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German Pages 247 [269] Year 2009
Untersuchungen zur deutschen Literaturgeschichte Band 135
Aufklrung und Weimarer Klassik im Dialog Herausgegeben von Andre Rudolph und Ernst Stçckmann
Max Niemeyer Verlag T bingen 2009
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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet ber http:// dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-484-32135-9
ISSN 0083-4564
4 Max Niemeyer Verlag, T bingen 2008 Ein Imprint der Walter de Gruyter GmbH & Co. KG http://www.niemeyer.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich gesch tzt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzul@ssig und strafbar. Das gilt insbesondere f r Vervielf@ltigungen, Abersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Gedruckt auf alterungsbest@ndigem Papier. Druck und Einband: AZ Druck und Datentechnik GmbH, Kempten
Inhalt
Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VII Dirk Rose Galanter Roman und klassische Tragödie. Hunolds ‚Europäische Höfe‘ und Schillers ‚Prinzessin von Zelle‘ im gattungsgeschichtlichen Kontext . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Gunhild Berg Adolph von Knigges ‚Über den Umgang mit Menschen‘. Transformation der frühmodernen in die moderne Höflichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Daniel Fulda „Er hat Verstand; er weiß / Zu leben; spielt gut Schach.“ Nathan der Weise als Politicus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Ernst Stöckmann Anthropologie und Ästhetik. Karl Philipp Moritz’ Kritik der anthropologischen Aufklärungästhetik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Marianne Wünsch Philosophie der (Spät)aufklärung in Friedrich Schillers ‚Freigeisterei der Leidenschaft‘ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Rainer Godel Schillers ‚Wallenstein‘. Das Drama der Entscheidungsfindung . . . . . . . . . . . 105 Annette Graczyk Das Geschlechterverhältnis als soziales Experiment. Aufklärung und Abklärung in Goethes ‚Wahlverwandtschaften‘. . . . . . . . . . 135
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Inhalt
Heidi Ritter „So ist [...] der Weg zu verfolgen den uns Voß in seiner Luise so schön gezeigt hat.“ Goethe, Johann Heinrich Voß und das homerische Epos . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147 Karl Richter Rokokonähe und -ferne. Metamorphosen der Aufklärung in Goethes ‚Chinesisch-Deutschen Jahres- und Tageszeiten‘. . . . . . . . . . . . . . 159 Gerhard Sauder Die Darstellung von Aufklärung in Herders ‚Adrastea‘ und die Kritik Schillers und Goethes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169 Thomas Höhle Eine der lustigsten Begebenheiten unseres Zeitalters. Wielands ‚Gespräche unter vier Augen‘ im Urteil Goethes . . . . . . . . . . . . . . . 187 Hans-Joachim Kertscher „Allein was beweiset das Händeklatschen der Menge?“ Johann August Eberhard und sein hallesches Tätigkeitsfeld . . . . . . . . . . . . . . 195 Werner Nell Der Heilige Rochus und die Französische Revolution . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 225
Vorwort
Der vorliegende Band versammelt mit geringfügigen Abweichungen die Beiträge einer im Juni 2006 am Interdisziplinären Zentrum für die Erforschung der Europäischen Aufklärung in Halle (S.) abgehaltenen Tagung zu Ehren des 65. Geburtstags und der Emeritierung von Prof. Dr. Manfred Beetz. Ebenso wie mit der thematischen Ausrichtung am 18. Jahrhundert und seinem wohl wirkungsmächtigsten literarhistorischen Kristallisationspunkt, der deutschen Klassik, bewegte sich die Fachtagung auch mit der literaturwissenschaftlichen Fokussierung der Beiträge bewusst innerhalb jenes Untersuchungsfeldes, das in der akademischen Vita von Manfred Beetz von Anbeginn leitend und über die Jahre des persönlichen Wirkens prominent vertreten war und ist. Wenn der Titel des Bandes den Epochendialog betont, so vor allem deshalb, um gezielt eine Reihe historisch nachhaltiger Interdependenzen des langen 18. Jahrhunderts in den Blick zu nehmen, die zwischen Aufklärung und Klassik für die Wissenskonzepte, die Arten der ästhetischen Wahrnehmung und die Weisen ihrer ästhetischen Vermittlung maßgeblich waren. Für den Tagungsrahmen und das Publikationsvorhaben schienen sich hierbei zwei aussichtsreiche Wege für eine Befragung der Epochenthematik und ihrer personalen wie konzeptuellen Kontaktstellen anzubieten. Zum einen die methodische Problematisierung der bei allen Schwierigkeiten bis heute allgemein verwendeten Epochenindikatoren „Aufklärung“ und „Weimarer Klassik“; und zum anderen die am Quellenmaterial selbst vorzunehmende Revision der Verkürzungen, die jedem erklärenden Zugriff auf epochal ausgreifende, historisch komplex differenzierte Konstellationen seit jeher eignen. Interessieren konnten die angesprochenen, besonders in den diversen personalen Verflechtungen der Goethezeit greifbaren Wechselwirkungen entsprechend im Hinblick sowohl auf die zeitgenössischen Debatten und die dazugehörigen Kontroversen einer autorenübergreifenden Epochenverständigung, als auch auf die explizit unter den einschlägigen literaturhistoriographischen Epochensignaturen – „Aufklärung“, „Weimarer Klassik“, „Goethezeit“ – entwickelten bzw. zu ihnen gehörenden Konzeptbildungen der Literatur, Kunst und Ästhetiktheorie. Die zumal in der jüngeren Forschung nach wie vor als problematisch geltenden Epochenkonstruktionen der Literaturwissenschaft mit einer Reihe von Einzelstudien bei diesem Vorhaben einmal mehr auf ihre Gültigkeit bzw. auf ihren heuristischen Wert hin zu befragen, stellte freilich auch eine der lei-
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Vorwort
tenden Intentionen der Herausgeber dar. Gleichwohl konnte und sollte eine theoretisch ausgreifende und historisch einlässliche Problematisierung der Reichweite und Grenzen der Epochenbegriffe im Rahmen des mit dem vorliegenden Band verfolgten Publikationsziels nicht genuines Thema sein.1 Wie bereits der Überblick auf die internen Themenstellungen des vorliegenden Bandes kenntlich werden lässt, wurde in den vorliegenden Untersuchungen denn auch überwiegend die zweite der genannten Thematisierungsvarianten favorisiert. Der in mehreren Beiträgen unternommene Versuch, die direkten Kontrovers- wie Konformitätsgesichtspunkte zwischen ‚Aufklärern‘ und ‚Klassikern‘ kenntlich zu machen, erstreckt sich hierbei indessen nicht nur auf die Kernzone des hier zur Debatte stehenden Epochendialogs im Zeitraum etwa zwischen 1780 und 1820, – wobei bereits diese Daten deutlich signalisieren, dass von einer chronologisch linear gedachten Ablösung der Aufklärung durch die Weimarer Klassik (etwa im Sinn einer sich vollziehenden ‚Wachablösung‘ im ideellen und literarischen Bezugssystem) hier nicht die Rede ist. Erhellende Akzentsetzungen für das Leitthema ergeben sich vielmehr unmittelbar aus der Berücksichtigung von Autoren der Vorklassik (Hunold), des erweiterten Klassikerkreises (Moritz) und nicht zuletzt derjenigen Autoren, die aus der diskursiven, persönlichen oder ästhetischen Verständigung mit den Klassikern und den Ideen der Aufklärung (Lessing, Knigge, Voß, Wieland, Eberhard) zentrale Impulse für ihre Schreibstrategien gewannen. Ohne den konkreten Befunden der einzelnen Beiträge vorausgreifen zu wollen, bleibt im Hinblick auf das Spektrum der hier geübten thematischen und methodischen Zugriffe eindrücklich, wie intensiv der literarische Diskurs über das ganze 18. Jahrhundert hinweg in die Dynamik der philosophischen, anthropologischen, politischen, sozialhistorischen und pädagogischen Entfaltung von Wissens- und Bildungsmustern eingebunden war, um als klassischer ästhetischer Erziehungs-, Bildungs- und Sensibilisierungsprozess in der Goethezeit seine historischen Wirkungsdimensionen voll zur Entaltung zu brin-
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Vgl. in dem angedeuteten systematischen Umfang so zuletzt die gesammelten Untersuchungen zur Epochenproblematik im Dokumentationsband des X. Internationalen Germanistenkongresses: Zeitenwende – die Germanistik auf dem Weg vom 20. ins 21. Jahrhundert. Akten des X. Internationalen Germanistenkongresses Wien 2000. Hg. von Peter Wiesinger. Unter Mitarbeit von Hans Derkits. Bern / Berlin u.a. 2002, Sektion 10: Epochenbegriffe: Grenzen und Möglichkeiten, S. 15–138, bes. S. 15–78. In: Jahrbuch für internationale Germanistik. Reihe A, Bd. 58, Kongressberichte. Bd. 6. Epochenbegriffe: Grenzen und Möglichkeiten. Für den grundsätzlichen Problemzusammenhang einer literaturwissenschaftlichen Epochenbestimmung im Kontext des „Klassik“-Begriffs vgl. nach wie vor Titzmann, Michael: Probleme des Epochenbegriffs in der Literaturgeschichtsschreibung. In: Karl Richter, Jörg Schönert (Hg.): Klassik und Moderne. Die Weimarer Klassik als historisches Ereignis und Herausforderung im kulturgeschichtlichen Prozeß. Walter Müller-Seidel zum 65. Geburtstag. Stuttgart 1983, S. 98–131.
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gen. Von der überwiegenden Mehrzahl der Beiträge wird entsprechend im interpretatorischen Einzelnachweis aufgefächert, wie im Entfaltungsbereich der Literatur des späten 18. Jahrhunderts Phänomene der scheinbaren Ungleichartigkeit immer wieder ästhetische und diskursive Verknüpfungen provozieren und mithin Interferenzphänomene zwischen den ‚Epochen‘ erzeugen – nicht zufällig im übrigen mit der zeitgenössischen Anthropologie bzw. anthropologischen Fragestellungen als einem der zentralen Diskussionspole. Kaum prägnanter als in dem zur Debatte stehenden Epochenintervall ist das vielzitierte Diktum von der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen greifbar. Denn eben den Sachverhalt etwa, den die zeitgenössische Philosophie mit großer Prägnanz vor Augen zu führen vermag, insofern in den Jahren der sogenannten Klassiker das philosophische Aufklärungsprojekt seine Vollendung durch das Werk Kants erfährt, dokumentiert die Literatur mit vergleichbarer Trennschärfe in der Spätphase der Aufklärung, etwa im Werk Wielands und Herders, indem sie die Affirmation des Aufklärungsprojekts im 18. Jahrhundert mit der Widerständigkeit gegenüber dessen einseitigen Konsequenzen thematisiert und zur ästhetischen Vermittlung bringt. Dabei ist es im besonderen die dem 18. Jahrhundert eigene, den Wissenschaftszusammenhang prägende Transdisziplinarität, die diese ästhetischen Konzeptbildungen bis heute so beziehungsreich wie interpretationsbedürftig macht, zugleich freilich auch so anschlussfähig erscheinen lässt für die Selbstreflexivität im Diskurs der (post-)modernen scientific community. Kann davon ausgegangen werden, dass die grundlegenden Daten dieser wirkungsmächtigen Epochenkonstellation zwischen der Mitte des 18. Jahrhunderts und der zunehmend romantisch geprägten Zeitenwende von 1800 hinreichend bekannt sind, so entwickeln die vorliegenden Bezugnahmen auf ausdrückliche wie implizite, personell greifbare wie konzeptuelle Kommunikations- und Beeinflussungszusammenhänge zwischen ‚Klassik‘ und ‚Aufklärung‘ nach der Auffassung der Herausgeber doch eine Anzahl neuer Facetten auf ein im Ganzen gut untersuchtes Themenfeld. Mit einer in die Barockzeit hinein verlängerten Rekonstruktion der Bearbeitung des Königsmarck-Stoffes für Roman und Drama zeigt zunächst Dirk Rose in seinem Beitrag (Hunolds Europäische Höfe und Schillers Prinzessin von Zelle im gattungsgeschichtlichen Kontext), durch welche ästhetischen Konstruktionsleistungen der Klassik am Ende des 18. Jahrhunderts die lange Gattungstradition des Sensationsromans transformiert und überboten wird. Aus dem galanten, mit humoristischen Einschlägen versehenen Roman Hunolds (1705) über ein historisches politisches Affärendrama um den Grafen Königsmarck gewinnt der späte Schiller den Stoff für ein (unvollendet gebliebenes und posthum veröffentlichtes) Tragödienkonzept, das die abenteuerreiche, dem Barockroman verpflichtete Skandalgeschichte – das ursprüngliche Affärenmotiv – in ein auf die Einzelpersönlichkeit der Prinzessin konzentriertes
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sittliches Entscheidungsdrama überführt. Rose rekonstruiert ausführlich die Hunoldsche Themenbehandlung in der Romangattung, um in der Folge den Fokus auf den gattungsgeschichtlichen Formkomplex der Tragödie und deren poetologische Begründung bei Schiller zu legen. Mit seiner These, dass Schiller mit der philosophischen Begründung des Tragödienkonzepts eine folgenreiche „Umstellung des Referenzrahmens“ in der poetischen Textproduktion am Ende des 18. Jahrhunderts bewirkt, firmiert der Weimarer Klassiker entsprechend nicht nur als moderner Überwinder der Intentionen der älteren chroniques scandaleuses, sondern zugleich als Anwalt eines genuin „poetischen Zweck[s]“ und der „poetische[n] Wahrheit“ (Schiller), durch die im Konzeptrahmen der klassischen Autonomieästhetik die Bindung an den Sensationsstoff ebenso notwendig zurücktritt, wie die Freiheit vom Historischen programmatisch beansprucht wird. Explizit eine der Forschungsdomänen von Manfred Beetz aufgreifend, rekurriert Gunhild Berg in ihrem Beitrag (Knigges Über den Umgang mit Menschen als Transformation der frühmodernen in die moderne Höflichkeit) auf ein Untersuchungsfeld, das die gesellschaftlichen Ablösungsprozesse barocker Galanterie durch frühmoderne Verhaltensschriften beschreibt und einen sozial- wie kulturgeschichtlich signifikanten Prozess der zivilisatorischen Ausdifferenzierung der sozialen Umgangsformen und Interaktionsmuster markiert. Im weit ausholenden biographischen und historischen Bezug auf den programmatischen Kern des Umgangs-Buches (1788) analysiert Berg unter der leitenden Fragestellung, durch welche Parameter Knigges Bestseller zum epochalen Indikator eines Paradigmenwechsels im Bereich der Verhaltensschriften und mithin für die moderne Höflichkeitskonzeption „als Schnittstelle im Zivilisationsprozess der Umgangsformen“ avancierte. Knigges Reaktion auf den Umbau der stratifikatorischen auf die funktional organisierte Gesellschaft, so zeigt sich, ist weit mehr moderne „Interaktionsgrammatik“ denn präskriptive Verhaltenslehre, insofern der Autor vom anthropologischen Wissen, d.h. der empirisch fundierten Menschenkenntnis, ausgeht und diese zugleich moralisch und eudämonistisch untersetzt, – womit letztlich der ältere Hiat von praktischer Philosophie und bloßer Anstandslehre durch eine „Philosophie der Praxis“ (Berg) überwunden wird. Auch der Beitrag von Daniel Fulda hält mittelbaren Anschluss an das von Beetz verdienstvoll bearbeitete Forschungsfeld der frühmodernen Höflichkeitskonzeptionen, indem am Beispiel von Lessings Nathan den politischen Implikationen spätaufklärerischer conduite nachgefragt wird (Nathan der Weise als Politicus). Den Faden der systemtheoretisch motivierten Forschung zum Politicusideal des 18. Jahrhunderts aufgreifend, rekonstruiert Fulda die lange historische Geltung des Verhaltensideals des Politicus, um an Nathan dessen taktisch-politische Kompetenzen als modellhafte Elemente eben dieses zwar nachprogrammatischen, gleichwohl auch für Lessing attraktiv gebliebenen Verhaltensideals zu akzentuieren. Situationsangemessene Anpassungsfä-
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higkeit, Reaktionsvarianz, taktische Beweglichkeit und Verstellungskunst modellieren, so der zentrale Befund, Verhaltensmuster, die hinter ihrer höfischen Maske das Antlitz eines modernen, auf situative Lebensklugheit eingestellten Lebensentwurfs kenntlich werden lassen, gleichwohl indes, so Fuldas Differenzierung gegenüber dem systemtheoretischen Ansatz, mit modern anmutender Situationsflexibilität und taktischem Lavieren nicht glatt verrechnet werden können. Das von Lessing im Nathan vorgeführte Verhaltensmodell profiliere den Politicus als „Agent[en] der Moderne“, entlässt diesen jedoch nicht aus der Bindung an das Ethische (Moralitätskriterien) und ein im Weltbild der Aufklärung gegründetes Vorhersehungsvertrauen. Eben diese Spannungen thematisiert zu haben, so die Schlusspointe des Beitrags, ist die Leistung von Lessings ästhetischer Modellierung des Kompetenzideals des Politicus; das Drama führt entsprechend vor die (nach wie vor aktuelle) Aufgabe, pragmatische und ethische Dimension einer Verhaltensgrundfigur der Moderne zusammenzudenken. Konzeptuelle Affinitäten im Ästhetikverständnis zwischen Goethe und dem „jüngsten Klassiker der deutschen Literatur“ (A. Meier) Karl Philipp Moritz fokussiert der Beitrag von Ernst Stöckmann (Anthropologie und Ästhetik. Moritz’ Kritik der anthropologischen Aufklärungsästhetik). Ansätze der neueren philosophischen Ästhetik für die Qualifizierung der ästhetischen Wahrnehmung aufgreifend, thematisiert Stöckmann im Vergleich von Moritz’ ästhetiktheoretischen Frühschriften (Versuch einer Vereinigung aller schönen Künste und Wissenschaften unter dem Begriff des in sich selbst Vollendeten (1785) und Die bildende Nachahmung des Schönen (1788) die engen Verflechtungen zwischen wahrnehmungs- und kunstästhetischer Dimensionierung des Schönen vor dem Hintergrund der Moritzschen Grundintention, das Verhältnis zwischen Erkenntnistheorie und Ethik innerhalb der spätaufklärerischen Theoriebildung neu zu justieren. Moritz’ vielfach festgestellter Antipsychologismus, seine polemische Auseinandersetzung mit der anthropologisch-psychologischen Ästhetiktradition der Popularphilosophie, erweisen sich im Kontext von Moritz’ Auseinandersetzung mit den ästhetischen Anschauungen Goethes zum einen als Programm für einen Paradigmenwechsel in der philosophischen Ästhetiktheorie (Wechsel vom ästhetischen Leitprinzip der Lust zu dem der Selbstevidenz und des künstlerischen Ganzheitscharakters); sie lassen sich zum anderen aber auch als der Versuch rekonstruieren, die Dimension der ästhetischen Erfahrung in ihrer irreduziblen Gültigkeit für die Sphäre der Kunst zu begründen und im Spannungsfeld von klassischer Autonomieästhetik und ästhetischer Erfahrungstheorie zur Geltung zu bringen. Mitten in die Transformations- und Übergangsphase vom Sturm und Drang zur Weimarer Klassik am Beispiel eines religionsphilosophischen Gedichts Schillers führt der Beitrag von Marianne Wünsch (Philosophie der Spätaufklärung in Schillers Freigeisterei der Leidenschaft). Schillers in den Gedichten
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Freigeisterei und Resignation (beide 1786) vollzogene ästhetische Inszenierung des „radikal ideologischen Konflikts“ zwischen menschlicher Affektivität und überindividuellen Sollgeltungen erweist sich, so Wünsch, als Zuspitzung ihrer beiderseitigen Irreduzibilitäten wie ihrer Unvereinbarkeiten. In den textinhärenten, vor allem an Freigeisterei herausgearbeiteten Zuspitzungen und Paradoxien, die sich mit der gefühlsemphatischen Bejahung von ‚Liebe‘ durch das lyrische Ich verbinden, identifiziert Wünsch eine religionsphilosophische und normenkritische Pointe, die weniger mehr auf den Stürmer und Dränger als auf den Aufklärung radikalisierenden Klassiker Schiller verweist. Im ästhetisch inszenierten Misslingen der erotischen Partnerwahl kollidiert die Theodicée-Problematik der Aufklärung folgerichtig mit der durch den Sturm und Drang problematisierten Gültigkeit der Sexualnormen. Die Aporie einer ohne reduzierten Glücksanspruch vollzogenen und bestehenden erotischen Wahl, die mit den geltenden christlichen Gottesvorstellungen zugleich konform gehen soll, löst der Klassiker Schiller indes nur noch hypothetisch – im anthropologisch universalisierbaren Denkmodell eines guten und sanftmütigen Gottes – auf. Ebenfalls um die Relevanz anthropologischer Begründungsmuster für die Konzepte individueller Autonomie und Authentizität geht es in dem Beitrag von Rainer Godel, indem am Beispiel der Schillerschen Wallenstein-Trilogie die Geltungsgrundlagen der menschlichen Urteils-, Entscheidungs- und Handlungsprozesse im Kontext der Erfahrungswissenschaften des 18. Jahrhunderts – und das heißt namentlich: der Psychologie und Menschenkunde – thematisiert werden (Schillers Wallenstein als Drama der Entscheidungsfindung). Indem der Anthropologe Schiller mit der Figur des Wallenstein die individuelle Autonomie freien Entscheidens und Handelns durch den gezielten Rekurs auf die conditio humana in Frage stellt, wird eine „literarische Reflexion von Modernisierungstendenzen“ kenntlich, die nicht mehr am Ideal einer unbegrenzt autonomen Bestimmbarkeit orientiert ist, sondern an der Dialektik äußerer und innerer Gegebenheiten. Schillers im Wallenstein vollzogene Absage an das idealistische Modell einer Souveränität über den Dualismus von Selbstsetzung und Determination zeigt dementsprechend, so Godels Befund, die Notwendigkeit an, die komplexen und konkreten Faktoren der Entscheidungsfindung des Protagonisten zu berücksichtigen – eine Interpretationsforderung, der sich die auf die charakterlichen Dilemmata Wallensteins fixierten Deutungen de facto entziehen. Unhintergehbar bleiben letztlich nicht die individuellen Motivationen, sondern nur die Ambivalenzen im Prozess des menschlichen Entscheidens und Handelns, welches – wie Schiller mit dem anthropologischen Wissen der Spätaufklärung zeigt – stets auch mit der tragischen Wendung seiner unabsehbaren Folgen zu rechnen hat. Als „Tragödie menschlicher Konditioniertheit“ führe Wallenstein so besehen auch in poetologischer Hinsicht in die Dilemmata des freiheitlichen, jedoch nicht autonomen Urteilens zurück. Die dieser Situation angemessene Rezeptionshal-
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tung, so das Fazit, könne demnach nur die einer angestrengten ReKonstruktion der Varianten authentischer Selbstbewährung des tragischen Protagonisten sein – im Rahmen also eines letztlich dem Interpreten aufgegebenen ästhetischen Simulationsmodells des menschlichen Handelns und Entscheidens. Der Ambivalenzreichtum der inneren und äußeren Natur des Menschen bildete auch für den Klassiker Goethe in einer bereits romantisch geprägten Epoche einen zentralen Anreiz für die ästhetische Auseinandersetzung, wie Annette Graczyk in ihrem Beitrag zu Goethes Altersroman Die Wahlverwandtschaften (1809) herausstellt (Geschlechterverhältnis als soziales Experiment. Aufklärung und Abklärung in Goethes Wahlverwandtschaften). Nicht das individualanthropologische Wissen freilich interessiert Goethe im Roman; in den Blick kommen vielmehr die modellhaft durchgespielten Gesetzmäßigkeiten, die das zwischenmenschliche Agieren sympathetisch verbundener Partner bestimmen und ihr Entscheiden und Handeln steuern. Mit der versuchsweisen Übertragung eines naturwissenschaftlichen Modells auf eine leidenschaftsverbundene Interaktions- und Kommunikationskonstellation leiste Goethe, so Graczyk, weniger die Gewinnung eines wissenschaftlichen Deutungsmusters für den ästhetischen Zusammenhang (mit Vorverweisen freilich auf den späteren sozialen Roman etwa der Naturalisten), als das experimentelle Durchspielen und Veranschaulichen der stets antinomischen Bezüge zwischen erotischem Begehren und sittlicher Norm, physischer Naturzugehörigkeit und moralischer Bestimmungskraft und -verpflichtung. Wird der Dialog Goethes mit der Aufklärung (als produktiver Rückbezug auf das breite Spektrum psychologischer, somatologischer und physiologisch untersetzter Selbsterkundung in der aufklärerischen Erfahrungsseelenlehre und Magazinliteratur) hier wirklich handgreiflich, so fördert die Interpretation des Goetheschen Textes gleichwohl zutage, dass im Blick des Klassikers nicht die Fixierung von Gesetzmäßigkeiten und das Ausmitteln objektiver Erkennbarkeiten interessiert, sondern gerade das Aporetische in den bunten Vexierspielen partnerschaftlicher Sympathieausübung. Mit der ästhetischen Einsetzung von Entsagung und Verhängnis am Romanende nimmt der altersweise Goethe indes nicht nur die Erkenntnisemphase und den normativen Begrenzungsanspruch aufklärerischer Geschlechteraffinitäten zurück, sondern kritisiert zugleich die neuen Impulse der Romantik zu einer im Namen des Eros geführten partnerschaftlichen Entgrenzung. Den direkten persönlichen und biographischen Bezügen zwischen dem Aufklärer Johann Heinrich Voß und Goethe sowie den Verwandtschaften in der poetischen Textproduktion widmet sich Heidi Ritter in ihrem Beitrag (Goethe, Voß und das homerische Epos). Verwarf Schiller Voß’ Dichtung mehr oder weniger verächtlich, so lobte Goethe in Voß nicht nur den Übersetzer des Homers und den vorbildlichen kämpferischen Adepten der Aufklärung, sondern eben auch den realistisch und an Volkstümlichkeit orientierten
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Lyriker (eine Wertschätzung, die, wie Ritter vermerkt, indes nicht nur auf eine ästhetische Urteilskompetenz Goethes, sondern auch auf ein pragmatisches Eigeninteresse des Weimarer Klassikers an der für ihn potentiell nützlichen Person Voß zurückgeht). Bei aller Unterschiedlichkeit in der ästhetischen Gestaltung und letztlich der künstlerischen Wertigkeit bleiben allerdings, so Ritter, einige konzeptuelle Parallelen zwischen Voß’ Luisen-Dichtung und Goethes Hermann und Dorothea auffällig und historisch bemerkenswert. Den in der Forschung überwiegend vertretenen utopischen Charakter der Voßschen Idylle relativiert Ritter in diesem Zusammenhang durch den Verweis auf die kosmopolitischen Dimensionen des Gedichts und ihre offenen Referenzen zur amerikanischen Unabhängigkeitsbewegung. Im direkten Vergleich mit Goethes Hermann und Dorothea tritt neben den Gemeinsamkeiten in der Formensprache indes eine Grunddifferenz zwischen dem lyrischen Aufklärer und dem Weimarer Humanitätsverfechter auf, letztlich ein deutlich divergierendes Verständnis von positiver Bürgerlichkeit. Indem Goethe die Idylle anders als Voß als eine durch die Französische Revolution angegriffene Lebenssituation der Krise und Dorothea als heroische Figur entwirft, verabschiedet er sich von den Gewissheiten der Aufklärung, und übt zugleich emphatische Kritik an der Ideologie einer gewaltsamen Veränderung der Verhältnisse. Eindrucksvolle Belege dafür, mit welchen formengeschichtlichen und biographischen Rückbezügen die Alterslyrik Goethes aufwartet, bietet Karl Richter in seinem Beitrag zu den 1827 entstandenen 14 Altersgedichten Chinesisch-Deutsche Jahres- und Tageszeiten. Der exemplarische interpretatorische Nachweis der deutlichen Rokoko-Bezüge etwa im achten Gedicht des Zyklus sensibilisiert nicht nur für stilgeschichtlich ältere Formen- und Motivsprache, sondern warnt zugleich vor einem linearen Verständnis von Goethes lyrischer Produktion. Das von Richter im Detail beobachtete Verfahren wiederholter Spiegelung früherer lebensgeschichtlicher Konstellationen, und freilich immer auch: werkinterner Motiv- und Formgestaltungen mit ihren wechselseitigen Bezügen innerhalb des späten Gedichtzyklus, veranschaulicht eindrücklich ein poetisches Verfahren, das zugleich Instrument der dichterischen Selbsterkenntnis und rück-besinnlichen Fortschreibung der eigenen Lebensgeschichte ist. Selbstzitation wird zum ästhetischen Erinnerungsverfahren, „Erinnerung zur bewussten Lebensüberschau“ erweitert. Diesem scheinbaren AutoEklektizismus stehen den Zyklus strukturierende Gesetzmäßigkeiten, ästhetische Kompositionsprinzipien zur Seite, die Richter überzeugend als ästhetische Rückgewinnungstechniken naturwissenschaftlicher und für Goethe selbst bedeutsamer Verfahren (wissenschaftliches Spiegelungsprinzip, Farbenlehre, Morphologie, Metamorphosenlehre) deutet, als „Paradigmata naturwissenschaftlich-ästhetischer Bezugsverhältnisse“. Wiederaufnehmen, Weiterführen und Zusammenführen im Modus der „wiederholte[n] Spiegelungen“ (Goethe) erscheinen demgemäss auch im Blick auf das Ganze des Goetheschen Alterszyklus als die grundlegenden Weisen ästhetischer Selbstvergewisserung. Und
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mit diesen nimmt, wie Richter abschließend zeigt, das für den Zyklustitel zentrale Leitmotiv der Polaritäten tendenziell die Gestalt von zur Ausbalancierung neigenden, sich gegenseitig ergänzenden Gegensätzen an. Am Ende des sich verabschiedenden 18. Jahrhunderts sieht Herder nicht nur eine allgemeine Beschleunigung der Zeit, sondern, wie viele seiner Gesinnungsgenossen im aufklärerischen Geist, ein Vielfaches an getäuschten Hoffnungen, gescheiterte Projekte und – die Sehnsucht nach einer Rückkehr besserer, wo nicht goldener Zeiten. Herders in der zeitgenössischen Stimmung eines zu Ende gehenden, revolutionserschütterten Jahrhunderts angesiedeltes spätes Zeitschriftenprojekt Adrastea nimmt Gerhard Sauder in seinem Beitrag zum Anlass, um Grundlinien des Herderschen Aufklärungsverständnisses aus dessen polemischem Oppositionsverhältnis zur neueren Literatur und Philosophie sowie namentlich den Weimarer Klassikern zu rekonstruieren (Die Darstellung von Aufklärung in Herders Adrastea und die Kritik Schillers und Goethes). Sauder zeigt zum einen die Schwierigkeiten, die Herders Lavieren zwischen publizistischem Anspruch und Unterhaltungskonzessionen an das Publikum für das Projekt mit sich brachte und letztlich auch das zeitgenössische Urteil vom Scheitern des ursprünglichen Vorhabens, eine philosophische, literarische und historische Generalrevision des vergangenen Jahrhunderts zu liefern, zu bestätigen scheint. Zum anderen nimmt er den teils schroffen und gekränkten, teils bloß pauschalen Verriss der Adrastea durch die Weimarer Dioskuren zum Anlass, um für eine Anerkennung von Herders Leistungen in dem Zeitschriftenprojekt zu plädieren und den aufklärerischen Humanismus der Adrastea aus der pejorativen Wahrnehmungsperspektive der Klassiker zu lösen. Eine fortgesetzte Re-Lektüre und entsprechend positive Würdigung von deren literarhistorischer und kritischer Deutungskraft würde, so Sauders Fazit, nicht nur der historischen Rezeptionslage der Zeitschrift besser Rechnung tragen, sondern könnte auch der modernen Historiographie des 18. Jahrhunderts und dem Verständnis seiner historischen Selbstthematisierungen neue Perspektiven eröffnen. Auch in dem Beitrag von Thomas Höhle werden historische Konfliktlinien zwischen den Klassikern und den Fürsprechern des traditionellen Aufklärungsprojekts des 18. Jahrhunderts akzentuiert. In Wielands späten, 1798 veröffentlichten Dialogen Gespräche unter vier Augen sieht Höhle einen der bemerkenswertesten Belege für die zeitgenössischen „schroffen Gegensätze“ zwischen Spätaufklärung und Klassik. Einmal mehr, so zeigt sich, entzünden sich die Kontroversen zwischen den Dichterkollegen an den unterschiedlichen Positionierungen zur Französischen Revolution. Wielands in den Gesprächen getroffenem Plädoyer für eine synthetische Allianz aus Demokratie und Monarchie ebenso wie seiner offenen Befürwortung der Politik und der Person Bonapartes konnte und wollte der Weimarer Goethe nichts Positives abgewinnen, im Gegenteil. Das von ihm sarkastisch kommentierte Verbot der Wielandschen Dialoge durch Verlage und Zensur ebenso wie den Hohn auf
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Wielands politischen Journalismus und die ‚aristo-demokratischen‘ Verfassungskonstruktionen seiner politischen Romane wertet Höhle indes nicht als souveränen Gestus des Weimarer Klassikers Goethe, sondern als Ausdruck einer sachlich ungerechtfertigten Häme gegenüber Wielands Einmischung in die unmittelbaren Zeitfragen. Defizitär erscheinen aus dieser Perspektive denn auch nicht Wielands im historischen Rückblick teilweise verfehlt anmutende Einschätzungen des Politischen, sondern die von Goethe (wie partiell auch von Schiller) kultivierte Reserviertheit gegenüber den tagespolitischen Gegebenheiten der geschichtlichen Situation. Die Art und der Umfang der Veränderungen, die nach dem Tod G.F. Meiers und der Berufung Johann August Eberhards an die Philosophische Fakultät Halles (1778) zu verzeichnen waren, sind Gegenstand des Beitrags von HansJoachim Kertscher (Eberhard und sein hallesches Tätigkeitsfeld). Kertscher zeichnet Eberhards vielfältiges Wirken als Universitätsprofessor nach und würdigt im Abriss der breiten schriftstellerischen Tätigkeit insbesondere die Eberhardschen Verdienste als Bewahrer und vorsichtiger Modernisierer der durch Wolff vorbereiteten und in der Folge durch Baumgarten und Meier begründeten Tradition der philosophischen Ästhetik. Durch die umfängliche Einbeziehung des Urteils der Zeitgenossen über den akademischen Lehrer, den Gesellschafter und öffentlich renommierten Philosophen, der mit eigenen Journalen zum Jahrhundertende in Halle gegen den Kantianismus polemisierte und als aufklärerischer Neologe für eine „Religion der Vernunft“ eintrat, entsteht ein biographisch detailliertes Tableau der historischen Beeinflussungskraft des Ästhetikers und Popularphilosophen auf den zeitgenössischen philosophischen Diskurs und mithin ein anschaulicher Einblick in eine prominente persönliche Apologetik des tradierten Aufklärungsbegriffs an der Epochenschwelle von 1800. An Goethes unmittelbar aus dem Erlebnis der Feierlichkeiten zu Ehren des Sankt Rochus (1814) hervorgegangenen kurzen Text Sankt-Rochus-Fest zu Bingen demonstriert schließlich Werner Nell, wie in der Goetheschen Perspektive auf eine Volksfestveranstaltung eine „durchaus anachronistisch verschachtelte Vielfalt des Regionalen und Lokalen“ gewonnen und unter Einbeziehung ihrer vielschichtigen Bedeutungen nicht nur für die Formensprache der deutschen Literatur um 1800, sondern eben auch für eine kulturell relevante Interpretation der zeitgenössischen Lebens- und Sozialverhältnisse erschlossen wird (Der Heilige Rochus und die Französische Revolution). Für einen solchen Zugriff erweist sich die kompositorisch kunstvolle und inhaltlich überaus reichhaltige Textur der politischen, religiösen, kulturellen Verknüpfungen und Anspielungen in der Tat als ein fruchtbares Demonstrationsstück. Wie Nell im interpretativen Nachvollzug von Goethes erzählerischer Regie der Massenfestveranstaltung zu zeigen vermag, kommt dem SanktRochus-Text nicht nur die Funktion der ästhetischen Verarbeitung einer volkskulturellen – von Goethe selbst sinnlich wie geistig-kulturell als irritie-
Vorwort
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rend erlebten – Massenerfahrung zu. Im Sankt-Rochus-Fest und seiner ästhetischen Dimensionierung sieht Nell vielmehr zugleich einen nachdrücklichen Impuls, die von Goethe wahrgenommene, mit der Französischen Revolution beschleunigte „Unruhe der Moderne“ zu reflektieren, um im Medium der Literatur lebenspraktisch relevante Formen kultureller Rückbesinnung auf erprobte Erfahrungsmuster zu entwerfen. Gegen die Verstörungsmacht der revolutionsirritierten Zeit schreibt der Aufklärer und der Klassiker Goethe gleichsam in den Text die Leitlinien eines traditionsbewussten Lebens- und Gesellschaftsmodells ein, – das Plädoyer für das Sinn- und Gesetzhafte gegen das Regellose, und die unideologische Empfehlung einer transkonfessionellen religiösen Sinnorientierung, die aus ihrer lebensweltlichen Fundierung heraus säkularistische Verhärtungen potentiell zu überwinden vermag. Mit diesen Befunden erscheint somit nicht nur eine für Goethe charakteristische Variante auf, in aestheticis eine Gegenwehr zum empfundenen Unbehagen in der Moderne zu artikulieren, sondern auch ein modellhafter Versuch am Ende des Jahrhunderts der Aufklärung und am Beginn der romantischen Wende von 1800, poetische Sinnerfahrung und religiöses Sinnbedürfnis ohne Zwang zusammenzuführen. Mit einer Danksagung bleibt den Herausgebern zu schließen. Wir danken der Fritz Thyssen Stiftung (Köln), die die Durchführung der Tagung ermöglichte. Unser Dank gilt in gleicher Weise dem Max Niemeyer Verlag für die freundliche Aufnahme der Schrift in seine literaturwissenschaftliche Dokumentationsreihe. Wir danken dem Direktorium des I.Z.E.A. der Martin-LutherUniversität Halle-Wittenberg und seinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern für hilfreiche Unterstützung im Umfeld der Tagungsrealisierung sowie Frau Birgitta Zeller und Frau Cornelia Saier vom Max Niemeyer Verlag für ihre entgegenkommende Mitwirkung bei der Manuskriptherstellung.
Andre Rudolph und Ernst Stöckmann
Dirk Rose
Galanter Roman und klassische Tragödie Hunolds Europäische Höfe und Schillers Prinzessin von Zelle im gattungsgeschichtlichen Kontext
1. Der Königsmarck-Stoff und seine Bearbeitungen: eine Problemskizze Königsmarck: dieser Name und die damit verbundene Affäre waren um 1700 in aller Munde. Graf Philipp Christoph von Königsmarck, ein Kavalier schwedischer Abstammung am Hannoveraner Hof, verschwand dort am 1. Juli des Jahres 1694 und tauchte nie wieder auf. Zur selben Zeit wurde die Prinzessin Sophie Dorothea, geborene Prinzessin von Celle, in ein einsames Amtshaus bei Ahlden gebracht und von ihrem Gemahl, dem Hannoveraner Kronprinzen, im darauf folgenden Jahr geschieden. Schon den Zeitgenossen lag eine Verbindung dieser beiden Ereignisse nahe. Immerhin handelte es sich um eine europäische Affäre ersten Ranges: das Haus Hannover stand im Begriff, die Königskrone Englands zu erwerben, und Königsmarck, selbst General unter August dem Starken, besaß exzellente Verbindungen zum Dresdener Hof.1 Gerade weil die historischen Umstände der Affäre lange im Dunkeln blieben, boten sie Stoff für eine Reihe von Spekulationen.2 Allgemein vermutete man ein unerlaubtes Liebesverhältnis hinter dem Verschwinden der beiden Protagonisten.3
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Seine Schwester, Aurora von Königsmarck, war eine der zahlreichen Mätressen Augusts des Starken: vgl. [Pöllnitz, Freiherr von:] DAS GALANTE SACHSEN. Aus dem Fransoesischen übersetzt von einem Deutschen Nebst einer Vorrede und Zueignungs-Schrifft an die GALANTE GELEHRTE Welt. Amsterdam MDCCXXXV (ND Dortmund 1979), S. 118–156. Eine quellengestützte Studie über die Affäre, die u.a. Briefe Königsmarcks veröffentlicht, von der Forschung jedoch bisher kaum zu Rate gezogen wurde, stammt von Gilde, Luise: Die Reichweite der Prinzessin von Celle. Ein Beitrag zu Schillers Interessensphäre. London 1966; zum Verschwinden Königsmarcks vgl. bes. S. 176– 180. Die zeitgenössischen Hintergründe entnehme ich weitgehend dem auch sonst für diese Untersuchung grundlegenden Aufsatz von Singer, Herbert: Die Prinzessin von Ahlden. Wandlungen einer höfischen Sensation in der Literatur des 18. Jahrhunderts. In: Euphorion 49 (1955), S. 305–334, hier S. 305–310.
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Ein idealer Stoff für chroniques scandaleuses. Freilich konstatiert Herbert Singer: „Diese Ehebruchsgeschichte ist allerdings nicht geeignet, kolportiert zu werden. [...] Diese Fassung ist nicht literaturfähig“.4 Das Risiko war aufgrund der dynastischen Verflechtungen des Hauses Hannover schlicht zu groß. Nicht zufällig erschien eine erste Relation5, die offenbar von einer politischen Richtung gegen das Haus Hannover bestimmt worden ist und entsprechend die Prinzessin Sophie Dorothea vom Ehebruch entlastete, 1695 in Paris.6 Der erste Autor, der es wagte, sich dieses Stoffes in Deutschland anzunehmen, war Christian Friedrich Hunold alias Menantes.7 Immerhin hatte er bereits 1702 die skandalöse Geschichte der Mutter der Prinzessin von Celle, die einem französischen Landadelsgeschlecht entstammte und keine standesgemäße Partie darstellte, in einem Roman verarbeitet.8 In seinem drei Jahre später in Hamburg gedruckten Roman Die europäischen Höfe, der verschiedene Skandalgeschichten der galanten Welt Europas enthält, nimmt auch die Königsmarck-Affäre breiten Raum ein. Damit scheint der Bann gebrochen: der Stoff, der in seinen bekannt gewordenen Details aufgrund politischer Rücksichten nur schwer publizierbar gewesen war, erreichte die Leser einer sensationshungrigen Öffentlichkeit als galanter Roman.9
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Singer: Prinzessin, S. 308. Zum literaturgeschichtlich noch relativ wenig aufgearbeiteten Problem der ‚Relationen‛ zwischen Nachrichten-Vermittlung und Kolportage vgl. Weber, Johannes: Relationen, Avisen, Gazetten. Der Beginn des europäischen Zeitungswesens. Oldenburg 1997. Vgl. (auch für weitere Angaben zu den literarischen Bearbeitungen im 18. Jahrhundert) die bibliographische Übersicht bei Singer: Prinzessin, S. 332–334. Zu Hunold einführend noch immer am besten geeignet: Vosskamp, Wilhelm: Art. ‚Christian Friedrich Hunold (Menantes)‛. In: Harald Steinhagen/Benno von Wiese (Hg.): Deutsche Dichter des 17. Jahrhunderts. Berlin 1984, S. 852–870; im übrigen sei auf die im Jahr 2007 eingereichte Dissertation des Verf. zu Hunold hingewiesen, deren Druck in Vorbereitung ist. Die Liebens=Würdige ADALIE. In einer annehmlichen und wahrhafftigen Liebes=Geschichte Der Galanten Welt zu vergönnter Gemühts=Ergetzung Heraus gegeben Von MENANTES. Hamburg / Verlegts Gottfried Liebernickel / Buchh. im Dohm / 1702 (ND Stuttgart 1967). – Vgl. zu diesem am besten erforschten Roman Hunolds: Singer, Herbert: Der deutsche Roman zwischen Barock und Rokoko. Köln / Graz 1963, S. 10–86; sowie die Magisterarbeit von Dünow, Tobias: Die Welt als „geheimes Liebes-Cabinet“. Christian Friedrich Hunolds ‚Die liebenswürdige Adalie‛ und der galante Roman. Göttingen 1999 (masch.). Vgl. (mit Betonung Hunolds) Simons, Olaf: Marteaus Europa oder Der Roman, bevor er Literatur wurde. Eine Untersuchung des deutschen und englischen Buchangebots der Jahre 1710 bis 1720. Amsterdam / Atlanta 2001, S. 291–195.
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Als literarischer Stoff blieb er das ganze 18. Jahrhundert hindurch in verschiedenen Bearbeitungen, bis hin zu Schillers Tragödienplan Die Prinzessin von Zelle, präsent. Herbert Singer hat diese literarischen Bearbeitungen der Königsmarck-Affäre im 18.Jahrhundert zusammengetragen und analysiert.10 Wer mit Singers übrigen Arbeiten zum galanten Roman vertraut ist11, wird jedoch erstaunt sein, wie flüchtig er auf Hunolds Bearbeitung eingeht12, die doch die erste deutschsprachige des Stoffes überhaupt darstellt. Dies hat, so steht zu vermuten, mit Singers Gattungskonzeption des galanten Romans zu tun, in die sich Hunolds Bearbeitung nur bedingt einfügen lässt.13 Die Geschichte der literarischen Bearbeitungen der Königsmarck-Affäre ist offenbar aufs engste mit Fragen der Gattungsgeschichte verknüpft. Diese These soll im folgenden an zwei der prominentesten Bearbeitungen14, die zugleich am Anfang und Ende des 18. Jahrhunderts stehen, näher untersucht werden: auf der einen Seite Hunolds Europäische Höfe von 1705, auf der anderen Schillers Dramenplan aus dem Jahr 1804. Dabei wird eine Entwicklungslinie deutlich werden, die für die Literatur des 18. Jahrhunderts weithin als „Autonomisierung“ beschrieben worden ist15, die sich im vorliegenden Fall mit Hilfe des gattungsgeschichtlichen Kontextes jedoch konkreter als eine Verschiebung des Referenzrahmens verstehen lässt, in den eine literarische Textproduktion eingebettet werden konnte.
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Singer: Prinzessin. – Lieselotte Blumenthal hat in ihrer Edition von Schillers Prinzessin von Zelle ihrerseits einige vorherige Bearbeitungen des Stoffes zusammengetragen (vgl. Blumenthal, Liselotte: Schillers Dramenplan „Die Prinzessin von Zelle“. Berlin 1963, S. 46–52); dabei aber Singers wesentlich ausführlichere Zusammenstellung offenbar nicht zur Kenntnis genommen. Singer, Herbert: Der deutsche Roman zwischen Barock und Rokoko. Köln / Graz 1963 sowie ders.: Der galante Roman. Stuttgart 1961, 2. Auflage 1966. Singer: Prinzessin, S. 318f. – Auch Singers bibliographische Angabe (ebd., S. 332, Nr. 2) ist eher unkonkret und deckt sich nicht mit den Kapiteln in Hunolds Text. Ich komme darauf ausführlicher in den Kapiteln 2.2. und 2.3. zurück. Die Bearbeitung des Stoffes mit der größten Wirkung im 18. Jahrhundert war zweifellos Pöllnitz` „Histoire secrette“ von 1732, der 1734 eine deutsche Übersetzung folgte: vgl. Singer: Prinzessin, S. 321–323. Eine systemtheoretische Begründung dafür liefert Schmidt, Siegfried J.: Die Selbstorganisation des Sozialsystems Literatur im 18. Jahrhundert. Frankfurt/M. 1989.
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2. Christian Friedrich Hunold: Der Europæischen Höfe /Liebes= und Helden=Geschichte 2.1. Die Bearbeitung des Königsmarck-Stoffes Der Königsmarck-Stoff bildet einen wichtigen Erzählstrang in Hunolds Roman. Er ist auf drei Erzählabschnitte verteilt, die relativ weit auseinander liegen, so dass diese Geschichte beinahe den gesamten Text durchzieht.16 Der erste Abschnitt ist zugleich das Eingangskapitel. Die Erzählung setzt in einem Lustwald ein, wo eine Jagd abgehalten wird. An ihr nehmen auch der Graf Silibert von Cremarsig, sein Freund Reinald von Leonstein und die Contessin Adina teil. Die Contessin möchte Silibert verführen, der jedoch heimlicher- und verbotenerweise Dorimene, die Erbprinzessin von Allerona liebt (= Sophie Dorothea, die Prinzessin des Hofes in Celle, das an der Aller liegt). Die Contessa wird statt dessen von Reinald geliebt. Der Graf weiß es darum so einzurichten, dass Reinald ihn bei einem von der Contessa arrangierten Stelldichein vertritt. In ihrer Wut darüber passiert der Contessa ein Sturz vom Pferd, bei dem sie sich vor Reinald entblößt. Aufgrund dieser doppelten Demütigung schwört sie, an den beiden Freunden Rache zu nehmen. Der zweite Erzählabschnitt des Königsmarck-Stoffes beinhaltet im wesentlichen die „Liebesgeschichte“ zwischen Silibert und Dorimene. Silibert verliebt sich vom ersten Augenblick an in die Prinzessin: Daselbst bekam ich die Printzeßin desselbigen Fürsten zu sehen / und dieser erste Anblick erweckte bey mir eine solche Bewegung / die ich Zeit Lebens noch nicht bey mir verspühret.17
In einem Lustgarten treffen sie aufeinander und beginnen nun eine Kommunikation in Versen auf einer jeweils liegen gelassenen Schreibtafel.18 Allerdings
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Hunold, Christian Friedrich: Der Europaeischen Höfe / Liebes= Und Helden=Geschichte / Der Galanten Welt zur vergnügten Curiosité ans Licht gestellet. Von Menantes. HAMBURG / Bey Gottfried Liebernickel / 1705 (ND, hrsg. v. Hans Wagener, Bern u.a. 1978), S. 1–31; S. 108–147; S. 801–934. Ebd., S. 109. Ebd., S. 114–122. – Die Verskommunikation drückt bereits durch ihre Kommunikationsform die Möglichkeit eines Liebesverhältnisses aus, so wenn Silibert seine Verse mit den Worten kommentiert: „Dieses solte meine Liebe gegen Dorimenen ausdrucken“ (ebd., S. 115), die dann ihrerseits mit den sentenzenhaften Versen (die zugleich persönliche Verantwortung ablehnen) antwortet: „Die Wehmuht ist gerecht / die Ehrfurcht bringt was ein: Was dich nicht lieben kan / kan deine Freundin seyn“ (ebd., S. 117). – Zu der Verschränkung von lyrischer Kommunikation und Erotik vgl. den Beitrag von Borgstedt, Thomas: „Du schickst mir einen brieff / und greiffst mir nach dem hertzen“. Hoffmannswaldau, die erotische Versepistel und der galante Diskurs. In:
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kommt Siliberts Liebe zu spät: die Prinzessin ist bereits dem Prinzen Friderico (= Friedrich von Braunschweig-Wolfenbüttel) versprochen. Silibert verlässt daraufhin den Hof, während der Prinz Friderico kurz danach auf einem Kriegszug verwundet wird und stirbt. Als Silibert einige Zeit später nach Allerona zurückkehrt, rettet er eine Dame vor einem wilden Bären, welche sich als die Prinzessin herausstellt. Das geschieht während einer Jagd, die der Erbprinz von Verona (= der Kurprinz von Hannover) veranstaltet, und zwar anlässlich seiner Verlobung mit der Prinzessin. Dieses standesgemäße Verhältnis wird durch die Anwesenheit Siliberts so belastet, dass ihn Dorimene bittet, sich wieder vom Hof zu entfernen.19 Der dritte und längste Abschnitt der Königsmarck-Geschichte beginnt damit, dass der Prinz Gustavus (= August der Starke) von der Entführung seines Freundes Silibert erfährt. Er schickt einen Kurier nach Verona, um genaueres darüber in Erfahrung zu bringen. Dieser Kurier berichtet, dass er von einem Adligen dort erfahren habe, Silibert sei von der Contessa Adina entführt worden. Am Hof von Verona, wohin Silibert zurückgekehrt war, hatte sich nämlich das Gerücht verbreitet, er stände in unerlaubten Beziehungen zu Dorimene, nun Fürstin an diesem Hof. Nachdem Adina vermeintliche Beweise für dieses Vergehen erbracht hatte, lieferte der Fürst Silibert in ihre Hände aus. Adina ließ ihn auf ein Schloss in Italien bringen, wo sie ihn mit Hilfe von Zauberei quält und seine Liebe erzwingen will. Gustavus reist ihr nach und befreit Silibert. Dabei feuert Adina jedoch eine vergiftete Kugel auf Silibert ab, bevor sie sich selbst von ihrer Dienerin ein vergiftetes Messer in die Brust stoßen lässt. Beide sterben daran, Adina als Exempel eines lasterhaften, unchristlichen Lebenswandels, Silibert als ein Exempel christlichen Todesbewusstseins.20 Vor allem zwei Aspekte verdienen an Hunolds Bearbeitung besonderes Interesse. Zum einen geht Hunold mit den historischen Fakten relativ freizügig um. Dies kann nicht nur auf ein Informationsdefizit zurückgeführt werden.21 Gerade die Adina-Episode dient wohl eher dazu, von der Verantwortung des
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ders. / Andreas Solbach (Hg.): Der galante Diskurs. Kommunikationsideal und Epochenschwelle. Dresden 2001, S. 13–39. Vgl. das (briefstellertaugliche) Verabschiedungsschreiben Dorimenens in: Hunold: Europäische Höfe, S. 143f. – Zur Verschränkung von Roman und Briefsteller vgl. Gelzer, Florian: Konversation, Galanterie und Abenteuer. Formen romanesken Erzählens zwischen Thomasius und Wieland. Diss. phil. (masch.) Bern 2005 [Druck in Vorbereitung], S. 101–106 (am Beispiel von Bohses Constantine). Zum noch immer viel zu wenig bekannten Zusammenhang zwischen Galanterie und Frömmigkeit vgl. für Hunold den Beitrag von Miersemann, Wolfgang: Ein „LiebesPoet“ als geistlicher Dichter. Zu dem Menantes-Gedicht „Bey Betrachtung der Liebe Gottes“. In: Cornelia Hobohm (Hg.): Menantes. Ein Dichterleben zwischen Barock und Aufklärung. Bucha bei Jena 2006, S. 181–222. Wie Singer: Prinzessin, S. 319 vermutet.
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Hannoveraner Hofes für das tatsächliche Geschehen abzulenken. Dass dies jedoch in einer Hexengeschichte geschieht, die ihre Unwahrscheinlichkeit geradezu ostentativ ausstellt22, dürfte den Leser allerdings eher zweifeln lassen, ob die Ursache für die Entführung Siliberts nicht doch anderswo zu suchen sei. Durch diesen Schachzug kann Hunold eine Version von der Entführung Königsmarcks erzählen, die zugleich andeutet, das andere, unausgesprochene Versionen eine womöglich größere Wahrscheinlichkeit besitzen.23 Zum anderen gebraucht Hunold auch größte Vorsicht, wenn es um die Geschehnisse am Celler bzw. Hannoveraner Hof geht. Silibert und Dorimene haben selbstverständlich kein Verhältnis miteinander, sondern sind Exempel von Moral und Tugendhaftigkeit.24 Hinzu kommt, dass sämtliche Episoden, die an den Höfen direkt spielen, Erzählerfiguren in den Mund gelegt sind. Seine Erlebnisse am Hof in Allerona berichtet Silibert selbst, während der heikelste Teil der Geschichte, die Entführung Siliberts vom Hof in Verona, von einer gedoppelten anonymen Erzählerfigur berichtet wird: der (namenlose) Kurier von Gustavus erzählt, was ihm ein (namenloser) Adliger in Verona erzählt habe. Lediglich die Adina-Episoden werden von einem auktorialen Erzähler vorgetragen. Ganz offensichtlich nimmt Hunolds Bearbeitung des Stoffes Rücksicht auf die zeitgenössischen politischen Verhältnisse. Dies macht jedoch nur Sinn, wenn der Romantext selbst als Schlüsseltext gedacht – und als solcher gelesen werden sollte. Bei der Frage nach der Gattungskonzeption des galanten Romans muss also auch nach dem Kontext gefragt werden, in den sich eine solche Textproduktion mit Hilfe des Schlüsselprinzips25 zu situieren versucht.
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Über das Erlernen Adinas der Hexenkunst erzählt etwa der anonyme Adlige: „In so verdammten Vorsatz ging sie nach langen Nachforschen zu einem Mann / der die schwartze Kunst / der gemeinen Sage nach / verstund / und ließ sich da in Sachen unterrichten / die mir unbekandt“ (Hunold [wie Anm. 16], S. 805). Erstaunlicherweise nützt ihr die angebliche Hexenkunst bei der Befreiungsaktion für Silibert überhaupt nichts – was wiederum niemanden der Beteiligten wundert. Insofern ist Singers Einschätzung (Singer: Prinzessin: S. 318) von „der Hilflosigkeit der frühesten literarischen Verwertung“ des Stoffes durch Hunold entschieden zu widersprechen. Diese Version wurde bereits, meist aus politischen Aversionen gegen das Haus Hannover, von der zeitgenössischen Traktatliteratur verbreitet: vgl. ebd., S. 308f. Zum „Schlüssel“ als poetologischem Prinzip vgl. die Arbeit von Rösch, Gertrud M.: Clavis Scientiae. Studien zum Verhältnis von Faktizität und Fiktionalität am Fall der Schlüsselliteratur. Tübingen 2004, bes. S. 57–60.
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2.2. Der galante Roman im Umfeld der ‚Schlüsselliteratur‘ Herbert Singer hat in seinem Aufsatz zur Prinzessin von Ahlden betont, dass die literarische Transformation des Königsmarck-Stoffes – auch aus Gründen seiner Publizierbarkeit – wesentlich dem Gattungsmuster des Intrigenromans verpflichtet war, der durch die Princesse de Clèves der Madame de Lafayette bereits ein paradigmatisches Modell erhalten hatte.26 Der Intrigenroman sei, so Singer, die „Umkehr des höfisch-historischen Barockromans“27; hier herrscht nicht mehr die providentia, sondern nur noch die prudentia, und die Handlung wird so von der höfischen Welt(ordnung) in die psychische Disposition der Akteure verlegt. Den galanten Roman wiederum versuchte Singer in Abgrenzung sowohl gegen den höfisch-historischen, als auch den Intrigenroman zu bestimmen: „Dieser galante Roman blüht von 1700 bis 1720, während gleichzeitig einzelne, manchmal schwer identifizierbare Nachfahren des Intrigenromans und epigonale Exemplare des höfisch-historischen Romans erscheinen“.28 Diese Gattungskonzeption dürfte auch der Grund dafür sein, warum bei Singer Hunolds Bearbeitung des Königsmarck-Stoffes vergleichsweise wenig Raum einnimmt. Da Singer an anderer Stelle Hunold zum Begründer des galanten Romans erklärt29, andererseits aber die frühen Bearbeitungen des Königsmarck-Stoffes hauptsächlich der Kategorie des Intrigenromans zuordnet, scheint ihm an einer ausführlicheren Erläuterung von Hunolds Bearbeitung verständlicherweise wenig gelegen. Vielmehr tut er sie als ein bloßes „Zerfallsprodukt des barocken Romans“30 ab. Damit ist der zentrale Punkt in Singers Konzeption des galanten Romans angesprochen, den er als „denaturierte Schwundform“ des höfischhistorischen Romans versteht.31 Grund dafür sei, dass die galanten Romane das sogenannte „Heliodor-Schema“ der höfisch-historischen Romane adaptierten, ohne jedoch deren ethische und epistemische Implikate mit zu übernehmen.32 Dieses Schema will Singer auch in der Königsmarck-Geschichte von Hunolds Europäischen Höfen entdeckt haben.33 Daran ist soviel richtig, dass zwei Personen, die eine affektive Neigung zueinander verspüren, im Verlauf der Handlung mehrfach getrennt werden. Allerdings haben sich diese
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Singer: Prinzessin, S. 310–313. Singer: Prinzessin, S. 310. Singer, Herbert: Der galante Roman. 2. Auflage, Stuttgart 1966, S. 20. „Der 1681 [richtig: 1680, D.R.] geborene Hunold [...] begründet jedoch um 1700 die Sonderform des eigentlichen galanten Romans“ (ebd.). Singer: Prinzessin, S. 319. Singer: Der galante Roman, S. 41. Vgl. ebd., S. 44f. Vgl. Singer: Prinzessin, S. 319.
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beiden weder je ihre Liebe erklärt noch werden sie am Ende glücklich zusammen geführt; vielmehr stirbt der Graf in der Fremde und die Prinzessin spielt keine Rolle mehr. Das Heliodor-Schema ist also in dieser Hinsicht gar nicht erfüllt. Erst recht mit Blick auf Hunolds übrige Romane lässt sich die These vom „Zerfallsprodukt des barocken Romans“ und der konstitutiven Bedeutung des Heliodor-Schemas, wie sie Hans Wagener in seiner Dissertation zur Erzählstruktur von Hunolds Romanen zu zeigen versucht hat, kaum aufrecht erhalten.34 Schwerer für Erzählstrategie und narrative Struktur wiegt hingegen die Tatsache, dass alle vier Romane Hunolds Schlüsselromane sind.35 Dies lässt sich für die Europäischen Höfe schon insofern leicht begründen, da zu diesem Roman sogar zeitgenössische Schlüssel überliefert sind. Einen davon druckt Hunolds Freund und Verleger Benjamin Wedel in seiner 1731 herausgegebenen Biographie von Hunold ab.36 Dort kann man erfahren, dass sich hinter den Romanfiguren Silibert von Cremarsig Königsmarck und hinter Dorimene bzw. Dorimena die Prinzessin Sophia Dorothea verbirgt: Cremarsig, Regismarc oder Königsmarck, Schwedischer Graf. [...] Dorismena, Sophia Dorothea Princeßin am Zellischen Hofe.37
Freilich nimmt auch dieser Schlüssel noch auf die politischen Verhältnisse Rücksicht. Das wird beispielsweise bei Sophia Dorothea deutlich, die als Prinzessin von Zelle, nicht aber als Frau des Hannoveraner Erbprinzen erscheint. Entsprechend betont Wedel im Vorwort:
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Vgl. Wagener, Hans: Die Komposition der Romane Christian Friedrich Hunolds. Los Angeles 1969, bes. S. 55–86 (zu den Europäischen Höfen); bereits kritisch dazu Behütuns, Georg: Der deutsche Roman an der Wende vom 17. zum 18. Jahrhundert. Theorie und Praxis des Romanschaffens von Hunold – Menantes. Zulassungsarbeit für das Lehramt an Gymnasien, Zulassungsfach Deutsch, Würzburg 1975, S. 143f.: „Wageners Versuch, als Kompositionsprinzip in Hunolds Romanschaffen ein ›verwickelteres‹ Heliodorsches Grundschema zu erkennen, können wir hier mit guten Gründen als wenig ergiebig zurückweisen“; damit habe Wagener „wie sein ›Lehrer‹ Singer an diesen [‚Satyrischer Roman‘, D.R.] wie an alle anderen Romane Hunolds den falschen Maßstab angelegt“; vielmehr hätten Hunolds Romane eher den Charakter einer „Novellensammlung“. Diese Beobachtung teile ich mit Georg Behütuns (Behütuns: Der deutsche Roman, S. 7) und Gelzer, Florian: „hinter den Fürhang und Verdeckt“. Roman und Satire bei Christian Friedrich Hunold. In: Cornelia Hobohm (Hg.) Menantes. Ein Dichterleben zwischen Barock und Aufklärung. Bucha bei Jena 2006, S. 50–69, hier: S. 54–58. [Wedel, Benjamin:] Geheime Nachrichten und Briefe von Herrn MENANTES Leben und Schrifften. Cöln 1731 (ND Leipzig 1977), S. 177–182. Ebd., S. 178.
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Zuletzt hat man noch einen Schlüssel zu den Europäischen Höfen mit angehängt; Wer aber Geheimnisse damit aufzuschliessen gedencket / wird sich betrogen finden; dann zu denen geheimsten Liebes-Cabinetten / sind die Schlüssel wohl verwahret worden.38
Ein weiterer, diesmal handschriftlicher Schlüssel befindet sich heute in der Universitätsbibliothek Wrocław. Dieser Schlüssel scheint eher für den privaten Gebrauch bestimmt gewesen zu sein, weswegen hier auf die politischen Verhältnisse weniger Rücksicht genommen werden mußte. An dieser Stelle erfährt man nämlich über Dorimene: Dorimene Dorothea gebohre‹n› Princessin von Zell hernach vermehlte Ehe=fürstin von hannover39
Der handschriftliche Schlüssel zeigt allerdings auch, dass es offenbar nicht besonders schwierig war, die zeitgenössischen Umstände und Personen hinter Hunolds Romantext herauszufinden; vor allem, wenn man einmal die relativ simple anagrammatische Methode der Verschlüsselung durchschaut hatte.40 Dieser Schlüssel scheint denn auch Dokument eines Art Ratespiels zu sein; die wenigen nichtidentifizierbaren Orte und Personen wurden zwar notiert, hinter ihnen aber für spätere Entschlüsselungsversuche genügend Platz frei gelassen. Der Text von Hunolds Roman kommt einer solchen Rezeptionshaltung durchaus entgegen; er scheint geradezu auf seine Entschlüsselung hin angelegt zu sein – und damit auch auf Transparenz hinsichtlich der Vorgänge am Hannoveraner Hof. Gleich zu Beginn seiner Vorrede weist Hunold auf die Bedeutung des Schlüsselprinzips hin: Die Liebes= und Helden=Geschichte der Europäischen Höfe zu beschreiben / ist entweder eine bereits bekandte / oder wo man solche mit Vergnügung lesen soll / verbotene Sache: Denn die Verrichtungen der Helden sind schon in vielen kostbaren Büchern entworffen / daß man hierinnen nichts neues zu wissen krieget; und derselben geheime Liebes=Angelegenheiten zu berühren / ist so gefährlich als curieus.41
Das Problem, auf das Hunold hier bei der Publikation seines Romans anspielt, zeigt zugleich die Konzeption des Textes als Schlüsseltext an, da es sich sonst gar nicht stellen würde. Es besteht darin, dass einerseits die meisten Begeben-
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Ebd., Vorr., Bl. 3 (v), unpag. Clavis Zu Menantes Liebes und Helden Geschichte der Europæischen Höfen, worinnen die versetzten Nahmen nebst deren Explication, Bl. 3 (v), [BU Wrocław RKP 00069 / 006–R 2485]. Auf die Spur führt dabei bspw. „Verona“, wohinter sich Hannover (mit stummem h) verbirgt: vgl. Wedel: Geheime Nachrichten, S. 182. Hunold: Europäische Höfe, Vorr., Bl. 2 (r) u. (v).
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heiten und Akteure durch Relationen jeder Art bereits als bekannt vorausgesetzt werden können, andererseits aber die Referentialisierungsleistung des Schlüsselprinzips auf diese als bekannt vorausgesetzten Begebenheiten „so gefährlich als curieus“ ist. Damit wird beim Leser bereits ein Kontextwissen vorausgesetzt, in das hinein dieser Schlüsseltext situiert werden soll. Dieser Kontext sind die chroniques scandaleuses und „Klatschrelationen“42. Innerhalb dieses Kontextes kommt dem Schlüsselroman die besondere Aufgabe zu, die Begebenheiten, die „so gefährlich als curieus“ sind, dennoch zur Sprache zu bringen. Das gelingt deshalb, weil der Status eines Schlüsselromans innerhalb dieses Feldes keineswegs eindeutig ist, wie Hunolds „Entschuldigung“ im Anschluss deutlich machen soll: [...] und ich habe von Ehr=Erbietungs=würdiger Hoheit eine Sylbe zu schreiben / mich unwürdig geschätzet / wenn es nicht zu ihrem Ruhm gereichet / und bloß einen Roman ans Licht gestellet / der / wenn man auch den Schlüssel zu allen angenehmen Liebes=Geschichten hätte / schwerlich an dem geringsten Orte mich eines Mangels des gebührenden Respects überzeugen soll.43
Hier mag sich auch ein Eigenwert fiktionaler Texte ankündigen, doch dürfte dieser als Legitimation keineswegs ausreichen.44 Weit stärker liegt dieser eine gattungsgeschichtliche Typologie zugrunde. Der „Roman“, auf den Hunold hier entschuldigend hinweist, und der ihm sogar den „Betroffenen“ gegenüber, also den Angehörigen der europäischen Dynastien, die es zu entschlüsseln gilt, eine respektvolle Haltung garantieren soll, ist der höfisch-historische Roman, der, sofern er sich des Schlüsselprinzips bedient, die Taten der historischen Akteure damit verherrlicht; man denke nur an Lohensteins Arminius oder an die Römische Octavia des Herzogs Anton Ulrich. Das Spitzfindige an Hunolds Rechtfertigung besteht jedoch darin, dass diese Tradition hier lediglich als legitimierende Oberfläche dient, tatsächlich aber der Charakter des Schlüsselromans betont wird. Mit anderen Worten: Der Text gibt vor, in der Tradition des höfisch-historischen Romans zu stehen (weswegen er auch einige Elemente daraus übernimmt), situiert sich aber mit Hilfe des Schlüsselprinzips im Feld eines skandalösen Marktes. Wie sehr dieses Prinzip im Zentrum der Romankonzeption stand, verrät eine Notiz Hunolds in seiner „Manier Höflich und wohl zu Reden und zu Leben“:
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Vgl. den einschlägigen Beitrag von Fauser, Markus: Klatschrelationen im 17. Jahrhundert. In: Wolfgang Adam (Hg.): Geselligkeit und Gesellschaft im Barockzeitalter. Wiesbaden 1997, S. 391–399. Hunold: Europäische Höfe, Vorr., Bl. 3 (v). Vgl. auch die rezeptionshistorische Studie von Berthold, Christian: Fiktion und Vieldeutigkeit. Zur Entstehung moderner Kulturtechniken des Lesens im 18. Jahrhundert. Tübingen 1993.
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In meinen Europäischen Höfen stehet p. 53. von den Pohlen und Sachsen, die vor Wien den Türcken wegschlugen, und die ersten alle Beute fast bekamen, da diese dem Feind nachsetzten, folgendes Urtheil: Die Austheilung der Beute kondte nicht gleicher seyn: Denn indem die Tapffersten den Ruhm, als das allerkostbarste vor die rechte Soldaten davon getragen, so musten die Pohlen nohtwendig das übrige kriegen, damit sie nicht leer ausgiengen.45
Im Roman selbst steht freilich nichts von Polen, Sachsen oder Türken; stattdessen ist dort von „Wittekindischen“ und „Napolischen“ die Rede.46 Gerade die Berufung auf den Text als „bloß einen Roman“ erleichtert, so steht zu vermuten, die Situierung innerhalb des Feldes der chroniques scandaleuses. Das Schlüsselprinzip dient dann vor allem dazu, eine klare Statuszuweisung innerhalb dieses Feldes zu erschweren. So lässt sich einerseits argumentieren, bloß eine (fiktive) Geschichte zu erzählen, die andererseits – bei Anwendung des Schlüssels – eine Referentialisierung auf tatsächliche Begebenheiten und Akteure erlaubt. Olaf Simons hat wiederholt auf diese Strategie hingewiesen und sein Schema des Romanangebots im frühen 18. Jahrhundert darauf aufgebaut.47 Verbindet man diese Beobachtungen mit dem gattungsgeschichtlichen Aspekt, so wird man festzustellen müssen, dass Herbert Singer bei seiner Konzeption der Gattung ‚galanter Roman‛ Hunolds Täuschungsmanöver gewissermaßen ‚auf den Leim gegangen ist‘. Er hat die Legitimationsstrategie für bare Münze genommen, und die auf der Textoberfläche anzitierte höfischhistorische Tradition als konstitutiv betrachtet, während er der Funktion als Schlüsselroman keine größere Beachtung geschenkt hat. Auch Hans Wageners Aufarbeitung einiger „Quellen“ für die Europäischen Höfe und sein Nachweis, dass Hunold sie teilweise wörtlich übernommen habe,48 hat bei ihm nicht zu der Erkenntnis geführt, dass es sich hierbei womöglich gar nicht um „Quellen“ im Sinn einer Vorlage, sondern vielmehr um „Ko-Texte“ ein und desselben Kontextes handeln könnte.49 Denn die Ausblendung des Schlüsselprinzips erleichterte das Ziehen einer literaturgeschichtlichen Linie
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Hunold, Friedrich Christian: Die Manier Höflich und wohl zu Reden und Leben / So wohl Mit hohen, vornehmen Personen, seines gleichen und Frauenzimmer / Als auch / Wie das Frauenzimmer eine geschickte Aufführung gegen uns gebrauchen könne, Ans Licht gestellet Von Menantes. HAMBURG / Bey Christian Wilhelm Brandt / Buchhändlern im Dohm, 1730 [ED 1710], S. 205f. Hunold: Europäische Höfe, S. 53. Vgl. Simons: Marteaus Europa, S. 194–199. Wagener: Komposition der Romane, S. 77–86. Die (heuristische) Verwendung des Begriffs „Ko-Text“ als Bezeichnung für verschiedene Texte ein und desselben Kontextes folgt explizit nicht der linguistischen Terminologie; vgl. dazu Janney, R.W.: Cotext as Context: vague answers in court. In: Language and Communication 22 (2002), S. 457–475.
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vom höfisch-historischen über den galanten bis zum Roman der Aufklärung, die Singer von Anfang an seinem Unternehmen zugrunde gelegt hatte.50 Den gattungsgeschichtlichen Referenzrahmen des galanten Romans bildete jedoch nicht eine nachträglich statuierte Literaturgeschichte, sondern das zeitgenössische Feld einer skandalösen Öffentlichkeit. Dort kam dem Roman als Schlüsselroman auch die Funktion zu, Informationen über Begebenheiten und Akteure zu verbreiten, die auf andere Art und Weise nur schwer publizierbar gewesen wären. Dass der galante Roman darüber hinaus eine galante Conduite zu lehren versprach, indem er konkrete Interaktions- und Kommunikationssituationen der „galanten Welt“ modellierte, unterstützte seinen Legitimationsanspruch durch das Schlüsselroman noch zusätzlich, da dessen Referentialisierungsleistung Bedingung dieser Modellierungsfunktion war.51 Gattungsgeschichtlich lässt sich der galante Roman – bei allen Elementen, die er aus der Tradition übernimmt bzw. vorgibt zu übernehmen – also eher im Feld der chroniques scandaleuses und der ‚Schlüsselliteratur‛ ansiedeln. Das manifestiert sich auf der strukturellen Ebene darin, dass nicht das Heliodor-Schema, sondern das Schlüsselprinzip als konstitutiv für die Gattungskonzeption angesehen werden kann. Nichts verdeutlicht das klarer, als die Fortsetzungen, die Hunolds Europäische Höfe noch nach seinem Tod erfahren haben. Johann Georg Hamann, Onkel des berühmten philosophischen Schriftstellers gleichen Namens52, brachte 1728 und 1740 zwei voluminöse Fortsetzungen auf den Markt, in denen jeweils der neueste Klatsch der galanten Welt Europas ausgebreitet wurde. Wie sehr diese Texte vom Schlüsselprinzip diktiert waren, zeigt der Hinweis Hamanns im Vorwort zum 3. Teil, wo er noch einen vierten in Aussicht stellt, falls bis dahin die referentialisierbaren zeitgenössischen Affären zum Abschluss gekommen sein sollten: Indessen empfiehlet man sich der Wohlgewogenheit des Hochgeneigten Lesers, und, so bald man sich versichert siehet, dass dieser Dritte Theil nach der guten Meynung des Verfassers aufgenommen worden, so wird man bemühet seyn, auch noch mit dem Vierdten aufzuwarten, und alsdenn beschliessen, zumahl wenn diejenigen so
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Vgl. Singer: Der deutsche Roman, S. 153–157. Diese Überlegung bildet einen Schwerpunkt meiner Dissertation, deren Publikation in Vorbereitung ist. – Zum Kontext der Höflichkeitsliteratur vgl. die einschlägige Studie von Beetz, Manfred: Frühmoderne Höflichkeit. Komplimentierkunst und Gesellschaftsrituale im altdeutschen Sprachraum. Stuttgart 1990, bes. S. 54–70. Zu diesem beinahe vergessenen Autor, der u.a. Herausgeber von Brockes Irdischem Vergnügen in Gott gewesen ist, vgl. den maßgeblichen Beitrag von Maertens, Willi: Johann Georg Hamann der Ältere (1697–1733) – Der Typ des Literaten-Journalisten als Gelegenheitsdichter Telemanns. In: Wolf Hobohm u.a. (Hg.): Telemanns Auftrags- und Gelegenheitswerke – Funktion, Wert und Bedeutung. Bericht über die Internationale wissenschaftliche Konferenz anläßlich der 10. Magdeburger TelemannFesttage, Magdeburg, 14. bis 16. März 1990. Oschersleben 1997, S. 205–230.
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wohl merckwürdigen als annehmlichen Geschichte, die man sich zu beschreiben vorgenommen, ihre vollkommene Reife erlanget haben werden, worauf man nur itzo noch wartet.53
2.3. Die Europäischen Höfe – ein Komödienroman? Um die Differenz zum höfisch-historischen Roman, in dessen Tradition er doch stände, zu markieren, hat Herbert Singer den galanten Roman als ‚Komödienroman‘ zu definieren versucht. Dies geschieht in Analogie zur behaupteten strukturellen Äquivalenz von höfisch-historischem Roman und Tragödie: Die Nähe des höfisch-historischen Romans zur Tragödie liegt auf der Hand und ist oft bemerkt worden. Der galante Roman, scheinbar nur eine Fortentwicklung und Reduktion des höfisch-historischen, entfernt sich rasch so weit von seinem Vorgänger, dass er der in vieler Hinsicht zur Tragödie gegensätzlichen Gattung Komödie an die Seite zu stellen ist.54
Gegen diese Konzeption des „Komödienromans“ sind jüngst einige treffende Einwände vorgebracht worden. So betont Jörn Steigerwald, „dass die Typisierung des ‚Komödienromans‘ weniger der begrifflichen Fassung und mehr der Etikettierung der so genannten galanten Romane dienen sollte, deren schiere Existenz zu einer literarhistorischen Einordnung nötigte, ohne dass damit deren Existenzberechtigung anerkannt wurde“.55 Tatsächlich hypostasierte Singer den Typus des ‚Komödienromans‛ mit einem literarhistorisch unhaltbaren Rück- bzw. Vorausgriff, indem er die „bürgerliche Komödie“ aus der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts auf den Roman zu Anfang des Jahrhunderts zurückprojizierte. So sollte der galante Roman als transitorisches Phänomen zwischen den Epochen konstruiert werden: aus der Vergangenheit nimmt er die Tradition des höfisch-barocken Romans auf, um sie in die Zukunft der „bürgerlichen Literatur“ (hier wohl: die Komödien Lessings) zu entlassen. Wie problematisch diese Konzeption ist, wird gerade mit Blick auf jene Gegenstände deutlich, die sie zu erfassen versucht. Die Königsmarck-Affäre
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[Johann Georg Hamann d. Ältere:] Der Europäischen Höfe Liebes= und Helden=Geschichte der Galanten Welt zur Vergnügung ans Licht gestellet, Nach Art der Herrn Menantes. Dritter Theil. Hamburg, bey Christian Wilhelm Brandt, 1747 [ED 1740], Vorr., Bl. 4 (r), u. (v), unpag. – Dieser 4. Teil erschien nicht mehr, da Hamann kurze Zeit nach dieser Ankündigung verstarb. Singer: Der galante Roman, S. 51. Steigerwald, Jörn: Höfliches Lachen. Die distinguierende Komik der höfischen Gesellschaft (am Beispiel von Christian Friedrich Hunolds ‚Satyrischer Roman‘); erscheint in: Stefanie Arend u.a. (Hg.): Lustige Texte – witzige Körper. Zur Anthropologie und Medialität des Komischen im 17. Jahrhundert [in Vorbereitung], Ms. 2.
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wird man hinsichtlich ihrer historisch bekannten Fakten wohl kaum als Komödie betrachten können. Zwar ist nicht zu leugnen, dass Hunolds Bearbeitung des Stoffes in den Europäischen Höfen auch komödiantische Züge trägt, doch bleiben diese auf die Adina-Episode beschränkt, die ihrerseits allerdings nicht komödiantisch, sondern tragisch endet. Und tragisch endet auch die Geschichte Siliberts, nicht nur dadurch, dass er stirbt, sondern ebenso, weil ihm die Liebe Dorimenens versagt bleiben muss. Singer hat seine Gattungskonzeption also weniger hinsichtlich ihres Gegenstandes, sondern vielmehr im Hinblick auf die Literaturgeschichte entworfen, wobei das ‚Telos‛ der Gattung des Komödienromans die Komödien der Aufklärung bilden. Nicht zufällig ist ausgerechnet Schiller sein Gewährsmann.56 Der jedoch, als er eine Bearbeitung des Königsmarck-Stoffes erwog, dachte nicht daran, eine Komödie zu schreiben. Der Stoff schien sich in den Augen Schillers weit eher für eine Tragödie zu eignen.
3. Friedrich Schiller: Die Prinzessin von Zelle 3.1. Die Bearbeitung des Königsmarck-Stoffes Kurz vor seinem Tod scheint Schiller zu einem Dramenplan zurückgekehrt zu sein, der ihn seit längerem beschäftigt hatte. Nach seinem Ableben jedenfalls, so berichtet Schillers Tochter Emilie von Gleichen-Rußwurm57, fand Caroline von Wolzogen auf seinem Schreibtisch Aufzeichnungen für ein Drama mit dem Titel Die Prinzessin von Zelle.58 Der relativ legere Umgang Carolines mit diesem Fund hatte auch Auswirkungen auf die Editionsgeschichte dieses Textes.59 Lieselotte Blumenthal hat in ihrer Abhandlung von 1963 erstmals eine Edition vorgenommen, die eine Rekonstruktion der handschriftlichen Überlie-
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Vgl. Singer: Der galante Roman, S. 51. An dieser Stelle soll Erwähnung finden, dass Emilie die Großmutter des Schriftstellers Alexander von Gleichen-Rußwurm war, dem Autor des großen kulturgeschichtlichen Buches Das Galante Europa. Geselligkeit der großen Welt 1600–1789. Stuttgart 1909 [u.ö.]. Zur Textgeschichte vgl. Blumenthal: Schillers Dramenplan, S. 34f. So wurde durch frühere Editionen „bei dem Leser unwillkürlich die Vorstellung eines entstehungsgeschichtlichen Ablaufs erweckt“, wie Blumenthal (ebd., S. 36) kritisiert. Sowohl die Edition in der Schiller National-Ausgabe als auch diejenige im Deutschen Klassiker-Verlag, beide von Herbert Kraft besorgt, folgen dennoch nicht der handschriftlichen Überlieferung (und Blumenthals Edition), sondern hypostasieren gleichfalls einen relativ kohärenten Text: vgl. Schillers Werke. Nationalausgabe, Bd. 12: Dramatische Fragmente, hg. v. Herbert Kraft. Weimar 1982, S. 329–346 u. Schiller, Friedrich: Werke und Briefe, Bd. 10: Dramatischer Nachlass, hg. v. Herbert Kraft und Mirjam Springer. Frankfurt/M. 2004, S. 603–619.
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ferung versucht, deren Blätter als Faksimile beigeheftet sind. An diese Edition werde ich mich im folgenden halten.60 Sie zeigt weniger einen strukturierten Plan als vielmehr ein Um- und Einkreisen des Stoffes, wobei sich jedoch durchaus eine kohärente Handlungsfolge erkennen lässt, auch wenn diese noch nicht in Szenen oder Akte eingeteilt ist. Diese Handlungsfolge soll im folgenden als Schillers Bearbeitung des Königsmarck-Stoffes vorgestellt werden. Schon der Titel signalisiert den Unterschied zu beispielsweise Hunolds Bearbeitung: bei Schiller steht nicht Königsmarck im Zentrum des Geschehens, sondern die Prinzessin. Von ihrer Position aus wird die Handlung des Dramas entworfen.61 Diese ist auf den Hof in Hannover konzentriert. Die Prinzessin ist bereits mit dem Erbprinzen Georg verheiratet, den sie liebt, von dem sie aber nicht wiedergeliebt wird. Stattdessen vergnügt er sich mit seiner Mätresse, der Gräfin Platen. Die Prinzessin, die diese Situation nicht länger ertragen will, beschliesst, den Hof zu verlassen, und zwar in dem Moment, als das Haus Hannover mit der Anwartschaft auf die englische Krone zu nie gekanntem Glanz gekommen ist: [...] verlassen will sie dieses Haus gerade in dem Momente, wo es das höchste Glück scheint ihm anzugehören, und ohne dass sie für Glanz und Größe unempfindlich wäre. (S. 29)
Von ihren Eltern zum Bleiben überredet, versucht die Prinzessin, die Situation für sich zu nutzen, und will ihren Mann, dem ein eheliches Zerwürfnis in diesem Augenblick ausgesprochen ungelegen käme, wieder zurückgewinnen. In diesem Moment taucht ihr alter Vertrauter Königsmark auf: Königsmark wird von dem Liebespfeil getroffen, der auf ihren Gemahl gerichtet war. (S. 30)
Während sie von ihrem Gemahl zurückgestoßen und beleidigt wird, verliebt sich Königsmark in die Prinzessin, wird jedoch von ihr nicht wieder geliebt. Die Prinzessin beschließt nun die endgültige Flucht vom Hannoveraner Hof. Ihr Dilemma besteht darin, dass der einzige Vertraute, der ihr bei der Verwirk-
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Schiller, Friedrich: Die Prinzeßin von Zelle. In: Blumenthal: Schillers Dramenplan, S. 11–31. – Im folgenden mit nachgestellter Seitenzahl im Text zitiert. Diese Verschiebung des Fokus wurde vor allem durch Pöllnitz’ Histoire secrette befördert, die 1734 unter dem deutschen Titel Geheime Geschichte der Hertzogin von Hannover erschien; auch ein für Schiller zeitgenössischer Aufsatz, der 1804 in den Archives Littéraires erschien, steht unter dem Titel Essai sur l’histoire de la Princesse d’Ahlen (vgl. Blumenthal: Schillers Dramenplan, S. 48f. bzw. S. 51f.).
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lichung ihrer Fluchtpläne helfen kann, Königsmark ist.62 Sie begibt sich damit in die Gefahr, eines Liebesverhältnisses mit ihm verdächtigt zu werden. Hier schien die Gräfin Platen als Intrigantin ins Spiel kommen zu sollen; allerdings war sich Schiller noch nicht sicher, ob er die, auch von Hunold benutzte Version der chroniques scandaleuses aufnehmen sollte, nach der die Gräfin in ihrer Liebe zu Königsmark von diesem zurück gewiesen worden sei, oder ob eine Beleidigung der Prinzessin selbst vorausging.63 Immerhin scheint eine Intrigenhandlung vorgesehen gewesen zu sein, da von einer „Geschichte mit dem nachgemachten Billet“ (S. 14) die Rede ist. So oder so wird die Prinzessin, indem sie auf Königsmark angewiesen ist und das Risiko eines Skandals einzugehen bereit scheint, in den Augen der Welt schuldig, wiewohl sie selbst schuldlos bleibt: [...] dass sie, in größter Unschuld, sich dem schwersten Verdacht mit ihm aussetzt und der unwiderleglichste Anschein von Schuld auf sie fällt, indem sie rein ist wie die Unschuld. (S. 13)
Über das Ende des geplanten Stückes kann nur spekuliert werden. Einmal scheint ein eher repräsentatives Ende vorgesehen gewesen zu sein64, ein andermal heißt es mit Blick auf die Prinzessin: Vorzüglich ist auf eine dramatischere Catastrophe und einen ächt tragischen Ausgang zu denken, wo Unglück und Größe vereinigt sind. (S. 22)
So weit ließe sich die Handlung aus dem Dramenplan rekonstruieren. Aus diesen in einigen Punkten recht umfangreichen Werkstattnotizen lassen sich bereits die Spezifika von Schillers Handhabung des Stoffes erkennen. Da diese aufs engste mit Schillers Tragödienkonzeption verknüpft sind, sollen sie im folgenden in einem weiter ausgreifenden poetologischen Kapitel behandelt werden, das schliesslich auf Fragen der Gattungsgeschichte zurückführen wird.
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„Unter diesen Umständen ist Königsmark für die Prinzeßin eine sehr gewünschte Erscheinung. Sie kannte ihn schon an ihres Vaters Hof, es ist ein freundschaftliches Vertrauen zwischen ihnen, sie weiß sich von ihm verstanden, sie ist seines Antheils gewiß. Deßwegen erblickt sie ihn mit einem gewissen Grade von Leidenschaft. Ein solcher Freund ist es ja, der ihr längst gefehlt hat“ (S. 31). Erst heißt es analog zu Hunolds Bearbeitung des Stoffes: „Indem die Mätreße des ChurPrinzen von ihm beleidigt ist, ist die Buhlerin des Churfürsten von dem Königsmark beleidigt worden“ (S. 16); später jedoch: „Gräfin Platen muß eine Ursache haben, der Prinzeß übel mitzuspielen, sie muß von ihr beleidigt seyn“ (S. 23). „Prinz Georg ist anfangs da und zuletzt abwesend. Ganz am Schluß, nach Königsmarks Tod kommt er zurück. + Die Churfürstenwürde und die englische Succeßion“ (S. 19).
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3.2. Der Königsmarck-Stoff als Tragödie der Klassik Über Schillers Quellen für seine Prinzessin von Zelle sind wir relativ gut unterrichtet.65 Auch dürfte er nicht nur mit dem Stoff selbst, sondern ebenso mit der Art seiner Präsentation, wie sie in den galanten Romanen und chroniques scandaleuses vorherrschte, einigermaßen vertraut gewesen sein. Unter den Büchern, die zu Schillers Schulzeit unter den Karlsschülern konfisziert worden waren, ist „der starke Anteil an sogenannter galanter Literatur“ – etwa ein „Giornale per le donne o raccolta di storie galanti“ – besonders auffallend, wie eine Stichprobe Wolfgang Friedrichs ergeben hat.66 Dennoch wäre Schiller vermutlich nie auf die Idee gekommen, einen weiteren galanten Roman aus diesem Stoff zu machen. Das hat nicht nur damit zu tun, dass der galante Roman um 1800 aus der Mode gekommen war. Er war überhaupt nicht mehr innerhalb des Gattungsspektrums zu finden, das für eine literarische Bearbeitung des Stoffes in Frage kam.67 Erstaunen mag da schon eher, dass Schiller trotz seiner vorzüglichen Kenntnis der historischen Quellen darauf verzichtet hat, die darin angelegte dramatische Handlung aus verbotenem Liebesverhältnis, Intrige und Mord zur Grundlage für seinen Dramenplan zu machen, und statt dessen das Drama ganz auf die Prinzessin konzentrierte, die in ihre tragischen Verstrickungen nicht nur aufgrund eines Intrigengeflechts, sondern zuallererst durch eine von ihr selbst getroffene moralische Entscheidung gerät. Schiller scheint, um diesen Eindruck pointiert zu formulieren, weniger an dem Königsmarck-Stoff als an der Tragödie selbst interessiert gewesen zu sein.68 Es dürfte darum lohnen, Schillers Prinzessin von Zelle vor dem Hintergrund seiner Tragödienkonzeption zu diskutieren.69 Dabei soll vor allem die Abgrenzung vom primär historisch verfahrenden Drama fokussiert werden.70
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Vgl. Kettner, Gustav: Die Quellen von Schillers ›Warbeck‹ und ›Prinzessin von Celle‹. In: Vierteljahrsschrift für Literaturgeschichte 5 (1882), S. 533–546 u. ders.: Schillers Prinzeßin von Celle. In: Preußische Jahrbücher 92 (1893), S. 84–104. – Hunolds Europäische Höfe zählten offenbar nicht zu Schillers Vorlagen. Friedrichs, Wolfgang: Heimliche Lektüre der Karlsschüler. In: Achim Aurnhammer / Klaus Manger / Friedrich Starck (Hg.): Schiller und die höfische Welt. Tübingen 1990, S. 127–133, Zitat: S. 131. Vgl. dazu Kap. 4 dieses Beitrags. Ähnlich formuliert bereits Gerhard Storz, dass es Schiller in dem Dramenplan „wesentlich [...] um die Technik der Kunst, nicht um eine Idee“ dabei ginge (Storz, Gerhard: Der Dichter Friedrich Schiller. Stuttgart 1959, S. 494). Blumenthal: Schillers Dramenplan, hat dies vor allem im Hinblick auf dramentechnische Aspekte versucht, den philosophischen Hintergrund jedoch weitgehend vernachlässigt. Zur Tradition des historischen Dramas vor Schiller vgl. jetzt Niefanger, Dirk: Geschichtsdrama der Frühen Neuzeit 1495–1773. Tübingen 2005.
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In dem in dieser Hinsicht besonders aufschlussreichen Aufsatz Über die tragische Kunst, der 1792 zum ersten Mal in der Neuen Thalia erschien, heißt es dazu: Die Tragödie ist [...] poetische Nachahmung einer mitleidenswürdigen Handlung, und dadurch wird sie der historischen entgegengesetzt. Das letztere würde sie sein, wenn sie einen historischen Zweck verfolgte, wenn sie darauf ausgienge, von geschehenen Dingen und von der Art ihres Geschehens zu unterrichten. In diesem Falle müßte sie sich streng an historische Richtigkeit halten, weil sie einzig nur durch treue Darstellung des wirklich Geschehenen ihre Absicht erreichte. Aber die Tragödie hat einen poetischen Zweck, d.i. sie stellt eine Handlung dar, um zu rühren und durch Rührung zu ergötzen“. (NA 20, 166).71
Wer also in Schillers Prinzessin von Zelle nach historischen Details der Königsmarck-Affäre sucht, wird vergeblich suchen, denn selbst da, wo solche Details auftauchen mögen, sind sie nicht der Historie verpflichtet, sondern ordnen sich dem „poetischen Zweck“ der Tragödie unter. Daran ändert auch die Tatsache nichts, dass die historischen Akteure und Begebenheiten bei Schiller nicht mehr unverschlüsselt auftreten; das war bereits seit ca. 1730 in der Königsmarck-Literatur der Fall, als eine unmittelbare politische Rücksichtnahme nicht mehr oberste Priorität genoss. Vielmehr unterstehen die historischen Details trotzdem dem poetischen Zweck der Tragödie, „zu rühren und durch Rührung zu ergötzen“. Diese Zweckbestimmung der Tragödie geht auf Überlegungen Schillers Über das Vergnügen an tragischen Gegenständen zurück, in denen er darlegt, warum die moralische Affizierung, die von tragischen Gegenständen ausgeht, größer ist als diejenige von beispielsweise komischen Gegenständen.72 Dies läge vor allem an dem „Vergnügen des Mitleids“, das die tragischen Gegenstände zu erwecken vermögen: Diejenige Kunst aber, welche sich das Vergnügen des Mitleids ins besondre zum Zweck setzt, heißt die tragische Kunst im allgemeinsten Verstande. (NA 20, 153)
Dieses „Vergnügen“ kann in der Tragödie auf zweierlei Weise hervorgerufen werden. Einerseits „durch den Zwang der Umstände“: „so ist das Mitleid reiner, und wird zum wenigsten durch keine Vorstellung moralischer Zweckwidrigkeit geschwächt“ (NA 20, 155f.). Dies hat jedoch den Nachteil, dass sich
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Schiller, Friedrich: Ueber die tragische Kunst. In: Schillers Werke. Nationalausgabe, Bd. 20: Philosophische Schriften, Erster Teil, hg. v. Benno von Wiese. Weimar 1962, S. 148–170. Mit der Sigle NA sowie Band- und Seitenzahl nachgestellt im Text zitiert. Sofern nicht ausdrücklich anders erwähnt, folgen alle Hervorhebungen dem Original. Schiller, Friedrich: Ueber den Grund des Vergnügens an tragischen Gegenständen. In: ebd., S. 133–147.
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beim Zuschauer „das unangenehme Gefühl einer Zweckwidrigkeit in der Natur“ (NA 20, 156) einstellen könne. Darum wird diese Art der Tragödie noch von jener übertroffen, wo die Ursache des Unglücks nicht allein nicht der Moralität widersprechend, sondern sogar durch Moralität allein möglich ist, und wo das wechselseitige Leiden bloß von der Vorstellung herrührt, dass man Leiden erweckte. (NA 20, 156)
So oder so, soll die affektive Wirkung der Tragödie nicht über die Sinne, sondern über die (verletzte) Moralität der Sittlichkeit hergestellt werden: „Je lebhafter die Sinnlichkeit erwacht, desto schwächer wird die Sittlichkeit wirken“ (NA 20, 158). Mit dieser affektiven Wirkung auf die Vernunft widerspricht Schiller einer gerade in der frühen Neuzeit kultivierten, aus der Antike stammenden Affektenlehre, nach der die Affekte hauptsächlich auf die Sinne abzielen, um damit gerade die Vernunft zu hintergehen.73 Dieser Gedanke verdankt sich Schillers Kant-Lektüre, mit deren Hilfe er seine Tragödienkonzeption anthropologisch zu begründen versucht.74 Denn was den Menschen gegenüber allen anderen Lebewesen kategorial auszeichne, ist seine Vernunft, die deshalb unveräußerlich ist und als einziger Maßstab für jede Form von Moralität gelten kann; darum habe auch die affektive „Rührung“ bei der Sittlichkeit als einem Vernunftgesetz anzusetzen: Das sinnliche Vermögen kann durch zufällige Ursachen anders bestimmt werden; selbst unsre Erkenntnißvermögen sind von veränderlichen Bedingungen abhängig; unsre Sittlichkeit allein ruht auf sich selbst, und ist eben darum am tauglichsten, einen allgemeinen und sichern Maas-stab [...] abzugeben. (NA 20, 160)
Die Tragödie ist für Schiller diejenige Gattung, die diese moralische Affektivität am eindringlichsten hervorrufen kann, und zwar hauptsächlich aus zwei Gründen.75 Zum einen sei ihre Wirkung durch die Aufführungssituation weit unmittelbarer als dies beispielsweise bei narrativen Gattungen der Fall ist, was jedoch nicht heißt, dass die Tragödie auf einen durchkomponierten Plot verzichten könne, da erst dieser die Anteilnahme über den einzelnen sinnlichen Affekt hinaus zu wecken vermag:
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Vgl. den umfangreichen Artikel zur Affektenlehre in: Gert Ueding (Hg.): Historisches Wörterbuch der Rhetorik, Bd. 1. Tübingen 1992, Sp. 218–253. Vgl. Hinderer, Walter: Zwischen Person und Existenz. Vergleichende Bemerkungen zu Schillers philosophischer Anthropologie. In: Germanisch-Romanische Monatsschrift 52 (1971), S. 257–268. Vgl. auch die, auf seiner Leipziger Dissertation zu Schillers Dramenfragmenten beruhenden, Notizen von Oehme, Matthias: Die Wirkungsmacht der Tragödie. Historische und ästhetische Aspekte der Dramenentwürfe Schillers. In: Bernd Wilhelmi (Hg.): Friedrich Schiller. Eine Herausforderung. Jena 1985, S. 67–73.
