenden Platten und Schüsseln, die Saftige Rinderlendenstücke, Kartoffeln, die ertranken, und andere Köstlichkeiten lachten

wieder zu den vor ihr standen. in Butter schier sie an. Wie auch

die knusprigen Brötchen auf ihrem Vorspeisenteller, die saftigen Früchte, die sich aus Füllhörnern auf das weiße Tischtuch ergossen, und das Glas mit edlem Wein, das neben ihr stand. Phoebe seufzte und sah zu Nikos hinüber, der nur wenige Plätze von ihr entfernt saß. Sie war so unsagbar müde und hungrig, dass sie nicht wusste, wie sie diesen Abend überstehen sollte. Um einfach nur ihre Hände zu beschäftigen, griff sie nach einem der Granatäpfel aus dem Füllhorn vor sich und rollte ihn zwischen ihren Fingern hin und her. Sie liebte diese edle Frucht, seit sie ein kleines Mädchen war und Großmutter sie zu den Erntedankfesten serviert hatte. Es war ihr jedes Mal eine große Freude gewesen, sie mit den bloßen Fingern zu schälen, um an die glatten, glänzenden Kerne zu gelangen, deren Saft einfach köstlich schmeckte und die Lippen hellrot färbte. Langsam und ohne dass sie es bewusst registrierte, begann sie die Schale des Granatapfels abzupuhlen, bis sie die weiße Membran darunter freigelegt hatte, um schließlich die rot schimmernden Kerne daraus zu befreien. Wie hübsch sie doch sind, dachte sie. Sie sehen aus wie Rubine. Fast wie die dreieckigen Edelsteine in meinem Verlobungsring … Da entfuhr ihr ein leises Schluchzen. Der Ring an ihrem Finger schien mit diesem fest verwachsen zu sein, warum sich also nicht mit der Tatsache abfinden? Sie würde den Rest ihres fortan sinnentleerten Lebens an diesem kalten, schrecklichen Ort mit diesen stumpfen Leuten verbringen. Es gab keine Hoffnung, und es gab keine Möglichkeit zur Flucht, nicht, wenn sie von Minute zu Minute schwächer wurde, weil sie so unsagbar hungrig war …

Wie in Trance begann Phoebe die Kerne aus der Frucht zu pflücken und sie auf das weiße Tischtuch fallen zu lassen. Sie sahen so appetitlich, so saftig aus … Langsam hob sie einen der Kerne an ihre Lippen. »Phoebe! Nein!« Phoebe hielt inne und sah erstaunt auf. Wo war diese Stimme hergekommen? Rasch flog ihr Blick von einem Gast zum anderen, aber niemand schaute auch nur in ihre Richtung. Sämtliche Anwesenden waren nach wie vor in ihre geistlosen Gespräche vertieft, tranken Wein und taten sich an Fleisch und Suppe gütlich. Litt sie womöglich schon an den Folgen ihrer Hungerei und hatte Halluzinationen? »Hinter dir!« Phoebe erstarrte; dann drehte sie sich langsam um. Und tatsächlich – hinter der mächtigen Rückenlehne ihres Stuhls hockte ihre Schwester Piper auf dem Boden! »Piper«, flüsterte Phoebe fassungslos und ergriff unauffällig die Hand ihrer Schwester. Tränen traten in ihre Augen, als sie sagte: »Ich dachte, ich würde dich niemals wieder sehen …« »Hast du etwas gegessen, seit du hier bist?«, fragte Piper hastig. »Wo denkst du hin?«, wisperte Phoebe zurück. »Ich bin im Hungerstreik. Warum?« »Gott sei Dank!«, entfuhr es Piper, in deren Augen ebenfalls Tränen glitzerten. »Okay, wir hauen jetzt hier ab. Prue steht hinter der Tür«, sagte sie und nickte in Richtung Eingang. »Wir haben uns hier eingeschlichen«, fuhr sie fort. »Das war einfach, auch, weil sich offensichtlich niemand hier um dich zu kümmern scheint. Sehr merkwürdig.«

