Den Anfang horen: Leserorientierte Evangelienexegese am Beispiel von Matthaus 1-2 3525538642, 9783525538647 [PDF]


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Cover......Page 1
Titel......Page 3
Vorwort......Page 5
Inhalt......Page 7
1.1 Von Blindgeborenen und Elefanten......Page 11
1.2 Der lange Weg vom Text zum Leser......Page 18
1.3 Grundanliegen der Rezeptionskritik......Page 23
1.4 Zur vorliegenden Arbeit......Page 25
2. Forschungsgeschichtliche Stationen (27-131)......Page 27
2.1 Erste Stimmen......Page 29
2.2 Michael Riffaterre (*1924): Der Archileser......Page 32
2.3 Gerald Prince: Der Erzähladressat oder das narrative Publikum......Page 36
2.4 Peter J. Rabinowitz: Das vierfach geteilte Publikum......Page 38
2.5 Stanley Fish (*1938), Phase I (bis 1976): Der informierte Leser......Page 41
2.6 Umberto Eco (*1932): Der Modell-Leser......Page 46
2.7 Hans Robert Jauß (*1921): Die ästhetische Erfahrung im Rahmen der Rezeptionsgeschichte......Page 51
2.8 Wolfgang Iser (*1926): Die Interaktion zwischen Text und Leser......Page 65
2.9 Exkurs 1: Der „implizite Autor“......Page 80
2.10 Jonathan Culler (*1944): Der kompetente Leser......Page 97
2.11 Stanley Fish, Phase II (ab 1976): Die Auslegungsgemeinschaft......Page 103
2.12 Exkurs 2: Die Wirkung von Texten in der antiken Literaturtheorie......Page 120
3. Überlegungen zu einem operativen Modell für die rezeptionskritische Evangelienexegese (132-196)......Page 132
3.1 Der Ort des lesenden Subjekts......Page 135
3.2 Die Interaktion zwischen Text und Leser/in......Page 147
3.3 Die Kompetenzen der Leser/innen......Page 151
3.4 Ganzheitliche Reaktion der Leser/innen......Page 163
3.5 Vom privaten Genuß zur Hörgemeinschaft......Page 166
3.6 Exkurs 3: Das Problem der Intention des Autors......Page 170
3.7 Zusammenfassung und praktisch-methodische Überlegungen......Page 187
1.1 Analyse im Vorfeld der Lektüre......Page 196
1.2 Analyse der eigenen Reaktion......Page 198
2.1 Die literarische Funktion narrativer Anfänge......Page 203
2.2.1 Die Überschrift (1,1)......Page 206
2.2.2 Die Genealogie (1,2-17)......Page 217
2.2.3 Exkurs 4: Die Erwähnung der Frauen aus rezeptionskritischer Sicht......Page 243
2.2.4 Die Geburtsgeschichte (1,18-25)......Page 250
2.3 Von Betlehem bis Nazaret (Matthäus 2)......Page 271
2.4 Zusammenfassende Überlegungen zur hypothetischen Erst-Rezeption......Page 321
2.5 Exkurs 5: Form- und gattungsgeschichtliche Analyse der Geburtsgeschichte......Page 330
3. Hermeneutische Abschlußreflexion (346-365)......Page 346
3.1 Exkurs 6: Theoretische Überlegungen zum Problem der Wirkungsgeschichte......Page 347
3.2 Jesus der Jude......Page 351
3.3 Gottes Vorsehung als Verheißung seines Mit-Seins......Page 356
1. Möglichkeiten und Aporien rezeptionskritischer Evangelienexegese......Page 366
2. Die hermeneutische Funktion und Bedeutung der Erst-Rezeption......Page 368
3. Die Grenzen adäquaten Verstehens......Page 375
1. Abkürzungen......Page 393
2. Quellen......Page 394
3. Matthäus-Kommentare......Page 398
4. Weitere Literatur......Page 400
1. Stellenregister......Page 443
2. Griechische Begriffe......Page 444
3. Autoren und Personen......Page 445
4. Themen......Page 446
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Zitiervorschau

Für José Manuel González Moreno und die spanischen evangelischen Gemeinden in Deutschland

MOISÉS MAYORDOMO MARÍN

Den Anfang hören: Leserorientierte Evangelienexegese am Beispiel von Matthäus 1–2

VANDENHOECK & RUPRECHT IN GÖTTINGEN

Forschungen zur Religion und Literatur des Alten und Neuen Testaments Herausgegeben von Wolfgang Schrage und Rudolf Smend 180. Heft der ganzen Reihe

Die Deutsche Bibliothek – CIP-Einheitsaufnahme Mayordomo-Marín, Moisés: Den Anfang hören: leserorientierte Evangelienexegese am Beispiel von Matthäus 1–2 / Moisés Mayordomo Marín. – Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1998 (Forschungen zur Religion und Literatur des Alten und Neuen Testaments; H. 180) Zugl.: Bern, Univ., Diss., 1997 ISBN 3-525-53864-2 Publiziert mit Unterstützung des Schweizerischen Nationalfonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung © 1998 Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen. Printed in Germany. – Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwendung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Druck und Bindung: Hubert & Co., Göttingen. Elektronische PDF-Version – 2008; seitenidentisch mit Printversion, aber nicht absolut zeilenidentisch; kleinere Druckfehler wurden korrigiert mit freundlicher Genehmigung vom Verlag Vandenhoeck & Ruprecht

Vorwort In der vorliegenden Arbeit versuche ich, leserorientierte Impulse der neueren Literaturwissenschaft für die Exegese der Evangelien fruchtbar zu machen. Daß ich mich bei einem solchen interdisziplinären Spagat auf das Glatteis des Dilettantismus begebe, ist ein Risiko, das ich aus Liebe zur Sache gerne auf mich zu nehmen bereit bin. Aber nicht nur die Komplexität sprachlicher Äußerungen, wie sie uns in den biblischen Texten entgegentritt, sondern auch die Herausforderungen, vor denen wir in Kirche und Gesellschaft stehen, machen einen multidimensionalen Zugang zur Bibel notwendig. Die Arbeit wurde im März 1997 abgeschlossen und im Dezember des gleichen Jahres von der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Universität Bern als Dissertation angenommen. Für den Druck habe ich noch neu erschienene Literatur berücksichtigt und insbesondere die hermeneutischen Überlegungen am Ende der Arbeit stark ausgebaut. Während der letzten fünf Jahre haben eine Reihe von Menschen das Entstehen dieser Arbeit in dankenswerter Weise gefördert: An erster Stelle möchte ich meinem Doktorvater Prof. Ulrich Luz ein ganz herzliches Dankeschön aussprechen für umfassende Unterstützung, dialogische Offenheit, scharfsinnige Kritik, menschliche Begleitung und für die vielen Freiräume zur eigenen Forschung, die er mir in der bisherigen Zeit als sein Assistent gewährt hat. Den beiden Berner Professoren Samuel Vollenweider (Neues Testament) und Peter Rusterholz (Germanistik) danke ich für Zweit- und Drittgutachten und für ihren Beitrag zum Gelingen einer für mich sehr anregenden Doktorats-Disputation. Weiterhin möchte ich meine Lehrer nicht vergessen, die mich in das Studium des Matthäusevangeliums sowie in Fragen der Hermeneutik ein- und weitergeführt haben: Dr. Donald Verseput (USA), Prof. Graham N. Stanton (London, jetzt Cambridge) und Prof. Francis Watson (London). Für eine Reihe weiterführender Gespräche danke ich den ehemaligen Studienkolleg/innen Juan Luis Garcés, Michael Hummel, Margit Siegel und Stephan Ellinger. Die Professoren Ernst Axel Knauf und Christoph Barben-Müller (beide Bern) haben die Arbeit mit einem kritischen Auge durchgelesen und wertvolle Anregungen zur Verbesserung gemacht. Der mühevollen Arbeit des Korrekturlesens haben sich Stephan Ellinger und Olaf Waßmuth unterzogen. Beiden möchte ich ganz herzlich dafür danken. Frau Renate Hartog und Dr. Reinhilde Ruprecht sind mir mit vielen geduldigen Hinweisen bei der Herstellung der Druckvorlage zur Seite gestanden. Für die Aufnahme der Dissertation in die FRLANT-Reihe möchte ich den beiden Herausgebern,

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Vorwort

Prof. Wolfgang Schrage und Prof. Rudolf Smend, aufrichtig danken. Schließlich gilt mein Dank der Lang-Stiftung, der Emil Brunner-Stiftung und dem Schweizerischen Nationalfonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung für die großzügige Gewährung von Druckkostenbeiträgen. Weit jenseits aller Dankesformeln möchte ich meine Eltern, Esperanza Marín und Teodoro Mayordomo, erwähnen, die mich früh an das Lesen der Bibel heranführten. Meiner Frau Helga für das geduldige Ertragen meiner geistigen und körperlichen Abwesenheiten zu danken, erscheint im Rahmen eines Vorworts – wo sich ein solcher Dank zu einem formspezifischen Topos verfestigt hat – beinahe banal. Da sich aber Formkriterien und ehrlicher Dank nicht widersprechen müssen, tue ich es trotzdem: ¡Muchísimas gracias! Unser Sohn, Esteban, erinnerte mich durch seinen unbändigen Spieltrieb immer wieder daran, daß es Dinge im Leben gibt, die wichtiger sind als eine Dissertation. Er zwang mich damit oft zu dem, was ich am nötigsten hatte: Kreativpausen! Durch die Tochter, Milena, die während der Zeit der Dissertation geboren wurde, erlernte ich die rätselhafte Kunst, mit einer Hand zu tippen und mit der anderen ein einjähriges Kind zu beschäftigen. Sie hat die Arbeit in der letzten Phase mit ihrer Lebensfreude begleitet. José Manuel González, Pastor in Duisburg und langjähriger Freund, hat mich bereits vor meinem Studium mit seiner Begeisterung für wissenschaftliche Exegese „angesteckt“ – mit Folgen bis heute! Ihm sei daher die Arbeit gewidmet zusammen mit den spanischen evangelischen Gemeinden in Deutschland, die mir Freiräume zum theologischen Denken jenseits jeglicher Art von Verdacht oder Mißtrauen gewährten. Daß etliche Freunde meine Familie und mich über Jahre mit kleineren und größeren Beträgen unterstützt haben, soll nicht dem Vergessen anheimfallen. Ihnen allen gilt mein tief empfundener Dank. Bern, Himmelfahrt 1998

Moisés Mayordomo Marín

Inhalt I.

Literarische Rezeptionskritik und Evangelienexegese ........................11 1. Hinführung zum Thema.................................................................11 1.1 Von Blindgeborenen und Elefanten........................................11 1.2 Der lange Weg vom Text zum Leser ......................................18 1.3 Grundanliegen der Rezeptionskritik .......................................23 1.4 Zur vorliegenden Arbeit .........................................................25 2. Forschungsgeschichtliche Stationen...............................................27 2.1 Erste Stimmen........................................................................29 2.2 Michael Riffaterre (*1924): Der Archileser ............................32 2.3 Gerald Prince: Der Erzähladressat oder das narrative Publikum...........................................................36 2.4 Peter J. Rabinowitz: Das vierfach geteilte Publikum...............38 2.5 Stanley Fish (*1938), Phase I (bis 1976): Der informierte Leser .............................................................41 2.6 Umberto Eco (*1932): Der Modell-Leser ...............................46 2.7 Hans Robert Jauß (*1921): Die ästhetische Erfahrung im Rahmen der Rezeptionsgeschichte.....................................51 2.7.1 Literaturgeschichte als Provokation.............................52 2.7.2 Die Mängel der Provokation........................................54 2.7.3 Die ästhetische Erfahrung: Poiesis, Aisthesis und Katharsis ..............................................................57 2.7.4 Ein Sonderfall der Katharsis: Die Interaktion zwischen Held und Leser.............................................58 2.7.5 Ästhetischer Genuß und biblische Erzählliteratur.........60 2.7.6 Der Horizontbegriff.....................................................62 2.8 Wolfgang Iser (*1926): Die Interaktion zwischen Text und Leser ......................................................................................65 2.8.1 Der „implizite Leser“ als Ausweg aus den Aporien klassischer Interpretationsnormen................................66 2.8.2 Von Repertoire und Strategien: Der Text zwischen Welt und Leser ............................................................68 2.8.3 Von wandernden Blickpunkten, Kohärenzbildung und passiven Synthesen: Eine Phänomenologie des Lesens 73 2.8.4 Von Leerstellen und Negationspotentialen: Der Raum zwischen Text und Leser.............................75 2.8.5 Versuch einer Würdigung............................................78

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Inhalt

2.9 Exkurs 1: Der „implizite Autor“ ............................................ 80 2.9.1 Die Vorläufer des „impliziten Autors“ ........................ 80 2.9.2 Wayne C. Booth und die Geburt des „impliziten Autors“..................................................... 81 2.9.3 Das Fortleben des „impliziten Autors“ in der aktuellen Erzähltheorie ............................................... 83 2.10 Jonathan Culler (*1944): Der kompetente Leser .................... 97 2.10.1 Von der Erklärung von Texten zur Erklärung literarischen Verstehens .............................................. 97 2.10.2 Literarische Kompetenz: Auf der Suche nach dem Ideal-Leser.................................................. 99 2.10.3 Kritische Würdigung Cullers....................................... 100 2.11 Stanley Fish, Phase II (ab 1976): Die Auslegungsgemeinschaft................................................. 103 2.11.1 Die „anti-formalistische Reise“................................... 103 2.11.2 „Interpretive Communities“: Von Konventionen, Situationen, Institutionen, Glaubensüberzeugungen, Macht und Rhetorik .................................................... 107 2.11.3 Warum man Stanley FISH nicht kritisieren kann .......... 113 2.12 Exkurs 2: Die Wirkung von Texten in der antiken Literaturtheorie................................................ 120 2.12.1 Poetik ......................................................................... 121 2.12.2 Rhetorik...................................................................... 125 2.12.3 Geschichtsschreibung ................................................. 128 2.12.4 Biblische Literatur ...................................................... 129 3. Überlegungen zu einem operativen Modell für die rezeptionskritische Evangelienexegese.......................................... 132 3.1 Der Ort des lesenden Subjekts ............................................... 135 3.1.1 Vor dem Text (diachron): Die modernen, empirisch greifbaren Leser/innen ................................................ 136 3.1.2 Vor dem Text (synchron): Die zeitgenössischen, intendierten oder historischen Leser/innen .................. 138 3.1.3 Der encodierte oder implizite Leser ............................ 142 3.1.4 Schlußfolgerung.......................................................... 143 3.1.5 Ein offenes Problem: Das Geschlecht des „Lesers“ ..... 144 3.2 Die Interaktion zwischen Text und Leser/in ........................... 147 3.3 Die Kompetenzen der Leser/innen ......................................... 151 3.3.1 Der Wissensstand der Leser/innen............................... 151 3.3.2 Das Verhältnis von Erstlektüre zu jeder weiteren Lektüre............................................ 153 3.3.3 Das Problem der Intertextualität.................................. 156

Inhalt

3.4 3.5 3.6

3.7

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3.3.4 Ein offenes Problem: Wissenschaftliche und „naive“ Lektüren .........................................................162 Ganzheitliche Reaktion der Leser/innen .................................163 Vom privaten Genuß zur Hörgemeinschaft.............................166 Exkurs 3: Das Problem der Intention des Autors.....................170 3.6.1 Das traditionelle Interesse der Exegese am Autor ........170 3.6.2 Die literaturwissenschaftliche Debatte um die Intention des Autors ....................................................175 3.6.3 Grenzen und Möglichkeiten autorialer Exegese ...........182 Zusammenfassung und praktisch-methodische Überlegungen .....................................187 3.7.1 Zusammenfassung.......................................................187 3.7.2 Praktisch-methodische Überlegungen..........................188

II. Rezeptionskritische Auslegung von Matthäus 1-2 ..............................196 1. Der Sinnhorizont des Textes im Spiegel der eigenen Lektüre.........196 1.1 Analyse im Vorfeld der Lektüre .............................................196 1.2 Analyse der eigenen Reaktion ................................................198 2. Der Sinnhorizont des Textes im Spiegel der hypothetischen Erst-Rezeption.................................................203 2.1 Die literarische Funktion narrativer Anfänge..........................203 2.2 Von Abraham bis Jesus (Matthäus 1) .....................................206 2.2.1 Die Überschrift (1,1) ...................................................206 2.2.2 Die Genealogie (1,2-17) ..............................................217 2.2.3 Exkurs 4: Die Erwähnung der Frauen aus rezeptionskritischer Sicht.............................................243 2.2.4 Die Geburtsgeschichte (1,18-25) .................................250 2.3 Von Betlehem bis Nazaret (Matthäus 2) .................................271 2.3.1 Allgemeine Überlegungen ...........................................271 2.3.2 Lektüre........................................................................276 2.4 Zusammenfassende Überlegungen zur hypothetischen Erst-Rezeption ...............................................321 2.5 Exkurs 5: Form- und gattungsgeschichtliche Analyse der Geburtsgeschichte ............................................................330 2.5.1 Geburts- und Kindheitsgeschichten im Judentum.........332 2.5.2 Ein Motiv-Inventar......................................................333 2.5.3 Die Bedeutung einzelner Motive .................................334 2.5.4 Überlegungen zur Geschichte der Gattung...................335 2.5.5 Überlegungen zur Terminologie ..................................338 2.5.6 Ergebnis ......................................................................341 2.5.7 Tabelle: Geburtsgeschichten großer Gestalten .............342

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Inhalt

3. Hermeneutische Abschlußreflexion............................................... 346 3.1 Exkurs 6: Theoretische Überlegungen zum Problem der Wirkungsgeschichte......................................................... 347 3.2 Jesus der Jude ........................................................................ 351 3.3 Gottes Vorsehung als Verheißung seines Mit-Seins ............... 356 III. Kritische Rückschau und hermeneutischer Ausblick .......................... 366 1. Möglichkeiten und Aporien rezeptionskritischer Evangelienexegese........................................................................ 366 2. Die hermeneutische Funktion und Bedeutung der Erst-Rezeption ........................................................................ 368 3. Die Grenzen adäquaten Verstehens ............................................... 375 3.1 Vorfragen .............................................................................. 376 3.2 Sprachliche Kriterien als Grenzmarkierungen ........................ 377 3.3 Das Problem einer sachgemäßen Exegese.............................. 383 3.4 Die Wahrheitsfrage................................................................ 388 3.5 Zum Abschluß ....................................................................... 392 IV. Literaturverzeichnis........................................................................... 393 1. 2. 3. 4.

Abkürzungen ................................................................................ 393 Quellen ......................................................................................... 394 Matthäus-Kommentare.................................................................. 398 Weitere Literatur........................................................................... 400

V. Register (in Auswahl)........................................................................ 443 1. 2. 3. 4.

Stellenregister ............................................................................... 443 Griechische Begriffe ..................................................................... 444 Autoren und Personen ................................................................... 445 Themen......................................................................................... 446

I. Literarische Rezeptionskritik und Evangelienexegese 1. Hinführung zum Thema „Die Schrift sagt: eines hat Gott geredet, zwei habe ich vernommen, denn die Macht ist bei Gott (Ps 62,12); ein Schriftvers hat verschiedene Deutungen, nicht aber ist eine Deutung aus verschiedenen Schriftversen zu entnehmen… Und wie ein Hammer Felsen zersplittert (Jer 23,29), wie der Stein durch den Hammer in viele Splitter zerteilt wird, ebenso zerfällt ein Schriftvers in viele Deutungen.“ Babylonischer Talmud, Sanhedrin 34a = Goldschmidt VIII, 593 „Denn wie eine Quelle auf kleinem Raum wasserreicher ist und durch mehrere Bäche für größere Flächen die Bewässerung besorgt als jeder einzelne Bach, der auch von dieser Quelle aus sich weit über das Land ergießt, so läßt der Bericht deines Sachverwalters [= Gen 1-2], der so vielen Auslegern nützlich sein sollte, trotz seines geringen Sprachaufwandes ganze Ströme klarer Wahrheit hervorsprudeln; daraus kann dann ein jeder für sich das Wahre, soweit er es in bezug auf diese Inhalte vermag, entnehmen, der eine dies, der andere das.“ Augustin, Confessiones 12,27.37 = Flasch/Mojsisch, 359f

1.1 Von Blindgeborenen und Elefanten In Savatthi lebte einst ein gewisser König. Dieser richtete eines Tages das Wort an einen seiner Leute: „Gehe, und bringe alle Blindgeborenen in Savatthi an einem Ort zusammen.“ „So sei es, Majestät“, antwortete der Mann dem König, und er nahm alle Blindgeborenen, so viel ihrer in Savatthi waren, mit sich und begab sich zum König und sprach zu ihm: „Majestät, alle Blindgeborenen, die es in Savatthi gibt, habe ich versammelt.“ „So zeige denn, befehle ich, den Blindgeborenen einen Elefanten!“ „So sei es, Majestät“, antwortete der Mann dem König, und er zeigte den Blindgeborenen einen Elefanten: „So ist ein Elefant, ihr Blindgeborenen.“ Einigen zeigte er den Kopf des Elefanten, einigen das Ohr, einigen den Zahn, einigen den Rüssel, einigen den Rumpf, einigen den Fuß, einigen das Hinterteil, einigen den Schwanz und einigen das behaarte Schwanzende. Nachdem nun der Mann den Blindgeborenen den Elefanten gezeigt hatte, begab er sich zum König und sprach zu ihm: „Majestät, die Blindgeborenen haben sich einen Elefanten angesehen; verfahret nun, wie Ihr es für gut befindet!“ Da begab sich der König zu den Blindgeborenen und sprach zu ihnen: „Blindgeborene, habt ihr euch den Elefanten angesehen?“ „Ja, Majestät, wir haben uns den

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Literarische Rezeptionskritik und Evangelienexegese

Elefanten angesehen.“ „Sagt, ihr Blindgeborenen, wie ist denn ein Elefant?“ Die unter den Blindgeborenen, die sich den Kopf des Elefanten angesehen hatten, sagten: „Majestät, wie ein Kessel ist ein Elefant.“ Die, die sich das Ohr angesehen hatten, sagten: „Wie eine Worfel.“ Die, die sich den Zahn angesehen hatten, sagten: „Wie eine Pflugschar.“ Die, die sich den Rüssel angesehen hatten, sagten: „Wie die Stange am Pfluge.“ Die, die sich den Rumpf angesehen hatten, sagten: „Wie ein Kornspeicher.“ Die, die sich den Fuß angesehen hatten, sagten: „Wie ein Pfeiler.“ Die, die sich das Hinterteil angesehen hatten, sagten: „Wie ein Mörser.“ Die, die sich den Schwanz angesehen hatten, sagten: „Wie eine Keule.“ Die, die sich das behaarte Schwanzende angesehen hatten, sagten: „Majestät, wie ein Besen ist ein Elefant.“ Und unter dem Geschrei „So ist ein Elefant, ein Elefant ist nicht so!“ wurden sie mit den Fäusten gegenseitig handgemein. Der König aber war darüber höchst ergötzt.

Diese kleine Geschichte ist als wissenschaftstheoretische Parabel transparent1: In unserer Annäherung an ein bestimmtes Objekt (in der Theologie und der Literaturwissenschaft handelt es sich dabei meistens um schriftliche Texte) sind wir nicht in der Lage, es unmittelbar (also ohne Hilfs-mittel) in seiner gesamten Komplexität zu erfassen. Diese erkenntnistheoretische „Sehbehinderung“ spiegelt sich etwa in dem Begriff des „hermeneutischen Zirkels“2 oder in der Diskussion um die Möglichkeit einer „voraussetzungslosen Exegese“3 wider. Wenn ich am Anfang dieser Arbeit eine ausgesprochen methodenskeptische Position beziehe, dann gewiß nicht, um diese Lage zu beklagen oder gar um mich mit den folgenden Ausführungen als Wegweiser

1 Es handelt sich um eine (von mir leicht gekürzte und zusammengefaßte) Erzählung aus dem buddhistischen Lehrgut (Udana 5,5). Buddha schließt mit der Sentenz: „Es streiten sich und geraten in Widerrede die Menschen, die nur einen Teil sehen.“ 2 Mit dem Begriff des hermeneutischen Zirkels verbindet die moderne Hermeneutik ein Axiom, das wohl auf Friedrich AST (1778-1841) zurückgeht: „Das Grundgesetz alles Verstehens und Erkennens ist, aus dem Einzelnen den Geist des Ganzen zu finden und durch das Ganze das Einzelne zu begreifen; jenes die analytische, dieses die synthetische Methode der Erkenntnis.“ (Grundlinien der Grammatik, Hermeneutik und Kritik [Landshut, 1808] §75; zitiert nach H.-G. GADAMER, G. BOEHM, Seminar: Philosophische Hermeneutik [stw 144; Frankfurt a.M., 1976], 116). F.D.E. SCHLEIERMACHER (1768-1834) hat diesen Grundgedanken aufgenommen: „Überall ist das vollkommene Wissen in diesem scheinbaren Kreise, daß jedes Besondere nur aus dem Allgemeinen, dessen Teil es ist, verstanden werden kann und umgekehrt.“ (Hermeneutik und Kritik [1838]; Frankfurt a.M., 51993, 95; vgl. 329). In Weiterführung dieses Ansatzes spricht H.-G. GADAMER von der „hermeneutischen Spirale“ (Wahrheit und Methode [Gesammelte Werke 1; Tübingen, 51986], 270-81 = 1. Aufl. [1960], 250-60; s.a. „Vom Zirkel des Verstehens“, [1959] Hermeneutik II [Gesammelte Werke 2; Tübingen, 21993], 57-65). Für eine sprachlogische Kritik, die vor allem die fehlende Präzision hermeneutischer Sprache bemängelt, vgl. W. STEGMÜLLER, „Der sogenannte Zirkel des Verstehens“, Das Problem der Induktion – Der sogenannte Zirkel des Verstehens (Darmstadt, 1974), 63-88. 3 Nach wie vor grundlegend: R. BULTMANN, „Ist voraussetzungslose Exegese möglich?“ [1957] Glauben und Verstehen (UTB 1762; Tübingen, 41993) III, 142-50; s.a. G.N. STANTON, „Presuppositions in New Testament Criticism“, New Testament Interpretation, ed. I.H. Marshall (Exeter, 31985), 60-71.

Hinführung

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aus einer vermeintlichen „Krise“ anbieten zu wollen4. Vielmehr soll jene Haltung desavouiert werden, die den „Dialog unter Blinden“ unnötig erschwert: das dogmatische Beharren auf einem lieb gewordenen und institutionell akzeptierten Auslegungsparadigma, das allen anderen methodischen Zugängen mit apriorischer Skepsis begegnet und diesen nur dann eine Existenzberechtigung zubilligt, sofern sie sich bequem an der Peripherie des eigenen Methodenkanons ein-, oder besser noch unterordnen lassen. Die Suche nach einer lebensfähigen Wahrheit wird kaum dadurch erleichtert, daß eine Methode mit dem Anspruch auftritt, den Sinn eines Textes voll und ganz „verbrauchen“ zu können. Eine solche Vorstellung mag zwar als motivierende Utopie einen pragmatischen Wert haben, geht aber von einem Textverständnis aus, bei dem der Text in etwa einer Fruchtschale gleicht, die nach Verzehr – ihres Inhaltes beraubt – getrost weggeworfen werden kann5. Demgegenüber gehe ich davon aus, daß in der Exegese ein Weg der hermeneutischen Kohärenzbildung beschritten wird, bei dem unterschiedliche Betrachtungsweisen zu verschiedenen Modellen führen können6. Die Tatsache, daß manche Modelle sich im Rahmen der eigenen Perspektivität gegenseitig ausschließen, bedeutet jedoch nicht, daß sie auf einer anderen, höheren Wahrnehmungsebene nicht zusammengefügt werden könnten7. Methoden4 Skeptische Positionen durchziehen die gesamte Philosophiegeschichte, angefangen bei den Sophisten, Sokrates, Kohelet über Cicero, Augustin, Erasmus (gegen Luthers „spiritus sanctus non est Scepticus“), Montaigne, Pascal, Hume und Hamann bis hin zu Popper, Feyerabend, Gadamer u.v.a (vgl. R.M. POPKIN, „Skepticism“, EncPh 7 [1967], 449-61). Ich will aber nicht nur alte und moderne Philosophen aufzählen, sondern ausdrücklich auch auf den Apostel Paulus verweisen: Seiner Überzeugung nach führen alle unsere jetzigen Formen der Welt- und Gotteserfassung immer nur zu einer Teilerkenntnis (hek mérouß), da sie mittelbar und unscharf sind wie der Blick in einen antiken Spiegel (1Kor 13,9-12). Der Grund dafür liegt nicht einfach darin, daß das menschliche Denken durch die Sünde vernebelt wäre, sondern darin, daß im Hinblick auf das kommende Zeitalter – welches sich für Paulus als „das Vollkommene“ (tò téleion) zu erkennen geben wird – das Jetzt fragmentarisch und unvollständig erscheint. Seine „Skepsis“ ist also nicht anthropologisch, sondern eschatologisch motiviert. Den Sprung aus dem hermeneutischen Zirkel – d.h. der Blick vom Teil (méroß) auf die Ganzheit (téleion) – wird erst die Äonenwende bringen. 5 Vgl. W. ISER, Der Akt des Lesens (UTB 636; München, 31990), 13f. 6 Ein Modell ist eine „reduzierte, weniger komplexe oder einfacher zu handhabende Form“, die an die Stelle „komplexer und/oder nicht unmittelbar beobachtbarer Objektbereiche oder ‚Originale‘“ gesetzt wird (E. GÜLICH, W. RAIBLE, Linguistische Textmodelle [UTB 130; München, 1977], 15). Nach H. STACHIOWAK, „Gedanken zu einer allgemeinen Theorie der Modelle“, StGen 18 (1965), 432-463 sind die Kennzeichen eines jeden Modells das Abbildungs-, das Verkürzungs- und das Subjektivierungsmerkmal; d.h. ein Modell bildet zwar ein Objekt ab, da es aber nicht alle seine Merkmale integrieren kann, hat es zwangsläufig eine verkürzende, abstrahierende Funktion. Die Relevanzkriterien für die einzubeziehenden Elemente sind schließlich von den subjektiven Interessen des forschenden Individuums abhängig. Gerade deswegen können zum gleichen Gegenstand verschiedene Modelle gebildet werden. 7 Wie man leicht einem Allgemeinlexikon entnehmen kann, gelangt die Quantenphysik je nach Anordnung des Experiments zu unterschiedlichen aber durchaus komplementären Be-

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Literarische Rezeptionskritik und Evangelienexegese

skepsis muß daher nicht dazu führen, daß auf den Gebrauch methodisch reflektierter Fragestellungen ganz und gar verzichtet und dadurch die Exegese einer „intersubjektiv“8 zugänglichen Sprache beraubt wird, sondern mündet in diesem Fall in das Bemühen um eine Integration unterschiedlicher Betrachtungsweisen. Methoden sind „bewährte Dialogregeln über Texte, die Konsens ohne Zwang und Dissens ohne Feindschaft ermöglichen sollen“9. Sie sind wie Meßinstrumente, die ihre Anwender/innen nur das erkennen lassen, was innerhalb ihrer Reichweite liegt. Die Multiplizierung von Fragestellungen kann daher nur eine Bereicherung für die Auslegung und schließlich auch für die Ausleger/innen selbst darstellen. An diesem Punkt scheint mir die anglo-amerikanische Exegese insgesamt risikofreudiger, theoriebewußter und innovationsbereiter als die deutschsprachige zu sein. Die meisten englischsprachigen Methodenlehren der letzten fünfzehn Jahre beziehen ausdrücklich neue Methoden mit ein, ohne diese aus der Warte gängiger Exegese in Frage zu stellen10. Diese internationale Diskussion hat deutliche Spuren im Dokument der Päpstlichen Bibelkommission über Die Interpretation der Bibel in der Kirche hinterlassen11. Erste Anzeichen solcher Integrationsversuche in der deutschsprachigen ntl. Exegese finden sich in den Methodenlehren von Wilhelm schreibungsmodellen („Welle-Teilchen-Dualismus“). Damit ist die Erfassung eines Gegenstandes auch im Falle der sogenannten „exakten“ Wissenschaften vom Beobachter und seiner Betrachtungsweise abhängig. Vgl. etwa Werner HEISENBERG (1901-1976), „Das Naturbild der heutigen Physik“, Die Künste im Technischen Zeitalter, hg. Bayerische Akademie der schönen Künste [Jahrbuch Gestalt und Gedanke 3; München, 1954], 67: „Die Naturwissenschaft steht nicht mehr als Beschauer vor der Natur, sondern erkennt sich selbst als Teil dieses Wechselspiels zwischen Mensch und Natur. Die wissenschaftliche Methode des Aussonderns, Erklärens und Ordnens wird sich der Grenzen bewußt, die ihr dadurch gesetzt sind, daß der Zugriff der Methode ihren Gegenstand verändert und umgestaltet, daß sich die Methode also nicht mehr vom Gegenstand distanzieren kann.“ 8 Zur Problematik des Intersubjektivitäts-Begriffes vgl. N. LUHMANN, „Intersubjektivität oder Kommunikation: Unterschiedliche Ausgangspunkte soziologischer Theoriebildung“, AF 54 (1986), 41-60, bes. 49. 9 G. THEISSEN , „Methodenkonkurrenz und hermeneutischer Konflikt: Pluralismus in Exegese und Lektüre der Bibel“, Pluralismus und Identität, hg. J. Mehlhausen (Gütersloh, 1995), 130. 10 Vgl. etwa C. TUCKETT, Reading the New Testament (London, 1987), R. MORGAN, J. BARTON, Biblical Interpretation (Oxford Bible Series; Oxford, 1988); E.P. SANDERS, M. DAVIES, Studying the Synoptic Gospels (London, 1989); J.C. ANDERSON, S.D. MOORE (Eds.), Mark and Method (Minneapolis, 1992); S.L. MCK ENZIE; S.R. HAYNES (Eds.), To Each its Own Meaning: An Introduction to Biblical Criticisms and their Application (Louisville, 1993); S.E. PORTER; D. TOMBS (Eds.), Approaches to New Testament Study (JSNT.S 120; Sheffield, 1995); J.B. GREEN (Ed.), Hearing the New Testament (Grand Rapids; Exeter, 1995); S.E. PORTER (Ed.), Handbook to Exegesis of the New Testament (NTTS 25; Leiden, 1997). 11 PÄPSTLICHE BIBELKOMMISSION , Die Interpretation der Bibel in der Kirche (Città del Vaticano, 1993). Auf den Seiten 43-71 wird in vorbildlicher Knappheit über rhetorische, narrative, semiotische, kanonische, jüdische, wirkungsgeschichtliche, soziologische, kulturanthropologische, psychologische, befreiungstheologische und feministische Bibelauslegung referiert.

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EGGER12, von Klaus BERGER13 und von Horst Klaus BERG für den Bereich der praktischen Theologie14. Das Werk von Gerd THEISSEN darf in diesem Zusammenhang nicht unerwähnt bleiben, weil er neben den herkömmlichen historisch-kritischen Vorgehensweisen ganz unterschiedliche methodische Akzente gesetzt hat, von einer literaturwissenschaftlich orientierten Formgeschichte über soziologische hin zu psychologischen Fragestellungen15. In einem kleinen programmatischen Aufsatz hat Helmut MERKLEIN einen theoretischen Entwurf für eine „integrative Bibelauslegung“ vorgelegt16 und schließlich in seinem Kommentar zum 1. Korintherbrief erprobt17. Er versucht, textwissenschaftliche (Linguistik, Rezeptionsästhetik, Sprechakttheorie), geschichtliche (Text-, Literar-, Redaktions-, Traditions-, Form- und Gattungskritik sowie Soziologie) und theologische Fragestellungen zu verbinden. Als einen Beitrag zu einer „integrativen Auslegung“ versteht auch Bernd WILLMES sein Modell einer „extremen Exegese“18. Es handelt sich hierbei um einen auf Vollständigkeit hin angelegten Versuch, synchrone und diachrone Methoden sinnvoll miteinander zu verbinden, wobei die Taxonomie der möglichen Arbeitsschritte derart ausführlich geraten ist, daß eine Anwendung nur auf kleine Texteinheiten möglich erscheint und selbst in diesem Falle die meisten Ausleger/innen überfordert sein werden. Diese einzelnen Vorstösse machen bereits deutlich, daß integrative Interpretationen in der Zukunft am ehesten als Ergebnis einer intensiven Zusammenarbeit zwischen verschiedenen Forscher/innen denkbar sind. Wegweisend ist in dieser Hinsicht das bereits 1975 (!) veröffentlichte Sammelwerk Exegesis: Problèmes de méthode et exercises de lecture, das auf eine Vorlesungsreihe zurückgeht, die von den Universitäten Fribourg, Genève, Lausanne und Neuchâtel 1972/73 organisiert wurde und anhand der Lektüre von Gen 22 und Lk 15 das Gespräch zwischen historisch-kritischen und humanwissenschaftlichen Auslegungsparadigmen sucht19. Trotz der Teilnahme einiger namhafter Gelehrter (z.B. F. Bovon, P. Ricœur) ist das Echo auf dieses wichtige Werk, so weit ich sehe, recht gering geblieben. Den Fortschritt der Theoriediskussion in der exegetischen Fachwelt dokumentiert das Experiment der „New Testament Society of South-Africa“, Lk 12,35-48 aus vierzehn verschiedenen

12 Methodenlehre zum Neuen Testament (Freiburg, 21990). 13 Exegese des Neuen Testaments (UTB 658; Heidelberg, 21984). 14 Ein Wort wie Feuer (München; Stuttgart, 1991). Vgl. die Aufsätze

in K. WEGENAST u.a., „Bibelauslegung: Experimente, Methoden“, EvErz 35/H. 3 (1983), 197-299. 15 Vgl. Urchristliche Wundergeschichten (StNT 8; Gütersloh, 51987); Studien zur Soziologie des Urchristentums (WUNT 19; Tübingen, 31989); Psychologische Aspekte paulinischer Theologie (FRLANT 131; Göttingen, 1983). Es bleibt zu hoffen, daß diese Arbeiten nicht nur Anzeichen eines methodischen Eklektizismus sind, sondern einmal in einem methodisch-hermeneutischen Gesamtentwurf münden; vgl. seinen Artikel „Methodenkonkurrenz“, 127-140, wo er 137f überzeugend für eine „polyvalente Exegese“ plädiert. 16 „Integrative Bibelauslegung? Methodische und hermeneutische Aspekte“, BiKi 44 (1989), 117-23. Ähnlich unter dem Stichwort „holographische Exegese“ D.L. BARR, „Elephants and Holograms: From Metaphor to Methodology in the Study of John’s Apocalypse“, SBL.SP 25 (1986), 400-12. 17 Der erste Brief an die Korinther: Kapitel 1-4 (ÖTK 7/1; Gütersloh; Würzburg, 1992). 18 „‚Extreme Exegese‘: Überlegungen zur Reihenfolge exegetischer Methoden“, BN 53 (1990), 68-99. 19 Hg. F. BOVON , G. ROUILLER (Neuchâtel, 1975).

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Blickwinkeln auszulegen 20. Leider stehen die einzelnen Interpretationen noch zu unverbunden nebeneinander, ein abschließender Integrationsversuch fehlt. In der Vorgehensweise ähnlich präsentiert sich der Sammelband Zankapfel Bibel 21. Anhand der Auslegung von Mk 6,30-44 werden historisch-kritische (Marguerat), fundamentalistische (Lerle), evangelikale (Bittner), feministische (Jornod), materialistische (Füssel) und tiefenpsychologische (Kaufmann) Zugänge miteinander ins Gespräch gebracht. Das „Angebot“ an Sichtweisen ist zwar nicht so reichhaltig, dafür wird aber in einem abschließenden Kapitel die Integration verschiedener Schwerpunkte versucht22. Was Rolf RENDTORFF für die atl. Wissenschaft konstatiert hat, gilt m.E. ganz allgemein für den gesamten Bereich biblischer Exegese: „[I]n scholarship … there is no heresy. We should rather practice and accept methodological pluralism.“23

Die Überlebenschancen einer an ihren Abnutzungserscheinungen kränkelnden historisch-kritischen Methode sind ohne solche Versuche einer umfassenden Methodenintegration eher als gering einzuschätzen. Die Rede vom Überleben klassischer Interpretationsweisen scheint heute nicht übertrieben dramatisch. Zwar haben Vertreter einer evangelikal-konservativen Position etwas zu früh ihr Ende eingeläutet24, aber vor allem sind es die Anwender/innen historischer Kritik selbst, die mit steigendem Problembewußtsein über die praktischtheologischen, hermeneutischen und systematischen Begrenzungen dieser Methode nachdenken, ihre nicht unproblematische Rolle im ökumenischen Dialog zur Rede bringen und auf ihre Infragestellung durch formalistische, strukturalistische, tiefenpsychologische und andere Auslegungsparadigmen

20 Vgl. Neotestamentica 22 (1988). Die verschiedenen Fragestellungen sind: „reader-response“, materialistisch, holistisch, narratologisch, wirkästhetisch, traditionsgeschichtlich, rhetorisch, befreiungstheologisch, soziologisch, psychologisch, dekonstruktionistisch, empirisch-rezeptiv, syntaktisch und systematisch-theologisch. 21 U. LUZ (Hg.), Zankapfel Bibel: Eine Bibel – viele Zugänge (Zürich, 21993). Vgl. auch das Votum des Theologischen Ausschusses der Arnoldshainer Konferenz Das Buch Gottes: Elf Zugänge zur Bibel (Neukirchen-Vluyn, 1992). 22 Vgl. U. LUZ, „Sind die verschiedenen Zugangswege zur Bibel unvereinbar?“ Zankapfel, 120-38. Der Schwerpunkt dieser Bilanz liegt aber nicht auf der methodischen, sondern eher auf der theologisch-hermeneutischen Dialogebene. 23 R. RENDTORFF, „The Paradigm is Changing: Hopes – and Fears“, BibInt 1 (1993), 47. Ansätze zu einem pluralistischen Methodengebrauch finden sich bereits bei Rudolf BULTMANN: Aus der Tatsache, daß „jedes geschichtliche Phänomen vielseitig, komplex“ ist, schließt er auf die Pluralität von Fragestellungen (z.B. geistesgeschichtlich, psychologisch, soziologisch), denen der Text unterliegt („Das Problem der Hermeneutik“, [1950] Glauben und Verstehen [UTB 1761; Tübingen, 61993], II, 229). 24 So G. MAIER, Das Ende der historisch-kritischen Methode (Wuppertal, 51984; 1. Aufl. 1974), der vor allem das Scheitern der Suche nach einem Kanon im Kanon und die Unvereinbarkeit von göttlicher Offenbarung und menschlicher Kritik in den Mittelpunkt seiner Auseinandersetzung stellt (s.a. Biblische Hermeneutik [Wuppertal, 1990], 213-70: „Offenbarung und Kritik“). Daß Evangelikale auch positiv mit der historisch-kritischen Methode umgehen können, zeigt z.B. I.H. MARSHALL, „Historical Criticism“, in Marshall, New Testament Interpretation, 126-138.

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reagieren25. Auch wenn ich mich in dieser Arbeit relativ einseitig um ein rezeptionsorientiertes Textverständnis bemühe, beanspruche ich damit keine methodische Totalität und verstehe daher auch diesen Zugang keineswegs als Ersatz für historisch-kritische Exegese, sondern viel eher als einen Versuch, die Möglichkeiten auszuloten, die verschiedene moderne literaturwissenschaftliche Rezeptionsmodelle für eine Methodenintegration bieten können. Im übrigen kann nach Hans Robert JAUSS „die Rezeptionsästhetik … zwar eine inaugurierende, mit den herrschenden Konventionen des wissenschaftlichen Betriebs brechende Rolle übernehmen, nicht aber den Rang eines autonomen Paradigmas beanspruchen“, denn sie ist „keine autonome, für die Lösung ihrer Probleme allein zureichende Disziplin, sondern eine partiale, anbaufähige und auf Zusammenarbeit angewiesene, auf das eigene Tun gerichtete und darin methodische Reflexion“26. Er fordert daher auf, den „Streit der Interpretationen so zu führen, daß er nicht im politischen Kampf um Leben und Tod endigt. Denn im Horizont der ästhetischen Erfahrung ist es rechtens, daß sich auch verschiedene Deutungen nicht notwendig widersprechen müssen“27. Ich halte daher gerade die Frage nach dem Leser nicht für den archimedischen Punkt, um die historisch-kritische Methode aus den Angeln zu heben, sondern für eine Bereicherung und mögliche Kurskorrektur derselben.

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Vgl. U. LUZ, Matthew in History (Minneapolis, 1994), 5-22 („The Limits of the Historical-Critical Method“). Weiterhin: D. D ORMEYER, „Das Verhältnis von ‚wilder‘ und historisch-kritischer Exegese als methodologisches und didaktisches Problem“, JRPäd 3 (1986; ed. 1987), 111-126; J.A. FITZMYER, „Historical Criticism: Its Role in Biblical Interpretation and Church Life“, TS 50 (1989), 244-59; F. HAHN, „Probleme historischer Kritik“, ZNW 63 (1972), 1-17; L. KECK, „Will the Historical-Critical Method Survive? Some Observations“, Orientation by Disorientation (FS W.A. Beardslee), ed. R.A. Spencer (PThMS 35; Pittsburgh, 1980), 115-28; D. MARGUERAT, „Der Reichtum des fremden Textes: Ein historischkritischer Zugang zur Bibel“, in Luz, Zankapfel Bibel, 18-38; A. NATIONS, „Historical Criticism and the Current Methodological Crisis“, SJTh 36 (1983), 59-71; F. RAURELL, „El método histórico-crítico frente a las lecturas fundamentalistas e integristas de la Biblia“, Laur. 35 (1994), 273-318; J. REUMANN, „After Historical Criticism, What? Trends in Biblical Interpretation and Ecumenical, Interfaith Dialogues“, JES 29 (1992), 55-86; W.H. SCHMIDT, „Grenzen und Vorzüge historisch-kritischer Exegese: Eine kleine Verteidigungsrede“, EvTh 45 (1985), 469-81; H.-J. SCHULZ, „‚Historisch-kritische Evangelieninterpretation‘ und ‚formgeschichtliche‘ Überlieferungskritik: Ökumenische Chance oder Rückfall in die Zeit der Aufklärung?“ MThZ 42 (1991), 15-43; 323-349; Th. SÖDING, „Geschichtlicher Text und Heilige Schrift: Fragen zur theologischen Legitimität historisch-kritischer Exegese“, Neue Formen der Schriftauslegung? Hg. Th. Sternberg (QD 140; Freiburg, 1992), 75-130; A. STOCK, „The Limits of Historical-Critical Exegesis“, BTB 13 (1983), 28-31. 26 Ästhetische Erfahrung und literarische Hermeneutik (stw 955; Frankfurt a.M., 1982), 736f. Zum partialen Charakter dieser methodischen Fragestellung vgl. auch 743-5. 27 Ästhetische Erfahrung, 703. Vgl. jetzt auch das neueste Werk von JAUSS: Wege des Verstehens (München, 1994), 7f: Die Überzeugung, daß Hermeneutik von Hause aus undogmatisch ist, weil das Ziel des Verstehens auf ganz unterschiedlichen Wegen erreicht werden kann, bildet den „Cantus firmus“ der hier gesammelten Artikel aus den Jahren 1985 bis 1993.

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1.2 Der lange Weg vom Text zum Leser In einer etwas schablonenhaften Typologie möchte ich zwischen vier grundlegenden Ansichten und vier damit verbundenen Erkenntnisklassen unterscheiden28: Ansicht: Als was betrachte ich einen Text?

Erkenntnisklasse: Welche Erkenntnisse gewinne ich daraus?

1. Text als Nachricht: Thematische Lektüre 2. Text als Symptom: Historische Lektüre 3. Text als Gegenstand: Formalistische Lektüre 4. Text als Prozeß: Rezeptionsorientierte Lektüre

Sachbezogen: Was sagt der Text zu einem bestimmten Thema? Autorbezogen: Was sagt der Text über den Autor und seine Zeit? Textbezogen: Wie ist der Text in sich selbst beschaffen und wie legt er die Koordinaten seiner Auslegung fest? Leserbezogen: Wie gestaltet sich die Interaktion zwischen Text und Rezipient?

Eine solche Auffächerung der einzelnen Funktionsweisen eines Textes ist natürlich nicht neu: Bereits in der mittelalterlichen Rezeption antiker hermeneutischer Grundregeln wurde zwischen operis materia, scribentis intentio, pars philosophiae und utilitas unterschieden29. Führende Vertreter des angloamerikanischen „New Criticism“30 haben ähnliche Typologien aufgestellt. So z.B. M. H. ABRAMS31: Anhand dieser graphischen UNIVERSE Darstellung läßt sich leicht (mimetic criticism) das zentrale „Dogma“ des anglo-amerikanischen „New Criticism“ ablesen: die MitWORK telposition des Textes. Damit (objective criticism) soll mehr ausgedrückt werden als die an sich banale Tatsache, daß in der praktiARTIST AUDIENCE schen Auslegung der Text (expressive criticism) (pragmatic criticism) 28 Für die ersten drei Kategorien vgl. den ausgezeichneten Aufsatz von K. WEIMAR, „Der Text, den (Literar)-Historiker schreiben“, Geschichte als Literatur, hg. H Eggert, u.a. (Stuttgart, 1990), 29-31. Den Ausdruck „Text als Prozeß“ entnehme ich dem Werk von ISER, Der Akt des Lesens, VII. 29 Vgl. H. BRINKMANN, Mittelalterliche Hermeneutik (Tübingen, 1980), 8-9. „In den vier Fragen sind die Momente erfaßt, die nach der Anschauung der gegenwärtigen Linguistik einen ‚Text‘ konstituieren: der Verfasser (‚Sender‘) in der intentio; der Inhalt (‚die Information‘) in der materia; die Art des Textes in der Zuweisung zu einer pars philosophiae; der Empfänger in der Frage nach der utilitas.“ (9) 30 Zum „New Criticism“ s.u. S. 19 und die Seitenzahlen im Register. 31 M.H. ABRAMS, The Mirror and the Lamp: Romantic Theory and the Critical Tradition (London, Oxford, New York, 1953), 6.

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zwangsläufig in den Mittelpunkt gerät. Vielmehr ist der Text in der Lage, alle Elemente mitzuführen, die seinen Sinn konstituieren, so daß er letztendlich unabhängig von allen anderen Kategorien ausgelegt werden kann32. Die Anordnung, die ich oben gewählt habe, richtet sich nicht nach hierarchischen, sondern ganz grob nach literaturgeschichtlichen Gesichtspunkten33: Die frühe christliche Bibelauslegung war in hohem Maße sachbezogen. Die biblischen Texte wurden bis zur Scholastik vorwiegend allegorisch und danach immer stärker ihrem Literalsinn nach gelesen, aber stets als Belege für unterschiedliche theologische Topoi mit dem vorwiegenden Ziel der Belehrung und der Auseinandersetzung34. Die hermeneutischen Bestrebungen der Renaissance und stärker noch der Aufklärung verhalfen dem philologischhistorischen Paradigma zur Vorherrschaft über andere Zugangsweisen zum Text und ließen damit auch das Interesse an der autorialen Persönlichkeit, ihrer leitenden Intention und ihrem Lebenskontext anwachsen35. Erst seit der Wende zum 20. Jh. gelangte das literarische Kunstwerk als autonome, in sich geschlossene und vollkommen strukturierte ästhetische Größe durch die Theoretiker/innen des russischen Formalismus, des anglo-amerikanischen „New Criticism“, der die angelsächsische Literaturwissenschaft von den späten 30er Jahren bis in die 50er Jahre vollkommen dominierte, und des französischen Strukturalismus in den Mittelpunkt36. Der Text galt als autarkes Gebilde, 32

Vgl. zur Kritik E. FREUND, The Return of the Reader (London; New York, 1987), 1-2. In einer ähnlichen Art und Weise wie ABRAMS siedelt W.K. WIMSATT, einer der einflußreichsten „New Critics“, das Gedicht zwischen Dichter und Publikum an, wobei alle Impulse von der poetischen Technik des Gedichtes ausgehen (The Verbal Icon [Lexington, 1954], XVII). 33 Vgl. einen ähnlichen Kurzüberblick in L.M. ROSENBLATT, The Reader, the Text, the Poem (Carbondale, 1978), 2-5. 34 W.G. JEANROND, Theological Hermeneutics (London, 1991), 29-30: „Even though the scholastic interpreters rediscovered the text of the Scriptures and tried to take it seriously in itself, their new interest was predominantly theological – as was the interest of the Church Fathers before them… The texts were increasingly reduced to providers of proofs for speculative theological thought ventures.“ In der hermeneutischen Reflexion mittelalterlicher Denker kam der Empfänger eines Werkes kaum in den Blickpunkt (vgl. BRINKMANN, Mittelalterliche Hermeneutik, 6). 35 Vgl. P. LOMBARDI, „Die intentio auctoris und ein Streit über das Buch der Psalmen: Einige Themen der Aufklärungshermeneutik in Frankreich und Italien“, Unzeitgemäße Hermeneutik: Verstehen und Interpretation im Denken der Aufklärung, hg. A. Bühler (Frankfurt a.M., 1994), 43-68. Diese grobe Gliederung soll nicht darüber hinwegtäuschen, daß der Autor und seine Intention (im Sinne des griechischen skopóß) bereits im Mittelalter Berücksichtigung fanden (vgl. BRINKMANN, Mittelalterliche Hermeneutik, 158f), wenngleich nicht in dem Maße wie später in der Aufklärung. Vgl. zum Problem des Autors den Exkurs o. S. 170ff. 36 Vgl. zum russischen Formalismus V. ERLICH, Russischer Formalismus (Frankfurt a.M., 1987); P. STEINER, „Russian Formalism“, CHLC 8 (1995), 11-29. Die wichtigsten Texte sind bequem zugänglich in J. STRIEDTER (Hg.), Russischer Formalismus (UTB 40; München, 4 1988). Vgl. zur Geschichte und Praxis des „New Criticism“ K.M. NEWTON, Interpreting the Text (New York; London, 1990), 10-39 und zu den wichtigen literaturtheoretischen Stichwor-

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dessen Bedeutung weder von der Intention des Autors noch von den Konkretisationen seiner Leser/innen noch von den sozialen Gegebenheiten seiner Entstehung abhängig ist37. In der Praxis des „close reading“ führte das besonders im New Criticism zu synchronen, an den geschichtlichen Zusammenhängen eines Werkes wenig interessierten Auslegungen, an deren Ende immer die glückliche Aufhebung aller Spannungen, Paradoxa und Ambivalenzen stand38. Nachdem nacheinander das Thema, der Autor und das literarische Werk in den Mittelpunkt des hermeneutischen Interesses geraten waren, schien es unausweichlich, daß schließlich auch die Rezeption Gegenstand wissenschaftlicher Forschung werden sollte. So führten ganz unterschiedliche Forschungsrichtungen zu einem anwachsenden Interesse am lesenden Subjekt und seiner Beteiligung an der Sinnkonstitution: In der Psychologie beschäftigte sich die Gestaltpsychologie der sog. „Berliner Schule“ seit den 20er Jahren mit Wahrnehmungsprozessen mittels experimentell-phänomenologischer Vorgehensweisen und gelangte u.a. zu dem Ergebnis, daß Wahrnehmung ein Organisieren und Einordnen in ein einheitliches Ganzes („Gestalt“) ist39. Grundlegend waren auch die philosophischen Impulse, die von der Phänomenologie Husserls ausgingen, besonders in ihrer Anwendung auf das literarische Kunstwerk durch den polnischen Philosophen und Husserl-Schüler Roman INGARDEN (1893-1945)40. Wichtige Begriffe gehen auf ihn zurück wie z.B. „Konkretisation“, „Rekonstruktion“, „Unbestimmtheitsstelle“ und die Rede von der „Mehrschichtigkeit“ und „polyphonen Harmonie“ des literarischen Werkes, um so die Dialektik zwischen Unbestimmtheit und Sinndeterminiertheit zum Ausdruck zu bringen41. Ein wichtiger Beitrag für die theoretische Grundlegung rezeptionsorientierter Fragestellungen im deutschsprachigen Bereich stellt die hermeneutische Tradition, insbesondere die methodenskeptische Hermeneutik von Hans-Georg GADAMER (*1900) dar42. Seine ten „intentional fallacy“ und „affective fallacy“ T. EAGLETON, Einführung in die Literaturtheorie (Sammlung Metzler 246; Stuttgart, 1992), 59-109. 37 Ähnliche Gedanken aus philosophischer Sicht bereits bei R. INGARDEN, Das literarische Kunstwerk (Tübingen, 41972), 6-17 (= §3-5). 38 An den westlichen, deutschsprachigen Hochschulen wurde nach 1945 unter dem Begriff der Werkimmanenz eine ähnliche Auslegungspraxis betrieben, deren einflußreichster Vertreter E. STAIGER (*1908) war (s.u. S. 52). 39 Vgl. E.-G. WEHNER, „Berliner Schule“, LPs 1 (21980), 253f; W. METZGER, „Ganzheit – Gestalt – Struktur“, ebda, 662-9; P.G. ZIMBARDO, Psychologie (Berlin, 41983), 319-22. 40 Vgl. Das literarische Kunstwerk. Zu INGARDEN vgl. R. WARNING, „Rezeptionsästhetik als literaturwissenschaftliche Pragmatik“, Rezeptionsästhetik, hg. R. Warning (UTB 303; München, 1975), 10-2. 41 Vgl. Das literarische Kunstwerk, 25-30.261-70.395-9. 42 Wahrheit und Methode. Vereinzelt äußert sich GADAMER hier auch zum Vorgang des Lesens: „[A]lles verstehende Lesen scheint immer schon eine Art von Reproduktion und Interpretation. Betonung, rhythmische Gliederung und dergl. gehören auch dem stillsten Lesen

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Darlegungen zu den Begriffen der „Wirkungsgeschichte“, der „Applikation“ und der „Horizontverschmelzung“ wie sein Plädoyer für eine Wiederherstellung der Rhetorik sind grundlegend für die philosophische Beschäftigung mit der Frage nach der Wirkung literarischer Äußerungen43. Innerhalb der Sprachphilosophie und der Linguistik haben sich Forschungsrichtungen wie die Pragmatik oder die Sprechakttheorie immer stärker der dynamischen Wechselwirkung zwischen den linguistischen Zeichen und deren Realisierung durch einen Empfänger zugewandt44. Die Literaturwissenschaft, in deren Natur es liegt, besonders empfänglich für Impulse aus anderen Disziplinen zu sein, blieb selbstverständlich nicht unberührt von dieser allgemeinen Trendwende in den Geisteswissenschaften45. Dennoch gab es auch genuin innerdisziplinäre (wie übrigens auch unian… [D]ie Literatur [hat] … ein ebenso ursprüngliches Dasein in der Lektüre …, wie das Epos im Vortrag des Rhapsoden oder das Bild im Anschauen seines Betrachters… Der Begriff der Literatur ist gar nicht ohne Bezug zu dem Aufnehmenden.“ (165f) „In allem Lesen geschieht … eine Applikation, so daß, wer einen Text liest, selber noch in dem vernommenen Sinn darin ist. Er gehört mit zu dem Text, den er versteht. Immer wird es so sein, daß die Sinnlinie, die sich ihm beim Lesen eines Textes zeigt, notwendig in einer offenen Unbestimmtheit abbricht.“ (345) „Lesendes Verstehen ist nicht ein Wiederholen von etwas Vergangenem, sondern Teilhabe an einem gegenwärtigen Sinn.“ (396) Vgl. auch in Hermeneutik II, 17-21. 43 E. IBSCH , „Hermeneutik und Empirik im Universitätsbetrieb“, Rezeptionsforschung zwischen Hermeneutik und Empirik, hg. E. Ibsch, D.H. Schram (Amsterdamer Beiträge zur neueren Germanistik 23; Amsterdam, 1987), 3: „Von der Einfühlungshermeneutik eines Dilthey an, über die Aneignungshermeneutik, so wie Gadamer sie repräsentiert, bis hin zur kritisch-pragmatischen Hermeneutik von Habermas ist die Rolle des lesenden bzw. forschenden Subjekts in seinem Eigenwert ja stets Gegenstand der Reflexion gewesen und niemals problemlos aufgegangen in der Rolle des Autors… Die Rezeptionsästhetik Jaußscher Prägung stellt denn auch eine Entwicklung dar, die zumindest seit der Aneignungshermeneutik erwartet werden konnte.“ 44 Vgl. B. SCHLIEBEN-LANGE, Linguistische Pragmatik (UB 198; Stuttgart, 1975); M. BRAUNROTH, u.a. Ansätze und Aufgaben der linguistischen Pragmatik (Frankfurt a.M., 1975); Th. LEWANDOWSKI, Linguistisches Wörterbuch (UTB 201/300; Heidelberg, 31979; 31980), II, 587-9; III, 902-8. Die Pionierwerke der Sprechakttheorie sind J.L. AUSTIN, Zur Theorie der Sprechakte (How to do things with Words) (Stuttgart, 21979); J.R. SEARLE, Sprechakte (Frankfurt a.M., 1971). Zur exegetischen Anwendbarkeit vgl. H.C. WHITE (Ed.), Speech Act Theory and Biblical Criticism (Semeia 41; Atlanta, 1988); J.E. BOTHA, Jesus and the Samaritan Woman: A Speech Act Reading of John 4:1-42 (NT.S 65; Leiden, 1991) und D. NEUFELD, Reconceiving Texts as Speech Acts: An Analysis of I John (BibInt.S 7; Leiden, 1994). 45 Auf die Verbindung zur Gestaltpsychologie haben hingewiesen: EAGLETON, Einführung, 48; M. DAVIES, „Reader-Response Criticism“, A Dictionary of Biblical Interpretation, ed. R.J. Coggins, J.L. Houlden (London, 1990), 579. Bei ISER ist die Bezugnahme auf INGARDEN ebenso offensichtlich wie bei JAUSS die auf GADAMER. Es ist daher durchaus sachgerecht, wenn EAGLETON (Literaturtheorie, 19-58) oder R.C. HOLUB, P.J. RABINOWITZ, „Reader-Oriented Theories of Interpretation“, CHLC 8 (1995), 253-403 die Rezeptionstheorie im Zusammenhang mit Phänomenologie und Hermeneutik besprechen. Was die Semiotik betrifft, so haben sich ausgewiesene Semiotiker wie ECO oder BARTHES ausdrücklich dem Leser zugewandt. J. CULLER sieht den Grund dafür darin, daß bei dem „Versuch, die für die Produktion von Sinn zuständigen Strukturen und Codes zu beschreiben, … die Aufmerksam-

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versitätspolitische) Gründe für diesen Paradigmenwechsel46: Die romantische Auslegungspraxis des ausgehenden 19. Jh.s hatte die alte Disziplin der Rhetorik durch die neue Wissenschaft der Ästhetik ersetzt47 und orientierte sich grundsätzlich an der Persönlichkeit des Verfassers48. Diese Gewichtung läßt sich im übrigen sehr gut an der Apotheose des Geniebegriffs im deutschen Idealismus ablesen49. Wie bereits erwähnt, wurde zwar der Autor im „New Criticism“ aus dem literaturwissenschaftlichen Diskurs verbannt, dieser Thronsturz kam aber keineswegs dem Leser zugute. Der Begriff der vollkommenen Autonomie verlagerte sich vielmehr vom Künstler auf das Kunstwerk50. Mit dem Stichwort der „affective fallacy“ wurde der Leser für längere Zeit erfolgreich daran gehindert, in den Vordergrund zu treten51. In einem viel zitierten Satz bestimmen W.K. WIMSATT und M. BEARDSLEY die sogenannte „affective fallacy“ als „a confusion between the poem and its results (what it

keit auf den Lesevorgang und dessen Möglichkeitsbedingungen“ gelenkt wird (Dekonstruktion [Rowohlt Enzyklopädie 474; Reinbek bei Hamburg, 1988], 34). 46 Vgl. die rückblickenden Überlegungen zweier an diesem Paradigmenwechsel beteiligter Forscher: JAUSS, Ästhetische Erfahrung, 19-22; ISER, Akt des Lesens, I-IV. Zu den universitätspolitischen Bedingungen in der damaligen Bundesrepublik vgl. W. ISER, „Literaturwissenschaft in Konstanz“, Gebremste Reform (FS Gerhard Hess), hg. H.R. Jauß, H. Nesselhauf (Konstanz, 1977), 181-200. 47 Vgl. M.V. WEELE, „Reader-Response Theories“, Contemporary Literary Theory, ed. C. Walhout, L. Ryken (Grand Rapids, 1991), 129f. 48 Stellvertretend für die Romantik sei S CHLEIERMACHER genannt, dem es in der Auslegung darum geht, „daß man sich auf der objektiven und subjektiven Seite dem Urheber gleichstellt“ (Hermeneutik und Kritik, 94; vgl. zum Problem dieser Gleichstellung GADAMER, Wahrheit und Methode, 195f). Die von ihm stark betonte psychologische Dimension der Auslegung verfährt auf zweifache Weise: „Das eine ist, den ganzen Grundgedanken eines Werkes zu verstehen, das andere, die einzelnen Teile desselben aus dem Leben des Autors zu begreifen. Jenes ist das, woraus sich alles entwickelt, dieses ist das in einem Werke am meisten Zufällige. Beides aber ist aus der persönlichen Eigentümlichkeit des Verfassers zu verstehen.“ (185) 49 Vgl. die knappe Darstellung bei GADAMER, Wahrheit und Methode, 48-66 (1. Aufl.: 39-56) und J. RITTER, „Genie“, HWP 3 (1974), 279-309. Eine erschöpfende historische Darstellung bietet J. SCHMIDT, Die Geschichte des Genie-Gedankens in der deutschen Literatur, Philosophie und Politik 1750-1945 (2 Bde; Darmstadt, 1985). Vgl. besonders das erste Kapitel „Geschichtliche und begriffliche Voraussetzungen im Überblick“ (1-60). 50 ROSENBLATT, Reader, Text, Poem, 3. K.R. MANDELKOW, „Probleme der Wirkungsgeschichte“, [1970] Sozialgeschichte und Wirkungsästhetik, hg. P.U. Hohendahl (Frankfurt a.M., 1974), 83-85 hat darauf hingewiesen, daß in der ästhetischen Theorie von Friedrich Schlegel bis zum New Criticism der Begriff des „autonomen Kunstwerks“ die Frage nach seiner möglichen Wirkung und sozialen Funktion unmöglich machte. 51 W.K. W IMSATT, M. BEARDSLEY , „The Affective Fallacy“, in Wimsatt, The Verbal Icon, 20-39.281f. Sowohl autor- als auch leserorientierte Kritiker haben sich nachhaltig mit diesem Aufsatz auseinandersetzen müssen, wie z.B. E.D. HIRSCH, Jr. Validity in Interpretation (New Haven; London, 1967), 11-14; ISER, Akt des Lesens, 48-50; S. FISH, Is There A Text in This Class? The Authority of Interpretive Communities (Cambridge, Mass.; London, 1980), 42-52.

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is and what it does)“ (21). Das harmonistische, auf vollkommene Kohärenz hin angelegte Projekt des „New Criticism“ erwies sich jedoch als unzureichend für den Umgang mit den äußerst komplexen literarischen Werken der Moderne (bes. James Joyce). Viele dieser Werke lassen oft eine konsistente Ich-Figur, eine lineare Handlung und überhaupt jedwede Kohärenz vermissen. In dieser „Notsituation“ kommt der Leser unweigerlich ins Spiel. Besonders in der französischen Tradition zeigte sich bald, „daß die Analyse schwieriger Werke der Moderne ohne Bezugnahme auf den Leser und den Lesevorgang nicht auskommt“52. Mit anderen Worten: Dort wo das literarische Werk auf eine lineare Handlung und einen Helden verzichtet, wird das lesende Subjekt selbst zum aktiven Helden der Geschichte. Neben den oben genannten Entwicklungen in den anderen Geisteswissenschaften wurde somit das Aufkommen rezeptionskritischer Fragestellungen ganz entschieden durch die Beschäftigung mit Werken der literarischen Avantgarde begünstigt53.

1.3 Grundanliegen der Rezeptionskritik54 Der Paradigmenwechsel zum Leser hin kündigt sich ab dem Anfang der 60er Jahre in Bezeichnungen wie „reader-response criticism“, „subjective criticism“, „transactive criticism“, „affective stylistics“, „Rezeptionsästhetik“ oder „Wirkästhetik“ an. Anders als im Falle des „New Criticism“ lassen sich rezeptionsorientierte Theoriemodelle nicht unter einer einheitlichen thematischen Gestalt subsumieren, was nicht zuletzt auch an den ganz unterschiedlichen Entwicklungslinien liegt55. Es ist daher kaum möglich, von einer homogenen theoretischen Konzeption auszugehen56. Mit entsprechender Vorsicht

52 CULLER, Dekonstruktion, 41. JAUSS, Ästhetische Erfahrung, 119: „Diese Entwicklung der modernen Künste ist durch die traditionelle Darstellungsästhetik nicht mehr angemessen zu begreifen. Ihr Verständnis erfordert die Entwicklung einer Rezeptionsästhetik.“ 53 Das heißt allerdings nicht, daß Lesermodelle nur anhand von Texten von Joyce oder Beckett entwickelt worden wären. Autoren wie John Bunyan (1628-1688) oder John Milton (1608-1674) standen von Anfang an ebenso im Blickfeld des Interesses (vgl. W. I SER, Der implizite Leser [UTB 163; München, 21979], 13-56 oder S. FISH, Surprised by Sin: The Reader in Paradise Lost [New York, 1967]). 54 Da die Literaturwissenschaft derzeit über keine verbindliche, allgemein gültige Nomenklatur verfügt, nehme ich mir die Freiheit, in Anlehnung an in der Exegese geläufige Bezeichnungen wie Form- oder Literarkritik in diesem Falle von Rezeptionskritik zu reden. 55 Stark vereinfachend könnte man sagen, daß in Frankreich der Umgang mit der literarischen Avantgarde und die starke strukturalistische Tradition, im deutschsprachigen Raum mehr die philosophisch-hermeneutischen Fragen und im angelsächsischen Raum schließlich die Impulse aus der Linguistik und der Sprachphilosophie stärker tonangebend waren. 56 Vgl. S.R. SULEIMAN , „Varieties of Audience-Oriented Criticism“, The Reader in the Text, ed. S.R. Suleiman, L. Crosman (Princeton, 1980), 3-45.

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lassen sich die Grundprämissen in etwa auf den folgenden „kleinsten gemeinsamen Nenner“ bringen: 1. Positiv: a) Texte sind als polyvalente Gebilde grundsätzlich auf die Lektüre ausgerichtet. Sie sind daher keine autonomen Gegenstände, die unabhängig vom Akt des Lesens mit Sinn behaftet sind. b) Der Sinn eines Textes konstituiert sich erst durch die aktive Teilnahme des Rezipienten am Leseprozeß. Die Interpretation hat sich daher vornehmlich mit der Interaktion zwischen Text und Leser zu beschäftigen. c) Da Lesen, phänomenologisch betrachtet, ein zeitliches Ereignis ist, haben Ausleger/innen die zeitlich sequentielle Anordnung des Textes zu beachten, ohne den Text mittels Konkordanzen, Tabellen, Gliederungen usw. in räumliche Kategorien aufzulösen57. d) Sinnvolles Lesen setzt die konventionelle Beherrschung bestimmter Kompetenzen voraus. Dabei ist vor allem an sprachliche, aber auch an soziale und intertextuelle Kenntnisse zu denken. e) Sinnkonstitution zielt auf irgendeine Art der Kohärenzbildung58. 2. Negativ: a) Die privilegierte Position der Autors wird entweder eingeschränkt oder gänzlich unterdrückt, aber in jedem Fall gilt die autoriale Intention nicht mehr als Gültigkeitskriterium für die richtige Auslegung59. b) Auch die oft damit einhergehende Vorstellung von der absoluten Sinndeterminiertheit literarischer Werke wird aufgegeben. Zwar können einzelne Auslegungen für „wahrscheinlicher“ gehalten werden, aber die Kriterien für die „Grenzen der Interpretation“ (ECO) müssen mit viel Bedacht formuliert werden. In der Praxis ist man daher recht vorsichtig, wenn es darum geht, eine andere Interpretation mit einem Anathema zu versehen. Auf der Grundlage dieser gemeinsamen Überzeugungen werden eine Reihe unterschiedlicher Fragen diskutiert: 1. Wie sehr sind Leser/innen an der Sinnkonstitution beteiligt? Wie sehr sind sie durch die Intention des historischen Autors oder durch den Text selbst eingeschränkt? Gibt es einen „goldenen Mittelweg“ zwischen Sinndeterminiertheit und radikalem Pluralismus? 2. Welchen Einfluß haben sozio-politische oder geschlechtliche Faktoren auf 57

Damit richtet man sich gegen die allgemeine „Verräumlichung“ der Textinterpretation in der formalistischen Tradition, die Verstehen sehr stark von aufwendigen Worthäufigkeitstabellen, Gliederungen, Strukturdiskussionen und Diskursanalysen abhängig machen. M.E. dokumentiert diese in der ntl. Exegese auch nicht unübliche Praxis eine gewisse Verlegenheit: Für den wissenschaftlichen „Verzehr“ von Texten scheint ähnliches zu gelten wie für den Verzehr von Speisen: Was man strukturieren, teilen und in Stücke zergliedern kann, läßt sich besser bewältigen. Die Verräumlichung des Textes in der Exegese ist wahrscheinlich ein notwendiger Schritt, um die Texte zu zähmen und in geordnete Bahnen zu bringen, aber es handelt sich dabei primär um Hilfskonstruktionen für den oder die Ausleger/in, und nicht um ontologische Eigenschaften des Textes. 58 Der Begriff der „Kohärenz“ ist natürlich umstritten. Vor allem ist zu fragen, ob Kohärenz eine Eigenschaft des Textes (wie im „New Criticism“) oder eine Wahrnehmungsaktivität der Leser/innen ist. 59 Zur Intention des Autors vgl. u. S. 170ff.

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den Lesevorgang? 3. Welchen Anspruch auf Autorität oder welchen hermeneutischen Vorsprung hat der/die professionelle Ausleger/in gegenüber einer „naiven“ Leserschaft?60 4. In welchem Verhältnis steht die Erstlektüre zu jeder weiteren Lektüre? 5. Von welchem Lesermodell ist auszugehen? Von einem empirischen, einem historisch-zeitgenössischen oder einem textimmanenten? 6. Wie verhalten sich verschiedene Leserkonstrukte zueinander, besonders hermeneutische und empirisch-psychologische Modelle? 7. Wie läßt sich die Grenze von einer „akzeptablen“ oder „möglichen“ zu einer „unakzeptablen“ oder „unmöglichen“ Lektüre beschreiben? 8. Welche Rolle spielen psychologische, sozialgeschichtliche und rhetorische Faktoren in der Interaktion Text-Leser? Bevor von dieser eher grobmaschigen Orientierung zur genaueren Diskussion einzelner Modelle übergegangen werden kann, möchte ich im TextLeser-Kontinuum grundsätzlich zwei Schwerpunkte unterscheiden: Auf der einen Seite des Kontinuums stehen jene Theoriekonzepte, die stärker vom Text ausgehen61, am anderen Ende die, die aus ganz verschiedenen Interessen heraus derart die Lektüre in den Mittelpunkt stellen, daß der Beitrag des Textes bei der Sinnkonstitution gegen Null zu streben droht62. Damit ist auch in etwa die Wasserscheide zwischen Strukturalismus und Poststrukturalismus bestimmt: Während die einen den Leser von hierarchischen und relativ genau vorhersehbaren Textstrategien gelenkt sehen wollen, unterliegt für die anderen der Leser keinem Zwang mehr und kann sich innerhalb des Textes nach Belieben als homo significans betätigen. Hier ist dann der Autonomiebegriff im Sinne eines Befreiungsideals gänzlich auf das lesende Subjekt übergegangen.

1.4 Zur vorliegenden Arbeit Die vorliegende Arbeit verfolgt zwei Interessen: 1. Sie möchte im Rahmen einer methodenpluralistischen Perspektive der theoretischen Frage nach einer rezeptionskritischen Auslegung der Evangelien nachgehen. Einige literaturwissenschaftliche Modelle sollen daher dargestellt und kritisch gewürdigt 60

Wenn man bedenkt, daß „kein Text … je verfaßt worden [ist], um philologisch von Philologen oder … historisch von Historikern gelesen und interpretiert zu werden“ (JAUSS, Ästhetische Erfahrung, 688), drängt sich diese Frage ganz von selbst auf. 61 Hier wären z.B. der Semiotiker ECO, der Phänomenologe ISER und der Narratologe PRINCE zu nennen. 62 An erster Stelle sind hier natürlich die „radikalen“ dekonstruktionistischen Lektüren zu nennen, aber auch psychologische Interpretationen oder auch empirische Untersuchungen zum konkreten Leseverhalten verschiedener Gruppen. Auch viele „fromme“ Bibellektüren sind so stark von der eigenen religiösen Erfahrung gesteuert, daß der Text nicht mehr in seiner Fremdheit wahrgenommen werden kann.

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werden63, um schließlich zu einer eigenen methodisch reflektierten Vorgehensweise zu gelangen, die sich auf die Auslegung der Evangelien übertragen läßt64. Da die spezifische Eigenart dieser Texte Fragen aufwirft, die in der säkularen Literaturwissenschaft nicht oder kaum behandelt werden, sind dann auch Fragekomplexe zu behandeln, die forschungsgeschichtlich nicht vorbereitet worden sind. 2. Die Anwendung eines rezeptionskritischen Modells auf die Texteinheit Mt 1-265 hat nicht nur „werbenden“ Vorführcharakter, sondern versteht sich zugleich auch als exegetischer Beitrag zur wissenschaftlichen Diskussion um ein Verständnis dieses Textes. Forschungsprobleme, die sich aus der historisch-kritischen Lektüre des Textes ergeben, sollen daher aus einer rezeptionskritischen Perspektive neu durchdacht werden. Die Begrenzung auf Mt 1-2 hat rein arbeitsökonomische Gründe. Im Idealfall wäre zwar das Evangelium als Ganzes auszulegen, aber da eine rezeptionskritische Betrachtung nirgendwo anders als am Anfang eines Textes einsetzen kann, ergab sich mit 2,23 ein günstiger Punkt, um die Lektüre anzuhalten66. In einer kritischen Rückschau sollen zum Abschluß einige hermeneutische Probleme, die sich aus der Arbeit ergeben, bedacht werden67.

63 Siehe unten S. 27ff (Abschnitt I.2). 64 Siehe unten S. 132ff (Abschnitt I.3). 65 Siehe unten S. 196ff (Abschnitt II). 66 Um größere Textblöcke aus der Sicht

der Rezeption bearbeiten zu können, ist zukünftig sicherlich noch über eine Vereinfachung der Vorgehensweise nachzudenken. Aber derzeit müssen die Möglichkeiten und Probleme anhand einer möglichst ausführlichen Beschäftigung mit dem Text erst eruiert werden. 67 Siehe unten S. 366ff (Abschnitt III).