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Dirk Rose Ein einzelnes Ereignis, wie tragisch es auch seyn mag, giebt noch keine Tragödie. Mehrere als Ursache und Wirkung in einander gegründete Begebenheiten müssen sich mit einander zweckmäßig zu einem Ganzen verbinden, wenn die Wahrheit, d.i. die Uebereinstimmung eines vorgestellten Affekts, Karakters und dergleichen mit der Natur unsrer Seele, auf welche allein sich unsre Theilnahme gründet, erkannt werden soll. (NA 20, 165)
Der zweite Grund, warum die Tragödie die bevorzugte Gattung für eine solche moralische Wirkung ist, liegt eben darin, dass das sittliche Empfinden am ehesten von tragischen Gegenständen gerührt werde, da es sich von ihnen in seiner Moralität verletzt fühlt. Dem Stoff der Tragödie kann daher nur insofern ein Interesse zukommen, als dass er diesen tragischen Gegenstand liefert, während die tragische Wirkung und die moralische Affizierung Sache der Tragödie selbst, mithin eine Frage der Gattungskonzeption und ihrer ästhetischen Durchführung, ist. Daher kommt Schiller zu dem Schluss: Diejenige Tragödie würde also die vollkommenste seyn, in welcher das erregte Mitleid weniger Wirkung des Stoffs als der am besten benutzten tragischen Form ist. (NA 20, 169)
Vor dem Hintergrund dieser Tragödienkonzeption76 wird deutlich, wieso Schiller an dem historischen Stoff der Königsmarck-Geschichte und den tragischen Potentialen, die dieser Stoff selbst bereit hielt, vergleichsweise wenig interessiert war. Ja mehr noch: nur unter der Bedingung, dass er diese Potentiale gerade nicht verwendete, wurde für ihn eine Tragödie über diesen Stoff möglich.77 So heißt es auf einem Blatt des Entwurfs, wo Schiller seine „Ideen zu einem Trauerspiel: Die Herzogin von Zelle“ zusammenfasst, zu Beginn programmatisch: Aus diesem Stoff kann eine Tragödie werden, wenn der Charakter der Prinzeßin vollkommen rein erhalten wird und kein Liebesverständniß zwischen ihr und Königsmark statt findet. (S. 25)78
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Schillers Tragödienschrift von 1792 wird hier vor allem im Hinblick auf konzeptionelle Äquivalenzen herangezogen; dass sich seine Tragödienpoetik bis zur späten Prinzessin von Zelle weiterentwickelt hat, wird dabei nicht in Frage gestellt: vgl. dazu die ausführliche Interpretation des Dramenentwurfs bei Suppanz, Frank: Person und Staat in Schillers Dramenfragmenten. Zur literarischen Rekonstruktion eines problematischen Verhältnisses. Tübingen 2000, S. 227–247. Blumenthal (Schillers Dramenplan, S. 46, Anm. 1) weist darauf hin, Schiller habe die Werke zur hannoverischen Geschichte, die sich in seiner eigenen Bibliothek befanden, für die Konzeption des Dramenplans zur Prinzessin von Zelle nicht zu Rate gezogen. Die Hervorhebung stammt charakteristischerweise von Schiller selbst.
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Denn gerade deshalb muss „der Charakter der Prinzeßin vollkommen rein erhalten“ werden, weil die affektive Wirkung des Mitleids, die sich auf das sittliche Empfinden der Zuschauer gründen soll, von der Sittlichkeit ihrer Person ausgehen muss; und das Tragische aus der Kollision dieser Sittlichkeit mit den Umständen, unter denen sie zu leiden hat, entsteht.79 Entsprechend entwirft Schiller den Charakter der Prinzessin in seinem Dramenplan: Prinzeßin stellt dar eine edle Natur, welche gemeinen Verhältnißen und Absichten aufgeopfert worden, sich mit allen Waffen der Unschuld und Natur dagegen vergebens wehrt. (S. 22)
Nach allem, was man aus den historischen Quellen weiß, entspricht dieser Charakter nicht unbedingt demjenigen der tatsächlichen Prinzessin von Celle, die Lieselotte von der Pfalz als „das artigste, aber dabey auch untreueste Mensch von der Welt“ beschrieben hat.80 Schiller hingegen entwirft die Figur als Funktionsträger im Hinblick auf seine Tragödienkonzeption.81 Dabei kommen die Prinzessin und ihr Schicksal jener zweiten Form tragischer Dichtung sehr nahe, „wo die Ursache des Unglücks nicht allein nicht der Moralität widersprechend, sondern sogar durch Moralität allein möglich ist“82. Es ist ja die Entscheidung der Prinzessin, den Hannoveraner Hof aus moralischen Gründen zu verlassen – denn „ihre schöne edle Natur widerstrebt diesem Zustand“ (S. 15) –, die die tragische Handlung erst ins Rollen bringt. Und das besonders Tragische ist für Schiller daran, dass sie zur Erreichung dieses Ziels
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Suppanz (Person und Staat, S. 239) behauptet hingegen, die von Schiller angedeuteten kleinen Schwächen würden der Prinzessin „den Status einer idealen moralischen Instanz“ nehmen. Die Belegstelle aus der Prinzessin von Zelle, die Suppanz zitiert, widerlegt aber seine eigene Argumentation, da es dort gerade darum geht, welchen Ausweg „jede gemeine Weltnatur“ (S. 15) genommen hätte, und dass dieser Ausweg der Prinzessin gerade nicht zugänglich ist, denn: „ihr Gemüth ist nicht von dieser Art“ (ebd.). Zitiert nach Singer: Prinzessin, S. 307. Dass die Prinzessin damit automatisch zur Protagonistin eines „bürgerlichen Trauerspiels“ wird, meint Mirjam Springer, die deshalb über die Prinzessin von Zelle urteilen zu können glaubt: „In der Tat ist dieses Schillers bürgerlichstes Drama“ (Springer, Mirjam: Legierungen aus Zinn und Blei. Schillers dramatische Fragmente. Frankfurt/M. 2000, S. 132). Im Gegensatz dazu behauptet Suppanz, die „Erhabenheit als Selbstbestimmung in höfischer Gesellschaft“ führe hier im Gegenteil zu einer „Auflösung des bürgerlichen Trauerspiels“ (Suppanz: Person und Staat, S. 227). – Der vorliegende Beitrag klammert diese Diskussion, die weitgehend einen Legitimationsdiskurs bürgerlicher Literaturgeschichtsschreibung fortführt, aus und konzentriert sich stattdessen auf strukturelle Aspekte in Schillers Tragödienkonzeption; auch im Hinblick darauf, dass Schillers dramentheoretische Schriften ab ca. 1790 sich selbst vorwiegend mit der Gattungstradition der Tragödie auseinandersetzen. Vgl. oben, Kapitel 3.2.
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sich eines Mittels (bzw. einer Person) bedienen muss, die diese sittliche Entscheidung in den Augen der Welt als Unsittlichkeit erscheinen lässt. In einer eigens eingekreisten Notiz heißt es: „Sie ist also ganz hülflos und ihr Schicksal wird vollends tragisch, dass das Mittel, welches sie zu ihrer Rettung erwählt, zu ihrem Untergang ausschlägt. (S. 11) – Dieses „Mittel“ ist Königsmarck, der ihr zur Flucht verhelfen soll. Um die von dieser Konstellation ausgehende tragische Wirkung zu unterstreichen, ist Schillers KönigsmarckFigur vor allem als Verführer konzipiert, der die tragische Handlung zur „Crise“ führt83, selbst aber keine tragische Figur ist: Königsmarks erster Auftritt muß aufs höchste prægnant und dramatisch seyn. Er ist eine chevaliereske großmüthige und feurige Natur, der sich aber doch zu sehr in seiner Rolle gefällt, und der zum bloßen Freund und Helden zu zärtlich auch zu eitel ist. (S. 21)
Sein Eintritt in die Handlung hat vor allem einen dramaturgischen Effekt. Anders als beispielsweise bei Hunold, spielt Königsmarck bei Schiller eher eine Nebenrolle, die sich aus dem Handlungsgefüge im Hinblick auf die Prinzessin ergibt. Wie sehr Schiller sein Drama in der Konzentration auf ihre Perspektive angelegt hat, zeigt folgendes Schema, das die „Stationen“ auflistet, die die Prinzessin innerhalb des Prozesses ihrer moralischen Entscheidung durchläuft: Stationen also sind 1. der Vater 2. die Mutter. 3. der Prinz. 4. der Herzog. 5. die Herzogin. 6. die Maitresse. 7. Königsmark. (S. 21)
Mit Königsmarks Erscheinen steuert die Tragödie auf ihre Katastrophe zu, eine weitere „Station“ war nicht vorgesehen. Schon daran lässt sich absehen, dass Schiller kein Königsmarck-Drama geplant hat, sondern den Stoff konsequent nach seiner Tragödienkonzeption zu gestalten gewillt war. Um deren Ziel, die moralische Rührung der Zuschauer, zu erreichen, schien ihm die Konzentration auf die Figur der Prinzessin offenbar am besten geeignet, wobei zumindest beim überlieferten Stand des Dramenplans einige Bedenken angebracht scheinen, ob der spannungsarme Plot nicht eher Langeweile denn
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„Damit die Geschichte rasch zu einer Catastrophe sich abrolle, muß gleich anfangs ein lebhafter Stoß hinein gebracht werden, es muss alles gleich so anfangen, dass eine Crise erwartet wird“ (S. 19). – Das Wort „Crise“ ist von Schiller doppelt unterstrichen.
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Rührung hervorgerufen hätte.84 Dem Ziel, die affektive Rührung der Sittlichkeit zu erwirken, ordnete Schiller jedenfalls seinen Dramenplan konsequent unter, denn die „Moral“ der moralischen Geschichte sollte lauten: Die schlechten Menschen triumphieren aber Unschuld und Seelenadel bleiben doch ein absolutes Gut. Das Edle siegt, auch unterliegend, über das Gemeine und Schlechte. (S. 22)
Mit Blick auf Schillers Prinzessin von Zelle lässt sich konstatieren, dass es ihm offenbar ernst war mit seiner Forderung, die ideale Tragödie wäre die, die ihr tragisches Potential nicht aus dem Stoff, sondern aus der Handhabung der Tragödienform selbst gewänne. Dies setzt jedoch einen veränderten gattungshistorischen Kontext voraus, der sich gegenüber demjenigen von Hunolds Europäischen Höfen radikal unterscheidet. Dabei spielt natürlich auch eine Rolle, dass es sich bei der Tragödie um eine in der poetologischen Tradition kodifizierte Gattung handelt, die zudem durch die Poetik des Aristoteles eine herausragende Bedeutung für die abendländische Poetologie überhaupt gewonnen hat, was man vom Roman bekanntermaßen nicht behaupten kann. Hinzu kommt, dass die Tragödie durch ihre kodifizierte Tradition eine weitaus eigenständigere Gattungsgeschichte aufzuweisen hat, die bereits stets in einen poetologischen Begründungszusammenhang eingebettet gewesen ist.85 Nichtsdestotrotz zeigt Schillers Gattungskonzeption der Tragödie als Tragödie und ihre reflexiv-philosophische Begründung eine neue Qualität in der Gattungsgeschichte an86, die eine Umstellung des Referenzrahmens andeutet, in den eine poetische Textproduktion am Ende des 18. Jahrhunderts gestellt werden konnte. Dieser Entwicklung, die aufs engste mit der Konstituierung eines Gegenstands unter dem Namen „Literatur“ im heutigen Wortsinn verbunden ist87, soll darum das abschließende Kapitel gewidmet sein.
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Zum Mangel eines tragischen Konflikts (und den poetologischen Konsequenzen daraus) vgl. auch Christ, Barbara: Die Splitter des Scheins. Friedrich Schiller und Heiner Müller. Zur Geschichte und Ästhetik des dramatischen Fragments. Paderborn 1996, S. 153. Vgl. am Beispiel des Barockdramas jetzt Stockhorst, Stefanie: Literarische Genera des Barock. Die kodifizierte Reformpoetik und alternative Normenbildung in poetologischen Paratexten. Habil. (masch.) Augsburg 2006 [Druck in Vorbereitung], S. 172–225 („Festlegung barocker Standards auf der Folie antiker Norm“) und hier insbesondere S. 187–194 („Die Tragödie als Garant für die Norm“). Vgl. dazu auch Frick, Werner: Der ‚Maler der Menschheit‛. Philosophische und poetische Konstruktionen der Gattungsgeschichte bei Schiller. In: Otto Dann / Norbert Oellers / Ernst Osterkamp (Hg.): Schiller als Historiker. Stuttgart / Weimar 1995, S. 77–108. Bekanntermaßen bezeichnete man mit dem Terminus „Literatur“ bis zum 18. Jahrhundert die gelehrte Textproduktion, und zwar meist in Latein. Vgl. Simons: Marteaus Europa, S. 116–122.
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4. Gattungskonzeption und „poetische Wahrheit“: ein Fazit Im Zusammenhang mit Hunolds Europäischen Höfen ist hier darauf hingewiesen worden, dass der Gattungskontext dieses galanten Romans – das Feld der Schlüsselromane und chroniques scandaleuses – aufs engste mit dem Stoff selbst verknüpft gewesen ist. Den Referenzrahmen für die Gattung bildete ein skandalöser Markt, auf dem diese und andere Skandalgeschichten kolportiert werden konnten. Dieser Rahmen übte entscheidenden Einfluss auf Erzählstruktur und narrative Strategie des Textes aus. Das Referentialisierungsangebot der kursierenden zeitgenössischen Schlüssel für Hunolds Roman kann als Indiz für diese These dienen. Sie lässt sich prinzipiell auf nahezu alle galanten deutschsprachigen Romane übertragen, die fast ausnahmslos versuchen, sich im selben Kontext zu situieren.88 Um es im Hinblick auf die in diesem Kapitel zu beschreibende Veränderung zugespitzt zu formulieren: Der Referenzrahmen für die Gattungskonzeption des galanten Romans lag außerhalb seiner selbst. Betrachtet man die Bearbeitungen des Königsmarck-Stoffes, die Herbert Singer zusammengestellt hat, so lässt sich ein ähnlicher Referenzrahmen wie für Hunolds Roman für nahezu alle diese Texte bis ca. 1780 konstatieren.89 Gegen Ende des Jahrhunderts tritt jedoch eine Veränderung ein, zuerst sichtbar an dem Trauerspiel Graf Königsmark von Carl von Reitzenstein aus dem Jahr 1791. Singer bemerkt dazu: „Die historischen Zusammenhänge seines Stoffes sind dabei völlig gleichgültig, ja störend“; vielmehr bestehe das Trauerspiel aus „fünf Akten voll strömender Beredsamkeit, sentimentaler Schwärmerei und affektgeladenen Stammelns in der lyrisch und pathetisch erhöhten Prosa des Sturms und Drangs“.90 Reitzenstein, so ließen sich Singers Beobachtungen zusammenfassen, ging es nicht mehr um den KönigsmarckStoff, der auf einem skandalösen Buchmarkt den Interessenten in immer neuen Varianten zum Kauf angeboten wurde, sondern in erster Linie um ein Drama im Stil des „Sturm und Drang“.91 Fast zur selben Zeit wie Reitzensteins Drama entstanden 1792 Schillers Gedanken Über die tragische Kunst, in denen ein solcher veränderter Referenzrahmen reflexiv für die Gattungskonzeption der Tragödie genutzt und programmatisch in der Absetzung dieser Gattung von den historischen Schauspielen statuiert wird. Denn Ziel dieser Absetzung dürfte auch gewesen sein, die Möglichkeit eines Referenzrahmens für die poetische Textproduktion zu
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Vgl. ebd., S. 259–349 (mit zahlreichen zeitgenössischen Quellen). Vgl. die Bibliographie Singers am Ende seines Aufsatzes: Singer: Prinzessin, S. 332–334. Singer: Prinzessin, S. 327. Vgl. Huyssen, Andreas: Drama des Sturm und Drang. Kommentar zu einer Epoche. München 1980.
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negieren, der außerhalb dieser Textproduktion liegt (wie im Fall des galanten Romans ein skandalöser Markt). Stattdessen soll für die Gattung der Tragödie nur noch das Tragische selbst konstitutiver Bestandteil sein, die eben dadurch erst zur Tragödie wird. Der Referenzrahmen, den Schiller hier für die poetische Textproduktion vorgibt, ist also die Poesie selbst. Dies setzt freilich die Möglichkeit voraus, dass die Setzung eines solchen Referenzrahmens „Poesie“ über genügend Geltungsanspruch verfügt, um beispielsweise eine aus ihm abgeleitete Gattungskonzeption zu legitimieren.92 Unmittelbar im Anschluss an die Trennung von Tragödie und historischem Schauspiel fährt Schiller deshalb fort: Aber die Tragödie hat einen poetischen Zweck [...], so steht sie, ihrer historischen Freyheit unbeschadet, unter dem strengen Gesetz der Naturwahrheit, welche man im Gegensatz von der historischen die poetische Wahrheit nennt. [...] Da der tragische Dichter, so wie überhaupt jeder Dichter, nur unter dem Gesetz der poetischen Wahrheit steht, so kann die gewissenhafteste Beobachtung der historischen ihn nie von seiner Dichterpflicht lossprechen, nie eine Uebertretung der poetischen Wahrheit, nie einem Mangel des Interesse zur Entschuldigung gereichen. (NA 20, 166f.)
Der Referenzrahmen der Poesie gilt demnach nicht nur für die Gattung der Tragödie, sondern für jede Art von Poesie, sofern diese mit einem poetischen Wahrheitsanspruch auftritt (und sonst ist sie keine Poesie). Darum auch die strikte Trennung von der „historischen Wahrheit“, die Aufgabe des Historikers sei.93 Innerhalb dieses Referenzrahmens der Poesie kommt der Tragödie insofern eine besondere Stellung zu, als dass sie durch ihre Gattungstradition eine spezifische „Schwerkraft“ besitzt, die sie ihrerseits für den Legitimationsdiskurs eines Referenzbereichs Poesie zur Verfügung stellt. Wenn sich schon die klassische Epoche der Kunst, das griechische Altertum, nicht wie-
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Dass die Etablierung eines solchen Bereichs mit der Delegitimierung des decorum als Instanz „heteronomer Bestimmungen“ der Poesie einhergeht bzw. diese voraussetzt (was besonders für das Theater des 18. Jahrhunderts keine Selbstverständlichkeit ist), betont Borchmeyer, Dieter: Tragödie und Öffentlichkeit. Schillers Dramaturgie im Zusammenhang seiner ästhetisch-politischen Theorie und die rhetorische Tradition. München 1973, S. 67f. Gerade Schillers Tätigkeit als Historiker könnte ihn zu dieser Trennung bewogen haben; vgl. die Beiträge in dem Band von Dann: Schiller als Historiker, sowie den jüngeren Beitrag des Jenaer Historikers Georg Schmidt: Friedrich Schiller und seine Geschichte des Dreißigjährigen Kriegs. In: Klaus Manger / Gottfried Willems (Hg.): Schiller im Gespräch der Wissenschaften. Heidelberg 2005, S. 79–105. – Das Argument Schillers wird dann von Nietzsche in der zweiten seiner Unzeitgemäßen Betrachtungen: Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben dahingehend radikalisiert werden, dass nicht die historische Wahrheit von Nutzen sei, sondern nur die durch die Poesie, und hier vor allem das Theater, vorgestellte poetische Wahrheit der Historie.
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derherstellen lässt, so kann doch die Tragödie in ihrer modernen Gattungskonzeption zumindest einen Aufschein dieser „poetischen Wahrheit“ garantieren94: Müßten wir Neuern wirklich darauf Verzicht thun, griechische Kunst je wieder herzustellen, wo nicht gar zu übertreffen, so dürfte die Tragödie allein eine Ausnahme machen. Ihr allein ersetzt vielleicht unsre wissenschaftliche Kultur den Raub, den sie an der Kunst überhaupt verübte. (NA 20, 157)
Hier dürfte auch offensichtlich sein, warum Schiller wohl kaum auf die Idee hätte kommen können, aus dem Königsmarck-Stoff einen galanten Roman zu machen: der galante Roman war am Ende des 18. Jahrhunderts keine literaturfähige Gattung mehr, da er sich gerade nicht ausschließlich auf den Referenzrahmen einer „poetischen Wahrheit“ verpflichten ließ. Darum führt auch kein Weg vom galanten Roman zur Tragödie der Klassik. Vielmehr machen diese beiden Gattungen in ihrem je historischen Kontext die Differenz sichtbar, die zwischen einer poetischen Textproduktion und ihren Gattungskonzeptionen zu Beginn und am Ende des 18. Jahrhunderts bestand. Dazwischen lag die Ausbildung eines spezifischen Funktionsbereichs der Poesie, der sich nicht zuletzt den ausdifferenzierenden Debatten der Aufklärung und der Etablierung einzelner, wissenssoziologisch trennbarer Diskursfelder darin verdankt.95 Dieser Prozess erst ermöglichte die radikale Einforderung eines eigenen Referenzrahmens ‚Poesie‛ für die poetische Textproduktion, mit einem eigenen Wahrheitsanspruch, wie ihn Schiller formulierte und die Romantiker kurz danach begeistert aufgriffen. Man mag das dann „Autonomie“ nennen, sofern man damit die Etablierung eines eigenen Begründungszusammenhangs für die poetische Textproduktion meint, der seine Legitimation aus der Referenz auf sich selbst gewinnt.96 Auf jeden Fall wurde damit jener Funktionsbereich einer mit
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Auf den (modernen) Rekonstruktionscharakter von Schillers Adaption der antiken Tragödie macht auch aufmerksam Latacz, Joachim: Schiller und die griechische Tragödie. In: Hellmut Fashar (Hg.): Tragödie. Idee und Transformation. Stuttgart / Leipzig 1997, S. 235–257, bes. S. 243, wo als das Ziel Schillers „die Synthese der höchsten Realisationsform von Tragödie in der alten Zeit [...] mit der höchsten Realisationsform von Tragödie in der neuen Zeit [...] zur ‚Tragödie an sich‘“ genannt wird. Vgl. beispielsweise den Überblick über die inzwischen sehr differenzierte Forschungslandschaft bei Alt, Peter-André: Aufklärung. 2. Auflage, Stuttgart / Weimar 1996, S. 48–59. Nicht zufällig ist es gerade Schiller, der den Gedanken der Autonomie aus der Morallehre Kants auf die Ästhetik überträgt: vgl. Vollhardt, Friedrich: Art. ‚Autonomie‛. In: Klaus Weimar (Hg.): Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft, Bd. 1. Berlin / New York 1997, S. 173–176, sowie Sauder, Gerhard: Ästhetische Autonomie als Norm der Weimarer Klassik. In: Friedrich Hiller (Hg.): Normen und Werte. Heidelberg 1982, S. 130–150.
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einem eigenen Wahrheits-, oder neutraler formuliert: mit einem eigenen epistemologischen Geltungsanspruch auftretenden „Literatur“ etabliert, der unter diesem Begriff bis heute fortbesteht.97 An den Bearbeitungen des Königsmarck-Stoffes lässt sich diese Entwicklung beispielhaft nachvollziehen. Während Hunolds Europäische Höfe noch als Referenzrahmen das zeitgenössische Feld der chroniques scandaleuses suchten, ist Schillers Dramenplan Die Prinzessin von Zelle vor allem auf seine Tragödienkonzeption hin orientiert. Hunolds Roman ist dabei auf den Stoff und ein Interesse an diesem Stoff bei seinen Rezipienten angewiesen; für Schiller wird der Stoff zunehmend kontingent und bildet gerade nicht mehr einen konstitutiven Teil der Gattungskonzeption, die sich stattdessen aus dem Referenzrahmen einer „poetischen Wahrheit“ und ihren gattungsspezifischen Konzeptualisierungen ergibt. Die ersten Texte, die in diesem neuen Referenzrahmen entstehen und seinem Wahrheitsanspruch Geltung verschaffen wollen, werden seine „klassischen Werke“ sein.98
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Der Genese dieses Bereichs widmen sich die Arbeiten von Simons: Marteaus Europa sowie Stöckmann, Ingo: Vor der Literatur. Eine Evolutionstheorie der Poetik Alteuropas. Tübingen 2001. Vgl. die auch in dieser Hinsicht wichtige Studie von Müller-Seidel, Walter: Die Geschichtlichkeit der deutschen Klassik. Literatur und Denkformen um 1800. Stuttgart 1983.
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Adolph von Knigges Über den Umgang mit Menschen Transformation der frühmodernen in die moderne Höflichkeit
Was heute als Verhaltensratgeber unter dem Namen „Knigge“ verkauft wird, hat nur mehr wenig mit dem zu tun, was Adolph Freiherr von Knigge (1752– 1796) in seinem Bestseller Über den Umgang mit Menschen (1788) entwarf1: Ratschläge zu einer Modellierung des Umgangs in einer sich neu strukturierenden Gesellschaft, die neben den erfolgversprechenden Effekten politisch klugen Agierens zugleich die Ansprüche aufgeklärter Moralität zeitigten. Zweifelsohne bildet Knigges Umgangs-Buch aufgrund seiner nachhaltigen Wirkung die Schnittstelle zwischen moderner und „frühmoderner Höflichkeit“. Die frühneuzeitliche Kunst des Komplimentierens, deren interaktionale Ritualisierung sich zu einer „Interaktionsgrammatik“ zusammenfügt, hat Manfred Beetz in seiner Habilitationsschrift auf der Basis von Verhaltensschriften um 1700 eingehend untersucht.2 Der vorliegende Beitrag greift die Analyse barocker und galanter Höflichkeit am Beispiel von Knigges Umgangs-Buch exemplarisch fast einhundert Jahre später wieder auf und geht der Frage nach, welche Funktionen dieser modernen Höflichkeitskonzeption als Schnittstelle im Zivilisationsprozess der Umgangsformen zukommen.3 Mit dem Erscheinen von Knigges Umgang und Immanuel Kants Kritik der praktischen Vernunft im selben Jahr (1788) zerfiel die Praktische Philosophie symbolisch, wie Karl-Heinz Göttert pointiert, in Philosophenmoral und Kate-
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Im Folgenden werden Seitennachweise im Fließtext nach der 3. Auflage (1790) in dieser Ausgabe angegeben: Knigge, Adolph Freiherr von: Über den Umgang mit Menschen, hg. v. Gert Ueding. Frankfurt/M. 1977. Beetz, Manfred: Frühmoderne Höflichkeit. Komplimentierkunst und Gesellschaftsrituale im altdeutschen Sprachraum. Stuttgart 1990. Die Breite des Untersuchungsfeldes ‚Höflichkeit‘, die Manfred Beetz in vielen seiner Arbeiten sowohl einschlägig skizziert als auch eindrucksvoll ausgearbeitet hat, kann hier nur mit einer Auswahl angedeutet werden. Vgl. u.a. Beetz, Manfred: Art. Höflichkeit. In: Gert Ueding (Hg.), Historisches Wörterbuch der Rhetorik. Tübingen 1996, Bd. 3, S. 1478–1486; Ders.: Art. Komplimentierbuch. In: Harald Fricke u.a. (Hg.): Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Neubearb. d. Reallexikons d. dt. Literaturgeschichte. 3. Aufl. Berlin / New York 2000, Bd. 2, S. 321–323; Ders.: Der anständige Gelehrte. In: Sebastian Neumeister / Conrad Wiedemann (Hg.): Res publica Litteraria. Die Institutionen der Gelehrsamkeit in der Frühen Neuzeit. Wiesbaden 1987. Tl. 1, S. 155–173.
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gorischen Imperativ einerseits sowie in eine theorieferne Praxisanleitung zum ‚wahren‘ Anstandsverhalten andererseits. Der moralphilosophische Generalentwurf, mit dem die bürgerlichen Aufklärer angetreten waren, ihr soziales Image zu profilieren, verkommt trotz des Bedarfs an Verhaltensregeln, die diese neuen Ansprüche repräsentieren konnten, und trotz der Nachfrage nach praktikabler Lebenshilfe uneingestandenermaßen zum bloßen Tip.4 Der Freiherr von Knigge wurde durch den Umgang mit Menschen zur Vorzeigefigur der Anstandsliteratur und seither zum missverstandenen Verhaltensidol des deutschen bürgerlichen Mittelstandes.5 Doch bezieht adlige Vorbildlichkeit ihre soziale Attraktivität weniger aus der Anerkennung bürgerlich hypostasierten Verdiensts oder bürgerlich-protestantischer Leistungsethik denn aus dem Erfolg, den das lebenslängliche Adelsprädikat signalisiert. Mit Erwerb und Lektüre von Knigges Verhaltensschrift konnte der Bürgerliche auf entsprechende Insider-Informationen und -ratschläge hoffen. Ähnliche Annahmen forcierten wohl auch den publizistischen Erfolg der Übersetzung von Lord Chesterfields Briefen, die sowohl klugheitspolitische Pädagogik verrieten als auch soziopolitische Einsichten in die britische Parlamentspolitik und Diplomatie eröffneten.6 Ihre Realitätsnähe unterschied diese Werke von anderen deutschen, überwiegend bürgerlichen Verhaltensautoren um und nach 1750, die entweder praxisferne philosophische Sittenlehren aufstellten,7 Sittenverfehlungen verurteilten,8 Sittenstrenge predigten9 oder ältere Verhaltenstraktate kolportierten. Knigge ließ aufgrund seiner Herkunft, Erziehung und eigenen Erfahrung an deutschen Höfen, auf deren Wert für die Erweiterung seiner Menschenkenntnis er sich in der Vorrede zur 5. Auflage des Umgangs-Buches explizit
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Vgl. Göttert, Karl-Heinz: Knigge oder: Von den Illusionen des anständigen Lebens. München 1995, S. 14, 149. Vgl. Dirksen, Jens: Den Markt umgehen. Knigge als praktizierender Literaturtheoretiker. In: Adolph Freiherr Knigge (Text und Kritik, 130) 1996, S. 47–53. Briefe des Herrn Philipp Dormer Stanhope, Grafen von Chesterfield, an seinen Sohn Philipp Stanhope, Esquire, ehemaligen außerordentlichen Gesandten am Dresdner Hofe. 6 Bde. Aus d. Engl. übs. v. I.G. Gellius. Leipzig, 1774–1777 (ND ausgew., bearb. u. hg. v. Friedemann Berger. Leipzig / Weimar 1983). Z.B. Bröckel, Elias: Anweisung zu der wahren Klugheit zu leben […]. Bremen 1744; Meier, Georg Friedrich: Philosophische Sittenlehre. 5 Tle. Halle 1753–1761. Dazu gehören satirische Textsorten wie die antigrobianische Literatur, auf die um 1700 Der kleine Grobianus gattungsprägend wirkte; vgl. als eine von dessen Neubearbeitungen z.B.: Der flegelhafte alamodische Erztölpel, Oder: Kurzweilige Anleitung zu höflichen Sitten. […] Aus d. Schwäbischen ins Teutsche übs. […]. Constantinopel 1751. Vgl. exemplarisch für die Alamode-Literatur: Sutor, Andree: Jüngling nach der Mode, mit Anmerkungen. Salzburg 1773. U.a. Gellert, Christian Fürchtegott: Moralische Vorlesungen, hg. v. Sibylle Späth (Gesammelte Schriften, hg. v. Bernd Witte, Bd. 6). Berlin / New York 1991.
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beruft,10 berechtigterweise sowohl praktikable als auch Verhaltensregeln à la mode erwarten. Geboren 1752, wurde er mit 14 Jahren Vollwaise, erbte aber lediglich den Schuldenberg seiner Väter, dessentwegen er zeitlebens nicht selbst über die Familiengüter verfügen durfte, die trotz aller seiner Bemühungen unter Zwangsverwaltung gestellt blieben.11 Wegen dieses mangelnden ökonomischen Rückhaltes strebte Knigge eine Hoflaufbahn an, als ihm noch während seines Jurastudiums in Göttingen eine Andienung bei Hofe in Aussicht gestellt wurde. Als Achtzehnjähriger wurde er zum Hofjunker und Assessor der Kriegs- und Domänenkammer am Hofe des Landgrafen Friedrich II. von Hessen-Kassel ernannt (1771). Diese berufliche Doppelrolle, in der er den statusadäquaten Vergnügungen wie der Finanzbürokratie des Landgrafen zu dienen hatte, signalisiert die Überlagerung von Interaktionssphären, die gewöhnlicherweise überwiegend adligen oder überwiegend bürgerlichen Aktanten zugeschrieben werden. Hof- und Privatleben überschnitten sich weiter, als er 1773 Henriette von Baumbach, eine Hofdame der Landgräfin Philippine, heiratete. Doch der steile Karrierestart, der ihm eine bezahlte Stellung bei Hofe und die Gunst des Fürsten einbrachte, endete jäh, als sein Protektor, der Erste Minister Sigismund Freiherr Waitz von Eschen sich mit dem Landgrafen entzweite und an den Hof des preußischen Königs Friedrich II. ging, an den zu folgen Knigge aber misslang. Alle Anstrengungen des jungen Knigge, weiter aufzusteigen oder an anderen Höfen unterzukommen, schlugen fehl und ließen ihn nicht zuletzt höfischen Intrigen die Schuld an seiner Misere geben. Während seiner „Wanderjahre“12 lernte er weitere deutsche Residenzen kennen, bewarb sich in Berlin, Darmstadt, Weimar, weilte zwei Jahre lang als maître de plaisir am Hof des Erbprinzen Wilhelm von Hessen in Hanau (1777–79), konnte aber an keinem dieser Höfe mehr Fuß fassen. Seine Desillusionierung ob der verlorenen beruflichen wie ökonomischen Perspektiven, sein Tadel und Spott über „Günstlinge[n], Neider[n], Projektemacher[n]“ unter den Hofleuten, die er schon in Kassel freimütig geäußert haben will, sein Zorn über höfische Kabale, die er gegen sich gerichtet glaubte,13 entluden sich
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Vgl. die Vorrede zur 5. Auflage: Knigge, Adolph Freiherr: Ueber den Umgang mit Menschen. In 3 Tln. 5. verb., verm. Aufl. Hannover 1796 (Sämtliche Werke, hg. v. Paul Raabe, Bd. 10) München / London u.a. 1992, S. 33. Zur Biographie Knigges, die im Folgenden wiedergegeben wird, vgl. die fundierten Arbeiten von Fenner, Wolfgang: Knigges Leben anhand seiner Briefe und Schriften. In: Adolph Freiherr Knigge: Ausgewählte Werke in zehn Bänden, hg. v. W. F. Hannover 1996. Bd. 10, S. 161–384; ders.: „In Seiner Durchlaucht Diensten stets willkommen“. Knigge am Hof des Landgrafen Friedrich II. von Hessen-Kassel. In: Birgit Nübel (Hg.): Adolph Freiherr Knigge in Kassel. Kassel 1996, S. 36–57. Begriff von Ueding, Gert: Die Kunst der gesellschaftlichen Beredsamkeit. Nachwort zu Knigges Diskurs „Über den Umgang mit Menschen“. In: Knigge: Umgang mit Menschen, hg. v. G.U., S. 423–454, hier S. 428. Vgl. Fenner: Knigges Leben, S. 172ff.
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in wiederkehrender Kritik am Hofleben und an französischen Sitten, u.a. im Roman meines Lebens (4 Teile, 1780–1782).14 Doch von Zeitgenossen wie Knigge vergeblich kritisiert wurde die Gallomanie, die französische Moden an deutschen Höfen indoktrinierte. Als modern galt im adligen als dem sozial vorbildlichen Stand noch immer der französische Interaktionsstil der Repräsentation.15 Der politischen Funktion der zentralistischen Macht von Versailles korrespondierte ihre repräsentative Formung eines ‚Lifestyle‘, der Architektur, Kleidung sowie verbales und nonverbales Verhalten umfasst. Indem dieser Glanz, der in Frankreich auf jene Machtverhältnisse verwies, an deutschen Fürstenhöfen nachgeahmt wurde, sollte auch hier der Schluss von äußerer Repräsentation auf politische und ökonomische Stärke im Inneren suggeriert werden. Entsprechende Artikulation, Gestikulation sowie prestigeträchtige Ausstattung der Bekleidung und Wohnung erläutert deshalb auch Antoine de Courtins La Civilité moderne von 1671. Der Einfluss dieser französischen Höflichkeitslehre ist kaum zu unterschätzen, beherrscht sie doch mit zahlreichen Übersetzungen und umfangreichen Bearbeitungen noch bis nach 1750 den Buchmarkt der deutschsprachigen Verhaltenslehren.16 Die Normierungsgewalt dieses französischen Vorbilds dominiert somit die der eigenständigen deutschsprachigen Verhaltenstraktate, die ab 1650 entstanden, und den Einfluss englischer Sitten, die vornehmlich nicht von Verhaltensratgebern präskribiert wurden.17
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Vgl. Köpke, Wulf: „Von meiner zartesten Jugend an habe ich leider! fast immer an Höfen gelebt“. Knigges Kritik kleindeutscher Höfe, mit besonderer Berücksichtigung von Hessen-Kassel. In: Nübel: Knigge in Kassel, S. 58–77; Ueding: Kunst der gesellschaftlichen Beredsamkeit, S. 426ff. Vgl. Beetz: Frühmoderne Höflichkeit, S. 187, 246. Courtin, Antoine de: Nouveau Traité de la civilité qui se pratique en France. Parmi les honnetes gens. [1671] 5. ed. Amsterdam 1695. Zu den deutschen Übersetzungen gehören u.a.: La Civilité moderne, Oder die Höflichkeit der Heutigen Welt, übers. v. Menantes [d.i. Christian Friedrich Hunold]. Hamburg 1708; Richtschnur Der Wohlanständigen Sitten, Oder Anleitung zu der, bey der ehrbaren Welt üblichen Höflichkeit. Nebst einer Anweisung zu Französischen und Deutschen Complimenten. und einigen Grundsätzen sich klüglich in der Welt aufzuführen. Strasburg 1754; La Civilité moderne, Oder die Höflichkeit der heutigen Welt. Woraus man sehen kan, wie man sich zu verhalten habe, damit man in dem Umgange mit artigen Leuten beliebt seyn möge. Neue, verb., verm. Auflage v. Carl Mouton. Hamburg 1761. Zum eigenständigen deutschen Verhaltensdiskurs vgl. Beetz: Frühmoderne Höflichkeit, S. 252f. Zum Einfluß der französischen und englischen Tradition auf die deutschen Umgangstheorien vgl. Göttert, Karl-Heinz: Die deutsche Umgangsliteratur des 18. Jahrhunderts im europäischen Kontext. In: Alain Montandon (Hg.): Über die deutsche Höflichkeit. Entwicklung der Kommunikationsvorstellungen in den Schriften über Umgangsformen in den deutschsprachigen Ländern. Bern / Berlin / Frankfurt/M. u.a. 1991, S. 101–115.
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Der französisch ausgeprägte Interaktionsstil erfasst ab der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts in einer horizontalen Ausbreitungsbewegung die deutschen Duodezstaaten und in vertikaler Ausbreitungsrichtung sukzessive die verschiedenen Stände. Er dringt allmählich in die verschiedenen Gesellschaftsschichten ein, indem er vom höfisch-politischen Interaktionsbereich konsequent auch auf den bürgerlich-privaten übertragen wird.18 So wird er nicht nur im Haus und am Hof nachgeahmt, sondern auch an der Universität als attraktiver Diskussionsstoff offeriert: Der bürgerliche Gelehrte Christian Thomasius propagiert in seiner Antrittsvorlesung als Philosophieprofessor an der Universität Leipzig 1687 das Ideal des honnête homme. Er legt seinem Kolleg Graciáns Oráculo manual y arte de prudencia (1647) zugrunde, das unter dem Titel L’Homme de Cour in das französische Verhaltensideal integriert wurde, da es allein in Frankreich während des 17. und 18. Jahrhunderts etwa zwanzig verschiedene Auflagen erlebte. Doch rät der Aufklärer Thomasius seinen Studenten, den künftigen Gelehrten aus den mittleren und höheren Ständen, nicht zu, blind den Gesetzen der Mode zu gehorchen und Verhaltensweisen eines „honnéte homme, galant homme, homme scavant, d’un bel esprit, de bon goust“ unüberlegt zu adaptieren. Was und wie „man denen Frantzosen in gemeinen Leben und Wandel nachahmen solle“, so der Titel seines angekündigten Kollegs, sollte nach den Gesetzen der Vernunft durch eine präzise Analyse dieser Begriffe, ihrer Eigenschaften und Verwendungen, herausgearbeitet werden.19 Damit legitimiert Thomasius erstmals wieder das Decorum durch die Philosophie mit den Mitteln der Vernunft. Seine Klugheitslehre basiert auf den moralphilosophischen Prinzipien des Naturrechts.20 Manfred Beetz hat darüber hinaus Thomasius auch als Autor einer Umgangslehre wiederentdeckt, dem die anonym erschienene, doch jahrzehntelang einflußreiche Kurtze Anleitung zu einer guten Conduite (1713) zuzuschreiben ist.21
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Am Beispiel, wie ein Gast zu verabschieden sei. In Kindermanns Deutschem Redner (1660) zeigt dies Beetz: Frühmoderne Höflichkeit, S. 246f. Thomasius, Christian: Discours, Welcher Gestalt man denen Frantzosen in gemeinen Leben und Wandel nachahmen solle? ein Collegium über des Gratians GrundReguln / Vernünfftig / klug und artig zu leben [1687]. In: Werner Schneiders (Hg.): Christian Thomasius. Ausgewählte Werke. Bd. 22: Kleine Teutsche Schriften. (ND d. Ausg. 1701). Hildesheim / Zürich / New York 1994, S. 1–70, hier S. 9ff. Vgl. Göttert, Karl-Heinz: Kommunikationsideale. Untersuchungen zur europäischen Konversationstheorie. München 1988. S. 88ff.; Schneiders, Werner: Thomasius politicus. Einige Bemerkungen über Staatskunst und Privatpolitik in der aufklärerischen Klugheitslehre. In: Norbert Hinske (Hg.): Zentren der Aufklärung. Bd. 1: Halle. Aufklärung und Pietismus. Heidelberg 1989, S. 91–110; Beetz: Frühmoderne Höflichkeit, S. 290. Gemeint ist: Thomasius, Christian (erm. Vf.): Kurtze Anleitung zu einer guten Conduite […] [1713]. Leipzig 1724. Vgl. dazu Beetz, Manfred: Ein neuentdeckter Lehrer der Conduite. Thomasius in der Geschichte der Gesellschaftsethik. In: Werner
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Die Fundierung der Anstands- in der Morallehre hebt Christian Wolffs Systematisierung der praktischen Philosophie und darin die Trennung von Ethik, Politik und Ökonomie formal wieder auf. Das Decorum wird der separaten Behandlung außerhalb der philosophischen Ethik verwiesen, der sich dann etwa Julius Bernhard von Rohr annimmt.22 Trotz Rohrs Bemühungen, nach dem Vorbild seines Lehrers Wolff das Decorum „wissenschaftlich“ zu systematisieren, verkommt die ihm zeitlich nachfolgende Anstands- zur Trivialliteratur.23 Für die Höflichkeitslehren um die Mitte des 18. Jahrhunderts wird zwar ein ethisch präskriptiver Teil vor einem verhaltenspraktischen Anweisungsteil obligatorisch, doch sind beide Teile nur noch lose miteinander verbunden.24 Oft genug sind die Verhaltensregeln selbst nicht mehr systematisch nach Situationen oder Interaktantengruppen angeordnet.25 Verhaltensnormen offenbaren damit die praktische Willkürlichkeit ihrer sozialen Standardisierung und Konventionalisierung bzw. den (unabänderlichen) Mangel einer philosophischen Herleitung oder Begründung der Einzelregeln, die sich nicht auf ein einziges Prinzip zurückführen oder in ein wissenschaftliches System einbringen lassen. Aus dem Umstand, dass sinnvolle Argumente für Verhalten nicht außerhalb des Sozialen und sozialer Funktionalität gefunden werden können, resultieren die Ratlosigkeit des sozialen Aktanten und sein Bedarf an Anleitung wie an Erklärung, die nicht zuletzt den publizistischen Erfolg von Knigges Umgangs-Buch mitbeförderten. Allein eine, wie Knigge sie nennt, „feine“ Erziehung (63) und vielfältige Erfahrungen führen neben theoretischem Unterricht zum guten Benehmen, indem sie mit den Konventionen vertraut machen.
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Schneiders (Hg.): Christian Thomasius 1655–1728. Interpretationen zu Werk und Wirkung. Hamburg 1989, S. 199–222, hier S. 199ff. Rohr, Julius Bernhard von: Einleitung zur Ceremoniel-Wissenschafft der PrivatPersonen […]. [1728]. 2. verm. Aufl. Berlin 1730 (ND hg. u. komm. v. Gotthardt Frühsorge, Leipzig 1989). Schneiders, Werner: Knigge im Kontext. Zur Geschichte des Schicklichen. In: Harro Zimmermann (Hg.): Adolph Freiherr Knigge. Neue Studien. Bremen 1998, S. 32– 42, hier S. 39f. Vgl. als ein Beispiel von vielen die anonym erschienene Moral- und Verhaltenslehre: Kurze Anleitung zu einem angenehmen Umgang durch höfliche Sitten zum allgemeinen Nutzen förderst der Jugend zusammen getragen. München 1764. Vgl. exemplarisch: Neues Complimentierbuch, oder Anweisung zu einer vernünftigen und anständigen Aufführung. Wien 1771; Unterricht für Junge Personen beyderley Geschlechts, So dasjenige, was zu einer vernünftigen Aufführung gehöret, kennen zu lernen begierig, […]. Aus d. Franz. übs. u. durchgehends verm. Frankfurt/M. 1760 (Übers. v. „Avis aux jeunes gens“).
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Doch Knigge bietet nicht nur Verhaltenslehren, er fundiert sie auch wieder in der Moral. Der zutreffendere Titel für seine Instruktionen müßte, wie er in der Vorrede zur 3. Auflage 1790 schreibt, lauten: „‘Vorschriften, wie der Mensch sich zu verhalten hat, um in dieser Welt und in Gesellschaft mit andern Menschen glücklich und vergnügt zu leben und seine Nebenmenschen glücklich und froh zu machen.’“ (10) Mit dieser spezifizierten Titelgebung knüpft er an Wolffs naturrechtliche Morallehre an, die Vernünfftige[n] Gedancken Von der Menschen Thun und Lassen, Zu Beförderung ihrer Glückseeligkeit.26 Damit überträgt Knigge den Raster der Praktischen Philosophie nach Wolff auf seine Philosophie der Praxis,27 doch bietet Knigges Abhandlung keine philosophische Systematik, sondern leistet eine soziale Strukturierung, wie noch zu sehen sein wird. Knigge intendiert weder philosophische Kohärenz noch vollständige Verhaltensanleitung (24). Er bietet kein ausbuchstabiertes, in sich geschlossenes moralphilosophisches System, aber es gelingt ihm, seine Verhaltensratschläge in eine eudämonistische Naturrechtsvorstellung zu integrieren. Statt philosophisch zu argumentieren appelliert er an moralische Werte, die sich die bürgerliche Aufklärung zu eigen gemacht hatte. Diese genuin vom Bürgertum postulierten Leittugenden der „Biederkeit, Bürgerlichkeit und Rechtschaffenheit“28 sind einerseits moralische Richtschnur, der sich der adlige Autor selbst unterwirft, andererseits Identifikationsangebot an den bürgerlichen Rezipienten. Sie bieten einen gemeinsamen Normenhintergrund und fördern dadurch die Verständigung über ständisch unterschiedliche Moralund Verhaltensaxiome hinweg. Französische Moralisten und Gesellschaftsethiker wie La Rochefoucauld, La Bruyère oder Bellegarde erklärten den menschlichen Charakter moralphilosophisch mit der anthropologisch konstanten und damit legitimen Selbstliebe der Menschennatur.29 Eigennutz wird als anthropologische Grunddisposition verstanden und in Gesellschaftskonzeptionen seit Thomas Hobbes als Triebfeder menschlichen Handelns aufgefaßt. Solch egoistisches Bestreben
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Vgl. Wolff, Christian: Vernünfftige Gedancken Von der Menschen Thun und Lassen, Zu Beförderung ihrer Glückseeligkeit, den Liebhabern der Wahrheit mitgetheilet […] [Deutsche Ethik] [EA 1720]. 4. verm. Aufl. Leipzig 1733 (Gesammelte Werke, hg. v. Jean École, Hans Werner Arndt u.a. Hildesheim / Zürich / New York 1996, Abt. 1, Bd. 4). Vgl. Göttert, Karl-Heinz: Zweierlei Wege in die Moderne. Zu Knigges Konzeption des Anstands. In: Zimmermann: Knigge, S. 43–48, hier S. 44. Die zitierten Begriffe stammen von Ueding: Kunst der gesellschaftlichen Beredsamkeit, S. 444. Vgl. dazu Göttert: Kommunikationsideale, S. 70ff. – Dass Knigges biedere Moralplatitüden nicht an die intellektuelle Raffinesse der französischen Moralisten heranreichen, sucht zu beweisen: Chicaia, Matei: Anatomie einer Maxime. Wissen über den Menschen bei La Rochefoucauld und bei Knigge. In: Zeitschrift für französische Sprache und Literatur 111 (2001) 2, S. 165–182.
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kann aus äußerer juristischer (Hobbes, Pufendorf) oder innerer vernunftgeleiteter Verpflichtung (Thomasius) heraus gelenkt auch positiv für das Gemeinwohl wirken.30 Zu diesem Zweck propagiert Knigge die moralische Verpflichtung auf ein naturrechtlich basiertes Gesellschaftsmodell. Denjenigen Eigennutz, der sich für empfangene Wohltaten nicht dankbar erweist (242, 290) und damit keinen sozialen Ausgleich in einer Verbindlichkeit gegenüber anderen gewährleistet, kritisiert Knigge auch in Über Eigennutz und Undank (Leipzig 1796). Das Selbstsüchtige des nur auf den eigenen Vorteil bedachten feudalen Rang- und Privilegienstreits wird dem kaufmännischen Gewinnstreben gegenübergestellt, das nicht allein der persönlichen Profitgier, sondern gleichermaßen der Gemeinschaft diene.31 Mit diesem Rückhalt in (bürgerlich forcierten) Idealen und Zielen der Aufklärer klagt Knigges Verhaltenslehre eigennütziges Vorteilsdenken an. Seine moralischen Argumente implizieren eine Sozialkritik am deutschen Adel seiner Zeit. Knigge attackiert Laster, Verschwendung, Hochmut und Fühllosigkeit der Vornehmen und Reichen sowie Hab- und Rachsucht, Heuchelei und Schmeichelei der Hofleute (284ff.). Seine Kritik richtet sich gegen das moralisch nicht miteinander verbundene Nebeneinander von rein taktischem Außenverhalten und wahrem Inneren des Aktanten.32 Mit solchen kritischen Äußerungen wird Knigge zum Sprachrohr der moralisch argumentierenden bürgerlichen Aufklärer, die die dem adligen Stand und der Hofkultur zugewiesene Doppelmoral des barocken Klugheitsideals anprangern. Knigge ruft die ständisch assoziierten dichotomischen Gegenüberstellungen von Hof- und Privatleben oder Interaktionsrationalität und -emotionalität auf, denen auch eine moralische Gegensätzlichkeit korrespondiere: „Die sehr vornehmen und sehr reichen Leute haben selten Sinn für häusliche Glückseligkeit, fühlen keine Seelenbedürfnisse […]“ und pflegen „auch eine eigne Moral zu haben“ (179). Er bestätigt damit die über eine Wertediskussion geführten Abgrenzungsbemühungen des sozial aufstrebenden Bürgertums, das sich über Verhaltensmotivationen und -intentionen vom sozialständisch superioren Adel zu distanzieren und die eigene (soziale) Wertigkeit zu exponieren sucht. So wirft
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Zur aufklärerischen Eigennutz-Debatte vgl. Vollhardt, Friedrich: Ueber Eigennutz und Undank. Knigges Beitrag zur moralphilosophischen Diskussion der Spätaufklärung. In: Martin Rector (Hg.): Zwischen Weltklugheit und Moral. Der Aufklärer Adolph Freiherr Knigge. Göttingen 1999, S. 45–67. Vgl. Schmitt-Sasse, Joachim: J. M. v. Loen und Adolph Freiherr Knigge. Bürgerliche Ideale in den Schriften deutscher Adliger. In: Zeitschrift für deutsche Philologie 106 (1987) 2, S. 169–183, hier S. 175f. Vgl. dazu eingehend Göttert: Kommunikationsideale, S. 48f. Weitere zeitgenössische Beispiele versammelt Beetz, Manfred: Negative Kontinuität. Vorbehalte gegenüber barocker Komplimentierkultur unter Altdeutschen und Aufklärern. In: Klaus Garber (Hg.): Europäische Barockrezeption. 2 Tle. Wiesbaden 1991. Tl. 1, S. 281– 301.
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er seinen Lands- und Standesleuten falsche Moralität vor, indem er die Perspektive der Unterprivilegierten übernimmt: Der Adlige erhebe sich ohne eigenes Verdienst über andere, nur aufgrund einer längst verjährten Tugendleistung der eigenen Ahnenreihe (94). Doch verbleibt Knigges sozialmoralische Kritik am Adel an der Oberfläche moralischer Postulate, ohne moralphilosophisch gestützt zu werden. Emanuel Peter meint, dass Knigge die „moralische Kompromißlosigkeit der ‚mittleren Stände‘ und ihrer (angenommenen) Wertvorstellungen gegenüber Adel und Klerus“ propagiert habe.33 Wohl weiß Knigge adlig-höfische Verhaltensregeln mit bürgerlichen moralischen Werten zu versöhnen, doch verkennt Peter, dass Knigges moralische Stellungnahmen sowohl Kompromisse mit der Anpassungsnotwendigkeit an die realpragmatische Interaktionsproblematik als auch mit der dem Adel zugeschriebenen „Un“-Moral der Verstellung schließen.34 Dazu gehört, dass nicht ausschließlich moralische Argumente die Begründung einer Verhaltensanweisung tragen, dass manche einander widersprechen, dass sie sozialpragmatische Zugeständnisse erlauben und dass sie zur verurteilten adlig-höfischen Selbstinszenierung auffordern (39, 68).35 Somit lässt ihn eine plakative Anfeindung noch nicht zum Agitator eines genuin bürgerlichen Selbstbewusstseins werden, als der er in einer auf Klassengegensätze abhebenden Betrachtung verkannt wird, welche ihn zum „Überläufer“ vom adligen in das bürgerliche Lager stilisiert.36 Knigges Kritik an höfischen und feudalen Zuständen mit moralischen Argumenten bedient wohl ein bürgerliches Bedürfnis, vertritt aber in erster Linie eigene, antihöfische adlige
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Peter, Emanuel: Geselligkeiten. Literatur, Gruppenbildung und kultureller Wandel im 18. Jahrhundert. Tübingen 1999, S. 218. Rector unterscheidet zwischen der Umgangslehre Knigges als sozialpragmatischer Anleitung und seinen Romanen als moralisch rigoristischer Begründung ‚richtigen Lebens‘; vgl. Rector, Martin: Über die Grenzen des Umgangs mit Menschen. Zu Adolph Freiherr Knigges Romanen. In: Adolph Freiherr Knigge (Text und Kritik, 130) 1996, S. 54–67. So auch Scharnowski, Susanne: Rhetorik des Herzens. Zu einem Dilemma der Empfindsamkeit. In: Harald Haferland / Paul Ingwer (Hg.): Höflichkeit. [Osnabrück] 1996, S. 105–122, hier S. 117f. Knigge wird als „‘Überläufer’ aus dem Lager der Hofleute in das des Bürgertums“ bezeichnet von Fetscher, Iring: Der Freiherr von Knigge und seine Erben. In: Der Monat 13 (1960/61) 146, S. 65–74, hier S. 72; mit fast dem gleichen Wortlaut auch von Ueding: Kunst der gesellschaftlichen Beredsamkeit, S. 452, sowie von Pittrof, Thomas: Die Entwicklung von Kommunikationsvorstellungen in Knigges Buch „Über den Umgang mit Menschen“. Drei Bemerkungen zum Thema. In: Montandon: Über die deutsche Höflichkeit, S. 159–174, hier S. 166. – Fetscher relativiert seine Kennzeichnung später als provokant gemeinte „Übertreibung“; vgl. Fetscher, Iring: Hatte Knigge eine politische Philosophie?. In: Rector: Zwischen Weltklugheit und Moral, S. 146–157, hier S. 146.
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Interessen,37 etwa gegen Privilegienforderungen und ein Übermaß an adligem Ehr- und Repräsentationsverlangen. Denn Knigge fordert trotz vieler Sympathie mit rousseauschen Gedanken der natürlichen Gleichheit aller Menschen keinen Umsturz gesellschaftlicher Strukturen oder die Nivellierung sozialer Standesunterschiede, sondern vielmehr die Anpassung an den status quo. Es überrascht daher auch nicht, dass Knigge Regeln, die bereits älteren Verhaltensidealen zugehören, vorstellt, empfiehlt und ihre Anwendungsbereiche ausweitet. Er informiert die Zielgruppe seines Buches, die „Personen im mittlern Stande“ (179), über kontemporär vorbildliche Umgangsformen.38 Das muss bedeuten, dass er ihnen konkrete Verhaltensratschläge aus der adligen und höfischen Interaktionssphäre vorschreibt. So expandieren ursprünglich galante und klugheitspolitische Verhaltensregeln in den häuslichen und in den privaten Raum. Beispielsweise warnt Knigge vor redseliger Offenheit auch im vertrautesten heimischen Zirkel,39 wodurch er den Gültigkeitsbereich traditionell adlig-höfischen Verhaltens erweitert. Neben diesen konkreten Verhaltensregeln gehören auch generelle Verhaltenseinstellungen zu denjenigen, deren Geltungsraum ausgedehnt wird. Eustache du Refuge hatte dem „klugen Hofmann“ die Kontrolle seiner Gemütsneigungen angeraten „als eines nothwendigen Werkzeuges bey Hofe“.40 Solch habitualisierte Affektreglementierung, Kaltblütigkeit, hält Knigge für existenziell, sowohl am Hofe (327f.) als auch in Gefahrensituationen (265) sowie als allgemeine Grundhaltung in Konversationen (53). Damit perpetuiert er die bereits antike und stoische temperantia, die barocke und galante Konversationskunst gefordert hatten,41 in die aufgeklärte Geselligkeit sowie in nicht verbale Umgangsaktivitäten. Ueding weist darauf hin, dass sich Knigges Verhal-
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Vgl. Schmitt-Sasse: Loen und Knigge, S. 177. Das verkennt Montandon, wenn er meint, Knigge habe das Umgangs-Buch im Unterschied zu seinen Vorgängern nicht für eine bestimmte Gesellschaftsklasse, sondern „für alle“ geschrieben; vgl. Montandon, Alain: Einleitung. In: ders. (Hg.): Über die deutsche Höflichkeit, S. 5–20, hier S. 15. Vgl. dagegen Machwirth, Eckart: Höflichkeit. Geschichte. Inhalt, Bedeutung. Trier 1970, S. 46, 50. Zur Verschwiegenheit auch gegenüber Ehefrau und Freunden vgl. Knigge: Umgang mit Menschen, S. 60f., 165f., 172f., 215f. Vgl. Du Refuge, Eustache: Kluger Hofmann: Das ist / Nachsinnige Vorstellung deß untadelichen Hoflebens […] [1616]. Frankfurt/M. 1667, S. 108f., 112. Vgl. Elias, Norbert: Die höfische Gesellschaft. Untersuchungen zur Soziologie die Königtums und der höfischen Aristokratie [1969]. 5. Aufl. Frankfurt/M. 1990. Vgl. zu dieser Forderung Beetz, Manfred: Leitlinien und Regeln der Höflichkeit für Konversationen. In: Wolfgang Adam (Hg.): Geselligkeit und Gesellschaft im Barockzeitalter. 2 Bde. Wiesbaden 1997. Bd. 2, S. 563–579, hier S. 578.
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tensregeln bis in die Details auf das rhetorisch-humanistische Muster des vir bonus hin dechiffrieren lassen.42 Auch für allgemeine Verhaltensstrategien trifft zu, dass Knigge sich der präskriptiven Tradition bedient, etwa der Klugheitspolitik wie im Falle des Ratgebens. So empfiehlt er, am besten niemandem zu raten, der bereits entschieden sei oder nur den Ratgeber testen wolle, insbesondere keinem Statushöheren und nicht im Falle von Heiratsangelegenheiten (278, 299).43 Gleichermaßen übernimmt Knigge konkrete, historisch wandelbare Interaktionsvorschriften, zum Beispiel das Verhalten eines Gastgebers hinsichtlich der Auswahl und Einladung der Gäste, des Vorbereitetseins, der Qualität der Bewirtung u.ä. (237ff.), wenn auch nicht in derselben Ausführlichkeit, mit der sich beispielsweise Rohr über Traktierregeln, Trink- und Esssitten oder die moralisch-ökonomische Anstößigkeit von Schlemmereien und „Schau-Gerichte[n]“ ausließ.44 Knigge tradiert folglich Regeln verschiedener älterer Interaktionsstile.45 Damit stellt er keine Ausnahme im Verhaltensdiskurs des 17. und 18. Jahrhunderts dar. Verhaltensschriften der galanten, barocken Epoche und des Aufklärungszeitalters sind nicht selten kanonartige Regelwerke, die von der Kapitelfolge bis hin zu wörtlichen Formulierungen deckungsgleich sein können. Ursache dafür ist die Orientierung an einem oder mehreren Mustern, die als vorbildlich erachtet, übersetzt, überarbeitet, neu aufgelegt, mithin weitestgehend kopiert werden.46 Die Kompilation traditionell präskribierter Verhaltensstandards erfüllt bei Knigge allerdings mehrere Funktionen: Zum ersten liegt seiner Auswahl von Interaktionsregeln der Bestand der in den deutschen Ländern jahrzehntelang modernen, französisch geprägten, höfisch ausagierten Sitten zugrunde, die zu kennen und zu erlernen im Interesse des bürgerlichen Rezipienten seines Verhaltenslehrbuchs liegt. Hinsichtlich dieser Regeln orientiert sich Knigge, wie die meisten durch Übersetzungen importierten und kolportierten Verhaltensschriften, an den gegenwärtig als höflich geltenden Manieren. Die Übertra-
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So Ueding: Kunst der gesellschaftlichen Beredsamkeit, S. 451. Vgl. Thomasius, Christian: Kurtzer Entwurff der Politischen Klugheit / sich selbst und andern in allen Menschlichen Gesellschafften wohl zu rathen / und zu einer gescheiden Conduite zu gelangen […]. Frankfurt / Leipzig 1710. Kap. 9, § 6, S. 247; § 33, S. 258; Rohr, Julius Bernhard von: Einleitung zu der Klugheit zu leben […]. Leipzig 1715. Kap. 8, S. 391, 397, 403. Vgl. Rohr: Ceremoniel-Wissenschafft, S. 437ff., 442. Anerkennung zollt Knigges kompilatorischer Leistung bereits Zaehle, Barbara: Knigges Umgang mit Menschen und seine Vorläufer. Ein Beitrag zur Geschichte der Gesellschaftsethik. Heidelberg 1933, S. 3, 164. An einem exemplarischen Textkorpus aus dem frühen 18. Jahrhundert, das Thomasius’ Anstandstext zum Vorbild hat, zeigt dies Beetz: Ein neuentdeckter Lehrer, S. 199.
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gung adlig-höfischer Verhaltensregeln auf bürgerliche Kreise bedarf einer solchen Vermittlungsinstanz, wie sie Knigge verkörpert, um das hohe Risiko für den Nichtadligen, sich durch plumpe Nachahmung höfischen Verhaltens der Lächerlichkeit preiszugeben,47 zu mindern. Denn die unreflektierte Imitation der großen durch die kleinen Höfe en miniature fordere gleichermaßen den Spott heraus (304f., 306) wie die schlechten Kopien der sozial Superioren durch die Inferioren, vor denen Knigge deshalb warnt (286, 315). Zum zweiten sichert der Freiherr seinen präskriptorischen Status als Verhaltenslehrer durch seinen sozialen Status. Die erlangte soziale Anerkennung, den die Nobilitierung des Autors unabweislich symbolisiert, verifiziert die Empfehlung seiner Auswahl von Verhaltensregeln. Denn trotz seines Misserfolgs am Hofe, zu dem er sich bekennt (32), garantiert Knigges Biographie einen sozialständisch bedingten, Authentizität verbürgenden, erziehungsbedingten und erfahrungsgesättigten Wissensvorsprung. Die moralischen Proklamationen stützen die Glaubwürdigkeit der von ihm übermittelten Verhaltensstandards. Zum dritten verfährt er wie die deutschsprachige Popularphilosophie eklektisch, indem Tradition und Erfahrung seine Auswahl von Verhaltensregeln stützen.48 Er sichtet das Reservoir bestehender Verhaltensregeln, wählt die seiner Meinung nach praktikablen und erfolgversprechenden Regeln aus, begründet diese Auswahl und ergänzt sie um eigene Bewährungsproben. Der Bezug auf die Verhaltenstradition sichert den von ihm genannten Regeln Autorität zu. Der Bezug auf die eigene Erfahrung dient darüber hinaus sowohl dazu, die Selbstermächtigung des Autors zum Sittenlehrer zu legitimieren (24, 33), als auch dazu, das vermittelte Wissen erkenntnispraktisch durch seine empirische Erprobung abzusichern. Mit ostentativen Hinweisen auf eigene Erlebnisse teilt er nicht nur das Empirie-Argument mit der Popularphilosophie, sondern auch deren Kritik am systemphilosophischen Denken, wenn er die Abweichungen individueller und relativer Erkenntnis, etwa in den je eigenen „Begriffe[n] von Glückseligkeit“, gelten lässt (79). Einzelbeispiele führen zu induktiven Argumentationsgängen, die die Popularphilosophie ebenfalls präferierte. Knigges Gesellschaftsethik wird in Abkehr von Wolffs
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Vgl. dazu schon präskriptiv: Morvan de Bellegarde, Abbé Jean-Baptiste: Betrachtungen über die Auslachenswürdigkeit, und über die Mittel, selbige zu vermeiden […]. Nach d. 7. Frz. Ed. übs. u. verm. v. Vf. d. Europäischen Fama. Leipzig 1708; oder auch die sozialpsychologische Analyse von: Garve, Christian: Ueber die Maxime Rochefaucaults: das bürgerliche Air verliehrt sich zuweilen bey der Armee, niemahls am Hofe. In: ders.: Versuche über verschiedene Gegenstände aus der Moral, der Litteratur und dem gesellschaftlichen Leben. Breslau 1792, Tl. 1, S. 295–452 (ND: Popularphilosophische Schriften, hg. v. Kurt Wölfel, Stuttgart 1974. Bd. 1, S. 559–716). Vgl. Göttert: Zweierlei Wege, S. 45.
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Moralphilosophie nicht systematisch aus Prinzipien deduziert, sondern sammelt praktikable Verhaltensregeln induktiv, erprobt sie empirisch und bestätigt die moralische Legitimität der so gewonnenen Regeln mit einem invariablen Normensatz an Werten und Tugenden, der dieser aufklärerischen Morallehre entlehnt ist. Die erläuternden Versatzstücke geben Erklärungen oder finale, kausale und konditionale Gültigkeiten an und streichen dadurch die Relativität und Situativität von interaktionsbezogenen Grundsätzen der Verhaltens- wie der Morallehre heraus. Damit entsprechen sie dem Erkenntnisvortrieb der aufklärerischen Anthropologie, die einsieht, dass es unüberwindliche Schwierigkeiten bereitet, die psychologisch wie physiologisch komplexe Menschennatur im Einzelfall diagnostizieren zu wollen.49 Manfred Beetz konstatiert, dass Veränderungen in den vom 16. bis zum 18. Jahrhundert relativ konstanten Umgangsgrammatiken weniger oft direkt an den Regeln selbst als an ihren Begründungen abzulesen seien. Er illustriert dies mit der Höflichkeitsmaxime der offenen Freundlichkeit im Umgang, die bestehen bleibe und mit ihrer sozial distinktiven (Harsdörfer) oder privatpolitischen Funktion verschiedentlich begründet (Graciàn, Weise, Callières) oder zum naturrechtlich-ethischen Grundsatz vertieft werde (Thomasius).50 Die Wirkung von Verhaltensweisen auf den Interaktionspartner des Umgangs basiert auf ihrer Performanz und nicht auf der Intention des sie ausführenden Subjekts, die nicht offensichtlich ist und daher nicht mit einer bestimmten moralischen Motivation in einen Zusammenhang gebracht werden kann. Die soziale Praktikabilität erprobter, funktionstüchtiger Verhaltensstandards dominiert daher in pragmatischer Sicht die mit ihnen verbundenen idealischen und oft nur moralischen Begründungsveränderungen.51 Die Sitten „der feinern Sozietät“ verweisen daher als äußerliche Konventionen nicht auf eine bestimmbare Moral, die als ihre Ursache angesehen werden könnte. Interaktionspraktiken sind für Knigge Hilfsmittel, den Zwang der äußeren sozialen Lage zu erleichtern. (328) Der schon zeitgenössische Erfolg von Knigges Umgang mit Menschen gründet folglich in der Einbindung von sozial vorbildlichen Verhaltensweisen der adligen Stände („esprit de conduite“, 23) in die der Aufklärung verpflichteten moralischen Argumente und psychologisch-anthropologischen Erkenntnisfortschritte. Die obgleich schwache Klammer von philosophischer Theorie mit politischer Klugheit einerseits und unphilosophischer Praxis andererseits, die auf ‚Natur‘ und ‚Vernunft‘ als metaphysischen Grundvoraussetzungen aufbaut, bietet dieser eudämonistischen Konzeption „wohltuende[r] Sicher-
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Vgl. Berg, Gunhild: Erzählte Menschenkenntnis. Moralische Erzählungen und Verhaltensschriften der deutschsprachigen Spätaufklärung. Tübingen 2006, S. 86–90. Vgl. Beetz: Ein neuentdeckter Lehrer, S. 213. Vgl. Berg: Erzählte Menschenkenntnis, S. 35–51.
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heit“ und philosophische „Unbedenklichkeit“.52 Insofern es Knigge gelingt, bewährte, ursprünglich in der französisch-höfischen Verhaltenskasuistik etablierte Instruktionen in Verhaltensschriften für deutsche bürgerliche Wohnstuben noch des 19. und 20. Jahrhunderts zu übersetzen, kann sein UmgangsBuch als translative Interaktionsgrammatik der modernen Höflichkeit bezeichnet werden. Die Trennung des äußerlichen ‚Anstands‘, d.h. des pragmatisch legitimierten moralischen Scheins, vom moralischen Prinzip des kategorischen Imperativs, schrieb Kant endgültig fest.53 Gerade die Verbindung von höfischpolitischen Verhaltensmaßgaben mit bürgerlich-moralischen Normen musste daher eine widerspruchsfreie Rezeption von Knigges Umgangslehre im 19. Jahrhundert verhindern. Auf der einen Seite wurden die von ihm popularisierten Interaktionsregeln weiterhin normiert, auf der anderen Seite diskreditierten seine bürgerlichen Nachfolger Knigges Interaktionsmoral: Aufgrund der (letztmalig erfolgreichen) Verbindung von Decorum und Honestum wurde das Umgangs-Buch zur bürgerlichen Anstandslehre. Denn nur die Kombination mit bürgerlichen moralischen Werthaltungen erlaubte es, mögliche moralische Widerstände gegen eine Adaption ursprünglich adliggalanter Verhaltensweisen durch das deutsche Bürgertum zu beseitigen. Auf diese moralisch abgesicherte Weise konnte der adlige Interaktionsstil des Freiherrn Knigge zu dem des „Biedermanns“ (211, 315, 316) werden. Dessen moralischer Rückhalt etabliert sich in der Biedermeierzeit derart, dass die adlig-höfische Herkunft des nun bürgerlich vereinnahmten Interaktionsstils ignoriert oder gar geleugnet werden kann. Die moralische Selbstgerechtigkeit führt sogar dazu, dass die ‚Moralität‘ des Verhaltensautors Knigge unter Machiavellismus-Verdacht gestellt wird, da das Umgangs-Buch die aufklärerische Moralphilosophie eben nicht als kohärentes Moralsystem, sondern als Wertekanon präsentiert. Diese negative Rezeptionslinie der Höflichkeitslehre führt zum bürgerlichen Verdikt des Werks im 19. Jahrhundert.54 Doch unbeschadet dieser moralischen Anklage reüssiert der galante Interaktionsstil, indem die Verhaltenspublizistik die Anstands- von der Morallehre absondert. Zum einen scheint am Ende des 18. Jahrhunderts eine neue ‚Le-
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So Göttert: Zweierlei Wege, S. 46. Vgl. Kant, Immanuel: Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, hg. u. eingel. v. Wolfgang Becker. Stuttgart 1983, § 14, S. 67f.; ders.: Metaphysik der Sitten. 2. Tl.: Metaphysische Anfangsgründe der Tugendlehre, neu hg. u. eingel. v. Bernd Ludwig (ND d. EA Königsberg, 1797). Hamburg 1990, S. 29. Vgl. zur Rezeption Schlott, Michael: Zur Wirkungsgeschichte Knigges. In: Rector: Zwischen Weltklugheit und Moral, S. 207–230; hier S. 218f.
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bensphilosophie‘ auf,55 die weder moralphilosophische Systematik noch alltagstaugliche Praxisanweisung bietet. Sie stellt moralische Maximen zur idealen Lebensbewältigung zusammen und existiert in ihrer trivialisierten Form bis heute als Lebensratgeber. Zum anderen verweisen Anstandsbücher um 1800 noch geradezu obligatorisch auf Knigges Standardwerk, um die aktuelle Bücherkenntnis ihrer Verfasser zu präsentieren.56 Doch dient dieser Verweis auf Knigge den Verhaltensautoren bald dazu, die Defizite dessen konkreter Interaktionsregelung hinsichtlich der Details oder bestimmter Situationen und Aktantengruppen zu monieren und damit das eigene Werk zu rechtfertigen.57 Der bürgerliche Verhaltensdiskurs verfährt damit nach demselben Muster wie hundert Jahre zuvor: Er adaptiert französisch ausformulierte Interaktionsregeln und distanziert sich zugleich von der damit verbundenen Interaktionsmoral.58 So wie Thomasius in der Frühaufklärung für die vernunftgeleitete Nachahmung des „galant homme“ plädierte, so ist auch für Verhaltensschriften der Biedermeierzeit weiterhin der „Galanthomme“ als „Mann von Welt“ vorbildlich.59 Nachdem das Galanterie-Ideal im 18. Jahrhundert aus bürgerlicher Sicht moralisch verurteilt worden war, hatte es namentlich Knigge durch die Verbindung mit moralischen Werten rehabilitiert, so dass es im 19. Jahrhundert ohne moralische Bedenken von bürgerlichen Verhaltensautoren weiter präskribiert werden kann.
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Kühne-Bertram, Gudrun: Aus dem Leben – zum Leben. Entstehung, Wesen und Bedeutung populärer Lebensphilosophien in der Geistesgeschichte des 19. Jahrhunderts. Frankfurt/M. u.a. 1987. Auf die Vorbildhaftigkeit des Umgangs-Buches rekurriert u.a. Nicolai, Carl: Ueber Selbstkunde, Menschenkenntniß und den Umgang mit Menschen. 1. oder allgemeiner Theil. Quedlinburg 1816, S. IV. Vgl. z.B. Claudius, George Carl: Ueber die Kunst sich beliebt und angenehm zu machen. Leipzig 1797, S. III. Vgl. Berg: Erzählte Menschenkenntnis, S. 57ff. Zur Kontinuität moralischer Vorwürfe von altdeutschen und aufklärerischen Sittenkritikern vgl. Beetz: Negative Kontinuität. Vgl. z.B. Wenzel, Gottfried Immanuel: Mann von Welt, oder dessen Grundsätze und Regeln des Anstandes […] [1802]. 9., verbess. Aufl. Stuttgart 1826; Schuster, Johann Traugott: Der Galanthomme oder der Gesellschafter, wie er sein soll […]. 18., verbess. Aufl. Quedlinburg / Leipzig 1878. – Für weitere bibliographische Angaben der sog. Knigge-Ratgeber nach dem Umgangs-Buch vgl. Weber, Walter: Schlag nach bei Knigge! Zelebrität und Mißverständnis eines Namens. In: Zimmermann: Knigge, S. 129–134; Krumrey, Horst-Volker: Entwicklungsstrukturen von Verhaltensstandarden. Eine soziologische Prozessanalyse auf der Grundlage deutscher Anstands- und Manierenbücher von 1870–1970. Frankfurt/M. 1984; Werner Zillig (Hg.): Gutes Benehemen. Anstandsbücher von Knigge bis heute. Berlin 2004 (Digitale Bibliothek 108).
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Ein solcher, weitgehend invarianter Bestand an Interaktionsregeln weist auf ein erhöhtes Sicherheitsbedürfnis in Folge sozialhistorischer Verhänderungen hin. Denn Verhaltenskodizes transportieren Interaktionspraktiken, um Verlässlichkeit, Angstfreiheit und Konfliktentschärfung im Umgang zu gewähren.60 Ein Grund für den Erfolg von Knigges Höflichkeitsratgeber besteht daher darin, Verhaltensregeln aus dem adlig-höfischen in den bürgerlichprivaten Interaktionsraum transportiert zu haben. Ein zweiter Grund für Erfolg und Bedeutung von Knigges Über den Umgang mit Menschen besteht in seiner Strukturierungsleistung, die auf den sozialen Stukturwandel reagiert. Das Neuartige dieser Konzeption wird deutlich, wenn man sie nicht nur mit ihren Vorgängern, sondern auch mit ihren Nachfolgern im frühen 19. Jahrhundert vergleicht. Obwohl Anweisungen zum aktionalen wie zum körpersprachlichen Ausdrucksverhalten spätestens ab 1800 für den bürgerlichen Mittelstand standardisiert sind,61 reißt der Bedarf an Instruktion in bürgerlichen Kreisen nicht ab. Die hohe Auflagenzahl der Verhaltenslehren deutet auf einen Orientierungsverlust hin, den die Imperative der Anstandsbücher ausgleichen sollen. Verhaltensunsicherheit besteht gerade in Phasen sozialhistorischer Veränderungen, die zur erhöhten sozialen Motion und folglich einer labilen Sozialstruktur führen. Verstärkt wird diese Desorientierung im Umgang durch länger oder kürzer währende Variationen von Interaktionsnormen, Abschleifungen wie Verfeinerungen, Moden und sozioökonomische Interessen. Auch tragen territoriale Abweichungen von Verhaltensstandards zur Unkenntnis des einzelnen über Umgangskonventionen bei. Knigge erinnert zu Beginn seiner Umgangsfibel diesbezüglich an die politische wie geographische Zersplitterung der deutschsprachigen Länder, aus der Sittenbesonderheiten resultieren, die regional und schichtenspezifisch voneinander abweichen und durch lokale Distinktionsbestrebungen noch verstärkt werden (24–32). Er reklamiert damit die nicht nur historisch, sondern auch territorial und gruppenspezifisch reglementierte Gültigkeit empfohlener Verhaltensweisen. Zeitliche Verzögerung sorgt für Verschiebungen und Überlagerungen der jeweils aktuellen Verhaltensmoden nach sozialen Gruppen und Umgangsbereichen. Doch ist Knigges Umgangs-Buch keine additive Verhaltenskasuistik, die für eine begrenzte Anzahl an Situationen und sozialen Typen Anweisungen gibt, vielmehr reagiert es auf Dynamik und Effekte der sozialhistorischen Ausdifferenzierung der modernen Gesellschaft. Ältere Temperamentenlehren handelten meist nur vier Interaktionstypen und ältere Verhaltensschriften lediglich eine kleine Anzahl verschiedener Interaktionssituationen summierend
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So grundsätzlich Beetz: Frühmoderne Höflichkeit. Diesen Nachweis an Verhaltensschriften zwischen 1790 und 1850 führt Frieling, Kirsten O.: Ausdruck macht Eindruck. Bürgerlicher Körperpraktiken in sozialer Kommunikation um 1800. Frankfurt/M. u.a. 2003.
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ab. Schon Rohr hält sich zugute, das Situationsspektrum vervollständigt zu haben. Nichtsdestoweniger verfasst er eine wohl detailliertere, dennoch weiterhin additiv verfahrende Verhaltensanweisung, die die französischen Vorgaben à la Courtin lediglich ergänzt, auf deutsche wie bürgerliche Kreise überträgt und erweitert.62 In der ersten und zweiten Auflage des Umgangs-Buches hatte Knigge mit dieser Tradition der Verhaltensschriften noch nicht gebrochen. Die Vielzahl der sozialen Verhältnisse sind in der Erstausgabe von 1788 noch „ziemlich ungeordnet“ in zwei Teilen erfasst.63 Mit der gründlichen Überarbeitung der Konzeption für die 3. Auflage 1790 aber konstruiert Knigge ein Soziabilitätsmodell, das dazu geeignet war, die sozial-historischen Strukturveränderungen von der alten ständischen zur modernen funktional organisierten bürgerlichen Gesellschaft zu spiegeln: Knigge unterscheidet nun Interaktionstypen im 1. Teil nach der ‚natürlichen‘ anthropologischen Disposition, nach Temperament, Neigungen, Lastern, intellektuellen und moralischen Qualitäten, im 2. Teil nach den ‚natürlichen‘ sozialen Dependenzen aufgrund von Alter, Geschlecht, Verwandtschaft sowie im 3. Teil nach den ‚vergesellschafteten‘, durch die bürgerliche Gesellschaft oktroyierten Sozialbeziehungen wie Stand und Profession. Dass er teils bekanntes Wissen in teils neue Strukturen bringt, führt zu einem Erkenntnisgewinn. Knigges Neubearbeitung rekurriert auf schulphilosophische Ordnungskriterien in ‚Moral‘ (2. Teil) und ‚Politik‘ (3. Teil),64 die um den 1. Teil mit allgemeinen, diätetischen und anthropologischen Bemerkungen ergänzt sind. Den Gültigkeitsbereich, der in Wolffs Ethik auf den „natürlichen“ Zustand des menschlichen Zusammenlebens beschränkt blieb,65 erweitert Knigge, indem er sowohl Typen ‚natürlicher‘ als auch vergesellschafteter Beziehungen abhandelt. Zeitgleich entwickelt Karl Friedrich Bahrdt sein Handbuch der Moral für den Bürgerstand (Halle 1789), das sich wie Knigges Werk mit moralischen und verhaltenspraktischen Anweisungen an die Vertreter des mittleren Standes richtet. Komplementär zu Wolffs Fokussierung der ‚natürlichen‘ Beziehungen behandelt Bahrdt hier moralische und Verhaltensmaximen für die
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Im Unterschied dazu hatte Thomasius erstmals ein eigenes und ausführliches Kapitel mit Komplimenten auch gegenüber Vertretern niederer sozialer Schichten in seine Decorums-Schrift aufgenommen. Vgl. Beetz: Ein neuentdeckter Lehrer, S. 220f. Diese Form der Ergänzung signalisiert eine strukturelle Öffnung der Verhaltenstraktate in Reaktion auf die sozialständische Bewegung im deutschen Reichsverband. So Zaehle: Knigges Umgang, S. 177; vgl. auch Pittrof: Knigges Aufklärung, S. 85, 89. Zur Strukturparallele von Knigges Umgangs-Buch mit Wolffs Ethik und Politik vgl. Göttert: Knigge, S. 160f., 171; sowie ders.: Zweierlei Wege, S. 44. Vgl. zu dieser Beschränkung programmatisch Wolff: Vernünfftige Gedancken, § 863, S. 600ff.
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‚bürgerlichen‘ Verhältnisse. Im Unterschied zu Knigge beschränkt er sich aber auch gänzlich auf diese Art der sozialen Beziehung.66 In seiner Umgangslehre vereint Knigge drei Wissensdisziplinen: im 1. Teil das Wissen zeitgenössischer Temperamentenlehren und Anthropologien, im 2. Teil das der Morallehren und im 3. Teil das der Klugheits- und Verhaltenslehren. Doch stellt er diese bekannten Textsorten nicht neben-, sondern verbindet sie miteinander. Er handelt nicht anthropologische und moralische Erklärungen von Verhaltensregeln gesondert ab, sondern bezieht in allen Teilen allgemeine Charakteristiken, moralische Begründungen und konkrete Verhaltensweisen aufeinander. Er fügt diese Kompendien nicht nur nicht seriell zusammen, sondern formt sie über diese Verschränkung hinaus zu einer textlich neu organisierten Variante des Verhaltensratgebers um: Jeden Teil des Umgangs-Buches als einen Faktor genommen, multipliziert Knigge gewissermaßen anthropologische Grundtypen mit der vermehrten Anzahl an sozialen Interaktionspartnern, der gestiegenen Vielfalt typischer Handlungssituationen und -lokalitäten. Die drei Teile des Textes bieten die Kombination von drei Dimensionen an, um im Einzelfall den Interaktanten nach diesen Parametern eruieren und das ihm angemessene Verhalten bestimmen zu können. Denn Knigge bietet „Vorschriften“ an, „sowohl im allgemeinen, als nach den verschiedenen Stimmungen und Verhältnissen unter allen Gattungen von Menschen“ (11). Mit dieser Formulierung schließt die Vorrede zur 3. Auflage, deren Ordnung er gerade umgearbeitet hatte. Mit ihr greift er auf die Struktur des neu eingerichteten Werks voraus, in dem er von „einfachen“ zu „zusammengesetztere[n] Verhältnisse[n]“ (135) vorgeht. Letztere aber sind nicht allein als Ergebnis eines zivilisationshistorischen Prozesses zu erachten, sondern müssen auch als Ergebnis einer Reflexionsanforderung und Analyseleistung des modernen Subjekts der Interaktion verstanden werden. Denn mit „allen Klassen von Menschen“ (12) meint Knigge nicht allein Gesellschaftsklassen, sondern die neuartige Mehrfachbezüglichkeit sozialer Relationen, nämlich „alle Verhältnisse“ (12, Anm.) von Beziehungskonstellationen, die nicht nur sozialständisch definiert sind, sondern, wie der zitierte letzte Satz der Vorrede (11) verdeutlicht, von einer anthropologisch begreifbaren Charaktertypologie „im allgemeinen“ (1. Teil), von „verschiedenen Stimmungen“ (11), Neigung, Sympathie, Verwandtschaft oder Freundschaft getragen (2. Teil) sowie von Funktions- und Rollenkonstellationen bestimmt sind, die auf gesellschaftlich gestifteten Abhängigkeiten oder „Verhältnissen“ (11) beruhen (3. Teil). Neu gegenüber der Annahme einer schichtspezifisch punktgenau
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Zum sozialhistorischen Kontext von Bahrdts Schrift vgl. Herrmann, Ulrich: Die Kodifizierung bürgerlichen Bewußtseins in der deutschen Spätaufklärung. Carl Friedrich Bahrdts „Handbuch der Moral für den Bürgerstand“ aus dem Jahre 1789. In: Rudolf Vierhaus (Hg.): Bürger und Bürgerlichkeit im Zeitalter der Aufklärung. Heidelberg 1981, S. 321–333.
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ermittelbaren sozialen Position des Subjekts, der im Zeremoniell Genüge getan wird, ist Knigges Einsicht in die mehrdimensionale soziale Figuration der jeweiligen Subjektposition. Knigge überträgt folglich soziale Strukturveränderungen auf die dreiteilige Struktur seiner Höflichkeitslehre, indem er ein dreidimensionales Modell der Interaktionsrelationen bietet. Insofern Knigge die umwälzende Komplexierung der stratifikatorischen in die moderne funktional organisierte Gesellschaft erkennt und konzeptionell auf die durch diesen sozialhistorischen Umbau resultierenden neuen Interaktionsbedürfnisse reagiert, ist das Umgangs-Buch eine transformative Interaktionsgrammatik der modernen Höflichkeit. Die Strukturveränderungen, die Knigge indiziert, sind nicht allein sich gegenüber ständischen Sozialformationen ausbildende bürgerliche Privatheit und geschäftliche Öffentlichkeit.67 Der entscheidende Einschnitt in der modernen Sozialerfahrung besteht im Unterschied von stratifikatorisch einlinig definierten Sozialbeziehungen gegenüber komplexen, sich funktional überkreuzenden Beziehungsgefügen, die aus der Überlagerung der Sphären von Individuum, Privatheit und Öffentlichkeit resultieren. Doch wird man der Struktur von Knigges Text nicht gerecht, wenn man seine drei Teile diesen drei Sphären zuordnete. Denn sie repräsentieren nicht ‚konzentrische Kreise‘, die vom Ich ausgehend den Interaktionsradius des Subjekts stufenweise um verschieden vertraute Umgangspartner erweitern,68 sondern verweisen auf Interferenzen der von verschiedenen Subjekten ausgehenden Interessen, die sich in Interaktionspunkten überschneiden. Die Dezentralisierung der modernen Gesellschaft schafft ein Netz sozialer Dependenzen, deren vielfältige Parameter Knigges Umgangs-Konzeption skizziert. Damit reagiert sie als erste und wohl auch letzte Verhaltensschrift auf die Strukturveränderungen der modernen Gesellschaft. Die ihr nachfolgende, heutzutage den Markt beherrschende Spezifizierung der Adressatengruppen reduziert die Komplexität der sozialen Interaktionsproblematik, indem sie Details wie Alters-, Berufs- und andere Tätigkeits- oder Situationsgruppen mikroskopiert. Knigge, der am Anfang dieses sozialhistorischen Wandels steht, entwirft dagegen mit der kombinatorischen Methode einen
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Auf den Gegensatz von Öffentlichkeit und Privatheit / Intimität, den er anhand der Nah- und Ferndistanzen zwischen Individuum und Gesellschaft problematisiert, konzentriert sich Pittrof: Knigges Aufklärung, S. 86ff. Das aber behauptet Peter: Geselligkeiten, S. 221. Ähnlich meint Pittrof, Knigge habe „den ganzen Kreis der Gesellschaft seiner Zeit“ abgeschritten; vgl. Pittrof: Knigges Aufklärung, S. 51. Knigges Leistung wird dadurch auf die Metapher des Sozial„Panoramas“, das das Umgangs-Buch biete, reduziert und verkannt. Vgl. z.B. Klüger, Ruth: Knigges „Umgang mit Menschen“. Eine Vorlesung. Göttingen 1996. S. 17.
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Verhaltensratgeber, der einen makroskopischen Blick auf die disparaten, sich überschneidenden Bereiche der Gesellschaft wirft und zugleich die gesamte Breite des mittleren Standes wie die Vielfalt dessen privater und öffentlicher Umgangssituationen wahrnimmt. Knigge den Erfinder eines universalistischen und überständischen Moral- und Verhaltensideals zu nennen,69 bedeutet, die Aspektvielfalt hinsichtlich Interaktionstypen und -situationen, die seine Interaktionskonzeption erst eröffnet, zu nivellieren. Ihm geht es weniger um die Natur des Menschen als moralanthropologisches Prinzip als vielmehr um die ‚Natur‘ der Gesellschaft als Organisationsprinzip. Das Umgangs-Buch ist ein integrativer Generalentwurf moderner Höflichkeit, der strukturell grundsätzlich offen ist und neue Sozialpositionen aufnehmen kann. Insofern ist es hinsichtlich seiner Funktionalität universal, da es nicht ein einheitliches Verhaltensideal kreiert oder tradiert, sondern mithilfe seiner Organisationsstruktur die je spezifische Verhaltensmaßgabe für konkrete personelle Interaktionstypen in konkreten Interaktionssituationen verfügbar macht. Kennzeichen dessen sind etwa innertextuelle Verweise des Autors auf generelle Verhaltensanweisungen, die er für bestimmte Umstände bzw. für bestimmte soziale Konstellationen konkretisiert. Er selbst verbindet mit expliziten Anknüpfungpunkten exemplarisch die verschiedenen Hauptteile des Textes. Er verweist sowohl auf nachfolgende als auch auf vorangegangene Teile, z.B. vom Umgang mit „Undankbaren“ (1. Tl., 105) auf den Umgang mit „Wohltätern“ (2. Tl., 242f.) und mit „Geringeren“ (3. Tl., 310) sowie vom Umgang mit „Schurken“ (2. Tl., 214) auf den Umgang mit „Feinden“ (3. Tl., 248ff.) und mit „Verirrten und Gefallenen“ (3. Tl., 261f.). Die Strukturierung bestätigen Verweise in entgegengesetzter Richtung, etwa vom Umgang mit „Freunden“ (2. Tl., 214) auf Ansprechpartner im eigenen Unglück (1. Tl., 41). Auch die „Schwiegermutter“ (177), die in der Verhaltensliteratur zum ersten Mal bei Knigge als Typus auftaucht,70 kann illustrieren, dass die Instruktion nicht allein über die soziale Statusrelation bestimmt wird, sondern im Einzelfall nach Charakteranlage (der „alten Hexe“ oder treuen Ratgeberin) und Sympathiegraden modifiziert wird.71 Dass man mit ‚wunderlichen‘ und zänkischen Leuten verschieden umgehen müsse, je nachdem man ihrer Gunst
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So aber häufig in der Knigge-Forschung, u.a. bei Montandon: Einleitung, S. 15; Peter: Geselligkeiten, S. 221; Lepenies, Wolf: Benimm und Erkenntnis. Gedenkrede auf den Freiherrn Knigge. In: Zimmermann: Knigge, S. 15–25, hier S. 22; Mitralexi, Katherina: Über den Umgang mit Knigge. Zu Knigges „Umgang mit Menschen“ und dessen Rezeption und Veränderung im 19. und 20. Jahrhundert. Freiburg i.Br. 1984, S. 44ff., 49. Vgl. den Hinweis auf diesen Typus bei Pittrof: Knigges Aufklärung, S. 46. Als weiteres Beispiel dafür, dass soziale und freundschaftliche Beziehungen hinsichtlich der Rücksichten auf Alter und ökonomische Vorteile konfligieren, dient die greise vermögende Verwandtschaft; vgl. Knigge: Umgang, S. 152.
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bedürfe, in dem Falle man sich ihnen „gefällig zu bezeigen“ befleißigen sollte, oder sie ertragen müsse, auch wenn man „weiter in keinem Verhältnisse“ zu ihnen stehe, hatte Knigge bereits im 1. Teil angekündigt (116). Für den Fall des verwandtschaftlichen Verhältnisses zur zänkischen Person, wie den Fall der Schwiegermutter, gibt der 2. Teil, der diese ‚natürlichen‘ Verbindungen behandelt, nähere Auskunft. Der Charakter einer Person, mit der wir umgehen müssen, wird nach Anlage und Beziehungsart spezifiziert, um uns ihr gegenüber optimal verhalten zu können. Knigge erweitert also nicht nur das Typenspektrum gemäß der aufklärerischen Anthropologie, indem er im zweiten Teil anhand vieler Beispiele berücksichtigt, dass aus der „unendlichen Mischung der Temperamente jene feinen Nuancen und die herrlichsten Mannigfaltigkeiten“ der Charaktere entstehen (88). Darüber hinaus ist es die Gliederung des Textes, die die sozial und ökonomisch sich ausdifferenzierende Vielfalt an rollenspezifischen Charakter-, Beziehungs- und Situationstypen strukturiert. Damit vermehrt sie die Typenanzahl älterer Charakterlehren um ein Vielfaches. Die dreidimensionale Kombinatorik des Umgangs-Buches bietet einen neuartigen Ansatz, Individualität zu beschreiben. Individualität als modernes Rollenmanagement bedeutet nicht allein ein notwendiges „’Problemmanagement’ in Bezug auf die eigene Person“72, mithilfe dessen sich das Individuum in und gegenüber der Gesellschaft positioniert. Pittrof arbeitet die Perspektive des Individuums in Knigges Verhaltensschrift deutlich heraus. Doch berücksichtigt er nicht, dass das Individuum die anderen Subjekte als ebenso komplexe Rollenbündel wahrnehmen muss, auf die es im Umgang zu reagieren hat.73 Der soziale Strukturwandel, dessentwegen der einzelne verschiedene eigene wie fremde Rollen bestimmen und koordinieren muss, bildet die Matrix des Umgangs-Buches. Seine Struktur verbindet Gebiete der zeitgenössischen Anthropologie (Humoralpathologie / medizinische Charakterkunde, Sozialpsychologie, Präsoziologie) tableauartig miteinander und leitet damit geradezu systematisch zur Einschätzung des Interaktionspartners an. Pittrof dagegen meint, dass „die Komplexität des Andern bewußt ausgespart“ bliebe und dass diese Aussparung einen „Gewinn an Berechenbarkeit und Beziehungsfähigkeit“ bringe.74 Wohl wird es in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts zunehmend problematisch, die charakterliche Komplexität des sozialen Gegenübers zu erfassen, und zwar nicht nur aufgrund sozialhistorischer Veränderungen, sondern auch aufgrund anthropologisch-
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So Pittrof: Knigges Aufklärung, S. 44. Zur Reziprozität der Höflichkeit vgl. Beetz: Frühmoderne Höflichkeit, S. 156ff., 235ff. Vgl. Pittrof: Knigges Aufklärung, S. 122.
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erkenntnispraktischer Einsichten.75 Dennoch bleibt das Subjekt vor die Aufgabe gestellt, „bald zu merken, wen man vor sich hat“ (62). Denn Knigges Anpassungsmaxime impliziert nicht eine Standardisierung von Interaktionstypen, sondern setzt vielmehr die rechte Erkenntnis des Gegenübers voraus, die Bedingung für das dem anderen jeweils angemessene Verhalten ist. Erst die Amalgamierung von anthropologischer Disposition und sozialer Figuration ergibt das personelle Eigenschaftskonglomerat, das seinen Bestandteilen nach analysiert werden muss, um das ‚Individuum‘ zu identifizieren. Menschenkenntnis wird zusätzlich in einer von der Vielfältigkeit der sozialen Relationen geprägten Gesellschaft erschwert, in der sich das Subjekt nicht als Standesvertreter präsentiert, sondern seinen Anspruch darauf, dass der Interaktant seine Individualität erkenne und anerkenne, geltend macht. Diesen Prätentionen auf Einzigartigkeit können stereotype Anreden und Konversationen nicht gerecht werden.76 Im Unterschied dazu werden höfische Sozialgefüge der Frühen Neuzeit mithilfe zeremonieller Kommunikationen hierarchisch organisiert und abgesichert, indem Titularien und Komplimente die soziale Beziehung zwischen Kommunikationspartnern indizieren und, wie die Untersuchung des galanten Komplimentierens von Beetz zeigt, ihre Aufnahme, Stabilisierung, Modifikation und Reduktion gewährleisten.77 Die genaue Beobachtung der Etikette sichert dem einzelnen das ihm gebührende Maß an Ehre zu, deren Sichtbarkeit für alle Interaktanten desjenigen Platz in der sozialständischen Hierarchie beglaubigt. Doch signalisiert die Titulatur eine feste Position im sozialen Feld nur solange, wie nicht Rangstreitigkeiten und Konkurrenzen zu ihrem inflationären Gebrauch führen.78 Im schwankenden Sozialgefüge des zersplitterten deutschen Reichsverbands nach dem Dreißigjährigen Krieg changieren die Wertigkeiten von Titel und Amt gleichermaßen. Die existentielle Bedeutung des Ehrerweises in der ständischen Gesellschaft führte in den deutschen Provinzen zu bis ins scheinbar Groteske übersteigertem Zeremoniell um Rang und Titel. Denn verminderte Ehrbezeigungen konnten ein negatives „Praejudiz“ schaffen und den sozialen Status beeinträchtigen.79
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Vgl. Berg, Gunhild: Schwierigkeiten der Gemütererkenntnis. Kritik und Funktionalisierung von Vorurteilen in der ‚Anthropognosie‘ Georg Friedrich Meiers. In: Das achtzehnte Jahrhundert 28 (2004) 1, S. 9–26. Zur notwendigen Differenzierung von äußerlichen Achtungsbeweisen vgl. Knigge: Umgang, S. 67. Vgl. Beetz: Frühmoderne Höflichkeit, S. 139, 173; Schmitt-Sasse: Zeichen, S. 90, 93. Vgl. Beetz: Frühmoderne Höflichkeit, S. 250f.; Rohr: Ceremoniel-Wissenschafft, S. 56ff. Vgl. Rohr: Ceremoniel-Wissenschafft, S. 68, 123f.