»Das liegt wahrscheinlich daran, weil ich hier noch nichts zu mir genommen habe«, erklärte Phoebe mit leiser Stimme. »Ich glaube, die ganze Sippe ist irgendwie verhext. Essen scheint aus ihnen geistlose Geschöpfe zu machen, die nur auf ihr persönliches Vergnügen und Party aus sind. Ich gehöre praktisch noch gar nicht dazu. Ist das nicht komisch?« »In der Tat, und das aus dem Munde des Mädchens, das jeden Club in San Francisco kennt«, sagte Piper grinsend. »Wie dem auch sei, wenn du jetzt aufstehst und ganz langsam und unauffällig zur Tür hinausspazierst, wird das vermutlich niemandem auffallen. Ich konnte sogar unbeobachtet bis zu deinem Stuhl kriechen, ohne dass jemand Notiz davon genommen hat.« »Alles klar«, sagte Phoebe, als sich ihre Schwester wieder langsam zurückzog. Verstohlen sah sie in die Runde, doch nichts hatte sich geändert – die Atmosphäre war noch immer erfüllt von bedeutungslosen Gesprächen und alkoholisiertem Gelächter. Unweit von ihr stieß Nikos gerade mit einem der Schlangenmädchen an und knabberte an dessen Ohrläppchen. Pfui Teufel, dachte Phoebe. So sehen also seine letzten Stunden als Junggeselle aus. Was soll's? Von mir aus kann er ewig damit weitermachen – ich verabschiede mich ja sowieso jetzt. Langsam schob sie ihren Stuhl zurück und glitt von der Sitzfläche. Dann hob sie den Saum ihres langen Kleides und kauerte sich auf den Boden. Langsam kroch sie Meter um Meter durch den langen Speisesaal, bis sie endlich die Tür erreicht hatte. Mit einem letzten Blick zurück auf das dekadente Gelage huschte sie aus dem Raum und fiel direkt in Prues warme Umarmung. »O Prue«, schluchzte sie. »Es ist so schrecklich. Nikos will mich zwingen, seine Frau zu werden. Sein Vater hat verfügt,

dass er, wenn er nicht bis zum fünfzehnten August verheiratet ist, auf die Erde verbannt werden wird und seine ganzen Kräfte verliert.« »Was ist denn am fünfzehnten August?«, fragte Prue und streichelte ihrer Schwester zärtlich über die schwarzen Locken. »Sein fünfundzwanzigster Geburtstag«, erklärte Phoebe. »Wir müssen auf der Stelle von hier verschwinden. Die Hochzeit soll nämlich schon morgen stattfinden – Nikos hat etwas umdisponiert.« »Alles wird gut«, flüsterte Prue und drückte ihre Schwester fest an sich. »Wir werden bald von hier verschwunden sein. Doch zuvor müssen wir wissen, wo dieser Teufel die Models versteckt, und sie mitnehmen.« Phoebe nickte. »Sie sind im Kerker«, sagte sie. »Ich hoffe, du kannst mit deiner Kraft die Tür aufbrechen.« »Lasst uns gehen«, sagte Prue. »Zeig uns den Weg, Phoebe.« Gerade als die Schwestern im Begriff waren, aus der Halle zu verschwinden, flackerte plötzlich eine Gestalt vor ihnen auf. Es war Nikos, der noch immer sein Weinglas in der Hand hielt. Mit schneidender Stimme wandte sich der verderbte Prinz an seine Verlobte: »Ich habe dich gewarnt, Phoebe!«, schrie er und schleuderte sein Glas zu Boden. Dann hob er eine Hand und wollte Phoebe ins Gesicht schlagen. Doch bevor er ihre Wange berühren konnte, wurde er so hart zurückgeschleudert, als ob er mit einer Gummiwand kollidiert wäre. Erstaunt öffnete Nikos den Mund. Dann ging er wieder auf Phoebe los, doch sein Arm wurde wie von Zauberhand brutal zurückgerissen.

»Was …?«, presste er hervor. »Das ist Zeus' Werk«, erklärte Piper und zog ihre Schwester zu sich. »Er hat bestimmt, dass Phoebe frei ist. Sie steht unter seinem Schutz. Wie wir alle. Und wir werden sie jetzt wieder mit nach Hause nehmen.« »Was … nein … das kann nicht sein!«, bellte Nikos. »Doch, kann es«, gab Prue scharf zurück. »Also finde dich damit ab.« Nikos stieß einen Wutschrei aus, und seine roten Augen glühten hell auf in seinem dunklen Gesicht. Doch plötzlich verstummte er, und ein böses Grinsen spielte um seine Lippen. »Also gut, ihr könnt sie wiederhaben«, sagte er und verschränkte die Arme vor der Brust. »Aber ich habe immer noch eure wunderschönen Freunde. Fünf Unschuldige, die einer nach dem anderen sterben werden, bis Phoebe endlich einwilligt, mich zu heiraten.«

13 Nachdem Nikos seine ungeheuerliche Drohung ausgestoßen hatte, klatschte er in die Hände, und schon kamen drei Schlangenmädchen herbeigehuscht und flankierten den Prinz der Unterwelt. »Holt die Gefangenen«, befahl Nikos. »Sofort.« Die Dienerinnen verschwanden, um sich eine Sekunde später wieder an Ort und Stelle zu materialisieren – und die fünf Models waren bei ihnen. Obwohl es sich nur um ihre Seelen handelte, die im Hades gefangen waren, sahen sie sehr mitgenommen aus. Chloes hohe Wangenknochen ragten schärfer denn je aus ihrem nun eingefallenen Gesicht hervor, und Kurts muskulöse Arme wirkten irgendwie abgemagert und schlaff. Sie alle waren derangiert und schmutzig und zitterten vor Angst und Kälte in ihren zerrissenen griechischen Kostümen. Eng standen sie beieinander und blickten Nikos furchtsam an. Als Chloe die drei Schwestern entdeckte, stieß sie einen Schrei aus und rief: »Wo seid ihr gewesen?« Nikos ging zu dem Mädchen hinüber, schlang seinen Arm um ihre Taille und zerrte sie von der Gruppe weg in die Mitte der Halle. »Du weißt, Chloe«, sagte er, »ich mag dich nicht. Du meckerst zu viel.« Mit diesen Worten zog er ein Messer unter seinem Samtanzug hervor und hielt es Chloe an die bleiche Kehle. »Hilfe!«, schrie das Mädchen entsetzt auf und begann zu weinen.