2. Forschungsgeschichtliche Stationen „Zuweilen ist der längere Weg der schnellere, nicht allein weil er das Ziel mit größerer Sicherheit erreichen läßt, sondern auch weil er die Möglichkeit eröffnet, mit einem reicheren Erfahrungsschatz dort anzukommen[.]“ Umberto Eco, Lector in fabula. München, 1987, 31 „Man muß nicht durch jede Pfütze waten, um zu wissen, daß es geregnet hat.“ J. Schmidt, Die Geschichte des Genie-Gedankens. Darmstadt, 1985, XIII

Diese beiden Zitate geben die Pole an, zwischen denen sich der folgende theoretische Überblick bewegen soll: Ausführlichkeit, ohne den Anspruch auf Vollständigkeit. Unsere „Forschungsreise“ kann nicht an jedem Dorf Station machen, sondern möchte in einzelnen kritischen Momentaufnahmen diverser Theoriemodelle im meta-sprachlichen Dschungel orientieren, Stärken und Schwächen im Vergleich erkennbar machen und schließlich einige Möglichkeiten für die Exegese eröffnen1. Obwohl besonders im anglo-amerikanischen Raum Lesetheorien unter der Bezeichnung „reader-response criticism“ auf die Auslegung der Evangelien zur Anwendung kommen, wollte ich bewußt bei den Theoriekonzepten der säkularen Literaturwissenschaft ansetzen, um unabhängig von der teilweise sehr eingeschränkten bibelexegetischen Rezeption eigene Wege gehen zu können. Dadurch ergibt sich natürlich ein gewisser Überschuß an Theorie: Alles auf die Auslegung der Evangelien oder besonders dann auf das Verständnis von Mt 1-2 zu übertragen, was in der Auseinandersetzung mit den sehr komplexen Werken der literarischen Moderne und Postmoderne zur Sprache kommt, käme einem theoretischen Overkill gleich. Ich wollte aber bewußt dieses theoretische „Mehr“ beibehalten, weil eine umfassende Orientierung nicht nur die Möglichkeiten, sondern auch die Grenzen der Übertragbarkeit erkennen lassen kann. Daß manche forschungsgeschichtlich bedeutsame „Haltestellen“ dennoch ausgelassen oder nur kurz besichtigt werden können, hängt teils mit den allzu großen Schwierigkeiten ihrer exegetischen Anwendbarkeit und teils auch mit meiner begrenzten Kompetenz zusammen. So übersteigt z.B. eine fundierte Auseinandersetzung mit den verschiedenen Modellen einer psychologisch orientierten Leserforschung, insbesondere aber mit den 1 Zwei wichtige Sammelbände mit klassischen Beiträgen sind: J.P. TOMPKINS (Ed.), Reader-Response Criticism (Baltimore; London, 1980) und WARNING (Hg.), Rezeptionsästhetik. Beide sind für eine Orientierung zu diesem Forschungsgegenstand unerläßlich. Sehr zu empfehlen ist auch der Sammelband von SULEIMAN/CROSMAN, The Reader in the Text, der vor allem Originalbeiträge wichtiger Theoretiker/innen abdruckt.

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wichtigen Impulsen von David BLEICH2 und Norman N. HOLLAND3, bei weitem meine fachliche Kompetenz4. Der gesamte Bereich der empirischen Rezeptionsforschung5 kann nicht systematisch gewürdigt und ausgewertet werden, weil das hermeneutische und das empirische Paradigma derzeit noch so stark auseinanderlaufen, daß eine sinnvolle Verbindung sicherlich nicht im Rahmen einer neutestamentlichen Arbeit gewagt werden kann 6. Anders steht es mit dem Werk des französischen Semiotikers Roland BARTHES (1915-1980): Als eine führende Gestalt der modernen Literaturwissenschaft hat er sich an verschiedenen Stellen zum Thema „Lesen“ geäußert. Sein wichtigster Beitrag jedoch ist angesichts der Konsequenz, mit der er sich einer wissenschaftlichen Fachsprache verweigert, für die hermeneutisch-methodische Reflexion, die in dieser Arbeit angestrebt wird, von geringem Wert7. In scheinbar zusammenhangslosen Fragmenten, Exkursen und Aphorismen zu Lektüre, Lust und Text entwirft er so etwas wie eine „Erotik des Lesens“ für den speziellen Umgang mit den Werken der literarischen Avantgarde. Das treibende Prinzip dieser Lektüre ist der „Wille zur Wollust“ eines ganz und gar hedonistischen Lesers, den BARTHES selbst „pervers“ nennt, weil es für ihn zur Maximierung seines Lustgewinns keinerlei Grenzen gibt8. Ein solcher postmoderner Leser ist methodisch nicht faßbar, seine Verbindung zum Text unvorhersehbar und seine Aktivitäten nicht in Fachsprache, sondern höchstens in literarischer Prosa beschreibbar.

2 Vgl. Readings and Feelings (Baltimore, 1978); Subjective Criticism (Baltimore, 1978); „Intersubjective reading“, NLH 17 (1986), 401-21; The Double Perspective (Oxford, 1988). 3 Vgl. The Dynamics of Literary Response (New York, 1968); Poems in Persons (New York, 1973); „Unity, Identity, Text, Self“, in Tompkins, Reader-Response, 118-33; Five Readers Reading (New Haven, 1975); „The New Paradigm: Subjective or Transactive?“ NLH 7 (1975/76), 335-46; „Recovering ‚The Purloined Letter‘: Reading as a Personal Transaction“, in Suleiman/Crosman, Reader in the Text, 350-70; The I (New Haven, 1985); „The Miller’s Wife and the Professors: Questions about the Transactive Theory of Reading“, NLH 17 (1985/86), 423-47. 4 Vgl. aber H. RAGUSE, Psychoanalyse und biblische Interpretation (Stuttgart, 1993), bes. 210-20. 5 Vgl. für den deutschsprachigen Raum A. BARSCH u.a. Seminar: Empirische Literaturwissenschaft (Frankfurt a.M., 1993); N. GROEBEN, Rezeptionsforschung als empirische Literaturwissenschaft (Tübingen, 1980); N. GROEBEN, P. VORDERER, Leserpsychologie (Münster, 1988); S.J. SCHMIDT, Grundriß der empirischen Literaturwissenschaft (stw 915; Frankfurt a.M., 1991). Die Fachzeitschriften Poetics und SPIEL: Siegener Periodicum zur Internationalen Empirischen Literaturwissenschaft und die Reihe „Konzeption Empirische Literaturwissenschaft“ (Opladen: Westdeutscher Verlag) sind dieser Forschungsrichtung gewidmet. 6 Vgl. die Integrationsversuche in IBSCH, „Hermeneutik und Empirik“, 1-21; „Reception Aesthetics versus Empirical Research of Reader’s Response“, Etudes de Réception; Reception Studies, ed. R.T. Segers (Actes du XIe Congrès de l’Association Intern. de Littérature Comparée; Bern usw., 1993), 41-52. 7 Die Lust am Text (bs 378; Frankfurt a.M., 71992; franz. Original: 1973). 8 BARTHES, Lust, 21f. EAGLETON, Literaturtheorie, 50 kritisiert zu Recht den hermetischelitären Charakter dieses Ansatzes: „Dieser selbstgenießerische avantgardische Hedonismus hat in einer Welt, in der andere nicht nur an Büchern, sondern auch an Nahrung Mangel leiden, etwas Beunruhigendes an sich.“ Vgl. ebd., 127-9 zum sozio-politischen Hintergrund der poststrukturalistischen Wende unter französischen Intellektuellen nach der Zerschlagung der Studentenrevolten Ende der 60er Jahre.

Forschungsgeschichtliche Stationen

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Ein kurzer Hinweis auf das Werk von Jacques DERRIDA (*1930) und der mit seinem Namen verbundenen dekonstruktionistischen Lektüre muß im Rahmen dieser Arbeit genügen, denn der französische Philosophiehistoriker hat an keiner mir bekannten Stelle explizit eine Lektürestrategie methodisch entfaltet9. Da DERRIDA seine philosophischen Anschauungen beinahe ausschließlich anhand der kritischen Lektüre anderer Texte entwickelt 10, läßt sich Dekonstruktion prinzipiell nur mimetisch auf literarische Werke übertragen. DERRIDAS Projekt ist allerdings viel umfassender: Er versucht in einer sprachlich nicht leicht zugänglichen Weise, die hierarchischen Strukturen des abendländischen Denkens zu subvertieren, indem die logischen Gegensätze, auf denen ein solches System basiert, mittels rhetorischer Analysen umgekehrt und geltende Hierarchien deplaziert werden. Alles Denken erweist sich so als hoffnungslos verwoben in einem Labyrinth unendlicher Widersprüche11. Der oder die dekonstruktionistische Leser/in steht vor einer endlosen Schleife von Kombinationsmöglichkeiten, hat ein ausgeprägtes Interesse für das Marginale und versucht mit ikonoklastischer Besessenheit gängige Interpretationen ad absurdum zu führen. Die praktischen Konsequenzen für die Literaturwissenschaft sind sehr weitreichend 12, aber für die methodisch reflektierte Frage nach der Möglichkeit einer leserorientierten Annäherung an die Evangelien erbringt DERRIDA deshalb nichts, weil Dekonstruktion keinen Beitrag zur methodischen Reflexion leisten, sondern diese vielmehr überwinden will 13.

2.1 Erste Stimmen Aus der Rückschau lassen sich für jede Forschungsrichtung bahnbrechende Gestalten erkennen. Für die moderne Rezeptionsforschung könnten sicherlich viele Namen genannt werden, doch möchte ich hier nur drei herausgreifen14: 9

Daß DERRIDA zum „Begründer“ einer neuen literaturwissenschaftlichen Schule werden konnte, ist das eher zufällige Produkt der nordamerikanischen Derrida-Rezeption im Rahmen des „literary criticism“ (vgl. P. ENGELMANN, „Postmoderne und Dekonstruktion: Zwei Stichwörter zur zeitgenössischen Philosophie“, Postmoderne und Dekonstruktion, hg. P. Engelmann [Stuttgart, 1990], 18). 10 Grundlegend sind seine Werke Grammatologie (Frankfurt a.M., 1974) und Die Schrift und die Differenz (Frankfurt a.M., 1977). 11 Vgl. J. DERRIDA , Positionen (Wien/Köln, 1985), 38.88.126; Wie Meeresrauschen auf dem Grund einer Muschel … Paul de Mans Krieg (Edition Passagen 20; Wien, 1988), 108; Randgänge der Philosophie, hg. P. Engelmann (Wien, 1988), 154. 12 Vgl. CULLER, Dekonstruktion, 200-56. Kritisch P.V. ZIMA , Die Dekonstruktion (UTB 1805; Tübingen, 1994). 13 Vgl. aber R. D ETWEILER (Ed.), Derrida and Biblical Studies (Semeia 23; Missoula, 1982); S.D. MOORE, Mark and Luke in Poststructuralist Perspectives (New Haven, 1992); Poststructuralism and the New Testament (Minneapolis, 1994); D. SEELEY, Deconstructing the New Testament (BibInt.S 5; Leiden, 1994); G. W ARD, „Why is Derrida important for Theology?“ Theology 95 (1992), 263-70. 14 Hervorzuheben wären auch: ABRAMS, Mirror, 14-21 („Pragmatic Theories“); P.J. ALPERS, The Poetry of „The Faerie Queene“ (Princeton, 1967); S. BOOTH, An Essay on Shakespeare’s Sonnets (New Haven, 1969); W.C. BOOTH, The Rhetoric of Fiction (Chicago, 2 1983), 119-48 („Emotions, Beliefs, and the Reader’s Objectivity“); D.W. HARDING, „Psy-

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1. Die angelsächsische Literaturwissenschaft verdankt ihre Anerkennung als akademische Wissenschaft dem grundlegenden Werk von Ivor Armstrong RICHARDS, Principles of Literary Criticism15. Es handelt sich hierbei um einen ganz im Zeichen der Spätromantik stehenden Versuch, die Literaturkritik mit Hilfe psychologischer Modelle zu einem wissenschaftlichen System auszubauen. RICHARDS nimmt geläufige Begriffe der Kunstästhetik wie „Fühlen“, „Denken“, „Verstehen“, „Vergnügen“ usw. auf und deutet sie mittels behavioristischer Theorien als Funktionen des Zentralnervensystems16. Zwei Aspekte seiner Prinzipien erscheinen besonders bedeutungsvoll im Hinblick auf das spätere Interesse am Akt des Lesens: a) Das literarische Werk steht in einem Kommunikationskontext zwischen Autor/in und Leser/in, selbst wenn eine solche Kommunikation vom Verfasser oder der Verfasserin nicht intendiert ist (64-73). Die Kommunikation ist im wesentlichen gelungen, wenn der Kritiker in der Lage ist, „ohne Überspanntheit denjenigen Geisteszustand zu erleben, der für das von ihm zu beurteilende Kunstwerk relevant ist“ (156). Dabei ist sich RICHARDS als Empiriker darüber bewußt, daß Leseerfahrungen nur selten einander gleichen. Verhängnisvoll sind nur jene Meinungsverschiedenheiten, „die die fundamentalen Merkmale der Erfahrungen berühren, jene Merkmale, von denen ihr Wert abhängt“ (157; Hervorhebung von Richards). b) Die ästhetische Erfahrung von Kommunikation besteht in der Übermittlung von moralischen Werten. Der Wert einer Erfahrung liegt in der „Organisation ihrer Impulse zur Freiheit und zur Fülle des Lebens“ (174f). Dabei sind jene Impulse am wichtigsten, die entgegengesetzter Natur sind, denn diese aktivieren „einen größeren Teil unserer Persönlichkeit, als dies bei Erfahrungen definierterer Gefühle möglich ist. Wir hören auf, einseitig ausgerichtet zu sein; mehr Facetten des Geistes werden offengelegt… Da ein größerer Teil unserer Persönlichkeit dabei engagiert ist, wächst zur gleichen Zeit unsere Unabhängigkeit von und Individualität gegenüber anderen Dingen. Wir scheinen sie ‚von allen Seiten‘ zu sehen, sie so zu sehen, wie sie wirklich sind“ (297).

Hier wird das positivistische Erbe des ausgehenden viktorianischen Zeitalters deutlich: Kunst soll dazu dienen, ein von Interessen unabhängiges Menschengeschlecht heranzubilden. Dennoch blieb RICHARDS nicht einfach auf der

chological Processes in the Reading of Fiction“, BJA 2 (1962), 133-47; A. NISIN, La littérature et le lecteur (Paris, 1959; vgl. dazu die Rezension von JAUSS in ASNS 197 [1960], 223ff). 15 I.A. RICHARDS, Principles of Literary Criticism (London, 2 1926) = Prinzipien der Literaturkritik (stw 484; Frankfurt a.M., 1985). Ich zitiere aus der dt. Ausgabe. Vgl. dazu FREUND, Return of the Reader, 23-39 und J. SCHLAEGER, „Einleitung“, zur dt. Ausgabe von Prinzipien, 7-36. 16 Typisch behavioristisch ist z. B. das Modell von stimulus (Reiz) und response (Reaktion).

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Beschreibungsebene eines idealistischen Programms, sondern hat in einem für seine Zeit ungewöhnlichen Experiment die Reaktionen von dreizehn Studenten auf die Lektüre eines Gedichtes analysiert, um Vorurteile und Voraussetzungen literarischer Wertung möglichst präzise beschreiben zu können17. Insgesamt hat RICHARDS mehr durch die Fragen gewirkt, die er aufgeworfen hat, als durch seine eigenen Lösungsansätze18. 2. In ähnlichen Bahnen bewegt sich die frühe Arbeit von Louise M. ROSENBLATT Literature as Exploration19. Sie versucht darin besonders im Hinblick auf den Schulunterricht Modelle zu entwerfen, damit Schüler/innen individuelle Aussagen über ihre Lektüreerfahrung präziser formulieren können. Da Literatur hier weiterhin im Dienst humanistischer Erziehungsideale steht, geht es letztendlich darum, die Schüler/innen zu einer Einstellung zu führen, in der sich diese Ideale erfüllen können. In ihren weiteren Publikationen hat sie den Begriff der Literatur als „Ereignis“ unter der Bezeichnung „Transactional Theory“ ausgebaut20. Leser und Text sind dabei dynamische Pole einer Transaktion, die an keiner Stelle genau festzumachen ist. Ihr Modell hat fast ausschließlich in jenen Kreisen gewirkt, die sich bewußt mit der Frage des Sprach- und Literaturunterrichts beschäftigen. 3. Mit dem kleinen Artikel von Walker GIBSON21 bleiben wir weiterhin im Bereich der Literaturdidaktik, jedoch haben wir es hier mit einem Autor zu tun, der ganz deutlich im „New Criticism“ verwurzelt ist. Obwohl seine Argumentation äußerst knapp und (aus heutiger Sicht) undifferenziert erscheinen mag, ist sie insofern grundlegend für die weitere Diskussion, als hier die theoretische Unterscheidung zwischen dem historischen Autor eines Werkes („author“) und dem fiktiven Sprecher innerhalb des literarischen Werkes („speaker“) ihre Widerspiegelung findet in der Unterscheidung zwischen einem empirischen Leser („reader“) und einer durch den Text angebotenen Leserrolle, die GIBSON mit dem Begriff „mock reader“ (etwa „Scheinleser“) bezeichnet22. Im Unterschied zu RICHARDS und ROSENBLATT gilt sein Interesse zunächst nicht dem empirischen Leser23, sondern jenem Leserkonstrukt, das durch das Werk angeboten wird und in dessen Rolle empirische Leser/innen 17

I.A. RICHARDS, Practical Criticism: A Study of Literary Judgement (1929; reprint: New York, 1935). 18 Vgl. die Kritik in FISH, Is There a Text? 52-6 und die insgesamt positivere Würdigung von J.P. RUSSO, „I.A. Richards in Retrospect“, CritInq 8 (1982), 743-60. 19 L.M. ROSENBLATT Literature as Exploration (New York, 1937; 41983). 20 „The Poem as Event“, ColEng 26 (1964), 123-8; The Reader, the Text, the Poem (1978); „The Transactional Theory: Against Dualisms“, ColEng 55 (1993), 377-86. 21 „Authors, speakers, readers, and mock readers“, ColEng 11 (1950), 265-9. Ich zitiere nach dem Wiederabdruck in Tompkins, Reader-Response, 1-6. 22 Diese Argumentationslinie findet sich später in aller Ausführlichkeit in einem Klassiker der modernen Erzählforschung: BOOTH, Rhetoric of Fiction. 23 Dieser ist – wie der historische Autor – ganz im Sinne des „New Criticism“ „lost in today’s history“ und daher für die Auslegung „mysterious and sometimes“ irrelevant (1).

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Literarische Rezeptionskritik und Evangelienexegese

zu schlüpfen haben, wenn sie das Werk verstehen wollen. Daher ist die literarische Erfahrung kein Geschehen, das sich zwischen wirklichen Leser/innen und einem historischen Autor abspielt, oder zwischen ihnen und einem fiktiven Sprecher, sondern „between such a speaker and a projection, a fictious modification of themselves“ (5)24. GIBSON kann über diese Unterscheidung schließlich auch ein Kriterium für die Beurteilung von Literatur formulieren: Ein schlechtes Buch ist einfach eines, mit dessen „Scheinleser“ wir uns nicht identifzieren können (5). Damit wendet sich sein Interesse wieder der Literaturdidaktik und den empirischen Leser/innen zu. Ist Lektüre im Prinzip ein Rollenspiel und definiert sich schlechte Literatur über die innere Ablehnung einer Rolle, dann geht es beim Lesen letztendlich um die Suche nach der eigenen Identität, also um die Frage: „Wer möchte ich sein?“ (6). Das pädagogische Anliegen dieses Ansatzes (wie auch das von RICHARDS oder ROSENBLATT) ist in der Folgezeit eher an den Rand gedrängt worden. Zwar ist die Leserforschung zu wesentlich komplexeren Modellen und einer präziseren Terminologie gelangt (der Begriff „mock reader“ ist glücklicherweise nicht in Umlauf gekommen), aber die prinzipielle Unterscheidung zwischen den wirklichen Leser/innen und einem textuellen Leserkonstrukt ist nicht mehr aus dem rezeptionskritischen Diskurs wegzudenken25.

2.2 Michael Riffaterre (*1924): Der Archileser Die Erforschung literarischen Stils stand immer unter dem Verdacht, das eher zufällige Ergebnis relativ willkürlicher Werturteile einflußreicher Literaturkritiker/innen zu sein. Zwar sind Rhetorik, Grammatik oder Philologie unerläßlich für die Stilanalyse, aber der normative Charakter dieser Disziplinen führt dazu, daß ein Stilfaktum nur in der Durchbrechung einer Norm konstatiert werden kann. Damit erscheint Stil als ein sprachliches Phänomen, das mittels linguistischer Methoden nur unzureichend erfaßt werden kann. Ausgehend von diesem Dilemma versucht Michael RIFFATERRE, Professor an der Columbia University in New York, über die Hinwendung zum Rezipienten in eine 24 Damit nimmt GIBSON entscheidende Aspekte der literarischen Kommunikation, wie sie später S. CHATMAN definieren sollte (vgl. Story and Discourse [Ithaca; London, 1978], 151), vorweg. 25 Eine ähnliche Sicht wurde zeitgleich von R.P. PARKIN, „Alexander Pope’s Use of the Implied Dramatic Speaker“, ColEng 11 (1949/50), 137-40 vertreten. Sie definiert den „impliziten dramatischen Sprecher“ als „the implied fictional character, not identifiable with the author, who speaks the poem“ (137) und konstruiert ähnlich wie GIBSON auch ein intratextuelles rezeptives Gegenstück, das sie „implied audience“ nennt (137). Diese Sicht wurde früh von W.K. WIMSATT rezipiert: „The actual reader of a poem is something like a reader over another reader’s shoulder: he reads through the dramatic reader, the person whom the full tone of the poem is addressed in the fictional situation.“ (Verbal Icon, XV).

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neue Richtung vorzustoßen26. Bereits 1955 legte er eine Stiluntersuchung zu Gobineaus „Plejaden“ vor, bei der er mit dem Begriff des Durchschnittslesers operierte27. Da er in der Folgezeit sein Modell grundlegend revidiert hat, ist im folgenden besonders auf seinen programmatischen Aufsatz „Kriterien für die Stilanalyse“28 wie auch auf seine exemplarische Durchführung in „Die Beschreibung poetischer Strukturen: Zwei Versuche zu Baudelaires Gedicht ‚Les Chats‘“29 einzugehen: Da die Suche nach der Intention des Autors die Stilanalyse auf ein zu unsicheres Terrain führen würde, erscheint es ratsamer, das lesende Subjekt für die Suche nach stilistischen Merkmalen einzuschalten (39f), denn „das stilistische Verfahren ist derart geplant, daß der Leser weder daran vorbei noch es lesen kann, ohne dadurch auf das Wesentliche gelenkt zu werden“ (40; vgl. a. 248). RIFFATERRE, der bei diesen Überlegungen von empirischen Leser/innen ausgeht, muß natürlich dem Problem der Variabilität von Lesereaktionen beikommen; d.h. er muß „eine grundsätzlich subjektive Reaktion auf den Stil in ein objektives Analyseinstrument“ umwandeln (40). Frei nach dem Motto „Kein Rauch ohne Feuer“ wertet er Urteile einzelner Leser/innen als Signale für das Vorhandensein eines stilistischen Stimulus. Durch ihr subjektives Verhalten läßt sich die „objektive“ Ursache im Text ausfindig machen. Die Leser/innen werden zu Informant/innen, während der Stilforscher ihre Reaktionen sammelt und auswertet. Vorzuziehen sind Informant/innen, für die der Text muttersprachlich ist und die über genügend Bildung verfügen, um metasprachliche Aussagen über die eigene Lektüre machen zu können (41). Anstatt Reaktionen durch einen Fragebogen in bestimmte Bahnen zu lenken, läßt man Informant/innen auffällige Stellen im Text markieren (48)30. Aber nicht nur empirische Leser/innen sind wichtig für diese Art der Stilanalyse, sondern auch vorherige Auslegungen des Textes, Anmerkungen von Herausgeber/in26 In seinem Artikel „Auf dem Weg zu einer linguistischen Definition des Stils“, [1961] Strukturale Stilistik (München, 1973), 97-123 bespricht er verschiedene linguistische Beiträge zur Stilforschung und konstatiert am Ende: „Der entscheidende Schritt zur Lösung des Stilproblems wurde getan, als man bei der Untersuchung des literarischen Gebrauchs der Sprache nicht mehr den Standpunkt des Autors einnahm, sondern den desjenigen, an den sich der Stil richtet.“ (123) 27 Le Style des Pléiades de Gobineau (Genf; Paris; New York, 1957). 28 Ursprünglich als „Criteria for Style Analysis“ in Word 15 (1960), 154-74 veröffentlicht. Ich zitiere nach der deutschen Übersetzung und Überarbeitung in Strukturale Stilistik, 29-59. Der Text ist auch in Warning, Rezeptionsästhetik, 163-95 abgedruckt. 29 Ursprünglich als „Describing poetic structures: Two approaches to Baudelaire’s Les Chats“ in Yale French Studies 36-37 (1966), 200-42 erschienen. Ich zitiere aus Strukturale Stilistik, 232-82. 30 Das Problem der Beeinflussung von Rezeptionsäußerungen durch Fragebögen ist auch in der empirischen Literaturwissenschaft virulent (vgl. J. KRIZ, „Dimensionen des Verstehens: Verstehensprozesse zwischen Subjektivität und Objektivität“, in Ibsch/Schram, Rezeptionsforschung, 61).

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nen, Übersetzungen und eigene Lektüren (42f). Die Gesamtheit dieser Aussagen faßt RIFFATERRE in dem Begriff des „Archilesers“ (franz. „archilecteur“) zusammen31. Der Archileser ist lediglich „ein Werkzeug zum Herausarbeiten der Stimuli eines Textes“, welches nur im ersten Stadium der Analyse heuristisch eingesetzt wird (44). Dabei ist für die Stilanalyse nicht der Inhalt einzelner Aussagen interessant, sondern nur die Tatsache, daß verschiedene Informant/innen in der Erwähnung bestimmter Textmerkmale konvergieren (44)32. Erst in einem zweiten, hermeneutischen Stadium kann dazu übergegangen werden, den so bestimmten Stimulus rhetorisch zu definieren (44f). Durch die Multiplizierung von Informant/innen wird der Streuwert geringer, extreme Positionen werden an den Rand gedrängt und einzelne stilistische Elemente des Textes können unabhängig von den subjektiven Werturteilen der forschenden Person analysiert werden. Das Modell des Archilesers ist kein Mittel um einen Mehrheitsentscheid für oder gegen eine bestimmte Auslegung zu erheben, sondern eine Art „Wünschelrute“ in der Hand des Stilforschers. Ein weiterer Aspekt, den RIFFATERRE betont, ist der zeitlich lineare Charakter der Lektüre. Er schreibt: „[V]iele Kritiker … beginnen damit, das Ende zu kommentieren und zerstören so die Spannung; oder aber sie benutzen Diagramme, die das Gleichgewicht des natürlichen Hervorhebungssystems des Textes verändern… Man kann niemals genug die Bedeutung einer Lektüre betonen, die im Sinne des Textes verläuft, d.h., von Anfang bis Ende. Wenn man diese ‚Einbahnstraße‘ nicht beachtet, verkennt man …, daß das Buch abläuft (so wie im Altertum die Schriftrolle materiell abgerollt wurde), daß der Text Gegenstand einer progressiven Entdeckung ist, einer dynamischen und sich dauernd verändernden Wahrnehmung, wobei der Leser … mit seinem Vorgehen sieht, wie sein Verständnis des bereits Gelesenen sich verändert, da jedes neue Element den vorangehenden Elementen eine neue Dimension verleiht, indem es sich wiederholt, ihnen widerspricht oder sie entwickelt… Diese Etappen können nur studiert werden, wenn der Analytiker im Gedicht die Schilder ‚Einfahrt verboten!‘ nicht überfährt.“ (249f) 33

Das Modell von RIFFATERRE hat sicherlich viele Vorzüge, aber selbst bei einer begrenzten Anwendung im Bereich der Stilanalyse neutestamentlicher Erzählliteratur sehe ich folgende Schwierigkeiten: 1. Die Verheißung, über den Archileser der Stilanalyse zu wissenschaftlicher Objektivität zu verhelfen, erweist sich in der Praxis als trügerisch. Das letzte Wort haben die Stilfor31

44: „Die für jeden Stimulus oder für eine ganze stilistische Sequenz benutzte Informatorengruppe nennen wir Archileser.“ Vgl. etwa die Bestimmung des Archilesers bei seiner Auslegung von Baudelaires „Les Chats“, 250f. Der „Archileser“ ersetzt in seinem Modell ausdrücklich den Begriff des „average reader“ (289, Anm. 17). 32 Vgl. a. 249: „Was an einer Reaktion trübe ist, ist ihr Inhalt… Die Reaktion selbst bezeugt objektiv die Verwirklichung eines Kontakts.“ 33 Damit richtet sich RIFFATERRE ganz deutlich gegen Strukturalisten wie JAKOBSON und LÉVI-STRAUSS, die aus einem Sonett ein „Supergedicht“ machen, „das dem normalen Leser unzugänglich ist“ (247). Später wird ISER das gleiche Phänomen mit dem Begriff des „wandernden Blickpunkts“ bezeichnen (s.u. S. 73ff).

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scher/innen: Sie entscheiden, ob eine Reaktion so weit vom historischen Kontext des Werkes entfernt ist, daß sie dem Bereich persönlicher Beliebigkeit zugeordnet werden kann34. 2. Die Forderung nach muttersprachlichen Leser/innen (41)35 führt im Falle des Neuen Testaments zu einem beklagenswerten Mangel an Informanten. 3. Weiterhin kann wohl kein/e moderne/r Leser/in die Reaktion der zeitgenössischen Leser/innen nachempfinden (vgl. 49). Dieses Argument ist vor allem dann entscheidend, wenn man die Leserlenkung innerhalb ihrer geschichtlichen Möglichkeiten zu definieren gedenkt. Versteht man hingegen das literarische Werk als ungeschichtliches, überzeitliches, transzendentales Gebilde, dann ist die Reaktion eines heutigen Informanten genauso brauchbar für die Interpretation wie die eines zeitgenössischen Lesers. Das wäre allerdings nicht im Sinne RIFFATERRES36. 4. RIFFATERRE zählt zwar als „Wahlamerikaner“ zu den wichtigen Denkern des anglo-amerikanischen „reader-response criticism“, aber bei ihm übt der Text eine maximale Kontrolle über seine Leser/innen aus. Trotz seines Bestreitens der Referenzialität von literarischen Werken (also ihrer Abhängigkeit von textexternen Faktoren), hält er Texte für eindeutig in ihrem Sinn fixierbar. Es scheint mir aber zweifelhaft, ob sich Leseforschung mit interpretatorischen Absolutheitsansprüchen vereinbaren läßt37. Die Kritik, die RIFFATERRE an der traditionellen Stilistik geübt hat, kann m.E. auf einen ernsthaften Mangel in der zur Zeit blühenden Anwendung rhetorischer Kategorien auf die Bibelexegese im einzelnen und auf die Auslegung der Evangelien im besonderen aufmerksam machen. Auch wenn die Fülle an Literatur kaum überschaubar ist38, lassen einige Probebohrungen durchaus den Schluß zu, daß zwar die Kenntnisse antiker und moderner Rhetorik und dementsprechend auch das Instrumentarium einer möglichst präzisen Beschreibungssprache ungeheuer angewachsen sind, aber daß jene Instanz, die für die Rhetorik eigentlich relevant sein sollte, „draußen vor der Tür“ ihr Dasein fristet: das lesende Subjekt. In der Regel begnügen sich Rhetoriker/innen mit der Einordnung einzelner Tropen in die Schublade rhetorischer Kategorien, berücksichtigen aber zu wenig, daß es sich dabei um Signa34 Vgl. E. FREY, Franz Kafkas Erzählstil (EHS I/31; Bern, 1970), 50f.64. 35 Vgl. 48: „Die Antworten des Archilesers gelten nur für den Sprachzustand,

den er kennt.“ 36 Der Aussageinhalt des Informanten sagt seiner Meinung nach nicht immer etwas über eine Eigenschaft des Textes aus, sondern „über das sprachliche Bewußtsein des historischen Zeitraumes, in dem der Archileser lebte“ (45). 37 Vgl. zum letzten Punkt die Kritik von RIFFATERRES Strukturaler Stilistik in C. BODE , Lexikon literaturtheoretischer Werke, hg. R.G. Renner, E. Habekost (KTA 425; Stuttgart, 1995), 128-30. „Immer deutlicher wird dabei der Widerspruch zwischen dem Anspruch, eine allgemeine Theorie des Lesens zu bieten (die alle Lektüren umfaßt), und der Neigung, andere Interpretationen als fehlerhaft auszuschließen.“ (130) 38 Vgl. D.F. WATSON , A.J. HAUSER, Rhetorical Criticism of the Bible: A Comprehensive Bibliography with Notes on History and Method (BibInt.S 4; Leiden, 1994).

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le im Kommunikationsprozeß zwischen Text und Leser/innen handelt. In der Praxis werden zuweilen rhetorische Elemente aus dem Text eruiert, die aus der Sicht des rezipierenden Subjekts entweder irrelevant oder praktisch nicht nachvollziehbar sind39. Wenn sich also die moderne rhetorische Exegese damit begnügt, mit Hilfe moderner oder antiker rhetorischer Lehrbücher (etwa von Lausberg, Quintilian oder der Progymnasmata) Stilmerkmale, Struktureinheiten und literarische Gattungen zu benennen und voneinander abzugrenzen, ohne aber nach deren kommunikativer Relevanz, nach ihrer intendierten Wirkung und nach ihrer möglichen Rezeption zu fragen, dann wird sie nicht nur in ihrer beharrlichen Textzentriertheit für den heutigen Rezipienten uninteressant, sondern sie verfehlt damit auch die Absicht der antiken rhetorischen Theorie, deren Lehrbücher sie so fleißig zitiert40. Eine Synekdoche, ein Chiasmus, eine Alliteration, ein Pleonasmus usw. sind nicht Stilmerkmale für sich selbst, sondern für ein wahrnehmendes Subjekt, den Leser oder die Leserin eines Werkes.

2.3 Gerald Prince: Der Erzähladressat oder das narrative Publikum Nachdem der Begriff des „narrataire“ (franz.) oder „narratee“ (engl.) beinahe unmerklich in Gebrauch gekommen war, legte 1973 der Erzählwissenschaftler Gerald PRINCE den Versuch einer systematischen Erfassung dieser theoretischen Kategorie des Erzählwerkes vor41. Dieser Begriff, den man im Deutschen etwa mit „Erzähladressat“ oder „narratives Publikum“ wiedergeben könnte, ist besonders von Erzählforscher/innen rezipiert worden42. Jede Erzählung besitzt demnach neben dem real existierenden Autor und Leser jeweils einen fiktiven, intratextuellen Erzähler („narrator“) und einen ebensol39 Wie z.B. im Falle von überdimensionalen Chiasmen! 40 Zur rezeptionsästhetischen Orientierung der antiken

Rhetorik und Poetik s.u. S. 120ff („Die Wirkung von Texten in der antiken Literaturtheorie“). 41 „Introduction à l’étude du narrataire“, Poétique 14 (1973), 178-96. Des weiteren zitiere ich aus der englischen Version „Introduction to the Study of the Narratee“, in Tompkins, Reader-Response, 7-25. PRINCE bündelt hier zwei Vorstudien: „On Readers and Listeners in Narrative“, NP 55 (1971), 117-22; „Notes towards a Categorization of Fictional ‚Narratees‘“, Genre 4 (1971), 100-5. 42 Vgl. z.B. CHATMAN , Story and Discourse, 253-62; G. G ENETTE, Narrative Discourse Revisited (Ithaca; London, 1988), 130-134; H. MOSHER, „A New Synthesis of Narratology“, PoetTod 1 (1980), 171-86; M.A. PIWOWARCZYK, „The Narratee and the Situation of Enunciation: A Reconsideration of Prince’s Theory“, Genre 9 (1976), 161-77; S. RIMMON-KENAN, Narrative Fiction (London, New York, 1983), 86-9.103-5. In exegetischen Kreisen etwa bei R.A. CULPEPPER, Anatomy of the Fourth Gospel (Philadelphia, 1983), 205-27; J.D. KINGSBURY, Matthew as Story (Philadelphia, 21988), 37f; RAGUSE, Psychoanalyse, 103-6.

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chen Erzähladressaten („narratee“), dem die Erzählung auf gleicher Erzählebene gilt43. Für PRINCE ist der Erzähladressat streng von anderen Leserkonstrukten zu trennen, besonders aber vom realen Leser (9f). Allen textuell aktivierten Erzähladressaten liegt der sogenannte „zero-degree narratee“ zugrunde (10f): Als rein theoretisches Konstrukt verfügt dieser über verschiedene Kompetenzbereiche: semantisch (Kenntnis aller Wortbedeutungen), grammatikalisch (Erkennen und Auflösen von Ambiguitäten), narrativ (Kenntnis relevanter Erzähltechniken) und mnemisch (Erinnerung alles bisher Erzählten). Dem „zero-degree narratee“ fehlen andererseits Persönlichkeit oder sozialer Status, Vorwissen über die Erzählung, Kenntnisse historischer Konventionen und intertextuelle Kompetenz. Dieses etwas farblose intratextuelle Gebilde gilt als Grundtyp aller Erzähladressaten. Erst durch die konkrete Erzählung gewinnt es an eigenständigem Profil44. Über das Kriterium der variierenden Entfernung zwischen Erzähler, Erzähladressat und Handlungsträgern gelangt PRINCE zu einer Einteilung von Erzähladressaten in drei Kategorien (17-20): solche, die unerwähnt bleiben, solche, die vom Erzähler direkt oder implizit angesprochen werden, und solche, die selbst als Handlungsträger innerhalb der Erzählung in Erscheinung treten. In jedem Fall aber hat der Erzähladressat die wichtige Doppelfunktion, zwischen dem Autor und dem Leser zu vermitteln und ein genaueres Bild des Erzählers zu geben (20-23). Auf eine Beschränkung seines Modells weist PRINCE allerdings nur en passant hin: Er beginnt seine Ausführungen mit der allgemeinen Beobachtung, daß jeder Erzählvorgang, ob mündlich oder schriftlich, ob expositiv oder mythisch, ob faktisch oder fiktiv, immer (mindestens) einen Erzähler und einen Erzähladressaten voraussetzt (7). Weiter heißt es: „In a fiction-narration – a tale, an epic, a novel – the narrator is a fictive creation as is his narratee“ (7). Da alle seine weiteren Beispiele fiktiver Erzählliteratur entnommen sind, bleibt leider die Frage ungeklärt, ob aus seiner Sicht sein Modell in bezug auf orale oder nicht-fiktive Erzählungen sinnvoll angewendet werden kann. Weiterhin scheint es mir vor allem in der Praxis nicht immer deutlich zu sein, wo genau die Grenzen zwischen Erzählpublikum und anderen textinternen Leserkonstrukten (wie etwa Isers „implizitem Leser“) verlaufen sollen45. Relativ einfach scheint zunächst die Übertragung seines Modells auf Fälle erzählter 43

Z.B.: In der Rahmenerzählung der arabischen Sammlung „Tausendundeine Nacht“ ist Scheherazade die Erzählerin und der Kalif das narrative Publikum. 44 „Every narratee possesses the characteristics that we have enumerated except when an indication to the contrary is supplied in the narration intended for him… It is on the basis of these deviations from the characteristics of the zero-degree narratee that the portrait of a specific narratee is gradually constituted” (11). 45 Mit diesem Problem stehe ich nicht alleine da (vgl. TOMPKINS, Reader-Response Criticism, xii). PRINCE hat zwar diese Unterscheidung auch weiterhin beibehalten (vgl. etwa A Dictionary of Narratology [Lincoln; London, 1987], 57; Narratology [Berlin, 1982]), aber diese Frage ist m.E. weithin unbeantwortet geblieben.

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Rede innerhalb der Evangelien zu sein. Wenn z.B. Jesus seinen Jüngern ein Gleichnis erzählt, dann könnte man Jesus als „Erzähler“ und seine Jünger als das „narrative Publikum“ identifizieren46. Doch wenn jede Geschichte einen Erzähler impliziert, dann steht hinter dem Erzähler Jesus der Erzähler des Evangeliums. Jesus wäre somit ein „erzählter Erzähler“ oder ein „Erzähler zweiten Grades“. Die Jünger mögen zwar innerhalb der Erzählung das narrative Publikum sein, aber da der „Erzähler ersten Grades“ seinem „Erzählpublikum“ auch etwas mitteilen will, wäre auch der implizite Leser „Erzähladressat“ des Gleichnisses. An dieser Stelle scheint mir jedoch Stoff für eine Begriffsverwirrung mittleren Ausmaßes vorzuliegen. Einen viel stärker heuristischen Wert als der Begriff des „narratee“ haben die textuellen Signale, die PRINCE aufzählt, um die Konturen des narrativen Publikums sichtbar werden zu lassen47. Die Stärke seiner Systematisierung liegt also weniger im terminologischen als vielmehr im sachlichen Bereich. Ich werde daher nicht zwischen „Erzähladressat“ und anderen textuellen Lesermodellen unterscheiden.

2.4 Peter J. Rabinowitz: Das vierfach geteilte Publikum Anhand von Vladimir Nabokovs äußerst komplexen Roman Pale Fire geht Peter J. RABINOWITZ nochmals der viel diskutierten Frage nach dem Wahrheitsgehalt fiktionaler Texte auf den Grund48. Auf der Grundlage der durch GIBSON eingeführten Unterscheidung zwischen zwei verschiedenen Leserebenen erweitert RABINOWITZ das „Angebot“ auf vier Rezeptionsebenen49: 1. Das tatsächliche Publikum („actual audience“): die reale Leserschaft, die tatsächlichen Endverbraucher/innen eines Werkes, die zwar von den Verlagen anvisiert werden, aber der Kontrolle des Autors entgleiten (126). 2. Das autoriale Publikum („authorial audience“): jene hypothetische Leserschaft, die der Autor im Sinn hat. Jegliche Annahme über die Überzeugungen seiner Leser/innen, ihren Wissensstand und ihre Vertrautheit mit Konventionen, die innerhalb der Erzählwelt gelten, hinterläßt in der Rhetorik des Werkes ihre Spuren. Da den meisten Autoren daran liegt, gelesen zu werden, versuchen sie den Abstand zwischen tatsächlichem und autorialem Publikum möglichst gering zu halten, auch wenn dieser Graben nie gänzlich überbrückt werden kann (126-7). Es ist daher Aufgabe der Auslegung, den geographischen, kulturellen und chronologischen Abstand zwischen beiden Größen durch Kompetenzge46 So z.B. M.A. POWELL, What Is Narrative Criticism? (Minneapolis, 1990), 27. 47 Siehe unten S. 151ff. 48 P.J. RABINOWITZ, „Truth in Fiction: A Reexamination of Audiences“, CritInq

4 (1977), 121-142. 49 Eine „Zwischenstation“ zwischen GIBSON und RABINOWITZ stellt der Artikel von W.J. ONG dar: „The Writer’s Audience is Always a Fiction“, PMLA 90 (1975), 9-21.

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winn (131: „through research“) abzubauen. Nur durch diesen Rollenwechsel – GIBSON läßt grüßen! – wird es dem/der Ausleger/in möglich, an der beabsichtigten Wirkung eines literarischen Werkes teilzunehmen (126f.131)50. 3. Das narrative Publikum („narrative audience“): Das narrative Publikum erschließt sich aus der Frage: Wie hätte man sich einen Leser vorzustellen, für den das Werk real und nicht fiktional wäre? (128). Das narrative Publikum faßt die Erzählung als reales Geschehen auf, folgt aber nicht allen Urteilen des Erzählers (133-4)51. Der Unterschied zwischen dem narrativen und dem autorialen Publikum besteht daher auf der Unterscheidungsebene zwischen fiktiv und faktisch (135). Nur in den Gattungen Autobiographie und Geschichtsschreibung verschwindet daher die Distanz zwischen beiden Publikumsebenen (131). Im großen und ganzen stimmt diese Kategorie mit PRINCES „narratee“ überein52. 4. Das ideale narrative Publikum („ideal narrative audience“): Gerade die Vorstellung, daß Erzähler zuweilen auch unzuverlässig sein können, führt zu einem Erzählpublikum, das alles so versteht, wie es der Erzähler beabsichtigt. Es stellt sich nie die Frage: „Soll ich das wirklich glauben?“ Der Unterschied zwischen narrativem und idealem narrativen Publikum besteht also nicht auf der Ebene fiktiv/faktisch, sondern auf der moralischen Ebene richtig/falsch (134f). RABINOWITZ möchte mit dieser Nomenklatur nicht Lesertypen streng voneinander scheiden, sondern eher das vielschichtige Rollenangebot beschreiben, das ein Werk gleichzeitig (oder: vertikal) für seine Leser/innen parat hält, um die Teilnahme an der intendierten Wirkung zu ermöglichen (130, Anm. 18)53. Nur von hier aus lassen sich unterschiedliche Wahrheitsebenen voneinander abheben. Dadurch ist es auch möglich, den Text auf verschiedene Wei-

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Ähnlich bereits E. WOLFF, „Der intendierte Leser“, Poetica 4 (1971), 141-166, dem es um die „Leseridee, die sich im Geiste des Autors“ beim Schreiben verfestigt hat (166), geht. 51 BOOTH hat den „unreliable narrator“ erstmals zum Gegenstand einer längeren Untersuchung gemacht (Rhetoric of Fiction, 158f). Das narrative Publikum ist sich also durchaus darüber bewußt, daß der Erzähler auch wissentlich oder unwissentlich lügen, Information zurückhalten oder Fehlurteile abgeben kann (RABINOWITZ, 133f). 52 RABINOWITZ sieht einen Gegensatz zwischen seinem „narrativen Publikum“ und dem Modell von PRINCE. Während RABINOWITZ von einem Rollenangebot innerhalb des Textes spricht, befindet sich PRINCES „narratee“ irgendwo zwischen textimmanentem Erzähler und tatsächlichem Leser (127, Anm. 14). Weiterhin postuliert RABINOWITZ keinen „degree-zero narratee“, sondern nimmt von Anfang an ein anthropomorphes Erzählpublikum an (126, Anm. 16). Der Unterschied ist aber m.E. minimal: PRINCE geht zwar davon aus, daß der „Erzähladressat“ eine Vermittlerfunktion einnimmt, aber dennoch ist seine Beschreibung streng intratextuell, und sein „degree-zero narratee“ ist schließlich nur eine Grundannahme, die dann von Text zu Text anthropomorph ausgebaut wird. Ich halte daher RABINOWITZ’ dritte Beschreibungsebene für deckungsgleich mit dem Modell von PRINCE. 53 Wenn man also von der Rolle des Lesers spricht, sollte man sich vor Augen halten, daß es in Wirklichkeit um verschiedene Rollen geht (vgl. CULLER, Dekonstruktion, 37; W. SCHENK, „Die Rollen der Leser oder der Mythos des Lesers?“ LingBib 60 [1988], 64).

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sen „richtig“ zu lesen, auch wenn diese Auslegungen einander ausschließen54. Natürlich erscheint manchen eine vierfache Differenzierung als unnötig kompliziert55, aber erstens gesteht RABINOWITZ ein, daß dieses Modell je nach Bedarf ausbaufähig ist (140), und zweitens geht es ihm nicht um ein übergreifendes oder transzendentales Theoriekonzept, sondern um eines, das eine Hilfe für den Umgang mit „texts with involved narrative structures“ (123) oder „more intricate and ironic works“ (125) bieten soll56. Dieser Grad an Differenzierung ist notwendig, denn: „literature has grown progressively more selfconscious and labyrinthian in its dealings with ‚reality‘“ (125). Damit sind aber auch die Grenzen für die Übertragung auf die Evangelien deutlich markiert. Die Erzählformen der Evangelien weisen nicht den Komplexitätsgrad vieler moderner Werke auf, und man sollte sich davor in acht nehmen, sie allzu sehr im modernen Sinne zu „literalisieren“. Das Modell von RABINOWITZ ist ein wichtiger theoretischer Schritt nach vorne. Eine Anwendung auf die Evangelien käme allerdings einem hochmodernen Militärangriff auf ein mittelalterliches Dorf gleich. Wenn man nicht so weit gehen will, die Evangelien als beabsichtigte Fiktion zu verstehen, dann wird man wohl nur unscharf zwischen diesen einzelnen Lese-Rollen unterscheiden können. Das tatsächliche Publikum ist größtenteils nur aus dem Text rekonstruierbar und überlappt sich daher unweigerlich mit dem autorialen Publikum57. Man kann sich auf historischer Ebene auch kaum eine Leserschaft vorstellen, die die Geschichte für faktisch hält, aber nicht den moralischen Urteilen des Erzählers folgt, wie dies bei der Unterscheidung zwischen „narrativem“ und „idealem narrativen Publikum“ der Fall wäre.

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Das betont RABINOWITZ in seiner Replik auf die Kritik von DOWLING (s. nächste Anm.): „Who was that Lady? Pluralism and Critical Method“, CritInq 5 (1978/79), 585-589; bes. 589. 55 Das ist eigentlich die Hauptkritik von W.C. DOWLING, „Invisible Audience: Peter J. Rabinowitz’s ‚Truth in Fiction‘“, CritInq 5 (1978/79), 580-4. Er selbst schlägt vor, nur mit einer „internal audience“ zu operieren, doch diese erweist sich bei genauerer Betrachtung auch als in sich geteilt (RABINOWITZ, „Who was that Lady?“ 587-8). 56 Es ist typisch für DOWLINGS Verwurzelung im „New Criticism“, daß er eben diese nur partielle Anwendung kritisiert: „Yet this sort of counterassertion – that critical theory holds for some works and not for others – has always troubled me“ (582). Seiner Meinung nach sollte die Literaturwissenschaft analog der theoretischen Physik zur Bildung möglichst exakter allgemeingültiger Regeln gelangen (582). Dem hält RABINOWITZ entgegen: „Different works call for different methodologies … and no hammer can be equally effective on railroad spikes and ‚tin tacks‘.“ („Who was that Lady?“ 586). Dem kann ich nur zustimmen! 57 CULPEPPER, der diese Unterteilung für die Exegese des Johannesevangeliums fruchtbar machen will, muß feststellen: „The narrative audience merges with the authorial audience“ (Anatomy, 208). Wenn dem so ist, dann verliert die Anwendung der RABINOWITZ’schen Terminologie ihren heuristischen Wert.

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2.5 Stanley Fish (*1938), Phase I (bis 1976): Der informierte Leser Der nordamerikanische Literaturwissenschaftler Stanley Eugene FISH, Professor für Englisch an der Johns Hopkins University und später für Englisch und Recht an der Duke University, gehört sicherlich zu den schillerndsten Figuren in der aktuellen literaturtheoretischen Diskussion um den Beitrag der Lektüre. Er war nicht nur einer der ersten, der ein ganzes Werk konsequent aus leserorientierter Perspektive auslegte (s.u.), sondern schwor in einer Zeitspanne von kaum zehn Jahren vielen seiner vehement vertretenen Positionen in einer Radikalität öffentlich ab, wie man sie im Bereich der Wissenschaft nur selten antrifft. Wenn ich daher diesen Theoretiker an zwei Stellen meiner Forschungsreise ausführlicher bespreche, dann ist das keine unfreiwillige Dublette, sondern Widerspiegelung eines ungewöhnlichen wissenschaftlichen Werdegangs. Im Jahre 1967 – zu einer Zeit als die Vorherrschaft des „New Criticism“ noch ungebrochen und der Strukturalismus stark im Kommen war – wagte sich FISH mit einer Auslegung von John Miltons religiös-allegorischen Versepos Paradise Lost (1667) an die Öffentlichkeit, in deren Zentrum nicht der Text an sich, sondern die durch dessen Strategien hervorgebrachte Reaktion und Wandlung des Lesers stand58. FISHS Titelwahl „Surprised by Sin“ (etwa „von Sünde überrascht“) ist programmatisch: Miltons Leser/innen sind nicht nur lesendes Subjekt des Textes, sondern auch dessen Objekt; sie sind nicht nur Betrachtende, sondern Teilnehmende. Im Verlauf der Lektüre werden sie in das Geschehen verstrickt: Sie finden sich im Paradies wieder, werden mit Adam und Eva von satanischer Rhetorik verführt und verlieren dabei ihre Unschuld. Durch ein ständiges Spiel von Orientierung und Desorientierung bewirkt der Text eine Katharsis, die die Leser/innen zu der Erkenntnis führt, daß sie der Gnade Gottes bedürfen. FISHS Leserkonstrukt richtet sich nach den gängigen protestantisch-puritanischen Konventionen des 17. Jahrhunderts59. Unter der Bezeichnung „affective stylistics“ legte FISH drei Jahre später eine theoretische Begründung dieser Vorgehensweise vor, die zu einem der einflußreichsten und meist diskutierten Texten der Richtung wurde, die in den

58 Surprised by Sin (New York, 1967). In der Vorgehensweise sehr ähnlich, aber weniger einflußreich war die Arbeit von S. BOOTH, Shakespeare’s Sonnets. 59 Vgl. die Kritik von R. CROSMAN , „Some Doubts about ‚The Reader of Paradise Lost‘“, ColEng 37 (1975/76), 379: „Fish’s historic reader is as dead as the spiritual tradition from which he was reconstructed. To the extent that he requires a response that modern readers … neither have spontaneously nor would wish to have, he has only managed to suggest with his model of the reader that Paradise Lost is a dead text.“ Vgl. seine eigene Analyse in Reading „Paradise Lost“ (Bloomington, 1980).

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Vereinigten Staaten in den 70er Jahren unter dem Sammelbegriff „reader-response criticism“ Furore machte60. FISH setzt sich mit der herkömmlichen formalistischen Auslegungspraxis auseinander, bei der der Text als objektiv mit Sinn gefüllte Größe analysiert und die ursprünglich zeitliche Erfahrung des Lesens durch Tabellen, Diagramme, Strukturanalysen usw. in eine räumliche und damit auch statische Größe verwandelt wird (44). Im Gegensatz dazu wird FISHS Modell von dem theoretischen Eckstein zusammengehalten, daß „Bedeutung“ nicht irgendwo im Text verborgen ist, sondern sich in der Wirkung auf den Leser entfaltet (25.65)61. Damit verlagert er die Gewichtung innerhalb der gängigen und miteinander verschränkten Oppositionen Text/Leser, objektiv/subjektiv, räumlich/zeitlich vom ersten auf das zweite Glied62. Bei dieser Umgewichtung erweist sich die Vorstellung von der Objektivität eines literarischen Werkes als Illusion (43). Die empirisch kaum zu leugnende Tatsache, daß der Akt des Lesens grundsätzlich zeitlich-linearen Charakter hat, wird von FISH zur heuristischen Grundlage seiner Auslegungspraxis gemacht63: Der/die Ausleger/in arbeitet sich in einer Art „Zeitlupenlektüre“ von Wort zu Wort vor64, um nach jeder syntaktischen Einheit möglichst präzise die Erwartungen, Erwägungen, Hypothesenbildungen und Schlußfolgerungen des Lesers zu registrieren (23-26)65. Dabei spielen nicht nur alle im bisherigen Lesevorgang gemachten Erfahrungen eine Rolle, sondern auch Einflüsse, die dem Lesen vorangehen (27). Nach seinen Darlegungen muß FISH natürlich einen Standardvorwurf gegen leserorientierte Forschung entkräften, daß er nämlich die Figur des Lesers 60 „Literature in the Reader: Affective Stylistics“, NLH 1 (1970), 123-62 = Is There a Text in This Class? 21-67. Eine gekürzte deutsche Übersetzung findet sich unter dem Titel „Literatur im Leser: Affektive Stilistik“ in Warning, Rezeptionsästhetik, 196-227. Ich zitiere im Text aus Is There a Text? Die Bezeichnung „Affective Stylistics“ hält FISH übrigens später für nicht sehr glücklich gewählt (Is There a Text? 179). 61 Im genauen Gegensatz zur „affective fallacy“ des „New Criticism“ (s.o. S. 22) resümiert FISH daher seine Position: „what it does is what it means“ (32). Des monistischen Charakters dieser Aussage ist sich FISH bewußt (65). 62 FREUND , Return of the Reader, 94-97 zeigt, daß FISH im Endeffekt dieser Umgewichtung nicht treu bleibt, weil am Ende faktisch doch die primäre Lenkung derart vom Text ausgeht, daß dem „kompetenten Leser“ kaum Handlungsraum bleibt. 63 „The basis of the method is a consideration of the temporal flow of the reading experience, and it is assumed that the reader responds in terms of that flow and not to the whole utterance … The report of what happens to the reader is always a report of what happens to that point“ (27). 64 „Essentially what the method does is slow down the reading experience so that ‚events‘ one does not notice in normal time, but which do occur, are brought before our analytical attentions. It is as if a slow motion camera with an automatic stop-action effect were recording our linguistic experiences…“ (28). 65 FISH betont ausdrücklich, daß er „Reaktion“ nicht im Sinne bloßer Gefühlsregungen versteht, sondern vorwiegend als kognitive Tätigkeit (27; 42-43). Das wird auch in seiner ausführlichen Auseinandersetzung mit der „emotiven Engführung“ in der Theorie von RICHARDS deutlich (52-56).

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dazu benutze, um seine eigene subjektive Leseerfahrung zu kaschieren66. Da aber die Vorstellung absoluter Objektivität sich als Illusion entpuppt, sollte man sie durch einen „kontrollierten Subjektivismus“ ersetzen (49). Doch durch welche Kontrollinstanzen kann man seinen eigenen Subjektivismus in der Lektüre im Zaum halten? Welches ist „the regulating and organizing mechanism, preexisting the actual verbal experience“ (46)? FISH nennt drei Kompetenzbereiche, die die Lektüre steuern: 1. Sprachliche Kompetenz (44-47): Der Leser verfügt über die linguistischen Fähigkeiten, die einen idealen Sprecher der im Werk benutzten Sprache auszeichnen. Er nimmt also an den allgemeinen Sprachkonventionen der Zeit der Textentstehung teil und ist in der Lage jegliche Unregelmäßigkeit von der Wortstellung bis hin zur Wortwahl zu erkennen. Das Problem liegt natürlich darin, daß selbst bei der Erforschung moderner Sprachen die Linguistik noch zu keinem allgemein anerkannten System der Erfassung sprachlicher Regelbildung gelangt ist. Vieles wird also gerade bei der Beschäftigung mit alten Werken plausible Vermutung bleiben. 2. Literarische Kompetenz (48-49): Der Leser verfügt über Grunderfahrungen mit anderen literarischen Werken, so daß es ihm möglich ist, Stilfiguren aber auch ganze Gattungen zu erkennen. „In this theory, then, the concerns of other schools of criticism – such as questions of genre, conventions, intellectual background – become redefined in terms of potential and probable response“ (48-49). 3. Historische Verankerung (49-50): FISHS Modell verzichtet in der Praxis keineswegs auf diachrone Fragestellungen, denn der Leser eines Werkes nimmt an den politisch, kulturell, literarisch und sprachlich bedingten Konventionen zur Zeit der Textproduktion teil. Diese gilt es bei der Betrachtung von Literatur je neu zu ergründen.

Zusammenfassend schreibt er: „The reader of whose responses I speak, then, is this informed reader, neither an abstraction nor an actual living reader, but a hybrid – a real reader (me) who does everything within his power to make himself informed. That is, I can with some justification project my responses into those of ‚the‘ reader because they have been modified by the constraints placed on me by the assumptions and operations of the method“ (49).

Wie die meisten Publikationen von Stanley FISH hat auch dieser programmatische Aufsatz werbenden Charakter. Daher versäumt es FISH nicht, die Leistungsfähigkeit seiner „affektiven Stilistik“ gegenüber anderen Fragestellungen in aller Deutlichkeit hervorzuheben: 1. Da im traditionellen Paradigma „Bedeutung“ als „Sprachfunktion der objektivierbaren Informationsübermittlung“ gesehen wird, zeigen Ausleger/innen wenig Interesse an jenen Äußerungen, deren Informationsgehalt nur allzu offensichtlich erscheint. Dahingegen kann der FISH’sche Paradigmenwechsel zu einem Verständnis von „Bedeutung als Wirkung“ anhand jeder Äußerung vorgeführt werden (28-29). 66

„Am I not really talking about myself and making myself into a surrogate for all the millions of readers who are not me at all?” (44)

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Damit wird auch eine nach FISHS Meinung unhaltbare Trennung zwischen literarischer Sprache und Umgangssprache hinfällig (50-51)67. 2. Die Betrachtung der dynamischen Textwirkung erweist sich als unabhängig gegenüber den Regeln der Linguistik. Da die Linguistik nach Wort- und Satzbedeutungen fragt, ist es ihr möglich, verschiedene Sätze mit dem gleichen Informationsgehalt zu konstruieren. Verlagert man aber die Bedeutung einer Äußerung auf deren zeitlich-kumulative Wirkung auf den Rezipienten, dann erweist es sich als vollkommen unmöglich, daß zwei verschieden konstruierte Sätze exakt die gleiche Wirkung (= Bedeutung) vermitteln (32-36)68. 3. Weiterhin kann das FISH’sche Modell leichter mit „sinn“-losen Äußerungen fertig werden, „because the place where sense is made or not made is the reader’s mind rather than the printed page or the space between the covers of a book“ (36)69. Daher sind für ihn „Einheit“ und „Kohärenz“ keine Eigenschaften, die dem literarischen Werk als solchem statisch innewohnen (wie das noch im „New Criticism“ behauptet wurde), sondern Elemente der Leseerfahrung (38)70. 4. FISHS pragmatische Haltung wird schließlich daran sichtbar, daß eine seiner stärksten Empfehlungen für sein Modell die ist, daß es in der Praxis „gut funktioniert“ (67). Sein Grundsatz lautet: „The question is not how good is it [= die Methode], but how does it work“ (50)71. Hier wird aber eine Schwäche deutlich: FISH setzt zu viel Vertrauen in die Leistungsfähigkeit seiner Methode, aber auch in die Offenheit des auslegenden Individuums. Dieses wird aufgefordert bei seiner „Wandlung“ zu einem informierten Leser alle seine modernen und persönlichen Voraussetzungen über Bord zu werfen:

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Provokativ heißt es: „[E]verything is a stylistic fact“ (65). Als praktische Beispiele legt FISH die Alltagsäußerung „There is a chair“ (29) und einen Satz aus einer Monographie über die Renaissance aus (30-32). Selbst ein Chemielehrbuch oder ein Telephonbuch könnten in dieser Weise analysiert werden (29)! Für eine ausführliche Kritik der Unterscheidung zwischen den Sprachbereichen der Literatur und der alltäglichen Rede vgl. seinen Aufsatz „How Ordinary Is Ordinary Language?“ [1973] Is There a Text? 97-111. 68 Anhand eines Beispiels zeigt FISH deutlich auf, daß bei Umstellung zweier Sätze die durch sie vermittelte Information zwar die gleiche bleibt, die Rezeption sich aber grundlegend ändert (27-28). Er würde selbst die Wendungen „the book of the father“ und „the father’s book“ gerade wegen ihrer Umstellung des Genitivs als nicht bedeutungsidentisch betrachten (32). 69 FISH führt dies exemplarisch anhand der widersinnigen Schlußpassage in Platons Phaedrus vor und zeigt damit zugleich, daß seine Methode auf größere Texteinheiten, die über die Satzebene hinausgehen, angewendet werden kann (37-41). 70 „Inconsistency is less a problem to be solved than something that happens, a fact of response” (38). 71 Daher ist sein „bestes“ Argument gegen den Vorwurf des Solipsismus der, daß es zu seinem Modell keine funktionsfähigere Alternative gibt (49).

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„Each of us, if we are sufficiently responsible and self-conscious, can, in the course of employing the method, become the informed reader and therefore be a more reliable reporter of his experience“ (49) 72.

Dadurch wird aber aus einer Methode ein Instrument zur Verwandlung des Menschen. Das wird gegen Ende des Aufsatzes deutlich, wenn er schreibt: „Strictly speaking, it is not a method at all … It is, in essence, a language-sensitizing device … Moreover, its operations are interior. It has no mechanism… It is self-sharpening and what it sharpens is you. It does not organize materials, but transforms minds.“ (66)

Während GIBSON im Akt des Lesens ein mehr oder weniger harmloses Rollenspiel erblickt, bei dem der Leser sich mit der Frage befaßt, wer er denn in Wirklichkeit sein wolle (s.o. S. 31f), geht FISH einen Schritt weiter: Durch die Anwendung der „Affektiven Stilistik“ wird der Leser zu einem neuen Menschen. Ein Problem viel grundsätzlicherer Art wird aber anhand der Position FISHS deutlich: Das eigentliche Lektüreerlebnis und der Bericht davon sind nicht kongruent73. Da Lesen ein zeitliches Geschehen darstellt, wird der Versuch einer deskriptiven Verschriftlichung dieses Geschehens zu einer diskursiven Hülse, in die die wissenschaftliche Nachwelt zu schlüpfen hat74. Will man daher leserorientierte Interpretation nicht in purer Selbstdarstellung enden lassen, dann stellt die Frage nach dem Verhältnis zwischen Erlebnis und Nacherzählung in der Tat einen gordischen Knoten dar. Was kann die Evangelienexegese vom frühen FISH lernen? Trotz aller (später auch eigenen!) Kritik hat das Modell des „kompetenten Lesers“ m.E. gezeigt, daß die literarische, sprachliche und historische Beschäftigung mit einem Werk unerläßlich ist, wenn es darum geht, die kumulative Wirkung des Textes nachzuzeichnen. FISHS Betonung des zeitlich-linearen Charakters der Lektüre hat sicherlich heuristischen Wert – auch wenn er sich allzu sehr von der Vorstellung leiten läßt, daß Texte ihre Leser/innen vor allem in existen-

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Ich empfinde es als einen Widerspruch, wenn FISH bei so viel Methodenoptimismus dennoch eine Grenze zieht: So traut er einem sensiblen, toleranten, gewissenhaften und bestens informierten Katholiken oder Atheisten nicht zu, daß er Miltons Epos genauso genießt wie ein kompetenter und evangelischer Zeitgenosse (Is there a Text? 50). Dies ist um so befremdlicher, wenn man bedenkt, daß FISH selbst Jude ist und sein Judesein, nach eigener Aussage, am Anfang seiner Karriere unter dem Anpassungszwang seiner mehrheitlich protestantischen Kollegen stand (Doing What Comes Naturally [Oxford, 1989], 30f). Seiner Meinung nach gibt es Überzeugungen, deren Einfluß der Ausleger nicht neutralisieren kann (Is there a Text? 50). Leider macht FISH keine weitere Aussage darüber, welche Überzeugungen das genau sind und warum sie nicht ausgeblendet werden können. 73 Vgl. FREUND, Return of the Reader, 95. 74 CULLER, Dekonstruktion, 71 stellt nicht ohne Ironie fest: „Was Fish wiedergibt, ist nicht Stanley Fish beim Lesen, sondern Stanley Fish, wie er sich die Lektüre eines Fishianischen Lesers vorstellt.“ Wäre zu fragen: Wen interessiert eigentlich „Stanley Fish beim Lesen“?

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tielle Fallen führen wollen75. Die extreme Langsamkeit, mit der die Lektüre vorangeht, hat selbstverständlich wenig mit einer wirklichen Leseerfahrung zu tun, aber da es FISH immer darum geht, den vom Text geforderten Kompetenzerwartungen nachzukommen, ist sie wahrscheinlich unvermeidbar. FISHS Lektüren sind natürlich inszenierte Lektüren, aber gerade als solche lassen sie Dimensionen des Textes erkennen, die für jede Lektüre bereichernd sein können. Suspekt sollte einem jedoch jede Methode sein, die ein so starkes Vertrauen in ihre Tauglichkeit fordert. Hier wird man FISH kaum folgen können.

2.6 Umberto Eco (*1932): Der Modell-Leser Umberto ECO, profilierter italienischer Semiotiker, erfolgreicher Romanautor und scharfsinniger Essayist, machte bereits 1962 mit seinem Werk Das offene Kunstwerk76 auf sich aufmerksam. Darin geht es um die Frage, wie manche modernen Kunstwerke (vor allem aber Texte von James Joyce) die Beteiligung des Lesers provozieren, diese aber auch durch Struktureigenschaften regulieren. Dabei findet eine Unterscheidung zwischen einer Offenheit ersten und einer Offenheit zweiten Grades statt (138f): Erstere ist eine rezeptionsästhetische Kategorie, mit der die Offenheit eines jeden Wahrnehmungsprozesses seitens des Rezipienten bezeichnet wird. In diesem Sinne ist jedes Kunstwerk „offen“. Zweitere ist eher eine produktionsempirische Bezeichnung für die Praxis vieler moderner Künstler/innen, die ihr Werk so gestalten, daß „stets neue Umrisse und neue Möglichkeiten für eine Form“ wahrnehmbar werden. Das offene Kunstwerk war noch ganz dem russischen Formalismus, der strukturalen Linguistik und der Semiotik verpflichtet. Dennoch bedeutete die These, daß es „offene Kunstwerke“ gibt, die Leser/innen zum Auffüllen von Leerräumen veranlassen, wenn nicht einen totalen Bruch mit den Grundansichten des klassischen Strukturalismus, so doch einen Ausbruch aus erstarrten Formen77. Claude LÉVI-STRAUSS (*1908), führender Ethnologe und Strukturalist, nahm 1967 in einem Interview Bezug auf ECOS Werk: „Es gibt da ein sehr bemerkenswertes Buch …, welches nun gerade eine Methode verteidigt, die ich absolut nicht akzeptieren kann. Was ein Kunstwerk zu einem Kunstwerk

75 Das ist der Cantus firmus seiner Analysen in Self-Consuming Artifacts: The Experience of Seventeenth-Century Literature (Berkeley, 1972). Vgl. dazu FREUND, Return of the Reader, 97-104 und der Versuch einer exegetischen Übertragung auf Röm 9-11 in J.G. LODGE , Romans 9-11: A Reader-Response Analysis (University of South Florida International Studies in Formative Christianity and Judaism 6; Atlanta, 1996). 76 Das offene Kunstwerk (stw 222; Frankfurt a.M., 61993; ital.: 21967). 77 Im Vorwort zur zweiten Auflage schreibt er daher, daß seine „Methode sich von der scheinbar objektiven Strenge eines gewissen orthodoxen Strukturalismus entfernt“ (15).

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macht, ist nicht, daß es offen, sondern daß es geschlossen ist. Ein Kunstwerk ist ein Gegenstand, der mit präzisen Eigenschaften ausgestattet ist – und die zu ermitteln ist Sache der Analyse – und der vollständig auf der Grundlage dieser Eigenschaften definiert werden kann.“78

ECO bricht deutlich mit einem wichtigen Erbe des Formalismus, nämlich der Annahme, daß das literarische Werk ein abgeschlossenes, gut proportioniertes und sinn-determiniertes Ganzes darstellt. In seinen weiteren Überlegungen zur Rolle des Lesers in der Textauslegung79, macht er die anfangs nur für ein bestimmtes corpus moderner Literatur konstatierte Offenheit des Textes zu einem Kriterium aller Texte (8)80. Der Ausgangspunkt seiner Überlegungen ist textsemiotischer Art (15-30: „Text und Enzyklopädie“): Texte können mittels rein syntaktischer und semantischer Verfahren (das Paradigma des „Wörterbuchs“) nicht hinreichend analysiert werden, weil es „Eigenschaften des Textes gibt, die nicht Eigenschaften eines Satzes sein können“ (16). Demgegenüber steht das umfassendere Paradigma der „Enzyklopädie“, welches der Tatsache Rechnung zu tragen versucht, daß es zum Verständnis einzelner Aussagen einer außerlexikalischen Kompetenz bedarf, die das Wörterbuch nicht berücksichtigt (16f). Diese „enzyklopädische Kompetenz“, die es dem Empfänger erlaubt, „mögliche Aktualisierungen im Diskurs … vorherzusehen“ (15), „gründet in kulturellen Gegebenheiten, die aufgrund ihrer stilistischen ‚Konstanz‘ gesellschaftlich akzeptiert werden“ (19). Eine solche Akzeptanz ist „das Ergebnis vorausgehender intertextueller Zirkulation“, denn „die Gesellschaft vermag eine enzyklopädische Information nur dann zu registrieren, wenn diese von vorangegangenen Texten erstellt worden ist“ (28). Die Enzyklopädie ist also „das Destillat … anderer Texte“ (28)81. In der alltäglichen Kommunikation wird deutlich, daß ein/e durchschnittliche/r Sprecher/in in der Lage ist, selbst isolierte Aussagen durch bestimmte, von seiner bzw. ihrer enzyklopädischen Kompetenz gesteuerte Selektionen mit einem 78 Das Interview erschien am 20. Januar 1967 in Paese sera. Ich zitiere nach: U. ECO , Lector in fabula (München, 1990), 6. 79 Zwischen den Jahren 1976-1978 hat sich ECO eingehend mit dieser Frage beschäftigt, was zu verschiedenen Publikationen in verschiedenen Sprachen geführt hat: Vgl. etwa The Role of the Reader (London, 1981). Auf deutsch erschien 1987 sein Lector in fabula, an das ich mich hier halten werde. Über den Werdegang seiner Studien vgl. dort 10-14. 80 Vgl. Streit der Interpretationen (Konstanz, 1987), 35: „Wenn es einen grundsätzlichen Unterschied zwischen Opera aperta (1962) und Lector in fabula (1979; deutsch 1987) gibt, dann liegt er in dem Umstand, daß ich in meinem zweiten Buch die Wurzeln der künstlerischen ‚Offenheit‘ ebenso in der Eigenheit eines jeden kommunikativen Prozesses wie in der Eigenheit eines jeden Systems der Bedeutungen zu finden suche.“ Dennoch spricht ECO in Lector in fabula weiterhin von „geschlossenen Texten“. Damit meint er vor allem Gebrauchstexte, die ihren Modell-Leser soziologisch genau fixieren, wie z.B. Werbetexte, GroschenRomane (69-71) oder Detektivgeschichten (74). 81 Vgl. Semiotik und Philosophie der Sprache (München, 1986), 129: „Die Enzyklopädie registriert nicht nur die ‚historische‘ Wahrheit, daß Napoleon auf St. Helena starb, sondern auch die ‚literarische‘ Wahrheit, daß Julia in Verona starb.“

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sprachlichen Kontext zu versehen82. Verstehen unterliegt demnach der Gesetzmäßigkeit: „Es gibt … keine Aussage, die nicht … einen Ko-Text erforderte“ (21). Selbst wenn ein Begriff ohne Ko-Text erscheint, ist er ein „System textorientierter Instruktionen“ (18); d.h. er trägt in sich ein virtuelles (ECO spricht auch von „potentielles“ oder „inchoatives“) Programm zur Herstellung eines Ko-Textes (21)83. Mit Hilfe dieser textsemiotischen Überlegungen gelangt ECO zu einer wichtigen theoretischen Grundlage für seine rezeptionsorientierte Hermeneutik: „Das Semem also ist ein virtueller Text, der Text die Expansion eines Semems“ (31)84. Weil Sprachzeichen enzyklopädisch viel mehr implizieren, als sie lexikalisch bedeuten mögen, ist der Text (also die sinnvolle Anordnung von Sprachzeichen) „eine träge Maschine“ (29), ein „ökonomischer Mechanismus“ (63), verwoben in das „Nicht-Gesagte“ (62), „aktualisierbar“ und somit „unvollständig“ (61), durchsetzt mit „Leerstellen“ und „Zwischenräumen“ (63) und bedarf als solches „der aktiven und bewußt kooperativen“ Mitarbeit des Lesers (62). Mit anderen Worten: „Ein Text will, daß ihm jemand dazu verhilft zu funktionieren“ (64). Obwohl ECO hier und da von empirischen Beobachtungen ausgeht, ist sein Leser zunächst ein textuelles Gebilde: Wer einen Text hervorbringt, entwirft eine Strategie, „in der die vorhergesehenen Züge eines Anderen miteinbezogen werden – wie ohnehin in jeder Strategie“ (65f)85. Diesen vom Autor präfigurierten Leser, der „an der Aktualisierung des Textes so … [mitwirkt], wie es sich der Autor gedacht hat“, nennt ECO den „ModellLeser“ (67)86. Er ist nichts anderes als eine Textstrategie, „ein Zusammenspiel glücklicher Bedingungen, die im Text festgelegt worden sind und die zufriedenstellend sein müssen, damit ein Text vollkommen in seinem möglichen Inhalt aktualisiert werden kann“ (76). Die Konturen des Modell-Lesers (67f) lassen sich an der Auswahl einer bestimmten Sprache (z.B. Deutsch), einer bestimmten Enzyklopädie (z.B. die einer fachwissenschaftlichen Publikation) 82 ECO unterscheidet allgemein zwischen „Umfeld“ (der außertextuelle Rahmen, in dem ein Begriff vorkommt), „Kontext“ (die vielfältigen Möglichkeiten der sprachlichen KoOkkurrenz eines Begriffs) und „Ko-Text“ (die konkrete Aktualisierung eines „Kontextes“ in einem Text). 83 ECO verweist in diesem Zusammenhang auf den Strukturalisten GREIMAS, für den die semantische Einheit »Fischer« ein potentielles erzählerisches Programm darstellt. Die Geschichte eines Fischers wäre demnach „nichts anderes als die Entfaltung dessen, was uns eine ideale Enzyklopädie über den Fischer hätte sagen können.“ (27). 84 Nach LEWANDOWKI , Linguistisches Wörterbuch 3, 773 ist ein Semem „die Inhaltsform des kleinsten bedeutungstragenden Sprachzeichens“. 85 Im Gegensatz zu einer militärischen Strategie will aber der Autor im Text „den Gegner gewinnen statt verlieren lassen“ (66). So versucht z.B. ein Autor, den enzyklopädisch minder kompetenten Leser an verschiedenen Stellen wieder abzufangen (67). 86 ECO scheint den Begriff des „idealen Lesers“ synonym mit dem des „Modell-Lesers“ zu gebrauchen (vgl. 71f). An anderer Stelle unterscheidet er auch zwischen einem „naiven“ und einem „kritischen Leser“ (248).