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Trotz der Statusmobilität sind die Subjektpositionen in der Ständegesellschaft aufgrund des einseitigen Abhängigkeitsverhältnisses der Hofleute von den „Blicken der Despoten und Mäzenaten“ (313) eher statisch. Einer von Knigges zentralen Kritikpunkten im „Umgang mit Vornehmen“ ist die Unbeständigkeit und damit Unzuverlässigkeit in einer vom Höheren durch Gunst definierten sozialen Beziehung gegenüber dem sozioökonomisch Abhängigen, die dessen Agieren auf der Grundlage unwägbarer Meinungsänderungen erschwert und derentwegen Knigge Vorsichtigkeit wie Zurückhaltung empfiehlt (288, 293). Der Kurswert des Einzelnen an der ‚Hofbörse‘ wird zwar nicht allein vom Statushöchsten bestimmt;80 doch ist er letztlich allein von der Herrscherpersönlichkeit abhängig.81 Im Unterschied zu diesem feudalen Meinungssystem des Hofes, das auf eine zentrale Person fixiert ist, ist das Subjekt in der bürgerlichen Gesellschaft nicht vorrangig von der Gunst einer einzelnen Bezugsperson, sondern von dem Meinungskonglomerat vieler anderer Gesellschaftsmitglieder abhängig. Infolge der sozialhistorischen funktionalen Ausdifferenzierung vermehren sich nicht nur die Anzahl der verschiedenen Rollen, sondern auch die Anzahl der Urteile über den einzelnen in Abhängigkeit von ‚natürlichen‘ wie vergesellschafteten Verbindungen, Sympathie, Erfahrungen, Orten, Teilnehmern und Situationen. Die Sozialposition des Subjekts muss in dieser dynamischen Figuration immer wieder neu identifiziert und definiert oder ausgehandelt werden. Deshalb hält Knigge dazu an, Urteile über Interaktionspartner nur vorsichtig zu verbreiten, weil sie nicht wahr sein müssen, aber dennoch schaden können (55, 56, 113 u.ö.). Das betrifft sowohl die Meinung anderer über den Aktanten als auch dessen Meinung über seine Interaktionspartner. Aus dieser Einsicht in das Changieren von funktional determinierten Sozialpositionen im Gesellschaftsgefüge der Moderne resultiert Knigges Aufforderung zur Selbstdefinition gegenüber der Gesellschaft: „Jeder Mensch gilt in dieser Welt nur so viel, als wozu er sich selbst macht“, ist Knigges „goldener Spruch“ (37). Diese traditionelle Aufforderung zur Selbstinszenierung nützt auch unter veränderten sozialen Verhältnissen, Respekt zu erlangen. Denn definiert und irrtitiert wird das Subjekt durch die Willkürlichkeit und Veränderlichkeit der Meinungen anderer über sich. So nützt es wenig, mit als Charakterstärke verbrämter Sturheit andere zur Anerkennung der eigenen ‚individuellen‘ Eigenheiten zwingen oder eigene Meinungen durchsetzen zu wollen,
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So zitiert Harsdörfer: „’Und die Italiäner sagen: Fragst du mich wie es mit N. stehe / so frage ich dich / mit wem er umbgehe?’“; vgl. Harsdörfer, Georg Philipp (erm. Vf.): Discurs von der Höffligkeit. In: Mercurius Historicus Der historische Mercurius. […] Durch Octivianum Chiliadem. Frankfurt 1665, S. 348–408, hier S. 355. Zum crédit als Ausdruck des Kurswertes einer Person bei Hofe vgl. Elias: Höfische Gesellschaft, S. 179ff.; zur Zentralperspektive am Hof vgl. Schmitt-Sasse: Zeichen, S. 88.
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vielmehr geht es darum, die Meinung des anderen so zu bestimmen, wie es dem Selbstbild (oder Wunschbild) des Aktanten entspricht. Der esprit de conduite ist die „Kunst des Umgangs mit Menschen“, nämlich „die Kunst, sich bemerkbar, geltend, geachtet zu machen“ (23). Knigge will dazu anleiten, durch erfolgreiche Selbstinszenierung Ehre, guten Ruf, das positive Urteil anderer, Achtung und Wohlwollen zu gewinnen.82 Mittel dazu ist der Umgang, in dem situationsgebunden, verbal wie nonverbal Selbst- und Fremdbilder unter den Interaktanten ausgehandelt werden. Vom anderen ein positives Urteil über sich selbst zu gewinnen, setzt voraus, die Individualität des Umgangspartners zu erkennen und sich ihr gemäß zu verhalten. Knigge befördert allenfalls in zweiter Linie eine „’Kultur des Ich‘“, die den Wert des Menschen ausschließlich an dessen Selbstbewusstsein, -würde und -vertrauen bemisst und es damit bis zur Unabhängigkeit von anderen führt.83 Knigge leitet nicht zum Überleben des Ich außerhalb, sondern innerhalb der Gesellschaft an, in der es gemäß der Rousseauschen Zivilisationskritik von der Wertschätzung anderer abhängig ist. Gerade wegen dieser Abhängigkeit von der Meinung anderer zeigt Knigge Mittel auf, wie sich das Subjekt selbst positionieren oder zur Anerkennung führen kann, nämlich durch eigene Selbstdarstellung und Anerkennung der Selbstdarstellung anderer. Das Ehrverlangen des Bürgerlichen bleibt unbefriedigt, da moralische Werte und persönliche Verdienste, die er für sich reklamiert, äußerlich nicht sichtbar sind. Wesentlich ist daher nicht allein Knigges Zugeständnis an die moralische Bedeutung des Verdiensts, vielmehr sein Insistieren auf der Bedeutung der Anerkennung des Verdiensts durch andere, die nicht allein durch Leistung bewirkt wird, sondern der rechten Darstellung nach außen durch das (bürgerliche) Subjekt selbst bedarf (20–24).84 Das Imageproblem wie die Interaktionsregeln, die es lösen sollen, kontinuieren. Traditionelle wie bewährte Verhaltensrichtlinien überträgt Knigge mit der neuartigen strukturellen Konzeption des Umgangs-Buches erfolgreich auf die geänderten Sozialstrukturen der Moderne. Das neuzeitlich changierende Sozialgefüge besteht aus reziproken Urteilen der Interaktionspartner übereinander, die in kontingenten Situationen immer wieder erneut überprüft oder hergestellt werden müssen. Die Autonomie des Individuums besteht nicht im Rückzug auf die inneren Eigenwerte, vielmehr in der mitbestimmten Definition seiner Beziehung zu anderen. Die Wahrnehmung des anderen und ihr Ausdruck im Verhalten konstituiert das Netz sozialer Beziehungen als ein Netz sozialer Urteile.
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Vgl. in dieser Hinsicht überzeugend, Mitralexi: Umgang mit Knigge. Vgl. neuerdings meine Analyse. In: Berg: Erzählte Menschenkenntnis, S. 176–180. So aber Peter: Geselligkeiten, S. 219. Das äußerlich nicht sichtbare Verdienst des Bürgerlichen kann die Signalwirkung des Adelsprädikats nicht ersetzen; vgl. dazu schon Garve: Maxime Rochefoucaults.
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Knigge schafft ein Strukturmodell, das alte Verhaltensweisen und neue Verhaltensnotwendigkeiten integriert. Durch den Freiherrn werden frühmoderne Höflichkeitsregeln sozial vorbildlich inauguriert, mit bürgerlichen ethischen Werten legitimiert, eklektizistisch und popularphilosophisch aufbereitet, verhaltenspraktisch gewendet und im populären wie erfahrungsgesättigten Stil distribuiert. Traditionelle Verhaltensregeln des interaktiven Imagemanagements, die Knigge anempfiehlt, können folglich als Schnittmengen zwischen alten, adlig-höfischen und neuen, bürgerlichen Verhaltensidealen bzw. Interaktionsmoralen betrachtet werden. Sie installieren ‚Bürgerlichkeit‘ als eine konkrete, fixierte und verlässliche Verhaltenserwartung.
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„Er hat Verstand; er weiß / Zu leben; spielt gut Schach.“ Nathan der Weise als Politicus
„Er hat Verstand; er weiß / Zu leben; spielt gut Schach“ – so charakterisiert der Derwisch und Schatzmeister Al-Hafi seinen Freund Nathan dem Sultan Saladin gegenüber (II,2, 275f.),1 was heißen soll: er verfügt über ein scharfes Urteil, weiß sich situations- und adressatenangemessen zu verhalten und ist ein gewiefter Taktiker. Das Kompetenzideal, dessen hohe Beherrschung hier gerühmt wird, ist das des Politicus. Einen Politicus nannte man im 17. und 18. Jahrhundert, wer seine Interessen durch „flexible situative Anpassung an Ort, Zeit und Personen“2 optimal durchzusetzen weiß. Passt das zum Charakterprofil Nathans? Müsste Lessings Figur dann nicht eher ‚klug‘ (d. h. damals: geschickt in weltlichen Geschäften) als ‚weise‘ (d. h. wissend, was in Ewigkeit gilt) genannt werden? Nathans Zuordnung zum Kompetenzideal des Politicus irritiert zudem deshalb, weil es sich um ein ursprünglich höfisches Ideal handelt, das seine Geltung nach dem ersten Drittel des 18. Jahrhunderts verlor, während Nathan der Weise 1779 erschien und bereits auf der Schwelle zwischen Aufklärung und Klassik steht.3 Mein Beitrag setzt an dieser scheinbaren Inkongruenz an, um dem Fortleben des Politicusideals nach seiner programmatischen Verabschiedung ebenso nachzugehen wie seiner Transformation in einem möglicherweise veränderten weltbildlichen Rahmen. Dabei werde ich mich vor allem mit der neuerdings vorgetragenen, systemtheoretisch inspirierten Forschung auseinandersetzen, die im Politicus den Agenten der funktional ausdifferenzierten Moderne erkennt.
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Lessing, Gotthold Ephraim: Nathan der Weise. Ein dramatisches Gedicht in fünf Aufzügen, in: Werke. In Zus.arb. mit Karl Eibl hrsg. von Herbert G. Göpfert. Bd. 1– 8. Darmstadt 1996, Bd. 2, S. 205–347. Nathan der Weise wird, unter Angabe von Akt, Szene und (aktweise gezählten) Versen, im laufenden Text zitiert. – Für Kritik und hilfreiche Hinweise danke ich Dr. Frank Grunert (Halle). Beetz, Manfred: Frühmoderne Höflichkeit. Komplimentierkunst und Gesellschaftsrituale im altdeutschen Sprachraum. Stuttgart 1990, S. 36. So die übliche epochale Verortung z. B. bei Pütz, Peter: Die Leistung der Form. Lessings Dramen. Frankfurt/M. 1986, S. 281 oder Brenner, Peter J.: Gotthold Ephraim Lessing. Stuttgart 2000, S. 300.
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I. Das spezifische Profil des Politicus erklärt sich aus seiner ursprünglichen sozialen Sphäre, dem Hof: Die Usurpatoren, die die italienischen Stadtrepubliken der Renaissance beherrschten, konnten sich auf keine angestammte Legitimität verlassen. Machtgewinn und -erhalt musste ein solcher Fürst über rechtliche und ethische Normen stellen. Um zu überleben, brauchte er die Fähigkeit, komplexe Konkurrenzsituationen rasch und treffend zu beurteilen sowie eigene Angriffsflächen durch Verstellung zu minimieren. Prudentia politica, ‚politische Klugheit‘ war am Hof eines solchen Fürsten im Grunde sogar von allen Akteuren gefordert. Denn wer Karriere machen will, muß die Absichten eventueller Gegner zu durchschauen, die eigenen hingegen zu verbergen wissen. (Im folgenden verwende ich ‚politisch‘ immer in diesem, also weder im modernen Sinne von ‚Aushandlung der öffentlichen Angelegenheiten‘ noch im Sinne der frühneuzeitlichen ‚Politica‘ als ‚Lehre vom gutem Regieren‘4.) Die weitere Geschichte des Politicusideals ist die seiner Diffusion: einerseits seiner Ausbreitung, andererseits seiner Entschärfung. Zur Diagnose, dass die ganze Welt aus Konkurrenzkämpfen besteht, weitet sich der Prudentismus bei dem spanischen Jesuiten Baltasar Gracián (1601–58). Das agonale Moment tritt dagegen zurück, wo der Politicus zum Leitbild von Lehrprogrammen für öffentlich Handelnde, besonders Juristen und überhaupt für ‚Leute von Welt‘ wird. In Deutschland wirken der Zittauer Rektor Christian Weise (1642–1708)5 sowie Christian Thomasius (1655–1728), der spiritus rector der Universitätsgründung in Halle, dahin.6 Als Anforderung an jegli-
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Zu diesem weniger konkurrenziellen als aristotelischen Politikverständnis vgl. Weber, Wolfgang: Prudentia gubernatoria. Studien zur Herrschaftslehre in der deutschen politischen Wissenschaft des 17. Jahrhunderts. Tübingen 1992. Vgl. Weise, Christian: Politische Fragen / Das ist: Gründliche Nachricht von der Politica: Welcher Gestalt Vornehme und wohlgezogene Jugend hierinne einen Grund legen / So dann aus den heutigen Republiqven gute Exempel erkennen, endlich auch in practicablen Staats-Regeln den Anfang treffen soll. Dreßden: Mieth 1690; Horn, Hans Arno: Christian Weise als Erneuerer des deutschen Gymnasiums im Zeitalter des Barock. Der „Politicus“ als Bildungsideal. Weinheim 1966; Frühsorge, Gotthardt: Der politische Körper. Zum Begriff des Politischen im 17. Jahrhundert und in den Romanen Christian Weises. Stuttgart 1974. Vgl. Thomasius, Christian: Cautelen zur Erlernung der Rechtsgelehrtheit. Hrsg. und mit einem Vorw. vers. von Friedrich Vollhardt. Nachdr. der Ausg. Halle: Renger 1713. Hildesheim, New York 2006; ders.: Kurzer Entwurf der Politischen Klugheit [1707]. Vorw. von Werner Schneiders. Ebd. 2002. Vgl. Achermann, Eric: Substanz und Nichts. Überlegungen zu Baltasar Gracián und Christian Thomasius. In: Beetz, Manfred / Jaumann, Herbert (Hg.): Thomasius im literarischen Feld. Neue Beiträge zur Erforschung seines Werkes im historischen Kontext. Tübingen 2003, S. 7–32.
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ches Sozialverhalten nähert sich das politische Verhaltensideal der Höflichkeit an, die ebenfalls ein ursprünglich höfisches Verhaltensgebot darstellt, dem aber ein harmonisches Gesellschaftsbild (statt des konkurrenziellen des Politicus) zugrunde liegt. Vorbildlich wirkt hier die französische Ausprägung des Hofmannes:7 Unter dem Befriedungsanspruch des absolutistischen Königtums hatte sich der kluge Stratege dort in den honnête homme transformiert, der den anderen als Partner inszeniert. Das wechselseitige Verbergen wird hier als Komödie begriffen, die alle wissend mitspielen und als solche goutieren. Im frühen 18. Jahrhundert differenzieren sich zugleich verschiedene ‚PrivatPolitiken‘ aus, Techniken der Selbstbehauptung außerhalb von Hof und Staat, im Wirtschaftsleben ebenso wie unter Gelehrten oder in der Familie.8 „Der ungemeine Nutzen“ politischer Klugheit soll nun auch jenen zugute kommen, die „von der Kauffmannschafft / Hauswirthschafft u. d. g. Profession machen / ja auch dem Frauenzimmer / als welches doch die meisten Maximes mit denen Männern gemein hat / oder haben soll“.9 Den Endpunkt bildet erst der ‚Knigge‘, der ja eigentlich kein Benimmbuch ist, sondern eine Anleitung zum taktisch geschickten Umgang mit Menschen (so der originale Titel von 1788). Das Leitbild des Politicus kennzeichnet demnach die gesamte Frühe Neuzeit und zugleich, in seinen wechselnden Ausprägungen, die spezifische Anthropologie, Gesellschaftstheorie und Philosophie einzelner Zeitabschnitte. Wenngleich er nie im Titel einer großen Studie aufgetreten ist, fasziniert er die Germanistik spätestens seit der Barockrhetorik Wilfried Barners, der die prudentia politica als Aufbruch aus dem alteuropäischen ordo interpretierte: Anders als im traditionellen theatrum mundi, in dem der Mensch seine Rolle erhielt, um sich vor Gott zu bewähren, sei der Politicus ein Schauspieler, der seine Verstellungskünste für eigene Interessen nutzt, ohne Rücksicht auf eine allgemeinverbindliche Moral.10 Aufgenommen wurde dieser Impuls sowohl von der sozial- und institutionengeschichtlichen Forschung als auch von Arbeiten zu Wissensformen oder den Regeln und Regularitäten der sprachlichen Praxis. Um die ursprüngliche Sozialsphäre des Politicus geht es beim Thema ‚frühneuzeitliche Hofkritik‘,11 um die Ausstrahlung in andere Bereiche, wenn der Wandel des Gelehrten und Dichters vom barocken Polyhistor zum aufge-
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Vgl. dazu jetzt die Habilitationsschrift von Losfeld, Christophe: Politesse, morale et construction sociale. Pour une histoire des traités de comportements (1670–1788). Halle 2007 (masch.). Vgl. Gabler, Hans-Jürgen: Machtinstrument statt Repräsentationsmittel: Rhetorik im Dienste der Privatpolitic. In: Rhetorik 1 (1980), S. 9–25. Thomasius: Kurzer Entwurf der Politischen Klugheit, Vorrede, S. )(2v. Vgl. Barner, Wilfried: Barockrhetorik. Untersuchungen zu ihren geschichtlichen Grundlagen. Tübingen 1970, S. 124–150. Vgl. Kiesel, Helmut: ‚Bei Hof, bei Höll‘. Untersuchungen zur literarischen Hofkritik von Sebastian Brant. Tübingen 1979, bes. S. 176–198.
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klärten Kritiker durch eine politisch-galante Phase hindurch verfolgt wird.12 Die politische Prägung der Frühmodernen Höflichkeit und ihrer Kommunikationsrituale bzw. die Überschneidung der politica privata um 1700 mit der Gesellschaftsethik der Höflichkeitstradition hat Manfred Beetz aufgewiesen: „Die Klugheit der richtigen Situationseinschätzung und das Motiv, andere zu gewinnen, sind für beide Verhaltensweisen konstitutiv.“13 In seiner Dissertation hat er zudem die poetologische Entsprechung des politischen ‚Durchblicks‘, das Ideal der argutia oder acutezza, also der Scharfsinnigkeit, in ihren deutschsprachigen Adaptionen aufgearbeitet.14 Mitunter verbinden sich auch sozial- und rhetorikgeschichtliche Perspektiven wie in Georg Braungarts Hofberedsamkeit, wo der Politicus als Höfling auftritt, der sich auch sprachlich behaupten muß.15 Europäisch dimensioniert, hat Karl-Heinz Göttert die Spezifik wie die Interferenzen des Politicus und benachbarter Kommunikationsideale profiliert und ihren Wandel von der Renaissance bis zur Spätaufklärung verfolgt.16 Soviel zur ersten Forschungsphase bis Ende der 1980er Jahre. Weitere, neue Akzente sind seitdem durch systemtheoretische Aneignungen des Politicus gesetzt worden sowie durch Studien zur Fortwirkung politischer Verhaltensmuster nach deren programmatischer Verabschiedung, also über das frühe 18. Jahrhundert hinaus. Beginnend mit Ursula Geitners Sprache der Verstellung, haben systemtheoretisch fundierte Arbeiten im Politicusideal eine erste Anpassung an die erhöhten Flexibilitätsanforderungen einer sich funktional ausdifferenzierenden Gesellschaft ausgemacht.17 In der von Barner akzentuierten Umstellung vom mit einer Rolle beauftragten Schauspieler zum schauspielerischen self-fashioning sehen sie einen gesellschaftsstrukturellen Wan-
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Vgl. Grimm, Gunter E.: Literatur und Gelehrtentum in Deutschland. Untersuchungen zum Wandel ihres Verhältnisses vom Humanismus bis zur Frühaufklärung. Tübingen 1983, S. 314–546; Beetz, Manfred: Der anständige Gelehrte. In: Sebastian Neumeister / Conrad Wiedemann (Hg.): Res Publica Litteraria. Die Institutionen der Gelehrsamkeit in der frühen Neuzeit. Teil 1. Wiesbaden 1987, S. 153–174. Beetz: Frühmoderne Höflichkeit, S. 190, vgl. S. 36f. Vgl. Beetz, Manfred: Rhetorische Logik. Prämissen der deutschen Lyrik im Übergang vom 17. zum 18. Jahrhundert. Tübingen 1980, S. 209–283. Vgl. Braungart, Georg: Hofberedsamkeit. Studien zur Praxis höfisch-politischer Rede im deutschen Territorialabsolutismus. Tübingen 1988, S. 223–288. Vgl. Göttert, Karl Heinz: Kommunikationsideale. Untersuchungen zur europäischen Konversationstheorie. München 1988. Vgl. Geitner, Ursula: Die Sprache der Verstellung. Studien zum rhetorischen und anthropologischen Wissen im 17. und 18. Jahrhundert. Tübingen 1992, S. 80, 98– 101; Stöckmann, Ingo: Vor der Literatur. Eine Evolutionstheorie der Poetik Alteuropas. Tübingen 2001, S. 157f. mit Verweis auf Luhmann, Niklas: Individuum, Individualität, Individualismus. In: ders.: Gesellschaftsstruktur und Semantik. Studien zur Wissenssoziologie der modernen Gesellschaft. Bd. 3. Frankfurt/M. 1989, S. 149–258.
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del gespiegelt: Die taktische Beweglichkeit des Politicus sei als Antwort auf die verstärkte Ausdifferenzierung von Funktionssystemen zu verstehen, in denen nach je eigenen Regeln kommuniziert wird: im Wirtschaftssystem nach Gesichtspunkten finanziellen Wertes, im Wissenschaftssystem mit der Leitunterscheidung wahr/falsch usw.18 Zudem interpretieren sie den Anspruch des Politicus, seines eigenen Glückes Schmied – faber fortunae suae – zu sein, als Austritt aus der ständischen Ordnung Alteuropas. Nicht in eine sakrosankte Ordnung eingebettet, sondern immer wieder neu um seine Position kämpfend, muß sich der Politicus in der Tat auf laufend wechselnde Gegenüber, Konstellationen und Anforderungen einstellen, und sein Urteilsvermögen beweist sich nicht zuletzt darin, sich die Unterschiedlichkeit der Anforderungen bewusst zu machen und sein Verhalten dementsprechend zu differenzieren. „Sich allen zu fügen wissen: ein kluger Proteus: gelehrt mit dem Gelehrten, heilig mit dem Heiligen“, heißt es bei Gracián, dem einflussreichsten Klugheitsschriftsteller.19 In systemtheoretischer Perspektive erscheint der Politicus als Agent der funktional ausdifferenzierten Moderne. Zuspitzend könnte man sagen: Er, der sich wie ein Geheimagent verhält, wird gewissermaßen als Agent der Moderne enttarnt, indem hinter der höfischen Maske ein verblüffend zeitgenössischer, nämlich situativer Lebensentwurf aufgedeckt wird.20 Die zweite Tendenz neuerer Forschungen, die ich hervorheben möchte, ist das Interesse für das Fortleben des politischen Verhaltensideals nach der Phase seiner programmatischen Geltung. Die aufklärerische Betonung von Aufrichtigkeit, Geselligkeit und Gemeinwohl, die Wendung zu einem ‚natürlichen‘, an leichter Verständlichkeit orientierten Stilideal sowie der Glaube an die bestmögliche Einrichtung der Welt und die Befolgbarkeit moralischer Regeln stellen durchweg Antithesen zum politischen Welt- und Menschenbild dar. Der in Deutschland um 1740 einsetzende Diskurs der Empfindsamkeit mit seiner Herzens- und Freundschaftsemphase ist sogar „als ‚bloße‘ Umkehrung“ der auf strategisches Kalkül gegründeten politischen Interaktionsmoral gedeutet worden.21 Demgegenüber ist eine von Manfred Beetz betreute Dissertation der Persistenz des politischen Problems, den anderen zu durchschau-
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Vgl. Luhmann, Niklas: Die Gesellschaft der Gesellschaft. Teilbd. 1–2. Frankfurt/M. 1997, S. 624–627. Gracián, Balthasar: Handorakel und Kunst der Weltklugheit. Aus dessen Werken gezogen von D. Vincencio Juan de Lastanosa u. a. d. span. Orig. treu u. sorgfältig übers. von Arthur Schopenhauer. Mit e. Nachw. hrsg. von Arthur Hübscher. Stuttgart 1990, S. 40, Maxime 77. Zum Sich-Wiedererkennen der Postmoderne im Politicus vgl. Klugheitslehre: Militia contra malicia. Hrsg. von Akademie Schloß Solitude. Mit Beiträgen von Dirk Baecker [u. a.]. Berlin 1995. Vgl. Wegmann, Nikolaus: Diskurse der Empfindsamkeit. Zur Geschichte eines Gefühls in der Literatur des 18. Jahrhunderts. Stuttgart 1988, S. 65.
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en, nachgegangen: Darauf reagierende Verhaltensmaximen halten sich bis in die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts, und es entwickelt sich sogar eine neue Gattung, die moralische Erzählung, die dem Leser Gelegenheit gibt, seine Menschenkenntnis zu erproben, indem sie fiktionale Einblicke in fremde Herzen, Köpfe und Seelen gewährt.22 Des weiteren wurde auf die grundlegende Bedeutung hingewiesen, die die strategische Kompetenz des Politicus für die Dramenfigur des Intriganten bei Lessing, Goethe und Schiller hat.23 Alexander Košenina wiederum hat den Beitrag, den die politische Dechiffrierung körperlicher Symptome auf die zugrundeliegenden Gemütszustände zur Herausbildung einer schauspielerischen Ausdruckskunst (eloquentia corporis) geleistet hat, und deren Nutzung in Dramen des letzten Jahrhundertdrittels erhellt.24 Die referierten neueren Forschungen verbinden mit dem politischen Kompetenzideal gegenläufige historische Perspektiven. Fragen die zuletzt angesprochenen Arbeiten, wie ein frühneuzeitlicher, vormoderner Diskurs in die Sattelzeit hinein fortgeschrieben wurde, so wird der prudentia politica aus systemtheoretischer Perspektive ein rasches Ende nach 1730 bescheinigt,25 zugleich aber in diesem aus der alteuropäischen Tradition gespeisten Übergangsphänomen schon Modernes erkannt. An dieser Spannung möchte ich mit der Analyse von Lessings Nathan dem Weisen ansetzen, weil hier der Politicus in einem Drama weiterzuleben scheint, das bereits dem letzten Viertel des 18. Jahrhunderts angehört. Auf ein Drama beziehe ich mich, weil diese Gattung der politischen Verhaltenslehre besonders nahesteht: Die Theatertheorie der Aufklärung beschreibt „die Schauspielkunst [...] als Verstellungskunst“.26 Denn der Schauspieler drücke, wie Lessing im Anschluss an François Riccobonis L’Art du théâtre betont, nicht eigene Empfindungen aus; vielmehr müsse die möglichst ‚natürliche‘ Darstellung etwa von Empfindungen ein Kunsteffekt sein.27 Der Politicus wiederum wird als Schauspieler entworfen und metaphorisch auch manchmal ein „Comoediant“ genannt.28 Im Verhältnis zu seinen Konkurren-
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Berg, Gunhild: Erzählte Menschenkenntnis. Moralische Erzählungen und Verhaltensschriften der deutschsprachigen Spätaufklärung. Tübingen 2006. Vgl. Memmolo, Pasquale: Strategen der Subjektivität. Intriganten in Dramen der Neuzeit. Würzburg 1995. Košenina, Alexander: Anthropologie und Schauspielkunst. Studien zur „eloquentia corporis“ im 18. Jahrhundert. Tübingen 1995, S. 58–84. Vgl. Geitner: Die Sprache der Verstellung, S. 32; Stanitzek, Georg: Blödigkeit. Beschreibungen des Individuums im 18. Jahrhundert. Tübingen 1989, S. 83–101. Geitner: Die Sprache der Verstellung, S. 40. Vgl. Monika Fick: Lessing-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart, Weimar 2000, S. 268–270. [Caspar Gottschling:] Des [...] Balthasaris Graciani Criticon [...]. T. 1–3. Frankfurt, Leipzig 1710, T. 3, S. 128, zit. nach Geitner: Die Sprache der Verstellung, S. 120f.
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ten ist er einerseits Mitspieler, also eine Dramenfigur unter anderen (möglichst der obsiegende Intrigrant). Andererseits möchte er auch Zuschauer sein, der den Überblick über das Geschehen hat und noch den geheimsten Monolog belauscht. Für das Theater bedeutet dies, dass es nicht nur Politicusfiguren auf die Bühne bringt, sondern dem Publikum darüber hinaus eine ‚politische‘ Sicht auf das vorgeführte Geschehen vermittelt. Denn das Publikum verfügt entweder über eben den Wissensvorsprung, um den der Politicus sich ewig bemühen muß, oder es wird dazu herausgefordert, sich wie ein guter Politicus um das Durchschauen der von ihm beobachteten Figuren zu bemühen. Das wiederum macht das Drama spannend: Welche Bedenken hat Nathan, wenn er dem Tempelherrn seine Tochter verweigert? Was planen Saladin und Sittah gegen Nathan, und wie wird der sich aus der Falle der Religionsfrage befreien? (Die Ringparabel ist zunächst einmal die listige Abwehr eines, so wörtlich, „Anschlags“, II,3, 357!) Berücksichtigt man das ‚politische‘ Moment des Nathan und sein Spannungs- und Überraschungspotential, so zeigt sich das Stück keineswegs vornehmlich von „Statik“ gekennzeichnet, „angesiedelt im Zwischenfeld von dialogisierter Erzählung und didaktischem Drama“29. Zudem wirken die Verstellungen und Listen der Bühnenfiguren als Reiz, der die Zuschauer in die gespielte Welt hineinzieht. Politisch agierende Bühnenfiguren erzeugen theatralische Illusion (wenn diese nicht gebrochen wird durch Paratexte, allegorische Figurenrede und kommentierende Zwischenspiele wie im barocken Drama) und tragen so zur Konstituierung einer Kunstsphäre bei, die sich durch Illusion abschließt. Das Ideal politischer Geschicklichkeit hat mithin auch ästhetische Effekte.
II. Die (vermeintliche) Verabschiedung des Politicus durch die Aufklärung lässt sich auch bei Lessing leicht belegen. Die für den Politicus zentrale Technik, von äußeren Zeichen auf den ‚inneren Menschen‘, seinen Charakter und seine Absichten zu schließen, macht Lessings frühes Lustspiel Die Juden lächerlich: Hier ist es die vorurteilsbeladene Figur des Barons, der meint, „das Tückische, das Ungewissenhafte, das Eigennützige, Betrug und Meineid“ der Juden bereits an „ihrer Gesichtsbildung“ erkennen und „sehr deutlich aus ihren Augen“ lesen zu können, und der dies gegenüber einem Juden äußert, den er keineswegs als solchen erkennt.30 Was ein Vehikel des reaktionsschnellen Durch-
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Der Begriff „Comœdiant“ kann jeden Schauspieler, nicht nur den der Komödie, meinen. Alt, Peter-André: Aufklärung. Lehrbuch Germanistik. 3., aktual. Aufl. Stuttgart, Weimar 2007, S. 238. Vgl. Lessing: Werke, Bd. 1, S. 388.
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schauens sein soll, ist hier in habitualisierte Verblendung umgeschlagen. „Galanterie und Politik läßt immer kalt“, heißt es in der Hamburgischen Dramaturgie.31 Aufgabe des Dichters sei es vielmehr, unter den gesellschaftlichen Masken den „Menschen“ in seiner „simplen Natur“ sichtbar zu machen.32 Entsprechend deutlich propagiert Nathan der Weise eine Humanität, die unter der historisch bedingten „Kleidung“ der verschiedenen Religionen (so wörtlich in der Ringparabel, III,7, 457, vgl. I,3, 393 u. 446) unverstellte Menschlichkeit freilegt. Der skeptischen Anthropologie des Politicusideals läuft dieser Optimismus hinsichtlich eines ‚guten Kerns‘ des Menschen sowie des Interessenausgleichs mit dem anderen diametral entgegen. Auch die Gattung des Nathan, das nach der Jahrhundertmitte vorherrschende Familienschauspiel,33 scheint dem Politicus wenig günstig, stellt es den intriganten Agon der Figuren doch zurück hinter Bezeugungen von Großmut. Allerdings stehen die Figuren in Nathan dem Weisen nicht nur in Verwandtschaftsverhältnissen zueinander (die Verwandtschaft aller Hauptfiguren außer Nathan tritt ja erst am Ende zutage, nämlich als eine zur interreligiösen Anerkennung erweiterte Variante des gattungstypischen Prinzips familiärer Versöhnung). Mit dem Sultan Saladin und seiner Schwester Sittah kommt vielmehr der Hof, der genuine Ort politischen Verhaltens, wieder auf die Bühne. „Saladin und Sittah spielen Schach“, lautet die dazugehörige erste Szenenanweisung (II,1, vor 1). Das Motiv des Schachspiels unterstreicht, dass das hier geforderte Verhalten von Strategie und Taktik, Überblick über Situationen und Konstellationen, Durchschauen des anderen und Geheimhaltung der eigenen Absichten, Angriffen, Finten und deren Abwehr geprägt ist. Auch „Königs-Spiel“ genannt, ist Schach ein Spiel um Positionsvorteile, letztlich um die Herrschaft, symbolisiert im Sieg über den gegnerischen König. Im entsprechenden Artikel des Zedlerschen Universal-Lexikons heißt es: „hauptsächlich auf diese vier Stücke [kommt es] an, daß man seine Steine fortrücke, beschirme, die gegentheiligen eintreibe, und den König besetze“.34 Es geht mithin um Avancement (zunächst einmal im ganz konkreten Sinne des Vorrückens auf den Gegner, damit letztlich aber um den Gewinn einer besseren, schlagkräftigeren Position) in einer Konkurrenzsituation mit der Schärfe des ‚Ich oder Er‘, und dies erfordert beständige Rücksichtnahme auf das gleichar-
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Vgl. Lessing: Werke, Bd. 4, S. 603f. (80. Stück). Ebd., S. 505 (59. Stück). Zur Zugehörigkeit des Nathan zu dieser dramengeschichtlichen Entwicklung vgl. Demetz, Peter: Lessings ‚Nathan der Weise‘. Wirklichkeiten und Wirklichkeit. In: Lessings ‚Nathan der Weise‘. Hg. von Klaus Bohnen. Darmstadt 1984, S. 168–218, hier S. 174f. Vgl. [Zedler, Heinrich:] Großes vollständiges Universal-Lexikon aller Wissenschaften und Künste. Bd. 1–64 u. 4 Suppl.-Bde. Halle: Zedler 1732–54. Nachdr. Graz 1961–64, Bd. 34, Sp. 684–686, hier Sp. 684.
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tige Streben des anderen und damit Schutz der eigenen Steine gegen mögliche gegnerische Angriffe. Wie der Politicus braucht der Schachspieler einen „ruhigen und schnellen Blick“ (wie ihn Sittah beweist: II,1, 58), um die jeweilige (Spiel-) Situation zu durchschauen, und er muß seine Vermutungen über die Absichten des Gegenübers anstellen, darf sie aber nicht ausplaudern (wie Saladin es tut35). Beide sind auf ihre „Kunst“ (II,1, 57) und „Scharffsinnigkeit“ verwiesen; auf das bloße Glück können sie nicht rechnen.36 Das Schachspiel fungiert in Nathan der Weise dementsprechend als Probe auf die Neigung der Figuren zu politischem Handeln: Saladin verliert mit Absicht und ist ein schlechter Politicus, Sittah hingegen plädiert dafür, „ein jedes Ding nach seiner Art zu brauchen“ (III,4, 256), und weiß sowohl Sieg als auch Niederlage im Schachspiel für sich zu nutzen (entweder durch Einstreichen der ausgesetzten Summe oder durch die Geschenke, mit denen sie der Bruder „des verlornen Spiels wegen“ tröstet, II,1, 25). Sie ist darauf eingestellt, in jeder Konstellation die verborgenen Absichten aufzuspüren: „Was heißt das?“, fragt sie, als der mit der Verwaltung der meist leeren Hofkasse betraute Al-Hafi davon abrät, bei Nathan Geld zu leihen: „– Hat er [Al-Hafi] wirklich sich in ihm [Nathan] / Betrogen, oder – möchte’ er uns nur gern / Betriegen?“ (II,3, 309–311) Folglich überlegt sie, warum Al-Hafi so „verlegen“ von „seinem Freund“ sprach, „Als halt’ ers für gefährlich, ihn zu loben / Und wollt’ ihn unverdient doch auch nicht tadeln“ (II,3, 340, 334, 341f.): Dissimulierte er, ohne direkt Falsches zu sagen (zu ‚simulieren‘)? Dass die Maßstäbe politischen Verhaltens im Bewusstsein von Lessings Figuren präsent sind, hängt wohlgemerkt nicht von deren Neigung oder Befähigung zum Politicus ab. So klagt Saladin über den Zwang zu politischem Verhalten, dem er unterliegt: „Ich soll mich stellen; soll besorgen lassen; / Soll Fallen legen; soll auf Glatteis führen.“ (III,4, 222f.) Er könne das nicht, bekennt er, und wolle es auch nicht (III,4, 264f.). Einen Tiervergleich umkehrend, mit dem schon Gracián die politische Klugheit erläutert,37 zieht er die Stärke des Löwen der List des Fuchses vor (so Sittah III,4, 270f.). Gleichwohl kennt er das politische Prinzip, den Eindruck zu antizipieren, den er auf sein Gegenüber macht, und sich nach dessen Beurteilungsmaßstäben auszurichten:38 „So muß ich ja wohl gar / Schlecht handeln, daß von mir der Schlechte nicht / Schlecht denke?“ (III,4, 253–255) Und er weiß, obwohl er selbst sich
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Vgl. II,1, 11–13: „Du schenkst mir nichts. Dir liegt / An diesem Platze mehr, als an einem Springer. / SITTAH. Kann sein“. Zedler: Universal-Lexikon, Sp. 685: „Das gantze Spiel kommt auf die Kunst an, und hat das Glücke dabey nichts zu thun.“ Gracián: Handorakel, S. 110 (Maxime 220): „Wer sich nicht mit der Löwenhaut bekleiden kann, nehme den Fuchspelz.“ Die Wendung geht auf Plutarch zurück und ist in der Klugheitsliteratur weit verbreitet. Vgl. Beetz: Frühmoderne Höflichkeit, S. 190.
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nicht als solcher versteht, dass der Politicus nicht nur den anderen, sondern gewissermaßen auch die eigene Performanz beobachten muß, um seine Wirkung kalkulieren zu können.39 Dass er kein Akteur unter anderen sein möchte, folgt aus seiner Neigung, sich über alle Bedingtheiten zu erheben, z. B. durch eine bodenlose Freigebigkeit, als habe er „des Höchsten immer volle Hand“ (I,3, 488). Aus der Zuschauerperspektive hingegen lässt auch er sich für politisches Verhalten begeistern: Erfolgreich preist ihm Sittah „das Vergnügen / Zu hören, wie ein solcher Mann [nämlich Nathan, D. F.] sich ausredt; / Mit welcher dreisten Stärk’ entweder, er / Die Stricke kurz zerreißet; oder auch / Mit welcher schlauen Vorsicht er die Netze / Vorbei sich windet“ (III,4, 239– 244). Dass mit Saladin und Sittah zwei ‚höfische‘ Figuren in den Bahnen politischer Verhaltensmaximen denken und/oder handeln, mag wenig überraschen. Aber auch die meisten anderen Figuren sehen wir als Politici agieren. Das heißt nicht, dass alle Figuren denselben Handlungsprinzipien folgten oder über dieselbe taktische Kompetenz verfügten. Das war exemplarisch schon im Vergleich von Saladin und Sittah zu sehen. Vielmehr prägen die verschiedenen Figuren je andere Aspekte des Politicus besonders aus. Gemeinsam ist ihnen jedoch, dass sich ihre Stärken und Schwächen durchweg im Horizont des zu Lessings Zeit ‚eigentlich‘ längst erledigten Politicusideals beschreiben lassen. Aus der unterschiedlichen Ausprägung der politischen Orientierung ergeben sich Kontraste, die erheblich zum Reiz der Dialoge40 sowie zum Provokationspotential der Figurenkonstellation beitragen. So schiebt Saladin das Macht- und Herrschaftsinteresse des Politicus weit von sich, das der Patriarch hingegen in den Vordergrund rückt, indem er Gehorsam „ohne viel zu klügeln“ fordert (I,5, 560, vgl. IV,2, 97). Völlig ‚unpolitisch‘, begegnet der Sultan seinen Mitmenschen statt mit nachforschendem Misstrauen mit einem Zutrauen, das Projektions- ebenso wie Vorschusscharakter hat. „Du kennst die Christen nicht, willst sie nicht kennen“, hält seine Schwester Sittah ihm vor, weil er dem „schönen Traum“ einer Versöhnung militärischer Gegner durch eine Muslime und Christen verbindende Hochzeit nachhängt (II,1, 79f.). Seine
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Dies wird in einer a parte gesprochenen Bemerkung über die vermeintlich horchende Sittah deutlich (vgl. III,5, 346f.). Vgl. Beetz: Frühmoderne Höflichkeit, S. 37: „Das Durchschauen der Intentionen anderer ist wie die Erkenntnis seiner selbst ein Angelpunkt der Klugheitslehre“. Vgl. dazu das bei Schröder, Jürgen: Gotthold Ephraim Lessing. Sprache und Drama. München 1972, S. 259 zitierte Zitat Hugo von Hofmannsthals, der bedauerte, dass man Nathan den Weisen „nie so gespielt hat, wie es gespielt werden müßte: ganz als das geistreichste Lustspiel, das wir haben, ganz auf die unvergleichliche Gespanntheit der Dialoge hin, dies Einander-aufs-Wort-Lauern, Einander-die-ReplikZuspielen, auf dieses Fechten mit dem Verstand (und mit dem als Verstand maskierten Gemüt), wovon das ganze Stück bis in die Figuren der Mamelucken hinab erfüllt ist“ (Hofmannsthal, Hugo: Prosa IV. Frankfurt/M. 1966, S. 483).
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mangelnde Vorsorge ruiniert ihn nur deshalb nicht, weil seine Schwester alle seine ‚Schwächen‘ ausgleicht, nicht zuletzt durch ihre Kassenführung hinter dem Rücken des Bruders (vgl. II,1–2). Wie grundlegend politische Verhaltenskoordinaten für Lessings letztes Drama sind, zeigt sich daran, dass sie auch für die Figuren gelten, die von ihrem Stand her nicht politisch prädisponiert sind, also für die ‚Jungfrau‘ Recha, den Klosterbruder und den Derwisch Al-Hafi (der als neuer Schatzmeister des Sultans quasi widernatürlich in die politische Sphäre gezogen wird, vgl. I,3). Von ihrem gesellschaftlichen Stand als Amme ist überdies Daja als ‚unpolitische‘ Figur zu rechnen. Da eine solche rangniedrigere Begleiterin der ‚Jungfrau‘ traditionell die dramaturgische Funktion der Intrigantin hat, fallen ihr Geheimnishandel,41 ihre taktischen Einflüsterungen,42 ihre Kuppelpolitik43 sowie ihr Verfolgen eigener Interessen44 allerdings weniger aus dem Erwartungsrahmen. Dajas taktischer Eifer ist größer als ihre Übersicht, und ihre Vermutungen gehen wiederholt in die Irre (so wähnt sie, Saladin habe Recha mit eigenen erotischen Absichten zu sich geholt, vgl. IV,8, 761–764). Sie verkörpert mithin das Verirrungspotential des Politicus, das aus der besser informierten Perspektive des Zuschauers komisch erscheint. Recha wiederum ist die Figur, die am ungeschütztesten aus ihrem „Innern“ aus „Natur und Unschuld“ lebt (II,4, 377f.), so dass sie Nathan gegenüber bekennt: „Schon die Möglichkeit, mein Herz / Euch lieber zu verhüllen, macht mich zittern.“ (II,4, 382f.) Politische Verstellung, Dissimulation oder gar Simulation, ist ihr gänzlich fremd (vgl. III,3, 188). Gleichwohl zeigt sie sich in den Dialogen mit Daja als argumentationsstark, mit dem Tempelherrn gar als schlagfertig (vgl. III,1–2). Als weltabgewandter Derwisch handelt auch Al-Hafi ‚eigentlich‘ aus unverstellter Menschlichkeit. „Laß dich / Umarmen, Mensch. – Du bist doch noch mein Freund?“, begrüßt ihn Nathan, und er hat Recht, dass er in AlHafis neuem Amt kein Hindernis ihrer Freundschaft sieht: „Wenn dein Herz / Noch Derwisch ist, so wag’ ichs drauf. Der Kerl / Im Staat, ist nur dein Kleid.“ (I,3, 388f., 393–395) Doch weiß Al-Hafi ebenso, dass die Welt politische Verhaltenskompetenzen fordert. Mit Blick auf das stehengebliebene Schachspiel Saladins und Sittah erweist er sich als überlegener Beurteiler komplexer Situationen (vgl. II,2). Indem er das Spiel als für Saladin noch zu gewinnen erkennt (vgl. II,9, 679f.), handelt er allerdings gegen sein Interesse als Schatzmeister, denn nur von Sittah gewonnenes Geld bleibt seiner Kasse erhalten (II,2, 179ff.). Ebenfalls glücklos agiert er, obwohl er sogar Lügen
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Vgl. III,10, 728–733, IV,8, 767 (Rechas christliche Herkunft als Geheimnis). Vgl. III,2, 114 (Daja gab verletzende Worte des Tempelherrn an Recha weiter, als „Stacheln“ in ihr Herz), III,3, 182–187 (Daja rät Recha, sich bei dem Tempelherrn rar zu machen, um ihn erotisch unter Spannung zu halten). Vgl. I,6, IV,6. Vgl. III,10, 860–862 (Dajas Wunsch, nach Europa zurückzukehren).
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nicht scheut, als er Nathan gegen das Interesse des Sultans zu schützen sucht (vgl. II,2, 245ff., II,9, 641f.). Der Derwisch sollte mehr Politicus sein, kann man schließen – dann würde er sich nicht gezwungen sehen, nach Indien auszuwandern (vgl. II,9). Was den Klosterbruder angeht, so weist sein Name Bonafides (IV,2, 233) nicht gerade auf politische Geschicklichkeit. Seinen vom Patriarchen erhaltenen Auftrag – nämlich den Tempelherrn auszuhorchen und als Spion anzuwerben – erledigt er scheinbar naiv geradeheraus,45 als willig-unbedarftes Werkzeug seines Herrn.46 Der Effekt ist, dass keine Gefahr besteht, dass der Tempelherr auf seine Avancen eingeht. Eben dies war aber seine Absicht, wie in seinen Abschiedsworten offensichtlich wird („Ich geh’ […] vergnügter, als ich kam“, I,5, 712). Der Klosterbruder erweist sich dadurch als klug, dass er dumm erscheint. Geschickt folgt er zwei Regeln des Graciánschen Handorakels, nämlich „von der Dummheit Gebrauch zu machen“47 sowie das eigentliche Interesse durch ein vorgeschobenes, dem Gegenüber zum Durchschauen dargebotenes zu kaschieren.48 Auf eine so vertrackte Taktik fällt der Tempelherr glatt herein, wie sein a parte gesprochener ironischer Spott über die vermeintliche „Einfalt“ (I,5, 562) seines Gegenübers zeigt: „(Ein verschmitzter Bruder!)“ (557), „KLOSTERBRUDER. […] Ich soll / Den Herrn nur erst ergründen, ob er so / Der Mann wohl ist. TEMPELHERR. Nun ja; ergründet nur! / (Ich will doch sehn, wie der ergründet!)“ (601–604). Auf die gerissene Einfalt, die nur vordergründige Gutgläubigkeit des Bonafides kann übrigens auch der Zuschauer leicht hereinfallen – oder er genießt seine Überlegenheit über den sich überlegen dünkenden Tempelherrn. Als ‚Soldat‘ steht der Tempelherr dem politischen Verhaltensideal an sich recht nahe, betrachtet Gracián das Leben doch insgesamt als „Krieg […] gegen die Bosheit des Menschen“ (militia contra malicia)49. Trotzdem finden wir ihn, ähnlich wie Daja, fast durchweg auf der falschen Spur. Von seinem Stand (oder dramatischen Rollenfach) her zum Politicus prädestiniert zu sein, genügt offensichtlich nicht. Nötig scheint vielmehr die bewusste und reflektierte Aneignung politischer Kompetenzen. Jedenfalls definiert sich auch die Figur des Tempelherrn im Feld der virtutes politici. Was seinen Charakter moralisch problematisch macht, sind Fehler auch des Politicus: Missdeutun-
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„KLOSTERBRUDER. Ich soll / Mich nur nach Euch erkunden; auf den Zahn / Euch fühlen. TEMPELHERR. Und das sagt Ihr mir so selbst? / KLOSTERBRUDER. Warum nicht?“ (I,5, 554f.) „Ich muß gehorchen, lieber Herr. TEMPELHERR. Und da / Gehorcht Ihr denn auch ohne viel zu klügeln? KLOSTERBRUDER. Wär’s sonst gehorchen, lieber Herr?“ (I,5, 559–561) Gracián: Handorakel, S. 119 (Maxime 240). Gracián: Handorakel, S. 10 (Maxime 13). Ebd.
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gen der Absichten anderer (nämlich Nathans), Kontrollverlust durch heftige Affekte (seine Leidenschaft für Recha), eine voreilige, plumpe und nicht auf ihre Folgen bedachte Intrige (Nathans Anschwärzung beim Patriarchen, IV,2). Dass Nathan seiner Werbung um Recha nicht gleich zustimmt, weil er bereits eine Verwandtschaft zwischen beiden vermutet (III,9), deutet der Tempelherr dahin, dass der ‚Vater‘ sein Pflegekind nicht aus seiner eigenen Religion entlassen wolle. Er glaubt, Nathan nun endgültig durchschaut zu haben: „Er ist entdeckt. / Der tolerante Schwätzer ist entdeckt! / Ich werde hinter diesen jüd’schen Wolf / Im philosoph’schen Schafspelz, Hunde schon / Zu bringen wissen, die ihn zausen sollen!“ (IV,4, 400–404) Hinter die Fassade zu blicken, das Gesicht hinter der Maske, die Person unter ihrer (Ver-) Kleidung zu entdecken ist nun tatsächlich die zentrale Überlebenstechnik des Politicus. Der Tempelherr indes reklamiert dies für sich ebenso „heftig“50 (also ganz undiskret), wie seine Vermutungen über Nathan irregehen. Seine Gefühle und Haltungen pendeln zwischen den Extremen: Zeigt er sich einerseits so misstrauisch gegen Nathan, dass er ihm nicht seinen richtigen Namen nennt (so dass sich die Aufklärung der Verwandtschaftsverhältnisse verzögert, II,7, 587ff., V,8, 611ff.), so fällt er ihm wenig später, die verbale Werbung um Rechas Hand radikal abkürzend, „um den Hals“51 und verzichtet explizit auf alle Besonnenheit: „Nun gut! Ich mag nicht näher wissen, / Was in mir vorgeht; mag voraus nicht wittern, / Was vorgehn wird.“ (III,8, 596–598) Wenn er gleich zu Anfang Daja sagt, er sei „ein plumper Schwab“ (I,6, 778), so hat diese abwehrende Aktualisierung eines Völkerstereotyps mehr Wahrheit, als ihm bewusst ist. Unerwartetes verschlägt ihm die Sprache ebenso wie die Handlungsabsichten,52 und es muß eine Amme ihn mahnen, er solle Nathan nicht merken lassen, was er weiß (über Rechas Herkunft, III,10, 858f.). Ein solcher Politicus verdirbt die Dinge – so wie das Drama durch seine Anschwärzung Nathans beim Patriarchen fast in eine Tragödie umschlägt.
III. Und Nathan? Als Jude hat Nathan allen Grund, vor den Mächtigen der anderen Religionen – Saladin, dem Patriarchen – auf der Hut zu sein. Seitdem er das Christenkind Recha zu sich nahm, trägt er zudem ein Geheimnis mit sich, so dass er stets etwas „zu verbergen“ hatte (V,5, 178). Als Kaufmann kommt er ebenfalls nicht umhin, „klug“ zu sein, d. h. sich „auf seinen Vorteil“ zu ver-
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So die Regieanweisung IV,4, 400. So die Regieanweisung III,9, 662. Vgl. III,10, 846–850: „Daja, / Ihr habt mir allerdings etwas vertraut – / Von Wichtigkeit, – was Folgen haben kann, – / Was mich verwirrt, – worauf ich nicht gleich weiß, – / Was mir zu tun. – Drum laßt mir Zeit.“
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stehen (III,5, 290f.). So sehr Nathan sich nach allen Seiten behaupten muß, so umfassend ist aber auch sein politisches Geschick. „Er hat Verstand; er weiß / Zu leben; spielt gut Schach“: diese schon eingangs zitierte Charakterisierung durch Al-Hafi (II,2, 275f.) schließt alles ein, was zum guten Politicus gehört: ein scharfes Urteil ebenso wie das Wissen, wie man sich „im Umgang und in der Gesellschaft mit anderen“ zu verhalten hat, Höflichkeit und die Fähigkeit, das Gegenüber zu durchschauen („die Kunst […], den Leuten vieles an den Augen abzusehen, und so schnell es seyn kann die Gemüther kennen zu lernen“), taktisches Geschick, strategische Orientierung und Durchsetzungswillen.53 Dass ein Kaufmann, nicht der Fürst der beste Politicus des Stücks ist, könnte vor dem Hintergrund der höfischen Herkunft dieses Verhaltensideals als Ironisierung missverstanden werden. Tatsächlich jedoch unterstreicht es dessen weiterhin hohe Geltung, war der Kaufmann doch schon zu Beginn des 18. Jahrhunderts in die Position des vorbildlich Weltklugen gerückt, eben anstelle des Hofmannes.54 Aber nicht allein außergewöhnliches politisches Geschick zeichnet Nathan aus, sondern mehr noch die Harmonie mit moralischen Anforderungen, in der es zum Einsatz kommt. „So gut als klug, so klug als weise“, sagt der Derwisch weiter über ihn (II,2, 443), und tatsächlich bildet die politische Orientierung auf Erfolg (die Klugheit) für Nathan keinen Gegensatz zur Moral (zur Ausrichtung auf das Gute), so wie die Klugheit in irdischen Angelegenheiten bei ihm nicht mit der ‚weisen‘ Sorge um die ewigen Güter konkurriert.55 Nun ist die Koinzidenz von Klugheit und Weisheit, Erfolg und Tugend in den Programmschriften des politischen Verhaltens immer wieder beschworen worden,56 besonders in der deutschen Tradition,57 gerne auch mit der Spezifikati-
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Vgl. Der Gesellige 6 (1750), S. 39–48 (233. Stück) darüber, was es heißt zu sagen, „dieser Mensch weiß zu leben“ (Zitate S. 40f., 47). Vgl. Beetz: Frühmoderne Höflichkeit, S. 277. So fließen seine üppigen Geschäftsgewinne in ebenso üppige Almosen (II,2, 279– 294). Mit Blick auf die frühneuzeitlichen Wandlungen des Klugheitsbegriffs könnte man sagen, dass die Klugheit ihre ethische Dimension zurückerhält, die sie unter politischen Vorzeichen verloren hatte. Vgl. in Gracián: Handorakel, S. 146 die 300. und letzte Maxime, die das Vorhergehende keineswegs aber zusammenfasst, im Gegenteil: „Mit einem Wort, ein Heiliger sein […]. Die Tugend ist das gemeinsame Band aller Vollkommenheiten und der Mittelpunkt aller Glückseligkeit.“ Vgl. Thomasius: Kurzer Entwurf, S. 17: „Aus diesen allen erhellet / daß die Klugheit eine Lehre sey / die da zeiget / wie ein Schüler der Weißheit auff dem Wege der Tugend dergestalt fortgehen solle / daß er sich weder durch die Exempel der Thoren / (ohngeachtet sie einen Schein der Weißheit haben) auff Irrwege verleiten / noch durch ihre betrügliche oder gewaltsame Widersetzung an seinem tugendhafften Wandel hindern lasse.“ (Kap. I, § 50) Micha, Philippe: „Der Endzweck einer veritablen Politesse muss tugendhaft sein“. Fortune et infortunes des notions cicéroniennes de decorum et d’honestum dans l’Allemagne du baroque tardif et de la Frühauf-
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on „wahr“, die in Lessings Drama von Saladin ins Spiel gebracht wird (III,5, 292): „Das heisset die wahre Klugheit / wenn man 1) das warhaftig gute (verum bonum) vom Schein-Guten zu unterscheiden weiß / und jenes sich zum Zweck vorstellet / 2) die Mittel darzu zu gelangen ausfindet und appliciret.“58 Die Praxisrelevanz solcher Beteuerungen war offensichtlich aber gering, denn politische Kompetenzen galten ja eben deshalb als unverzichtbar, weil Tugend in der Welt nicht weiterhelfe59 bzw. weil moralische Kategorien als in der Praxis uneindeutig diagnostiziert werden.60 Ingo Stöckmann geht so weit, „die immer wieder geforderte Kopplung von Interaktion und Moral, von ‚Klugheit‘ und ‚Weisheit‘ (Thomasius) als bloße Prätention“ zu werten.61 Traditionell stehen Tugend und politische Erfolgstechniken alternativ zueinander; dementsprechend ist das 18. Jahrhundert insgesamt von einer sukzessiven Verdrängung politischer Verhaltensmaximen durch Authentizitäts- und Moralforderungen gekennzeichnet.62 Demgegenüber modelliert Lessing einen perfekten Politicus, der sich zugleich das Cognomen ‚der Weise‘ verdient. Aus dem seinerzeitigen Kontext sticht das doppelt hervor: zunächst durch die Aktualisierung des scheinbar längst entwerteten politischen Kompetenzideals und sodann durch dessen Harmonisierung mit der ‚zeitgemäßeren‘ Forderung nach „aufrichtigem“ (III,5, 305) Streben nach dem Guten. Zu akzentuieren ist beides: sowohl die Wiederkehr des vermeintlich Überwundenen als auch dessen Umformung. Beides gehört in Nathan der Weise zusammen. Jene Umformung wiederum konnte zwar an die Tugendforderung anknüpfen, mit der
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klärung, in: Études germaniques 61 (2006), H. 1, S. 5–47; zur theoretischen Einhegung der politischen Klugheit durch „einen naturrechtlichen Begriff von der sozialen Natur des Menschen“ vgl. Vollhardt, Friedrich: Selbstliebe und Geselligkeit. Untersuchungen zum Verhältnis von naturrechtlichem Denken und moraldidaktischer Literatur im 17. und 18. Jahrhundert. Tübingen 2001, S. 30. Heumann, Christoph August: Der politische Philosophus, das ist / Vernunftmäßige Anweisung Zur Klugheit Im gemeinen Leben. Frankfurt, Leipzig: Renger 1714, S. 3; vgl. Zedler: Universal-Lexikon Bd. 28, Sp. 1528, s.v. Politicus. Für Thomasius gehört zur Klugheit auch das Bemühen um Weisheit als Erkenntnis des Guten (vgl. Kurzer Entwurf der Politischen Klugheit, S. 9, Kap. I, § 23), doch beurteilt er die Möglichkeit einer ‚weisen‘ Erkenntnis skeptisch und reserviert sie Gott (ebd., S. 6f., Kap. I, § 12f.). Vgl. Geitner: Die Sprache der Verstellung, S. 29f.; Schröder, Gerhart: Logos und List. Zur Entwicklung der Ästhetik in der frühen Neuzeit. Königstein/Ts. 1985, S. 240. Stöckmann: Vor der Literatur, S. 325. Vgl. Göttert: Kommunikationsideale, S. 101–135. Im Bereich des französischen Schrifttums erfolgt die Verabschiedung des Höflichkeitsideals um die Jahrhundertmitte zusätzlich aus kulturkritischer Perspektive, vgl. Thoma, Heinz: Politesse und Kulturkritik: Rousseaus Erster Discours im Kontext. In: Anne Amend-Söchting [u.a.] (Hg.): Das Schöne im Wirklichen – Das Wirkliche im Schönen. Fs. für Dietmar Rieger zum 60. Geb. Heidelberg 2002, S. 391–403.
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sich die deutschen Adaptionen des Politicusideals vom radikalen Prudentismus Machiavellis oder Graciáns absetzten. Die Höhe, die Nathan in der Klugheit ebenso wie in der Weisheit erreicht, und der Grad der Harmonie zwischen beidem machen ihn gleichwohl zur singulären Figur. Auch Nathans vielgelobte Vorurteilslosigkeit63 baut auf einer typischen Tugend des Politicus auf und folgt dessen Devise, sich auf sein jeweiliges Gegenüber einzustellen. Auf diese Weise weiß Nathan Gespräche in seinem vernünftigen, menschenfreundlichen Sinne zu führen, sei es um Recha den Aberglauben auszutreiben, ein Engel habe sie aus dem Feuer gerettet (vgl. I,2), oder um die anfängliche Feindseligkeit des Tempelherrn ad absurdum zu führen: „TEMPELHERR. Aber, Jude – / Ihr heißet Nathan? – Aber Nathan – Ihr / Setzt Eure Worte sehr – sehr gut – sehr spitz – / Ich bin betreten – Allerdings – ich hätte…“ (II,5, 471–474). Die Scharfsinnigkeit des arguten Stilideals artikuliert sich bei Nathan als eine argumentative Schärfe, die unabweisbar ist. Und er setzt der Uneigentlichkeitsverschachtelung des politischen Verbergens noch ein reflexive Dimension obenauf, die nicht einmal Gracián bedachte: So gibt er vor, eine gar nicht vorhandene Verstellung des Tempelherrn zu durchschauen, um dessen maßlose Schroffheit zu unterlaufen: „Stellt [= simuliert, D. F.] und verstellt Euch [= dissimuliert, D. F.], wie Ihr wollt. Ich find’ / Auch hier Euch aus.“ (II,5, 475f.) Er entwaffnet hier den Tempelherrn, indem er dessen abweisendes Verhalten als geziemende Zurückhaltung gegenüber einem verliebtheitsgefährdeten Mädchen (absichtlich fehl-) interpretiert: „Ihr wart zu gut, zu bieder, / Um höflicher zu sein. – Das Mädchen ganz / Gefühl; der weibliche Gesandte, ganz / Dienstfertigkeit; der Vater weit entfernt – / Ihr trugt für ihren guten Namen Sorge; / Floht ihre Prüfung; floht, um nicht zu siegen. / Auch dafür dank’ ich Euch – TEMPELHERR. Ich muß gestehn, / Ihr wißt, wie Tempelherren denken sollten.“ (II,5, 476–483) Die Stelle ist deshalb besonders aufschlussreich, weil sie zeigt, zu welchem pädagogischen Zweck Nathan seine politische Virtuosität einsetzt: Wenn er den Tempelherrn ‚durchschaut‘, bleibt er nicht bei der Erkenntnis seiner Handlungsmotivation stehen, sondern er hält ihm vor, was seine Handlungsmotivation sein sollte. Allerdings geschieht auch diese wieder ‚politisch‘ verdeckt, um nicht als Normvorgabe und moralische Belehrung daherzukommen, sondern als (vorgebliche) Faktenaussage. Auf das zuletzt Zitierte antwortet Nathan: „Nur Tempelherrn? sollten bloß? und bloß / Weil es die Ordensregeln so gebieten? / Ich weiß, wie gute Menschen denken; weiß, / Daß alle Länder gute Menschen tragen.“ (II,5, 484–487) Nathans Durchschauen seiner Gegenüber zielt auf die Entdeckung ihres ‚guten Kerns‘, wobei es sich häufig nur
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Vgl. Fick: Lessing-Handbuch, S. 406: „Während in jüngster Zeit Tellheim und Odoardo ins Zwielicht geraten sind, bleibt Nathans Güte unangezweifelt. Unangezweifelt bildet sie den sinnstiftenden Mittelpunkt des Stücks. Übereinstimmung herrscht darüber, daß Lessing in Nathan der Weise die ‚Botschaft der Toleranz‘ verkündet.“
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vordergründig um eine Aufdeckung von Gegebenem handelt, tatsächlich aber um einen kontrafaktischen ethischen Imperativ. Zwei Ausgangspunkte der politischen Weltbetrachtung, die Entschlossenheit zum ‚Realismus‘ und der Verzicht auf moralische Besserungshoffnungen,64 sind damit revidiert. Realistisch ist Nathan ‚nur‘ in bezug auf seine Diagnosen des aktuellen Zustands, nicht aber im Sinne einer pessimistischen Einschätzung des möglichen Gangs der Dinge. Zu dessen Optimierung vielmehr instrumentalisiert er die Techniken des Politicus. Sie erhalten dadurch einen neuen, dem aufklärerischen Weltverbesserungsunternehmen angemessenen Zweck, verlieren aber nicht ihre Zweckmäßigkeit. Dem Sultan wird Nathan als „klug[er]“ Kaufmann vorgestellt (II,3, 334). Der frühaufklärerischen Ausweitung des Begriffs auf die diversen Bereiche der ‚Privat-Politic‘ entsprechend, meint dies seinen Geschäftssinn und -erfolg. Über bereichsspezifische Kompetenzen hinaus gehört zur Klugheit aber auch die Fähigkeit, die Bereiche zu „unterscheiden“ (so wörtlich und mehrfach in Nathans Gespräch mit dem Derwisch Al-Hafi, I,3, 438, 444).65 „Klug“ nennt es Al-Hafi, dass Nathan zwar ihm persönlich als seinem „Freund“ (I,3, 389), nicht aber in seiner Eigenschaft als Schatzmeister des Sultans Geld leihen möchte. Zudem sieht er, der Mann mit dem „Adlerblick“ (II,9, 691), die prinzipielle Differenz zwischen Nathans auf Geben und Nehmen gegründeten Geschäften und der machtgestützten Kassenführung eines Fürsten, die zwischen Steuer- und Tributeintreiben und „Verschwendung“ pendelt (II,9, 659, vgl. I,3, 480–483). Nathan selbst weiß ebenfalls, dass der zum Financier eines Fürsten ‚avancierte‘ Kaufmann bald ruiniert wäre (vgl. I,3, 430). Hier verhilft die Urteilskraft des Politicus offensichtlich dazu, sich auf die Ausdifferenzierung gesellschaftlicher Funktionssysteme einzustellen. Sie befähigt Lessings Nathan nicht bloß, auf die spezifischen Anforderungen in Wirtschaft, Staat, Wissenschaft (Saladins Frage nach der „Wahrheit“ der Religionen, III,6, 351) sowie familiären oder freundschaftlichen Beziehungen einzugehen, sondern vermittelt ihm darüber hinaus die Erkenntnis der zugrundeliegenden systemischen Differenzen. In den Figuren Nathans und des Derwischs stellt sich das politische Kompetenzideal nicht allein in ‚technischer‘ Hinsicht als reflexiv dar – also hinsichtlich seiner Techniken und Reichweite –, sondern auch in bezug auf seine gesellschaftsstrukturellen Voraussetzungen. Die Gegenprobe lässt sich an Saladin, dem Anti-Politicus, machen: Damit maximal Almosen an die Bettler seiner Residenz gelangen, bestellt er einen Derwisch – also einen Bettler – zum Schatzmeister (vgl. I,3, 461–463). Damit
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So jedenfalls bei Gracián; dessen deutsche Rezeption schwächt, wie gesagt, beides ab. Ganz ähnlich das Verhaltensleitbild des Zu-leben-Wissens, das in der mittleren Aufklärung an das Klugheitsideal anschloß: „Kurz, ein Mensch, der zu leben weiß, unterscheidet sich und seine Umstände“ (Der Gesellige 6 [1750], S. 48 = 233. Stück).
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verweigert er sich systemspezifischen Verhaltensregeln, mit der Folge eines zusammenbrechenden Staatshaushalts (den allein wiederum ‚politische‘ Aushilfen wie die heimliche Rückführung von Sittahs Schachgewinnen an die Staatskasse noch stützen, vgl. II,2). Eine ernstzunehmende Alternative stellt Saladins Verhalten nicht dar: Als Verweigerer politischer Geschicklichkeit mimt er – theoretisch durchaus konsequent – göttliche Allmacht, scheint eben darin aber lächerlich, wie der Derwisch erkennt: „Es wär’ nicht Geckerei, des Höchsten Milde, / Die sonder Auswahl über Bös’ und Gute / Und Flur und Wüstenei, in Sonnenschein / Und Regen sich verbreitet, – nachzuäffen, / Und nicht des Höchsten immer volle Hand / Zu haben? Was? es wär’ nicht Geckerei…“ (I,3, 484–489).
IV. Die Situationsflexibilität des Politicus reagiert darauf – so die systemtheoretische Deutung –, dass ihm die Anforderungen der Gesellschaft stets als funktional differenzierte entgegentreten. Die Gesellschaft begegnet ihm nicht als etwas Ganzes, sondern lediglich als Konglomerat von unterschiedlichen kommunikativen Codes. Systemtheoretisch lässt sich darin wiedererkennen, dass die in autonome Systeme ausdifferenzierte Gesellschaft der Moderne keine Ebene oder Instanz des Ganzen aufweist. In Luhmanns Worten „verblaßt“ die Gesellschaft zum „Resultat des Nebeneinanders ausdifferenzierter Funktionssysteme“;66 da sie „keine Adresse“ mehr hat, wird sie kommunikativ unerreichbar.67 Gleich, ob man diesem Modell in gesellschaftstheoretischer Hinsicht folgt oder nicht: Die These, dass es in der Moderne nicht mehr möglich sei, „mit der Gesellschaft“ zu kommunizieren, schließt auch nach Luhmann keineswegs aus, dass man „über die Gesellschaft“ kommuniziert.68 In der Gesellschaft (d. h. in einem ihrer Funktionssysteme) werden durchaus Annahmen darüber artikuliert, was das Ganze ausmacht, wer oder was das Ganze steuert, welcher Verlauf des Ganzen erwartet werden darf usw. Denn solche Annahmen sind auf einer ganz anderen Ebene angesiedelt als die systemtheoretische These der Unerreichbarkeit der Gesellschaft, nämlich auf der Objekt-, nicht der Theorieebene.
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Luhmann, Niklas: Die Wissenschaft der Gesellschaft. Frankfurt/M. 1990, S. 635. Vgl. Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft, S. 866. Dementsprechend werden die ausdifferenzierten Funktionssysteme der modernen Gesellschaft nicht ‚Teilsysteme‘ genannt, sondern ihrerseits als Ganzheiten ohne übergeordnete Instanz begriffen. Ebd., S. 867.
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Auch hierauf ist Lessings Schauspiel zu befragen: welche auf ‚das Ganze‘ bezogenen Annahmen kommen dort zu Geltung? Diese Frage an ein Drama zu richten heißt, nicht allein auf einschlägige Annahmen der Figuren zu achten, sondern ebenso auf den Handlungszusammenhang. Denn für das Drama gilt in aristotelischer Tradition – der Lessing wie kein anderer deutscher Dramatiker vor ihm gefolgt ist –, dass es auf die Zusammenfügung von Handlungen zu einem Ganzen ankommt.69 Der dramatische Handlungszusammenhang kann daher als Speicher der epochentypischen Weltverlaufsannahmen gelten. Systemtheoretisch gesprochen, stellt die spezifische Struktur literarischer Gattungen eine zusätzliche Beobachtungsebene dar, die bei der literaturwissenschaftlichen Rekonstruktion epochaler Bewusstseinslagen nicht übergangen werden darf. Den Theoretikern des Prudentismus gilt der Lauf der Welt als ebenso undurchschaubar wie die Absichten der Konkurrenten.70 Gleich, ob sie beflissen auf die göttliche Vorsehung verweisen oder raten, sich darauf nicht zu verlassen71: zumindest aus menschlicher Perspektive ist offen, was kommt, und erst unter der Voraussetzung dieser Offenheit lohnen sich die Anstrengungen des Politicus.72 Demgegenüber ist der Handlungsausgang im Nathan nahezu determiniert. Die vorgegebene Verwandtschaft Rechas und des Tempelherrn lässt nur eine ‚richtige‘ Lösung zu, nämlich die Aufdeckung ihrer Geschwisterschaft – und nicht etwa eine inzestuöse Liebesverbindung oder erneute Trennung. Diese Vorherbestimmung ist dramaturgisch erzeugt, wird im Nathan darüber hinaus aber als Weltgesetz nahegelegt und als göttliche Providenz gedeutet, getreu Lessings poetologischer Maxime, dass „das Ganze“ des Dramas „ein Schattenriß des Ganzen des ewigen Schöpfers sein“ soll, damit wir „uns an den Gedanken gewöhnen, wie sich in ihm alles zum Besten auflöse, werde es auch in jenem geschehen“.73 Eine providentielle Grunderfahrung machte Nathan in jener entscheidenden Situation der Vorgeschichte, als Christen seine gesamte Familie ermordet hatten: Indem er auch dies als „Gottes Ratschluß“ begriff (IV,7, 676), fasste er neuen Lebensmut, so dass er, statt Rache zu nehmen, das Christenkind Recha adoptieren konnte. Lessings Drama wie-
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Aristoteles: Poetik, 1450a. Vgl. Gracián: Handorakel, S. 5, Maxime 3: „Man ahme [...] dem göttlichen Walten nach, indem man die Leute in Vermutungen und Unruhe erhält.“ Vgl. Stanitzek: Blödigkeit, S. 51. Vgl. Gundling, Nic[olaus] Hier[onymus]: Ausführlicher und mit Illustren Exempeln aus der Historie und Staaten Notiz erläuterter Discovrs über [...] Die Politic. Frankfurt/M., Leipzig 1733, S. 7: Gott habe „seine Absichten, die wir nicht allezeit penetriren können; aber er will doch auch nicht haben, ut homines dormiant; sondern sie sollen ihre Vernunft gebrauchen.“ Lessing: Hamburgische Dramaturgie, 79. Stück (Werke Bd. 4, S. 598).
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derum bestätigt diese Einsicht, indem es sie als erste Voraussetzung der familiären Wiedervereinigung ausweist. Das aber stellt die Künste des Politicus wieder in jenen Rahmen von Ganzheitssicherheiten, aus dem sie historisch herausführten. Nathans Gottvertrauen und der gute Ausgang korrespondieren in eben jener Zuordnung von Mikround Makrokosmos, deren Auseinanderbrechen nach systemtheoretischer Deutung die Voraussetzung für das Auftreten des Politicus darstellte.74 „Man wende die menschlichen Mittel an, als ob es keine göttlichen, und die göttlichen, als ob es keine menschlichen gäbe“: so hatte Gracián den Politicus aufgefordert, in der Praxis radikal zwischen strategisch-taktischer und religiöser Perspektive zu trennen.75 Dieser Dualismus ist in Nathan der Weise aufgehoben. Lessings Drama gibt dem wettbewerblichen Streben sowohl auf der Handlungsebene als auch auf der Kommentarebene der Ringparabel breiten Raum (in Nathans Erzählung lautet der Rat des Richters: „Es strebe von euch jeder um die Wette, / Die Kraft des Steins in seinem Ring’ an Tag / Zu legen!“, III,7, 527–529). Zugleich aber macht das Drama deutlich, welche Rahmenannahme den guten Ausgang ermöglicht: nämlich das Providenzvertrauen jener „innigsten Ergebenheit in Gott“, die der Richter in der Ringparabel weiterhin empfiehlt (III,7, 531) und die Nathan aus seiner Verzweiflung angesichts der Ermordung seiner Familie rettete, so dass er seinerseits Recha retten konnte (vgl. IV,7, 674–688).76 Die Aufmerksamkeit des Politicus ist dagegen auf die jeweilige Situation, das Hier und Jetzt konzentriert. Von Hiob, der biblischen Figur, deren Schicksal sich in Nathans Verlust von sieben Söhnen wiederholt, übernimmt der Politicus lediglich die ernüchterte Einsicht „Militia est vita hominis super terram“ (in der Luther-Übersetzung: „Muß nicht der Mensch immer im Streit
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Die politische Klugheit ist, wie Leander Scholz formuliert, dort vonnöten, „wo der theologisch-scholastische Mikro- und Makrokosmos auseinandergebrochen“ ist (Das Archiv der Klugheit. Strategien des Wissens um 1700. Tübingen 2002, S. 48). Gracián: Handorakel, S. 124 (Maxime 251). Vgl. Yáñez, Miguel Grande: Introducción: Gracián y la modernidad filosófica. In: ders. / Ricardo Pinilla (Hg.): Gracián: Barroco y modernidad. Madrid 2004 (Publicaciones de la Universidad pontificia comillas Madrid), S. 15–29, hier S. 20: „El cristianismo no es suficiente contra la malicia del mundo; por ello forjará Gracián las tácticas prudenciales.” Ausführlich hat Ingrid Strohschneider-Kohrs dies dargelegt: Vernunft als Weisheit. Studien zum späten Lessing. Tübingen 1991, S. 70–90. Welchem Vorsehungsglauben – einem theistischen, einem spinozistischen oder einem deistischrationalistischen – dieser Providenzgedanke am nächsten steht, kann hier übergangen werden; als Überblick vgl. Birus, Hendrik: Das Rätsel der Namen in Lessings ‚Nathan der Weise‘. In: Lessings ‚Nathan der Weise‘, S. 290–327, hier S. 317–324. Die Formel „Ergebenheit / In Gott“ kehrt bei Recha als von Nathan angenommene Lehre wieder (III,1, 74f.).
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sein auf Erden?“, Hiob 7,1).77 An Nathan lässt sich ablesen, dass gerade durch solche Nüchternheit Verzweiflung droht, nämlich wenn eine Situation so katastrophal ist, dass es nach menschlichem Ermessen keinen Ausweg mehr gibt (vgl. IV,7, 667–673). Aus dieser Falle des Prudentismus erlöst sich Nathan – wie Hiob – durch sein Gottvertrauen. In einem solchen Rahmen kann die Undurchschaubarkeit der Welt optimistisch aufgefasst werden: nämlich als gewissermaßen ihrerseits ‚politische‘ Verborgenheit einer fürsorglichen Vorsehung. Nur unter dieser rückversichernden Prämisse führt Lessings Drama funktionale Differenzierung vor. Auch die Harmonie, die Nathan zwischen seinen widerstreitenden Rollen, zwischen Geschäftstüchtigkeit und Großzügigkeit sowie zwischen Taktik und Tugend herzustellen weiß, setzt voraus, dass er jegliches Streben in einen Wettbewerb vor Gott eingebunden sieht.78 Nathan der Weise ist ein Politicus, an dem sich Klugheit und Glaube als vereinbar, ja der Glaube als notwendiger Rahmen der Klugheit erweist. Nicht nur, weil selbst Nathans überragendes politisches Geschick nicht hinreicht, den guten Ausgang herbeizuführen (der Klosterbruder, der das Brevier von Rechas Vater aufbewahrt hat, in dem ihr christlicher Name steht, kommt im Auftrag des vom Tempelherrn aufgehetzten Patriarchen zu Nathan, so dass ausgerechnet die verblendetste Aktion des Stücks zur Lösung beiträgt, vgl. IV,7). Vielmehr hat ihn nur die „Zuversicht“ (III,7, 401) in die göttliche „Vorsicht“79 dort im Leben gehalten, wo die menschliche Vorsicht (= Klugkeit, vgl. III,4, 243) keine Mittel mehr hatte.80
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Auf den Anklang dieses Verses in Graciáns Formel „militia contra malicia“ verweist Friedrich, Hugo: Gracián, El Criticón. In: ders.: Romanische Literaturen. Aufsätze. [Hrsg. von Brigitte Schneider-Pachaly.] Bd. 2: Italien und Spanien. Frankfurt/M. 1972, Bd. 2, S. 162–170, hier S. 170. Vgl. den Richterspruch der Ringparabel: „Es strebe von euch jeder um die Wette, / Die Kraft des Steins in seinem Ring’ an Tag / Zu legen! komme dieser Kraft mit Sanftmut, / Mit innigster Verträglichkeit, mit Wohltun, / Mit innigster Ergebenheit in Gott, / Zu Hülf’! Und wenn sich dann der Steine Kräfte / Bei euern KindesKindeskindern äußern: / So lad’ ich über tausend tausend Jahre, / Sie wiederum vor diesen Stuhl. Da wird / ein weisrer Mann auf diesem Stuhle sitzen, / Als ich; und sprechen.“ (III, 7, 527–537). So die ältere, im 18. Jahrhundert noch übliche Wortform von ‚Vorsehung‘, im Nathan z. B. III,10, 770, IV,7, 699. Schilson, Arno: Geschichte im Horizont der Vorsehung. G. E. Lessings Beitrag zu einer Theologie der Geschichte. Mainz 1974, S. 194–199 nennt Nathan den Weisen daher zu Recht „das Spiel von der Vorsehung“, betont zugleich aber die nötige Mitwirkung des Menschen: „Willige Einlassung in den Gang der Vorsehung, tatkräftige Ergebung in ihren Willen und letztes Vertrauen auf eine von Vorsehung und Mensch gemeinsam herbeigeführte gute oder beste Lösung aller Schwierigkeiten machen den Kern der in Nathan selbst vorgestellten Religion aus.“ (S. 199)
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V. Die herausragende Karriere des Politicusideals in der ‚späten Frühen Neuzeit‘ wird in der jüngeren Forschung nicht allein damit erklärt, dass es den Selbststilisierungsbedarf einer bestimmten Sozialgruppe befriedigte. Die dem Politicus empfohlenen Kompetenzen werden vielmehr als Strategien gedeutet, mit denen man auf eine neuartige fundamentale „Unsicherheit von Welt“ reagiert habe: In der Politicus-Figur werde das an der Schwelle von der Frühneuzeit zur Moderne stehende Subjekt seiner radikal unsicheren Stellung in einer abgründigen Welt inne – wobei ‚Welt‘ nicht nur als unübersichtliche Gesellschaft, sondern als Inbegriff des Wissbaren zu verstehen sei.81 Dieser Befund ergibt sich, wenn das Prinzip der politischen Interaktion auf seine Konsequenzen befragt wird: Der Politicus muß nicht nur ein guter Beobachter der anderen sein, sondern auch deren Blick auf sich antizipieren; er muß sich also, obschon er unvermeidlich Akteur ist, zur Position eines Beobachters zweiter Ordnung erheben (daher rührt die primäre Faszination, die er auf Luhmannianer ausübt). Aus der wechselseitigen Beobachtung folgt wiederum ein allseitiges Bemühen um Verbergen – und auch dessen Beobachtung: Der gute Politicus ist nicht nur seinerseits geschickt im Dissimulieren, d. h. im Verbergen seiner Absichten, sondern weiß auch, dass seine Konkurrenten sich ebenso darum bemühen. Und nicht nur Absichten werden beiderseitig verborgen, sondern auch die Erkenntnisse, die jeder über die Absichten des anderen gewonnen zu haben glaubt. Nun kann nur derjenige seine Handlungschancen hinreichend abschätzen, der aufdeckt, was die anderen sich zu verbergen bemühen. Wie aber lässt sich jemand durchschauen, der planvoll Dissimulation betreibt? Und der dabei einkalkuliert, dass er beobachtet wird und durchschaut werden soll? Diese Wechselseitigkeit politischer Taktik entzieht selbst der subtilsten Menschenkenntnis den sicheren Boden: Denn wenn der andere weiß, dass man ihn durchschauen möchte, wird er nicht nur seine Absichten zu verbergen suchen, sondern auch diese Verbergung. Gracián empfiehlt dies explizit: „Man gelte nicht für einen Mann von Verstellung, obgleich sich’s heute ohne solche nicht leben läßt. [...] Die größte Kunst bestehe darin, daß man bedecke, was für Betrug gehalten wird.“82 Das aber setzt eine unendliche Verlängerung von Uneigentlichkeit in Gang, in dem sich das Eigentliche, das zu berücksichtigende Interesse des anderen, stets der Erkenntnis entzieht. Die strategisch orientierte Verhaltenslehre des Politicus initiiert eine umfassende Selbst- und Fremdbeobachtung, die sich als „bodenlos“ erweist83 und in Skepsis umschlägt. „Unlesbarkeit der Welt“: Mit dieser Negation Hans
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Vgl. Scholz: Das Archiv der Klugheit, S. 1f. und passim. Vgl. Gracián: Handorakel, S. 109 (Maxime 219). So schon Krauss, Werner: Gracians Lebenslehre. Frankfurt/M. 1947, S. 20.
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Blumenbergs mittels Paul de Mans bezeichnet Ursula Geitner den Punkt, zu dem die Kalkulationen des Politicus letztlich führen.84 An diesem Punkt stehen auch die drei Söhne in dem von Nathan erzählten „Märchen“ (III,6, 374). Sie glauben von ihrem Vater einen Ring bekommen zu haben, der „vor Gott / Und Menschen angenehm“ macht (III,7, 399f.), müssen jedoch einsehen, dass sie sich darauf keineswegs verlassen können. Der Richter nennt sie deshalb „Betrogene Betrieger“ (III,7, 508), was ebenfalls perfekt auf Politici unter anderen Politici passt.85 Und wie die politischen Klugheitslehren verweist er sie auf die Praxis – allerdings mit ganz anderen ethischen Maßgaben und unter Voraussetzung eines wieder in den Rang eines Letztbezugs erhobenen Gottvertrauens: „Es eifre jeder seiner unbestochnen / Von Vorurteilen freien Liebe nach! / […] Mit innigster Ergebenheit in Gott“ (III,7, 525f., 531). Der im Prudentismus praktisch verlorene Fixpunkt ist damit restituiert, so dass die Welt wieder lesbar wird, wie es Nathan als perfekter Politicus und Parabelerzähler vorführt. Politische Vorsicht und Geschicklichkeit sind nach wie vor geboten, weil die gute Ordnung des Ganzen meist umstritten ist; sie werden aber nicht mehr als eine Art Hangeln über dem Bodenlosen aufgefasst. Sie haben nur mehr instrumentelle, nicht aber weltbildbestimmende Funktion, wenngleich dieses Instrument praktisch unentbehrlich ist (denn erst Nathans Klugheit verschafft ihm den Spielraum, weise zu handeln, während die guten Absichten Saladins oder des Derwischs mangels Klugheit nicht praktisch werden). Auch was der einzelne ist, verliert sich nicht in unendlicher Uneigentlichkeit. Wohl ist mit der Differenz von Sein und Schein zu rechnen („was man ist, und was / Man sein muß in der Welt, das paßt ja wohl / Nicht immer“, bemerkt der Klosterbruder V,4, 161–163). Prinzipiell aber lässt sich beides unterscheiden, nicht zuletzt durch politischen Scharfblick. Die mehrfache Identitätsenthüllung, die den Plot des Stücks bildet, ‚beweist‘ dem Zuschauer, dass eine Überwindung der Täuschungen ebenso möglich ist wie die Herstellung von Harmonie. Ich fasse zusammen: Das Verhaltensideal des Politicus kennzeichnet die gesamte Frühe Neuzeit, d. h. über seine üblicherweise nach dem ersten Drittel des 18. Jahrhunderts angesetzte Verabschiedung hinaus, wie sich an nahezu allen Figuren in Lessings Nathan dem Weisen zeigen lässt. Aufgenommen habe ich die neuerdings vorgetragene Deutung, die im Politicus den Agenten der funktional ausdifferenzierten Moderne erkennt. Plausibel erscheint dies vor allem dort, wo über hohe Situationsflexibilität beispielsweise einer Dramenfigur hinaus zu beobachten ist, dass diese Flexibilität auf eine sozialsystemische Differenzierung reagiert. Bei Lessings Nathan ist dies der Fall. Be-
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Geitner: Die Kunst der Verstellung, S. 116. Politisch ist stets entscheidend, wer Betrüger ist und wer Betrogener, vgl. die in Abschnitt II. bereits zitierten Überlegungen Sittahs über Al-Hafi (II,3, 309–311).
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denken sind jedoch gegen die systemtheoretische Blickverengung auf das situationsbezogene Taktieren des Politicus anzumelden. Die Dramenanalyse erbrachte, dass die politische ‚Ausdifferenzierungskompetenz‘ nur die eine Seite der Medaille darstellt. Deren andere Seite ist von einer situationsübergreifenden, wieder auf den christlichen Providenzglauben zurückgreifenden Weltsicht geprägt. Damit einher geht die erneute Orientierung an moralischen Normen. Insbesondere Nathan stellt sein politisches Geschick in den Dienst einer Hinlenkung seiner Gegenüber auf das Gute. In Lessings Schauspiel zieht die politisch festgestellte „Unlesbarkeit der Welt“ keinen Verzicht auf sinnversichernde Weltdeutungen sowie Moralitätskriterien nach sich, sondern provoziert erhebliches Vertrauen in einen gerechten Verlauf des Ganzen und Nathans Willen, nach Kräften dazu beizutragen. Vorsehungsvertrauen bedingt hier sogar das mit politischem Geschick herbeigeführte Happyend. In welchem Maße Ganzheitsannahmen generell den Eintritt in die Moderne flankieren, ob sie den Mut geben mussten, sich auf die Unsicherheit der Moderne einzulassen, könnte man weiterfragen. Dass die Situation um 1700 offener war als in der späteren Aufklärung und aufgetretene Unsicherheiten durch wieder harmonistischere Setzungen beantwortet wurden, ist für den Verlauf des 18. Jahrhunderts ja nicht untypisch. Um noch einmal die Sprache der Geheimdienste zu bemühen: Als systemtheoretisch aufgefasster Agent der Moderne arbeitet der Politicus auf eigene Rechnung. In seinen dramatischen Strukturen zeigt Nathan der Weise dagegen auch, mit welchen leitenden Instanzen man rechnete. Ich möchte dafür plädieren, beides im Zusammenhang zu sehen.
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Anthropologie und Ästhetik Karl Philipp Moritz’ Kritik der anthropologischen Aufklärungsästhetik
Der Gegensatz zwischen der autonomieästhetischen und der psychologischanthropologischen Begründung des Schönen gilt gemeinhin als die theoriegeschichtliche Demarkationslinie, die die popularphilosophisch dominierte Tradition der Aufklärungsästhetik von der Kunst- und Ästhetiktheorie der Klassik trennt. Moritz habe, so die in diesen Bestimmungskontext gehörende forschungshistorische Übereinkunft, durch seine intensiven Auseinandersetzungen namentlich mit Goethes (nicht geringfügig von Kant beeinflusstem) Kunst- und Ästhetikverständnis eine Theorieentwicklung maßgeblich angestoßen, durch die der anthropologische Ansatz der Ästhetik Baumgartens und seiner Nachfolger verabschiedet und auf die klassische Bahn einer teleologischen Begründung des Kunstschönen gelenkt wurde.1 Beide auch in der neueren Ästhetikforschung geläufigen Einschätzungen der Moritzschen Kunstphilosophie und Ästhetik greift das Folgende auf mit dem Versuch, an zwei bedeutenden programmatischen Frühschriften Moritz’ zur Ästhetik – dem Versuch einer Vereinigung aller schönen Künste und Wissenschaften unter dem Begriff des in sich selbst Vollendeten (1785)2 und der Abhandlung Über die bildende Nachahmung des Schönen (1788)3 – genauer zu prüfen, wie Moritz in seiner Kritik am zeitgenössischen Ästhetikbegriff das ästhetische Grundverhältnis zwischen dem Sinnlichen (Aistheton) und dem Kunstschönen, der ästhetischen Wahrnehmung und der kunstästhetischen Ge-
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Stellvertretend für den betreffenden forschungsgeschichtlichen Konsens vgl. die letzten größeren monographischen Darstellung zur Moritzschen Ästhetik von Costazza, Alessandro: Schönheit und Nützlichkeit. Karl Philipp Moritz und die Ästhetik des 18. Jahrhunderts. Bern / Berlin u.a. 1996, sowie Ders.: Genie und tragische Kunst. Karl Philipp Moritz und die Ästhetik des 18. Jahrhunderts. Bern / Berlin u.a. 1999; vgl. hierzu die Rezension von Knoche, Susanne: K.P. Moritz und die Ästhetik des 18. Jahrhunderts. Eine neue Doppelstudie. In: Akademien im 18. Jahrhundert. Göttingen 2001, S. 158–160. In: Moritz, Karl Philipp: Popularphilosophie, Reisen, Ästhetische Theorie. Hg. von Heide Hollmer und Albert Meier. Frankfurt/M. 1997, S. 943–949 (Zitate aus diesem Text mit Seitenangabe in Klammern unmittelbar nach der Belegstelle; Sigle: V). In: Moritz: Popularphilosophie, S. 958–991 (Zitate aus diesem Text mit Seitenangabe in Klammern unmittelbar nach der Belegstelle; Sigle: BN).
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genstandsbestimmung problematisiert und – darin modern – als dezidierte „Reflexion im Ästhetischen“4 in neuer Weise zur Vermittlung bringt. Moritz’ die zeitgenössische Diskussion der spätaufklärerischen Ästhetik von neuer Warte aus thematisierenden Schriften5 erscheinen bekanntlich am Höhepunkt und Abschluss einer ästhetischen Theorieentwicklung in Deutschland, die mit Baumgarten begonnen hatte und im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts im Begriff war, in der anthropologisch-psychologischen Ästhetik – der Theorie des Schönen als „Wissenschaft des Gefühls, der Empfindungen“6 – gerade ihren vorläufigen theoriegeschichtlichen Kulminationspunkt gefunden hatte. Die vermögenspsychologische Ausdifferenzierung und Umbildung des vollkommenheitstheoretischen Ansatzes in der deutschen Aufklärungsästhetik über eine gut 30-jährige Entwicklungslinie hinweg – von den engeren Baumgartenschülern (Georg Friedrich Meier, Johann August Eberhard) über die Popularisatoren der Mendelssohnschen und Sulzerschen Ästhetikkonzepte (neben Eberhard v.a. Johann Joachim Eschenburg, Gotthilf S. Steinbart, Philipp Gäng) bis hin zu den programmatischen Vertretern einer anthropologischpsychologischen Ästhetik (Daniel Zschokke, Johann Heinrich Abicht, Ernst Platner)7 – diese Traditionslinie der deutschen Ästhetik gibt für Moritz’ frühe Kunstästhetik den Begründungshintergrund ab, von dem er sich ebenso kritisch distanziert wie er konzeptuell stets auf ihn bezogen bleibt. Dabei er-
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Christoph Menke: Die Reflexion im Ästhetischen. In: Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft, Heft 46/2, Jg. 2001, S. 161–174. Nach Menkes historisch-systematischer Gliederung der historischen Ästhetiktheorie repräsentiert Moritz in der Nachfolge der aisthetisch konzipierten Ästhetik Baumgartens eine moderne Reflexionstheorie des Ästhetischen, in der das Ästhetische als „ein wesentlich reflexives Geschehen, [...] also durch eine besondere Form der Reflexion“ definiert ist (vgl. ebd., S. 161). Der in einem Organ der Berliner Aufklärer, der Berlinischen Monatsschrift, publizierte Versuch liegt zeitlich etwa drei Jahre vor Moritz’ kunstästhetischer Schlüsselerfahrung während seines Italienaufenthalts und der dortigen Begegnung mit Goethe. Es gehört zum Gemeinplatz in der Moritzforschung, dass mit dieser Frühschrift Moritz’ kunstästhetische Selbständigkeit im goethezeitlichen Ästhetik- und Kunstdiskurs belegt ist, insofern hier bereits der autonomieästhetische Grundgedanke entwickelt wird, den Moritz dann 1788, als Ergebnis der ‚römischen Gespräche‘ mit Goethe, zum Konzept einer klassisch-klassizistischen Ästhetikkonzeption – in der von Goethe im dritten Teil seiner Italienischen Reise aufgenommenen Abhandlung Über die bildende Nachahmung des Schönen – ausformulieren wird. Sulzer, Johann Georg: Artikel „Ästhetik“. In: Ders.: Allgemeine Theorie der Schönen Künste in einzeln, nach alphabetischer Ordnung der Kunstwörter auf einander folgenden, Artikeln abgehandelt [11771–74]. Hildesheim u.a. 1994. Bd. 1, S. 47–59, hier S. 49. Zum zeitgenössischen Diskussionsfeld vgl. jetzt: Stöckmann, Ernst: Anthropologische Ästhetik. Philosophie, Psychologie und ästhetische Theorie der Emotionen im Diskurs der Aufklärung. Tübingen 2009, bes. Kap. 1–2.
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scheinen die hierbei beobachtbaren Ambivalenzen bzw. Paradoxien im Moritzschen Entwurf einer neuen klassischen Kunstästhetik, nicht zuletzt auch vor dem Hintergrund der lebensgeschichtlichen Situation und Profession des Autors, als Ausdruck von vitalen Spannungsgegensätzen, die aus den heterogenen Deutungshinsichten des zeitgenössischen ästhetischen und anthropologischen Wissens resultieren.8 Gilt für beide Schriften mithin der forschungsgeschichtliche Konsens, dass Moritz’ Revision der Aufklärungsästhetik hier erstmals mit dem dezidierten Begründungsinteresse einer klassizistischen Kunstlehre konvergiert, so wirft die Moritzsche Kunsttheorie, und zwar auch und gerade dort, wo sie als „rigoristische[r]“ Durchbruch zur Autonomieästhetik der Klassik erscheint,9 für eine entwicklungsgeschichtlich wie theoriesystematisch orientierte Perspektive nach wie vor entscheidende Fragen auf.10 Diese betreffen in zentraler Weise zum einen die Verhältnisbestimmung zwischen der neuen Autonomiekonzeption und der älteren, von Moritz kritisierten ästhetischen Begründungstradition, innerhalb derer Ästhetik als wissenschaftlich-philosophische Theorie des Schönen unter dem Titel einer episteme aisthetike – der Wissenschaft der sinnlichen Erkenntnis, der sinnengeleiteten Erfahrungsvollzüge – firmiert.11 Inwieweit, so ist unter diesem
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Wie sehr Moritz’ Einwand gegen den Psychologismus in der Ästhetik selbst erfahrungspsychologisch fundiert ist und keine abstrakte Negation des popularphilosophischen Begründungszugangs der Ästhetik seit Baumgarten darstellt, demonstrieren zur Genüge die umfangreichen anthropologisch-psychologischen Fallstudien des zur betreffenden Zeit außerordentlichen Professors der Schönen Wissenschaften und Verfassers eines psychologischen Fallstudienjournals (vgl. Gnothi Sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde als ein Lesebuch für Gelehrte und Ungelehrte. Mit Unterstützung mehrerer Wahrheitsfreunde hg. von Carl Philipp Moritz. 10 Bde., Berlin 1783–93). Schrimpf, Hans Joachim: Karl Philipp Moritz. Stuttgart 1980, S. 1. Vgl. den Herausgeber-Kommentar zu Moritz’ klassischen Schriften mit Bezug auf die beiden „großen ästhetisch-anthropologischen Abhandlungen“ (den Versuch und die Nachahmungs-Schrift): Helmut Pfotenhauer / Peter Sprengel (Hg.): Klassik und Klassizismus. Frankfurt/M. 1995, S. 740f. Auf die prägnante Formel von der „Doppelgesichtigkeit“ der Moritzschen (und Schillerschen) Autonomieästhetik hat S. Schneider zuletzt diese in der Kunsttheorie der beiden Autoren anliegende Spannung – zwischen empirisch-anthropologischem Erkenntnis- und philosophischprospektivem Deutungsinteresse – gebracht, vgl. Schneider, Sabine M.: Die schwierige Sprache des Schönen. Moritz’ und Schillers Semiotik der Sinnlichkeit. Würzburg 1998, S. 10. Nach A.G. Baumgarten, der den Prototyp dieser aisthetischen Konzeption der Ästhetik bekanntlich zuerst systematisch ausformulierte, bezeichnet die aisthetische Episteme „die Wissenschaft von allem, was sinnlich ist“; die Grundbestimmungen der ästhetischen Aisthesis müssten explizit auf das rekurrieren, „was die Alten [...] eigentlich in der Seele zur Sinnlichkeit zählten.“ (vgl. Poppe, Bernhard: A. G.