Automatisch hob Piper die Hand, als ihr einfiel, dass ihre Magie bei Nikos nicht funktionierte. Prue ging in Kampfstellung, bereit, auf seine leiseste Bewegung zu reagieren, als der Prinz die Klinge wieder sinken ließ. »Nein«, sagte er. »Ich werde sie nicht selbst töten. Eine solche Tätigkeit ist unter der Würde eines Prinzen. Dafür habe ich meine Schergen.« Er schnippte mit dem Finger, und gleich darauf materialisierte sich eine weitere Gestalt im Foyer: ein mächtiger Dämon mit breiten Schultern, schuppiger grüner Haut und einem langen stacheligen Schwanz, der gefährlich hin und her peitschte. »Mitchell!«, entfuhr es Prue. »Mitchell?«, platzten Piper und Phoebe gleichzeitig heraus und starrten den unfassbar abstoßenden Dämon fassungslos an. »A … Aber«, stotterte Piper. »Du bist doch …« »Gütiger Gott der Unterwelt«, ächzte Nikos und verdrehte die Augen. »Ihr Mädchen seit wirklich nicht die Hellsten, was? Kaum taucht ein heißer Typ auf, schon seid ihr hoffnungslos verloren. Ihr könnt einen Dämon ja nicht mal von Matt Damon unterscheiden!« »Hey!«, schnarrte Mitchell und verzog seine schwarzen Lippen zu einer bösen Grimasse. »Wie wär's mit einer kleinen Anerkennung dafür, dass ich die drei so herrlich hinters Licht geführt habe?« »Schon gut, war nicht so gemeint«, sagte Nikos und seufzte. Dann lehnte er sich mit dem Rücken gegen die Wand, verschränkte die Arme und gab Mitchell ein Zeichen. »Also gut«, sagte er. »Auf geht's! Du tötest die Blonde zuerst, es sei denn, Phoebe hält sich an unsere Abmachung.«

»Nein!«, schrie Phoebe. »Lass Chloe in Ruhe!« »Dann heirate mich«, befahl Nikos. Gehetzt sah Phoebe von Nikos zu Chloe und dann zu ihren Schwestern. Was sollte sie bloß tun? Das unschuldige Leben retten und damit die Macht der Drei auf immer zerstören? Das wiederum würde das Leben zahlreicher Menschen kosten, die ihre Dienste in Zukunft brauchen würden. Sollte sie Chloe opfern, um wieder zurück auf die Erde zu kommen? Nein! Das konnte sie auf keinen Fall tun. In ihrem Kopf überschlugen sich die Gedanken. »Prue, Piper«, wisperte sie verzweifelt, »helft mir doch!« Prue sah zu Mitchell, der die vor Angst schluchzende Chloe bedrohte. Sie musste irgendetwas unternehmen, aber was? »Hey!«, rief sie Mitchell zu, und das Monster drehte sich zu ihr um. »Du bist wirklich schnell beleidigt, das muss man dir lassen«, höhnte sie. »Und weißt du was? Du bist der jämmerlichste Dämon, der mir je untergekommen ist. Du wirst es nie mit mir aufnehmen können.« Sie wandte sich ihren Schwestern zu. »Ihr müsst wissen, ich hab diesen Loser mit seinem eigenen Schwanz zur Strecke gebracht. Ist das nicht zum Schreien?«, kreischte sie und brach in wahnsinniges Gelächter aus. Piper und Phoebe fielen nervös kichernd mit ein. »Was hat sie vor?«, fragte Phoebe leise, während sie den Mund zu einem breiten Grinsen verzog. »Keine Ahnung«, murmelte Piper kichernd zurück. »Einfach mitmachen!«