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und eines bestimmten Wortschatzes ablesen. Der Modell-Leser ist aber nicht nur eine Größe im Bewußtsein des Autors, die dann in die rhetorische Struktur des Textes Eingang findet, sondern ein Verbindungsglied zum empirischen Leser87, da ein „Text Bewegungen vollzieht, innerhalb derer sich dieser [= der Modell-Leser, M.M.M.] konstituieren kann. Ein Text beruht nicht allein auf Kompetenz, er trägt auch dazu bei, sie zu erzeugen“ (68). Es handelt sich hierbei um enzyklopädische (19-21.95f), grammatikalisch-lexikalische (61) und situationelle Kompetenz (65)88. Es ist Aufgabe der empirischen Leser/innen, die Rolle des Modell-Lesers einzunehmen. Als solcher „hat er etwa die Pflicht, sich dem Code des Senders so weit wie möglich anzunähern“ (78). Auf der anderen Seite erscheint aber auch der Autor als ein Aussageakt des Textes (75). Er stellt als „Intervention eines sprechendes Subjekts“ im Text eine reine Textstrategie dar (76). Genauso wie der empirische Autor seinen Modell-Leser präfiguriert, entwerfen empirische Leser/innen ein Bild des Modell-Autors (76f). Daher interpretieren empirische Leser/innen nicht gemäß den Intentionen des historischen Autors, sondern gemäß „den virtuellen Inhalten des Ausgesagten“ (77), also der unterstellten Absicht des ModellAutors (78)89. Aus dieser Perspektive betrachtet, scheint der Leser über eine beachtliche Freiheit zu verfügen: Aufgrund seiner persönlichen Antwort auf die Frage, worum es in dem Text geht (= Topic), entscheidet er, welche „semantischen Eigenschaften der im Text vorkommenden Lexeme [er] hervorhebt oder narkotisiert“; d.h. „er bestimmt eine Ebene der interpretativen Kohärenz, die als Isotopie bezeichnet wird“ (114). An dieser Stelle wird aber eine Inkongruenz in ECOS Modell deutlich: Er wiederholt zwar mehrmals, daß die textuelle Mitarbeit ein Phänomen ist, das sich „zwischen zwei diskursiven Strategien und nicht zwischen zwei Individuen abspielt“ (78), aber in Wirklichkeit kommuniziert der empirische Autor mit seinem Konstrukt des Modell-Lesers und der empirische Leser mit seinem Entwurf eines ModellAutors. Bereits in der alltäglichen Kommunikation wird deutlich, daß „die Kompetenz des Empfängers … nicht notwendigerweise die des Senders“ sein muß (64). Wenn sich aber der empirische Leser möglichst dem Modell-Leser angleichen muß (78), könnte am Ende doch die Intention des empirischen Au87 Ähnlich dem „Erzähladressaten“ von PRINCE (s.o. S. 36ff). 88 Die „situationelle“ Kompetenz ist dem Bereich sozialer Regeln

entnommen. Es handelt sich dabei um die „Fähigkeit, Präsuppositionen durchlaufen zu lassen“ (65). In Betracht kommen z.B. auch elementare Konversationsregeln (62f). 89 ECO zeigt das am Beispiel des Wortes „Russen“ (77-79): Die Bezeichnung „Russen“ statt „Sowjets“ hatte Ende der 70er Jahre durchaus die politische Konnotation der NichtAnerkennung des kommunistischen Staates. Auch wenn jemand ohne antisowjetische Absichten von „den Russen“ spricht, hat der Empfänger doch „das Recht, dem Begriff /Russe/ eine ideologische Konnotation zuzuschreiben.“ (78)

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tors bindend sein. Das möchte ECO zwar vermeiden (vgl. 76f), dennoch übernimmt der Modell-Leser als autoriale Konstruktion eine limitierende Rolle im Spiel der Interpretation. Undeutlich bleibt auch die Funktion des Textes innerhalb dieser asymmetrischen Konzeption. ECO spricht zwar von einer „Dialektik zwischen der Strategie des Autors und der Antwort des Modell-Lesers“ (73), da aber eigentlich Strategie und Modell-Leser zusammenfallen (76), hat der Text das erste und wahrscheinlich auch das letzte Wort90. Ein Text ist nur so offen, wie sein Autor es haben will91. Der Autor entscheidet, „bis zu welchem Punkt er die Mitarbeit des Lesers kontrollieren muß, wo diese ausgelöst, wo sie gelenkt wird und wo sie sich in ein freies Abenteuer der Interpretation verwandeln muß“ (71). Damit wird aber der Begriff der „Mitarbeit“ seiner kreativen Seite beraubt. Der Modell-Leser führt im wesentlichen RegieAnweisungen aus und kann nur dann frei improvisieren, wenn das „Drehbuch“ es ihm erlaubt92. Das Problem ist in Wirklichkeit viel grundlegenderer Art: ECO versucht einen Weg zu finden zwischen der Skylla grundsätzlicher Eindeutigkeit und der Charybdis unendlicher Vieldeutigkeit eines Textes: „Ich werde behaupten, daß eine Theorie der Interpretation – auch wenn sie davon ausgeht, daß Texte offen für multiple Lesarten sind – auch von der Möglichkeit ausgehen muß, einen Konsens zu erreichen; wenn schon nicht in bezug auf die unterschiedlichen Bedeutungen, die der Text er-mutigt, so doch zumindest in bezug auf jene, die der Text entmutigt.“93

Im Zuge postmoderner Literaturtheorien wird die privilegierte Stellung des Textes als Kontrollinstanz zumindest für die Falsifikation einer Auslegung gerne hinterfragt. Dennoch erscheint die Frage nach einer vom Text kontrollierbaren Lesefreiheit sinnvoll, obgleich ECOS Modell-Leser nicht immer sicher durch die Unwegsamkeiten solchen Fragens führen kann. In der Durchführung pendelt sein Leserkonstrukt terminologisch wie sachlich unentschlossen zwischen Autor, Text, empirischem Leser und ECO selbst hin und her. Daran zeigt sich aber auch, daß die Polarität von Autor und Text im Akt des Lesens zusammenfallen und nicht immer sauber zu trennen ist. Für die vorliegende Arbeit ist der Begriff der „enzyklopädischen Kompetenz“ besonders wichtig: „Die Enzyklopädie ist das akkumulierte, sich ständig verändernde historische Wissen, mit dessen Hilfe der vieldeutige Text im 90 „Ein Text ist nichts anderes als die Strategie, die den Bereich seiner – wenn nicht ‚legitimen‘, so doch legitimierbaren – Interpretationen konstituiert.“ (73) 91 Man kann natürlich Texte „gegen den Strich“ lesen, aber dabei handelt es sich nicht um eine Interpretation des Textes, sondern um einen freien Gebrauch, bei dem ein neuer Text entsteht (72-74). 92 Diese Spannung zwischen Theorie und Praxis in ECOS Konzept des Modell-Lesers hat W. RAY schön herausgestellt: Literary Meaning (Oxford, 1984), 134-40. 93 Streit der Interpretationen, 32.

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Lesevorgang konkretisiert und aktualisiert wird.“94 ECO hat damit gezeigt, daß die Mitarbeit eines wahrnehmenden Subjekts nicht in der Natur des literarischen Werkes, sondern in der Natur der Sprache begründet ist. Sprachliche Zeichen können aufgrund ihres reichen sprachlichen und außersprachlichen Umfeldes viel mehr evozieren, als sich rein lexikalisch bestimmen läßt. Damit erweist sich nicht nur der literarische Text als ein offenes System, sondern sprachliche Kommunikation insgesamt. Für die Erhebung der „enzyklopädischen Kompetenz“ können in der neutestamentlichen Exegese besonders die Begriffs-, Religions- und Traditionsgeschichte nutzbar gemacht werden. Da Lesekompetenz für ECO auch das Ergebnis literarischer Zirkulation ist, erweist sich eine Beschäftigung mit der Literatur aus dem historischen Umfeld der Evangelien als unerläßlich. Eine rein textimmanente Lektüre würde mit einer viel zu reduzierten „Enzyklopädie“ arbeiten, da Texte und Sprache allgemein immer über ihre eigenen Grenzen hinausweisen. Im Begriff der „enzyklopädischen Kompetenz“ scheinen mir die Übereinstimmungen mit FISHS „kompetentem Leser“ und PRINCES „Erzähladressaten“ am ausgeprägtesten zu sein. Aus einer anderen wissenschaftstheoretischen Perspektive kommt der Semiotiker ECO zu verblüffend ähnlichen Ergebnissen: Sinnvolles Lesen vollzieht sich über die Aneignung eines vom Text angebotenen Rollenspiels, für dessen Bewältigung die Kompetenz heutiger Leser/innen erweitert werden muß. Der Text steuert bis zu einem kaum bestimmbaren Punkt seine eigene Rezeption, kommt aber ohne die tätige Mitarbeit des Rezipienten nicht zu einer seiner möglichen Sinnentfaltungen. FISH und ECO unterscheiden sich prinzipiell in der Art, wie sie ihre insgesamt sehr ähnlichen Leserkonstrukte einsetzen: Während der „Modell-Leser“ sich für die Isotopie und die Tiefenstruktur des Textes interessiert und insgesamt stärker intellektuell vorgeht, wird FISHS Konstrukt in einen Strudel von Orientierung und Desorientierung hineingerissen, durch den er existentiell mit den Bewegungen der Erzählung verwoben wird.

2.7 Hans Robert Jauß (*1921): Die ästhetische Erfahrung im Rahmen der Rezeptionsgeschichte Während alle bisher besprochenen Positionen mehr oder weniger vereinzelte Vorstösse individueller Forscher/innen waren, die sich erst im nachhinein als Gesinnungsgenoss/innen im terminologischen Großzelt „reader-response criticism“ wiederfinden sollten, stellt sich die deutschsprachige Rezeptionsforschung in ihrer Anfangsperiode (ca. 1969-1975) als ein geschlosseneres kollektives Unternehmen dar mit einem führenden Zentrum (die Universität 94 P.V. ZIMA , Literarische

Ästhetik (UTB 1590; Tübingen, 1991), 290.

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Konstanz), zwei leitenden Theoretikern (Hans Robert JAUSS und Wolfgang ISER) und einer Forschungsgruppe („Poetik und Hermeneutik“), deren zweijährliche Kolloquien in einer gleichnamigen Reihe veröffentlicht werden95. 2.7.1 Literaturgeschichte als Provokation Der „Paradigmenwechsel“ zum Leser im deutschsprachigen Raum ist ohne einen kurzen Blick auf die Lage der akademischen Literaturwissenschaft in der Nachkriegszeit nicht recht verständlich: Zu dieser Zeit waren sowohl die Literaturgeschichte als auch die Theoriediskussion in Verruf geraten. Werkimmanente und psychoanalytische Auslegungen beherrschten unangefochten das Feld. Emil STAIGER, der vielleicht wichtigste Vertreter der Werkimmanenz, schreibt96: „Das allersubjektivste Gefühl gilt als Basis der wissenschaftlichen Arbeit! Ich kann und will es nicht leugnen…[N]icht jeder Beliebige kann Literaturhistoriker sein. Begabung wird erfordert, außer der wissenschaftlichen Fähigkeit ein reiches und empfängliches Herz, ein Gemüt mit vielen Saiten, das auf die verschiedensten Töne anspricht … Es wird verlangt, daß jeder Gelehrte zugleich ein inniger Liebhaber sei, daß er mit schlichter Liebe beginne und Ehrfurcht all sein Tun begleite… Das Kriterium des Gefühls wird auch das Kriterium der Wissenschaftlichkeit sein.“

In diesem Konzept wird Literaturgeschichte unweigerlich zum irrationalemotionsabhängigen Privileg einer auserlesenen Elite. Mit dem Verzicht auf nachvollziehbare Methoden soll die eigene Disziplin vor einer Demokratisierung bewahrt werden. In diesem Kontext löste Hans Robert JAUSS, Romanist an der Universität Konstanz, mit seiner Literaturgeschichte als Provokation 97 eine lebhafte theoretische Diskussion aus98. JAUSS setzt ein mit einer vernichtenden Kritik an dem damaligen Stand der Literaturgeschichte (144-7), die ihr Material entweder nach Gattungen oder nach einzelnen Schriftstellern ordnet (146) und dabei Handbücher oder Sammelwerke produziert, die das Bildungsbürgertum aufschlägt, „um literarische Quizfragen zu lösen“ (144). Mit der Übernahme der historistischen Wissenschaftsauffassung hat sich die Literaturgeschichte selbst in diese unbefriedigende Situation hineinmanövriert (148-54) und ist damit deutlich hinter die Forderung Schillers zurückgetreten, Geschichtswissenschaft habe das Vergangene mit dem Gegenwärtigen zu 95 Vgl. R.C. HOLUB, Reception Theory (London, 1984), xii-xiv. 96 E. STAIGER, Die Kunst der Interpretation (Zürich: Atlantis, 51967), 12f. 97 H.R. JAUSS, Literaturgeschichte als Provokation der Literaturwissenschaft

(Konstanzer Universitätsreden; Konstanz, 1967). Ich zitiere nach dem Wiederabdruck in Literaturgeschichte als Provokation (es 418; Frankfurt a.M., 1970), 144-207 (leicht gekürzt auch in WARNING, Rezeptionsästhetik, 126-62). Es handelt sich hierbei um seine Konstanzer Antrittsvorlesung vom 13. April 1967. 98 Eine Liste erster Stellungnahmen und Rezensionen findet sich in JAUSS, Ästhetische Erfahrung, 735; Anm. 31.

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verknüpfen (152)99. Nachdem JAUSS Stärken und Schwächen der marxistischen Literaturtheorie mit ihrer Betonung von Literatur als Widerspiegelung historischer Prozesse (154-64) und der streng werkbezogenen formalistischen Ästhetik (164-7) dargestellt hat, will er den Ausweg aus der Krise in einer Synthese beider Fragestellungen suchen, indem er über die Grenze schreitet, „vor der beide Schulen stehengeblieben sind …: der Faktor des Publikums“ (168). Während die marxistische Literaturtheorie nur nach der sozialen Stellung des Lesers fragt, spielt dieser im Formalismus nur als wahrnehmendes philologisches Subjekt eine Rolle. „Beide Methoden verfehlen den Leser in seiner genuinen, für die ästhetische wie für die historische Erkenntnis gleich unabdingbaren Rolle – als den Adressaten, für den das literarische Werk primär bestimmt ist… Der geschlossene Kreis einer Produktions- und Darstellungsästhetik, in dem sich die Methodologie der Literaturwissenschaft bisher vornehmlich bewegt, muß daher auf eine Rezeptions- und Wirkungsästhetik geöffnet werden… Das Verhältnis von Literatur und Leser hat sowohl ästhetische als auch historische Implikationen. Die ästhetische Implikation liegt darin, daß schon die primäre Aufnahme eines Werkes durch den Leser eine Erprobung des ästhetischen Wertes im Vergleich mit schon gelesenen Werken einschließt. Die historische Implikation wird daran sichtbar, daß sich das Verständnis der ersten Leser von Generation zu Generation in einer Kette von Rezeptionen fortsetzen und anreichern kann, mithin auch über die geschichtliche Bedeutung eines Werkes entscheidet und seinen ästhetischen Rang sichtbar macht.“ (168-70)

Im Anschluß an diese theoretischen Überlegungen formuliert JAUSS sieben Thesen für eine Neubegründung der Literaturgeschichte: 1. Statt weiter den Vorurteilen des historischen Objektivismus zu folgen, sollte man die „vorgängige Erfahrung des literarischen Werkes durch seine Leser“ in das Bewußtsein bringen (171-3). 2. Damit die Analyse der Lese-Erfahrung nicht zu einem bloßen Psychologismus verkümmert, sollte sie auf dem Hintergrund des historischen „Erwartungshorizontes“ objektiviert werden (173-7)100. 3. Je größer sich die Distanz zwischen dem Erwartungshorizont des Publikums und dem Sinnhorizont des neuen Werkes anhand der Reaktionen der Erst-Rezipierenden bestimmen läßt, um so deutlicher tritt sein Kunstcharakter hervor (177-83). 4. Durch die Bestimmung eines Erwartungshorizontes lassen sich Fragen formulieren, auf die der Text eine Antwort gab. Nur durch diese Distanzierung kann es zu einem Dialog zwischen einstigem und heutigem Verständnis, zu einer Horizontverschmelzung im GADAMER’schen Sinne kommen (183-9). 5. Die rezeptionsästhetische Theorie läßt die literarische Entfaltung als eine ständige Abfolge von Frage und Antwort begreifen, wonach jedes neue

99 Ursprünglich hatte die Antrittsvorlesung den schillernden Titel „Was heißt und zu welchem Ende studiert man Literaturgeschichte?“ Für die damit angedeuteten Bezüge zu Schillers Inauguralvorlesung von 1789 „Was heißt und zu welchem Ende studiert man Universalgeschichte?“ vgl. HOLUB, Reception, 53f. 100 Der Erwartungshorizont setzt sich zusammen „aus dem Vorverständnis der Gattung, aus der Form und Thematik zuvor bekannter Werke und aus dem Gegensatz von poetischer und praktischer Sprache“ (173f). JAUSS hat diesen Begriff in späteren Publikationen präzisiert. Siehe dazu weiter unten.

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Werk alte Fragen zu klären sucht und dabei wieder neue aufwirft (189-94). 6. Analog der linguistischen Unterscheidung zwischen diachroner und synchroner Analyse sollte die Literaturgeschichte nicht nur diachron arbeiten, sondern auch synchron einen Querschnitt legen, bei dem die heterogene Vielfalt gleichzeitiger Werke deutlich wird (194-99). 7. Die Literaturgeschichte ist als eine „besondere Geschichte“ zu betrachten, die aber über die literarische Erfahrung des Lesers in steter Wechselbeziehung zur „allgemeinen Geschichte“ steht (199-207).

2.7.2 Die Mängel der Provokation JAUSS wollte mit seiner Provokation der erstarrten Disziplin der Literaturgeschichte neues Leben einhauchen, und zweifelsohne nimmt seine Streitschrift in der Geschichte der Literaturwissenschaft eine sehr wichtige Stellung ein101. Sein Verdienst liegt vor allem darin, die Schwächen der herkömmlichen, auf Objektivität bedachten Literaturhistorie aufgezeigt zu haben; aber auch die der sich als exakte Wissenschaft gebärdenden marxistisch-soziologischen wie formalistischen Gegner der Geschichtswissenschaft. Außerdem führte er die bereits in manchen formalistischen Modellen vorhandene Berücksichtigung der Leser-Instanz ganz bewußt weiter. Damit hat er der Literaturtheorie Perspektiven eröffnet, die bis dahin im deutschsprachigen Raum nicht oder nur sehr am Rande Gegenstand akademischer Diskussion waren102. Die Weiterführung der Theoriediskussion durch die „Entmarginalisierung“ des Lesers ist m.E. auch im Zusammenhang mit der Hermeneutik GADAMERS hervorzuheben103, denn in JAUSS’ Modell steht nicht mehr der Traditionszusammenhang autoritativer „klassischer“ Werke im Mittelpunkt, sondern die produktive Rezeption. JAUSS schreibt später selbst dazu104: „Gadamers Theorie der hermeneutischen Erfahrung, … sein Prinzip … der Wirkungsgeschichte … und seine Begründung der hermeneutischen Einheit von Verstehen, Auslegen und Anwenden sind unstrittige methodische Voraussetzungen, ohne die auch mein Unternehmen nicht zu denken wäre. Strittig indes erschien mir Gadamers ‚Rettung des Vergan101

Über die Wirkung dieses Entwurfs urteilt HOLUB, Reception, 69: „[I]n West Germany no other essay in literary theory during the past twenty years has received as much attention as this one… [O]ne would have to consider the ‚Provocation‘ essay the most significant document of German literary theory in the last few decades.“ P. BÜRGER, Vermittlung – Rezeption – Funktion (stw 288; Frankfurt a.M., 1979), 133: „Es ist das unbestreitbare Verdienst von Hans Robert Jauß, mit seinen rezeptionsästhetischen Thesen der Literaturtheorie wieder Eingang in die Literaturwissenschaft der Bundesrepublik verschafft zu haben.“ J. STÜCKRATH, Historische Rezeptionsforschung (Stuttgart, 1979), 116: „Jauß’ Antrittsvorlesung ist zugleich schon ein Stück Wissenschaftsgeschichte geworden.“ 102 Der kleine Artikel von H. WEINRICH, „Für eine Literaturgeschichte des Lesers“, Merkur 21 (1967), 1026-38 nimmt zwar einige Grundgedanken JAUSS’ vorweg, hat aber erst in seiner redigierten Fassung stärkere Beachtung gefunden (in: Literatur für Leser [München, 1986], 21-36). 103 Vgl. 185-9 für die Aufnahme der Hermeneutik GADAMERS. 104 Ästhetische Erfahrung, 26f.

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genen‘ durch das Klassische, dem im ‚eminenten Text‘ eine ‚Ursprungsüberlegenheit und Ursprungsfreiheit‘ gegenüber anderer Überlieferung zukommen soll [Zitate aus GADAMER, Hermeneutik II, 475f; M.M.M.]. Wie soll sich eine solche Hermeneutik der Tradition und ihres Wahrheitsanspruchs mit der Geschichtlichkeit des Verstehens und seiner dialogischen Produktivität … vereinen? Ich glaube, mich darum auf Gadamer gegen Gadamer berufen zu können, wenn ich seiner aktiven Bestimmung des Verstehens den Vorzug gebe, die Aufgabe der Horizontabhebung der passiven ‚Horizontverschmelzung‘ vorordne und den Prozeß der Wirkungsgeschichte aus der produktiven Rezeption – auch der eminenten Texte – hervorgehen sehe.“

Daß JAUSS’ Programm trotz aller Diskussion nicht schulbildend wirkte, liegt an der allzu kühnen Verschmelzung dreier Ansätze, die ihrem Grundanliegen nach deutlich auseinanderdriften: Marxismus, Formalismus und philosophische Hermeneutik. Die marxistische Literatursoziologie und der russische Formalismus sind in ihrer jeweiligen Betonung von historischer bzw. werkimmanenter Betrachtung nicht miteinander vereinbar, ohne dabei essentielle Kennzeichen ihres Systems zu verlieren105. Formalismus und Hermeneutik laufen in ihrem Selbstverständnis auseinander, versteht sich doch der Formalismus als eine Wissenschaft, die sich bewußt an die Naturwissenschaft anlehnt106, wohingegen der GADAMER’schen Hermeneutik eine auf Heidegger zurückgehende Aversion gegen jegliche Bindung der „Kunst des Verstehens“ an naturwissenschaftliche Parameter eigen ist. Insgesamt scheint mir der Einfluß des Formalismus in dieser frühen Arbeit JAUSS’ am stärksten zu sein, vor allem in seiner Übernahme der formalistischen Evolutionstheorie (166f), die davon ausgeht, daß sich die Literaturgeschichte über die bewußte Verletzung eingeschliffener Lesegewohnheiten weiterentwickelt107. Ein literarisch bedeutsames Werk stumpft sich demnach im Verlauf seiner Rezeption ab, bis es durch ein neues Werk abgesetzt wird, das die Implikationen des ersten negiert108. JAUSS gibt allerdings diesen Sachverhalt in hermeneutischer Terminologie wieder und spricht vom „Erwartungshorizont“. Indem eine bestimmte Erwartungshaltung immer wieder durchbrochen und dadurch ein neuer Horizont umrissen wird, findet literari105

Zur Auseinandersetzung zwischen Marxismus und Formalismus und zu frühen Synthetisierungsversuchen vgl. ERLICH, Russischer Formalismus, 109-30. Ein prägnantes Zitat von Leo TROTZKI macht die Kluft zwischen beiden deutlich: „Die Formalisten sind Anhänger des Hl. Johannes. Sie glauben: im Anfang war das Wort. Wir aber glauben: im Anfang war die Tat. Das Wort folgte als deren phonetischer Schatten.“ (zitiert nach ERLICH, 114) 106 Vgl. BÜRGER, Vermittlung, 100f.138. Dieser krasse Gegensatz zur Theoriefeindlichkeit des werkimmanenten Ansatzes mag zunächst den russischen Formalismus für JAUSS so attraktiv gemacht haben. 107 Von literaturgeschichtlicher Seite her ist immer wieder bemängelt worden, daß die formalistische Evolutionslehre auf vorbürgerliche Epochen nicht übertragbar ist (vgl. BÜRGER, Vermittlung, 139f; NEWTON, Interpreting, 133f). 108 Formalisten sprechen von einer permanenten Abfolge von „Automatisierung“ und „Erneuerung“.

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sche Evolution statt. „Fortschritt“ besteht also in der Negation bestehender Normen. Für JAUSS ist „die Distanz zwischen Erwartungshorizont und Werk“ (178) ausschlaggebendes Kriterium für den literarischen Wert eines Werkes. Unterhaltungs- und Trivialliteratur zeichnen sich z.B. durch die fehlende Distanz dieser beiden Größen aus. Daneben sieht JAUSS noch ein zweites treibendes Merkmal für die literarische Entwicklung: das Frage-Antwort-Spiel, bei dem „das nächste Werk formale und moralische Probleme, die das letzte Werk hinterließ, lösen und wieder neue Probleme aufgeben kann“ (189). In diesem zweiten Modell spielt der Leser keine Rolle mehr. Da das evolutionäre Modell nicht zu erklären vermag, warum literarische Werke auch nach der Absetzung des durch sie beschriebenen Erwartungshorizontes sinnvoll angeeignet werden können, greift JAUSS auf den Begriff der Rezeptionsgeschichte zurück, die er „als die sukzessive Entfaltung eines im Werk angelegten, in seinen historischen Rezeptionsstufen aktualisierten Sinnpotentials“ versteht (186). Die Erst-Rezeption ist letztendlich auch für die Vermittlung von Sinn an die Gegenwart wichtig, weil sie uns verstehen läßt, wie gegenwärtige Verstehensweisen geschichtlich erwachsen sind. Peter BÜRGER hat aber zu Recht auf die Unvereinbarkeit dieser beiden Modelle hingewiesen109: „Es ist außerordentlich schwer[,] sich vorzustellen, daß der Sinn eines Werks sich in der Rezeption zugleich abstumpft [Evolutionsmodell, M.M.M.] und konstituiert [Rezeptionsgeschichte, M.M.M.]. Wenn literarische Evolution auf dem Prinzip von Automatisierung und Entautomatisierung beruht, kann Rezeptionsgeschichte nicht Entfaltung von Sinnpotential sein.“

Mit seiner Konzentration auf die dokumentierte Rezeptionsgeschichte richtet sich das Interesse von JAUSS beinahe ausschließlich auf den Leser als Autor neuer Texte110. Sein Unternehmen könnte damit leicht zu einer bloßen Aneinandereihung von sogenannten „Fakten“ zur Rezeption einzelner Werke in einzelnen Epochen mißraten111. Hier läuft JAUSS deutlich Gefahr, genau jener positivistischen Geschichtsbetrachtung zu verfallen, die er zu überwinden sucht112. Insgesamt weist JAUSS’ neoformalistische Hermeneutik (oder „hermeneutisierter Formalismus“) zu viele Schwierigkeiten auf. Es handelt sich 109 BÜRGER, Vermittlung, 139. 110 Vgl. STÜCKRATH, Rezeptionsforschung,

119-22. ZIMA, Literarische Ästhetik, 234 sieht hierin eine „‚Rückverwandlung‘ des rezeptionsästhetischen Begriffs des Erwartungshorizonts (des Rezipienten, des Lesers) in den produktionsästhetischen Begriff des Weltbildes (des Autors).“ 111 Das will GADAMER vermeiden: Für ihn dient Wirkungsgeschichte vielmehr der Bewußtwerdung der eigenen Position und ist als Forderung rein „theoretischer Art“ zu verstehen (Wahrheit, 305f). 112 HOLUB, Reception, 60f; BÜRGER, Vermittlung, 137: „Entgegen seiner eigenen hermeneutischen Intention radikalisiert Jauß damit das im Formalismus enthaltene positivistische Moment.“

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um eine Provokation, deren Idealforderungen von niemandem (auch nicht von JAUSS selbst) in die Praxis einer neuen Literaturgeschichte umgesetzt werden konnten. Das liegt nicht zuletzt daran, daß „die einzelnen Modelle, die zur Lösung herangezogen werden, auf verschiedenen wissenschaftstheoretischen Voraussetzungen beruhen“113. 2.7.3 Die ästhetische Erfahrung: Poiesis, Aisthesis und Katharsis In seinem späteren literaturtheoretischen Opus magnum beschäftigt sich JAUSS auf über 850 Seiten in wahrlich beeindruckenden historischen Streifzügen mit verschiedenen Problemkreisen auf dem Grenzbereich zwischen Ästhetik und Hermeneutik114. Da es sich meistens um neu miteinander verknüpfte ältere Veröffentlichungen handelt, findet man in diesem reichhaltigen Werk keine einheitliche Argumentationslinie, die sich einfach thesenartig zusammenfassen ließe, sondern viel eher eine Reihe von Skizzen zum Bereich ästhetischer Erfahrung115. JAUSS geht damit weit über das Interesse an der Erneuerung der Literaturgeschichte in seiner Provokation, an die er auch sonst nur wenig anknüpft116, hinaus. Der Entwurf einer „Geschichte der ästhetischen Erfahrung“ soll „eine fruchtbare Erneuerung der Geschichte der Künste“ nach sich ziehen (191). Ausgangspunkt dieser Umgewichtung ist JAUSS’ eingehende Auseinandersetzung mit ADORNOS „negativer Ästhetik“117 (44-71)118. ADORNO spricht, 113 BÜRGER, Vermittlung, 140. 114 Ästhetische Erfahrung. Zitate

im Text in Klammern beziehen sich ab jetzt hierauf. Dieses Werk umschließt, erweitert und vollendet sein früheres Buch Ästhetische Erfahrung und literarische Hermeneutik. Band I: Versuche im Feld der ästhetischen Erfahrung (UTB 692; München, 1977). 115 Schon im Hinblick auf die Provokation beklagt sich STÜCKRATH , Rezeptionsforschung, 118, daß die Interessen und Fragestellungen JAUSS’ so vielfältig sind, „daß der systematische Zusammenhang seiner Vorschläge und deren Verhältnis zur traditionellen Literaturwissenschaft nicht immer deutlich wird.“ 116 Lediglich der Begriff des „Horizontes“ wird weiter ausgebaut (s.u. S. 62ff). Die Untersuchung „Rousseaus ‚Nouvelle Héloïse‘ und Goethes ‚Werther‘ im Horizontwandel zwischen französischer Aufklärung und deutschem Idealismus“ (585-653) führt viele Anliegen der Provokation in einer Fallstudie aus. JAUSS rekonstruiert darin mittels historischer Analysen den Erwartungshorizont für die Erstleser/innen der „Nouvelle Héloïse“ (589-601) und des „Werther“ (614-27) und die Frage, auf die Rousseaus und Goethes Werke die Antwort waren (602-14). Außerdem deutet er im Sinne seines Frage-Antwort-Modells Goethes „Werther“ als erste Antwort auf Rosseau (627-47). Interessant ist auch seine Studie „Das Buch Jona – Ein Paradigma der ‚Hermeneutik der Fremde‘“, Wahrheit der Schrift – Wahrheit der Auslegung (FS G. Ebeling), hg. H.F. Geißer et al. (Zürich, 1993), 260-283. 117 Th.W. ADORNO, Ästhetische Theorie (Ges. Schriften 7; Frankfurt a.M., 1970). 118 Eine frühe Auseinandersetzung mit ADORNO findet sich bereits in Kleine Apologie der ästhetischen Erfahrung (Konstanz, 1972), 47.50f.55. In der Rückschau heißt es dann: „Die Revision der modernistischen Einseitigkeit meines ersten Entwurfs [gemeint ist die Provokation, M.M.M.] begann darum mit einer Kritik an der ästhetischen Theorie Adornos.“ (Ästheti-

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so JAUSS, der Kunst nur dann eine positive soziale Funktion zu, wenn sie die Regeln ihrer gesellschaftlichen Umgebung negiert. An die Stelle der Ästhetik trete somit eine künstlerische Asketik. ADORNO versuche also konsequent jeden Aspekt des Genusses oder der Lust von der Kunst fernzuhalten. In seiner Ablehnung dieser Grundkonzeption entfernt sich JAUSS auch von der mit diesem Konzept verwandten formalistischen Evolutionstheorie und damit auch von Positionen seiner früheren Provokation119. JAUSS hält ADORNO eine Theorie ästhetischer Erfahrung entgegen, bei der die bleibende Tatsache des Kunstgenusses als „Selbstgenuß im Fremdgenuß“ in den Mittelpunkt tritt (71-90). Die grundlegenden Elemente der ästhetischen Erfahrung lassen sich in der Trias Poiesis, Aisthesis und Katharsis erfassen (103-91). JAUSS schreibt zusammenfassend dazu: „Ästhetisch genießendes Verhalten, das zugleich Freisetzung von und Freisetzung für etwas ist, kann sich in drei Funktionen vollziehen: für das produzierende Bewußtsein im Hervorbringen von Welt als einem eigenen Werk (Poiesis), für das rezipierende Bewußtsein im Ergreifen der Möglichkeit, seine Wahrnehmung der äußeren wie der inneren Wirklichkeit zu erneuern (Aisthesis), und schließlich … in der Beipflichtung zu einem vom Werk geforderten Urteil oder in der Identifikation mit vorgezeichneten und weiterzubestimmenden Normen des Handelns … (Katharsis).“ (88f)

Die historische Erfassung literarischer Rezeption, also der Hauptgegenstand seiner Provokation, erscheint hier als Unterkategorie der Aisthesis. Jetzt stehen Produktion, Rezeption und Kommunikation gleichermaßen im Mittelpunkt, ohne daß ein Element dem anderen hierarchisch übergeordnet wäre (89). Aus dem reichen Angebot an leserorientierten Gedanken, das JAUSS ausbreitet, möchte ich im Hinblick auf das exegetische Interesse dieser Arbeit einige herausgreifen: 2.7.4 Ein Sonderfall der Katharsis: Die Interaktion zwischen Held und Leser Besonders wichtig für die künstlerische Übermittlung von Normen und Werten ist die Interaktion zwischen Rezipient und Held (244-92). JAUSS beschreibt die gesellschaftliche Funktion der Katharsis folgendermaßen: „Die ästhetische Identifikation des Zuschauers und Zuhörers, der sich selbst im fremden Geschick oder unalltäglichen Vorbild genießt, kann als kommunikativer Vollzugsrahmen Verhaltensmuster tradieren oder neu bilden, aber auch eingespielte Verhaltensnormen in Frage stellen oder durchbrechen.“ (170) „Heroische, religiöse oder ethische Vorbilder sche Erfahrung, 698) Vgl. zu ADORNOS Ästhetik und zur JAUSS’schen Kritik ZIMA, Literarische Ästhetik, 156-72. 119 Vgl. etwa 245f, wo JAUSS sich von formalistischen und marxistischen Kategorien abgrenzt oder seine Selbstkritik in 255, Anm. 23. Eine umfassende und mitunter auch selbstkritische Bilanz seiner bisherigen Forschung zieht er in 690-703. Darin bezeichnet er seine Übernahme der formalistischen Evolutionslehre als eine „situationsbedingte Einseitigkeit“ (Ästhetische Erfahrung, 695).

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können in ästhetischer Einstellung die kathartische Lust hinzugewinnen, die dann zur Verlockungsprämie wird, um dem Zuschauer oder Leser Verhaltensmuster wirkungsvoller zu vermitteln und über das Exemplarische menschlichen Handelns und Leidens seine Tatbereitschaft herbeizuführen.“ (244)

Um dieses Ziel zu erreichen, durchläuft der Zuschauer oder Leser „eine Reihe von wechselnden Einstellungen“ wie z.B. „Staunen, Erschütterung, Bewunderung, Rührung, Mitweinen, Mitlachen, Befremdung“ (244). Dabei unterscheidet JAUSS fünf Grundformen der Identifikation120: Modalität

Bezug

1. assoziative Spiel, Fest, WettIdentifikakampf, Schauspiel tion (260-64)

2. admirative der vollkommene IdentifikaHeld (Heilige, tion (264-70) Weise)

3. sympathetische Identifikation (271-77) 4. kathartische Identifikation (277-83)

der unvollkommene, alltägliche Held a) der leidende Held

b) der bedrängte Held 5. ironische der verschwundeIdentifikane Held o. der tion (283-92) Anti-Held

Rezeptive Disposition

Verhaltensnormen (+ = progressiv) (– = regressiv)

„Übernahme einer Rolle in der geschlossenen imaginären Welt einer Spielhandlung“ (260) (der Zuschauer wird zum Akteur) „normbildende Bewunderung“, die „zum Anerkennen und Übernehmen von Vorbildern … disponiert“ (264f) „Sich-Einfühlen in das fremde Ich“; Mitleid führt „zur Solidarisierung mit dem … Helden“ (271) tragische Erschütterung => Befreiung des Gemüts

+ Genuß freien Daseins – gestatteter Exzeß (Rückfall in archaische Rituale)

Mitlachen => komische Entlastung des Gemüts Befremdung (Provokation oder Illusionszerstörung)

+ – + –

aemulatio (Nachfolge) imitatio (Nachahmung) Vorbildhaftigkeit Erbaulichkeit

+ – + – +

moralisches Interesse Rührseligkeit Solidarität Selbstbestätigung uninteressiertes Interesse; freie Reflexion Schaulust freies moral. Urteil Verlachen (Lachritual) erwidernde Kreativität Solipsismus Sensibilisierung der Wahrnehmung kultivierte Langeweile kritische Reflexion Gleichgültigkeit

– + – + – + – + –

Die Literaturgeschichte pendelt mit Vorliebe zwischen admirativer und sympathetischer Identifikation hin und her, denn „Bewunderung ist ein Distanz schaffender, Mitleid ein Distanz aufhebender Affekt; denn ich bewundere, 120 Die folgende Tabelle lehnt sich an Ästhetische Erfahrung, 252 an. Für die Abgrenzung der letzten vier Kategorien geht JAUSS von der aristotelischen Einteilung der Charaktere (Poetik 1448a) aus (250). Weiterhin setzt er sich mit der Unterscheidung von N. FRYE, Analyse der Literaturkritik (Stuttgart, 1964), 37-40 in Gott, Halbgott, Führergestalt, „Einer von uns“ und ironischer Held auseinander (246-50).

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was nicht mehr in meinen Möglichkeiten liegt, was über meine Art hinausgeht.“121 Die verschiedenen Formen der Interaktion zwischen Leser und Helden haben in der Literaturgeschichte je unterschiedliche Betonungen erfahren. So ist z.B. die Überzeugung der Aufklärung, daß nämlich Geschichte ein einmaliges, vom Menschen als Subjekt verantwortetes Geschehen darstelle, direkt für die Verdrängung des Exemplarischen und Paradigmatischen verantwortlich (188) und führt unmittelbar zur „ironischen Identifikation“. Demgegenüber wird in der jüdisch-christlichen Tradition die „moralische Identifikation auf den Ebenen des Appellativen, des Erbaulichen, des Sympathetischen und des Exemplarischen mehr und mehr durch ästhetische Einstellung vermittelt“ (245). Das heißt, daß die Kategorien der admirativen, sympathetischen und kathartischen Identifikation fruchtbar in die Auslegung biblischer Erzählliteratur eingebracht werden können122. Dabei sollte die soziologische Komponente des Exemplarischen mitbedacht werden: „Bei der Konstituierung der kollektiven Erinnerung religiöser Gruppen oder sozialer Klassen kommt der Vorbild-Reihe eine oft unterschätzte Bedeutung zu.“ (267) Literarische Interaktionsmuster können zur „Konsolidierung von Gruppenidentitäten“ führen (266). 2.7.5 Ästhetischer Genuß und biblische Erzählliteratur Problematischer für die Auslegung der Evangelien scheint mir JAUSS’ Begriff des ästhetischen Genusses zu sein. Zwar hat dieser Begriff vielfältige Wandlungen durchlebt (71-82), aber er bleibt ein Kind der Neuzeit. In seiner Auseinandersetzung mit JAUSS fragt BÜRGER daher nach der Verzerrung, „die dadurch entsteht, daß man einen historisch später entstandenen Begriff auf frühere Epochen anwendet“, und wähnt JAUSS aufgrund seiner mangelnden Reflexion über diese Problematik immer wieder in der Gefahr, „bestimmten Momenten der Ästhetik des Ästhetizismus … überhistorische Gültigkeit zuzusprechen.“123 Interessant in diesem Zusammenhang ist JAUSS’ Feststellung zur alttestamentlichen Erzählung von Isaaks Opferung (Gen 22), daß diese Erzählform „nicht etwa einen Gegentypus von Aisthesis begründet, sondern aller ästhetischen Erfahrung entgegensteht“ (132)124. Die Merkmale, die JAUSS nach seiner Beschäftigung mit Homer an der alttestamentlichen Erzählweise befremden, treffen durchaus auch auf die neutestamentliche Erzählliteratur zu: 121

M. KOMMERELL, Lessing und Aristoteles (Frankfurter Wissenschaftliche Beiträge Kulturwiss. Reihe 2; Frankfurt a.M., 1957), 209. 122 Vgl. H. RAGUSE, Der Raum des Textes (Stuttgart, 1994), 95f. 123 BÜRGER, Vermittlung, 143. 124 JAUSS bezieht sich oft auf atl. Erzählungen (Sündenfall, Hiob usw.). Sein Interesse gilt dabei vorwiegend der mittelalterlichen Rezeption der Vulgata-Übersetzung dieser Texte.

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„Das Fehlen aller Beschreibung um ihrer selbst willen, das Unausgesprochene nur erratbarer Absichten und Affekte, die Lückenhaftigkeit des Ereignishaften, die Hintergründigkeit der Handlung – all dies verlangt schon von sich aus nach Ausdeutung des Ungesagten und setzt einen Wahrheitsanspruch voraus, der seine Evidenz nicht im Momentanen, sondern aus dem verborgenen Zusammenhang des Vergangenen mit dem Zukünftigen gewinnt.“ (132)

Dahinter vermutet er einen „Wirklichkeitsbegriff einer nicht anschaubaren, nur durch den Glauben ‚garantierten Realität‘“ (132)125. Ich halte seine Trias „Poiesis, Aisthesis, Katharsis“ für eine hermeneutisch sehr fruchtbare Unterscheidung, werde aber den Oberbegriff der „ästhetischen Erfahrung“ oder des „ästhetischen Genusses“ in Verbindung mit den Evangelien vermeiden. Weiterhin ist die Erfahrung der Katharsis als Fremderfahrung der Identifikation „durch die Vermittlung des Imaginären erkauft“ (171); d.h. das Publikum nimmt an einer alternativen Welt teil, die nur für die Zeit der ästhetischen Erfahrung „real“ ist. Im Bereich christlicher „Ästhetik“ steht allerdings die ästhetisch-kontemplative Distanz und die spielerische Teilnahme am imaginären Geschehen kaum im Mittelpunkt. Da geht es nach JAUSS selbst vielmehr um „das Ergriffensein in Andacht und Erbauung“; nicht um „Reinigung durch Katharsis“, sondern um „in die Tat überleitende[s] Mitleid“; nicht um „folgenlosen Genuß des Imaginären“, sondern um „die fortzeugende Kraft des Exemplarischen“; kurzum: nicht um das ästhetische Vergnügen der Nachahmung, sondern um „das appellative Prinzip der Nachfolge“ (171)126. JAUSS’ Duktus der ästhetischen Erfahrung als „Selbstgenuß im Fremdgenuß“ ist im Zusammenhang urchristlicher Gemeinschaftserfahrung zu individualistisch formuliert127. Ich würde urchristliche Wahrnehmung vielmehr als „Kollektiverfahrung“ verstehen, bei der es primär um Erbauung, tätiges Mitleid, Übermittlung von Normen und schließlich um die gemeinsame Nachfolge Jesu geht.

125

Gerade das jüdische Bilderverbot zeugt von einem Unterschied in der ästhetischen Wahrnehmung und, wie JAUSS m.E. zu Recht vermutet, in dem zugrundeliegenden Wirklichkeitsbegriff. 126 Vgl. 171-9 zur Ästhetik der Erbauung: „Aedificatio meint ursprünglich die Zurüstung für die Nachfolge Christi, die gerade nicht durch die Rückwendung auf die subjektive Innerlichkeit, sondern durch eine Entpersönlichung zu leisten war, in der sich der einzelne als Teil der Gemeinde durch die Bewegung seines Gemüts zum ‚Bauwerk des Glaubens‘ erhebt.“ (173) Nach mittelalterlichen Zeugnissen etwa soll die Beschreibung des Leidensweges Jesu von der Betrachtung (meditatio, contemplatio) über das Mitleiden (compassio) zur Nachfolge (imitatio) führen (177). 127 Gegen diesen individualistischen Rezipientenbegriff, bei dem die Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe ausgeblendet wird, haben sich nicht nur marxistische Literaturtheoretiker gewandt; vgl. F. NIES, Gattungspoetik und Publikumsstruktur (Theorie und Geschichte der Literatur und der schönen Künste 21; München, 1972), 14.

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2.7.6 Der Horizontbegriff Da JAUSS in exegetischen Fachkreisen (leider!) nur zaghaft rezipiert worden ist, möchte ich etwas ausführlicher auf einen der wenigen Begriffe zu sprechen kommen, die sowohl in der Provokation als auch in der Ästhetischen Erfahrung von zentraler Wichtigkeit sind: der „Erwartungshorizont“. Der Horizontbegriff hat eine lange Geschichte in den Geisteswissenschaften128. JAUSS unterscheidet zwischen dem klassischen Verständnis, das den Horizont des erkennenden Subjekts als geschlossen und daher „Verstehen als Wiedererkennen und Auslegen einer vorgegebenen oder geoffenbarten Wahrheit“ deutet, und dem neuzeitlichen, das von einem „offenen Horizont“ ausgeht und in der Auslegung nur nach einem möglichen Sinn sucht (661). In beiden Fällen erscheint „Horizont“ als Metapher für die erkenntnistheoretische Grundannahme, „daß jedes Hinsehen auf etwas ein Absehen von etwas anderem impliziert“, daß also von den beiden Hemisphären, in die der Horizont einen Kreis teilt, eine unserem Blick entzogen bleibt (660f). Doch ist seit der Neuzeit dieser Horizont in unserer Weltwahrnehmung „beweglich und weiterrückend“ (661). Mit dem neuzeitlichen Zerbröckeln christlicher Zukunftserwartung, die den Erwartungshorizont unüberholbar begrenzte, gerät das Wechselverhältnis von Erfahrung und Erwartung aus dem Gleichgewicht: Man kann zwar das Vergangene räumlich wie zeitlich zu einem sinnvollen Ganzen zusammensetzen, aber die daraus erwachsene Erwartung schaut auf einen Raum voller „nicht realisierter Möglichkeiten“, die „den geschlossenen Horizont vergangener Erfahrung durchbrechen und neue Erwartungen stiften“ (663f). So bedingen sich Erwartung und Erfahrung gegenseitig. Der Erwartungshorizont erscheint als die durch die Erfahrung strukturierte Antizipation (= Vorverständnis) im Hinblick auf die Wahrnehmung eines unbekannten Objekts. Diese Antizipation ist für JAUSS kein „rein formales Apriori … (wie bei Kant), sondern eine auch schon inhaltliche Vorwegnahme möglicher Erfahrung“ (666)129. Problematisch wird der Dialog mit Texten, die uns durch den zeitlichen Abstand fremd geworden sind. Während der Historismus die Grunderfahrung der „Alterität“ von Texten „durch ein Sich-Versetzen in den Geist der Vergangenheit“ zu überwinden suchte, fordert JAUSS im Anschluß an GADAMER, das positive Potential des Zeitenabstandes in der Aufeinanderfolge von Horizontabhebung und Horizontverschmelzung für das Verständnis nutzbar zu 128 Vgl. M. SCHERNER, „Horizont“, HWP 3 (1974), 1204f. 129 Vgl. G. BUCK, Hermeneutik und Bildung (Kritische

Information 100; München, 1981), 47-70. MANDELKOW, „Probleme“, 90 unterscheidet zwischen Epochenerwartung, Werkerwartung und Autorerwartung. JAUSS, 750, Anm. 56: „erscheint mir für das innerliterarische Feld sinnvoll, wobei die gattungsbedingte Erwartung noch aus der Epochenerwartung (Stil, Kanon führender Autoren) ausgegrenzt werden könnte.“

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machen (667)130. Um den „Trugschluß der Unmittelbarkeit“ und eine „naive Angleichung des historisch fernen Textes“ zu vermeiden, ist vor der Vereinigung zu einem neuen Blickfeld die Unterschiedlichkeit zwischen zeitgenössischem und heutigem Erwartungshorizont möglichst präzise zu bestimmen (667-9). Verstehen vollzieht sich also nicht in der Anpassung an den fremden Horizont, sondern in der bewußten Einbeziehung der eigenen Position (670)131: „Literarisches Verstehen wird erst damit dialogisch, daß die Alterität des Textes vor dem Horizont der eigenen Erwartungen gesucht und anerkannt, daß nicht eine naive Horizontverschmelzung vorgenommen, sondern die eigene Erwartung durch die Erfahrung des anderen korrigiert und erweitert wird.“ (671)

Da es JAUSS hauptsächlich darum geht, „einen Zugang zu der … Erfahrung zu gewinnen, die der historisch erste Adressat des Textes in seiner Lektüre gemacht haben kann“ (690)132, soll hier der Frage nach dem konkreten Vorgehen bei der Erschließung des Erwartungshorizontes der zeitgenössischen Leserschaft nachgegangen werden133: 1. In erster Linie ist der Erwartungshorizont (auch trotz oder gerade wegen des zeitlichen Abstandes) aus dem Text selbst zu rekonstruieren, „aus der Differenz zwischen retrospektiver Erwartung und prospektiver, im Gang der Lektüre sich bildender neuer Erfahrung“ (692). Bei langen Texten muß natürlich eine Selektion vorgenommen werden (589): „Das Vorwort soll als Grundorientierung des Lesers syntagmatisch und vollständig … analysiert werden, um den Erwartungshorizont zu erfassen, der sich mit dem Anfang der Lektüre eröffnet. Die so ermittelten ersten Erwartungen sollen sodann auf korrespondierende Stellen im Text erweitert werden, um im Durchblick auf den ganzen Ablauf der Romanhandlung den literarischen Horizont zu erstellen, den das Werk für den (zeitgenössischen) Leser … aufrief.“

Zwei Elemente spielen bei der Eruierung einer konkreten Erwartungshaltung eine besondere Rolle: a) Die Frage nach der Gattung, dem Stil und der Form 130

Vgl. GADAMER, Wahrheit und Methode, 302: „Der Zeitenabstand ist … nicht etwas, was überwunden werden muß. Das war vielmehr die naive Voraussetzung des Historismus … In Wahrheit kommt es darauf an, den Abstand der Zeit als eine positive und produktive Möglichkeit des Verstehens zu erkennen.“ 131 JAUSS geht diesem „dialogischen Prinzip“ in der Theologie (673-5), der Kunstphilosophie (675-8), der Hermeneutik (679f) und schließlich im Werk des spät zu Ruhm gekommenen, russischen Literaturwissenschaftlers Michail M. BACHTIN (680-5) nach. 132 Es geht ihm ausdrücklich nicht um die „spontane Lektüreerfahrung eines historisch fernen Lesers“, denn diese ist „ein hermeneutischer Nullwert …, weil sich Spontaneität durch Reflexion nie ganz einholen läßt“ (692). 133 Dabei ist es JAUSS ausdrücklich daran gelegen, weder „im Subjektivismus individueller Reaktionen“ noch im „Kollektivismus einer Soziologie des Geschmacks“ zu enden, weder „sich dem Relativismus aller Standorte anzupassen“ noch „einer unbegrenzten Auslegbarkeit aller Texte zu huldigen“ und damit „die historische Objektivität des literaturgeschichtlichen Prozesses zu überspringen“ (695f; 742).

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(694)134: Sie macht die Lesekonventionen deutlich, von denen Leser/innen einer bestimmten Periode beeinflußt sind. b) Die hermeneutische Logik von „Frage und Antwort“: Literarische Werke geben Antworten auf Fragen ihrer Zeitgenoss/innen und werfen dadurch wieder neue Fragen auf. Ihre öffentliche Ablehnung, Anerkennung oder Kanonisierung hängt sehr stark davon ab, wie befriedigend ihre Antworten und wie weiterführend ihre Fragen empfunden werden. Da der literarische Text „kein Katechismus [ist], der Fragen mit vorgegebener Antwort an uns richten soll“, verläuft die „Fragerichtung der aneignenden Rezeption … vom Leser zum Text“ (740)135. Die Rekonstruktion des Frage-Antwort-Schemas verläuft allerdings vom Text zum Leser. 2. Die Horizontabhebung wird nicht nur innerliterarisch bestimmt, sondern auch mittels der Befragung von historischen Quellen, ganz besonders von Dokumenten, die die erste Rezeption dokumentieren (vgl. 586f). Auch wenn der Betrachtung des Textes Priorität zukommt, bleibt die Arbeit weiterhin „auf historisches Wissen und analytische Erklärung angewiesen“ (749), da von hier aus die Ergebnisse des textimmanenten Ansatzes „kontrolliert werden“ können (589). Der Vorwurf, der manchmal gegen JAUSS erhoben worden ist, daß er nämlich den Erwartungshorizont nur als rein innerliterarische Erfahrung definiere136, trifft schon nicht auf die frühe Provokation zu137. Die „ästhetische Erfahrung“ ist nur kommunizierfähig, weil sie sich „systematisch als Einstellung, die der Text impliziert, und historisch als Vorverständnis, das mit dem Horizontwandel von Erwartung und Erfahrung ins Spiel kommt“, darstellt (693). Diese doppelte Ausrichtung entspricht der Unterscheidung zwischen „Wirkung als das vom Text bedingte und Rezeption als das vom Adressaten bedingte Element der Konkretisation von Sinn“ und der zwischen einem „Horizont der Erwartung, die das Werk aufruft, bestätigt oder auch überschreitet“, und einem „Horizont der Erfahrung, die der Empfänger einbringt“ (696; vgl. a. 738). Die Praxis der Horizontabhebung kann wichtige Erträge nicht nur für die exegetische Praxis, sondern auch für die eigene hermeneutische Reflexion heutiger Neutestamentler/innen zutage fördern. Sicherlich ist in den meisten Fällen das Fehlen konkreter Zeugnisse von Erst-Rezipierenden zu beklagen, aber wer sich durch Quellenmangel von der Auslegung abhalten läßt, sollte 134 Vgl. Provokation, 173f.176. 135 Für Rousseaus Nouvelle Héloïse

etwa rekonstruiert JAUSS die Frage: „Wie kann der Mensch in der modernen Welt, angesichts seiner entzweiten Existenz als homme civil, die verlorene Ganzheit des homme naturel wiederfinden und damit die Chance seines Glücks wiedergewinnen?“ (604) 136 Vgl. etwa R. WEIMANN, „‚Rezeptionsästhetik‘ und die Krise der Literaturgeschichte“, Weimarer Beiträge 8 (1973), 21f; BÜRGER, Vermittlung, 135. 137 Dort heißt es etwa: „Das neue literarische Werk wird sowohl gegen den Hintergrund anderer Kunstformen als auch vor dem Hintergrund der alltäglichen Lebenserfahrung aufgenommen und beurteilt“ (Provokation, 138).

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sich sicherlich nicht mit der biblischen Literatur beschäftigen. In JAUSS’ Modell finden sich synchrone und diachrone Fragestellungen im Brennpunkt des wahrnehmenden Subjekts wieder, ohne dem Reduktionismus der Werkimmanenz oder den objektivistischen Totalitätsbestrebungen historischer Zugänge zu verfallen. Positiv zu bewerten ist auch die Möglichkeit, klassische und zuweilen etwas angestaubte Disziplinen (wie etwa die Formkritik) für die Objektivierung des Erwartungshorizontes neu in Anspruch zu nehmen und dadurch wieder heuristisch verwertbar zu machen.

2.8 Wolfgang Iser (*1926): Die Interaktion zwischen Text und Leser Ähnlich wie JAUSS legte Wolfgang ISER seine Grundthesen in seiner Konstanzer Antrittsvorlesung einer breiteren Öffentlichkeit vor138. Doch im Gegensatz zu JAUSS hat ISER sein Modell über den Akt des Lesens kontinuierlich ausgebaut und schließlich in einem großen theroretischen Entwurf vorgelegt139. Zeitlich dazwischen liegt die Publikation einer Sammlung von meist älteren und daher auch für die spätere Theoriebildung kaum repräsentativen Aufsätzen, die mehr durch ihren Titel als durch ihren Inhalt nachgewirkt hat140. Der programmatische Titel Der implizite Leser hat die Iser-Rezeption leicht dazu verführt, diesen Begriff derart in den Mittelpunkt zu stellen, daß viele wesentlich zentraleren Inhalte aus ISERS Werk in den Hintergrund geraten sind. Daß der Begriff des „impliziten Lesers“ in dem gleichlautenden Werk nur in der Einleitung erwähnt wird141 und im Akt des Lesens einen relativ geringen Raum einnimmt142, spricht eben nicht dafür, daraus den Eckpfeiler der ISER’schen Wirkungsästhetik zu machen143. Ich will also versuchen, den Gedankengang aus Der Akt des Lesens möglichst umfassend darzustellen. Auch wenn die Fülle an Einzelbeobachtungen und das bunte Nebeneinander 138

Die Appellstruktur der Texte: Unbestimmtheit als Wirkungsbedingung literarischer Prosa (Konstanz: Universitätsverlag, 1970) auch in WARNING, Rezeptionsästhetik, 228-52. 139 Akt des Lesens. 140 Der implizite Leser. Hervorheben möchte ich den Originalbeitrag „Die Leserrolle in Fieldings Joseph Andrews und Tom Jones“ (S. 57-93), da hier viele wirkungsästhetische Grundanliegen praktisch vorgeführt werden. Die restlichen Studien geben aufgrund ihres älteren Datums höchstens einen ganz vagen Vorgeschmack auf den späteren theoretischen Gesamtentwurf. 141 Implizite Leser, 8f. 142 Im wesentlichen handelt es sich um kaum acht Seiten (Akt, 60-67)! 143 Der „Irreführung“ durch den Titel ist offensichtlich auch W.G. J EANROND in seiner sonst sehr anregenden Monographie Text und Interpretation als Kategorien theologischen Denkens (HUTh 23; Tübingen, 1986) aufgesessen, wenn er schreibt: „Das Konzept des ‚impliziten Lesers‘ hat Iser vor allem in seinem Buch Der implizite Leser … entwickelt“ (107; Anm. 108).

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von Begriffen aus den verschiedensten wissenschaftlichen Fachsprachen so manche/n Leser/in (mich jedenfalls!) nach einer ersten Lektüre etwas verwirrt zurücklassen, ist der grobe Aufbau gut erkennbar: Ausgangspunkt ist einerseits die Unzufriedenheit mit dem Fortwirken klassischer Interpretationsnormen (12-37) und andererseits die kritische Auseinandersetzung mit Vertretern und Gegnern leserorientierter Fragestellungen (37-86). Darauf aufbauend, beschäftigt sich ISER in den drei Hauptteilen seines Werkes in einem funktionsgeschichtlichen Textmodell mit dem Pol des Textes (87-174), dann in einer Phänomenologie des Lesens mit dem Pol des Lesers (175-256) und schließlich mit der Interaktion zwischen beiden (257-355). 2.8.1 Der „implizite Leser“ als Ausweg aus den Aporien klassischer Interpretationsnormen Die herkömmliche Interpretation, gegen die ISER zu Felde zieht, sieht es als selbstverständlich an, „dem Text die verborgene Bedeutung zu entreißen“ (13), den Sinn wie eine Sache vom Text zu substrahieren und damit das Werk zu „verbrauchen“ (14). Fatalerweise läßt eine solche Interpretation den Text als leere Schale zurück und entzieht sich selbst damit den Boden unter den Füßen (14)144. Spätestens im Umgang mit den komplexen Werken der Moderne wird aber deutlich, daß sich „Sinn … nicht auf eine diskursive Bedeutung reduzieren, und die Bedeutung … sich nicht zu einer Sache verdinglichen“ läßt (18)145. Im Gegensatz dazu geht es ISER nicht um das Eruieren einer bestimmten Bedeutung, sondern darum, die Bedingungen für eine mögliche Textwirkung freizulegen und damit dem Dauerstreit um die einzig richtige Interpretation den Wind aus den Segeln zu nehmen (36)146. Da sowohl alte als auch zeitgenössische Texte ihre Wirkungen nur in der Lektüre entfalten, hat sich die Interpretation vornehmlich mit dem Akt des Lesens zu beschäftigen, auch wenn dieser unter autor-zentrierten, historischen und werkimmanenten Forschungsinteressen vergraben zu sein schien (36f). Dabei „ist das Gelesenwerden der Texte eine unabdingbare Voraussetzung für die verschiedenartigsten Interpretationsverfahren und damit ein Akt, der den Ergebnissen der einzelnen interpretatorischen Zugriffe immer schon vorausliegt“ (37). Die 144 ISER

schließt hier an die Kritik der Essayistin Susan SONTAG; vgl. „Gegen Interpretation“, Kunst und Antikunst (München, 1980), 9-18:12: „Die Interpretation im modernen Stil gräbt aus, und im Akt der Ausgrabung zerstört sie; sie gräbt sich ‚hinter‘ den Text, gleichsam um den Untertext freizulegen, der für sie der eigentliche Text ist.“ 145 Daß sich die klassische Interpretationsnorm, die auf den Pfeilern der Epochalität und Formvollendung ruht, halten konnte, führt ISER darauf zurück, daß sie es zu einem symmetrischen Systembau gebracht hat (29-31) und daher die für das Verstehen notwendige Konsistenzbildung erleichtert (33). 146 Das bedeutet allerdings nicht, daß ISER dem Akt der Interpretation gegenüber abgeneigt wäre (vgl. Akt, VII).

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herkömmliche Frage nach der Bedeutung eines Werkes muß ersetzt werden „durch die Frage …, was dem Leser geschieht, wenn er fiktionale Texte durch die Lektüre zum Leben erweckt. Bedeutung hätte dann viel eher die Struktur des Ereignisses“ (41). Eine Beschäftigung mit dem Akt des Lesens als sinnkonstituierendem Moment muß zunächst die Frage klären, „welcher Leser denn eigentlich gemeint ist“ (51). Lesertypen sind in der Regel „Konstruktionen, die der Formulierung von Erkenntniszielen dienen“, und spalten sich auf in solche, die Wirkungsstrukturen verdeutlichen (ISER), und solche, die erfahrene Wirkung belegen sollen (empirische und psychologische Leserforschung)147 (51). Verschiedene Konstrukte eines „idealen Lesers“ lehnt ISER jedoch vor allem deswegen ab, weil ein solcher Leser derart mit dem Code des Autors übereinstimmen müßte, daß Kommunikation (also „Übermittlung von Noch-NichtGekanntem“) überflüssig wäre (51-54). Nach einer knappen Beschäftigung mit dem „Testkonzept“ von RIFFATERRE, dem „Lernkonzept“ von FISH und dem „Rekonstruktionskonzept“ von WOLFF (54-60) führt ISER sein Modell des „impliziten Lesers“ ein148. Auch wenn der Begriff des „Lesers“ es nahelegen könnte, handelt es sich hierbei weder um eine real existierende, empirische Größe (60) noch um eine Abstraktion eines wirklichen Lesers (64) oder eine „Typologie möglicher Leser“149. Bei der positiven Beschreibung des „impliziten Lesers“ wartet ISER allerdings mit einer Fülle von sprachgewaltiger und zum Teil bildreich-offenen Definitionsversuchen auf: „Der implizite Leser meint den im Text vorgezeichneten Aktcharakter des Lesens.“150 Er ist eine im Text „eingezeichnete Struktur“, die „die Gesamtheit der Vororientierungen, die ein fiktionaler Text seinen möglichen Lesern als Rezeptionsbedingungen anbietet“, verkörpert (60); er ist eine „strukturierte Hohlform“, in die die „Aktualisierungsbedingungen eingezeichnet“ sind, „die es erlauben, den Sinn des Textes im Rezeptionsbewußtsein des Empfängers zu konstituieren“ (61); er ist das „Rollenangebot des Textes“ (61.64), das „den Beziehungshorizont für die Vielfalt historischer und individueller Aktualisierungen des Textes bereitstellt“ (66); er ist „die im Text ausmachbare Leserrolle, die aus einer Textstruktur und einer Aktstruktur besteht“ (66)151; und schließlich ist er „ein transzendentales Modell, durch das sich allgemeine Wirkungsstrukturen fiktionaler Texte beschreiben lassen“ (66).

147 ISERS Diskussion psychoanalytischer Lesermodelle (67-86) soll hier nicht weiter referiert werden. 148 Terminologisch wie inhaltlich knüpft ISER an BOOTHS „impliziten Autor“ an (64). Vgl. den Exkurs zum „impliziten Autor“ u. S. 80ff. 149 ISER, Implizite Leser, 9. 150 ISER, Implizite Leser, 8f. 151 In Akt, 60 definiert ISER die Leserrolle als die „von den Signalen des Textes vorstrukturierten Reaktionen“.

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Dieser „Leser im Text“, der übrigens ECOS „Modell-Leser“ nicht unähnlich ist, scheint überall und nirgendwo zu sein. Als eingezeichnete Textstruktur ist er nicht einfach ein herauslösbares Textelement, sondern omnipräsent in der rhetorischen Disposition des Textes; doch als Aktstruktur möglicher Reaktionen ist er diskursiv nicht faßbar. Irreführend ist es m.E. auch, wenn ISER seinen Leser/innen in Aussicht stellt, daß, wann immer „in den folgenden Kapiteln dieser Arbeit vom Leser die Rede ist, … damit die den Texten eingezeichnete Struktur des impliziten Lesers gemeint“ sei (60). Eine solche terminologische Eindeutigkeit wäre zwar wünschenswert, wird aber von ISER nicht durchgehalten: Wenn „in den folgenden Kapiteln dieser Arbeit“ z.B. von dem „Bewußtsein des Lesers“ (39.175.177, passim), seinen „habituellen Dispositionen“ (65), seiner „Kompetenz“ (154), „seiner Erfahrungsgeschichte“ (201), von der „Selbstkonstituierung“ des Lesers im Lektüreprozeß (244f) oder von seiner „ideologischen Position“ (312) die Rede ist, dann erscheint es mir sprachlogisch widersinnig, hierbei an eine „eingezeichnete Textstruktur“ zu denken152. Von einer Unterscheidung zwischen einem „Textpol“ und einem „Leserpol“ (7) oder zwischen einem künstlerischen und einem ästhetischen Pol (38) kann man ohnehin nur reden, wenn der Leserpol außerhalb des Textes liegt. Anderenfalls würden sich der „Dialog zwischen Text und Leser“ (134) als intratextuelles Selbstgespräch und ISERS dialogisches System als kaschierter Monismus herausstellen153. Welcher Rang also dem „impliziten Leser“ im Gesamtkonzept von ISERS Werk tatsächlich zukommt, soll erst bestimmt werden, wenn sein phänomenologisches Modell insgesamt überblickt werden kann. Die bisherigen Ausführungen deuten aber bereits an, daß entgegen einer weitläufigen ISER-Rezeption der Begriff des „impliziten Lesers“ nicht im Mittelpunkt der Wirkungsästhetik steht. 2.8.2 Von Repertoire und Strategien: Der Text zwischen Welt und Leser Von den drei Hauptteilen des Akts des Lesens ist der erste der Beschreibung eines funktionsgeschichtlichen Textmodells gewidmet (87-174)154. Da der 152 ISER

selbst fordert dazu auf, nicht zu „vergessen, daß der Leser immer diesseits des Textes ist“ (246). 153 Dieser Sachverhalt spiegelt eine Hauptproblematik rezeptionsorientierter Fragestellungen wider: Wann immer von der Reaktion des Lesers die Rede ist, ist zwangsläufig auch von mir und von anderen Leser/innen vor und nach mir die Rede. Eine Trennung zwischen textuellen und empirischen Leser/innen ist daher kaum durchzuhalten. Das ist m.E. weder ECO noch ISER gelungen. Ehrlicher erscheint mir in diesem Fall FISHS „hybrides“ Konstrukt eines „informierten Lesers“, der weder ganz im Text noch ganz in der Wirklichkeit ist (s.o. S. 43). 154 Mit dem Adjektiv „funktionsgeschichtlich“ möchte ISER dreierlei deutlich machen: Erstens, daß es sich nicht um ein ontologisches Modell handelt (88); zweitens, daß „die Leistung der Fiktion auf ihrer Funktion beruht“ (88); und drittens, daß sein Interesse letztendlich „der pragmatischen Dimension des Textes“ gilt (89).

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Text zwischen Wirklichkeit und Leser steht, gilt es die Schnittpunkte TextWirklichkeit und Text-Leser genauer zu bestimmen (88). Der Bezug zur Wirklichkeit wird im Textrepertoire hergestellt (87-143), der zum Leser in den Textstrategien (143-174). Zur theoretischen Fundierung dieses Modells beruft sich ISER auf die Sprechakttheorie (89-101), die „versucht die Bedingungen zu beschreiben, die das Gelingen der Sprachhandlung gewährleisten“ (89). Ein solches Gelingen hängt im wesentlichen von drei Faktoren ab (92): „Die Äußerung des Sprechers muß sich auf eine Konvention berufen, die auch für den Empfänger gilt. Die Verwendung der Konvention muß situationsangemessen sein, und das heißt, sie muß von akzeptierten Prozeduren gesteuert werden. Schließlich muß die Bereitschaft der Beteiligten, sich auf eine Sprachhandlung einzulassen, in dem gleichen Maße gegeben sein, in dem die Situation definiert ist, in der sich eine solche Handlung vollzieht.“ (kursiv von ISER)

Die Sprechakttheorie hat also hervorgehoben, daß „[s]prachliche Äußerungen … immer in eine Situation“ fallen (101). Das Problem liegt aber darin, daß der fiktionalen Rede der eindeutige Situationsbezug fehlt, „dessen hohe Definiertheit im Sprechaktmodell vorausgesetzt ist, wenn die Sprachhandlung gelingen soll“ (104). Mit anderen Worten: „die zum Abbau der Kontingenz notwendige Definiertheit einer gemeinsamen Situation ist hier nicht vorgegeben“ (109). Nach ISER ist aber der fiktionale Text „autoreflexiv“ (105) und führt „alle die Anweisungen mit sich…, die für den Empfänger der Äußerung die Herstellung eines solchen situativen Kontexts erlauben“ (106). Das Fehlen eines solchen Kontextes wird also „im Dialogverhältnis von Text und Leser als Antriebsenergie wirksam, nun die Bedingungen der Verständigung zu erzeugen, damit sich ein Situationsrahmen herauszubilden vermag, über den Text und Leser zur Konvergenz gelangen“ können (109). Um die Übertragung auf den fiktionalen Text zu erleichtern, benennt ISER schließlich die sprechakttheoretischen Begriffe neu (115): „Die für das Erstellen einer Situation notwendigen ‚Konventionen‘ sollen im folgenden als das Repertoire, die ‚akzeptierten Prozeduren‘ als die Strategien und die ‚Beteiligung‘ des Lesers als die Realisation bezeichnet werden.“

1. Das Textrepertoire (115-143)155: „Das Repertoire bildet jenen Bestandteil des Textes, in dem die Immanenz des Textes überschritten wird“, da „hier der Text eine ihm vorausliegende Bekanntheit einkapselt“ (115). Die einzelnen Elemente des Repertoires stammen aus dem Fundus vorangegangener Literatur, ebenso wie aus dem Konventionsbestand sozialer Normen und historischer Traditionen (115.118.132f. 136.143.233)156. Das Repertoire nimmt also 155 ISERS Begriff des „Repertoires“ hat inhaltliche Ähnlichkeiten mit dem J AUSS’schen „Erwartungshorizont“. 156 Da aber Texte auch soziale Normen verarbeiten, stehen beide Größen nicht beziehungslos nebeneinander (133).

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Bezug „auf den sozio-kulturellen Kontext im weitesten Sinne, aus dem der Text herausgewachsen ist“ (115). Doch ist das Verhältnis zu dieser „außerästhetischen Realität“ kein mimetisches, sondern eines der Reduktion (115f) und Selektion (118), da ja nur „bestimmte Normen sozialer und historischer Wirklichkeit, aber auch Bruchstücke vorangegangener Literatur in den Text hineingezogen werden“ können (118). Das Repertoire „entpragmatisiert“ die mitgeführten Elemente, da diese „aus ihren ursprünglichen Funktionszusammenhang herausgelöst und in einen anderen Kontext hineinversetzt“ werden (328). Trotz der Veränderung, die einzelne Elemente durch ihre selektive Verwendung im Textrepertoire erfahren, stellen sie „eine wesentliche Vorbedingung dafür [dar], daß sich eine Situation zwischen Text und Leser herauszubilden vermag“ (118). Indem es also auf außertextuelle Konventionen und Normen Bezug nimmt, die der Leser mit dem Text teilt, schafft das Repertoire zumindest die Illusion einer gemeinsamen Situation, womit das Gelingen der Kommunikation ermöglicht wird. 2. Die Textstrategien (143-174)157: Textstrategien übernehmen im fiktionalen Text die Aufgabe der „akzeptierten Prozeduren“ im Sprechaktmodell; d.h. sie stellen die Verfahren bzw. Regeln dar, „die dem Sprecher und dem Hörer vorgegeben sein müssen, soll die Sprachhandlung gelingen“ (145). Sie „entwerfen die Erfahrungsbedingungen des Textes“ (156). Zwar läßt sich aus den Elementen des Repertoires eine virtuelle Situation bilden, aber zur „Konkretisierung dieser virtuell gebliebenen Äquivalenz des Repertoires bedarf es der Organisation, die von den Textstrategien geleistet wird“ (143). Textstrategien sind jedoch nicht in der Lage die „Empfangsbedingungen total [zu] organisieren“; vielmehr geben sie „dem Leser nur bestimmte Kombinationsmöglichkeiten“ vor (144), zeigen also „nur die operativen Zielrichtungen des Textes“ auf (157). Sie realisieren sich in der Regel durch die verschiedenen Erzähltechniken eines Werkes. Doch da es davon zu viele gibt, muß nach der Struktur gefragt werden, „die den individuell praktizierten Techniken unterliegt“ (145). Nach einer kritischen Diskussion des strukturalistischen Deviationsmodells, welches einen Gegensatz zwischen sprachlicher Norm und poetischer Sprache konstruiert (145-51), und des gestaltpsychologischen Begriffspaars von Schema und Korrektur, mit dem die optische Wahrnehmung der gegebenen Welt beschrieben wird (151-5), gelangt ISER zu zwei elementaren Erfassungsbedingungen des Textes: a) Die Vordergrund-Hintergrund-Beziehung (155-61): Durch den selektiven Transfer von Elementen in das Textrepertoire treten diese in den Vordergrund, während ihre ursprünglichen Bezugsfelder den Hintergrund bilden 157 Der Begriff der „Textstrategie“ hat Ähnlichkeiten mit CHATMANS „discourse“ als Gegenpol zu „story“ (Story and Discourse, 19: „[A] discourse … is the expression, the means by which the content is communicated. In simple terms, the story is the what in a narrative that is depicted, discourse the how.“).

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(156f). Sie halten „den Horizont parat, dem sie entnommen worden sind“ (116). Die daraus entstehende „semantische Differenz“ zwischen dem bekannten Bezugssystem „und dem noch unbekannten Verwendungszusammenhang“ im Text ist „eine elementare Verstehensbedingung des Textes“, denn das neue Element kann nur auf dem Hintergrund seines bekannten Bezugsfeldes verstanden werden (157). Da der Hintergrund im Text nicht ausdrücklich formuliert ist, hängt dessen Erkennung „in Umfang sowie Differenzierung von der oft sehr unterschiedlichen Kompetenz der jeweiligen Leser“ ab (158). Der Hintergrund hat daher nur „virtuellen Charakter“ (159). b) Die Thema-Horizont-Struktur (161-74): Während die VordergrundHintergrund-Beziehung die „Außenbeziehungen“ des Textes in ihrem Verhältnis von Textrepertoire und Bezugssystem regelt, organisiert die ThemaHorizont-Struktur die „Innenbeziehungen“ des Textes (161f). Erstere erfaßt die Selektion und letztere die Kombination der Einzelelemente innerhalb des Textes (162). Eine solche innertextuelle Organisation ist wichtig, weil der erzählende Text „ein System der Perspektivität“ darstellt: Die „Perspektive des Erzählers, die der Figuren, die der Handlung bzw. Fabel (plot) sowie die der markierten Leserfiktion“ kommen in Erzählkommentaren, in erlebter Rede von Held und Nebenfiguren und in markierten Leserpositionen abwechselnd zu Wort (162f; vgl. 184-6). Die Struktur dieser „Innenperspektivik des Textes“ wird bestimmt über das Begriffspaar von Thema und Horizont (163f): „Da die einzelnen Textperspektiven unterschiedlichen Blickpunkten entspringen, entsteht die Notwendigkeit ihrer Verbindung… Daher können die einzelnen Perspektivträger … bei aller Verschiedenheit ihrer Anlage letztlich nicht auseinanderlaufen, obgleich ihre Divergenz vielfach unverkennbar ist. Folglich müssen Operationen vorgezeichnet sein, die eine Zuordnung der einzelnen Perspektiven aufeinander erlauben. Dafür sorgt die Struktur von Thema und Horizont. Sie regelt zunächst die attentionalen Zuwendungen des Lesers zum Text, dessen Darstellungsperspektiven weder nacheinander noch parallel entrollt werden, sondern sich in der Anlage des Textgewebes durchschichten. Daher vermag der Leser nicht in allen Perspektiven gleichzeitig zu sein, vielmehr wird er sich im Lesevorgang durch die wechselnden Segmente der verschiedenen Darstellungsperspektiven hindurchbewegen. Worauf er jeweils blickt bzw. worin er gerade ‚ruht‘, ist für ihn in diesem Augenblick Thema. Dieses jedoch steht immer vor dem Horizont der anderen Segmente, in denen er vorher situiert war.“ (164)

Die Thema-Horizont Struktur „organisiert zunächst eine für die Auffassung zentrale Beziehung zwischen Text und Leser“ (165), sie „bildet die zentrale Kombinationsregel der Darstellungsperspektiven“ (169): Durch den zeitlichen Verlauf der Lektüre wird der Leser in das Wechselspiel verschiedener Perspektiven „eingeschachtelt“, gewinnt aber durch den ständigen Standpunktwechsel in der Aufeinanderfolge von Thema und Horizont die notwendige Distanz, um zu einer Synthese der Textperspektiven zu gelangen. Damit ist aber der Leser „nicht mehr frei, sich alles und jedes vorzustellen; vielmehr

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schränkt die von einer solchen Struktur geleistete Vermittlung die Beliebigkeit der Auffassung des Textes durch den Leser erheblich ein“ (165). Weiterhin stellt die Thema-Horizont-Struktur alle sprachlich manifestierten Positionen des Textes in ein „Interaktionsverhältnis“, in ein „Netz reziproker Beziehungen“, bei dem diese „im Spiegel wechselseitiger Beobachtbarkeit“ erscheinen (166). Sie lenkt das Interesse des Lesers so auf einzelne Positionen, daß sie in einer ganz bestimmten Weise erscheinen, die nur „aus der wechselseitigen Veränderung gegebener Positionen“ deutlich werden kann (166). Wenn also im Verlauf der Lektüre „das interpretierte Segment in die Horizontstellung [rückt] …, so wird die erfahrene Differenzierung von ihm auf das thematisch gewordene Segment ausstrahlen“ (168)158. Wie aber können die verschiedenen Textperspektiven einander zugeordnet werden? In den meisten Fällen gilt, daß entweder der Held oder die Nebenfiguren die selektierten Normen repräsentieren (170): „Repräsentiert der Held die Normen, dann werden sie von den Nebenfiguren in der Regel verfehlt; repräsentieren die Nebenfiguren die Normen, dann eröffnet der Held in der Regel eine kritische Sicht auf das Bezugssystem des Textes.“ ISER unterscheidet „vier zentrale Modalisierungen der Zuordnung von Textperspektiven“ (171-4): 1. Kontrafaktische Anordnung (171f): Typisch für erbauliche, didaktische und propagandistische Literatur ist die streng hierarchische Anordnung der Beziehungen, wodurch ein „hoher Eindeutigkeitsgrad im Blick auf die Funktion des Textes“ erreicht wird. Der Held ist zentraler Perspektivträger, dem die Nebenfiguren in deutlicher Abstufung untergeordnet sind. 2. Oppositive Anordnung (172f): Die in den Textperspektiven vorgestellten Normen stehen in Gegensatz zueinander. Durch ihre wechselseitige Negation kann der Leser das Normenrepertoire überschreiten, weil keine Norm absolute Gültigkeit besitzt. 3. Gestaffelte Anordnung (173f): Vor allem im modernen Roman von Thackeray bis Joyce wird die Beziehung zwischen den Normen weder hierarchisch noch durch Oppositionen gelenkt. Durch die narrative Verweigerung, aus der Perspektive eines Helden zu erzählen, fehlt jegliche „zentrale Orientierung“. 4. Serielle Anordnung (174): Mit Joyce und dem nouveau roman wird das Prinzip der Staffelung gesteigert durch den totalen Abbau aller hierarchischen Zuordnungen. Im Hinblick auf die Evangelien besteht keine Frage, daß die Erzählperspektive hierarchisch so angeordnet ist, daß sich die Normen aller Handlungsträger eindeutig dem Ethos Jesu, das von Gott selbst legitimiert wird, unterordnen lassen.