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Blickwinkel und im Kontext der zeitgenössischen Theoriesituation der Ästhetik genauer zu fragen, verlässt Moritz’ mit seiner autonomieästhetisch orientierten und zugleich anthropologisch untersetzten Theorie des Kunstschönen die von Baumgarten und der Popularphilosophie eingeschlagene Bahn der Ästhetik als Theorie der Sinnlichkeit, und inwiefern erweist sich dieser kunstwerkästhetische Ansatz als ein die bisherige Ästhetiktheorie positiv überbietender und vom Begründungsansatz her umfassender Entwurf einer ästhetischen Reflexivität am „eigentliche[n] Beginn der modernen Ästhetik“?12 Einige zentrale Bezugslinien der weitgehend anthropologisch orientierten Ästhetik des späten 18. Jahrhunderts aufgreifend, hat die Analyse der beiden Schriften entsprechend zu zeigen, in welchen denkgeschichtlichen Brechungen Moritz die Transformation, wo nicht den Bruch mit den Prämissen der spätaufklärerischen Ästhetik organisiert, aus dem eine „neue Tradition des Ästhetizismus“13, und genauer, eine neue Tradition der formästhetischen Reflexion des Ästhetischen hervortreten sollte. Zum anderen führt Moritz’ neuer – kunstphilosophischer und ästhetischanthropologischer – Ansatz vor die Frage nach der Art und dem Umfang dessen, was die gemeinhin als „deutliche Trennlinie“14 gefasste Differenz beider Schriften – zwischen den Publikationen liegt der die Moritzsche Kunstphilosophie nachhaltig prägende Italienaufenthalt (1786–88) – kennzeichnet. Zu prüfen bleibt unter dieser Fragestellung, wie Moritz die Übergänge zwischen beiden Abhandlungen im Zentrum eines neuartigen ästhetischen Problembewusstseins kohärenziert: Etabliert die spätere Nachahmungsschrift eine ästhetische Theorie, die die subjektästhetische und die kunstwerkästhetische Seite für einen integrativen Neuansatz in der Ästhetik zusammenzuführen sucht? Oder potenziert sie die bereits mit dem Versuch vorgenommenen entschiedene Abkehr von der zeitgenössisch etablierten Ästhetiktheorie und ihrer Wende zum ästhetischen Subjekt? Dann jedoch, so die Ausgangshypothese, würde sie
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Baumgarten. Seine Bedeutung und Stellung in der Leibniz-Wolffischen Philosophie und seine Beziehungen zu Kant. Nebst Veröffentlichung einer bisher unbekannten Handschrift der Ästhetik Baumgartens. Borna / Leipzig 1907, S. 65f.). Menke: Reflexion im Ästhetischen, S. 167. Menke macht in historischer wie systematischer Hinsicht zwei Stufen ästhetischer Reflexion aus: Die erste Stufe (auf der Linie der Nach-Baumgartenianer Mendelssohn, Sulzer, Kant) führte zur lustästhetischen Selbstreflexion; die zweite Stufe („von Schlegel und Hegel bis Adorno und Luhmann“) führt zur kunstwerkästhetischen Reflexivität, die die Instanz des ästhetischen Subjekts zugunsten des Kunstwerks zurückstellt (vgl. ebd., S. 167). Vgl. Jürgen Fohrmann: „Bildende Nachahmung“ – Über die Bedeutung von ‚Bildung‘ und ‚Ordnung‘ als Prinzipien der Moritzschen Ästhetik. In: K.P. Moritz und das 18. Jahrhundert. Bestandsaufnahmen, Korrekturen, Neuansätze. Internationale Fachtagung vom 23. – 25. September 1993 in Berlin. Hg. v. Martin Fontius und Anneliese Klingenberg. Tübingen 1995, S. 177–186, hier S. 183. Meier, Albert: Karl Philipp Moritz. Stuttgart 2000, S. 173.
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– als autonomieästhetisch orientierte Kunstwerkästhetik und Metaphysik des Schönen – auch den Reflexionsgewinn preisgeben müssen, der in der ästhetischen Theorie seit Baumgarten erzielt worden war: in der Orientierung an der Sinnennatur dieses ästhetischen Subjekts und seines ästhetisch relevanten „Lebensgefühls“.15
1. Form statt Vermögen oder die Lust am Ganzen. Der reflexionsästhetische Ansatz im Versuch einer Vereinigung (1785) Was bedeutet es für die Theorie der ästhetischen Wahrnehmung und Erfahrung, wenn als Inhalt der Kunsterfahrung nicht mehr das Gesetz der ästhetischen Nachahmung der Natur, aber auch nicht mehr das Gesetz des Vergnügens, sondern die Konzeption eines – so die neue autonomieästhetische Kernformel – „in sich selbst Vollendeten“ gesetzt wird? Bereits an Moritz’ ästhetiktheoretischem Ausgangspunkt im Versuch, der Leitunterscheidung zwischen einer zweckinteressierten und zweckentbundenen Wahrnehmungsund Erfassungsperspektive des Subjekts, lässt sich eine für die hier verfolgte Fragestellung auffallende Verschiebung in der für die Aufklärungsästhetik leitenden Prämisse vom Lustcharakter der ästhetisch affinen Erfahrung ablesen. Bei dem „bloß Nützlichen“ mache (ich) mich gleichsam zum Mittelpunkte, worauf ich alle Theile des Gegenstandes beziehe, d.h. ich betrachte denselben bloß als Mittel, wovon ich selbst, in so fern meine Vollkommenheit dadurch befördert wird, der Zweck bin. Der bloß nützliche Gegenstand ist also in sich nichts Ganzes oder Vollendetes, sondern wird es erst, indem er in mir seinen Zweck erreicht, oder in mir vollendet wird. – Bei der Betrachtung des Schönen aber wälze ich den Zweck aus mir in den Gegenstand selbst zurück: ich betrachte ihn, als etwas, nicht in mir, sondern in sich selbst Vollendetes, das also in sich ein Ganzes ausmacht, und mir um sein selbst willen Vergnügen gewährt; indem ich dem schönen Gegenstande nicht sowohl eine Beziehung auf mich, als mir vielmehr eine Beziehung auf ihn gebe. Da mir nun das Schöne mehr um sein selbst willen, das Nützliche aber bloß um meinetwillen, lieb ist; so gewähret mit das Schöne ein höheres und uneigennützigeres Vergnügen, als das bloß Nützliche. (V 943f.)
Nur scheinbar, so ergibt sich aus den Implikationen dieser weitreichenden und definitorisch durchaus rigorosen Bestimmungen, führt Moritz’ kunstästheti-
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In der ästhetischen Gegenstandserfahrung und seiner Beurteilung (Geschmack), so Kant, „wird die Vorstellung gänzlich auf das Subjekt, und zwar auf das Lebensgefühl desselben, unter dem Namen des Gefühls der Lust oder Unlust, bezogen […]“, vgl. Kant, Immanuel: Kritik der Urteilskraft. In: Ders.: Die Kritiken. Herausgegeben von Wilhelm Weischedel. Bd. 10, Frankfurt/M. 1997, § 1, S. 115.
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sche Basisdifferenz zwischen Schönem und Nützlichem unmittelbar zur Konzeption einer autonomen und immanenten Totalität des schönen Kunstwerks, das sich von der Reflexion auf die Instanz des ästhetischen Subjekts, seiner spezifischen Wahrnehmungsweise und seinem (psychologisch-anthropologischen) Vermögensbereich entschieden distanziert. Denn zwar geht es mit diesem ersten Begründungsschritt um den Aufweis einer kategorialen Differenz im Ästhetischen; die Qualifizierung dieser Differenz indes erfolgt – gut aufklärerisch und popularphilosophisch – erstens im Rekurs auf die Tätigkeiten und Auffassungsweisen, mit denen das Subjekt die Erfassung der „Gegenstände“ vollzieht, und zweitens unter modifizierendem Anschluss an die über Descartes, Wolff und die Popularphilosophie überkommenen ästhetischen Grundkategorien der Vollkommenheit und der Lust („Vergnügen am Schönen“), die – in ebenso gut spätaufklärerischer Tradition – als Subsumtionskategorien des Prinzips der Nachahmung fungieren.16 Dass es hierbei vor allem die Baumgartenschen Bestimmungen des ästhetischen Vollkommenheitsbegriffs sind, auf die Moritz rekurriert, um sowohl die Seite der ästhetisch relevanten Sinnlichkeit und ihrer Vermögen („perfectio cognitionis sensitivae, qua talis“17) als auch die Seite des ästhetischen Gegenstandsbezugs („perfectio phaenomenon“18) in seinem Ansatz zu integrieren, ist zwar früh gesehen worden.19 Für die Frage, wie „objektivistisch“20 Moritz’ Ansatz zu einer veränderten ästhetischen Selbstreflexivität ist – unter Anschluss an die vollkommenheitstheoretische Fassung der cognitio sensitiva bei Baumgarten –, erscheint freilich im besonderen ausschlaggebend, wie Moritz im einzelnen zwischen den ästhetisch relevanten Wahrnehmungsvollzügen und der kunstästhetischen Gegenstandsbestimmung die Vermittlung herstellt. Tatsächlich lässt sich in Moritz’ entschiedener Abweisung einer das ästhetische Subjekt unmittelbar betreffenden Vollkommenheit bzw. der auf ästheti-
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Zum theoriegeschichtlichen Kontext (am Fallbeispiel der Sulzerschen Lusttheorie) vgl. Stöckmann, Ernst: Von der sinnlichen Erkenntnis zur Psychologie der Emotionen. Anthropologische und ästhetische Progression der Aisthesis in der vorkantischen Ästhetiktheorie. In: Manfred Beetz / Jörn Garber / Heinz Thoma (Hg.): Physis und Norm. Neue Perspektiven der Anthropologie im 18. Jahrhundert. Göttingen 2007, S. 69–106. Vgl. Baumgarten, Alexander Gottlieb: Theoretische Ästhetik. Die grundlegenden Abschnitte aus der „Aesthetica“ (1750/58). Übersetzt und herausgegeben von Hans Rudolf Schweizer [11983]. Hamburg ²1988, § 14, S. 10f. Vgl. Baumgarten, Alexander Gottlieb: Metaphysica. [11739]. Halle / Magdeburg 4 1757, § 662, S. 248: „Perfectio phaenomenon, s. gustui latius dicto obseruabilis, est pulcritudo […]“). Vgl. Baeumler, Alfred: Das Irrationalitätsproblem in der Ästhetik und Logik des 18. Jahrhunderts bis zur Kritik der Urteilskraft. [1.Auflage u.d.T.: Kants Kritik der Urteilskraft. Ihre Geschiche und Systematik, Halle 1923] Darmstadt 1981. Vgl. Schrimpf: Moritz, S. 99.
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schem Wege zu vollbringenden Steigerung der eigenen Vollkommenheit (V 943) zunächst eine Absage an den vordergründigen Subjektivismus der popularphilosophischen Lusttheorie erkennen.21
2. Die Gegenfolie: Anthropologisch-ästhetische Lusttheorie Ein anthropologisches und subjektzentriertes Wahrnehmungsdatum: das „Gefühl der Vollkommenheit“22, hatte Johann August Eberhard in seiner Theorie der schönen Wissenschaften als wirkungspsychologisches Konstutitionsprinzip für die Lusterfahrung des Schönen namhaft gemacht. Dass damit, wie Moritz monieren sollte, ein im elementaren Sinn eigennütziges Vergnügen gemeint war, zeigte nicht zuletzt die in diesem Zusammenhang gegebene Definition der Schönheit, die Eberhard, in gut Baumgartenscher Weise, nämlich aisthetisch, untersetzt: Schön ist „eigentlich alles“, „was den deutlichern Sinnen [d.i. Gesicht und Gehör] Vergnügen oder angenehme Empfindungen verursacht.“ Das Entscheidende dieses aisthetischen Ästhetikbegriffs, der mit der Kategorie des Vergnügens die primäre Sinneserfahrung als initiales Fundament der ästhetischen Erfahrung ausweist, ist nun freilich nicht darin zu sehen, dass Eberhard damit – und hierin eben gerade nicht anders als Moritz – eine starke Relativierung, ja Desavouierung des Batteuxschen Theorems der Nachahmung der Natur als ästhetiktheroetischem Grundprinzip leistet: Nachahmung ist dem Vergnügen nach- und untergeordnet. Das Entscheidende für das Verständnis der Differenz zwischen anthropologischer und kunstautonomer Ästhetikreflexion ist vielmehr, dass Eberhard mit seiner aisthetischen und lusttheoretischen Konzeption der Kunsterfahrung die objektive Seite des Kunstwerkbegriffs und die subjektive Seite des ästhetischen Erfahrungsbegriffs synkretistisch in einem subjektzentrierten Begriff der ästhetischen Vollzugsleistung: dem „Anschauen“, verklammert.
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Für J.A. Eberhards zeitgenössisch prominente Kunsttheorie etwa, die Sulzers emotionalistische Theorie des ästhetischen Vergnügens direkt adaptiert, leitet sich der „Endzweck“ aller Kunst einzig aus dem „Vergnügen“ ab, das „aus dem Gefühl der Vollkommenheit entsteht“. „Die Vollkommenheit eines Werkes [!] kann uns nicht anders Vergnügen verursachen, als durch das Anschauen unserer Vollkommenheit. Denn wir sind uns unmittelbar nur der Veränderungen unserer Seele oder unserer Vorstellungen bewußt. Wenn nun in diesen unsere eigene Vollkommenheit besteht; so wird uns ein schönes Werk um deswillen Vergnügen machen, weil es uns also das Gefühl unserer Vollkommenheit giebt.“ Eberhard, Johann August: Theorie der schönen Wissenschaften. Zum Gebrauche seiner Vorlesungen. Herausgegeben von J. A. E. [Halle 1783]. Zweyte verbesserte Auflage. Halle 1786, §8. S. 7f., S. 13 (Hervorh. E.S.). TSW §8, 8.
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Der Reihe nach: Wie Moritz stützt sich auch Eberhard in seiner Theorie auf jenen ästhetischen Vollkommenheitsbegriff, wonach die Schönheit des Kunstwerks als „Zusammenstimmung der Teile zu Einem Ganzen“, und die „ästhetische Vollkommenheit [...] in engerer Bedeutung [als] Zusammenstimmung des Mannichfaltigen zu einem Zwecke“ gefasst wird.23 Mit dieser Konstruktion scheint in der Ästhetik des Popularphilosophen in der Tat ein von subjektiven Zuschreibungen unabhängiger Werkbegriff auf, und wirklich heißt es im Paragraphen zum „Ersten Grundgesetz der schönen Künste und Wissenschaften“: Die Werke der schönen Kunst müssen für sich „ästhetischvollkommen“ sein. Doch ist genauer betrachtet der Gradmesser jener ästhetisch relevanten Vollkommenheit, die für Eberhard (und hier ließe sich mit Herder ergänzen: die ganze „Schar der Vollkommenheitsmänner“ nach Baumgarten und vor Kant) identisch ist mit Schönheit, nicht eine innere Zweckmäßigkeit des ästhetischen Ganzen selbst, sondern eben jenes anthropologische Datum der subjektiven Sinnlichkeit, welches durch das Kunstwerk affiziert wird und auf sich selbst verweist. Gut wirkungspsychologisch und mit unüberhörbar selbstreflexiven Wendungen formuliert Eberhard daher: „Die Vollkommenheit eines Werks kann uns nicht anders Vergnügen verursachen, als durch das Anschauen unsrer Vollkommenheit. [...] Ein schönes Werk [wird uns] um deswillen Vergnügen machen, weil es uns viele Vorstellungen gewährt, weil es uns also das Gefühl unserer Vollkommenheit giebt.“24
Diese für die anthropologischen Ästhetiker der späten Aufklärung paradigmatische ästhetische Subjektbezüglichkeit ruht nun, und auch hier liegt eine entscheidende Veränderung gegenüber Moritz, auf anthropologischen Prämissen, die sowohl auf die Bewusstseinsphilosophie der Wolff-Baumgartenschen Schule sowie Leibniz’ als auch auf die Ästhetik Abbé Dubos’ verweisen. Die „letzte Quelle des Vergnügens“ ist für Eberhard demgemäß die Subjektbezüglichkeit der Vollkommenheitserfahrung erstens deshalb, weil er wie die Mehrzahl seiner Zeitgenossen mit den genannten philosophischen Rationalisten die Seele als Tätigkeit des Bewusstseins fasst, als ein aktives Prinzip, das noch die Sinneswahrnehmungen als Vorstellungsakte des Geistes begreift, und die Betätigung ihrer Kräfte und Vermögen entsprechend als Bestätigung ihrer Handlungsmächtigkeit. Und auf subjektbezügliche Vollkommenheit verweist die ästhetische Lusterfahrung zweitens auch deshalb, weil Eberhard (ebenfalls wie die Mehrzahl seiner Zeitgenossen) mit der genannten Gründerfigur des Emotionalismus (Dubos) in dem Tätigkeitsprinzip der Vorstellungen produzierenden Seele zugleich ein anthropologisches Bedürfnis dingfest macht: die Lust am Beschäftigtsein als Ausdruck eines anthropologisch gegebenen Stre-
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TsW § 10, 11. TsW §13, 13.
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bens, das der ununterbrochenen Betätigung bedarf, soll nicht das Gefühl der Langeweile an die Stelle des lustvollen Gefühls der eigenen Vollkommenheit treten. Eberhards Kunstwerkbegriff, so lässt sich zusammenfassen, ist nur scheinbar oder formell ‚in sich‘ Vollendetes: letztlich vollenden es die Wahrnehmungs- und Erfassungsvollzüge jenes ästhetischen Subjekts, das im Wahrnehmen und Erfassen des Kunstschönen den Interessen seiner Selbstartikulation Rechnung zu tragen versucht. Der Vollkommenheitsgehalt des Kunstwerks ist in dieser psychologischen Konzeption der Kunsterfahrung entsprechend nur über zwei Extreme eruierbar: Über die subjektiven Lusterfahrungen des Subjekts einerseits, und über die bloß zugeschriebenen (vorausgesetzten) objektiven „Regeln der Vollkommenheit“, den tradierten metaphysischen Schönheitsbegriff also andererseits.25 Vor dem Hintergrund dieser Befunde wird deutlich, dass nach Moritz der Bereich des Ästhetischen nicht mehr als der Ort begriffen wird, an dem das Subjekt Aufschluss über die Potentiale seiner sinnlichen Natur, über die „tiefsten Geheimnisse unserer Seele“ erhält.26 Denn im Rahmen des zitierten ersten Moritzschen Begründungsschrittes ist der Lustcharakter der Wahrnehmung als einer ästhetischen tatsächlich zunächst nicht mehr als ein solcher definiert, der sich wesentlich bzw. ausschließlich durch seine sinnlich-aisthetischen Wahrnehmungs- und Erfassungsleistungen selbst legitimiert, durch eine Form der ästhetischen Gegenstandserfahrung also, die durch die Qualität einer die äußere oder innere Sinnlichkeit ansprechenden Selbstbezüglichkeit bestimmt wird.27 Indem die Erfahrung des Schönen als ein Anerkennungs- und Würdigungsverhältnis [dem Schönen des Kunstwerks sollen wir „huldigen“] gefasst wird, wird der ästhetische Genussbegriff de facto dem kunstästhetischen Wertbegriff unterstellt, kommt der genuin ästhetische Genuss für Moritz nicht
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Vgl. §14, S. 15. Der Begriff der inneren Zweckmäßigkeit taucht gar nicht auf (wird von Eberhard nicht problematisiert). „In den Regeln der Schönheit [...] liegen die tiefsten Geheimnisse unserer Seele verborgen. Jede Regel der Schönheit ist zugleich eine Entdeckung in der Seelenlehre.“ Moses Mendelssohn: Ueber die Hauptgrundsätze der schönen Künste und Wissenschaften, in: Ders.: Ästhetische Schriften in Auswahl. Hg. von Otto F. Best. Darmstadt 1994, S. 173–198, hier S. 173. Sulzer baut das für die deutschsprachige Popularphilosophie bis Eberhard gültige Modell der französischen Psychologie und Psychophysiologie des Vergnügens (J. B. de Dubos und L. J. L. de Pouilly) für die Ästhetik aus, wonach jede Form der leichtfallenden Beschäftigung des Geistes eine diese Wahrnehmungen und Erfassungsleistungen mit Lust begleitende und im Kern selbstbezügliche Form des Wahrnehmens und Erfassens darstellt (vgl. besonders dessen Aufsatz: Untersuchung über den Ursprung der angenehmen und unangenehmen Empfindungen. In: Ders.: Vermischte Philosophische Schriften. Aus den Jahrbüchern der Akademie der Wissenschaften zu Berlin gesammelt. Leipzig 1773, S. 1–98.
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mehr als Genuss in der unmittelbaren Folge sinnlich vermittelter Wahrnehmungserfahrung (durch das Angenehme, das Rührende etc.) in Betracht; und das bedeutet zugleich, dass als Kern der ästhetischen Erfahrung nicht mehr der aisthetische Erfahrungsgehalt der sinnlich-ästhetischen Wahrnehmungserfahrung begriffen wird, der nach der Auffassung der anthropologischen Ästhetiker das Subjekt auf ästhetischem Wege seiner Perfektibilität versichert. Szondis Diagnose, Moritz überschreite mit seinem Satz, dass in der Kunsterfahrung „unser Vergnügen etwas Untergeordnetes ist“28, „die Grenze der Wirkungsästhetik“ und „inauguriere eine Realästhetik“, lässt sich – im Licht der Frage nach dem Erfahrungsgehalt des Kunstästhetischen – auf die These zuspitzen: die Moritzsche Philosophie des Kunstschönen thematisiert die Umgehung des aisthetischen Subjekts. Für Moritz erfüllt die Lust im sensuellen wie transsensuellen Sinn29 vielmehr nur genau dann die Bedingung, eine Form der ästhetischen Wahrnehmung und Erfahrung zu sein, wenn die Erfassungsakte als konkrete Erfassungsleistungen am ästhetischen Gegenstand selbst vollzogen werden, und das lustvolle Anschauen und Betrachten ein dem nur selbstbezüglichen Lustgefühl vorgeordnetes Erfassen der ästhetischen Zweckmäßigkeit „in den einzelnen Theilen desselben“ (V 946) ist. Dementsprechend lässt sich vom ästhetischen Gegenstand auch nicht mehr nur sagen – und eben so wollte es die Tradition der psychologischen und wirkungsästhetisch orientierten Theorie des Schönen in der Nachfolge Sulzers und Mendelssohns – dass dieser der Anlass dafür ist, dass das ästhetische Subjekt im Spiel der eigenen Wahrnehmungsvollzüge sich lustvoll selbst erfährt.30 Oder, noch einmal mit Welsch formuliert: Dass der „Eigensinn des Sinnlichen“ in hinreichender Weise durch die Selbstbezüglichkeit der sinnlichen Wahrnehmungs- und Erfassungsakte eingelöst wird.31 Denn wenn das ästhetische Vergnügen am Schönen aus der freien Affirmation einer ästhetisch vermittelten Teilhabe an etwas resultiert, das durch die Erfas-
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Schrimpf: Moritz, S. 11. Vgl. hierzu mit Bezug auf die Aristotelische Theorie der Aisthesis grundlegend Wolfgang Welsch: Aisthesis. Grundzüge und Perspektiven der Aristotelischen Sinneslehre. Stuttgart 1987, S. 32ff. Freilich ist auch in der Ästhetik der Popularphilosophie die Geltung des metaphysischen Schönheitsbegriffs – in der Funktion eines ‚objektivistischen‘ Korrelats der subjektivistischen Begründung des Ästhetischen – nicht abhanden gekommen, wie sich etwa am frühen Sulzer zeigt (vgl. Sulzer: Untersuchung über den Ursprung, S. 25ff.). Gleichwohl ergibt sich hieraus nicht ein offener Widerspruch oder eine Dichotomie im vorklassischen Ästhetikbegriff als solchem, weil hier der Schönheitsbegriff im Kern ein aus der subjektiven Lusterfahrung abgeleiteter bleibt, wonach das Schöne „eigentlich alles“ umfasst, „was den deutlichern Sinnen [d.i. Gesicht und Gehör, E.S.] Vergnügen oder angenehme Empfindungen verursacht.“ (vgl. Eberhard: Theorie, §8, S. 8). Vgl. Welsch: Aisthesis, S. 23.
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sungsleistungen des Subjekts konstituiert wird, zugleich jedoch nicht subjektiven Zweckinteressen unterworfen und durch diese bestimmt ist, so ist nicht mehr die Lust des Subjekts selbstbezüglich und selbstzweckhaft, sondern gerade das durch Zweckfreiheit bestimmte Verhältnis zum ästhetischen Gegenstand, der über seine Formmerkmale erfasst wird. Das ästhetische Subjekt muss sich in seiner ästhetischen Anschauung und der Teilhabe am ästhetisch erfassten Gegenstand selbst genug sein bzw., wie Moritz an anderer Stelle formuliert, die ästhetische Selbstbezüglichkeit und -genügsamkeit meint nicht mehr das aisthetische Subjekt im Spiel seiner selbsteigenen Kräfte, sondern den in seinen selbstreferentiellen Formbezügen angeschauten und genossenen ästhetischen Gegenstand. An dieser Neumodellierung der kunstästhetisch ausgezeichneten Erfahrung bleibt theoriegeschichtlich bemerkenswert, dass das Spektrum der subjektivästhetischen Lusterfahrungen dadurch nicht aus dem Bedeutungsfeld der Aisthesis herausfällt, dass Moritz die subjektiven Lustqualitäten der Gegenständlichkeit des Kunstwerks ausdrücklich subordiniert (die ästhetisch induzierte Selbsterfahrungslust ist gegenüber dem Kunstschönen „ein so sehr untergeordneter Zweck“, vgl. V 947). Nur gewinnt die Sinneserfahrung im Moritzschen Modell ihren ästhetisch relevanten Maßstab primär nicht mehr aus der Summe ihrer selbstbezüglichen Erfassungsakte, sondern aus der ‚gleichursprünglichen‘ Bindung an den – sensuell oder transsensuell zu erfassenden – ästhetischen Gegenstand. An die Stelle der aisthetischen Vollzugslust, die die Gegenstandsseite der kunstästhetischen Erfahrung bei den Popularphilosophen prädominierte, tritt damit eine ästhetische Erfassungslust, die sich „erst aus dieser Beurteilung“ (V 949) der ästhetischen Zweckmäßigkeit eines künstlerischen Gegenstandes ergibt und entsprechend durch konkrete Erfassungsleistungen als ästhetischer Genuss und ästhetisches Urteil legitimiert. Moritz’ Drängen auf einen neuen Objektivismus in der ästhetischen Erfahrung und Beurteilung ist in dieser Konzeption unübersehbar. Entgegen der Deutung, dass dieses Begründungskonzept auf einem moralphilosophischen Fundament aufruht, das der ästhetischen Subjektivität, die das In-sich-Vollendete reflektiert, einen ethischen Einstellungswechsel (‚Selbstlosigkeit‘) abverlange,32 erscheint mir Moritz’ Einwand gegen jede funktionalistische und zugleich bloß selbstbezügliche Konzeption des Ästhetischen (das Schöne ist „mehr um sein selbst willen, das Nützliche aber bloß um meinetwillen“, V 943f.) als ein hinreichend ästhetiktheoretisch begründe-
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Vgl. Meier: Moritz, S. 176. Meier sieht in Moritz’ Konzept einer zweckentbundenen Hinwendung zum ästhetischen Gegenstand den ästhetiktheoretischen Reflex biographischer Konditionen (quietistische Appelle zur ‚Ertötung des Selbst‘ in Moritz’ Kindheit) sowie ethischer Normenorientierungen des Autors (Uneigennützigkeit, ‚Liebe‘).
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tes Argument für die Begründung der Eigenart des Ästhetischen. Denn mit ihm ist für den Bereich des Ästhetischen definiert, dass es nicht der eigentliche Selbstverzicht in der ästhetischen Erfahrung (was diese strenggenommen verunmöglichen würde) ist, sondern die Perspektivenausrichtung des – den Gegenstand – genießenden Selbst, das die aisthetische Erfahrung zur ästhetischen promoviert. Wie sehr Moritz bereits in dieser einleitenden Konzeption des Schönen der Kunst, und genauer, mit seinem kunstästhetischen Werkbegriff, die traditionellen Bahnen der Vollkommenheits- und Lustästhetik der ‚anthropologischen‘ Theoretiker des Schönen verlässt – und dies im übrigen ein Jahr vor seiner Italienreise (1786–88) und dem Zusammentreffen mit Goethe – diesen Sachverhalt macht der Vergleich mit einem der prominentesten Ästhetikkompendien aus der Feder des Hallenser Popularphilosophen Johann August Eberhard deutlich, welches 1783 in erster, 1786 in zweiter Auflage unter dem Titel der Theorie der schönen Wissenschaften erschien (und die Moritzforschung, namentlich Alessandro Costazza, hat hier zurecht eine der maßgeblichen polemischen Gegenfolien für Moritz’ Ästhetik gesehen). Während Moritz die kategoriale Opposition zwischen Schönem und Nützlichem in ebenso entschiedener wie programmatischer Weise dazu verwendet, einen genuinen Kunst-Werkbegriff zu definieren, der den Lustbegriff an die autonomen Strukturen eines Kunstästhetischen Ganzen zurückbindet, geht Eberhard von einem Begriff des „Werkes“ aus, der sowohl die weitere Bedeutung alles des „um eines gewissen Zwecks wegen Hervorgebrachten“ einschließt (und damit eben auch alles, was dem Subjekt Vergnügen bereitet) als auch, so Eberhard, „dieses Wort auf die für sich bestehenden Dinge einschränkt.“ Anders als bei Moritz konvergieren in Eberhards ästhetischem Werkbegriff – bezeichnenderweise spricht er nicht von „Kunstwerk“, sondern von den „Werken des Geistes“ – Nützlichkeitsaspekte und genuin ästhetische Hinsichten. Den Aristotelischen Poiesis-Begriff, durch den „ein für sich bestehendes Werk“ hervorgebracht wird, setzt der Popularphilosoph in der Anmerkung zu diesem Paragraphen seiner Ästhetik zwar terminologisch vom Begriff der Praxis (als einem Tun, das außerhalb des Handelns kein für sich bestehendes Werk hervorbringt) ab. Reserviert wird der autonomieästhetische Werkbegriff von Eberhard jedoch nicht für die Sphäre des Kunstwerks als solcher: Die Vollkommenheit eines jeden Werkes des Geistes, so der Popularphilosoph, „kann also als Mittel zu einem gewissen Zwecke angesehen werden, und seine Güte wird nach seiner Schicklichkeit zu dem Zwecke [...] beurtheilt werden (müssen).“33
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TSW 1786, 2.
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Dass diese Distinktionen im Werkbegriff keine spitzfindigen Unterscheidungen in den theoretischen Vorentscheidungen der beiden Ästhetiker darstellen, sondern theoriegeschichtlich besehen signifikante Tragweite besitzen, veranschaulicht der weitere Verlauf der Argumentation. Moritz, so war kenntlich geworden, definiert die Eigenart des Ästhetischen gegenüber dem Nützlichen über einen Begriff des Ästhetischen als eines kunstästhetischen Werk-Ganzen, das dem pragmatisch-instrumentellen Zweckbegriff der Popularästhetik (d.h. dem implizit handlungstheoretischen Gesichtspunkt) eine klare Absage erteilt, indem es das Subjekt als unmittelbaren Adressaten der ästhetischen Erfahrung gegenüber der Eigengeltung des ästhetischen Kunstwerks zurückstellt: Das ästhetisch Hervorgebrachte ist somit nicht mehr auf die Sphäre des Handelns beziehbar, und das heißt, dass der Moritzsche Werkbegriff als Inbegriff des Kunstschönen sowohl im Sinn des prattejn als auch im Sinn des poiejn eine genuin Vollzugsform des ästhetischen Subjekts bezeichnet, die für die Zwecke seiner praktischen Verwertung als Ganzes und in sich selbst Vollendetes per definitionem nicht mehr zur Verfügung steht. Demgegenüber etabliert Eberhards Werkbegriff die Durchlässigkeit zwischen der Ebene der spezifisch kunstästhetischen Poiesis und der pragmatischen Handlungsrelevanz, indem der Begriff des „für sich bestehende[n] Werks“ mit dem Gestus des Selbstverständlichen einer „letzten und vornehmsten Absicht“ unterstellt wird: die unteren Erkenntnisvermögen zu „verbess[ern] oder zu vergnügen“34: „Diese [schönen Wissenschaften] sollen also eine sinnlich vollkommne Erkenntniß35 hervorbringen.“ Und: sie sind als dezidiert „schöne Wissenschaften“ jenem „letzten und vornehmesten Zweck“ zugeordnet, „welcher das Vergnügen ist.“ Eberhards scheinbar zweckautonomer Werkbegriff wird in der Relation mit der pragmatischen Zweckperspektive also gleichsam unterhöhlt, und, so die zweite bedeutsame Implikation dieser ‚genussästhetischen‘ Letztbegründung, die Eigenart des Kunstschönen wird nicht vom außersubjektiven Gegenstand der ästhetischen Erfahrung, vom Kunstwerk her, begründet, sondern vom Urheber des künstlerischen Artefakts her, vom ästhetischen Subjekt – d.h. seinen ästhetischen Kompetenzen (Erkennen und Begehren) ebenso wie von seinem konstitutiven Genussbedürfnis. Was Moritz’ Formulierungen in seiner frühesten Publikation zur Kunsttheorie an theoriegeschichtlicher Sprengkraft enthalten und, so darf man sagen, was sie noch vor Kants Theorie der ästhetischen Urteilskraft zur kopernikanischen Wende in der ästhetischen Theorie – von der psychologischen Wirkungs- zur philosophischen Kunstwerkästhetik – beitragen, lässt sich über das Gesagte
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Ebd., §5, 3. TsW §11, S. 12. An anderer Stelle heißt es: hervorgebracht werden sollen „angenehme Empfindungen“.
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hinaus auch an einem zweiten Sachverhalt rekonstruieren: der Gegenläufigkeit von allgemeinem Zweckbegriff und ästhetischem Wertbegriff. Bei der Betrachtung des Schönen um seiner selbst willen, so Moritz, bei dem „ich dem schönen Gegenstande nicht sowohl eine Beziehung auf mich, als mir vielmehr eine Beziehung auf ihn gebe“, nimmt das ästhetische Subjekt unmittelbar Abstand von allen Zweckzuschreibungen an den ästhetischen Gegenstand selbst. Es leistet im Richtungswechsel der spezifisch ästhetischen Einstellung also auf seine subjektiv bestimmten Zweckinteressen Verzicht, und dieses Absehen von allem subjektiven Zweckinteresse ist allererst die Voraussetzung dafür, dass die Lust am Ästhetischen, für Moritz das Kunstschöne, als eine höherstufige Form des ästhetischen Anschauens begriffen werden kann. Gegenläufig zu dieser ‚epoché‘ nun, der subjektiven Zurücknahme gegenüber dem Kunstschönen unter dem Gesichtspunkt des Zwecks, bestimmt Moritz unter dem Gesichtspunkt des ästhetischen Werts, dass das ästhetische Subjekt von sich aus dem Kunstwerk im Vorgang der ästhetischen Gegenstandskonstitution etwas ‚hinzufügen‘ muss. Denn erst „durch unsere Betrachtung“ geben wir den Werken der Kunst „ihr wahres volles Dasein [...], vergrößern wir gleichsam seine Schönheit selber, und legen immer mehr Werth hinein.“ Sitzt Moritz damit der Ideologie des Ästhetischen auf, derzufolge das, was als Erfahrungsgehalt beurteilt werden soll, als Gegebenes nicht nur vorausgesetzt, sondern auch noch als subjektive Konstruktionsleistung des ästhetischen Subjekts bewertet werden muss? Feststellen lässt sich zunächst, dass für Moritz das, was das Subjekt in das Werk hineinlegt, nicht mehr, wie in der anthropologischen Ästhetik, ein sinnlich erfahrenes Quantum angenehm wirkender Empfindungen und Lust-Unlust-Gefühle, oder, wie zwischen Meier, Sulzer und Mendelssohn und Eberhard von den Vertretern der anthropologischen Ästhetik programmatisch formuliert wurde, der sinnlich-ästhetische Erfahrungsgehalt der ästhetischen Rührung ist. Die Eigenwertigkeit der ästhetischen Kunsterfahrung basiert für den ‚Kantianer‘ Moritz vielmehr auf dem Gegebensein eines Anerkennungsverhältnisses zwischen Subjekt und Kunstwerk als solchem, auf einer Wahrnehmungsleistung der ästhetischen Subjekte also, die dem Kunstschönen die Allgemeinheit seiner Geltung (dass es schön sei) unterstellt und die mit dem eigenen subjektiven Urteil: dieses Werk ist schön, gesetzmäßig stets zugleich will, dass die Zahl der diesem Schönen und seiner Geltungsallgemeinheit Huldigenden sich möglichst ad infinitum vergrößere. „Daher“, so Moritz, „das ungeduldige Verlangen, daß alles dem Schönen huldigen soll, welches wir einmal dafür erkannt haben: je allgemeiner es als schön erkannt und bewundert wird, desto mehr Werth erhält es auch in unsern Augen.“ (V 945)
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Moritz hat den vorstehend rekonstruierten ‚Zuschreibungsverzicht‘, wie hier abschließend mit Blick auf die Tragweite seiner Konzeption anzufügen ist, wenige Jahre später in einer eigenständigen Abhandlung differenziert und untermauert. Seine Kritik an Winckelmanns Beschreibung des Apollo im Belvedere ist eine Grundsatzkritik an jeder Art zuschreibener, erklärender Beschreibung von Kunstwerken.36 Die Beschreibung des Kunstwerks nach seinen Teilen, so Moritz gegen Winckelmann, sei ein gewaltsamer Eingriff in das harmonische Ganze des Kunstwerks, eine falsche – nämlich instrumentelle, den Erklärungs- und Darstellungsabsichten des Betrachters unterworfene – Form der Einmischung in den ästhetischen Teil-Ganzes-Komplex, der an sich selbst gegeben sei.37 Das In-sich-Vollendete ist für Moritz mithin ein phänomenal Irreduzibles, das sich der begrifflichen Rückübersetzung sui generis verweigert. Seine adäquate Erfassung ist selbst ein poetischer Prozess: ein Nachvollzug nicht von isolierten Wirkungskomplexen, sondern eines aisthetisch erfaßten Gesamtzusammenhangs, den der ästhetische Teil-GanzesKomplex sinnlich allererst vorstellig macht.38
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Vgl. K.P. Moritz: In wie fern Kunstwerke beschrieben werden können. In: Moritz: Popularphilosophie, S. 992–1003. „Wir kommen also wiederum auf den Punkt zurück, daß die Werke der bildenden Künste selbst schon die vollkommenste Beschreibung ihrer selbst sind, welche nicht noch einmal wieder beschrieben werden kann.“ Winckelmanns Beschreibung des Belvederschen Apollo „zerreißt daher das Ganze dieses Kunstwerks, sobald sie unmittelbar darauf angewandt, und nicht vielmehr als eine bloß poetische Beschreibung des Apollo selbst betrachtet wird, die dem Kunstwerke (sic) gar nichts angeht.“ (ebd., S. 1002). Zur Berechtigung dieser Kritik sowie ihrer Verkennung und Fehldeutung der Winckelmannschen Kunstbeschreibungen vgl. Fischer, Bernhard: Kunstautonomie und Ende der Ikonographie. Zur historischen Problematik von ‚Allegorie’ und ‚Symbol’ in Winckelmanns, Moritz’ und Goethes Kunsttheorie. In: DVjs LXIV (1990), S. 247–277, bes. S. 255, 264ff. Vgl. ebd., S. 1003: „Wenn über Werke der bildenden Künste, und überhaupt über Kunstwerke etwas Würdiges gesagt werden soll, so muß es keine bloße Beschreibung derselben nach ihren einzelnen Teilen sein, sondern es muß uns einen nähern Aufschluß über das Ganze und die Notwendigkeit seiner Teile geben.“
Marianne Wünsch
Philosophie der (Spät)aufklärung in Friedrich Schillers Freigeisterei der Leidenschaft
Wo in der Phase der Transformation vom Sturm und Drang zur Klassik Goethe das Gedichtpaar Grenzen der Menschheit und Das Göttliche in bewusster Opposition zum Sturm-und-Drang-Paar Prometheus und Ganymed aufzuweisen hat, finden wir bei Schiller das Gedichtpaar Freigeisterei der Leidenschaft und Resignation, beide 1786 in der Thalia publiziert, die auf die eigenen früheren ‚Laura‘-Gedichte in der Anthologie auf das Jahr 1782 antworten. Als These wird man wohl behaupten dürfen, es sei kein Zufall, wenn bei beiden Autoren an der Schwelle zu einem neuen literarischen Subsystem sich jeweils ein nicht zuletzt religionsphilosophisches Gedichtpaar findet. Denn bei beiden Autoren geht es dabei um die religionsphilosophische Komponente der Legitimation oder Infragestellung eines Wert- und Normensystems. Wenn nun richtig ist, dass die Transformation vom Sturm und Drang zur Klassik eine doppelte Veränderung impliziert, nämlich die des Status des Individuums in Relation zur sozialen Umwelt und – damit korreliert – eine Veränderung des Umgangs mit einem im Kern mehr oder minder traditionellen Wert- und Normensystem, dann ergibt es Sinn, wenn hier beide Male in reflektierender und abstrahierender Lyrik nach dem Status der herkömmlicherweise Normen garantierenden und Normen legitimierenden Instanz, also irgendeiner göttlichen Entität, gefragt wird. Schiller hat ja zudem im selben Zeitraum, nämlich 1788, noch ein weiteres großes Gedicht, Die Götter Griechenlands, publiziert, in dem das Religionsthema in einen geschichtsphilosophischen Kontext eingebettet und die Thematik des Normensystems um das Thema ästhetischer Werte ergänzt wird. Hier soll nun also Freigeisterei der Leidenschaft im Zentrum stehen und auf das andere Glied des Paares – Resignation – nur gelegentlich verwiesen werden. Wie das Goethesche Gedichtpaar, steht natürlich auch das Schillersche in dem doppelten historischen Kontext der Entwicklung des Denksystems „Aufklärung“ und der zu diesem synchronen bzw. sukzessiven Literatursysteme bzw. Subsysteme.1 Was im Kontext dieser Tagung Trivialität ist,
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Dass man daher auch in der Literaturgeschichte nicht von einem Literatursystem „Aufklärung“ reden sollte, weil damit einer Verwechslung von Literatursystem und Denksystem Vorschub geleistet wird; und auch, wenn die vorgoethezeitliche Litera-
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sei hier nur der Verständigung halber explizit festgehalten: Das Denksystem der „Aufklärung“ hat natürlich nicht die Freundlichkeit zu enden, wenn die literarischen Subsysteme, erst „Sturm und Drang“, dann „Klassik“, einsetzen, wie die ältere Literaturgeschichtsschreibung meinte; hier ist es natürlich selbstverständlicher Konsens, dass beide literarischen Subsysteme, „Sturm und Drang“ wie „Klassik“, auf dem Denken der „Aufklärung“ basieren. Schillers Gedicht signalisiert schon im Titel die religiöse Abweichung, da „Freigeist“ nun einmal im 18. Jahrhundert jeden bezeichnet, der signifikant von christlicher Orthodoxie verschiedene Positionen vertritt.2 Ebenso trivial ist, dass solche Abweichungen nach Vorspielen im 17. Jahrhundert konstitutiv zum Denken der Aufklärung gehören. Bemerkenswert ist auch die zweite Komponente des Titels: Leidenschaft. Denn nachdem um die Mitte des 18. Jahrhunderts die Anthropologie der Aufklärung die neue psychische Komponente „Gefühl“ in sich zu integrieren suchte, trug das Literatursystem „Empfindsamkeit“ die Konsequenzen dieser anthropologischen Erweiterung aus und war sich schon beim frühen Gellert und frühen Lessing bewusst, welches Normverletzungspotential die Legitimation und Aufwertung des ‚Gefühls‘ und die Emotionalisierung der freundschaftlichen, familiären, erotischen Beziehungen mit sich brachten.3 Indem der „Sturm und Drang“ statt des kontrollierten und domestizierten Gefühls der Empfindsamkeit die qualitative und quantitative Steigerung zur Leidenschaft legitimierte, nahm er bewusst die Radikalisierung des Konfliktpotentials zwischen sozialem Normensystem und individuellem Gefühl in Kauf. Die religiöse Abweichung erscheint in unserem Text also als Produkt des radikalisierten Gefühls, das zumal anhand der „Liebe“, wie sie die „Aufklärung“ um die Jahrhundertmitte erfunden hat, ausgetragen wird. Schillers Prosafußnote in der Thalia-Ausgabe, in der er – naturgemäß vergeblich – auf der Differenz zwischen textexternem Autor und textinternem Sprecher besteht,4 belegt unzweideutig die Bewusstheit, mit der er wirklich einen radikal ideologischen Konflikt inszeniert.
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tur im Gegensatz zur goethezeitlichen auf weite Strecken noch als relativ direkte Applikation von Theoremen des Denksystems im Literatursystem gelten kann, wäre es sinnvoll, z. B. von Literatur zur Zeit der frühen Aufklärung (bis etwa zur Jahrhundertmitte) bzw. von Literatur zur Zeit der mittleren Aufklärung, für die wir auch den Namen der Empfindsamkeit zur Verfügung hätten, zu sprechen. Vgl. zur Begriffsbestimmung Adelungs Stichworte „Freydenker“ und „Freygeist“: Adelung, Johann Christoph: Grammatisch-Kritisches Wörterbuch der hochdeutschen Mundart. Wien 21796, Sp. 292 u. 294. Vgl. dazu Titzmann, Michael: „Empfindung“ und „Leidenschaft“: Strukturen, Kontexte, Transformationen der Affektivität / Emotionalität in der deutschen Literatur in der 2. Hälfte des 18. Jahrhunderts. In: Klaus P. Hansen (Hg.): Empfindsamkeiten. Passau 1990, S. 137–165. Vgl. Schiller: Sämtliche Werke. Bd. I. München 81987, S. 872.
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Die Sprechsituation unseres Textes ist zunächst die eines typischen Sturmund-Drang-Subjektes, das sich im Interesse seiner Selbstverwirklichung gegen das Normensystem seiner sozialen Umwelt auflehnt: Mit der Negation des „Nein“ – „länger, länger werd ich diesen Kampf nicht kämpfen“ (Vers 1) –, die einen vorgängigen und vorgegebenen Kontext präsupponiert, setzt der Text quasi programmatisch ein. Diese Sturm-und-Drang-Sprechsituation wird freilich im Verlauf des Textes transformiert: Wo es am Anfang dem individuellen Subjekt Sturm-und-Drang-typisch nur um seine individuelle Situation, seine individuelle und Ego-bezogene Rebellion zu gehen scheint, wird in der letzten Strophe auf eine überindividuelle kollektive Situation hin generalisiert, indem der Sprecher sich an ein pluralisches Kollektiv an Adressaten wendet, die er zur selben ideologischen Folgerung auffordert: O diesem Gott laßt unsre Tempel uns verschließen, Kein Loblied feire ihn, Und keine Freudenträne soll ihm weiter fließen, Er hat auf immer seinen Lohn dahin! (Vers 85–88)
Indem der Sprecher aber diese Generalisierung vollzieht, wird zugleich das exzeptionelle Subjekt des „Sturm und Drang“ durch das repräsentative Subjekt der „Klassik“ substituiert.5 Analoges vollzieht sich auch in Resignation: Dem individualisierten Sprecher-Subjekt antwortet ein „Genius«, der sich an das Kollektiv „Menschenkinder“ adressiert und folglich eine generalisierbar und repräsentativ gemeinte Position vertritt: „Mit gleicher Liebe lieb ich meine Kinder,“ Rief unsichtbar ein Genius. „Zwei Blumen“, rief er, „– hört es, Menschenkinder – Zwei Blumen blühen für den weisen Finder, Sie heißen Hoffnung und Genuß. […]“ (Vers 86–90)
Der Sprecher unseres Textes spricht nun sukzessiv verschiedene Adressaten an. In Vers 1 bis 24 die personifizierte „Tugend“, also die Repräsentation des kulturellen Normensystems, ab Vers 29 bis inklusive Vers 72 immer wieder Laura, die fiktive Geliebte, von Vers 73 bis 84 eine Gottheit, in der letzten Strophe schließlich ein Adressatenkollektiv, das jeden Hörer oder Leser des Textes einschließt.
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Einen ganz ähnlichen Prozess hat Michael Titzmann nachgewiesen in seiner Interpretation zu zwei Gedichten Goethes. Vgl. ders.: Vom „Sturm und Drang“ zur „Klassik“. Grenzen der Menschheit und Das Göttliche – Lyrik als Schnittpunkt der Diskurse. In: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 42 (1998), S. 42–63.
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Die Anrede an die personifizierte „Tugend“ als Verkörperung des Normensystems impliziert nun zunächst, dass das Normensystem eine Größe außerhalb des sprechenden Subjektes ist, die – siehe Vers 9 – freilich vergöttlicht wird: „Sieh, Göttin, mich zu deines Thrones Stufen“. Mit dieser quasi göttlichen Größe habe das Ich nun einen „Vertrag“ geschlossen (Vers 12), in dem es sich verpflichtet habe, sich dem Normensystem zu unterwerfen, wobei diese Unterwerfung nicht das Produkt einer rationalen Entscheidung für das Normensystem darstellt, sondern als Folge eines affektiven Zustandes (Strophe 4 und 5) charakterisiert wird. Seit die Aufklärung versucht hat, die traditionelle biblisch-theologische Normbegründung durch eine philosophische zu substituieren, hat sie zwei unterschiedliche Stränge der Normlegitimation entwickelt: den rationalistischen, dem zufolge das tradierte Normensystem aus der menschlichen Vernunft folge, den emotionalistischen, dem zufolge das Normensystem aus dem menschlichen Gefühl folge. In beiden Varianten wird das tradierte Normensystem aber als ahistorisch-invariant und kulturell universal gedacht, wobei das ethnologische und historische Wissen der Aufklärung über abweichende Normensysteme anderer, vergangener oder gegenwärtiger Kulturen mittels der Geschichtsphilosophie aufgefangen wird, in der solche Differenzen aufgelöst werden können, insofern sie einfach als unterschiedliche Entwicklungszustände in der Menschheitsgeschichte aufgefasst werden. Wenn unser Text nun also die emotionalistische Normbegründungsvariante präferiert, dann bedeutet das – zunächst unausgesprochen –, dass die Norm nicht ein rational Einsehbares außerhalb meiner, sondern ein Fühlbares innerhalb meiner ist. Das zunächst explizit aufgebaute Modell der veräußerlichten Norm als Gegenüber des Sprechers wird denn auch im Text immer wieder durch die Wahl von Lexemen unterlaufen, die diese Norm als verinnerlichte ausweisen. Wenn die Normeinhaltung als „Pflicht“ (Vers 2) charakterisiert wird, die intendierte Normverletzung als „sündigen“ (Vers 8), als „tiefe[r] Fall“ (Vers 24), als „Verbrechen“ (Vers 30 und 33), als „Gift“ (Vers 37) klassifiziert wird, macht der Text evident, dass das Subjekt die Normen, die es als etwas außerhalb seiner aufkündigen möchte, faktisch in sich selbst trägt. Der Text baut also bewusst eine erste Paradoxie, ein erstes Dilemma, auf: Das Normensystem, das durch die Sprechsituation als subjektexterne, metaphysische und/oder soziale Größe behandelt wird, erweist sich implizit in der lexikalischen Konkretisierung dieser Sprechsituation als subjektinternes und verinnerlichtes. Mit dieser scheinbar subjektexternen Größe habe das Ich also einen Vertrag geschlossen. Was hier abgerufen wird, sind natürlich jene Vertragstheorien der Vergesellschaftung, wie sie schon die Naturrechtstheoretiker des 17. Jahrhunderts kennen und wie sie die Aufklärung – exemplarisch Rousseaus Contrat social (1762) – fortgesetzt hat. Und natürlich gehört es zum kulturellen Wissen des späten 18. Jahrhunderts, dass einige Vertragstheoretiker, wie z. B. Hobbes oder Spinoza, auch das Normensystem als erst durch
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den Gesellschaftsvertrag begründete Größe konzipiert haben, die nicht schon dem fiktiven präsozialen Zustand angehöre, wenngleich zweifellos die meisten Autoren mit rationalistischer oder emotionalistischer Begründung das Normensystem schon in diesen „Naturzustand“ projiziert haben. In Schillers Text würde also das Normensystem auf der Ebene der Sprechsituation erst dem Sozialzustand, auf der Ebene der Lexemwahl hingegen schon dem „Naturzustand“ angehören. Erst nach sechs Strophen wird deutlich, warum der Sprecher seinen Vertrag mit der Tugend kündigen will, den er als einen Vertrag konzipiert, bei dem er betrogen worden sei. Es sei ein Vertrag, den sie – die Tugend – „Betrügerisch aus meinem Busen“ rang (Vers 16). Wie sich in der Folge zeigt, geht es um die Opposition zweier Werte: um „Tugend“ vs. „Liebe“ und um deren Rang in der Werthierarchie. Wie schon der „Empfindsamkeit“ in ihren Anfängen bewusst und vom „Sturm und Drang“ radikalisiert, impliziert „Liebe“ ein Normverletzungspotential. Und dieses wird in unserem Text radikalisiert: Hier wird nun erstmals der Untertitel des Textes – Als Laura vermählt war im Jahr 1782 – funktionalisiert und verstehbar. „Liebe“ tendiert hier nicht nur zum vorehelichen Vollzug des Sexualaktes, sondern gar zu dessen ehebrecherischem Vollzug. Ganz bewusst wird hier eine zentrale Norm der vorgoethezeitlichen und goethezeitlichen Literatursysteme in einer Weise in Frage gestellt, die in Goethes Werther zwar präludiert wurde, aber noch nicht mit dieser theoretisch-systematischen Konsequenz. Es geht um das Verbot von Rivalität und Konkurrenz, wenn ein anderer aufgrund bloßer Priorität den sozial als berechtigt geltenden Anspruch auf ein Liebesobjekt hat. Lauras Ehe wird im Text nun unzweideutig als eine Beziehung gedacht, die ihren Gefühlen widerspricht. Der Text unterstellt, dass Laura nicht ihren Ehemann, sondern das Ich geliebt habe: Wie schnell, o Laura, floß Das dünne Siegel ab von übereilten Schwüren, Sprang deiner Pflicht Tyrannenkette los (Vers 42–44) […] Das Herz war mein, das du vor dem Altar verloren (Vers 63)
Unser Text baut hier also ein zweites Dilemma auf: die Kollision des traditionellen Wertes einer unauflösbaren Verpflichtung durch eine Ehe mit dem seit der Jahrhundertmitte neuen Wert „Liebe“, der ab da die einzige ideologische Legitimation einer Beziehung ist. Die „Tugend“ des Ich bestand nun – und das ist der Kern von „Tugend“ seit der „Empfindsamkeit“ – im Verzicht, im heldenmütigen „Entsagen“ (Vers 27), d. h. in der Nicht-Realisation seines Begehrens. In der Logik des Moralund Liebessystems seit der „Empfindsamkeit“ galt nun, dass „Tugend“ „lie-
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benswert“, „liebenswürdig“ macht: dass also ein potentieller Liebespartner „Liebe“ durch „Tugend“ verdient und die „Liebe“ des anderen Teils „Belohnung“ solcher „Tugend“ ist: Bewundert still mein heldenmütiges Entsagen, Und großmutsvoll beschließt sie meinen Lohn. (Vers 27f.)
Der einzig mögliche Lohn dieser „Tugend“ des Ich ist also der Besitz des geliebten Du: Gibts in des Lebens unermeßlichem Gebiete, Gibts einen andern schönern Lohn – als dich? (Vers 31f.)
Somit hat unser Text seine dritte Paradoxie konstruiert, indem er zwei zentrale Werte der aufklärerischen Anthropologie kollidieren lässt: Der einzge Lohn, der meine Tugend krönen sollte, Ist meiner Tugend letzter Augenblick. (Vers 35f.)
Der Text entwirft nun in der Folge „die heißerflehte Schäferstunde“(Vers 45); bemerkenswert ist zunächst, dass die Initiative zur Normverletzung, zum Ehebruch, von der Frau ausgeht, die eben den „Lohn“ des Ich beschlossen hat. Nun freilich versagt das Ich kläglich: Mir schauerte vor dem so nahen Glücke, Und ich errang es nicht. (Vers 49f.)
In der nachträglichen Reflexion über dieses Versagen fragt sich das Ich, woraus dieses resultierte. Die richtige Antwort hat der Text schon implizit im Dialogteil mit der „Tugend“ gegeben; die Norm, die das Subjekt als etwas außerhalb seiner zu denken versuchte, befindet sich faktisch in ihm selbst. Das bedeutet, dass unser Text den Zustand einer Krise des Normensystems und den Zustand eines potentiellen Wandels dieses Normensystems darstellt: den Zustand eines möglichen Übergangs, in dem etwas zwar schon gedacht, aber noch nicht gelebt werden kann; was intellektuell schon veräußerlicht ist, ist emotional noch verinnerlicht. Dieser intrapsychische Konfliktzustand manifestiert sich im sexuellen Versagen auf der einen, in der dazu oppositionellen rationalen Argumentation auf der anderen Seite. Denn in dieser wird die Norm zum bloßen Brauch, zur bloßen Konvention, zu etwas, was menschliche Gesetze als „heilig“ ausgeben (Vers 57). Wo sich das Ich in der Praxis der Norm unterworfen hat, rebelliert es in der Theorie: Nein – unerschrocken trotz ich einem Bund entgegen, Den die errötende Natur bereut. (Vers 59f.)
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Der soziale Tatbestand der Ehe wird explizit in Opposition zur „Natur“ gesetzt, die verhindernde Norm also als widernatürlich gedacht. Damit hat Schiller ein viertes Dilemma konstruiert: das von „Natur“ vs. „Kultur“, die das Aufklärungsdenken bis dahin so gut wie möglich zu harmonisieren versuchte, wenn man von wenigen Ausnahmen absieht, wozu in der Denkgeschichte z. B. Diderots Suppléments au voyage de Bougainvilles oder literaturgeschichtlich mancher Erzähltext z. B. von Wieland oder Heinse gehören würde. Unser männliches Ich hat also ein normverletzendes erotisches Angebot des Du nicht nutzen können: Diese Umkehrung der tradierten Geschlechterrollen, denen zufolge eine erotische Normverletzung im 18. Jahrhundert durch einen männlichen „Verführer“ initiiert sein müsste, kompensiert es durch Projektion: Wo der Mann gezittert hat (Vers 53), fordert er die Frau auf, nicht zu zittern: „O zittre nicht – du hast als Sünderin geschworen“ (Vers 61). Nichts funktioniert in diesem Text, wie es funktionieren sollte; emotionale Unterlegenheit wird mühsam durch intellektuelle Überlegenheit kompensiert. Darin freilich ist das Ich radikal; die eheliche Verpflichtung Lauras wird als „Sünde“ konzipiert, der Ehebruch als „fromme Pflicht“ (Vers 61f.). In dieser fünften Paradoxie spielt unser Text die Konsequenzen der Kollision zweier aufklärerischer Werte durch, wobei der Wert „Liebe“ nun noch eine metaphysische Legitimation erhält. Denn der Text nimmt eine Implikation des aufklärerischen Liebesmodells beim Wort. Im Prozess der Aufklärung war eine neue Konzeption der Gottheit entstanden, der zufolge dieser Gott, ob er nun als christlicher oder als deistischer gedacht wurde, das diesseitige innerirdische Glück seiner Geschöpfe wollte – ein radikaler Bruch mit der christlichen Theologie. Ab dem Moment nun, wo die Aufklärung den neuen Wert der emotionalisierten, individualisierten, unaustauschbaren „Liebe“ erfunden hatte und diese zum höchsten und unersetzlichen diesseitigen Wert wurde, resultierte daraus in der Logik des Denksystems ein Anspruch des Subjekts auf Liebe, der implizit oder explizit als ein solcher auf einen von der göttlichen Weltordnung gewissermaßen vorbestimmten einmaligen Liebespartner gedacht wurde; Hölty und andere konnten folglich auch Die künftige Geliebte besingen, in der Gewissheit, dass ihnen eine solche von der Weltordnung beschieden sei. Genau das postuliert unser Text nun explizit: Getrennt von dir – warum bin ich geworden? Weil du bist, schuf mich Gott! (Vers 69f.)
Das kulturelle Normensystem, in dem die Ehe jede andere Liebe ausschließt, kollidiert hier also nicht nur mit der „Natur“, sondern sogar mit dem göttlichen Willen. Wenn aber die gegebene soziale Realität und der göttliche Wille kollidieren, wo doch dieser Gott allmächtig ist, haben wir eine sechste Paradoxie: Denn entweder ist dieser Gott nicht der gütige Gott, der das Glück seiner Geschöpfe will, oder dieser Gott ist nicht der allmächtige Gott, der seinen
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Willen durchzusetzen vermag. Mit anderen Worten: Wir haben hier die explizite Infragestellung des Konzepts, das Leibniz 1710 auf den Namen der „Théodicée“ getauft hat und das das Denksystem des 18. Jahrhunderts trotz aller empirischer Widrigkeiten noch über Kants Über das Mißlingen aller philosophischen Versuche in der Théodicée (1791) hinaus immer wieder zu verteidigen versucht bis in des späten Goethes „Wie es auch sei das Leben, es ist gut“ hinein. Voltaire, der das Konzept in seinem Candide – wie später Wezel in seinem Belphegor – ironisiert und parodiert, liefert doch zugleich mit seiner Erfindung des Begriffs der Geschichtsphilosophie das für die Aufklärung zentrale Instrument des Postulats einer göttlichen und gerechten Weltordnung: Der optimale Weltzustand, der im jeweiligen Jetzt noch nicht gegeben ist, wird sich im Verlaufe eines fortschrittsorientierten Geschichtsprozesses herstellen. Schiller entwirft sukzessiv zwei Alternativen zur Lösung des ThéodicéeProblems, das aus der Opposition zwischen natur- bzw. gottgewolltem Liebespartner und dessen Nicht-Verfügbarkeit durch eine soziale Bindung resultiert: Und beide Lösungen sind im Rahmen des vorgefundenen Zustands des Denksystems kulturell inakzeptabel. Denn die erste – Zum Kampf auf die Vernichtung sei er vorgeladen, An den der feierliche Spruch dich band. Die Vorsicht kann den überflüßgen Geist entraten, Für den sie keine Seligkeit erfand. (Vers 65–68) –
läuft darauf hinaus, dass das Ich den Rivalen töten darf, weil die göttliche „Vorsehung“ diesem keine Partnerin vorbestimmt habe, für diesen also nicht jenes „Glück“ vorgesehen habe, auf das man in der neuen Konzeption einer Weltordnung Anspruch erheben darf; Lauras legitimer sozialer Ehepartner erscheint in dieser Lösung des Théodicée-Problems nicht nur als metaphysisch illegitim, sondern sogar als legitim ausrottbar. In dieser Variante führt unser Text also das vorgefundene Wert- und Normensystem zu Konsequenzen, die innerhalb seiner gänzlich inakzeptabel sind: Die Tötung des Rivalen würde legitimiert. Unser Text hat noch eine zweite Alternative zur Lösung des ThéodicéeProblems zu bieten, die nun freilich zu ideologisch noch radikaleren Konsequenzen führt: nämlich zur Negation der tradierten Gotteskonzepte. Denn wenn der Defekt der Weltordnung, der darin besteht, dass man die von dieser vorbestimmte Partnerin, also den höchsten innerirdischen Wert, dennoch nicht erhält, aber auch den störenden Rivalen nicht durch Tötung eliminieren darf, wenn also, mit anderen Worten, das tradierte Normensystem konstant gehalten wird, das Ehebruch und Rivalenmord verbietet, aber gleichzeitig das Postulat der gerechten und gütigen Weltordnung, also die Théodicée, verteidigt
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werden soll, dann bleibt in der Tat nur eine logische Möglichkeit, und Schiller kann verdammt logisch denken: Der Gott, dem die Urheberschaft des Normensystems und die Verantwortung für die Weltordnung angelastet wird, muss negiert werden. Und damit sind wir bei der provokantesten Paradoxie unseres Textes angelangt: dem, was der Philosoph Odo Marquard den „Atheismus ad maiorem Dei gloriam“6 genannt hat, die Verteidigung Gottes durch seine Leugnung. Was in den letzten vier Strophen angegriffen wird, ist offenkundig die christliche Vorstellung eines Gottes, dessen Normensetzung widernatürlich wäre und den Menschen zu irdischem Glücksverzicht zwingen und sein Leben zur Hölle auf Erden machen würde. Dieser hier abgelehnte Gott ist zwar zunächst der christliche, aber er ist implizit auch der deistische, den etwa ein Voltaire gegen Diderot und d’Holbach und ein Lessing im Nathan als Abstraktion der Gemeinsamkeiten von den vorderorientalischen Monotheismen vertreten haben. Denn auch dem deistischen Gott, dem die Intellektuellen der Aufklärung um so mehr anhängen, je mehr sie sich von christlicher Orthodoxie entfernen, aber noch die Konsequenz des Atheismus oder Agnostizismus scheuen, wird die Urheberschaft eines Normensystems zugeschrieben, zu dem immer auch, von wenigen Ausnahmen abgesehen, die traditionellen Sexualnormen gehören, die Schillers Gedicht in Frage stellt. Diesem abgelehnten christlichen oder deistischen Gott konfrontiert nun unser Text freilich einen „guten Gott“, den „Sanftmütigste[n] der fühlenden Dämonen“ (Vers 73), dessen Existenz allerdings bloßes Postulat bleibt. Was er will, was er bewirkt, bleibt Leerstelle im Text. Resignation nimmt das Thema der Freigeisterei wieder auf. Die „Natur“ hätte dem Subjekt, dem sprechenden Ich, einen Glücksanspruch in Aussicht gestellt: Auch mir hat die Natur An meiner Wiege Freude zugeschworen […]. (Vers 2f.)
Und dieser Glücksanspruch wird in Opposition gesetzt zu einem Anspruch der Moral, die implizit als religiös legitimierte für irdische Entsagung jenseitigen Lohn und umgekehrt für diesseitige Normverletzung jenseitige Strafe in Aussicht stellt: Hier – spricht man – warten Schrecken auf den Bösen, Und Freuden auf den Redlichen. (Vers 21f.)
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Marquard, Odo: Schwierigkeiten mit der Geschichtsphilosophie. Frankfurt/M. 1973, S. 70.
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Marianne Wünsch
Dieses Versprechen bzw. diese Drohung wird im Text in auffällig ökonomischer Metaphorik ausgedrückt: Die Rede ist von einem „Vollmachtbrief zum Glücke“ (Vers 13), von „Rechnung halten“ (Vers 25), von einer „Schuldverschreibung“ (Vers 46), und der ökonomische Charakter solcher Metaphorik entlarvt zugleich das traditionelle christliche Normensystem und seine Versprechungen als Geschäftsabschlüsse mit einer Gottheit. Wenn dieser Text am Ende einen „Genius“ (Vers 87) reden lässt, dann handelt es sich weder um einen christlichen noch um einen deistischen Gott, sondern um eine unbekannte Größe, von der offenbleibt, ob sie nur als sprachlich-rhetorische existiert oder ob ihr eine reale metaphysische Existenz zugeschrieben werden soll. Die Mitteilung dieser Größe ist jedenfalls eine, die radikal desillusionierend ist und zu den extremen Varianten logisch konsequent fortgedachter Aufklärung gehört: Irdisches Glück und religiöser Glaube stehen in Opposition und sind zugleich äquivalent und austauschbar – nur eines von beiden kann man haben und keines von beiden hat Konsequenzen in einem hypothetisch bleibenden Leben nach dem Tode. Zusammengenommen zeigen die beiden Texte, dass Schiller – logisch konsequent, wie er zu denken vermag – zu radikal aufklärerischen Positionen gelangt, bei denen alle bis dahin kulturell verfügbaren religiösen Positionen vernichtet werden – was im Grunde wohl auch bei dem präklassischen Gedichtpaar Goethes, das ich oben erwähnt habe, die logische Folge wäre. „Klassik“ wäre dann auch – bei Schiller deutlicher noch und expliziter als bei Goethe – der Versuch, den radikal aufklärerischen religionsphilosophischen Folgerungen und damit auch der Konsequenz einer Negation aller Sinngebungssysteme zu entgehen, indem man das eigene Wissen verschleiert. „Religion“ wird – ob in Goethes Iphigenie oder in Schillers Jungfrau – nurmehr insofern Thema sein, als sie in der Psyche dargestellter Figuren eine Rolle spielt, während man das Normensystem durch anthropologische Universalisierung rettet.
Rainer Godel
Schillers Wallenstein Das Drama der Entscheidungsfindung
I. „Schiller, der [...] immer alles auf den Punkt zu bringen suchte, [...] hat also der Titelgestalt seiner Trilogie ihre Vieldeutigkeit nicht zu nehmen vermocht.“1 Dieter Borchmeyer führt die Undurchschaubarkeit von Wallensteins Charakter in Schillers vielleicht bedeutendstem Drama darauf zurück, dass Schiller sein Prinzip „rationale[r] Fixierungen“ in Wallenstein durch die Perspektive der Hermetik und Humoralpathologie ergänzt habe. Manfred Beetz hingegen hat überzeugend gezeigt, dass die Charaktergestaltung des Protagonisten mit Schillers Ästhetik und Rezeptionssteuerungsstrategien kongruiert.2 Die von Borchmeyer beklagte Vieldeutigkeit ist nicht nur Folge der Konstruktion einer sich selbst missdeutenden Persönlichkeit, sondern die Theaterfigur Wallenstein entspricht den dramentheoretischen Zielvorstellungen Schillers: Die bewußte Deutungsoffenheit der Darstellungsweise, die Vieldeutigkeit der Reden Wallensteins, die ausgewogene Diskussion strittiger Positionen, strukturelle Spiegelungen und Kontraste sollen eindeutige Interpretationszuweisungen – hie Friedensfürst, hie machtbessener Usurpator – wie sie ein Teil der älteren Forschung praktiziert, gerade verhindern.3
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Borchmeyer, Dieter: Macht und Melancholie. Schillers Wallenstein. Frankfurt/M. 1988, S. 10. Vgl. Beetz, Manfred: Vom ‚selbsttätigen Widerstand‘ des Schönen. Schillers Dramaturgie des Publikums in Wallenstein. In: „Das Schöne soll sein“. Aisthesis in der deutschen Literatur. Festschrift für Wolfgang F. Bender. Hg. von Peter Heßelmann, Michael Huesmann und Hans-Joachim Jakob. Bielefeld 2001, S. 205–230. Beetz hat sich mehrfach auch mit anderen Aspekten der Wallenstein-Trilogie Gewinn bringend auseinander gesetzt. Vgl. u.a. Beetz, Manfred: ‚In den Geist der Alten einzudringen‘. Altphilologische Hermeneutik als Erkenntnis- und Bildungsinstrument der Weimarer Klassik. In: Klassik und Moderne. Die Weimarer Klassik als historisches Ereignis und Herausforderung im kulturgeschichtlichen Prozeß. Walter MüllerSeidel zum 65. Geburtstag. Hg. von Karl Richter und Jörg Schönert. Stuttgart 1983, S. 27–55. Beetz: Widerstand, S. 214.
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Die Ambivalenz dient dazu, das Publikum ästhetisch in Freiheit zu setzen, es zu eigenem Urteilen anzuhalten. Darüber hinaus führt die Figur Wallenstein ein anthropologisches Problem vor Augen, das die Debatten des 18. Jahrhunderts schon mehrere Jahrzehnte vor Schillers Arbeit an Wallenstein bestimmte: die Frage, ob, wie oder unter welchen Bedingungen der Mensch überhaupt in der Lage sein kann, eigene, freie Entscheidungen zu treffen. Ich plädiere dafür, die Ambivalenz des Wallenstein-Charakters nicht bloß immanent zu erklären,4 sondern die notwendige rezeptionsästhetische Perspektive diskursgeschichtlich durch einen Blick auf die Frage der – auch von Schiller selbst mehrfach thematisierten – Möglichkeiten und Grenzen menschlichen Handelns zu erweitern. Die Frage, unter welchen Bedingungen und in welcher Hinsicht Wallenstein überhaupt zu urteilen, zu entscheiden und zu handeln in der Lage ist, führt zurück auf das im 18. Jahrhundert vielfach diskutierte Problem der Abhängigkeit des Menschen von inneren wie äußeren Faktoren. Im anthropologischen Diskurs des 18. Jahrhunderts wird anerkannt, dass Entscheidungsprozesse nicht nur von der Rationalität des Menschen bestimmt sind. Manfred Beetz sieht völlig zu Recht, dass Schillers ganzheitliche Ästhetik in der Tradition der Anthropologie des 18. Jahrhunderts steht.5 Diese Tradition bedingt auch, so zeige ich im Folgenden, das dramatische Handeln, die Entscheidungsmöglichkeiten und Urteilsprozesse der dramatis personae. Schiller hat den „Wesensunterschied“ von Poetologie und Dichtung deutlich markiert.6 Zu Ästhetiktheorie und Dichtungspraxis tritt ein dritter Diskurs hinzu: die beide beeinflussende und in beiden sich formende Anthropologie. Ein wesentlicher Aspekt anthropologischer Debatten im 18. Jahrhundert ist das Verhältnis des Menschen zu seiner ‚natürlichen‘ Umgebung. Die kosmozentrische Kopernikanische Wende, die dazu beitrug, dieses Verhältnis neu zu problematisieren, wurde im Verlauf des 18. Jahrhunderts vielfach neu diskutiert. Der Mensch, von Kopernikus aus dem Zentrum des Universums entfernt, erscheint nun zusehends auch hinsichtlich seiner Fähigkeiten, die Natur zu beherrschen, in Bedrängnis. Er ist in eine unüberschaubare Vielzahl von Zusammenhängen eingeboren, zu denen nicht nur die Relation der ‚Fakten‘ der Natur zum Menschen gehören, sondern auch der Zusammenhang der affektiv-
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Selbst der historische Wallenstein galt und gilt Geschichtswissenschaftlern als uneindeutig. Vgl. u.a. Diwald, Hellmut: Wallenstein. Biographie. Frankfurt/M., Berlin 1987, S. 9f. Vgl. Beetz: Widerstand, S. 45. Vgl. Godel, Rainer: Schillers „Wallenstein“-Trilogie. Eine produktionstheoretische Analyse. St. Ingbert 1999, S. 149; Reed, Terence James: Schiller. Oxford / New York 1991, S. 84; Binder, Wolfgang: Ästhetik und Dichtung in Schillers Werk. In: ders.: Aufschlüsse. Studien zur deutschen Literatur. Zürich / München 1976, S. 219– 241, hier S. 232f.
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rationalen Rezeptionsstruktur im Menschen selbst, die als stärkere Beachtung der Sinne spätestens von Alexander Gottlieb Baumgarten systematisch thematisiert wurde.7 Viele Autoren des 18. Jahrhunderts setzen sich mit den schier undurchschaubaren Zusammenhängen, in denen der Mensch zu stehen scheint, auseinander. Sie suchen die Vielfalt der Einflussfaktoren zu erklären, ihre Folgen für die meist allerdings außerphilosophisch formulierte Erkenntnistheorie zu formulieren oder durch den Entwurf alternativer gnoseologischer Modelle zu mindern. Johann Gottfried Herders Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit spiegeln die multiple Perspektivierung in der Struktur des Textes, die sich vom Kosmos auf die Erde und den Menschen in seiner Verbindung mit Natur, Botanik und Tierwelt räumlich zubewegt und gleichzeitig in historischer Perspektive durch die Zeiten führt.8 Die unüberschaubaren Folgen der anthropologischen Konditioniertheit des Menschen werden auch literarisch verarbeitet: Johann Karl Wezel etwa, dessen eigene Anthropologie die wechselseitige Verbindung der Einflussfaktoren zu beschreiben sucht, spielt in Belphegor literarisch mit den Folgen der Konditioniertheit für die aufklärerischen Fragen der Urteilsbildung und Vorurteilsvermeidung.9 Bloß wahrscheinliche Urteile treten an die Stelle von gewissen. Auch Schiller nimmt an, dass die Schwierigkeit des Menschen, verlässliche Urteile zu fällen und Entscheidungen zu treffen, anthropologisch bedingt ist. Sie kann auf die Differenz von idealer und realer Bestimmung des Menschen zurückgeführt werden, die Schiller schon in seiner Dissertation Philosophie der Physiologie kennt. Der Mensch ist dem Streben nach Erkenntnis verpflichtet, das das Netz von natürlichen Bezügen und Wirkungen in Hinblick auf einen ihm unterliegenden göttlichen „Sinn“ ordnen soll. Den Vorgang, der durch die göttliche Kraft den Plan zur Wirklichkeit umformte, soll der Mensch idealerweise nachvollziehen: So wie es (das Universum, R.G.) izt durch den allmächtigen Einfluß der göttlichen Kraft aus dem Entwurfe zur Wirklichkeit hinrann, und alle Kräfte wirken, und in einander wirken, gleich Saiten eines Instruments tausendstimmig zusammenlautend
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Vgl. Proß, Wolfgang: Herder und die Anthropologie der Aufklärung. In: Johann Gottfried Herder. Werke. Bd.II. Herder und die Anthropologie der Aufklärung. Hg. von W. Proß. München 1987, S. 1128–1216, hier S. 1130. Vgl. Garber, Jörn: Selbstreferenz und Objektivität: Organisationsmodelle von Menschheits- und Weltgeschichte in der deutschen Spätaufklärung. In: Wissenschaft als kulturelle Praxis, 1750–1900. Hg. von Hans Erich Bödeker / Peter Hanns Reill / Jürgen Schlumbohm. Göttingen 1999, 137–185, hier S. 175. Vgl. Beetz, Manfred: Aporien der Aufklärung. Wezels Diskussion von Vorurteilen in seiner Anthropologie und in Belphegor. In: Wezel-Jahrbuch 8 (2005), S. 9–41; Heinz, Jutta: Wissen vom Menschen und Erzählen vom Einzelfall. Untersuchungen zum anthropologischen Roman der Spätaufklärung. Berlin / New York 1996, S. 37.
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in eine Melodie: so soll der Geist des Menschen, mit Kräften der Gottheit geadelt, aus den einzelnen Wirkungen Ursach und Absicht, aus dem Zusammenhang der Ursachen und Absichten all den großen Plan des Ganzen entdecken, [...].10
Die Bestimmung des Menschen zielt nach Schiller auf die stete Annäherung an die göttliche Weltordnung: „der Mensch ist da, daß er nachringe der Größe seines Schöpfers, mit eben dem Blick umfasse die Welt, wie der Schöpfer sie umfaßt – Gottgleichheit ist die Bestimmung des Menschen.“11 Der Mensch bleibt aufgefordert nach Wissen zu streben. Bereits in seiner ersten medizinischen Dissertation thematisiert Schiller auch die Schwierigkeit, angesichts der Vielfalt der Wirkungen und der Begrenztheit menschlicher Erkenntniskräfte zu verlässlicher, wahrer Erkenntnis zu gelangen: „Wann der Mensch das ganze aus dem einzelnen hervorfinden soll, so muß er jede einzelne Wirkung empfinden. Die Welt muß auf ihn wirken. Diese ist nun teils außer ihm, teils in ihm.“12 Zu den Bedingungen menschlicher Erkenntnis gehört auch das, was „in den innern Labyrinthen meines eigenen Wesens vorgeht“.13 Die Natur schließt die Konstitution des Menschen mit ein. Gerade als Ganze erfordert und erschwert sie Erkenntnis. Dies bleibt eine der wesentlichen anthropologischen Grundannahmen Schillers. Noch in Über das Erhabene konstatiert Schiller, zur Natur müssten „alle Affekte im Menschen gezählt werden“.14 Wahrheiten sind, seien sie noch so überzeugend rational gewonnen, auf die Vermittlungsleistung der Begehrungs- und Empfindungsvermögen angewiesen: „Wenn die Wahrheit im Streit mit Kräften den Sieg erhalten soll, so muß sie selbst erst zur Kraft werden, [...].“15 Wird aber jene Affektstruktur des Menschen in die ‚Natur‘ integriert, so zählt sie auch zu den Bedingungen seines Erkennens, Urteilens und Handelns als Mensch. Die Handlungen des Menschen werden ganzheitlich von der Natur bestimmt und nicht von einer rein intelligiblen Freiheit.16
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Schiller, Friedrich: Philosophie der Physiologie. In: ders.: Werke und Briefe in zwölf Bänden. Bd. 8. Theoretische Schriften. Hg. von Rolf-Peter Janz u.a.. Frankfurt/M. 1992, S. 37–58, hier S. 37 (im Folgenden: DKV 8). Vgl. Riedel, Wolfgang: Die Anthropologie des jungen Schiller. Zur Ideengeschichte der medizinischen Schriften und der ‚Philosophischen Briefe‘. Würzburg 1985, S. 67f. Schiller: Philosophie der Physiologie, S. 37. Ebd., S. 39. Ebd. Schiller, Friedrich: Über das Erhabene. In: DKV 8, S. 822–840, hier S. 835. Schiller, Friedrich: Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen. In: DKV 8, S. 556–676, hier S. 580. Vgl. Hofmann, Michael: Die unaufhebbare Ambivalenz historischer Praxis und die Poetik des Erhabenen in Friedrich Schillers ‚Wallenstein’-Trilogie. In: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 43 (1999), S. 241–265, hier S. 246.
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Die Geschichte von Schillers Antwortversuchen auf die Frage, wie menschliches Erkennen möglich sei, zeugt davon, dass Schiller kontinuierlich nach Antworten auf die Frage nach den Grenzen menschlicher Erkenntnis sucht, nach Handlungs- und Erkenntnismöglichkeiten für den Menschen in diesem „Chaos“, diesem „Gedränge von Erscheinungen“, die „für den Verstand, der sich an diese Verbindungsform (von Äußerem und Innerem, R.G.) halten muß, übersteigend und unbrauchbar werden“.17 Zur Bewältigung des Naturzusammenhangs reicht die Ratio nicht aus. Der Mensch empfängt indes nicht nur passiv Informationen, die er beurteilen muss. Er selbst ist auch Teil des Zusammenhangs der Erscheinungen.18 Dass der Mensch durch den sinnlichen „Sachtrieb“ beeinflusst ist, wie Schiller in den Briefen über die ästhetische Erziehung darstellt, bedeutet nicht nur, dass er auf seine Ratio alleine nicht vertrauen kann, sondern es hat auch zur Folge, dass er bei Entscheidungen, die er im realen Leben zu fällen genötigt ist, zusätzlich zur Komplexität der äußeren Umstände auch mit der inneren menschlichen Struktur und mit den gegenseitigen Wirkungen rechnen muss. Die psychophysische und die rational-sinnliche Dualität des Menschen sind also in ihrer je spezifischen, dynamischen Konstellation sowohl Kennzeichen des Charakters als auch unvermeidliche Bedingungen und Mittel des Erkenntnisprozesses. Während Sach- und Formtrieb menschliche Entscheidungs- und Handlungsfreiheit begrenzen, wirkt, so zumindest Schillers theoretisch-ästhetisches Konzept der 1790er Jahre, der Spieltrieb als Möglichkeit, den Menschen in Freiheit zu setzen, die „Zufälligkeit“ aufzuheben.19 Die Wirksamkeit nach außen gleicht also die Begrenztheit anthropologisch notwendig aus. In der strukturellen Verfasstheit des Menschen ist damit nicht nur die Bedingtheit durch anthropologische Konditionen von außerhalb und innerhalb angelegt, sondern auch die Option, mit diesen Konditioniertheiten umzugehen. Diese führt nicht notwendigerweise zu Freiheit und Rationalität, aber sie lässt den Menschen auch nicht „ohnmächtig“20 dem Konflikt von Naturkräften unterliegen. Obwohl Teil dieses Zusammenhangs, ist es das Eigene des Menschen, dennoch Handlungsmöglichkeiten entwickeln zu können. Freie Handlungen aber erfordern Urteile und Entscheidungen. Doch ist bei diesen keine gewisse rationale Wahrheit erreichbar. Urteilsbildung und Entscheidungsfindung sind dem Menschen nur sub specie anthropologiae möglich. Einerseits zeichnet der Mensch sich also als Mensch durch die Möglichkeit des Wollens aus: „Alle andere Dinge müssen; der Mensch ist das Wesen, welches will. Eben deswegen ist des Menschen nichts so unwürdig, als
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Schiller: Über das Erhabene, S. 833f. Vgl. Riedel: Anthropologie. Vgl. Schiller: Ästhetische Erziehung, S. 604ff., 608f. So Barone, Paul: Schiller und die Tradition des Erhabenen. Berlin 2004, S. 251.
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Gewalt zu erleiden, denn Gewalt hebt ihn auf.“21 Andererseits aber ist die Willensfreiheit dialektisch durch die spezifisch auf ihn als Menschen wirkenden Bedingungen der Natur begrenzt: „Umgeben von zahllosen Kräften, die alle ihm überlegen sind, und den Meister über ihn spielen, macht er durch seine Natur Anspruch, von keiner Gewalt zu erleiden.“22 Im weiteren Verlauf der Schrift Über das Erhabene entwirft Schiller Handlungsoptionen, die sich für den Menschen aus dieser Dualität von Willen und Bedingtheit (die Schiller „Gewalt“ nennt) ergeben. Der Mensch könne hierauf realistisch reagieren, wenn er angesichts seiner Einbindung in die Natur ihrer Herr werden wolle, oder idealistisch, indem er aus der Natur heraustrete, sich der Gewalt freiwillig unterwerfe und so den Begriff der Gewalt vernichte.23 Doch dieser vermeintliche Ausweg führt keineswegs aus dem skeptizistischen Dilemma der aufklärerischen Anthropologie hinaus. „Wollen“ alleine genügt nicht. Denn das Wollen, das für die Freiwilligkeit notwendig ist, ist an dieselben anthropologischen Voraussetzungen geknüpft, durch die die Natur insgesamt beschränkend wirkt. Der menschliche Wille ist nicht wirkungsvoller als eine der anderen Bedingungen des Entscheidungsprozesses. In der Realität ist er kein Ausweg mehr.24 Das genuin menschliche Entscheidungsproblem kann also kaum verkürzend auf die idealistische Perspektive eines den Charakter bestimmenden Konflikts zwischen Freiheit und Notwendigkeit zugespitzt werden.25 Es geht vielmehr um die anthropologisch konditionierte Ambivalenz von Willen, Freiheit und Bedingtheit im konkreten Fall, den Schiller selbst von der absoluten Freiheit des Willens und vom moralischen Vermögen überhaupt unterscheidet.26 Unabhängig davon, dass Schiller dieses commercium naturae in der Karlsschulzeit tendenziell eher material betrachtet, wenn er davon ausgeht, dass Wahrnehmungen auch die Gestalt des Geistes verändern,27 und dass sich diese
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Schiller: Über das Erhabene, S. 822. Ebd. Vgl. ebd., S. 823f. Barones Argumentation, Wallenstein fehle es an Willenskraft, frei seiner Macht zu entsagen, überzeugt daher kaum. Die Willenskraft selbst ist konditioniert. Vgl. Barone: Schiller, S. 241. Vgl. Schmidt, Jochen: Freiheit und Notwendigkeit. Wallenstein. In: Schiller. WerkInterpretationen. Hg. von Günter Sasse. Heidelberg 2005, S. 85–104. Die Dichotomisierung in Hinblick auf Wallensteins Charakter geht in der Literaturwissenschaft zurück bis mindestens auf Petsch, Robert: Freiheit und Notwendigkeit in Schillers Dramen. München 1905. Vgl. Schiller, Friedrich: Über das Pathetische. In: DKV 8, S. 423–451, hier S. 441f. Vgl. Schiller: Philosophie der Physiologie, S. 58: „Ich sehe den Sonnen-Himmel, den Sternen-Himmel, ich sehe einen verwirrten Haufen Steine. [...] In allen diesen
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Vorstellungen im Zuge von Schillers Kritik des Materialismus ändern,28 bleibt doch entscheidend, dass in Schillers ganzheitlicher Ästhetik und Anthropologie äußere Veränderungen innerpsychische beeinflussen, gelegentlich gar bedingen und dass diese Vorstellungen sich auf die Konzeption menschlichen Urteilens und Verhaltens auswirken. Kontextualisiert man Schillers Wallenstein-Trilogie in der Anthropologie des 18. Jahrhunderts, so kann das Drama als literarische Reflexion von Modernisierungstendenzen verstanden werden,29 als Thematisierung der Schwierigkeiten der Aufklärung. In Wallenstein denkt Schiller die aufklärerischen Probleme der Kontingenz und Probabilität von Urteils- und Entscheidungsprozessen angesichts der Bestimmung (aber nicht Determination) des Menschen durch innere wie äußere Umstände zu Ende. Er radikalisiert aber auch den letztlich auf Kant zurückführenden Gedanken, dass dennoch nur die selbsttätige Aktivierung des handelnden Menschen am Leitfaden einer Verfahrensvorschrift als Ausweg für den Menschen in concreto verbleibt. Derartige Prozesse führt Schiller in Wallenstein vor: Die Entscheidungsfindung insbesondere des Protagonisten wird sowohl durch die innere Welt (Wünsche, Ziele, Charakterzüge) als auch durch die äußere Welt (Fakten, Erwartungen anderer, Spiegelungen, Ereignisse, Umstände) erschwert.30 Dennoch sucht er stetig Wege aus diesem Dilemma. Man verkürzte die Analyse und Interpretation von Schillers Wallenstein, fokussierte man sie auf die Frage des Charakters des Protagonisten. Folgt man Schillers Äußerungen, ist der Charakter einer Dramenfigur weder eine autonome Größe noch alleine entscheidend für die Rezeption des Stückes. Zwar weisen Goethe und Schiller in ihrer Rezension der Piccolomini ausdrücklich auf die Bedeutung des Charakters hin, doch insbesondere unter dem Aspekt der Umformung von Geschichte in Dichtung betonen sie, dass es sich um eine Literarisierung handelt: „so verdienen die Mittel, deren sich der Dichter hierzu (zur Verwandlung der historischen Figur in eine poetische, R.G.)
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Verwandlungen meines Zustands ist etwas allgemeines, die Vorstellung eines äußern Gegenstandes.“ Vgl. Riedel: Anthropologie, S. 154f. Vgl. Hofmann: Ambivalenz, S. 241f. Die Figurenperspektiven zielen nicht nur auf eine Dramaturgie des Publikums, sondern sie bilden innerhalb des Dramas auch Aspekte von Wallensteins Entscheidungssituation. Sie komplizieren seine Weltwahrnehmung. Ein nicht unbeträchtlicher Faktor seiner Entscheidungen ist das Wohlwollen der anderen. Er scheint Theklas Schmeicheleien tatsächlich zu goutieren: vgl. Piccolomini 739ff. Alle Zitate aus der Trilogie stammen aus: Schillers Werke. Nationalausgabe. Bd. 8. Wallenstein. Hg. von Hermann Schneider und Lieselotte Blumenthal. Weimar 1949, jeweils mit Angabe des Teiles und der Verse, bei Varianten mit dem Kürzel NA 8 und der Seitenzahl.
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bedient, vorzüglich unsere Aufmerksamkeit.“31 Diese „Mittel“ heroisieren den Titelhelden nicht, sie führen noch nicht einmal zur idealistisch gerade noch erträglichen Darstellung als autark handelnd Scheiternder. Gezeigt wird vielmehr ein Wallenstein, der den Gesetzen allgemein-menschlichen Handelns entsprechen soll. Schiller führt „den Menschen in des Lebens Drang“ vor Augen.32 Er zeigt sein Handeln im Rahmen der Umstände, seine Handlungsmöglichkeiten und deren Grenzen, aber nicht eine statische Konstruktion, die einem Ideal gerecht werden müsste. Der Wallenstein des Dramas ist nicht der historische Wallenstein. Er ist aber auch kein positiver Held. Der Wallenstein der Trilogie steht aber insofern nahe an der Realität menschlichen Handelns, als er gleich einer Folie menschliche Handlungsmöglichkeiten und -grenzen vor Augen führt. Schiller betont bereits im Prolog die Diskrepanz von Historie und Dichtung: Ihr kennet ihn – den Schöpfer kühner Heere, Des Lagers Abgott und der Länder Geißel […] Von der Parteien Gunst und Haß verwirrt Schwankt sein Charakterbild in der Geschichte, Doch euren Augen soll ihn jetzt die Kunst, Auch eurem Herzen, menschlich näher bringen.33
Schiller bezieht sich auf das Vorwissen des Publikums über Wallenstein. Er erinnert den Zuschauer an die historische Konstellation, an einen der Protagonisten des 30-jährigen Krieges. Ausdrücklich betont er die Differenz, eine Differenz, die sich nicht rein formal daraus erklären ließe, dass ein auf wenige Stunden Aufführungszeit konzentriertes Schauspiel von der Geschichte notwendig abweichen muss und dass es auch andere Formen als die Geschichtsschreibung erfordert. Die Differenz resultiert aus der Problemlage, die sich im Laufe der Produktion des Wallenstein herausbildet, verändert, klärt oder die auch – in Teilen – vielleicht für Schiller nicht befriedigend gelöst wird.34
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Goethe, Johann Wolfgang Goethe und Schiller, Friedrich: Die Piccolomini. Wallensteins erster Teil. Ein Schauspiel in fünf Akten von Schiller. In: J.W.G.: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Münchner Ausgabe. Bd. 6.2. Weimarer Klassik. 1798–1806. 2. Hg. von Victor Lange u.a.. München 1989, S. 670–691, hier S. 670. Prolog 108. Hervorhebung R.G. Prolog 94f., 102–105. Mit knapp zweijährigem Abstand schreibt Schiller an Körner: „In meiner jetzigen Klarheit über mich selbst und über die Kunst die ich treibe, hätte ich den Wallenstein nicht gewählt.“ Schiller an Körner am 13.5.1801. In: Schillers Werke. Nationalausgabe. Bd. 31. Briefwechsel. Schillers Briefe. 1.1.1801–31.12.1802. Hg. von Stefan Ormanns. Weimar 1985, S. 25.
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Das Drama ist nicht Schillers Geschichte des dreissigjährigen Krieges auf die Bühne gebracht; auch lässt sich kein „Ur“-Wallenstein nachweisen, wie noch Teile der älteren Forschung annahmen.35 In zweierlei Hinsicht wird das Geschichtswerk dennoch auch für die Frage der Figurengestaltung im Drama wichtig. Erstens: In Schillers historiographischer Darstellung trägt Wallenstein gegen Ende bereits ambivalente Züge, die für Freunde wie Gegner – und letztlich auch für die Rezipienten des Buches – nicht mehr eindeutig durchschaubar sind. Zweitens: Schiller kennt dank seiner Geschichtsstudien (die im Zuge der Arbeit am Drama wieder aufgenommen und noch intensiviert werden) recht genau die historischen Umstände, soweit sie damals verfügbar waren. Aus der Menge von Begebenheiten, Anekdoten, Hintergrundwissen, historisch Gesichertem und Ungesichertem kann er auswählen, was er für das Drama verwenden, neu anordnen, zuspitzen und zur Darstellung bringen möchte. Wenn Schiller sich Detailwissen über die historischen Umstände erarbeitet, so dient dies nicht nur dazu, historisches Wissen anzureichern. Es bietet ihm auch einen Einblick in „der Parteien Gunst und Haß“36, in die Menge der Perspektiven auf Wallenstein und in die Umstände, die Wallensteins Urteile und Handeln hätten bestimmt haben können. Gegenüber dem ‚historischen‘ Wissen der Zuschauer deutet Schiller schon im Prolog einen gewichtigen Einwand an: Ein solches Wissen ist nicht immer zuverlässig zu haben; die „wahre“ Meinung über eine historische Person ist manches Mal angesichts ‚schwankender Charakterbilder‘ schwierig zu finden. Im Prolog bereits wird am Beispiel des Unterschiedes von historischer und dramatischer Figur die Grundproblematik auch der Bühnenfigur Wallenstein thematisiert. So wie es schwierig, gelegentlich fast unmöglich erscheint, verlässliche und wahre Urteile über historische Fakten zu fällen, so ist auch Urteilsbildung schlechthin problematisch. „Gunst“ und „Haß“, anthropologisch verankerte Affekte, nicht rationales Abwägen bestimmen die Urteile. Schiller markiert explizit diese Abweichung von der Darstellung des historischen Wallenstein. Er spricht die affektive Wahrnehmung der Zuschauer an und verbindet diese mit dem Gedanken der Poetisierung: „Doch euren Augen soll ihn jetzt die Kunst, / Auch eurem Herzen, menschlich näher bringen.“37 Die Darstellung zielt also auf Urteile des Herzens, der Emotion. Zum Zentralbegriff für Schillers anthropologische Ästhetik und für die konkrete Dramenproduktion wird die „poetische Wahrheit“. Sie wird von Schiller beschrieben als Übereinstimmung der Handlung mit der Natur der menschlichen Seele, mit den emotionalen und kognitiven Faktoren, die die Wahrnehmung bestimmen.
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Vgl. einschlägig Buchwald, Reinhard: Schiller. 2. Bd. Der Weg zur Vollendung, Wiesbaden 21954; Hartmann, Horst: Wallenstein. Geschichte und Dichtung. Berlin 1969. Prolog 102. Prolog 104f.
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Die Tragödie „erhält Macht, ja Verbindlichkeit, die historische Wahrheit den Gesetzen der Dichtkunst unter zu ordnen, [...].“38 Sie folgt nur der Natur- oder poetischen Wahrheit. Diese, so zeigt Klaus L. Berghahn, setzt die Selektion, Reorganisation und Konzentration der historischen Fakten voraus.39 Das historische Geschehen, das den „Stoff“ ausmacht, muss geändert werden, wenn es auf der Bühne gezeigt werden soll, wenn es zum „Inhalt“ eines Stückes wird. Es soll gezeigt werden, wie und warum Menschen handeln, auch wie sie handeln sollten, aber nicht, wie sie wirklich historisch gehandelt haben. Hierzu werden Mittel der Affektsteuerung eingesetzt. Abweichend von der historischen zielt die ‚natürliche‘ Wahrheit nicht auf die rationale Erfassbarkeit einer historisch wahren Geschichte, sondern auf die affektiv erfahrbare „poetische Wahrheit“. Poesie macht es möglich, menschliches Handeln mitzufühlen und damit zu ‚verstehen‘. Von dieser „poetischen Wahrheit“ muss die Rezeption des Zuschauers ausgehen. Sie soll den Zuschauer menschlich ergreifen.40 Zwar kann eine poetische Darstellung mit der „Wirklichkeit“ niemals koinzidieren, aber in ihr liegt alles Poetische, liegen die Wirkungs- und die Darstellungsmöglichkeiten der Poesie. Der Anspruch auf sinnvolles menschliches Handeln kann angesichts der Reflexion des vernunftwidrigen Geschichtsprozesses nur durch die „poetische Formung des Materials“ aufrechterhalten werden.41 Gerade in der Dialektik von anthropologischer Konditioniertheit und anthropologisch verankertem Freiheitsstreben gewährt die Poetisierung des Stoffes, die „Heiterkeit“ der Kunst, einen Ausweg für den Rezipienten. Die Muse ist es, die „das düstre Bild / Der Wahrheit in das heitre Reich der Kunst / Hinüberspielt [...].“42 Kunst erfordert eine spezielle, ästhetische Art der Wahrnehmung, einen anderen Blick auf die Wirklichkeit, ein Spielen mit den Möglichkeiten. Dies ist die einzig angemessene Art der Darstellung des Menschen und die einzig angemessene Art der Wahrnehmung durch den Menschen. Denn nur sie verbindet ganzheitlich kognitive und affektive Elemente.
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Schiller, Friedrich: Über die tragische Kunst. In: Schillers Werke. Nationalausgabe. Bd. 20. Philosophische Schriften. 1. Teil. Unter Mitwirkung von Helmut Koopmann hg. von Benno von Wiese. Weimar 1962, S. 148–170, hier S. 166f. (im Folgenden NA 20). Vgl. hierzu auch Ranke, Wolfgang: Dichtung unter Bedingungen der Reflexion. Interpretationen zu Schillers philosophischer Poetik und ihren Auswirkungen im ‚Wallenstein‘. Würzburg 1990, S. 154ff. Vgl. Berghahn, Klaus L.: ‚Das Pathetischerhabene‘. Schillers Dramentheorie. In: Deutsche Dramentheorien. Beiträge zu einer historischen Poetik des Dramas in Deutschland. Hg. von Reinhold Grimm. Bd. I, Frankfurt/M. 1971, S. 214–244, hier S. 233ff. Vgl. Godel: Wallenstein, S. 227. Vgl. Hofmann: Ambivalenz, S. 248. Prolog 133ff.