Offensichtlich fand Mitchell dies alles weniger komisch. Drohend machte er einen Schritt auf Chloe zu. »Und besonders gut küssen kannst du im Übrigen auch nicht«, fuhr Prue schnell fort. »Außerdem bist du ein ziemlicher Langeweiler. Wenn du mich nicht verhext hättest, wäre ich bei unseren Treffen aus dem Gähnen nicht mehr rausgekommen.« Mitchell fuhr so abrupt herum, dass der Sabber aus seinem hässlichen Maul durch die Luft flog. »Ach, wirklich? Auf mich hast du aber ziemlich beeindruckt gewirkt«, krächzte er und funkelte sie böse an. »Dass ich nicht lache!«, rief Prue. »Du glaubst doch nicht im Ernst, dass ich je auf so einen erbärmlichen Journalisten wie dich reinfallen könnte. Deine Schreibe ist zum Kotzen, und deine Recherchemethoden spotten jeder Beschreibung!« Das reichte. Mitchell ließ von Chloe ab und stieß einen unmenschlichen Schrei aus. Dann wirbelte er herum und stürmte auf Prue zu. Sein heißer Atem schlug ihr ins Gesicht, als er seine Klauen nach ihr ausstreckte – es war ganz wie bei ihrem letzten Zusammentreffen in Halliwell Manor. »Du hast ja überhaupt keine Ahnung, wovon du sprichst«, keuchte er. »Keine Sorge, ich weiß genau, wovon ich spreche«, gab Prue zurück. »Du hast deine Seele an den Prinz des Hades verkauft. Und als Gegenleistung machst du hier den Fußabtreter und Schergen, nur damit du auf Erden beim National Geographic glänzen kannst, dem, ähem, Höhepunkt deiner Karriere.« Empört schnaubte Mitchell auf, und seine Augen begannen rot zu glühen. Prue wusste, dass ihre Taktik richtig war. Mitchell mochte seine Seele verkauft haben, aber er hatte zweifelsohne seinen Stolz behalten. Seine Arbeit war seine Achillesferse.

»Ich weiß, warum dich das ärgert«, fuhr sie fort. »Du bist kaum mehr als ein mittelmäßiger Lohnschreiber, und mit Talent und Inspiration ist es bei dir nicht weit her. Ohne Nikos wärst du nichts!« Wütend heulte Mitchell auf und schlug Prue gegen den Unterkiefer. »Prue!«, riefen Piper und Phoebe wie aus einem Munde und wollte ihr zu Hilfe eilen. Doch Prue hob abwehrend die Hände. »Das ist mein Gefecht«, murmelte sie und rieb sich das schmerzende Kinn. »Ist es nicht wieder typisch?«, knurrte Mitchell. »Das kleine Fräulein Perfekt hat wieder mal alles im Griff, alles unter Kontrolle. Denn alles ist ja so einfach für dich, nicht wahr?« »Eifersüchtig?«, fragte Prue. Wieder schlug Mitchell nach ihr, doch Prue war so in Rage, dass sie den Hieb kaum spürte. »Du liebe Güte«, sagte sie, »ist das alles, was du draufhast?« Das war der Punkt, an dem Mitchell sich vergaß und wie rasend auf sie losging. Doch indem sie ihre eigene Wut konzentrierte und in perfekte Kampftechnik wandelte, vermochte sie sich geschickt unter seinen Schlägen hinwegzuducken, blockte sie ab und konterte ihrerseits mit gezielten Attacken. Gnadenlos schlug und trat sie Mitchell in die Seite, gegen die Beine und in die Magengegend. Nur wenige Sekunden später hatte sie ihn in der Defensive. Und das war auch der Moment, in dem sie die schweren Geschütze auffuhr. »Frier ihn ein!«, schrie sie Piper zu, und die Schwester tat, wie ihr geheißen. Mit hoch erhobenen Händen stand das Mitchell-Monster reglos in der Halle. Offensichtlich

hatte Zeus dafür gesorgt, dass die Schwestern bei der Befreiung von Phoebe auf ihre Kräfte zurückgreifen konnten. Sofort nutzte Prue ihre Fähigkeit, um ihn gegen die Steinwand zu schmettern. Die Wucht des Aufpralls hob Pipers Bann wieder auf – Mitchell schüttelte den Kopf und schaute verwirrt auf. »Wie bin ich hierher gekommen?«, grunzte er. »Noch mal!«, befahl Prue. Wieder feuerte Piper einen Frostschlag gegen Mitchell, und Prue schleuderte den Regungslosen gleich darauf gegen die Mauer. Sie wiederholten das brutale Spiel noch zweimal. Als Prue zum dritten Mal »Noch mal!« schrie, hob Mitchell seine enormen Klauen. »Nein!«, rief er. »Bitte, ich kann nicht mehr!« »Was?« Das war Nikos, der das Ganze mit Belustigung verfolgt hatte. Doch nun schien er ob des Verlaufs der Dinge ein wenig ungehalten zu sein. »Du bist mein Dämon!«, bellte er Mitchell an. »Du tust, was man dir befiehlt. Und jetzt töte das Mädchen.« »Piper …«, sagte Prue. »Nein!«, schrie Mitchell. »Frier mich nicht wieder ein. Ich kann … kann nicht.« Mit diesen Worten brach er auf dem Boden zusammen und barg seinen scheußlichen Kopf unter den Klauen. »Besiegt von Frauen?«, gellte Nikos' Stimme durch die Halle. »Du wertlose Kreatur!« »Du hättest mir zur Seite stehen können«, beschwerte sich Mitchell und sah seinen Meister vorwurfsvoll an.