158 Für die Praxis heutiger Bibellektüre scheint mir folgende Aussage ISERS relevant: „Je entschiedener der Leser auf eine ideologische Position verpflichtet ist, desto deutlicher sinkt seine Bereitschaft, sich auf die zentrale Erfassungsstruktur von Thema und Horizont, welche die Interaktion von Text und Leser reguliert, einzulassen. Worauf er eingeschworen ist, darf nicht zum Thema der Betrachtung werden.“ (312)

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2.8.3 Von wandernden Blickpunkten, Kohärenzbildung und passiven Synthesen: Eine Phänomenologie des Lesens Mit dem hier beschriebenen Textmodell ist nur ein Pol der Kommunikationssituation umschrieben, denn Repertoire und Strategien halten „den Text lediglich parat, dessen Potential sie zwar entwerfen und vorstrukturieren, das jedoch der Aktualisierung durch den Leser bedarf, um sich einlösen zu können“ (175). Im zweiten Teil seiner Arbeit beschäftigt sich ISER daher mit einer Phänomenologie des Lesens (175-256), die versucht, den „Transfer des Textes in das Bewußtsein des Lesers“ (175.177) genauer zu ergründen. Dabei sind drei Aspekte von entscheidender Wichtigkeit: der wandernde Blickpunkt, Kohärenzbildung und die passiven Synthesen des Lesevorgangs: 1. Der wandernde Blickpunkt (177-193): „Der wandernde Blickpunkt bezeichnet den Modus, durch den der Leser im Text gegenwärtig ist“ (193), denn im Gegensatz zur optischen Objektwahrnehmung „sind wir nicht in der Lage, einen Text in einem einzigen Augenblick aufzunehmen“, sondern müssen ihn „über die Ablaufphasen der Lektüre“ manchmal mühsam erschließen (177). Der Leser steht dem Text nicht in einer Subjekt-Objekt-Relation gegenüber wie der Betrachter vor einem Bild, sondern „bewegt sich … als perspektivischer Punkt durch seinen Gegenstandsbereich hindurch“, existiert als „wandernder Blickpunkt innerhalb dessen …, was es aufzufassen gilt“ (178). Der Text kann also nur in Einheiten erfaßt, seine Ganzheit nur durch eine ständige „synthetische Aktivität“ des Lesers gewonnen werden (178f). Die kleinste zu untersuchende Einheit ist nach dem Befund empirisch ermittelter Ergebnisse der Psycholinguistik nicht das einzelne Wort, sondern die Satzeinheit (179-86). Der Leser, der sich also häppchenweise von Satz zu Satz vorarbeitet, erfährt sein Mittendrin-Sein im Text „als Scheitelpunkt zwischen Protention und Retention“; d.h. er befindet sich in einer ständigen Dialektik zwischen Erinnerung und Erwartung (181f). Wenn einzelne Textsignale (sog. „Weckungsstrahlen“) zu einem späteren Zeitpunkt ein Erinnerungssediment aufrufen, dann stellt sich im Bewußtsein des Lesers eine Beziehung zur ursprünglichen Einbettung des Geweckten her (190), deren Umfang allerdings individuell von „Erinnerungsvermögen, Interesse, Aufmerksamkeit und Kompetenz“ des Lesers abhängig ist (192). So beginnt der Leser im Verlauf der Lektüre unterschiedliche Textperspektiven voneinander abzuheben, wobei „die retentionale Vergegenwärtigung des vergangenen in eine ständige Modifikation des jeweiligen Jetzt“ (186) und „das gegenwärtige Jetzt in eine Modifikation des vergangenen umschlägt“ (187). Die unterschiedlichen Textperspektiven organisieren sich „zu wechselseitigen Horizonten“ (189). 2. Kohärenzbildung (193-218): Die durch die Abhebung von Textperspektiven sich einstellende Horizontdialektik eröffnet dem Leser ein „Netz von Beziehungsmöglichkeiten“ (193):

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Literarische Rezeptionskritik und Evangelienexegese „Ein solches Beziehungsnetz kann niemals total realisiert werden, es bietet jedoch die Basis für die vielen Selektionsentscheidungen, die im Lesen fallen und die – wie es die Interpretationsvielfalt zeigt – intersubjektiv verstehbar bleiben, als sie der angestrebten Optimierung dieses Beziehungsnetzes entsprungen sind.“159

Im Labyrinth der Kombinationsmöglichkeiten sind die „synthetischen Aktivitäten“ des Lesers gefordert (193)160. Ganz im Sinne der Gestaltpsychologie drängt es den Leser zu einer einheitlichen, konsistenten Gestalt (194-7), in der „die Spannungen aufgehoben [sind], die sich aus unterschiedlichen Zeichenkomplexen ergeben haben“ (197). Gestaltkohärenz ist im Gegensatz zu formalistischen Textmodellen keine Eigenschaft des Textes, „sondern entsteht als eine Projektion des Lesers, die insofern gelenkt ist, als sie sich aus der Identifikation der Zeichenbeziehungen ergibt“ (197)161. Die Gestaltbildung des Lesers läuft also der prinzipiellen Offenheit des Textes entgegen (202f). Je nach subjektiver Präferenz legen einzelne Leser/innen den Schwerpunkt ihrer Gestaltfindung auf die thematische, die formale oder die didaktische Ebene des Werkes (199f). Wichtiger aber ist der Unterschied zwischen Handlungs- und Sinngestalten (200-2): Bei der Handlungsgestalt geht es um die Erstellung von Kohärenz auf der Ebene der Figurenkonstellationen und Handlungszusammenhänge. In der Regel erreichen verschiedene Leser/innen hier einen „hohen Grad intersubjektiver Eindeutigkeit“ (201; vgl. 205). Wesentlich komplexer gestaltet sich aber die Sinngestalt, da auf dieser Ebene „Selektionsentscheidungen fallen, die nicht deshalb subjektiv sind, weil sie von Willkür gezeichnet wären, sondern weil sich eine Gestalt nur dann schließen läßt, wenn eine und nicht alle Möglichkeiten gleichzeitig gewählt werden“ (201; vgl. 206)162. Aber gerade bei der Wahl der einen Möglichkeit spielt die eigene Erfahrungsgeschichte eine entscheidende Rolle (201). Da der Leser in der Lektüre die Gedanken eines anderen denkt, „orientieren sich Selektionsentscheidungen zunächst an jenem Teilbereich der Fremderfahrung, der noch vertraut zu sein scheint“ (206), wodurch wiederum die Illusion der direkten Beteiligung am Werk entsteht (208). Dadurch erfährt der Leser den Text und seinen Sinn als ein Geschehen (209f), in das er derart verstrickt ist, daß seine Erfahrung durch die Lektüre verändert wird (214-16).

159 ISER,

nes.

196-200 illustriert diesen Sachverhalt mit einem Beispiel aus Fieldings Tom Jo-

160 Unter „Synthese“ versteht ISER eine Gruppierungsaktivität, „durch die interagierende Textperspektiven zu einem Äquivalent zusammengeschlossen werden, das den Charakter einer Sinnkonfiguration besitzt“ (194). 161 Später heißt es, „daß die Textkohärenz erst in der Vorstellungstätigkeit des Lesers einzulösen ist“ (287). Dementsprechend ist auch Ambiguität ein „Produkt unserer Gestaltbildung“ (211). 162 Als geschlossen gilt eine Gestalt, wenn es ihr gelingt, „die Spannung zwischen den zu gruppierenden Zeichen“ abzubauen (202).

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3. Die passiven Synthesen (219-56): Unter „passiven Synthesen“ versteht ISER „vorprädikative Synthesen, die sich unterhalb der Schwelle unseres Bewußtwerdens vollziehen“ (220). Im Unterschied zu prädikativen Synthesen beinhalten diese keine Urteile (243). „Der zentrale Modus passiver Synthesen ist das Bild“ (220), welches wiederum „die zentrale Kategorie der Vorstellung“ ist (222). Im Verlauf der Lektüre erstellt der Leser durch seine Vorstellung „ein Bild des imaginären Gegenstandes“ (225) und erlebt in der Gegenwart seiner eigenen Vorstellung eine gewisse „Irrealisierung“, die die eigene Welt nach der Lektüre „wie eine beobachtbare Realität“ erscheinen läßt (226f). Die Vorstellungsinhalte werden von den Schemata des Textes ausgelöst und gelenkt (229-33), „[d]er Anteil der Subjektivität ist bei aller Schwankung“ daher „kontrolliert“ (233). Die Aktivität der Vorstellungsbildung „ist in ihrer Abfolge wesentlich durch die zeitliche Erstreckung der Lektüre bedingt“ (239). Aus diesem Zusammenspiel von Phantasie und zeitlicher Erfahrung bildet sich der im Text angelegte Sinn des Werkes (240f). Da dieses Zeitmoment individuell variiert, liegt hierin der Grund für die Individualität der Lektüre (241-3). Passive Synthesen verlaufen daher in zwei Schritten: Zunächst entfaltet der Leser die „im Text vorgegebenen Aspekte zu Vorstellungsgegenständen“, um diese dann auf der Zeitachse der Lektüre einer ständigen Modifikation zu unterziehen (243). Da aber diese synthetische Aktivität im Dienst der fremden Realität des Textes steht, wird der Leser für die Dauer der Lektüre aus seiner eigenen Realität herausgehoben und definiert durch seine Sinnkonstitution des Textes schließlich auch sich selbst (243f). Durch diese „Abhebung des Subjekts von sich selbst“ (254) „schwindet die für alle Erkenntnis, aber auch für alle Wahrnehmung geltende Subjekt-Objekt-Spaltung, deren Aufhebung das Lesen … als eine besondere Kategorie für den möglichen Zugang zu Fremderfahrung erscheinen läßt“ (248f; s.a. 251). 2.8.4 Von Leerstellen und Negationspotentialen: Der Raum zwischen Text und Leser Im dritten und letzten Teil seiner Arbeit (257-355) widmet sich ISER der Interaktion, also dem „wechselseitige[n] Einwirken“ von Text und Leser (257). Während aus sozialpsychologischer Sicht verschiedene Formen der Kontingenz als Produkt und Antrieb jeglicher Interaktion angesehen werden (257-9) und aus psychoanalytischer Sicht Kommunikation als zwischenmenschliche Aktivität diskursiv nur als „no-thing“ faßbar wird (259-61), fehlt der TextLeser-Beziehung „die face to face situation, der alle Formen sozialer Interaktion entspringen“ (262). So verfügt z.B. der Text über keine Mechanismen, die dem Leser eine ausdrückliche Gewißheit darüber verleihen, ob „seine Auffassungen zutreffend sind“ (262). Doch diese Asymmetrie, die sich „in der mangelnden Gemeinsamkeit einer Situation und in der mangelnden Vor-

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gegebenheit eines gemeinsamen Bezugsrahmens anzeigt“, erweist sich in Wirklichkeit als ein Antrieb, die „Unbestimmtheitsgrade der Asymmetrie, der Kontingenz und des no-thing“ durch Projektionen abzubauen (262f). Die Interaktion scheitert allerdings, wenn diese „Leere mit den eigenen Projektionen“ derart besetzt wird, daß der Leser als Interaktionspartner keine Veränderung mehr zu erfahren vermag (263). Die kommunikative Interaktion zwischen Text und Leser bedarf daher ganz bestimmter Steuerungskomplexe, die die Projektionen des Lesers regulieren. Der Text hält im wesentlichen zwei Mechanismen parat, um die Interaktion zu ermöglichen (264-7): Leerstellen und Negationspotentiale163. 1. Die Leerstelle (284-327): Eine „fundamentale Kategorie der Textbildung“ und eine „zentrale Voraussetzung der Textkohärenz“ ist die „Anschließbarkeit“ der einzelnen Textsegmente (284f). Dem entspricht seitens des Lesers der wahrnehmungspsychologische Begriff der good continuation (287): „Dieser meint die konsistente Verbindung von Wahrnehmungsdaten zu einer Wahrnehmungsgestalt sowie das Anschließen von Wahrnehmungsgestalten aneinander.“ Da in der pragmatischen, alltäglichen Sprachverwendung Anschließbarkeit durch eine Reihe von Zusatzbedingungen geregelt wird (285), kommt der Leser zum Text mit „habituellen Erwartungen“, die in aller Regel den eigenen Kommunikationsgewohnheiten entsprechen (287)164. Leerstellen unterbrechen die Anschließbarkeit einzelner Segmente (185) und laufen damit der Erwartungshaltung des Lesers zuwider (287). Sie stellen die „Gelenke des Textes“ (284) dar und erstrecken sich sowohl auf das Textrepertoire als auch auf die Textstrategien (286). „Immer dort, wo Textsegmente unvermittelt aneinander stoßen, sitzen Leerstellen, die die erwartbare Geordnetheit des Textes unterbrechen“ (302)165. Daher sind Leerstellen weder beschreibbar noch mit einem eindeutigen Inhalt zu füllen (302), auch wenn sie im Verlauf der Lektüre je individuell beseitigt werden. Doch sind Leerstellen kein Manko, „sondern zeigen vielmehr die Kombinationsnotwendigkeit der Textschemata an, aus der sich erst jener Einbettungszusammenhang bilden läßt, der dem Text Kohärenz und der Kohärenz Sinn gibt“ (285). Indem sie die good continuation unterbrechen und damit die Vorstellungsbildung des Lesers erschweren, bewirken sie „eine verstärkte Kompositionsaktivität des Lesers, der nun die … Schemata … kombinieren“ 163

Beide Elemente ergeben sich aus der ausführlichen Auseinandersetzung mit INKonzept der „Unbestimmtheitsstellen“ (267-80). Schließlich umfaßt für ISER der Begriff der „Unbestimmtheit“ sowohl die Leerstellen als auch die Negationen des Textes (283). 164 Ähnlich wie „Textkohärenz“ ist „Anschließbarkeit“ keine Eigenschaft des Textes, sondern eine „Selektionsentscheidung des Lesers“ (286). 165 Praktisch denkt ISER z.B. an das Verschleppen der Spannung durch einen Schnitt in der Handlung, die Einführung neuer Personen oder den unvermittelten Beginn neuer Handlungsstränge (297). GARDENS

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(288) und seine Vorstellungen korrigieren muß (289-93)166. Als „Pausen des Textes“ (302) haben Leerstellen auch eine strukturbildende Eigenschaft, da sie „den Perspektivenwechsel des Leserblickpunkts“ im zeitlichen Fluß des Lesens organisieren (304f)167. 2. Das Negationspotential (327-55): Neben der Leerstelle ist die Negation ein wichtiger Ermöglichungsgrund für die Interaktion zwischen Text und Leser. „Die Negationspotentiale rufen Bekanntes oder Bestimmtes auf, um es durchzustreichen; als Durchgestrichenes jedoch bleibt es im Blick und verursacht angesichts seiner gelöschten Geltung Modifizierungen in der Einstellung: die Negationspotentiale bewirken damit die Situierung des Lesers zum Text.“ (267)

Negationen streichen ein bestimmtes durch das Repertoire des Textes repräsentiertes Wissen durch, klammern es ein, neutralisieren es oder versetzen es in den Zustand eines bloß potentiellen Wissens zurück (350) und verorten dadurch „den Leser zwischen einem ‚Nicht-Mehr‘ und einem ‚Noch-Nicht‘“ (328). Als „Hohlform der Sinngestalt“ macht die Negation „den alten Sinn, den sie negiert, noch einmal bewußt, indem sie ihn mit einem neuen überlagert“ (335). Negationen haben auch einen wichtigen „Indexwert für die funktionsgeschichtliche Zuordnung der Texte“, weil der Grad ihrer Intensität „wichtige Anhaltspunkte für die Intention des Autors sowie für die vorausgesetzten Erwartungen des angesprochenen Publikums liefern“ (338). ISER unterscheidet zwischen primären und sekundären Negationen: „Primäre Negationen markieren ein virtuell gebliebenes Thema, dem der negierende Akt entspringt. Deshalb beziehen sie sich vorwiegend auf das in den Text eingezogene, der außertextuellen Welt entnommene Repertoire“ (341). Sekundäre Negationen sind im Text nicht markiert, sondern ergeben sich „im Lektüre-Akt aus dem Zusammenwirken der Steuerungssignale des Textes mit den vom Leser hervorgebrachten Sinngestalten“ (340). ISER faßt zusammen (348): 166 ISER,

289-93 unterscheidet eine „Vorstellung ersten Grades“ (das durch die Schemata des Textes aufgerufene Vorstellungsobjekt) und eine „Vorstellung zweiten Grades“ (das aus der Reaktion auf die Vorstellung ersten Grades neu gebildete Vorstellungsobjekt). 167 Je nach Romantyp haben Leerstellen eine unterschiedliche kommunikative Funktion (294-301): 1. Politische Nutzung: Der Thesenroman, als das Paradigma didaktischer und propagandistischer Literatur, versucht die Anschließbarkeit der Schemata so weit wie möglich zu regeln und schränkt durch das Verweilen auf der Perspektive des Helden die Aktivität des Lesers auf eine bloße Ja/Nein-Entscheidung ein (294-6). 2. Kommerzielle Nutzung: Der Fortsetzungsroman schlägt aus der vorstellungsbildenden Antriebskraft der Leerstelle kommerzielles Kapital, indem geschickt an solchen Stellen geschnitten wird, wo durch das Erscheinen neuer Personen oder anderer Handlungsstränge der Leser derart engagiert wird, daß er das Erscheinen des nächsten Abschnittes kaum erwarten kann (296-8). 3. Ästhetische Nutzung: Die Romane von Ivy Compton-Burnett bestehen aus kaum unterbrochenen Dialogsituationen, die jedem Dialogpartner immer weitere Leerstellen hinterlassen und damit auch den Leser dazu veranlassen, seine eigenen Projektionen zu entdecken (298-301).

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Literarische Rezeptionskritik und Evangelienexegese „Leerstellen und Negationen markieren bestimmte Aussparungen bzw. virtuell gebliebene Themen auf der syntagmatischen und der paradigmatischen Achse des Textes. Sie erzeugen damit notwendige Möglichkeiten, um die fundamentale Asymmetrie zwischen Text und Leser auszubalancieren. Sie initiieren eine Interaktion, in deren Verlauf die Konturen des Leergelassenen von den Vorstellungen des Lesers besetzt werden, wodurch sich auch die Asymmetrie zwischen Text und Welt aufzuheben beginnt und der Leser eine ihm fremde Welt zu Bedingungen erfahren kann, die nicht durch seinen Habitus determiniert sind.“

2.8.5 Versuch einer Würdigung Eine Bewertung von ISERS Werk ist im Rahmen dieser Arbeit weder durchführbar noch wünschenswert168. Die bereits kritisierte Überbewertung des „impliziten Lesers“ ist insofern folgenreich, als es sich dabei m.E. um einen der diffusesten Begriffe in seinem Modell handelt. Der „implizite Leser“ ist eine anthropomorphe Beschreibung für das Rollenangebot des Textes – nicht weniger und vor allem nicht mehr. Dieses Rollenangebot bedarf der Aktivität des realen Lesers, um aktualisiert zu werden. Doch wie der Begriff „Rollenangebot“ bereits andeutet, handelt es sich nicht um eine einzige Rolle, in die Leser/innen zu allen Zeiten zu schlüpfen gezwungen werden, sondern um ein vielfältiges Angebot, das sich nie mit „den habituellen Dispositionen des Lesers“ restlos decken wird. Dies hat wichtige Konsequenzen für das Problem der Verschiedenheit der Interpretationen: „Würden wir in der vorgegebenen Rolle total aufgehen, dann müßten wir uns vollkommen vergessen, und das bedeutete, wir müßten uns von all den Erfahrungen freimachen, die wir doch unentwegt in die Lektüre einbringen und die für die oft recht unterschiedliche Aktualisierung der Leserrolle verantwortlich sind… Daraus folgt, daß die Leserrolle des Textes historisch und individuell unterschiedlich realisiert wird, je nach den lebensweltlichen Dispositionen sowie dem Vorverständnis, das der einzelne Leser in die Lektüre einbringt. Das muß nicht Willkür sein, sondern ergibt sich daraus, daß das Rollenangebot des Textes immer nur selektiv realisiert wird. Die Leserrolle enthält einen Realisierungsfächer, der im konkreten Fall eine bestimmte und folglich nur eine ‚episodische Aktualisierung‘ erfährt.“ (Akt des Lesens, 65)

168 Im Vergleich mit JAUSS fallen vier Unterschiede auf (vgl. HOLUB, Reception, 82f): 1. ISERS Interesse gilt nicht primär der Literaturgeschichte, sondern der Beschäftigung mit einzelnen Werken. 2. I SER schließt als Anglist ganz bewußt an die Diskussion in der angelsächsischen Literaturwissenschaft an. 3. Die verschiedenen Publikationen ISERS zum Thema lassen keine dramatischen Umgewichtungen erkennen. Er hat, anders als JAUSS, sein theoretisches Modell konsequent ausgebaut. 4. I SER benutzt als philosophischen Unterbau nicht die Hermeneutik Gadamers, sondern die Phänomenologie Husserls. Ähnlich wie JAUSS sieht ISER den Ausweg aus der Krise in der Integration verschiedener wissenschaftstheoretischer Ansätze: Phänomenologie (Sartre, Ingarden, Merleau-Ponty), Semiotik (Eco, Lotman), Gestaltpsychologie (Gombrich) und Sprechakttheorie (Austin, Cavell). Aber im Gegensatz zum JAUSS der Provokation handelt es sich hierbei nicht um Modelle, die so weit auseinanderlaufen, daß ihre Integation nur zu inneren Widesprüchen führen müßte.

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Das heißt auch, daß „jede Aktualisierung eine bestimmte Besetzung der Struktur des impliziten Lesers“ ist und als solche „die individuelle Rezeption des Textes intersubjektiv zugänglich macht“ (65f). Dennoch bleibt es dem Leser von ISERS Werk überlassen, eine einheitliche Gestalt aus der offen gebliebenen Spannung zwischen eindeutiger Textlenkung und freier Leseraktivität zu bilden169. Damit löst es die Erwartungen, die es nach seiner anfänglichen Kritik am klassischen Auslegungsparadigma bei seinen Leser/innen freisetzt, nicht ganz ein170. Eine Würdigung ISERS muß aber auch den Hang in der Iser-Rezeption korrigieren, Wirkungsästhetik werkimmanent zu betreiben. Der Begriff des „Repertoires“ dürfte deutlich gemacht haben, daß der Verzicht auf eine historische Erschließung der im Text „eingekapselten“ außerästhetischen Elemente die Interaktion zwischen Text und Leser in das Vakuum der Situationslosigkeit führen würde. Da aber ohne einen situativen Kontext Kommunikation nicht stattfinden kann, ist jedem Versuch, Wirkungsästhetik werkimmanent zu betreiben, das Scheitern geradezu vorbestimmt171. Der Begriff der Leerstelle hat zwar heuristischen Wert, könnte aber noch weiter strukturiert werden. Ich würde im Weiterführung ISERS unterscheiden zwischen optischen Leerstellen (= Vorstellungsbild; fehlende Beschreibungen aller einzelnen Elemente des Szenariums und der Figuren)172, narratologischen Leerstellen (fehlende Kohärenz auf der Erzählebene, Handlungszusammenhänge, Zeitsprünge usw.), thematischen Leerstellen (fehlende thematische Leitlinien, thematische Kohärenz) und affektiven/pragmatischen Leerstellen (Offenheit bei der Umsetzung der übermittelten Normenwerte und Handlungsanweisungen).

169 In der Einleitung zu Akt des Lesens formuliert I SER die Grundfrage der Wirkungsästhetik eher im Sinne eines eindeutigen Textprimats: „Wie sehen die Strukturen aus, die die Verarbeitung eines Werkes im Rezipienten lenken?“ (IV) Im Laufe seiner Arbeit fragt I SER glücklicherweise nicht nur nach Werkstrukturen, sondern auch nach Leseaktivitäten. 170 H. LINK , „‚Die Appellstruktur der Texte‘ und ein ‚Paradigmenwechsel in der Literaturwissenschaft‘?“ Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft 17 (1973), 546-55 wirft ISER vor, daß seine eigenen Untersuchungen Auslegungen im traditionellen Sinn sind, weil sie die Intention des Autors reaffirmieren (s.a. M. DUNKER, Beeinflussung und Steuerung des Lesers in der englischsprachigen Detektiv- und Kriminalliteratur [Frankfurt a.M. u.a., 1991], 55.) 171 Vgl. etwa 247: „Wird der Leserblickpunkt von den gegebenen Anschauungen eines bestimmten historischen Publikums her geprägt, dann kann er nur durch die historische Rekonstruktion der dieses Publikum beherrschenden Ansichten wieder lebendig werden.“ 172 Gerade in der Beschreibung von Realien und Personen ist die biblische Erzählliteratur äußerst sparsam.

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2.9 Exkurs 1: Der „implizite Autor“173 Der von Wayne C. BOOTH ins Leben gerufene „implied author“ oder „implizite Autor“ gehört seit den 60er Jahren zu den unverzichtbaren Elementen erzähltheoretischer Arbeit. Da ISERS „impliziter Leser“ terminologisch wie sachlich daran anknüpft174 und da dieser Begriff auch in der exegetischen Literatur häufig begegnet175, erscheint eine kritische Auseinandersetzung mit der Leistungsfähigkeit dieser narratologischen Konzeptualisierung an dieser Stelle angebracht. 2.9.1 Die Vorläufer des „impliziten Autors“ In den 50er Jahren setzte sich in der Literaturtheorie allgemein die Erkenntnis durch, daß die Werte und Urteile, die in einer Erzählung von den Charakteren oder der Erzählfigur abgegeben werden, nicht zwangsläufig mit den Wertvorstellungen des empirischen Autors übereinstimmen müssen. Daher erschien es notwendig, Unterscheidungen zwischen verschiedenen Autoreninstanzen einzuführen: Walker GIBSON etwa unterschied zwischen dem realen Autor und dem „fiktiven Sprecher“ („fictitious speaker“), dessen ganzes Wesen im Werk encodiert ist176. In der gleichen Nummer der Zeitschrift College English grenzte Rebecca Price PARKIN den empirischen Autor von einem „impliziten dramatischen Sprecher“ ab, der sich als jener implizite fiktionale Charakter

173 Vgl. aus der umfangreichen Literatur zum Thema: W.C. BOOTH, Rhetoric of Fiction, 67-77; W.J.M. BRONZWAER, „Implied Author, Extradiegetic Narrator, and Public Reader“, NP 62 (1978), 1-18; CHATMAN, Story and Discourse, 148-151; Coming to Terms: The Rhetoric of Narrative in Fiction and Film (Ithaca, 1990), 74-89.90-108; N. DIENGOTT, „The Implied Author Once Again“, JLitSem 22 (1993), 68-75; G. GENETTE, Narrative Discourse Revisited, 137-148; P.D. JUHL, „Life, Literature, and the Implied Author“, DVfLG 54 (1980), 177-203; W. NELLES, „Historical and Implied Authors and Readers“, CL 45 (1993), 22-46; A. NÜNNING, „Renaissance eines anthropomorphisierten Passepartouts oder Nachruf auf ein literaturkritisches Phantom? Überlegungen und Alternativen zum Konzept des ‚implied author‘“, DVfLG 67 (1993), 1-25; RIMMON-K ENAN, Narrative Fiction, 86-9.101-4; M.J. TOOLAN, Narrative: A Critical Linguistic Introduction (London, 1988), 77-78. 174 Vgl. ISER, Akt des Lesens, 64. 175 Vgl. z.B. J.C. ANDERSON , Matthew’s Narrative Web (JSNT.S 91: Sheffield, 1994), 27; CULPEPPER, Anatomy, 15f.43-49; D.B. HOWELL, Matthew’s Inclusive Story (JSNT.S 42; Sheffield, 1990), 39f; KINGSBURY, Matthew as Story, 30; T. LONGMAN, Literary Approaches to Biblical Interpretation (Grand Rapids, 1987), 84f; E.V. McKNIGHT, The Bible and the Reader (Philadelphia, 1985), 101-3; POWELL, What is Narrative Criticism? 19.24f; RAGUSE, Psychoanalyse, 91f; D. RHOADS, D. MICHIE, Mark as Story (Philadelphia, 1982), 148, Anm. 148; R.C. TANNEHILL, The Narrative Unity of Luke-Acts (Philadelphia, 1986) I, 6-8. 176 GIBSON, „Authors, Speakers“, in Tompkins, Reader-Response Criticism, 1.

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erweist, der das Gedicht spricht177. In ähnlicher Weise unterschied z.B. Kathleen TILLOTSON zwischen dem Autor und seinem im Werk sprechenden „zweiten Ich“178. Diese Bemühungen lassen sich besser auf dem Hintergrund der Verbannung des historischen Autors durch die Hauptvertreter des angloamerikanischen New Criticism verstehen179: Einerseits schien man sich der Lücke bewußt zu sein, die durch den Verzicht auf einen biographischen Intentionalismus entstanden war, andererseits mußte jedes Postulat einer Autoreninstanz mit den werkimmanenten Interessen der herrschenden Auslegungspraxis übereinstimmen. Allerdings konnte sich bis zu dem Erscheinen von BOOTHS Studie keiner der hierfür angebotenen Begriffe auf dem Markt kritischer Sprache durchsetzen. 2.9.2 Wayne C. Booth und die Geburt des „impliziten Autors“ BOOTH beschäftigt sich im ersten Teil seines zum Standardwerk avancierten narratologischen Lehrbuches The Rhetoric of Fiction mit drei allgemeinen Regeln, die zwar die Haltung vieler Literaturschaffender seiner Zeit widerspiegeln, in dieser Allgemeinheit aber aus BOOTHS Sicht eingeschränkt werden müssen180: Wahre Romane müssen realistisch sein (23-66), alle Autoren sollten objektiv sein (67-88), und wahre Kunst ignoriert das Publikum (89-118). Bei der Forderung nach autorialer Objektivität unterscheidet BOOTH zwischen Neutralität, Unparteilichkeit und Leidenschaftslosigkeit oder impassibilité (67) und führt schließlich in seiner Diskussion über den Aspekt der Neutralität (67-77) den Begriff des „impliziten Autors“ ein181. Unter „Neutralität“ versteht er den Anspruch vieler Autor/innen, völlig frei von ideologischen Werten schreiben zu können. BOOTH kann mit einer gewissen „vorderridanischen Freude“ am Beispiel Tchechows nachweisen, wie dieses theoretische Postulat in der Praxis fortwährend unterminiert wird (68f). Andererseits sieht er den Ausweg aus dieser Diskrepanz zwischen Anspruch 177

PARKIN, „Alexander Pope“, 137: „[T]he implied dramatic speaker is … the implied fictional character, not identifiable with the author, who speaks the poem.“ Diese Nomenklatur wurde auch von W.K. WIMSATT (Verbal Icon, xv) und M. BEARDSLEY (Aesthetics [New York, 1958], 240) rezipiert. 178 K. TILLOTSON, The Tale and the Teller (London, 1959), 22. 179 Vgl. CHATMAN , „Defense“, 77: „The concept of implied authorship arose in the debate about the relevance of authorial intention to interpretation.“ 180 In seinem Nachwort zur zweiten Auflage „The Rhetoric in Fiction and Fiction as Rhetoric: Twenty-One Years Later“ (401-57) bemerkt BOOTH, daß mittlerweile genau die umgekehrten Regeln zu gelten scheinen. 181 In einer terminologisch wesentlich unpräziseren Weise hatte BOOTH schon Jahre zuvor vom „implied author“ gesprochen: „[I]t is evident that in all written works there is an implied narrator or ‚author‘ who ‚intrudes‘ in making the necessary choices to get his story or his argument or his exposition written in the way he desires“ („The Self-Conscious Narrator in Comic Fiction before Tristam Shandy“, PMLA 67 [1952], 164).

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und Durchführung nicht in der etwa von SARTRE vertretenen Gegenposition eines existentialistischen auteur engagé (70)182, sondern in der Unterscheidung zwischen dem historischen Autor und dem „impliziten Autor“183. Demnach ist der Autor zwar niemals „leibhaftig“ als Individuum im Werk anwesend. Das heißt aber dennoch nicht, daß das Werk aus einer vollkommen wertneutralen Perspektive formuliert ist, denn im Werk selbst begegnen wir dem Repräsentanten des Autors, einer „impliziten Version seiner selbst“ (71), seinem „zweiten Ich“ (72). Diesen „impliziten Autor“ (= IA) versieht BOOTH mit einer Reihe interessanter Eigenschaften: a) Der IA steht zwar als „zweites Ich“ des Autors in einem gewissen Verhältnis zur historischen Autorengestalt, ist aber nicht mit dieser zu identifizieren. Das heißt auch, daß der IA verschiedener Werke ein und desselben historischen Autors jeweils ein anderer ist (71), was BOOTH anhand verschiedener Romane Fieldings zu zeigen versucht (71-3)184. b) Die Konzeptualisierung des „impliziten Autors“ wird zu einer anthropomorphen Metapher für „the particular ordering of values in each novel“, also für die besondere Hierarchisierung von Werten in einem Roman (72). BOOTH will damit ältere Termini ersetzen, die benutzt wurden, um die Übermittlung von Werten durch Literatur zu beschreiben, wie etwa „Thema“, „Sinn“, „symbolische Bedeutung“ oder „Theologie“, weitet den Begriff aber auch auf den moralischen Gehalt aller in der Erzählwelt vollzogenen Handlungen aus (73). c) Der IA ist nicht anhand einer bestimmten rhetorischen Strategie objektivierbar, sondern ergibt sich aus den wichtigsten Impulsen, die der Leser aus dem Werkganzen realisiert (71). Er läßt sich also nicht einfach durch einen bestimmten Stil, Ton oder eine literarische Technik erheben (74), sondern anhand der Leserreaktion auf die durch ihn vermittelten Normen (71). Es geht also um die „intuitive Erfassung eines artistischen Ganzen“ (73), um die Extrapolierung einer „idealen, literarisch erschaffenen Version des realen Menschen“ (75). d) Daher muß man auch den impliziten Autor von dem Erzähler eines Werkes unterscheiden. Während der Erzähler seine Anwesenheit als „Ich-Figur“ kundtut, ist es der IA, der den Erzähler ins Leben ruft und oftmals durch Ironie von diesem sich unterscheidet (73). Der IA entscheidet, was wir lesen, und erscheint uns als die Summe seiner Entscheidungen (74f). 182

Vgl. J.P. SARTRE, Was ist Literatur? (Gesammelte Werke: Schriften zur Literatur 3; Reinbek bei Hamburg, 1981; franz. 1948). 183 Diese Unterscheidung erlaubt es BOOTH, eine Mittelposition zu beziehen: „[I]n this distinction between author and implied author we find a middle position between the technical irrelevance of talk about the artist’s objectivity and the harmful error of pretending that an author can allow direct intrusions of his own immediate problems and desires.“ (75) 184 Es ist ganz offensichtlich, daß BOOTH hier eigentlich vom Erzähler in verschiedenen Fielding-Romanen spricht (vgl. CHATMAN, Coming to Terms, 84f; N ELLES, „Authors and Readers“, 25f).

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Bei dem IA handelt es sich also nicht einfach um eine textinterne Größe, sondern um eine anthropomorphe Variante des Autors, die sich als das lenkende Bewußtsein eines Werkes in seiner Gesamtanlage, als die Quelle seiner übermittelten Werte, zu erkennen gibt. Das Verhältnis zum realen Autor ist psychologisch sehr komplex. Der durchschlagende Erfolg dieser kritischen Metapher liegt nicht darin, daß BOOTH sie seitdem fortwährend benutzt185, sondern vor allem darin, daß mit dem Begriff des „Autors“ die Literaturwissenschaft eines der elementaren hermeneutischen Konzepte wieder aus der Verbannung zurückkehren lassen konnte, ohne mit den Grundüberzeugungen der New Critics brechen zu müssen. BOOTHS Rhetoric of Fiction hat die theoretische Grundlage dafür geliefert, daß man wieder von einem Autor und von einer Intention reden konnte, ohne dabei irgendeine Größe außerhalb des Textes postulieren zu müssen186. Doch sollte in der Folgezeit der Begriff mehr und mehr problematisiert werden. Dabei zeichnen sich drei Richtungen ab, die ich kurz skizzieren will: der konsequente Ausbau, die eingeschränkte Übernahme und die komplette Ablehnung des Begriffes. 2.9.3 Das Fortleben des „impliziten Autors“ in der aktuellen Erzähltheorie 2.9.3.1 Ausbau des „impliziten Autors“ Mitverantwortlich für die weite Verbreitung des „impliziten Autors“ ist zweifelsohne Seymour CHATMANS einflußreiche Erzähltheorie Story and Discourse. CHATMAN übernimmt nicht nur BOOTHS Begrifflichkeit, sondern baut diese weiter aus. Dabei betont er wiederholt, daß der IA keine eigenständige Stimme im Text hat, sondern den Leser über die Gesamtanlage des Werkes unterweist187. Während BOOTH – vielleicht noch etwas klassisch formuliert – den impliziten Autor mit der Übermittlung moralischer Werte in Verbindung bringt, spricht CHATMAN nun in gut strukturalistischer Fachsprache von „allen im Werk impliziten kulturellen Codes“ (149). Für CHATMAN ist der IA immer eine einheitliche Größe, unabhängig von der Frage nach der Entstehung des Werkes: Selbst wenn ein Werk von einem Autorenteam oder traditionsgeschichtlich zusammengewachsen ist, haben wir es mit einem impliziten Autor 185

Vgl. etwa „Distance and Point of View“, Essays in Criticism 11 (1961), 64f.71-73; Critical Understanding (Chicago, 1979), 278; The Company We Keep: An Ethics of Fiction (Berkeley, 1988), 91. 186 Vgl. NÜNNING, „Passepartout“, 16; JUHL, „Implied Author“, 202f. BOOTH ist in der Lage, „to talk about the author under the guise of still appearing to talk about the work“ (J.R. BAKER, „From Imitation to Rhetoric: The Chicago Critics, Wayne C. Booth, and Tom Jones“, Novel 6 [1972/73], 204f). 187 „Unlike the narrator, the implied author can tell us nothing. He, or better, it has no voice, no direct means of communication. It instructs us silently, through the design of the whole, with all the voices, by all the means it has chosen to let us learn.“ (148)

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zu tun (149)188. Doch CHATMAN geht noch weiter: Er läßt den impliziten Autor nicht nur als eine sich aus der Lektüre konstituierende Größe stehen, sondern schaltet ihn in sein kommunikationstheoretisches Textmodell als Agens mit ein. Demnach verläuft literarische Kommunikation über drei ineinander geschachtelte Sender- und Empfängerinstanzen (151)189: Narrativer Text Empir. Autor =>

Impl. Autor => (Erzähler) => (Erzähladr.) => Impl. Leser

=> Empir. Leser

In seiner späteren Apologie für den Begriff des impliziten Autors190 versucht CHATMAN die Argumente der Skeptiker (s.u. S. 90ff) zu entkräften. Dabei geht es nicht um die ontologische Frage nach der Existenz oder NichtExistenz des impliziten Autors, sondern um die rein pragmatische Frage nach dem heuristischen Erkenntniswert einer solchen Konzeptualisierung (75). Doch bevor CHATMAN dieser Frage nachgeht, nimmt er deren Ergebnis bereits voraus: Mit dem Verlust des impliziten Autors würde die Literaturwissenschaft insgesamt Schaden erleiden191. Damit der IA als heuristisches Beschreibungsinstrument effektiv eingesetzt werden kann, sollte eine möglichst klar umrissene Definition geboten werden. Was das angeht, hinterläßt CHATMANS Klärungsversuch eher Verwirrung: Auf der einen Seite möchte er dem anthropomorphen Potential des Autorenbegriffs einen Riegel vorschieben, indem er davor warnt, bei dem impliziten Autor an einen menschlichen Stellvertreter oder ein Spiegelbild des realen Autors zu denken (82)192, auf der anderen Seite bleibt der IA als Stimmloser193 ein Agens im Kommunikati-

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Diese wichtige Frage ist von BOOTH nicht ausdrücklich behandelt worden, aber es ist offensichtlich, daß CHATMAN sie im Sinne BOOTHS beantwortet, da hier dem Grundprinzip von der Abgeschlossenheit eines literarischen Werkes vollends Genüge getan wird (BOOTH , 73 spricht von einem „completed artistic whole“). 189 Vgl. auch die Graphik in CHATMAN , Coming to Terms, 151. In seinem ausführlichen Nachwort zur zweiten Auflage von Rhetoric of Fiction nimmt BOOTH sehr ähnliche Entsprechungen vor (vgl. S. 427-31). 190 CHATMAN , Coming to Terms, 74-89. Seitenzahlen im Text beziehen sich hierauf. 191 „[N]arratology … needs the implied author … to account for features that would otherwise remain unexplained, or unsatisfactorily explained.“ (74) Sein nachfolgender Artikel „The Implied Author at Work“ beginnt mit einer eindringlichen Warnung: „Without the implied author, narratology and literary criticism lose an important distinction.“ (90) 192 „[T]he implied author … is no person, no substance, no object.“ (87) CHATMAN warnt ausdrücklich: „Let us once more resist the anthropomorphic trap.“ (88) Damit nimmt er die Kritik von GENETTE auf, wonach ein Spiegelbild des Autors zwar im Text vorhanden sein mag, aber als Spiegelbild eben nicht besonderer Erwähnung wert ist (s.u. S. 90ff). 193 „‚Voice‘ belongs uniquely to the narrator.“ (76) „The implied author has no ‚voice‘.“ (85)

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onsprozeß, indem er zwar im Werk nicht selber spricht, aber letztendlich für jede Sprachhandlung des Erzählers verantwortlich zeichnet194. Positiv definiert CHATMAN den impliziten Autor als die sinnlenkende Triebkraft innerhalb des Textes, das erfinderische Bewußtsein hinter allen Elementen des Textes, der Ort der intentio operis195, die Quelle der gesamten Sinnstruktur eines Werkes. Schließlich ist der IA mit dem Text selbst identisch196 und kann durch Begriffe wie „Textimplikation“, „Textintention“ oder „Textdesign“ ersetzt werden (86). Vollends unklar bleibt hierbei auch die Aktivität des Lesers, denn einerseits verkörpert der IA die strukturelle Anweisung für die vom Leser einzunehmende Lesestrategie197, andererseits wird der IA erst durch die rekonstruierende Aktivität des wahrnehmenden Subjektes „aktiviert“198. Nachdem CHATMAN aber an der Tatsache nicht vorbeikommt, daß Auslegungen von Lesegemeinschaft zu Lesegemeinschaft variieren, konzediert er: „Indeed, we might better speak of the ‚inferred‘ than of the ‚implied‘ author.“ (77)199 Um das „Überleben“ des „impliziten Autors“ zu sichern, ist es unerläßlich, ihn begrifflich von weiteren Textinstanzen zu differenzieren: a) Die Unter194 „[The IA

is] an agency that does not personally tell or show but puts into the narrator’s mouth the language that tells or shows… The implied author only empowers others to ‚speak‘. The implied author … is a silent source of information. The implied author ‚says‘ nothing.“ (85) Daher modifiziert CHATMAN sein früheres kommunikationstheoretisches Modell (s.o. S. 84), bei dem „narrator“ und „narratee“ fakultative Größen darstellten und so die Möglichkeit bestand, daß der IA direkt mit dem impliziten Leser kommuniziert. Anstatt aber aufgrund dieser Überlegung – die er der Kritik von RIMMON-KENAN verdankt – beide Größen aus dem Kommunikationsprozeß zu streichen, nimmt CHATMAN einfach die Klammern aus seinem Konzept (218, Anm. 29). 195 Er nennt den impliziten Autor: „the agency within the narrative fiction itself which guides any reading of it“, „the source … of the work’s invention“, „the locus of the work’s intent“ (74), „the source of a narrative text’s whole structure of meaning“ (75), „the unified invention and intent of the text“ (82), „an inscribed principle of invention and intent“ (83), „a self-consistent textual intent“ (84). „It is a sense of purpose reconstructable from the text that we read, watch, and/or hear.“ (86) 196 „The text is itself the implied author“ (81), „the text itself in its inventional aspect“ (86). 197 Der IA ist „the reader’s source of instruction about how to read the text and how to account for the selection and ordering of its components“ (83f). 198 Der IA ist identisch mit den „patterns in the text which the reader negotiates“ (87), und obwohl das schöpferische und sinngebende Bewußtsein im Text ist („the principles of invention and intent remain in the text“) werden sie vom Leser „[r]econstructed … in each reading“ (75). „Those principles are available to and activated by each reader upon each reading.“ (82) 199 „Though different readers may construct different implied readers, the process itself is common to us all. And that is why it makes sense to call the construct of invention ‚implied‘ or ‚inferred‘: it remains only latent or ‚virtual‘ in the text until it is actualized by our act of reading. Readers infer a self-consistent textual intent, rather than guessing directly at the real author’s state of mind.“ (84) „[I]t is, rather, the patterns in the text which the reader negotiates.“ (87)

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scheidung zwischen implizitem Autor und Erzähler verläuft analog der Unterscheidung zwischen Erfinder und Vermittler (75). Der IA hat zwar keine eigene Stimme innerhalb der Erzählung (76), ist aber der Schöpfer des Erzählers200. b) Bei CHATMANS starker Betonung der schöpferischen Funktion des impliziten Autors erscheint eine Abgrenzung vom empirischen Autor schwer, denn schließlich sind Erfindungskraft und Kreativität Eigenschaften, die unmittelbar mit dem Produktionsprozeß des schreibenden Subjektes zusammenhängen. Das gesteht CHATMAN auch ein, fährt aber damit fort, daß aus der Erfindungskraft des empirischen Autors ein textinternes Prinzip wird, das den empirischen Autor verdrängt201. Damit verlagert sich auch die Intention von der Biographie der Autorengestalt zur Endgestalt des Textes202. Andererseits wird die Rückbindung an den realen Autor daran deutlich, daß CHATMAN vom impliziten Autor mit dem Namen des realen Autors, aber in Anführungszeichen spricht (z.B. 84: „‚Dickens‘“)203. c) Der implizite Leser ist ein Spiegelbild („mirror image“) des „impliziten Autors“ (75). Was CHATMAN damit meint, ist aber alles andere als klar204. Wenn man CHATMANS Apologie für den „impliziten Autor“ nach dem heuristischen Wert dieser Konzeptualisierung befragt, dann bleibt am Ende vor allem die Möglichkeit einer genaueren Beschreibung ironischer Ausdrucksweisen (76)205. Ansonsten sieht CHATMAN den Wert des impliziten Autors vor 200

„[T]he implied author is not the ‚voice‘: that is, the immediate source of the text’s transmission. ‚Voice‘ belongs uniquely to the narrator.“ (76) „In this model the implied author is the inventor, and the narrator is the ‚utterer‘: that is, the one who articulates the words assigned to him by the implied author.“ (84) „As inventor, the implied author is by definition distinguishable from the narrators, who are invented.“ (85) 201 „Invention, originally an activity in the real author’s mind, becomes, upon publication, a principle recorded in the text. That principle is the residues of the real author’s labor. It is now a textual artifact. The text is itself the implied author… Upon publication, the implied author supersedes the real author.“ (81) „The real author’s engagements with codes and conventions leaves a mark on the text, the record of an invention. This recorded invention differs from the real author’s act of creating the text. The actual act of composition of the work by the real author in the real world was a series of nonreplicable events … But the record of that invention reposes in the text and is recuperable at any moment by an audience… [T]he act of a producer, a real author, obviously differs from the product of that act, the text.“ (83) 202 „Intention ceases being a private authorial matter: it becomes the work’s intent.“ (82) Im Gefolge von BEARDSLEY/WIMSATT spricht CHATMAN von „intent“ und nicht von „intention“ und meint „a work’s ‚whole‘ or ‚overall‘ meaning“ (74). 203 Vgl. dazu NÜNNING , „Passepartout“, 13. 204 Er scheint den „impliziten Leser“ als textexterne Größe zu verstehen, wenn er davon spricht daß der Akt des Lesens durch zwei Zwischeninstanzen vermittelt wird: „one in the text, which invents it upon each reading (the implied author), and one outside the text, which construes it upon each reading (the implied reader).“ (76) In diesem Falle kann man wohl kaum von einem impliziten Leser sprechen. 205 „The test case here is the possibility of inreliable or ‚discrepant‘ narration.“ (90) Auch in nicht-ironischen Texten ist die Unterscheidung zwischen IA und Erzähler wichtig für CHATMAN, weil sie auf zwei unterschiedliche Quellen der Information aufmerksam macht

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allem in seiner „Schutzfunktion“: Er schützt vor einer konstruktivistischen Literaturbetrachtung, bei der der Leser den Sinn macht (74f). Er schützt auch vor einem vorschnellen Sprung vom Text zur Ideologie des realen Autors, obwohl er ein Verhältnis zwischen Text und Autor nicht a priori ausschließt (76). Er schützt vor einem biographischen Intentionalismus, ohne die Rede von der Intention eines Werkes zu verbieten (75). Der „implizite Autor“ wird damit zum Schutzpatron aller gemäßigten Auslegungen. Die Kritik an CHATMAN könnte an vielen Punkten ansetzen206, zumal seine Definitionsversuche einerseits so umfassend und andererseits so unscharf sind, daß der Begriff am Ende seinen heuristischen Wert zu verlieren droht und die Verhältnisbestimmung zum empirischen Autor und zum impliziten Leser durch künstliche Differenzierungen an Schärfe einbüßt. Wenn der IA die in den Text eingeflossene schöpferische Erfindungskraft eines empirischen Autors darstellt, wie läßt sich diese dann vom realen Autor trennen? Wenn der IA keine eigene Stimme im Text hat, wie kann er dann als Agens im literarischen Kommunikationsprozeß erscheinen?207 Wenn der implizite Leser das außertextuelle Spiegelbild des impliziten Autors ist, wie können sich die beiden im Kommunikationsprozeß noch gegenüberstehen? 208 Schlimmer noch: Bricht damit nicht CHATMANS einflußreiche Graphik (s.o. S. 84) zusammen, die gerade auf der ontologischen Differenzierung zwischen fiktionaler und realer Welt beruht? Die Frage, inwiefern sich impliziter und empirischer Autor unterscheiden, versucht NELLES in den Bahnen der BOOTH/CHATMAN-Tradition genauer zu beantworten 209: 1. Der IA wird aus dem Text erschlossen und hat daher im Gegensatz zum empirischen Autor keine Existenz außerhalb des Textes. Diese Grundunterscheidung zwischen „innerhalb“ und „außerhalb“ des Textes, darf aber nicht im Sinne der Opposition fiktiv/real gedeutet werden, da der historische Autor in der Regel auch nur mittels schriftlicher Quellen rekonstruiert werden kann. Es geht vielmehr darum, daß man sich dem historischen Autor mittels möglichst vieler Texte nähert, der IA aber nur aufgrund eines bestimmten Textes ermittelt wird. 2. Während ein empirischer Autor auch unbewußt schreiben kann (z.B. unter Drogeneinfluß) und in jedem Fall

(76) und damit die Unterscheidung zwischen Denotation (was der Sprecher sagt) und Konnotation (was der Text bedeutet) ermöglicht (76). 206 Vgl. die ausführliche Kritik in NÜNNING, „Passepartout“. 207 Als „Stimmloser“ müßte er den Kommunikationsgang eher hemmen als bewerkstelligen. Auf diesen Widerspruch hat RIMMON-KENAN, Narrative Fiction hingewiesen: „If the implied author is only a construct …, then it seems a contradiction in terms to cast it in the role of the addresser in a communication situation.“ (88) Vgl. a. 139, Anm. 2: „It is also difficult to see how ‚it‘ – a non-personal entity – can be said to have ‚chosen‘ the means of communication.“ Weitere Kritik in NÜNNING, „Passepartout“, 6-8. 208 DIENGOTT, „Implied author“, 71: „One wonders how the source, the inventor, can be a depersonified pattern in the text… But the ontological locus of the implied reader must thus be identical to that of the implied author: one cannot be in the text and the other outside it.“ 209 NELLES, „Authors and Reader“, 26f.

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niemals alle Sinnpotentiale seines Textes kontrollieren kann, ist jede auch noch so versteckte Sinnkomponente im Text vom IA bewußt geschaffen 210. Natürlich kann es viele Fälle geben, in denen der implizite Autor sehr nahe am empirischen Autor oder am Erzähler ist, aber alle drei Größen behalten unterschiedliche Funktionen bei, die NELLES auf die folgende einfache Formel bringt: „[T]he historical author writes, the implied author means, the narrator speaks.“ (42)

2.9.3.2 Einschränkung des „impliziten Autors“ Die israelische Literaturwissenschaftlerin Shlomith RIMMON-KENAN sieht zwar weiterhin den IA als ein Konstrukt, das alle Elemente des Textes durchdringt, weicht aber von BOOTH und CHATMAN darin ab, daß sie stärker die textuelle Konstruiertheit als die psychologische Bewußtseinshaltung des IAs betont211. Da also der IA per definitionem keine eigene Stimme im Werk hat, kann „er“ nur vom Leser aufgrund aller Textkomponenten erschlossen werden212. RIMMON-KENAN sieht also den Begriff des IAs in den Beschreibungen von BOOTH und CHATMAN unsicher zwischen einer textimmanenten Größe und einer personenhaften Bewußtseinshaltung hin- und herpendeln und definiert den IA eindeutig als die im Werk übermittelten Normen213. Auf diesem Wege lassen sich die Abweichungen zwischen dem IA und dem Erzähler, besonders aber gegenüber einem unzuverlässigen Erzähler, festmachen214. Während also für CHATMAN der IA und sein Gegenüber, der implizite Leser, unerläßlich für die literarische Kommunikation, Erzähler und Erzähladressaten hingegen fakultative Größen sind, scheiden IA und impliziter Leser bei RIMMON-KENAN aus dem Kommunikationsprozeß aus (88f)215:

210 Die Formulierung „every implication … that can be discovered in the text“ (27) öffnet über die Frage „Wer entdeckt?“ wieder eine Tür für die freie Betätigung des Lesers. Damit wird aber der implizite Autor zur Projektionsfläche der vom Leser im Text entdeckten Kommunikationsintentionen. 211 „Indeed, speaking of the implied author as a construct based on the text seems to me far safer than imagining it as a personified ‚consciousness‘ or ‚second self‘.“ (Fiction, 87) 212 Interessanterweise wird auch von RIMMON-K ENAN die Zuweisung eines Geschlechts nicht problematisiert. N ELLES, „Authors and Readers“, zeigt sich hier sehr vorsichtig (24-25) und entscheidet sich schließlich dafür, so lange eine neutrale Form zu benutzen, wie es keine eindeutigen Gründe für eine Geschlechtszuschreibung gibt. „[W]e may be better off referring to implied authors (and other imaginary agents of narratives) as ‚it‘ unless there seem to be relatively clear-cut reasons for attributing gender to them.“ (25) Leider ist eine solche sprachliche Regelung im Deutschen kaum möglich; zumindest kann ich mich zu einem geschlechtlosen „das Autor“ oder „das Leser“ nicht hinreißen lassen. Da im Englischen der bestimmte Artikel das Geschlecht nicht festlegt, fällt es einfacher von „it“ zu sprechen. 213 „[T]he notion of the implied author must be de-personified, and is best considered as a set of implicit norms rather than as a speaker or a voice (i.e. a subject).“ (Fiction, 88) 214 Vgl. RIMMON-KENAN, Fiction, 101-3. 215 CHATMAN scheint dieser Kritik teilweise zuzustimmen, hält aber an seinem sechsgliedrigen Kommunikationsmodell fest (vgl. Coming to Terms, 1990, 218, Anm. 29).

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Forschungsgeschichtliche Stationen Narrativer Text Empir. Autor →

Erzähler →

Erzähladressat →

Empir. Leser

Eine vermittelnde Position zwischen Aufrechterhaltung und Ablehnung des IAs nimmt zur Zeit auch Nilli DIENGOTT ein216. Er sieht die beiden Hauptprobleme in der aktuellen Diskussion in der Ortsbestimmung des IAs und in seinen anthropomorphen Eigenschaften (70). Nach einer hilfreichen Kritik an CHATMANS widersprüchlicher Apologie (70f), kann sich DIENGOTT dennoch nicht dazu überwinden, den Begriff gänzlich aufzugeben, sondern versucht ihn stattdessen schärfer zu definieren217. Dabei versteht er im Anschluß an RIMMON-KENAN den IA als ein unpersönliches Interpretationskonstrukt, das nicht aktiv am Kommunikationsprozeß teilnimmt (73). DIENGOTT kann in diesem Sinne auch den impliziten Leser als ein „rekonstruiertes Wertesystem“ definieren, wobei hier aus der Perspektive des Empfängers und im Falle des IAs aus der Perspektive des Senders geschaut wird (73). Wenn aber der IA, nach DIENGOTTS eigener Aussage, aus verschiedenen Aspekten des Textes vom Leser erschlossen wird218, dann geht der IA leicht in den impliziten Leser über, denn in jedem Fall ist es unmöglich die Wertkategorien eines Werkes aus der Perspektive des Senders zu betrachten, ohne vorher bereits die Perspektive des Empfängers eingenommen zu haben. Sowohl RIMMON-KENAN als auch DIENGOTT haben einen Widerspruch aufgedeckt: Entweder ist der IA Teil der Textimmanenz, dann wird man ihn konzeptuell vom Erzähler unterscheiden müssen, oder er ist Teil des Bewußtseins der empirischen Autorengestalt, dann wird man zwar von ihm als jenem Teilaspekt des Autors reden können, der im Text für den Leser greifbar ist, wird ihn aber vom empirischen Autor kaum absetzen können. Beide meinen zwar durch eine einseitige Betonung des „Impliziertseins“ – also durch die Ausblendung aller anthropomorphen Eigenschaften, durch die Depersonalisierung des IAs – das Problem lösen zu können; was aber als Referent, als außersprachliches Objekt des Begriffes des „impliziten Autors“ übrigbleibt, läßt sich mit kritischen Metaphern wie „Fokalisation“, „Wertrepertoire“ oder „Perspektive“ m.E. wesentlich neutraler bezeichnen; zumal diese Begriffe nicht in eine „anthropomorphe Falle“ führen. 216

Seitenzahlen im Text beziehen sich auf seinen Artikel „Implied Author.“ Sein Artikel „Implied Author, Motivation and Theme and their Problematic Status“ OrbLit 48 (1993), 181-193 bringt demgegenüber nichts Neues. 217 DIENGOTT, 72f weist darauf hin, daß viele der Auseinandersetzungen mit dem Begriff selbst zu tun haben (72). Und in der Tat handelt es sich um einen Widerspruch in sich selbst, stellt man sich doch bei dem Begriff „Autor“ eine wirkliche Person vor, während das Adjektiv „implizit“ an ein textuelles Element denken läßt. Auch NÜNNING, „Passepartout“, 7 sieht viele Probleme gerade darin, daß es sich beim IA um eine personalisierbare Instanz handelt. 218 73: „inferred from different aspects of a text … by the reader.“

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2.9.3.3 Ablehnung des „impliziten Autors“ Das Lager derer, die den Begriff des IAs für nur bedingt oder gänzlich unbrauchbar halten, hat in letzter Zeit besonders durch den führenden Narratologen Gérard GENETTE starken Auftrieb bekommen219. In einer ausführlichen Kritik an Narrative Discourse hatte RIMMON(-KENAN) den Vorwurf erhoben, er könne durch seine Ignorierung des IAs nicht sachgerecht mit den Normen eines Textes umgehen220. In seiner kurzen Apologie geht GENETTE darauf ein, indem er den Begriff des impliziten Autors gänzlich aus dem Bereich der Narratologie herauszudrängen versucht, und, wenn überhaupt, höchstens noch als poetologische Kategorie gelten läßt221. Zunächst sind sich GENETTE und RIMMON-KENAN darin einig, daß der IA kein Agens im literarischen Kommunikationsprozeß ist (139f). GENETTE geht dabei von seiner eigenen Lektüreerfahrung aus: Jede/r Leser/in macht sich nämlich im Verlauf der Lektüre ein Bild des Autors, welches nicht zwangsläufig mit dem Bild des Erzählers zusammenfallen muß222. Wenn man aber diese Sicht BOOTHS des IAs als „zweites Ich“ oder „Abbild“ des empirischen Autors223 rein sprachlogisch betrachtet, dann sollte es an einem solchen Abbild keine Elemente geben, die über den empirischen Autor hinausgehen. Mit anderen Worten: Wenn die Rekonstruktion des Lesers von der Autorengestalt mehr oder weniger korrekt ist, dann läßt sich alles, was man über den IA sagen kann, auch mutatis mutandis über den empirischen Autor sagen (141). Dadurch wird aber der IA als heuristische Kategorie obsolet. Die Frage ist also nicht, ob es einen IA gibt – das kann GENETTE aufgrund seiner eigenen Erfahrung ja nur bestätigen –, sondern ob er in einer so eigenständigen Weise heraustritt, daß es sich lohnt, über ihn in Abhebung des empirischen Autors und des Erzählers zu reden. In der Regel wäre also der IA eine Teilmenge des empirischen Autors, es sei denn ein Autor produziert in seinem Text ein „zweites Ich“, das seiner selbst untreu ist. Diese Möglichkeit könnte man in zwei Fällen vermuten:

219

Seitenzahlen im Text beziehen sich auf sein Narrative Discourse Revisited. Dieses Werk ist eigentlich ein ausführliches Postscriptum zu seinem in der englischen Übersetzung äußerst einflußreichen Standardwerk Narrative Discourse (Ithaca, 1980), welches wiederum eine Teilübersetzung des französischen Figures III (Paris, 1972) ist. 220 S. RIMMON, „A Comprehensive Theory of Narrative: G. Genette’s Figures III and the Structuralist Study of Fiction.“ Poetics and Theory of Literature 1 (1976), 58. 221 „Narratology has no need to go beyond the narrative situation, and the two agents ‚implied author‘ and ‚implied reader‘ are clearly situated in that ‚beyond‘… [I]t obviously lies within the broader province of poetics.“ (137) 222 „It is the author as I infer him from his text, it is the image that the text suggests to me of its author.“ (141) 223 BOOTH spricht an anderer Stelle von „an implicit picture of the author who stands behind the scenes“ („Distance“, 64).

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1. Im Schreibakt verwirklichen sich unfreiwillige Offenbarungen einer unterbewußten Persönlichkeit (142f)224. In diesem Falle ist der Leser zwar in der Lage über den IA ein genaueres Bild des historischen Autors zu rekonstruieren, als dieser von sich selbst hatte, bestätigt aber damit, daß der IA identisch mit dem realen Autor ist, insofern wir ja seine unbewußten Motive nicht seiner Realität absprechen können. Wenn aber beide Größen in unerwarteter Weise zusammenfallen, dann kann man begrifflich auf den IA verzichten 225. 2. Der zweite Fall ist bei einer bewußten Simulation seitens des empirischen Autors gegeben (144f). Dabei muß man aber alle Fälle ausschließen, bei denen die Simulation durch einen in der Erzählung sich manifestierenden Erzähler (den sog. „homodiegetischen Erzähler“) stattfindet. Hinter diesem steht zwar das lenkende Bewußtsein eines IAs, doch ist dieser vom realen Autor nicht zu unterscheiden. Im Falle eines Erzählers, der sich außerhalb der Erzählung befindet (dem sog. „heterodiegetischen Erzähler“) liegt das Problem in der Objektivierung dieser Erzählgestalt, die sich wohl nur durch Ironie vom IA unterscheidet. Doch auch hier liegt kein Grund vor, diesen vom realen Autor abzuheben.

GENETTE faßt seinen bisherigen Standpunkt zusammen (145): „So IA [= Implied Author] seems to me, in general, to be an imaginary … agent constituted by two distinctions that remain blind to each other: 1. IA is not the narrator, 2. IA is not the real author, and it is never seen that the first is a matter of the real author and the second is a matter of the narrator, with no room anywhere for a third agent that would be neither the narrator nor the real author.“ (Hervorhebungen von G.)

GENETTE geht allerdings noch auf drei Fälle ein, in denen die beiden Autorengestalten nicht identisch sind (146-7): Im Falle von apokryphen oder pseudonymen Werken226, im Falle von literarischen Strohmännern, sog. „Ghostwritern“, die für irgendwelche Persönlichkeiten schreiben, und im Falle von

224

GENETTE verweist auf marxistische Balzac-Lektüren, wonach der Autor der Comédie humaine zwar im wirklichen Leben ein loyaler Feudalist war, in seinen Werken aber unbewußt gegen den Feudalismus und den Kapitalismus kämpfte. 225 NELLES, „Authors“, 41 weist darauf hin, daß die Logik der Argumentation eigentlich dazu führen müßte, daß man den historischen Autor und nicht den impliziten für unwichtig erklärt: „[I]t is the utility of the concept of the historical author he puts into question here, not at all that of the implied author.“ 226 NELLES, „Authors and Readers“ weist auf einige interessante Fälle hin: 1. Die englische Schriftstellerin Charlotte Brontë veröffentlichte ihren Roman Jane Eyre ursprünglich unter dem geschlechtlosen Pseudonym Currer Bell. Aufgrund der Lektüre sind damalige Rezensenten zu unterschiedlichen Aussagen über das Geschlecht der historischen Autorengestalt gekommen. Dabei war es nicht zu einer Vermischung mit der intratextuellen Erzählergestalt gekommen, weil diese ausdrücklich eine Frau ist, die in der ersten Person erzählt (27-9). 2. Unter dem Pseudonym George Eliot verfaßte die englische Schriftstellerin Mary Ann Evans im 19. Jahrhundert moralistische Romane, die von kirchlichen Würdenträgern sehr geschätzt wurden. Als publik wurde, daß es sich bei dem vermeintlichen Verfasser um eine atheistische Freidenkerin handelte, die mit einem verheirateten Mann zusammenlebte, entstand eine unerträgliche Situation: Die Moralisten liebten weiterhin den impliziten Autor, verabscheuten aber die historische Autorengestalt (27). 3. Der implizite Autor des Werkes The Origin of Species wurde von Generationen fundamentalistischer Leser/innen für einen Atheisten gehalten, wohingegen der historische Charles Darwin ein gottesgläubiger Mann war (39).

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Mehrfachautorenschaften. Insgesamt handelt es sich aber um Ausnahmen, die die Regel bestätigen. Positiv kann also GENETTE vom IA dann reden, wenn damit jene Aspekte des historischen Autors gemeint sind, die sich aus der Gesamtanlage des Werkes rekonstruieren lassen; negativ aber wehrt er sich dagegen, daraus einen vom realen Autor sich abhebenden Agens in der narrativen Kommunikation zu machen (147f). Der IA ist daher für ihn nichts anderes als ein „ghostly double“, ein geisterhaftes Doppelbild (154)227. Einer vernichtenden Kritik hat in neuester Zeit Ansgar NÜNNING den IA unterzogen228: Er schließt damit auch sprachlich an die kritische Beobachtung von Mieke BAL an, daß es sich beim IA womöglich nur um ein Passepartout handelt, mit dem man alle Restprobleme einer Theorie mit einem Schlag beseitigt229. Seine kritischen Beobachtungen sind bedenkenswert230: 1. Trotz zahlreicher Versuche bleibt der Begriff in der BOOTH/CHATMAN-Tradition terminologisch unscharf (3-5) und wird durch die „fast grenzenlose Bedeutungserweiterung … wissenschaftlich unbrauchbar“ (5)231. 2. Mit RIMMONKENAN ist festzuhalten, daß es einen Widerspruch darstellt, wenn dem IA als eine „stimmlose“ Instanz ein Platz im literarischen Kommunikationsprozeß eingeräumt wird (6). 3. Der IA ist ein abstraktes Phänomen, das deiktisch gar nicht faßbar ist (7), weil er in einem Akt definitorischer Großzügigkeit von CHATMAN mit dem Werkganzen gleichgesetzt wird. Das macht es aber unmöglich, den IA z.B. vom impliziten Leser zu unterscheiden (8f). Der Begriff wird dadurch zu einem Paradoxon, weil es „die Begriffe, die er ausschließt, in den Sachverhalt einschließt, den er bezeichnet“ (9). 4. In gewisser Weise können alle Befürworter dieser kritischen Kategorie den Umstand nicht verschleiern, daß der IA nur über die Lektüre faßbar wird. Wenn es sich also „um ein Konstrukt des Lesers handelt, dann ist der Begriff auch deshalb aus theoretischer Sicht überaus irreführend, weil er gerade eine Rückbindung an den

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In seiner Auseinandersetzung mit G ENETTE macht sich N ELLES, „Authors and Readers“ für den Begriff des „impliziten Autors“ stark (39-43). Seine empirischen Beispiele für das Auseinanderklaffen von historischem und implizitem Autor (s. vorherige Anmerkung) fallen allesamt unter die GENETTE’schen Ausnahmen. 228 Seitenzahlen im Text beziehen sich auf NÜNNING, „Passepartout“. 229 M. BAL, „The Laughing Mice; or, On Focalization“, PoetTod 2 (1981), 209: „That reinforces my impression that, in fact, the implied author is a remainder category, a kind of passepartout that serves to clear away all the problematic remainders of a theory.“ 230 Weitere Kritiker des impliziten Autors werden bei NÜNNING, „Passepartout“, 11, Anm. 38 und 18, Anm. 67 aufgeführt. 231 Der Begriff stellt eine „Verlegenheitsformel“ (5) dar und ist „bestenfalls beschreibungsinadäquat, schlechtestenfalls widersprüchlich und grob irreführend“ (4). Die vielfältigen Definitionsversuche lassen völlig unklar, „was dieser Begriff ein- oder auszuschließen vermag“ (9) und sollten „in eine literaturwissenschaftliche Kuriositätensammlung“ aufgenommen werden (3).

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Autor und die Senderseite nahelegt“ (11)232. 5. Daß man zwischen den Meinungen des Erzählers oder der Figuren und denen des empirischen Autors unterscheiden muß, ist eine unbestreitbare Tatsache233. Dafür braucht man aber keinen IA (12f). Auch wenn man ihm alle Entscheidungen am Schaffensprozeß zuschreiben will, handelt es sich um einen Etikettenschwindel, denn solche Handlungen sollten „als Handlungen empirischer Aktanten im Rahmen einer Theorie literarischer Produktionshandlungen untersucht werden“ (13f)234. 6. Obwohl der IA vom empirischen Autor unterschieden wird, nimmt er doch dessen Position im Text ein und wird dadurch eben als der IA eines Textes zum ausgrenzenden und totalitären Gültigkeitskriterium für die richtige Auslegung (16f)235. 7. Schließlich lassen sich die literarischen Phänomene, die mit dem Begriff des IAs unscharf umrissen werden, mit anderen Begriffen genauer beschreiben236. 232 TOOLAN, Narrative, 78: „The implied author is a real position in narrative processing, a receptor’s construct, but it is not a real role in narrative transmission. It is a projection back from the decoding side, not a real projecting stage on the encoding side.“ 233 Daß dies keine moderne Einsicht ist, zeigt bereits QUINTILIAN, Inst. Orat. II,17,5: Nachdem er die Aussage des Antonius, einer Figur in einem Werk Ciceros, zitiert, auf die sich anscheinend manche als autoritativ (also als die Meinung Ciceros repräsentierend) berufen, bemerkt er, daß dies „nicht deshalb dort steht, damit wir es für wahr hinnehmen, sondern damit die Rolle des Antonius gewahrt werde“ (= Rahn, I, 250f). QUINTILIAN unterscheidet hier deutlich zwischen der relativen Meinung einer literarischen Figur und der autoritativen Meinung Ciceros, die man für richtig zu halten hat. An anderer Stelle weist er darauf hin, daß in Ciceros „rhetorischen Büchern“ das Überreden als Ziel der Rhetorik erscheine, fügt aber ein, daß Cicero das, was er dort schreibe, „zweifellos selbst nicht richtig findet“ (II,15,6: quos sine dubio ipse non probat = Rahn, I, 232f). Doch auch der umgekehrte Fall ist möglich: So erkennt Q UINTILIAN, daß Platon die Figur des Sokrates als Maske (persona) benutzt, um seine eigene Meinung auszudrücken (II,15,26 = Rahn, 238f). 234 Vgl. BAKER, „From Imitation to Rhetoric“, 203: „[D]espite Booth’s protests to the contrary the distinction between ‚real‘ and ‚implied‘ author remains unearned and finally tends to evaporate.“ Eine ausführliche Argumentation für die Sicht, daß man den impliziten Autor nicht vom empirischen Autor lösen kann, findet sich bei JUHL, „Implied Author“. 235 NELLES, „Authors and Readers“, 40 erblickt im impliziten Autor die Möglichkeit, um Fehllektüren auszuschließen, denn wenn zwei Ausleger/innen zwei verschiedene Deutungen und damit zwei verschiedene Bilder des impliziten Autors produzieren, dann können ja nicht beide mit dem empirischen Autor deckungsgleich sein. Vgl. auch die Kritik bei M. BERENDSEN, „The Teller and the Observer: Narration and Focalization in Narrative Texts“, Style 18 (1984), 148: „The very fact that Booth and Chatman speak of the implied author already implies, suggests the existence of one ideal interpretation of the narrative text.“ 236 Zum Umgang mit Ironie oder zur Beschreibung von Codes und Konventionen ohne den IA vgl. NÜNNING, 14-16 und zur Beschreibung des Werkganzen ebd., 18-23. Daß es zum Umgang mit einem „unzuverlässigen Erzähler“ keines IAs bedarf, zeigt auch T. YACOBI, „Reader, Norms and Narrative in Fictional Communication“, in Segers, Etudes de Réception, 81-87. Die drei Fixpunkte für die Erhebung geltender Normen im Text sind: Konventionalität (manche Normen sind konventionell so festgelegt, daß sie nicht expliziert werden müssen, um die Unzuverlässigkeit des Erzählers festzustellen), explizite Aussagen über das geltende Normenrepertoire und Kompensations-Systeme wie z.B. die Vermittlung von Werten über einen Sprecher, der seine Zuverlässigkeit in der Erzählung bereits unter Beweis gestellt hat.