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Man würde zu kurz greifen, nähme man an, dass Schiller schon zu Beginn seiner Arbeit an Wallenstein die ästhetisch-anthropologischen Prämissen, die später in die Form des Prologs gegossen werden sollten, präsent hatte und Dichtung nur als Umsetzung der theoretischen Ästhetik zu greifen wäre. 1796 klingt Schiller deutlich skeptischer bezüglich der Frage, ob ein Wallenstein, wie er ihn imaginieren konnte, als Held eines Dramas in Frage kommt: „Er (Wallenstein, R.G.) hat nichts Edles, er erscheint in keinem einzelnen LebensAkt groß, er hat wenig Würde und dergleichen. [...] Er berechnet alles auf die Wirkung, und diese mißlingt.“43 Wallenstein scheint ein „ächt realistischer Charakter“.44 Schiller sieht Wallenstein hier als Pragmatiker, der sich an den „realen“ Begebenheiten orientiert, an dem, was möglich ist. Seine Relation zur Außenwelt ist bestimmt durch die Annahme, die Welt könne „berechnet“, rational erklärt werden. Diese Berechnung zielt auf die „Wirkung“, also auf die vom Handelnden in Richtung auf die Umwelt führende Perspektive. Damit aber wäre die innere Überzeugung des Charakters anthropologisch gleich doppelt unvollständig: nicht nur, dass er die Grenzen der Rationalität verkennt im rechnerisch-logischen Bestreben, die Umstände zu beherrschen, nein, er verkennt auch die Wechselwirkung von eigenem Wollen und den Möglichkeiten, die die anthropologische Eingebundenheit in die Umstände überhaupt bietet. Ein eindeutiges Ideal kann der Wallenstein dieser frühen Konzeptionsphase des Dramas nicht vorweisen. Auch dies macht ihn für Schiller auf den ersten Blick wenig geeignet als Helden einer Tragödie. Die Problemlage Schillers umfasste ästhetische, poetologische, dramaturgische, theaterpraktische Probleme. Entscheidend für die Frage der Figurenzeichnung wird die sukzessive entwickelte Idee der Poetisierung, die es erlauben sollte, Wallenstein so zu gestalten, dass er die Dialektik von menschlicher Aktion und Reaktion, die Schwierigkeiten der Entscheidungsfindung im komplexen Gefüge anthropologischer Bedingtheiten, den „Menschen in des Lebens Drang“ verkörpern konnte.45
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Schiller an Wilhelm von Humboldt am 21.3.1796. In: Schillers Werke. Nationalausgabe. Bd. 28. Briefwechsel. Schillers Briefe. 1.7.1795–31.10.1796. Hg. von Norbert Oellers. Weimar 1969, S. 204. Ebd. Dieser „Realismus“ entspricht dem Funktionalismus aus Über naive und sentimentalische Dichtung. vgl. NA 20, S. 413–503, hier S. 492ff. Kennzeichen des Realisten ist funktionales Denken, das auf eigenständiges Ausloten der Handlungsmöglichkeiten gerichtet ist. Diese, nun im Folgenden knapp skizzierten Konzepte Schillers, resultieren im Wesentlichen aus der „Schaffenskrise“ während der Entstehung: vgl. Godel: Wallenstein, S. 205. Den Aspekt „Aktion und Reaktion“ betont bereits Sautermeister, Gert: Idyllik und Dramatik im Werk Friedrich Schillers. Zum geschichtlichen Ort seiner Dramen. Stuttgart u.a. 1971, S. 133ff.
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Schiller greift für die Konzipierung seines Dramas auf den Unterschied von „historischer und poetischer Wahrheit“ zurück, den er schon in Über die tragische Kunst entwickelt hatte. Das Entscheidende sei die Kunst, „eine poetische Fabel zu erfinden“, schreibt er an Goethe im April 1797; man dürfe „die tiefliegende Wahrheit“ nicht verlieren, „worin eigentlich alles Poetische liegt“.46 Von nun an steht das Schreiben im Zeichen des „Poetischen“.47 Die „poetisierte“ Handlung zeichnet sich dadurch aus, dass sie „durchgängig bestimmt“ ist.48 Anders als bei historischen Ereignissen unterliegt alles, was auf der Bühne dargestellt wird, dem poetischen Gesamtziel. Nicht die Charakterkonstitution des einzelnen Helden, nicht deren „moralischer Gehalt“ ist entscheidend, sondern die Verknüpfung der Begebenheiten,49 die „durchgängige Bestimmtheit“ der Handlung. Mit dieser Priorisierung der Handlung und der Verknüpfung des Geschehens distanziert sich Schiller von der ihm oft unterstellten Absicht, moralische Sentenzen auf der Bühne vorzuführen. Michael Hofmann ist in dieser Hinsicht zuzustimmen, wenn er konstatiert, dass es in der Trilogie primär nicht mehr um den Charakter und die Schuld Wallensteins geht, sondern um eine „Verknüpfung der Ereignisse, die den Feldherrn als schuldig erscheinen läßt und die ihm jegliche Freiheit des Handelns nimmt.“50 Es geht um menschliches Handeln, Handeln, wie es dem Menschen möglich ist. Dieses Handeln ist durch die Bedingungen seiner politischsozialen Umwelt geprägt, aber auch durch deren Wechselwirkung mit den rationalen wie nicht-rationalen Entscheidungsgründen des Individuums. Schillers Wallenstein ist ein Drama, in dem Menschen handeln, wie sie handeln können, nicht, wie sie handeln sollen.51
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Schiller an Goethe am 4.4.1797. In: Goethe, Johann Wolfgang. Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Münchner Ausgabe. Bd. 8.1. Briefwechsel zwischen Schiller und Goethe in den Jahren 1794 bis 1805. Hg. von Manfred Beetz. München 1990, S. 321 (im Folgenden: MA 8). Die Konzeption des Tragischen, die Schiller im Laufe der Produktion der Trilogie entwickelt, fügt sich in die Dualität äußerer und innerer Faktoren. Noch in Über die tragische Kunst betont er, dass der Zwang der Umstände das Unglück des Helden herbeiführen müsse, um eine tragische Wirkung zu erzielen. Erst im Zuge seiner Rezeption des Herderschen Schicksalsbegriffes kann Schiller die Tragiktheorie mit der Dramenpraxis versöhnen. Denn Herders Konzept ermöglicht es, das „Schicksal“ mit der anthropologischen Einsicht zu verbinden, dass zu den Umständen gleichzeitig die äußere Welt und die inneren Faktoren gehören. Vgl. Godel: Wallenstein, S. 276ff. Schiller an Goethe am 18.4.1797. In: MA 8, S. 330. Vgl. Schiller an Körner am 13.5.1800. In: Schillers Werke. Nationalausgabe. Bd. 30. Briefwechsel. Schillers Briefe. 1.11.1798–31.12.1800. Hg. von Lieselotte Blumenthal. Weimar 1961, S. 172; Barone: Schiller, S. 215ff. Hofmann: Ambivalenz, S. 251. Das Politische exemplifiziert die Wirkungskraft des Äußeren auf den Menschen. Vgl. zur Verschmelzung der Bereiche des Politischen und Menschlichen Borchmey-
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Dieses Handeln-Können zielt auf Rezipientenebene auf die „Totalität“ der menschlichen Natur. Aufgabe der Kunst ist es, so führt Schiller in Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen aus, die menschliche Totalität beim Rezipienten wieder herzustellen.52 Diese rezeptionsästhetische Perspektive schließt aber auch ein, dass das, was auf dem Theater dargestellt wird, mit der „Natur der menschlichen Seele“ übereinstimmen muss, mit den Gefühlen und Gedanken, die menschliches Handeln und den menschlichen Charakter ausmachen. Der Spieltrieb, eine moralische und physische ‚Nötigung‘ des Gemüts, vermag Form in die Materie und Realität in die Form zu bringen und so die Kontingenzen in der Übereinstimmung mit der Natur aufzuheben.53 Das „Poetische“ ist ein Konzept mit vielen Facetten, das entschieden auf die anthropologischen Konditionierungen der Ästhetik zurückgeht. Poetisierung meint die poetische Umsetzung einer „Idee“, eine Idealisierung. Diese ist nicht mit Veredelung oder Verbesserung des Menschen gleichzusetzen. Sie entspricht vielmehr, wie Norbert Oellers gezeigt hat, der Darstellung eines „Allgemeinen im Besonderen“.54 Im Drama sollen allgemeine Wahrheiten am konkreten Beispiel dargestellt werden. Das „Allgemeine“ soll sichtbar werden, wenn das „Besondere“ „lebendig“ gefasst wird.55 Entstehen soll eine erkennbare Kunstwelt, die Elemente der allgemeinen Wahrheit verdeutlicht. Doch um welche Wahrheit kann es sich dabei handeln? Eine rational verifizierte Wahrheit ist dem Menschen, wie gesehen, nicht verfügbar; es bleibt die Naturwahrheit, die dem Menschen im Zusammenhang seiner anthropologischen Konditionen zukommt und auf die der Freiheitswille sich richten kann. Diese Zusammenhänge greift Schiller bereits im Prolog auf. In ihm wird deutlich, dass die Darstellung auf dem Theater über die Realität der Lebenssituation der Rezipienten hinausgeht, dass es um andere, allgemeinere Wahrheiten gehen soll. Aus „des Bürgerlebens engem Kreis“ sollen die Zuschauer auf
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er, Dieter: Tragödie und Öffentlichkeit. Schillers Dramaturgie im Zusammenhang seiner ästhetisch-politischen Theorie und die rhetorische Tradition. München 1973, S. 91. Vgl. Schiller: Ästhetische Erziehung, S. 578. Vgl. ebd., S. 608ff. Vgl. Oellers, Norbert: Arrangement von Einfällen. Etwas über Schillers Weise zu dichten. In: Die Genese literarischer Texte. Modelle und Analysen. Hg. von Axel Gellhaus u.a.. Würzburg 1994, S. 43–56, hier S. 45; Schiller, Friedrich: Zu Gottfried Körners Aufsatz über Charakterdarstellung in der Musik. In: Schillers Werke. Nationalausgabe. Bd. 22. Vermischte Schriften. Hg. von Herbert Meyer. Weimar 1958, S. 293–295, hier S. 293. Vgl. Schiller: Über naive und sentimentalische Dichtung, S. 462; Goethe, Johann Wolfgang: Maximen und Reflexionen. In: J. W. Goethe. Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Münchner Ausgabe. Bd. 17. Hg. von Gonthier-Louis Fink / Gerhart Baumann / Johannes John. München 1991, S. 767.
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den „höhern Schauplatz“ versetzt werden.56 Die Kunst muss „höhern Flug versuchen“, allgemeingültigere Aussagen treffen, um nicht hinter der lebendigen Erfahrung des Lebens, „des Lebens Bühne“, zurückzubleiben.57 Denn der konkrete Einzelfall der Erfahrung jedes einzelnen Menschen – und jedes einzelnen Rezipienten – darf im Theater nicht bloß wiederholt werden. An seine Stelle muss die Aussprache einer anderen, allgemeinen Wahrheit treten. Diese aber ist nicht grundsätzlich verschieden von der Erfahrung des Einzelnen. Sie formuliert sie auf einer „höheren“ Ebene neu. Dem liegt ein Prozess der Abstraktion zu Grunde, der die Natur des Menschen darstellbar macht, welche aber in der Erfahrung des einzelnen Menschen wiedererkennbar sein soll. Die Naturwahrheit ist die erreichbare Wahrheit für den Menschen. Sie zu erlangen ist das Ziel der Darstellung. Der Mensch kann nur handeln innerhalb der natürlichen Umstände, die ihn bestimmen. Denn jedes Äußerste führt sie (die Kunst, R.G.), die alles Begrenzt und bindet, zur Natur zurück, Sie sieht den Menschen in des Lebens Drang Und wälzt die größre Hälfte seiner Schuld Den unglückseligen Gestirnen zu.58
Handlungen des Menschen sind also nicht nur von seinem Charakter oder von seiner Moral abhängig, sondern auch von den Umständen der Natur. In Hinblick auf diesen Zusammenhang kann auch die astrologische Motivik in Wallenstein interpretiert werden.59 Wallensteins Glaube an die Sterne kann als Symbol verstanden werden für die anthropologische Tatsache, dass der Mensch vielfältigen Faktoren unterworfen ist, die er nicht alle kennen und beherrschen kann und die er doch lesen, interpretieren können müsste, um entscheiden zu können, ob und wie er handeln soll. In der in der Weimarer Handschrift überlieferten Variante zur Astrologie-Szene wird dieses „Lesen“ und „Interpretieren“ thematisiert: „Wallenstein: Wer mir das nach der Wahrheit lesen könnte. / Seni: Es ist gelesen, Herr.“ 60 Symbole erfordern hermeneutische Auslegungskunst, um die allgemeinere poetische Wahrheit, „das
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Prolog 53f. Prolog 68f. Prolog 106ff. Vgl. Borchmeyer: Macht und Melancholie, S. 27 et passim. Höyng weist zu Recht darauf hin, dass auch die astrologischen Detailkenntnisse, die Schiller sich während der Arbeit an der Trilogie aneignete, für eine Interpretation des Dramas von Belang sind, jedenfalls dann, wenn die Interpretation über das Konstrukt eines geschlossenen, immanenten Textes hinausgehen soll. Vgl. Höyng, Peter: Die Sterne, die Zensur und das Vaterland. Geschichte und Theater im späten 18. Jahrhundert. Köln / Weimar / Wien 2003, S. 68f. NA 8, S. 467. Vgl. ausführlicher Borchmeyer: Macht und Melancholie, S. 37.
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allgemeine der Menschheit“, zu erkennen, das sich in ihnen darstellt und ausspricht.61 Dies ist also die grundlegende Funktion, die Schiller und Goethe Symbolen wie dem der Astrologie zuschreiben: Sie stellen auf Rezeptionsebene den Zusammenhang her zum Erkennen jenes Allgemeinen der Menschheit, jener poetischen Wahrheit, die der Mensch in Kunst erkennen kann. Schiller war zunächst skeptisch, ob er der ihm suspekten Astrologie eine „poetische Dignität“ geben könne, ob sie dem aufgeklärten Publikum nicht bloß lächerlich erscheinen würde.62 Goethe gelang es, Schiller von der Funktionalität des astrologischen Motivs im Drama zu überzeugen. Dabei nutzt er als Argumente zwei jener Grundideen, die auch Schillers anthropologische Basisannahmen prägten: die Idee, dass Erkennen nicht nur-rational vor sich gehen kann, sondern auch auf affektiv-ästhetische Kanäle, auf „dunkle Gefühle“, zurückgreift, und die Idee, dass die gesamte Natur einen unauflösbaren Zusammenhang gegenseitiger Wirkungen, ein „ungeheures Weltganzes“, darstellt, in das der Mensch eingeboren ist, das er aber nicht vollständig überschauen kann: Der astrologische Aberglaube ruht auf dem dunkeln Gefühl eines ungeheuren Weltganzen. Die Erfahrung spricht, daß die nächsten Gestirne einen entschiedenen Einfluß auf Witterung, Vegetation u.s.w. haben man darf nur stufenweise immer aufwärts steigen und es läßt sich nicht sagen, wo diese Wirkung aufhört. [...] Diesen und ähnlichen Wahn möchte ich nicht einmal Aberglauben nennen, er liegt unserer Natur so nahe, [...].63
Als Symbol der äußeren Welt, die auf den Menschen wirkt, verkörpert die Astrologie die allgemeinen Bedingtheiten der Menschheit, die anthropologische Verankerung des Menschen in einem Geflecht von Wirkungen. Das heißt jedoch nicht, dass Schillers Anthropologie einen unaufgeklärten Glauben an Astrologie konsequenterweise nach sich zöge. Die anthropologisch konstituierten Relationen erzeugen zwar eine unendliche Menge von Wirkungen, doch wären diese idealtypisch im aufklärerischen Sinne messbar oder gar empirisch quantifizierbar. Schiller glaubte nicht an die Sterne, und auch im Drama bleibt die Astrologie trügerisch.64 Doch als Symbol der durch Wechselwirkungen mit dem Menschen verbundenen äußeren Welt erhält sie eine poetische Funktion.
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Schiller an Goethe am 24.8.1798. In: MA 8, S. 609. Vgl. Schiller an Goethe am 7.4.1797. In: MA 8, S. 324; an dens. am 4.12.1798; ebd., S. 652. Goethe an Schiller am 8.12.1798. In: MA 8, S. 655. Vgl. hierzu ausführlich Borchmeyer: Macht und Melancholie.
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II. Auf der Basis dieser knappen Analyse von Schillers anthropologischer Ästhetik soll nun versucht werden, die Frage nach dem ‚Charakter‘ des Protagonisten neu zu beantworten. Meine These ist: Insofern Wallenstein gerade nicht als autonom handelnder Charakter verstanden werden kann, werden die Bedingtheiten allgemein menschlichen Urteilens, Entscheidens und Handelns sichtbar. Terzky kann Wallensteins Verhalten nicht erklären: Ich kann mich manchmal gar nicht in ihn finden. [...] Und mein ich nun, ich hab ihn – weg, auf einmal Entschlüpft er, und es scheint, als wär es ihm Um nichts zu tun, als nur am Platz zu bleiben.65
Wallensteins Handeln und Nicht-Handeln bedürfen, wie auch Octavio maßvoll bemerkt, der Deutung.66 Es muss interpretiert werden. Und es wird interpretiert – von den anderen Figuren des Dramas, von den Zuschauern, nicht zuletzt von Literaturwissenschaftlern. Doch trotz dieser geballten interpretatorischen Anstrengung scheint noch immer unklar, was denn Wallenstein ist: ein „revolutionärer Idealist“, ein verhinderter Friedensheld, ein „Machtstratege und Selbstbetrüger“, ein Verräter an der „guten, alten Ordnung“, ein reaktionärer Feudalherrscher, der seine Truppen und seine Familie tyrannisiert?67 „Alle scheinen im Moment, wenn sie reden, immer im Recht“, wie Terence J. Reed pointiert resümiert.68 Auch hier kann die Frage, was Wallensteins Motivationen sind, nicht letztgültig gelöst werden. Aber dies nicht ohne Grund: Der Prozess der Poetisierung, der im Laufe der Genese der Trilogie ins ästhetisch-anthropologische Zentrum rückt, erlaubt es nicht, die Ambivalenz des Charakters auf eine eindeutige Interpretation zuzuspitzen.69 Denn die allgemeine Konditioniertheit menschlichen Handelns durch eine Vielfalt von Bestimmungsfaktoren, die am konkreten Beispiel Wallenstein vor Augen geführt
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Piccolomini 1335, 1340–42. Vgl. Piccolomini 2537. Exemplarisch genannt für ein positives und ein negatives Wallenstein-Bild seien Müller-Seidel, Walter: Die Idee des neuen Lebens in Schillers ‚Wallenstein‘. In: ders.: Die Geschichtlichkeit der deutschen Klassik. Literatur und Denkformen um 1800. Stuttgart 1983, S. 127–139 und Wittkowski, Wolfgang: Octavio Piccolomini. Zur Schaffensweise des ‚Wallenstein‘-Dichters. In: Schiller. Zur Theorie und Praxis der Dramen. Hg. von Klaus L. Berghahn und Reinhold Grimm. Darmstadt 1972, S. 407–465. Überzeugender argumentiert m.E. Müller-Seidel. Vgl. zur Debatte auch Beetz: Widerstand, S. 214f. Reed: Schiller, S. 82. Vgl. Godel: Wallenstein, S. 260f.
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wird, kann nicht auf ein einzelnes Motiv oder Schlagwort reduziert werden. Vieldeutigkeit und Unklarheit des Charakters können beklagt werden. Gerade jene Vieldeutigkeit jedoch war notwendig, um zu demonstrieren, in welcher Vielfalt von Umständen, Wünschen und komplexen Problemen Entscheidungen von Menschen in einer realen Welt zustande kommen.70 Wallenstein ist ein Drama, das die Frage, wie der Mensch verantwortlich handeln kann, ästhetisch umsetzt. Es geht darum, auf Grund welch komplexer Zusammenhänge der Mensch im Spannungsfeld von Individuum, Moral, Gesellschaft und Natur zu Entscheidungen gelangt, wie aufwändig es ist, Gründe für Entscheidungen im Urteil abzuwägen, und wie schwierig es schließlich auch ist, diese Entscheidung in Handeln umzusetzen. „Ergib dich drein. Wir handeln, wie wir müssen.“71 entgegnet Wallenstein Max, als dieser ihn eindringlich nach seinen Absichten befragt. Wallenstein beruft sich auf eine Zwangslage, die ihm keine andere Wahl mehr lasse, auf das „Notwendige“, das „mit Würde, mit festem Schritte“ getan werden müsse.72 Die Argumente, die Max und Wallenstein hier austauschen, entsprechen bis in die Sprachgestaltung hinein der oben dargestellten anthropologischen Dualität von Willen und Bedingtheit, die Schiller in Über das Erhabene aufzeigt.73 Beide, der Feldherr und sein junger Vertrauter, unterliegen im Gespräch selbst der Wirkmacht der Affekte. Nicht alleine um rationale Argumente geht es mehr; beide berufen sich geradezu auffällig oft auf das „Herz“, die zentrale Metapher für eine emotionale Ergriffenheit, die nicht mehr der Steuerung durch die Ratio unterliegt.74 Was als Gespräch über eine vermeintlich rational erklärbare Entscheidungssituation beginnt – „So bleibts dabei, du
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Hinderer hat herausgearbeitet, dass Schiller in Wallenstein eine Darstellung der komplexen und rätselhaften Wirklichkeit in ihrer Komplexität und Wirklichkeit intendierte. Vgl. Hinderer, Walter: Wallenstein. In: Interpretationen. Schillers Dramen. Hg. v. W. Hinderer. Stuttgart 1992, S. 202–279, hier S. 273. Wallensteins Tod 833. Vgl. ebd. 834f. Die Frage, wann Über das Erhabene entstanden ist, soll hier nicht entschieden werden. Die Parallelen zur Wallenstein-Unterredung mit Max scheinen aber dafür zu sprechen, dass Schiller den Essay wenigstens nicht nach Wallenstein konzipiert hat. Vgl. zur Datierung Barone: Schiller, S. 112f. und Zelle, Carsten: Die Notstandsgesetzgebung im ästhetischen Staat. Anthropologische Aporien in Schillers philosophischen Schriften. In: Der ganze Mensch. Anthropologie und Literatur im 18. Jahrhundert. DFG-Symposion 1992. Hg. von Hans-Jürgen Schings. Stuttgart / Weimar 1994, S. 440–468, hier S. 463f. Vgl. Wallensteins Tod 698, 718, 722, 736. Hinzu kommen verwandte Metaphern sowie Beschreibungen von Emotionen wie Furcht und Hoffnung.
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willst das Heer verlassen?“75 –, endet als Auseinandergehen, das beide emotional tief ergreift, wie die Regieanweisung am Ende der Szene deutlich macht: „Max, der bisher in einem schmerzvollen Kampfe gestanden, geht schnell ab. Wallenstein sieht ihm verwundert und betroffen nach, und steht in tiefe Gedanken verloren.“76 Beide also, Wallenstein wie Max, unterliegen in dieser Situation, in der der eine eine Entscheidung treffen, der andere eine begründen muss, der anthropologischen Konditionierung. Rein rationales Überlegen und Urteilen ist in dieser Situation nicht möglich. Denn „das Exempel“ ist nicht „rein zu lösen“; das „Rechte“ kann nicht „leicht“ ergriffen und das „eigne Urteil“ kann nicht prüfend ausgeübt werden.77 Mit diesen Attributen charakterisiert Wallenstein die ideale Entscheidungssituation, die auf „[d]er Jugend glückliches Gefühl“78 zurückgreifen kann, eine Situation, in der kein rationales Urteil gefällt wird, sondern in der man affektiven und doch wahren Vorurteilen vertrauen kann. Doch eine solche Situation liegt hier, folgt man Wallensteins Argumentation, nicht vor: Hier kann das „Herz“ sich nicht mehr „ganz“ zurückbringen, hier musste eine Entscheidung getroffen werden, die die Wahlfreiheit des Menschen einschränkte.79 Doch dieses Sich-Fügen in die Notwendigkeit kann kaum als freiwillige Unterwerfung unter die Gewalt der Entscheidung gedeutet werden, die dem idealistischen Ausweg aus dem Problem der Dualität von Willensfreiheit und Konditionierung entspräche, wie Schiller es in Über das Erhabene darstellt. Denn aus freiem Willen geschieht diese Entscheidung nicht. Wallenstein sucht vielmehr die „Notwendigkeit“, die „vorhanden“ sei, zugunsten einer Aussetzung des Urteils zu instrumentalisieren. Die Entscheidung ist, so argumentiert Wallenstein, sowohl ihm als auch Max bereits abgenommen: „Urteile nicht! Bereite dich, zu handeln.“80 Mit dieser Loslösung des Handelns von einem rational begründbaren oder auch nur von einem affektiv sicheren Urteil beruft sich Wallenstein darauf, für seine Entscheidung auf Grund der Situation keine Alternative zu haben: [...] Doch hier ist keine Wahl, Ich muß Gewalt ausüben oder leiden – So steht der Fall. Nichts anders bleibt mir übrig.81
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Wallensteins Tod 687. Mit dem Insistieren Max’, der die Frage unmittelbar wiederholt, setzt eine Emotionalisierung ein, die sich zu Beginn noch beherrscht äußert, deren Angemessenheit dann aber von Max selbst thematisiert wird: „Ziemt solche Sprache mir / Mit dir, [...]!“ (Ebd. 733f.) Wallensteins Tod nach 843. Vgl. ebd., 694ff. Ebd. 693. Vgl. ebd. 698. Ebd. 704. Ebd. 765ff.
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Gegen die vermeintlich ausweglose Bestimmung Wallensteins durch externe Einflüsse – die inneren Beweggründe thematisiert er zunächst nicht – bringt Max ein Gegenmodell ins Spiel, indem er die Schlagworte aufgeklärten Selberdenkens anführt. Ohne dass der Feldherr um die Haltung Octavios weiß, stellt Wallenstein Max vor die Entscheidung, ihm oder seinem Vater zu folgen. Max reagiert mit einem halb erschrockenen Ausruf: „Mein General! – Du machst mich heute mündig.“82 Max begreift sich zum ersten Mal als aufgeklärt, zu eigener Entscheidung im Stande und aufgefordert – ironischerweise durch Wallenstein selbst, der ja der aufklärerischen Denk- und Handlungsfreiheit soeben entsagt hat, als er davon abriet zu urteilen. Doch wie weit reicht diese aufgeklärte Mündigkeit, das Selbstdenken Maxens? Max thematisiert, dass auch er im Banne seiner Sinne und Empfindungen steht, die über Wahrnehmungen – also anthropologische Grundelemente – vermittelt, ihn eng an Wallenstein knüpfen: Nein! wende nicht dein Angesicht zu mir, Es war mir immer eines Gottes Antlitz, Kann über mich nicht gleich die Macht verlieren; Die Sinne sind in deinen Banden noch, Hat gleich die Seele blutend sich befreit!83
Auch Max kann keine unabhängigen Entscheidungen treffen, nicht autonom aus eigener Urteilsfähigkeit heraus handeln. Genau diesen Aspekt vertieft nun Wallenstein wiederum, indem er verdeutlicht, dass die vermeintlich frei fließende Einbildungskraft, die sich im „heißen Kopfe“, in der rein emotional bestimmten Entscheidung formt und in Sprache manifestiert, der Realität der Welt kontrastiert und ohne Rücksicht auf diese im realen Leben zwar eine schöne Illusion, aber letztlich belanglos bleibt: Schnell fertig ist die Jugend mit dem Wort, Das schwer sich handhabt, wie des Messers Schneide, Aus ihrem heißen Kopfe nimmt sie keck Der Dinge Maß, die nur sich selber richten. [...] Eng ist die Welt, und das Gehirn ist weit, Leicht bei einander wohnen die Gedanken, Doch hart im Raume stoßen sich die Sachen, [...]84
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Ebd. 711. Ebd. 740ff. Ebd. 779ff.
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Wallenstein öffnet hier, wie Manfred Beetz und Klaus Berghahn gezeigt haben, den Blick auf menschlich-typisches Verhalten, mit anderen Worten: auf das, was die Entscheidungen und Handlungen des Menschen schlechthin bestimmt.85 Wallenstein blendet die innere Verfasstheit des Menschen aus; sie habe keine Bedeutung über die „Gedanken“ und die Sprache hinaus, welche hier wie auch im großen Monolog von der „Tat“ unterschieden wird.86 Damit reduziert er die anthropologischen Konditionierungen von Entscheidungsprozessen auf vermeintlich unabhängige „Sachen“ und „Wesen“, auf die Realität der äußeren Welt. Doch auch die inneren Ziele bestimmen sein Handeln, was er indes Max gegenüber hier nicht eingesteht. Im Grunde sind sich alle Personen des Dramas einig, dass menschliche Entscheidungen von einer komplexen Lage von Faktoren abhängen. Octavio allerdings legt den Akzent deutlich auf die inneren Motivationen, die legitime Urteile anderer erlauben. Nur im Falle unbeeinflusster Entscheidungen auf Grundlage des eigenen Charakters und nicht auf der Grundlage von Fehlwahrnehmungen und -urteilen kann das Handeln des Menschen ihm zur Last gelegt werden, betont Octavio gegenüber Buttler.87 Auch Max, der doch seine eigene Mündigkeit und damit Aufklärung diagnostiziert hat, sieht sich vor eine unlösbare Entscheidung gestellt: Das Herz in mir empört sich, es erheben Zwei Stimmen streitend sich in meiner Brust, In mir ist Nacht, ich weiß das Rechte nicht zu wählen.88
Die Metaphorik von Nacht und Dunkelheit steht auch hier, wie so oft im 18. Jahrhundert, für die Komplexität eines Urteilsprozesses, der sich mit Affektüberlastung, dem Ungenügen der Ratio und dem Widerstreit von äußeren Ereignissen und inneren Verpflichtungen auseinandersetzen muss.89 Wahrheit ist nicht mehr erreichbar – das sieht auch Max: „Wo ist eine Stimme / Der Wahrheit, der ich folgen darf?“90 Von Thekla wird er auf sein Gefühl verwiesen, dem er folgen solle.91 Und das tut er – er stürzt sich entschlossen in einen aussichtslosen Kampf mit den Schweden, in dem er vorhersehbar ums Leben kommt. Doch bedeutet Maxens vermeinte Mündigkeit einen aufklärerischen
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Vgl. Beetz: Wort, S. 46; Berghahn, Klaus L.: Formen der Dialogführung in Schillers klassischen Dramen. Ein Beitrag zur Poetik des Dramas. Münster 1970, S. 72. Vgl. Wallensteins Tod 170: „Kühn war das Wort, weil es die Tat nicht war.“ Vgl. ebd. 1060ff. Ebd. 2279ff. Vgl. zur Gnoseologie des „Dunklen“ in der Aufklärung grundlegend Adler, Hans: Die Prägnanz des Dunklen. Gnoseologie, Ästhetik, Geschichtsphilosophie bei Johann Gottfried Herder. Hamburg 1990. Wallensteins Tod 2295f. Vgl. ebd. 2338.
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Ausweg aus dem „Notzwang der Begebenheiten“, der auch von Illo als Entscheidungsfaktor in Betracht gezogen wird?92 Anders als Paul Barone meint, fehlt Max nicht die Willensstärke zum heroischerhabenen Helden.93 Ihm fehlt die Entscheidungsfreiheit. Sein Handeln ist alternativlos. Das Beispiel Max zeigt auch: Moral ist nicht das einzige Kriterium für Entscheidungen, und, wie das Drama zeigt, kann sie es auch nicht sein. In den Entscheidungen Wallensteins wie der anderen Figuren spielen der Wunsch nach Frieden, Toleranz, Treue, aber auch nach Anerkennung, Macht, Einfluss und Wirksamkeit mit. In jeder Entscheidungssituation verbinden, ja vermischen sich externe und interne Einflüsse, deren Legitimität nicht isoliert betrachtet werden kann. All dies zusammen ergibt die komplexe Entscheidungssituation, mit der sich die Personen des Dramas – genau wie Menschen in der Realität – konfrontiert sehen. Zur äußeren Welt, die diese Entscheidungsprozesse beeinflusst, zählen nicht nur die faktischen oder erwarteten Ereignisse auf der Ebene der erzählten Geschichte, sondern auch die Erwartungen, die die Wahrnehmung Wallensteins bestimmen, und die Vielfalt der Perspektiven anderer auf den Feldherrn. All dies wird in unterschiedlicher und sich im Laufe des Dramas ändernder Gewichtung zu Faktoren seines Entscheidungsprozesses. In diesem Sinne gehört auch der (vermutete oder wahre) Friedenswunsch zu den Bedingungen für Wallensteins Entscheidungssituation: Gesegnet sei des Fürsten ernster Eifer, Er wird den Ölzweig in den Lorbeer flechten, Und der erfreuten Welt den Frieden schenken.94
Dieses von Max enthusiastisch vorgetragene Plädoyer für das Friedensziel, das Wallenstein angeblich verfolgt, ist nicht unbeeindruckt von der eigenen Friedens- und Liebeserfahrung. Was bei Max noch unreflektiert und emotional daherkommt, rationalisiert Octavio in einem Einerseits-Andererseits: Nichts will er, als dem Reich den Frieden schenken; Und weil der Kaiser diesen Frieden haßt, So will er ihn – er will ihn dazu zwingen!95
Doch auch diese Äußerung wiederum ist bedingt durch externe Faktoren, in diesem Fall durch die Absicht Octavios, seinen Sohn für die eigene Sache zu gewinnen und von Wallenstein zu lösen. Ambivalent werden die möglichen
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Piccolomini 1367. Vgl. Barone: Schiller, S. 254. Piccolomini 1655ff. Ebd. 2333ff.
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Friedenswünsche Wallensteins aber nicht nur durch die Projektion externer, konträrer Deutungen, sondern auch durch die Instrumentalisierung des Friedensziels durch Wallenstein selbst. Am deutlichsten spricht der Feldherr das Ziel aus, als er die vor dem Abfall stehenden Pappenheimer wieder an seine Person binden möchte.96 Auch er projiziert hierbei sein Wissen über die Friedenswünsche ihres Kommandeurs Max auf die Truppe. Wallenstein wie Octavio suchen Behauptungen und Wünsche in die Wahrnehmungsperspektive der Dialogpartner zu übertragen, die deren Entscheidung wiederum beeinflussen. Dass Wallenstein aber generell kein Friedensziel verfolge, kann meines Erachtens hieraus nicht geschlossen werden.97 Borchmeyer spricht vom „lack of credibility that characterizes his (Wallensteins, R.G.) idea of peace“.98 Doch welche Ziele aller beteiligten Personen im Drama stünden nicht im komplexen Gefüge von Einflüssen, Spiegelungen und Motivationen und verlören dadurch nicht, je nach Perspektive, an Glaubwürdigkeit? Doch selbst wenn man Wallenstein den Wunsch nach Frieden vorbehaltlos glaubte: Einen Frieden in dieser historischen Situation anzustreben bedeutet eine Umkehrung der Machtstrukturen, bedeutet offenen Widerstand gegen den Kaiser. Wallenstein reflektiert die Folgen seines Handelns, und er macht sich über sie keine Illusionen: Und was ist dein Beginnen? Hast du dirs Auch redlich selbst bekannt? Du willst die Macht, Die ruhig, sicher thronende erschüttern, [...]99
Wallenstein setzt hier zur Selbstvergewisserung an, zur Klärung der Ausgangssituation. Es geht darum, in den Worten der Kognitionspsychologie, aus einem „ill-defined problem“, bei dem das angestrebte Ziel nicht klar oder nicht bewusst ist, wenigstens ein „well-defined problem“ zu machen, bei dem dem potenziell Handelnden klar vor Augen steht, was er erreichen möchte.100 Doch zum unmittelbaren Handeln reicht diese Selbstvergewisserung noch
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Vgl. Wallensteins Tod 1949ff. Wittkowski muss, um Wallensteins mögliche positive Motivationen zu bestreiten, den Theatermonolog Wallensteins als Selbstbetrug interpretieren. Vgl. Wittkowski, Wolfgang: Theodizee oder Nemesistragödie? Schillers ‚Wallenstein‘ zwischen Hegel und politischer Ethik. In: Jahrbuch des Freien Deutschen Hochstifts 1980, S. 177–237, hier S. 210. Borchmeyer, Dieter: Wallenstein. In: A Companion to the Work of Friedrich Schiller. Ed. by Steven D. Martinson. Rochester / New York u.a. 2005, S. 189–211, hier S. 206. Wallensteins Tod 192ff. Vgl. zur Terminologie Dörner, Dietrich: Die kognitive Organisation beim Problemlösen. Versuche zu einer kybernetischen Theorie der elementaren Informationsverarbeitung beim Denken. Bern / Stuttgart / Wien 1974, S. 43ff.
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nicht aus. Denn mit der Aktion verschlechtern sich, so sieht der Feldherr ebenfalls klar, die Chancen, dass er auf den Verlauf alleinigen Einfluss nehmen kann: „In meiner Brust war meine Tat noch mein [...].“101 Als Schwierigkeit definiert Wallenstein im großen Monolog nicht etwa seinen eigenen Mangel an Entschlusskraft, sondern die Unumkehrbarkeit seiner Entscheidungen und deren materiale Folgen: Wohin denn seh ich plötzlich mich geführt? Bahnlos liegts hinter mir, und eine Mauer Aus meinen eignen Werken baut sich auf, Die mir die Umkehr türmend hemmt!102
Sobald gehandelt worden ist, haben die Handlungen Folgen. Sobald der Mensch eine Entscheidung getroffen hat, bestimmt er sein Schicksal mit.103 Doch er bestimmt es nur mit, er bestimmt es nicht alleine. Denn die Entscheidung und die Folgen der Entscheidung sind auch von äußeren Faktoren und Umständen abhängig, so dass keine Garantie mehr übernommen werden kann, dass das Ziel tatsächlich erreicht wird. Mehr noch: Die Vorstellung, Taten und selbst Gedanken seien folgenlos, bleibt eine Utopie, weil die Tat in die dependente Natur integriert wird und damit a priori Naturgesetzen unterliegt, aus denen Konsequenzen erwachsen.104 Hinzu kommt, dass Wallenstein die Folgen nicht übersehen kann und sich dessen durchaus bewusst ist. Einmal entlassen aus dem sichern Winkel Des Herzens, ihrem mütterlichen Boden, Hinausgegeben in des Lebens Fremde, Gehört sie (die Tat, R.G.) jenen tückschen Mächten an, Die keines Menschen Kunst vertraulich macht.105
Dabei behindern nicht nur die eigenen Handlungen und deren Folgen die Entscheidungsfindung über die nächsten Schritte, sondern auch deren Interpretation durch andere. Octavio thematisiert ausdrücklich von seinem Standpunkt aus die Notwendigkeit, Wallensteins Schritte zu deuten.106 Es sind die Perspektiven, Erwartungen, Hoffnungen und Befürchtungen der anonym bleiben-
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Wallensteins Tod 186. Ebd. 155ff. Diese Schicksalskonzeption weist deutliche Ähnlichkeiten nicht mehr zum antiken Nemesis-Konzept, sondern zu Herders Begriff des Schicksals auf, der Inneres wie Äußeres, den Charakter des Menschen und die Folgen seiner Handlungen integriert. Vgl. Herder, Johann Gottfried: Das eigene Schicksal. In: Herders sämmtliche Werke. Hg. von Bernhard Suphan. Bd. 18. Berlin 1883, S. 404–420. Vgl. Godel: Wallenstein, S. 277. Wallensteins Tod 187ff. Vgl. Piccolomini 2536ff.
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den Anderen, die Entscheidungshindernisse für Wallenstein werden. Denn sie legen aus Wallensteins Sicht eine Fehlinterpretation seiner Handlungen nahe: Und – selbst der frommen Quelle reine Tat Wird der Verdacht, schlimmdeutend, mir vergiften. War ich, wofür ich gelte, der Verräter, ich hätte mir den guten Schein gespart,107
Handeln erzeugt Interpretation und damit Missdeutung, weil es sich in wechselnde Zusammenhänge und Wahrnehmungsperspektiven einschreibt. Aber doch: Gehandelt werden soll, weil die innerpsychische Motivation Wallensteins Wirkungslosigkeit, ein In-Sich-Selbst-Ruhen und Sich-Zurückziehen nicht zulässt. Diesen Aspekt von Wallensteins Selbstverständnis legt Gräfin Terzky rhetorisch geschickt bloß, als sie ihn einzugestehen nötigt, dass er das Problem der Entscheidungsfindung angesichts der Komplexität der Bestimmungsfaktoren für unlösbar hält: „Zeigt einen Weg mir an, aus diesem Drang, / Hilfreiche Mächte!“108 Doch dieser Weg kann nur mitbestimmt werden von Wallensteins Selbstverständnis, das hier als Entscheidungsfaktor benannt wird: [...] einen solchen (Weg, R.G.) zeigt mir, Den ich vermag zu gehn – [...] [...] Wenn ich nicht wirke mehr, bin ich vernichtet;109
Doch sollte man nicht übersehen, dass die Optionen Wallensteins, sobald er unter diesen Umständen zu handeln entschlossen ist, nicht auf Verrat oder Treue und Frieden oder Krieg zugespitzt werden können. Eindeutige Kategorisierungen sind, darauf weist Lothar Pikulik in seiner überwiegend textimmanenten Interpretation allerdings zurecht hin, nicht nur in moralischer Hinsicht schwierig.110 Insbesondere in der Frage von Krieg und Frieden ist auch die zeitgenössische Differenzierung von legitimer und überzogener Gewalt (potestas und violentia) zu berücksichtigen.111 Der Friede, der möglich wäre,
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Wallensteins Tod 162ff. Ebd. 521f. Ebd. 522f., 528. Vgl. Pikulik, Lothar: Schillers Wallenstein und der „Doppelsinn des Lebens“. In: Zeitschrift für deutsche Philologie 113 (2004). Sonderheft, S. 62–76, hier S. 73. Vgl. grundlegend Meumann, Markus / Niefanger, Dirk: Für eine interdisziplinäre Betrachtung von Gewaltdarstellungen des 17. Jahrhunderts. Einführende Überlegungen. In: Ein Schauplatz herber Angst. Wahrnehmung und Darstellung von Gewalt im 17. Jahrhundert. Hg. von M. Meumann und D. Niefanger. Göttingen 1997, S. 7–23.
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wäre sicher nicht ein unmittelbarer Übergang zum idyllischen Liebesideal, das Max präsentiert. Frieden wäre wohl nur, so könnte Wallenstein überzeugt sein, durch Krieg, durch geänderte Fronten möglich. Wallensteins eschatologische Vision richtet sich auf genau diesen Zusammenhang: Zwei Reiche werden blutig untergehen, Im Osten und im Westen, sag ich Euch, Und nur der lutherische Glaub wird bleiben.112
Nur so, nach blutigem Untergang, ist für ihn Frieden als Lösung des interkonfessionellen Konflikts denkbar. Doch auch hier holt die komplexe Realität Wallenstein schneller ein, als er es vermutet: Das „starke Schießen“, das er direkt im Anschluss wahrnimmt, ist der Lärm des Kampfes, in dem der idealistische Friedensheld Max ums Leben kommt.113 Ambivalenzen in der Bewertung von Zielen und Motivationen entstehen bereits auf der Handlungsebene der Trilogie durch die mehrfach thematisierte Komplexität der Situation. Selbst Wallensteins kritische Selbstprüfung hinsichtlich seines Wunsches nach der böhmischen Königskrone kann nicht als Bekenntnis einer eindeutigen Entscheidung gewertet werden: „Wars unrecht, an dem Gaukelbilde mich / Der königlichen Hoffnung zu ergötzen?“114 Sogar im Eingeständnis seiner Ziele sich selbst gegenüber erscheint dies bloß als „Hoffnung“, als „Gaukelbild“, das sich noch nicht in Handlungen umgesetzt hat. Denn Handlungen, vollzogene Schritte lassen die Entscheidungsunsicherheit in Bezug auf die weiteren möglichen Schritte wiederum zunehmen statt sie zu reduzieren, lassen die Situation undurchschaubarer, komplexer und letztlich auswegloser werden. Handlungen schaffen Fakten. Welche aber genau ist nicht immer absehbar. Schon die Wunschvorstellung, die „Hoffnung“ auf die Königskrone, könnte, so denkt Wallenstein nach, „unrecht“ gewesen sein. Denn immerhin bedeutete ein solcher Wunsch einen sozialen Aufstieg, der weit über die Grenzen des feudalen Systems herausgeführt hätte. Doch hieße das nicht Treubruch? Welchen Wert hat die Treue zum Kaiser? Treue und Treubruch werden im Drama häufig thematisiert und, angefangen vom Promemoria aus Wallensteins Lager bis hin zur erschlichenen Verpflichtungserklärung der Generäle, auch in konkretes Handeln umgemünzt.115 In der Entscheidungssituation Wallensteins spielen also durchaus Elemente der (moralischen) Rechtmäßigkeit eine Rolle, die wiederum schon auf der Ebene der bloßen Gedanken mit dem recht unverhohlenen Ehrgeiz des Feldherrn kon-
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Wallensteins Tod 2616ff. Vgl. ebd. 2619. Ebd. 150f. Vgl. Wallensteins Lager 1030ff., zur Planung des Betrugs an den Generälen vgl. Piccolomini 1301ff.
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trastieren, der selbst seine Tochter zum Instrument seines sozialen und ökonomischen Erfolges machen möchte: „Nicht niedriger fürwahr gedenk ich sie / Als um ein Königsszepter loszuschlagen – “.116 Doch kann das Streben nach Macht und Einfluss nicht auch als Bedürfnis nach sozialer Sicherheit verstanden werden? Erzeugt das Bestreben, sich nicht erneut vom Kaiser ungerechtfertigt und ungerecht, wie er meint, absetzen und herabwürdigen zu lassen, nicht psychologisch sowohl Entscheidungen befördernde als auch Entscheidungen behindernde Reflexionen? Ist nicht der Kaiser der eigentliche Verräter, der zudem von Wallenstein fordert, einen Teil seiner Armee zur Sicherung des Infanten abzuziehen? Mit diesen Fragen muss Wallenstein sich auseinander setzen. Er muss mit Forderungen umgehen, die als undurchführbar gelten – „Es ist nicht möglich.“117 – und die in bestehende Vereinbarungen eingreifen: Nur auf Bedingung nahm ich dies Kommando; Und gleich die erste war, daß mir zum Nachteil Kein Menschenkind, auch selbst der Kaiser nicht, Bei der Armee zu sagen haben sollte.118
Solche Forderungen reduzierten, würden sie erfüllt, Wallensteins Machtpotenzial bis zur Wirkungslosigkeit. Sie lassen ihn befürchten, „daß man’s müde ist, die Macht, / Des Schwertes Griff in meiner Hand zu sehn?“119 Selbst die religiöse Toleranz Wallensteins, die als eher aufgeklärte Zutat erscheint, bleibt nicht frei von Ambivalenzen. Denn einerseits offenbart er im Gespräch mit dem Bürgermeister von Eger, obwohl in Diensten der katholischen Seite, einen expliziten ‚Hass‘ gegen die Jesuiten.120 Andererseits gebraucht er denselben Begriff zur Bezeichnung seiner Empfindungen gegenüber den Schweden: „Ich haß ihn (den Schweden, R.G.), wie / Den Pfuhl der Hölle.“121 Für Toleranz aber ist der Kaiser nicht zu haben. Geht es nach Wallenstein, sollen die Schweden allerdings „im Reiche“ nicht „Wurzel fassen“: „Beistehen sollen sie mir in meinen Planen / Und dennoch nichts dabei zu fischen haben.“122 Auch solche Bekenntnisse stehen in jeweils unterschiedli-
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Wallensteins Tod 1533f. Piccolomini 1195. Ebd. 1214ff. Ebd. 1240f. Wallensteins Tod 2595ff. In der Hamburger Bühnenfassung fehlt im Übrigen dieser Aspekt. Dennoch kann nicht von einem eindeutigeren Wallenstein-Bild gesprochen werden. Vgl. Guthke, Karl S.: Der Parteien Gunst und Haß in Hamburg. Schillers Bühnenfassung des ‚Wallenstein’. In: Zeitschrift für deutsche Philologie 102 (1983). H. 2, S. 181–200, hier S. 185ff. Wallensteins Tod 1973f. Hervorhebung R.G. Piccolomini 838f., 843f.
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chen Dialogsituationen, sind zu unterschiedlichen Adressaten gesprochen. Und noch mehr: Sie unterliegen dem sich wandelnden, veränderlichen Entscheidungsprozess Wallensteins, in dem die Gewichtung der unterschiedlichen Zielvorstellungen von der sich verändernden Situation abhängig ist. Terzkys schier verzweifelter Versuch, Wallensteins Absichten und Entscheidungen zu fassen, wurde bereits zitiert. Doch Wallenstein selbst scheint sich auch in dieser Rolle des Rätselhaften zu gefallen, sei es aus Eitelkeit, sei es aus dem mehr als nahe liegenden Grund, dass sich die Faktoren seines Entscheidungsfindungsprozesses mit dem Fortgang der Handlung beständig wandeln. Wallenstein reagiert auf sich ändernde Umstände, nicht selten kommt er zu spät, doch da er seine Entscheidungen lange nicht öffentlich macht, kann er den Anschein erwecken, als sei dies alles noch Teil eines wohl durchdachten und rationalen Plans: Und woher weißt du, daß ich ihn (den Schweden, R.G.) nicht wirklich Zum besten habe? Daß ich nicht euch alle Zum besten habe? Kennst du mich so gut? Ich wüßte nicht, daß ich mein Innerstes Dir aufgetan – […].123
Nicht völlig von der Hand zu weisen sind indes auch solche Fremdperspektiven, die Wallensteins Handeln auf Grund des Einflusses äußerer Umstände zu entschuldigen suchen oder die gar mögliche positive innerpsychische Motivationen zur Sprache bringen. In der Unterredung zwischen der Gräfin Terzky, Thekla und der Herzogin wird ein positives Bild des Feldherrn gezeichnet.124 Vielleicht sind ja doch äußere Faktoren am Wandel Wallensteins zu einem hartherzigen, eigensinnigen Politiker Schuld? Aufrichtig beklagt er den Tod Maxens;125 die tragische Ironie der sich andeutenden Ermordung Wallensteins lässt Mitleid bei den Zuschauern erwarten; großherzig gewährt er seinem Kammerdiener Entlassung.126 Die ästhetische Affektregie, das Mitfühlen, Mitleiden der Zuschauer, steht im Dienst der ethischen Perspektive auf Wallensteins Charakter.127 Goethe hatte als erster festgestellt, dass im letzten Stück „alles aufhört politisch zu sein und bloß menschlich wird“.128 Das Drama
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Piccolomini 861ff. Vgl. Wallensteins Tod 1394ff. Vgl. ebd. 3440ff. Vgl. ebd. 3672ff. Ethik und Ästhetik widersprechen sich nicht; sie sind Teil einer umfassenderen und weit komplexeren Affektregie. Vgl. dagegen Wittkowski: Theodizee, S. 188. Goethe an Schiller am 18.3.1799. In: MA 8, S. 687. Das von Goethe verwendete Attribut „bloß menschlich“ wird von einer kanonisierenden Goetheforschung meist auf ein vorgebliches Humanitätsideal bezogen. Von diesem ist allerdings im Brief-
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zeigt also mehr als nur die „Dialektik des politischen Handelns“.129 Es zeigt die Dialektik von Handeln und Nicht-Handeln – und deren Basis im Problem, wie der Mensch zu einer „wahren“, zuverlässigen oder moralischen Handlungsmotivation gelangen kann. Die Entscheidungsfindung bleibt für die Personen des Dramas von solch anthropologisch bedingter Komplexität, dass sie kaum in rationale Erkenntnisse und Entschlüsse aufgelöst werden kann. Die bedrängte Lage Wallensteins – eigene Ziele, altruistische wie eigennützige, die Befehle des Kaisers und die Wünsche der Schweden, das Drängen der Generale, die Frage, wie das Heer über den Winter zu bringen sei und wie man sich dann positionieren könne, zudem die pubertierende Tochter, die entschlossene Gräfin Terzky und die zunehmend unzufriedenen, aber lange noch leicht zu beeinflussenden Truppen – die bedrängte Lage insgesamt, welche eigene wie fremde Ziele und Wünsche, ein breites Spektrum von Einflüssen, umfasst, macht die Entscheidung Wallensteins nicht einfach.130 Wallenstein gerät in Gefahr, sich im Netz von Zögern und Handeln zu fangen. Aber er gerät auch in Gefahr, sich in den Intentionen anderer zu verlieren, die ihn zum Handeln drängen wollen. Illo offenbart diese Pläne im Gespräch mit Terzky: […] Die Gelegenheit soll ihn verführen. Ist der große Schritt Nur erst getan, den sie zu Wien ihm nicht verzeihn, So wird der Notzwang der Begebenheiten Ihn weiter schon und weiter führen, […].“131
In dieser Mischung aus eigenen Wünschen und aus den Plänen der anderen überkommen Wallenstein Zweifel, wann und wie er denn handeln solle. Noch im Nachhinein stellt er sein halb erzwungenes, halb freiwilliges Handeln zur Disposition, ohne zu endgültigen Urteilen zu gelangen. Anlässlich des Todes von Max resümiert er: Hätt ich vorher gewußt, was nun geschehn, Daß es den liebsten Freund mir würde kosten, Und hätte mir das Herz wie jetzt gesprochen – Kann sein, ich hätte mich bedacht – kann sein Auch nicht [...].132
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wechsel in diesem Zusammenhang nicht die Rede, und auch der Blick auf Wallensteins Tod lässt es nur schwerlich sichtbar werden. So Fuhrmann, Helmut: „Summe alles Menschendaseyns“. Schillers WallensteinTrilogie. In: ders.: Zur poetischen und philosophischen Anthropologie Schillers. Würzburg 2001, S. 91–107, hier S. 96; Hervorhebung R.G. Vgl. zum Aspekt des Gegenspiels von Aktion und Reaktion bereits Barnouw, Jeffrey: Das ‚Problem der Aktion‘ und Wallenstein. In: Jahrbuch der Deutschen Schiller-Gesellschaft 16 (1972), S. 330–408. Piccolomini 1364ff.
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Entscheidungsrelevantes Wissen ist offenbar nicht nur unsicher, wie die konjunktivische Formulierung hier andeutet, es ist auch von der jeweiligen Situation abhängig, die unterschiedliche, nicht vorhersehbare emotionale Reaktionen hervorbringen kann. Denn im Konjunktiv ist auch nicht ausgeschlossen, dass das Herz anders hätte sprechen können. Und auch die Folgen bleiben Spekulation, selbst wenn sie nur auf eine möglicherweise andere Reflexion, noch nicht einmal auf anderes Handeln abzielen. (Wallenstein denkt hier nur über anderes Denken, nicht über anderes Handeln nach.) Entscheidungen können nicht berechnet werden. Dennoch kann man nicht von einem nicht-handelnden Wallenstein sprechen und seine vermeintlich fehlende Willensenergie zur Charakterdisposition erklären, die eine Entscheidung (auch noch für das Gute) verhindere, wie Paul Barone annimmt.133 Wallensteins Zaudern ist nicht nur charakterlich bedingt, er sitzt Probleme nicht aus, weil er zu Entscheidungen unfreudig oder charakterlich unfähig wäre. Im Gegenteil: Er unternimmt viel, um die Komplexität der Problemlage zu reduzieren, legt sich selbst Rechenschaft über seine Ziele und Bedingungen ab, erkundet die Umstände und Gegebenheiten, delegiert Verantwortlichkeiten, um Verantwortung zu teilen und dadurch seine Position zu stärken, er sucht Handlungsoptionen zu identifizieren und so lange als möglich offen zu halten, wie im entscheidenden Dialog mit Wrangel deutlich wird: Wallenstein. Wrangel.
Ihr drängt mich sehr. Ein solcher Schritt will wohl Bedacht sein. Eh’ man überhaupt dran denkt, Herr Fürst! Durch rasche Tat nur kann er glücken.134
Wallensteins Temporalisieren ist wohl seiner Unentschiedenheit zuzuschreiben, doch geht diese auf die Komplexität der Einflussfaktoren zurück, angesichts derer Urteilsenthaltung ein durchaus Erfolg versprechender Weg zur Problemlösung ist.135 Eigenschaften und Ziele Wallensteins bilden nicht ein-
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Wallensteins Tod 3657ff. Vgl. Barone: Schiller, S. 240. Wallensteins Tod 408ff. Schon in der Frühaufklärung wurde die stoische Urteilsenthaltung als Mittel gegen Vorurteile empfohlen. Vgl. Beetz, Manfred: Transparent gemachte Vorurteile. Zur Analyse der praejudicia auctoritatis et praecipitantiae in der Frühaufklärung. In: Rhetorik 3 (1983), S. 7–33, hier S. 22. Auch die Problematik der Vorurteilsbekämpfung muss im 18. Jahrhundert mit einer ähnlich komplexen anthropologischen Situierung rechnen: vgl. Godel, Rainer: ‚Eine unendliche Menge dunkeler Vorstellungen‘. Zur Widerständigkeit von Empfindungen und Vorurteilen in der deutschen Spätaufklärung. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 76 (2002). H. 4, S. 542–576.
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dimensional Idealismus oder Realismus ab; er ist nicht bloß ein „gemischter Charakter“. Wallensteins Urteilen und Handeln resultieren aus einer Mischung von Entscheidungsfaktoren, die die anthropologisch unvermeidliche Problematik menschlicher Erkenntnispraxis abbilden. Auch für den Zuschauer bleiben die Fragen offen: Was ist die „richtige“ Deutung von Wallensteins Sein und Handeln? Welche Tat bezeugt seine „wahren“ Absichten? Diese Unklarheit entsteht aus der Inszenierung der Tragödie als Tragödie menschlicher Konditioniertheit. Das „Spiel“ der ästhetischen Struktur, die Poetisierung einer komplexen Situation, fordert den Zuschauer auf, das Spiel mitzuspielen, sich auf das ästhetische Experiment einzulassen und selbst herauszufinden, wie sich Wallensteins Entscheidungssituation gestaltet. Auf die Frage nach Wallensteins Charakter gibt es keine eindeutigen Antworten. Aber im Nachdenken darüber, im Nachspielen und in der ästhetischen Aufnahme des Stückes kann das allgemein-menschliche kulturelle Faktum abgebildet werden, dass Menschen in einer realen Welt angesichts der sie umgebenden und sie beeinflussenden inneren und äußeren Effekte lernen müssen, mit der Kompliziertheit und Komplexität der Situation umzugehen und ihr zum Trotz zu Urteilen und Entscheidungen auf moralisch, logisch und anthropologisch akzeptable Art zu gelangen. Doch die Unsicherheit der Entscheidungsfindung ist dabei nicht zu leugnen.136 Schiller stellt eine komplexe Entscheidungssituation dar. Wallenstein ist das Drama der Entscheidungsfindung.137 Und doch: Als alles endet, ist nicht, wie Hegel meinte, „Alles aus“.138 Nicht auf die äußeren Umstände und das vermeinte Schicksal kommt es an, sondern darauf, wie der Mensch sich dazu stellt, wie er die Komplexität der Entscheidungssituation bewältigt.139 Die Trilogie zeigt nicht nur, wie schwierig es ist, sich zu entscheiden, sondern auch, wie wichtig es ist, mit den Folgen seiner Entscheidungen umzugehen.
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Der Text offeriert diverse Träger von Unsicherheitsmerkmalen. Schon in Wallensteins Lager werden Erwartungen geweckt und nicht erfüllt. Auch eine Analyse der Produktion von Schillers Wallenstein belegt Aspekte der Erzeugung von Ambivalenz. Schiller tut alles, um in allen Fassungen das Bild Wallensteins in der Balance zwischen negativen und positiven Wertungen zu halten: vgl. Godel: Wallenstein, S. 262ff. Darüber hinaus trägt der metaphorische Komplex von Sehen und Beobachten zur Erzeugung von Rezeptionsunsicherheit bei. Vgl. Utz, Peter: Auge, Ohr und Herz. In: Jahrbuch der Deutschen Schiller-Gesellschaft 29 (1985), S. 62–97. Selbst Octavios Entscheidung, sich zur Seite des Kaisers zu halten, hat sich im Nachhinein, wie seine „schmerzvolle“ Reaktion im Schlussbild zeigt, als fragwürdig erwiesen. Vgl. Wallensteins Tod nach 3867. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Über Wallenstein. In: Schillers Wallenstein. Hg. von Fritz Heuer und Werner Keller. Darmstadt 1977, S. 5–16, hier S. 15. Vgl. Reinhardt, Hartmut: Das ‚Schicksal‘ als Schicksalsfrage. Schillers Dramatik in romantischer Sicht: Kritik und Nachfolge. In: Aurora. Jahrbuch der EichendorffGesellschaft 50 (1990), S. 63–86, hier S. 71ff.
Annette Graczyk
Das Geschlechterverhältnis als soziales Experiment Aufklärung und Abklärung in Goethes Wahlverwandtschaften
Es ist bekanntlich ein Begriff der chemischen Fachsprache, den Goethe mit dem Titel Die Wahlverwandtschaften aufgreift und damit programmatisch in das Zentrum seines Romans stellt. Dieser Fachterminus war in der deutschen Sprache erst seit jüngerer Zeit als Übersetzung aus dem Lateinischen im Umlauf.1 Die Sache selbst war in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts entdeckt und mithilfe der lateinischen Begriffe affinitas [com-positionis] und attractio electiva systematisiert worden.2 Affinitas, der alte Begriff für ‚Entsprechung‘ und ‚Übereinstimmung‘, war seit dem Mittelalter eine chemische Bezeichnung. Die attractio hingegen lehnte sich an die neue dynamistische Terminologie der Newtonschen Kräftelehre an. In der deutschen Fachsprache existierte bereits der Ausdruck ‚chemische Verwandtschaft‘. So lag es nahe, die beiden Termini affinitas und attractio electiva im Begriff ‚Wahlverwandtschaft‘ zu komprimieren, zumal der entscheidende Begründer dieser Terminologie, der schwedische Chemiker Torbern Olof Bergmann, den schwedischen Ausdruck frändskap zur Verdeutlichung herangezogen hatte. Vor der Wende zum 19. Jahrhundert wurde der mit diesen Begriffen beschriebene Sachverhalt vereinzelt schon auf menschliche Verhältnisse übertragen, u.a. von Jean Paul.3 Indem Goethe den Ausdruck ‚Wahlverwandtschaften‘ in seinen Romantitel setzte, brachte er bereits ein grundlegendes Mittel jeglicher Dichtung zur Geltung, das der chemischen Bedeutung des Begriffs entgegengesetzt ist: die Ambivalenz. Mit dem Romantitel wurde der Begriff zwar auf die Romangesellschaft bezogen, blieb aber nach wie vor ein chemischer Begriff. Der zwischen der Chemie und dem Sozialen schillernde Begriff der ‚Wahlverwandt-
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Zur Herkunft des Begriffes sowie den wissenschaftlichen Modellen, die mit ihm verbunden waren, vgl. im einzelnen Adler, Jeremy: ‘Eine fast magische Anziehungskraft’. Goethes Wahlverwandtschaften und die Chemie seiner Zeit. München 1987. Göttling etwa spricht von zusammensetzender bzw. von verbindener „affinitas“ im Gegensatz zur Ziehkraft. Vgl. Adler, Anziehungskraft, S. 85 u. S. 104.
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schaft‘ war für Goethe ein überaus fruchtbares Modell, um nicht nur das mögliche Ineinander von elementarer und menschlicher Chemie zu erproben, sondern auch um den Naturwissenschaftler und den Dichter Goethe an einem Romanprojekt zum Ausgleich zu bringen.4 Das Wort ‚Wahlverwandtschaften‘ sagt es deutlich: es geht nicht – wie heute oft noch mit dem Blick auf ‚die Gene‘ – um die ontologisierten Eigenschaften eines Individuums, sondern um die Beziehungen von Elementen bzw. Individuen zueinander. In Goethes Roman ist das Reflexionsniveau, wie ich zeigen möchte, von Anfang an höher angesetzt. Die latente Instrumentalisierung der Natur wird nicht ausgeblendet, sondern mit zur Sprache gebracht.5 Insofern geht der Roman nicht nur über das erreichte Niveau vergleichbarer Romane seiner Zeit, sondern z.T. auch über die naturwissenschaftlich inspirierten Sozialromane des späteren Realismus und Naturalismus hinaus.6 Von einer statisch registrierenden Naturbeschreibung im Rahmen des klassischen taxonomischen Denkens unterscheidet sich die chemische Reaktion durch stärkere Komplexität. Das machte die Chemie um 1800, als Goethes Roman entstand, auch für die entstehende romantische Naturphilosophie sowie für den frühromantischen Roman interessant. Goethes Wahlverwandtschaften, die 1809 in einer bereits romantisch beeinflussten Zeit erschienen, waren konzeptuell aber aus der Arbeit an Wilhelm Meisters Wanderjahren
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Zum Verhältnis von Naturwissenschaft und Dichtung in den Wahlverwandtschaften vgl. besonders Thadden, Elisabeth von: Erzählen als Naturverhältnis – ‚Die Wahlverwandtschaften‛. Zum Problem der Darstellbarkeit von Natur und Gesellschaft seit Goethes Plan eines ‚Roman über das Weltall‘. München 1993; Faets, Ann-Theres: ‚Überall nur Eine Natur‛? Studien über Natur und Kunst in Goethes Wahlverwandtschaften. Frankfurt/M. 1993 sowie Gabriele Brandstetter (Hg.): Erzählen und Wissen. Paradigmen und Aporien ihrer Inszenierung in Goethes Wahlverwandtschaften. Freiburg i. Br. 2003. Allgemeiner zu Goethes Versuchen, zwischen Naturwissenschaften und Dichtung zu vermitteln, vgl. meinen Aufsatz: Kultur und Natur in Goethes Experimenten mit dem Tableau. In: Rückert-Studien XVI (2004/2005), S. 197– 217. Vgl. dazu auch Pörksen, Uwe: Goethes Kritik naturwissenschaftlicher Metaphorik und der Roman ‚Die Wahlverwandtschaften‛. In: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft 25 (1981), S. 285–316. Im Gegensatz zum Fortschrittsoptimismus des 19. Jahrhunderts wird Goethes Roman in der Forschung auch gern als Paradebeispiel einer frühen Selbstkritik der Aufklärung bzw. der Moderne untersucht. Vgl. etwa Egger, Irmgard: Diätetik und Askese. Zur Dialektik der Aufklärung in Goethes Romanen. München 2001, sowie Sampaolo, Giovanni: Proserpinens Park. Goethes Wahlverwandtschaften als Selbstkritik der Moderne. Stuttgart 2003.
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hervorgegangen. Goethe untersucht mit seinem naturwissenschaftlich geschulten Interesse in den Wahlverwandtschaften die geschlechtsbezogene Partnerwahl und ihre Dynamik im Rahmen eines abgegrenzten sozialen Umfelds. Von einem konventionellen Liebesroman unterscheiden sich die Wahlverwandtschaften durch das zugrunde liegende naturwissenschaftliche Modell und seine Dynamik, die sich im Begriff des Experiments komprimieren lässt. In der Chemie bezeichnete man mit ‚Wahlverwandtschaft‘ Wechselreaktionen zwischen bestehenden Verbindungen, die durch einen Prozess gegenseitiger Entbindung und Neuzusammensetzung entstehen. Die Aufspaltung der bestehenden Verbindung wird durch einen hinzutretenden Stoff als Katalysator ausgelöst. Während dieser das eine Element der Verbindung an sich zieht, setzt er das andere für eine neue Verbindung frei. Eine chemische Wahlverwandtschaft vollzieht sich also in einem kontrollierbaren und regelhaften Prozess, einem Experiment. Überträgt man das Modell der Wahlverwandtschaft auf das Soziale, treffen die Merkmale ebenfalls auf einen zeitlichen Ablauf, so dass der Experimentcharakter der chemischen Wahlverwandtschaft auf die Romangesellschaft übertragen werden kann. So entspricht die doppelte Paarbildung im Roman der doppelten Wahlverwandtschaft, wie sie in der Chemie als Sonderfall verschiedener wahlverwandtschaftlicher Möglichkeiten aufgestellt wurde. Mit der probeweisen Übertragung eines naturwissenschaftlichen Modells auf das gesellschaftliche Leben realisiert Goethe Anfang des 19. Jahrhunderts ein Projekt, das erst sehr viel später als Programm der Moderne propagiert werden sollte. Nachdem Comte ab 1830 die Übertragbarkeit naturwissenschaftlicher Methoden auf das soziale Leben und konkret auf das philosophische Denken gefordert hatte, wird – nach Taine und dem Mediziner Bernard – bekanntlich Emile Zola den Experimentalroman ausrufen. Goethe kommt in seinem ‚Experimentalroman‘ allerdings – und wenig überraschend – zu ganz anderen Ergebnissen. Die Romanfiguren der Wahlverwandtschaften übertragen das chemische Modell selber auf ihre zwischenmenschlichen Verhältnisse. Sie selbst setzen sich in der Folge gewissermaßen dem Versuch freier wahlverwandtschaftlicher Beziehungen nach Maßgabe einer natürlichen ‚menschlichen Chemie‘ aus – wenn auch nicht in aller Deutlichkeit und ohne Überblick über die möglichen Folgen. Selbstversuche gab es bereits seit der Erfahrungsseelenkunde der Aufklärung, die das eigene Ich zum Objekt einer psychologischen Selbstanalyse machte. Als Goethes Roman erschien, gab es in Ansätzen bereits ein Interesse an körperlich-physiologischen Selbstversuchen, das dann später zur naturphilosophisch geprägten romantischen Medizin führte. Goethe teilt das zeitgenössische Interesse an der Dynamik psychischer und körperlichphysiologischer Vorgänge und überträgt es auf den komplexeren Selbstversuch einer ganzen Gruppe. Indem Goethe in seinem Roman das chemische Modell versuchsweise auf das Soziale überträgt, stellt er um 1809 ein altes Problem der Aufklärung neu:
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das Verhältnis nämlich von Physik und Moral. ‚Physik‘ – das meint auch um 1800 weitgehend noch: Naturlehre im allgemeinen Sinne. Mit Moral hingegen wird der Bereich bezeichnet, mit dem der Mensch seine reine Naturbedingtheit übersteigt. „Moral“ im emphatischen Sinne meint mehr als das engstirnige Befolgen eines normativen Kanons. Sie ist das zentrale Werk einer sich selbst Gesetze und Regeln gebenden Vernunft; mit ihr beweist die menschliche Gattung nach Meinung der Aufklärer ihre Fähigkeit zur Sozietätsbildung. Weil aber in der Chemie die Elemente in ihren Fähigkeiten zur Abstoßung von bzw. zur Bindung mit anderen Elementen bestimmt werden, ergibt sich mit der probeweisen Übertragung in das Soziale eine Dominanz naturgegebener Anlagen. Die Sozietätsbildung wird weniger von der Seite der Moral, sondern vorwiegend von der naturhaften Ausstattung der Einzelnen her gesehen. Das Gewicht zwischen Physik und Moral wird im Roman von der Seite der Moral auf die Seite der Naturnotwendigkeit verlagert. Allerdings ist in der Begriffsbildung ‚Wahlverwandtschaft‘ ein kultureller Mehrwert mitgegeben, den Goethe aus der zeitgenössischen Wissenschaftssprache übernimmt. Der Begriff meint in der Chemie den Übergang zu einer stärker wirkenden Verbindung, er bezeichnet eine notwendigerweise stärkere Attraktion, aber keine Bindungswahl aus freier Entscheidung. Im Bereich des Sozialen kann damit nur die Stärke einer Anziehung gemeint sein, aber nicht ein zwingend notwendiges Naturverhältnis. Der chemische Ausdruck ‚Wahlverwandtschaften‘ hat in seinem sprachlichen Gestus noch etwas von dem alten Sympathie-Denken der Renaissance bewahrt, obgleich er sich auf das neuzeitlich-experimentelle Wissenschaftsprogramm bezog, das sich von den magisch-alchemischen Vorläufern der Zunft durch den Bezug auf eine moderne Episteme absetzte. Goethe kann als Autor diese kulturelle Mitgift in ihren Ambivalenzen ausspielen, um einen Zwischenbereich von Physik und Moral zu schaffen: es entsteht eine frühe Psychologie des Unbewussten oder Vorbewussten. Goethe lässt sie literarisch u.a. durch die ‚Natursprache‘ der Protagonisten lebendig werden, wozu vor allem ihre Körpersprache gehört. Bei aller Annäherung an naturgeschichtliche und naturwissenschaftliche Konstrukte muss aber vorab ein entscheidender Unterschied zum chemischen Experiment betont werden: nämlich der fiktive Charakter der literarischen Wahlverwandtschaften. Weil der Autor als Arrangeur des Experiments und als Erfinder seiner möglichen Folgen fungiert, bleiben wir im Feld der literarischen Imagination, auch wenn der beschriebene Prozess einer eingehenden Beobachtung und Analyse unterzogen wird. Auch im Roman selbst wird das Modell relativiert – es wandelt sich im berühmten chemischen Gespräch der Beteiligten notwendigerweise vom Ideal eines objektiven Musters zu einem subjektiv interpretierten Rahmen, in dem jeder nach seinen Neigungen und Interessen agiert. Die eheliche Enge des adligen Paares Eduard und Charlotte, Besitzer eines größeren Landgutes, erwei-
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tert sich durch den gerade eingetroffenen, befreundeten Hauptmann im Sinne der geselligen Freundschaftskultur. Als Folge des chemischen Gespräches wird dann noch Charlottes Nichte und Pflegetochter Ottilie eingeladen. Und nun kommt das bereits in der Dreierkonstellation begonnene Kräftespiel der menschlichen Ziehkräfte erst recht in Gang. Die am chemischen Gespräch beteiligten Personen sind keine nur sachlich interessierten Zeitgenossen, die an naturwissenschaftlichen Diskussionen ihrer Zeit teilnehmen. Auch weil das chemische Gespräch mit Rücksicht auf die anwesende Dame in der aufgelockerten Form einer launig-galanten Unterhaltung und nicht als Wissenschaftsdisput geführt wird, zeigt sich, wie die einzelnen Gesprächspartner mit ihren verschiedenen Temperamenten auch ihre jeweilige Bereitschaft zu einer radikalen Umgestaltung und Erneuerung austarieren. Das chemische Modell, das von der Dynamik einer sich selbst stets neu kombinierenden und potenzierenden Natur handelt, eröffnet damit eine Folie, auf der die eigenen Latenzen spielerisch projiziert und verhandelt werden. Vor allem Eduard forciert die von seiner Frau Charlotte eingeleitete Übertragung auf das Soziale und lässt seinem drängenden Erneuerungsstreben auch im Privaten die Zügel schießen. Charlotte hingegen ist zögerlich und bedenkt die zwischenmenschlichen Folgen, indem sie die chemischen Elemente vermenschlicht und nach deren Gefühlen und Befindlichkeiten fragt. Die beiden Männer interessieren sich zumindest vordergründig mehr für das abstrakte Spiel einer auf dynamischen Kräften beruhenden Kombinatorik. Insgesamt lässt sich festhalten: Die Protagonisten setzen sich im chemischen Gespräch nicht wissenschaftlich-objektiv mit dem Sachverhalt chemischer Wahlverwandtschaft auseinander, sondern bringen bei ihrer Übertragung der Formel auf das Soziale ihre Wünsche und Ängste, aber auch ihre Temperamente ein. Sie fassen das vermeintlich Objektive jeweils anders auf, verändern die Kombinationen, lassen das eine oder andere außer Acht. Bereits mit dem chemischen Gespräch erreicht der Roman einen wichtigen Komplexitätsgewinn, der die Wissenschaftsgläubigkeit des späteren 19. Jahrhunderts naiv erscheinen lässt. Und was den Romanpersonen recht ist, kann uns Lesern nur billig sein: Die Art, in der Goethe das Modell auf seine Romangesellschaft überträgt, ist ebenfalls ihm zuzuschreiben und ist selbstverständlich nicht „objektiv“. Es gibt im Gespräch auch signifikante blinde Flecken: zunächst wird nur daran gedacht, wie Charlotte dafür entschädigt werden kann, dass ihr der Hauptmann Eduards Gesellschaft entzieht. Daraus entsteht dann der, bei Charlotte schon aus anderen Gründen reifende Entschluss, Ottilie als ihre Gesellschafterin einzuladen. Niemand denkt explizit daran, dass die Ehe gefährdet werden könnte. In den verschiedenen Kombinationen der chemischen Formel, die im Gespräch durchgespielt werden, ist das aber potentiell möglich. Vom Erzähler wissen wir, dass Charlotte früher einmal geplant hatte, Ottilie mit Eduard zusammen zu bringen. Der Hauptmann war an dem versuchten Arrangement beteiligt. Doch Eduard hatte keine Augen für die schöne Ottilie und
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sich auf die reifere Charlotte versteift, die ihm in erster Ehe versagt worden war.7 Die mögliche Verbindung von Eduard und Ottilie schien also bereits gescheitert. Die andere Kombinationsmöglichkeit, die Verbindung von Ottilie und dem Hauptmann, war gleichfalls schon früher ausgeschlossen worden. Charlotte hatte zwei Romankapitel zuvor Eduard zu bedenken gegeben, dass es nicht ratsam sei, den Freund und die Nichte als Hausgenossen in eine vielleicht zu intime Nähe zu bringen.8 Und doch wäre deren Verbindung eigentlich ideal: Ottilie und der Hauptmann sind beide zum Zeitpunkt ihrer Einladung mittellose Außenseiter, die auf diese Weise freundschaftlich-familiär in die Schlossgemeinschaft integriert worden wären. Besonders Ottilie, die mittellose Waise, wäre verheiratet und versorgt worden. Der aufgeklärt-rationale Hauptmann und die übersensible Ottilie reagieren aber gar nicht aufeinander. Im Modell der Chemie gesprochen: beide haben offensichtlich keine Valenzen füreinander. Im weiteren Verlauf des Geschehens verliert Eduard das Interesse an gemeinsamen Plänen mit dem Hauptmann in dem Maße, in dem er sich Ottilie nähert. Im Gegenzuge entdecken auch der Hauptmann und Charlotte Gemeinsamkeiten, so dass die schon erwähnte doppelte Wahlverwandtschaft zu entstehen scheint. Für eine kurze Zeit entrücken die beiden potentiellen Paare aus der Alltagszeit in eine magische Zeit.9 Dann aber kommt es zu einer Reihe von Hemmnissen und Hindernissen. Sie lassen den schon eingeleiteten Prozess scheitern, ohne dass die Beteiligten in ihre Ausgangslage zurückkehren können oder sich andere stabile Verhältnisse herstellen lassen. Ein chemisches Experiment lässt sich identisch wiederholen; ein zweites soziales Experiment hätte aber andere Ausgangsbedingungen. Das soziale Leben kennt schon der Sterblichkeit wegen nur eine fortschreitende Zeit. Anders als die Elemente eines chemischen Experiments werden die Menschen durch ihre Erfahrungen, ihr Scheitern und auch durch ihre Verletzungen geprägt und verändert. Da sich eine eingeleitete soziale Entwicklung bekanntlich nicht rückgängig machen, sondern nur korrigieren lässt, zeigt der Roman, wie die Personen ihren misslungenen Versuch zu verarbeiten suchen.
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Goethe, Johann Wolfgang von: Werke, Hamburger Ausgabe, hg. v. Erich Trunz. 13., durchgesehene Ausg., München 1994. Bd. 6 (Romane und Novellen I), S. 253 (Teil I, Kap. II). Zitiert wird im folgenden nach dieser Ausg. unter der Sigle HA, gefolgt von der Bandzahl. Vgl. HA 6, 252f. Zu den Zeitverhältnissen des Romans, vgl. weiter Reusch, Judith: Zeitstrukturen in Goethes ‚Wahlverwandtschaften‘. Würzburg 2004.
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Goethes modern anmutende Einsicht in die Relativität menschlicher Erkenntnis zeigt sich auch beim Scheitern des Experiments. Während sich der Hauptmann als erster der Gruppendynamik entzieht und das Schloss verlässt, hält Eduard daran fest, dass die doppelte Wahlverwandtschaft der Wunsch aller sei. Eduard und Ottilie entwickeln ihr Verhältnis weiter und Eduard fordert von Charlotte die Scheidung. Inzwischen ist Charlotte jedoch von Eduard schwanger geworden, so dass sie die bisher kinderlos gebliebene Ehe bestätigt sieht und auf ihr beharrt. Für unseren Argumentationszusammenhang reicht hier die kurze Andeutung aus, dass Eduard das Haus verlässt, so dass die beiden Frauen vorerst allein auf dem Gut zurückbleiben. Wir können auch die weitere Entwicklung überspringen, in der weitere Figuren auf den Plan treten und Goethe mit reizvollen Spiegelungen und Kontrasten die entstehenden Probleme variiert und von verschiedenen Seiten aus beleuchtet. Wichtig für unsere Fragestellung ist dabei insgesamt, dass sich die Verhältnisse der vier Personen keinesfalls auf vergleichbare Konstellationen anderer übertragen lassen. Auch darin weicht der geschilderte soziale Versuch vom naturwissenschaftlichen Experiment ab, denn chemische Elemente haben keine Individualität. Im Kind Otto aber lebt eine Folge des gescheiterten Experiments fort. Die Nacht seiner Zeugung gehört zu den “ernsten Scherzen” des Romans und weist das Kind weniger als ein biologisches, sondern mehr als ein allegorisches Geschöpf aus. Otto wurde im Akt eines doppelten Ehebruchs gezeugt: Charlotte und Eduard hatten sich emotional bereits weitgehend voneinander gelöst und waren beim Liebesakt geistig bereits bei dem anderen wahlverwandtschaftlichen Partner. Als Kind dieser biologischen und geistigen Überkreuzbeziehung hat das Kind Otto physiognomische Ähnlichkeiten mit allen vier Personen. Alle Beteiligte vereinigen sich bekanntlich auch in seinem Namen: beide Väter heißen Otto, da auch Eduard eigentlich zuvor diesen Namen trug. Aber auch Charlotte und Ottilie tragen die Silbenfolge „ott“ in ihrem Namen. Dennoch wird das Kind nicht zum Verbindungsglied einer kühnen Sozialutopie, wie Goethe sie als junger Autor in seiner Sturm- und Drangzeit mit der ersten Fassung seiner Stella noch gewagt hatte. In den Wahlverwandtschaften beschleunigt das Kind im Gegenteil das Auseinanderfallen der Vierergruppe. Weil Liebe und Ehebruch in ihm auf eine unentwirrbare Weise eingeschrieben sind, löst das Kind bei den Einzelnen ambivalente Reaktionen aus. Und die Leser können bei dem Autor Goethe gleich ahnen, dass bei ihm die Allegorie nicht lebensfähig ist. Ottilie verschuldet unabsichtlich einen Unfall, bei dem das Kind ertrinkt. Nachdem schon die Geburt eine Verbindung von Eduard und Ottilie vereitelt hat, verhindert fatalerweise nun gerade der Tod des Kindes, dass es endlich zu der lang ersehnten Ehe kommt. Charlotte hat aus den tragischen Folgen zwar gelernt, dass es ein Fehler war, die Scheidung zu verweigern. Nun ist sie endlich zur Zustimmung bereit. Allerdings mythisiert Charlotte nun selbst das Gesetz der Wahlverwandtschaft,
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d.h. sie verarbeitet das Geschehen mit der chemischen Formel als schicksalshafte Macht, die sie nicht hätte aufhalten dürfen. Doch die Entwicklungen mit ihren psychischen Folgen sind nicht mehr rückgängig zu machen. Ottilie hat so starke Schuldgefühle, dass sie an eine Heirat mit Eduard nicht mehr denken will. Sie entsagt schließlich nicht nur ihm, sondern dem Leben überhaupt, indem sie das Essen verweigert und schließlich an innerer Auszehrung stirbt. Damit bleibt sie gleichzeitig ihrer Anlage treu, alles im Körper und über den Körper zu symptomatisieren und zu symbolisieren. Mit ihrer Ent-Körperlichung leitet Goethe – nicht ohne parodistische Untertöne – ihre Metamorphose zur Heiligen ein. Eduard stirbt bald darauf, so dass wir am Ende aus dem engeren Kreise drei Tote zu beklagen haben: Ottilie und Eduard, aber auch das Kind. In den Schlusspassagen vereint Charlotte ihre geliebten drei Toten in einem pompösen Grabmal, in dem sie wie eine Heilige Familie erscheinen. Damit wird auch der Traum der Wahlverwandtschaft beerdigt; gleichzeitig wird er in einer schillernden Weise monumentalisiert. Das Schlusstableau wurde durch eine Krippenszene vorbereitet, die während Eduards Abwesenheit als Tableau vivant aufgeführt worden war. Ottilie war dort mit dem Kind Otto als Madonna und Christuskind aufgetreten. Diese so angelegte, zwiespältige Apotheose der wahlverwandtschaftlichen Familie entwickelt sich im Roman freilich über die Stationen: Schuld, Entsagung und Tod.10 In der Grablegungsszene wird die grundlegende Ambivalenz besonders deutlich, die beispielsweise diesen Roman von der Protokollierung eines naturwissenschaftlichen Experiments unterscheidet. Die Mehrdeutigkeit des Totengedenkens bleibt am Romanende unaufgelöst und gehört damit zu den besonders starken Wirkungsfaktoren. Bekanntlich spielt die Entsagung in Goethes Alterswerk eine zentrale Rolle.11 In diesem Sinne gehören die Wahlverwandtschaften weiterhin zum Komplex der Wanderjahre, die die Entsagung demonstrativ in ihrem Nebentitel ausstellen.12 Als Fortsetzung der Lehrjahre mit ihrer Suche nach Persönlichkeitsentfaltung tritt der Umschlag zu einer resignativen Lebenshaltung in den Wanderjahren entschieden hervor. Er wird noch deutlicher, wenn man die starken Impulse in Goethes Werken aus der Sturm und Drang-Zeit sowie die persönlichen Ausbruchsversuche des Autors bedenkt, die bis zur Flucht nach Italien führten. Dass Goethe zum Vertreter der Entsagung wird, mag man als Abgeklärtheit und als Altersweisheit ansehen. Im Roman aber wird die Entsa-
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Vgl. zur Todesproblematik Herrmann, Elisabeth: Die Todesproblematik in Goethes Roman ‚Die Wahlverwandtschaften‛. Berlin 1998. Vgl. Henkel, Arthur: Entsagung. Eine Studie zu Goethes Altersroman. Tübingen 1964. Goethe, Johann Wolfgang: Wilhelm Meisters Wanderjahre oder Die Entsagenden. Erstausgabe 1821. Zweite Fassung 1829.
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gung gerade der Jüngsten, nämlich Ottilie zugemutet. Sie erscheint als die Schwächste, die unter der Last der Verwicklungen zusammenbricht. Im sozialen Gefälle der Gruppe ist sie zudem die Abhängigste. Mit ihrer zum Tode führenden Hungerkrise entzieht sie sich der unerträglich gewordenen Situation. Goethe entschädigt sie mit der überraschenden Stilisierung zur Heiligen und dem harmonisierenden Schlusstableau für ihr zu kurz gekommenes Leben. Ottilie kommt – zusammen mit Eduard – auch in ihrer Lebenszeit die entscheidende Rolle im Geschlechterverhältnis der Gruppe zu. Die vergleichsweise junge Frau erscheint zunächst wenig selbständig, weil sie Eduard als narzisstischer Spiegel dient. Sie stellt sich so stark auf den Geliebten ein, dass sie viele seiner Gewohnheiten übernimmt. Eduard dagegen erfährt als emotionaler und dominanter Mann diese Übereinstimmung als beglückende Harmonie. Im körpersprachlichen Liebesdiskurs der beiden lebt in gewisser Weise der alte magische Diskurs des analogischen Entsprechungsdenkens fort, der sich nun mit neuen Wertsetzungen anreichert. Wenn man Ottilie und ihrer Wirkung auf die Zeitgenossen gerecht werden will, muss man sie auch im Kontext der neuen physiologischen Konzepte zwischen Aufklärung und Romantik sehen. In ihnen wird – im Rahmen dynamistisch-organizistischer Konzeptualisierungen – die Reizbarkeit bzw. Irritabilität als eine eigenständige Form der Kraft entdeckt. Von Albrecht von Hallers bis zu Alexander von Humboldts Versuchen mit den Muskelfasern, an denen Goethe übrigens partiell als Beobachter teilnahm, sah man die Reizbarkeit als möglichen Schlüssel an, um eine spezifische, den Organismus steuernde Lebenskraft zu beweisen.13 Entscheidend für unseren Zusammenhang ist, dass die Bedeutung des Passiven und konkret: dass Ottilies Reizbarkeit aufgewertet wird. Ottilie ist die am deutlichsten körpersprachliche Figur des Ensembles. In ihr kumuliert Goethe eine Linie der sympathetischen Sprache, die vom Somatischen bis zur mimetischen Angleichung an Eduard etwa im Musizieren oder in der Handschrift reicht.14
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In diesem Sinne veröffentlichte Alexander von Humboldt 1795 in Schillers Horen auch seine Erzählung Die Lebenskraft oder der rhodische Genius. In der die physiologische Frage allegorisch verschlüsselt erscheint. 1826 nahm Humboldt die Erzählung, trotz seiner nunmehr veränderten wissenschaftlichen Überzeugungen. In die zweite, erweiterte Ausgabe seiner Ansichten der Natur auf. Vgl. meine Studie: Das literarische Tableau zwischen Kunst und Wissenschaft. Fink 2004, S. 350–352. Mit den Pendelversuchen, auf die Ottilie reagiert, spielt Goethe zudem auf die Körperversuche des Mesmerismus zum sogen. animalischen Magnetismus an.
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Etwa seit den 1770er Jahren bahnt sich zudem – zunächst in Frankreich, dann auch in Deutschland – eine medizinisch-physiologisch untermauerte Sicht der Geschlechterdifferenz an.15 Die Frau wird vorrangig aus ihrer physiologischen Besonderheit heraus als Geschlechtswesen und psychologisch als Familienwesen verstanden. Ihre psycho-physische Beschaffenheit wird als besondere Befähigung zur Sensibilität verstanden. Über den medizinisch-physiologischen Körperdiskurs bahnt sich bereits jenes polar-komplementäre Geschlechterverhältnis an, das dann in der Romantik zum entscheidenden Paradigma wird.16 Ottilie kann daher – und ihrer Zugehörigkeit zu einer jüngeren Generation wegen – als romantischer Charakter gelten. Mit ihrer späteren Entsagung erhebt sie sich zwar über jegliche reale oder vermeintliche Naturgesetzlichkeit. Weil aber die „fast magische Anziehungskraft“ zu Eduard nichtsdestotrotz bis zum Ende bestehen bleibt, wird auch das Prinzip der Wahlverwandtschaft ins Recht gesetzt. Charlotte hingegen ist eine eigenständige, ihrem Ehemann gleichgewichtige und auch ebenbürtige Frau, die für ein ganz anderes Binnenverhältnis der Eheleute steht. Die zunächst nicht mögliche, dann nachgeholte Ehe von Charlotte und Eduard begann optimistisch mit einem Aufbruch im Zeichen der Aufklärung: Gemeinsam haben beide Eheleute eine umfassende Umgestaltung des Besitzes sowie der weiteren Umgebung in Gang gesetzt. Besonders die umgebende Landschaft ist bereits weitgehend nach Maßgabe eines englischen Gartens umgestaltet worden. Der Impuls zur Veränderung reicht noch in die Gegenwartshandlung hinein, in der Umbauten und Erweiterungen vorgenommen werden. Besonders Charlotte und der Hauptmann führen weitere Verbesserungen ein. Der Hauptmann organisiert u.a. ein geordnetes Verwaltungswesen, kümmert sich um die Finanzen und um die sogenannten polizeilichen Belange. Charlotte kümmert sich um eine bessere häusliche medizinische Versorgung und um die Erziehung der Dorfjugend. Ottilie ist sie mit Fürsorge zugetan. Beide Eheleute hatten den mittellosen Hauptmann und die verwaiste Nichte aus der freundschaftlich verstandenen Verpflichtung eingeladen, um ihnen auf ihrem Gut einen standesgemäßen Rahmen für die nutzbringende Entfaltung ihrer Talente und Fähigkeiten zu geben. Die zunächst freundschaft-
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Vgl. etwa Pierre Roussels Système physique et moral de la femme von 1795. Das Werk wurde immer wieder neu aufgelegt. 1786 erschien es unter dem Titel Physiologie des weiblichen Geschlechts in der Übersetzung von Christian Friedrich Michaelis. Zur Verwissenschaftlichung des Geschlechterdiskurses seit der Mitte des 18. Jahrhunderts vgl. Honegger, Claudia: Die Ordnung der Geschlechter. Die Wissenschaften vom Menschen und das Weib 1750–1850. Frankfurt/M. 1991. Speziell zur Situierung von Goethes Roman in den Geschlechterdiskursen um 1800 vgl. Boa, Elizabeth: Die Geschichte der O oder die (Ohn-) Macht der Frauen: ‚Die Wahlverwandtschaften‛ im Kontext des Geschlechterdiskurses um 1800“. In: GoetheJahrbuch 2001, Bd. 118.
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liche Erweiterung der Ehe um den Hauptmann und Ottilie geht auf den geweiteten Horizont ihrer Denkungsart zurück, wie er sich auch in den gartenarchitektonischen Projekten niederschlägt. Während Charlotte und der Hauptmann kontrollierte Menschen sind, die in ihren Gefühlen nur bis zu einer bestimmten Grenze gehen und daher den wahlverwandtschaftlichen Prozess blockieren, nimmt das Verhängnis seinen Lauf, weil Eduard die treibende Kraft zur Veränderung wird. Gleich am Beginn des Romans sehen wir ihn in der Baumschule des Gutes frisches Reisig auf junge Stämme aufpfropfen. Dies ist kein Zeichen für einen Verjüngungswunsch, wie man vorschnell denken könnte, sondern für die gärtnerische Experimentierlust. Es sind ja junge – und nicht alte – Stämme, auf die er das frische Reisig pfropft. Er ist also mit Kreuzungsversuchen beschäftigt, genauer gesagt: er experimentiert damit, neue bzw. edlere Obstsorten zu züchten, wie wir an einer sehr viel späteren Stelle aus Äußerungen des Schlossgärtners erschließen können.17 Schon im II. Kapitel, bevor das chemische Modell diskutiert wird, spricht Eduard explizit vom „Versuch“18, den man mit der geplanten Erweiterung des Privatlebens durch die einzuladenden Freunde wagen wolle. Der Erneuerungsdrang findet sein Ventil zunächst in dem Vorhaben, gemeinsam mit dem Hauptmann das Gut umzugestalten. In der jungen engelsgleichen Ottilie findet Eduard dann ein attraktiveres, erotisches Ziel für seinen Experimentierdrang: Mit ihr entdeckt er nämlich das Phänomen der gegenseitigen Korrespondenzen, die aus einer „fast magischen Anziehungskraft“ entstehen. Eduards Überschwang und seine mit dem Konstrukt der Wahlverwandtschaft getarnte Maßlosigkeit scheinen für einen kurzen Moment zu einem neuen Gleichgewicht zu führen. Aber seine Triebkraft geht über alle Schranken und Widerstände hinaus und will eine Umgestaltung nach seinen Wünschen erzwingen. Eduard hatte aufklärerisch begonnen, wird aber nun in der Maßlosigkeit zu einem – wie Goethe hätte sagen können – romantischen Charakter. Ottilie bietet ihm mit ihrer Reizbarkeit in dieser Phase den narzisstischen Resonanzboden. Doch die Maßlosigkeit führt zur Katastrophe, weil Ottilie den falschen Weg erkennt. Nach dem Tod des Kindes (also der auslösenden Katastrophe) entsagt sie Eduard und dem Leben überhaupt. Bei der noch jungen Ottilie erscheint diese, aus Goethes Alterserkenntnis resultierende ‚Abklärung‘, erzwungen; sie zeigt aber den Grad der Ablehnung, mit dem Goethe das entgrenzende Experiment der Wahlverwandtschaft verwarf. Durch den Zusammenbruch der Gruppe erweist sich im nachhinein, dass die Ausgangssituation
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Dieser beklagt sich darüber, dass sich das Ergebnis, also die Früchte, gar nicht bewährt hätten. HA 6, 252.
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des Romans, also die Ehe von Charlotte und Eduard, der beste mögliche Zustand war. Er ist wohl zu leichtfertig aufs Spiel gesetzt worden und ließ sich danach zu keinem Zeitpunkt wieder herstellen. Mit der Handlung sind die Keime des Ungenügens und der Zerstörung offenbar geworden. Nicht nur die romantische Entgrenzung, sondern auch die aufklärerische Grenzziehung haben – aus der Sicht von Goethe – zum Untergang beigetragen.
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„So ist [...] der Weg zu verfolgen den uns Voß in seiner Luise so schön gezeigt hat.“ Goethe, Johann Heinrich Voß und das homerische Epos
Ende des Jahres 1796 verschickt Goethe seinen gerade erschienenen Roman Wilhelm Meisters Lehrjahre an bekannte Zeitgenossen und kündigt in den Begleitbriefen an Friedrich August Wolf in Halle und Johann Heinrich Voß in Eutin an, bald würde er ihnen vielleicht ein „episches Gedicht“1 bzw. eine „epische Arbeit“2 senden können. Beiden versichert er, einen Anteil daran zu haben, dass er diese Arbeit nun endlich aufgenommen. „Schon lange war ich geneigt mich in diesem Fache zu versuchen und immer schreckte mich der hohe Begriff von Einheit und Untheilbarkeit der Homerischen Schrifften ab, nunmehr da Sie“, so an F. A. Wolf, „diese herrlichen Werke einer Familie zueignen, so ist die Kühnheit geringer sich in grössere Gesellschaft zu wagen und der Weg zu verfolgen den uns Voß in seiner Luise so schön gezeigt hat.“3 Dieses in Aussicht gestellte „epische Gedicht“ ist Herrmann und Dorothea und erscheint im Oktober 1797. Nicht nur, dass der Dichter bei seinem Verleger Vieweg ein fulminantes Honorar dafür aushandelt – 1000 Thaler in Gold – dieses Werk wird bekanntlich, nach dem Werther, auch noch der größte Erfolg Goethes beim Publikum. Die zeitgenössische Kritik findet lobende bis begeistert zustimmende Worte und stellt, abgesehen von den Goethegegnern wie z.B. Gleim, das Werk sogleich über die Luise von Johann Heinrich Voß, eine bürgerliche Idylle in Hexametern, die den Untertitel Ein Ländliches Gedicht trägt und wenige Jahre zuvor erschienen war. August Wilhelm Schlegel, der Romantiker, preist 1797 in seiner Rezension zu Herrmann und Dorothea die hier gelungene Erneuerung des „homerischen Epos“4, während der Luise von Voß nicht mehr als „die Idee zu ländlichen Sittengemälden im epischen
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Goethe an Friedrich August Wolf am 26. Dezember 1796. In: Goethes Werke. Weimarer Ausgabe, IV. Abteilung, Bd. 11. Weimar 1892, S. 296. Goethe an Johann Heinrich Voß am 6.Dezember 1796; ebd., S. 277. Goethe an Wolf, S. 296f. Vgl. Schlegel, August Wilhelm von: Goethes Hermann und Dorothea. In: Vermischte und kritische Schriften. Hg. von Eduard Böcking. Fünfter Band. Recensionen. Leipzig 1847, S. 183–221 (Reprografischer Nachdruck, Hildesheim, New York 1971).
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Vortrage, einer anmuthigen gemischten Gattung“5, zugrunde liege. Trotz seiner Hexameter sei dies kein „eigentliches Epos“6. In Wilhelm von Humboldts großer Abhandlung Über Goethes Herrmann und Dorothea von 1799 findet sich gleich gar kein Verweis auf Voß. Er sieht Goethes Werk in Analogie zum bürgerlichen Trauerspiel als „die bürgerliche Epopee“, welche wie die „heroische Epopee“ „ zu einem gleich allgemeinen Ueberblick über das Schicksal und die Menschheit [führt] und [...] dieselbe sinnliche Individualität, dieselbe künstlerische Vollendung [besitzt].“7 Goethe selbst allerdings hat Voß’ Luise immer wieder in einen Zusammenhang mit seinem Gedicht Herrmann und Dorothea gestellt und seine anhaltende Sympathie für dieses Werk des Dichters aus Eutin bewahrt. Dass er „besonders die dritte Idylle“ „oft vorgelesen und recitirt“8 habe, hat er nicht nur Voß gegenüber behauptet; am 28. Februar 1798 schreibt er an Schiller von dem „reinen Enthusiasmus [...], mit dem ich den Pfarrer von Grünau aufnahm,“ und „diese Freude“ habe ihn „in diese Gattung gelockt“9. In der Elegie Herrmann und Dorothea, die als Einleitung zu dem geplanten epischen Gedicht Herrmann und Dorothea gedacht war, wird denn auch ausdrücklich an Voß erinnert: „Uns begleite des Dichters Geist, der seine Luise / Rasch dem würdigen Freund, uns zu entzücken, verband.“10 Die Bedeutung, die Voß für Goethe und seinen Versuch um die Erneuerung des homerischen Epos gehabt hat, ist meist geringgeschätzt worden, nicht nur durch Schlegel und Humboldt.11 Das mag darin begründet liegen, dass Goethes Versuch direkt an der Luise gemessen wurde und es dann nicht schwer war, zu Ungunsten der Luise den Abstand zwischen beiden Gedichten zu bemerken. Herrmann und Dorothea dankt seine Entstehung allerdings auch nicht nur dem Ländlichen Gedicht von Voß, sondern viel umfassenderen Einflüssen. Angeregt zur Beschäftigung mit der Welt Homers fühlte Goethe sich, wie oben schon angedeutet, durch die Studien Friedrich August Wolfs, der 1795 mit Prolegomena ad Homerum eine Historisierung und Verwissenschaftli-
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Ebd., S. 205. Ebd. Humboldt, Wilhelm von: Ueber Goethes Herrmann und Dorothea. In: ders., Werke in fünf Bänden. Hg. von Andreas Flitner und Klaus Giel. Bd. 2. Berlin 1961, S. 300. Goethe an Voß am 1. Juli 1795. In: WA, IV. Bd. 10, S. 274. Der Briefwechsel zwischen Schiller und Goethe in den Jahren 1794 bis 1805. Hg. von Manfred Beetz. In: Goethe: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Münchner Ausgabe. Hg. Karl Richter u.a. Band 8.1. München 1990, S. 540. Goethe: Herrmann und Dorothea (Elegie). In: Münchner Ausgabe, Bd. 4.1. München 1988, S. 859. Vgl. dazu Sengle, Friedrich: ‚Luise‘ von Voß und Goethes ‚Hermann und Dorothea‘. Zur Funktion des Homerisierens. In: ders.: Neues zu Goethe. Essays und Vorträge. Stuttgart 1989, S. 49–68.