»Wie ich bereits sagte, ein Kampf Mann-gegen-Mann ist unter meiner Würde. Das ist der Job eines Dämons«, zischte Nikos. »Außerdem wollte ich sehen, ob du was taugst. Nun weiß ich, dass ich für dich keine Verwendung mehr habe.« »Was?«, schrie Mitchell. »Aber wir haben doch ein Abkommen!« Eilig kroch er auf seinen Herrn zu und berührte ihn am Knie. »Bitte, bitte, töte mich nicht«, heulte er. »Wir haben doch ein Abkommen.« »Bitte«, murmelte Nikos angewidert, »dein unwürdiges Leben ist nicht in Gefahr. Allerdings ist unser Abkommen null und nichtig.« Mit diesen Worten bewegte er eine Hand in Richtung seines Schergen, der daraufhin in seine menschliche Gestalt zurücktransformiert wurde. Doch jegliche Attraktivität, sämtlicher Charme waren von ihm abgefallen, als der so erniedrigte Mitchell nun vor Angst zitternd und mit hassererfüllter Miene vor ihnen stand. »Ich … ich verstehe nicht«, sagte er. »Ich entlasse dich hiermit aus den Diensten im Hades«, sagte Nikos ungeduldig. »Du kehrst zurück auf die Erde – als Mensch. Sterblich und langweilig.« »A … Aber«, stotterte Mitchell, »was ist mit meiner Karriere?« »Sieh zu, wie du sie mit menschlichem Vermögen bewältigst«, knurrte Nikos. »Ich jedenfalls habe dich gründlich satt.« Sprach's und zeigte mit dem Finger auf seinen ehemaligen Diener, der sich daraufhin in einem hellen Blitz aus der gemütlichen Runde verabschiedete. Angewidert schüttelte Nikos den Kopf und zog sein Messer wieder hervor. »Ich fürchte, ich muss mich selbst darum

kümmern«, sagte er. »Wirklich nicht einfach, heutzutage gutes Personal zu kriegen.« Er stampfte auf Chloe zu, packte sie und fuchtelte mit dem Messer vor ihrer Nase herum. Er kicherte, als die Studentin vor Entsetzen aufschrie. »Phoebe«, jammerte das Mädchen. »Bitte …« »Ja, Phoebe«, sagte Nikos, »du solltest dich langsam mal entscheiden. Was sagst du? Deine Hand … oder Chloes Leben?« Unter Tränen öffnete Phoebe den Mund. Sie konnte es nicht zulassen, dass ein anderer Mensch ihretwegen sein Leben lassen sollte. Und genau das musste sie Nikos mitteilen. Sie warf ihren Schwestern einen Blick des Bedauerns zu und wandte sich dann an Nikos. Sie schluckte schwer. »Verleih uns die Kraft, zu lösen das Band, vom Leben geknüpft mit ewiger Hand!« Das war Prue, die diese Zeilen angestimmt hatte. Zeitgleich wirbelten Phoebe und Nikos zu ihr herum. »Was ist das?«, Abschiedsgedicht?«

schnarrte

der

dunkle

Prinz.

»Ein

»Wenn du es so nennen willst«, gab Prue zurück, als sie ein zerknittertes Stück Papier aus der Tasche ihrer Shorts zog. »Verleih uns die Kraft, zu lösen das Band, vom Leben geknüpft mit ewiger Hand, und führe uns weiter in der Zeit, wo es hat sein Ende – wir sind bereit!« Verwirrt schüttelte Phoebe den Kopf. Dieses Poem kam ihr irgendwie bekannt vor. Und dann fiel es ihr wieder ein. Das ist

kein Gedicht, dachte sie, sondern ein Zeitreisespruch. Aber zu welchem Zweck? Auch Piper sah ihre ältere Schwester verständnislos an, wiewohl auch sie die Worte wieder erkannte. Ich glaube, das ist Phoebes Zeitreisespruch, dachte sie. Aber … zu welchem Zweck? Während sie die Verse intonierte, sah Prue ihre Schwestern durchdringend an. Vertraut mir, schienen ihre Augen zu sagen. Und: Helft mir! Dann sprach sie den Spruch ein weiteres Mal, und Phoebe fiel mit klarer, kräftiger Stimme ein. Sofort schloss sich Piper ihnen an. »Was tut ihr da?«, schrie Nikos. Er stieß Chloe aus dem Weg und eilte auf Prue zu. »Was immer es ist, ich rate euch, hört auf damit. Es wird euch sehr, sehr Leid tun, wenn ihr meine Pläne zu durchkreuzen versucht.« Ungeachtet dieser Drohung schloss Prue die Augen. Ich muss den Spruch zu Ende bringen, dachte sie, als ihre Schwestern und sie die Worte ein drittes Mal wiederholten. »Verleih uns die Kraft, zu lösen das Band …« »Es reicht!«, schrie Nikos und rannte wieder zu Chloe zurück. »… vom Leben geknüpft mit ewiger Hand …« »Ich werde sie jetzt töten«, verkündete er. »… und führe uns weiter in der Zeit …« Er hob die Klinge. »… wo es hat sein Ende – wir sind bereit!« Plötzlich wehte ein kräftiger Wind durchs Foyer, der die Sterblichen fast zu Boden drückte und Nikos das Messer aus der Hand riss.