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Literarische Rezeptionskritik und Evangelienexegese „Zusammenfassend läßt sich somit feststellen, daß die Plausibilität und Nützlichkeit des Konzepts ‚implied author‘ nicht durch die begriffliche Unklarheit in Frage gestellt werden, sondern auch durch die zahlreichen theoretischen Widersprüche, die unauflöslich mit diesem Begriff verknüpft sind.“ (11)

Ich möchte dem noch zwei Anmerkungen anschließen: 1. GENETTE hat recht, wenn er von der Beobachtung ausgeht, daß sich Leser/innen durch die Lektüre des Textes ein Bild eines empirischen Autors machen, das nicht mit den Werturteilen der Erzählfigur oder der Charaktere zusammenfallen muß237. Der Einwand, daß solche Bilder oftmals nicht mit dem tatsächlichen Autor übereinstimmen oder daß sich Autoren gegen solche Projektionen ausdrücklich gewehrt haben, geht von der naiven Annahme aus, daß eine unmittelbare Wahrnehmung eines anderen Menschen möglich ist. Das Bild des Autors, das sich ein/e Leser/in macht, ist qualitativ (nicht quantitativ!) ebenso unvollständig und vorläufig wie eine „wissenschaftlich fundierte“ Biographie über den gleichen Autor oder die Meinungen, die dem Autor nahestehende Personen von ihm haben können238. 2. Der IA kann in vielen Fällen als Speerspitze gegen ideologiekritische Lektüren mißbraucht werden, denn die Instanz des IAs nimmt den empirischen Autor/innen jegliche Verantwortung für das, was sie geschrieben haben239. Damit ist natürlich eine ethische Frage berührt, die nur sehr vorsichtig literaturtheoretische Entscheidungen bestimmen darf. Führt man sich aber die verheerenden Wirkungen mancher Texte vor Augen, dann ist doch zu fragen, ob bei einer ethischen Bewertung dieses Prozesses nicht auch die empirischen Autor/innen in die Schuldfrage mit einbezogen werden müssen. Natürlich wäre es naiv und gefährlich zugleich, empirische Autor/innen für alle unvorhersehbaren Folgen ihrer Erzeugnisse verantwortlich machen zu wollen. Aber wenn ein Werk (nicht irgendeine Figur oder ein Vgl. a. T. YACOBI, „Fictional Reliability as a Communicative Problem“, PoetTod 2 (1981), 113-26. 237 NÜNNING, „Passepartout“, 11 nennt dies „eine zwar intuitiv plausible, empirisch bislang aber nicht überprüfte Hypothese.“ Vgl. aber H. W EINRICHS knappe Überlegungen in „Der Leser braucht den Autor“, Identität, hg. O. Marquard u. K. Stierle (Poetik und Hermeneutik 8; München, 1979), 722-24. 238 Vgl. TOOLAN , Narrative, 78: „[T]here is no ‚real author‘, unitary, unchanging, standing behind these narrative-derived versions. If we’ve read Blotner’s biography of Faulkner, or Ellmann on Joyce, we’ve read another narrative presenting (rather more fully and directly) another version of the author. Even if we know an author personally, we still perform the same process of forming a mental picture or representation (itself a kind of narrative) of that author to ourselves, as an integral part of the activity of knowing a person. In short, the pictures we have of authors are always constructions, so that all authors are, if you like, ‚inferred authors‘.“ 239 M. BAL, „Notes on Narrative Embedding“, PoetTod 2 (1981), 42: „[T]his notion … was very popular because it promised something which, in my view, it has not been able to deliver: it promised to account for the ideology of the text. This would have made it possible to condemn a text without condemning its author and vice versa – a very attractive proposition to the autonomists of the ’60s.“

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Erzähler innerhalb des Textes!) in aller Deutlichkeit eine menschenverachtende Botschaft übermittelt240, dann sollte nicht der IA als literaturwissenschaftlich-abstrakter Sündenbock für die Lösung aller Probleme herhalten; schließlich sind es auch nicht „implizite Leser“, deren Perspektive durch solche Texte verbogen wird. 2.9.3.4 Impliziter Autor, Erzähler und impliziter Leser Dieser ausführliche Exkurs ist nicht nur deswegen angebracht, weil der Begriff des impliziten Autors in beinahe jeder literaturwissenschaftlichen Evangelienauslegung anzutreffen ist, sondern auch weil an dem terminologischen Pendant und Vorläufer zu ISERS nicht minder einflußreichem Konzept des „impliziten Lesers“ vorgeführt werden kann, in welche Schwierigkeiten eine Metapher ihre Benutzer/innen zu bringen vermag, die nicht klar unterscheiden kann zwischen Text- und Aktstruktur. Im Falle des IAs ist nicht so sehr zu fragen, ob er existiert, sondern welchen Dienst diese Konzeption der neutestamentlichen Evangelienexegese leisten kann, der nicht auch mit der herkömmlichen Begrifflichkeit erfaßt werden könnte. Versteht man mit BOOTH und CHATMAN den IA als das übergreifende Normbewußtsein des Werkganzen, die erfinderische und sinnlenkende Triebkraft innerhalb des Textes, dann können Exeget/innen m.E. beruhigt weiterhin traditionell von der „Theologie“ (oder moderner von der „Tiefenstruktur“) eines Werkes sprechen, wohl wissend daß die Theologie eines biblischen Buches etwas anderes ist als die Theologie eines biblischen Autors241. Ich schlage eher vor, den IA als das von den Leser/innen aufgrund bestimmter Textelemente gezeichnete Bild des Autors zu verstehen. Ebenso wie wir uns Bilder und Meinungen von realen Menschen aufgrund ihrer Worte und Taten machen, sind wir als Leser/innen in der Lage, aus der Sprache eines Textes uns ein Bild seines Autors oder seiner Autorin zu machen. Der IA ist demnach die von einem/r realen Autor/in durch seine/ihre Sprache bei den Leser/innen je individuell freigesetzte Vorstellung seiner/ihrer Persönlichkeit und Intention. Es stellt sich allerdings die Frage nach dem exegetischen Wert dieses Konstrukts. Eine unmittelbare Stärke besteht darin, daß es hilft, deutlich zwischen einem „realen“ und einem „aus dem Text erhobenen“ Autor zu unterscheiden. Der Unterschied zwischen beiden kann aber nicht absolut gesetzt werden, denn es ist immerhin die Sprache der realen Autors, die uns die Fährten für die textuelle Autorengestalt gibt. 240

Man vergleiche nur die Lektüren von de Sade oder Bataille in Andrea DWORKINS aufwühlendem Buch Pornographie: Männer beherrschen Frauen (Frankfurt a.M., 1987). 241 Vgl. etwa L.E. K ECK, „Toward the Renewal of New Testament Christology“, NTS 32 (1986), 371: „Because the christology of a text … cannot be equated with the christology of the writer, one should speak of the christology of persons only in carefully circumscribed contexts.“

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Die neutestamentliche Literatur bietet eine Reihe von sehr interessanten Problemen in Verbindung mit dem Autor: explizite Verfasserschaft, Pseudonymität, Anonymität, Mehrfachverfasserschaft, Beeinflussung durch Quellen, Glaubensformeln, Sekretäre, eine theologische „Schule“ oder charismatische Offenbarungserfahrungen (Prophetien, Visionen usw.). Man sollte daher den heuristischen Wert des IAs sehr genau ausdifferenzieren: Pseudepigraphe Schriften bieten sich am ehesten an, um zwischen dem IA und dem tatsächlichen Autor zu unterscheiden242. Im Falle der echten Paulusbriefe z.B. tritt der IA derart hinter den Apostel zurück, daß eine Unterscheidung idealtypisch interessant, aber in der Praxis wenig sinnvoll ist. Bei anonymen Schriften wie den Evangelien ist eine Abhebung beider Größen aus genau dem umgekehrten Grund ohne großen Wert: In diesem Fall wird der empirische Autor nur als IA für uns greifbar. Eine weitere Unterscheidung zwischen IA und Erzähler wäre selbst für die Verfechter der Operabilität des IAs in der Evangelienauslegung gar nicht durchführbar, da wir es bei den Evangelien sicherlich nicht mit unzuverlässigen Erzählern zu tun haben243. Wie also sollte man beide Größen voneinander abheben244? Will man mit einer innertextuellen autorialen Instanz im Gegensatz zum außertextuellen Autor arbeiten, ist m.E. daher der Begriff des „Erzählers“ voll und ganz ausreichend. Der „Erzähler“245 ist ein fester Bestandteil der Rhetorik einer jeden Erzählung. Er ist derjenige, der spricht, beschreibt und bewertet. Wie die Kamera eines Films stellt er die Wahrnehmung der Rezipienten auf eine bestimmte Perspektive ein246. Für den Umgang mit moderner Literatur ist die Einsicht grundlegend, daß der Erzähler nicht Sprachrohr des Autors sein muß, da er ebenso vom Autor geschaffen ist wie andere Charaktere der Erzählung. Erzählertypen lassen sich je nach Kenntnisgrad (allwissend oder limitiert) oder nach Abstand zur Erzählwelt (unbeteiligt oder als literarische Figur erkennbar) graduell unterscheiden. Der allwissende Erzähler z.B. ist in seiner Wahrnehmung des Erzählten in keiner Weise eingeschränkt. Er kennt alle Figuren und Schauplätze, überblickt das Geschehen vollständig, kennt die Vorgeschichte und Nachgeschichte des Erzählten und hat Einblick in das Seelenleben der 242

Den Wert dieser Unterscheidung zeigt A.T. LINCOLN in seiner Diskussion um die Verfasserschaft des Epheserbriefes auf, indem er das Bild des impliziten Autors dem des Apostels Paulus gegenüberstellt und zu dem Ergebnis kommt, daß beide miteinander unvereinbar sind (Ephesians [WBC 42; Dallas, 1990], lx-lxvi). 243 J.M. DAWSEY , The Lukan Voice (Macon, 1986) hat allerdings versucht zu zeigen, daß im Lk-Evangelium die Perspektive des Autors und der Figur Jesu unterschiedlich ist von der Perspektive des Erzählers. Dieser hat Jesus mißverstanden. Vgl. zur Kritk S.D. MOORE, Literary Criticism and the Gospels (New Haven, 1989), 30-34. 244 TANNEHILL, Narrative Unity, 7 gesteht ein: „I will use the terms narrator and implied author without implying a major distinction between them.“ 245 Vgl. zum folgenden S. CHATMAN, Story and Discourse, 196-262; W. MARTIN , Recent Theories of Narrative (Ithaca, 1986), 130-51; J.H. PETERSEN, Erzählsysteme (Stuttgart, 1993), 65-7; PRINCE, Dictionary of Narratology, 40f.65f.68; RIMMON-K ENAN, Narrative Fiction, 94-103; F.K. STANZEL, Theorie des Erzählens (UTB 904; Göttingen, 51991), 24-38. 246 Ein Erzähler kann auch innerhalb einer Erzählung wechseln.

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Figuren. Die narratologische Erforschung der Evangelien zeichnet übereinstimmend das Bild eines allwissenden und zuverlässigen Erzählers für alle vier Evangelien 247.

Der Begriff des „impliziten Lesers“ ist so sehr Bestandteil rezeptionsorientierter Diskussionen, daß er schwer zu umgehen ist. Aber ebenso wie sich der implizite Autor zwischen empirischem Autor und Erzähler auflöst, meine ich, daß vom „impliziten Leser“ nur im Sinne von PRINCES „Erzähladressaten“ gesprochen werden kann. Der „implizite Leser“ ist demnach die in der rhetorischen Anlage des Textes eingezeichnete Leserolle, die Textstrategie. In diesem eingeschränkten Sinne möchte ich den Begriff benutzen.

2.10 Jonathan Culler (*1944): Der kompetente Leser 2.10.1 Von der Erklärung von Texten zur Erklärung literarischen Verstehens Jonathan CULLER, Professor für Englisch an der Cornell University (New York), kommt, ähnlich wie ECO, als Semiotiker zum Leser248. Ausschlaggebend dabei ist seine kritische Auseinandersetzung mit den Textanalysen des Strukturalisten Roman JAKOBSON (SP, 56-68). Für JAKOBSON sind die komplexen Strukturen eines Gedichts nicht nur Eigenschaften des Textes, sondern werden zugleich in den Erfahrungshaushalt der Leser/innen übersetzt, auch wenn sich diese im einzelnen nicht darüber bewußt sind, welches Element welche Reaktion ausgelöst hat (SP, 67f). Doch obwohl JAKOBSON ein kausales Verhältnis zwischen Text- und Rezeptionsstrukturen sieht (SP, 68f), gilt sein Hauptinteresse letztendlich doch der Analyse von „objektiven“ Texteigenschaften. Demgegenüber findet es CULLER wesentlich reizvoller und interessanter249 dieses Prioritätsverhältnis umzukehren (SP, 69): „[R]ather than attempt to use linguistic analysis as a technique for discovering patterns in a text, one might start from data about the effects of poetic language and attempt to formulate hypotheses which would account for these effects.“

Textorientierte strukturalistische Modelle sind deswegen reduktionistisch, weil sowohl Autor/innen als auch Leser/innen nicht nur linguistisches Wissen 247

Vgl. CULPEPPER, Anatomy, 21-34; KINGSBURY, Matthew as Story, 31-37; N.R. PE„Die ‚Perspektive‘ in der Erzählung des Markusevangeliums“, Der Erzähler des Evangeliums, hg. F. Hahn (SBS 118/119; Stuttgart, 1985), 67-91; RHOADS/MICHIE, Mark as Story, 35-43. 248 J. CULLER, Structuralist Poetics (London; Ithaca, 1975), 55-74 (= im Text zitiert als SP). Weiterhin beziehe ich mich auf den zusammenfassenden Artikel „Prolegomena to a Theory of Reading“, in: Suleiman/Crosman, Reader in the Text, 46-66 (= im Text zitiert als „Prolegomena“). 249 Vgl. etwa SP, 71: „To say that there is a great deal of parallelism and repetition in literary texts is of little interest in itself and of less explanatory value.“ TERSEN,

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zu einem Text beisteuern, sondern auch mit bestimmten Erwartungshaltungen involviert sind (SP, 95)250. Dieser Mangel kann nur mittels einer Theorie behoben werden, die darüber Auskunft gibt, wie Leser/innen Elemente eines Textes aufnehmen und strukturieren (SP, 71)251. Für den Bereich der gesprochenen Sprache ist es Aufgabe der Linguistik, systematisch jene Elemente zu explizieren, die implizit die alltägliche Kommunikation ermöglichen und steuern (SP, 131-4). CULLER versucht mit seiner „strukturalistischen Poetik“ eine Theorie zu entwerfen, die funktionell das gleiche für das literarische Verstehen leistet wie die Linguistik für das Verstehen alltäglicher Kommunikation; die also implizite, verinnerlichte Regeln und Konventionen, die die Sinnfindung steuern, expliziert (SP, 122). „Just as sequences of sound have meaning only in relation to the grammar of a language, so literary works may be quite baffling to those with no knowledge of the special conventions of literary discourse… To account for the form and meaning of literary works is to make explicit the special conventions and procedures of interpretation that enable readers to move from the linguistic meaning of sentences to the literary meaning of works… In brief, I am arguing that if the study of literature is a discipline, it must become a poetics: a study of the conditions of meaning and thus a study of reading.“ („Prolegomena“, 49)

Eine solche Umorientierung läßt sich auch in der modernen Linguistik beobachten („Prolegomena“, 49f): Während anfänglich die strukturalistische Linguistik eine Reihe von idealen Sätzen zu erfassen suchte, ging sie mit der Einsicht, daß eine gesprochene Sprache unendlich viele Sätze produzieren kann, dazu über, die Kompetenz eines muttersprachlichen Sprechers zu beschreiben252. Das sollte auch Folgen für die Literaturwissenschaft haben: „In the case of literary criticism it is also true that once we are no longer attempting to analyze a corpus of works but are seeking to describe the ability or competence of readers, we shall find our methodological situation considerably improved.“ („Prolegomena“, 50) „Study of the linguistic system becomes theoretically coherent when we cease thinking that our goal is to specify the properties of objects in a corpus and concentrate instead on the task of formulating the internalized competence which enables objects to have the properties they do for those who have mastered the system.“ (SP, 120)

Das bedeutet eine deutliche Absage an die Vorstellung, daß praktische Interpretation die Hauptaufgabe der Literaturwissenschaft sei253. Diese gehört für

250

Die kritische Auseinandersetzung mit dem strukturalistischen Modell von A.J. GREIMAS (SP, 75-95) läuft auf das gleiche Ergebnis hinaus. 251 Die Entscheidung für die Leser/in-Perspektive hat für CULLER vorwiegend pragmatische Gründe: Es ist wesentlich einfacher, Aussagen über die Aktivitäten des lesenden Subjekts als über die des Autors zu machen (SP, 116-8; „Prolegomena“, 50f). 252 CULLER nennt diesen Schritt: „The shift from corpus to competence“ („Prolegomena“, 49). 253 Vgl. CULLERS Artikel „Beyond Interpretation“ in The Pursuit of Signs (London, 1981), 3-17 (s.u. S. 189f).

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CULLER anscheinend eher in den Bereich der Hermeneutik254. Eine solche „Grammatik literarischen Verstehens“ soll daher nicht Interpretationsmöglichkeiten vereinheitlichen oder als Maßstab für die Bewertung von Literatur dienen, sondern sie will erklären, warum z.B. manche Auslegungen unannehmbar und manche Werke unverständlich erscheinen (SP, 122f; „Prolegomena“, 51f). 2.10.2 Literarische Kompetenz: Auf der Suche nach dem Ideal-Leser Zentral für CULLERS Modell ist der Begriff der „literarischen Kompetenz“ (SP, 113-30). Kompetenz stellt sich über die Vertrautheit mit Konventionen ein (SP, 114). Ebenso wie in der alltäglichen Kommunikation kommen Leser/innen nicht mit einer tabula-rasa-Haltung zum Text, sondern mit einem „implicit understanding of the operations of literary discourse which tells one what to look for“ (SP, 114). Von daher ist Verstehen nicht einfach das Ergebnis subjektiver Assoziationen, sondern vollzieht sich im Rahmen soziologisch festgelegter Konventionen, die Literatur zur „Institution“ machen (SP, 116; 124)255. Zwischen den zugrundeliegenden Lektürekonventionen und den Sinnpotentialen eines Textes besteht demnach ein direktes Abhängigkeitsverhältnis256. Jede sprachliche Äußerung könnte auf der Grundlage einer passenden Konvention verständlich gemacht werden257. Die Konzentration auf die Frage nach der literarischen Kompetenz als Ermöglichungsgrund für das Interpretieren von Literatur führt schließlich dazu, daß Eigenschaften, die für gewöhnlich dem Text zugesprochen wurden, jetzt in den Bereich der Aktivität der Leser/innen fallen258. Konventionen werden in besonderer Weise auch in unterschiedlichen literarischen Gattungen deutlich (SP, 129): „A genre … is a conventional function of language, a particular relation to the world which serves as norm or expectation to guide the reader in his encounter with the text… 254 SP, 31: „Linguistics is not hermeneutic. It does not discover what a sequence means or produce a new interpretation of it but tries to determine the nature of the system underlying the event.“ 255 Treffend heißt es in „Prolegomena“, 53: „Reading and interpretation may be carried out in solitude, but they are highly social activities, which cannot be separated from the interpersonal and institutional conventions.“ 256 SP, 116: „If other conventions were operative its range of potential meanings would be different.“ 257 SP, 123: „[T]he most obscure poem could be interpreted if there were a convention which permitted us to replace every lexical item by a word beginning with the same letter of the alphabet and chosen according to the ordinary demands of coherence.“ 138: „Whatever one calls the process, it is one of the basic activities of the mind. We can, it seems, make anything signify.“ 258 SP, 128: „Rather than say, for example, that literary texts are fictional, we might cite this as a convention of literary interpretation and say that to read a text as literature is to read it as fiction.“

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A genre … is not simply a taxonomic class. If one groups works together on the basis of observed similarities one does indeed have purely empirical taxonomies of the sort which have helped to bring the notion of genre into disrepute. A taxonomy, if it is to have any theoretical value, must be motivated.“ (SP, 136)

Eine Gattung ist also eine literarische Konvention, die Erwartungen in den Leser/innen freisetzt und damit diesen einen Rahmen bietet, innerhalb dessen sie einen Text verstehen können259. Daß sich Gattungen mit der Zeit auch ändern, weist darauf hin, daß Konventionen an kulturelle Gegebenheiten gebunden sind (SP, 137). Literarisches Verstehen ist demnach ein Prozeß der „Naturalisierung“, wobei Fremdes in einen kulturell akzeptierten Diskurs eingeordnet und dadurch den eigenen Verstehenskategorien einverleibt wird (SP, 137)260. Wie aber lassen sich geltende Konventionen ermitteln? Aus der Gegenüberstellung der sprachlichen Form eines Textes und seiner kritischen Auslegung (SP, 114). Der Kritiker hat die Aufgabe, die impliziten Regeln zu beschreiben, die die Auslegung so steuern, daß ein Text A zu einer Auslegung B gelangt. Anhand von verschiedenen Gedichtinterpretationen extrapoliert CULLER z.B. folgende Konventionen beim Umgang mit Lyrik (SP, 115; „Prolegomena“, 57-66): 1. Ein Gedicht hat etwas Bedeutendes zu einem menschlichen Problem zu sagen. Daher werden Begriffe gerne als Synekdochen oder Metaphern für übergreifende Themen gedeutet. 2. Ein Gedicht ist auf metaphorischer wie thematischer Ebene eine kohärente Einheit261. Davon ist die semantische Bestimmung einzelner Elemente gezeichnet262. 3. Ein formaler Parallelismus ist zugleich Ausdruck inhaltlicher Parallelität. 4. Die letzte Zeile eines Gedichts bringt die Aussage zu ihren Höhepunkt und garantiert damit den einheitlichen Charakter des Gedichts. 2.10.3 Kritische Würdigung Cullers CULLER sieht folgende Vorteile in der Umorientierung von der Werkinterpretation zur Bestimmung von Konventionen (SP, 128-30): 1. Die kritische Wissenschaft wird ehrlicher, da die poetischen Qualitäten eines Werkes nicht erst textontologisch reklamiert zu werden brauchen, sondern einfach im Rahmen

259

SP, 137: „Comedy exists by virtue of the fact that to read something as a comedy involves different expectations from reading something as a tragedy or as an epic.“ 129: „The same sentence can have a different meaning depending on the genre in which it appears.“ 260 SP, 138: „[T]o naturalize a text is to bring it into relation with a type of discourse or model which is already, in some sense, natural and legible.“ 261 Andererseits betont CULLER: „The notion that the task of criticism is to reveal thematic unity is a post-Romantic concept, whose roots in the theory of organic form are, at the very least, ambiguous.“ (SP, 119) 262 Vgl. SP, 126: „[P]oems are supposed to cohere, and one must therefore discover a semantic level at which the two lines can be related to one another.“

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der Institution davon ausgegangen werden kann, daß gewisse Texte als literarische Texte gelesen werden können. 2. Die neue Fragestellung macht den/die Ausleger/in bewußter in bezug auf sich selbst und in bezug auf den Charakter von Literatur263. 3. Sieht man erst seine eigene interpretatorische Arbeit als institutionell gebunden, dann öffnet man sich eher innovativen Texten. Die Beschäftigung mit solchen Texten, denen mit dem Arsenal bisheriger Konventionen nicht beizukommen ist, kann zu einer Infragestellung sozialer Formen des Verstehens führen. 4. Schließlich ist es auch möglich, Texte bewußt gegen geltende Konventionen auszulegen und dadurch über die eigene Stellung als homo significans zu reflektieren. CULLER hat einen für die Leseforschung sehr bedeutsamen Schritt vollzogen: Die Lektüre ist nicht mehr eine exegetische Fragestellung, um Texten neue Sinnpotentiale zu entlocken, sondern wird zu einem hermeneutischen bzw. metakritischen Instrument, um den Akt der Interpretation als solchen und seine institutionelle Verankerung besser zu erfassen264. Sicherlich gilt der von CULLER so klar gezeichnete Zusammenhang zwischen Konventionen, literarischer Kompetenz und Interpretation für jede Epoche von Leser/innen, und damit auch für die Erst-Rezeption eines schriftlichen Textes265. Aber es geht CULLER weniger um die Vergangenheit eines Textes, als vielmehr um die „Grammatik“ gegenwärtigen Verstehens266. CULLER kann damit auch für die exegetische Zunft eine ernst zu nehmende Herausforderung darstellen, sich nicht ausschließlich um das Verständnis von Vergangenem zu kümmern, sondern auch über das eigene Lesen und Verstehen zu reflektieren. Befremdlich ist allerdings CULLERS konsequente Weigerung, seine Theorie in die Interpretation münden zu lassen. Ob eine solche Haltung nur mit der ausufernden Fülle an Interpretationen rechtfertigt werden kann, bleibt fraglich. 263

SP, 129: „Reading is not an innocent activity. It is charged with artifice, and to refuse to study one’s modes of reading is to neglect a principal source of information about literary activity.“ 264 Wenn also J. BARTON seine exegetische Methodenlehre explizit anhand des CULLER’schen Begriffs der „literarischen Kompetenz“ entfaltet (Reading the Old Testament [London, 1984], 11-16), dann macht er aus einem deskriptiven Begriff ein normatives Instrument. 265 Ungeklärt bleibt allerdings die Frage, wie sich Konventionen aufbauen. M.E. wäre weiter zu fragen, inwiefern es anthropologische Grundkonstanten menschlichen Verstehens gibt. Mit einem Hinweis auf den kulturellen, soziologischen oder institutionellen Rahmen der Interpretation ist zwar Wichtiges und oft Verschwiegenes gesagt worden, aber noch nicht alles. 266 In neuster Zeit hat CULLER die Interpretation als „framing“ bezeichnet (Framing the Sign (Oxford, 1988): Durch sozio-kulturelle Faktoren bedingt, entstehen sogenannte „frames“ oder „Rahmen“, die es Leser/innen ermöglichen, Texte in einen sinn-vollen Kontext einzuordnen. Man „verschafft“ sich Bedeutung, indem der Text „kontextualisiert“ und „rekontextualisiert“, d.h. mit einem neuen „Rahmen“ versehen wird. Dabei ist der literarische Kontext einer Aussage nicht so ausschlaggebend wie der institutionelle Kontext des Auslegers oder der Auslegerin.

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Schließlich kann man mittlerweile auch auf eine ansehnliche Menge literaturtheoretischer Publikationen blicken. CULLERS Forderung, Literaturwissenschaft auf Poetik zu beschränken und die Interpretation der Hermeneutik zu überlassen, ist nicht nur reduktionistisch, sondern kann als solche nur eine zeitlich beschränkte sein. Denn würden sich einzelne Kritiker/innen nicht mit praktischer Auslegung beschäftigen, gäbe es für eine CULLER’sche Poetik kein Material zur Beschreibung von Konventionen. Sicherlich ist hier aus der Not eine Tugend gemacht worden: Statt vor der schieren Fülle an Interpretationen und der Unmöglichkeit, dem irgend etwas nennenswert Neues hinzuzufügen, zu kapitulieren, begibt man sich auf eine diskursive Meta-Ebene. Man kann sich aus dem „schmutzigen Geschäft“ der Interpretation zurückziehen, um dann aus sicherer Entfernung die fortlaufende Diskussion kritisch zu kommentieren267. Eine geschickte Flucht nach vorne! Eine weitere Anfrage ist an CULLERS Projekt des kompetenten Lesers zu richten: Welche Leser/innen kommen eigentlich hierfür in Frage? CULLER weigert sich entschieden, jegliche/n empirische/n Leser/in an seinem Modell zu beteiligen (SP, 123f)268. Mit dem unglücklichen Begriff des „idealen Lesers“ (SP, 123f) will CULLER zwar den Akzeptanzbereich einer Auslegung metaphorisch personifizieren269, hat sich aber de facto damit einen Raum geschaffen, in den sich er, seine Kolleg/innen und Student/innen zurückziehen können, um als der „ideale Leser“ der Beschreibung ihrer eigenen Konventionen frönen zu können. Die übrigen Millionen von Menschen, die sich nicht aus akademischen, sondern aus vielerlei anderen Interessen mit der Lektüre von Büchern beschäftigen, werden – wenn überhaupt – nur nach ihrem Einverständnis mit den ermittelten Normen gefragt (vgl. SP, 125f). Der professionelle Kritiker ist in diesem Konzept die öffentliche Stimme gültiger Auslegungskonventionen. Daran ändert es auch nichts, daß CULLER später den Begriff des „idealen Lesers“ verwirft („Prolegomena“, 53f). Er tut dies nicht etwa, weil er an der Existenz eines „vollkommenen Meisters“ zweifelt, sondern weil dieser kein „transhistorisches Ideal“ sein kann („Prolegomena“, 53, Anm. 3). Auch wenn er von „actual readers“ spricht, meint er daher nicht eine/n x-beliebige/n Leser/in, sondern „oneself, one’s students, colleagues, and other critics“, wie sie sich „in literary journals, critical discussion, and literary education“ zu Wort melden („Prolegomena“, 53). Damit bringt sich CULLER als Vertreter seiner akademischen Zunft in eine privilegierte Position gegenüber dem/r einfachen Leser/in, der/die zwar die Muttersprache beherrscht und in der Lage ist, sinnvoll mit Literatur umzugehen, aber dem/der leider 267 Das ist 268 Vgl. a.

im Prinzip das, was CULLER in den meisten seiner Publikationen macht. seine vernichtende Kritik an den psychologischen Beschreibungen empirischer Leser/innen im Werk von Norman HOLLAND („Prolegomena“, 54-6). 269 SP, 124: „The ideal reader is, of course, a theoretical construct, perhaps best thought of as a representation of the central notion of acceptability.“

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aufgrund einer mangelnden akademischen Ausbildung nicht die Kompetenz und Erfahrung bescheinigt werden kann, um als Proband für geltende Normen in Frage zu kommen (vgl. „Prolegomena“, 52). Dieser Tatbestand wäre an sich nicht so bedenklich, wenn er nicht mit der Anmaßung verbunden wäre, nicht den Leser, sondern das Lesen an sich erforschen zu wollen270. Es bleibt aber die ungeklärte Frage, inwiefern die kleine und relativ hermetisch abgeschlossene akademische Gemeinschaft als Sprachrohr einer ganzen Gesellschaft angesehen werden kann271. Ich denke, daß jede/r Bibelwissenschaftler/in, der/die den Kontakt zur Kirche nicht verloren hat und sich daher der Kluft bewußt ist, die sich zwischen dem akademischen und dem „naivreligiösen“ Umgang mit der Bibel auftut, dazu neigen wird, diese Frage zu verneinen. Was CULLER mit seinem Verfahren ermittelt, ist nur ein Ausschnitt aus dem aktuellen Bestand sozial konstituierter Konventionen. Der „kompetente Leser“ bleibt demnach ein akademisches Medium auf der Suche nach Regeln, von denen sich außerhalb der Hochschule vielleicht die wenigsten betroffen fühlen.

2.11 Stanley Fish, Phase II (ab 1976): Die Auslegungsgemeinschaft 2.11.1 Die „anti-formalistische Reise“ Mit seinen Publikationen ab der Mitte der 70er Jahre tritt im Werk von Stanley FISH eine selbstkritische Radikalisierung in Gang, die sich in einer immer stärker auf rhetorische Wirkung abzielenden Fachprosa manifestiert272. FISH bezeichnet diesen Werdegang selbst als den konsequenten Gang „auf der antiformalistischen Straße“273: Ursprünglich wollte er der Verdrängung des 270 „Prolegomena“, 56: „A first priority … if one is to study reading rather than readers, is to avoid experimental situations … and to focus rather on public interpretive processes.“ 271 CULLER macht es sich zu einfach, wenn er die Beantwortung dieser Frage in eine ferne Zukunft rückt: „Questions such as to what extent individual readers perform the same operations or how far these operations are confined to a tiny community of professional critics cannot really be answered until we are rather better at describing the operations in question.“ („Prolegomena“, 62) 272 Is There a Text in This Class? The Authority of Interpretive Communities (Cambridge, Mass./London, 1980) und Doing What Comes Naturally: Change, Rhetoric, and the Practice of Theory in Literary and Legal Studies (Oxford, 1989). Über die Wirkung der letztgenannten Publikation läßt sich noch nichts sagen, aber Is There a Text? gehört zweifelsohne zu den interessantesten und meist diskutierten Bucherscheinungen der 80er Jahre im Bereich der anglo-amerikanischen Literaturtheorie. Von jetzt an zitiere ich beide Werke im Text als Text und Doing. 273 „Going down the Anti-formalist Road“ lautet der programmatische Eingangsartikel in Doing, 1-33.

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Lesers im „New Criticism“ ein eigenes Modell entgegensetzen. Ein wichtiger Baustein dazu war die Entprivilegisierung des Textes als Alleinbesitzer von Sinn und die Übertragung gewisser hermeneutischer Vorrechte auf eine rezipierende Instanz. In der Praxis blieb aber der Text eine stabile Größe mit einem hohen Bestimmtheitsgrad und relativ vorhersehbaren Lenkungsmechanismen, so daß die vom uneigennützigen Benutzer der „affektiven Stilistik“ rekonstruierten Aktivitäten des Lesers repräsentativen Charakter für sich in Anspruch nehmen konnten (Text, 2-6). Nach und nach setzt sich bei FISH die Erkenntnis durch, daß ein Textmodell, das von ontologisch bestimmbaren Eigenschaften des Textes ausgeht, seine Wurzeln gerade in jener Denkrichtung hat, die er zu überwinden gedachte, nämlich im „New Criticism“ (Text, 7). Im nachhinein wertet FISH daher seine Theorie als einen unmöglichen Versuch, gleichzeitig die Rolle des Lesers als bedeutungsstiftende Instanz und die objektive Stabilität des Textes als bedeutungslenkende Größe in Harmonie miteinander zu bringen (Text, 7f). Da der „New Criticism“ für FISH nur eine Spielart des Formalismus ist, gilt es mit aller Konsequenz alle formalistischen Grundzüge auszumerzen274. Diese Einsicht setzt die anti-formalistische Reise in Gang, deren erste ungefähre Route anhand seines 1973 erschienenen Aufsatzes „How Ordinary Is Ordinary Language?“ (Text, 97-111) sichtbar wird275: FISH möchte jedem Versuch, formale Unterschiede zwischen „normaler“ und „literarischer“ Sprache zu definieren, die Grundlage entziehen. Auf die logischerweise daraus resultierende Frage, wodurch sich „Literatur“ eigentlich auszeichnet, antwortet FISH mit einem Zirkelschluß: Als literarisch kann jeder Text betrachtet werden, der durch eine kollektive und konventionsgeleitete Entscheidung einer „community of readers or believers“ in den Status des Literarischen erhoben worden ist; kurzum: „Literature … is an open category…; it is the reader who ‚makes‘ literature“ (Text, 109). Obwohl sich hier schon wichtige Grundzüge seiner späteren Theoriebildung anbahnen, hält FISH noch an der Symmetrie zwischen einem stabilen Ich und einem stabilen Text fest (Text, 11f). Der letzte Schritt auf dem Weg zur Auflösung der Autonomie von Text und Leser steht noch aus. Der Prozeß bis zu diesem point of no return läßt sich anhand eines Essays nachzeichnen, der in verschiedenen Phasen zwischen 1973 und 1975 verfaßt und schließlich 1976 mit zwei inhaltlich ungleichen Teilen veröffentlicht 274

Der Begriff Formalismus ist für FISH ein ziemlich diffuser Sammelbegriff für alle möglichen Denkrichtungen, die daran festhalten, daß Begriffe mit einem eindeutigen Bedeutungspotential ausgestattet sind. Wenn FISH von „Formalismus“ spricht, dann meint er daher keine literaturwissenschaftliche Schule, sondern eine erkenntnistheoretische Grundhaltung, die weitreichende Auswirkungen auf den Gebieten der Sprachphilosophie, Anthropologie, Soziologie, Erkenntnistheorie, Pragmatik und Politik hat (Doing, 6). 275 Ursprünglich in NLH 5 (1973), 41-54.

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wurde: „Interpreting the Variorum“ (Text, 147-73)276. In seiner kritischen Auseinandersetzung mit einem mehrbändigen Kommentar zu Gedichten von John Milton vertritt FISH zunächst die Positionen der „affektiven Stilistik“277. Doch bricht unerwartet der Gedankengang ab, und FISH geht dazu über, seine eigenen Prämissen radikal zu hinterfragen (163-7) und durch ein neues Modell zu ersetzen (167-73)278. Er führt diesen Feldzug allerdings nicht im Innenraum der eigenen Theorie, sondern bezieht durch einen metakritischen Schritt eine neue Position „außerhalb“ seiner bisherigen Prämissen, um aus sicherer Distanz seinen bisherigen Diskurs neu beurteilen zu können279. Was er daher bei dieser Selbstbetrachtung erblickt, sind nicht einzelne Schwachpunkte der „affektiven Stilistik“, die dann behoben werden könnten, vielmehr durchschaut er die Mechanismen, die hinter seiner hermeneutischen Aktivität stehen; aber nicht nur hinter seiner, sondern hinter der aller Ausleger/innen vor und nach ihm280. In der kritischen Rückschau heißt es: „I did what critics always do: I ‚saw‘ what my interpretive principles permitted or directed me to see, and then I turned around and attributed what I had ‚seen‘ to a text and an intention. What my principles directed me to ‚see‘ are reader performing acts; the points at which I find … those acts to have been performed become … demarcations in the text; those demarcations are then available for the designation ‚formal features‘, and as formal features they can be … assigned the responsibility for producing the interpretation which in fact produced them.“ (Text, 163)

Es gibt für FISH keine formalen oder intentionalen Eigenschaften, die vor oder unabhängig von einer hermeneutischen Aktivität existieren könnten. Der Akt des Lesens ist keine simple, vorinterpretatorische Aktivität, sondern ist bereits von Strategien geleitet, die die Zuschreibung von Texteigenschaften produzie-

276

Ursprünglich in CritInq 2 (1976), 465-85; auch abgedruckt in TOMPKINS, Reader-Response Criticism, 164-84. 277 Z.B., daß Ambiguitäten nicht gelöst, sondern erfahren werden (Text, 149-52); daß Bedeutung nicht mit Wörterbüchern und Grammatiken rekonstruiert werden kann, sondern nur über die Lektüre (152); daß die Aktivitäten des Lesers nicht zu einer Bedeutung führen, sondern diese darstellen (158); daß formalistische Lektüren den Prozeß der Sinnfindung verräumlichen (154f); daß alles von der zeitlichen Dimension abhängt (159). Um verschiedene Aspekte seines „kompetenten Lesers“ deutlich zu machen, spricht FISH von einem „optimalen Leser“, der den vom Text implizierten Kompetenzerwartungen völlig genügt (160), einem „intendierten Leser“, der bei seinen Aktivitäten eine autoriale Intention rekonstruiert (160f) und einem historisch-zeitgenössischen „at-home reader“, der die Konventionen zur Zeit der Textentstehung verinnerlicht hat (161). 278 Sein Fazit ist klar: „I must give up the claims implicitly made in the first part of this essay.“ (Text, 167) FISH deutet auch an, daß der präskriptive Charakter seiner rekonstruierten Leseerfahrung ein Zeichen von Arroganz war (Text, 176f). 279 FISH würde voraussichtlich eine solche Innen-Außen-Unterscheidung, wie ich sie hier postuliere, in Frage stellen. 280 Text, 165: „Of course, this is as true of my analyses as it is of anyone else’s.“

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ren (Text, 168)281. Die Lektüre ist in Wahrheit eine Form, den Text neu zu schreiben (Text, 169). Damit erweist sich die ontologische Vorstellung eines stabilen Textes, dessen Wirkung durch Kompetenzgewinn immer präziser beschrieben werden kann, als eine pure Illusion. Vielmehr ist alles, was Ausleger/innen dem Text zuschreiben, das Ergebnis ihrer eigenen Interpretation (Text, 164; vgl. a. 13.272f)282. Da der Text also nichts zum Verstehen beitragen kann, bleiben Leser/innen immer bei sich selbst283. Wenn aber alle Elemente, die zum Verstehen notwendig sind, selbst beigesteuert werden, wie ist es dann möglich, daß ein und der/die selbe Leser/in verschiedene Texte anders liest284 und verschiedene Leser/innen bei der Auslegung des gleichen Textes zu übereinstimmenden Aussagen gelangen können (Text, 167)285? Wenn es keine autonomen Kontrollinstanzen für die Auslegung gibt, warum ist es nicht schon lange zum Ausbruch einer völligen Auslegungsanarchie innerhalb der Geisteswissenschaften gekommen? Mit dieser Frage ist das Ziel der anti-formalistischen Reise erreicht. Die Endstation heißt „interpretive communities“.

281

Eine theoretische Grundvoraussetzung für das Aufstellen einer solchen These ist die Überzeugung, daß Bedeutung nicht von linguistischen Zeichen, sondern von Bewußtseinszuständen determiniert ist (Doing, 7). Daher ist der erste Schritt seiner anti-formalistischen Reise die Aufgabe der Vorstellung einer wörtlichen Auslegung als Grenze der Interpretation und die Verlagerung dieser Grenze auf den Begriff der Intention (Doing, 25). 282 FISH versucht z.B. zu zeigen, daß die Vorstellung eines „Zeilenendes“ (Text, 165f), einer „Alliteration“ (166) und „grammatikalischer Fakten“ (166f) das Ergebnis konventionsgeleiteter Interpretationen ist. Selbst die Zuschreibung eines Autors (etwa Milton) oder einer Gattung (etwa pastorale Dichtung) sind Interpretationen (Text, 168). Für einen umfassenden Versuch, formale Schemata als interpretationsbedingte Elemente zu deuten, vgl. „What Is Stylistics and Why Are They Saying Such Terrible Things About It? Part II“ ([1980] Text, 246-67). Das gleiche gilt für den poetischen Charakter eines Textes (Text, 322-337: „How To Recognize a Poem When You See One“). In „How To Do Things with Austin and Searle: Speech-Act Theory and Literary Criticism“ (Text, 197-245 = MLN 91 [1976], 983-1025) versucht FISH zu beweisen, daß die für die Sprechakttheorie so grundlegende Unterscheidung zwischen fiktiver und „realer“ Rede nichts anderes als eine interpretatorische Konstruktion ist. 283 Vgl. Doing, 77: „[T]he reader … supplies everything; the stars in a literary text are not fixed; they are just as variable as the lines that join them.“ Text, 164: „[I]ntention is known when and only when it is recognized; it is recognized as soon as you decide about it; you decide about it as soon as you make a sense; and you make a sense (or so my model claims) as soon as you can.“ 284 Die allegorische oder psychoanalytische Auslegung zeigt, daß es auch möglich ist, alle Texte gleich zu lesen (Text, 170). 285 Text, 171: „What is the explanation on the one hand of the stability of interpretation (at least among certain groups at certain times) and on the other of the orderly variety of interpretation if it is not the stability and variety of texts?“ (vgl. a. Doing, 141)

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2.11.2 „Interpretive Communities“: Von Konventionen, Situationen, Institutionen, Glaubensüberzeugungen, Macht und Rhetorik „Interpretive communities are made up of those who share interpretive strategies not for reading (in the conventional sense) but for writing texts, for constituting their properties and assigning their intentions. In other words, these strategies exist prior to the act of reading and therefore determine the shape of what is read rather than, as is usually assumed, the other way around.“ (Text, 171)

Mit dem Konzept der „interpretive communities“ („Auslegungsgemeinschaften“) möchte uns FISH hinter die Kulissen menschlicher Erkenntnis führen: Da es keine nicht-interpretierte Fakten gibt, ist jede Person ununterbrochen mit Interpretieren beschäftigt. Es handelt sich dabei also um eine ebenso grundlegende menschliche Aktivität wie Atmen. Jede hermeneutische Aktivität, durch die ein schriftlicher oder mündlicher Text sinnvoll in das eigene Verstehensrepertoire eingegliedert (d.h. neu geschrieben) wird, folgt bestimmten Strategien. Glücklicherweise ist niemand in der mißlichen Lage, erst von einem neutralen Boden aus für sich selbst ein Inventar an solchen Strategien entwickeln zu müssen, sondern folgt „instinktiv“ bereits bestehenden Konventionen. Wir alle denken von vornherein im Kontext einer Auslegungsgemeinschaft (= AG), die jeder eigenen hermeneutischen Aktivität vorausgeht und diese maßgeblich steuert, indem sie vorgibt, wie Erfahrungen organisiert und in Kategorien gefaßt werden können (Doing, 141). Sie richtet den Blick des Einzelnen so ein, daß der Prozeß der Objektwahrnehmung als ein ganz „natürlicher“ erscheint (Doing, 303f)286. Der Begriff der AG ist allerdings nicht identisch mit dem der „Denkrichtung“ oder der „philosophischen Schule“. AGen werden nicht durch die Zugehörigkeit bestimmter Individuen, die ähnliche Perspektiven teilen, konstituiert; vielmehr werden Einzelindividuen durch AGen konstituiert (Doing, 141). Individuelles Denken im Sinne geniehafter Einmaligkeit gibt es demnach nicht, sondern immer nur situations- und konventionsgebundenes Handeln287. Interpret/innen sind im Rahmen dieser Theorie nicht frei, sich für oder gegen eine Auslegung zu entscheiden, denn sie folgen immer den Sachzwängen einer bestehenden Konvention (Text, 306)288. Damit aber haben sowohl der Text als auch das lesende Subjekt den Anspruch auf interpretatorische Autorität zugunsten des Konzepts der Auslegungsgemeinschaft abgegeben (Doing, 141). Die Existenz verschiedener AGen erklärt die Divergenz der Interpretationen, die relative Stabilität innerhalb einer solchen Gemeinschaft garantiert 286

Daher der Titel des zweiten Aufsatzbandes Doing What Comes Naturally. Vgl. Text, 271: „[C]ategories like ‚the natural‘ and ‚the everyday‘ are not essential but conventional.“ 287 Die AG wird wie die Nase im eigenen Gesicht nicht wahrgenommen (Text, 298). 288 Vgl. Doing, 13: „At no time is he free to go his ‚own way‘, for he is always going in a way marked out by the practice or set of practices of whose defining principles … he is a moving extension.“

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Übereinstimmung zwischen unterschiedlichen Ausleger/innen. Dadurch steuert FISH mit sicherer Hand zwischen der Skylla objektiver Sinndeterminiertheit und der Charybdis subjektivistischer Polyvalenz. Mit Hilfe der Vorstellung der „AG“ kann das Ideal vollkommener Übereinstimmung aufgegeben werden, ohne jedoch die Schreckensvision zersetzender Anarchie heraufzubeschwören289. Das Modell enthält also ein objektives Moment (Konvention innerhalb einer AG) und zugleich ein subjektives (verschiedene AGen) (Text, 178f). Natürlich gibt es zwischen einzelnen AGen eine gewisse Fluidität, aber das Gleichgewicht zwischen Stabilität und Flexibilität ist so geartet, daß der Streit der Interpretationen weitergeführt werden kann, ohne je zu einem Ende zu gelangen (Text, 171f). Die Verschiedenheiten werden nicht durch das Vorhandensein objektiver Texte aufgelöst (Doing, 141), denn jede AG schreibt ihre eigenen Texte. In den derzeitigen literaturwissenschaftlichen Grabenkämpfen wird FISH gerne mit Jacques DERRIDA oder Harold BLOOM zu denen gezählt, die ein Universum vollkommener Auslegungsfreiheit erschließen. Daß dies nicht wirklich auf FISH zutrifft, macht er besonders in seinem Aufsatz „Normal circumstances, literal language, direct speech acts, the ordinary, the everyday, the obvious, what goes without saying, and other special cases“ (Text, 268-92) deutlich290. Anhand von Beispielen aus den unterschiedlichsten Gebieten (Religion, Sexualität, Sport, Literatur, Recht, Sprechakt-Theorie) versucht er zu zeigen, daß Determiniertheit immer schon gegeben ist, allerdings nicht als das Ergebnis von Eigenschaften, die sich außerhalb eines Kontextes befänden (etwa „Sprache“ oder „Welt“), sondern als Ergebnis der Sachzwänge, die in die Kontexte eingeschrieben sind, innerhalb derer praktische Auslegung stattfindet (Text, 268). Es gibt demnach keine „wörtliche“ Interpretation, die von einem Kontext unabhängig wäre, sondern je nach Kontext oder Situation stellt sich immer eine stabile, „wörtliche“ Auslegung ein (Text, 275f.306; Doing, 8). Man könnte diese Sicht eine Theorie „sukzessiver Monosemie“ nennen: „We are never not in a situation. Because we are never not in a situation, we are never not in the act of interpreting. Because we are never not in the act of interpreting, there is no possibility of reaching a level of meaning beyond or below interpretation… Therefore, there always will be a literal reading, but it will not always be the same one and it can change.“ (Text, 277)

289

Text, 172: „The notion of interpretive communities thus stands between an impossible ideal and the fear which leads so many to maintain it. The ideal is of perfect agreement … The fear is of interpretive anarchy… It is the fragile but real consolidation of interpretive communities that allows us to talk to one another, but with no hope or fear of ever being able to stop.“ 290 Ursprünglich in CritInq 4 (1978), 625-44.

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Damit entfernt sich aber FISH auch von der Vorstellung, daß ein Text an sich alles und jedes bedeuten könne (Text, 283). Man kann zwar theoretisch in aller Radikalität relativistische oder skeptische Ansichten vertreten, in der Praxis jedoch ist eine solche Position nicht durchzuhalten (Text, 319.360f). Ein Text ist nur dann vieldeutig, wenn er in einem Kontext gelesen wird, in dem Ambivalenz von einem Text erwartet wird (Text, 277). Der Text ist auf der zeitlichen Achse also hoffnungslos ambivalent, in dem Sinne, daß je nach wechselnder Situation ein neuer Sinn entsteht, aber innerhalb einer Situation immer eindeutig (Text, 283)291. Daß bei bestimmten Aussagen manche Kontexte eher wachgerufen werden als andere, ist nicht sprachlichen Qualitäten, sondern institutionellen Konventionen zuzuschreiben (Text, 308-12). Es gibt immer Grenzen der Interpretation, aber da es keine objektiven Gegebenheiten gibt, die die Interpretation von außen steuern könnten, gibt es keine Grenze, die sachgerechter wäre als andere (Doing, 13)292. Spricht aber nicht die Erfahrung, daß einzelne Ausleger/innen von einer AG in die andere wechseln, gegen FISHS Theorie?293 In einem eher traditionellen Paradigma (FISH nennt es „essentialist“ oder „foundationalist“) ist ein solcher Wechsel kein Problem, sondern ergibt sich aus der regulierenden Funktion des Textes auf dem Weg der Wahrheitsfindung (Doing, 142f). In FISHS Konzept kann der Text aber an einem solchen Wechsel nicht beteiligt sein. Gibt man aber die Autonomie des Textes auf, dann stellt sich die Frage, warum ein Wechsel stattfinden kann, was sich dadurch ändert, warum jemand, der nicht über seinen eigenen Horizont schauen kann, seine Meinung ändern kann usw. (Doing, 144f). Mit seinem Aufsatz „Change“ versucht FISH diese Fragen im Sinne seiner Theorie der AG zu klären (Doing, 141-60). Er stellt sich damit auch politischen Vorwürfen von rechts – daß durch die Auflösung objektiver Grenzen Willkür und Anarchie nicht verhindert werden

291 Text, 307: „[S]entences emerge only in situations, and within those situations, the normative meaning of an utterance will always be obvious or at least accessible.“ 292 FISH möchte mit diesen Aussagen seine Gegner/innen besänftigen und ihnen versichern, daß ihre Sorge, das Konzept der AG könnte in eine hoffnungslose Anarchie führen, unbegründet ist (Text, 321.356f). Eine ähnlich versöhnliche Funktion hat z.B. Doing, 26: „It might seem that in traveling this road one is progressively emancipated from all constraints, but, as we have seen, the removal of independent constraints to which the self might or might not conform does not leave the self free but reveal the self to be always and already constrained by the contexts of practice (interpretive communities) that confer on it a shape and a direction.“ 293 Vgl. z.B. G.D. ATKINS, „On the Critical Character: Reading and Writing in the Poststructuralist Age“, Reader Entrapment in Eighteenth-Century Literature, ed. C.R. Kropf (New York, 1992), 6f: „I remain unconvinced that the notion of ‚interpretive communities‘ tells the whole story. They are not always or inevitably determining and we can break out of them. After all, we change our critical allegiances and move from one interpretive or theoretical community to another. I, for instance, have moved around quite a lot.“

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können294 – und von links – daß AGen sich hinter den eigenen Prämissen verschanzen und dadurch reformunfähig werden, womit der Status quo immer gewahrt bleiben würde295 (Doing, 142; vgl. a. 27). Beide Argumente gehen von der falschen Prämisse aus, daß AGen monolithische Gegenstände seien (Doing, 142). Obwohl das menschliche Denken in den eigenen Prämissen gefangen ist, gehört das Wissen um die Beschränkheit der eigenen Erkenntnis zum eigenen Konventionsbestand, so daß je nach Grad der Glaubensüberzeugung einzelne Punkte des persönlichen Credos revidiert werden können (Doing, 146). Außerdem ist jedes Individuum Teilnehmer/in an unzähligen AGen, was zu einer Spannung und schließlich zu einer Umstellung zwischen verschieden gewichteten Überzeugungen führen kann (Doing, 30)296. Eine AG ist demnach ein „engine of change“; d.h. die Eigendynamik einer AG drängt zur Veränderung (Doing, 150). AGen unterlaufen einem ununterbrochenen Änderungsprozeß, bei dem einzelne Bausteine mal schneller, mal langsamer „ausgewechselt“ werden (Doing, 152f). Damit erklärt FISH die Fluidität vertretener Positionen als einen Prozeß, der von der AG selbst ausgeht und daher nie „von außen“ bewirkt wird (Doing, 148)297. Die Frage aber, wie Paradigmenwechsel stattfinden, kann nicht systematisch beantwortet werden, da ein solcher Prozeß von unendlich vielen kontingenten Faktoren beeinflußt wird (Doing, 153). Situationen, Diskussionen, Argumente können Einfluß haben oder nicht, je nach dem Grad der Relevanz, den eine AG solchen Elementen zuerkennt (Doing, 153). FISH führt diesen Gedanken an einigen Beispielen vor: 1. In der Regel wird angenommen, daß die Theoriediskussion zu Änderungen in der Praxis einer AG führt. Demgegenüber stellt FISH provokativ fest: „[T]heory has no consequences.“ (Doing, 14; vgl. a. 155f) Die Argumentation ist einfach (Doing, 14): Theorien versuchen allgemeingültige, übergreifende Prinzipien aufzustellen. Da es solche Prinzipien nicht 294

Das ist die Stoßrichtung der Kritik von W. DAVIS, „The Fisher King: Wille zur Macht in Baltimore“, CritInq 10 (1984), 668-94. 295 Immerhin hat die Vorstellung eines neofaschistischen Intellektuellen, der mit Hilfe von FISHS Thesen etwa die Auschwitz-Lüge verteidigt, etwas Beunruhigendes an sich. FISH würde in einem solchen Fall jegliche Verantwortung weit von sich weisen: „I feel uneasy at the suggestion that before putting an argument into the world we should calculate the effects of its falling into the wrong hand.“ (Doing, 29) 296 Z.B. FISH selbst: „I am, among other things, white, male, a teacher, a literary critic, a student of interpretation, a member of a law faculty, a father, a son, an uncle, a husband (twice), a citizen, a (passionate) consumer, a member of the middle class, a Jew, the oldest of four children, a cousin, a brother, a brother-in-law, a son-in-law, a Democrat, short, balding, fifty, an eastener who has been a westerner and is now a southerner, a voter, a neighbor, an optimist, a department chairman.“ (Doing, 30) 297 A.C. THISELTON faßt kritisch zusammen: „The community cannot be corrected and reformed … from outside itself. Its only hope of change is to imperialize other communities by extending its own boundaries until it disintegrates under its own weight and internal pluralism. But this is to exchange hermeneutical understanding for the random contingencies of social history.“ (New Horizons in Hermeneutics [London, 1992], 27f)

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gibt, gibt es auch keine Theorien im eigentlichen Sinne; und etwas, was es nicht gibt, kann keine bestimmten Konsequenzen haben 298 – mit einer Einschränkung: Die Theoriediskussion hat Konsequenzen und kann zu Veränderungen führen, aber nur innerhalb solcher AGen, die theoretischen Aussagen eine solche Relevanz zuerkennen, daß sie verändernd wirken können (Doing, 14f)299. 2. Die Aussagen von Personen haben nur dann Konsequenzen, wenn sie z.B. innerhalb hierarchischer Strukturen (z.B. in der akademischen Welt oder im Bereich der Religion) von anerkannten Autoritätsträgern (z.B. Professoren, Geistlichen) vertreten werden (Doing, 145f)300. 3. Impulse aus anderen Disziplinen sind in ihrer Relevanz für die eigene Praxis nur dann erkennbar, wenn einzelne Elemente sich bereits in der eigenen Disziplin eingenistet haben (Doing, 146-8). 4. Auch politische Ereignisse können nur in dem Maße Einfluß auf die eigene Gemeinschaft ausüben, in dem diese solchen Ereignissen Relevanz in bezug auf die eigene Praxis zuerkennt (Doing, 149)301.

Alles in allem sind Änderungen in der Regel rhetorischer und nicht theoretischer Natur (Doing, 14f). Bei einem sog. „Paradigmenwechsel“ kommt man nach FISH nicht einem Objekt oder einer Wahrheit näher (denn dieses gibt es ja nicht!), sondern es findet eine Erneuerung in der Sprache einer AG statt, so daß ihre Erkenntniswege mittels dieser Sprache neu normiert werden (Doing, 24). Wenn aber der Text keine Autorität besitzt, bleibt die Frage: Was macht eine Interpretation akzeptabel? Darauf gibt FISH im wesentlichen drei Antworten: 1. Die wissenschaftliche Institution: Jede „Untergemeinschaft“ innerhalb der akademischen Welt hat „ungeschriebene Gesetze“ für die Akzeptanz von Auslegungen (Text, 342f). Wenn manche Auslegungen „undenkbar“ oder „vollkommen absurd“ erscheinen, dann nicht deswegen, weil sie dem ontologischen Anspruch eines Textes nicht gerecht wären, sondern weil noch keine

298

Vgl. dazu seinen Aufsatz „Consequences“, CritInq 11 (1985), 433-458 = Doing, 315-41. 299 Doing, 154: „No theory can compel a change that has not in some sense already occurred.“ Das gilt auch z.B. für das Eindringen der Dekonstruktion in den literaturwissenschaftlichen Diskurs (154f). 300 FISH erzählt eine kurze Geschichte, die auch für Theolog/innen interessant sein dürfte (Doing, 145f): Am Ende eines Semesters bekannte sich ein Student dazu, von der konventionalistischen Sicht FISHS überzeugt worden zu sein, war aber über den Tatbestand, daß ein solcher Wechsel in eine andere AG überhaupt stattfinden konnte, beunruhigt. Da dieser Student selbst Einleitungskurse an der Fakultät unterrichtete, wurde er von FISH gefragt, ob er einen solchen Wechsel vollzogen hätte, wenn die gleichen Ansichten von einem seiner Studenten im Rahmen seines Unterrichts vertreten worden wären. Er antwortete, daß er aller Wahrscheinlichkeit nach den betreffenden Studenten durch rhetorische Verteidigungsstrategien und Immunisierungsversuche „widerlegt“ hätte. Die Anerkennung von Relevanz hängt also in der Struktur wissenschaftlicher Diskussion sehr stark von der akademischen Position der Argumentierenden ab. 301 Doing, 149: „Some of us changed our teaching methods and our research priorities markedly during the Vietnam War; others of us went on as before as if nothing were happening.“

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institutionell abgesegneten Vorgehensweisen entwickelt worden sind, die eine solche Auslegung rechtfertigen könnten (Text, 345)302. 2. Rhetorik: Da es keinen nicht-interpretierten Ausgangspunkt gibt, von dem aus unsere Konstruktionen objektiv beurteilt werden könnten, geht es in der akademischen Welt letztendlich um „beliefs“, also um Glaubensüberzeugungen. Natürlich kann man sich mit anderen Überzeugungen auseinandersetzen, nimmt diese aber stets als fremde, fehlgeleitete, absurde oder partielle Aussagen wahr (Text, 361). Jede Änderung am eigenen „Credo“ wird als ein Fortschritt gegenüber der früheren Position empfunden (Text, 361). Andersdenkende werden daher nicht durch „objektive“ Beweise oder nichtinterpretierte Evidenz, sondern durch den massiven Einsatz rhetorischer Mittel „überzeugt“ (Text, 364f)303. Zu diesem Überzeugungsspiel gehört es zum Beispiel, Aussagen mit Formeln wie „unzweifelhaft“ oder „es gilt als erwiesen, daß…“ zu versehen (Text, 341), eine Position als „neu“, „revolutionär“ oder „radikal“ anzupreisen (Text, 349)304 oder das „neue“ Paradigma als „näher am Text“ oder „näher an der sozialen Realität“ zu bezeichnen (Text, 353f). Nun könnte man meinen, daß das Wissen um das eigene Eingebundensein in Konventionen diesen Impuls zur Absolutsetzung der eigenen Position schwächen sollte, aber FISH zieht genau den umgekehrten Schluß: da es keine Alternative zur Konvention gibt, soll man stets in dem Bewußtsein agieren, daß man absolut im Recht ist (Doing, 3). Kritische Auseinandersetzung wird damit zur selbstbewußten Missionierung Andersdenkender (Text, 359). 3. Macht: Das Definieren von Grenzen, das Durchsetzen von Konventionen innerhalb einer AG ist letztendlich eine Frage der Macht (Doing, 5). Recht hat, wessen AG die meisten „Machtanteile“ hat, wer also am erfolgreichsten die Konkurrenten aus dem Rennen geworfen hat305. Für alle, die denken, daß wissenschaftliche Arbeit von Prinzipien geleitet wird, hat dieser Gedanke etwas Beunruhigendes. Es gibt für FISH aber keine Opposition

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Um seine Argumentation zu stärken, konstruiert FISH eine „Eskimo-Lektüre“ von Faulkners „A Rose for Emily“ (Text, 345-347). Er zieht den Schluß: „The fact that they [= seine konstruierten Fälle, M.M.M.] are ridiculous, or are at least perceived to be so, is evidence that we are never without canons of acceptability; we are always ‚right to rule out at least some readings‘. But the fact that we can imagine conditions under which they would not seem ridiculous, and that readings once considered ridiculous are now respectable and even orthodox, is evidence that the canons of acceptability can change.“ 303 Text, 356-371: „Demonstration vs. Persuasion: Two Models of Critical Activity“. 304 Aber gerade in der permanenten Absetzung von den für ungültig erklärten Positionen ist das „neue“ Paradigma vom „alten“ abhängig und bestätigt ungewollt dessen Autorität (Text, 349). 305 Doing, 10: „Does might make right? In a sense the answer I must give is yes, since in the absence of a perspective independent of interpretation some interpretive perspective will always rule by virtue of having won out over its competitors.“ Vgl. die Artikel „Force“ (503-24), „Fish v. Fiss“ (120-40) und „Still Wrong After All these Years“ (356-71).

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zwischen Prinzipien und Macht (Doing, 11f). Das wird besonders deutlich in seiner kritischen Auseinandersetzung mit der feministischen Unterscheidung zwischen männlichem Denken als „anmaßend“, „ausschließend“ und „totalitär“ und weiblichem Denken als „vorläufig“, „großzügig“ und „flexibel“ (Doing, 16-25). FISH versucht, die Diskrepanz deutlich zu machen zwischen der Überzeugung, daß der männliche Diskurs imperialistisch sei, und der massiven Ausübung von rhetorischer Macht im Feminismus durch die Einführung einer neuen Beschreibungssprache, die die Objektwahrnehmung umwandelt306. 2.11.3 Warum man Stanley FISH nicht kritisieren kann Unzweifelhaft ist, daß man mit FISH II keine Texte auslegen, sondern bestehende Auslegungen auf ihren erkenntnistheoretischen Urgrund zurückführen kann. Die unmittelbare Stärke in seiner Argumentation liegt in manchen m.E. sehr treffsicheren Beobachtungen über die Mechanismen und Strukturen der Interpretation. Der Einfluß von Rhetorik, Institutionen, Konventionen und Macht auf wissenschaftliche Entscheidungsprozesse ist sicherlich auch für die Welt der Theologie eine stark unterschätzte und daher auch kaum diskutierte Problematik. Die totalitäre Rolle der Institution Kirche oder auch der Universität, die der Verlockung zur Einschränkung von Sinnpotentialen und zur „imperialistischen“ Inbesitznahme anderer Leseweisen nur allzu oft nachgegeben haben, kann die Allmacht der Auslegungsgemeinschaft nur auf das eindrücklichste bestätigen. Viele von FISHS scharfsinnigen Analysen könnten etwa im Rahmen einer befreiungstheologischen Stellungnahme zum westlichen wissenschaftlichen establishment ein sehr starkes kritisches Potential entfalten. Bei FISH übernimmt aber die Beschreibung bestehender Zustände nicht die kritische Funktion, diese einer Verbesserung zuzuführen (z.B. im Sinne einer hermeneutischen Öffnung oder einer nicht-hierarchisch strukturierten Fachdiskussion), sondern dient dem simplen Aufweis dessen, was jeder hermeneutischen Aktivität zugrunde liegt und auch immer unwiderruflich zugrunde liegen wird. Mein innerer Widerstand gegen FISH entzündet sich daher weniger an einzelnen beschreibenden Aussagen als vielmehr daran, daß der Sprung von der Empirie zu einer alles übergreifenden Erkenntnislehre die letzte Station seiner Reise ist. FISH ist kein Arzt, der eine Diagnose erstellt, um eine Krankheit zu heilen, sondern ein Gerichtsmediziner, der uns die Au-

306 Doing, 20: „She claims … to be undoing the effects of power and force even as she works new effects by means of a rhetorical skill that could not be more force-fully powerfull.“ Doing, 25: „[T]he feminist vocabulary … has spread everywhere … That is power greater than any theory, and it is the power MacKinnon at once taps and extends in her essays.“

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topsie eines irreversiblen Zustandes vorlegen will307. Dennoch versteht er sein Werk nicht als Totenklage, sondern als Befreiungsruf. Daß jede Interpretation von Voraussetzungen geprägt ist, ist eine der wichtigsten Einsichten der modernen Hermeneutik. FISH hat darüber hinaus gezeigt, daß diese Voraussetzungen immer auch konventionell und soziologisch festgelegt sind. Für die Fragestellung der vorliegenden Arbeit ist demnach die „Entprivatisierung“ der Lektüre im zentralen Begriff der „Auslegungsgemeinschaft“ bedeutsam308. Entgegen der vorherrschenden Tendenz, das lesende Subjekt als Individuum zu konzipieren, kann ich FISHS Betonung, daß Lesen und Verstehen keine subjektiv-individualistische, private Tätigkeit ist, sondern immer schon im Rahmen der Zugehörigkeit zu einer oder mehreren mehr oder weniger stabilen AGen steht, teilen309. Ob man den Einfluß der AG auf die Lektüre allerdings so hoch veranschlagen muß, daß dem Text dabei keine Bedeutung mehr zukommt, ist ein Problem, welches zu lösen die Möglichkeiten dieser Arbeit übersteigt310. Der kritische Umgang mit FISH bleibt aber an der Oberfläche, solange nur einzelne Elemente isoliert diskutiert werden, denn er formuliert seine Theorie so, daß man den Weg entweder ganz mitgeht oder gar nicht erst die Reise antritt und durch eine solche Ablehnung die erkenntnistheoretische Einsicht in die vorauslaufende Allmacht von AGen indirekt wieder bestätigt311. Es gibt demnach keine Kritik, die die Grundpositionen FISHS auch nur im geringsten erschüttern könnte312. Sein Konzept der Autorität der AGen ist so totalitär, 307 Natürlich gründet sich mein Unbehagen mit dem Akzeptieren einer Situation, in der institutionelle Macht und Rhetorik das letzte Wort haben, in einer theologisch begründeten Parteinahme für die Machtlosen. Implizite und explizite Ideale, daß nicht Stillstand, sondern nur Veränderung unserer Welt zum Nutzen gereichen kann, wirken in meine Bewertung ebenso mit hinein. Von alledem kann FISH selbstverständlich sagen, daß es ein Bestandteil des Inventars meiner theologischen und sozio-politischen Überzeugungen ist, die mir von den AGen, die mein Denken konstituieren, diktiert werden. 308 Der Versuch von S.C. SAYE, „The Wild and Crooked Tree: Barth, Fish, and Interpretive Communities“, Modern Theology 12 (1996), 435-458, hermeneutische Ansätze von Karl BARTH auf einer Linie mit FISHS Konzept der Auslegungsgemeinschaft zu deuten, ist zwar interessant, wird aber weder der Variabilität in FISHS Theoriekonzept noch der Komplexität der Ekklesiologie BARTHS gerecht. 309 Doing, 83: „There is no subjective element of reading because the observer is never individual in the sense of unique or private, but is always the product of categories of understanding that are his by virtue of his membership in a community of interpretation.“ Das sind natürlich Aussagen, die in ähnlicher Form bereits viel früher Literatursoziologen gemacht haben. 310 Vgl. die hermeneutischen Abschlußüberlegungen u.S. 375ff. 311 Doing, 2: „[O]nce you start down the anti-formalist road, there is no place to stop.“ 312 FISH greift dieser Beobachtung voraus mit Aussagen wie: „I always succeed.“ (Text, 299) Oder: „[T]he fact that my assumptions are capable of being dislodged does not refute my argument but confirms it, because it is an extension of it“ (Text, 369f). Oder: „[A]ntifoundationalism can be asserted as absolutely true since … there is no argument that holds the field against it.“ (Doing, 30)

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daß jeder Einwand bequem neutralisiert werden kann als ein Argument, das unter dem Diktat der eigenen AG formuliert worden ist. Das heißt, jede kritische Anfrage summiert sich als weitere Evidenz für die Richtigkeit von FISHS Sicht der Dinge. Ein dermaßen geschlossenes System besitzt nach Roland BARTHES eine sehr hohe Überlebenschance313: „Nur diejenigen Systeme … überleben, die erfinderisch genug sind, eine letzte Figur hervorzubringen, eine Figur, die den Gegner mit einer halb-wissenschaftlichen, halbethischen Vokabel kennzeichnet… Das gilt unter anderem für einige Vulgatae: für das marxistische Reden, bei dem jeder Einwand ein Klasseneinwand ist; für das psychoanalytische Reden, bei dem jede Verleugnung ein Geständnis ist; für das christliche Reden, bei dem jede Ablehnung eine Suche ist usw.“

Auch wenn jede von Menschen postulierte Wahrheit das Ergebnis der Interpretationszwänge ist, die eine AG ausübt, bleibt an der Endstation der antiformalistischen Reise eine letzte, nicht mehr zu hinterfragende „Wahrheit“: Jede AG nimmt den Text wahr, der durch die eigenen hermeneutischen Strategien erst hervorgerufen wird (Text, 171). Aus dieser neu bezogenen MetaPerspektive sieht FISH sich selbst und alle seine Kolleg/innen als Gefangene der eigenen Prämissen. Doch paradoxerweise kann man erst dann von Sorge befreit werden, wenn man sich der eigenen Gefangenschaft bewußt wird. Die meisten Ausleger/innen denken, daß sie frei seien, um über ihre Aktivitäten zu entscheiden, aber FISH möchte alle zu der Einsicht führen, daß sie in Wirklichkeit auf einer der vielen miteinander konkurrierenden Bühnen stehen und nichts anderes machen, als die Regieanweisungen jenes Stücks in Szene zu setzen, das gerade auf dieser Bühne aufgeführt wird. Jede/r hat also zu wählen zwischen einer Interpretation, die sich dessen bewußt ist, daß es objektive Tatsachen nur innerhalb der eigenen AG gibt, und einer, die immer noch an die Transzendenz ihrer eigenen Prämissen glaubt (Text, 167). Diese konventionalistische Sicht macht nicht nur die Beschäftigung mit hermeneutischer Theorie, sondern auch die Auslegung von Texten überflüssig. Sie reduziert den gesamten philosophischen Bereich auf die Ausübung von Rhetorik. FISHS Rhetorik ist streckenweise so ansprechend, daß man dabei zuweilen gewillt sein könnte, über das Fehlen von begründenden Argumenten hinwegzusehen. Die rhetorische Kraft ist nicht nur dem eleganten und unterhaltsamen Stil zu verdanken, sondern vor allem dem Umstand, daß FISH Prämissen, die zur Zeit in der anglo-amerikanischen Literaturtheorie in Umlauf sind, geschickt für seine Theoriebildung zu nutzen weiß. So rechnet er damit, daß sich die meisten seiner Leser/innen auf seine Verteufelung des „Formalismus“ oder des „New Criticism“ einlassen werden314. Das heißt: Entweder vertritt 313 BARTHES, Lust am Text, 45. 314 FISHS Argumentation verläßt

sich immer wieder auf die einfache Gleichung, daß alles am „New Criticism“ zu verwerfen sei. Wenn er also nachweisen kann, daß ein theoretischer

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man die Sicht, daß der Text aus seinen objektivierbaren Formelementen heraus mit „Sinn-Materie“ behaftet ist, oder man schließt sich FISHS radikal anti-formalistischer Sicht an und behauptet, daß Bedeutungen nur sozio-pragmatische Eintragungen von AGen sind. Sicherlich hat FISH bedenkenswerte Beobachtungen gegen einzelne formalistische Konzepte vorgetragen. Fragt man allerdings nach einer philosophischen Begründung seiner eigenen, immerhin sehr weitreichenden Thesen, so ergibt sich ein ungleich mageres Bild315. Die Verbindung von rhetorischer Höchst- und philosophisch-argumentativer Mindestleistung läßt dieses Modell als ein literaturtheoretisches Glaubensdogma erscheinen, daß man entweder durch einen „Glaubenssprung“ annimmt oder nicht. Durch seine treffenden Beobachtungen lerne ich von FISH sicherlich, wie es ist, aber ich erfahre nicht auf begründete Art und Weise, warum es so sein muß. Die Welt des Verstehens, wie sie FISH beschreibt, ist sichtlich eine, in der er sich selbst wohl fühlt. Ohne jede Scheu setzt er sich als Vorbild für diese Art kritischer Aktivität in Szene (Text, 368f). Als kritischer Denker ist er nicht beweisender Philosoph, sondern Missionar und Werbestratege in eigener Sache. Die kritische Diskussion wird bei FISH mitunter auch zu einem Akt der Selbstdarstellung (Doing, 21)316. Ein besonders wirkungsvolles Element von FISHS „Werbekampagne“ ist seine metakritische Distanzierung in Is there a Text?. Wenn man bedenkt, daß der eigentliche Mangel seiner „affektiven Stilistik“ die Beibehaltung eines stabilen Textbegriffes war, dann hätte die Geschichte auch so enden können, daß FISH diesen einen Punkt seiner Theorie im Sinne seiner neuen Erkenntnisse umformuliert. Was er aber tatsächlich daraus macht, ist, die Eigenkritik dazu zu nutzen, um sich stellvertretend für alle an den Pranger zu stellen. Dadurch gewinnt er nicht nur an Glaubwürdigkeit, sondern macht es praktisch all denen unmöglich, die mit seinem früheren Modell sympathisierten, weiter daran festzuhalten. Bildlich gesprochen: FISH hat viele zu einer Feier auf sein Schiff kommen lassen und erst dann die antiformalistische Kursroute festgesetzt. Doch die FISH’sche Rhetorik ist nicht gerade durch pluralistische GroßzüAspekt bereits im „New Criticism“ vertreten wurde, gilt für ihn die Argumentation als abgeschlossen. Da in der aktuellen Situation der „New Criticism“ wie eine ansteckende Krankheit von jedermann/frau gemieden wird, ist FISHS Rhetorik sicherlich eine starke Durchschlagskraft beschieden. Sollte es einmal aber – was nicht auszuschließen ist – zu einer Wiederbelebung des „New Criticism“ kommen, werden die Schriften FISHS vieles ihrer argumentativen Kraft einbüßen. 315 THISELTON, New Horizons, 540-46 zeigt in einer interessanten Gegenüberstellung zwischen FISH und WITTGENSTEIN, wie dürftig manche seiner Prämissen formuliert sind. 316 Es läßt sich ohne Übertreibung behaupten, daß für FISH zwischen einem NummerEins-Hit in der vergänglichen Modewelt der Popmusik und der Durchsetzung einer kritischen Meinung im Bereich des wissenschaftlichen Diskurses kein struktureller Unterschied besteht. In der Tat spricht FISH von einer „hit parade of theory“ (Doing, 28).

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gigkeit, sondern vielmehr durch erbitterte Konfrontation gekennzeichnet (vgl. Doing, 21). Wenn man FISH liest, erscheinen einem die Humanwissenschaften als ein Schauplatz kriegerischer Auseinandersetzungen, wobei mittels rhetorischer „Aufrüstung“ dem Gegner Angst eingeflößt werden soll317. Der auffällige Gebrauch militärischer Metaphern verleitet allzu leicht dazu, sich die literaturtheoretische Welt als einen zwei-dimensionalen Kreis zu denken, der nur in zwei Hälften aufgeteilt werden kann. Denkt man eher an ein mehrdimensionales Gebilde, dann können sich weitaus mehr als zwei Seiten gegenüberstehen. Die Vorstellung von zwei Extremen und einer Mittelposition, in die man ISER, JAUSS, ECO u.v.a.m. bequem einordnen könnte, ist für eine Kritik weit offen. Was aber FISH anbelangt, so schreibt er Polemik, und Polemik baut auf solchen einfachen Positionszuweisungen auf. Kritiker/innen, die wie ISER einander gegenüberstehende Meinungen zu integrieren versuchen, erscheinen in diesem simplizistischen Schwarz-Weiß-Modell in der Rolle eines Doppelagenten318. Der teilweise aggressive Ton der vielen Auseinandersetzungen FISHS mit anderen Kritiker/innen läßt die Sprache eines „Konvertiten“ erkennen, der früher auch so oder ähnlich dachte, jetzt aber meint das ganze System „durchschaut“ zu haben und von daher zur „Umkehr“ ruft319. Am verblüffendsten dürfte aber wohl die Erkenntnis sein, daß eine solche „Umkehr“ absolut nichts an der eigenen Praxis ändert320. Die große Dramatik seiner Überzeugungsrhetorik erscheint geradezu als eine Verschwendung angesichts dieser Tatsache. FISH spricht diesen Sachbestand mit voller Klarheit an: „[W]hen you get to the end of the anti-formalist road nothing will have changed except the answers you might give to some traditional questions in philosophy and literary theory. Moreover, nothing will have changed by virtue of the realization that nothing will have changed.“ (Doing, 26)

Auch im Bereich der Ethik oder der Politik hat sein Modell keinerlei Konsequenzen (Doing, 156). Wichtige Fragen bleiben aber unbeantwortet: 1. Die Frage nach dem „Sinn der Interpretation“ ist virulent: Wenn die AG die einzige sinnsetzende Instanz jeder hermeneutischen Aktivität ist, wozu überhaupt Texte lesen und Texte schreiben, wozu handeln und zum Handeln aufrufen, wozu Theorien entwerfen und anwenden? Wenn die Wirkung sol317

Der Titel seiner vernichtenden Kritik am Werk Wolfgang ISERS ist vielsagend: „Why No One’s Afraid of Wolfgang Iser“ (Doing, 68-86). 318 Vgl. z.B. Doing, 68: „Iser is … a phenomenon: he is influential without being controversial, and at a moment when everyone is choosing up sides, he seems to be on no side at all or (it amounts to the same thing) on every side at once.“ 319 THISELTON, New Horizons, 522-23; S.R. HORTON , „The Experience of Stanley Fish’s Prose on The Critic as Self-Creating, Self-Consuming, Artifices“, Genre 10 (1977), 449.452. 320 FISH hält weiterhin an seiner „affektiven Stilistik“ fest. Er hält sie sogar für „überlegen“, weil sie als geschlossenes System kohärenter als andere Methoden ist (Text, 179f).

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cher Aktivitäten nur der Reaffirmierung der eigenen AG dient, warum können AGen anscheinend nicht auf Texte, Handlungen und theoretische Erklärungsmodelle verzichten? 2. Das Phänomen „FISH“ wirft selbst eine Frage auf: Wie ist es nur möglich, daß jemand, der immer im Tümpel der Konventionen seiner eigenen AG schwimmt, die Regeln hinter dem „System“ durchschauen kann? Wie kann sich jemand am eigenen Schopf aus dem Sumpf ziehen und alles „von oben“ überblicken, um dann fröhlich wieder dorthin zurückkehren? Und wenn FISH uns tatsächlich eine Geschichte „münchhausener Art“ erzählt, wie läßt sich ihre Richtigkeit falsifizieren? Andererseits argumentiert FISH für seine Position auf der gängigen Grundlage eines intersubjektiven Geltungsanspruchs und anerkennt damit die Gültigkeit von Wahrheit, Wahrhaftigkeit und Richtigkeit321. 3. Eine weitere Frage betrifft den heuristischen Wert der Theorie der AGen: Wenn es, wie FISH uns versichert, unendlich viele AGen gibt und diese zusätzlich in einem ständigen Modifizierungsprozeß verwickelt sind und wenn jeder Mensch von vielen, unterschiedlichen AGen konstituiert wird, dann kann sich die gesamte Theorie leicht als obsolet erweisen. AGen wären kaum wirklich objektivierbar; sie blieben wie die Leibniz’schen Monaden ein philosophisches Phantom. Vieles von dem, was FISH mit dem Begriff „AG“ ausdrücken will, wäre m.E. mit der modernen Vorstellung der „multiplen Identität“ treffender beschrieben. 4. Wenn das Denken einer jeden Person von unendlich vielen AGen strukturiert wird und zwischen den Strategien der einzelnen AGen Spannungen entstehen können, durch welchen Mechanismus werden bestimmte Strategien privilegiert? Mit anderen Worten: Wenn man schon nicht frei ist, um sich für eine oder eine andere Auslegung zu entscheiden, ist man dann nicht frei, um wenigstens zwischen den AGen, denen man angehört, zu entscheiden? 5. Vieles, was FISH über AGen sagt, erinnert stark an das moderne Verständnis von Sprache: Es gibt verschiedene Sprachebenen und -gruppen, aber keine Sprache ist näher an der von ihr ausgedrückten (oder durch sie konstituierten) Wirklichkeit als eine andere. Die Sprache verbindet Menschen zu Gemeinschaften und grenzt zugleich von anderen Gemeinschaften ab. Niemand braucht seine Sprache neu zu erfinden, sondern jeder denkt a priori in einer Sprache. Sprachliches Handeln folgt bestimmten Regeln und Konventionen. Die Durchsetzung einer Sprache in mehrsprachlichen Gebieten ist oftmals machtpolitisch bedingt. Das Entstehen und der Wandel von Sprache folgt kei321 Vgl. zu diesem grundlegenden Dilemma jedes argumentierenden Skeptikers oder Relativisten K.-O. APEL, „Ist Intentionalität fundamentaler als sprachliche Bedeutung? Transzendentalpragmatische Argumente gegen die Rückkehr zum semantischen Intentionalismus der Bewußtseinsphilosophie“, Intentionalität und Verstehen, hg. Forum für Philosophie Bad Homburg (Frankfurt a.M., 1990), 51.