Goethe, Voss und das homerische Epos
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chung der Antike-Studien einleitet, indem er die Entstehung der antiken Epen nicht einem einzigen Dichter zuschreibt, sondern mehreren Verfassern, den Homeriden. Hinzu kommt, dass Goethe in diesen Jahren mit Schiller eine gattungstheoretische Diskussion über epische und dramatische Dichtung führt und man sich dabei auch für das Epos interessiert. Aber vor allem Vossens 1781 und 1793 erschienenen Übersetzungen der Odyssee und Ilias beeindrucken Goethe, denn mit ihnen wurde der Hexameter so aus dem Griechischen übertragen, dass er im Deutschen zum „Idealtypus des gesitteten und des sittlichen Sprechens“12 werden konnte. Goethes Hochschätzung für diese Übersetzungsleistung von Voß zeigt sich nicht zuletzt darin, dass Schiller und er Voß in den Xenien, was dort ja bekanntlich selten geschieht, mit einem Lob bedacht haben: Louise von Voss Wahrlich, es füllt mit Wonne das Herz, dem Gesange zu horchen, Ahmt ein Sänger, wie der, Töne des Althertums nach.13
Schon 1787 hatte Goethe sich zu Voß’ Homer-Übersetzung bekannt, weil der „sich nahe an den Text gehalten“ und „eine Spur des wahren Sinnes in seiner Übersetzung geblieben“ sei, Bodmer dagegen habe „das Original auf eine unbegreifliche Weise verlassen und völlig falsch übersetzt.“14 Von Volker Riedel ist darauf aufmerksam gemacht worden, dass Goethe in seinen Auffassungen vom Übersetzen, die er später, 1816 bis 1818 im Rahmen des Prosateils des West-östlichen Divans darlegen wird, „mit Voß eine neuartige Übersetzungspraxis beginnen“15 sieht. Der Dichter vertritt darin die Meinung, der „höchste und letzte“ Zeitraum des Übersetzens sei „derjenige nämlich, wo man die Übersetzung dem Original identisch machen möchte, so daß eins nicht anstatt des andern, sondern an der Stelle des andern gelten solle“.16 Nach diesem Prinzip, das übersetzungstheoretisch gesprochen als das „ausgangssprachenorientierte“17 gilt, habe, so Goethe, als erster „der nie genug zu schätzende Voß“18 gearbeitet:
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Marquardt, Marion: Johann Heinrich Voß – ein Bürger ohne Republik. In: J. H. Voß. Kulturräume in Dichtung und Wirkung. Hg. von Andrea Rudolph. Dettelbach 1999, S. 9. Goethe, Johann Wolfgang: Münchner Ausgabe. Bd. 4.1, S. 791. Goethe, Johann Wolfgang: Versuch eine Homerische dunkle Stelle zu erklären. In: WA, II. Abteilung. Bd. 42, S. 9. Riedel, Volker: Goethe und Voß. Zum Antikeverhältnis zweier deutscher Schriftsteller um 1800. In: Voß: Kulturräume, S. 22. Johann Wolfgang Goethe: West-östlicher Divan: Besserem Verständnis. In: Münchner Ausgabe. Bd.11.1.2, München 1998, S. 264. Riedel: Goethe und Voß, S. 23. Goethe: Besserem Verständnis, S. 264.
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Eine Übersetzung, die sich mit dem Original zu identificiren strebt [...] erleichtert höchlich das Verständnis des Originals; hiedurch werden wir an den Grundtext hinan geführt, ja getrieben, und so ist denn zuletzt der ganze Zirkel abgeschlossen, in welchem sich die Annäherung des Fremden und Einheimischen, des Bekannten und Unbekannten bewegt.19
Dass auch Goethes Verhältnis zu Voß nicht kritiklos blieb, ist bekannt, machten der Rigorismus und die Selbstgerechtigkeit Vossens es doch auch ihm wohlgesonnenen Zeitgenossen nicht leicht, immer mit ihm einverstanden zu sein. Goethe mokierte sich denn auch schon mal Schiller gegenüber, Voß sei „am Ende denn doch überzeugt […], daß er ganz allein Hexameter machen kann und soll.“20 Später, als Voss sich durch sein spannungsreiches Verhältnis zu den Romantikern immer mehr isolierte, bezeichnet er ihn gar als „haberechtische[n] Griesgram“21 als „Cyclopen und Sylbenfresser“22. Darauf soll hier jetzt jedoch nicht weiter eingegangen werden. Zurück zu Herrmann und Dorothea. – Es lässt sich feststellen, die Übersetzungsleistung von Voß, dem Deutschen mit dem homerischen Hexameter einen Vers gegeben zu haben, der einen natürlichen, aber zugleich veredelnden Ausdruck erlaubt, hat Goethe in seinem Interesse für eine Erneuerung des homerischen Epos herausgefordert. Aber nicht allein die Versmaße hat er bewundert, auch für des Eutiners „der Wirklichkeit gewidmete Dichtungsweise“ findet Goethe ein positives Urteil. Zu den Lyrischen Gedichten von Voß, die 1802 in vier Bänden erscheinen, schreibt er eine in sehr wohlwollendem Ton gefasste Rezension, die 1804 in der Jenaer Allgemeinen Literaturzeitung zu lesen ist. Dieses Wohlwollen hatte allerdings einen pragmatischen Hintergrund, denn Goethe hätte Voß, der 1802 nach der vorzeitigen Pensionierung aus seinem Schulamt in Eutin nach Jena übergesiedelt war, zu diesem Zeitpunkt, wohl seiner hohen einschlägigen Sachkenntnis wegen, gern in seiner Nähe gehalten. Bekanntlich ist daraus nichts geworden und Voß dann weiter nach Heidelberg gezogen. Vergleicht man Schillers vernichtende Besprechung der Gedichte von Gottfried August Bürger mit Goethes Voß-Rezension (ein Vergleich, der deshalb nicht ganz abwegig ist, weil in beiden ein auf Klassizität der Kunst orientierter Dichter über ein dem Alltäglichen, dem Volkstümlichen verpflichtetes Dichtungsverständnis urteilt) so fällt sofort der Unterschied auf. Goethe, zwar
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Ebd., S. 265. Goethe an Schiller am 28.2.1798. In: Münchner Ausgabe. Bd. 8.1, S. 540. Goethe an Knebel am 11.11.1809. In: WA IV, Bd. 21. Weimar 1896, S.132. Goethe, Johann Wolfgang: Zahme Xenien V. In: Münchner Ausgabe. Bd. 13.1., S. 208.
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mit einem leicht ironischen Ton, weiß Voß’ Stoffwahl durchaus zu schätzen und gewinnt der Wirkungsstrategie dieser Texte Zustimmung ab. Seine Gedichte, bei Gelegenheit ländlicher Vorfälle, stellen zwar mehr die Reflexion eines dritten, als das Gefühl der Gemeine selbst dar: aber wenn wir uns denken mögen, daß ein Harfener sich bei der Heu- Korn- und Kartoffelernte finden wollte, wenn wir uns vorstellen, daß er die Menschen, die sich um ihn versammeln, aufmerksam auf dasjenige macht, was ihnen als etwas alltägliches wiederfährt, wenn er das Gemeine, indem er es betrachtet, dichterisch ausspricht, erhöht, jeden Genuß der Gaben Gottes und der Natur mit würdiger Darstellung schärft; so darf man sagen, daß er seiner Nation eine große Wohltat erzeige.23
Was Goethe an Voß schätzt, ist dessen „natürliche Unabhängigkeit“, die jener, der „aus beengenden Umständen sich hervorgehoben, durch eigentümliche Kraft [...] immer mehr gesteigert“ habe. Für die Kämpfe, in die er sich hineinbegebe und in denen „er es an Heftigkeit der Worte [...] nicht fehlen“ lasse, verteidigt Goethe ihn. Es ist der Aufklärer, den er hier in Voß sieht, der „gegen Schnellglauben und Aberglauben, gegen alle, den Tiefen der Natur und des menschlichen Geistes entsteigenden Wahnbilder, gegen Vernunftverfinsternde, den Verstand beschränkende Satzungen, Macht- und Bannsprüche, gegen Verketzerer, Baalspriester, Hierarchen, Pfaffengezücht, und gegen ihren Urahn, den leibhaftigen Teufel“, aufstehe. Und es folgt ein schönes Bekenntnis Goethes zu dem kämpferischen Aufklärer Voß: Der Mann folge nicht der „grundfalschen Maxime, wahre Toleranz müsse auch gegen Intoleranz tolerant sein. Keineswegs!“ fügt er hinzu und ergänzt: „Intoleranz ist immer handelnd und wirkend, ihr kann auch nur durch intolerantes Handeln und Wirken gesteuert werden.“24 Goethe lobt Vossens poetologisches Verfahren, denn bei der „der Wirklichkeit gewidmeten Dichtweise“ gelinge es ihm, „aus jenem Stoff einen würdigen Körper zu bilden.“25 Durch den „Sieg der Form über den Stoff“ stehe es ihm frei, „das Wirkliche zu verlassen und ins Mögliche zu gehen, das Nahe wegzuweisen und das Ferne zu ergreifen, das Eigene aufzugeben und das Fremde in sich aufzunehmen [...].“ Es ist dies auch das Verfahren, nach dem Voß sein Ländliches Gedicht Luise geschaffen hatte, in dem „zu einer echt deutschen wirklichen Umgebung eine echt antike geistige Welt sich geselle.“26 Man kann in dieser Beschreibung Goethes das Konzept erkennen, das auch er seiner Dichtung Herrmann und Dorothea zugrunde gelegt hat.
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Goethe, Johann Wolfgang: . JALZ, Nr. 19, 16. April 1804. In: Münchner Ausgabe. Bd. 6.2, S. 568f. Ebd., S. 572f. Ebd., S. 574f. Ebd., S. 577.
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Trotzdem ist der Unterschied zwischen den Dichtungen immens. Das ist natürlich zuerst einmal den zwei nicht vergleichbaren Dichterpersönlichkeiten geschuldet, aber – so meine These – beide Dichtungen trennt ein gesellschaftshistorischer Umbruch von gewaltigem Ausmaß: die Französische Revolution, die von den Zeitgenossen als eine Erschütterung aller bisherigen Gewissheiten erlebt wurde. Es wird meist übersehen, dass die Luise der vorrevolutionären Zeit entstammt – das aus drei Teilen, drei Idyllen, sich zusammensetzende Gedicht ist 1783/84 einzeln im Hamburger Musenalmanach und im Teutschen Merkur veröffentlicht worden. Erstmals vollständig als Buchausgabe erscheint Luise 1795, aber von ihrem ideellen Gehalt her ist das die Dichtung aus den 80er Jahren, auch wenn Voß geändert hat, vor allem an der Form, den Hexametern. Daran arbeitet er auch nach 1795 noch weiter, nicht immer zum Nutzen des Werkes – erst 1807 erscheint die sogenannte Vollendete Ausgabe. Dieser hat Voß eine Anmerkung vorausgeschickt: Grünau, der Schauplatz der Luise, solle als ein erdichtetes holsteinisches Dorf gesehen werden, „dessen Lage, Anbau und Lebensart nur im Gebiete der veredelten Möglichkeiten zu suchen“27 sei. Gegenstand des Gedichtes ist zunächst ein ‚Fest im Walde‘ anlässlich des 18. Geburtstages von Luise, der Tochter des Pfarrers von Grünau, auf dem sie und „der edle bescheidene Walter“28, ein junger Pastor, sich näher kommen. Kurze Zeit später ist dieser wieder zu Besuch und wird bereits als Verlobter bzw. Bräutigam empfangen. In der allgemeinen Begeisterung der ganzen Familie über das Glück des jungen Paares, entschließt sich der Pfarrer von Grünau spontan, die Tochter mit Walter bereits heute und jetzt, im eigenen Hause, zu trauen. Eine Feier mit reichlich Essen und Trinken, mit Musik und Gesang, der das junge Paar im allgemeinen Trubel schließlich entflieht, beschließt das Gedicht: Aber da rings die Gläser mit hellem Gekling aneinanderKlingelten, rings in den Klang wie Triumph lautjauchzender Glückwunsch Tönte, da Geig und Trompet und Horn und der polternde Brummbaß Wild mit betäubendem Hall einschmetterten: rasch in dem Aufruhr Flog mit der Braut aus der Türe der Bräutigam; lautes Gelächter Schallte den Fliehenden nach und Händeklatschen und Jubeln.29
Luise zeigt das Programm der Empfindsamkeit: der zärtliche Hausvater, die Braut, die Hochzeit, Hausmusik, Picknick im Walde. Das sprach die Herzen
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Voß, Johann Heinrich: Werke in einem Band. Ausgewählt und eingeleitet von Hedwig Voegt. Berlin und Weimar 1983, S. 407. Ebd., S. 92 u.a. Ebd., S. 173.
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des zeitgenössischen Lesers, vor allem der Leserinnen an und machte das Gedicht dann zu einem der großen Erfolge im 19. Jahrhundert. In immer neuen Ausgaben – bis hin zu ganz billigen und ganz teuren – wurde es in den Kanon der Schullektüre aufgenommen und landete auf so manchem Gabentisch von Konfirmanden und Brautleuten!30 So positiv die Idealität der abgebildeten Familienverhältnisse vom Publikum des 19. Jahrhunderts aufgenommen wurde, so distanziert steht der heutige Leser mit seinen Erfahrungen allerdings dem Idyll gegenüber, weshalb der Text wohl auch nicht mehr für ein breiteres Publikum zurückzugewinnen ist. Für Voß jedoch konnte die bürgerliche Familie, die er mit den unteren Ständen und dem Adel in einem innigen mitmenschlichen Verhältnis zeigt, zu Darstellungen „befreiten Lebens auf dem Lande bzw. im Pfarrhaus“, dienen, die, so hat es Klaus Garber gesehen, „immer auf den vorgängigen politischen Rahmen verweisen, auf den weisen Entschluß zu aufgeklärter Herrschaft, d.h. Einräumung der Freiheitsrechte.“31 Ernst Theodor Voß nennt die Luise in seiner Neubewertung 1993 einen „utopischen, die Realitäten überbietenden Vorauswurf“, „eine Insel-Situation innerhalb der Gesellschaft, an die Voß die Hoffnung knüpft, daß sich aus ihr die ganze Gesellschaft ins Richtige finden würde.“32 Aber ist Vossens gesellschaftliche Utopie tatsächlich allein in die in Harmonie und Liebe agierende Familie eingeschrieben? Leicht ist überlesen worden, dass das Gedicht sich keinesfalls im rein Privaten genügt, sondern sehr wohl darüber hinausblickt und dies sogar ziemlich weit. Entfaltet sich das Gedicht doch vor einem ganz konkreten gesellschaftspolitischen Horizont, der gleichsam am Hintergrund aufgezogen ist: Es ist der amerikanische Unabhängigkeitskampf, an dem der Pfarrer von Grünau lebhaften Anteil nimmt. Sein „Leibbuch“, auf einem Bord über dem Bett, und somit immer griffbereit, ist eines über Washington und Franklin, seine Gunst gehört dem Schwiegersohn auch deshalb, weil er mit ihm sich einig weiß über „Europa [...] und Amerika, jenes im Dunkel, / Dies im tagenden Lichte der Menschlichkeit!“33 Und so nennt er Freiheit des Denkens notwendig wie frische Luft, Unterdrückung des Geistes entwürdigend. Toleranz gegenüber den Reli-
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Vgl. Ritter, Heidi: Resonanz und Popularität der ‚Luise‘ im 19. Jahrhundert. In: Voß: Kulturräume. Garber, Klaus: Idylle und Revolution. Zum Abschluß einer zweitausendjährigen Gattungstradition im 18. Jahrhundert. In: Ortrud Gutjahr / Wilhelm Kühlmann / Wolf Wucherpfennig (Hg.): Gesellige Vernunft. Zur Kultur der literarischen Aufklärung. Würzburg 1993, S. 76. Voß, Ernst Theodor: Idylle und Aufklärung. Über die Rolle einer verkannten Gattung im Werk von Johann Heinrich Voß. In: Wolfgang Beutin / Klaus Lüders (Hg.): Freiheit durch Aufklärung. Johann Heinrich Voß (1751 – 1826). Frankfurt/M. / Berlin u.a. 1995, S. 47. Voß: Werke, S. 120f.
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gionen, deutlich an Lessings Nathan erinnernd, vertritt er ebenso wie er jeden Anspruch der Erwähltheit eines Einzelnen verwirft. In diesem Geist stimmt man denn auch beim Fest im Walde, nachdem man sich ganz bürgerlich am Kaffee gestärkt hat, ein Lied an, das eine weltumspannende Brüderlichkeit beschwört: Aus allen Völkern rauschen dann Verklärte Millionen, die brüderlich gesellt fortan Den neuen Stern bewohnen! Durch Farb und Glauben nicht getrennt, An Sinn und Taten höher, Sind ihm, den selbst kein Jubel nennt, Die Brudervölker näher! Schon hier vereint in Lieb und Recht Sei aller Welt Gewimmel! Wir sind ja eines Staubs Geschlecht, Bedeckt von einem Himmel! […]34
An Voß’ Dichtung fällt auf, diese kosmopolitischen Charakter tragenden Überzeugungen gehören wie selbstverständlich zu den Figuren, sind eine Haltung, die ihnen eigen ist, d.h. sie werden nicht errungen, etwa durch ein Handeln, durch Entscheidungssituationen oder Bewährungen. Hier hat A.W. Schlegel recht, Voß Gedicht ist „mehr Darstellung des Ruhenden, als ruhige Darstellung des Fortschreitenden [...]“35. Voß hat eine in der vorrevolutionären Aufklärung verwurzelte bürgerliche Idylle geschrieben, die im verklärenden Versmaß Homers einen erstrebten Zustand bürgerlicher Wirklichkeit als bereits erreicht vorstellt. Ein Eidyllion – ein friedliches Bild – keine Helden. Goethe nun knüpft an Voß insofern an, als auch er im erzählenden Metrum des homerischen Hexameters einen Ausschnitt gegenwärtiger bürgerlicher Wirklichkeit vor den Leser stellt, eine kleinstädtische Welt: die Familie – Eltern und Sohn – die Honoratioren der Stadt. Doch er bildet keinen Zustand ab, er erzählt von einer Krise, in der die überkommene Ordnung ins Wanken geraten ist. Ein Strom von Flüchtlingen passiert das Städtchen und verlangt so jedem einzelnen Bürger Entscheidungen und Haltungen ab, fragt nach seiner sittlichen Bewährung, seiner Bereitschaft, Fremdes, Neues anzunehmen, für Änderungen bereit zu sein. In Herrmann und Dorothea ist im Gegensatz zu Luise das Weltgeschehen zur unmittelbaren eigenen Erfahrung der Handelnden ge-
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Ebd., S.108. Schlegel: Herrmann und Dorothea, S. 190.
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worden: Mit der Französischen Revolution hat Goethe, anders als der vorrevolutionäre Voß für die Luise, einen modernen Stoff, der die dem Epos notwendige heroische Tat in sich birgt. Aber er konfrontiert, wie gesagt, das welthistorische Ereignis mit einer engen kleinstädtischen deutschen Bürgerwelt. Das erzeugt nun allerdings eine das Epos eher ironisierende Spannung. In den „doppelten Inschriften“36, die den neun Gesängen des Gedichtes jeweils voranstehen – mit dem Namen einer Muse auf die antike Gattung verweisend und einem Stichwort die Gegenwartshandlung aufrufend – bleibt diese Spannung stets anwesend (z.B. Kalliope – Schicksal und Anteil, Terpsichore – Herrmann oder Klio – Das Zeitalter)37. Der fortdauernde Verweis auf die antike Gattung liegt aber natürlich vor allem in den den Gestus Homers nachbildenden Hexametern und seinen antikisierenden Wendungen. In manchen der charakterisierenden Epitheta muss man jedoch die Anspielung auf den Vorläufer Voß sehen, denn die „kluge, verständige Hausfrau“ bei Goethe ist ein Verweis auf die „alte verständige Hausfrau“ bei Voß und der „treffliche Hauswirt“ ebenso wie „der edle, verständige Pfarrherr“ in Herrmann und Dorothea rufen im Leser den „ehrwürdigen Pfarrer von Grünau“ auf. Hier antwortet Literatur auf Literatur und offenbart ein literarisches Spiel. Doch Herrmann und Dorothea ist ein von Goethe ernstgemeinter Versuch um das homerische Epos, in dem die Verknüpfung des privaten Schicksals mit dem welthistorischen Ereignis den Figuren die Größe epischer Helden geben soll. Der unbeholfene Herrmann, „der treffliche Jüngling“, wird in der Begegnung mit dem Flüchtlingsmädchen zu einem selbstbewussten Mann, der die Bevormundung durch den Vater überwinden und zu einem Liebesbund finden kann, der gegenüber dem Alten, dem Vertrauten, etwas Neues beginnen lässt. Goethes Absicht, die Figuren zu erhöhen, sie zu Helden zu machen, hat sich besonders auf Dorothea gerichtet. Ihr hat Goethe Größe gegeben durch ihre Rettungstat, die der Richter erzählt. Sie, „die treffliche Jungfrau“, auf der Flucht vor dem Krieg, hatte sich mit einer Gruppe von Frauen allein auf einem Gehöft befunden, als „den Hof ein Trupp verlaufenen Gesindels“ überfiel, Dorothea das „hochherzige Mädchen“ Aber [...] riß dem einen sogleich von der Seite den Säbel, Hieb ihn nieder gewaltig; er stürzt’ ihr blutend zu Füßen. Dann mit männlichen Streichen befreite sie tapfer die Mädchen, Traf noch viere der Räuber; doch die entflohen dem Tode. Dann verschloß sie den Hof und harrte der Hülfe bewaffnet.38
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Goethe an Schiller am 8. April 1797. In: Münchner Ausgabe. Bd. 8.1, S. 325. Goethe, Herrmann und Dorothea. In: Münchner Ausgabe. Bd. 4.1., S. 551ff. Ebd., S. 596 (Vers 105–118).
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Es ist die Situation, die Dorothea zu dieser heroischen Tat zwingt, eine Situation, die die historischen Umstände herbeigeführt haben und in der sie sich bewährt. „Tätige Intoleranz“, von der Goethe in seiner Voß-Rezension, wie wir gesehen haben, sprechen wird. Mit dem Mädchen Luise, das ist deutlich, ist Dorothea in keiner Weise vergleichbar – Goethes Tendenz zur Heroisierung, ja Monumentalisierung seiner Figuren hat ihren Grund in der außerordentlichen Zeit, in die sie gestellt sind und die von ihnen außerordentliche Bewährung im Menschlichen verlangt. Noch 1829 verteidigt er gegenüber Eckermann die heroische Anlage seiner Dorothea-Figur gegenüber den Kritikern, zu denen auch Wilhelm von Humboldt gehört hatte. „Ja, mein Guter, man hat von seinen Freunden zu leiden gehabt! – Tadelte doch Humboldt auch an meiner Dorothea, daß sie bei dem Überfall der Krieger zu den Waffen gegriffen und drein geschlagen habe! Und doch, ohne jenen Zug, ist ja der Charakter des außerordentlichen Mädchens, wie sie zu dieser Zeit und zu diesen Zuständen recht war, sogleich vernichtet, und sie sinkt in die Reihe des Gewöhnlichen herab.“39 Goethe war sich sicher, dem Ideal der epischen Einheit und Größe mit seinen Figuren gerecht werden zu können. Als Herrmann und Dorothea im Elternhaus erscheinen, ist auch ihre physische Präsenz sogleich unübersehbar: Aber die Tür’ ging auf. Es zeigte das herrliche Paar sich, Und es erstaunten die Freunde, die liebenden Eltern erstaunten Über die Bildung der Braut, des Bräutigams Bildung vergleichbar; Ja, es schien die Türe zu klein, die hohen Gestalten Einzulassen, die nun zusammen betraten die Schwelle.40
Und Dorothea bewährt sich in ihrer außerordentlichen menschlichen Größe noch einmal, als sie sich bei dem Empfang in der Familie Herrmanns getäuscht und von der ihr respektlos erscheinenden Rede des Vaters verletzt glaubt. Sie erteilt solcherart Umgang mit ihr eine Absage und will das Haus wieder verlassen. Doch als es dann tatsächlich zur Verlobung kommt, erinnert sie zunächst an ihren ersten Bräutigam, den „die Liebe der Freiheit“ und „die Lust im neuen veränderten Wesen zu wirken“41 einst hatte handeln lassen. Begeistert von der Französischen Revolution, war er nach Paris gegangen und hatte dort „Kerker und Tod“42 gefunden. Ausgezogen war er, um dabei zu sein bei der Bildung des Neuen, scheidend hatte er zu ihr gesagt: Alles regt sich, als wollte die Welt, die gestaltete, rückwärts Lösen in Chaos und Nacht sich auf und neu sich gestalten.
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Ebd., S. 1092 (Dokumente). (Gespräche mit Eckermann, 23.März 1829). Ebd., S. 619 (Vers 55–59). Ebd., S. 627 (Vers 259 u. 260). Ebd. (Vers 261).
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Du bewahrst mir dein Herz; und finden dereinst wir uns wieder Über den Trümmern der Welt, so sind wir erneute Geschöpfe, Umgebildet und frei und unabhängig vom Schicksal.43
So hatte er Dorothea wiedersehen wollen. Goethe nimmt auf diese Weise den ursprünglichen Freiheitsanspruch der Revolution in sein Epos mit hinein, aber zugleich schlägt er sie angesichts ihres gewalttätigen Verlaufs für Deutschland aus. Am Ende steht Herrmanns Bekenntnis: Desto fester sei, bei der allgemeinen Erschüttrung, Dorothea, der Bund! Wir wollen halten und dauern, Fest uns halten und fest der schönen Güter Besitztum. Denn der Mensch, der zur schwankenden Zeit auch schwankend gesinnt ist, Der vermehret das Übel, und breitet es weiter und weiter; Aber wer fest auf dem Sinne beharrt, der bildet die Welt sich. Nicht dem Deutschen geziemt es, die fürchterliche Bewegung Fortzuleiten, und auch zu wanken hierhin und dorthin. Dies ist unser! so laß uns sagen und so es behaupten! Denn es werden noch stets die entschlossenen Völker gepriesen, die für Gott und Gesetz, für Eltern, Weiber und Kinder Stritten und gegen den Feind zusammenstehend erlagen. Du bist mein; und nun ist das Meine meiner als jemals. Nicht mit Kummer will ichs bewahren und sorgend genießen, Sondern mit Mut und Kraft. Und drohen diesmal die Feinde, Oder künftig, so rüste mich selbst und reiche die Waffen. Weiß ich durch dich nur versorgt das Haus und die liebenden Eltern, O, so stellt sich die Brust dem Feinde sicher entgegen. Und gedächte jeder wie ich, so stände die Macht auf Gegen die Macht, und wir erfreuten uns Alle des Friedens.44
Hier in diesem Aufruf zur nationalen Notwehr lag allerdings ein gefährliches Potenzial – Herrmann und Dorothea wurde im Verlauf des 19. und dann auch 20. Jahrhunderts einerseits das Hausbuch der bürgerlichen Familie, zugleich aber immer mehr in den Dienst nationalistischer Ideologie gestellt. Als das „deutscheste“ aller Werke landete es auf noch mehr Gabentischen als Vossens Luise. Günter Grass notiert während seines Kriegsabiturs: „vormittags Herrmann und Dorothea, nachmittags das Gewehr 98 K“45.
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Ebd., S. 628 (Vers 273–277). Ebd., S. 629 ( Vers 299–318). Grass, Günter: Werke 3. Darmstadt und Neuwied 1987, S. 102. Zitiert nach: Elsaghe, Yahya A.: Säbel und Schere. Goethes Revolutionierung des Epos und die Rezeptionskarriere von Herrmann und Dorothea. In: A Journal of Germanic studies. Canadian Association of University Teachers of German. North York / Ontario, Univ. of Toronto Press. Bd. 34, Heft 2, 1998, S. 122.
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So finden wir uns am Ende in einer zwiespältigen Situation – ist uns der kosmopolitische Humanismus von Voß nicht näher als das heroisch – kämpferische Bekenntnis, das Goethe seinen epischen Helden gibt? Sind wir nicht alle ein bisschen der Pfarrer von Grünau, der in seinem Haus und Garten sitzt und auf die ihm das Weltgeschehen bringende Zeitung wartet, um dann darüber zu räsonieren? Vossens Luise und Goethes Herrmann und Dorothea entstammen zwei getrennten historischen Epochen, Voß konnte seine von den Gewissheiten der Aufklärung bestimmte Haltung in seinem ganz unheroischen Ländlichen Gedicht verkünden, weil er sie noch nicht bedroht sah. Goethe sieht in dem außerordentlichen geschichtlichen Moment dagegen die Herausforderung der außerordentlichen Bewährung, um das Menschliche zu bewahren. Dem Epos kam dies entgegen.
Karl Richter
Rokokonähe und -ferne Metamorphosen der Aufklärung in Goethes ChinesischDeutschen Jahres- und Tageszeiten
Rokoko in Goethes Altersgedichten? Die Goethe-Forschung hat sich mit den Chinesisch-Deutschen Jahres- und Tagezeiten nicht leicht getan. Karl Viëtor, der sonst der Alterslyrik Goethes so verständnisvoll begegnete, sprach von einem „Bruchstück“, das Gewicht und Bedeutung zwei herausragenden Landschaftsgedichten verdanke.1 Und als sich die Bemühungen um die Erschließung der vierzehn Gedichte etwas belebten, folgte den vorgeschlagenen Zugängen meist schon bald die jeweilige Versicherung, dass man so nicht weiterkomme. Der China-Hinweis im Titel schien zunächst einen naheliegenden Schlüssel zum Ganzen zu bieten – bis man erkannte, dass der fernöstliche Bezug für das Werk nicht ähnlich konstitutiv ist wie der nahöstliche für den Divan.2 Der Hinweis auf Ulrike von Levetzow schien einen überzeugenden biographischen Zugang zu bieten3 – das Allgemeine huldigender Verse aber spricht gegen eine so eindeutige Konkretisierung.4 Die Affinität zum Tragischen wurde betont – aber schon bald auch das durch und durch Untragische des Werks.5 Der erreichte Konsens der Interpreten umfasst kaum mehr als ein ziemlich allgemeines und nicht sehr spezifisches Minimum: die zugestandene zyklische
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Viëtor, Karl: Goethes Altersgedichte (1932). In: ders: Geist und Form. Aufsätze zur deutschen Literaturgeschichte. Bern 1952, S. 144–193; hier S. 159. Wild, Reiner: Chinesisch-Deutsche Jahres- und Tageszeiten. In: Bernd Witte u. a. (Hg.): Goethe Handbuch. Hg. Bernd Witte / Theo Buck / Hans-Dietrich Dahnke / Regine Otto / Peter Schmidt. Bd. 1 Gedichte. Stuttgart, Weimar 1996, S. 457. Preisendanz, Wolfgang: Goethes „Chinesisch-Deutsche Jahres- und Tageszeiten“. In: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft 8 (1964), S. 137–152; hier S. 147f. Lemmel, Monika: Der Gedichtszyklus „Chinesisch-Deutsche Jahres- und Tageszeiten“ und sein Ort in Goethes Spätwerk. In: JbDSG 36 (1992), S. 143–166; hier S. 148f. Wohlleben, Joachim: Über Goethes Gedichtzyklus „Chinesisch-Deutsche Jahresund Tageszeiten“. In: JbDSG 29 (1985), S. 266–300; hier S. 276 u.ö. Dagegen Lemmel: Gedichtszyklus, S. 149. Zum Problem Müller-Seidel, Walter: Lyrik, Tragik und Individualität in Goethes später Dichtung. In: Gerhard Buhr u.a. (Hg.): Das Subjekt der Dichtung. Festschrift für Gerhard Kaiser. Würzburg 1990, S. 497–518.
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Formung, den Hinweis auf Bezüge zu Goethes Farbenlehre, die Einordnung als Alterslyrik. Die vierzehn Gedichte sind überwiegend im Frühling und Frühsommer des Jahres 1827 entstanden. Niemand wird ihre Einstufung als Alterslyrik also ernstlich anzweifeln. Doch zu ihren Eigentümlichkeiten gehört auch die Rückbeziehung auf Früheres und Frühestes. Neu sind solche Beobachtungen im Umgang mit Goethes Alterswerk nicht. Alfred Anger hat schon vor Jahrzehnten auf ein „Spätrokoko“ Goethes aufmerksam gemacht und dessen Erschließung gefordert.6 Der West-östliche Divan bot dafür einen dankbaren Beobachtungsrahmen.7 Doch schon Rilke war aufgefallen, wie viele verschiedene Elemente auch in den ChinesischDeutschen Jahres- und Tageszeiten zusammentreten – auch etwas „Spielerisch-Dekoratives“.8 Emil Staiger sprach schließlich unumwunden von Anklängen an das literarische Rokoko.9 Auf einige auffällige Übereinstimmungen sei nur kursorisch hingewiesen. Die Gedichte I und XIII spielen auf die rokoko-, aber auch Divan-gemäße Motivtrias von Lieben, Trinken und Dichten an, verkürzen sie freilich in neuer Altersbescheidenheit zur Zweiheit von Trinken und Dichten. Die weidenden Schafe im IV. Gedicht waren ähnlich auch ein typisches Requisit des bukolischen Rokoko gewesen. Und auch die – vor allem in den letzten fünf Gedichten des Zyklus beobachtbaren – Züge von Geselligkeit und Gespräch tragen dazu bei, dass man sich an Verwandtes im Rokoko wie im Divan zurückerinnert fühlen kann.10 Etwas ausführlicher möchte ich nur auf die Frage der Landschaftsdarstellung eingehen, die auch für das literarische Rokoko so typisch gewesen war.11 Mehrere Gedichte der Chinesisch-Deutschen Jahres- und Tageszeiten sprechen ausdrücklich von einer Gartenlandschaft (II, V und VII). Requisiten wie Lilien und Narzissen, zu Spalieren geordnet, vermitteln den Eindruck von Nähe und menschlicher Kultivierung. Wenn von Schafen, einem See und dem Abendstern die Rede ist, so öffnet solches Zubehör den Blick aber auch für eine weitere und offenere Parklandschaft.
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Anger, Alfred: Literarisches Rokoko. Stuttgart 1962, S. 31f. Richter, Karl: Rokoko-Reminiszenzen in Goethes „West-östlichem Divan“. In: Mathias Luserke / Reiner Marx / Reiner Wild: Literatur und Kultur des Rokoko. Göttingen 2001, S. 277–288. So im Brief vom 3. Februar 1914 an Anton Kippenberg (Rilkes Briefwechsel mit A. K., hg. von Ingeborg Schnack und Renate Scharffenberg. Frankfurt/M. und Leipzig 1995. Bd. 1, S. 479). Staiger, Emil: Goethe. Bd. 3. Zürich 1959, S. 230. Dazu das Buch von Gisela Henckmann: Gespräch und Geselligkeit in Goethes „West-östlichem Divan“. Stuttgart / Berlin / Köln / Mainz 1975. Anger, Alfred: Landschaftsstil des Rokoko. In: Euphorion 51 (1957), S. 151–191.
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Doch schon die Frage nach Voraussetzungen und Motivierungen dieser Landschaft wurde sehr verschieden beantwortet. Die einen glaubten an Spuren der Begegnung mit chinesischer Literatur.12 Andere verweisen mit Recht auf Goethes Gartenhaus und den Weimarer Park als den Entstehungsort der Gedichte13 oder schließen auf erinnerte Szenerien der Begegnung mit Ulrike von Levetzow.14 Dass Räumlichkeiten dieser Art vielschichtig motiviert sein können, möchte ich nicht in Abrede stellen. Doch auch Spuren rokokotypischer Landschaftsdarstellung, wie Anger sie erschlossen und beschrieben hat, scheinen mir unabweisbar. Wir begegnen ihnen am einprägsamsten just dort, wo die Verse am persönlichsten und eigenwilligsten scheinen und mancher Leser sich lieber an die Diktion des Sturm und Drang erinnert fühlte – so in dem bekannten Gedicht Dämmrung senkte sich von oben […]. Lassen Sie mich zum Vergleich ein sehr frühes Gedicht Goethes heranziehen, das 1768, also fast sechzig Jahre zuvor, geschrieben wurde: Die Nacht Gern verlaß ich diese Hütte Meiner Schönen Aufenthalt. Und durchstreich mit leisem Tritte Diesen ausgestorbnen Wald. Luna bricht die Nacht der Eichen Zephirs melden ihren Lauf, Und die Birken streun mit Neigen Ihr den süßsten Weihrauch auf. Schauer der das Herze fühlen Der die Seele schmelzen macht, Wandelt im Gebüsch im Kühlen. Welche schöne, süße Nacht! Freude! Wollust! kaum zu fassen. Und doch wollt ich Himmel dir Tausend deiner Nächte lassen Gäb mein Mädgen eine mir. (Bd. 1.1, 127)15
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So Wohlleben: Goethes Gedichtzyklus, S. 270. Vgl. u. a. Ringleben, Joachim: „Dämmrung senkte sich von oben“. Gedanken über ein Gedicht des späten Goethe. In: Jahrbuch des Freien Deutschen Hochstifts 2004, S. 97–115; hier S. 97. Preisendanz: Goethes, S. 144. Band- und Seitenangaben beziehen sich hier und im Folgenden auf die Ausgabe Goethe, Johann Wolfgang: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Hg. von Karl Richter in Zusammenarbeit mit Herbert G. Göpfert, Norbert Miller, Gerhard Sauder und Edith Zehm. Münchner Ausgabe. 21 in 33 Bänden. München
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Das Gedicht verrät bereits die empfindsame Überformung des Rokoko und wird gern zitiert, um die Ankündigung einer neuen Naturerfahrung zu dokumentieren, die bereits auf den Sturm und Drang vorausweist. Doch mit der Hütte als bergendem Raum einer Schönen, mit mythologischen Requisiten wie Luna und Zephirn und der anzüglichen Schlusspointe dominieren noch immer die Elemente des Rokoko. Vergleichen wir damit das VIII. und bekannteste Gedicht aus dem in Frage stehenden späten Zyklus: Dämmrung senkte sich von oben, Schon ist alle Nähe fern; Doch zuerst emporgehoben Holden Lichts der Abendstern! Alles schwankt ins Ungewisse, Nebel schleichen in die Höh‘; Schwarzvertiefte Finsternisse Widerspiegelnd ruht der See. Nun im östlichen Bereiche Ahnd‘ ich Mondenglanz und Glut, Schlanker Weiden Haargezweige Scherzen auf der nächsten Flut. Durch bewegter Schatten Spiele Zittert Lunas Zauberschein, Und durchs Auge schleicht die Kühle Sänftigend ins Herz hinein. (MA 18.1, 18)
Natürlich spürt man sofort den Unterschied beider Gedichte. Doch es gibt auch auffällige und geradezu zitathafte Übereinstimmungen. Beide Mondund Nacht-Gedichte sind baugleich. Beide apostrophieren den Mond als ‚Luna‘ und stimmen in der Motivik des fühlenden Herzens, aber auch der Kühle überein. Doch überraschenderweise ist es das späte Gedicht, das die RokokoBezüge in manchem sogar verdeutlicht: so vor allem in den dafür typischen Vokabeln des Schleichens und Scherzens, aber auch den ‚zitternd‘ bewegten Licht- und Schattenspielen der Landschaft.
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Erinnerung und Selbstzitat Zum Alter, wie es sich in den Chinesisch-Deutschen Jahres- und Tageszeiten artikuliert, gehört die Erinnerung. Sie bestimmt die Folge der ersten acht Gedichte. Wolfgang Preisendanz las sie im wesentlichen als Erinnerung eines bestimmten ‚lebensgeschichtlichen Augenblicks‘. Er sah unseren Zyklus, „vier Jahre nach der Marienbader Elegie gedichtet, in vielem als eine ‚wiederholte Spiegelung‘ der beglückenden wie quälenden Begegnung mit Ulrike Levetzow“, die ‚schwarzvertieften Finsternisse‘ im VIII. Gedicht als solche Spiegelung des abgründigsten Verses der Elegie: „Mir ist das All, ich bin mir selbst verloren“ (Bd. 13.1, S. 139).16 Doch die Trilogie der Leidenschaft bezieht sich in einer Folge von Anspielungen und wiederholten Spiegelungen bekanntlich schon ihrerseits auf den Werther, auf Tasso und Pandora zurück.17 Die Chinesisch-Deutschen Jahres- und Tageszeiten bescheren diesem Verfahren wiederholter Spiegelungen eine eher noch größere Vielfalt. Erinnerungen an die Zeit der Marienbader Elegie und Rokoko-Reminiszenzen bezeichnen in Wahrheit nur die jüngste und die älteste Schicht solcher intertextueller Selbstzitate. Andere beziehen sich in auffälliger Weise auf den West-östlichen Divan. Bereits das ‚Chinesisch-Deutsche‘ des späteren Zyklus folgt bewusst dem Baugesetz des Divan. Und wenn der Dichter im ersten Gedicht in der Maske eines fernöstlichen Mandarins dem ‚Norden‘ entflieht, um „am Wasser und im Grünen“, „fröhlich“ zu „trinken“ und „geistig“ zu „schreiben“, so werden darin bewusst zwei frühere lebensgeschichtliche und literarische Konstellationen verschränkt: Flucht und Gefühle der Erneuerung erinnern die Ausgangssituation des Divan, wie sie im Eröffnungsgedicht Hegire umkreist wird, aber auch zentrale Motive der Italienischen Reise. Und was z. B. im VII. Gedicht über Schönheit, Glück, Abschied und fortwährende Verbundenheit gesagt wird, ist in der Tat so allgemein, „dass es von Charlotte Buff und Lili Schönemann über Christiane Vulpius und Marianne von Willemer bis Ulrike von Levetzow zutrifft“, wie Monika Lemmel angemerkt hat.18 Die Vielfalt der lebensgeschichtlichen und literarischen Selbstzitate erweitert die Erinnerung zur bewussten Lebensüberschau. Die Verschränkung und Überschichtung von analogen Lebenssituationen aus unterschiedlichen Zeiten bedingt dabei eine Tendenz zum Exemplarischen und ‚Musterhaften‘ – wie bereits im Divan-Buch „der Liebe“. Liebe meint nicht mehr das einmalige Geschehen, sondern die Kondensation des Erfahrenen zu einem Urphänomen des Lebens.
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Preisendanz: Goethes, S. 144 und 151. Dazu auch den erwähnten Beitrag von Walter Müller-Seidel: Lyrik, Tragik und Individualität. Lemmel: Goethes Gedichtszyklus, S. 148 f.
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Naturwissenschaftliche Voraussetzungen Die eklektizistisch anmutende Reihe lebens- und werkgeschichtlicher Selbstzitate, die sich verlängern ließe, mag den gelegentlich wiedergegebenen Eindruck einer lockeren Folge fernöstlich inspirierter lyrischer Impressionen und Skizzen zunächst stützen. Doch schon der Titel Chinesisch-Deutsches Jahresund Tageszeiten betont gleich in zweifacher Hinsicht übergreifende Gesetzmäßigkeiten der zyklischen Strukturierung. Analog dem West-östlichen Divan macht er das Denkmuster von Polarität und Steigerung zur Formel für kulturelles Weltergreifen. Und die Rede von Jahres- und Tageszeiten gibt einen allgemeineren Rahmen naturgesetzlicher Ordnungen vor. Die Gedichtfolge zeigt sich auch in sehr bewusster Weise zweigeteilt: Dominiert in den ersten acht Gedichten die Erinnerung, so fragen die folgenden nach der Gesetzmäßigkeit hinter aufgerufenen Erscheinungen.19 Wie im Erzählen spaltet sich der Sprechende dabei in charakteristischer Weise auf. Von Gedicht zu Gedicht sieht er sich als den Erfahrenden. Doch als Gestalter der Verse kennt er die gesetzmäßigen Zusammenhänge von Anfang an und macht sie zu einem Zielpunkt der Gedichtfolge. Von ‚Gesetzen‘, aber auch von ‚Wissen‘ und ‚Forschen‘ wird mehrfach gesprochen: „Nun weiß man erst was Rosenknospe sei, / Jetzt da die Rosenzeit vorbei [...]“ (IX); „Doch Forschung strebt und ringt, ermüdend nie, / Nach dem Gesetz, dem Grund Warum und Wie“ (X); „Es ist das ewige Gesetz / Wonach die Ros' und Lilie blüht“ (XI). Zu den Selbstzitaten Goethes gehört auch die Rückbesinnung auf sein eigenes Forschen. Es zählt zu den Facetten der Lebensüberschau, bestätigt sich aber auch als produktive Kraft der Erinnerung und Deutung des Lebens im Gedicht. Drei Paradigmata Goetheschen Forschens haben sich der Lyrik-Poetik unseres Zyklus eingeschrieben. Das Spiegelungsprinzip, das im Gegenwärtigen Vergangenes erfahrbar macht, hat Goethe in dem bekannten Aufsatz Wiederholte Spiegelungen an den Fortschreibungen seiner Sesenheim-Liebe erläutert (Bd. 14, S. 568 f.). Den naturwissenschaftlichen Hintergrund aber bilden die Mehrfachspiegelungen als besonderes Charakteristikum seiner entoptischen Studien. Die Bedeutung der Farbenlehre Goethes für das Verständnis der Gedichte II – VIII ist kaum zu übersehen. Vom „Weiß“ der Lilien über das „Rot“ der Neigung im „Mittelherzen“ der Narzissen und das „bunt“ des Blumen’paradieses‘ kommentieren Farben die Stufen des Lebens und der Liebe. Die Farbpolarität von Rot und Grün übernimmt im Nebeneinander der Gedichte II und III auch Funktionen zyklischer Verknüpfung. Sie signalisiert mit
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Zur zyklischen Struktur des Werks u. a. Burkhardt, Friedrich: Goethes „ChinesischDeutsche Jahres- und Tageszeiten“. In: JbDSG 13 (1996), S. 180–195.
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Selbstäußerungen Goethes das ‚Oben‘ und ‚Unten‘ des Farbenkreises, den „sinnlich-sittlichen Wirkungen“ nach aber auch einen Bezug von Leidenschaft und Beruhigung, ja von Himmlischem und Irdischem, der in IV zum Kontrast von Schönem und Hässlichem variiert wird. Wo die Gedichte in VIII von Finsternis und Licht, an anderen Stellen von der Entfaltung der Farben handeln, haben sie Teil an jenem Vorgang, den Goethe als ‚Urphänomen‘ der Farbenlehre beschreibt.20 Als dritter Wissenschaftsbereich Goethes steuern schließlich vom IX. Gedicht an Morphologie und Metamorphosenlehre wichtige Akzente der Aussage bei. Als „Spätling“ im Herbst symbolisiert eine Rosenknospe das Zugleich von Vergehen und neuem Werden (IX.). Als „Allerschönste“ des Blumenreichs überwältigt die Rose im Anschaun ihrer Schönheit – wo der Forscher nach dem „Gesetz“ fragt (X.). Das „ewige Gesetz / Wonach die Ros‘ und Lilie blüht“ (XI) bedingt die Vergänglichkeit des Schönen, verheißt aber auch Metamorphosen seiner Wiederkehr. Angesichts der beobachteten Abfolge der jeweiligen Beziehungen spielt die Interpretation von Joachim Wohlleben die Morphologie gegen die Farbenlehre aus. Während diese ihren „aktuellen Wert“ verloren habe, erlange die Morphologie jetzt erst „uneingeschränkt Geltung“.21 Doch eine solche Argumentation verfehlt die bedeutsamen Zusammenhänge, die für das Verhältnis von Morphologie, Farbenlehre und Entoptik gerade von den ChinesischDeutschen Jahres- und Tageszeiten aus gut fassbar werden. Trotz mancher Umstellung und Verschachtelung stehen Morphologie, Farbenlehre und Entoptik für ein größeres geschichtliches und synchrones Ganzes. Die morphologische Forschung Goethes gehörte geschichtlich gesehen zu den Voraussetzungen der Weimarer Klassik. Seit den 90er Jahren des 18. Jahrhunderts treten ästhetische Wirkungen der Farbenlehre daneben. Das Alterswerk nutzt die Erfahrungen der Entoptik für eine literarische Spiegelungstechnik, die entscheidend zum intensivierten historischen Selbstbewusstsein wie einem neuartigen ästhetischen Verfahren der Altersdichtung beiträgt. Morphologie, Farbenlehre und Entoptik erweisen sich als nacheinander erschlossene Paradigmata naturwissenschaftlich-ästhetischer Bezugsverhältnisse in Goethes Schaffen. Charakteristisch für sein Alterswerk ist nicht ihre Rivalität, sondern ihr zwangloses Zusammenwirken. Die Chinesisch-Deutschen Jahres- und Tageszeiten machen dies in geradezu modellhafter Verschränkung deutlich. Gedichte wie Dämmrung senkte sich von oben […] beziehen sich in versteckter Weise auf die Anfänge Goethescher Naturerfahrung zurück, reflektieren damit aber auch den Weg, der eine 60 Jahre jüngere Naturerfahrung des
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Vgl. Bd. 10, S. 74, § 175. Wohlleben: Goethes Gedichtzyklus, S. 297.
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Alters möglich gemacht hat. Lassen Sie mich Gelenkstellen dieses Weges in einigen lakonischen Andeutungen bezeichnen. Zu den bedeutsamen Leistungen der Aufklärungsliteratur gehört die Aneignung des Naturverständnisses, das aus der naturwissenschaftlichen Revolution der Neuzeit erwachsen war. Das literarische Rokoko scheint davon noch am wenigsten berührt. Mitunter hat man geradezu den Eindruck, dass es um die Liebenden eine sentimentalisch-idyllische Gegenwelt aufbaut, die in ihrer literarisch vermittelten Einfachheit den Stand aktueller Naturerkenntnis verschweigt. Goethes Schaffen beginnt im Zeichen solcher eher wissenschaftsfernen Traditionen der Literatur. Doch innerhalb eines Jahrzehnts vertieft sich die Kontaktaufnahme zur Naturwissenschaft bekanntlich sogar zu eigener Forschung. Sie zeigt die Verwurzelung in der Aufklärung, bricht aber rasch mit deren Wissenschaftstraditionen, erschließt sich damit auch einen neuen und erweiterten Spielraum ästhetischer Umsetzungen. Das morphologische Prinzip von Gestaltung und Umgestaltung hatte seine ästhetischen Analogien; die Produktivität der Natur ließ sich zur Produktivität des Künstlers in Beziehung setzen. Goethes programmatische Vermittlungen von Objekt und Subjekt ersetzten die Herabstufung der Natur zum Objekt der Erkenntnis durch ein partnerschaftliches Verhältnis und machten Naturerfahrung immer zugleich zu menschlicher Selbsterfahrung. Wo Morphologie und dann Farbenlehre allgemeinste Prinzipien im Wirken der Natur zu erkennen gaben, boten sie den Zugang zu einer „Sprache“ und „Symbolik“, die man – wie Goethe im Vorwort zur Farbelehre versichert – „auf ähnliche Fälle“ übertragen konnte und die sich zur „Mitteilung höherer Anschauungen“ eignete (MA 10,10). Forscher und Dichter trafen sich in der genauen Beobachtung und Betrachtung bemerkenswerter Naturphänomene. Doch schon die wissenschaftlichen Zugehensweisen sicherten einen Bedeutungsüberschuss, den der Dichter in den verschiedensten Richtungen nutzen konnte: in der Berufung auf allgemeinere Gesetze; in deren Übertragung auf andere Gegenstandsbereiche, vor allem auch das menschliche Leben; in der Schaffung einer Bildersprache von Gleichnissen, Symbolen und Allegorien, in denen die ästhetischen Übertragungen am unmittelbarsten fassbar wurden.
Literarische Folgen Der skizzierte weite Weg ist auf eigene Weise an der Lyrik unseres Zyklus wahrnehmbar. Ich kehre noch einmal zu den beiden Gedichten zurück, von denen ich ausgegangen war. Die Nacht ist von der ersten Zeile an Selbst- und Liebesaussage eines Ich, der alle Natureindrücke zu- und untergeordnet werden. In Dämmrung senkte sich von oben [...] haben Natur und Naturgegenständlichkeit ein ganz anderes Eigengewicht erlangt. Es verdankt sich der genauen Beobachtung eines Vorgangs, mit dem zuerst der Abendstern und dann
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der sich ankündigende Mondenglanz die nächtliche Finsternis des Sees begrenzen. Anders als im Rokoko beschränkt sich die dargestellte Bewegung nicht auf ein ästhetisierendes Hin und Her der Blätter, Wellen oder Lichtreflexe. Das Vorgängliche betont die Natur vielmehr als eigengesetzlich organisierten und in periodischen Verwandlungen begriffenen lebendigen Kosmos. Dennoch handelt es sich nicht einfach um ein Landschafts- oder ‚Naturgedicht‘, von dem gelegentlich gesprochen wurde. In der zehnten Zeile gibt sich das wahrnehmende Ich zu erkennen, und die letzten beiden Gedichtzeilen überführen die Naturerfahrung vollends in die Selbsterfahrung dieses Ich. In Wahrheit handeln auch alle anderen Verse in erregender Vielschichtigkeit immer auch von den Erfahrungen dieses Ich. Die beobachteten Selbstzitate tragen in versteckter Weise autobiographisches und historisches Bewusstsein in das Gedicht. Der Übergang des Abends in die Nacht versteht sich auch als Selbstreflexion des Lebensabends. Licht und Finsternis markieren die allgemeinsten Pole der Lebensüberschau und tragen bei, das eigene Leben einem überpersönlichen Deutungsrahmen zuzuordnen. Aber sie stehen auch für ein bedrängendes Gegeneinander von Schmerz und Beseligung. Das Bewusstsein gesetzlicher Ordnungen und Zusammenhänge sowie der selbstverständlichen Bezogenheit von Mensch und Natur gestattet eine Natursymbolik, deren Vielschichtigkeit sich einen Stil der Aussparungen und Andeutungen gestatten kann, dem gegenüber das frühe Gedicht geradezu gesprächig anmutet. Im Bild der ,schwarzvertieften Finsternisse‘ handelt der Zyklus der Chinesisch-Deutschen Jahres- und Tageszeiten auch von dunklen Lebensaugenblicken und unwiederbringlichen Verlusten. Im Bild des Herbstes mit seinen „Disteln“ und „Nesseln“ (VI) und dem Bewusstsein der Einsamkeit (XII, XIII) gibt er dem biologischen Alter etwas beklemmend Definitives. Der Winter, der den Tod symbolisieren würde, wird nicht gestaltet, ist aber in der Reihe der Jahreszeiten immer mitgedacht. Nach dem zyklischen Zusammenhang der 14 Gedichte ist immer wieder gefragt worden. Weder die Anlehnung an die Titelgebung des Divans noch die erkennbare Abfolge von Jahreszeiten bieten eine zureichende Antwort. Einheit und Zusammenhang erschließen sich weit mehr aus der Reihung exemplarischer Antworten, die auf das Bewusstsein des Alters und altersgemäßer Verluste reagieren. Der geistige Aufbruch scheint mit dem ersten Gedicht noch immer möglich. Erinnerung hält das Verlorene fest und gibt ihm in der Sprache der Gedichte Dauer. Das Bewusstsein der Einbettung in die gesetzlichen Ordnungen der Natur und ihr ständiges Ineinander von Anfang und Ende trägt bei, Distanz gegenüber spürbarer Betroffenheit zu vermitteln. Und die abschließende Aufforderung: „Beschäftige dich hier und heut im Tüchtigen“ bekennt sich schließlich noch immer zu den Aufgaben der Gegenwart. Das Denken in Polaritäten prägt in entscheidender Weise die zyklische Verknüpfung der Gedichte. Licht und Finsternis, Rot und Grün, das Schöne
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des Pfaus und das Hässliche indischer Gänse, Rosen und Disteln bezeugen das nur in einigen der markantesten Beispiele. Doch das im Titel scheinbar paradigmatisch vorgegebene Denkmuster von Polarität und Steigerung, das sich uneingeschränkt an die Titelgebung des West-östlichen Divan anzulehnen scheint, wird von einem anderen Auffassungs- und Gestaltungsmuster überlagert. Es wird auf weiten Strecken zu einer Ausbalancierung von Bedrängendem und Bewältigung, von Depressivität und Lebensbejahung, in literarischer Hinsicht auch von Tragik und Tragikvermeidung variiert. Diese Verschiebung sagt weit mehr über Spannungen und Gleichgewichtssuche in den späten Jahren des Goetheschen Schaffens aus, als in den Versen explizit eingestanden wird. Endbewusstsein und verhaltener Aufbruch, Erinnerung und gegenwartsbezogenes Handeln gehen in dem Zyklus Hand in Hand und bedingen sich wechselseitig, im Ganzen des Zyklus wie im VIII. Gedicht. Das Hell-Dunkel der Dämmerung und der weitere Gedichtvorgang bringen Licht und Finsternis in eine gleichgewichtige Schwebe; die Blickbewegung wird nacheinander in die Tiefe und die Höhe gewandt, anklingender Schmerz durch sänftigende „Kühle“ gedämpft. „Schon ist alle Nähe fern“, heißt es im zweiten Vers des Gedichts mit einem weiteren Zugleich des Entgegengesetzten. Es gilt in räumlicher und zeitlicher Hinsicht und prägt das historische Bewusstsein dieses Zyklus, aber auch seine Poetik. Das Alter habe die Möglichkeit, sich „aus Trümmern von Dasein und Überlieferung […] eine zweite Gegenwart zu verschaffen“, führt Goethe in seinem Aufsatz Wiederholte Spiegelungen aus. (Bd. 14, S. 569). Die Chinesisch-Deutschen Jahres- und Tageszeiten zeigen, wie dies geschieht.
Gerhard Sauder
Die Darstellung von Aufklärung in Herders Adrastea und die Kritik Schillers und Goethes
Das Ende des ereignisreichen 18. Jahrhunderts und der Beginn des 19. wurden von nahezu allen Schriftstellern der Zeit mit Texten in verschiedenen Gattungen thematisiert. August Sauer hat 1901 aus gegebenem Anlass eine umfangreiche Sammlung der Deutschen Säculardichtungen an der Wende des 18. und 19. Jahrhunderts1 herausgegeben. Darin ist auch von Herder einiges zu lesen; in der Einleitung werden zahlreiche Briefe von ihm zitiert. Der für ZeitBewegung so sensible Herder hat Mitte März 1799 an Gleim geschrieben: „Wir sind am Ablauf des Jahrhunderts; da geschieht alles mit beschleunigter Bewegung“.2 In einer Arbeit mit dem Titel Säkularische Hoffnungen in der Adrastea (III, 5) hat Herder die Jahrhundertwende ausführlich reflektiert. An den Ausgang des 18. Jahrhunderts denke man allerdings im Gegensatz zu früheren Jahrhundertwenden „mit einem stummen Entsetzen“. Die Beschleunigung, von der er Gleim schrieb, habe sich in dem letzten Jahrzehnt 1790–1800 vollzogen – was das ganze Säkulum nicht geschehen, worauf aber Manches längst zubereitet war. Wie viele Unglückliche sind aber nicht mehr, die mit Anfange unsres Jahrhunderts eine neue Welt hofften! Politisch und philosophisch stürmten die Wünsche, die Hoffnungen zusammen; das autonomische sollte das neue Jahrhundert heißen, wo jeder sich Gesetze gäbe. Sogar eine neue Poesie und Kritik sollte ans Licht treten! ja man glaubte sich schon im Besitz derselben; eine Poesie und Kritik, die das zum Vorzuge habe, daß sie sich an keine vorige Zeit anschlösse, sondern, in erwählten Menschen unmittelbar vom Himmel gestiegen, in ihnen leibhaft wohne. Im Jahr 1804, glaubte man, werde die ganze Welt zu dieser neuen Poesie, Metaphysik und Kritik, ja auf ihren Flügeln zu einer neuen Physik und Medizin bekehrt sein; Man werde nichts als diese Schriften lesen.3
Ohne Namen zu nennen, meint Herder die Kantianer, die Jenaer Romantiker, vor allem die Schlegels, Schelling, Fichte, Schiller und Goethe. Die Oppositi-
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August Sauer (Hg.): Die deutschen Säculardichtungen an der Wende des 18. und 19. Jahrhunderts. Berlin 1901 (Deutsche Litteraturdenkmale des 18. und 19. Jahrhunderts, Nr. 91–104). Ebd., S. XLV. Herder, Johann Gottfried: Werke. Hg. Von Günter Arnold u.a. 10 Bde. Frankfurt/M. 1988–2000 (FA). Hier: FA 10, 456f.
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on Herders gegen die jüngsten Tendenzen in Philosophie, Literatur und Naturwissenschaft wird auch an vielen Stellen seiner Zeitschrift deutlich. Die älteren Autoren, die in der mittleren und späten Aufklärung ihre ersten Schriften geschrieben und veröffentlicht hatten, erwarteten das neue Jahrhundert meist mit großer Skepsis. Gleim schreibt am 15. Dezember 1800 an Herder: „Das 18. Jahrhundert endigt sich mit Blutverguss, das neunzehnte fängt mit ihm an. Das sind unsere Zeiten! Das ist unsere Zeit, wollt’ ich sagen… also nehm ich mit dem alten Jahrhundert Abschied und wünsche, dass das neue, wenn nicht für die ganze Menschenwelt, dennoch für die beste, von der Sie die allerbeste sind, ein goldenes sein möge.“4
Unter den Äußerungen zur Jahrhundertwende finden sich neben den Verächtern der Aufklärung und Anhängern der neuen Literatur und Philosophie auch enthusiastische Lobredner des vergangenen Jahrhunderts. Selbst sie bedauern aber oft das Ende der Aufklärung und sehen die Gegenwart grau in grau. Europa gleiche einem mit Skorbut befallenen Schiffe. Die kleinste Wunde eitere sofort. Der ruhige Gang der Aufklärung sei unterbrochen, die Freiheit werde jetzt als Verbrechen verschrien und die philosophischen Schulen seien zu Klopffechtereien geworden. Das goldene Zeitalter der Wahrheit mit Reimarus, Mendelssohn, Lessing und Rousseau sei vom eisernen Alter vertrockneter Spekulation verdrängt worden.5 Zwei Motive waren in den Säkulargedichten am häufigsten zu finden: die Hoffnung auf ewigen Frieden und die Sehnsucht nach einer Rückkehr des Goldenen Zeitalters.6
I. Herder hatte schon seit den späten neunziger Jahren, mindestens seit 1797, die Absicht, eine neue Zeitschrift zu gründen. 1796 hatte er die Mitarbeit an Schillers Horen eingestellt, nachdem es über seinen Aufsatz Iduna oder der Apfel der Verjüngung am 4.11.1795 zu einer brieflichen Auseinandersetzung mit Schiller gekommen war. An Goethe schrieb Schiller aus Jena am 5. Februar 1796: „Herder hat sich auf unbestimmte Zeit von den Horen dispensiert. Ich weiß nicht, wo diese Kälte herkommt, oder ob er wirklich durch eine andere Arbeit abgehalten wird.“7 Ihre literaturtheoretischen Positionen erwiesen sich als unvereinbar. Herder lieferte nur noch einige Gedichte und Nachdich-
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Sauer: Säkulardichtungen, S. LXII. Ebd., S. LXf. Ebd., S. LXIX. Goethe, Johann Wolfgang: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Münchner Ausgabe. 21 Bde. (in 3). Hg. Von Karl Richter u.a. München 1985ff. (MA), hier 8.1, S. 161.
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tungen für Schillers Musenalmanach. Zu einer weiteren Zusammenarbeit kam es nicht mehr. In der neuen Zeitschrift sollte die Aufklärung eine Plattform finden, um gegen die neue Literatur und Philosophie ein Gegengewicht zu schaffen. Zunächst dachte Herder an einen Titel wie 1800 oder Hesperus, dann aber an Aurora. Der Vielleser Herder kannte mit Sicherheit Jakob Böhmes Schrift Aurora oder Morgenröte im Aufgang (1612), mit dessen mystischer und utopischer Botschaft seine Titelwahl aber offenbar nichts zu tun hatte. Dass es bei Aurora nicht bleiben konnte, geht wohl auf eine Nachricht Knebels vom 25. März 1800 zurück, der Herder mitteilte, dass eine Zeitschrift oder ein Taschenbuch: Aurora, Deutschlands Töchtern geweiht, angekündigt werde.8 Darauf wählte Herder den Titel Adrastea. Er verstand darunter „Wahrheit und Gerechtigkeit“ – nach diesen Kriterien sollte das vergangene Jahrhundert beurteilt werden.9 Eine „Ankündigung einer neuen Zeitschrift. Aurora, herausgegeben von J.G. Herder“, war am 20. Mai 1799 von Herder geschrieben worden. Darin heißt es zur Wahl des Titels: Eine Aurora: denn was nützte ein panisches Schreckensgeschrei, das die Sinne verwirret und den Mut entkräftet? Dem Wandrer in der Nacht ist der erste Strahl der Morgenröte ein Bote der Hoffnung, ein angenehmer Gefährte. Den Griechen war Eos (die Morgenröte) eine freundliche Himmelstochter; mit Rosenfingern hebt sie den Schleier der Nacht auf und verjagt Schrecken und Träume. Sie verkündiget und gibt Licht; sie erweckt und belebet.10
Wieder wird das vergangene Jahrhundert als das Thema der Zeitschrift genannt. Sowohl „trübe Dämmerung“ als auch eine „Aurora der Zukunft“ seien darin zu finden. Gedichte, Romane, Novellen und Märchen, Aufsätze und „Miszellaneen der Lectur“11, Anzeigen wichtiger Schriften, Artikel über Sprache, Kunst und Fortschritte der Wissenschaften sollten darin erscheinen. „Der Titel unserer Zeitschrift verkündigt nur den Tag; wenn er da ist, verbirgt sich Aurora in den Strahlen der Sonne, in ihnen gerne verschwindend“.12 Günter Arnold hat im Herder-Nachlass einen Entwurf zur Aurora gefunden und im Kommentar seiner Adrastea-Auswahl mitgeteilt. Danach sollte am
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Vgl. Arnold, Günter: Geschichte und Geschichtsphilosophie in Herders Adrastea. In: Impulse 7 (1984), S. 224–261, hier S. 231; vgl. auch S. 228f. Zur Vorgeschichte und Gründung vgl. auch Stammeier, Otto: Herders Zeitschrift Adrastea. Diss. (Masch.) München 1950, S. 47ff. und Arnold, Günter: „Den besten Begriff einer Sache gibt ihr Ursprung“. Herders Entwürfe zur ‚Adrastea‘. In: Editio 14 (2000), S. 144–158. Zu früheren Verwendungen des Begriffs vgl. Arnold, ebd., S. 231f. FA 10, 949. Ebd., S. 950. Ebd., S. 951.
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Anfang eine Geschichte des Himmels, der Erde, des Lichts, der Elemente, der Völker (Orient, Griechen), des Christentums, des Islams, der nordischen Mythologie, der Erfindungen, der Philosophie, der Dichtung im 18. Jahrhundert, der Theologie, des Rechts, der Medizin und Chemie, der Entdeckungen in Asien, Afrika, Amerika dargestellt werden. Die „Tendenz der allgemeinen Vernunft in Kriegen, Handel, Negotiationen Wissenschaften, Künsten, Sprachen Einrichtungen“ sollte wohl in mehreren Aufsätzen thematisiert werden. Es folgen nun geplante Gattungsgeschichten und Namen großer Dichter, aber auch von Wissenschaftlern wie Newton, Linné, Buffon und Haller. Das Vorhaben war sichtlich mehr als umfassend geplant. Vor allem einige große Geschichtsabrisse standen nicht in engerem Zusammenhang mit dem ursprünglichen Thema, dem 18. Jahrhundert.13 Bei der Vorbereitung der neuen Zeitschrift gab es seit 1798 unterschiedliche Konzeptionen. Herder hoffte auf die „besten Köpfe in Deutschland“.14 Außer Jean Paul und Friedrich Hildebrand von Einsiedel, dem Übersetzer, Gelegenheitsdichter und Kammerherrn der Herzogin Anna Amalia, und Karl Ludwig von Knebel wurden zunächst auch Johann Heinrich Meyer, Karl August Böttiger, der Chemiker Alexander Nikolaus Scherer und die Brüder Johannes von Müller und Johann Georg Müller genannt. Die Ankündigung ist von Herder noch im Namen der Verfasser unterzeichnet worden. Als das erste Stück der Adrastea 1801 erschien, enthielt es außer einem Gedicht von Knebel nur Beiträge von Herder selbst. So sollte es auch bei den folgenden Stücken bleiben. Die Adrastea war als Vierteljahresschrift gedacht.15 Aber schon die dritten und vierten Stücke der Jahrgänge 1801 und 1802 sind verspätet erst zur Ostermesse des jeweils folgenden Jahres erschienen. Das zehnte Stück, an dem Herder noch während seiner Krankheit zum Tode geschrieben hatte, erschien posthum 1804 mit einer Nachschrift seines Sohnes Gottfried. Er gab im März desselben Jahres aus dem Nachlass ein 11. und 12. Stück heraus.16 Kurz nach Erscheinen des ersten Stücks der Zeitschrift schrieb Karoline Herder – ihr Mann litt wieder an seiner Augenkrankheit – an Johann Georg Müller am 26. März 1801: Diese chemische Operation, aus dem Körper der Geschichte den Geist, die Anwendung zu ziehen – die Anwendung der Wissenschaften auf die Cultur der Menschen – wird, muß Ihnen gefallen – es ist sein GlaubensBekenntniß, wie das aller Verständi-
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Vgl. FA 10, 1454ff. Herder, Johann Gottfried: Briefe. Gesamtausgabe 1763–1803, hg. von den Nationalen Forschungs- und Gedenkstätten der klassischen deutschen Literatur in Weimar / Stiftung Weimarer Klassik, bearbeitet von Wilhelm Dobbek und Günter Arnold. 10 Bde. Weimar 1977–1996 (DA), hier: 7, S. 429f. Einen Überblick über die Zeitschriften, für die Herder gearbeitet hat, gibt Stammeier: Herders Zeitschrift, S. 8–38. Vgl. Arnold: Geschichte, S. 229.
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gen u. Guten, wie wir hoffen u. denken! Nun, Theuerster, ich mußte bisher so verschwiegen mit dieser Arbeit seyn. Jetzt senden Sie Aufsätze, die Sie in dies Journal eingerückt wünschen. Voran geht darinnen immer die erste Nummer: Begebenheiten u. Charaktere aus dem Vergangenen Jahrhundert; alsdann kommen andre Nummern die darauf keinen Bezug haben dürfen. Im nächsten Stück, das zur Ostermesse fertig wird, kommt England – in dem darauffolgenden Deutschland – u. so wird der Kreislauf mit diesen Reichen nebst auch anderer Cultur gemacht, bis zu Ende des alten zu Anfang des neuen Jahrhunderts.17
In der Tat beginnen die beiden ersten Stücke mit der Hauptüberschrift Begebenheiten und Charaktere des vergangenen Jahrhunderts. Vom 3. Stück an wird eine neue Sammelüberschrift eingeführt: Früchte aus den sogenanntgoldnen Zeiten des achtzehnten Jahrhunderts, die auch im 4. und 10. Stück wiederholt wird. Im 5. Band erscheint eine neue Gesamtüberschrift Ereignisse und Charaktere des vergangenen Jahrhunderts. Im 6. Stück wendet sich Herder den Wissenschaften zu, die er allerdings auch unter der Gesamtüberschrift des 5. Bandes darstellt. Das 7. und 8. Stück haben als Überschriften der LeitAufsätze: Unternehmungen des vergangenen Jahrhunderts zu Beförderung eines geistigen Reiches. Das 9. Stück ist den Bemühungen des vergangenen Jahrhunderts in der Kritik gewidmet. Im 10. Stück werden noch einmal Früchte aus den sogenannt-goldnen Zeiten des achtzehnten Jahrhunderts ausgebreitet. Gottfried Herder hat für die Nachlass-Stücke 11 und 12 auf die großen Überschriften verzichtet. Bei der Abfolge von Themen ist durchaus der Stoffplan für das AuroraProjekt zu erkennen. Es geht zunächst um Frankreich und England (1/2), dann um Deutschland und literarische Gattungen (3/4), darauf um Wissenschaften und Ereignisse in den nordischen Ländern (Naturwissenschaften, Musik; 5/6), schließlich in den Stücken 7 und 8 um die Mission, religiöse Strömungen und Gesellschaften. Im 9. Stück ist von klassischer Philologie, im 10. noch einmal von literarischen Gattungen die Rede. Die aus dem Nachlass herausgegebenen Stücke 11 und 12 enthalten Materialien für die Stücke 1, 2, 4, 5, 9 und 10.18 Vielen Lesern der Adrastea erschien diese Zeitschrift als ein ungegliedertes und unstrukturiertes Sammelsurium unterschiedlicher Materien, mit welchen sich Herder bereits in seinen früheren Werken beschäftigt hatte. Rudolf Haym spricht von einem „recht bunt schillernde[n] und recht lose[n] Gewebe, durch das doch immer als Grundfaden die Rückschau auf Ereignisse, Charaktere und Leistungen des vergangenen Jahrhunderts erkennbar sich durchzieht“.19 Die einzelnen Stücke der Adrastea seien von einem „kranken, einem immer kränkeren Manne, von einem parteiisch Abgeschlossenen“ geschrie-
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DA 8, 217. Vgl. FA 10, 971. Zum Programm und zum Aufbau der Adrastea vgl. Stammeier: Herders Zeitschrift, S. 57–66. Haym, Rudolf: Herder. Zweiter Band. Berlin 1954, S. 838.
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ben.20 In diesen Urteilen des Herderkenners wirken noch immer die kritischen Äußerungen Schillers und Goethes bei Erscheinen der ersten Hefte nach! Welches Profil von Aufklärung21 wird in den zwölf Heften der Zeitschrift erkennbar? Herder arbeitet von Anfang an komparatistisch, indem er zunächst Frankreich unter Ludwig XIV., dann England unter Wilhelm III. von Oranien und seiner Schwägerin und Nachfolgerin auf dem Throne, Anne, charakterisiert. Die Kirchengeschichte spielt hier eine größere Rolle als im Eröffnungsstück. Dann setzen die Erörterungen zur Literaturgeschichte und Literaturtheorie am Leitfaden der Gattungen ein. Überlegungen zur Geschichtsschreibung ermöglichen einen Übergang von der politischen zur kulturellen Geschichte Frankreichs und Englands. Im 3., 4., 6., 9. und 10. Stück wendet sich Herder erneut Fragen der Gattungsgeschichte und Theorie zu. Im 4. Stück wird die Allegorie ausführlicher dargestellt, der Zusammenhang von Musik und Schauspiel erörtert. Eine ausführliche Arbeit über das Drama von den Griechen über Shakespeare bis zur Gegenwart blendet die aktuelle Weimarer Klassik aus. Im 5. Stück geht es noch einmal um politische Geschichte im Nordischen Krieg und die Schicksale von Russland, Polen und Preußen. Im 6. Stück erzählt Herder von den großen mathematischen und physikalischen Entdeckungen Newtons im 17. und frühen 18. Jahrhundert. Betrachtungen über Kirchenmusik schließen sich an. Das 7. und 8. Stück ist dem christlichen Missionswesen und einzelnen Freikirchen wie den Methodisten und schließlich den Freimaurerlogen gewidmet. Im 9. und 10. Stück kehrt Herder zu seinen Gattungsgeschichten (Epos) zurück. Dann wird der Zustand der Literaturkritik in Deutschland bilanziert, im 10. Stück an diese Thematik angeknüpft. Bei der Rede von Volksliedern finden sich Wendungen gegen den Weimarer „Gräzismus“. In einem weitgespannten Tableau hat Herder Materialien für eine Geschichte der Aufklärung, speziell der Frühaufklärung, zusammengestellt, aber auf theoretische Arbeiten zur Aufklärungsproblematik verzichtet. An konkreten Beispielen versucht er die Tendenzen zu zeigen, die vom 17. ins lange 18. Jahrhundert hineinreichen. Es erscheint überzeugend, dass er die mächtigste politische Figur dieser Zeit, Ludwig XIV., durchaus kritisch porträtiert. Das Kriegführen wegen einer Erbfolge, die mit Füßen getretene Menschlichkeit der Nachbarländer, die Eitelkeit als ‚Tugend‘ des Königs und seines Hofstaats überhaupt führen zu einer eigenwilligen Bezeichnung dieser Monarchie als einer „Ehren-Dampfmonarchie“22 in Europa. Die kulturellen Aktivitäten unter
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Ebd., S. 849. Zu Herders Sicht der Aufklärung in seinen frühen Schriften vgl. Bollacher, Martin: Nationale Barbarei oder Weltbürgertum? Herders Sicht des ,siècle des lumières’ in den frühen Schriften. In: Nationen und Kulturen. Zum 250. Geburtstag Johann Gottfried Herders. Hg. von Regine Otto. Würzburg 1996, S. 131–138. FA 10, 34.
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Ludwig XIV., der Einfluss von Madame de Maintenon, die Bedeutung von Fénelon als Beichtvater des Königs und Schriftsteller und die große Zeit der Akademien werden zumindest kurz vorgestellt. Mit einem Blick auf Deutschland warnt Herder davor, die „genaue und strenge Wissenschaft als eine Aufklärerin“ stolz zu verachten. „Die Verachtete rächt sich gewaltig.“23 Die Sprachpflege der Akademie als Schlüssel zu den höchsten Wissenschaften hat es Herder angetan. Mit Anspielungen auf den Kantianismus wird die Kritik an der Metaphysik gelobt. Man suche nach der „wahren Philosophie“, vor der „jene dunkle Metaphysik, die sich selbst kaum versteht, wie die Nacht vorm Tage zurückweicht“.24 Das Französische, das Herder so oft schon kritisiert hat, erscheint hier doch als eine Sprache der „feinern Kultur“, als „Wetzstein des Urteils und des sich hell mitteilenden Verstandes“. In einer Sprache, die „allenthalben das Verwirrte haßt und Klarheit liebet“, sei Vernunft die „gemeingewordne Denkart“.25 Ohne allzu viele Konkretisierungen wird auch der Zustand der schönen Künste unter Ludwig beschrieben. Poesie und Beredsamkeit dieser Phase, selbst die Deklamation des Theaters seien durchweg „anständige Rede“, „Kanzleisprache der Empfindungen und Gedanken“.26 In einer „Beilage“ stellt Herder die Frage, ob es feste Formen des Schönen gebe, die allen Völkern und Zeiten gemein seien und ob sich mit dem Fortgang der Zeiten das Ideal der Schönheit verfeinere. Diese Frage wird bejaht, da immer mehr Kunstwerke aus den verschiedensten Völkern und Zeiten zum Vergleich bereit ständen. Mit einer versteckten Wendung gegen die Weimarer Klassiker und ihre „Gräzität“ wird die Vorstellung für irrig erklärt, das Zeitgemäße einer Form sei ewig, ob sie nun Frankreich oder Griechenland gehöre.27 Herder hat durchaus bedacht, dass seine Zeitschrift auch durch Abwechslung der Darbietungsformen kurzweilig zu lesen sein sollte. So folgen nach der ästhetischen Reflexion nun Skizzen zu den französischen Flüchtlingen, die nach der Vertreibung der Hugenotten einen „Französischen Staat in Europa“ errichtet hätten – allerdings ganz anders als Ludwig ihn sich vorstellte.28 Die positiven Auswirkungen der Aufnahme von Hugenotten in mehreren europäischen Ländern werden erkannt. Die Übernahme von Gewerben, Künsten, Kunstfleiß, der Wertschätzung des Bücherschreibens, des Redens und der Polemik, die Ansiedlung neuer Industrien, das Aufblühen von Gewerbe und Kunst hätten alle europäischen Länder beschenkt. In sinnvollem Zusammenhang folgt nun eine ausführliche Charakteristik von Pierre Bayle, dem be-
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Ebd., S. 46. Ebd., S. 57. Ebd. Ebd., S. 61f. Ebd., S. 65. Ebd., S. 66.
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rühmtesten Emigranten überhaupt. Das Wörterbuch29, aber auch die sonstigen Schriften werden skizziert. Bayle gilt Herder vor allem als Anwalt der religiösen Toleranz: „durch sie öffnete er nämlich das große Panorama der Welt, eine Wiese, auf welcher vielerlei Blumen blühen. Auf der ward das kleine Kräutchen, Bayle, außer den großen Stürmen des Schicksals, von vielen, besonders nachbarlichen Disteln gereizt; er mußte also für die Duldung und Wartung vieler Kräuter auf Einer Wiese reden und schreiben“.30 In einer Beilage wird nun das Problem von „Zweifelsucht und Disputierränken“ abgehandelt – Bayles Pyrrhonismus hat Herder trotz aller unangenehmen Erscheinungen der Zweifelsucht verteidigt. Das 1. Stück der Zeitschrift schließt mit Aufsätzen über den französischen Klerus und seinen Niedergang nach der Vertreibung der Hugenotten aus Frankreich. In einer Beilage wird die grundsätzliche Frage erörtert: „Wozu ist der Klerus?“ Die Servilität der Geistlichen und nicht zuletzt der Bischöfe unter Ludwig XIV., die Nachsicht, mit der jesuitische Beichtväter Ludwigs Taten hinnahmen, führen zu dem zornigen Ausruf, dieser Klerus sei von der Erde verbannt. Ein Gedicht – eine Bearbeitung von Popes Ekloge Messiah – verkündet am Ende des Stückes „Hoffnungen eines Sehers vor dreitausend Jahren“. Erstaunlich ist hier die Übernahme einer unangefochten optimistischen Sicht auf den Menschen, nachdem gerade über Ludwigs Missetaten und Ausschweifungen gesprochen worden war: Und Lust zum Guten, wie die Meeresflut, Bedeckt die Welt; der Mensch, der Mensch ist gut. Was Recht und Wahrheit jedem Herzen pries, Was Treu und Liebe jeden hoffen ließ, Ist wahr: 'die Erde wird ein Paradies’.31
Die Themenfolge des 1. Stücks lässt die Konzeption der Zeitschrift erkennen, die allerdings für mehre Varianten offen war. Das 1. Stück über Frankreich, das 2. über England und das 3. über Deutschland zeigen, dass neben „Begebenheiten“ auch „Früchte“ des vergangenen Zeitalters unter den Leitaufsätzen erscheinen konnten. Aber bereits im 3. Stück, das z.T. von deutscher Literatur handelt, wird auf den historischen oder politischen Kontext verzichtet. Der Mangel an autobiografischen Schriften, an ‚Pensées“ und ‚Maximen‘, wird beklagt – auf die reflexive Anlage der Zeitschrift weist der Beginn mit Überlegungen zum Verhältnis von Geschichte und Dichtkunst hin. Wenn von einem Goldenen Zeitalter unter Ludwig XIV. gesprochen werde, dann könne
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Bayle, Pierre: Dictionnaire historique et critique. 2 Bde. Rotterdam 1697 u.ö. Vgl. Bayle, Pierre: Historisches und kritisches Wörterbuch. Eine Auswahl. Übersetzt und hg. von Günter Gawlick und Lothar Kreimendahl. Hamburg 2003. FA 10, 79. Ebd., S. 108.
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sich ‚golden‘ nur auf Künste und Wissenschaften beziehen. Eine ‚Geschichte‘ dieser Zeit konnte an Ludwigs Hof nicht geschrieben werden – Racine war nur dem Namen nach Historiograph. Unter allen „menschlichen Schriften“ rage an „Würde und Ansehen die bürgerliche Geschichte hoch hervor“.32 Der an Memoiren und Denkwürdigkeiten so armen deutschen Nation empfiehlt er, Rechenschaft über sich selbst zu fordern; durch „dies Sprechen über sich klärt sich der Handelnde selbst auf“.33 Dann ist von Lehrgedichten, der Fabel (Lessing, Hagedorn, Gleim, Gellert, Ramler, Kleist, Pfeffel), vom französischen Roman des späten 17. Jahrhunderts, vom pikaresken Roman, dem Traum und der Idylle die Rede. Trotz der Leitaufsätze mit den wiederkehrenden Überschriften sind die einzelnen Stücke essayistisch angelegt – die Thematik schließt sich v.a. assoziativ zusammen. So kommt Herder an mehreren Stellen des 2. Stücks auf Swift zurück, den er ausführlich charakterisiert und gegen seine Kritiker verteidigt, die ihn „exhumanisiert“34 hätten: Eine versteckte Selbstverteidigung Herders, der im Darmstädter Zirkel selbst „der Dechant“ (wie Swift) genannt wurde! Die anfangs breit ausgeführten Skizzen zur Politik und Geschichte, konkretisiert durch die Profilierung der Könige Frankreichs, Englands, Schwedens, Russlands, Sachsens und Preußens, konnten den Eindruck einer europäischen Kulturgeschichte erwecken. Aber dieser Impetus verliert sich in den späteren Stücken, selbst wenn sie von der Geschichte der Naturwissenschaften, der Musik (Händel, Mozart), von der Missionstätigkeit der Europäer oder von der Kritik handeln. Meist bleibt es bei einer versuchten Grundlegung einer umfassend geplanten Darstellung. Noch nicht einmal ein Tableau der Frühaufklärung, wie Arnold früher meinte, ist so – streng genommen – entstanden. Zu oft flüchtet sich Herder, der die Zeitschrift in Krankheit und wachsender Zeitnot schreibt, in Gattungsgeschichten literarischer Genres – sie werden nach Herderscher Manier bis zum Ursprung verfolgt, und nur wenig wird etwa zu den deutschen Paradigmen gesagt. Für die ältere Einschätzung Herders, den man eher als Gegenaufklärer35 denn als Aufklärer verstehen wollte, war sein Unterfangen in der Adrastea zumindest Anlass zu einiger Verwunderung. Aber heute lesen wir Herders Schriften von den frühen an als Versuche, gegen eine verabsolutierte Vernunft die Emanzipation aus Strukturen überlieferter Autorität zu setzen. Das bedeu-
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Ebd., S. 207. Ebd., S. 212. Ebd., S. 179. Vgl. Bollacher: Barbarei und Gaier, Ulrich: Gegenaufklärung im Namen des Logos: Hamann und Herder. In: Aufklärung und Gegenaufklärung in der europäischen Literatur, Philosophie und Politik von der Antike bis zur Gegenwart. Hg. von Jochen Schmidt. Darmstadt 1989, S. 261–276.
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tet auch: Emanzipation der Sinnlichkeit, Einbildungskraft und des Fühlens. Kritisch verhält sich Herder zu den Formen der Aufklärung, die den ‚ganzen Menschen‘ vergewaltigen. „Vernunftaufklärung ist zwar nicht Prinzip dieser Entwicklung, aber doch Teil, Aspekt und Ergebnis; und so mit der Gesamtepoche verwoben, daß jede Polemik in einem Teilbereich der theoretischen Kultur dahin tendieren muß, auf den als Einheit gedachten Prozeß der Moderne seit dem Ausgang des Mittelalters auszugreifen.“36
II. Differenzen zwischen Herder und Schiller brachen Ende 1795 auf, nachdem Herder sein ‚Gespräch‘ unter dem Titel Iduna, oder der Apfel der Verjüngung an Schiller geschickt hatte. Der Beitrag erschien im 1. Stück (2. Jg. 1796) der Horen. Herder stellte darin die Frage, welche Bedeutung und Funktion die nordische Mythologie neben der griechischen haben könne. Er erhoffte sich von einer ‚eigenen Mythologie‘, die den Deutschen ja fehle, eine Verjüngung der zeitgenössischen Literatur. Wegen der Experimente Klopstocks, Gerstenbergs und ihrer Schüler mit Bardengesängen und ‚Bardieten‘ und deren Nähe zu den neuen vaterländischen Tendenzen glaubte Schiller, Herder wolle mit seiner Frage die These verbinden, die Poesie gehe „aus dem Leben, der Zeit und aus dem Wirklichen“37 hervor. Bei Herder findet sich für diese Annahme kein Beleg – er schmälert auch die Bedeutung griechischer Mythologie, Ästhetik und Kunst mitnichten und lässt ihnen ihren Wert: „Ich weiß, was wir [ihnen] zu verdanken haben.“38 Der Dichter der Gegenwart soll aber den „Reichthum“, den ihm die ‚nordische Ideenwelt‘ biete, nutzen dürfen. Die Verjüngung durch den „Apfel Idunens“ werde durch die nordische Denkart wirksam.39 Schiller hält die Versuche Klopstocks und Gerstenbergs mit nordischen Mythen für gescheitert. Die notwendige Distanz des ‚poetischen Genius‘ zur Gegenwart begründet er aus dem Gegensatz „unser[es Denken[s] und Treiben[s], unser[es] bürgerliche[n], politische[n], religiöse[n], wissenschaftliche[n] Leben[s] und Wirken[s]“40 zur Poesie – wie die Prosa stehe die Gegenwart der Poesie gegenüber. Der ‚poetische Geist‘ könne den prosaischen
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Brummack, Jürgen: Herders Polemik gegen die „Aufklärung“. In: Schmidt: Aufklärung und Gegenaufklärung, S. 277–293, hier S. 282. Schiller an Herder, Jena, den 4. November 1795. In: Schillers Werke. Nationalausgabe. 28. Bd. Briefwechsel, Schillers Briefe 1.7.1795–31.10.1796. Hg. von Norbert Oellers. Weimar 1969, S. 37. SWS XVIII, 501. Ebd., S. 502 Schiller an Herder. In: Sauer: Säculardichtungen, S. 98.
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Zustand der Welt nicht überwinden und laufe Gefahr, von ihm „angesteckt und also zu Grunde gerichtet zu werden.“41 Diese Distanz zur gegenwärtigen, prosaischen Welt motiviert Schiller zu einem seiner poetischen Grundsätze, die in den Aufsätzen Die sentimentalischen Dichter (Horen 1795, 12. St.) und Beschluß der Abhandlung über naive und sentimentalische Dichter (Horen 1796, 1 St.) ausführlich analysiert werden sollten: Daher weiß ich für den poetischen Genius kein Heil, als daß er sich aus dem Gebiet der wirklichen Welt zurückzieht und anstatt jener Coalition, die ihm gefährlich sein würde, auf die strengste Separation sein Bestreben richtet. Daher scheint es mir gerade ein Gewinn für ihn zu sein, dass er seine eigne Welt formiret und durch die Griechischen Mythen der Verwandte eines fernen, fremden und idealischen Zeitalters bleibt, da ihn die Wirklichkeit nur beschmutzen würde.42
So erwies sich Schillers Unterstellung, Herder wolle den ‚poetischen Geist‘ allzu sehr der Gegenwart ausliefern, immerhin als produktives Vorurteil. Im Laufe des Jahres 1796 findet der Unmut Goethes43 und Schillers über Herder neue Nahrung. Nichtbeachtung der deutschen Literatur in den Briefe[n] zu Beförderung der Humanität ist als Klage über die fehlende Würdigung der Weimarer ‚Dioskuren‘ zu lesen. Während Goethe die 7. Sammlung lobt und auch in der 8. „so viel treffliches“44 findet, mache einem dieser Teil der Briefe „nicht wohl“; auch dem Verfasser sei nicht wohl gewesen, da er ihn schrieb. Eine gewisse Zurückhaltung, eine gewisse Vorsicht, ein Drehen und Wenden, ein Ignorieren, ein kärgliches Verteilen von Lob und Tadel macht besonders das was er von deutscher Literatur sagt äußerst mager.45
In seinem Antwortbrief vom 18. Juni bekundet Schiller, „ziemlich dieselbe Empfindung“46 bei der Lektüre von Herders gerade erschienen Sammlungen
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Ebd. Ebd. Vgl. Irmscher, Hans-Dietrich: Goethe und Herder im Wechselspiel von Attraktion und Repulsion. In: Goethe Jahrbuch 106 (1989), S. 22–52 und Reed, T.J.: Ecclesia militans: Weimarer Klassik als Opposition. In: Unser Commercium. Goethes und Schillers Literaturpolitik. Hg. von Winfried Barner / Eberhard Lämmert / Norbert Oellers. Stuttgart 1984, S. 37–53. Die These Reeds, Goethe und Schiller hätten es mit einer übermächtigen Opposition der Spätaufklärer und Romantiker zu tun gehabt, überzeugt nicht völlig. Wichtig ist jedoch der Hinweis darauf, dass sich die Weimarer ihre beanspruchte Dominanz im literarischen und kulturellen Feld erkämpften und dabei auch Niederlagen (z.B. mit ihren Zeitschriften) hinnehmen mussten. Goethe an Schiller. Weimar, 14. Juni 1796. In: MA 8.1, 173. Ebd. Schiller an Goethe. Jena, 18. Juni 1796. In: MA 8.1, 175.
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7 und 8 der Briefe gehabt zu haben. Aber er habe mit Herder noch andere Probleme: Da er immer „aufs Verbinden“ ausgehe und zusammenfasse, was andere trennten, wirke er „immer mehr zerstörend als ordnend“47 auf ihn. Auch habe er seine Feindschaft gegen den Reim zu weit getrieben; seine Argumente dagegen seien schwach. Die schärfste Kritik Schillers gilt aber Herders positiven Urteilen über die Literatur der Aufklärung, sein Desinteresse an Goethes und Schillers Schriften: An seinen Konfessionen über die deutsche Literatur verdrießt mich, noch außer der Kälte für das Gute, auch die sonderbare Art von Toleranz gegen das elende; es kostet ihm eben so wenig mit Achtung von einem Nicolai, Eschenburg u.a. zu reden, als von dem bedeutendsten, und auf eine seltsame Art wirft er die Stolberge und mich, Kosegarten und wie viel andere noch in Einem Brei zusammen. Seine Verehrung gegen Kleist, Gerstenberg und Geßner – und überhaupt gegen alles verstorbene und vermoderte hält gleichen Schritt mit seiner Kälte gegen das Lebendige.48
Schiller fällt immer häufiger vernichtende Urteile über Herders positive Bewertung der Literatur des 18. Jahrhunderts. Für ihn ist es unbegreiflich, dass die ‚mittleren‘ Autoren des Rokoko und der Aufklärung bei ihm Erwähnung finden, während die ‚lebendige‘ Literatur der herausragenden Weimarer nie in ihrer Bedeutung für die gegenwärtige literarische Kultur in Deutschland gewürdigt werde. Schiller erlaubt sich die Ungerechtigkeit des Überlegenen, wenn er die in ihrer Zeit durchaus verdienstvollen Dichter des mittleren 18. Jahrhunderts „verstorben“ und „vermodert“ nennt. Fast ein Jahr später klingt Schillers Urteil über Herders Wertschätzung der deutschen Aufklärungsdichtung noch schroffer. Nachdem er in einem Brief an Körner Wielands „Deutschheit“ als ambivalente Qualität bezeichnet hatte, wandte er sich Herder zu – seine Kritik hätte bereits auch der AufklärungsDarstellung in der Adrastea gelten können: Herder ist jetzt eine ganz pathologische Natur, und was er schreibt, kommt mir bloß vor, wie ein Krankheitsstoff, den diese auswirft, ohne dadurch gesund zu werden. […] Er hat einen giftigen Neid auf alles Gute und Energische und affektiert, das Mittelmäßige zu protegieren. Göthen hat er über seinen Meister die kränkendsten Dinge gesagt. Gegen Kant und die neusten Philosophen hat er den größten Gift auf dem Herzen, aber er wagt sich nicht recht heraus, weil er sich vor unangenehmen Wahrheiten fürchtet, und beißt nur zuweilen einen in die Waden. Es muss einen indignieren, daß eine so große ausserordentliche Kraft für die gute Sache so ganz verloren geht […].49
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Ebd. Ebd., S. 176. Schiller an Körner. Jena, 1. Mai 1797. In: Schillers Werke. Nationalausgabe. 29. Bd. Briefwechsel. Schillers Briefe 1.11.1796–31.10.1798. Hg. von Norbert Oellers und Frithjof Stock. Weimar 1977, S. 71.
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Für die früheren Freunde ist Herder, der schon 1796 seine Mitarbeit an den Horen eingestellt hat, nun zum „Wadenbeißer“ geworden. Die Weimarer können nicht mehr mit ihm rechnen. Am 18. März 1801 schickt Goethe die gerade erschiene Adrastea mit dem pauschalen Vorwurf des Unentschiedenen und Altmodischen an Schiller: Dagegen sende ich Ihnen eine andere Erscheinung die, wie sie sagt, vom Himmel kommt; allein, wie mich dünkt, gar zu viel von dieser altfränkischen Erde an sich hat. Der Verfasser dieses Werkleins scheint mir sich wie im Fegefeuer zwischen der Empire und der Abstraktion, in einem sehr unbehaglichen Mittelstande zu befinden, indes ist weder an Inhalt noch an Form etwas über das sonst gewohnte.50
Die Kritik am „unbehaglichen Mittelstande“ zwischen „Empirie und der Abstraktion“ zielt wohl auf die Mischung der Gattungen in der Adrastea. Sollte dies für eine Zeitschrift nicht zu tolerieren sein? Auf welche früheren Arbeiten Herders hätte Goethe verweisen können, um zu belegen, dass die Adrastea nicht „über das sonst gewohnte“ hinausgehe? Soll damit Herders Schreibweise gegen Ende des Jahrhunderts überhaupt gemeint sein? Die 7. Sammlung und Teile der 8. Briefe zu Beförderung der Humanität hatte Goethe im Juni 1796 noch gelobt! Offenbar hatte sich bei Goethe und Schiller die Distanz zu Herder so sehr vergrößert, dass ihnen nur noch Negation über ihn einfiel. Wieder wählte Schiller die schärferen Formulierungen: Diese Adrastea ist ein bitterböses Werk, das mir wenig Freude gemacht hat. Der Gedanke an sich war nicht übel, das verflossene Jahrhundert, in etwa einem Dutzend reich ausgestatteten Heften, vorüber zu führen, aber das hätte einen andern Führer erfordert und die Tiere mit Flügeln und Klauen die das Werk ziehen, können bloß die Flüchtigkeit der Arbeit und die Feindseligkeit der Maximen bedeuten. Herder verfällt wirklich zusehends und man möchte sich zuweilen im Ernst fragen, ob einer der sich jetzt so unendlich trivial, schwach und hohl zeigt, wirklich jemals außerordentlich gewesen sein kann. Es sind Ansichten in dem Buch, die man im Reichsanzeiger zu finden gewohnt ist, und dieses erbärmliche Hervorklauben der frühern und abgelebten Literatur, um nur die Gegenwart zu ignorieren oder hämische Vergleichungen anzustellen!51
Die moralischen Konnotationen von Schillers Urteil sind deutlich: „bitterbös“, „Feindseligkeit der Maximen“, „hohl“, „hämisch“. Schon 1797 hatte Schiller die Schriften Herders, die gerade erschienen waren, durch einen medizinischen Terminus mit dem Menschen Herder identifiziert: „ganz pathologische Natur“. Jetzt wird Herders Prozeß des Alterns in Parallele gesetzt zur Trivialität der Adrastea: Herder verfalle zusehends. Der Vorwurf, er wolle von der
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Goethe an Schiller. Weimar, 18. März 1801. In: MA 8.1, 847. Schiller an Goethe. Jena, 20. März 1801. In: MA 8.1, 848.