»Verdammt!«, schrie er völlig außer sich. Sein Blick suchte und fand das Messer, und er versuchte es mittels seiner Kräfte wieder in seine Hand zu bekommen. Doch die Klinge rührte sich nicht, schien mit dem Boden wie verwachsen. »Was soll das?«, zischte Nikos. Dann straffte er sich und schloss die Augen. Phoebe, die ihn dabei beobachtete, wusste, was er vorhatte: Er wollte sich von einem Ort zum anderen projizieren. Doch auch dies misslang. »Mei… meine Kräfte«, heulte Nikos auf. »Ich versteh …« »Wie doch die Zeit vergeht«, sagte Prue beiläufig und warf einen Blick auf ihre Armbanduhr. »Kaum zu glauben, dass wir schon den fünfzehnten August haben.« »Mein Geburtstag!«, rief Nikos entsetzt. »Wie kann das sein?« »Zeitreisespruch«, erklärte Phoebe knapp. »Eine alte halliwellsche Tradition. Wir sind soeben zwei Tage in die Zukunft gesprungen.« »Nein!«, rief Nikos aus und ruderte wild mit den Armen durch die Luft, um seine Magie doch noch irgendwie zu befehligen. »Das ist nicht möglich!« »Sony, die Sache ist schon gelaufen«, sagte Phoebe nicht ohne Häme. »Was hast du mir damals noch gleich gesagt? Warte, ich glaube, der exakte Wortlaut war: ›Der Countdown für den Fluch meines Vaters hat schon begonnen. Wenn am Morgen meines fünfundzwanzigsten Geburtstags kein Ring an meinem Finger steckt, schickt er mich auf der Stelle … nach oben.‹ Ich fürchte, du bist verdammt zu einem öden Leben ohne magische Kräfte unter ganz normalen Sterblichen.«

Geschlagen sank Nikos auf die Knie. Er zitterte vor Furcht und Wut. »Nein«, keuchte er. »Das kann nicht sein.« »Komm schon, Nikos«, sagte Prue und trat auf ihn zu. »Nimm es wie ein Mann und sieh zu, wie du das Leben auf der Erde mit menschlichem Vermögen bewältigst, um es mit deinen Worten zu sagen. Wir sehen uns dann dort!« Sie schnippte mit den Fingern, wie Nikos es immer zu tun pflegte, und er erhob sich in die Luft wie ein Papierdrache. Dann löste sich seine Gestalt auf, und er wurde in einem Strahl aus Licht aus den Sphären des Schattenreichs auf die Erde transformiert – wie bereits Mitchell vor ihm. Zögernd warf Phoebe einen Blick in den riesigen Speisesaal. »Unglaublich, jetzt feiern die schon vier Tage ohne die geringsten Ermüdungserscheinungen«, murmelte sie. »Lasst uns schleunigst von hier verschwinden, bevor jemand merkt, dass der Sohn des Gastgebers nicht mehr unter ihnen weilt.« Rasch nahmen die Schwestern die völlig verängstigten Models bei den Händen und führten sie hinaus aus dem unterirdischen Felsenpalast in den düsteren Hades. Von dort hatten sie nun ihren langen Rückweg durch die toten Wälder und das öde Sumpfland zurückzulegen. »Ich schlage vor, wir verlassen diesen heimeligen Ort durch den Vordereingang«, sagte Prue. »Mir ist der gute, alte Charon allemal lieber als diese grässlichen Sirenen, zumal wir immer noch sein Fährgeld bei uns tragen.« Sie wühlte in der Tasche ihrer Shorts und zog das hübsche Perlmutttintenfass hervor. »Unser Problem sind die Models«, flüsterte ihr Piper im Gehen zu und warf einen Blick auf die mürrischen Schönheiten,

die sich schon die nackten Füße blutig gelaufen hatten. »Meinst du, sie können diesen Fährmann ertragen?« »Glaube mir«, ließ sich Phoebe vernehmen, »das schaffen die schon. Die große Frage ist, werden wir ihre zu erwartenden Nörgeleien und Beschwerden überleben?« »Ist es zu glauben?«, drang da wie aufs Stichwort Chloes Stimme an ihre Ohren. »Da hält man uns zwei Tage dort fest, und nicht ein einziges Magazin weit und breit! Von den primitiven Badezimmern ganz zu schweigen …« »Oje«, sagte Prue lachend. »Vorwärts, Leute. Das wird wahrlich ein Höllentrip.« »Aber wenigstens unternehmen wir ihn gemeinsam«, sagte Phoebe und lächelte ihren Schwestern dankbar zu. »Wir haben die Macht der Drei zurück. Was brauchen wir mehr?«