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nen determinierten Regeln, sondern ist kontingent. Leider geht FISH weder auf das Phänomen der Sprache noch auf die Interrelation, die zwischen seinem Konzept der AG und dem Phänomen Sprache ganz offensichtlich besteht, ein. Zu fragen wäre, inwiefern das Postulat, daß ein Text keine Bedeutung in sich habe, nicht eine Aussage über die Sprache als solche ist. Da wir aber hinter die Sprache nicht zurückkönnen, bleibt der Text immer in der Sprache situiert und kann aufgrund dessen über sein eigenes interpretatorisches Schicksal mitbestimmen322. D.h.: Die Situation, die für FISH grundlegend ist, um den „wörtlichen“ Sinn eines Textes zu determinieren, ist nicht nur eine äußerliche Variable, wie FISH meint, sondern auch eine innertextuelle Konstante, die sich in der Sprache des Textes manifestiert. Texttheoretisch würde ich im Gegenzug zu FISH festhalten, daß der Aspekt der Auslegungskonstanz in der Sprache des Textes verankert ist, während der Aspekt der Auslegungsfluidität in der außertextuellen Situiertheit des auslegenden Subjekts seinen Grund hat. Beide Aspekte sind nicht zu isolieren, denn sie wirken in der Sprechhandlung stets zusammen323. Dann wäre das Modell der AG nicht mehr als grundlegende erkenntnistheoretische Konzeption, sondern als ein soziologisches Beschreibungsinstrument zu verwenden. 6. Die vielleicht schwerwiegendste Frage stellt FISH selbst: Wenn Intention, Form und die Gestalt der Lektüreerfahrung alle nur verschiedene Wege sind, um sich auf den gleichen hermeneutischen Akt zu beziehen, was wird in diesem Akt eigentlich interpretiert?324 Die Gefahr des Monismus liegt gerade im Verschwinden der Subjekt-Objekt-Dialektik. Es gibt aber bei diesem radikal anti-formalistischen Modell kein Objekt mehr. FISH selbst kann auf diese Frage keine Antwort geben, ist aber überzeugt, daß dies auch niemand anders tun kann (Doing, 165). Hier sei Wolfgang ISER in seiner Replik auf FISH ausführlicher zitiert325: „[I]nterpretation would be useless if it were not meant to open access to something we encounter. Interpretation is always informed by a set of assumptions or conventions, but these are also acted upon by what they intend to tackle. Hence the ‚something‘ which is to be mediated exists prior to interpretation, acts as a constraint on interpretation, has repercussions on the anticipations operative in interpretation, and thus contributes to a hermeneutical process, the result of which is both a mediated given and a reshuffling of the initial assumptions. Professor Fish, however, creates a new hermeneutics by fusing interpretation and that which is to be interpreted into an indistinguishable whole, thus replacing the gi322 GADAMER, Wahrheit und Methode, 392: „Vielmehr ist die Sprache das universale Medium, in dem sich das Verstehen selber vollzieht.“ Vgl. zum Textbegriff GADAMER, Hermeneutik II, 330-60. 323 Vgl. dazu E. RUNGGALDIER, Analytische Sprachphilosophie (Stuttgart, 1990). 324 Doing, 165: „[I]f intention, form, and the shape of the reader’s experience are simply different ways of referring to … the same interpretive act, what is that act an interpretation of?“ 325 W. ISER, „Talking Like Whales“, Diacritics 11 (1981), 84.

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ven by interpretation itself.“

Schaut man in die Geschichte der abendländischen Philosophie, dann könnte man bei Stanley FISH von einer „neuen Sophistik“ sprechen. Die Kombination von erkenntnistheoretischem Skeptizismus und dem von keinerlei ethischen oder politischen Maßstäben eingeschränkten Einsatz aller rhetorischen Mittel war bereits charakteristisch für die Sophisten im alten Griechenland, wie etwa Protagoras oder Gorgias326. In der Retrospektive erscheinen diese Positionen als mehr oder weniger anregende Denkspiele, die es aber nie geschafft haben, länger anhaltenden Erfolg zu haben327. FISHS Modell ist einerseits so umfassend, daß es alles zu erklären und immer das letzte Wort zu haben vermag, andererseits ist es nach seinem eigenen Selbstverständnis nicht in der Lage, das Geringste an der bestehenden Auslegungspraxis zu ändern. Ich kann diese kritische Auseinandersetzung daher mit der Frage abschließen: „So what?!“

2.12 Exkurs 2: Die Wirkung von Texten in der antiken Literaturtheorie Aus der unbestreitbaren Tatsache, daß leserorientierte Fragestellungen einen relativ jungen Ast am Baum der Literaturwissenschaft bilden, läßt sich nicht schließen, daß die Frage nach der Wirkung eines Textes nicht im Blickfeld antiker Literaturschaffender gestanden hätte. Die Vorstellung eines autonomen Kunstwerks war der Antike fremd. Es läßt sich viel eher bereits für die frühe griechische Lyrik nachweisen, daß sie dialogisch auf ein Publikum ausgerichtet war328. Ein kurzer Überblick über die antike Poetik, Rhetorik, Geschichtsschreibung und die Implikationen biblischer Texte soll diesen Sachverhalt etwas erhellen:

326

Wenn G.A. K ENNEDY, „Language and Meaning in Archaic and Classical Greece“, CHLC 1 (1989), 83 von den Sophisten schreibt „The sophists as a group thus privileged nomos, or convention, over phusis or nature, and did so with éclat“, dann erinnert dies unweigerlich an die Position FISHS. 327 U. ECO, Zwischen Autor und Text (Edition Akzente; München, 1994), 75 sieht in vielen sozio-pragmatischen und dekonstruktionistischen Lektüren „ein brillantes Spiel mit philosophischen Paradoxa …, ohne zu vergessen, daß Zenon zwar die Realität der Bewegung widerlegte, sich aber stets bewußt blieb, daß er hierbei wenigstens seine Zunge und seine Lippen bewegen mußte.“ 328 Vgl. W. RÖSLER, Dichter und Gruppe: Eine Untersuchung zu den Bedingungen und zur historischen Funktion früher griechischer Lyrik am Beispiel Alkaios (Theorie und Geschichte der Literatur und der schönen Künste: Texte und Abhandlungen 50; München, 1980).

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2.12.1 Poetik Die Frage nach der Wirkung von geschriebener oder gesprochener Sprache auf das rezipierende Subjekt war bereits in der klassischen Antike Gegenstand theoretischer Überlegungen329. Zwei Extrempositionen standen sich anfangs gegenüber: Auf der einen Seite die Sophisten, die aufgrund ihres radikalen erkenntnistheoretischen Relativismus auf jegliche Art ethischer oder metaphysischer Kriterien verzichteteten und der ungehemmten Beeinflussung der Menschen durch Rede und Dichtung freien Lauf gewährten330; auf der anderen Seite PLATON, der sich besonders im zehnten Buch seines Staates (Polit. X 595a-608b) mit dem Wesen der Dichtung aus der Perspektive seiner Ideenlehre befaßt hat: Während die Handwerker unvollkommene Abbilder vollkommener Ideen herstellen, stehen die Produkte der Maler und Dichter an der untersten Stufe wesenhafter Vollkommenheit, weil es sich dabei um Trugbilder von Abbildern von Ideen handelt. Diese radikal-ontologische Verdammung der Dichtung geht Hand in Hand mit der empirischen Beobachtung, daß die Dichtung mit ihren unwahren Geschichten nur an die niederen Kräfte der Seele, an die Triebe und Leidenschaften, appelliere und Leser oder Zuschauer in einen Sog jämmerlicher Gefühlswirrungen hinabreiße. Durch die Dichtung sieht PLATON sein Grundideal der Leidenschaftslosigkeit (hapáqeia) gefährdet331. Die Poetik des ARISTOTELES, die wahrscheinlich um das Jahr 355 v. Chr. verfaßt wurde und wie die meisten uns erhaltenen Schriften dieses Philosophen nur zum Gebrauch innerhalb der Schule gedacht war, ist zwar vor der italienischen Hochrenaissance kaum rezipiert worden, gewinnt aber ihr Interesse daher, daß es sich dabei möglicherweise um die erste wissenschaftliche Monographie zur allgemeinen Dichtungstheorie handelt, und weil viele der

329 In Platos fingiertem Gespräch zwischen Sokrates und dem Rhapsoden Ion beschreibt Ion selbst die Reaktion seiner Zuhörer, „wie sie weinen und furchtbar umblicken und mitstaunen über das Gesagte“ (Ion 535e = Eigler/Schleiermacher, I, 20f). 330 Der Sophist Gorgias schreibt in seiner Musterrede Helena (frg. 11,8-9 = Buchheim, 8f): „Rede ist ein großer Bewirker (lógoß dunástjß mégaß hestín); mit dem kleinsten und unscheinbarsten Körper vollbringt sie göttlichste Taten: vermag sie doch Schrecken zu stillen (fóbon paüsai), Schmerz zu beheben (lúpjn hafeleïn), Freude einzugeben (caràn henergásasqai) und Rührung [oder besser: „Jammer“; M.M.M.] zu mehren (‘eleon hepaux¨jsai)… Die gesamte Dichtung (t`jn poíjsin “apasan) erachte und bezeichne ich als Rede, die ein Versmaß hat. Von ihr aus dringt auf die Hörer (toùß hakoúontaß) schreckenerregender Schauder (fríkj perífoboß) ein und tränenreiche Rührung [oder besser: „Jammer“; M.M.M.] (‘eleoß polúdakruß) und wehmütiges Verlangen (póqoß filopenq´jß), und in Fällen von Glück und Unglück für fremde Angelegenheiten und von fremden Personen leidet die Seele stets vermittelt durch Reden ein eigenes Leiden (‘idión ti páqjma dià t¨wn lógwn ‘epaqen Hj yuc´j).“ 331 Zur platonischen Dichtungstheorie vgl. G.F. ELSE, Plato and Aristotle on Poetry (Chapell Hill, NC, 1987); G.R.F. FERRARI, „Plato and Poetry“, CHLC 1 (1989), 92-148.

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darin vertretenen Positionen um eine Synthese zwischen den beiden eben genannten Extrempositionen bemüht sind332. Gleich im ersten Satz gibt ARISTOTELES Auskunft über den Gegenstand seiner Poetik: Die Darstellung der „Dichtkunst“ (perì poijtik¨jß) umfaßt „ihre Gattungen“ (t¨wn e˙d¨wn ahut¨jß)333 samt einer Beschreibung der „Wirkung“ jeder einzelnen (tina dúnamin “ekaston ‘ecei) und der literarischen „Zusammenfügung“ der verschiedenen „Handlungsstränge“ (p¨wß deï sunístasqai toùß múqouß). Modern gesprochen, besteht seine Poetik aus einem deskriptiven Teil der Gattungskritik und einem präskriptiven Teil der Kompositionskritik334. Der Hauptteil der uns erhaltenen Fassung handelt von der Tragödie (Kap. 6-22), die ARISTOTELES für die wichtigste Gattung hält. Die gattungsinhärente Wirkung der Tragödie besteht darin, durch das Hervorrufen von „Jammer und Schaudern eine Reinigung von derartigen Erregungszuständen“ zu bewirken 335. Der Begriff der Katharsis wurde sowohl im Kult für die „rituelle Purifikation“ als auch in der Medizin als Terminus technicus für die „Purgierung“ gebraucht 336. Die Reinigung und Entschlackung negativer Seelenzustände

332 Was die Einleitungsfragen zur Poetik anbelangt, richte ich mich nach Fuhrmann, „Nachwort“, Aristoteles: Poetik, 144-78 (150-55 zur Entstehungszeit; 155-61 zum Verhältnis Aristoteles-Platon; 173-8 zur Überlieferung und Rezeption). 333 Die verschiedenen Gattungen, die er zu behandeln gedenkt, sind die Tragödie, die Epik, die Komödie und die Dithyrambendichtung. Leider ist der zweite Teil des Werkes mit den Ausführungen zur Komödie nicht erhalten, was zwar Anlaß zu ECOS schönen Rosenroman gegeben hat, aber dennoch vor allem deswegen zu bedauern ist, weil sich dort aller Wahrscheinlichkeit nach wichtige Aussagen zum Konzept der „Katharsis“ befanden. 334 Interessant für die Fragestellung dieser Arbeit ist nicht nur der hohe Stellenwert, den Aristoteles der Wirkung von Dichtung zuerkennt, sondern vor allem, daß er im Gegensatz zu seinem Lehrer Platon von einer solchen Wirkung sprechen kann, ohne sie gleich negativ zu qualifizieren. 335 1449b (= Fuhrmann, 19): dih heléou kaì fóbou peraínousa t`j n t¨wn toioútwn paqjmátwn káqarsin. Vgl. 1452a-1452b; 1453b (= Fuhrmann, 35). Aufgrund der Aristoteles-Rezeption Lessings hat sich im Deutschen das Begriffspaar „Mitleid und Furcht“ als irreführende Wiedergabe von ‘eleoß und fóboß eingebürgert. Folgt man der Beschreibung der Gefühlsregungen in der aristotelischen Rhetorik, dann bezeichnet ‘eleoß „ein gewisses Schmerzgefühl über ein in die Augen fallendes, vernichtendes und schmerzbringendes Übel, das jemanden trifft, der nicht verdient, es zu erleiden, das man auch für sich selbst oder einen der unsrigen zu erleiden erwarten muß“ (Rhet, II,8 = 1385b = Sieveke, 109), und fóboß „eine gewisse Empfindung von Unlust und ein beunruhigendes Gefühl, hervorgegangen aus der Vorstellung eines bevorstehenden Übels, das entweder verderblich oder doch schmerzhaft ist“ (II,5 = 1382a = Sieveke, 98). Vgl. zum Sprachproblem die wichtigen Aufsätze von W. SCHADEWALDT, „Furcht und Mitleid?“ Hermes 83 (1955), 129-171 = Hellas und Hesperien (Zürich, 21970), I, 194-236 und M. POHLENZ, „Furcht und Mitleid?“ Kleine Schriften (Hildesheim, 1965), II, 562-587. 336 Vgl. Fuhrmann, „Nachwort“, 164. Den kultischen Hintergrund des Katharsis-Begriffes im Sinne einer psychisch-emotionalen Reinigung betont H. KOLLER, Die Mimesis in der Antike (Bern, 1954), 119. Daß zentrale Termini der aristotelischen Tragödiendefinition aus der medizinischen Fachsprache stammen, ist von H. FLASHAR herausgestellt worden: „Die medizinischen Grundlagen der Lehre von der Wirkung der Dichtung in der griechischen Poetik“, [1956] Eidola: Ausgewählte Kleine Schriften, hg. M. Kraus (Amsterdam, 1989), 109-45.

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findet also in der ästhetischen Erfahrung statt337. Eben darin besteht letztendlich das persönliche „Vergnügen“ der Tragödie338. Da aber „Jammer und Schaudern“ das eigentliche Telos der Gattung „Tragödie“ sind, darf sie keine Wirkungselemente der Komödie oder billige „thrills“, die nur Grauen erregen sollen, enthalten339. Die Wirkung geht vom Text aus und ist vor allem eine Sache der Melodik der Verse340, der rhetorisch-sprachlichen Anlage341, aber auch der tragischen Handlung, besonders der „Peripetien und Wiedererkennungen“342. Damit sind tragische Handlungsumschwünge und Szenen der Wiedererkennung, wie sie in der antiken Tragödie üblich waren, gemeint343. D.h. „Jammer und Schaudern“ stellen sich vor allem dann ein, wenn „Ereignisse wider Erwarten eintreten“344. Es ist deutlich, daß für ARISTOTELES die Erwartungshaltung der Rezipienten ausschlaggebend für das Erreichen einer kathartischen Wirkung ist. Wie sehr Aristoteles den Empfänger im Blick hat, machen auch seine kompositionskritischen Anweisungen deutlich; so z.B., daß die tragische Handlung Dimensionen annehmen sollte, die sich dem Gedächtnis leicht einprä337

Vgl. B. GARBE, „Die Komposition der aristotelischen ‚Poetik‘ und der Begriff der Katharsis“, Euphorion 74 (1980), 312-332. S. HALLIWELL, „Aristotle’s poetics“, CHLC 1 (1989), 163f betont zu Recht, daß es bei der Katharsis nicht nur um eine rein emotionale Erfahrung geht, sondern daß die Implikationen ganzheitlicher Natur sind, also auch kognitive und moralische Elemente in den Blick geraten. 338 1451b (= Fuhrmann, 31): ehu fraínw; 1453b (= Fuhrmann, 43): Hjdon´j . 339 1453a (= Fuhrmann, 41): „Doch diese Wirkung ist nicht das Vergnügen, auf das die Tragödie zielt; sie ist vielmehr eher der Komödie eigentümlich.“ 1453b (= Fuhrmann, 43): „Und wer gar mit Hilfe der Inszenierung nicht das Schauderhafte, sondern nur noch das Grauenvolle herbeizuführen sucht, der entfernt sich gänzlich von der Tragödie. Denn man darf mit Hilfe der Tragödie nicht jede Art von Vergnügen hervorzurufen suchen, sondern nur das ihr gemäße.“ 340 1449b (= Fuhrmann, 19): „Ich verstehe … unter Melodik das, was seine Wirkung (t`j n dúnamin) ganz und gar im Sinnlichen entfaltet“. Daß Wirkung eine Frage der Melodik ist, wird daran deutlich, daß „die Wirkung der Tragödie“ (Hj t¨j ß trag^wdíaß dúnamiß) für Aristoteles auch ohne Aufführung und Schauspieler zustande kommt (1450b = Fuhrmann, 25), d.h. auf rein sprachlichem Wege. 341 1456a-1456b (Fuhrmann, 61): „Zur Gedankenführung gehört, was mit Hilfe von Worten zubereitet werden soll. Teile davon sind das Beweisen und Widerlegen und das Hervorrufen von Erregungszuständen (tò páqj paraskeuázein), wie von Jammer oder Schaudern oder Zorn und dergleichen mehr… Es ist offensichtlich, daß man auch bei den Geschehnissen (hen toïß prágmasin) von denselben Verfahren Gebrauch machen muß, wenn es darum geht, diese Geschehnisse als jammervoll oder furchtbar oder groß oder wahrscheinlich hinzustellen. Allerdings besteht insofern ein Unterschied, als sich diese Wirkungen bei Geschehnissen ohne lenkende Hinweise (‘aneu didaskalíaß) einstellen müssen, während sie bei allem, was auf Worten beruht, vom Redenden hervorgerufen und durch die Rede erzeugt werden müssen. Denn welche Aufgabe hätte der Redende noch, wenn sich die angemessene Wirkung auch ohne Worte einstellte?“ Fuhrmann, 127: „Der Redner findet den Stoff vor, mit dem er sich befaßt; er kann ihm nur mit Hilfe der Darstellungsweise die erstrebten Wirkungen abzugewinnen suchen.“ 342 1450a (= Fuhrmann, 23): „Außerdem sind die Dinge, mit denen die Tragödie die Zuschauer am meisten ergreift, Bestandteile des Mythos [gemeint ist der Handlungsstrang oder „plot“, M.M.M.], nämlich die Peripetien und die Wiedererkennungen.“ (Pròß dè toútoiß tà mégista oˆiß yucagwgeï Hj trag^wdía toü múqou mérj hestín, a“i te peripéteiai kaì hanagnwríseiß). Vgl. a. 1452a-1452b (= Fuhrmann, 35-37). 343 Vgl. dazu besonders die Kapitel 11 und 16 der Poetik. 344 1452a (= Fuhrmann, 33): “otan génjtai parà t`j n dóxan.

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gen345. In seinen praktischen Anweisungen für die Verknüpfung von Handlungssträngen (Kap. 13) geht es vor allem darum, der Tragödie zu ihrer Wirkung zu verhelfen, wobei der Dichter sich aber davor hüten soll, den Wünschen des Publikums zu folgen. Die Handlung soll an sich so wirkungsvoll sein, daß die Wirkung nicht erst von der Aufführung abhängt, sondern sich bereits bei bloßem Hören einstellt346.

Im Mittelpunkt der aristotelischen Poetik stehen keineswegs bestimmte Produktionsvorgänge (die „Mimesis“ im Sinne der klassischen Nachahmungspoetik), sondern die Affekte347. In allen seinen Einzeldiskussionen „geht es um die Beeinflussung des Zuschauers, und deshalb argumentiert ARISTOTELES eben auch so gut wie ausschließlich wirkungsästhetisch“348. So wird z.B. die Überlegenheit der Tragödie gegenüber dem Epos damit begründet, daß diese „ihre Wirkung besser erreicht als jenes“349. Philosophische Voraussetzung für diese Umgewichtung gegenüber der gründsätzlichen Ablehnung der Dichtkunst und der Musik durch seinen Lehrer, PLATON, ist der Verzicht auf die platonische Erkenntnistheorie, „die alles Erkennen von den transzendenten Ideen herleitet“ und die dadurch bedingte Neubewertung der Empirie350. ARISTOTELES rechnet im Gegensatz zu PLATON „mit Kräften, die man trotz ihrer Gefährlichkeit zu guten Zwecken verwenden könne, die hierfür sogar unentbehrlich seien – wie die Gifte, deren sich die Medizin zur Wiederherstel345 1451a (= Fuhrmann, 27). 346 1453b (= Fuhrmann, 41-43):

„Denn die Handlung muß so zusammengefügt sein, daß jemand, der nur hört und nicht auch sieht, wie die Geschehnisse sich vollziehen, bei den Vorfällen Schaudern und Jammer empfindet. So ergeht es jemandem, der die Geschichte von Ödipus hört. Diese Wirkungen durch die Inszenierung herbeizuführen, liegt eher außerhalb der Kunst und ist eine Frage des Aufwandes.“ 347 J.H. P ETERSEN, „‚Mimesis‘ versus ‚Nachahmung‘: Die Poetik des Aristoteles – nochmals neu gelesen“, Arcadia 27 (1992), 3-46 ist ein teilweise unnötig polemisches Plädoyer gegen den Hauptstrom der Aristoteles-Übersetzungen, die mímjsiß mit „Nachahmung“ wiedergeben. Insgesamt haben mich seine vor allem sprachlogischen Argumente für den Translationsterminus „Darstellung“ überzeugt. Er zeigt weiterhin auf, daß man die Poetik des Aristoteles weder, wie allgemein angenommen, für einen künstlerischen Realismus, der die Kunst als strikte, reproduzierende Imitation der Natur versteht, noch für einen künstlerischen Absolutismus, der sich der Natur nicht verpflichtet weiß, reklamieren darf. Die Interessen des Aristoteles sind so eindeutig wirkungsästhetischer Natur, daß die Frage nach der Heteronomie oder Autonomie von Kunst schlicht unbeantwortet bleibt. 348 PETERSEN, „‚Mimesis‘“, 41. „Es ist eigentlich nicht zu verkennen, daß Aristoteles so gut wie gar nicht nach der Herkunft der Dichtung, sondern fast ausschließlich nach ihrer Wirkung fragt, von dieser aus ihr Wesen und die erforderlichen Eingriffe, Zurichtungen, Techniken erörtert; aber man hat das bisher nicht in der notwendigen Entschiedenheit erkannt.“ (43) HALLIWELL, „Aristotle’s poetics“, 162f: „It is … legitimate to suggest that the Poetics presents us with the kernel of a theory of specifically ‚aesthetic‘ pleasure… It is important to stress that the emotional element in the pleasurable experience of tragedy is not something which supervenes on the cognition of a poem’s content, but an integral part of the total experience.“ 349 1462b (= Fuhrmann, 97): “oti kreíttwn ’a n e‘ ij mällon toü télouß tugcánousa t¨jß hepopoiíaß. 350 H. DÖRRIE, „Aristoteles“, KP 1 (1975), 581-91:590.

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lung der Gesundheit bediene… Dichtung – darauf läuft seine Lehre hinaus – steckt nicht an, sondern impft.“351 Wir können also sagen, daß die wohl erste wissenschaftliche Dichtungstheorie der Antike grundsätzlich wirkungsästhetisch orientiert war. Doch steht die aristotelische Poetik nicht vereinzelt in der Landschaft da. Ähnlich äußert sich HORAZ in seiner Dichtkunst: „Es genügt nicht, daß Dichtungen schön (pulchra) sind; sie seien gewinnend, sollen den Sinn des Hörers lenken, wohin sie nur wollen (volent animum auditoris agunto).“ (De Arte Poetica, 99-100 = Schäfer, 10f)352

Das nicht eindeutig datierbare stilkritische Werk PSEUDO-LONGINOS, Vom Erhabenen befaßt sich mit schriftlichen Texten unter dem Aspekt des Pathos, des Erhabenen, der Größe. Es definiert künstlerische Vollkommenheit nicht einfach über die perfekte Nachahmung klassischer Vorbilder (wie etwa Homer), sondern über das Urteil der Rezipienten353. Auch der Nutzen von Frage und Antwort wird über die persuasive Wirkung auf die Hörer bewertet (18,2). So kann die Wirkung der Wortfügung bezeichnenderweise mit der Wirkung von Musik verglichen werden (39,2-4). 2.12.2 Rhetorik Selbst eine kursorische Lektüre zeigt, daß sich auf dem Gebiet der Rhetorik die skeptisch-abschätzige Sicht PLATONS nicht durchsetzen konnte354. Daß die Sophisten ein besonderes Interesse an der rhetorischen Beeinflussung ihrer Zuhörerschaft hatten, ist bekannt355. In solchen Kreisen wurde die rhetorische 351

FUHRMANN, „Nachwort“, 160f. Zur moralischen Wirkung der Dichtung vgl. M. FUHR„‚Wie die jungen Leute die Dichter auffassen sollen‘: Dichtung als Norm“, Wahrheit der Schrift – Wahrheit der Auslegung (FS G. Ebeling), hg. H.F. Geißer u.a. (Zürich, 1993), 125-158. 352 Der antike Horaz-Kommentator Pomponius Porphyrio (2.-3. Jh. n.Chr.) bemerkt, daß Horaz in diesem Buch die Lehren eines gewissen Neoptolemos zusammenfaßt. Die Lehren des Neoptolemos sind nur aus der gegen diesen polemisierenden Schrift Über die Gedichte des epikureischen Philosophen Philodemos von Gadara, dessen Bibliothek in Herculaneum ausgegraben wurde, faßbar. Einer seiner Grundsätze lautete anscheinend: „Der vollkommene Dichter muß, um Vollkommenheit zu erreichen, nicht nur auf die Zuhörer wirken (yucagwgía), sondern ihnen auch nützen und gute Lehren geben.“ (Schäfer, „Nachwort zu Horaz, Ars Poetica“, 55-67:58; vgl. a. M. FUHRMANN, Die Dichtungstheorie der Antike [Darmstadt, 2 1992], 145-53) 353 „Überhaupt, halte das für vollkommen und wahrhaft erhaben, was jederzeit und allen gefällt.“ (7,3 = Schönberger, 16-18) 354 Vgl. P LATON , Gorgias 465d-e (= Eigler/Schleiermacher, II, 322f): „Was ich nun meine, daß die Redekunst sei, hast du gehört, nämlich das Gegenstück zur Kochkunst, für die Seele, was diese für den Leib (hantístrofan hoyopoiíaß hen yúc¨∆, Hwß hekeïno hen s´wmati).“ Schon QUINTILIAN, Inst. Orat. II,15,24-32 hat darauf hingewiesen, daß dies nicht alles ist, was Platon zur Rhetorik zu sagen hatte. 355 Vgl. KENNEDY, „Language and Meaning“, 82: „Gorgias developed a striking prose style which makes great use of sound, rhythm, and play on words; as we shall see, in large MANN,

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Wirkung geradezu sprachmagisch begründet356. ARISTOTELES, der auch auf dem Bereich der Rhetorik die einseitigen Urteile seines Lehrers zu überwinden sucht, widmet z.B. den gesamten Mittelteil seiner Rhetorik der Affektenlehre als Grundlage für die Persuasion (II,1-26)357. Ausschlaggebend ist zum einen die emotionale Verfassung des Redners, andererseits aber auch die Disposition des Zuhörers (1377b = II,1). In einem Fragment von THEOPHRASTUS, dem Nachfolger des ARISTOTELES als Leiter der Athener Philosophenschule, wird der Redner angehalten, nicht alles en detail auszuführen, sondern durch Leerstellen aus dem Hörer einen aktiven Zeugen zu machen358. In der Folgezeit ist das Interesse an der Rezeption etwas aus dem Blickfeld der rhetorischen Diskussion geraten359, so daß QUINTILIAN im ersten christlichen Jahrhundert bemerken muß: „Eine Reihe von Lehrern der Redekunst, und zwar solche von grundlegender Bedeutung, haben die Auffassung vertreten, es sei die einzige Aufgabe des Redners zu belehren (solum … oratoris officium docere); denn die Wirkung auf die Gefühle (adfectus) glaubten sie … ausschalten zu müssen …, weil jede Erregung des Gemütes ein Fehler in der Haltung des Menschen sei (quiam vitium esset omnis animi perturbatio).“ (Inst. Orat. V, Prooemium, 1 = Rahn, 512-13)360

QUINTILIAN wehrt sich gegen den Vorwurf, die Manipulierung der Hörer nehme der Rhetorik ihren Kunstcharakter, denn „die Leidenschaften wird der Redner notwendigerweise erregen müssen“361. Er knüpft damit an die aristote-

part it is intended for an emotional effect on an audience.“ C.P. SEGAL, „Gorgias and the psychology of the logos“, HSCP 66 (1962), 133: „The rhetor … commands a techne which can directly touch the psyche through a process of aesthetic and emotional excitation, and hence guide or control human emotion.“ 356 J. de ROMILLY , Magic and Rhetoric in Ancient Greece (Cambridge, Mass., 1975), 3-22. 357 Bei seiner Behandlung der Beweisgründe verweist QUINTILIAN in seiner Rhetorik ausdrücklich auf diesen Teil der aristotelischen Rhetorik (Inst. Orat. V,10,17 = Rahn, 552-555). Vgl. Friedrich SOLMSEN, „Aristotle and Cicero on the Orator’s Playing on the Feelings“, CP 33 (1938), 390-404. 358 Vgl. G.A. KENNEDY, „The evolution of a theory of artistic prose“, CHLC 1 (1989), 195f. 359 KENNEDY , „Evolution“, 196. 360 QUINTILIAN berichtet auch, daß in Athen Gefühlserregung durch den Redner verboten war (II,16,4; VI,1,7; X,1,107). 361 Inst. Orat. II,17,27 (= Rahn, I, 256f): adfectus … necessario movebit orator. Dies gilt besonders für den Schlußteil der Rede, wo das Gefühl des Richters beeinflußt werden muß: „Ein Mann aber, der den Richter mitreißen und in jede gewünschte Stimmung zu versetzen vermag, so daß dieser unter der Macht seiner Rede weinen oder in Zorn geraten muß, ist immer eine Seltenheit gewesen.“ (VI,2,3 = Rahn, I, 698f). Q UINTILIAN geht daher ausführlich auf die Erregung von Gefühlswirkungen (VI,2,1-36) und auf das Lachen (VI,3,1-112) ein.

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lische Tradition an, deren ausgeprägtes Interesse an der Wirkung von gesprochener wie geschriebener Rede oben skizziert worden ist362: Die drei Pflichten oder Aufgaben (officia) des Redners sind Lehren (docere), Bewegen (movere) und Unterhalten (delectare)363. Die Erregung von Gefühlen ist integraler Bestandteil der Rede364. Obwohl die Rede pragmatisch eine sachlich-informative und eine affektiv-bewegende Seite hat (III,5,2; VI,1,1), können diese beiden im Konflikt miteinander stehen365. Gewiß äußert QUINTILIAN Bedenken gegenüber einer allzu starken Betonung der affektiven Beeinflussung (II,17,26f), und doch zeigt sich die wahre Kunst der Rede nicht so sehr in der Unterweisung, sondern in der erzielten Wirkung auf die Hörer366. Die Absicht, zu bewegen, durchdringt die gesamte Rede (VI,2,1-2; VII,10,12), auch den Abschnitt der Erzählung367, aber ganz besonders die Schlußrede368. Dabei ist es unerläßlich, daß der Redner die Gefühle selbst empfindet, die er zu erregen beabsichtigt369, und daß die Affekte dem Gegenstand angemessen sind370 und nicht ins Lächerliche abdriften (VI,3,1). Die Erregung von Gefühlszuständen wird nicht nur durch die Art des Vortrags erreicht371 oder durch die Lebendigkeit der Rede372, sondern auch durch sprachliche Mittel, wie Sentenzen, Tropen und Stilfiguren373, und durch die rhythmische Wortfügung374. Der Bedeutung und Einteilung von Affekten widmet QUINTILIAN einen längeren Abschnitt375, wobei vor allem zwischen erregten (affectus concitati) und sanften Gefühlsregungen (affectus mites et compositi) unterschieden wird (VI,2,8-12). Die Darstellung der Affekte in literarischen Werken dient dem Redner als Vorbild 376.

362 Für die folgende Zusammenstellung war mir E. ZUNDEL, Clavis Quintilianea (Darmstadt, 1989) eine unerläßliche Hilfe. 363 III,5,2; V, pr. 1; 8,3; VIII, pr. 7; IX,2,4; 4,4; X,1,119; 2,27; XI,1,6; XII,2,11; 10,43.59. Von den drei Aufgaben kommt allem Anschein nach dem Unterhaltungswert die geringste Bedeutung zu. Besonders angebracht ist es im Falle der Prunkrede (III,4,6; XI,1,48), soll im allgemeinen lockern, fesseln und betören (IV,1,57; 2,46; V,14,29; VIII,3,5; X,2,27; XII,10,43-48), ist aber vor einem idealen Publikum überflüssig (XII,10,52). 364 II,5,8; V,14,29; VI,2,2-7; 3,104; VII,4,23; VIII, pr. 7; VIII,3,3-4; IX,4,4; X,1,48; XII,10,26.36.62. 365 II,17,26-27; IV,1,57; 2,21.111; 5,5-6; V,pr. 1-2; 8,1-3; 13,59; VII, pr. 1; IX,4,127; X,1,110; 2,23; XII,2,11; 10,43.70. 366 IV,5,6; VI,1,7; VIII,3,3; X,1,78; XII,2,11; 10,26.43.50.52.59-65. 367 narratio: IV,2,21.103-4.107.110-115.120; XI,3,162. 368 peroratio: IV pr. 6; 1,28; VI,1,9-55; VIII pr. 11; XI,3,170-174. 369 I,2,30; VI,2,26-36; X,2,11; XI,1,84; 3,61-65.156; z.B. durch lebhafte Vergegenwärtigung (VI,2,29-36). 370 VIII,3,14; XI,1,48-56; 3,176. 371 vox: XI,3,61; gestus: XI,3,65-67. 111.116.133; pronuntiatio: XI,3,2-4.14.52.58. 154-156.162.170-4. 372 henárgeia: VIII,3,61-71; X,7,15. 373 VIII,5,32; 6,19; IX,1,19-25.27.31; 2,3.26.33.54; 3,47.54.97.102. 374 compositio: IX,4,9-13.143. 375 VI,2,1-36: de divisione affectuum et quomodo movendi sint. 376 II,5,8; X,1,27.48.53.55.68f.73.101.107; 2,27.

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In der gleichen Tradition wie QUINTILIAN stand vor ihm bereits CICERO, der die zentrale Stellung der Zuhörerpsychologie für die Rhetorik betont: „Wer wüßte denn nicht, daß die Wirkung eines Redners sich vor allem darin zeigt, daß er das Herz der Menschen sowohl zum Zorn, Haß oder Schmerz antreiben wie auch von diesen Regungen in eine Stimmung der Milde und des Mitleids zurückversetzen kann? Diese erwünschte Wirkung kann in seiner Rede nur der erreichen, der die natürliche Veranlagung der Menschen und das gesamte Wesen der menschlichen Natur sowie die Gründe, die Stimmungen erzeugen und in eine andere Richtung lenken, gründlich kennt.“ (De Orat. I,12,53 = Merklin, 72f)

Von diesem Interesse an der Wirkung der Rede sind auch die späteren christlichen Schreiber nicht ausgenommen377. 2.12.3 Geschichtsschreibung Die griechische Geschichtsschreibung scheint zunächst nicht sehr stark auf ein lesendes Publikum ausgerichtet gewesen zu sein. Da es im antiken Schulbetrieb kein Fach „Geschichte“ gab, war das Interesse an ernsten Geschichtswerken relativ gering378. Während HERODOT dem Ideal einer zweckfreien Wissenschaft, die einzig und allein dem Weiterleben der Erinnerung großer Taten dient379, nahe kommt, ist für THUKYDIDES die Geschichte eine Lehrmeisterin für das Leben380. Die von ihm angestrebte Objektivität bringt es aber mit sich, daß er auf dichterische Elemente verzichtet und nur eine sehr allgemeine Leserschaft im Blick hat, nämlich eine solche, die durch das Erkennen der Vergangenheit Nutzen für die Zukunft ziehen will (vgl. 1,22)381. Noch deutlicher grenzt sich POLYBIUS von den tragischen Dichtern ab, da ihr Ziel darin besteht, das Publikum zeitweilig zu erschüttern und zu unterhalten (hekpl¨jxai kaì yucagwg¨jsai), während der Historiker Dauerhaftes lehren und überzeugen (didáxai kaì peïsai) soll (II,56,10f)382. Er unterteilt weiter377 G. KENNEDY, Classical Rhetoric and Its Christian and Secular Tradition from Ancient to Modern Times (Chapel Hill, 1980), 157. 378 Vgl. J. MALITZ, „Das Interesse an der Geschichte: Die griechischen Historiker und ihr Publikum“, Purposes of History, ed. H. Verdin et al. (StHell 30; Leuven, 1990), 323-349, der allerdings anhand der Oxyrhynchus-Papyri aufzeigt, daß es in Ausnahmefällen auch ein reges politisch-historisches Interesse geben konnte. 379 Es gibt nach MALITZ, „Interesse“, 327 bei Herodot „keine einzige Erwähnung des tatsächlichen oder des von Herodot wenigstens gewünschten Publikums“. 380 Vgl. zu dieser Unterscheidung H. STRASBURGER, Die Wesensbestimmung der Geschichte durch die antike Geschichtsschreibung (SbWGF V/3; Wiesbaden, 1966), 52f. 381 MALITZ, „Interesse“, 333 schließt sogar, daß Thukydides überhaupt „alle zeitgenössischen Hörer oder Leser“ abgelehnt habe und daher eine „nicht leicht zu erklärende Ausnahme in der gesamten Geschichte der antiken Historiographie“ bilde, weil er sein Werk für Leser konzipierte, die erst nach dem Ende des Krieges sich über die Ereignisse informieren wollten. 382 Vgl. Lukian, Wie man Geschichte schreiben soll, 9 (= Kilburn, 14f): Die Geschichtsschreibung hat sich um eine besondere Wirkung nicht zu kümmern, sondern einzig und allein der Übermittlung historischer Wahrheit zu dienen. Das für die Leser/innen Angenehme und

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hin die Geschichtsschreibung in drei Gattungen und weist jeder bestimmte Leserkreise zu (Vorwort Buch IX), plädiert aber selbst für eine „pragmatische Geschichtsschreibung“ (pragmatik`j Óstoría), eine „spröde Tatsachengeschichte für ernste Leser, die lesen, um zu lernen“383. Daneben bildete sich aber auch eine bewußt an die rhetorische Tradition anknüpfende Form der Geschichtsschreibung und eine mimetische Darstellungsweise, der es vorwiegend darum ging, „den Leser die Ereignisse wie auf der Bühne miterleben zu lassen“384. Der jüdische Historiker JOSEPHUS verfolgt in seinen Antiquitates von Beginn an das Ziel, den Leser erkennen zu lassen, daß Gesetzesgehorsam immer von Gott belohnt wird (1,14f). In seiner Darstellung geht er zuweilen auf potentielle Erwartungen und Einwände seiner Rezipienten ein (vgl. 1,18.25; 14,265) und fordert diese auf, sein Werk aus der Perspektive der theologischen Erkenntnis, daß Gott die vollkommene Tugend verkörpert, zu lesen (1,23f). Dennoch ist sein primäres Ziel nicht, durch schöne Rede zur Freude und zum Genuß (cáritoß kaì Hjdon¨jß) des Lesers beizutragen, sondern präzise die Wahrheit wiederzugeben (14,2f; s.a. 20,154-7)385. 2.12.4 Biblische Literatur Leider lassen sich über den wirkungsästhetischen Anspruch der biblischen Autoren nicht so präzise Aussagen machen wie im Falle der klassischen Literatur, weil wir von diesen über keine metakritischen oder literaturtheoretischen Aussagen verfügen. Da es sich aber in aller Regel um religiöse „Gebrauchstexte“ für einen soziologisch begrenzten Empfängerkreis handelt, drängt sich der Gedanke an eine umfassende Wirkungsabsicht ganz natürlich auf386. Diese Sicht läßt sich zweifach stützen: 1. Betrachtet man narrative Lese-Szenen in der Bibel als Spiegelbild für den tatsächlichen Umgang mit reliVergnügliche (tò terpnón) ist für die Geschichtsschreibung ebenso kontingent, zufällig und nebensächlich, wie es Schönheit für einen Athleten ist. 383 K. ZIEGLER, „Polybius“, KP 4 (1975), 988; K. MEISTER, Die griechische Geschichtsschreibung (Stuttgart u.a., 1990), 160 und die 230, Anm. 142 genannte Literatur. 384 MEISTER, Geschichtsschreibung, 169 (zu Poseidonius). Ansonsten zählt er zur rhetorischen Schule Ephoros, Theopomp und Anaximenes und zur mimetischen Duris und Phylarchos (83-102). MALITZ, „Interesse“, 338: „Die offensichtliche Faszination der Leser durch Autoren wie Phylarch erklärt sich natürlich nicht allein durch die von Polybios einfach vorausgesetzte ‚Oberflächlichkeit‘, sondern auch durch die grundsätzlich viel höhere Bereitschaft des antiken Publikums, sich durch Werke der Literatur in Emotionen versetzen zu lassen.“ Vgl. zum Verhältnis von Rhetorik und Geschichtsschreibung A.J. WOODMAN, Rhetoric in Classical Historiography (Sydney, 1988). 385 Vgl. Bell 1,30: „Ich schrieb für Leute, die die Wahrheit lieben, aber nicht um einen genußreichen Lesestoff zu liefern (m`j pròß Hj don´j n).“ (Bauernfeind/Michel, I, 10f) Vgl. a. den Epilog 7,454f. 386 G. KENNEDY, New Testament Interpretation through Rhetorical Criticism (Chapel Hill, 1984), 6: „[The NT texts] were originally intended to have an impact on first hearing.“

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giöser Literatur dann kann man schließen, daß in der jüdisch-alttestamentlichen Kultur Lesen keine private Aktivität mit dem Ziel des ästhetischen Genusses oder der reinen Informationsübermittlung war, sondern ein mündlicher, kollektiv-sozialer Sprechakt, der auf eine Änderung der Lebenspraxis abzielte387. 2. Zwei alttestamentliche Apokryphen machen die pragmatische Ausrichtung des Textes deutlich: a) Der Autor des wohl im 1. Jh. v.Chr. in Alexandrien entstandenen 2Makk macht in seiner populären Zusammenfassung der fünfbändigen Darstellung des Jason von Kyrene reichlich Gebrauch von rhetorischen Figuren mit dem ausdrücklichen Ziel, den Leser zu unterhalten bzw. zu beeinflussen (toïß bouloménoiß hanagin´wskein yucagwgían), den Stoff in seiner Erinnerung einzuprägen und Nützliches für das Leben zu übermitteln (2,24f). b) Der Enkel Jesus Sirachs zeigt im Prolog zu seiner Übersetzung ein hohes Bewußtsein für die Leserorientierung dieses Werkes: Am Anfang steht das Gesetz, die Propheten und die anderen Schriften. Diejenigen, die darin lesen können, fördern dadurch ihre Bildung und praktische Lebensweisheit (paideía kaí sofía), stehen aber dann in der Schuld, durch ihre Lehre und eigene Schriften andere zu fördern (Z. 1-8). Ebenso ist der Schriftgelehrte Jesus Sirach vorgegangen: Nach einem gründlichen Studium der heiligen Schriften hat er selbst etwas geschrieben, damit die, die es sich mit Liebe aneignen, in ihrer Gesetzestreue voranschreiten können (Z. 9-14; vgl. a. Z. 31-36). So fordert der Übersetzer die Leser ausdrücklich dazu auf, mit Wohlwollen und Aufmerksamkeit (meth ehunoíaß kaì prosoc¨jß) zu lesen und dabei Nachsicht im Hinblick auf mögliche Übersetzungsfehler zu üben (Z. 15-21). Fazit: Obwohl die Antike keine umfassende rezeptionsästhetische Theoriebildung im modernen Sinne kennt, so kommt die Poetik des ARISTOTELES dieser Vorstellung schon sehr nahe. Aber auch außerhalb des Wirkungskreises aristotelischer Literaturtheorie scheint das Bewußtsein für die umfassende und ganzheitliche Wirkung eines Textes sehr weit verbreitet gewesen zu sein. Das größte Desinteresse am rezipierenden Subjekt findet man bei jenen Historikern, die auf strengste Objektivität bedacht waren, wie etwa bei Thukydides oder Polybius. Diese hatten den Leser nur als politisch interessierten Intellektuellen im Sinn. Es ist in Anbetracht dieser Quellenlage eigentlich 387

Vgl. bes. J. BOYARIN, „Placing Reading: Ancient Israel and Medieval Europe“, The Ethnography of Reading, hg. J. Boyarin (Berkeley, 1993), 10-37. P.B. DECOCK, „The Reading of Sacred Texts in the Context of Early Christianity“, Neot. 27 (1993), 280: „[U]nderstanding the meaning of God’s Word was not a matter of establishing the original, historical meaning of the text. What they were interested in was the ‚contemporised‘, existential meaning of the text. It was not a matter of going back to the origins, but of letting Scripture become part of the present life of the readers.“ Allgemein zur Sozialgeschichte des Lesens im Judentum P. MÜLLER, „Verstehst du auch, was du liest?“Lesen und Verstehen im Neuen Testament (Darmstadt, 1994), 30-54.

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überraschend, daß man sich innerhalb eines modernen historischen Paradigmas, das vom Ausleger oder der Auslegerin die konsequente „Einfühlung“ in die zeitlichen Umstände des auszulegenden Textes verlangt, bisher kaum um die Wirkung des Textes gekümmert hat388. Paradoxerweise hat die moderne Literaturwissenschaft damit der biblischen Exegese eine Perspektive eröffnet, die sie vielleicht näher an die historischen Entstehungsverhältnisse des Textes führt als manche klassischen Vorgehensweisen der historisch-kritischen Methode389.

388 Rezeptionsästhetische Fragestellungen finden mittlerweile auch Eingang in die klassische Altertumswissenschaft: Arethusa 19/2 (1986: Sondernummer: „Audience-Oriented Criticism and the Classics“); W. BARNER, „Neuphilologische Rezeptionsforschung und die Möglichkeiten der Klassischen Philologie“, Poetica 9 (1977), 499-521; E. BLOCK, The Effects of Divine Manifestation on the Reader’s Perspective in Vergil’s Aeneid (New York, 1981); M. ERLER, „Philologia Medicans: Wie die Epikureer die Texte ihres Meisters lasen“, Vermittlung und Tradierung von Wissen in der griechischen Kultur, hg. W. Kullmann, J. Althoff (Scripta Oralia 61; Tübingen, 1993), 281-303; N.W. SLATER, Reading Petronius (Baltimore/London, 1990); S. TOCHTERMANN, Der allegorisch gedeutete Kirke-Mythos: Studien zur Entwicklungs- und Rezeptionsgeschichte (Studien zur Klassischen Philologie 74; Bern; usw., 1992); S. USENER, Isokrates, Platon und ihr Publikum: Hörer und Leser von Literatur im 4. Jh. v. Chr. (Scripta Oralia 63; Tübingen, 1993). 389 Das soll nicht heißen, daß in der Exegese nur noch solche Fragen zu gelten haben, die sich mit denen der ersten Produzenten und Rezipienten decken. Das wäre zwar im Sinne des Historismus konsequent, ist aber deswegen nicht angebracht, weil, um alte Texte für heute überhaupt verstehbar machen zu können, wir um anachronistische Vorgehensweisen nicht herumkommen – nur sollte man sich darüber auch Rechenschaft ablegen.

3. Überlegungen zu einem operativen Modell für die rezeptionskritische Evangelienexegese Der Darstellung verschiedener literaturwissenschaftlicher Modelle soll keine entsprechend ausführliche Forschungsgeschichte über den Einzug des „reader-response criticism“ in weite Teile der anglo-amerikanischen Evangelienexegese folgen. Ein kurzer einführender Überblick soll an dieser Stelle ausreichen: Die traditionelle historisch-kritische Exegese war sich zwar der Existenz einer außertextuellen Rezeptionsgröße bewußt, doch war der „Leser“ in der Regel ein bloßer Statist, der nur sehr unregelmäßig auf die Bühne der Interpretation bemüht wurde1. Ein methodenkritisches Bewußtsein für die hermeneutische Rolle der Lektüre hat sich erst seit den 80er Jahren beinahe ausschließlich im englischsprachigen Raum im Zuge der „literaturwissenschaftlichen Wende“ in der dortigen biblischen Exegese entwickelt2. Eine bei Norman Perrin begonnene und nach dessen Tod bei David L. Bartlett 1978 zu Ende geführte Dissertation von Robert M. FOWLER stellt den ersten Versuch dar, einen Evangelientext unter systematischer Einbeziehung des „impliziten Lesers“ auszulegen3. In weiteren Arbeiten wurde vornehmlich die theoretische Diskussion weitergeführt4, aber auch einzelne Texte und narrative 1

Einige wahllos zusammengestellte Beispiele: R. PESCH, Das Markusevangelium (HThKNT II/2; Freiburg, 31984), 332 („Der Hörer und Leser darf erwarten, daß …“); 345 („Für die mk Rezeption des Textes mag gegolten haben …“); 349 („Für den Hörer und Leser der Passionsgeschichte ist … auf 14,10 angespielt“); 532 („der Leser wird … schließen …“); G. VON RAD, Das erste Buch Mose (ATD 2/4; Göttingen, 1953), 65 („indessen ist zu erwägen, ob der Erzähler nicht viel mehr auf den Leser zu spricht“); E. HAENCHEN, „Die Komposition von Mk 7,27-9,1“, NT 6 (1963), 86 („Begreiflicher wird alles, wenn wir uns fragen, was der Evangelist mit diesem Zug … seinen Lesern sagt“). 2 Der beste Überblick über das Aufkommen literaturwissenschaftlicher Fragestellungen in der angelsächsischen Exegese findet sich bei MOORE, Literary Criticism; vgl. a. POWELL, Narrative Criticism, 1-6 und die Artikel in VF 41/1 (1996). 3 R.M. FOWLER, Loaves and Fishes: The Function of the Feeding Stories in the Gospel of Mark (SBL.DS 54; Chico, CA, 1981). 4 Vgl. BERGER, Exegese, 91-110 („Historische Rezeptionskritik“); 242-69 („Wirkungsgeschichtliche Hermeneutik“); M.G. BRETT, „The Future of Reader Criticism?“ The Open Text, ed. F. Watson (London, 1993), 13-31; S. BROWN, „Reader Response: Demythologizing the Text“, NTS 34 (1988) 232-37; H.J.B. COMBRINK, „Readings, Readers and Authors: An Orientation“, Neot. 22 (1988), 189-204; R. DETWEILER (Ed.), Reader Response Approaches to Biblical and Secular Texts (Semeia 31; Atlanta, 1985); EGGER, Methodenlehre, 13-20.34-40.133-145.209-22; R.M. FOWLER, Let the Reader Understand: Reader-Response Criticism and the Gospel of Mark (Minneapolis, 1991); „Reader-Response Criticism: Figuring Mark’s Reader“, in Anderson/Moore, Mark and Method, 50-83; McKNIGHT, Bible, 75-82 (zu Iser und Jauß); Ders., Post-Modern Use of the Bible: The Emergence of ReaderOriented Criticism (Nashville, 1988); Ders. (Ed.), Reader Perspectives on the New Testament (Semeia 48; Atlanta, 1989); MOORE, Literary Criticism, 71-107; N.R. PETERSEN, „The Rea-

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Aspekte der Evangelien rezeptionsästhetisch beleuchtet5 – bis hin zur Kommentierung eines ganzen Evangeliums6. Wichtige Impulse für die theoretische und praktische Vertiefung dieser neuen Fragestellung gingen von der Bildung nationaler und internationaler Arbeitsgruppen aus wie etwa der „Group on the Literary Aspects of the Gospels and Acts of the Society of Biblical Literature“ und dem „Seminar on the Role of the Reader in the Interpretation of the New Testament of the Studiorum Novi Testamenti Societas“7. Angesichts dieser angeregten und anregenden internationalen Diskussion fällt der kaum vorhandene Beitrag deutschsprachiger Exeget/innen ins Auge8.

der in the Gospel“, Neot. 18 (1984) 38-51; J.L. RESSEGUIE, „Reader-Response Criticism and the Synoptic Gospels“, JAAR 52 (1984) 307-24; SANDERS/DAVIES, Studying, 240-51; THISELTON, New Horizons, 471-596; Van der WEELE, „Reader-Response“. 5 Vgl. zum Matthäusevangelium: A.K.M. ADAM, „The Sign of Jonah: A Fish-Eye View“, Semeia 51 (1990), 177-91; J.C. ANDERSON, Matthew’s Narrative Web (JSNT.S 91; Sheffield, 1994), 218-25 (s.a. „Double and Triple Stories: The Implied Reader and Redundancy in Matthew“, Semeia 31 [1985], 71-90); F.W. BURNETT, „Prolegomenon to Reading Matthew’s Eschatological Discourse: Redundancy and the Education of the Reader in Matthew“, Semeia 31 (1985), 91-109; D.B. HOWELL, Matthew’s Inclusive Story (JSNT.S 42; Sheffield, 1990), 205-48; J.D. KINGSBURY, „Reflections on ‚the Reader‘ of Matthew’s Gospel“, NTS 34 (1988), 442-460; A.T. LINCOLN, „Matthew – A Story for Teachers?“ The Bible in Three Dimensions, ed. D.J.A. Clines et al. (JSOT.S 87; Sheffield, 1990), 103-26; G.A. PHILIPS, „History and Text: The Reader in Context of Matthew’s Parables Discourse“, Semeia 31 (1985), 111-38; B.B. SCOTT, „The Birth of the Reader“, Semeia 52 (1990), 83-102 (zu Mt 1-4); D.J. WEAVER, Matthew’s Missionary Discourse (JSNT.S 38; Sheffield, 1990), 31-57.127-153. 6 Vgl. zum Mt-Evangelium: FRANKEMÖLLE (1994); M. DAVIES (1993); EDWARDS (1985). In deutscher Übersetzung liegt auch vor B. VAN IERSEL, Markus: Kommentar (Düsseldorf, 1993). 7 Ergebnisse dieser Arbeitsgruppe liegen in zwei Aufsatzbänden vor: R. D ETWEILER (Ed.), Reader Response (Semeia 31; 1985); E.V. McKNIGHT (Ed.), Reader Perspectives (Semeia 48; 1989). 8 Vgl. neben den Methodenlehren von BERGER und EGGER und dem Kommentar von FRANKEMÖLLE den Überblick von J. FREY, „Der implizite Leser und die biblischen Texte“, ThBeitr 23 (1992), 266-290, die kritische Auseinandersetzung in SCHENK, „Rollen der Leser“, und die sozialgeschichtliche Einordnung ntl. Leseszenen in den Rahmen der antiken Lesekultur in MÜLLER, „Verstehst?“. Eine knappe Beschäftigung findet sich in U. LUZ, „Erwägungen zur sachgemässen Interpretation neutestamentlicher Texte“, EvTh 42 (1982), 505f. Alle weiteren deutschsprachigen Beiträge befinden sich eher am Rand der exegetischen Forschung: vgl. C. BARBEN-MÜLLER, „Wo steht geschrieben, was wir lesen? Evokation, Projektion und Konvention im Umgang mit biblischen Texten“, Wandel und Bestand (FS B. Jaspert), hg. H. Gehrke et al. (Paderborn; Frankfurt, 1995), 33-60; K. HUIZING, Homo legens: Vom Ursprung der Theologie im Lesen (TBT 75; Berlin usw., 1996); U.H.J. KÖRTNER, Der inspirierte Leser: Zentrale Aspekte biblischer Hermeneutik (Göttingen, 1994), 88-136; T. NISSLMÜLLER, Rezeptionsästhetik und Bibellese: Wolfgang Isers Lese-Theorie als Paradigma für die Rezeption biblischer Texte (Theologie und Philosophie 25; Regensburg, 1995); RAGUSE, Psychoanalyse, 97-107; Raum des Textes, 84-97.

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Die heuristische Grundprämisse, daß Evangelientexte auf ein Publikum ausgerichtet sind und ihr Sinn erst in der Nachzeichnung einer komplexen Interaktion zwischen Text und Lektüre an die Oberfläche tritt, stößt gerade bei Exeget/innen, denen manche Engführungen traditioneller Auslegungsmethoden Unbehagen bereiten, auf eine interessierte bis enthusiastische Aufnahme. Andererseits tun sich bei einer genaueren theoretischen Betrachtung und erst recht bei dem Versuch einer praktischen Umsetzung schier unlösbare Probleme auf. Lektüre und Rezeption gleichen einer hermeneutischen PandoraBüchse, aus der Gutes aber auch vielfaches Übel treten kann. So wird die Frage nach einer den Evangelien sachgerechten Leserkonstruktion zur eigentlichen Gretchenfrage, mit der die Auslegung steht und fällt, oft noch bevor sich diese überhaupt einem Text zugewandt hat9. Zweierlei macht die Suche nach einem für die Exegese geeigneten Modell schwer: 1. Wie die kritische Sichtung einiger aktueller und antiker Positionen gezeigt hat (Abschnitt I.2), schreitet leserorientierte Forschung keineswegs in einer linearen Entwicklung vorwärts, sondern folgt eher dem Chaosprinzip und wuchert wild an den unterschiedlichsten Stellen. So wenig wie die Rezeptionsästhetik existiert, so wenig wird man von ihr als von einer einheitlichen und in sich kohärenten „Methode“ reden können. Es handelt sich viel eher um einen Blickpunkt, eine Fragestellung, einen Positionswechsel, der einem bestehenden Auslegungsparadigma zu einer Erweiterung der Perspektive verhelfen kann10. 2. Des weiteren ist der Dialog zwischen den Vertreter/innen einzelner Positionen nicht immer gerade als vorbildlich zu bezeichnen. Jede kritische Auseinandersetzung wird dadurch erschwert, daß es keine einheitliche Fachsprache gibt; viel eher bilden, je nach Hintergrund, semiotisch-linguistische, hermeneutischphilosophische, psychologische oder soziologisch-empirische Begriffe Parallelen, die sich an keiner Stelle des endlichen Raumes zu kreuzen scheinen. In diesem babylonischen Fachsprachen-Gewirr stehen die unterschiedlichen Theoriekonzepte relativ unverbunden nebeneinander. Das Problem der mangelnden Einheitlichkeit und der disparaten Wissenschaftssprachen ist aber nicht nur eine Schwäche der rezeptionskritischen Fragestellung, sondern zugleich auch ihre Stärke. Es ist ihre Schwäche, weil sie keine Lehrbücher, keine Methodenlehren, kein verläßliches und allgemein benutztes Begriffsinventar, keine Schulen, keine eigenen institutionalisierten internationalen Publikationsorgane usw. hervorgebracht hat. Exeget/innen, die sich schnell informieren wollen, wie man leserorientiert Exegese betreibt, 9 Vgl. zu einigen Problembereichen oben S. 23ff. 10 Eine Bilanz zu ziehen, bei der die verschiedenen

Positionen sich mühelos in ein organisches Ganzes einfügen lassen, erscheint daher zwecklos. S.E. PORTER, „Why hasn’t Reader-Response Criticism caught on in New Testament Studies?“ JLT 4 (1990), 279: „There are many different approaches to reader-response criticism, and forming a consensus is very difficult.“

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werden in der Regel eher enttäuscht als zur Weiterbeschäftigung motiviert. Wenn man aber bedenkt, daß der Strukturalismus, obwohl er viele dieser Schwachpunkte nicht besaß, dennoch in der Exegese außerhalb Frankreichs kaum Spuren hinterlassen hat, dann ist das vielleicht auch eine Stärke der Rezeptionskritik: Da sie sich eben nicht als ein geschlossenes System mit einer Nicht-Eingeweihten kaum zugänglichen Fachsprache präsentiert, ist sie viel anpassungsfähiger und flexibler. Es soll daher im Folgenden darum gehen, verschiedene theoretische Konzepte thematisch zusammenzubündeln, um zu einer arbeitsfähigen Hypothese für die Evangelienauslegung zu gelangen. Wo immer es möglich und sinnvoll erscheint, möchte ich versuchen, in einer eklektischen und damit auch vorläufigen Kreuzung und Mischung des derzeitigen theoretischen Inventars einige der bestehenden Grenzen aufzubrechen11. Der Blick ist dabei stets auf die praktisch-exegetischen Umsetzungsmöglichkeiten ausgerichtet. Es sei also mit ganz besonderer Betonung ausgesprochen, was sich eigentlich von selbst verstehen sollte: Ich führe nur eine mögliche Spielart leserorientierter Exegese vor, ohne den Anspruch zu erheben, daß dies die einzige oder die beste Fassung dieser äußerst komplexen und vielfältigen Fragestellung ist!12

3.1 Der Ort des lesenden Subjekts „Und Jesus fragte ihn: ‚Was ist dein Name?‘ Und er spricht zu ihm: ‚Legion ist mein Name, denn wir sind viele.‘“ Markus 5,9

Mit der zeitlich-räumlichen Lokalisierung einer bestimmten Lesefigur wird eine der wichtigsten Weichen für die Auslegung des Textes gestellt. Aus der Beschäftigung mit den verschiedenen Positionen schälen sich prinzipiell zwei Möglichkeiten heraus: Entweder ist der „Leser“ vor dem Text oder im Text; d.h. entweder handelt es sich um eine/n reale/n Leser/in oder um ein Leserkonstrukt, das sich in der Rhetorik des Textes manifestiert. Bei realen Leser/innen kann man noch zwischen historischen Erst-Rezipierenden, einer

11 Vgl. R. DEBEAUGRANDE, „Surprised by Syncretism: Cognition and Literary Criticism exemplified by E.D. Hirsch, Stanley Fish, and J. Hillis Miller“, Poetics 12 (1983), 83-138. Für ihn stellen sich die verschiedenen Theorien als „different actualizations within the potential of a unified system“ dar, so daß sich biographischer Intentionalismus, „reader-response criticism“ und Dekonstruktion nicht ausschließen müssen, sondern einander ergänzen können. Auch einer der führenden Literaturwissenschaftler, Frank KERMODE, sieht die besten Aussichten für seine Disziplin in einer Kombination von Semiotik, Rezeptionsästhetik und Wissenssoziologie („Figures in the Carpet: On Recent Theories of Narrative Discourse“, Comparative Criticism: A Yearbook 2, ed. E.S. Shaffer [Cambridge, 1980], 291-301). 12 Aus befreiungstheologischer, feministischer, psychologischer oder empirischer Perspektive würde die Vorgehensweise entsprechend anders aussehen.

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langen Kette historischer Leser/innen, die auswertbare Rezeptionsdokumente hinterlassen haben, und modernen empirischen Leser/innen, zu deren Reaktion ein direkter Zugang möglich ist, unterscheiden. Von den besprochenen Positionen gehen ECOS „Modell-Leser“, ISERS „impliziter Leser“ und PRINCES „Erzähladressat“ theoretisch von einem encodierten Leserkonstrukt aus, JAUSS versucht zum zeitgenössischen Erst-Rezipierenden vorzudringen, ohne dabei heutige Leser/innen aus dem Blickfeld zu verlieren, während RIFFATERRE, CULLER und die Literatursoziologie oder empirische Literaturtheorie sich für die Aktivitäten heutiger Leser/innen interessieren. FISHS frühes Konzept des „informierten Lesers“ ist nach eigener Bekundung ein Hybrid, der zwischen textuellen, zeitgenössischen und modernen Leserinstanzen oszilliert13. Die Tragweite einer solchen prinzipiellen Unterscheidung ist für die Auslegung nicht ohne Belang, denn unterschiedliche Leserverortungen führen zu unterschiedlichen Blickrichtungen auf der Suche nach Bedeutung. Ob Sinndimensionen ausschließlich innerhalb oder ausschließlich außerhalb des Textes oder in dem Raum dazwischen erhoben werden, ob Bedeutungsebenen sich strikt in der Vergangenheit, in der Gegenwart oder in der Abhebung von beiden Zeitebenen zu erkennen geben, dies hängt stark von der Frage nach der Verortung der Leserinstanz ab. Leser im Text Encodierter o. impliziter Leser, Modell-Leser, Erzähladressat (Gibson, Eco, Fish I, Prince, Iser)

Leser vor dem Text Synchron (zum Text) Diachron (zum Text) Zeitgenössische, intendierte oder historische Leser/innen (Fish I, Jauß)

spätere Rezipienten, moderne, empirisch greifbare Leser/ innen (Richards, Rosenblatt, Riffaterre, Fish II, Culler)

3.1.1 Vor dem Text (diachron): Die modernen, empirisch greifbaren Leser/innen Sachlich scheint es angemessen, bei dem Leserkonstrukt anzufangen, dessen Reaktion am ehesten direkt zugänglich ist: bei mir selbst und heutigen Leser/innen. Das ist berechtigt, weil es keinen anderen Zugang zum Text gibt als über die eigene Lektüre und weil diese Lektüre immer von dem eigenen Vorverständnis geprägt ist. Eine solche Feststellung mag zwar banal erscheinen, sie versucht aber offen darzulegen, daß es im Hinblick auf das Verstehen eines Textes keinen Läuterungsvorgang gibt, durch den ich mich meiner eigenen Voraussetzungen vollends entledigen könnte14. In einem streng historistischen Paradigma wird vom interpretierenden Subjekt auf dem Weg zur vollkommenen Objektivität die Unterdrückung aller Interessen und Vorausset13 Is There a Text? 49. 14 Vgl. BULTMANN , „Voraussetzungslose

Exegese?“.

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zungen gefordert. Demgegenüber versucht die moderne Hermeneutik, den Faktor des Mit-Beteiligtseins am Verstehensprozeß positiv einzubringen, sei es im Sinne von BULTMANNS existentialer Interpretation, EBELINGS „Sprachereignis“ oder der „Horizontverschmelzung“ von GADAMER. Die theoretische Annahme, mit einem rein textuellen Leserkonstrukt – also mit einer außerhalb meiner selbst liegenden Größe – zu arbeiten, kommt zwar dem Bemühen entgegen, leserorientierte Forschung vor dem Verdacht der Subjektivität oder – schlimmer noch – des Solipsismus zu schützen, kann aber nicht darüber hinwegtäuschen, daß in der Praxis dieses abstrakte Modell letztendlich zur „strukturierten Hohlform“ für die eigene Lektüre wird. Die Erfahrung eines textimmanenten Lesers oder die der historischen Erst-Rezipierenden ist nur über die eigene Lektüreerfahrung einzuholen, so daß der oder die Interpret/in eine ähnliche Rolle wie ein/e Schauspieler/in einnimmt. Das ist zugegebenermaßen eine unüberwindbare Crux der Rezeptionskritik15. Gerade deswegen sollte die Exegese mit der Beschäftigung mit den Grundbedingungen der eigenen Lektüre ansetzen. Erst wenn dieser Aspekt in die Perspektive der Auslegung gerät, kann es zu einer ernsthaften Beschäftigung mit der Fremdheit des Textes kommen16. Durch eine weitere systematische Analyse moderner Kommentarliteratur und anderer Rezeptionsdokumente oder durch die systematische empirische Befragung moderner Leser/innen läßt sich ferner die eigene Lektüre in das Koordinatensystem heutiger Rezeptionsmöglichkeiten einordnen, um dadurch etwas über die sozio-kulturelle Einbindung des eigenen Verstehens zu erfahren. Sicherlich können solche empirischen Erhebungen nicht nur etwas über stilistische Fakten des Textes (RIFFATERRE) oder über die derzeitig vertretenen „Grammatiken des Verstehens“ (CULLER) oder über die Struktur von Auslegungsgemeinschaften (FISH) verraten, sondern auch etwas über das Zusammenspiel zwischen Sinnangeboten des Textes 15 JAUSS, Ästhetische Erfahrung, 688. 16 Ich möchte es weithin offen lassen,

wie dies im Rahmen einer wissenschaftlichen Arbeit praktisch geschehen soll. Man kann einerseits Parameter wie Geschlecht, sozialer Stand, Hautfarbe, Konfession usw. offenlegen. Aber damit ist nur etwas sehr Pauschales ausgesagt. Andere Prämissen werden von weiten Teilen der exegetischen Fachwelt geteilt und brauchen daher kaum expliziert zu werden: So etwa die Wahrnehmung des Textes innerhalb einer stark von der Schriftlichkeit geprägten Kultur, die Zugriffsmöglichkeit auf eine große Anzahl von Hilfsmitteln zum Verständnis des biblischen Textes (Konkordanzen, Wörterbücher, Synopsen, Wortstatistiken usw.) und die Auseinandersetzung mit einer kaum überschaubaren Menge von Sekundärliteratur, die auch nur annähernd zu verarbeiten eine Herausforderung ganz eigener Proportionen geworden ist, die Erarbeitung des Materials am Computer und schließlich die Einbindung der eigenen Arbeit im Rahmen der Möglichkeiten und Interessen, die den neutestamentlichen Fachbereich einer Universität bestimmen. Private Parameter, die mit Charakter und persönlichen Lebensumständen zu tun haben, gehören m.E. nicht in eine wissenschaftliche Arbeit, weil schriftliche Aussagen definitiven Charakter zu haben pflegen und private Verstehensbedingungen sich mit der Zeit wandeln können. Der Schutz der Privatsphäre sollte zudem gewahrt bleiben.

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und modernen Realisierungsmöglichkeiten17. Leider gibt es kaum Brücken zwischen semiotischen und hermeneutischen Lesetheorien einerseits und psychologisch und sozialwissenschaftlichen Modellen andererseits. M.E. wäre eine Berücksichtigung für die weitere Reflexion sehr erhellend. Ich kann im Rahmen dieser Arbeit nur auf dieses Manko hinweisen. 3.1.2 Vor dem Text (synchron): Die zeitgenössischen, intendierten oder historischen Leser/innen Die Relevanz der Beschäftigung mit der zeitgenössischen Leserschaft ist von kaum jemandem so in den Mittelpunkt seiner Forschung gestellt worden wie von Hans Robert JAUSS. Als Romanist stehen ihm direkte Rezeptionszeugnisse für seine Arbeit zur Verfügung, was für die neutestamentliche Exegese nur sehr bedingt möglich ist18. Die historische und sozialgeschichtliche Evangelienforschung kann allerdings einen groben Rahmen für die Erst-Rezeption abstecken19. Es ist daher durchaus möglich, sich ganz grob dem ersten Stadium der Rezeptionsgeschichte zu nähern. Da aber das Urchristentum trotz etlicher gemeinsamer Merkmale sich als sehr variabel erweist und da die erste Hörerschaft der Evangelien sicherlich keine homogene Gruppe war, sondern sich aus Männern und Frauen zusammensetzte, die mit verschiedenen Lebenswegen, unterschiedlicher Kompetenz, Vorstellungskraft und intellektueller Fähigkeit die Texte wahrnahmen, wird man also auch hier mit Verallgemeinerungen und Abstraktionen auskommen müssen. Aber gerade als solche können sie mehr oder weniger präzise Grenzen markieren, die eine historische Lesebeschreibung nicht überschreiten sollte. Die Erst-Rezeption, soweit von dieser keine Rezeptionsdokumente vorliegen, läßt sich weiterhin nicht nur über die allgemeine Geschichte des Urchristentums erschließen, sondern auch über die alte Auslegungsgeschichte, wie sie sich in den Schriften der Alten Kirche, aber auch in textkritischen Varian17

Daß empirische und erst recht psychologische Betrachtungen zu modernen Lektüren in der vorliegenden Arbeit kaum zu Wort kommen, hat vor allem mit arbeitsökonomischen und nicht mit grundsätzlichen Gründen zu tun. 18 Man könnte unter Voraussetzung entsprechender Positionen in der derzeitigen Einleitungswissenschaft die Pseudopaulinen als Rezeptionszeugnisse für die „echten“ Paulusbriefe auswerten oder den 2. Petrusbrief als Dokument der Judas-Rezeption deuten oder manche Rezeptionsverhältnisse innerhalb der johanneischen Literatur ausfindig machen. Auch die Frage nach einer möglichen Rezeption von synoptischen Traditionen bei Paulus oder im Jakobusbrief könnte in diesem Zusammenhang diskutiert werden. 19 Zu den unterschiedlichen, die Rezeption beeinflussenden Faktoren rechne ich z.B. die Verfolgungssituation frühchristlicher Gemeinden, die Trennungsentwicklungen zwischen Juden, Judenchristen und Heidenchristen, die Definition einer eigenen religiösen Identität im Geflecht bestehender Gemeinschaften, das starke missionarische Bestreben, die sich herausbildende Christus-Frömmigkeit, die Rezeption von Texten im Hörvorgang, die Organisation in Hausgemeinden, die Herausbildung und Entwicklung von Gemeindeämtern.

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ten zu Wort meldet, und schließlich auch über den Text selbst20. Indem der Text Kompetenzerwartungen an seine Leser/innen stellt, gibt er ein Profil zumindest der intendierten Leserschaft vor. Methodisch fallen natürlich intendierte Leserschaft und Erst-Rezeption nicht automatisch zusammen. Wie stark sie einander nahekommen können, hängt letztendlich von der kommunikativen Aussagekraft der Evangelisten ab21. Fazit: Die historisch nicht dokumentierte Erst-Rezeption ist sicherlich ein unerreichbarer Ort, dem man sich aber aus drei Richtungen zumindest nähern kann: die allgemeine Geschichte des Urchristentums, die Auswertung alter Rezeptionsdokumente, die textuelle Erschließung der intendierten Leserschaft. Es stellt sich allerdings die Frage, ob eine historisch orientierte Rezeptionsanalyse überhaupt notwendig und sinnvoll ist, oder ob sie nicht viel eher einen methodischen Rückschritt oder gar einen „Kniefall“ vor dem dominierenden historisch-kritischen Paradigma darstellt. Die meisten der bisherigen Übertragungsversuche rezeptionsästhetischer Theoriekonzepte auf die Evangelien-Exegese kümmern sich in der Tat kaum um die historische Leserschaft und sehen oftmals gerade darin ihren Vorteil gegenüber den „spekulativen Hypothesen“ der historischen Forschung: Das läßt sich an der bereits genannten Pionierarbeit von Robert M. FOWLER deutlich zeigen 22: Er möchte der Zergliederung des Textes und der Unterbewertung des Evangelisten in der form- und redaktionsgeschichtlichen Markusexegese durch eine methodische Neubesinnung Einhalt gebieten (38-42): der Text ist als eine literarisch einheitliche Größe zu betrachten, der Evangelist als ein Autor, der seinem Stoff ein kohärentes Gepräge verliehen hat und dessen Intention für die Sinnkonstituierung maßgeblich ist, und schließlich ist die Perspektive des „Lesers“ ohne Rückgriff auf eine hypothetische historische Größe von Erst-Rezipierenden zu erheben 23. Sein theoretisches Modell (149-79), das sich besonders BOOTH und dem frühen FISH verpflichtet weiß, sieht einen „impliziten Leser“ vor, dem konsequent vom „impliziten Autor“ eine Rolle zugewiesen wird, die der empirische Leser einnehmen muß, um voll und ganz an der Bedeutung des Textes teilnehmen zu können (152). Eine maximale Kontrolle des Lesers findet im Text durch Kommentare des impliziten Autors statt (156-75). Wenn die autoriale Intention und die Konkretisationen des „Lesers“ ohne Berücksichtigung extratextueller Elemente mit einem so hohen Bestimmtheitsgrad direkt aus dem Text hervorgehen, wie dies von FOWLER in dieser frühen Arbeit

20 Vgl. JAUSS, Ästhetische Erfahrung, 692f; ISER, Akt des Lesens, 51f. 21 Auf das Problem der textuell bedingten Kompetenzerwartungen soll

auf den Seiten 151ff ausführlicher eingegangen werden. 22 FOWLER, Loaves. 23 Vgl. FOWLER, Loaves, 41f: „Quite often the knowledge that a scholar attributes to the first readers of Mark bears a striking resemblance to the knowledge of Christian tradition possessed by that scholar himself… It is a most instructive and valuable exercise, as we shall see later, to attempt to read the gospel as one who knows nothing of Christian tradition and history would read it. In such a reading one is utterly dependent upon the author to lead one every step of the way through the text.“

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vorausgesetzt wird, dann verrät das seine tiefe Verwurzelung im „New Criticism“24. Nicht nur die Fixierung auf den Autor, sondern auch die Ausblendung der historischen Dimension der Textrezeption sind nicht charakteristisch für die säkulare Literaturwissenschaft zu diesem Zeitpunkt25. Die Annahme eines encodierten „TabulaRasa-Lesers“, der über keine Existenz in der außerästhetischen Realität verfügt, charakterisiert allerdings auch nach FOWLER viele exegetische Beiträge26.