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Gegenwart nichts wissen und konzentriere seine Aufmerksamkeit auf die „frühere und abgelebte Literatur“, galt zunächst der 8. Sammlung der Briefe, wird nun aber auch gegen die Adrastea gerichtet. Der scharfe Ton der unter Freunden üblichen Kritik ist gewiss aus dieser medialen Situation (Briefwechsel) zu verstehen. Auch Schillers Freunde, unter anderen Körner, sind kaum um maßvolle Kritik bemüht. So hält dieser Fichtes Schrift Friedrich Nicolai’s Leben und sonderbare Meinungen (1801) für verfehlt; aber durch die Xenien sei Nicolai schließlich „völlig abgefertigt“.52 Schon einmal auf einen ‚Verriss‘ eingestimmt, geht Körner zu Herder über: Herders Adrastea hat viel ähnliches mit den Briefen zu Beförderung der Humanität – ein Ragout, das manches nahrhafte enthält, aber eine gewaltig lange Brühe daran. Auf diese Weise wird er ohne große Anstrengung viel Hefte liefern können. Seine Ansicht des jetzigen Zeitalters hat überhaupt zu viel Krankes und Weinerliches. Nur durch rüstige Heiterkeit kann den vorhandnen Uebeln entgegen gewirkt werden.53
Körner wirft den Beiträgen der Adrastea zumindest partiell ‚Wässrigkeit‘, also konzeptionelle Niveaulosigkeit vor – Ähnliches gelte für die Briefe. Diese Urteile sind – wie gezeigt wurde – nicht neu. Auch die Charakterisierung des Jahrhunderts als „krank“ folgt der Terminologie des Mediziners Schiller. Als „weinerlich“ hat nur Körner den Blick Herders auf die zurückliegende Zeit bezeichnet. Lässt man die kritische Argumentation Goethes, Schillers und Körners über Herders Schriften seit Ende 1795 bis Mitte 1801 Revue passieren, so wird die Genese und Fixierung eines stereotypen Urteils erkennbar. Die unterschiedliche Einschätzung des 18. Jahrhunderts steht im Zentrum der differierenden Auffassungen.
III. Wie gezeigt wurde, erzeugte Herders Literaturtheorie und -praxis, sein Kampf gegen das Weimarer Theater Goethes und Schillers54, seine antiromantische Position und sein Antikantianismus den Groll der Weimarer ‚Kollegen‘. Herder brüskierte sie nicht durch Nennung ihrer Namen und Werke, aber das indirekte Attackieren und das Verschweigen hrer Werke reichten aus, um in ihm einen Feind der ‚klassischen Dichtung‘ auf deutschem Boden zu sehen. Im
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Christian Gottfried Körner an Schiller. Dresden, 22. Mai 1801. In. Schillers Werke. Nationalausgabe. 39. Bd. Teil I. Briefwechsel. Briefe an Schiller 1.1.1801– 31.12.1802 (Text). Hg. von Stefan Ormanns. Weimar 1988, S. 72. Ebd. Vgl. dazu Stammeier: Herders Zeitschrift, S. 138ff.
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Gegensatz zu seinen frühen Schriften (etwa in Von deutscher Art und Kunst) lehnte er die Autonomieästhetik ab und vertrat wirkungsästhetische Maximen der Aufklärung: Nutzen der Literatur, Verpflichtung auf Didaxe und Emanzipation. Goethe und besonders Schiller bildeten sich ihr Urteil über die Adrastea nach Erscheinen der ersten Hefte. Zu einer Revision ist es, nachdem etwa sechs Stücke vorlagen, nicht gekommen. Die breite Fundierung seiner Charakteristik der Aufklärung durch Beiträge zur französischen und englischen Literatur, Politik und Kultur konnte nicht in ihren Blick geraten – sie wurde erst allmählich sichtbar. Von den deutschen literarischen, kulturellen und politischen Verhältnissen ist ausführlich im Kontext der Frühaufklärung und der mittleren Aufklärung die Rede. Herder spricht über Rokoko-Lyrik, Klopstock und Lessing. Was noch fehlte, so etwa Geßners Idyllik, das Bürgerliche Trauerspiel nach Lessing oder der Roman, sollte später dargestellt werden. Mit der Formulierung „später dazu mehr“ hat Herder seine Leser vertröstet. In der Literaturgeschichtsschreibung haben diese kritischen Aspekte die Bewertung der Zeitschrift verdunkelt. Sie darf nicht länger aus der Perspektive Schillers und Goethes allein abgetan werden. Die Forschung der letzten Jahrzehnte wies im Bestreben einer Revision des verzeichneten Bildes auf die positiven Tendenzen der Zeitschrift hin. Wie in den Ideen und den Briefen ging es Herder auch in der Adrastea um Förderung der Humanität.55 Scheinbar wird diese Intention der beiden vorausgehenden Schriften durch die Akzentuierung von Gerechtigkeit und Wahrheit, Nemesis und Adrastea überlagert – aber sie sollen der Humanität den Weg bereiten.56 Die Zeitschrift Herders ist eine Säkularschrift und verdient unter diesem Aspekt mehr Aufmerksamkeit als bisher. In der ursprünglichen Fassung der Vorrede kommt der Friedensversuch der Jahrhundertwende allegorisch zum Ausdruck; der Friede von Lunéville wurde am 9. Februar 1801 zwischen Frankreich und Österreich geschlossen.57 In den Passagen zur Geschichte des späten 17. und frühen 18. Jahrhunderts folgt Herder der pragmatischen Geschichtsphilosophie der Aufklärung und knüpft auch hier an die Ideen und
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Vgl. ebd., S. 156f.; Arnold: Geschichte, S. 249; Maurer, Michael: Nemesis-Adrastea oder Was ist und wozu dient Geschichte? In: Herder Today. Contributions from the International Herder Conference Nov. 5.–8, 1987 Stanford, California. Edited by Kurt Mueller-Vollmer. Berlin / New York 1990, S. 46–63; Löchte, Anne: Johann Gottfried Herder: Kulturtheorie und Humanitätsidee der ‚Ideen‘, ‚Humanitätsbriefe‘ und ‚Adrastea‘. Würzburg 2005. Vgl. Stammeier: Herders Zeitschrift, S. 154ff.; Brummack, Jürgen: Aufklärung oder Historismus? Herders ‚Entfesselter Prometheus‘ in der ‚Adrastea‘. In: Olaf Hildebrand / Thomas Pittrof (Hg): „… auf klassischem Boden begeistert“. AntikeRezeptionen in der deutschen Literatur. Festschrift für Jochen Schmidt zum 65. Geburtstag. Freiburg 2004, S. 111–131, hier S. 127. Vgl. Arnold: Geschichte, S. 236.
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Briefe an. Die negative Einschätzung der Adrastea erweist sich als unbegründet, wenn der bedeutende Anteil der politischen Kultur- und Gattungsgeschichte gesehen wird. Bezogen auf die zwölf Hefte ergeben sich folgende Anteile der Stoffgebiete: Kultur- und Geistesgeschichte und Kulturpolitik 37%, Geschichte und Politik 5%, Literatur- und Ästhetik 35%, Dichtungen 23%. Die literarischen und ästhetischen Beiträge (Gattungsgeschichte!) schließen sich mit den historischen Themen zu einem historischen Gesamtbild zusammen – die Zeitschrift erhält so einen überwiegend historischen Charakter.58 Herder bleibt bei der Distanz zur Französischen Revolution, zu der er sich nach 1795 durchgerungen hat. Seine Orientierung an der französischen, englischen und deutschen frühen und mittleren Aufklärung und seine grundsätzliche Befürwortung von Erneuerung und ständiger Umwälzung (nach astronomischem Vorbild) bleiben davon unberührt. Nach Auskunft von Caroline Herder und zahlreicher Briefe war das Schreiben der Adrastea eine Last. Herder las eine Fülle von Abhandlungen zu den verschiedenen Bereichen seiner Beiträge. So sind viele überzeugende synthetisierende Darstellungen entstanden. Für die Kulturgeschichte Preußens nutzt er die historischen Aufzeichnungen Friedrichs II. und erhält dadurch eine ungewohnte Konturierung.59 Unter dem Reihentitel von Unternehmungen des vergangenen Jahrhunderts zur Beförderung eines geistigen Reiches berichtet Herder über die Emanzipationsbestrebungen der Juden. Hier begibt er sich ausnahmsweise ins späte 18. Jahrhundert, wenn er von den Schriften Lessings, Mendelssohns und Dohms spricht und für eine ‚Humanisierung‘ ihrer Beschäftigungen und Denkart spricht.60 Otto Stammeier, Günter Arnold und Jürgen Brummack61 haben durch ihre Arbeiten zur Adrastea für eine positive Einschätzung geworben. Die stoffliche und formale Vielfalt, die bedeutenden Prosa- und Verstexte (darunter in Fortsetzung der Cid!62), die gesteigerte Intertextualität laden zu neuen Lektüren ein. Günter Arnold hat die Zeitschrift „eine Enzyklopädie des frühen 18. Jahrhunderts“63 genannt. Dank ihres Themenreichtums fand sie auch Leser – über zu schlechten Absatz der Zeitschrift musste sich Herder nicht grämen. Im Gegensatz zu den Horen und Propyläen, die wegen der ausbleibenden Leser-
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Vgl. Stammeier: Herders Zeitschrift, S. 66. Dazu Arnold, Günter: Die kulturgeschichtliche Darstellung Preußens in J.G. Herders ‚Adrastea‘. In: Kohnen, Joseph (Hg.): Königsberger Beiträge: von Gottsched bis Schenkendorf. Frankfurt/M. u.a. 2002, S. 219–230. Vgl. Stammeier: Herders Zeitschrift, S. 114–116. Vgl. auch Brummack, Jürgen: Eine „Zeit-Schrift“ als Vermächtnis: Herders Adrastea. In: Johann Gottfried Herder. Aspekte seines Lebenswerkes. Hg. Von Martin Kessler und Volker Leppin. Berlin / New York 2005, S. 179–202. Vgl. Oehme, Matthias: Epos und Geschichte in Herders Adrastea. In: Weimar Beiträge 30 (1984), S. 777–792. Arnold: Geschichte, S. 229.
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schaft (nur ca. 250 Exemplare werden von den ersten Heften der Propyläen verkauft!) eingestellt wurden, kann für die Adrastea mit durchschnittlich 400 bis 500 verkauften Heften gerechnet werden.64 Sie wurde nicht nur von dem kleinen Zirkel der Freunde geschätzt und gelesen. Auch in Berlin und Nürnberg fanden sich denkbare Leser. Wieland versichert in einer Besprechung im Neuen Teutschen Merkur“(1802, S. 616f.), Herder habe Leser für seine Zeitschrift – „und vielleicht in viel größerer Zahl, als man dem frivolen Kakodämon unsrer Zeit zutrauen sollte“.65 Die Behauptung von Elisabeth Reckweiler entspricht nicht den tatsächlichen Rezeptionsverhältnissen: „Die Adrastea, die aus dem Wollen entstanden war, auf die Zeit und ihre Entwicklung einzuwirken, entzündete nur ihren Widerspruch und verklang alsbald kaum gehört.“66
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Stammeier: Herders Zeitschrift, S. 70. Zit. nach Stammeier, ebd. Reckweiler, Elisabeth: Studien über Herders Adrastea. Allegorie und Symbol als Grundlage ihrer Deutung. Diss. (Masch.) Münster 1950, S. 170.
Thomas Höhle
Eine der lustigsten Begebenheiten unseres Zeitalters Wielands Gespräche unter vier Augen im Urteil Goethes
„Eine der lustigsten Begebenheiten unseres Zeitalters kann ich vorläufig nicht verschweigen. Wielanden ist durch ein heimlich demokratisches Gericht verboten worden, die Fortsetzung seiner Gespräche im Merkur drucken zu lassen... .“1 Das schrieb Goethe in einem Brief an Schiller vom 2. Mai 1798. Bei den erwähnten Gesprächen handelte es sich um Wielands Werk Gespräche unter vier Augen. Die ersten vier dieser Gespräche erschienen vom Februar bis Mai 1798 in Wielands Zeitschrift Neuer Teutscher Merkur. Ein fünftes Gespräch erschien im Juli, das Fragment eines Gesprächs zwischen einem ungenannten Fremden und Geron folgte im Oktober 1798. Ein Jahr später (1799) veröffentlichte Wieland weitere Gespräche unter vier Augen in Band 31 seiner Ausgabe letzter Hand. Das gesamte Werk ist sehr umfangreich. In der Ausgabe letzter Hand umfasst es über 400 Seiten. Es handelt sich um eine der größten und letzten Auseinandersetzungen Wielands mit Problemen der Französischen Revolution. Wieland war bekanntlich ein an politischen und gesellschaftlichen Fragen ungemein interessierter Schriftsteller. Sein großer Bildungsroman Geschichte des Agathon (1766) hatte sich bereits vielfältig mit politischen Problemen beschäftigt, und dann war der 1772 erschienene Goldene Spiegel als einer der bedeutendsten Staatsromane der deutschen Literatur ein zugleich politisches und künstlerisches Werk.2 Bereits im Goldenen Spiegel sind Grundhaltungen Wielands zu erkennen, die dann auch in den Gesprächen unter vier Augen eine wichtige Rolle spielen. Es sind die Haltungen des Beobachtens, des Nachdenkens und Abwägens, Versuche, die Leser zum Selbstdenken anzuregen. Dabei werden zugleich im Goldenen Spiegel auch bestimmte Ideale, die des aufgeklärten Despotismus, deutlich sichtbar. In dieser Zeit setzte Wieland große Erwartungen in Joseph II., in dessen Nähe berufen zu werden Wieland hoffte.
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Brief von Goethe an Schiller, 2. Mai 1798. Ich zitiere den Brief und seine Kommentierung nach der Ausgabe des Briefwechsels zwischen Schiller und Goethe, herausgegeben von Manfred Beetz: Johann Wolfgang Goethe: Sämtliche Werke. Münchner Ausgabe. Bde. 8.1 und 8.2. München 1990. Vgl. Höhle, Thomas: Wieland und die verpönte Gattung des Staatsromans. In: Wieland-Kolloquium Halberstadt 1983. Halle 1985, S. 41–60.
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Die Französische Revolution hat Wieland von Anfang an mit zahlreichen Kommentaren und Betrachtungen begleitet. Dabei spielen die eben erwähnten Grundhaltungen Wielands immer eine Rolle, die nicht mit Standpunktlosigkeit oder Schwanken zu verwechseln sind. Zugleich wird sichtbar, dass Wieland zunächst der Revolution in ihrer ersten Phase positiv gegenübersteht. Die Verwandlung Frankreichs in eine konstitutionelle Monarchie nach dem von ihm geschätzten Vorbild Englands begrüßt er. In einer Betrachtung über Goethe und Wieland verdient auch Beachtung, dass er den Interventionskrieg der europäischen Feudalmächte gegen das revolutionäre Frankreich 1792, an dem Goethe zustimmend im Gefolge des Herzogs von Weimar teilnahm, deutlich ablehnte. Wieland brauchte nicht wie Goethe ein Vierteljahrhundert, um zu erkennen, dass mit dem Sieg der Franzosen bei Valmy eine neue Epoche der Weltgeschichte begann. An der weiteren Entwicklung in Frankreich hat Wieland dann jedoch vielfache Kritik geübt. Seine Ablehnung der Septembermorde 1792 und der blutigen Herrschaft der Jakobiner in den Jahren 1793 und 1794 führte bei ihm aber nicht zu dem bei vielen anderen deutschen Schriftstellern zu beobachtenden Umschwung zu radikaler Gegnerschaft. Er blieb weiterhin der abwägende und nachdenkliche Beobachter. Es gibt sogar Äußerungen Wielands, allerdings nichtöffentliche, in denen er die Konsequenz der Jakobiner bewundert und anerkennt.3 In die Verfassung von 1795 und in die Errichtung des Regimes des Direktoriums setzte er zunächst Hoffnungen, die dann aber enttäuscht wurden. Misswirtschaft, Korruption, Chaos, nicht zuletzt die kriegerische Expansion Frankreichs und die Errichtung der Satellitenrepubliken in den Niederlanden, in der Schweiz und in Italien wurden von ihm kritisiert. Dabei spielten vor allem die Vorgänge in der Schweiz, die Errichtung der Helvetischen Republik, in Wielands Betrachtungen eine große Rolle. Über seinen Schwiegersohn Heinrich Geßner, den Verleger der Publikationen der Helvetischen Republik, hatte Wieland engen Kontakt zu den Vorgängen in der Schweiz. Wieland gehörte im Gegensatz zu Heinrich Geßner zu denen, die die alte Schweiz idealisierten, ihre schweren sozialen Gebrechen übersahen und insofern die Ansätze einer echten demokratischen Veränderung in den Anfängen der helvetischen Revolution nicht erkannten. In den Ereignissen des 18. Fructidor des Jahres V (4. September 1797), dem verfassungsbrecherischen Staatsstreich des Direktoriums gegen die gewählte Parlamentsmehrheit, erblickte Wieland das Scheitern des Regimes des Direktoriums. Das alles führte aber nicht zu einer prinzipiellen Ablehnung der revolutionären Ereignisse, sondern zu einer immer wieder
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Wieland an Karl Leonhard Reinhold vom 22.7.1792. In: Wieland, Christoph Martin: Politische Schriften, insbesondere zur Französischen Revolution. II. Nördlingen 1988, S. 606. (Wieland, C.M.: Werke in Einzelausgaben. Herausgegeben von Jan Philipp Reemtsma, Hans und Johanna Radspieler.)
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erneuerten Überlegung der Grundprobleme und Überprüfung der Ergebnisse der Revolution. In dieser Situation wurden 1798 die ersten der Gespräche unter vier Augen geschrieben und im Neuen Teutschen Merkur veröffentlicht. Es ist anzunehmen, dass Goethe die ersten vier Gespräche kannte, als er am 2. Mai 1798 an Schiller schrieb. Die nächsten Gespräche, namentlich auch die, die erst 1799 in der Ausgabe letzter Hand erschienen, kannte er damals wohl nicht, auch nicht durch den mündlichen Vortrag Wielands, aber das tut hier nichts zur Sache. Wie der Titel sagt, handelt es sich um Gespräche, um Dialoge, die literarische Form, die Wieland mit Vorliebe in seinen Publikationen verwendete. Es sind echte Dialoge. Nicht Monologe eines Hauptredners, die von einem Stichwortgeber unterbrochen werden. In den Gesprächen unter vier Augen finden echte Auseinandersetzungen statt, treffen unterschiedliche Ansichten aufeinander. Diese Form, die Wieland virtuos handhabte, entsprach gerade der Grundhaltung Wielands und seiner Absicht, Probleme miteinander zu konfrontieren, gegeneinander abzuwägen und zu durchdenken und dadurch den Leser zum Mitdenken anzuregen. Es sind verschiedene Gesprächspartner, die miteinander reden. Einige erscheinen mehrmals, andere nur einmal. In aller Regel ist der eine Gesprächspartner konservativ und Monarchist, der andere demokratisch und Republikaner. Ausgangspunkt aller Gespräche ist der Gegensatz von Monarchie und Republik. Wielands Sympathien, erkennbar dadurch, dass er den monarchistisch eingestellten Gesprächspartnern die stärkeren Argumente gibt, neigen sich dem Ideal eines starken und guten Herrschers zu. Dieses Ideal hatte Wieland schon 1772 im Goldenen Spiegel in der eindrucksvollen Gestalt des guten Herrschers Tifan gestaltet, der durch seine Abstammung und zugleich durch eine Volksbewegung an die Macht gekommen war. Dieses Ideal verficht Wieland auch noch 1798. Im Grunde sympathisierte Wieland unentwegt mit einer Synthese aus Monarchie und Demokratie. Denn Wieland ist keineswegs blind für die schweren Mängel vieler Könige. Im zweiten der Gespräche unter vier Augen lässt er gerade den monarchistisch eingestellten Dialogpartner, Wilibald, eine sehr eindrucksvolle Darstellung monarchischer Verbrechen vortragen. In diesem Zusammenhang steht dann auch das spektakulärste Detail der Gespräche unter vier Augen: im zweiten Gespräch, das unter dem Titel „Über den neufränkischen Staatseid ‚Haß dem Königthum!‘“ steht, formuliert der gleiche Monarchist Wilibald das einzige Mittel für das nachfructoriale Direktorium, „Ihr Gemeinwesen, mitten unter seinen Siegen, Triumfen und Eroberungen vor dem immer näher rückenden Untergange zu retten“4: die Erwählung eines Diktators. Er macht eine
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beinahe liebevolle Beschreibung dieses zu wünschenden Diktators5, und er kennt auch schon seinen Namen: Buonaparte. Auch an anderer Stelle der Gespräche, im siebten, wird ein sehr positives Bild Buonapartes entworfen. Ein Jahr später, 1799, hat General Bonaparte tatsächlich das Direktorium gestürzt, die Revolution für beendet erklärt und seine Alleinherrschaft, seine Diktatur, errichtet. Als 1808 Wieland und der nunmehrige Kaiser Napoleon in Weimar zusammentrafen, bildete die Prophezeiung Wielands die Voraussetzung für ihr Gespräch. Im zweiten, 1799 erschienenen Teil der Gespräche unter vier Augen wird eine regelrechte Verfassung entworfen, und in dem späten Hauptwerk Wielands, dem Roman Aristipp, der sich gedanklich in vieler Hinsicht an die Gespräche unter vier Augen anschließt, werden diese Gedanken wieder aufgenommen, die Gedanken einer Synthese aus Monarchie und Demokratie oder einer konstitutionellen Monarchie nach englischem Vorbild. Aber das Wesen der Gespräche unter vier Augen besteht nicht darin, dass eine mehr oder weniger originelle These aufgestellt und verteidigt wird, sondern dass diese Gedanken in einen Zusammenhang mit der aktuellen Zeitgeschichte gestellt und mit ihrem Für und Wider diskutiert werden. Wieland hatte die Hoffnung, dass über die in den Gesprächen unter vier Augen dargelegten Argumente und Ansichten diskutiert werden würde. Wie aus Goethes Brief hervorgeht, kam Wieland, der die Gespräche in Oßmannstedt, auf seinem Gut, geschrieben hatte, im April 1798 nach Weimar und las die Texte in verschiedenen Kreisen und Gesellschaften vor, um, wie Goethe herablassend schrieb, „einiges Lob einzuernten“6. Das wohl auch, wahrscheinlich aber vor allem, um mit den Weimarer Geistesgrößen ins Gespräch zu kommen. Das aber misslang vollständig, wie aus Goethes Brief hervorgeht. Nun zu Goethes Brief. Über die Geschichte der Beziehungen zwischen Goethe und Wieland mit ihren Höhen und Tiefen ist hier nicht ausführlich zu sprechen. Nachdem sie in den achtziger Jahren noch ziemlich eng gewesen waren, als Goethe erste Ergebnisse seiner italienischen Reise im Teutschen Merkur veröffentlicht hatte, waren sie in den neunziger Jahren merklich abgekühlt. In den Xenien 1796 war Wieland schon ziemlich unfreundlich und von oben herab behandelt worden, wenn auch nicht so feindselig wie etwa Reichardt oder Nicolai. Allerdings auch bei weitem nicht so überaus freundlich wie Lessing, der in den Xenien taktisch emporgehoben wurde, um die anderen Aufklärer, darunter Wieland, herabzusetzen. Es fällt auf, dass Goethe auf den Inhalt, auf die Probleme der Gespräche, auch auf die Form, überhaupt nicht eingeht, mit keinem Wort. Er hält es nicht
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Ebd., S. 358 f. Goethe an Schiller. In: Münchner Ausgabe. Bd. 8.2, 2. Mai 1798.
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für nötig, sich zu diesen Dingen zu äußern, obwohl die Gespräche doch natürlich im Hinblick auf Deutschland und deutsche Gesprächspartner geschrieben worden waren. Die äußeren Schicksale der Publikation sind es ausschließlich, die Goethe interessieren. Zunächst wird „eine der lustigsten Begebenheiten unseres Zeitalters“ erzählt. Sie besteht darin, dass „ein heimlich demokratisches Gericht“ Wieland verboten habe, die Fortsetzung seiner Gespräche im Merkur drucken zu lassen. Goethe fragt, ob der, wie er herablassend sagt, „gute Alte“ gehorchen wird. Mit der Fortsetzung der Gespräche sind wahrscheinlich die Nummern 5–11 gemeint. Und das heimlich demokratische Gericht bestand nach Karl August Böttiger, der mit Wieland befreundet war und eng zusammenarbeitete, aus Redaktionskollegen des Merkur und anderen ihm nahe stehenden Freunden, die Abbestellungen frankreichfreundlicher Abonnenten auf die in den „Gesprächen“ enthaltene Kritik an Frankreich zurückführten.7 Es handelte sich also offenbar um vorwiegend kommerzielle Überlegungen der Freunde Wielands, die aus Wielands Sicht natürlich gar nicht lustig waren, sondern mit Problemen der niedrigen Auflage des Merkur zusammenhingen. Goethe aber fand diesen Konflikt zwischen Wieland und seinen Freunden nicht nur lustig, sondern vor lauter Bosheit stark übertreibend „eine der lustigsten Begebenheiten unseres Zeitalters“. Sehr aufschlussreich sind die folgenden Passagen des Briefs. In ihnen wird die weitgehende tiefe Abneigung Goethes gegen die politischen Schriften Wielands und überhaupt gegen alle politische Schriftstellerei, darüber hinaus gegen alles, was mit der französischen Revolution zusammenhängt, überdeutlich. Goethes Hass richtet sich nicht gegen den einen oder anderen Aufsatz Wielands, gegen irgendwelche Nebenarbeiten, sondern gegen die politischen Aspekte gerade zweier Hauptwerke Wielands, den Goldenen Spiegel und den Agathon und die darin enthaltenen „wundersamen Wahrheiten“ und Verfassungsentwürfe. Ironisch nennt Goethe Wieland einen „edlen Vorläufer“ des neuen Reiches und die Gegenwart ironisch „Zeiten der Freiheit“. Das ist Hohn, wie die anschließenden drastischen Worte über den revolutionsfreundlichen Ernst Ludwig Posselt und seinen „bloßen Hintern“, während der damals noch revolutionsfreundliche Friedrich Gentz mit der „liberalen Zudringlichkeit“ in Sachen Pressefreiheit noch etwas besser wegkommt. Und Wieland muss nun also die Schoßkinder seines Alters gleich namenlosen Liebeskindern, also unehelichen Kindern (davon verstand Goethe etwas) verheimlichen.
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Briefwechsel zwischen Schiller und Goethe in den Jahren 1794 bis 1805. Herausgegeben von Manfred Beetz (Goethe, Johann Wolfgang: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Münchner Ausgabe. Herausgegeben von Karl Richter in Zusammenarbeit mit Herbert G. Göpfert, Norbert Miller und Gerhard Sauder. Band 8.2. Kommentar, S. 432).
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Die Resonanz der Vorlesungen Wielands charakterisiert Goethe triumphierend mit „mäßiger Gleichgültigkeit“. Das ist angesichts der außerordentlichen Brisanz der von Wieland vorgetragenen Probleme, auch angesichts der bedeutenden künstlerischen Form und der eleganten Sprache Wielands wiederum ein Zeichen für den in diesem Punkt an den Tag gelegten Mangel an Bereitschaft und die Unfähigkeit Goethes, die Zeit zu erkennen. Und es ist äußerst charakteristisch für Goethes Grundeinstellung. „Mäßige Gleichgültigkeit“: also keine Zustimmung, kein Interesse, nicht einmal entschiedene Gegnerschaft und womöglich Polemik, sondern einfache Gleichgültigkeit, beinahe Nichthinhören. Mit einem kräftigen Fußtritt beendet Goethe diesen Abschnitt seines Briefs an Schiller. Dabei kommt er aber wenigstens einmal auf einen inhaltlichen Aspekt der Gespräche Wielands zu sprechen. Wielands Kerngedanken über eine mögliche Verfassung werden als ein aristo-demokratisches Eheband bezeichnet, als „Mestizen“, als Mischlinge, wenig schmeichelhaft, jedenfalls nicht annehmbar für so feine Leute wie Goethe und Schiller. Dass Wieland angekündigt ist, die Mestizen in der Stille zu erdrosseln und im Keller zu begraben, könnte eine Andeutung auf das bevorstehende und 1799 tatsächlich erlassene Verbot der Gespräche unter vier Augen durch die Wiener Zensur sein, von der der Weimarer Geheime Rat Goethe vielleicht hinter den Kulissen bereits gehört hat. Schiller ist in seinen nächsten Briefen nicht auf Goethes Polemik gegen Wielands Gespräche unter vier Augen eingegangen. Es ist viel von Wallenstein, von Iffland und Schröder und von allerlei Besuchern die Rede. Und in Goethes anschließenden Briefen an Schiller sieht es ebenso aus. Goethe arbeitet in dieser Zeit vor allem am Faust. Damit sind nun allerdings zwei Hauptwerke der Klassiker genannt, und die ganze Dialektik des geschilderten Konflikts wird sichtbar. Fasst man die Wieland betreffenden Passagen von Goethes Brief an Schiller vom 2. Mai 1798 zusammen, kann man folgende Hauptsachen betonen: Erstens geht Goethe überhaupt nicht auf die Inhalte der Gespräche Wielands ein. Dabei handelte es sich bei diesen Inhalten um höchst brisante politische Hauptprobleme der Epoche: die Entwicklung der französischen Revolution, die Erfolge und Misserfolge des Direktoriums, die Krise des direktorialen Frankreich, den Ruf nach einem starken Mann, grundsätzlich um die Frage nach Monarchie und Republik und nach einer Verfassung. Für diese Inhalte zeigt Goethe in seinem Brief keinerlei Interesse. Er ist nicht bereit, darüber in dem Brief an seinen vertrauten Partner Schiller zu reden und womöglich eine Antwort und Stellungnahme zu veranlassen. Goethe ist zweitens auch nicht bereit, mündlich mit Wieland zu diskutieren. Dabei hatte Wieland den bemerkenswerten Versuch gemacht, durch persönliche Vorlesungen seiner Texte eine richtige Diskussion, eine Debatte in die Wege zu leiten mit wichtigen
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Leuten, nämlich den Weimarer Größen. Drittens geht Goethe noch einen Schritt weiter, indem er Wielands Gespräche, Wielands Intentionen und Wielands Person lächerlich macht und mit Hohn überschüttet. Auch wenn man natürlich beachten muss, dass es sich nicht um eine zur Veröffentlichung bestimmte Äußerung, sondern um eine vertrauliche briefliche Mitteilung handelt, so ist doch die Schärfe und Feindseligkeit der Äußerung Goethes auffallend und sogar verblüffend, weil Wieland für Goethe ja doch auch wenigstens zeitweise ein alter Freund und Gesprächspartner gewesen war. Die Kontroverse belegt auf einem speziellen Gebiet, dem der Politik und der politischen Publizistik, die Ende des 18. Jahrhunderts entstandenen und bestehenden schroffen Gegensätze zwischen später Aufklärung und Klassik. Die späte Aufklärung war in sich widersprüchlich, neigte aber doch insgesamt oder überwiegend dazu, sich intensiv und gründlich mit den von der Französischen Revolution hervorgebrachten Gegebenheiten auseinanderzusetzen und verschieden mögliche Haltungen zu artikulieren. Dabei ist das besonders Interessante und sogar Faszinierende bei Wieland, dass es ihm vor allem auf genaue Beobachtung, auf Abwägen und Diskutieren und erst in zweiter Linie auf Formulierung eines bestimmten Standpunkts ankommt. Insofern nimmt Wieland in der späten Aufklärung eine besondere Position ein. Trotz der gelegentlichen Sympathien für die Jakobiner ist Wieland durchaus kein Radikaler, gehört er nicht zu den Forster und Bürger und Rebmann. Er ist nicht einmal ein dezidierter Liberaler wie Reichardt, Campe und Halem. Er ist ein Mann der „goldenen Mitte“, in heutiger politischer Terminologie nicht Mitte-Rechts, auch nicht Mitte-Links, oder neue Mitte, sondern vielleicht Mitte-Mitte. Aber, wie schon mehrfach gesagt, das ist nicht das Entscheidende bei Wielands Haltung. Das Entscheidende ist die unbedingte Bereitschaft, sich den politischen Begebenheiten zu stellen, sie intensiv zu beobachten, sich mit ihnen auseinanderzusetzen und über sie zu diskutieren. Die Klassik dagegen in ihrem Hauptrepräsentanten Goethe war zu alledem nicht bereit. Soweit sie sich politisch „engagierte“, stand sie in den großen Zeitfragen ganz im konservativen monarchischen Lager, wie etwa Goethe bei Valmy 1792 oder Schiller bei der Hinrichtung des Königs. In den Xenien wurden Reichardt und Forster scharf angegriffen gerade wegen ihrer Haltung zur Revolution. Danach waren Goethe und Schiller nicht mehr bereit, überhaupt noch genauere Kenntnis von den Vorgängen zu nehmen, nicht bereit, über die Probleme zu diskutieren, nicht einmal mit einem so bedeutenden Mann und ehemaligen Freund wie Wieland. Dafür haben sie dann allerdings große Literatur produziert, in denen auf sehr sublime und umfassende Weise die Menschheitsfragen mit den Zeitfragen verknüpft wurden. Übrigens hat auch Wieland mit seinem Aristipp in Anlehnung an die Gespräche unter vier Augen noch einmal große Literatur produziert, was allerdings in der Rezeption lange Zeit nicht genügend beachtet worden ist.
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„Allein was beweiset das Händeklatschen der Menge?“1 Johann August Eberhard und sein hallesches Tätigkeitsfeld
1. Eberhards akademische Tätigkeit Der Tod des Philosophen und Ästhetikers Georg Friedrich Meier (1718–1777) bot Anlass zu Überlegungen im preußischen Kultusministerium, wie mit dem philosophischen Fach an der Fridericiana zu verfahren sei, d.h. welche Persönlichkeit am ehesten in der Lage wäre, dieses vor den Studenten und vor der Öffentlichkeit zu vertreten. Es war ohnehin eine Zeit innovativer Bestrebungen, mit denen der preußische Kultusminister Karl Abraham von Zedlitz und Leipe (1731–1793), selbst ein Absolvent der Fridericiana (er studierte hier von 1752 bis 1755 Jura) und Schüler Meiers, die Attraktivität der in die Jahre gekommenen Reformuniversität erhöhen wollte. Meiers Stelle sollte der bereits in jener Zeit vielgerühmte Königsberger Philosoph Immanuel Kant (1724–1804) einnehmen. Der Minister versuchte, diesem den Universitätswechsel schmackhaft zu machen: Er, v. Zedlitz, sei willens, „Halle so empor zu bringen als es jemals gewesen ist“, und in diesem Zusammenhang hätten „die in Halle studirende 1000 bis 1200 Studenten ein Recht [...] von Ihnen [Kant, H.-J. K.] Unterweisung zu fordern“.2 Der jedoch lehnte ab. Statt seiner wurde mit dem Charlottenburger Prediger Johann August Eberhard (1739– 1809) ein dezidierter Kant-Gegner auf den Lehrstuhl berufen. Man mag diese Entscheidung mit Verwunderung zur Kenntnis nehmen, dennoch entbehrte sie nicht einer gewissen Logik: Zum einen hatte Eberhard von 1756 bis 1759 Theologie an der Fridericiana studiert und war hier mit den neuesten theologischen Forschungen vertraut gemacht worden. „Männer wie S. J. Baumgarten und Semler“, so Eberhards Biograph und Freund, der Berliner Verleger Friedrich Nicolai (1733–1811), erweckten in ihren Schülern den Geist der Untersuchung, führten sie ab von dürrer Dogmatik und düsterer Ascetik, und leiteten sie hingegen zu gelehrten Studien aller Art, besonders der Kirchengeschichte, als der besten Anleitung den Werth der ange-
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Eberhard, Johann August: Ueber das Melodrama. In: ders.: Neue vermischte Schriften. Halle 1788, S. 2. Zedlitz an Kant, 28.3.1778; zit. nach: Kant’s gesammelte Schriften. Band X. Zweite Abteilung: Briefwechsel. Band I: 1747–1788. Berlin und Leipzig 21922, S. 228f.
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nommenen Lehrbegriffe dadurch genauer zu würdigen, dass der allmähligen Entstehung derselben nachgeforscht ward.3
Außerdem konnte Eberhard die hallesche Ästhetik aus berufenem Munde, dem Meiers nämlich, hören. Freilich, dies sei in Parenthese hier gesagt, gibt es keinen quellenmäßigen Beleg, ob Eberhard die enorm frequentierten Meierschen Kollegs tatsächlich konsultiert hat. Im Gegenteil: In der Vorrede zu Johann Gottlob Krügers Träume (1785), die Eberhard als ein besonders gelungenes Beispiel der Bemühung um die schöne Literatur feiert, meint er, dass diese sich abhebe von dem langweilige[n] Ton der moralischen Wochenschriften, die zu der Zeit, als Krüger schrieb, das grosse Publicum unterhalten sollten [...]. Wer auch in seinem Leben den Menschen, den Geselligen oder einige andere Wochenschriften von ähnlicher Manier, nur ein Mal in die Hand genommen hat, der kann sich mit einem Blicke überzeugen, wie wenig geistreiche Unterhaltung sich ein Leser von gesundem Geschmacke und reifer Urtheilskraft von ihrem wässerigen und schönseynsollenden Vortrage einer unverständlichen geheimnißvollen Philosophie, zu versprechen habe. Es kann wohl schwerlich einen [!] gebildeten Menschen etwas ekelhafter seyn, als die tiefsinnigen Geheimnisse der Monadologie oder des Optimismus auf dem unreinen Gewässer eines unfeinen Studentenwitzes daher schwimmen zu sehen, oder in den verliebten Seufzern eines abgeschmackten Seladons und einer faden Chlorinde vor den Ohren vorbeysäuseln zu hören. Und das hielt man damals für die Einkleidung, womit man die Wahrheiten der Weltweisheit in der feinern Welt einzuführen hofte. Dieses abendtheuerliche Gemisch von schäkerhaftem Unwitz und possenhafter Lustigkeit in der Form, das mit dem ernsthaften Tiefsinn der Materie so schreyend abstach, sollte das Vehikulum seyn, den Unterricht, womit man die moralischen Krankheiten des Verstandes und Herzens der grossen Welt heilen wollte, schmackhaft zu machen.4
Meier, das braucht nicht besonders betont zu werden, war, neben Samuel Gotthold Lange (1711–1781), Mitherausgeber der hier verspotteten Moralischen Wochenschriften – und einer ihrer eifrigsten Beiträger. Aber immerhin: Eberhard las die Schriften von Alexander Gottlieb Baumgarten (1714–1762), dem Lehrer Meiers und des Initiators der philosophischen Ästhetik, der zwar nicht mehr in Halle lehrte, dessen Gedanken jedoch in Eberhards philosophischen Überlegungen eine gewichtige Rolle spielen sollten – beispielsweise in folgenden Auslassungen: „Die Wissenschaft der Regeln der Vollkommenheit der
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Nicolai, Friedrich: Gedächtnißschrift auf Johann August Eberhard. Berlin und Stettin 1810, S. 6. Eberhard, Johann August: Johann Gottlob Krügers Träume. Mit einer Vorrede von Johann August Eberhard. Neue verb. Aufl. Halle 1785, S. IVf. (Vorrede).
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sinnlichen Erkenntniß und der Bezeichnung der selben ist die Aesthetik.“5 Oder die Aufforderung: „Die ästhetische Nachahmung der Natur verschönert [...] die Natur.“6 Wie Baumgarten und Meier beharrt Eberhard auf dem „Grundgesetz aller schönen Künste“: die „lebhafte Vorstellung der Vollkommenheit“. Dieser sei die „Nachahmung der Natur untergeordnet“.7 Und er ergänzt Baumgartens Diktum in den Meditationes: „Eine vollkommene sinnliche Rede, welche auch diesen höchsten Grad der äußern Vollkommenheit hat, ist ein Gedicht in engerer Bedeutung, oder ein versificirtes Gedicht; eine jede andere ist Prosa in weiterer Bedeutung.“8 Bei Baumgarten steht: „Oratio sensitiva perfecta est POEMA“ („Eine vollkommene sinnliche Rede ist EIN GEDICHT“).9 Der Rezensent der Allgemeinen deutschen Bibliothek vermerkte denn auch: Alles ist eben so genau und philosophisch, und doch ungleich praktischer und fruchtbarer vorgetragen, als in Baumgartens Aesthetik, obgleich auch diese den Verf. zum öftern geleitet zu haben scheint; und dabey ohne alle die unnütze, höchst ermüdende Weitschweifigkeit, die dem Vorgänger des Verf. im Lehramte, G. F. Meier, in seinen Anfangsgründen der schönen Wissenschaften eigen war.10
Der Rezensent der Jenaer Allgemeinen Literatur-Zeitung, bei dem es sich möglicherweise um den Kantianer Karl Leonhard Reinhold handelt, hingegen bemängelte die allzu starke Bindung Eberhards an Baumgarten-Meiersche Theoreme: Von einem Manne, der „seinen Zeitgenossen mit der Fackel der Aufklärung voranzugehen gewohnt war“, erwarte er in einer dritten Auflage „eine sehr beträchtliche Verbesserung seines seit kurzem so vielfältig behandelten und baufällig anerkannten Lehrgebäudes“. Statt dessen werde aber „bey der Entwickelung der Grundbegriffe das alte Spiel mit dem Worte Vollkommenheit so weit getrieben, dass wir von der bisherigen Unbestimmtheit und Vieldeutigkeit dieses Worts kaum ein auffallenderes Beyspiel anzugeben wüßten.“11 Dessen ungeachtet begegnet uns im 210. – und damit letzten – sei-
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Eberhard, Johann August: Theorie der schönen Künste und Wissenschaften. Zum Gebrauche seiner Vorlesungen herausgegeben. Dritte verbesserte Auflage 1790, S. 4. Ebd., S. 9. Ebd., S. 15. Ebd., S. 161. Vgl. Baumgarten, Alexander Gottlieb: Meditationes philosophicae de nonnullis ad poema pertinentibus – Philosophische Betrachtungen über einige Bedingungen des Gedichtes. Übers. u. mit einer Einleitung hg. v. Heinz Paetzold. Lateinisch-Deutsch. Hamburg 1983, S. 10f. Vgl. Allgemeine deutsche Bibliothek. Des sieben und funfzigsten Bandes erstes Stück. Berlin und Stettin 1784, S. 123. Vgl. Allgemeine Literatur-Zeitung. Numero 384. Sonnabends, den 25ten December 1790, Sp. 777.
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ner Briefe im vierten Teil des Handbuchs der Aesthetik, gewissermaßen als Eberhards Credo, der ,Grundbegriff‘ im Baumgarten-Meierschen Sinne noch einmal: So ist dann der Verstand, der dem Werk seine Vollkommenheit geben hilft. Und wenn er seine Regeln in der Aesthetik ausspricht, so werden Sie nun die Erklärung der Aesthetik, die so manchen Anstoß gegeben hat, nicht mehr unverständlich finden: Die Aesthetik ist die Wissenschaft der Regeln der Vervollkommnung der sinnlichen Erkenntniß.12
Das Handbuch, das sei am Rande vermeldet, publizierte der hallesche Verlag Hemmerde & Schwetschke. Der Verbindung Eberhards zu Carl August Schwetschke verdanken wir einen Hinweis auf einen Rezensenten der Schrift. Johann Joseph Christian Pappe (1768–1842) wandte sich im April 1804 aus Hamburg an Schwetschke: Sie haben die Güte gehabt mir Eberhards Aesthetik zur Anzeige in meine Zeitung einzuschicken, und ich habe von der selben eine Anzeige besorgen laßen, die Ihren Wünschen gewiß entsprechen wird. Sie ist von einem Manne, den Deutschland unter seine besten ästhetischen Schriftsteller zählt. Mit einem Worte, sie ist, wenn Sie reinen Mund halten wollen, vom Prof. Eschenburg in Braunschweig.13
Die Rezension erschien in der Tat in der Hamburgischen Neuen Zeitung. Eschenburg bespricht hier den zweiten Teil des Werkes und verweist darauf, dass er an gleicher Stelle bereits den ersten Teil gewürdigt habe. Auch der zweite sei „in Hinsicht auf die Ausführung und vorzügliche Behandlung der mit vielem Scharfsinn erörterten Gegenstände“ dem interessierten Leser zu empfehlen. Eberhard erweise sich als ein Meister in der gewiß nicht leichten Kunst, einen an sich mehr abstrakten als populären Stoff so glücklich zu formen, dass die Beschäftigung des Geistes mit demselben auch Lesern und Leserinnen, die zu diesen Forschungen weder gewöhnt noch aufgelegt sind, anziehend und unterhaltend wird.
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Handbuch der Aesthetik für gebildete Leser aus allen Ständen in Briefen herausgegeben von Johann August Eberhard. Vierter Theil. Halle 1805, S. 372. Pappe an Schwetschke, 20.4.1804, Autograph; zit. nach: Stadtarchiv Halle, Nachlass Gebauer, Kasten 1803/04. Pappe hatte Philologie und Philosophie in Halle und Wittenberg studiert und war 1798 in Halle promoviert worden. Von daher rührt wohl seine Bekanntschaft mit Schwetschke. Er veröffentlichte Beiträge für Meusels Gelehrtes Teutschland, wurde 1801 Redakteur der Hamburgischen Neuen Zeitung und der Hamburgischen Addreß-Comtoir-Nachrichten.
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Hervorgehoben wird die „geschmackvolle Schreibart“, die durch „schicklich gewählte Beispiele“ ergänzt wird. „Für die Bildung eines richtigen Geschmackes“, so lautet das Fazit der Besprechung, und zur Verwahrung desselben gegen die in unsern Zeiten so häufigen und mannichfaltigen Verleitungen desselben zur Liebgewinnung des Unnatürlichen, Schwärmerischen, und Ueberspannten, wüßten wir kein besseres Hülfs- und Verwahrungsmittel zu empfehlen, als eine aufmerksame und wiederholte Lesung dieser Briefe.14
Doch zurück zu Eberhards Berufung nach Halle: Der Gelehrte, so lässt sich sagen, war mit den universitären Gepflogenheiten seines neuen Wirkungsfeldes vertraut, er hatte sich, als aufgeschlossener und kulturell gebildeter Zeitgenosse, den geselligen Veranstaltungen Halles, insbesondere denen musikalischer Natur, als Teilnehmer anschließen können. Er konnte die „ästhetische Stimmung“15, die sich an der Universität und im halleschen Umfeld ausgebreitet hatte, genießen und sie für seinen weiteren Werdegang nutzbar machen. Und er war 1772 mit einer Schrift an die Öffentlichkeit getreten, die für einigen Zündstoff im theologischen Fach sorgen sollte. Gemeint ist die Neue Apologie des Sokrates, in der er in prononciert Wolffscher Tradition noch einmal die Frage aufwarf, ob man Heiden moralische Handlungsfähigkeiten unterstellen könne. Bekanntermaßen hatte sich Christian Wolff mit seiner ,Sineserrede‘, der Oratio de Sinarum philosophia, die er gelegentlich der 1721 erfolgten Übergabe seines Prorektorats an Joachim Lange gehalten hatte, den Zorn der Mitglieder der Theologischen Fakultät der Fridericiana zugezogen. Wolffs Biograph Johann Christoph Gottsched schrieb dazu: Sonderlich that solche Wirkung dieses, dass der Hr. Hofrath und Prorector, nach großen Lobsprüchen der alten chinesischen Moralphilosophie oder Sittenlehre, eine Vergleichung derselben mit der Seinigen anstellete; und sich aus der Uebereinstimmung der beyderseitigen Lehrsätze, eine besondre Ehre zu machen schien.16
Wolff hatte in seiner Rede die Chinesen nicht als insgesamt bedauernswerte Heiden, sondern deren Sittlichkeit sogar „als Muster für das christliche
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Vgl. Kaiserlich-privilegirte Hamburgische Neue Zeitung. 46. Stück. Mittwoch, den 21 März 1804, unpag. Niemeyer, August Hermann: Beobachtungen auf Reisen in und außer Deutschland. Nebst Erinnerungen an denkwürdige Lebenserfahrungen und Zeitgenossen in den letzten funfzig Jahren. Erster Band. Halle und Berlin 1820, S. 342. [Gottsched, Johann Christoph]: Historische Lobschrift des weiland hoch- und wohlgebohrnen [...] Herrn Christians, [...] Freyherrn von Wolf [...]. Halle 1755, S. 56.
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Europa“17 dargestellt. Begnügte sich Wolff noch damit, die Sittenlehre der Chinesen mit der seinigen zu vergleichen, ging Eberhard in seiner Neuen Apologie des Sokrates weiter. In der Verteidigung von Jean-François Marmontels didaktischem Roman Bélisaire, der 1767 in Paris erschienen war und in dessen 15. Kapitel Fragen der Toleranz diskutiert werden, gesteht Eberhard auch den Heiden ein Seelenheil im Jenseits zu. Die „ausschließende Seligkeit der Christen“ sei nicht auf die Lehre Jesu zurückzuführen, sondern diese nahm in ihrer Gemeinschaft nicht eher einen festen Platz, als bis die anwachsende Gewalt des Priesterthums von solchen Lehrsätzen Beförderung erwarten konnte, und die Gemüther blödsinnig und unempfindlich genug gemacht hatte, vor solchen Verdammungen nicht mehr zu erschrecken.18
Johann Gottfried Herder bezeichnete Eberhard fortan als den „großen Heidenseligmacher“.19 Außerdem hatte letzterer 1776 mit seiner Allgemeinen Theorie des Denkens und Empfindens den Preis der Berliner Akademie in Empfang nehmen können. Den Anlass, über die „untern Seelenkräfte“20 nachzudenken, so schreibt er in der Einleitung zu dieser Schrift, boten ihm zwei Erkenntnisse: Zum einen habe ihn, und hier erweist er sich als ein Leibniz-Schüler, die Natur der Farben, die lediglich durch „sinnliche Eindrücke“21, nicht aber als etwas Gegenständliches empfunden werde, zu Reflexionen über die Empfindungen angeregt. Zum anderen war es der enge Zusammenhang von Naturrecht und moralischen Empfindungen, der ihm Anlass gab, über die „innige Vereinigung der schönen Künste mit den moralischen Wissenschaften“ nachzudenken. In diesem Zusammenhang gelangte er zu der Erkenntnis, dass die „Empfindlichkeit die Seele zur Liebe des Schönen hintrieb, wodurch sie sich zur Liebe des Guten neigte.“ Und er fährt fort: Die schönen Künste bekommen von da an auch in den Augen des Weltweisen eine Würde und Brauchbarkeit die man vorher nur ganz dunkel gefühlt hatte. Der Dichter trug die Rose des Vergnügens in der Hand, der Philosoph zeigte, wo sie gewachsen
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Albrecht, Michael: Einleitung. In: Wolff, Christian: Oratio de Sinarum philosophica practica / Rede über die praktische Philosophie der Chinesen. Lateinisch-Deutsch. Übers., eing. u. hg. v. Michael Albrecht. Hamburg 1985, S. XLV. Eberhard, Johann August: Neue Apologie des Sokrates, oder Untersuchung der Lehre von der Seligkeit der Heiden. Erster Band. Neue und verbesserte Auflage. Berlin und Stettin 1776, S. 33f. Vgl. Herder, Johann Gottfried: Gefundene Blätter aus den neuesten Deutschen Litteraturannalen von 1773. In: Herders Sämmtliche Werke. Hg. v. Bernhard Suphan. Fünfter Band. Berlin 1891, S. 268. Eberhard, Johann August: Allgemeine Theorie des Denkens und Empfindens. Eine Abhandlung, welche den von der Königl. Akademie der Wissenschaften in Berlin auf das Jahr 1776 ausgesetzten Preis erhalten hat. Berlin 1776, S. 7. Ebd., S. 8.
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war, und wie man auf diesem Felde nicht nur die Blumen des Ergötzens, sondern auch die Frucht der Nutzbarkeit zu weitern [!] Fortkommen und Ausbreiten verhelfen könne.22
Auf diesem Wege sei es möglich, die intellektuelle und moralische Bildung des Menschen zu befördern; durch die Künste der Einbildungskraft seinen Erwägungen Kraft und Leben, und durch die Ueberlegung seinem Geschmacke und Empfindung, Richtigkeit, Sicherheit, Ausbreitung und Ordnung zu ertheilen, und beydes zur Belebung und Lenkung seiner moralischen Kräfte anzuwenden.23
Die Literaturkritik reagierte mit hohem Lob auf den Preisträger. Der Rezensent von Nicolais Allgemeiner deutscher Bibliothek spricht von einem Autor, „den Deutschland als einen scharfsinnigen und tiefdenkenden Weltweisen und eleganten Schriftsteller kennt“, es sei ihm keine psychologische Schrift von irgend einem Schüler Leibnitzens bekannt [...], wo die wichtige Lehre dieses Weltweisen von den dunkeln Ideen tiefer durchgeschauet, in ihrem ganzen Umfang gründlicher ausgeführet, und zur Aufklärung der Seelenlehre, zum Dienst der Moral und der schönen Wissenschaften glücklicher genützt und angewendet worden.24
Der Kultusminister hatte demnach gute Gründe, die vakante Stelle mit Eberhard zu besetzen.25 Eigentlich war dieser gewillt, wie Nicolai betont, „Berlin nie zu verlassen“. Er erhoffte sich ein gut dotiertes Predigeramt und hatte, der „Geistesbildung und geselligen Umganges [wegen]“26, hier ein ihm zusagendes kulturelles Ambiente vorgefunden, das er nicht missen wollte. Unter anderem vermittelte ihm Nicolai die Bekanntschaft mit Moses Mendelssohn (1729–1786), wobei Eberhard, wie Nicolai sagt, zum „dritte[n] Mann bey unsern wöchentlichen Zusammenkünften“, die „philosophischem Gedankenwechsel und geistiger Unterhaltung geweihet“27 waren, avancierte. Allerdings bekleidete Eberhard in der vornehmen Gesellschaft Berlins eine merkwürdige Zwitterstellung. Er habe, so Nicolai, die „Grundsätze“ einiger französischer Philosophen (die von Friedrich II. favorisiert wurden) ebenso angezweifelt wie „die unechten Lehren [...] von manchen Theologen“ widerlegt. So sahen
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Ebd., S. 10. Ebd., S. 13. Vgl. Allgemeine deutsche Bibliothek. Des drey und dreyßigsten Bandes zweytes Stück. Berlin und Stettin 1778, S. 482. Der hatte sich zuvor mit einem zweiten Band der Apologie (Berlin und Stettin 1778), den er v. Zedlitz dedizierte. In Erinnerung gebracht. Nicolai: Gedächtnißschrift, S. 11. Ebd., S. 10.
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die einen ihn als „einen, von aller Pedanterie entfernten, sehr angenehmen Gesellschafter [...], doch im Grunde gar zu sehr den Gesinnungen eines Geistlichen“ verhafteten Gelehrten an, während die „Theologen im Gegentheil [...] die Meinung von ihm [hatten], er sey viel zu weltlich gesinnt“.28 Insofern dürfte ihm die Entscheidung für Halle relativ leicht gefallen sein. Eberhard entwickelte auch bald „eine entschiedene Vorliebe für Halle, so wie für das academische Leben auf dieser Universität, die jeden Gedanken an irgend eine Ortsveränderung stets weit von ihm entfernt hielt.“29 Als Hochschullehrer vermochte er nicht, wie Meier, die Gunst des studentischen Publikums zu erlangen. Die Allgemeine deutsche Biographie vermerkt: Als akademischer Lehrer hat E. nur mittelmäßige Erfolge errungen; er war ein Meister in der Umgangssprache, die reine wissenschaftliche Darstellungsform beherrschte er aber nicht in gleichem Maße und sein Kathedervortrag war stockend. Mehr wirkte er durch persönlichen, lehrreichen Verkehr mit den Studirenden.30
Das bestätigt auch Christian Friedrich Bernhard Augustin (1771–1856), der spätere Oberdomprediger in Halberstadt. Dieser besuchte ab 1790 die Fridericiana, studierte Theologie und Geschichte. Eberhard sei als Lehrer produktiver bei den etwas älteren Semestern gewesen, „ein Anfänger wird nicht leicht seinem raschen und feurigen Ideengange folgen können“, da sein Vortrag oft „dunkel“ ist, „das kleinste Hinderniß unterbricht ihn ganz“. Er hörte bei ihm Metaphysik, Ethik, Geschichte und Ästhetik. Letztere hebt Augustin hervor – „denn einen ästhetischeren Kopf, als Eberhard ist, giebt es nicht“.31 Immerhin: Eberhard war derjenige, der die von Meier Ende der sechziger Jahre aufgegebenen Ästhetik-Vorlesungen wieder anbot und diese in neuem Gewande präsentierte. Der Universitätshistoriker Wilhelm Schrader belegt dies mit Zahlen. Er konstatiert um die Jahrhundertmitte in der „eigentlichen Philosophie“ einen „Übergang von der strengen Wissenschaft zur Gemeinverständlichkeit und zu der Aesthetik“. Dies habe schon mit Meiers Wirken begonnen, „noch bewuster und ausschließlicher“32 jedoch verbinde sich dieser Vorgang mit
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Ebd., S. 46. Noch einige Bemerkungen über Eberhard. In: Sprengel, Curt: Johann August Eberhard, als Mensch und Bürger. In: Der Neue Teutsche Merkur. 4. Stück. April 1809, S. 298. Richter, A.: Art.: Eberhard: Johann August. In: Allgemeine Deutsche Biographie. Fünfter Band. München 1877, S. 570. [Augustin, Christian Friedrich Bernhard]: Bemerkungen eines Akademikers über Halle und dessen Bewohner. In Briefen, nebst einem Anhange, enthaltend die Statuten und Gesetze der Friedrichsuniversität, ein Idiotikon der Burschensprache, und den sogenannten Burschenkomment. Germanien [recte: Quedlinburg] 1795, S. 168. Schrader, Wilhelm: Geschichte der Friedrichs-Universität zu Halle. Erster Teil. Berlin 1894, S. 403.
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dem Namen Eberhards. Der konnte zunächst Erfolge beim studentischen Publikum verbuchen: „[E]r zählte z.B. 1780 in der Logik 106, in der Metaphysik 137 und drei Jahre später sogar in jener 120, in dieser 188 Zuhörer.“ Freilich sei er bald „in den strengen Teilen seiner Wissenschaft“ durch seinen einstigen Schüler Johann Gebhard Ehrenreich Maaß und durch den Kantianer Ludwig Heinrich Jakob überholt worden. Lediglich „in der Aesthetik“, so Schrader, „blieb seine Wirksamkeit ungeschmälert“.33 „1791 hatte er in der Aesthetik 64, in der Logik nur 14 Zuhörer und 1799 gelang es ihm überhaupt nicht eine Privatvorlesung zu Stande zu bringen.“34 Nach der Jahrhundertwende war Eberhards akademische „Wirksamkeit [...] allerdings ziemlich erloschen“.35 Geschick zeigte er in seiner Rolle als Prorektor der Universität, zumindest lässt die dreimal – und zwar in den Jahren 1786/87, 1795/96 und 1804/05 – erfolgte Wahl in dieses Amt darauf schließen, dass seine Amtsführung das Wohlwollen seiner Kollegen fand.
2. Eberhard als Gesellschafter Eberhards Wirksamkeit erstreckte sich nunmehr auf gesellige Kontakte im Umfeld der Universität. Hier galt er als jener gefragte Gesellschafter, auf den zu verzichten sich kein Gastgeber wirklich leisten konnte. August Hermann Niemeyer (1754–1828), dessen Haus am Großen Berlin solcherlei Geselligkeit jedem Interessierten offenstand, schildert Eberhard als einen Menschen, der „offen für alle echt menschlichen Freuden“ sei, er gelte als „der willkommene Genosse jedes geselligen Vereins“, der „jeden Kreis, in den er eintrat, zu beleben wußte“.36 David Gottfried Herzog (1769–1850), später Schulmann in Bernburg, der von 1789 bis 1792 in Halle Theologie studierte, verweist auf den „offenen Blick und die freie Stirn“ seines Lehrers. Ich sah noch keinen Mann, der in dem Grade Liebe und Ehrfurcht zugleich erregte, als ihn. [...] Sein Witz erheitert die Gesellschaften und macht seinen Umgang zu dem angenehmsten, den man sich denken kann. Seine Sprache hat etwas majestätisches, und vernachlässigt er gleich oft das Aeussere seiner Kleidung, so darf man ihn nur gehen sehen, um in ihm den Denker und überhaupt den großen Mann zu er-
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Ebd., S. 404. Ebd., S. 587. Ebd., Zweiter Teil, S. 23. Niemeyer, August Hermann: Gedächtnißpredigt bey dem Tode D. Joh. Aug. Eberhards [...]. In: ders.: Akademische Predigten und Reden vorzüglich bey feyerlichen Veranlassungen. Nebst einer kirchenhistorischen Abhandlung über den Einfluß der Hallischen Universität auf gelehrte und praktische Theologie in ihrem ersten Jahrhundert. Halle und Berlin 1819, S. 134.
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blikken. Ein angenehmes Schauspiel war es mir zuweilen, wenn ich ihn an öffentlichen Orten z.B. im Concerte erscheinen, und alles ihm mit der größten Ehrfurcht Plaz machen sahe. Da man den Herren Hallensern nichts weniger, als eine zu große Höflichkeit zum Vorwurfe machen kann, so ist diese ungeschminkte Höflichkeit desto auffallender: doch wer wäre es auch wohl, der einem solchen Manne, der die Größe seiner Seele vor sich her trägt, seine Ehrfurcht versagen könnte, der nicht gezwungen wäre, sie ihm auch äußerlich zu zeigen.37
Wenn er auch in seinen Lehrveranstaltungen nicht das Gros des Publikums zu erreichen vermochte, gelang ihm dies im privaten Verkehr mit Studenten desto eher. Beispielsweise als der beliebte Gastgeber für studentische Kostgänger: Er hatte deren, bis auf die letzten Jahre, gewöhnlich einige an seinem Tische, die ihm von Aeltern, Verwandten oder Freunden besonders empfohlen waren, und es war höchst anziehend, zu hören, wie er ihnen diese nähere Gesellschaft nützlich zu machen suchte, wie er sich bald über wissenschaftliche Gegenstände, bald über die Geschichte des Tages lebendig mit ihnen unterhielt, wie er in ihre Ideen gern und willig eingieng, und diese entweder zu befestigen oder zu berichtigen suchte, und wie er gegen Verirrungen aller Art väterlich und liebevoll warnte.38
Das meinte auch der Züricher Patriziersohn Johann Heinrich Landolt (1763– 1850), der ab 1782 drei Semester in Halle studierte. Er hatte in Eberhards Haus Logis gefunden und lernte seinen Gastgeber kennen als „einen Mann von feinem Weltthon, übrigens artig und unterhaltend im Umgang, der eine Menge Anekdoten in seiner Gewalt hat, welche er gut zu erzählen weiß, und dessen Kenntniße in allen Sachen sich beständig verrathen“.39 Dass Eberhard in persönlichen Diskursen durchaus die Tiefe seiner Gedanken auszuloten vermochte, belegt auf kuriose Weise Christoph Friedrich Rinck (1757–1821). Der Hof- und Stadtvikarius von Karlsruhe, der von seinem Dienstherrn, dem Markgrafen Karl Friedrich von Baden auf eine Bildungsreise durch Deutschland und die Schweiz geschickt wurde, gelegentlich derer er die berühmtesten Gelehrten jener Länder aufsuchen sollte, berichtet von einer Unterredung mit Eberhard, in der über die „Versöhnung bey Gott“ gehandelt wurde: „Wir kamen in der Sache so tief, dass wir oft den Faden verloren, verwickelten uns etliche mal in Beweisen so sehr, dass wir nicht mehr wußten, was wir beweisen wollten.“40 Selbst die der romantischen Bewegung nahestehenden Studen-
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[Herzog, Daniel Gottfried]: Briefe zur nähern Kenntniß von Halle. Von einem unpartheiischen Beobachter. o.O. 1794, S. 136f. Sprengel: Noch einige Bemerkungen, S. 296f. [Landolt, Heinrich]: Aus dem Reisetagebuch eines jungen Zürichers in den Jahren 1782–1784. Hg. v. Ernst Dümmler. Halle 1892, S. 10. Christoph Friedrich Rinck, Hof- und Stadtvikarius zu Karlsruhe, Studienreise 1783/84, unternommen im Auftrage des Markgrafen Karl Friedrich von Baden.
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ten, denen Eberhards Vorlesungen suspekt erschienen, scheuten sich nicht, gesellige Abende in dessen Haus zu besuchen. So etwa der Mediziner Adolph Müller, der seiner Schwester Elise berichtet: „[...] bei Eberhard’s werde ich zuweilen eingeladen, und er ist ein ordentlicher alter Mann“.41 Drei Monate später erfahren wir, dass bei dem Philosophen „jetzt oft musikalische Abende eingerichtet werden. Gestern waren viele junge Leute dort, es wurde allerhand musiziert“.42 Schließlich zieht Müller im Sommersemester sogar in Eberhards Haus. Offenbar besaß der Ästhetiker ein genuines Gespür für musikalische Gegenstände, was ihn als Gesprächspartner so beliebt machte. Sophie Becker, die Begleiterin von Elise von der Recke auf deren Reisen durch Deutschland, schildert ihn als einen „Weltmann“, der „ein großer Freund und Kenner der Musik“43 ist. Curt Sprengel betont: „Zu seiner [Eberhards, H.-J. K.] besonderen Aufheiterung diente noch immer die Musik, die er von jeher in einem ganz vorzüglichen Grade geliebt hatte, und die er nicht allein theoretisch genau kannte, sondern auch practisch übte.“44 Erinnert sei hier nur an Eberhards schönes Plädoyer für die Oper, das ihn eindeutig als einen Nachfolger der halleschen Ästhetik ausweist: Sie ist also ein Schauspiel, worin sich Dichtkunst, Musik, Mimik, Malerey, und Skevopöie vereinigen, durch eine höchst vollkommne sinnliche Vorstellung, und die höchst verschönerte Nachahmung der Natur auch vermittelst des Wunderbaren den höchsten Grad des Vergnügens hervorzubringen.45
Man bedenke: Eberhard äußerte dies vor einer Studentenschaft in Halle, deren Theaterleidenschaft durch Verbote seitens der Universitätsleitung nur allzu häufig einen erheblichen Dämpfer erhalten hatte.
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Nach dem Tagebuche des Verfassers herausgegeben von Dr. Moritz Geyer. Altenburg 1897, S. 108. Die Unterredung fand am 6. Dezember 1783, 11 Uhr, statt. Müller an Elise, 12.1.1806; zit. nach: [Müller, Adolph]: Briefe von der Universität in die Heimath. Aus dem Nachlass Varnhagen’s von Ense. Leipzig 1874, S. 277. Müller an Elise, 30.3.1806, ebd., S. 297. Vgl. Vor hundert Jahren. Elise von der Reckes Reisen durch Deutschland 1784–86 nach dem Tagebuche ihrer Begleiterin Sophie Becker. Hg. u. eingel. v. Lic. Dr. G. Karo u. Dr. M. Geyer. Stuttgart [1884], S. 63. Sprengel: Noch einige Bemerkungen, S. 299. Theorie der schönen Wissenschaften. Zum Gebrauche seiner Vorlesungen herausgegeben von Johann August Eberhard. Halle 1783, S. 271.
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3. Zu einigen wissenschaftlichen Publikationen Eberhards Die Ankunft Eberhards in Halle fand auch die Aufmerksamkeit der halleschen Verleger, die an einer Zusammenarbeit mit einem bekannten Schriftsteller durchaus interessiert waren. So Johann Jakob Gebauer, der, beflügelt von dem verlegerischen Erfolg, den er mit August Hermann Niemeyers Charakteristick der Bibel erzielt hatte, Theophrasts Charaktere in einer deutschen Übersetzung und mit Kupfern von Chodowiecki publizieren wollte. Dies lag dem Freund und pädagogisch ambitionierten Göttinger Theologen und Autor des Verlages Johann Peter Miller sehr am Herzen. Man könne mit solcherlei Publikationen die für die Jugend „höchst nöthige Menschenkentnis [...] befördern“46 helfen. Als einen potentiellen Herausgeber nannte er Georg Christian Erhard Westphal (1751/52–1808), der an einer Publikation von Portraits arbeitete – allerdings offenbar kein Interesse zeigte. Fünf Monate später war dann Eberhards Name im Gespräch: Und wenn H Prof. Eberhardt es übernimmt: so ist es schon so gut als glücklich angefangen u zur Hälfte über alle unsere u des Publicums Erwartung ausgeführt. Dieser große Seelenkenner, er, der in der Entwickelung u Schilderung von Zinzendorfs Karakter in der allgem Bibliothek das Meisterstück gemacht hat, wird, wie ich hoffe, nicht beÿ dem allgemeinen oder beÿ willkührlichen Kompositionen, wie Theophrast, la Bruÿere stille stehen, sondern aus der Geschichte großer Männer gerade ihre wichtigsten Auftritte u Erscheinungen aus heben u sie in Kupfer stechen lassen u dann darüber als Psÿchologe u Moralist philosophiren.47
Einen Monat später berichtete Miller: „Westphals Portraits u Wetzels Ehegeschichte mit Kupfern sind nun heraus u so ausgefallen, dass H Pr. Eberhard Ihnen immer noch ein drittes Buch ausarbeiten wird, das jene unendlich weit übertreffe.“48 Dazu ist es allerdings nicht gekommen. Aber immerhin: Der Kontakt Gebauers zu dem Philosophen war hergestellt. Eberhards erste
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Miller an Gebauer, 3.1.1779, Autograph; zit. nach: Nachlass Gebauer, Kasten 1779. Miller an Gebauer, 13.5.1779, Autograph; ebd., Kasten 1779A. Angespielt wird hier auf die umfangreiche und sachkundige Rezension von August Gottlieb Spangenbergs Leben des Herrn Nicolaus Ludwig Grafen und Herrn von Zinzendorf und Pottendorf (Barby [1772]ff.), die von Eberhard besorgt wurde; vgl. Allgemeine deutsche Bibliothek. Des zwanzigsten Bandes erstes Stück. Berlin u. Stettin 1773, S. 99– 126. Miller an Gebauer, 24.6.1779, Autograph; zit. nach: Nachlass Gebauer, Kasten 1779A. Gemeint sind Westphals Portraits, die in Leipzig in zwei Bänden 1779 und 1782 herauskamen. Den Vorbildern Theophrast und La Bruyère folgend versuchte Westphal hier, eine fragmentarische Sittengeschichte des 18. Jahrhunderts vorzulegen. Bei dem anderen Titel handelt es sich um Johann Carl Wezels komischen Roman Hermann und Ulrike, der 1779, vom Verlag auf 1780 vordatiert. In Leipzig erschien.
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Schrift, die sich unmittelbar auf seinen neuen Tätigkeitsbereich an der Fridericiana bezieht, erschien allerdings noch in Berlin bei Christian Friedrich Voß. Es handelt sich um die Ankündigung bzw. die inhaltliche Bestimmung jener Vorlesungen, die er seinem halleschen Publikum vorzutragen gedenkt. Eberhard legt hier Wert auf eine genaue Grenzbestimmung zwischen den einzelnen philosophischen Disziplinen und subsumiert die Logik bzw. die Ästhetik unter die psychologischen Wissenschaften. „Denn die Logik und Aesthetik unterscheiden sich dadurch sichtbar genug von den bloß theoretischen Theilen der Philosophie, dass sie, außer der Betrachtung der Erkenntnißkraft, die Regeln zur Lenkung derselben auf einen gewissen Zweck vortragen.“ In diesem Zusammenhang habe die Ästhetik nicht lediglich die „allgemeinsten Regeln für die untre Erkenntnißkraft“ zu geben, sondern sie müsse auch „häufigere und genauere Beobachtungen über die Empfindungen, ihren Gang, ihre Erregung und Lenkung, ihre Aeußerungen und Ausdruck“ mitteilen. Nur so sei sie in der Lage, „den Virtuosen in seiner Arbeit zu leiten“.49 Man sieht: Eberhard stellt sich bewusst in die Tradition der sich um 1750 formierenden halleschen Psychomediziner, zu denen, neben Johann Gottlob Krüger, Johann August Unzer und Ernst Anton Nicolai, unbedingt auch Georg Friedrich Meier zu rechnen ist. In deren Theorie der Gemütsbewegungen spielte auch der Bereich der Empfindungen eine nicht unwesentliche Rolle. Diese werden nicht mehr getrennt von den Verstandesfunktionen betrachtet, sondern vielmehr in das Wechselspiel von Körper und Seele eingebettet. Der erste Titel Eberhards, der im Gebauer-Verlag herauskam, galt einem Gegenstand, der ganz offensichtlich die gelehrten Gemüter in den achtziger Jahren des 18. Jahrhunderts bewegte: dem Begriff ,Aufklärung‘ nämlich. Im Dezember 1783 publizierte Johann Friedrich Zöllner einen Aufsatz in der Berlinischen Monatsschrift, in dem er die Frage aufwarf, was denn ,Aufklärung‘ eigentlich sei. Bekannt sind die Antworten, die Moses Mendelssohn, Immanuel Kant u.a. darauf gegeben haben. Eberhard hatte die seine bereits vor der Fragestellung Zöllners, nämlich im Februar 1783, in einer Vorlesung vorgestellt. Auch er beginnt mit einer Frage: „Es scheint, als wenn man noch nicht darüber eins ist, ob man die Zeiten, worin wir leben, die aufgeklärten nennen dürfe, oder nicht?“50 Zwar könne man durchaus „Fortschritte“ feststellen, diese aber gingen einher mit einer unübersehbaren „Barbarey“.51 Prononciert hebt er erstere hervor. Er findet diese zum einen in der Interdisziplinarität der
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Eberhard, Johann August: Von dem Begriffe der Philosophie und ihren Theilen. Ein Versuch womit beym Antritt des von Seiner Königlichen Majestät Allergnädigst ihm anvertraueten Amts eines öffentlichen Lehrers der Philosophie auf der Königl. Friedrichs-Universität zu Halle, seine Vorlesungen ankündigt. Berlin 1778, S. 51. Eberhard, Johann August: Ueber die Zeichen der Aufklärung einer Nation. Eine Vorlesung gehalten [...] zu Halle den 11. Febr. 1783. Halle 1783, S. 3f. Ebd., S. 4.
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Wissenschaften manifestiert: „Die allgemeine Bearbeitung aller Zweige der Gelehrsamkeit ist also eines von den sichersten Kennzeichen der Aufklärung in einer Nation und in einem Jahrhundert.“52 Zum anderen konstatiert er die „Verbindung eines freien und richtigen Geschmacks mit den strengen Wissenschaften“.53 Diese werde „durch sanfte gesellige Freuden des Umgangs, und durch den unbefangenen Genuß der unschuldigen Vergnügen des Lebens“54 befördert. Schließlich beobachtet er, drittens, eine „Ausbreitung [der Aufklärung, H.-J. Kertscher] unter alle Stände“55, woran die Pflege der Muttersprache beteiligt sei, aber auch die Literatur – vornehmlich die Romane, „die einzigen Geschichtbücher der Nation“.56 Trotz Anzeichen „des rohesten und blödsinnigsten Aberglaubens“57 sei er bereit, seinen Zeiten „den Ehrennamen der Aufgeklärten“58 zu geben. Immanuel Kant wird hier später Widerspruch anmelden, wenn er, ohne freilich Eberhards Namen zu nennen, bestreitet, „in einem aufgeklärten Zeitalter“ zu leben und stattdessen von „einem Zeitalter der Aufklärung“59 sprechen, d.h. stärker die Prozeßhaftigkeit dieser Bewegung hervorheben möchte. Ein Jahr später publizierte Gebauer den ersten Teil von Eberhards Vermischten Schriften, u.a. mit der Arbeit Ueber den Unterschied der nachahmenden und zeichnenden Künste, wie auch über die Schönheit der Farben. Das nächste Buch, das Eberhard mit dem halleschen Verleger Gebauer in Angriff nehmen sollte, war gewissermaßen eine wissenschaftliche Unterstützung für einen Anfänger. Der Student Friedrich Wilhelm Kläden überantwortete ihm das Manuskript Ueber die Gespensterfurcht.60 Eberhard verwandte sich dafür bei Gebauer und verfaßte zudem ein Vorwort und eine Nachschrift. Ähnlich verfuhr er zwei Jahre später mit einem Manuskript des halleschen Studenten Johann Christoph Friedrich Bährens (1765–1833), der als Schulmann, Arzt und Prediger in Schwerte eine Karriere machen sollte, betitelt Ueber den Werth der Empfindsamkeit. In seiner Nachschrift schließt sich Eberhard den Bedenken Bährens’ hinsichtlich der Wirkung der empfindsamen Moderomane an. Die „verderbliche Kraft der Empfindsamkeit“ führe zur „Un-
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Ebd., S. 18. Ebd., S. 19. Ebd., S. 20. Ebd., S. 21. Ebd., S. 34. Ebd., S. 40. Ebd., S. 39. Kant, Immanuel: Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?. In: Berlinische Monatsschrift. 1784. Zwölftes Stük. Dezember, S. 491. Vgl. [Kläden, Friedrich Wilhelm]: Ueber die Gespensterfurcht. Gespräche und Briefe. Nebst einer Vorrede und Nachschrift von Johann August Eberhard. Halle 1784.
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thätigkeit“,61 der Empfindsame suche „die Einsamkeit, und um ihnen [den trüben Gedanken, H.-J. K.] Nahrung zu geben, ließt er unglücksvolle Abentheuer, lustwandelt unter den Gräbern, und ergötzt sich an den Szenen der Nacht, die höchstens durch den schwachen Schein des friedsamen Mondes erhellt sind.“62 Zwei Jahre später betätigte sich Eberhard als Übersetzer für Gebauer: Er gab Jeremy Benthams (1748–1832) Vertheidigung des Wuchers63 heraus, das im gleichen Jahr unter dem Titel Defence of Usury in Dublin erschienen war. Außerdem publizierte Gebauer Eberhards Neue vermischte Schriften, zu denen der Aufsatz Ueber das Melodrama gehört, der meinem Vortrag den Titel gab. Eberhard erörtert hier die Möglichkeit der ästhetischen „Vereinigung der Dichtkunst mit der Musik und Schauspielkunst“ und verneint diese wegen der „Mißhelligkeit der Sinnlichkeit und Schönheit zwischen beiden“.64 Es sei unmöglich, im Zusammenspiel „die Einheit der Empfindungen“65 zu realisieren. Im gleichen Jahr (1788) entschloss sich Eberhard zur Herausgabe des Philosophischen Magazins. Es waren nicht lediglich die unterschiedlichen Sichten Kants und Eberhards auf den Begriff ,Aufklärung‘, sondern erhebliche Differenzen philosophischer Natur, die den halleschen Philosophen nach einem geeigneten Medium für die Austragung dieser Differenzen suchen ließen. Er fand dieses mit der genannten Zeitschrift und in Johann Jakob Gebauer einen für ein solches gewagtes Unternehmen geneigten Verleger. Es ist hier nicht der Platz, auf den – letztlich unentschiedenen – Kampf zwischen Eberhard, dem ,Ontologen‘, und Kant, dem ,Epistemologen‘, einzugehen.66 Lediglich auf die Rolle, die hier der hallesche Verleger spielte, sei kurz verwiesen. Im Vorbericht zum ersten Stück seines Magazins betont Eberhard, dass er dieses nutzen wolle, um „Gedanken über die neuesten Angelegenheiten in dem
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[Bährens, Johann Christoph Friedrich]: Ueber den Werth der Empfindsamkeit besonders in Rücksicht auf die Romane. Nebst einer Nachschrift über den sittlichen Werth der Empfindsamkeit von Johann August Eberhard. Halle 1786, S. 121. Ebd., S. 125. Vgl. [Bentham, Jeremy]: Vertheidigung des Wuchers, worin die Unzuträglichkeit der gegenwärtigen gesetzlichen Einschränkungen der Bedingungen beim Geldverkehr bewiesen wird. In einer Reihe von Briefen an einen Freund. Nebst einem Briefe an D. Adam Smith Esq. über die Hindernisse, die durch die obengenannten Einschränkungen dem Fortgange der Industrie in den Weg gelegt werden. Deutsch herausgegeben von Johann August Eberhard. Halle 1788. Eberhard, Johann August: Ueber das Melodrama. In: ders.: Neue vermischte Schriften. Halle 1788, S. 7. Ebd., S. 10. Vgl. dazu: Gawlina, Manfred: Das Medusenhaupt der Kritik. Die Kontroverse zwischen Immanuel Kant und Johann August Eberhard. Berlin / New York 1996.
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Reiche der Philosophie in kurzen Aufsätzen“67 vorzulegen. Zunächst jedoch verspüre er ein dringendes Bedürfnis, seine Gedanken über die Aufklärung zu ergänzen bzw. zu präzisieren. Deren „Werth“ sei durch „Mißbrauch“ „nach und nach zweifelhaft geworden“.68 Er differenziert deshalb zwischen ,wahrer‘ und ,falscher‘ Aufklärung. Das Wesen der ,wahren‘ Aufklärung bestehe darin, „nichts für wahr zu halten, als wovon uns, nach sorgfältiger Prüfung, Vernunft, Erfahrung oder vernünftiger Glaube überzeugt.“69 Und er plädiert hinsichtlich der Religionsausübung für eine „Religion der Vernunft“70, welche freilich ihre Ergänzung finden müsse in Gestalt der „Ueberredung, die durch das Gefühl wirkt.“ Hier bestünden Möglichkeiten für das Eingreifen von „Dichtkunst und Redekunst“.71 Er, Eberhard, sehe keinen Grund, „der Aufklärung Grenzen zu setzen“.72 Aufklärung und Revolution schließen sich gegenseitig aus: „Gewaltsame Revolutionen sind das Werk der finstern Zeiten, worin die blinden, thierischen Kräfte des Menschen wirken; die Zeit der Aufklärung und der Philosophie sind die Zeiten der Ruhe.“73 Insofern dürfe der Staat „nicht die wahre Aufklärung hindern, er ist vielmehr verpflichtet sie zu befördern“.74 Er habe der falschen Aufklärung, die durch „Selbstgefälligkeit“, Halbwissen und „Stolz“75 gekennzeichnet sei, wirksam zu begegnen, dergestalt, dass er die „Freyheit zu lehren“ fördere und für die „Einrichtung der besten Anstalten, worin künftige Lehrer gebildet werden“,76 sorge. Doch zurück zu Eberhards Auseinandersetzung mit Kant. Der Königsberger antwortete auf die von Eberhard, wie er meinte, im „übermüthige[n] Charlatanston“77 im Philosophischen Magazin begonnene Kontroverse mit einer
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Philosophisches Magazin. Hg. v. Johann August Eberhard. Erstes Stück. Halle 1788, S. IV (Vorbericht). Eberhard, Johann August: Ueber die wahre und falsche Aufklärung, wie auch über die Rechte der Kirche und des Staats in Ansehung derselben. Ebd., S. 31. Ebd., S. 40. Ebd., S. 48. Ebd., S. 49. Ebd., S. 54. Ebd., S. 68. Hier befindet sich Eberhard übrigens durchaus in Übereinstimmung mit Kant. Auch der hatte seine Zweifel hinsichtlich revolutionärer Veränderungen: „Durch eine Revolution wird vielleicht wohl ein Abfall von persönlichem Despotism und gewinnsüchtiger oder herrschsüchtiger Bedrükkung, aber niemals wahre Reform der Denkungsart zu Stande kommen; sondern neue Vorurtheile werden, eben sowohl als die alten, zum Leitbande des gedankenlosen großen Haufens dienen.“ Vgl. Kant: Beantwortung, S. 484. Ebd., S. 72. Ebd., S. 53. Ebd., S. 73. Vgl. Kant an Reinhold, 12.5.1789; zit. nach: Kant’s gesammelte Schriften [Akademieausgabe]. Bd. XI. Zweite Abt.: Briefwechsel. Bd. II: 1789–1794. Berlin / Leipzig 21922, S. 33.
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Gegenschrift unter dem Titel Ueber eine Entdeckung nach der alle neue Critik der reinen Vernunft durch eine ältere entbehrlich gemacht werden soll und provozierte damit einen Diskurs, durchaus „[v]ergleichbar“, wie Manfred Zahn anmerkt, „mit dem wenige Jahre vorher zwischen Jacobi und Mendelssohn entstandenen ,Pantheismusstreit‘“.78 Kants Schrift publizierte der gerade erst in Königsberg als Buchhändler und Verleger ansässig gewordene Friedrich Nicolovius (1768–1836). Gedruckt wurde sie in Halle – „mit Gebauerschen Schriften.“79 Den ersten Teil des Manuskripts erhielt Gebauer im April 1790 von Nicolovius: Von H. Prof. Kant habe ich beÿkommende Schrift erhalten, von der dies die Hälfte ist; ich trage kein Bedenken, Ihnen den Druk dieses Werks zu überlaßen, da Sie mir in Ihrem lezten Schreiben deutlich zu verstehen geben, dass Sie bis zur Meße noch ein Werk fertig liefern könnten; da diese Schrift nun klein ist, und nur aus wenigen Bogen besteht, so zweifle ich gar nicht, dass Sie im Stande seÿn sollten, sie gewiß auch bis dahin fertig zu schaffen. Um meiner Sache desto gewißer zu seÿn, überschicke ich Ihnen diese Bogen mit der reitenden Post; die folgenden erhalten Sie mit der nächsten. Folgendes ist beÿ dem Druk des Werkes zu beobachten. Das Format ist gros, wie beÿ Kants seinen andern Schriften; der Druk wie die Anmerkungen zu seinen metaphÿs. Anfangsgründen der Naturwissenschaft. Die Auflage wird 1000 Exempl. stark, und alles auf gutem weißen Drukpapier; 12 auf Schrbp. Vorzüglich muß ich Sie bitten, auf eine sehr pünktliche Korrektheit beÿm drucken zu sehn, sogar in Ansehung der Interpunktion. Sobald es fertig ist, senden Sie ein Exemplar an H. Prof. Kant nach Königsberg und 1 an H Geheimrath Jacobi nach Pempelfort beÿ Düßeldorf. Das Manuscript ist sehr deutlich und korrekt geschrieben, so dass der Setzer nicht im mindesten aufgehalten werden kann. [...] Der Titel zu Kants seiner Schrift ist beÿ dem ersten Bogen, zur Ersparung des Randes, oben beÿgesezt.80
Kant suchte von Königsberg aus nach Möglichkeiten, um Eberhard, „der seinen gleichsam reaktionären Kampf (seine Gegenrevolution) geschickt zu organisieren wußte“81, einigermaßen zuvorzukommen. Mit Nicolovius hatte er einen Mittelsmann gefunden, der seine Beziehungen zum halleschen GebauerVerlag nutzte, um sich einen Überblick über Eberhards Publikationsvorhaben zu verschaffen. Im September schrieb dieser dem Kollegen nach Halle:
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Zahn, Manfred: Der historische Kontext der Kant-Eberhard-Kontroverse. In: Kant, Immanuel: Der Streit mit Johann August Eberhard. Hg. v. Marion Lauschke und Manfred Zahn. Hamburg 1998, S. XXXIV. Vgl. Kant, Immanuel: Ueber eine Entdeckung nach der alle neue Critik der reinen Vernunft durch eine ältere entbehrlich gemacht werden soll. Königsberg 1790, S. 126. Nicolovius an Gebauer, 2.4.1790, Autograph; zit. nach: Nachlass Gebauer, Kasten 1790. Gawlina: Medusenhaupt, S. 1.
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Zur Oster=Meße muß ich eine neue Auflage von der kleinen Schrift von Kant contra Eberhard veranstalten; laßen Sie Sich daher ein Exempl. von H. Kummer auf der Meße ausliefern, und drucken Sie von dieser Schrift wieder 1000. Exempl. so unverändert ab, als die erste Auflage ist; außer dass auf den Titel die Jahrzahl verändert wird und noch dazu kommt zweÿte Auflage.82
Und er fügt hinzu: „Der zweyte Theil der Schulzischen Prüfung der Kantischen Philosophie soll auch zu Ostern fertig werden; wann ich das Mscpt erhalte, weiß ich noch nicht: ich bitt aber für Papier beÿzeiten zu sorgen.“83 Gemeint ist der Königsberger Hofprediger und Professor für Mathematik bzw. Philosophie Johann Schultz (1739–1805). Dessen erster Teil der Prüfung der Kantischen Critik der reinen Vernunft erschien noch 1789 bei Hartung in Königsberg, der zweite nunmehr 1792 bei Nicolovius. Kant übrigens schätzte Schultz als „den besten Kenner seines transzendental-kritischen Ansatzes“.84 Im November 1791 bedankt sich Nicolovius für die „Aushängebogen von Kants Schrift contra Eberhard“ und berichtet: „Hierbeÿ erhalten Sie nun wieder ein neues Manuskript, nehmlich den Anfang des zweÿten Theils der Schulzischen Prüfung der Kantischen Philosophie, wovon Sie den ersten für H. Hartung gedrukt haben.“85 Interessant ist folgende Passage des Briefes: „Es wäre mir lieb, wenn diese Schrift H. Eberhard nicht eher, als bis sie ganz fertig ist in die Hände fiele; ich bitt Sie daher sie ihm nicht früher mitzutheilen, auch darauf zu sehen, dass er sie auf keine andre Art erhalte.“ Weniger Skrupel hatte er gegenüber Eberhards Magazin: „Die Fortsezzung seines philosophischen Magazins schicken Sie mir doch immer mit der Post, mit den etwaigen Aushängebogen.“86 Das verdeutlicht auch der Brief vom März 1792: Hier schickt Nicolovius einen Teil des Manuskripts „zur Schulz Prüfung der Kantischen Kritik; der Schluß folgt in kurzem“. Und dann folgt die Bitte: „Sollte wider ein neues Stück von Eberhards Magazin erschienen seÿn, so erbitt ich es mir mit den Aushängebogen, die Sie mir durch H Kummer zusenden können.“87 Kant will also rechtzeitig über Eberhards Kritik informiert sein. Mit dem Ende des Philosophischen Magazins (1792) fand auch die verlegerische Zusammenarbeit Gebauers mit Eberhard ein Ende. Den Nachfolger
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Nicolovius an Gebauer, 20.9.1791, Autograph; zit. nach: Nachlass Gebauer, Kasten 1791/92. Eine Änderung wurde auch in der Zeichensetzung vorgenommen. Der Titel lautet jetzt: Ueber eine Entdeckung, nach der alle neue Critik der reinen Vernunft durch eine ältere entbehrlich gemacht werden soll. Ebd. Zahn: Der historische Kontext, S. XL. Nicolovius an Gebauer, 14.11.1791, Autograph; zit. nach: Nachlass Gebauer, Kasten 1791/92. Der Brief ist ein Beleg dafür, dass Gebauer bereits für den Königsberger Gottlieb Lebrecht Hartung druckte. Ebd. Nicolovius an Gebauer, 5.3.1792, Autograph; ebd.
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des Magazins, das Philosophische Archiv, besorgte nunmehr von 1792 bis 1795 der Berliner Verleger Carl Matzdorf. Dennoch verstand sich Eberhard weiterhin als Vermittler von Kontakten (vor allem junger Gelehrter) zu dem Verleger und umgekehrt. Neben den schon genannten Studenten Kläden und Bährens bemühte sich auch der Merseburger Benjamin Christoph Gotthilf Heidecke88 um eine Verbindung zu Eberhard. Im November 1784 schickt er Gebauer „das Mspt. eines Versuchs in der Politik des menschlichen Lebens“ und verweist dabei auf ein Versprechen des Verlegers: Sie haben mir einstmals geschrieben, dass Sie gewohnt wären, ein Mspt. durch die Hände eines Gelehrten Freunds gehen zu laßen. Hier will ich Ihnen also sagen, ohne mich der Unbescheidenheit schuldig zu machen, dass ich mich nicht scheuen würde beÿfolgendes Mspt. dem größten Mann in Halle – den Profeßor Eberhard zur Critik zu übergeben.89
Zu einer Drucklegung des angebotenen Textes ist es nicht gekommen, wohl aber zu einer Verlagsverbindung. Heideckes Erstling, Tableau von Leipzig im Jahr 1783, konnte im gleichen Jahr bei Gebauer erscheinen.
4. Schüler von Eberhard Wenngleich Eberhard in der Auseinandersetzung mit Immanuel Kant letztlich unterlag, konnte er dennoch eine ganze Reihe interessanter Schüler – zumindest zeitweise – beeinflussen. Johann Daniel Falk (1768–1826), der Schriftsteller und Pädagoge, gehörte zu ihnen. Der Sohn eines armen Danziger Perückenmachers war 1791, versehen mit mehreren Stipendien, als Theologiestudent nach Halle gekommen, besuchte hier vornehmlich das philologische Seminar des bedeutenden Altphilologen Friedrich August Wolf und beschäftigte sich am liebsten mit der alten und neuen Literatur. Neben Wolf war Eberhard einer der wichtigsten Anreger für seine spätere Laufbahn. Seine besonderen Talente waren wohl im Bereich der Satire angesiedelt, wobei ihm Juvenal als Vorbild galt. So entstanden noch in seiner halleschen Zeit eine ganze Reihe von Satiren, unter ihnen das Puppenspiel Die Uhu’. Dieses wurde Mitte September 1796 in Halle an drei aufeinander folgenden Tagen aufgeführt. Die dem Stück immanente Kant-Kritik dürfte in entscheidendem Maße von Eberhard beeinflusst worden sein. Mit dem Philosophen Knipperdolling
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Zu Heidecke vgl. Kertscher, Hans-Joachim: Ein literarischer ,Projektemacher‘ aus Merseburg: Benjamin Christoph Gotthilf Heide(c)ke. In: Matthias Kaufmann / Andrej Krause (Hg.): expressis verbis – Philosophische Betrachtungen. Festschrift für Günter Schenk zum fünfundsechzigsten Geburtstag. Halle 2003, S. 111–133. Heidecke an Gebauer, 20.11.1784, Autograph; zit. nach: Nachlass Gebauer, Kasten 1784.
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wird der Kantianismus dem Gespött des Publikums preisgegeben. Der redet nur in Kantschen Versatzstücken, wie etwa folgenden: Im Grunde lehrt uns die Kritik der reinen Vernunft, dass wir hier kein Ding an sich erkennen, sondern lediglich die Erscheinungen der Dinge. – Der Gegenstand der vorgestellt wird, ist nicht die Vorstellung selbst. In wie fern die Receptivität und Spontaneität des Vorstellungsvermögens im vorstellenden Subjecte an sich gegründet sind, in so fern sind sie schlechterdings nicht vorstellbar.90
Am Ende verfängt er sich unentwirrbar in Kants System. Auch Johann Gebhard Ehrenreich Maaß (1766–1823), der ab 1784 an der Fridericiana theologischen, philosophischen, mathematischen und philologischen Studien nachging, gehörte zu Eberhards Schülern. Ab 1791 wurde er Professor für Philosophie an der Fridericiana – und damit Kollege von Eberhard. Neben Arbeiten zur Philosophie, u.a. für Eberhards Magazin, zur Ästhetik, zur Anthropologie, zur Mathematik und Rhetorik war er mitbeteiligt an Eberhards Versuch einer allgemeinen teutschen Synonymik, und zwar an deren dritter, nach Eberhards Tod zustandegekommener Auflage von 1814. Auch mit Arbeiten zur Musiktheorie machte er sich einen Namen, beispielsweise in den Nachträgen zu Johann Georg Sulzers Theorie der schönen Künste von 1793. Zusammen mit dem 1817 zum Universitätsmusikdirektor berufenen Johann Friedrich Naue (1787–1858) gründete er 1814 die erste hallesche Singakademie und stellte dieser für den Anfang seine Wohnung als Sitz zur Verfügung.91 Neben den eben genannten Falk und Maaß wären Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher (1768–1834), der von 1787 bis 1790 in Halle Theologie studierte, sowie sein schwedischer Freund Karl Gustav v. Brin(c)kmann (1764– 1847), der von 1787 bis 1789 philosophischen und juristischen Studien nachging, als die bedeutendsten Schüler Eberhards zu erwähnen. Gleich im Sommersemester hörte Schleiermacher, wie wir aus einem Brief seines Vaters erfahren,92 bei Eberhard die Metaphysik. Eberhard regte ihn zu Aristoteles- und
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Die Uhu’. Eine dram[a]tisch-satirische Rhapsodie, mit Chören von Uhu’n, Raben und Nachteulen. In: Taschenbuch für die Freunde des Scherzes und der Satire. Herausgegeben von J. D. Falk. Nebst einem sauberen Conterfey auf die Kantische Philosophie. Leipzig 1797, S. 231f. Vgl. dazu Serauky, Walter: Musikgeschichte der Stadt Halle. Bd. 2.2: Von Wilhelm Friedemann Bach bis Robert Franz. Halle 1942, S. 420ff. Vgl. J. G. A. Schleyermacher an F. D. E. Schleiermacher, 14.8.1787, zit. nach: Schleiermacher, Friedrich Daniel Ernst: Kritische Gesamtausgabe. Hg. v. HansJoachim Birkner u.a. Fünfte Abt.: Briefwechsel und biographische Dokumente. Bd. 1: Briefwechsel 1774–1796. Hg. v. Andreas Arndt und Wolfgang Virmond. Berlin / New York 1985, S. 88. Eberhard hatte in diesem Semester eine Vorlesung zur Metaphysik nach Alexander Gottlieb Baumgartens Metaphysik angeboten.
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Platon-Studien an, ließ ihn auch Einblicke nehmen in seine Auseinandersetzung mit Immanuel Kant, was den Studenten veranlasste, tiefer in dessen Werke einzudringen. Als wesentliches Ergebnis seiner Studien sind Schleiermachers Anmerkungen zu Aristoteles’ Nikomachischer Ethik hervorzuheben. Er schickte diese nach dem Verlassen der Universität dem noch in Halle weilenden Brinckmann, einem nicht unbegabten Lyriker und späteren Diplomaten in schwedischen Diensten. Der antwortete: „Ich werde sie Eberhard kommuniziren, der auch Deinen lezten Brief gelesen hat. Es ist ewig Schade dass Du seine nähere Bekantschaft so spät machtest.“93 Schleiermacher, der zu diesem Zeitpunkt bei seinem Onkel in Drossen weilt, schreibt nach Halle, dass er sich „oft nach einem Spaziergang mit Eberhard in den Gärten des Akademus sehne“ und vermerkt, dass „mich nichts in meinem Leben so sehr reuen wird als dass ich diesen vortrefflichen Mann nicht mehr benutzt habe“.94 Noch während seiner Studien in Halle hat Schleiermacher seinen Freunden offenbar sehr ausführlich über das Universitätsleben berichtet. Davon kündet u.a. ein Brief des Jugendfreundes Johann Baptist v. Albertini (1769–1831). Der hatte sich, verursacht durch die Lektüre von Carl Friedrich Bahrdts Roman Zamor, in dem der an Halles Universität nicht sonderlich willkommene Theologe in der Gestalt Williams ein relativ unverschlüsseltes negatives Porträt Eberhards zu zeichnen suchte, ein verzerrtes Bild des Philosophen erstellt. Dieser Williams nämlich erschleicht sich das Wohlwollen des Neuankömmlings Pogon (Bahrdt), um ihn dann „bei Hofe anzuschwärzen“, was diesen letztlich „der Gunst der Großen und aller fernern Unterstüzung verlustig machte“,95 dergestalt, dass dieser „gezwungen“ war, ohne Freund, ohne Rathgeber, ohne alle menschliche Hülfe, sich blos auf seine Kraft zu verlassen und durch unsägliches Arbeiten als Schriftsteller sich und seine Kinder vor Hunger zu schüzen, und was William wünschte, endlich über diesen mühseligen und freudenleeren Leben seine Kraft und seine Gesundheit zu Grunde zu richten.96
Beeindruckt von Schleiermachers Berichten schreibt v. Albertini: „Eberhards Character, den Bahrdts Pasquill im Zamor mir schon halb und halb verdächtig gemacht hatte, haben ihre Erzählungen bey mir wieder gerettet. Ich kann Dich kaum genug beneiden, wegen des schönen philosophischen Collegiums das Du bey ihm hörst.“97 Bahrdts Roman scheint tatsächlich dem Ansehen Eberhards geschadet zu haben. So äußerte sich Georg Forster gegenüber Soemme-
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Brinckmann an Schleiermacher, 26.6.1789, ebd., S. 126f. Schleiermacher an Brinckmann, 22.7.1789, ebd., S. 137. [Bahrdt, Carl Friedrich]: Zamor oder der Mann aus dem Monde kein bloßer Roman. Berlin 1787, S. 346. Ebd., S. 346f. Albertini an Schleiermacher, 26.3.1788, zit. nach: Schleiermacher: Briefwechsel, S. 102f.