14 J

» emand zu Hause?«, rief Prue durch die Eingangshalle, nachdem sie lautstark die Tür ins Schloss hatte fallen lassen. Eilig durchquerte sie das Wohnzimmer, warf einen Blick in das leere – angenehm leere – Sonnenzimmer, umrundete die steingewordene Gorgo, um schließlich in die Küche zu sprinten. Dort fand sie Piper und Phoebe am nagelneuen Küchentisch sitzend vor. Piper schlürfte einen Eistee, während Phoebe sich gerade ein gigantisches Sandwich aus Schinken, Käse und zahlreichen anderen Leckereien zusammenbaute. Prue konnte nicht anders, sie musste lachen. »Was?«, fragte Phoebe und strich sich eine ihrer blonden Strähnen aus dem Gesicht. »Das ist mein Mittagessen. Du weißt doch, dass ich immer fast vor Hunger sterbe, wenn ich aus der Kunstklasse komme.« »Hoffentlich ist es nicht wieder ein unglaublich süßer Typ, der deinen Metabolismus in Wallung bringt«, grinste Prue und ließ sich auf einem Stuhl nieder. »Keine Chance!«, protestierte Phoebe und biss ein riesiges Stück von ihrem Sandwich ab. »Der einzige Mann, mit dem ich derzeit was zu tun haben will, heißt Vincent van Gogh.« Prue lächelte und schüttelte den Kopf. »Kaum zu glauben, dass unser Hades-Abenteuer erst eine Woche zurückliegt.« »Fünf Supermodels und drei Hexen in der Unterwelt«, kicherte Piper. »Gott sei Dank, dass sie sich an nichts mehr erinnern konnten, als sie im Sonnenzimmer aufgewacht sind«, sagte Phoebe und steckte sich eine Olive in den Mund.

»Ja«, meinte Prue. »Und das alles mit nur einem kleinen Zeitreisespruch, der die Tatsache ausgelöscht hat, dass sie ein zweitägiges Nickerchen gemacht haben.« »Das war einfacher, als meine alte Haarfarbe wiederzukriegen«, fügte Phoebe hinzu. »Ich habe drei Stunden beim Hairstylist zugebracht, um Nikos' Geschmacksverirrung rückgängig zu machen. Mein Friseur dachte, ich sei völlig verrückt geworden.« Sie zwirbelte eine Strähne ihres blonden Haares zwischen den Fingern und grinste, während ihre Schwestern laut lachten. »Doch jetzt erzähl mal, Prue«, sagte Piper, »was ist so aufregend, dass du die Haustür ins Schloss fallen lässt, wie es sonst nur unsere Phoebe tut?« »Ich komme gerade von der Redaktion des 415«, berichtete Prue und zog den atemberaubenden Abzug ihres viktorianisches Fotos aus der Tasche. »Und was soll ich euch sagen? Mr. Caldwell liebt dieses Bild! Er nannte es geradezu zauberhaft.« »Wie treffend«, bemerkte Phoebe lakonisch. »Und ich bekomme das Cover!«, fügte Prue hinzu. »Prue, das ist ja wunderbar!«, kreischte Piper. »Denen hast du's aber gezeigt«, meinte Phoebe. »Und du musstest dafür noch nicht mal deine Seele verkaufen. Alles nur mit Talent – ja, das ist meine Schwester!« »Was mich an etwas anderes erinnert, das ich heute entdeckt habe«, sagte Prue grinsend und zog eine dünne Zeitung aus ihrer Tasche.

Sie schlug sie auf und blätterte darin, bis sie die Seite mit den Lokalnachrichten aus San Francisco und Umgebung gefunden hatte. »Hier.« »Das ist ja ein Nachruf«, sagte Phoebe und sah ihre Schwester fragend an. »Kennen wir diese Person? Und warum grinst du so, Prue? Der Mann ist tot, und er ist nur siebenundneunzig Jahre alt geworden.« »Das meine ich nicht«, erklärte Prue. »Schaut euch mal den Namen des Autors an.« »Nachruf von Redaktionsmitglied Mitchell Pearl«, las Piper. Dann weiteten sich ihre Augen. »Mitchell? Etwa dein Mitchell?« »Ja«, kicherte Prue. »Ohne Nikos' teuflischen Einfluss war dies wohl der einzige Job, den er kriegen konnte. Er kann von Glück sagen, dass er nicht in der Poststelle gelandet ist.« Die Schwestern lachten. »Und was ist eigentlich aus dem nun ach so sterblichen Nikos geworden?«, fragte Piper ihre jüngste Schwester »Hast du ihn noch mal gesehen?« Phoebe schüttelte den Kopf. »Vielleicht sollte ich mal im Reptilienhaus des Zoos nach ihm suchen«, sagte sie verächtlich. »Ich weiß, dass er eine Schwäche für Schlangen hat.« »Ich glaube, damit haben wir unseren Rekord gebrochen«, stellte Prue fest und nahm sich einen von Phoebes Chips. »Gleich zwei von uns haben sich zur gleichen Zeit in Dämonen verknallt. Unglaublich!« »Stimmt«, sagte Phoebe. »Warum haben wir bloß immer so ein Pech mit den Männern?«