Das Beharren auf einer ahistorischen Anwendung des rezeptionsorientierten Paradigmas stellt m.E. gerade für die deutschsprachige Exegese ein ernsthaftes Hindernis für eine wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dieser neuen Fragestellung dar27. Das Problem der Wechselbeziehung zwischen Geschichte und Literatur ist seit dem Aufkommen des Formalismus virulent, und besonders Strukturalisten haben sich oft gegen den Vorwurf des Ahistorismus wehren müssen28. Die kritische Durchsicht theoretischer Modelle sollte jedoch gezeigt haben, wie stark in den meisten Leserkonzepten historische Gesichtspunkte mit einfließen29: Für den frühen FISH ist die zeitgenössische Leserschaft grundlegend, bei ECO hängt die enzyklopädische Kompetenz mit den sozio-kulturellen Faktoren zur Zeit der Textentstehung zusammen, ISER stellt mit seinem Begriff des Textrepertoires einen Bezug zur außerästhetischen Realität her, und JAUSS ist ohnehin primär an konkreten Rezeptionsdokumenten interessiert. Leserorientierte Interpretation will daher gar nicht die geschichtliche Fragestellung überwinden, sondern nur ein bestimmtes positivistisches Verständnis von Geschichtswissenschaft30. Für die meisten rezeptionskritischen Theorien ist die historische Wissenschaft nicht länger das 24 MOORE Literary Criticism, 9-12 stellt allgemein heraus, daß vieles, was sich in der anglo-amerikanischen Exegese als „narrative criticism“ etablieren konnte, eigentlich nichts anderes ist als eine Wiederbelebung des „New Criticism“ mit seiner rein werkimmanenten Praxis des „close reading“. 25 PORTER, „Reader-Response“, 280 urteilt daher durchaus zu Recht: „[T]his approach seems to fall outside the major concerns of most reader-response critics.“ 26 Vgl. etwa EDWARDS, Matthew’s Story, 9; J.L. STALEY, The Print’s First Kiss: A Rhetorical Investigation of the Implied Reader in the Fourth Gospel (Atlanta, 1988), 35; J.L. MAGNESS, Sense and Absence: Structure and Suspension in the Ending of Mark’s Gospel (Atlanta, 1986), 123. 27 Vgl. allgemein zur starken Verwurzelung des Historischen in der deutschsprachigen Exegese LUZ, Matthew in History, 6f. Eine weitere Schwierigkeit für die Anerkennung leserorientierter Fragestellungen dürfte sicherlich darin bestehen, daß ein einheitliches methodisches Profil fehlt (vgl. PORTER, „Reader-Response“, 278-283, der aber selbst Rezeptionsästhetik nur vom späten FISH her verstanden wissen will). 28 Vgl. A.M. JOHNSON „Structuralism, Biblical Hermeneutics, and the Role of Structural Analysis in Historical Research“, Structuralism and Biblical Hermeneutics, ed. A.M. Johnson (PThMS 22; Pittsburgh, 1979), 1-28. 29 Damit dürfte sich die zuweilen aufgestellte Dichotomie „geschichtlich/literaturwissenschaftlich“ in dieser Absolutheit als absurd erweisen. 30 Vgl. zum Geschichtsbegriff aus theologisch-exegetischer Perspektive H. W EDER, „Zum Problem einer ‚christlichen Exegese‘: Ein Versuch, einige methodologische und hermeneutische Anfragen zu formulieren“, [1980] Einblicke ins Evangelium (Göttingen, 1992), 12-21.

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Prokrustesbett der Legitimierung, sondern eine unter verschiedenen Perspektiven auf dem Weg der Sinnfindung. Es besteht daher kein Anlaß, die Evangelien so auszulegen, als ob die historische Forschung der letzten Jahrhunderte für das Verständnis dieser Dokumente nichts erbracht hätte. Was immer aus der Geschichte als Hilfe genommen werden kann, sollte nicht aus methodischem Purismus ad acta gelegt werden. Die Ausblendung der historischen Dimension in vielen exegetischen Beiträgen ist daher m.E. ein überzogener, seinerzeit wahrscheinlich notwendiger Pendelschlag weg von der Einengung der Auslegung auf den „historisch ursprünglichen“ Sinn in der historischkritischen Methode. Wenn es allerdings nicht bei einer längst überholten werkimmanenten Betrachtungsweise bleiben soll, dann sollte die geschichtliche Dimension der Rezeption nicht ausgeblendet werden31. Wenn also die Perspektive der historischen Rezipienten in den Blickpunkt der Auslegung gerät, muß vorab geklärt werden, welcher Status den Ergebnissen dieser Forschung zugedacht ist. Sollte es darum gehen, über die hypothetisch rekonstruierte Erfahrung der Erst-Rezipierenden die Erfahrung heutiger Leser/innen monopolisieren oder via Geschichtsforschung wieder zu einer das gesamte Sinnpotential des Textes aufbrauchenden Auslegung gelangen zu wollen, dann lösen sich wichtige rezeptionskritische Grundprinzipien wie Nebel in der Sonne auf32. Eine solche Perspektive droht aus den Evangelien tote Gegenstände zu machen, die letztendlich auf Fragen antworten, die heute niemanden mehr bewegen. Es ist zwar wahr, daß ich als späterer und keineswegs intendierter Rezipient des Evangelientextes „auf eine … [mir] nicht mehr selbstverständliche Erfahrungsweise“ stoße33, aber ich muß nicht deswegen meine eigene Erfahrungsweise aufgeben. Die Beschäftigung mit dem ursprünglichen Rezeptionsvorgang – so hypothesenlastig sie auch sein mag – dient m.E. der Horizontabhebung im Sinne von JAUSS. Die geschichtliche Dimension der Erst-Rezeption ist dann hermeneutisch wertvoll, wenn sie

31

Es gibt allerdings auch leserorientierte Auslegungsversuche, die die Perspektive eines historisch genau umrissenen Leserkonstrukts zur Grundlage nehmen: M.A. TOLBERT, Sowing the Gospel: Mark’s World in Literary-Historical Perspective (Minneapolis, 1989). Ihr geht es darum, Mk anhand der „literary conventions of its own“ so auszulegen „as its author hoped the original audience would be able to do“ (xii). M.A. BEAVIS, Mark’s Audience (JSNT.S 33; Sheffield, 1989) versteht Mk auf dem Hintergrund der hellenistischen Literatur und möchte zu den intendierten Leser/innen vorstoßen, indem sie die griechisch-römische Lesepraxis analysiert; vgl. a. „The Trial before the Sanhedrin (Mark 14:53-65): Reader Response and Greco-Roman Readers“, CBQ 49 (1987), 581-96. Vgl. weiterhin S. ARAI, „Stephanusrede: Gelesen vom Standpunkt ihrer Leser“, AJBI 15 (1989), 53-85; R. KANY, „Der lukanische Bericht von Tod und Auferstehung Jesu aus der Sicht eines hellenistischen Romanlesers“, NT 28 (1986), 75-90; L. PORTEFAIX, Sisters Rejoice: Paul’s Letter to the Philippians and LukeActs as Received by First-Century Philippian Women (CB.NTS 20; Uppsala, 1988). 32 Vgl. G.N. S TANTON , A Gospel for a New People (Edinburgh, 1992), 72. 33 JAUSS, Ästhet. Erfahrung, 128f.

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nicht zum Vormund, sondern zum Gesprächspartner heutiger Lektüren wird. Ein Dialog kann nur dann stattfinden, wenn vergangener und heutiger Erwartungshorizont in ihrer Verschiedenartigkeit gegeneinander abgesetzt werden. Die historische Rekonstruktion der Erst-Rezeption ist von daher unerläßlich, weil sie die Fremdheit des Textes anhand der fremden Wahrnehmung sichtbar macht und so vor einer vorschnellen Übersetzung in den eigenen Verstehenshaushalt bewahrt. Sie kann als Negativfolie, Bereicherung, Korrektur oder Bestätigung der eigenen Lektüre schließlich Grundlage für eine hermeneutische Reflexion werden, bei der das eigene Verstehen nicht von der Lektüreerfahrung der historischen Leser/innen „verschluckt“, sondern in den gesamten Verstehensablauf integriert wird. Ein solches Ringen um ein dem Text und der eigenen Wirklichkeit angemessenes Verstehen mag zwar mühevoll erscheinen, macht aber gerade deshalb das erlangte Resultat um so wertvoller. 3.1.3 Der encodierte oder implizite Leser Der Text hält Parameter zu seiner Realisierung bereit. Von daher ist es unbestreitbar, daß sich mögliche Sinnfindungsprozesse durch textuelle Elemente zumindest hypothetisch voraussagen lassen können. Dieser „Leser im Text“ erscheint vielen als die attraktivste Lösung, weil es sich um eine abstrakte Größe handelt, die sich unmittelbar aus formalen Textelementen erschließen läßt34. Dadurch wird die Prioritätsstellung des Textes nicht in Frage gestellt. Während die Reaktion empirischer Leser/innen als zu variabel und die der Erst-Rezipierenden als zu hypothetisch eingestuft wird, präsentiert sich der „textuelle Leser“ als die einzig konstante und direkt aus dem Text erhebbare Größe. Ich habe bereits bei der Diskussion um ISERS Konzept des „impliziten Lesers“ (s.o. S. 66f) und um den Begriff des „impliziten Autors“ (s.o. S. 95ff) auf die Defizite einer solchen Konstruktion aufmerksam gemacht. Die wichtigsten Punkte sollen noch einmal zusammengefaßt werden: 1. ISER sagt zwar deutlich, was der „implizite Leser“ nicht ist, aber bei der positiven Bestimmung werden Text- und Geschehensebenen ständig vermischt. Ich bezeichne das als die „anthropomorphe Falle“, weil ein Begriff, „Leser“, in die Ebene des Textes verlegt wird, der im alltäglichen Sprachgebrauch nur vor dem Text denkbar ist. Die Metapher des „impliziten Lesers“ verleitet in der Praxis daher allzu leicht dazu, von seinen Aktivitäten und Schlußfolgerungen wie von denen empirischer Leser/innen zu reden. Indem der „implizite Leser“ in der Praxis fortwährend vor die Textwelt tritt, wird aber die binäre Struktur von Text- und Leserpol unkenntlich gemacht. 2. Da bei der Annahme eines textuellen Leserkonstrukts die Wahrnehmung realer Leser/innen immer mit hineinspielt, werden encodierte Leser/innen in 34 Vgl.

etwa IERSEL, Markus, 57-9.

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der Praxis oft zum Deckmantel für alle möglichen historischen Bezüge und/oder für die Interessen des Auslegers oder der Auslegerin selbst. Daher ist der Verdacht nicht ganz von der Hand zu weisen, daß so manche/r Forscher/in sich im alter ego seines/ihres Leserkonstruktes zu verewigen beabsichtigt. 3. Am ehesten wird man den „impliziten Leser“ als „Rollenangebot des Textes“35 verstehen (im Sinne von PRINCES „Erzähladressaten“). Es würde sich demnach um eine rhetorische Größe handeln, die aus dem Text bestimmbar ist und nur von empirischen Leser/innen aktualisiert werden kann. Als Textstrategie verstanden, ist der „implizite Leser“ natürlich auch ein Verbindungsglied für wirkliche Leser/innen, darf aber nicht mit diesen identifiziert werden. Ähnlich wie im Falle des „impliziten Autors“ ist daher nicht zu fragen, ob der „implizite Leser“ „existiert“, sondern ob der Begriff brauchbar ist. Die „anthropomorphe Falle“ läßt sich m.E. umgehen, wenn ein Begriff wie „Textstrategie“ benutzt wird, der auch deswegen brauchbarer ist, weil er eine rhetorische Größe nicht männlich konstruiert, wie dies beim „impliziten Leser“ der Fall ist. 3.1.4 Schlußfolgerung Fragt man nach dem Leser eines Textes, dann treten die unterschiedlichsten Lesertypen hervor. Ich werde im Verlauf meiner exegetischen Beschäftigung mit dem Text auf alle drei Dimensionen eingehen – mit einem Schwergewicht auf der hypothetischen Erst-Rezeption. Terminologisch läßt sich zwischen „Verstehen“ (heutige Leser/innen), „Rezeption“ oder „Wahrnehmung“ (historische Leser/innen) und „Wirkung“ („impliziter Leser“ = Textstrategie) unterscheiden36. Die Trennung dieser drei Größen hat allerdings eher heuristischen Wert, denn in der Praxis sind die Übergänge fließend: Zwischen mir und den historischen Leser/innen liegt zwar ein großer Graben, aber als vollkommen unüberbrückbar ist er deswegen nicht zu bezeichnen, weil es Fragen gibt, die wir mit den damaligen Leser/innen durchaus gemeinsam haben können. Außerdem haben die historischen Leser/innen einen Traditionsprozeß in Gang 35 ISER, Akt des Lesens, 61.64. 36 Die terminologische Unterscheidung

zwischen Rezeption und Wirkung ist im Werk von JAUSS und ISER bereits verankert. „Rezeption“ bezeichnet nach ISER „die Phänomene dokumentierter Textverarbeitung“ (Akt, I), „Wirkung“ hingegen bezieht sich auf die durch den Text selbst in Gang gesetzten Konkretisationen der Leser/innen. Das eine ist daher eine historisch-soziologische Fragestellung zur Ermittlung von „historischen Bedingtheiten der jeweils dokumentierten Rezeption von Texten“, das andere hingegen der texttheoretische Versuch, „die Interaktion zwischen Text und Kontext sowie die zwischen Text und Leser“ zu beleuchten (Akt, IV). JAUSS unterscheidet ähnlich zwischen „Wirkung als das vom Text bedingte und Rezeption als das vom Adressaten bedingte Moment der Konkretisation von Sinn“ (Ästhetische Erfahrung, 696).

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gesetzt, an deren verzweigtem Ende auch meine Generation von Ausleger/innen steht. Zwischen dem „impliziten Leser“ und den historischen Leser/innen herrscht ein Wechselverhältnis, das sehr stark von der kommunikativen Kompetenz des Autors abhängig ist; d.h. von seiner Fähigkeit, den Erwartungshorizont seiner intendierten Leserschaft so in die rhetorische Anlage seines Werkes einzubeziehen, daß der Text in seiner Endgestalt die gewünschte Wirkung zumindest zum Teil erzielen kann. Der „implizite Leser“ und moderne Leser/innen stehen in einer engen Beziehung zueinander, weil nur heutige Leser/innen in der Lage sind, den impliziten Leser aus dem Dämmerzustand bloßer Potentialität ins Leben erfahrener Wirkung zu erwecken (also: Textstrategien zu realisieren). Alle drei Größen sind also miteinander verwoben, können aber wenigstens richtungsweise voneinander unterschieden werden. Ich folge in dieser Arbeit der Spur von JAUSS, wenn ich für die Horizontabhebung moderne Lektüren und die hypothetische Erst-Rezeption ins Gespräch zu bringen versuche. Wie bereits dargestellt, läßt sich die hypothetische Erst-Rezeption über die allgemeine Geschichte des Urchristentums, die Auswertung alter Rezeptionsdokumente und die möglichst genaue Bestimmung der Textstrategien und Kompetenzerwartungen erheben. Daß die ErstRezeption vom Umfang her den Hauptteil der Exegese einnimmt, hängt vor allem damit zusammen, daß sich auf dieser Ebene die Diskussion mit den Ergebnissen historischer Kritik am ehesten führen läßt. 3.1.5 Ein offenes Problem: Das Geschlecht des „Lesers“ „Christus stellt seine Satzungen immer für alle auf, auch wo er sie nur für Männer zu geben scheint… Er betrachtet eben Mann und Frau nur wie eine Person und macht darum nie einen Unterschied zwischen den Geschlechtern.“ Joh. Chrysostomus, Matthäushomilien 17,2 = BKV 23,307 = PG, 57,257

Die Tatsache, daß keine der oben besprochenen Positionen (s. I.2) sich die Frage nach dem Geschlecht des Lesers stellt, ist an sich befremdlich. Denn feministische Literaturtheorie und leserorientierte Auslegungsmodelle haben ein gemeinsames Interesse daran, die autoriale Autorität, den autonomen Wert des Kunstwerks und das Objektivitätsideal vieler Auslegungstraditionen kritisch zu hinterfragen37. Von der Einsicht, daß „der Leser“ zur Sinnfindung Grundlegendes beizusteuern hat, zur Überzeugung, daß bei solchen Sinnfindungsprozessen auch geschlechtliche Faktoren (im Sinne von „gender“ oder „sozialem Geschlecht“) eine Rolle spielen, ist es kein großer Schritt38. 37

P.P. SCHWEICKART, „Reading Ourselves: Toward a Feminist Theory of Reading“, Gender and Reading, ed. E.A. Flynn, P.P. Schweickart (Baltimore, 1986), 38. 38 Vgl. CULLER, Dekonstruktion, 46-69.

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Empirische und kognitive Untersuchungen haben zudem diesen Sachverhalt bestätigen können39. Die oftmals kategorische Rede von dem Leser, durch die der neutrale Gegenstand einer textuellen Strategie „vermännlicht“ oder sogar die Gesamtheit realer Leser/innen in einem männlichen Begriff repräsentiert wird, läßt sich daher leicht als androzentrische Unsitte entlarven. Daß biblische Texte ihre patriarchalen Grundprämissen an vielen Stellen verraten und daher in der Tat einen männlichen „impliziten Leser“ vorsehen (Mt 24,15b: Ho hanagin´wskwn), ist Konsens unter feministisch arbeitenden Exegetinnen und hat auch darüber hinaus Anerkennung gefunden40. Uneinheit besteht vor allem darin, welche Konsequenzen daraus zu ziehen sind41. Die feministische Literaturtheorie, die im Hinblick auf ihren literarischen „Kanon“ vor ähnlichen Problemen steht, ist heutzutage weit von einer konsensfähigen Lösung entfernt42: 1. Der frühen feministischen Literaturtheorie in den 70er Jahren ging es vor allem um die feministische Kritik androzentrischer Werke der in einer langen Tradition „quasi-kanonisierten“ Weltliteratur. Mit manchmal bissiger, aber aufdeckender Ironie ließ sich zeigen, daß diese Werke oftmals eine Leserolle parat halten, die aus weiblicher Perspektive unakzeptabel ist43. Die bewußt feministische Leserin ist daher aufgerufen, dem Text Widerstand zu leisten, sich gegen seine Strategien der „Vermännlichung“ (engl.: immasculation) zur Wehr zu setzen; sie ist ein „resisting reader“44. 2. In einem nächsten Schritt wurde dann zur Auslegung von Frauenli39

Bei einer groß angelegten empirischen Untersuchung mit 717 Studenten (344 Männer und 372 Frauen) zwischen 17-19 Jahren zu einer Kurzgeschichte von Cecil Bødker ist u.a. festgestellt worden, daß das Geschlecht die Beziehung zur männlichen Hauptfigur beeinfußt (vgl. C. DOLLERUP, C.R. HANSEN, „Readers’ Response in Reading: An experimental study“, OrbLit 47 [1992], 363-7.371). Vgl. auch die kognitive Untersuchung von M. CRAWFORD, R. CHAFFIN, „The Reader’s Construction of Meaning: Cognitive Research on Gender and Comprehension“, in Flynn/Schweickart, Gender and Reading, 3-30. 40 FOWLER, Reader in the Text, 5 äußert den Verdacht, das Markusevangelium konstruiere seinen Leser womöglich als männlich. 41 Vgl. E. S CHÜSSLER FIORENZA, Brot statt Steine: Die Herausforderung einer feministischen Interpretation der Bibel (Fribourg, CH, 1988), 40-49 zur Diskussion um die Stellung der Bibel als Buch der Frauen-Kirche. 42 Vgl. den aktuellen Überblick in L. LINDHOFF, Einführung in die feministische Literaturtheorie (Sammlung Metzler 285; Stuttgart, 1995). 43 Thomas Hardys Roman The Mayor of Casterbridge beginnt damit, daß der betrunkene Held seine Frau und seine kleine Tochter in aller Öffentlichkeit für fünf Guineas an einen Seemann verkauft. Der Erzähler spricht von den „Tiefen unserer gemeinsamen Phantasie“ und macht damit seine Leser/innen zu Komplizen des Helden. E. SHOWALTER, „The Unmanning of the Mayor of Casterbridge“, Critical Approaches to the Fiction of Thomas Hardy, ed. D. Kramer (London, 1979), 99-115 hat gezeigt, wie dadurch dieser Text zu einem exklusiv männlichen Dokument wird. 44 Grundlegend ist das Werk von J. FETTERLEY , The Resisting Reader: A Feminist Approach to American Fiction (Bloomington, 1978). Ihr Konzept des „resisting reader“ hat Ähnlichkeiten mit SCHÜSSLER FIORENZAS Hermeneutik des Verdachts. Vgl. a. E. SHOWALTER, „Women and the Literary Curriculum“, ColEng 32 (1971), 855-862.

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teratur übergegangen45. Nicht mehr die Frau als Leserin, sondern die Frau als Autorin steht im Mittelpunkt. Das Ziel ist die Begründung einer eigenen literarischen Tradition, in der Frauen sich als Frauen in der Literatur erfahren können46. Aus dieser Perspektive wäre die Bibel in der Tat für Frauen kaum noch sinnvoll anzueignen. 3. Poststrukturalistische feministische Literaturtheoretikerinnen (wie etwa Julia Kristeva, Hélène Cixous und die Philosophin und Psychoanalytikerin Luce Irigaray) sind in ihrer Kritik noch viel weiter gegangen: Nicht diese oder jene Literatur ist androzentrisch, sondern Sprache allgemein führt zum Ausschluß des Weiblichen aus der „symbolischen Ordnung“. In unserer gegenwärtigen Kultur gibt es daher keine positiv aussagbare weibliche Identität. Das Weibliche realisiert sich erst in der Dekonstruktion der symbolischen Strukturen des westlichen Denkens47. Eine solche Feststellung ist allerdings für die konkreten politischen Forderungen nach Frauenrechten innerhalb der jetzigen Strukturen eher ein Hindernis als eine Hilfe. Diese noch lange nicht zu Ende gebrachte Diskussion ist weniger im Hinblick auf die Erfassung der Erst-Rezeption wichtig48, als vielmehr im Hinblick auf heutige Lektüren und ihre kritische Bewertung. M.E. sind Texte dann für heutige Leserinnen unzumutbar, wenn sie ihre Leser/innen dazu „zwingen“, an Erfahrungen teilzuhaben, aus denen Frauen ausdrücklich ausgeschlossen sind, oder sich mit männlichen Helden zu identifizieren, für die Frauen feindliche und unwürdige Objekte sind49. Dies kann von den Evange45

E. SHOWALTER, „Feminist Criticism in the Wilderness“, [1981] The New Literary Criticism, ed. E. Showalter (New York, 1985), 243-270 spricht von „gynocriticism“. 46 Es ist von feministischer Seite an SHOWALTERS Position kritisiert worden, daß auch Frauenliteratur ideologisch und androzentrisch sein kann (vgl. E. CHENEY, She Can Read: Feminist Reading Strategies for Biblical Narrative [Valley Forge, 1996], 30f). 47 In diesem Sinne verfährt S. DURBER, „The Female Reader of the Parables of the Lost“, JSNT 45 (1992), 59-78: Mit einer poststrukturalistischen „Vorgehensweise“, die Elemente aus der Psychoanalyse Lacans, der marxistischen Theorie Althussers, der Literaturphilosophie Derridas, feministischer Filmtheorie und des modernen französischen Feminismus aufnimmt, kommt sie zu folgendem Resultat: „It is questionable, then, whether there can be such a thing as a female reader of the parables in Luke 15; parables which construct their readers as male and texts that offer narrative pleasure to men. We can read as men … Alternatively, we can refuse to be constructed as male and so be excluded from reading the text. We will not find new feminist readings, but find it impossible to read these texts at all. We will need to write new ones, but that, of course, will have problems of its own“ (77-78). CHENEY, She Can Read, 26: „Durber’s insistence on the impossibility of innovative readings of biblical texts is not particularly beneficial for women who want to read biblical texts and also affirm themselves as women.“ 48 PORTEFAIX, Sisters Rejoice kann das Experiment wagen, Phil und Apg aus der Sicht einer zeitgenössischen Leserin auszulegen, weil sie durch die Vorgabe einer Frau im Philippi des ersten nachchristlichen Jahrhunderts eine nachvollziehbare Eingrenzung vornehmen kann. Insgesamt wäre aber auch bei ihrer Auslegung zu fragen, wo im einzelnen Leser und Leserinnen getrennte Wege bei ihrer Wahrnehmung des Textes gegangen sein könnten. 49 Ähnlich CHENEY , She Can Read, 37: „I … assume that female readers will accept the role of the implied reader until evaluation of the perspective of the text reveals that they must

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lien insgesamt m.E. nicht ohne weiteres gesagt werden. In jedem Falle wird eine leserorientierte Annäherung aus feministischer Perspektive andere Wege gehen, als ich sie in dieser Arbeit beschreite50.

3.2 Die Interaktion zwischen Text und Leser/in Die Frage nach der Interaktion zwischen Text und Leser/in gehört zu den grundlegenden Problemen, die im Vorfeld jeder rezeptionsästhetischen Beschäftigung zu erörtern sind. Sie führt unmittelbar in das hermeneutische Spannungsfeld zwischen Sinndeterminiertheit, kontrollierter Offenheit und unbegrenzter Polyvalenz51. Folgende Positionen lassen sich unterscheiden: Leser/in

dem Text untergeordnet

im Text vor dem Text (synchron) vor dem Text (diachron)

Gibson, Eco, Prince Fish I Fish I, Richards, Riffaterre

mit dem Text gleichberechtigt Iser, Eco (?) Jauß Iser

dem Text übergeordnet

Culler, Fish II

1. Dem Text untergeordnete/r Leser/in: Der Text sieht einen Modell-Leser vor (ECO), dem sich heutige Leser/innen zu beugen haben. Geht man von einem textimmanenten Ideal-Leser aus, dann ist es nur konsequent, wenn sich dieser den Anweisungen des Textes insgesamt fügt (vgl. die dritte und vierte Kategorie von RABINOWITZ). Ein solcher Ideal-Leser ist allerdings aus hermeneutischer Perspektive problematisch, weil er ja derart mit dem „Code des Werkes“ übereinstimmt, daß Kommunikation (also Übermittlung von NochNicht-Gekanntem) eigentlich gar nicht stattfinden kann bzw. überflüssig ist52. 2. Dem Text übergeordnete/r Leser/in: Gerade im Zeichen poststrukturalistischer Texttheorien löst sich der Text als sinn-lenkende Größe auf. Grundannahme solcher Modelle ist die Überzeugung, daß der schriftliche Text keine stabile Größe, also im Prinzip „immateriell“ ist und daher keinen Widerstand relinquish it and then either read against the grain of the implied reader’s constructed role or dismiss the text.“ Die wichtigste Strategie, um die Angemessenheit einer Leserolle festzustellen, nennt sie „gender reversal“ (37-9): Um festzustellen, ob eine Erzählperspektive konventionellen Rollentypologien folgt, ist zu fragen, ob die gleiche Erzählung mit vertauschten Geschlechtszuweisungen denkbar wäre. 50 Vgl. für das Mt-Evangelium: J.C. ANDERSON, „Matthew: Gender and Reading“, Semeia 28 (1983), 3-27; CHENEY, She Can Read; J. SCHABERG, „Feminist Interpretations of the Infancy Narrative of Matthew“, JFSR 13 (1997), 35-62; E.M. WAINWRIGHT, Towards a Feminist Critical Reading of the Gospel according to Matthew (BZNW 60; Berlin u.a., 1991). 51 Vgl. zum übergreifenden Problem der Grenzen der Interpretation u. S. 375ff. 52 Vgl. ISER, Akt des Lesens, 51-54.

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leistet. Da man jede Interpretation für eine Aneinanderreihung subjektiver Eintragungen hält, scheint der Schluß unumgänglich, daß der Text letztendlich bei der Interaktion „sprachlos“ ist. Der Text ist ein leeres Blatt, das vom lesenden Subjekt neu geschrieben wird. Wie sich am Beispiel FISHS zeigen ließ, sind nicht nur die Konsequenzen dieser Annahme erschreckend reaktionär – alles kann getrost beim alten bleiben –, sondern die Frage bleibt unbeantwortet, welchen Sinn es eigentlich noch haben soll, Texte zu lesen und miteinander zu kommunizieren53. Wenn Menschen zusammen Musik hören, wird zwar jede/r individuell anders auf das Stück reagieren, nur die gespielten Noten sind als physikalisch meßbare Schallwellen vorgegeben und insofern für alle identisch. Man könnte sagen, daß es den Text an sich nicht gibt, sondern nur den Text als bereits wahrgenommene Größe. Dennoch hat der Text – ob schriftlich oder gesprochen – ein extra nos in seinem äußeren Wortlaut, wahrnehmbar als Druckerschwärze oder Luftschwingung. In seiner sprachlichen Gestalt ist der Text eine Rezeptionsvorgabe, die je individuell realisiert wird54. Aber alle Realisierungen können sich auf die materielle Struktur des Textes zurückbeziehen. ISER hat in Auseinandersetzung mit FISHS Kritik an ihm eine wichtige Differenzierung getroffen55: Er unterscheidet nicht zwischen Bestimmtheit und Unbestimmtheit, sondern zwischen Gegebenem (given), Bestimmtheit und Unbestimmtheit. Die Worte eines Textes sind vorgegeben, ihre Interpretation ist bestimmt und die Leerstellen zwischen einzelnen Elementen sind unbestimmt. Sofern man nicht annehmen will, daß die Wahrnehmung eines Wortes mit dem Auge eine Halluzination sei, ist die Sprache des Textes objektiv vorhanden. Erst die Interpretation eines linguistischen Zeichens ist von unterschiedlichen Verstehenskategorien geleitet. Interpretation ist daher nur dann eine sinnvolle Aktivität, wenn es im Verlauf der Auslegung etwas Fremdes gibt, worauf man stoßen könnte. In diesem Sinne möchte ich daran festhalten, daß der Text nicht im Pol der Rezeption verschwindet, weil er als sprachliche Vorgabe eine materielle Erscheinungsform hat, die in der Lektüre Widerstand leistet56. Unter dem Stichwort „der Leser schafft Bedeutung“ wird zwar eindeutig Richtiges gesagt, doch bedeutet das nicht, daß der Text bei dieser Sinnsuche kein Mitspracherecht mehr hat57. 53

M.E zeigt die Wirkungsgeschichte vieler, auch vieler biblischer Texte, daß sie über das Potential verfügen, soziale und religiöse Veränderung zu schaffen, auch um die Prämissen einer „Auslegungsgemeinschaft“ in Frage zu stellen. 54 Ähnlich FRANKEMÖLLE, 75. 55 ISER, „Talking“. 56 Vgl. P. RÖDER, „Zur Immaterialität der Postmoderne oder: Was hat der dialektische Materialismus noch zu sagen? Vorüberlegungen zur historisch-kritischen Reflexion einer umlaufenden Theorie“, DVfLG 67 (1993), 322-87. 57 Zuweilen wird in der Diskussion das Problem der Gattung und der spezifischen Charakteristika der auszulegenden Texte zu wenig bedacht. EAGLETON (Literaturtheorie, 64)

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3. Mit dem Text gleichberechtigte/r Leser/in: Der sog. „goldene Mittelweg“ ist so „golden“ nicht, weil Mittelpositionen mehr Angriffsflächen bieten. Sowohl ISER als auch JAUSS und ECO suchen nach Mitteln, die Interaktion zwischen Text und Leser/in so zu beschreiben, daß beide zum Sprechen kommen. Im Rahmen dieser Mittelposition möchte ich meine Arbeit ansiedeln. Doch muß die Interaktion zwischen Text und Leser/in für die verschiedenen Leserkonstrukte unterschiedlich bewertet werden58: a) Die Interaktion Text - „impliziter Leser“: Eine solche „Interaktion“ bereitet keine Probleme, weil sie – streng genommen – gar nicht stattfindet. Der „implizite Leser“ ist als Leserrolle Teil des Textpols und kann zwar eine Interaktion vorbilden, strukturieren oder lenken, aber nicht selbst an ihr teilnehmen. Als rhetorische Textstrategie ist der „implizite Leser“ immer dem Text unter- bzw. zugeordnet. Geht man von einem Komplementärverhältnis zwischen der textuellen Erzählfigur und dem „impliziten Leser“ aus59, dann wird ein autoritativer Erzähler einen eingeschränkten „impliziten Leser“ rhetorisch vorstrukturieren, während sich eine „offene“ Erzählweise die Waage mit einem „kreativen“ Leser halten wird. Die Initiative bei dieser „virtuellen Interaktion“ geht aber immer vom Text aus. b) Die Interaktion Text - historische Leser/innen: Auch wenn in bezug auf diese Frage sicherlich für jedes Evangelium unterschiedliche Aspekte hervorzuheben wären (das individuelle Publikum variiert ja von Evangelium zu Evangelium), so geht es letztendlich um die Frage nach dem Autoritätsverhältnis zwischen der durch den Text repräsentierten Erzählperspektive und der intendierten Leserschaft. Die erfolgreiche Vermittlung von moralischreligiösen Werten funktioniert am ehesten, wenn sich der Text auf Autoritäten beruft, die zumindest die intendierte Leserschaft bereit ist zu akzeptieren. Es ist offensichtlich, daß in den Evangelien der Erzähler die Perspektive Gottes als norma normans für alle weiteren Normübermittlungen wählt60. Dazu geschreibt treffend: „Tatsächlich rücken die meisten Literaturtheorien unbewußt eine bestimmte literarische Gattung in den Vordergrund und leiten ihre allgemeinen Aussagen davon ab… Im Fall der modernen Literaturtheorie ist die Hinwendung zur Lyrik von besonderer Bedeutung. Denn Lyrik ist von allen literarischen Gattungen diejenige, die sich am offensichtlichsten vor der Geschichte verschließt …“. So kann z.B. R. CROSMAN die Frage seines Artikels „Do Readers Make Meaning?“ (in: Suleiman/Crosman, Reader in the Text, 149-64) am Ende uneingeschränkt bejahen, weil er seine Hypothese anhand eines kurzen Gedichts von Ezra Pound darlegt und von dort aus Rückschlüsse auf alle literarischen Gattungen zieht. 58 Die Übersicht macht deutlich, daß die Frage nach dem Ort des Lesers in einem Wechselverhältnis zum Problem der Offenheit eines Textes stehen kann. Zumindest scheint die Kombination eines Lesers, der gleichzeitig im und über dem Text ist, undenkbar. 59 ECO, Lector in fabula, 76: „Die Intervention eines sprechenden Subjekts verhält sich komplementär zur Aktivierung eines Modell-Lesers“. Vgl. HOWELL, Inclusive Story, 212; VORSTER, „Reader in the Text“, 30. 60 KINGSBURY , Story, 34: „The evaluative point of view that the implied author has chosen to make normative is that belonging to God.“ Eine solche Aussage ist für den Bereich

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hört der Einsatz von Zitaten aus dem Alten Testament, der Bericht von Führungen einzelner Personen durch Träume oder Engelserscheinungen, aber vor allem die Erzählung der Handlungen und Reden der Hauptfigur, Jesus von Nazaret, der als jemand, der mit Gott in einem besonderen Verhältnis steht (Sohn Gottes), die Werte der Gottesherrschaft propagiert61. Indem also die Evangelien als Text sozusagen „auf der Seite Gottes“ stehen, lassen sie einer Leserschaft, die bewußt diese Perspektive teilt, wenig Freiraum, um kritisch oder kreativ den Text „gegen den Strich“ zu lesen. Ihre Bindung an den neuen christlichen Glauben führt zu einer ebensolchen Bindung zu den neuen christlichen, „protokanonischen“ Texten, denen gegenüber Autonomiebestrebungen undenkbar erscheinen würden. M.a.W.: die historischen Leser/innen bzw. Hörer/innen der Evangelien haben sich sicherlich unter die Autorität des Textes gebeugt, was allerdings nicht impliziert, daß alle alles gleich verstanden haben. c) Die Interaktion Text - heutige Leser/innen: Diese Interaktion ist nur bedingt vorhersehbar, weil sie sich grundsätzlich jeder normativen Einschränkung entzieht. Im Sinne BULTMANNS spielen hier Vorverständnis und Vorurteile mit hinein62. So unterscheidet sich eine biblizistische Lektüre, bei der die Bibel schon immer Gottes nahes, vollkommenes und irrtumsloses Wort an mich ganz persönlich ist, grundlegend von einer historisch-kritischen Lektüre, die in kritischer Distanz den Text als einen fernen, mit Schwierigkeiten überladenen und jederzeit in seinem Sachanliegen hinterfragbaren Text liest. Jeder Leser und jede Leserin ist im Prinzip frei, den Text nach Belieben zu deuten; ohne aber diese Freiheit einschränken zu wollen, kann m.E. der Text nur gewinnen, wenn die historische Dimension der Textkommunikation mit berücksichtigt wird. ECO stellt mit gewohnter Drastik „Nehmen fest63: Sie … den Prozeß von Kafka und lesen Sie ihn als Detektivgeschichte; das ist zwar nicht gesetzlich verboten, aber textuell erbringt es ein äußerst kümmerliches Ergebnis. Man könnte sich aus den Seiten des Buches ebensogut Joints drehen, und man fände daran erheblich mehr Geschmack.“

religiöser Literatur sicherlich banal und bedarf kaum einer weiteren Begründung. 61 Auf einen interessanten Unterschied zwischen Mt und Mk auf der einen Seite und Lk und Joh auf der anderen soll dennoch hingewiesen werden: Der Erzähler des Matthäus- wie des Markusevangeliums verläßt sich so sehr auf die Bereitschaft seiner anvisierten Leserschaft, Gott als autoritativen Blickwinkel zu akzeptieren, daß er nirgendwo explizit den Versuch unternimmt, sich selbst als zuverlässige Erzählquelle zu legitimieren – im Gegensatz zu Lukas und Johannes (vgl. Lk 1,1-4; Joh 21,24). Dies hat sicherlich etwas mit der historischen Leserschaft zu tun. 62 BULTMANN , „Voraussetzungslose Exegese?“ Die strenge Unterscheidung zwischen Vorverständnis und Vorurteil ist allerdings deutlich von den eigenen Prämissen bestimmt. 63 Lector in fabula, 74.

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3.3 Die Kompetenzen der Leser/innen Die meisten literaturwissenschaftlichen Lektüremodelle gehen von Leser/innen aus, die irgendwie mit konventionalisierten Kompetenzen ausgestattet sind, die den Bereich des Textes transzendieren. So spricht G. PRINCE von der semantischen, grammatikalischen, narrativen und mnemischen Kompetenz des Lesers64. Für den frühen FISH spielen sprachliche und literarische Kompetenzen wie auch die Kenntnis zeitgenössischer Konventionen eine wichtige Rolle65. Sozio-kulturelle und intertextuelle Vorkenntnisse beschreibt ECO mit dem Begriff der „enzyklopädischen Kompetenz“66 und ISER mit dem des Textrepertoires67. Die bereits kritisierte Praxis eines „jungfräulichen“ Leserkonstrukts ist nicht nur wegen der Begrenzung auf den Bereich der Textimmanenz unplausibel, sondern auch wegen der Annahme einer Leserinstanz, die praktisch vor Beginn des Lektüreprozesses über keinerlei Vorwissen verfügt und daher alle Schlußfolgerungen nur aufgrund der durch den Text vermittelten Informationen ziehen kann68. Ich gehe in meiner Arbeit von „informierten“ oder „kompetenten“ Leser/innen aus, die sowohl sprachlich, literarisch als auch historisch über das enzyklopädische Wissen verfügen, das nötig ist, damit der Text eine seiner möglichen Wirkungen entfalten kann69. 3.3.1 Der Wissensstand der Leser/innen Der Umfang der kognitiven Kompetenz eines Leser oder einer Leserin beeinflußt auf ganz entscheidende Art und Weise die Lektüreerfahrung. Allerdings ist es nicht einfach, ein „Phantombild“ der verschiedenen Lesertypen zu zeichnen: Heutige Leser/innen, mich eingeschlossen, sind im steten Wandel begriffen, d.h. die Grenzen ihrer Kompetenz sind stets verschiebbar. Ihre Kompetenz läßt sich zwar noch am ehesten präzise umreißen, unterliegt aber einem ständigen Modifizierungsprozeß, der in vielen Fällen vom Text selbst 64 „Introduction to the Study of the Narratee“, in Tompkins, 65 Is There a Text in this Class? 44-50. 66 Lector, 15ff. 67 Akt des Lesens, 115-143. 68 MOORE, Literary Criticism, 91-5 faßt am Ende seiner

Reader-Response, 9-11.

Betrachtung dieses Problems treffend zusammen: „The virgin reader is an anachronistic construct for gospel research.“ JAUSS, Ästhetische Erfahrung, 689f stellt fest, „[d]aß es in der ästhetischen Erfahrung keine Virginität gibt, weil man kein Kunstwerk verstehen kann, ohne ihm eine Vergangenheit hinzuzubringen, und über seinen ästhetischen Wert erst geurteilt werden kann, wenn man ein literarisches Werk als ein noch unbekanntes vor dem Horizont schon bekannter Werke sieht.“ So weigert sich z.B. FOWLER, Loaves, 140f, zu Unrecht, in den Speisungsgeschichten (Mk 6; 8) eucharistische Anspielungen zu sehen, weil der „implizite Leser“ noch gar nicht die Eucharistie-Erzählung kennen könne. 69 Vgl. weiterhin CULLER, Structuralist Poetics, 123f; RIMMON-KENAN, Narrative Fiction, 118-25.

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in Gang gesetzt wird. Der Text stellt kognitive Erfordernisse und baut auf Implikationen auf, die einen Mangel im Wissensvorrat seiner modernen Leser/innen sichtbar machen, den zu schließen Aufgabe exegetischer Arbeit ist. Ähnlich steht es im Falle der zeitgenössischen Leserschaft. Diese nimmt an den Konventionen ihrer Auslegungsgemeinschaft teil und kann von daher eine sinnvolle Verbindung der Zeichen innerhalb des Textes realisieren. Solche Konventionen können mittels motiv-, traditions- und religionsgeschichtlicher Forschung historisch rekonstruiert und zu einem potentiellen Horizont für die Erfahrung der Erst-Rezipierenden aufgebaut werden. Auch die allgemeine Geschichte des Urchristentums als soziologischer Rahmen für die Wahrnehmung der Evangelien ist auf keinen Fall aus der Beschreibung der möglichen Reaktion der Erst-Rezipierenden auszublenden. Doch läßt sich der aktuelle Wissensstand der ursprünglichen Leserschaft mangels direkter deskriptiver Zeugnisse nur sehr schattenhaft umreißen, am ehesten noch via negationis70. Letztendlich sind wir darauf angewiesen, die Kompetenzerwartungen zu beschreiben, die im Text selbst eingekapselt sind, obwohl damit zu rechnen ist, daß es unter den konkreten Leser/innen bzw. Hörer/innen sowohl solche gab, die unter, als auch solche, die über den geforderten Kompetenzerwartungen lagen. Als Fazit bleibt: Beschreibbar auf der Grundlage textueller Merkmale ist lediglich die Kompetenz des sog. „impliziten Lesers“, also der im Text angedeuteten Leserolle. Daß der Wissensvorrat dieser textuellen Leserolle wohl immer eine Untermenge meiner eigenen kognitiven Kompetenz sein wird, ist ein Problem, das zwar benannt, aber kaum umgangen werden kann. Auf folgende rhetorische Signale ist zu achten, wenn ein Phantombild des narrativen Publikums einer Einzelerzählung erstellt werden soll71: 1. Direkte Anreden in der zweiten Person und implizite Anreden (z.B. inklusives „wir“, unpersönliche Ausdrücke und Indefinitpronomen) können Auskünfte über die intendierte Leserschaft geben. 2. Rhetorische Signale: a) Fragen, die innerhalb der Erzählung unmotiviert oder deplaziert erscheinen, können sich auf den Fragehorizont der Erzähladressaten beziehen. b) Negationen können Einwänden der Erzähladressaten zuvorgreifen. c) Bezugnahmen auf andere Texte (vgl. u. S. 156ff) oder gemeinsame Erfahrungsbereiche. d) Bei Vergleichen und Analogien ist anzunehmen, daß die Bildhälfte im Vorstellungsinventar der Leser/innen vorhanden ist. e) Explizite Rechtfertigungen des Erzählers (z.B. „man verzeihe mir diese Unterbrechung“) machen den Erwartungshorizont der Leser/innen deutlich. f) Nebenbemerkungen des Erzählers, die den

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Es macht z.B. einen großen Unterschied, ob ein historischer Lukas-Leser mit Herodot, Thukydides oder Josephus vertraut war oder ob die Leser/innen der synoptischen Endzeitrede die Henoch-Tradition kannten. Leider sind solche Aussagen kaum gesichert zu machen. 71 Vgl. bes. PRINCE, „Narratee“, 13-17. Im Bereich ntl. Exegese hat CULPEPPER, Anatomy, 211-27 den Versuch unternommen, die Kompetenzerwartungen des Erzählpublikums des Johannesevangeliums anhand des Textes zu erheben.

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logischen Faden auf der Erzählebene unterbrechen, können Hinweise über die Leserschaft geben (vgl. etwa Mt 27,8; 28,15). 3. In vielen Sprachen kann man anhand des Gebrauchs des bestimmten Artikels Identifizierungen vornehmen. So kann man im Altgriechischen davon ausgehen, daß der Artikel vor Namen und Orten eine allgemein bekannte Größe einführt, doch ist der Gebrauch des Artikels im neutestamentlichen Griechisch so uneinheitlich (aufgrund semitischen Einflusses?), daß dieses Kriterium praktisch inoperabel ist. 4. Erläuterungen in Form von Appositionen, Genitiverweiterungen, Relativsätzen, Übersetzungen usw. können einen Aufschluß darüber geben, wie der Erzähler den Kompetenzbereich seiner Leser/innen erweitert. Als Grundregel kann gelten, daß eine unbekannte Größe durch eine bekannte erläuternd eingeführt wird 72. Doch ist es auch möglich, daß Erläuterungen keine kompetenzerweiternde, sondern eine primär literarische Funktion haben, etwa als proleptischer Hinweis, zur Kohärenzbildung, als Unterscheidungssignal o.ä73. 5. Jede Erzählung wird aus einer oder mehreren Perspektiven erzählt. Bei den Evangelien wie bei den meisten einfachen Erzählformen gibt es eine hierarchische Ordnung der einzelnen Perspektivträger. Jeder Text, der in diesem Sinne eine normative Struktur hat, geht implizit oder explizit von einer nicht weiter hinterfragbaren autoritativen Fokalisation oder Perspektivierung aus, die er bei seinen Leser/innen voraussetzt, damit der Text „funktioniert“. 6. Sind erst einmal einzelne Elemente der Lesekompetenz aus dem Text erhoben, läßt sich ein gewisser Kenntnisrahmen abstecken 74. Aus der progressiven Lektüre bildet sich so ein Bild des vorausgesetzten Bildungsniveaus, der Kenntnisse der alltäglichen Umwelt, der religiösen Verortung, der Lese- und Argumentationsfähigkeiten und der sprachlichen Kompetenz der anvisierten Leserschaft.

3.3.2 Das Verhältnis von Erstlektüre zu jeder weiteren Lektüre Ein Problem ganz spezifischer Art stellt die Frage dar, ob von einer linearen Erstlektüre oder von einer Mehrfachlektüre ausgegangen werden soll. Gerade der zeitlich-lineare Charakter der Lektüre, das langsame Entdecken, das Spiel von Erwartung und Rückschau (ISER spricht von „Protention“ und „Retention“): all das sind Elemente, die einer leserorientierten Auslegung ihren heuristischen Wert verleihen. Geht die dramatische Dynamik des Lektüreprozesses im Falle einer Mehrfachlektüre nicht unweigerlich verloren? Andererseits kommt man aber an der Tatsache kaum vorbei, daß die Evangelien keine kurzlebigen Gebrauchstexte sind, deren Sinnpotential sich mit der Kenntnis 72

Vgl. z.B. Mt 2,22: „Archelaus herrschte über Judäa anstelle seines Vaters Herodes.“ Da Archelaus ausdrücklich als Sohn des Herodes identifiziert wird, ist anzunehmen, daß Herodes die bekannte und Archelaus die unbekannte oder weniger bekannte Größe darstellt. 73 Wenn z.B. der Erzähler des Mt-Evangeliums in 1,23 das hebräische „Emmanuel“ ins Griechische übersetzt, dann muß das nicht zwangsläufig bedeuten, daß er mit Adressaten rechnet, die des Hebräischen nicht mächtig sind, sondern es kann ebenso darauf hinweisen, daß der griechische Ausdruck eine proleptische Funktion hat, um auf gleichsprachlicher oder isolingualer Ebene einen Bezug zum Ende des Evangeliums 28,20 herzustellen. 74 Es ist z.B. anzunehmen, daß, wenn der Text eine Kenntnis der Figur des Judas voraussetzt, man dann auch eine Kenntnis der Jüngergruppe annehmen kann.

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des Erzählablaufs verbraucht (wie etwa eine einfach gestrickte Kriminalgeschichte). Die spätere Kanonisierung der Evangelien setzt einen sehr intensiven und mehrmaligen Gebrauch dieser Texte voraus75, dessen „Sitz im Leben“ wahrscheinlich im Rahmen des frühchristlichen Hausgottesdienstes (vielleicht schon mit einer „Liturgie“ von Formeln und Lesungen) zu suchen ist. Damit stellt sich unausweichlich das Problem der Mehrfachlektüre76. Die Erstlektüre hat grundlegenden, entdeckenden Charakter. Sie realisiert eine der vielfältigen Kombinationsmöglichkeiten potentieller Konkretisationen des Textes. Alle weiteren Lektüren sind also nicht mehr in dem Sinne „naive Lektüren“, daß sie vor ganz neuen Wegen der Sinnfindung stehen, sondern sie vollziehen sich auf der Grundlage der Erstlektüre77. Der „Text“ der Erstlektüre und der jeder weiteren Lektüre sind demnach qualitativ betrachtet verschieden78. Wenn die Tendenz jedes wahrnehmenden Subjektes aber die der kohärenten Gestaltbildung ist, dann wird jede weitere Lektüre nach Möglichkeiten suchen, die in der Erstlektüre getroffenen Entscheidungen möglichst beizubehalten und zu vertiefen. Von daher hat sich eine rezeptionsorientierte Exegese vornehmlich mit der Erstlektüre zu beschäftigen, wobei am Ende die Frage nach den Veränderungen, die eine Mehrfachlektüre bedingen könnte, gestellt werden kann79. 75 Für das Mt-Evangelium ist das von LUZ betont worden (z.B. I, 24: „Es ist für wiederholte Lektüre geschrieben.“). D.C. PARKER, The Living Text of the Gospels (Cambridge, 1997), 19 weist auch darauf hin, daß die uns erhaltenen Manuskripte aus dem 2. Jh. keine Markierungen zur Lesehilfe haben. Diese „Orientierungslosigkeit“ begünstige sehr stark die ganze Lektüre des Textes. In einer literaturwissenschaftlichen Studie zu Joh 11,1-44 hat M.W.G. STIBBE versucht zu zeigen, daß der Gebrauch von „impliziten Kommentaren“ und „narrativen Echos“ (Prolepsen und Analepsen) nur durch eine Mehrfachlektüre verständlich wird („A Tomb with a View: John 11.1-44 in Narrative-Critical Perspective.“ NTS 40 [1994], 38-54, bes. 51f). Wenn STIBBE, 52 aber postuliert, daß Erstleser/innen die Bemerkung des Erzählers in Joh 11,2 als Rückverweis fehldeuten würden, weil diese noch nichts von dem Salbungsakt der Maria in 12,3 wissen können, dann ist doch einzuwenden, daß die Logik dieser Bemerkung auf der Annahme eines „jungfräulichen“ Erstlesers basiert. Joh 11,2 könnte ebenso als Hinweis dafür gewertet werden, daß der Salbungsakt der Maria ein Element des als bekannt vorausgesetzten Textrepertoires ist. Ansonsten aber sind STIBBES literarische Beobachtungen überzeugend. 76 Das Problem ist relativ selten angegangen worden (ISER z.B. äußert sich nicht dazu). 77 Vgl. a. R. ENGELSING, Der Bürger als Leser (Stuttgart, 1974), Kap. 12: Intensive Lektüre setzt ständiges Wiederlesen und ein Sichvertiefen in das schon Gewußte, mithin das „Sicherbauen“ am Text voraus. 78 L.O. SAUERBERG, „First and Further Readings: On a Neglected Aspect of the Phenomenology of the Literary Text“, OrbLit 47 (1992), 2: „After the first reading no text will remain the same for the readers. But the difference between the first and further readings is not just a quantitative difference depending on increasing relational clarity … It is a qualitative difference by which the further readings subsume the first reading, merging text and first reading into the realization of an expierence occasioned by the text.“ 79 JAUSS bietet z.B. in einer experimentellen Studie drei Lektüren eines Gedichts an: eine erste, ästhetisch wahrnehmende, eine zweite, retrospektiv auslegende, und eine dritte, historische Lektüre (Ästhetische Erfahrung, 813-865).

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Problematisch hingegen gestaltet sich die diskursive Beschreibung der Erstlektüre. Für SAUERBERG kann die Erstlektüre nicht mehr festgehalten werden, weil es unmöglich ist, sich von den Erkenntnissen zu befreien, die man aufgrund der Gesamtlektüre erlangt hat80. Man kann nach PERRY aber eine sinnvolle Unterscheidung machen zwischen solchen Bedeutungen, die sich am Ende als irrelevant für den Text erweisen, und solchen, die sich am Ende zwar als Fehlschlüsse erweisen, aber zu denen der Text ermuntert hat81. Im letzten Fall ist der Fehlschluß Teil der Strategie des Textes, was aus der Perspektive einer neuen Lektüre keinesfalls ausgeblendet werden sollte. PERRY benutzt also die Gesamtperspektive, um eine Unterscheidung zwischen relevanten und irrelevanten Überraschungsmomenten zu treffen82. Während in der Erstlektüre die Leser/innen noch viel eher durch die Rhetorik des Textes manipuliert werden, dient jede weitere Lektüre dazu, den Inhalt der ersten Lektüre diskursiv zu fassen83. Im Gegensatz zu SAUERBERG stellt für PERRY die Zweitlektüre kein Hindernis für die Rekonstruktion der Erstlektüre dar, sondern ist deren elementare Bedingung. Geht man mit beiden davon aus, daß jede weitere Lektüre eine Vertiefung der Erstlektüre ist, dann scheint mir

80 SAUERBERG , „First and Further Readings“, 8. 81 M. PERRY, „Literary Dynamics: How the Order

of a Text Creates its Meanings (With an Analysis of Faulkner’s ‚A Rose for Emily‘)“, PoetTod 1 (1979), 355. 82 PERRY, „Literary Dynamics“, 357: „The reading process described in this article is therefore from the vantage-point of the whole. It is a process of a ‚reconstructed first reading‘. Only from this vantage-point can one make the selection between relevant and accidental surprises. An actual first reading of a text is a gradual process of selection.“ 83 PERRY, „Literary Dynamics“, 357: „A second reading of a text is a sort of conscious reconstruction of the naive reading… The second reading is the one where the reader is not only manipulated by the rhetoric of the text, but can also construct the reader-oriented motivations. Each additional reading will narrow the gap between the reader of the text and the one describing it.“ JAUSS, Ästhetische Erfahrung, 164: „Der Leser andererseits, für den die ästhetische Distanz im Horizont der ersten Lektüre suspendiert bleibt, kann im Lichte der retrospektiven Fabel hinter der kontingenten Erscheinung der verlorenen Zeit das unmerklich aus ihr erwachsene Ganze einer einmaligen, vergangenen und wiedergefundenen Welt wahrnehmen.“ J. ANDEREGG, Fiktion und Kommunikation (Göttingen, 21977), 35: „Interpreten von Fiktivtexten pflegen häufig auf den ‚beim ersten Lesen‘ entstehenden Eindruck zu verweisen. Leicht kann diese formelhafte Berufung auf die Erstlektüre zu Mißverständnissen führen, fußt sie doch auf der Überzeugung, der Leser sei bei wiederholter Lektüre durch die bereits erworbenen Kenntnisse in Vorurteilen befangen. Gewiß wird beim mehrfachen Lesen vieles sich dem Verstehen erschließen, was zuvor nicht beachtet oder nicht verstanden wurde. Was indes das Begreifen des Textes unter temporalem Aspekt betrifft, so lesen wir … immer so, als würden wir zum ersten Male lesen, weil wir uns, auch bei mehrfacher Wiederholung der Lektüre eines Fiktivtextes doch immer nur auf der Höhe der jeweiligen Mitteilung befinden. Es kann die Erfahrung vom Ausgang einer Geschichte das ‚Gegenwartserlebnis‘ bei der Lektüre nicht beeinträchtigen, denn wohl mag solche Erfahrung in unser Gedächtnis eingehen, gerade aber als prinzipiell erinnerbar ist sie … Teil jenes Bezugsfeldes und seiner temporalen Struktur, auf dessen Aktualisierung der Leser bei kommunizierender Lektüre verzichtet.“

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PERRYS Schlußfolgerung überzeugender, denn jede weitere Lektüre macht den Inhalt der ersten Lektüre deutlicher und bringt ihn dadurch einer Beschreibung näher84. Erst- und Zweitlektüre verhalten sich zueinander wie Entdeckung und Erkundung. Die Verhältnisbestimmung zwischen Erst- und Zweitlektüre wird allerdings im Falle der Evangelien auf der Ebene der Erst-Rezeption noch komplexer. Wie sich in der Exegese zu Mt 1-2 zeigen wird, ist der Evangelientext kein absolutes Novum für die Erst-Rezipierenden. Durch den Umlauf schriftlicher und vor allem mündlicher Traditionen sind Elemente des Textes bereits bekannt. Neu ist daher oftmals nicht die erzählte Geschichte (story), sondern die rhetorische Anordnung und Erzählweise (discourse)85. Von daher hat die Erst-Rezeption bereits den Charakter einer relecture, obwohl durch die Reorganisation des zum Teil bekannten Inventars der Text ein neues Wirkungspotential entfaltet, weil sich den Rezipierenden in der vorliegenden Textgestalt neue Kombinationsmöglichkeiten eröffnen. 3.3.3 Das Problem der Intertextualität „Schon im Alten Testament sagt der Prophet immerfort: ‚Die Sanftmütigen werden die Erde zum Erbe erhalten‘, und auch deshalb beginnt der Herr seine Rede mit diesen Worten, die seinen Zuhörern vertraut waren. Er wollte ihnen eben nicht lauter Dinge sagen, die ihnen ganz neu und fremd waren.“ Joh. Chrysostomus, Matthäushomilien 15,3 = BKV 23,245 = PG, 57,227

In der Literaturwissenschaft werden Beziehungen zwischen Texten theoretisch unter dem Begriff der Intertextualität diskutiert86. Eigentlich ist das Verhältnis der Evangelien zu anderen Texten, die man als Vorlagen oder Quellen wertet, eine Domäne redaktionsgeschichtlicher Fragestellungen, doch ergeben sich aus der Perspektive der modernen Forschung am Phänomen der Intertextualität neue Aspekte, auch und insbesondere für die rezeptionskritische Auslegung der Evangelien. Obwohl das Phänomen der Verhältnisbestimmung zwischen verschiedenen Texten schon seit der Antike Gegenstand theoretischer Diskussion war87, wurde der Begriff 84 Im Anschluß an die Terminologie von U. ECO , Die Grenzen der Interpretation (München, 1992), 43-46 könnte man sagen, daß Mehrfachlektüre den Wandel vom „semantischen“ zum „kritischen“ Leser ermöglicht. 85 Die Unterscheidung zwischen „story“ und „discourse“ geht auf CHATMAN , Story and Discourse zurück. 19: „[T]he story is the what in a narrative that is depicted, discourse the how.“ 31: „What is communicated is story, the formal content element of narrative; and it is communicated by discourse, the formal expression element.“ 86 Vgl. U. BROICH , M. P FISTER (Hg.), Intertextualität (Tübingen, 1985); H. P LETT (Ed.), Intertextuality (Berlin, 1991); M. WORTON, J. STILL (Eds.), Intertextuality (Manchester, 1990). 87 Der geschichtliche Überblick in WORTON /S TILL, Intertextuality, 2-16 bietet eine gute

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der Intertextualität erst in den 60er Jahren von der französischen (Post-)Strukturalistin Julia KRISTEVA geprägt, um der Grundüberzeugung Ausdruck zu verleihen, daß Texte keine in sich abgeschlossenen Einheiten sind, sondern eng verwoben sind in ein Mosaik von verschiedenen Codes 88. Aufgrund der Tendenz vieler Poststrukturalisten, alle Phänomene als Code oder als Text zu deuten89, wurde der Begriff der Intertextualität zu einem philosophischen Modell der Welterfassung und damit für die spezifische Beschäftigung mit dem Phänomen der Bezugnahme eines schriftlichen Textes zu anderen in der Auslegungspraxis inoperabel, da Intertextualität nicht an bestimmten Stellen eines Textes konstatiert werden kann, sondern eine quasi-ontologische Eigenschaft des Textes an sich ist. Jedenfalls scheint es keinen Unterschied zwischen Intertextualität und Nicht-Intertextualität zu geben 90.

Es ist für die exegetische Praxis wesentlich ratsamer, das Phänomen der Intertextualität von der Seite der Produktion und Rezeption her anzugehen und es in einem eingegrenzten Sinn als Beschreibung konkreter Beziehungen zwischen Texten oder zwischen übergreifenden Genres zu gebrauchen91: Texte sind keine hermetisch in sich abgeschlossenen autonomen Kunstwerke, weil jede/r Autor/in zuvor auch Leser/in von anderen Texten war, von denen sein/ihr Denken wissentlich oder unwissentlich durchsetzt ist92. Andererseits führen Leser/innen keine rein werkimmanente Existenz, sondern bringen in

Orientierung angefangen von der platonisch-aristotelischen Mimesis-Lehre, über Horaz, Cicero und Quintilian bis hin zu dem russischen Literaturwissenschaftler M. Bakhtin, der schon in der ersten Hälfte des Jahrhunderts mit seinem „dialogischen Literaturprinzip“ KRISTEVAS Begriff der Intertextualität vorweggenommen hat. Zur Praxis der intertextuellen Bezugnahme in der antiken Literatur vgl. E. NACHMANSON, Der griechische Buchtitel (Göteborg, 1941), 36-49; E. SCHMALZRIEDT, PERI FUSEWS: Zur Frühgeschichte der Buchtitel (München, 1970), 23-31. 88 J. KRISTEVA , Sjmeiwtik`j: Recherches pour une sémanalyse (Paris, 1969), 146; 255: „[T]out texte se construit comme mosaïque de citations, tout texte est absorption et transformation d’un autre texte.“ Für CULLER, Pursuit, 100-18:103 ist „Intertextualität“ „less a name for a work’s relation to particular prior texts than a designation of its participation in the discursive space of a culture … the relationship between a text and the various … signifying practices of a culture“. 89 So etwa bei BARTHES und DERRIDA. Ganz in diesem Sinne formuliert der Neutestamentler J.W. VOELZ, „Multiple Signs and Double Texts: Elements of Intertextuality“, Intertextuality in Biblical Writings (FS B. van Iersel), ed. S. Draisma (Kampen, 1989), 31: „The reader must be seen as a text, or, perhaps more accurately, the states, actions, hopes, fears, and knowledge of his life-experience comprise a text.“ 90 Vgl. M. P FISTER, „Konzepte der Intertextualität“, in: Broich/Pfister, Intertextualität, 11-24. Die meisten eher induktiv arbeitenden Ausleger/innen der Evangelien werden die Überzeugung, daß alle Texte von Anfang bis Ende ein Labyrinth aus Zitaten sind, für weder beweisbar noch falsifizierbar halten, aber sie wird ihnen zumindest in bezug auf die Evangelien kaum neu vorkommen. Schließlich ist man hier schon seit vielen Generationen auf der Suche nach Quellen, Einflüssen, Zitaten und sonstigen Bezugnahmen. 91 Vgl. STILL/WORTON, „Introduction“, 1f; P FISTER, „Konzepte der Intertextualität“. 92 JAUSS, Ästhetische Erfahrung, 671: „Wie der Produzent immer schon Rezipient ist …, so muß sich auch der Interpret erst als Leser ins Spiel bringen.“ Vgl. CULLER, Pursuit, 101.

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Literarische Rezeptionskritik und Evangelienexegese

ihre Lektüre die Erfahrung aller vorherigen Lektüren mit ein. Beim Lesevorgang werden automatisch Bezüge zu anderen Texten hergestellt, selbst wenn diese Bezüge nicht der Intention des Autors entsprechen93. Da die Evangelien durchsetzt sind von „fremden“ Texten (AT-Zitate und Anspielungen, Übersetzungen, Einarbeitung schriftlicher und mündlicher Quellen usw.) und da anzunehmen ist, daß sie eine Leserschaft vorstrukturieren, die sinnvoll damit umgehen kann, stellt sich die Diskussion um die „intertextuelle Kompetenz“ als ein besonderer Aspekt der Frage nach der Lesekompetenz dar94. Dabei ist nicht nur zu überlegen, wie intertextuelle Bezüge sinnvoll kategorisiert werden können, sondern vor allem, welche Funktion ihnen bei der Rezeption eines Textes zukommt. Ein Problem ergibt sich allerdings daraus, daß auf der Suche nach einer brauchbaren Beschreibungssprache für den Umgang mit Intertextualität die Literaturwissenschaft ein derart chaotisches Bild terminologischer Vielfalt bietet, daß man als Außenstehender bar jeder Orientierung bleibt. So benutzt G. GENETTE den übergeordneten Begriff der Transtextualität und unterscheidet zwischen fünf Hauptkategorien 95: Intertextualität (Präsenz eines „fremden“ Textes; z.B. Zitat, Anspielung, Plagiat), Paratextualität (Verhältnis zwischen dem eigentlichen Bestand eines Textes und dessen Nebentexten wie Titel, Vorwort, Nachwort, Mottos, Klappentexte, Überschriften, Illustrationen, Anmerkungen usw.), Metatextualität (Kommentierung oder Kritik eines anderen Textes), Hypertextualität (Beziehung zu einem Text, der als Folie dient, aber nicht präsent ist; z.B. Parodie, Travestie, Imitation) und Architextualität (Bezug eines Textes zu einer texttypologischen Vorlage oder einem gattungskonstitutiven Muster). Susanne HOLTHUIS unterscheidet grob zwischen typologischer Intertextualität (Bezug auf kanonisierte, normativ festgelegte „Systemtexte“; ähnlich GENETTES „Architextualität“) und referentieller Intertextualität (Bezug zwischen zwei Texten), doch führt sie im Verlauf ihrer Arbeit so viele Unterscheidungen ein, daß es einem vorkommt, als ob sich das Phänomen der „Intertextualität“ jeglichem Versuch diskursiver Beherrschung entzöge96.

93 Hier wird deutlich, daß ein geschriebener oder gesprochener Text sich von seinem Urheber trennt und damit sich auch seiner genauen Kontrolle entzieht. STILL/WORTON, „Introduction“, 9: „Readers recognize in (or impose on) these texts segments from other writings which may have been forgotten by the writer if even written many centuries latter. This may bring about the ‚death of the author‘ more surely than would the tyrannical absorption by a strong precursor.“ Ein sehr anschauliches Beispiel für dieses Phänomen liefert Umberto ECO, der in seiner Doppelrolle als literarischer Autor und Literaturwissenschaftler intertextuelle Verweise kommentiert, die andere in seinen Werken entdeckt haben, ohne daß er sie intendiert hätte (Zwischen Autor und Text, 81-93. 94 Vgl. zum Phänomen der Intertextualität im Judentum: D. BOYARIN, Intertextuality and the Reading of Midrash (Bloomington, 1990) und J. NEUSNER, Canon and Connection: Intertextuality in Judaism (Lanham, 1987). 95 G. GENETTE, Palimpseste: Die Literatur auf zweiter Stufe (Frankfurt a.M., 1993). PFISTER, „Konzepte“, Intertextualität, 16 spricht von einem „geradezu scholastischen Aufwand an Nomenklatur“. 96 S. HOLTHUIS, Intertextualität (Tübingen, 1993).

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Es ist deutlich, daß eine qualitative Abstufung intertextueller Intensität notwendig ist. Zwischen einem markierten wörtlichen Zitat und einer hypothetisch rekonstruierten Quelle besteht ein gradueller Unterschied. Aus der rhetorischen Tradition haben wir Begriffe wie Zitat, Anspielung, Plagiat, Travestie, Kontrafaktur, Pastiche, Parodie oder Cento. Aber auch Kommentar und Übersetzung gehören in den Bereich intertextueller Phänomene. Anhand der Bewußtseinszustände von Autor/in und Leser/in macht W. FÜGER folgenden Abstufungsvorschlag97: Bezug auf PRÄTEXT wird den Leser/innen

bewußt nicht bewußt

ist dem/der Autor/in bewußt und soll den Leser/innen bewußt werden JA NEIN 1 2

3 4

ist dem/der Autor/in nicht bewußt 5 6

Trotz der inneren Logik dieses Modells, ist besonders der Zugriff auf eine so schwer beschreibbare Größe wie „Bewußtsein“ problematisch. Brauchbarer scheinen mir die Kriterien, die R. HAYS für die Paulusexegese herausgearbeitet hat98: 1. Verfügbarkeit („availability“): Kann die Möglichkeit, daß Autor oder Leser/innen mit dem Prätext vertraut sind, plausibel gemacht werden? 2. Umfang („volume“): Wie stark ist die quantitative Übernahme prätextueller Elemente? Dabei geht es nicht nur um phraseologische, sondern auch um formale oder narratologische Bezüge99. 3. Wiederkehr („recurrence“): Wird an einer anderen Stelle auf den gleichen Prätext Bezug genommen? 4. Thematische Kohärenz: Fügt sich der Prätext in die thematische Entwicklung des Textes? 5. Historische Plausibilität: Hätten der historische Autor und/oder dessen Rezipienten die postulierte Sinnwirkung wahrnehmen können? 6. Auslegungsgeschichte: Haben andere Leser/innen die gleichen Echos vernommen? 7. Zufriedenstellung („satisfaction“): Liefert die vorgeschlagene Lektüre eine befriedigende Erklärung für die Lese-Erfahrung? Hierbei geht es zugegebenermaßen um das subjektiv urteilende Empfinden moderner Leser/innen. Etwas komplexer, aber durchaus vergleichbar, sind die Kategorien, die PFISTER vorschlägt100: 1. Qualitative Parameter: a) Referenzialität (Grad der Thematisierung): Verwendet der Text einen anderen Text und fügt diesen nahtlos in den neuen Zu97

W. FÜGER, „Intertextualia Orwelliana“, Poetica 21 (1989), 180. Ähnlich unterscheidet M. RIFFATERRE, „Production du texte: L’intertexte du Lys dans la vallée“, Texte 2 (1984), 23-33 zwischen „aleatorischer Intertextualität“ (Bezugnahmen, die es Leser/innen erlauben alle nur denkbaren Intertexte zu aktivieren) und „obligatorischer Intertextualität“ (Bezugnahmen, die Leser/innen wahrnehmen müssen, um den Text zu verstehen). 98 Echoes of Scripture in the Letters of Paul (New Haven, 1989), 29-32 99 R.L. BRAWLEY , „An absent complement and intertextuality in John 19:28-29“, JBL 112 (1993), 437. 100 „Konzepte“, 26-30.

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sammenhang ein oder bezieht er sich explizit auf ihn, indem er z.B. seine Eigenart thematisiert, den Zitatcharakter hervorhebt und/oder auf den ursprünglichen Kontext hinweist? Gerade im letzten Fall wird der Folgetext zum „Metatext“ des Prätextes. b) Kommunikativität (Intentionalität und Deutlichkeit der Markierung): Wie sehr ist sich ein/e Autor/in des intertextuellen Bezugs bewußt, und wie stark geht er/sie davon aus, daß dies auch von den Leser/innen erkannt wird?101 Kommunikative Relevanz haben besonders Prätexte aus dem literarischen Kanon der Weltliteratur. c) Autoreflexivität: Wie sehr wird das intertextuelle Verfahren selbst thematisiert? d) Strukturalität (syntagmatische Einbettung): Wird nur beiläufig und punktuell auf einen Prätext Bezug genommen oder wird ein Prätext gar zur Folie für den gesamten Folgetext? e) Selektivität (Prägnanz des übernommenen Materials): Wie pointiert und exklusiv wird auf einen Prätext referiert? Handelt es sich um ein wörtliches Zitat oder um eine vage Anspielung auf den Gesamttext? f) Dialogizität (Spannungsverhältnis zwischen Text und Bezugstext): In welchem semantischen und ideologischen Wechselverhältnis stehen der ursprüngliche und der neue Zusammenhang? Wird das Original gegen den Strich gelesen, ironisch relativiert oder unter größtmöglicher Beibehaltung des Textsinns integriert? 2. Quantitative Parameter: a) Dichte und Frequenz der intertextuellen Referenzen und b) Zahl und Streubreite der ins Spiel gebrachten Prätexte.

Eine Verbindung dieser verschiedenen Parameter kann einen heuristischen Wert im Umgang mit dem Phänomen der Intertextualität in den Evangelien haben, auch wenn sich natürlich intertextuelle Intensität damit nicht im positivistischen Sinne präzise messen läßt102. Die für die Fragestellung dieser Arbeit weitaus bedeutendere Frage ist aber die nach dem Wirkungspotential intertextueller Verweise. Hier stoßen wir auf das Problem der „Übercodierung“ bzw. des Sinnüberschusses: ISER spricht von der Vordergrund-HintergrundBeziehung, um das Verhältnis von Textrepertoire zu seinen ursprünglichen Bezugsfeldern zu erklären103: Während Zitate aus der Hebräischen Bibel in ihrer neuen textuellen Umgebung in den Vordergrund des Interesses geraten, halten sie „den Horizont parat, dem sie entnommen worden sind“104. So wird der neue Text durch den ursprünglichen Kontext „infiziert“. „Mit dem pointiert ausgewählten Detail wird der Gesamtkontext abgerufen, dem es entstammt, mit dem knappen Zitat wird der ganze Prätext in die neue Sinnkonstitution einbezogen.“105 Es ist daher sehr schwer vorherzusehen, wie stark der ursprüngliche Horizont des Bezugstextes die Wirkung des Folgetextes steuert, doch ist das sehr stark von den Kompetenzen individueller Leser/innen (Gedächtnis, Kreativität, Kombinationsfähigkeit usw.) abhängig. Autor/innen können zwar einen Bezugstext markieren oder kaschieren, aber wenn dieser von Leser/innen erkannt worden ist, ist im Prinzip die Wirkung nicht mehr 101 Vgl. hierzu die Tabelle von FÜGER oben S. 159. 102 Vgl. PFISTER, „Konzepte“, 30. 103 Akt des Lesens, 155-161. 104 Akt des Lesens, 116. 105 PFISTER, „Konzepte“, Intertextualität, 29.

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lenkbar. Damit bieten intertextuelle Verweise unzählige Möglichkeiten zur Reflexion und Meditation106. „Intertextuelle Kompetenz“ ist demnach eine sehr variable Größe: Während nicht vorgebildete Leser/innen damals wie heute an vielen intertextuellen Signalen vorbeilesen können, ist man im Bereich der wissenschaftlichen Exegese auf der Suche nach einem „Textarchäologen“, einem „intertextuellen Hyperleser“, der alle bekannten Texte in seinem enzyklopädischen Gedächtnis gespeichert bereithält und so die Auslegung mit einem schier unerschöpflichen Wissensrepertoire bereichern kann. Die historischen Erstleser/innen konnten Bezüge zu Texten herstellen, die uns nicht erhalten sind107, dafür lesen moderne Leser/innen die Evangelien mit einem ganz anderen Repertoire an textuellem Vorwissen; wobei wir natürlich auch von Texten unserer Umgebung geprägt sind, besonders auch von solchen, die nichts mit den Grundbedingungen der Textentstehung zu tun haben108. Darüber sich Rechenschaft abzulegen und mit HAYS nach der historischen Plausibilität zu fragen, ist m.E. Bestandteil der Horizontabhebung. Um einen Bezug zwischen Intertextualität und Redaktionsgeschichte herstellen zu können109, ist noch die Frage nach dem Umgang mit unmarkierten Quellen zu stellen. Eine historische Leserschaft, die das Matthäusevangelium mit Markus im Hinterkopf liest, nimmt den Text anders wahr als jemand, der/die diesen Bezugstext nicht kennt. Das Problem für eine rezeptionskritische Auslegung liegt natürlich darin, daß nach PFISTERS Parametern hier ein Fall vorliegt, in dem die Referenzialität vollkommen ausgeblendet wird, während die Strukturalität immens hoch ist. Die kommunikative Relevanz rangiert daher nach FÜGERS Einteilung irgendwo zwischen drei und vier. Theoretisch läßt sich m.E. unter der Grundannahme narrativer Kohärenz die Frage nach der Kenntnis nicht-markierter Quellen zumindest diskutieren110: Läßt sich 106

Vgl. STILL/WORTON, „Introduction“, 12: „[E]very quotation is a metaphor which speaks of that which is absent and which engages the reader in a speculative activity. This speculation centres not on the/a historical source but on the signifying force of a textual segment which, simultaneously within and without the text, can have its origin only in the moment[s] of reading.“ 107 PARKER, Living Text, 19 betont, daß die Erst-Leser/innen den Text wahrnahmen „in the knowledge of a perhaps quite extensive body of oral traditions still circulating.“ 108 Das geschieht z.B. wenn man sich bei der Lektüre der Evangelien die Schauplätze und Personen in der Technicolor-Fassung eines der großen Jesus-Filme Hollywoods vorstellt. 109 Zu den grundsätzlichen Unterschieden beider Fragestellungen vgl. W.S. VORSTER , „Intertextuality and Redaktionsgeschichte“, in Draisma, Intertextuality in Biblical Writings, 15-26. 110 Vgl. M. RIFFATERRE, „Compulsory reader response: The intertextual drive“, in Worton und Still, Intertextuality, 56-78. Er fragt danach, welche Signale auf einen unmarkierten Bezugstext hinweisen. Solche Signale sind „words and phrases indicating, on the one hand, a difficulty – an obscure or incomplete utterance in the text – that only an intertext can remedy; and, on the other hand, pointing the way to where the solution must be sought. Such features, lexical or phrasal, are distinguished from their context by their dual nature. They are both the problem, when seen from the text, and the solution to that problem when their other, intertex-

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z.B. eine kohärente Auslegung durch den Rückgriff auf mögliche Bezugstexte besser erreichen oder gewinnt man dadurch eine „ökonomischere“ Auslegung (vgl. zum Prinzip der „isotopischen Ökonomie“ u. S. 381), dann sollte man die Kenntnis nicht explizit genannter Quellen oder Bezugstexte wenigstens erwägen111. Die Achilles-Ferse dieses Kriteriums liegt natürlich in dem zugrundegelegten Begriff der Kohärenz, da es sich dabei um eine variable Größe handelt, die vorwiegend auf die synthetische Aktivität des Lesers oder der Leserin zurückgeht. Fazit: Sinnvolles Lesen ist nur möglich, wenn Bezüge zu kognitiven Konventionen hergestellt werden, die außerhalb des Textes in Auslegungsgemeinschaften Gültigkeit besitzen. Entgegen Grundüberzeugungen textimmanenter Ausleger/innen führt der Text nicht alle Elemente mit sich, die zur Aufhebung seiner Ambiguitäten nötig sind, sondern weist fortwährend über die Grenzen seines eigenen Raumes hinaus. In diesem Sinne kann eine rezeptionskritische Evangelienauslegung viele Einsichten der traditionellen Form-, Motiv-, Religions- und Redaktionsgeschichte zur Minderung der Kompetenzdifferenz zwischen modernen Leser/innen und Erst-Rezipierenden neu verwerten. 3.3.4 Ein offenes Problem: Wissenschaftliche und „naive“ Lektüren Die Frage nach dem Wissensstand der Leser/innen wirft eine weitere Frage auf, die im Bereich der biblischen Exegese m.E. besonders virulent ist: Wie verhalten sich wissenschaftliche und „naive“ Lektüren des Textes zueinander? Die Feststellung, daß jede Lektüre in sich wertvoll ist, und die, daß für eine sinnvolle Lektüre gewisse, vom Text selbst geforderte Kompetenzen notwendig sind, stehen gewiß in Spannung zueinander. Soll am Ende die „naive“ Lektüre an die Kette wissenschaftlicher Exegese gelegt werden? Akademische Lektüren erhalten natürlich einen großen Teil ihres Gewichts durch ihre Einbettung in den Raum einer sozial anerkannten Einrichtung, wie

tual side is revealed.“ (58) Auch wenn man dadurch nicht zu einer genauen Identifikation des Intertextes kommt, so nimmt man doch dessen Existenz wahr. Demnach ist die Erfahrung, daß etwas im Text fehlt, daß Leerstellen ausgefüllt werden müssen, daß auf Dinge angespielt wird, die unbekannt sind, ein Hinweis für die Existenz einer intertextuellen Bezugnahme. Natürlich bleibt dem/der Ausleger/in bei dieser „Regel“ ein breiter Spielraum bei der Entscheidung, wann ein unlösbares Problem vorliegt; aber als Richtungsangabe ist das RIFFATERRE’sche Modell sicherlich hilfreich. 111 Zwei Beispiele: 1. In Mt 9,1-8 ist nicht auf Anhieb klar, worin Jesus den Glauben der Hilfesuchenden gesehen haben soll. Diese „Leerstelle“ kann durch die markinische Fassung, die von einem waghalsigen Manöver berichtet (Mk 2,2-4), kohärent geschlossen werden. 2. In Mt 26,68 wird Jesus von seinen Peinigern aufgefordert, den Schläger prophetisch zu benennen. Das durchaus wichtige Detail, daß ihm dabei die Augen verbunden waren, erfährt man nicht aus Mt, sondern aus Mk 14,65.