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ring einerseits durchaus positiv über den Philosophen: „Eberhard ist hier ein aufgeklärter Kopf, und ein feiner Mann“. Andererseits jedoch notiert er: „[A]llein er passirt für einen boshaften und hinterlistigen Menschen und für des Ministers Spion.“98 Bahrdt selbst lässt sich in seiner Lebensbeschreibung über diese Umstände nicht aus. Hier erscheint Eberhard als der willkommene Diskussionspartner für „spekulative Gespräche“99, deren Ergebnis eine ideologische Wende in den Vorstellungen Bahrdts markierte. Sie war, so Bahrdt, gekennzeichnet durch den Verzicht auf den Glauben „an einen übernatürlichen Ursprung des Christenthums“.100 „Hr. Eberhard überführte mich, dass Christus keinen wesentlichen Lehrsaz vorgetragen habe, den Sokrates nicht ebenfals gelehrt hätte.“101 Hinsichtlich des Zamor vermittelt die Lebensgeschichte Bahrdts auch keine brauchbaren Erkenntisse, die das Verhältnis ihres Verfassers zu Eberhard näher beleuchten könnten. Von Beiträgen anderer ist da die Rede, die seine, Bahrdts, „Willfährigkeit“ auszunutzen verstanden, indem sie durch ihn „ihre Pfeile verschießen“102 ließen, nicht aber von denunziatorischen Ausfällen Eberhards. Möglicherweise war es Eberhards Wirken als Prorektor in den Jahren 1786/87, das dem auf seinen Weinberg verdrängten Bahrdt zu einseitig die Position der Theologischen Fakultät vertretend erschien und ihn deshalb veranlasste, gegen diesen zu Felde zu ziehen. Im Hinblick auf die Auseinandersetzung Eberhards mit der „Monopolistischen Philosophie“ Kants war sich Schleiermacher durchaus darüber im Klaren, dass Eberhard in bestimmten Fragen „den Königsberger nicht verstanden“ habe. Es sei nunmehr „keine Kunst [...], ihn auch wenn er bisher in allen Stüken recht gehabt hätte, sich selbst Unrecht geben zu laßen.“ Er, Schleiermacher, frage sich, „was wol eines großen Mannes unwürdiger ist alle die ihm widersprechen zu verachten und zu beschimpfen oder sich durch eine solche
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Forster an Soemmering, 29.12.1781, zit. nach: Georg Forsters Werke. Sämtliche Schriften, Tagebücher, Briefe. Bd. 13: Briefe bis 1783. Bearb. v. Siegfried Scheibe. Berlin 1978, S. 364. Auch gegenüber Friedrich Heinrich Jacobi findet er Lobendes: „Eberhard ist ein gar lieber Mann und ein guter Kopf, nur in dieser Beziehung, als Kant’s Gegner, bin ich sein nicht sicher.“ Vgl. Forster an Jacobi, 19.11.1788, ebd., Bd. 15: Briefe Juli 1787–1789. Bearb. v. Horst Fiedler. Berlin 1981, S. 208. Ein paar Monate später aber schwächt er ab: „Meine Aeußerung, ihn betreffend, als eines gar lieben Mannes, beruht auf etlichen Conversationes, die ich in Halle mit ihm gehabt habe, wo er mir so geschienen hat.“ Vgl. Forster an Jacobi, 3.1.1789, ebd., S. 237. Bahrdt, Carl Friedrich: Geschichte seines Lebens, seiner Meinungen und Schicksale. Von ihm selbst geschrieben. Vierter und letzter Theil. Berlin 1791, S. 112. Ebd., S. 116. Ebd., S. 112. Ebd., S. 151.
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Behandlung in eine unschikliche Leidenschaft sezen zu laßen.“103 Er fühle sich Eberhard gegenüber in der Pflicht: [W]ill sich aber Eberhard meiner erinnern, so wird mir das sehr schmeichelhaft seyn. Du [Brinckmann, H.-J. K.] bist bis jezt das Medium meines Zusammenhangs mit diesem vortrefflichen Mann gewesen der mir auf diese Art abgeschnitten wird, welches mir ungemein weh thut.104
Er hatte erfahren, dass Brinckmann Pläne schmiedete, nach Schweden zurückzukehren und schreibt ihm: „Ich wünschte jzt ernstlich dass mein Aufsaz über den Aristoteles beßer seyn möge als er ist, damit es Eberhard der Mühe werth achten möge mir ihn wiederzuschiken – so bekäm’ ich eine Gelegenheit an ihn zu schreiben.“105 Angesichts des Abschieds Brinckmanns von Halle meint Schleiermacher, dass es auch ihm „weh [...] thun mußte einen Mann wie Eberhard zu verlieren, dem ich so vieles meiner Bildung und meiner Ideenordnung zu verdanken habe“.106 Nach Schleiermachers 1804 erfolgter Berufung als Extraordinarius für Theologie an die Fridericiana schreibt er Ende 1804: Unser redlicher Eberhard scheint ganz verlassen zu sein von der Welt. Philosophiren mag ich nun freilich auch nicht gern mit ihm außer historisch; aber über die alte philosophische Literatur und über die Sprache ist doch viel mit ihm zu reden und von ihm zu lernen. Daher hoffe ich, indem ich ihn weniger verlasse als andere, mit der Zeit seinen Glauben an meinen Atheismus wo nicht auszurotten, doch wenigstens zu besiegen.107
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Schleiermacher an Brinckmann, 8.8.1789, zit. nach: Schleiermacher: Briefwechsel, S. 145. Von dem Freund erfuhr Schleiermacher denn auch ein Bonmot, das sich Johann Nikolaus Tetens (1736–1807), der Psychologe, über Kant in einem Brief an Eberhard erlaubte: „Er [Tetens, H.-J. K.] habe in der Kritik der reinen Vernunft viel Neues und viel wahres gefunden, nur sei das wahre nicht neu, und das neue nicht wahr.“ Vgl. Brinckmann an Schleiermacher, 4.12.1789, ebd., S. 167. Schleiermacher an Brinckmann, Oktober 1789, ebd., S. 156. Schleiermacher an Brinckmann, 18.11.1789, ebd., S. 162. Schleiermacher an Brinckmann, 4.12.1789, ebd., S. 165. Schleiermacher an Brinckmann, 15.12.1804, zit. nach: Schleiermacher als Mensch. Sein Werden und Wirken. Familien- und Freundesbriefe. In neuer Form m. e. Einl. u. Anm. hg. v. Heinrich Meisner. [Bd. 2]: Sein Wirken. Familien- und Freundesbriefe 1804 bis 1834. Stuttgart / Gotha 1923, S. 30. Von Georg Ludwig Spalding hatte Schleiermacher in einem Brief erfahren, dass Eberhard gegenüber August Hermann Niemeyer hinsichtlich einer Berufung Schleiermachers an die Fridericiana geäußert habe: „So weit ist es nun gekommen: Einen offenbaren Atheisten ruft man nach Halle zum Theologen und Prediger.“ Vgl. Spalding an Schleiermacher, 27.7.1804, zit. nach: Schleiermacher: Briefwechsel, Bd. 7: Briefwechsel 1803–1804. Hg. v. Andreas Arndt und Wolfgang Virmond. Berlin / New York 2005, S. 407.
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Es ist evident, dass sich Eberhard in seinen letzten Lebensjahren als akademischer Lehrer zunehmend isoliert fühlen mußte. Die etwa gleichzeitig mit Schleiermacher erfolgte Berufung des Naturphilosophen Henrich Steffens (1773–1845) als Ordinarius für Philosophie machte die Universität attraktiv für Studenten, die sich dem Geist der Romantik verbunden fühlten. Joseph v. Eichendorff (1788–1858) zog es ebenso nach Halle wie Karl August Varnhagen v. Ense (1785–1858), Ludwig Börne (1786–1837) oder Adolph Müller. Sie alle akkumulierten begierig den Geist der erneuerten Wissenschaften, suchten Fortsetzung des in den Vorlesungen Gebotenen gelegentlich der geselligen Freitagabende im Hause Schleiermachers in der Großen Märkerstraße. Steffens berichtet: Eberhard, ein liebenswürdiger Greis, gehörte der vorkantischen Zeit zu, und der Philolog Wolf meinte, er habe sich doch dadurch ein Verdienst erworben, dass er zu beweisen suchte, Sokrates könne wohl selig werden. Der alte Mann hatte sich längst von der literärischen Thätigkeit zurückgezogen, und kann freilich nur sehr uneigentlich unter meine Gegner gerechnet werden.108
Dies ist cum grano salis zu nehmen. Eberhard hat seine Tätigkeit in Forschung und Lehre, unbeirrt vom „Händeklatschen der Menge“, bis an sein Lebensende fortgesetzt. Fragen wir uns, im Sinne unseres Kolloquiums Aufklärung und Weimarer Klassik im Dialog, welcher Stellenwert Eberhard in diesem Dialog zukommt, so fällt die Antwort nicht leicht. Seine Schrift Der Geist des Urchristenthums, gleichsam das Credo des späten Eberhard, sollte man dabei zu Rate ziehen. Sie erschien 1807/08 in drei Teilen, also kurz vor Eberhards Tod, und kann durchaus als sein Vermächtnis gelten. Dessen war er sich offensichtlich bewusst, denn in der Vorrede zum dritten Teil meint er, dass diese Arbeit seine „wahrscheinlich letzte Unternehmung“109 und gewissermaßen die Vollendung der Apologie des Sokrates sei. Hier formuliert er auch den „Hauptsatz“ seiner Arbeit, „dass sich in dem Christenthume die Cultur des griechischen Sinnes und des morgenländischen Gefühls vereinigt habe.“110 Man kann den Text als einen Gegenentwurf zu Novalis’ Die Christenheit oder Europa lesen. Der 1799 im Kreis der Jenaer Romantiker vorgetragene und für die Zeitschrift Athenäum bestimmte Aufsatz wurde zwar erst 1826 (also lange nach dem Tod seines Autors) in Gänze publiziert. Ausschnitte daraus konnte Eberhard allerdings in der von Ludwig Tieck und Friedrich Schlegel herausgegebenen Ausgabe der Schriften von Novalis (Berlin 1802)
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Steffens, Henrich: Was ich erlebte. Aus der Erinnerung niedergeschrieben. Fünfter Band. Breslau 1842, S. 135f. Der Geist des Urchristenthums. Ein Handbuch der Geschichte der philosophischen Cultur für gebildete Leser aus allen Ständen in Abendgesprächen herausgegeben von Johann August Eberhard. Dritter und letzter Theil. Halle 1808. S. IX (Vorrede). Ebd., S. VI (Vorrede).
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zur Kenntnis nehmen. Möglicherweise hatte er auch von Schleiermacher, der mit seinen Reden Über die Religion (Berlin 1799) den eigentlichen Anlass für Novalis’ Unternehmen bot, Mitteilungen über den Text erhalten. Zudem war Eberhard auch nicht unbekannt geblieben, dass die von Goethe 1805 publizierte Schrift Winkelmann und sein Jahrhundert ebenfalls als ein Gegenentwurf zu romantischen Bestrebungen seiner Zeit anzusehen ist. „Denn indem wir die Irrtümer unsrer Vorfahren einsehen lernen,“ so schreibt Goethe in der Vorrede zu dieser Schrift, „so hat die Zeit schon wieder neue Irrtümer erzeugt, die uns unbemerkt umstricken und wovon die Darstellung dem künftigen Geschichtschreiber [...] überlassen bleibt.“111 Und er stellt den Stendaler Schustersohn als einen jener Männer heraus, „deren Geist uns unerschöpfliche Stiftungen bereitet“112 haben. Deutlicher noch missbilligt Goethe im Rückblick auf die letzte Weimarer Kunstausstellung die „durch Frömmelei ihr unverantwortliches Rückstreben beschönigende Kunst“113, womit die romantische gemeint ist. „Gemüt wird über Geist gesetzt, Naturell über Kunst, und so ist der Fähige wie der Unfähige gewonnen. Gemüt hat jedermann, Naturell mehrere; der Geist ist selten, die Kunst ist schwer.“114 Auch Eberhard – und da befindet er sich ganz in der geistigen Nähe des Weimarer Klassikers – registriert für jene Zeit einen bedenklichen Mystizismus, der, wofern er die Herrschaft erhalten sollte, unserer Cultur und Civilisation ein Ende machen würde. Das ist von je her das Schicksal der morgenländischen Völker gewesen, und wird das Schicksal eines jeden Volkes seyn, dass es, wenn sein rohes oder feines Gefühl nicht durch einen regen und klaren Sinn erleuchtet wird, in Weichlichkeit und zuletzt in Barbarey versinken muß.115
Als „bedrohende Symptome“ bemerkt er die Verwandlung der Wissenschaften in die einzige Kunst der Poesie, die Verachtung aller andern, die, wie die mathematischen, den Blendwerken der Kunst durch ihre eigenthümliche Natur widerstehen, und hiernächst die Beschränkung der Poesie, oder dessen, was die neueste Kunstphilosophie das Höchste darin nennt, auf den Kreis ihrer mystischen Uebersinnlichkeit.116
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Goethe, Johann Wolfgang: Winkelmann und sein Jahrhundert. In: ders.: Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche. I. Abt., Bd. 19: Ästhetische Schriften 1806–1815. Hg. v. Friedmar Apel. Frankfurt/M. 1998, S. 13 (Vorrede). Ebd., S. 16 (Vorrede). Goethe, Johann Wolfgang: Letzte Kunstausstellung 1805. In: Ebd., I. Abt., Bd. 18: Ästhetische Schriften 1771–1805. Hg. v. Friedmar Apel. Frankfurt/M. 1998, S. 1002. Ebd., S. 1003. Eberhard: Geist des Urchristenthums, S. 366. Ebd., S. 367.
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Dann kommt er auf Novalis zu sprechen. „Das Gefühl, das sie [die Kunstphilosophie, H.-J. K.] beherrschte, wurde immer dunkler, die Phantasie in ihren gepriesenen Produkten immer regelloser, und fiel zuletzt bis zu dem frommen Unsinne eines Novalis, und dem kindischen Märchen des neuesten Drama.“117 Mit Bedauern stellt er fest, dass Wielands Oberon, Goethes Hermann und Dorothea und Vossens Luise romantischen Verdikten ausgesetzt sind. Zudem sei die Wissenschaft in Poesie „verwandelt“118 worden, man habe ihr an das Herz gegriffen und ihren reinen Lebensquell vergiftet. Die Wissenschaft kehrt wieder zu ihrer Kindheit zurück, wenn sie Poesie wird. In dem ersten Beginnen der Cultur ist die Wissenschaft ein bloßes Werk der Phantasie und des Gefühls; und dieses verlangt zu seinem Urgrunde ein dunkles Etwas in seiner Metaphysik, so wie das Staunen über Wunderkräfte in seiner Naturlehre. Und so ist das Absolute in der gegenwärtigen Naturphilosophie; so ist ihre Physik. In der Kindheit der Philosophie ist Alles Poesie und Wunder; der Philosoph ist Dichter und Wunderthäter oder wenigstens Erklärer von Wundern. Leider! ist es nun mit uns dahin gekommen, dass Naturforscher, deren Talente sie zu etwas Besserm beriefen, sich mit den längst verrufenen Wundern der Wünschelruthe beschäftigen, Versuche mit verborgenen Kräften machen, und den Schwefelkies-Pendel, anstatt des ehemaligen Joujou des Normandie in die Zirkel der unterhaltungssüchtigen und leicht zu täuschenden Damen einzuführen.119
Als Ausweg aus der Sinnkrise der Jahrhundertwende sieht Eberhard – hier freilich anders als Goethe, der auf das Vorbild Winckelmann verwies – die Rückbesinnung auf das Urchristentum. „Wir müssen also zu dem Geiste des Urchristenthums zurückkehren, worin der griechische Sinn das morgenländische Gefühl erleuchtet, wenn wir unsere innere Freyheit erhalten wollen.“120 Eberhards Kollege, der Goethe ebenfalls nahestehende August Hermann Niemeyer (1754–1828), lobte denn auch dessen letztes Werk: Er „schloß seine Laufbahn mit einer geistvollen Darstellung alles des Segens, welchen das Christenthum, so lange es sich nicht zu weit von seiner ursprünglichen Reinheit entfernte, über die Menschheit gebracht hat.“121 Im Sinne unserer Tagung kann Eberhard als ,Moderator‘ im Dialog zwischen Aufklärung und Weimarer Klassik gesehen werden. Auf der einen Seite steht er, wie er in der Vorrede zum Handbuch der Ästhetik betont, in den „Fußtapfen der Alten“122, und so sahen ihn im wesentlichen auch seine Zeitgenossen. Heinrich Döring hebt in der Allgemeinen Encyklopädie hervor, dass sich
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Ebd., S. 370. Ebd., S. 372. Ebd., S. 372f. Ebd., S. 378. Niemeyer: Gedächtnißpredigt, S. 139. Eberhard: Handbuch, S. V (Vorrede).
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Eberhard „treu den ältern Principien, besonders den Baumgarten’schen“, verpflichtet fühlte. „Als philosophischer Kopf gehörte Eberhard ziemlich in eine Classe mit Sulzer und Mendelssohn, an deren Grundsätze auch die seinigen sich anschlossen. Der eigentliche Scharfblick des Genius schien ihm zu fehlen.“123 Als sympathisch empfindet er dessen „geräuschlose Frömmigkeit“.124 Dem pflichtet auch Karl-Heinz Jördens bei: „Weniger dürften seine Schriften dem jüngeren Zeitgeiste zusagen, da er noch zu sehr dem Wolfischen Dogmatismus folgt; aber in der Reihe der philosophischen Denker verdient er jederzeit eine ehrenvolle Stelle.“125 Eberhard selbst sah sich als einen Aufklärer, der, das verdeutlichen seine an verschiedenen Stellen vorgebrachten Äußerungen, sich jeglichen Beschränkungen aufklärerischen Denkens und Handelns entschieden widersetzte. Als solcher propagierte und lebte er eine tolerante Grundhaltung. So befürwortete er einen Vorschlag der Herausgeber der Berlinischen Monatsschrift hinsichtlich einer monumentalen Ehrung für Moses Mendelssohn in Berlin. Diese könnte ein Zeichen setzen, „dass uns kein Unterschied der Nation, der Religion und des Standes hindern muß, den Mann von seltenen Geisteskräften und von weitumfassenden Verdiensten zu ehren.“126 Auf der anderen Seite stand Eberhard den poetischen und poetologischen Werken der Weimarer Klassiker höchst aufgeschlossen gegenüber und nutzte sie allenthalben paradigmatisch für eigene Anschauungen. Grundsätzlich galt Eberhard seinen Zeitgenossen als ein dezidierter Kämpfer für eine dem jeweiligen Text angemessene Schreibart. Jördens hat das besonders hervorgehoben: Deutlichkeit und Klarheit der Begriffe, die weder durch Terminologie schwerfällig, noch durch philosophische Polemik widerlich werden, Einfachheit der Darstellung, milde Farbengebung, grammatischer, logischer und ästhetischer Periodenbau, der sich hauptsächlich durch Fülle und Ründung auszeichnet, Lebhaftigkeit in der Darstellung, die selbst bisweilen das Gefühl innig zu ergreifen weiß, und Wohlklang charakterisiren seine stylistischen Formen. Metaphysischen Untersuchungen weiß er in der Behandlung ein solches Leben zu ertheilen, dass sie an Interesse und Fruchtbarkeit gewinnen.127
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Döring, Heinrich: Art.: Eberhard (Johann August). In: Allgemeine Encyklopädie der Wissenschaften und Künste [...] herausgegeben von J. S. Ersch und J. G. Gruber. Dreißigster Theil. Leipzig 1838, S. 224. Ebd., S. 225. Lexikon deutscher Dichter und Prosaisten. Hg. v. Karl Heinz Jördens. Erster Band. A-F. Leipzig 1806, S. 420. Eberhard, Johann August: An die Herrn Herausgeber der Berlinischen Monathschrift. In: Philosophisches Magazin. Zweytes Stück. Halle 1788, S. 240. Jördens: Lexikon deutscher Dichter, S. 421f.
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Wenn Eberhard auch noch in mancherlei Hinsicht der halleschen Ästhetik verpflichtet war, versuchte er diese, wie er selbst sagt, „in einer weniger abschreckenden Gestalt erscheinen“128 zu lassen. Auf ihn selbst kann angewendet werden, was er über die gegenwärtige Verbreitung und Wirkung philosophischer Schriften meinte: „[U]nsere philosophischen Schriften sind angenehmer, und unsere angenehmen Schriften sind philosophischer geworden, und beide haben, wo nicht den philosophischen Geist, doch gewiß die Bekandtschaft mit philosophischen Lehrsätzen gemeiner gemacht.“129 Das verdeutlicht bereits sein 1782 publizierter Briefroman Amyntor, der sich nicht als ein Roman, welcher den „Gesetzen des epischen Gedichtes“ verpflichtet ist, verstand, sondern vielmehr als ein Versuch, den Lesern in literarischer Form Wege „zu richtigern Begriffen von der Religion“130 zu weisen. So beginnt der Text auch nicht mit der Wiedergabe der Briefe, sondern mit „Anmerkungen und Zusätzen“, die allein 120 Seiten in Anspruch nehmen. Sie sollen theologische und philosophische Fragestellungen, die in den Briefen zur Sprache gebracht werden, kommentieren und weiterführend erörtern. So rechnete denn auch der Rezensent der Allgemeinen deutschen Bibliothek das Buch „mehr unter die Beyträge zur Philosophie des Lebens, als zum Gebiete des Romans“.131 Und der Rezensent der Neuen Bibliothek der schönen Wissenschaften und der freyen Künste stellte fest: „[...] wer unsre Philosophen beschuldigt, dass sie nichts als Compendien, Schulbücher, und Systeme zu schreiben wissen, muß in Ansehung der Einkleidung, wenigstens zu Gunsten dieses Buches, eine Ausnahme machen“.132 Noch Heinrich Döring betonte in der Allgemeinen Encyclopädie 1838: „Auch abgesehen von dem moralischen Zwecke jenes Buchs, gehört es zu den vorzüglichsten teutschen Schriften durch die kunstlose, klare und gefällige Schreibart, durch ernste Ruhe in den
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Eberhard: Handbuch, S. VIII (Vorrede). Eberhard, Johann August: Nachricht von dem Zweck und der Einrichtung dieses philosophischen Magazins, nebst einigen Betrachtungen über den gegenwärtigen Zustand der Philosophie in Deutschland. In: Philosophisches Magazin. Erstes Stück. Halle 1788, S. 3. Wilhelm v. Humboldt (1767–1835), der Eberhard im Januar 1790 in Halle besuchte, war allerdings nicht angetan von dessen Aufführung. Georg Forster berichtete er: „Eberhards alte, vorurtheilvolle, eitle Philosophie war mir eben so sehr zuwider, als sein affektirter feiner Weltton.“ Vgl. Humboldt an Forster, 10.2.1790; zit. nach: Georg Forsters Werke. Sämtliche Schriften, Tagebücher, Briefe. Bd. 18: Briefe an Forster. Bearb. v. Brigitte Leuschner u.a. Berlin 1982, S. 383. Eberhard, Johann August: Amyntor. Eine Geschichte in Briefen. Berlin und Stettin 1782, unpag. (Vorerinnerung). Vgl. Allgemeine deutsche Bibliothek. Des sechs und funfzigsten Bandes zweytes Stück. Berlin und Stettin 1784, S. 482. Vgl. Neue Bibliothek der schönen Wissenschaften und der freyen Künste. Sieben und zwanzigsten Bandes Zweites Stück. Leipzig 1782, S. 249.
Johann August Eberhard und sein hallesches Tätigkeitsfeld
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Reflexionen und durch die darin entwickelte Welt- und Menschenkenntniß.“133 Auch Eberhards biographische Aufsätze, publiziert an verschiedenen Stellen, können als bemerkens- und noch heute lesenswert hervorgehoben werden – etwa seine Leibniz-Biographie, die schon erwähnte Zinzendorf-Biographie oder die Lebensbeschreibung von Carl Christoph v. Hoffmann, dem bedeutenden Kanzler der Fridericiana. Nicht zuletzt aber zeigt sein Versuch einer allgemeinen teutschen Synonymik, samt dessen bereits genannter Erweiterung, Eberhards Bemühungen um einen subtilen Umgang mit der deutschen Sprache. Friedrich Nicolai meinte dazu: „Dieses Werk allein, wenn es auch nur das Einzige wäre, was er geschrieben hätte, würde ihm auf immer einen ehrenvollen Platz in der deutschen Literatur sichern.“134 Immerhin: Otto Lyon besorgte noch 1910 eine durchgängig umgearbeitete 17. Auflage des Versuchs, die bei Grieben in Leipzig erschien. Eberhard starb, wie Friedrich Nicolai berichtet, „ohne Vorboten des Todes“, in der Nacht vom 5. auf den 6. Januar 1809, gegen drei Uhr, nachdem er sich am Abend zuvor „mit einem französischen Wundarzte, einem gebildeten Manne, über die deutsche Literatur, und besonders über die Leibnitz’ischWolf’ische Philosophie sehr lebhaft bis nach 10 Uhr unterhalten“135 und die „Fortsetzung seiner durch die Ferien unterbrochnen Vorlesungen angekündigt“136 hatte.
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Vgl. Döring: Eberhard, S. 225. Nicolai: Gedächtnißschrift, S. 43f. Zu Eberhards sprachkritischer Leistung vgl. Haßler, Gerda: Johann August Eberhard (1739–1809). Ein streitbarer Geist an den Grenzen der Aufklärung. Mit einer Auswahl von Texten Eberhards. Halle 2000. Nicolai: Gedächtnißschrift, S. 54. Vgl. Hallisches patriotisches Wochenblatt. Erstes Quartal. 2. Stück. Den 14ten Januar 1809, S. 26.
Werner Nell
Der Heilige Rochus und die Französische Revolution
In seiner viel beachteten und auch in mancherlei Hinsicht kontrovers diskutierten Schrift Die kurze Geschichte der deutschen Literatur (2002)1 ist Heinz Schlaffer weniger unmittelbar, als man dies von dem Verfasser solcher Studien wie Der Bürger als Held (1973) oder Faust Zweiter Teil: Die Allegorie des 19. Jahrhunderts (1989) erwarten sollte, auf die Sozialgeschichte als Bedingungsgefüge des von ihm so genannten „geglückten Anfangs“ der deutschen Literatur im 18. Jahrhundert eingegangen. Deren Grundlagen verortet er vielmehr in einem bestimmten Stand des Verhältnisses von religiöser Entwicklung, gesellschaftlichen Zuständen und Säkularisierungs- bzw. Umbesetzungsprozessen in den längerfristig angelegten und zugleich zeitgenössisch ausgeformten kulturellen Semantiken. Deutlicher als in den 1970er Jahren erscheint so erneut eine Geistesgeschichte, die freilich in einem breiten Sinne als eine Kulturgeschichte verstanden wird, die sich ihrerseits in soziale Verhältnisse, soziologisch und historisch beschreibbare Veränderungen und in die damit verbundenen Wechselbezüge sozialer Gruppen und Entwicklungen eingebettet findet und insoweit auch deren Reflexion und deren kulturelle, auch künstlerische Gestaltung in literarischen Texten und anderen kulturellen Objektivationen, zweifellos also auch in Ritualen, in gesellschaftlichen Ereignissen und so auch im Festkalender der Zeit ermöglicht. Für die Entstehung einer spezifischen deutschen Nationalliteratur in der zweiten Hälfte des 18. und in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts
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Zur Debatte um Schlaffer vgl. u. a. Raulff, Ulrich: Der rebellische Mandarin. Heinz Schlaffers hochmütige Geschichte der deutschen Literatur. In: Süddeutsche Zeitung vom 26. Februar 2002, S. 15; Wölfel, Kurt: Von deutscher Kunst. Zur Verteidigung Heins Schlaffers. In: Süddeutsche Zeitung vom 12. März 2002, 18; Garber, Klaus: Ungehobene Schätze aus dem Geist der Renaissance. Eine Nation ohne kulturelles Gedächtnis: zu den Ursprüngen der deutschen Nationalliteratur. In: Frankfurter Rundschau vom 9. April 1002, S. 20; Birus, Hendrik: Kurzer Prozess mit der Literaturgeschichte. Die Grenzen nationalphilologischer Fragestellungen werden an ihrem Verhältnis zur Weltliteratur sichtbar. In: Frankfurter Rundschau vom 27. August 2002, S. 20 und Oesterle, Günter: Nach der Preisgabe nationaler Zentrierung. Die Vielfalt deutschsprachiger Literaturen und die Aufgaben der Literatur- als Kulturwissenschaft [im Folgenden zitiert als „Preisgabe“]. In: Frankfurter Rundschau vom 22. Oktober 2002, S. 24.
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stellt sich die Konstellation nach Schlaffers Rekonstruktion zunächst so dar: „…christliche Religiosität, bürgerliche Intimisierung, philosophische Aufklärung, kultureller Vorrang der Literatur vor den andern Künsten: Religions-, sozial- und bildungsgeschichtliche Entwicklungen, von denen keine sich eine deutsche Nationalliteratur zum Ziel gesetzt hatte, verschränkten sich in einem günstigen Augenblick so, dass sie mit einem Schlag ins Leben treten konnte“.2 Durchgängig verweist Schlaffer dabei auf die Bedeutung religiöser und konfessioneller Mischungsverhältnisse, namentlich protestantischer, pietistischer und katholischer Vorstellungs- und Formenwelten3 als Start- und Randbedingungen für den unerwarteten und in nur wenigen Jahrzehnten erfolgenden Durchbruch einer spezifisch „deutschen“ Literatur und Literatursprache, der freilich nicht „durch das ‚deutsche Wesen‘ bestimmt“ wurde, „sondern durch die Überschneidung internationaler intellektueller Prozesse, die aus verschiedenen Epochen datieren, in Deutschland sich länger als anderswo hielten und deshalb im 18. Jahrhundert in unvorhergesehener Gleichzeitigkeit aufeinander trafen“.4
I. Dass der im Anschluss an das Erlebnis des Rochus-Festes im August 1814 unmittelbar begonnene und dann im Sommer und Herbst 1816 im Thüringischen Bad Tennstedt fertig gestellte kleine Text Sankt-Rochus-Fest zu Bingen. Am 16. August 1814 (HA 10, 401–428) auch in den Arbeits- und Wirkungszusammenhang der nach dem Ende der napoleonischen Kriege von Goethe aufgenommenen kulturpolitischen und auf die Sicherung und Präsentation regional verbreiteter Kulturgüter ausgehenden „patriotischen“5 Aktivitäten gehört,
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Schlaffer: Geschichte, S. 111. Auf die Bedeutung des Judentums, und im Falle Goethes bedeutsam: eine bestimmte Sichtweise des Islam, die in Schlaffers Darstellung nur im Blick auf die zweite Blütephase der deutschsprachigen Literatur am Rande des Habsburgerreiches bzw. gar nicht vorkommt, wird hinsichtlich des Islam weiter unten noch einzugehen sein. Schlaffer: Geschichte, S. 111. So Goethe im Brief an Boisserée vom 23. Oktober 1815: „Und so müsste es nicht von rechten Dingen zugehen, wenn der löbliche Zweck verfehlt würde, wenn unsere patriotischen Feuerchen, die auf so vielen Bergen und Hügeln des Rheins und Mayns anzünden, nicht auch patriotische Gesinnungen erregen und glücklich fortwirken sollten.“ (FA II,7, S. 535f.; zit. nach Birus, Hendrik: Goethes Reisen in die Rhein- und Main-Gegenden [im Folgenden zitiert als „Goethes Reisen“]. In: Goethe Jahrbuch 120 (2003), S. 157–166, hier: S. 163). Dass hierbei Patriotismus und Nationalismus nicht in eins gesetzt werden können, muss wohl nicht extra hervorgehoben werden. Vgl. auch die in denselben Zusammenhang gehörende Denkschrift Kunst und Altertum am Rhein und Main von 1816 (HA 12, S. 163).
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ist im Laufe der Zeit mehrfach bemerkt worden.6 Hinzuzufügen ist freilich, dass diese sich wiederum ihrerseits als Umsetzungsprojekte des von Schlaffer beschriebenen kulturellen Schubs hin zu einer eigentümlichen, gerade – wie es auch bei Goethe vertreten wird – regional vielfältig gefärbten und dezentral ausgestalteten Sammlung national bedeutsamer Kulturgüter7, ja auch einer entsprechend regional ausdifferenzierten, in einem Netz globaler Interaktion erst erkennbar werdenden „Nationalliteratur“8, auffassen lassen. „Die nationale Literaturgeschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts kann als Vergewaltigungsgeschichte von Kunst und Literatur dargestellt werden und die Auflösung des Konzepts der Nationalliteratur kann umgekehrt als Befreiung der Literatur von ideologischen Homogenisierungszwängen und problematischen Kanonisierungen gelesen werden“.9 Hier nun soll anhand des kleinen Textes von Goethe gezeigt werden, dass es – typisch für die deutschen Länder und Verhältnisse – nicht nur die Überschneidungslinien „internationaler Prozesse“ sind, die die Besonderheit der Texte der deutschen Literatur um 1800 ausmachen, sondern dass diese ihre Bedeutung gerade auch aus einer durchaus anachronistisch verschachtelten Vielfalt des Regionalen und Lokalen gewinnen, die sich freilich auch als Erfahrungsschatz und Formenvorrat nutzen bzw. schätzen lässt, nicht nur für die Gestaltung der deutschen Literatur, sondern – so Goethes Perspektive – auch für die Gestaltung von Lebens- und Gesellschaftsverhältnissen in jenen Jahren nach 1800 – im Schatten des „schrecklichste(n) aller Ereignisse“10, nämlich der Revolution von 1789, und im Zusammenhang der daran anschließenden historischen Entwicklungen und heraufziehenden gesellschaftlichen Umbrüche. Denn mit den Regionen treten auch die Konfessionen, mit den kulturellen Objekten und Prozessen11 auch die religiösen und polykulturellen Grundlagen,
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So bspw. bei Steer Jr., A.G.: Sankt-Rochus-Fest zu Bingen. Goethes politische Anschauungen nach den Befreiungskriegen [im Folgenden zitiert als „Sankt-RochusFest“]. In: Jahrbuch des Freien Deutschen Hochstifts. Tübingen 1965, S. 186–236. Vgl. Birus: Goethes Reisen, S. 161. Auf die Verschränkung globaler, jedenfalls transnationaler Perspektiven. In deren Folge „Nationalliteratur“ als Schnittstelle eines übergreifenden Netzwerkes in Erscheinung tritt, macht Koch, Manfred: Weimaraner Weltbewohner. Zur Genese von Goethes Begriff „Weltliteratur“. Tübingen 2002, S. 14 und passim aufmerksam. Zum Begriff und seinen Erkenntnis leitenden Perspektiven vgl. Bley, Helmut / König, Hans-Joachim: Globale Interaktion. In: Enzyklopädie der Neuzeit Bd. 4, hg. von Friedrich Jaeger. Stuttgart 2004, S. 945–957. Oesterle: Preisgabe, S. 24. Vgl. Werner, Hans-Georg: Revolution in Frankreich – Goethe und die Literatur in Deutschland. In: Goethe Jahrbuch 107 (1990), S. 11–26, hier: S.12. Eine im Anschluss an die Vorschläge Victor Turners (vgl. Turner, Victor: Drama, Fields, and Metaphors. Symbolic Action in Human Society. Ithaca London 1974)
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Erfahrungsschätze und Formenreservoire älterer territorialer Diversitäten als Vorratskammern und Zeicheninventare einer deutschen Literatur in Erscheinung, die sich um die Wende 1800 daran macht (machen muss), sich mit den spezifischen Erfahrungen der Moderne auseinanderzusetzen und im Hinblick hierauf Gestaltungsformen zu finden, Gestaltungsmöglichkeiten zu erkunden, die sich, so hat Walter Müller-Seidel schon vor vielen Jahren am Verhältnis der deutschen Klassik zur Französischen Revolution gezeigt12, nicht daran ausrichten lassen, für eine Seite, die Revolution oder das Ancien Regime, Partei zu ergreifen, sondern die darauf angelegt sind, in der Bestimmung eines künstlerisch gestalteten Imaginären jene Mischform eines „tertium datur“ zu finden (und zu schaffen), die es ermöglicht, für die Gegenwart – als Besonderheit einer Moderne, die sich als Übergang (im Sinne Baudelaires als unabschließbare Passage13) zwischen Altem und Neuem versteht – Modelle und Spiegel der Selbstbestimmung und der Reflexion zu bilden.
II. Bereits Alfred Gilbert Steer hatte dem Thema der „Erhaltung des kulturellen Erbes“ in seiner Studie zum Sankt-Rochus-Fest von 1965 einen eigenen Abschnitt gewidmet14 und er referierte neben den politischen Akzenten, die etwa seitens des Freiherrn vom Stein oder auch Hardenbergs und des preußischen Innenministers Schuckmann gesetzt wurden, auch die unterschiedlichen Verwaltungs- und kommunalen Aktivitäten, vor deren Hintergrund Goethe seine Programmschriften über den Umgang mit Kultur und Kunst „an Rhein und Mayn“ ausarbeitete und seine diesbezügliche Beratungstätigkeit ausübte. Dieser Aspekt des Themas wurde in letzter Zeit von Hendrik Birus15 und Peter J.
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entwickelte Lektüre des Sankt-Rochus-Festes, die sich um die Ansätze der Wahrnehmung und Gestaltung von Theatralität und der Inszenierung des Performativen innerhalb dieses Textes kümmern würde, wäre ausgesprochen aufschlussreich, würde hier aber zu weit führen; auf die Schilderung der Schaubühne und des Publikums der Sankt-Rochus-Predigt und deren dramaturgische Gliederung sei aber doch verwiesen (vgl. HA 10, 424f.). Vgl. Müller-Seidel, Walter: Deutsche Klassik und Französische Revolution. In: ders., Deutsche Literatur und Französische Revolution. Sieben Studien. Göttingen 1974, S. 39–62, hier: S. 46ff. Zu erinnern ist hier an die Formulierungen Baudelaires in Le peintre de la vie moderne von 1863: „La modernité, c’est le transitoire, le fugitive, le contingent, la moitié de l’art, dont l’autre moitié est l’éternel et l’immuable“ (zit. nach Klinger, Cornelia: Modern / Moderne / Modernismus. In: Ästhetische Grundbegriffe Bd. 4. Stuttgart / Weimar 2002, S. 121–167, hier: S. 137). Steer: Sankt-Rochus-Fest, S. 198ff. Birus: Goethes Reisen, S. 158ff.
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Brenner16 wieder aufgegriffen. Gegenüber diesen eher den Konservator Goethe herausstellenden Ansätzen werde ich im Folgenden Goethes Text zum „Sankt-Rochus-Fest“ auch als einen Versuch lesen, sich die Unruhe des Zeitalters zu vergegenwärtigen und ihr gegenüber eine Position auf der Höhe der Zeit zu entwickeln und zu begründen. Es geht in diesem Text nicht vor allem darum, die kulturpolitische Herausforderung der napoleonischen Kriege aufzunehmen (und im Sinne künstlerischer Gestaltung aufzuheben), den Text also als eine Momentaufnahme aus der Zeit nach 1810 zu lesen, so wie dies insbesondere Steer in seiner Interpretation von 1965 vorschlug, sondern ihn in die Zusammenhänge der Wahrnehmung, Interpretation und kulturelle Gestaltung jener längerfristigen Umbau- und Veränderungsprozesse einzubeziehen, die die europäischen Gesellschaften im Übergang von 18. zum 19. Jahrhundert ebenso prägen wie irritieren. Steer hatte Goethes Aufzeichnungen zum Sankt-Rochus-Fest zunächst als „die Summe seiner Gedanken über die Zeit nach den Befreiungskriegen“17 sehen wollen; Peter J. Brenner hat sich in seiner 2003 veröffentlichten Studie zu Goethes Reisen in Deutschland, Frankreich und der Schweiz18 dieser Lesart angeschlossen und gerade im Blick auf das Sankt-Rochus-Fest von einer um den Preis der Entrücktheit19 von den Zeitumständen gewonnenen Objektivität und Ruhe gesprochen, die Goethe aus seinen Tätigkeiten als Sammler, Berater und Organisator von Kunstwerken und -sammlungen gewonnen habe. „In der Kunst, und weniger in ihrer Betrachtung als in ihrer institutionellen Organisation, findet der Reisende Goethe seine Ruhe. Die Beunruhigungen, die zunächst von seinem eigenen Ich ausgingen, dann von der Geschichte, die mit ihren revolutionären Ereignissen in sein Leben eingegriffen hat, werden hier still gestellt“.20
III. Dass es dagegen mit der Ruhe in diesem Bericht vom Binger „Sankt-RochusFest“ des Jahres 1814 nicht allzu weit her ist, wird schon im ersten Satz gesagt: „Vertraute, gesellige Freunde […] empfanden eines Tages eine gewisse
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Brenner, Peter J.: Von der Bewegung zur Beharrung. Goethes Reisen in Deutschland, Frankreich und der Schweiz [im Folgenden zitiert als „Bewegung“]. In: Goethe Jahrbuch 120 (2003), S. 167–181, hier: S. 180. Steer: Sankt-Rochus-Fest, S. 186. Brenner: Von der Bewegung, S. 179. Vgl. „Das Sankt-Rochus-Fest ist diesen historischen Entwicklungen [gemeint sind die Niederlage Napoleons, der Wiener Kongress, die Einrichtung einer „postrevolutionären restaurativen Ordnung“ – W. N.] weit entrückt“ (ebd.). Ebd, S. 180.
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Unruhe, die sie durch Ausführung längst gehegter Vorsätze zu beschwichtigen suchten“ (HA 10, 401); und auch am Ende des Festtages hat sich diese Unruhe keineswegs gelegt: „In dem herrlich gelegenen Bingen angelangt, fanden wir doch daselbst keine Ruhe […]“ (HA 10, 428; MA 11.2, 115). Ein Blick auf die unterschiedlichen Textsorten, die in diesem knapp dreißig Seiten langen Text miteinander verbunden, z. T. ineinander collagiert werden, kann diesen Eindruck zusammengestückelter Impressionen bzw. Materialien noch verstärken: Reisebericht, autobiographisches Schreiben, eine Heiligenlegende, Predigttexte, die Wiedergabe einer humoristischen Fastenpredigt, Sprichwörter, Gesprächsaufzeichnungen, Natur- und Wetterbeobachtungen, historische Berichte, nicht zuletzt die Miteilung und die Reflexion sozialer Wahrnehmungen bieten hier nicht nur eine Menge Abwechslung, sondern lassen in ihrer Gedrängtheit eine Überfülle an Eindrücken und Erfahrungen, auch an den mit diesen Erfahrungen verbundenen Erscheinungen und Hintergründen, zu Wort kommen. Gegenüber dieser durchaus zur Unübersichtlichkeit, ja Bedrängnis neigenden Vielfalt (HA 10, 412ff.) entfaltet der Erzähler zwar immer wieder auch ordnende und vermittelnde Textstrategien, nicht zuletzt um einen Ort der Distanzgewinnung zu schaffen21 und das Ganze von einem eigenen, mit einer Ruheposition verbundenen Standpunkt aus zu schildern, dass es sich dabei allerdings auch um eine eher resignative, dem Geschehen gegenüber äußerlich bleibende Position eines Beobachters handelt, wird nicht verschwiegen: „Wir, durch soviel Verwirrendes verwirrt, ließen sie in die immer wachsende Verwirrung ruhig dahinziehen“ (HA 10, 414; MA II.2, 102). Zugleich aber zeigt sich die „augenblickliche(n) Verworrenheit“ (HA 10, 411; MA 11.2, 99) auch in „harten Schnitten“ und in übergangslosen Perspektiv- und Themenwechseln: Schließt der Bericht über die gelungene Kooperation unterschiedlichster amtlicher Stellen und Menschen bei der Restauration der Rochus-Kapelle versöhnlich belehrend mit der Bemerkung ab: „Möchte man doch überall, in ähnlichen Fällen, mit gleicher Schonung verfahren sein!“, so wendet sich der nächste Satz – übergangslos – erneut der Unübersichtlichkeit der Festtagsmenge zu: „Und nun ergreift uns das Gewühl! Tausend und aber tausend Gestalten streiten sich um unsere Aufmerksamkeit. Diese Völkerschaften sind an Kleidertracht nicht auffallend verschieden, aber von der mannigfaltigsten Gesichtsbildung“ (HA 10, 411). Damit erscheint nun hier eine Übermacht von Menschen und Eindrücken, die – ähnlich wie in den Schilderungen des Römischen Karnevals im Zusam-
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Vgl. Breuer, Dieter: Die Legende, das Fest, der Gast. Goethes Reisebild „Sankt-Rochus-Fest“ zu Bingen [im Folgenden zitiert als „Goethes Reisebild“]. In: HansGünther Schwarz und Jane V. Curran (Hg.): Denken und Geschichte. Festschrift für Friedrich Gaede zum 65. Geburtstag von seinen Freunden und Kollegen. München 2002, S. 79–91, hier: S. 88f.
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menhang der Italienischen Reise, wenn auch deutlich abgeschwächter22 – den Beobachter und Berichterstatter nicht nur an den Rand drängt, sondern ihn mit seinen Ordnungsversuchen untergehen, ihn freilich – heiterer, leichter als seinerzeit in Rom – auch in die Gegenwart des Festes selbst übergehen lässt: „Das Getümmel jedoch lässt keine Vergleichung aufkommen; allgemeine Kennzeichen sucht man vergebens in dieser augenblicklichen Verworrenheit, man verliert den Faden der Betrachtung, man lässt sich ins Leben hineinziehen“ (ebd.)23. Während die 1788 geschriebene, 1789 separat veröffentlichte und dann 1816 im Zusammenhang der Italienischen Reise erneut veröffentlichte Studie Das Römische Karneval mit einer deutlich abwägenden, in gewisser Weise analytischen und distanzierenden Bilanz endet: „Vielmehr wünschen wir, dass jeder mit uns, da das Leben im ganzen wie das Römische Karneval unübersichtlich, ungenießbar, ja bedenklich bleibt, durch diese unbekümmerte Maskengesellschaft an die Wichtigkeit jedes augenblicklichen, oft gering scheinenden Lebensgenusses erinnert werden möge“ (HA 11, 515), kann im Blick auf die Erfahrungen und Schilderungen des Rochus-Festes tatsächlich eher von einer Mäßigung des Übergangs und von einer Annäherung an die Massen-Erfahrung24 gesprochen werden, – freilich auch nicht ohne Vorbehalte, immerhin wird auch die „blutige Tötung eines ‚armen schuldlosen‘ Dachses durch die fromme Menge“ berichtet.25 Nicht nur die Größenverhältnisse, sondern auch die Fremdheitsgrade und die damit verbundenen Irritationen, nicht zuletzt das Bedürfnis nach Selbstkonstitution und Selbstlegitimierung angesichts der Menge – erst recht angesichts der Undeutbarkeit und Ungesichertheit des menschlichen Lebens (Einbruch der Gewalt bei der Dachs-Hetze) – sind im Text von 1814 deutlich gemäßigter und vielfältiger modelliert26; gleichwohl bleiben sie bestehen.
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Vgl. dort: „ein Gedränge, das alle unsere Begriffe übersteigt, ja, das selbst die lebhafteste Erinnerungskraft sich nicht vergegenwärtigen kann.“ (HA 11, 514); dass es in ähnlichen Konstellationen auch in der Novelle ein entsprechendes Gedränge gibt (vgl. HA 6, 496), sei hier nur am Rande vermerkt. Dies allein als Hinweise auf die „Feier des Lebens“ zu deuten, wie Breuer (Legende, S. 87) dies tut, erscheint mir angesichts der Heftigkeit des Verlusts an Übersicht aber dann doch zu schwach gewichtet. Vgl. Novelle (HA 6, 496): „Und wirklich drängte sich die ganze Menschenmasse dergestalt an die Reitenden heran, dass sie ihren Weg nur langsam fortsetzen konnten.“; im Römischen Karneval ist ein ganzer Abschnitt mit „Gedränge“ überschrieben; vgl. HA 11, 497. Breuer: Goethes Reisebild, S. 87. Freilich taucht der Begriff des „Bedenklichen“ auch im Text des Sankt-RochusFestes auf und zwar an einer kaum weniger die Fragwürdigkeit der menschlichen Existenz thematisierenden Stelle, deutlich aber auch sowohl humoristisch getönt. In einen Handlungsgang integriert und möglicherweise sogar ernsthaft religiös konnotiert: „Man ging die Tugenden derselben durch und fand, dass es nicht Nothelfer ge-
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Im Folgenden soll es nun darum gehen, Goethes Text und die in ihm eben nicht still gestellte, sondern mitgeteilte und gestaltete, ja in gewisser Weise sinnhaft aufgeladene Unruhe des Sankt-Rochus-Tages vom August 1814 nicht erst im Rahmen der politischen Geschichte und der sozialen Erfahrungen der ersten Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts zu verorten – dazu werden die mitgeteilten Vorgänge viel zu sehr auf einer gleichsam naturnahen, vorpolitischen Ebene volkskultureller Ereignisse und Gesellungsformen angesiedelt – , sondern diese vielmehr in den übergreifenden Zusammenhang einer vor der Französischen Revolution von 1789 bereits einsetzenden, mit ihr verbundenen und von den Zeitgenossen entsprechend beobachteten Unruhe der Moderne27 im größeren Zusammenhang einzubetten.28 Zugleich geht es darum, eine bestimmte Haltung Goethes im Umgang eben mit diesen Erfahrungen der Unruhe in der Moderne herauszuarbeiten, die sich – so in seiner Studie zum Binger Rochus-Fest zu erkennen – des Rückbezugs auf spezifische Formen und SinnVorräte jener „verlorenen Lebenswelten“ (Peter Laslett) von vor 1789 bedient und die es darauf anlegt, diese im Angesicht der Moderne, als deren Inbegriff, zumal in ihren ambivalenten Erscheinungsformen und -folgen, die Französische Revolution gilt, zu rekonstruieren, genauer: unter aktuellen Vorgaben auch im Sinne einer „Invention of Traditions“ (Eric Hobsbawm) zu konstruieren.
IV. Goethes in den Aufzeichnungen zum „Sankt-Rochus-Fest“ unternommene Darstellung der „Volkskultur“29, seine spezifische literarische Gestaltung einer provinziellen „Massen-Veranstaltung“, des am 16. August 1814 beobachteten Festtagsrummels anlässlich der Wiedereinweihung der in den Revolutionskriegen nach 1792 verschiedentlich besetzten, teilweise zerstörten und z.T. als Pferdestall benutzten, damit auch entweihten Rochus-Kapelle bei Bingen, und nicht zuletzt die diesen Tag beschreibenden Beobachtungen vor Ort, vor allem Goethes Schilderung von Erscheinungsformen der Volks-
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nug geben könne. Um dergleichen, selbst in heiterer Stimmung, immer bedenkliche Betrachtungen los zu werden, trat man heraus unter den brennend gestirnten Himmel […]“ (HA 10, S. 408) – welche Metapher! Vgl. dazu Breuer: Goethes Reisebild, S. 89. Vgl. Vietta, Silvio / Kemper, Dirk: Einleitung. In: dies. (Hg.).: Ästhetische Moderne in Europa. Grundzüge und Problemzusammenhänge seit der Romantik. München 1998, S. 8ff. Vgl. Giddens, Anthony: Konsequenzen der Moderne. Frankfurt/M. 1995, S. 28ff. Vgl. Burke, Peter: Helden, Schurken und Narren. Europäische Volkskultur in der frühen Neuzeit. München 1985.
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frömmigkeit und der Möglichkeiten einer religiös gegründeten Lebensführung in dieser durchaus noch von Kriegsspuren30, unterschiedlichsten Aufgeregtheiten und Stimmungslagen gekennzeichneten Welt, lassen sich damit auch als Versuch interpretieren, angesichts einer in den vielfältigsten Bereichen erkennbaren Unruhe der Zeit, die auch vor dem Erzähler und der Gruppe der mit ihm verbundenen Festtagsgäste nicht Halt macht, vielmehr selbst auf der Fahrt nach Bingen sich wieder finden lässt: „Mittag war schon vorbei und doch ein Wagen augenblicklich bestellt“ (HA 10, 401), in anschaulicher Weise eine Gegenwelt zu restaurieren, Deutungsmuster, Erfahrungslagen und „objektive“ Gegebenheiten zu benennen bzw. diese durch Bericht und Schilderung, durch intertextuelle Interpolationen, Erzählereinschübe und andere Formen ästhetischer Gestaltung so zu evozieren, dass sie sich möglicherweise als Widerlager angesichts der gerade und aktuell erfahrenen Verwirrungen und Neuerungen der Zeit bestimmen und nutzen lassen. Hierzu gehören dann – wie im übrigen bei Goethe ja vertraut – auch Beobachtungen zur geologischen Verfasstheit31 des Rheintals und zur Witterung, kulturgeographische Bemerkungen32 und nicht zuletzt das mehrfach wiederholte Lob der Möglichkeiten sozialer Kooperation, so wie sie sich im Zusammenhang des Binger Festes in dieser bäuerlich geprägten, noch in altständischen Mustern beschreibbaren Ordnung finden lassen, und die doch zugleich auch spezifisch die Entscheidungsfähigkeit und die Handlungsmöglichkeiten von Individuen in der Sichtweise der Moderne ansprechen. „Da ergab sich nun“, heißt es wie in einer Art (formal gehaltener) Strukturbeschreibung der geschilderten Ereignisse des Sankt-Rochus-Festes (und seines
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Vgl. gleich zu Anfang: „In dem Städtchen Walluf tiefer Friede, nur die Einquartierungskreide an den Haustüren noch nicht ausgelöscht.“ (HA 10, 402); ebenso wieder auf dem Rückweg: „Auch auf diesem Wege bemerkten wir Spuren der KriegsWehtage“ (HA 10, 427). Den politischen Konnotationen der Goetheschen Naturwissenschaft ist Karl Richter zu Beginn der 1990er Jahre nachgegangen und er hat dabei v. a. Goethes naturwissenschaftliche, d. h. in gewissem Sinn neutrale, auf Beobachtung und offene Deutungen, damit verbunden auch eine gewisse Unentschiedenheit Goethes in der Bewertung historischer Ereignisse wie der Französischen Revolution als Ereignissen der Naturgeschichte der Menschen hingewiesen; vgl. Richter, Karl: Das „Regellose“ und das „Gesetz“. Die Auseinandersetzung des Naturwissenschaftlers Goethe mit der Französischen Revolution. In: Goethe Jahrbuch 107 (1990), S. 127–143, hier: S. 134ff. Wie in der Novelle (vgl. HA 6, 497) ist auch hier von „Bergbewohnern“ (HA 10, 422) und anderen teils geographisch und historisch, teils sozial und berufsspezifisch bestimmten Menschengruppen die Rede. Zu den sozialhistorischen Konnotationen der Landschaften und ihrer Bewohner in der Novelle vgl. Fritz, Horst: Instrumentelle Vernunft als Gegenstand von Literatur. Studien zu Jean Pauls „Dr. Katzenberger“, E. T. A. Hoffmanns „Klein Zaches“, Goethes „Novelle“ und Thomas Manns „Zauberberg“. München 1982, S. 79ff.
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Zustandekommens), „der große Vorteil solcher Volksversammlung, wenn, durch irgend ein höheres Interesse, aus einem großen, weitschichtigen Kreise so viele einzelne Strahlen nach einem Mittelpunkt gezogen werden“ (HA 10, 415; Hervorh. im Text). Dass Goethe im Übrigen selbst diesen längerfristigen Rückbezug der Ereignisse von 1814 auf die Zeit nach 1789 und nicht so sehr auf die unmittelbare, nach 1806 erst einsetzende Zeit der „Befreiungskriege“ sieht, lässt sich im Text lesen: „Seit vierundzwanzig Jahren“, so heißt es aus der Blickrichtung von 1814, „konnte daher dort oben kein Fest gefeiert werden“ (HA 10, 405), und auch der ambivalente Charakter des Festes als einer zugleich politisch und religiös in einer gewissen Unbestimmtheit, ja Zweifelhaftigkeit der zugrunde liegenden Vorstellungen ausgerichteten Manifestation ist von Goethe selbst hervorgehoben worden: „So ward fortgeschritten, um dies politischreligiöse Fest zu feiern, welches für ein Symbol gelten sollte des wiedergewonnenen Rheinufers sowie der Glaubensfreiheit an Wunder und Zeichen“ (HA 10, 413). Damit wird, schon in der Zusammenziehung von (protestantischer) Glaubensfreiheit und katholischem, möglicherweise auch pietistischem Glauben an Zeichen und Wunder33, nicht nur der „gemischte Charakter“ des Ereignisses angesprochen, an dem sich volkskulturelle Festtagsfreude mit bacchanalen, im Sinne Michail Bachtins34 karnevalistischen Grenzverletzungen und Umkehrungen: „Muntere Kinder tranken Wein wie die Alten.“ (HA 10, S. 415), ebenso verbinden wie religiöse Feierlichkeit und wieder gewonnene Machtrepräsentation, die Freude über das Ende des Krieges, aber auch die leichte Entflammbarkeit neuer Gewaltbegeisterung (Dachs-Jagd: „Das arme schuldlose Tier […] wird am schonungsreichsten Feste, von den immer unbarmherzigen Menschen im segenvollsten Augenblicke getötet.“; HA 10, S. 414) „handfest“ in Erscheinung treten.
V. Gerade die angesprochene „Glaubensfreiheit“ für „Wunder“ und „Zeichen“ muss angesichts der zeitgenössischen mit der Romantik verbundenen neureligiösen Strömungen, mit denen sich Goethe und Meyer in eben jenem Aufsatz
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Vgl. dazu die entsprechenden Einträge „Zeichen“ (Monhardt, Stefan. In: Handbuch religionswissenschaftlicher Grundbegriffe, hg. von Hubert Cancik, Burkhard Gladigow, Karl-Heinz Kohl. Bd. V. Stuttgart / Berlin / Köln 2001, S. 389–396) und „Wunder“ (Nanko, Ulrich. In: ebd., S. 386–389) im Handbuch religionswissenschaftlicher Grundbegriffe, wo berichtet wird, dass Wunderglaube vielfach in den Bereich der unterprivilegierten Schichten eingeordnet wurde (ebd., S. 387). Vgl. Bachtin, Michail: Literatur und Karneval. Zur Romantheorie und Lachkultur. München 1969, S. 32ff.
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Über neudeutsche religiös-patriotische Kunst auseinandersetzen, der 1817 in dem selben Heft der gerade begründeten Zeitschrift Kunst und Altertum erschien wie das Sankt-Rochus-Fest, als ambivalent angesehen werden. Es sind wohl eher funktional und ästhetisch als religiös orientierte Motive, die Goethe im Zusammenhang der Schilderung des Festes hervorhebt und nutzen möchte, um seine Vorstellungen einer ständisch gegliederten und zugleich die Reichhaltigkeit des Individuums ebenso voraussetzenden wie fördernden Gesellschaft mit einem historischen Beispiel vor Augen zu stellen. Ähnlich wie im Bezug auf die sozialen Leistungen der Geheimgesellschaften, mit denen Goethe sich u.a. als Staatsminister und Universitätskurator zu beschäftigen hatte35, sind für ihn wohl auch die hier geschilderten volksreligiösen Orientierungen vor allem als unspezifische Manifestationen „irgend eines Interesses“ (vgl. HA 10, 415) wichtig, dessen soziale Funktion eben vor allem darin besteht, gesellschaftlichen Zusammenhang, die Ausrichtung der unterschiedlichsten einzelnen Erscheinungen und Interessen auf einen Mittelpunkt hin, zu organisieren, von den Möglichkeiten allgemeiner bzw. individueller Sinnorientierung durch das Erleben religiös ausgerichteter Glaubensfrömmigkeit einmal abgesehen.36 Dass es sich dabei im Blick auf die Formen des Gesellschaftlichen vor allem um die Gestaltung und Beobachtung von „Kreisen“ bzw. Kreislaufmodellen handelt, wird niemanden wundern, der im Zusammenhang der Italienischen Reise (1816), an der Goethe ja in den gleichen Jahren arbeitete wie am Sankt-Rochus-Fest, die Beschreibung des Amphitheaters von Verona gelesen hat, dessen soziale Funktion von Goethe vor allem daran erläutert, vielleicht sogar ein wenig kritisch reflektiert wird, dass in dieser baulichen Anordnung eines Kreises das Volk sich seiner selbst gewärtig werden könne, es sich selbst also – medial verdichtet – „sehen“ und damit als soziales Gebilde konstituieren könne: „Denn eigentlich ist so ein Amphitheater recht gemacht, dem Volk mit sich selbst zu imponieren, das Volk mit sich selbst zum besten zu haben“ (HA 11, 40). Die ansonsten ja auch in der Soziologie immer wieder bedachte und mitunter bis in die Operationalisierung von Forschungsfragen hinein auch diskutierte Problemstellung der Gestaltlosigkeit bzw. der Unfassbarkeit abstrakter Be-
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Vgl. Bauer, Joachim / Müller, Gerhard: Lehr- und Wanderjahre: Goethes Weg durch die Geheimgesellschaften. In: Goethe Jahrbuch 118 (2001), S. 31–45, hier: S. 34. Für diesen vor allem von Émile Durkheim herausgestellten sozialen Funktionszusammenhang der religiösen Erfahrung (vgl. Durkheim, Émile: Die elementaren Formen des religiösen Lebens. Frankfurt/M. 1981, S: 75) siehe jetzt Taylor, Charles: Religion heute. In: Transit. Europäische Revue 19 (2002). www.iwmat/t-19txt1.htm [27.11.2002].
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stimmungsgrößen des Sozialen wie der Gesellschaft37, der Nation oder gar der Weltgesellschaft und vor allem auch deren „Erfahrungsunzugänglichkeit“ scheint hier, so wie Goethe dies in Verona beobachtet, durch die Bauform des Theaters eine Gestaltungsmöglichkeit und damit dann eben auch eine Erfahrungsform gefunden zu haben38: „Wenn es sich [das Volk – W.N.] so beisammen sah, musste es über sich selbst erstaunen; denn da es sonst nur gewohnt, sich durcheinander laufen zu sehen, sich in einem Gewühle ohne Ordnung und sonderliche Zucht zu finden, so sieht das vielköpfige, vielsinnige, schwankende, hin und her irrende Tier sich zu einem edlen Körper vereinigt, zu einer Einheit bestimmt, in eine Masse verbunden und befestigt, als eine Gestalt, von einem Geiste belebt“ (HA 11, 40; auch hier ist das „eine“ im Übrigen bereits im Text hervorgehoben). Anders aber als in der Antike („in der frühesten Zeit“; ebd.), in der dem Volk die feste Form von der Hand des Architekten im Auftrag des Kaisers – im Sinne Émile Durkheims als „Gussform“ (moule à fonte) des Gesellschaftlichen – von außen angemessen wird und es unter dieser äußeren Klammer seine innere Form (auch für sich selbst in Folge äußerer Anschauung) erst gewinnt,39 steht für die christlich abendländische Zeit, zumindest in der Sicht des beginnenden 19. Jahrhunderts – noch lange vor der Beschreibung eines Netzes sozialer, durch subjektive Sinnsetzung im Bezug auf andere definierter Handlungen als Bauform der Gesellschaft durch Max Weber – offensichtlich die „innere Kohäsion“ der Menge, nicht so sehr durch das Interesse als vielmehr durch ein gemeinsames Angezogensein und Ausgerichtetsein von einer religiös-ästhetischen Ausstrahlung, von „Wundern und Zeichen“ z. B., im Mittelpunkt der gesellschaftlichen Organisation und auch im Blickpunkt ihrer Beobachter.40 Allerdings kommt auch hier – auf dem Rochus-Fest von 1814 – die Konstitution der Bevölkerung als Handlungseinheit nicht nur durch den „inneren Sinn“ der Akteure zustande, so wie sie sich für Goethe – entsprechend auch
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Vgl. Luhmann, Niklas: Gesellschaft. In: ders.: Soziologische Aufklärung. Aufsätze zur Theorie sozialer Systeme. 1. Bd. Opladen 41970, S. 137–153; ders.: Weltgesellschaft. In: ders.: Soziologische Aufklärung, Bd. 2. Opladen 1975, S. 51–71. Ob es sich hierbei freilich um das Volk „als natürliche Grundgegebenheit einer nationalen Kultur“ handelt, wie dies Hans-Georg Werner meint (vgl. Werner, HansGeorg: Goethes Reise durch Italien als soziale Erkundung. In: Goethe Jahrbuch 105 (1988), S. 27–44, hier: S. 33) oder um eine gerade in ihrer Differenziertheit und Vielgestaltigkeit auch nationale Grenzen übersteigende bzw. unterlaufende organische Vielfalt aus vormodernen Zeiten, kann an dieser Stelle nicht weiter verfolgt werden. Vgl. Durkheim, Émile: Les Règles de la Méthode sociologique. Paris 1969, S. 28. Entsprechend wendet sich Durkheim für die Untersuchung dieser Phänomene archaischen Gesellschaften zu; vgl. Durkheim: Die elementaren Formen religiösen Lebens, S. 27ff.
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als vorbildlich gelobt41 – vor allem im Zusammenwirken der vielen einzelnen, auch unterschiedlich konfessionell orientierten Menschen und Gruppen anlässlich der Restitution der Rochus-Kapelle und ihres Inventars gezeigt hat: „Da nun alles zugleich geschah, so konnte man von der Kapelle herabschauend, über Land und Fluss, den wunderbarsten Zug sehen, indem Geschnitztes und Gemaltes, Vergoldetes und Lackiertes in bunter Folgereihe sich bewegte; dabei genoß man des angenehmen Gefühls, dass jeder unter seiner Last und seiner Bemühung, Segen und Erbauung sein ganzes Leben hoffen durfte“ (HA 10, 410).42
VI. Denn freilich bedürfen diese Unternehmungen der vielen einzelnen einer „mit Überlegung“ (HA 10, 411) agierenden Leitung, die nun allerdings in Goethes Text nur indirekt, dafür aber mehrmals und um so ausführlicher angesprochen wird, ja selbst zu Wort kommen kann. Es sind dies selbstverständlich die Repräsentanten der legitimen Ordnung, also der „nassauische Beamte“ („sie
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Wer freilich in der nachfolgenden Schrift Im Rheingau Herbsttage das zugehörige Pendant: die Schilderung der leer geräumten Kirche von Kloster Eibingen liest, sieht sich auch mit den Voraussetzungen solch emsiger und wohl motivierter Tätigkeit konfrontiert: „Die Kirche, alles Zubehörs beraubt, Zimmer und Säle ohne das mindeste Hausgerät, die Zellenwände eingeschlagen, die Türen nach den Gängen mit Riegeln verzimmert, die Fache nicht ausgemauert, der Schutt umherliegend“ (MA 11.2, 116), wie überhaupt in diesem Text die Schilderung einer „reiche(n) frohe(n) Natur“ (ebd., S. 122) merkwürdig mit den Beobachtungen von Untergang, Verfall und Zerstörung kontrastiert, die immer dort auftreten, wo menschliche Einrichtungen geschildert werden (vgl. ebd., S. 120; 122; 127), mit Ausnahme freilich des Familienbesitzes der Brentanos (ebd., S. 116). Kein geringerer als Emil Staiger hat den exemplarischen Charakter des RochusFestes als Kunstform hervorgehoben; vgl. Staiger, Emil: Goethe. 3 Bde. Zürich Freiburg 1952–1959, Bd. 3, S. 72: „brilliante Miniatur“; hier auch die Bemerkung, „dass sich aus diesen zwei Dutzend Seiten die ganze deutsche Prosa, wenn sei verloren ginge, wieder herstellen ließe“. Wie kompositorisch genau die Aufzeichnungen gestaltet sind, lässt sich ebenfalls an dieser Stelle zeigen, verweist doch der hier geschilderte Zug auf jenes „wohlbeladene Brett“, das bereits bei Beginn der Reise ein italienischer Gipsgießer über seinem Kopf „kühnlich im Gleichgewichte“ schwenkt. Die darauf schwebenden Figuren aber waren nicht etwa, wie man sie nordwärts antrifft, farblose Götter- und Heldenbilder, sondern, der frohen und heitern Gegend gemäß, bunt angemalte Heilige“, unter ihnen der Heilige Rochus, wodurch nicht nur darauf hingewiesen wird, „dass wir uns in ein frommes Land bewegten“ (HA 10, 401), sondern auch die spätere Thematik. Insbesondere auch die soziale Funktion religiöser Orientierungen in einer durch die Revolution und die in ihr fassbaren Tendenzen einer modernen Welt, bereits vorweggenommen bzw. angekündigt wird.
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rühmen ihn […] als den Mann, der ihnen möglich gemacht hat, das heutige Fest mit Anstand zu feiern“, HA 10, 410)43, in dessen Begleitung auch Goethe das Fest besucht, und im besonderen sind es die Vertreter der Kirche, die sich hier sowohl als Organisatoren des Ereignisses und seiner Vorbereitung als auch als Sinn-Deuter der geschilderten Prozesse und ihrer sowohl religiösen als auch ethischen und lebensweltlichen Bedeutung darstellen: Zunächst also der Weihbischof44, der im Text in der Erinnerung an eine Fastenpredigt mit dem humoristischen Lobe einer ebenso erfüllten wie gemäßigten und reflektierten Lebensfreude zu Wort kommt (HA 10, 415f.). Freilich sind auch hier die Gottesgaben, in diesem Zusammenhang also die Befähigung zu einem reichen, zugleich aber die Sozialität des Hauswesens und die sozialen Verpflichtungen nicht belastenden bzw. zerstörenden Weingenuss unterschiedlich verteilt, so dass jeder gemahnt wird, „sein bescheiden Teil“ zu erkennen und im Rahmen der jeweils unterschiedlichen Vorgaben zu genießen, aber auch jedes „Übermaß“ zu vermeiden (vgl. HA 10, 416). Hinzu kommen der Prediger, dessen Festtagspredigt auf der steinernen Kanzel an der Außenmauer der Kirche uns in mehreren, von Beobachtungen der Landschaft und der Festtagsgesellschaft jeweils unterbrochenen Passagen mitgeteilt wird, und schließlich der Bischof, dessen Erscheinung während der Prozession geschildert wird, dessen Handlungen im Einweihungsgottesdienst aber für den Erzähler (und damit auch für die Lesenden) verborgen bleiben.45 Im Sinne seiner auch ansonsten den Text bestimmenden vermittelnden, auf bildreiche und zugleich sanfte Überzeugung setzenden Anlage bleiben auch diese Hinweise auf die Funktionen von Lenkung und Obrigkeit dezent, da die wesentlichen Impulse (und auch die Organisationsleistungen) in dieser Situation von den Menschen selbst ausgehen, – schließlich arbeitet auch hier jeder nach Maßgabe seiner „bescheidenen Teile“ mit –, allerdings nicht lediglich nach Lust und Laune oder nach den Vorgaben individueller Willkür entschieden, sondern auf der Basis einer zuvor in Freiheit eingegangenen, bezeichnenderweise religiös codierten Verpflichtung und unter dem Eindruck eines
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Hofrat Wilhelm Friedrich Götz, Mineraloge, nassauischer Beamter in Rüdesheim. – Der Rheingau, der früher zum Kurfürstentum Mainz gehört hatte, war 1803 an Nassau gefallen (HA 10, 733). Für Hinweise auf und die Diskussion um den Mainzer Weihbischof Valentin Heimes (1741–1806) vgl. MA 11.2, 778. Peter Ganz sieht hier eine angemessene Zurückhaltung des Nicht-Katholiken Goethe, der sich mit seinen Begleitern nicht der Feier des Messopfers in der Kapelle anschließt, sondern draußen bleibt: „[…] was drinnen vorgegangen, blieb uns verborgen. Den Widerhall des Te Deum vernahmen wir von außen“ (HA 10, 427); vgl. Ganz, Peter: Sankt-Rochus-Fest zu Bingen [im Folgenden zitiert als „Sankt-RochusFest“]. In: Oxford German Studies 10 (1979), S. 110–120, hier: S. 118); Dieter Breuer verstärkt dies dahingehend, es sei Goethe darum gegangen, „die eigene Vorstellung von Religion zu schützen“ (Breuer: Goethes Reisebild, S. 89).
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ersten vorbildhaften Anstoßes (der Gegenseite – dies gilt nun sowohl für die Konfession als auch das Rheinufer): „Da man sich nun von protestantischer Seite dergestalt förderlich erwiesen, gelobten sämtliche Bürger Bingens, gedachte Stücke persönlich herüber zu schaffen“ (HA 10, 410). Dieses Zusammenwirken der unterschiedlichen Konfessionen46 und Territorialkörperschaften für das Zustandekommen der Restauration von Kapelle und Altarraum ist nun Goethe nicht nur eigens ein Lob wert (HA 10, 411), sondern wird zugleich als Ausdruck wechselseitiger Achtung und einer Pietät vor der Autorität des Göttlichen (im Heiligen) gedeutet, die sich auch daran zeigt, dass die ebenfalls übergebenen Reliquien des heiligen Ruprechts „durch Schenkung, also fromme Zugabe [...] nach Sankt Rochus“ (ebd.) kommen, da „es sich nicht geziemt hätte, […] sie zu irgend einem Preis anzuschlagen“ (HA 10, S. 411). Statt monetärer Äquivalenzbeziehungen wird hier der Erfolg eines Handlungsmodells gezeigt, das auf religiöser Grundlage die Reziprozität von Anerkennungsprozessen nutzt und die so begründeten Handlungen als Ausdruck einer religiös fundierten, transzendent orientierten Haltung der Demut und Barmherzigkeit versteht, die zugleich einen Verzicht auf die Ausrichtung des Handelns an (befristeten) Eigeninteressen ermöglicht und stattdessen die heilende Kraft eines religiös begründeten Altruismus, einer bewusst wahrgenommen Befähigung der einzelnen zum Leben in einem Zusammenhang mit anderen, für das Individuum, den Haushalt und die Gemeinde sowie für die Gesellschaft im Ganzen hervorhebt.47 „Die Predigt“, so mit Blick auf die Adressaten formuliert: „endete gewiss für alle heilsam; denn jeder hat die deutlichen Worte vernommen, und jeder die verständigen praktischen Lehren beherzigt“ (HA 10, 427).
VII. Der Stellenwert einer solcherart lebenspraktisch ausgerichteten und im Text vielfach motivierten „gemeinheitlichen“ sozialen bzw. kommunalen Befähi-
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Nicht bei Goethe, aber in anderen historischen Quellen werden neben den christlichen Konfessionen auch die Juden erwähnt; vgl. Ganz: Sankt-Rochus-Fest, S. 113; Bruder, Philipp: Die Verehrung des Heiligen Rochus zu Bingen am Rhein. Nebst einer ausführlichen Geschichte der St. Rochuskapelle und Wallfahrt. Nach größtenteils handschriftlichen Nachrichten dargestellt. Mainz 1881, S. 90, der hier einen Augenzeugen und Mitwirkenden zitiert. Auch hier erscheint mir Breuers Ansatzpunkt. In der Bezugnahme auf die Heiligenverehrung lediglich das „Motiv der radikalen Weltabsage und des Dienstes an Kranken und Armen“ zu sehen, als zu vordergründig, mit Bezug auf Goethes Selbstaussagen und dem ubiquitären Thema der Entsagung zu sehr biographisch gedeutet; vgl. Breuer: Goethes Reisebild, S. 84.
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gung48 von Individuen, die sich über ihren „bescheidenen Teil“ im Zusammenhang des Lebens mit anderen als Lebens- und Sozialitätskonzept bewusst sind, das in diesem Sinn auch als Antwort auf die erfahrene Unruhe und die Erschütterungen der Zeit (der Moderne) verstanden werden kann, zeigt sich neben dem bereits geschilderten erfolgreichen Wiederaufbauwerk der Kapelle und dem gelungen Fest vor allem in jenen (programmatischen) Textpassagen, in denen Goethe als Kompilator bzw. als Ohrenzeuge und Berichterstatter des Festgeschehens und seiner volksreligiösen Grundlagen auftritt. Dies betrifft sowohl das Leben des Heiligen Rochus selbst, dessen Legende der Erzähler in einer bewusst ein wenig altertümlichen Fassung in den Text einrückt (HA 10, 418–420)49, als auch die in der humoristischen Predigt des Weihbischofs enthaltene Aufforderung, das Leben nach Maßgabe der eigenen Möglichkeiten und Befähigungen zu gestalten und zu genießen, wobei freilich gerade hier auch die maßgebenden sozialen Formen, Maßstäbe und Motivierungen des Zusammenlebens als soziales Muster modellhaft angesprochen werden: „Wer aber bei dem Genuss von vier Maß, ja von fünfen und sechsen, noch dergestalt sich selbst gleich bleibt, dass er seinen Nebenchristen liebevoll unter die Arme greifen mag, dem Hauswesen vorstehen kann, ja die Befehle geistlicher und weltlicher Oberen auszurichten sich imstande findet, auch der genieße sein bescheiden Teil, und nehme es mit Dank hin“ (HA 10, 416). Dies scheint mir gerade nicht darauf angelegt zu sein, „der Affekt- und Triebbeherrschung bzw. -sublimation um einer höheren Bestimmung willen“50 das Wort zu reden; vielmehr werden die Bauformen einer im Sinne vormoderner Ordnungsmodelle vorgestellten Haus- und Gesellschaftsordnung angesprochen und die von diesen ausgehenden bzw. getragenen Handlungserwartungen und normativen Vorgaben, die sich im aristotelischen Sinne auf eine „gute Ordnung“ beziehen lassen. In entsprechender Absicht schließt die ebenfalls von Goethe in Ausschnitten wiedergegebene Predigt51 auf der Außenkanzel der Kapelle diese allge-
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Bereits zu Anfang, beim Eintritt in den Rheingau, steht der Heilige Rochus neben anderen Heiligen auf dem Brett des ihnen begegnenden Gipsgießers: „der heilige Rochus in schwarzer Pilgerkleidung stand voran, neben ihm sein brottragendes Hündlein“ (HA 10, 401). In der Fassung der Vita des Venezianers Franz Diedo (1478); vgl. HA 10, 734. Breuer: Goethes Reisebild, S. 84. Auf die kompositorische Dreiteilung der Predigt, die zum einen von einer Schilderung des Festgeländes, zum anderen von einer Schilderung der Zuhörer unterbrochen wird und die in merkwürdiger Umkehrung der Perspektive von der Beschreibung der Bedeutung des Heiligen für Gott über die nähere Erörterung der heiligenden Lebensumstände des Heiligen Rochus zu einer Mahnung und Belehrung für alle herabsteigt und darin vielleicht auch ein Beispiel für eine gewünschte deduktive und volksnahe Lehre abgibt, kann ich hier aus Platzgründen nicht weiter eingehen.
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meineren Überlegungen mit dem Leben des Heiligen Rochus zusammen und wendet diese Betrachtungen52 damit vom Himmel (I) über das Leben des Heiligen (II) ins Lebenspraktische und in den Nahbereich der Zuhörer in ihrer eigenen Lebenswelt (III). Hilfsbereite Tätigkeiten für die „Unsrigen, näher und entfernteren Verwandten und Bekannten, ja Fremde(n) und Widersacher(n)“ (HA 10, 427) bilden in dieser Ermahnung die eine, die unbedingte Ergebenheit in den Willen Gottes (ebd., 426) die andere Achse für ein Koordinatenkreuz, das der Erforschung der eigenen Seele und der von ihr ausgehenden Handlungsimpulse dienen kann (vgl. ebd., 427). Zugleich stellen sie die Leitlinien des Gesellschafts- und Handlungsmodells dar, das Goethe als geistlichen Gehalt der Teilnahme am Fest des Heiligen Rochus hervorheben und gegen den Schatten der Revolution bestimmen möchte.
VIII. Übersieht man die kurze Erzählung, auf deren sprachliche Bedeutung Emil Staiger und auf deren kompositorische Dichte Josef Kunz53 schon vor langer Zeit hingewiesen haben, unter den hier vorgezeichneten Koordinaten im Ganzen, so werden zumindest drei weitere Bereiche erkennbar, in denen sich Goethes Text neben dem Traditionszusammenhang der Volksreligiosität und der in ihren Formen zum Ausdruck kommenden Reziprozitäts- und Kooperationsmodelle mit der Suche und Gestaltung von Widerlagern im Angesicht der in der Revolution von 1789 zum Ausdruck gekommenen Unruhe und Ungeklärtheit der Verhältnisse beschäftigt, die hier abschließend noch kurz skizziert werden sollen. Es handelt sich dabei zunächst, bei Goethe vertraut, um die Erkundung der Landschaft, im Besonderen um die Beschäftigung mit geologischen Erscheinungen, um die Beachtung des Klimas und das Sammeln kulturgeographischer Eindrücke. Wie eifrig sich Goethe hier als Forscher – mit unstillbarer Neugier und der Gier des Sammlers – darstellt: „Der Naturforscher wird vom heiligen Pfade zurückgehalten. Glücklicherweise ist ein Hammer zur Hand“ (HA 10, 409), „Neue Kenntnisse taten sich auf, und man fasste Hoffnung, schönes kristallisiertes Amalgam […] zu erhalten“ (HA 10, 415), stellt nicht nur ein Korrelat zu den sozialen und alltagsethnologischen Erkundungen dar, mit denen Goethe die Volkskultur – den dritten zu erwähnenden Sinnbereich, der sich auch als Widerlager und Reservoir zur Deutung der erfahrenen historischen Unruhe und Umbruchprozesse nutzen lässt – zumal in ihrer Funktion
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Die Predigt ist dem gemäß auch in die entsprechenden drei Abschnitte gegliedert. Kunz, Josef: Goethes Schrift über das Rochusfest in Bingen [im Folgenden zitiert als „Goethes Schrift“]. In: Pädagogische Rundschau 16 (1962), S. 324–335.
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als Speicher von Wahrnehmungsmustern und als kulturelles Gedächtnis (Sammlung der Sprichwörter; HA 10, 421f.) wahrnimmt. Vielmehr handelt es sich bei beiden Tätigkeiten der Betrachtung und der Sammlung von Natur- und Kultur-Objekten auch um zwei Dimensionen einer Suche nach Zeichen (und Wundern), in denen es für Goethe darum geht, Ordnungsmodelle und Ablaufstrukturen zu erkunden, zu rekonstruieren (und ggf. zu konstruieren), in denen sich das scheinbar Kontingente und Bedrohliche als sinnhaft, gegründet und korrespondenzfähig erweisen lässt. „Kunst, Naturbeobachtung und die Kraft menschlicher Sittlichkeit sind nur die aufeinander bezogenen Seiten eines Befriedungsprogramms, das dem Ungebändigten und Gesetzlosen entgegenwirkt.“54 Es werden freilich, so Karl Richter an dieser Stelle weiter, „seit der Französischen Revolution die Wege dieser Vermittlung komplizierter, weil auch die gesehenen Widerstände größer sind, die der Befriedung entgegenstehen“ (ebd.). Dem entspricht, dass sich Goethe auch im Rahmen des vorliegenden Textes mit großer Aufmerksamkeit mit den Sinn vermittelnden Möglichkeiten eben jener geschilderten volksreligiösen Aussagen beschäftigt und diese in einem durchaus affirmativen Sinne wiedergibt, ja durch deren Wiedergabe im poetischen Text speichert, ins kulturelle Gedächtnis aufnimmt und damit lebenspraktisch gewendet zur weiteren Verwendung aufschließt. Zugleich aber – ein viertes Widerlager und eben auch ein im Text angebotenes Sinn- und Gestaltungsreservoir –, tut er dies in Verbindung mit der Ausarbeitung reflexiver Darstellungsformen. Gemeint sind hier zum einen die Wiedergabe von Gesprächen und Wechselreden, in denen unterschiedliche Ansichten zu Wort kommen (zumal das Gespräch mit einem Skeptiker, der „obgleich Katholik, gewissermaßen [als…] Widersacher des Heiligen“ auftritt; HA 10, 407), und die damit ebenso sehr zur Relativierung des Geschilderten wie zu dessen Reflexion und zu weiterem Nachdenken beitragen. Zum anderen gehören humoristische Perspektiven55 und Brechungen in diesen Rahmen, in denen das Geschehen und die damit verbundenen Sinndeutungen im Text angeboten, überzeichnet und so auch in ihrer Funktion als leiborientierte Lockerungsübungen des Denkens und lebenspraktische Erdung der Reflexion nachgezeichnet werden können (vgl. Fastenpredigt, HA 10, 415f.; die Freude an der Wiederkehr der braunen Krüglein, HA 10, 417, die Festgesellschaft „mit fetter, dampfender Speise nebst frischem, trefflichen Brot reichlich versehen […]; die „junge tätige Wirtin“; HA 10, S. 414).
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Richter, Karl: Das „Regellose“ und das „Gesetz“. Die Auseinandersetzung des Naturwissenschaftlers Goethe mit der Französischen Revolution. In: Goethe Jahrbuch 107 (1990), S. 127–143, hier: S. 143. Breuer weist zu Recht auch auf ironische Formulierungen und Perspektivierungen hin; vgl. Breuer: Goethes Reisebild, S. 88; vgl. auch Kunz: Goethes Schrift, S. 334.
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Schließlich kommt eine fünfte Möglichkeit des Umgangs mit den Unübersichtlichkeiten der Zeit nach 1789 in der Gestaltung von Affirmation und Reflexion im Rahmen der Anlage des Textes selbst zum Vorschein, in diesem Fall in der Gestaltung einer Erzählung aus durchaus heterogenen Texten, mit unterschiedlichen Beobachtungen und Erfahrungen und in mehrwertigen Kontexten (Autobiographie, Reiseschilderung, soziale Erkundung, Kulturstudie, Legende, humoristischer Skizze usw.). Damit ergibt sich eine weitere Chance zur Thematisierung und Reflexion der mehrdeutigen, in verschiedener Weise ungesicherten Erfahrungen des Lebens im Schatten von Traditionen und unter den Koordinaten der Moderne, ohne dass sich ein Abschluss der Erkundung – und damit auch seitens des Erzählers eine Still-Legung der Unruhe – überhaupt einstellen will: „In dem herrlich gelegenen Bingen angelangt“, so heißt es nach Abschluss des Festes und nach dem Abstieg vom Berg, „fanden wir doch daselbst keine Ruhe“ (HA 10, 428).
IX. Natur und Landschaft, namentlich die Geologie des Rheintals, aber auch die soziale Funktion des Weins und die Anlage der Kapelle, die Vielfalt und Buntheit der Volkskultur, im Besonderen in ihrer Funktion als kulturelles Gedächtnis, schließlich die religiöser Leitung und Obrigkeit zu ihrer Orientierung bedürfende, zugleich aber auch aus sich selbst heraus sich in den Vorstellungswelten der Volksfrömmigkeit konstituierende Gemeinde und die damit verbundenen Vorstellungen und Formen sozialer Kooperation nachbarschaftlicher und auf Nächstenliebe begründeter Tätigkeiten, wie sie im Rahmen der Legende, des Beispiels und der Predigt zur Sprache und zur Anschauung kommen, werden in dieser Weise ebenso als Sinn-Vorräte gegen die Unruhe der Zeit, die, wie gezeigt, auch eine Unruhe in den beobachtenden Individuen selber ist, aufgeboten. Zugleich lassen sich in der Kasuistik des Zweiflers, in den Kreuz- und Querzügen des Gesprächs und erst Recht in der Konstitution des Textes selbst Gegenwelten zu den beunruhigenden Erfahrungen der Moderne (im Muster und in den Rahmensetzungen der Moderne56)
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Heinz Schlaffer hat im Blick auf das Unbehagen Goethes an der Moderne von „Goethes Versuch“ gesprochen, „die Neuzeit zu hintergehen“ (vgl. Schlaffer, Heinz: Goethes Versuch, die Neuzeit zu hintergehen [im Folgenden zitiert als „Goethes Versuch“]. In: Paolo Chiarini (Hg.): Bausteine zu einem neuen Goethe. Frankfurt/M. 1987, S. 9–21); Hans-Georg Werner hat dies aufgenommen und zugleich darauf hingewiesen, dass es sich bei Goethes Beobachtungen der Moderne um die Notate eines „hellwachen Beobachters“ gehandelt habe (vgl. Werner, Hans-Georg: Revolution in Frankreich – Goethe und die Literatur in Deutschland. In: Goethe Jahrbuch 107 (1990), S. 11–26, hier: S. 21); insoweit lässt sich dieser Sachverhalt vielleicht in
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auffinden, und auf der Textebene lassen sich Techniken der Gestaltung und der Reflexion eines gelungenen, Natur und Kultur zugleich verbindenden gesellschaftlichen Ereignisses zeigen.57 In dieser Weise können diese Gegenwelten dann auch als Reservoire im Hinblick auf die Versorgung und ggf. die Heilung der Wunden von 1789 verstanden und genutzt werden. Am Ende des Tages, nach langer Trockenheit fällt endlich himmlischer Regen: „Und so hatte der heilige Rochus“, und diese wohltätige Wirkung mag sich dann nicht allein auf den Regen, sondern auch auf die Wirkungsmöglichkeiten der Erzählung erstrecken, „wahrscheinlich auf andere Nothelfer wirkend, seinen Segen auch außer seiner eigentlichen Obliegenheit reichlich erwiesen“ (HA 10, 428).
X. Galt Schlaffers Augenmerk an der eingangs zitierten Stelle insbesondere dem Spannungs- und Mischungsverhältnis protestantischer, pietistischer und katholischer, z.T. auch antiker Erfahrungs- und Gestaltungselemente im Wechselbezug zu den kritischen und auf Selbstbegründung setzenden Impulsen des Aufklärungsdenkens in europäischer Perspektive und unter den spezifischen Verhältnissen der deutschsprachigen Länder des „Alten Reiches“, so hat Peter Ganz in seiner Studie zum Sankt-Rochus-Fest die Cross-Over-Situation Goethes zur Zeit des Besuchs in Bingen und in der anschließenden Zeit, in der er nicht nur an seiner Autobiographie, sondern eben auch am West-östlichen Divan arbeitete, geschildert: „“the poet was a protestant, …he was working on the ‚West-Östliche Divan‘, and was again looking to his ‚Old Lord and Master‘ Benedict Spinoza, whose ‚Ethica‘ he used to carry in his pocket“.58 „Auch das katholische Zeremoniell”, so Schlaffer in seiner kleinen, aber ebenfalls viel beachteten Studie Goethes Versuch, die Neuzeit zu hintergehen, „ist dem heidnischen Protestanten recht, wenn es nur ein himmlisches Zeichen zu geben vermag. […] Der katholische Glaube gilt ihm als Statthalter archaischer
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der Formel von einer Suche Goethes nach Gegenwelten zur Moderne in den Anschauungsformen und unter den Rahmenbedingungen der Moderne fassen. Spielt von Anfang an die Trockenheit eine wichtige Rolle (vgl. HA 10, 402), so kann der folgende Tag, der Festtag des Heiligen Rochus, mit einem „erquickenden Regen“ enden, der lange genug anhielt, „dass wir auf der Rückreise die ganze Landesstrecke erfrischt fanden“ (HA 10, 428). Dass dies auch ein bisschen spöttische Distanz enthalten kann, sei mit Breuer (Breuer: Goethes Reisebild, S. 89) zugegeben. Ganz: Sankt-Rochus-Fest, S. 110; vgl. auch Breuer: Goethes Reisebild, S. 90f.
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Vorstellungen und Riten in der Neuzeit. Seine heiligen Orte und Feste bieten eine institutionell garantierte Semantik von Raum und Zeit […]“.59 Es kommt aber für die deutsche Literaturgeschichte und die in ihr sich zeitweise spiegelnden Ansprüche nationaler bzw. „ethnischer Gemeinschaftsbildung“ (Max Weber) noch ein bisschen unbequemer; denn nicht nur ist es ein heidnisch fundierter, protestantisch semantisierter und jüdisch reflektierter Glaube, der sich in jener Predigt „von der Außenkanzel“ wieder findet, die der Erzähler Goethe, zumindest dem Sinn nach, glaubt, korrekt mitteilen zu können60: „Wir glaubten seinen Sinn [den des Predigers – W.N.] gefasst zu haben und wiederholten die Rede manchmal mit Freuden. Doch ist es möglich, dass wir bei solchen Überlieferungen, von dem Urtext abwichen und von dem unsrigen mit einwebten“ (MA 11.2, 111). Denn Sätze, die Goethe im Rückblick auf seine Arbeit am West-Östlichen Divan und damit auch auf die Zeit, in der er sich auch mit dem Sankt-RochusFest beschäftigt, mit Blick auf den Islam schreibt: „Unbedingtes Ergeben in den unergründlichen Willen Gottes, heiterer Ueberblick des beweglichen, immer kreis- und spiralartig wiederkehrenden Erde-Treibens, Liebe, Neigung zwischen zwey Welten schwebend, alles Reale geläutert, sich symbolisch auflösend […]“61 lassen sich nicht nur als Wiederaufnahme von Textpassagen der Predigt am Sankt-Rochus-Tag vom 16. August 1814 lesen, sondern beschreiben auch eine gemeinsame Grundlage der ansonsten in ihrer Vielfalt und in ihren Konfliktlagen durchaus „bedenklich“62 erscheinenden Religionen und Konfessionen: Der hier geschilderte Katholizismus – in seinen genannten Brechungen – ist auch ein Islam, dieser als Bezugspunkt wie als Projektionsfläche bietet wie auch andere religiöse Orientierungen im Sinne Goethes eine universal vertretbare Lebenslehre, zumal angesichts eines Lebens, das zu kurz und zu unüberschaubar ist, um von sich aus zu einem befriedigenden Schluss zu kommen oder gar eine Revolution auf eigene Faust zu legitimieren: „Die Spanne der Zeit ist zu kurz für grenzenlose Vergeltung“ (MA 11.2, 114), so sagt es der Prediger am Rochus-Tag.
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Schlaffer: Goethes Versuch, S. 13. Goethe gibt hier eine kleine Geschichte der religiösen Überlieferungen und auch eine Erklärung (ein Exempel) dafür, warum es historisch zu unterschiedlichen Bekenntnissen und Traditionen kommen konnte. Brief an Zelter vom 11. 5. 1820; vgl. Breuer: Goethes Reisebild, S. 90. Vgl. auch Kunz: Goethes Schrift, S. 330; Ganz schreibt: „And indeed we can easily identify Goethean phrases. It is the ‚Islam’ of the ‚West-Östliche Divan’ which is being celebrated and enjoined as the first and foremost quality of a christian Saint […]” (Ganz: Sankt-Rochus-Fest, S. 118). Das Wort „bedenklich“, eine zentrale Bestimmung der Wahrnehmung und auch der Selbstwahrnehmung in Das Römische Karneval, findet im selben Sinne auch im Sankt-Rochus-Fest Verwendung (vgl. MA 11.2, 96).
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Goethe selbst hat an diesem Tag im Umgang mit dem Heiligen – und nicht nur hier63 – eine lebensbejahende und in gewissem Sinn gestaltende Kraft volkskulturell, im Anschluss an aktuelles Vokabular ließe sich auch sagen, lebensweltlich getragener religiöser Sinnorientierungen erfahren, auf die in jüngster Zeit – nach dem 11. September 2001 – bspw. Jürgen Habermas zielt, wenn er davon spricht, dass es aktuell „um die selbstreflexive Überwindung eines säkularistisch verhärteten und exklusiven Selbstverständnisses der Moderne“64 gehe; mit dem Unterschied freilich, dass Goethe statt deduktiver Postulate und einander wechselseitig einschränkender Modellbildungen65 lebensvolle Bilder und exemplarische Geschichten aufbietet, die zumindest probeweise – ein Gespräch lang beim Weinjahrgang 1811 im Gasthaus zur Rose in Eltville oder sonst wo im Rheingau – auch für sich selbst stehen können.
XI. Dass diese Überlegungen zur Begrenztheit säkularer Perspektiven und zu einer auch ästhetisch produktiven Überschreitung innerweltlicher Rationalität zugunsten einer ebenso weltfrommen wie transzendental ausgerichteten Haltung des Religiösen, die sich freilich keineswegs als spezifisch christliche Tradition, sondern ebenso, wenn nicht sogar mehr als islamische Frömmigkeit bestimmen lässt, zu den zentralen Vorstellungen in Goethes Alterswerk gehören, ist, beginnend mit Herman Meyers Studie zum „Morgenländischen“ in Goethes Novelle66 über Hendrik Birus’ Einführung in Goethes Vergleichungsverfahren67 und Ortrud Gutjahrs Sammelband zur Verwebung der Koordinaten68 inzwischen hinreichend bekannt. Vor diesem ebenso durch die Philologie wie durch die aktuelle Zeitgeschichte konturierten Hintergrund gewinnen dann aber Goethes eigene Aussagen aus einem Brief an Zelter vom 11.5. 1820, der Formulierungen aus dem
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Vgl. Breuer: Goethes Reisebild, S. 79ff. Zit. nach Joas, Hans: Religion in der Moderne. Zur Auseinandersetzung von Jürgen Habermas mit naturalistischen Weltbildern der Wissenschaft und religiösen Orthodoxien. In: Literaturkritik Nr. 12 (2005), S. 2. Vgl. Joas, Hans: Braucht der Mensch Religion? Über Erfahrungen der Selbsttranszendenz. Freiburg 2004, S. 32ff. Meyer, Herman: Natürlicher Enthusiasmus. Das Morgenländische in Goethes Novelle. Heidelberg 1973. Vgl. Birus, Hendrik: Vergleichung. Goethes Einführung in die Schreibweise Jean Pauls. Stuttgart 1986; ders.: Begegnungsformen des Westlichen und Östlichen in Goethes „Westöstlicher Divan“. In: Goethe Jahrbuch 114 (1997), S. 113–131. Ortrud Gutjahr (Hg.): Westöstlicher und nordsüdlicher Divan. Goethe in interkultureller Perspektive. Paderborn 2000.
Der Heilige Rochus
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Sankt-Rochus-Fest aufnimmt, noch einmal besonderes Gewicht: „Diese Mohamedanische Religion, Mythologie, Sitte geben Raum einer Poesie, wie sie meinen Jahren ziemt. Unbedingtes Ergeben in den unergründlichen Willen Gottes, heiterer Ueberblick des beweglichen, immer kreis- und spiralartig wiederkehrenden Erde-Treibens, Liebe, Neigung zwischen zwey Welten schwebend, alles Reale geläutert, sich symbolisch auflösend“.69 Angesichts aktuell beobachtbarer Verhärtungen lokaler, regionaler oder nationaler Identitätskonstruktionen70 und deren weltweiter Konjunktur ist sicher schon bemerkenswert, dass sich in Goethes Wahrnehmung muslimische Frömmigkeit und christlich katholische Volkskultur ineinander spiegeln lassen. Noch bemerkenswerter ist freilich, dass es sich hier nicht um eine vorschnelle oder dem Älterwerden geschuldete Preisgabe der säkularen Perspektive, menschlich begrenzter Empfindungen und Vernünftigkeit, an eine übermenschliche Glaubens- oder Heilsgewissheit handelt; Goethe spricht vielmehr im Blick auf das Religiöse ebenso genau, ja analytisch zugespitzt, wie heiter von „einer Poesie, wie sie meinen Jahren ziemt“, einer durch die Perspektive der jeweils einzelnen Biographie sowohl gebrochenen als auch befestigten Möglichkeit, den Reiz und den Ertrag, sicher auch die Grenzen und das Übermaß im Umgang mit dem Religiösen zu reflektieren, seine ethische und ästhetische Dimension (und damit auch seine Begrenztheit) zu benennen, zu nutzen, ja lebensweltlich Sinn ermöglichend aufzuschließen.
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Hier zitiert nach Breuer: Goethes Reisebild, S. 90. Vgl. Sennett, Richard: Der falsche Trost der kleinen Welten. In: Frankfurter Rundschau vom 28. März 2007, S. 7.