»Immerhin ist Prue ja wenigstens ein bisschen auf ihre Kosten gekommen«, sagte Piper grinsend und knuffte ihre Schwester in den Arm. »Hey«, protestierte die, »du hast versprochen, das nicht mehr zu erwähnen, wenn ich dafür einen Monat lang deine Wäsche mache!« »Was erwähnen?«, neckte Piper sie. »Dass du mich fast auf dem Olymp sitzen gelassen hättest, nur weil du mit einem Typen rumgemacht hast?« »Aaaaaah!«, kreischte Prue lachend. »Du hast es doch versprochen!« »Das war das letzte Mal, dass ich dieses Thema angeschnitten habe«, sagte Piper und erhob sich, um ihrer Schwester einen Eistee zu holen. »Großes Hexen-Ehrenwort.« Phoebe biss ein Stück von ihrer Senfgurke ab und kaute hingebungsvoll darauf herum. »Wir sollten das Ganze mal von der positiven Seite betrachten«, murmelte sie. »Vielleicht treffen wir ja ein paar echt heiße Typen, wenn wir heute Abend ins Schattenreich gehen.« »Wie bitte?«, riefen ihre Schwestern wie aus einem Munde. »Haben wir diesen ganzen Mist denn nicht hinter uns?«, fragte Piper. »Nicht der Hades, Leute! Schattenreich – das neue Cabaret! Wir hatten doch verabredet, die Stadt aufzumischen, wenn Prue die Sache mit dem Cover unter Dach und Fach hat. Du erinnerst dich, Piper? Du hattest große Sorge, in einem Dasein aus Langeweile und Eintönigkeit zu verkümmern.« »Aber hör mal«, sagte Piper lachend, »ich war auf dem Olymp. Ich habe einen dreiköpfigen, wild gewordenen Wachhund, eine Gorgo und ein paar Sirenen erledigt. Ich war im

Hades und bin wieder zurückgekommen. Mein Leben ist alles andere als langweilig!« Phoebe biss noch einmal herzhaft in ihr Sandwich und zwinkerte ihren Schwestern zu. »Darauf esse ich!« »Ihr vergesst aber hoffentlich nicht, dass wir noch eine wichtige Sache zu erledigen haben?«, erinnerte Piper die beiden. Prue nickte. Dann drehten sich die Schwestern wie auf Kommando auf ihren Plätzen um und starrten die steinerne Gorgo an, die vor dem Eingang der Küche stand. Es war und blieb die hässlichste Skulptur unter der Sonne, und vor allem stand sie im Weg. Die ganze Woche über hatten sie überlegt, wie sie das tonnenschwere Ding wieder loswerden konnten. Dass man diesen Job nicht in professionelle Hände geben konnte, ohne sich peinlichen Nachfragen auszusetzen, war ihnen schnell klar geworden. Und selbst mit geeignetem Gerät war es schier unmöglich, die Statue die Treppen hinunterzubefördern, ohne Schaden an Haus und Mobiliar anzurichten. »Gut, dass du das Problem gerade ansprichst, Piper«, sagte Phoebe und ging zum Besenschrank hinüber. Sie grinste verschwörerisch. »Ich glaube nämlich, mir ist heute eine Lösung dafür eingefallen. Ich war in diesem Eisenwarenladen und habe … dies hier gefunden.« Sie wirbelte herum und präsentierte ihren Schwestern drei riesige Vorschlaghammer. »Phoebe!«, rief Piper und schlug sich gegen die Stirn. »Natürlich! Du bist brillant. Dass wir nicht gleich darauf gekommen sind …«

»Seid ihr bereit für die lustige Gorgo-Zertrümmer-Session?«, fragte Phoebe. »Oh ja«, sagte Prue. »Hauen wir das Weib in Stücke!« Jede der Schwestern schnappte sich einen Hammer; dann stellten sie sich um das hässliche Standbild auf. »Wer macht den ersten Schlag?«, fragte Piper. »Ich finde, das sollte Phoebe tun«, meinte Prue. »Immerhin musste sie eine schreckliche Geiselhaft durchstehen und darben.« »Und vergiss nicht ihre Haare«, erinnerte Piper kichernd. Phoebe sah ihre Schwestern grinsend an, dann holte sie lustvoll mit dem Vorschlaghammer aus. »Hiiii-YAH«, brüllte sie und ließ ihn auf die Gorgo niederfahren. Zusammen mit einem Regen aus Steinbröckchen plumpste der hässliche Kopf zu Boden. »Ja!«, schrie Piper, schwang ihren Hammer und zertrümmerte die Arme der Statue. Dann kam die Reihe an Prue, die sich über die Füße der steingewordenen Scheußlichkeit hermachte Sie lachten, denn es war außerordentlich befreiend, diese schreckliche Kreatur zu vernichten, die dasselbe fast mit ihnen getan hatte. Nach einer Weile waren sie völlig außer Atem und verschwitzt, aber von der Gorgo war nicht mehr übrig als ein staubender Trümmerhaufen. »Ich hole große Müllsäcke«, bot Phoebe an. »Und ich den Besen«, sagte Piper und eilte durch die Küche.

»Und ich werde eine offizielle Erklärung für all diejenigen verfassen, die uns dabei zugehört haben sollten«, meinte Prue. Dann deutete sie zu Boden auf das, was einmal ein mythologisches Ungeheuer gewesen war, und rief »Und du und deinesgleichen, merkt euch. Legt euch niemals mit den Zauberhaften an!«