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es etwa die Universität ist112. Doch während die säkulare Literaturkritik (z.B. im Feuilleton o.ä.) die Perspektive moderner Leser/innen leichter beeinflussen kann, ist die Kluft zwischen Theologie und Kirche oftmals ungleich größer113: Viele bibellesende Zeitgenoss/innen nehmen (wenn überhaupt!) die Erzeugnisse wissenschaftlicher Exegese mit ungläubigem Kopfschütteln zur Kenntnis und können mit manchmal erstaunlichem Selbstbewußtsein ihre eigene Lektüre gegen jede wissenschaftliche „Autorität“ behaupten. Insgesamt scheint mir der Unterschied zwischen wissenschaftlichen und „naiven“ Lektüren nicht so sehr qualitativer, sondern viel eher quantitativer Art zu sein. Die wissenschaftliche Lektüre ist nicht per se besser oder richtiger, aber sie ist aufgrund ihrer Vorgehensweise reicher an Möglichkeiten und kann damit eine breitere Basis zur Aktualisierung von Texten bieten. Da zudem wissenschaftliche Exegese verstärkt über die eigenen Vorgehensweisen reflektiert, werden die Ergebnisse im einzelnen nach außen hin durchsichtiger. Die wissenschaftliche Lektüre der Bibel hat damit also einen deutlichen Vorsprung gegenüber „naiven“ Lektüren. Ist aber das Ziel einer einzig richtigen und zeitlos gültigen Interpretation erst einmal ins Unendliche abgerückt, dann ist dieser Vorsprung natürlich relativ.

3.4 Ganzheitliche Reaktion der Leser/innen Eine ganz allgemeine Kritik an fast allen in Teil I.2 besprochenen Theoriemodellen wird im Umgang mit den Evangelien deutlich: Die meisten zeichnen die Leseraktivitäten vorwiegend auf der kognitiven Ebene nach114. CULLER bemerkt kritisch dazu: „Die Erfahrungen und Reaktionen, auf die die moderne leserorientierte Kritik sich bezieht, sind im allgemeinen kognitiver, nicht affektiver Art: Es geht nicht darum, daß es einem kalt den Rücken runterläuft, daß man aus Mitgefühl in Tränen ausbricht oder von Ehrfurcht ergriffen wird, sondern darum, daß die eigenen Erwartungen sich als falsch her-

112 Man sollte jedoch die Unterscheidung zwischen wissenschaftlichen und naiven Lektüren nicht allein auf dem Hintergrund zweier soziologisch ganz unterschiedlicher Lesertypen diskutieren, sondern auch als zwei Leseweisen innerhalb ein und derselben Person, denn auch Exeget/innen lesen die biblischen Texte zuweilen innerhalb eines nicht-wissenschaftlichen Rahmens. In einer etwas überzogenen Typologie unterscheidet G. STEINER, „‚Critic/Reader‘“, NLH 10 (1979), 423-52 zwischen „critic“ und „reader“: Der „critic“ will den Text beherrschen, der „reader“ versteht sich als Diener des Textes und wird in dynamischer Passivität vom Text selbst gelesen. Die meisten spielen beide Rollen zugleich. 113 Ein Buch wie das von J. KREMER, Die Bibel – ein Buch für alle: Berechtigung und Grenzen ‚einfacher‘ Schriftlesung (Stuttgart, 1986) zeigt deutlich, daß man sich von bibelwissenschaftlicher Seite durchaus einer Kluft zum lesenden Kirchenvolk bewußt ist. 114 Vgl. MOORE, Literary Criticism, 95-8.

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ausstellen, daß man sich mit unlösbaren Ambiguitäten herumschlägt oder die Voraussetzungen in Frage stellt, auf die man sich verlassen hat.“115

Diese Einengung wird sicherlich nicht der Tatsache gerecht, daß etwa nach der antiken Rhetorik die affektive Reaktion (páqoß) nicht zu trennen ist von der kognitiven Teilnahme. Vielmehr sind Affekte als ein wichtiges Element der Persuasion auch Teil der kognitiven Texterfassung116. Gefühle spielen auch in der gesamten alttestamentlich-jüdischen Literatur eine oftmals unterschätzte Rolle117. Die moderne empirische Rezeptionsforschung hat deutlich gemacht, wie sehr Gefühle konstitutive Bestandteile menschlicher Kognition und Gedächtnisbildung sind118. In Anbetracht dieser Sachlage erscheint es mir schwierig anzunehmen, daß es sich bei den Leser/innen der Evangelien um moderne Intellektuelle gehandelt haben sollte, für die der Leseprozeß vornehmlich eine ästhetische Erfahrung darstellte und die sich weigerten, sich zu sehr auf die existentiellen Anforderungen des Textes einzulassen. Es ist daher wichtig, nicht ausschließlich von kognitiven Aktivitäten zu sprechen (z.B. Hypothesenbildung, Schlußfolgerungen, Kombinationsmöglichkeiten, Erwartungshaltungen), sondern auch von einer emotionalen Interaktion mit dem Text119. Natürlich erheben viele bei dem Versuch, Emotionen in die exegetische Analyse mit einzubeziehen, den warnenden Zeigefinger, aber „um gegen die kommunikative ‚Ausrottung‘ des Gefühls einerseits und die kalkulierte … mediale Ausnutzung des Gefühls andererseits angehen zu können, ist es notwendig, sich mit wissenschaftlichen Beschreibungsangeboten von Emotionen genauer zu beschäftigen“120. Neben der kognitiven und der affektiven Ebene ist es weiterhin erforderlich, die pragmatische, an die eigene Lebens115

CULLER, Dekonstruktion, 42. Er verweist auch darauf hin, daß bei FISH „die Begegnung des Lesers mit Literatur“ nichts anderes ist als die „Erfahrung einer Interpretation“ (42). Vgl. auch J. TOMPKINS, „The Reader in History“, in Tompkins, Reader-Response Criticism, 202-9. Sie zeigt klar auf, daß die Kritik der Antike und der Renaissance wesentlich mehr Interesse an der Wirkung als an der Bedeutung für die Rezipienten hatte. 116 Vgl. erneut ARISTOTELES, Poetik, XIX; Rhetorik II,2-11; QUINTILIAN , Inst., VI,2. O.B. HARDINSON, Jr. „A Commentary on Aristotle’s Poetics“, in: L. Golden, O.B. Hardinson, Jr., Aristotle’s Poetics (Englewood Cliffs, 1968), 242. Zur antiken Wirkungsästhetik s.o. S. 120ff. 117 Nur drei Streiflichter: 1. David reagiert als Hörer der Erzählung Natans mit Wut gegen die narrative Hauptfigur (2Sam 12,1-6). 2. Joh. Chrysostomus fordert seine Zuhörer auf, um sich die Bestrafung der Juden in der Zerstörung Jerusalems auszumalen, den Bericht des Josephus zu lesen „und du wirst nicht in der Lage sein zu atmen (kaì ohudè hanapneüsai dun´j s∆)“ (Ad Romanos 25,5 zu Röm 14,3). 3. Daß Weinen keine für Männer unangemessene Reaktion ist, läßt sich an TestAbr ablesen: Männer und Engel fallen sich in dieser Erzählung immer wieder in die Arme, um miteinander zu weinen (rec. long.: 3,9f; 5,9-14; 7,1.6; 10,2; 11,6.8.11; 20,6f; rec. brev.: 3,8.10; 4,1; 6,2f.5.7; 7,8.10; 8,6f.14; 9,2). 118 Vgl. H.F. A LFES, Literatur und Gefühl (Opladen, 1995), 60-62.70-85. 119 Die redaktionsgeschichtliche Betonung des Kerygmas als einer religiösen Größe eröffnete bereits die Möglichkeit, die Erfahrungswelt von Autor/innen und Leser/innen zu berücksichtigen. 120 ALFES, Literatur und Gefühl, 33.

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praxis appellierende Dimension des Textes zu berücksichtigen121. Die drei Koordinatenebenen einer ganzheitlichen Lektüreerfahrung sind demnach: kognitiv, affektiv und pragmatisch122. Während über die eigene Lektüre mehr oder weniger kontrollierte Aussagen gemacht werden können, gestaltet sich die Beschreibung der Erst-Rezeption besonders problematisch, vor allem was die affektive Ebene angeht. Doch können zwei Parameter hilfreich sein: 1. Neben den oben beschriebenen Kompetenzbereichen verfügen Leser/innen in ihrem semantischen Gedächtnis über ein „Emotionswissen“123: Emotionen, die in der Erzählung beschrieben werden, müssen im Verstehenshaushalt der Leser/innen lokalisiert werden können. Oftmals dienen Hinweise auf Emotionen in Erzählungen dazu, auch die Rezipient/innen emotional zu engagieren, ihre eigene Parteilichkeit in Sympathie oder Antipathie zu bekunden. Eine semantische und historisch-psychologische Analyse der im Text beschriebenen Emotionszustände kann daher einen Hinweis für die Erst-Rezeption liefern. 2. Die Interaktion zwischen Held und Leser/innen aktiviert in besonderem Maße die affektive und pragmatische Teilnahme am Text124. Dabei durchlaufen Leser/innen „eine Reihe von wechselnden Einstellungen“, wie z.B. „Staunen, Erschütterung, Bewunderung, Rührung, Mitweinen, Mitlachen, Befremdung“, wodurch konkrete Verhaltensmuster vermittelt, neu gebildet oder in Frage gestellt werden können125. Von den fünf Grundformen der Identifikation126 kommen drei für die Evangelienexegese in Betracht: a) Admirative Identifikation: Im Zentrum des Interesses befindet sich der vollkommene Held, Heilige oder Weise, auf den Leser/innen mit einer Bewunderung reagieren, die „zum Anerkennen und Übernehmen von Vorbildern und Mustern disponiert“127. Die Wirkung kann sich sowohl in der freien Nachfolge (aemulatio) als auch in der mechanischen Nachahmung (imitatio) zeigen. „Bei der Konstituierung der kollektiven Erinnerung religiöser Gruppen oder sozialer Klassen kommt der Vorbild-Reihe eine oft unterschätzte Bedeutung zu.“128 b) Sympathetische Identifikation: Die Leser/innen fühlen sich ein in das fremde Geschick eines unvollkommenen, alltäglichen Helden und solidarisieren sich mit seinem Schicksal129. Während Bewunderung Distanz schafft, hebt 121 Vgl. H. FRANKEMÖLLE, Biblische Handlungsanweisungen (Mainz, 1983), 11-18. 122 MOORE, Literary Criticism, 98. 123 Vgl. E.W.E.M. KNEEPKENS, R.A. ZWAAN , „Emotions and literary text comprehen-

sion“, Poetics 23 (1994), 133. 124 Vgl. bes. JAUSS, Ästhetische Erfahrung, 244-292. 125 JAUSS, Ästhetische Erfahrung, 170.244. 126 JAUSS, Ästhetische Erfahrung, 252 und die Zusammenfassung oben S. 58ff. 127 JAUSS, Ästhetische Erfahrung, 265. 128 JAUSS, Ästhetische Erfahrung, 267. 129 JAUSS, Ästhetische Erfahrung, 271.

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Mitleid diese wieder auf. Die Leser/innen können auf der regressiven Stufe in purer Rührseligkeit verharren und sich selbst bestätigt fühlen, aber es ist auch möglich, daß sich durch das Gefühl der Teilnahme ein moralisches Interesse bildet. c) Kathartische Identifikation: Der Leser wird aus seiner „Lebenswelt in die Lage des leidenden oder bedrängten Helden versetzt, um durch tragische Erschütterung oder komische Entlastung eine Befreiung seines Gemüts herbeizuführen“130.

3.5 Vom privaten Genuß zur Hörgemeinschaft Wir sind es gewohnt, Lesen als einen freiwilligen Akt zu betrachten, der vor allem der Maximierung des individuellen ästhetischen Genusses und dem Rückzug aus der eigenen Wirklichkeit über die Teilnahme am fremden Geschick dient131. Wie bereits erwähnt, war in einem alttestamentlich-jüdischen Kontext Lesen ein mündlicher, kollektiv-sozialer Sprechakt (s.o. 129ff). In den Evangelien überwiegen nicht die Bezugnahmen auf individuelle Leser/innen (vgl. aber Mk 13,14 par), sondern der zusammenbindende Sprechakt Jesu, der sich im légw Humïn manifestiert132. Weiterhin hat Stanley FISH auf epistemologischer Ebene mit seinem Konzept der Auslegungsgemeinschaft individualistische Lesermodelle in Frage gestellt und jegliche Art des Lesens in einen sozio-kulturellen Rahmen gestellt. Jedenfalls sind für die Horizontabhebung die Rezeptionsbedingungen der hypothetischen Erst-Lektüre zu beachten: Die Evangelien sind in einer residual oralen Kultur entstanden. In der griechisch-hellenistischen Zeit war lautes und öffentliches Lesen die Grundpraxis133, wobei einige bekannte Ausnahmen diese Regel eher bestätigen als in Frage stellen134. Wir können also mit einiger Sicherheit sagen, daß die 130 JAUSS, Ästhetische Erfahrung, 277. 131 Typisch sind z.B. V. N ELL, Lost in

a Book: The Psychology of Reading for Pleasure (New Haven, 1988) oder R. ALTER, The Pleasures of Reading in an Ideological Age (New York, 1989). Zum Wandel der Lesegewohnheiten im 18. Jh. vgl. E. SCHÖN, Der Verlust der Sinnlichkeit oder die Verwandlungen des Lesers (Stuttgart, 1987). Vgl. aber die sehr „modern“ klingende Beschreibung einer privaten Leseerfahrung in Seneca, Epist 46,1-3 (= Rosenbach, 356-359). 132 Vgl. etwa Mt 5,18.22.28.32.34.39.44 usw. Vgl. a. Mk 4,3.9. 133 Die Textrezeption in Gruppen war in der Antike überhaupt üblich. Bilder, die das Lesen in Gruppen illustrieren, sammelt und bespricht T. BIRT, Die Buchrolle in der Kunst (1907; Nachdr.: Hildesheim, 1976), 138-54. Vgl. zur frühen griechischen Lyrik RÖSLER, Dichter und Gruppe, bes. 33-41. 134 Etwas einseitig, aber nach wie vor grundlegend ist J. BALOGH, „‚Voces Paginarum‘“, Ph. 82 (1926), 84-109; 202-240. Eine wichtige Korrektur bietet B.M.W. KNOX, „Silent Reading in Antiquity“, GRBS 9 (1968), 421-435, der trotz des Nachweises, daß es in der Antike vereinzelt auch leises Lesen gab, lautes Lesen für die Norm hält (vgl. 421.435). Ähnlich einseitig wie einst BALOGH ist jetzt in exegetischen Kreisen P.J. ACHTEMEIER, „Omne Verbum

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Evangelien von der Mehrheit hörend wahrgenommen wurden, möglicherweise im Kontext des urchristlichen Gottesdienstes135. Damit kann eine rezeptionskritische Betrachtung der Evangelien einen Vorteil verbuchen: Indem sie konsequent in linearer Aufeinanderfolge den Text betrachtet, statt ihn in einer „vertikal-konkordanten“ Betrachtungsweise in alle seine Einzelelemente zu zergliedern, respektiert sie die Anordnung und kumulative Wirkung des Textes. Ähnlich wie in der akustischen Wahrnehmung ist der Text keine statische Größe, sondern ein zeitliches Ereignis136. Die Praxis des lauten Lesens ergibt sich beinahe unumgänglich aus der Scriptio continua137. Der Text ist eigentlich ohne seine Lektüre unvollendet, genauso wie eine musikalische Partitur erst in der Aufführung lebt und sonst für die meisten schweigt. Der Text ist also auf die Stimme des (Vor-)Lesers angewiesen138. In der lauten Lektüre wird die vorlesende Person zu einem simplen Instrument, das den Aussagen des Textes phonetischen Wert verleiht, so daß Klang und Sinn im Logos zusammenfallen können139. In der Lektüre kommt es so zu einer Fusionierung zweier Ich-Gestalten, der des abwesenden Schreibers und der des Vorlesers140. Ein Großteil der modernen Oralitätsforschung (M. Parry, A.B. Lord, R. Finnegan, J.M. Foley, J. Goody) ist an den Produktions- und Traditionsweisen von Texten (besonders von Epen) innerhalb einer oralen Kultur interessiert. Dies ist zwar sicherlich für die Erforschung alttestamentlicher Einzelgattungen wie für das Verhältnis von Formgeschichte und Redaktionskritik in der Evangelienexegese von hohem

sonat: The New Testament and the oral environment of late western antiquity“, JBL 109 (1990), 3-27. Die notwendigen Korrekturen folgten sogleich in zwei kritischen Miszellen (M. SLUSSER, „Reading Silently in Antiquity“, JBL 111 [1992], 449 und F.D. GILLIARD, „More Silent Reading in Antiquity: Non Omne Verbum Sonabat“, JBL 112 [1993], 689-696). Einen guten Überblick bietet MÜLLER, „Verstehst du auch, was du liest?“ 16-30. 135 Explizit in Offb 1,3; vgl. a. JUSTIN, Apol I,67,3 (gottesdienstliche Lesung der „Erinnerungen der Apostel“ und der Propheten). Zur möglichen Lektüre der Evangelien vgl. J.C. SALZMANN, Lehren und Ermahnen: Zur Geschichte des christlichen Wortgottesdienstes in den ersten drei Jahrhunderten (WUNT II/59; Tübingen, 1994), 121-131; M. H ENGEL, Die Evangelienüberschriften (SHAW.PH; Jg. 1984/3; Heidelberg, 1984), 33-37. Etwas einseitig S. MORENZ, J. LEIPOLDT, „Buch II (heilig, kultisch)“, RAC 2 (1954), 711: „Nur bei Mt. kann man sich vorstellen, daß das Buch von vornherein für den Gottesdienst bestimmt ist.“ 136 MOORE, Literary Criticism, 86: „It may well be that the reader-response exegetes inadvertently do justice to the oral-aural factor in a way that redaction critics and narrative critics do not… Biblical scholars, nurtured in a hypervisual print-culture, tend to conceive of the text in spatial terms. Spoken words are events, however, not things. They exist not in space but in time, not all at once but in sequence, and resist consolidation as objects.“ 137 Vgl. a. W. RAIBLE, Zur Entwicklung von Alphabetschrift-Systemen (Heidelberg, 1991). 138 J. SVENBRO, Phrasikleia: An Anthropology of Reading in Ancient Greece (Ithaca/ London, 1993), 45f. 139 SVENBRO, Phrasikleia, 2-4. 140 SVENBRO, Phrasikleia, 27.

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Literarische Rezeptionskritik und Evangelienexegese

Interesse, wirft aber zunächst wenig Licht auf die Frage nach der konkreten Rezeption von oral vorgetragenen Texten im Hörvorgang. Ganz besonders mit den Arbeiten von Eric HAVELOCK (1903-1989) und Walter J. ONG ist jedoch die Diskussion auf eine viel grundsätzlichere Ebene gestellt worden, die man den Wechsel von einer „oralen Poetik“ zu einer „oralen Noetik“ nennen könnte141. Es geht hierbei nicht nur um die „Mechanik“ oraler Textproduktion und deren eventueller Verschriftlichung, sondern um die durch eine orale Kultur geprägten Denkstrukturen. Ganz im Sinne der Medienforscher der sog. „Toronto-Schule“142 sucht man nach den diversen Denkstrukturen, die durch die unterschiedlichen Medien „Mündlichkeit“ und „Schriftlichkeit“ bedingt werden. Hier ist auf die grundlegenden Beobachtungen von Walter J. ONG einzugehen 143: 1. Phänomenologie des Klanges: Eine orale Kultur orientiert sich am Klang, am Ton, nicht so sehr an visuellen Zeichen. Wörter sind Klänge, „sie haben kein Zentrum und hinterlassen keine Spur“, „sie sind Erscheinungen, Ereignisse“, die als Laut nur für einen kurzen Augenblick existieren, um dann wieder in der Klanglosigkeit unterzugehen (37). Im Gegensatz zur Schrift kann man einen Laut nicht anhalten, verlangsamen oder beliebig „zurückrufen“. Wie der Doppelsinn „Wort/Ereignis“ des hebräischen rbd zeigt, verstehen orale Kulturen die Sprache als Handlungsweise (38). Während das Sehen isoliert, ist das Hören auf Harmonie aus, es bezieht ein, es fügt zusammen (75). In der Tat ist es so, daß eine Gruppe von Menschen, solange sie gemeinsam jemandem zuhört, eine Einheit bildet; sobald man aber zum stillen Lesen aufruft, löst sich die Gemeinschaft in ihre Einzelteile auf. Daher kann es eine Hörgemeinschaft geben, eine Lese- oder Schreibgemeinschaft jedoch nur schwerlich (73). „Das gesprochene Wort verwandelt menschliche Wesen in zusammengehörende Gruppen.“ (77) 2. Psychodynamische Eigenschaften oral begründeten Denkens und Ausdrucks (42-61): a) Eher additiv als subordinierend: Der mündliche Diskurs geht eher parataktisch vor und scheut sich nicht vor stilistisch unschönen Wiederholungen. b) Eher aggregativ als analytisch: Orale Rede trägt eine Menge von Epitheta und Formeln mit sich, die der Stabilisierung des Denkens dienen. c) Redundant oder nachahmend: Da ein Zurückblättern nicht möglich ist, bedarf es der Wiederholung, um Sprecher und Hörer auf dem Pfad des Diskurses zu halten. d) Konservativ oder traditionalistisch: In oralen Kulturen zeichnet sich Originalität nicht dadurch aus, daß man bestehende Traditionen an den Rand drängt, sondern daß man sie in der ständigen Interaktion mit dem Publikum modifiziert und bewahrt. e) Nähe zum menschlichen Leben: Das Wissen wird in einem engen Bezug zur menschlichen Lebenswelt organisiert und weitergegeben (z.B. Listen, Genealogien usw.). f) Kämpferischer Ton: Durch rohe Formeln oder anschauliche Darstellungen von Gewalt werden die Zuhörer provoziert. g) Eher einfühlend und teilnehmend als objektiv-distanziert: Während das Schreiben den Wissenden vom Wissensstoff trennt, ist die Reaktion des einzelnen 141 Vgl. A. u. J. ASSMANN, „Schrift – Kognition – Evolution“, Einleitung zu E.A. HAVELOCK, Schriftlichkeit (Weinheim, 1990), 4-6. 142 Vgl. M. McLUHAN, Q. FIORE, The Medium is the Message (New York, 1967). 143 Oralität und Literalität (Opladen, 1987). Zahlen im Text beziehen sich auf dieses

Werk.

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Zuhörers eingebettet in die gemeinschaftliche Reaktion. h) Homöostasie: Die „Realität oraler Gesellschaften bewahrt ihr Gleichgewicht, ihre Homöostasie, indem sie für die Gegenwart irrelevant gewordene Erinnerungen ausscheidet“ (51). i) Eher situativ als abstrakt: Menschen in oralen Kulturen denken in operativen Bezugsrahmen und nicht so sehr im abstrakten Raum aristotelischer Logik 144.

Da das kulturelle Umfeld der Evangelien vom Ineinandergreifen von Mündlichkeit und Schriftlichkeit geprägt war145, treffen nicht alle der von ONG zusammengestellten Merkmale in gleicher Weise auf die Rezipienten der Evangelien zu. Sie sollten jedoch im Horizont der Erst-Rezeption mitbedacht werden. Der historischen Rekonstruktion der Erst-Rezeption sind jedoch Grenzen gesetzt: Vieles spricht für die Annahme, daß der uns vorliegende Text – selbst bei optimaler textkritischer Rekonstruktion – und der tatsächlich von den historischen Leser/innen im Hörvorgang wahrgenommene Text qualitativ und quantitativ unterschiedlich sind. Das hängt vor allem mit der Rolle des Vorlesers bzw. der Vorleserin zusammen: In der Regel wird er/sie wohl den Text vorher studiert, unter Umständen Markierungen im Manuskript zur Lesehilfe vorgenommen und teilweise memoriert haben146. Im Vortrag selbst kann er/sie nicht nur durch die konkrete Vortragsweise die Rezeption maßgeblich beeinflussen147, sondern es ist auch anzunehmen, daß er/sie im Verlauf der Lektüre Leerstellen ausfüllen und Schwierigkeiten erklären konnte148. 144

ONG, Oralität, 59: „Eine orale Kultur beschäftigt sich schlichtweg nicht mit solchen Dingen wie geometrischen Figuren, abstrakten Kategorien, formal-logischen Denkprozessen, Definitionen oder auch nur gründlichen Beschreibungen, nicht mit zergliedernder Selbstanalyse, die stets nicht einfach dem Denken, sondern dem textgeprägten Denken entstammt.“ 145 W.H. HARRIS, Ancient Literacy (Cambridge, 1989), 72f.84-86.125f.198f.225f. 146 Vgl. H.I. MARROU, A History of Education in Antiquity (London, 1956), 160-6. 147 Vgl. Dionysios Thrax (2. Jh. v.Chr.), Techne Grammatike 2: „Beim Lesen ist zu achten auf den Vortrag (Hupókrisiß), auf Prosodie und auf Trennung (diastol´j). Am Vortrag erkennen wir die Qualität/Trefflichkeit/Art (t`j n haret´jn), an der Prosodie die Kunstfertigkeit (t`jn técnjn), an der Trennung den enthaltenen Sinn (tòn periecómenon noün). Die Tragödie werde heroisch gelesen, die Komödie im Ton des Alltagslebens (ligur¨wß), die Elegie schrill (biotik¨wß), das Epos intensiv (hentónoß), die Lyrik harmonisch (hemmel¨wß).“ (Text und Übersetzung in RAIBLE, Alphabetschrift-Systeme, 6) 148 BEAVIS, „Trial“, 592-594. A.F. CAMPBELL hat den Begriff der „berichteten Erzählung“ („reported story“) geprägt („The Reported Story: Midway between Oral Performance and Literary Art“, Semeia 46 [1989], 77-85). Es geht hierbei um eine Erzählweise, in der nur die grundlegenden Elemente erzählt werden, die dann auszufüllen Aufgabe des Vortragenden ist. Wie lassen sich aber Signale im Text ausfindig machen, die auf eine solche Erzählweise hinweisen? Eigentlich entscheidet hier die Intuition des Interpreten oder der Interpretin: Wenn ein Text schmucklos und nüchtern erscheint und Elemente zu fehlen scheinen, die für die Entfaltung der Erzählung grundlegend sind, dann wird die Geschichte nicht erzählt, sondern über sie berichtet (78). Vgl. dazu J.G. WILLIAMS, „Between Reader and Text: A General Response“, Semeia 46 (1989), 170: „It would make a tremendous difference in our reading of texts to establish whether or not this scribal summarizing or epitomizing was a common practice among the writers and redactors responsible for biblical narrative.“ BEAVIS, Mark’s Audience, 31 vermutet in bezug auf das Markus-Evangelium, daß der Evangelist persönlich der ursprüngliche Vorleser gewesen sein könnte.

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Fazit: Die Evangelien sind in ihrem kulturellen Umfeld als religiöse Vorlesebücher zu betrachten, die sehr wahrscheinlich durch die öffentliche Lektüre zum Prozeß der Identitätsfindung frühchristlicher Gemeinden beitragen sollten. Dieses gemeinschaftliche „Klangereignis“ aktiviert die affektive und pragmatische Dimension der Textwahrnehmung stärker. Auch gewinnen eine Reihe von Textstrategien gerade im Hörvorgang eine besondere Bedeutung (Redundanzen, Wiederholungen, Alliterationen, Merkhilfen, anaphorische und kataphorische Hinweise, Sprachrhythmik, Appelle, Fragen usw.). Die einzige Erfahrung, die man heute vielleicht annähernd damit vergleichen könnte, wäre das gemeinschaftliche Kinoerlebnis oder – wer es gepflegter mag – der Besuch eines klassischen Konzerts. Ein längeres Zitat zum Umgang mit Literatur zur Zeit Platons kann dieses Fazit plastisch unterstreichen: „Most citizens experienced poetry – not drama merely, but also the Homeric epics and lyric poetry – as members of an audience … in various well-defined social settings: seeing tragedy and comedy at the annual dramatic festivals, hearing their Homer performed by professional rhapsodes, taking their turn with a song or two at drinking-parties. And all would have felt these (rather than reading or study) to be the proper contexts for poetry – oral memorisation and recital dominating even the schoolchild’s poetic training. So that in order to gauge Plato’s critique we must first banish any image of the serious reader curled quietly in an armchair with the Iliad, and think rather of the audience at a performance by the rhapsode Ion, tears in their eyes as they listen to Hector bidding Andromache farewell (Ion 535b-e). For Plato, the typical experience of poetry is never anything like private contemplation; and our most appropriate context for comparison is the experience of the theatre-going or, it may be, film-going public.“149

3.6 Exkurs 3: Das Problem der Intention des Autors „[D]er Pfeil gehört nicht mehr dem Schützen, sobald er von der Sehne des Bogens fortfliegt, und das Wort gehört nicht mehr dem Sprecher, sobald es seiner Lippe entsprungen und gar durch die Presse vervielfältigt worden ist.“ Heinrich Heine, Werke, hg. E.A. Boucke, XI, 216

3.6.1 Das traditionelle Interesse der Exegese am Autor Die Exegese der Neuzeit zeigt sich weitgehend fasziniert von der Figur des historischen Autors150. Der Ursprung dieses Interesses liegt im 16. und 17. 149 FERRARI, „Plato and Poetry“, 93. 150 Vgl. zur Begriffsgeschichte des

deutschen „Autor“ W. SCHEMME, „Autor“, HWP 1 (1971), 721-3; U. JAPP, „Der Ort des Autors in der Ordnung des Diskurses“, Diskurstheorien und Literaturwissenschaft, hg. J. Fohrmann, H. Müller (Frankfurt a.M., 1988), 223f.

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Jh.: Unter dem Einfluß der Aufklärung versuchten Freidenker und Deisten die Bibelauslegung aus der Enge eines erstarrten Inspirationsdogmas zu führen151. Der Philosoph Baruch de SPINOZA (1632-1677) schreibt in seiner 1670 anonym publizierten, religionskritischen, politischen und theoretisch-hermeneutischen Abhandlung Tractatus theologico-politicus: „[Es] ist … zur Schrifterklärung nötig, eine getreue Geschichte der Schrift auszuarbeiten, um daraus als aus den sicheren Daten und Prinzipien den Sinn der Verfasser in richtiger Folgerung abzuleiten.“ „Lesen wir ein Buch …, von dem wir den Verfasser nicht kennen und auch nicht wissen, zu welcher Zeit und bei welcher Gelegenheit es geschrieben wurde, so werden wir vergebens versuchen, über seinen Sinn Gewißheit zu erhalten. Denn da uns dies alles unbekannt ist, können wir durchaus nicht wissen, welche Absicht der Verfasser (quid autor intenderit) hatte oder haben konnte.“152

Die Verankerung der Auslegung in der historischen Figur des empirischen Autors kam nicht nur dem wachsenden Interesse an der Geschichte und am Individuum entgegen, sondern schien der einzig sichere Weg, um „Gott“ (gemeint ist die dogmatische Gottesvorstellung der Orthodoxie) als „wirklichen“ Autor aus dem Auslegungsprozeß auszuschalten und die damit verbundene typologische Auslegung endgültig zu Grabe tragen zu können153. Die Bibelauslegung sollte sich nach den vernünftigen Regeln der allgemeinen Hermeneutik richten154; und diese wurde allgemein verstanden als „die Wissenschaft der Regeln, durch deren Beobachtung die Bedeutungen aus ihren Zeichen können erkannt werden“, wobei die Bedeutung eines Zeichens identisch ist mit dem, was der Autor damit gemeint hat155. Die emanzipatorische, dogmenkritische Stoßrichtung dieses Vorhabens stellte nicht nur das gängige Dogma in Frage, sondern nahm selbst dogmatische und damit auch totalitäre Formen an. Die „Inthronisation“ der historischen autorialen Gestalt als Validitätskriterium einer einzig richtigen Auslegung führte schließlich zu einer nicht 151

Vgl. LOMBARDI, „Intentio Auctoris“, 43-68. Für die deutsche Aufklärung stellt H.W. FREI, The Eclipse of Biblical Narrative: A Study in Eighteenth and Nineteenth Century Hermeneutics (New Haven, 1974), 108 fest: „The meaning of words and statements is a matter of convention, the conventions being governed by the author’s intention (as read by his original audience).“ 152 B. DE S PINOZA , Tractatus Theologico-Politicus/Theologisch-politischer Traktat, hg. G. Gawlick, F. Niewöhner (Spinoza Opera/Werke 1; Darmstadt, 1979), 231-33.259. 153 FREI führt diesen Ablösungsprozeß anhand der Auseinandersetzung englischer Deisten, besonders des Freidenkers Anthony COLLINS (1676-1729), mit der allegorischen Auslegung vor (vgl. Eclipse, 66-85). Vgl. 73: „[F]or the Deists … the origin and sense of every rational statement is the intention in the mind of the human author… [T]he defenders of typological interpretation … had their own divine author who could easily supplement if not supplant with a second, greater, and more inclusive meaning the sense intended by a limited human author and appropriate to his finite understanding.“ 154 Vgl. FREI, Eclipse, 251-253. 155 So eine angesehene Auslegungslehre der Aufklärung: Georg Friedrich MEIER, Versuch einer allgemeinen Auslegungskunst (Halle, 1757; Nachdr. hg. von L. Geldsetzer; Düsseldorf, 1965), §§1, 17 und 112.

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Literarische Rezeptionskritik und Evangelienexegese

wieder rückgängig zu machenden Trennung zwischen wissenschaftlichen und religiösen Lektüren der Bibel, denn zur historisch-philologischen intentio auctoris hatte nur noch die Wissenschaft den rechten Zugang. Exemplarisch für das 19. Jh. mag die Hermeneutik SCHLEIERMACHERS stehen156: Er fordert von dem auslegenden Subjekt, „daß man sich auf der objektiven und subjektiven Seite dem Urheber“ und nicht „den ursprünglichen Lesern“ gleichstellt, denn diese müssen zum Verstehen auch auf die Seite des Autors treten157. Mit den Begriffen „objektiv“ und „subjektiv“ meint SCHLEIERMACHER einerseits die Kenntnis des Sprachschatzes des Autors und der allgemeinen Zeitgeschichte und andererseits die „Einfühlung“ in seine inneren wie äußeren Lebensumstände158. Beides kann aber „erst vollkommen durch die Auslegung selbst gewonnen werden. Denn nur aus den Schriften eines jeden kann man seinen Sprachschatz kennenlernen und ebenso seinen Charakter und seine Umstände“159. Durch diese „divinatorische“ Methode verwandelt sich der Ausleger oder die Auslegerin in eine andere Person160. So hat SCHLEIERMACHER ein besonderes Interesse an der psychologischen Dimension der Auslegung, die eine doppelte Aufgabe enthält: „Das eine ist, den ganzen Grundgedanken eines Werkes zu verstehen, das andere, die einzelnen Teile desselben aus dem Leben des Autors zu begreifen. Jenes ist das, woraus sich alles entwickelt, dieses das in einem Werke am meisten Zufällige. Beides aber ist aus der persönlichen Eigentümlichkeit des Verfassers zu verstehen.“161 In der Mitte des 19. Jh.s befindet sich die biblische Hermeneutik ganz deutlich auf dem Weg, die Auslegung voll und ganz an die historische Autorengestalt zu binden162. Es hat bisher vielleicht nur eine länger anhaltende Periode in der Geschichte der modernen Synoptikerexegese gegeben, die der Faszination des Autors nicht erlegen war. Gemeint ist die Formgeschichte; also jene Fragestellung, die Anfang dieses Jahrhunderts einige Jahrzehnte lang das Feld beherrschte. Hier spielt der historische Autor für die Sinnfindung nur eine sehr untergeordnete Rolle. In der klassischen Konzeption BULTMANNS ist er jemand, der fest in der Gemeindetheologie verwurzelt ist und der „die ihm überkommene Tradition nach den Gesichtspunkten des Gemeindeglaubens ordnet und bearbeitet.“163 Für DIBELIUS ist das Urchristentum ein Ort, „wo 156 Zu D.F. STRAUSS vgl. FREI, Eclipse, 234f. 157 SCHLEIERMACHER, Hermeneutik und Kritik, 94. 158 SCHLEIERMACHER, Hermeneutik und Kritik, 94f. 159 SCHLEIERMACHER, Hermeneutik und Kritik, 94. 160 SCHLEIERMACHER, Hermeneutik und Kritik, 169. 161 SCHLEIERMACHER, Hermeneutik und Kritik, 185. 162 FREI , Eclipse, 91. 163 R. BULTMANN , Die Geschichte der synoptischen

Tradition (Götttingen, 91979), 1. Es muß aber darauf hingewiesen werden, daß BULTMANN später auch auf die Redaktion der einzelnen Synoptiker zu sprechen kommt (362-92); und obwohl er diese in ihrer theologischen wie schriftstellerischen Individualität einschränkt, spricht er zuweilen von der „Absicht“ (372) oder dem „Interesse“ des Verfassers (384.391).

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viele Namenlose sich durch Weitergabe des Überlieferten, durch Veränderung oder Vermehrung schaffend betätigen, und wo der einzelne Autor keine literarischen Ziele hat“ und somit „die persönliche Eigenart des Dichters oder Erzählers wenig“ bedeutet164. Der Evangelist erscheint hier, salopp ausgedrückt, als „Ghostwriter“ eines weithin unbestimmten Kollektivs165. Diese Marginalisierung des Autors in der klassischen Formgeschichte wurde in der Folgezeit zur Genüge kompensiert: Die Redaktionsgeschichte ließ aus dem Nebel der „Namenlosen“ interessante theologische wie literarische Einzelgestalten aufsteigen, deren sinnstiftende Intention zu erforschen lohnenswert schien166. Diese Wiederentdeckung des Autors läßt sich bereits an einem der ältesten Dokumente der Redaktionsgeschichte ablesen, Günther BORNKAMMS meisterhaft-knapper Auslegung der matthäischen Sturmstillungsgeschichte: Im Jahre 1948 befand sich BORNKAMM noch deutlich auf dem Boden der Formgeschichte, deren Grundanschauung, die Evangelisten seien als Sammler anzusehen, er keineswegs anzweifelte167. Er versuchte dennoch, sich in Richtung Autor zu bewegen: „Matthäus ist nicht nur Tradent der Erzählung, sondern auch ihr ältester Exeget.“168 Daher sei es Aufgabe der Exegese, „auch nach den Motiven der Komposition der einzelnen Evangelien“ zu fragen 169. Für den vorsichtigen Übergang vom konturlosen Sammler der Formgeschichte zum Autor der Redaktionsgeschichte finden wir bei BORNKAMM einen interessanten Zwischenschritt: der Autor als Leser, als Ausleger170. In der Terminologie von Roland BARTHES ausgedrückt: Für die Redaktionsgeschichte ist die „Tradition“ ein „schreibbarer Text“, der seine Rezipienten nicht in ihrem Konsumentendasein beläßt (so der „lesbare Text“), sondern selbst zu Textproduzenten macht171. Während später CONZELMANN die alte formgeschichtliche Sicht der Evangelienbildung lediglich „präzisieren“ wollte, indem er „schärfer als bisher das Verständnis

M. DIBELIUS, Die Formgeschichte des Evangeliums (Tübingen, 41961), 1. „Die Verfasser sind nur zum geringsten Teil Schriftsteller, in der Hauptsache Sammler, Tradenten, Redaktoren.“ (2) Ähnlich äußert sich K.L. SCHMIDT über die „literarische“ Tätigkeit des Markus, „der im Grunde nur Einzelperikopen nebeneinander reiht“ (Der Rahmen der Geschichte Jesu [1919; Nachdr.: Darmstadt, 1964], 317). Ganz im Sinne der Formgeschichte formuliert P. WINTER, „Jewish Folklore in the Matthaean Birth Story“, HibJ 53 (1954), 36: „Though purpose and intent cannot be said to have been absent in the process, it was more the spontaneous reaction of a collective group than the device of individual authors.“ 165 Theoretisch ließe sich diese Sicht mit FISHS Konzept der Auslegungsgemeinschaft wunderbar neu begründen! 166 Vgl. S ANDERS/DAVIES, Studying the Synoptic Gospels, 201f: Die Redaktionsgeschichte entstand „in a cultural context which took for granted that the meaning of literature is to be discovered only by laying bare the ‚author’s (or in this case, redactor’s) intention‘. This is why the studies are written in personalistic ways, about the intentions Matthew, Mark and Luke show in writing their gospels.“ 167 G. BORNKAMM, „Die Sturmstillung im Matthäusevangelium“, [1948] Überlieferung, 53. 168 BORNKAMM, „Sturmstillung“, 51. 169 BORNKAMM, „Sturmstillung“, 53. 170 Vgl. etwa den Titel der Dissertation seines Schülers H.J. HELD, „Matthäus als Interpret der Wundergeschichten“, Überlieferung, 155-287 (kursiv M.M.M.). 171 Für die Unterscheidung zwischen „lesbaren“ und „schreibbaren Texten“ vgl. R. BARTHES, S/Z (Frankfurt a.M., 1976), 7-10. 164

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des Kerygmas bei den einzelnen Evangelisten ausarbeitet“ und „im Aufriß des Evangeliums die eigentliche Absicht der lukanischen Schriftstellerei“ zu fassen sucht172, ist der Bruch mit der anti-individualistischen, soziologischen Orientierung der Formgeschichte bei MARXSEN wesentlich pointierter173. Die Formgeschichte hatte für die Stufe der mündlichen Tradition herausgestellt, daß das Material auseinanderdriftet. Die Evangelien aber laufen durch ihre fortlaufende Narrativisierung des Materials eben dieser atomisierenden Tendenz entgegen. Daraus folgert MARXSEN:

„Das aber kann nicht erklärt werden, ohne ein Individuum, eine Schriftstellerpersönlichkeit in Ansatz zu bringen, die mit ihrem Werk ein bestimmtes Ziel verfolgt. Danach ist nun zu fragen. Mögen Umfang und Abgrenzung der Quellen unserer Evangelisten, mag auch der Anteil ihrer Bearbeitung fast nie mit letzter Sicherheit zu erkennen sein (ein Blick auf ihren ‚Schreibtisch‘ ist uns leider verwehrt), mögen wir schließlich auch die Namen unserer Verfasser, ihre genaue Heimat, ihre Schicksale nicht kennen, betont werden muß dennoch: es handelt sich um Verfasser. Wenn dann aber die anti-individualistische Betrachtung der Evangelien zum Dogma erhoben wird, kann man die Evangelisten selbst gar nicht in den Blick bekommen.“174

MARXSEN sieht in Markus sogar den ersten, der „das individualistische Moment in die Formung und Gestaltung der Tradition“ hineinbrachte175. Sieht man im Begriff des Autors den „Angelpunkt für die Individualisierung in der Geistes-, Ideen- und Literaturgeschichte, auch in der Philosophie- und Wissenschaftsgeschichte“176, dann ist die Hinwendung zu einer individuell hervorstechenden Autorengestalt bei MARXSEN endgültig. „Formgeschichte“, so behauptet er (und man wird dabei zu Recht an jede Art von Exegese denken müssen), „die an den Verfassern der Evangelien vorbeigeht, hängt irgendwie in der Luft“177. Die Redaktionsgeschichte ist m.E. maßgeblich dafür verantwortlich, daß die Synoptikerexegese nach dem kurzen formgeschichtlichen Intermezzo den Autor wieder in den Mittelpunkt ihres Diskurses stellen konnte178.

So ist heutzutage die Beschäftigung mit dem Verfasser einer biblischen 172 H. CONZELMANN , Die Mitte der Zeit: Studien zur Theologie des Lukas (Tübingen, 1964), 4 und 8f. 173 W. MARXSEN, Der Evangelist Markus (Göttingen, 21959), 7-12. 174 MARXSEN, Evangelist, 9. 175 MARXSEN, Evangelist, 9. 176 So M. FOUCAULT, „Was ist ein Autor?“ [1969] Schriften zur Literatur (Frankfurt a.M., 1988), 10. 177 MARXSEN, Evangelist, 11. 178 Mit dem Modell einer Schule als Autorinstanz versuchte 1954 K. STENDAHL eine Mittelposition zwischen dem unbestimmten Kollektiv der Formgeschichte und dem individuellen Schriftsteller der Gegner der Formgeschichte einzunehmen (The School of St. Matthew and its Use of the Old Testament [Philadelphia, 1968], 13-19). Einige Jahre später jedoch formulierte er seine Absicht in typisch redaktionsgeschichtlicher Manier autorzentriert: „to find out what he [= Matthew; kursiv von K.S.] thinks that he is doing with his material“ („Quis et Unde? An Analysis of Mt 1-2.“ Judentum, Urchristentum, Kirche [FS J. Jeremias], hg. W. Eltester [Berlin, 1960], 96). Rund vierzehn Jahre später faßt der gleiche Autor zusammen: „Actually, the more intensive the expectation of normative guidance and the more exacting the claims for the holiness of the Scriptures, the more obvious should be the need for full attention to what it meant in the time of its conception and what the intention of the authors might have been“ („The Bible as a Classic and the Bible as Holy Scripture“, JBL [1984], 9). 5

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Schrift nach wie vor unerläßlicher Bestandteil des allgemein anerkannten Methodenkanons und Gegenstand vieler gelehrter Auseinandersetzungen. In gewissem Sinne bildet sie den Eckstein für die gesamte Einleitungswissenschaft: Man sucht seine Gestalt, seine Identität, seine Chronologie, seine Quellen, seine religionsgeschichtlichen Einflüsse usw. Die Tatsache, daß man für ein solches Unternehmen immer wieder bereit ist, größte Mühen auf sich zu nehmen, weist deutlich darauf hin, daß man das Ausfindigmachen einer bestimmten Autorenpersönlichkeit als einen unschätzbaren Gewinn für das Verständnis des Textes betrachtet. Ohne die Gestalt des Autors würden, so scheint mir, viele Exeget/innen einen wichtigen Anker ihrer Arbeit verlieren179. In der Exegese gilt weiterhin, was M. FOUCAULT 1969 feststellte180: „‚Literarische‘ Diskurse können nur noch rezipiert werden, wenn sie mit der Funktion Autor versehen sind: jeden Poesie- oder Fiktionstext befragt man danach, woher er kommt, wer ihn geschrieben hat, zu welchem Zeitpunkt, unter welchen Umständen oder nach welchem Entwurf. Die Bedeutung, die man ihm zugesteht, und der Status oder der Wert, den man ihm beimißt, hängen davon ab, wie man diese Fragen beantwortet. Und wenn infolge eines Mißgeschicks oder des ausdrücklichen Autorwillens uns der Text anonym erreicht, spielt man sofort das Spiel der Autorsuche. Literarische Anonymität ist uns unerträglich; wir akzeptieren sie nur als Rätsel.“

Wenn also die Hinwendung zum Leser den „Tod des Autors“ impliziert181, wird für viele dieser Preis zu hoch sein182.

3.6.2 Die literaturwissenschaftliche Debatte um die Intention des Autors Während sich die Evangelienexegese Ende der 40er Jahre wie der verlorene Sohn auf dem Weg zurück zur verlassenen Vaterfigur, dem Autor, befand, verabschiedete die Literaturwissenschaft den historischen Autor als sinnstiftende Instanz bis auf weiteres und brach damit aus der dominierenden psychologisierenden und autorzentrierten Auslegung der Romantik aus. Die Toten-

179 Ähnliches gilt für die moderne Predigt; vgl. W. ENGEMANN, „‚Unser Text sagt...‘: Hermeneutischer Versuch zur Interpretation und Überwindung des ‚Texttods‘ der Predigt“, ZThK 93 (1996), 450-54. Vgl. a. 468: „Wann immer die Predigt den Tod des Autors nicht akzeptiert, sein Testament, den Text, nicht zur Interpretation annimmt, sondern einem historisierenden Autorsinn unterwirft, nimmt sie den Tod des Textes in Kauf…“ (Hervorhebungen vom Autor) 180 FOUCAULT, „Was ist ein Autor?“ 19. 181 Das Schlagwort vom „Tod des Autors“ geht auf R. BARTHES zurück: „The Death of the Author“, Modern Criticism and Theory, ed. D. Lodge (London, New York, 1988), 166-72. 182 Vgl. etwa M. HENGEL, „Aufgaben der neutestamentlichen Wissenschaft“, NTS 40 (1994), 351.

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glocken zu diesem Anlaß wurden von den Literaturwissenschaftlern W.K. WIMSATT und M. BEARDSLEY (zwei Jahre vor BORNKAMMS kleiner Studie) geläutet. Ihr Aufsatz „The Intentional Fallacy“ hat sich in der Retrospektive als einer der wichtigsten Texte des New Criticism erwiesen183. Die zentrale These lautet: „[T]he intention of a literary artist qua intention is neither a valid ground for arguing the presence of a quality or meaning in a given instance of his literary work nor a valid criterion for judging the value of that work.“184

Wie sehr die Autoren damit einen neuralgischen Punkt im Gemüt vieler Literaturwissenschaftler/innen berührten, zeigt die seither geführte Debatte um die Intention des (historischen) Autors185. Doch ist zunächst zu bedenken, daß WIMSATT in einer Anmerkung zum Wiederabdruck sich deutlich gegen ein weit verbreitetes Mißverständnis gewehrt hat: „[I]nterpretation apparently based upon an author’s ‚intention‘ often in fact refers to an intention as it is found, or inferred from, the work itself. Obviously the argument about intention … is not directed against such instances“186.

Damit wird deutlich, daß es WIMSATT/BEARDSLEY keinesfalls darum geht, mit dem Begriff der Intention zu brechen, nur verstehen sie „Intention“ als eine Qualität, die innerhalb des literarischen Werkes liegt und daher keine historische Größe ist, die von außen den Sinn steuert187. Gibt man das in der Terminologie Wayne BOOTHS wieder, so gilt, daß moderne Ausleger/innen nur Zugang zur Intention des impliziten Autors, nicht aber zu der des

183 Ursprünglich erschienen in Sewanee Review 54 (1946). Ich zitiere nach dem Wiederabdruck in WIMSATT, Verbal Icon, 3-18. 184 WIMSATT, Verbal Icon, 12. 185 Vgl. aus der reichhaltigen Literatur J.T. BAGWELL, American Formalism and the Problem of Interpretation (Houston, 1986); M. BIRIOTTI, N. MILLER (Eds.), What is an Author? (Manchester, 1993); S. BURKE, The Death and Return of the Author (Edinburgh, 1992); CROSMAN, „Do Readers Make Meaning?“ 149-64; M. FRANK, Das Sagbare und das Unsagbare (stw 317; Frankfurt a.M., 31993), 130-6; HIRSCH, Validity; F. KERMODE, The Art of Telling (Cambridge, 1983), 201-20; S. KNAPP, W.B. MICHAELS, „Against Interpretation“, CritInq 8 (1982), 723-42; W.B. MICHAELS, „Against Formalism: The autonomous text in legal and literary interpretation“, PoetTod 1 (1979), 23-34; D. NEWTON-DEMOLINA (Ed.), On Literary Intention (Edinburgh, 1976); G. NICHOLSON, Seeing and Reading (Atlantic Highlands, NJ; London, 1984), 219-227; J.T. SHAWCROSS, Intentionality and the New Traditionalism (Pennsylvannia, 1991); S. WILKE, „Authorial Intent versus Universal Symbolic Language“, Soundings 74 (1991), 411-26; G.M. WILSON, „Again, Theory: On Speaker’s Meaning, Linguistic Meaning, and the Meaning of a Text“, CritInq 19 (1992), 164-85. 186 WIMSATT, Verbal Icon, 26. 187 MICHAELS, „Against Formalism“, 24 urteilt daher zu Recht: „The central thrust of his position was not completely to deny the relevance of authorial intention but rather to limit what would be allowed to count as evidence of that intention to the work itself.“

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historischen Autors haben188. Das entspricht m.E. inhaltlich der Unterscheidung Umberto ECOS zwischen intentio auctoris und intentio operis189. Eine nächste entscheidende Zäsur in dieser kurzen forschungsgeschichtlichen Erzählung stellt die Arbeit von E.D. HIRSCH dar190, die insgesamt eine große Wirkung gezeigt hat191, zum Teil auch in exegetischen Fachkreisen192. Seine zentrale These könnte derjenigen von WIMSATT/BEARDSLEY nicht entgegengesetzter sein: „To banish the original author as the determiner of meaning was to reject the only compelling normative principle that could lend validity to an interpretation … If the meaning of the text is not the author’s, then no interpretation can possibly correspond to the meaning of the text.“193

HIRSCH richtet sich damit nicht nur gegen den anglo-amerikanischen New Criticism, sondern auch gegen die deutschsprachige Hermeneutik à la GADAMER, indem er allen vorwirft, im Prinzip nichts anderes als Relativisten zu sein. Er sieht in der Verbannung des Autors auch jede Möglichkeit nach Normativität in der Interpretation dahinschwinden und malt die Folgen in apokalyptisch anmutenden Bildern der Anarchie aus. HIRSCH setzt eigentlich das voraus, was er zu beweisen sucht, und argumentiert letztlich auf politischer Ebene194: Es muß einen determinierten Sinn und ein Gültigkeitskriterium für die Eruierung dieses Sinns geben, weil es keine Anarchie geben darf. Die wirklichen Schwierigkeiten stellen sich aber in der praktischen Umsetzung von HIRSCHS Programm ein:

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NELLES, „Authors“, CL 45 (1993), 31f: „The implied reader under my model … would understand not the intentions of the historical author, which may after all be unrealized in the text, but rather those of the implied author.“ Vgl. a. M. DIERKS, Autor, Text, Leser (München, 1981), 154. 189 ECO, Grenzen, 35-9. Ähnlich CHATMAN , „Defense of the Implied Author“, 81: „Invention, originally an activity in the real author’s mind, becomes, upon publication, a principle recorded in the text. That principle is the residues of the real author’s labor. It is now a textual artifact. The text is itself the implied author… Upon publication, the implied author supersedes the real author.“ Im Gefolge von BEARDSLEY/WIMSATT spricht CHATMAN von „intent“ und nicht von „intention“ und meint „a work’s ‚whole‘ or ‚overall‘ meaning“ (74). 190 Validity in Interpretation. HIRSCH hat seine Sicht weiter ausgebaut in The Aims of Interpretation (Chicago, 1976). 191 Vgl. W. DAVIS, The Act of Interpretation (Chicago, 1978); P.D. JUHL, Interpretation (Princeton, 1980); J. REICHERT, Making Sense of Literature (Chicago, 1977); G. STRICKLAND, Structuralism or Criticism (Cambridge, 1981). 192 Vgl. D.C. A LLISON, The New Moses. A Matthean Typology (Edinburgh, 1993), 1-8; O. KAISER, „Die alttestamentliche Exegese“, in: G. Adam, O. Kaiser u. W.G. Kümmel, Einführung in die exegetischen Methoden (München, 1975), 11 und Anm. 6; P. COTTERELL, M. TURNER, Linguistics and Biblical Interpretation (Downers Grove; London, 1989), 57-72; TUCKETT, Reading, 174-83; F. WATSON, Text and Truth (Edinburgh, 1997), 95-126. 193 HIRSCH, Validity, 5. 194 CROSMAN, „Do Readers make meanings?“ 156-160.

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1. Die Ermittlung der Intention des historischen Autors ist von der Interpretation geschichtlicher Quellen abhängig. Doch scheint hier HIRSCHS biographischer Intentionalismus einen qualitativen Unterschied zwischen literarischen und historischen Texten zu machen, denn schließlich werden letztere als neutrale Steinbrüche voller „objektiver“ Daten zur Bestimmung von „Intention“ benutzt. Aber auch hinter den sog. historischen Quellen verbergen sich verschiedenartige Interessen und Intentionen, die eigentlich durch andere Texte erhoben werden müßten195. Wenn man also zur Auslegung eines Textes auf andere zurückgreifen muß, um die Intention des Autors zu erhellen, und wenn die Bedeutung aller Texte – auch historischer – von außertextuellen Intentionen gesteuert wird, dann begeben wir uns in eine schier endlose Spirale. Außerdem: Wenn der Sinn eines Textes in der Intention seines Autors aufgeht, dann handelt man dieser Prämisse zuwider, wann immer man „Quellen“ zur Erhellung der Intention des auszulegenden Textes hinzuzieht, denn diese wollen wohl in den seltensten Fällen nur im Hinblick auf ihre Bedeutung für die Auslegung eines anderen Textes gelesen werden196. Indem historische Quellen in dieser Weise funktionalisiert werden, werden sie ganz deutlich gegen die Intention ihrer Autor/innen gelesen. Diese eklektische Anwendung eines sonst so vehement vertretenen Prinzips führt unausweichlich in eine Aporie. Das Problem ist also, daß es keinen intentionslosen, von keinerlei Interessen geleiteten Text gibt197. Aber selbst wenn man einen solchen vor sich hätte, dann wäre unser Verständnis dieses Textes doch auch von unseren Interessen geleitet. Wer also nicht eine naiv-idealistische Sicht der Historiographie vertreten will, wird gerade in diesen oft verschwiegenen Problemen den Hauptgrund dafür erkennen, daß historische Intentionalisten vor und nach HIRSCH weit davon entfernt sind, auf eine Auslegung (sprich: auf eine geschichtlich rekonstruierte Intention) übereinzukommen. Traditionellerweise verweist man 195 Der Geschichtstheoretiker H. WHITE hat dies in seinem Werk Tropics of Discourse (Baltimore, 1978) hervorgehoben: „[T]he presumed concreteness and accessibility of historical milieux, these contexts of the texts that literary scholars study, are themselves products of the fictive capability of the historians who have studied these contexts. The historical documents are not less opaque that the texts studied by the literary critic.“ (89) 196 MORGAN /BARTON , Biblical Interpretation, 8 stellen grundsätzlich im Hinblick auf den Gebrauch von Texten in der historischen Forschung fest: „[I]nterpreters use texts in different ways from those intended by the author, as in historical research.“ So wurde z.B. das Markusevangelium sicherlich nicht geschrieben, um als Folie für das Matthäusevangelium zu dienen, und auch Lukas verfolgte mit seinem zweiten Band keineswegs das Ziel, den historischen Hintergrund einzelner Paulusbriefe zu erhellen. 197 Zu dieser beinahe unvorstellbaren Möglichkeit vgl. das anschauliche Beispiel in KNAPP/ MICHAELS, „Against Theory“, 727-29. Ein solcher Fall könnte vielleicht einmal durch literarische Computer-Werke gegeben sein. Wenn die Frage nach der Bedeutung durch eine von außen beigesteuerte Größe (= Intention) gelöst werden muß, würden solche Werke uns vor die Frage stellen: Hat eine Maschine eine Intention?

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angesichts dieses Problems auf die Utopie, daß mit wachsender Menge an historischem Quellenmaterial Auslegungsunterschiede graduell vereinheitlicht werden können, da dadurch die Autorenintention immer präziser hervortritt. Diese methodenoptimistische Vertröstung wird aber m.E. durch die Erfahrung widerlegt: In der neutestamentlichen Wissenschaft hat es sich des öfteren gezeigt, daß neue Quellenfunde die Kontrahenten keineswegs näherbringen (auch wenn hier und da einzelne strittige Fragen für einige Zeit als abgeschlossen betrachtet werden können), sondern in den meisten Fällen mit neuer „Munition“ ausstatten. Damit erweist sich die Erhebung der Intention der historischen Autorgestalt als ein Unterfangen, das grundlegend von den Interessen jedes/r einzelnen Auslegers/in determiniert wird198. 2. HIRSCHS Projekt sieht nicht nur einen Zugriff auf die Biographie des Autors vor, sondern auch auf sein Bewußtsein, weil gerade hier „Sinn“ zu orten ist199. Ich möchte daher im Anschluß an G. NICHOLSON von einer mens auctoris-Theorie sprechen, bei der das Problem nicht in dem Begriff des Autors liegt, sondern in dem der mens200. Als Bezeichnung einer menschlichen Bewußtseinshaltung ist „Intention“ Forschungsgegenstand divergierender philosophischer201 wie psychologischer202 Erklärungsmodelle. So würde z.B. im Bereich der Psychologie das Phänomen des Unbewußten den Begriff der Intentionalität bis an die Grenzen der Inoperabilität komplizieren. 198

P.B. ARMSTRONG, Conflicting Readings (Chapel Hill; London, 1990), 106: „[Documentary] evidence typically displaces rather than resolves arguments about the text’s meaning by providing the combatants with more material to contest. Intention is never directly given but must always be construed even in such documents as notebooks and prefaces. A construal of intention is necessarily at least in part the product of the interpreter’s choices … because to attribute an intention to a work is to select one of a number of possible ways of typing it.“ 199 „[M]eaning is an affair of consciousness not of words.“ (HIRSCH, Validity, 4) Vgl. zu dieser Problematik APEL, „Intentionalität“, 13-54. Ein radikaler Versuch, diese Dichotomie gänzlich aufzulösen, findet sich in dem anregenden und unterhaltsamen Artikel von KNAPP/MICHAELS, „Against Theory“, bes. 723-30. Für sie ist das Intendierte und das Gemeinte identisch. Da Sprache a priori Intention einschließt, kann die Intention des Autors nicht von außen hinzugefügt werden, um den sprachlichen Sinn zu erschließen. 200 NICHOLSON, Seeing and Reading, 219.226. Er sieht die Vorläufer dieser Anschauung in SCHLEIERMACHERS psychologischer Interpretation und DILTHEYS Vorstellung vom Verstehen als Empathie. Wie unscharf der Begriff des Bewußtseins bleibt, macht NICHOLSON mit einer Frage deutlich: „Do we mean by ‚consciousness‘ … what is inferrable from the text or what is known by all modes of evidence?“ (226) 201 Für einen ersten Überblick vgl. B. AUNE, R.M. CHISHOLM, „Intention, Intentionality“, EncPh 4 (1967), 198-204; P. ENGELHARDT, „Intentio“, HWP 4 (1976), 466-73 (für griech. und lat. Begriffsgeschichte). Wichtig für eine philosophische Definition der Kommunikation über den Begriff der Intention sind die Arbeiten von H.P. GRICE (übersetzt in G. MEGGLE [Hg.], Handlung, Kommunikation, Bedeutung [Frankfurt a.M., 1979]) und J.R. SEARLE, Intentionalität (Frankfurt a.M., 1987). 202 Vgl. den Überblicksartikel von D.C. D ENNETT, „Three Kinds of Intentional Psychology“, Reduction, Time and Reality, ed. R. Healey (Cambridge, 1981), 37-61.

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Jonathan CULLER schreibt dazu: „Das Unbewußte ist die Weise, in der das, was man sagt, das, was man weiß bzw. das, was man sagt, das, was man sagen will, überschreitet. Entweder besteht die Intention des Sprechers in dem im Moment der Äußerung dem Bewußtsein präsenten Inhalt, dann ist sie variabel und unvollständig und für die illokutionäre Rolle der Äußerung nicht verantwortlich; oder sie ist zugleich umfassend und gespalten – zugleich bewußt und unbewußt –, eine strukturale Intentionalität, die niemals irgendwo präsent ist und die Implikationen hat, die mir niemals, wie man so sagt, in den Sinn kamen. Eine solche Intention … ist im Grunde der Normalfall. Wenn ich über die Implikationen einer Äußerung befragt werde, kann ich in meine Intention immer Implikationen einfügen, die mir vorher gar nicht in den Sinn kamen. Meine Intention ist die Summe nachträglicher Erklärungen, die ich vielleicht abgebe, wenn ich über irgendeinen Punkt befragt werde, und somit weniger der Ursprung, sondern ein Produkt, weniger ein abgegrenzter Inhalt als vielmehr eine offene Menge diskursiver Möglichkeiten, die mit den Wirkungen iterierbarer Akte und den Kontexten, die bestimmte Fragen über diese Akte ermöglichen, in Zusammenhang stehen.“203

Mit einem Rückgriff auf die Intention des historischen Autors ist also keineswegs der archimedische Punkt gewonnen, von dem aus die Auslegung aus den Angeln ihrer Subjektivität gehoben werden könnte204. Hinter diesem Begriff verbirgt sich in Wirklichkeit eine äußerst komplexe Vielfalt zweckgerichteten Verhaltens und Erlebens. 3. Selbst wenn man die historiographischen, philosophischen und psychologischen Hürden überwunden zu haben glaubt, wäre die Erschließung der Intention des historischen Autors nur unter Idealbedingungen möglich. Ich nehme als Beispiel die ausführliche Studie von Manfred DIERKS zu Walter Kempowskis Roman „Tadellöser & Wolff“205, bei der versucht wird, produktions- und rezeptionsempirische Sichtweisen zu verbinden. Auf der Suche nach der autorialen Primärintention konnte DIERKS auf folgende Quellen zurückgreifen206: ausführliches biographisches Material über den Verfasser, direkte Zeugnisse aus seinem Schaffensvorgang (z.B. Zettelsammlungen, Werktagebücher), ein mit leeren Blättern durchschossenes Exemplar vom Tadellöser mit Kommentaren des Verfassers sowie direkte Gespräche mit Kempowski, bei denen dieser auch zu einzelnen Passagen Stellung genommen hat. Alle diese Einzeldaten werden von DIERKS im Rahmen der psychoanalytischen Produktionsästhetik von Hanns Sachs ausgewertet207. Hält man also die Suche nach der Intention des empirischen Autors für ausschlaggebend, dann bedarf 203 Dekonstruktion, 141f. 204 Einen guten Eindruck

über den Komplexitätsgrad der aktuellen philosophischen Diskussion vermittelt C.B. CHRISTENSEN, „Gegen den Bedeutungsnominalismus“, Intentionalität und Verstehen, hg. Forum für Philosophie, Bad Homburg (Frankfurt a.M., 1990), 55-87. BULTMANN, „Problem“, 216, Anm. 13 stellt angesichts der Forderung nach autorzentrierter Exegese fest: „[J]etzt fängt das Problem erst an!“ 205 DIERKS, Autor, Text, Leser. 206 DIERKS, Autor, Text, Leser, 13.154.176f. 207 DIERKS, Autor, Text, Leser, 38-42.

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es nicht nur einer Fülle an Material, sondern auch eines psychologischen Systems, innerhalb dessen verschiedene Aussagen als Hinweise auf eine Intention kohärent ausgewertet werden können. Ich möchte nicht beurteilen, ob das DIERKS insgesamt gelungen ist; aber fest steht, daß eine solche Ausgangssituation in der biblischen Exegese in den Bereich der Träume mancher Exeget/innen gehört. Wer also die Exegese von einem biographischen Intentionalismus abhängig macht, wird die meisten biblischen Bücher für nichtinterpretierbar erklären müssen208. 4. In der Praxis dient der biographische Intentionalismus zur Absicherung des Machtmonopols professioneller Kritiker/innen gegenüber literaturgeschichtlich ungeschulten Leser/innen209. Selbstverständlich hat jede wissenschaftliche Textinterpretation aufgrund ihrer methodischen Vorgehensweise und der Verarbeitung einer ständig wachsenden Menge an relevanten Daten gewisse Ausgrenzungstendenzen gegenüber nicht-akademischen Lektüren. Die Einengung auf den historischen Autor ist aber deswegen viel ausgrenzender, weil sie mit dem Anspruch auftritt, den einzig wahren Sinn zu erheben. Wissenschaftliche Lektüren, die sich ihrer relativen hermeneutischen Verortung bewußt sind und sich offen und dialogisch gegenüber anderen Lektüren verhalten, haben eher die Möglichkeit einladend statt ausgrenzend zu wirken. Aus der Sicht der Leser/innen sind solche Auslegungen viel eher möglich als aus der Sicht des Autors. Eine Verdrängung anderer Lesergruppen wäre m.E. gerade im Falle der Bibel verheerend210. Ich möchte anhand von zwei nicht-biblischen Beispielen zeigen, in was für verwickelte Situationen die Suche nach der Intention des Autors die Forschung zu führen vermag: 1. In William Wordsworths (1770-1850) Gedicht „A slumber did my spirit seal“ reagiert die poetische Ich-Person auf den Anblick der toten Lucy. Die zweite Strophe identifiziert den toten Leib mit verschiedenen Elementen der Natur: „No motion has she now, no force; / She neither hears nor sees; / Rolled round in earth’s diurnal course, / With rocks, and stones, and trees.“ Diese letzten beiden Zeilen haben Anlaß zu zwei divergierenden Auslegungen gegeben 211: Die pessimistische sieht hier einen Hinweis auf das Gefangensein der Toten im „leeren Wirbel“ der Erde. Die optimistische Auslegung hingegen entdeckt hier die pantheistische Klimax des Gedichts, bei der Lucy durch ihren Tod lebendiger wird als zuvor, weil sie in den ehrwürdigen Kreislauf der Natur eingegliedert worden ist. Für biographische Intentionalisten hängt die richtige Interpretation daher von der historischen Frage ab, ob Wordsworth 208 Das gleiche ließe sich überhaupt von der Interpretation der meisten alten Texte sagen. Vgl. NICHOLSON, Seeing and Reading, 223-5, der zusammenfaßt: „[W]here T [= text] is our only evidence for A [= authorial intention], it is a vacuous principle.“ (225) 209 CROSMAN , „Meaning?“ 160: „Such a system would result in the enthronement not of authors, but of a sacerdotal caste of critic-judges.“ 210 Vgl. G.O. WEST, „The interface between trained readers and ordinary readers in liberation hermeneutics“, Neot. 27 (1993), 165-180 211 HIRSCH, Validity, 227-41.

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zur Zeit der Textabfassung im Jahre 1799 pantheistisch geprägt war oder nicht. 2. Wie unsicher aber selbst autobiographische Angaben sein können, zeigt das zweite Beispiel212: Die Novelle von Henry James (1843-1916) The Turn of the Screw hat eine heftige Diskussion über den Realitätsgrad der darin wahrgenommenen Geister ausgelöst. Selbst die Angaben des Verfassers in einem kurzen Vorwort zur Novelle konnten die Auseinandersetzung nicht beenden, denn jede/r meinte sie für seine/ihre Auslegung reklamieren zu können. Als schließlich 1947 die autobiographischen Notebooks von James veröffentlicht wurden, schien es so, als ob man die Auseinandersetzung beenden könne. Der Verfasser identifizierte darin als Quelle seiner Erzählung eine Geistergeschichte, die er von dem Erzbischof von Canterbury, E.W. Benson, gehört haben wollte. Doch meldeten sich alsbald die Söhne des Erzbischofs zu Wort und ließen ihre Zweifel laut werden, ob diese Geschichte tatsächlich zum Repertoire ihres Vaters gehört haben sollte. Damit stand die James-Forschung nicht nur vor einem historischen, sondern auch vor dem moralischen Problem, welcher Partei sie mehr Vertrauen schenken solle. Aus diesem kuriosen Vorfall schließt ARMSTRONG m.E. zu Recht: „We have here a classic instance of the unreliability of documentary evidence about intention for settling interpretive disputes.“ (106)

3.6.3 Grenzen und Möglichkeiten autorialer Exegese Die Intention des historischen Autors erweist sich bei näherer Betrachtung als eine ungemein komplexe, unbeständige und schwer erhebbare Größe. Auf der Suche danach begibt man sich auf ein Terrain voller historiographischer, philosophischer, psychologischer wie praktischer Einbruchmöglichkeiten. Der Text zeichnet sich durch die Abwesenheit seines Verfassers aus und ist nicht ohne weiteres wieder zu diesem zurückzuführen213. Selbst wenn HIRSCH theoretisch im Recht wäre, so sind die Bedingungen für die praktische Durchführung im Falle der Evangelien ohne Übertreibung als katastrophal zu bezeichnen. Literaturhistorisch betrachtet, ist die Konsequenz, mit der sich die Autoren der Evangelien in den Hintergrund stellen, angesichts der Tatsache, daß im kulturellen Umfeld des Urchristentums sich seit der nach-homerischen Zeit ein ausgeprägtes Autorenbewußtsein gebildet hatte214, auffällig. Die relativ frühe Zuweisung der Evangelien an konkrete Autoren zeigt, daß man sich nicht mit ihrer Anonymität zufrieden geben wollte. Weiterhin möchte ich zu 212 Vgl. ARMSTRONG, Conflicting Readings, 89-108. 213 FOUCAULT, „Was ist ein Autor?“ 14 begreift jeden

Akt des Schreibens als Ausdruck von Abwesenheit. 214 Vgl. E. STEIN , Autorbewußtsein in der frühen griechischen Literatur (Scripta Oralia 17; Tübingen, 1990). Für sie hängt dieses Phänomen unmittelbar mit dem Übergang von Mündlichkeit zur Schriftlichkeit in der nach-homerischen Zeit zusammen (172). Doch äußert sich dieses neue Bewußtsein der Dichter/innen gerade in einer Art und Weise, wie wir sie in den Evangelien nirgends vorfinden: „Äußerungen über das eigene Leben, über Liebe und Leid, über die Dichtung und deren Wirkung treten in überspitzter Form und gehäufter Zahl auf. Die Dichter treten immer weiter hinter dem Inhalt ihrer Werke hervor und präsentieren sich als unverwechselbare, eigenwillige Persönlichkeiten, vor allem als Autoren, die für die Produkte ihres Geistes verantwortlich zeichnen und darauf stolz sind.“ (177)

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bedenken geben, daß die theologische Fixierung auf den Autor ein Symptom, eine Art „Phantomschmerzen“ für die ausgetilgte Lehre von der individuellen Inspiration der biblischen Verfasser (und deren säkularisierter Verallgemeinerung in der Romantik) sein könnte215. In jedem Fall sollte die Exegese irgendwie das Desinteresse der Evangelisten, sich selbst zum Gegenstand ihres Werkes zu machen, würdigen. Dort wo das Bewußtsein der historischen Autorengestalt zum Prokrustesbett der einzig wahren, überzeitlichen Auslegung gemacht wird, endet die Exegese oftmals in der Spekulation um kaum entscheidbare historische Detailfragen. Damit soll nicht gesagt werden, daß die Beschäftigung mit solchen Problemen nicht reizvoll sein mag, nur sollten sie nicht unnötig mit dem Anspruch belastet werden, dem Pluralismus in der Auslegung den Riegel vorschieben zu sollen. Aus dem Gesagten ist daher nicht der Schluß zu ziehen, daß man auf die Präsenz einer autorialen Gestalt oder auf den Begriff der Intention gänzlich verzichten müsse216. Nur denke ich, daß die Privilegien, mit denen der Autor bedacht worden ist, ein typisches Ergebnis unserer „Gutenberg-Ära“ sind, in der das schreibende Individuum im Zentrum des öffentlichen Interesses steht und Gegenstand rechtlichen Schutzes ist217. Ich möchte also dafür plädieren, die Intention des Autors als eine für die Sinnfindung kontingente, aber nicht apriorische Größe anzusehen218. Das schließt nicht 215

Eine ähnliche Vermutung äußert H.-P. MÜLLER, „Theologie und Religionsgeschichte im Blick auf die Grenzen historisch-kritischen Textumgangs“, ZThK 94 (1997), 318f. 216 Für BARTHES hingegen ist der Autor ein „Enteigneter“, der die „gewaltigen Vaterrechte“, mit denen ihn die Literaturgeschichte, der akademische Unterricht und die öffentliche Meinung bedacht haben, hoffnungslos verloren hat. Bei der quasi-erotischen Beziehung zwischen dem (männlichen?) Leser und dem (weiblichen?) Text ist der Autor verständlicherweise ein Störfaktor. Der Leser „spannt“ dem Autor sozusagen den Text „aus“. Die einzige Möglichkeit, die der Autor hat, um in Erscheinung zu treten, ist in dem Maße gegeben, wie der Leser ihn begehrt und nach seiner Gestalt sucht (Lust am Text, 43). FOUCAULT will konsequenterweise auf die Begriffe „Werk“ und „Schreiben“ verzichten („Was ist ein Autor?“ 12-15; vgl. die Auseinandersetzung bei JAPP, „Der Ort des Autors“). Übrigens hängt für FOUCAULT der Tod des Autors mit dem Tod des Menschen und dem Tod Gottes zusammen (15). 217 Vgl. M. WOODMANSEE, „The Genius and the Copyright: Economic and Legal Conditions of the Emergence of the ‚Author‘“, Eighteenth-Century Studies 17 (1984), 425-48. Ihre Schlußfolgerung ist erhellend: „[A]ll of these critics [gemeint sind Schleiermacher, Dilthey und Hirsch] share the belief that criticism has essentially to do with the recovery of a writer’s meaning, and they all take for granted the concept of the author that evolved in the eighteenth century. What we tend to overlook is the degree to which that concept was shaped by the specific circumstances of writers during that period.“ (448) Vgl. auch die Aussagen eines kritischen Zeitgenossen aus dem 18. Jahrhundert, der den neu entstandenen Handel der Autoren mit ihren Gedanken anprangert: Johann Georg HAMANN, „Über die Autorschaft“, [1770] Vom Magus im Norden und der Verwegenheit des Geistes, hg. S. Majetschak (München, 1988), 141-3. 218 NICHOLSON , Seeing and Reading, 226. Selbst DERRIDA äußert sich ähnlich zu diesem Problem: „In dieser Typologie [gemeint ist die „Typologie der Iterationsformen“, wie etwa der Unterschrift] wird die Kategorie der Intention nicht verschwinden, sie wird ihren Platz

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aus, daß man nach den Spuren, den „genetischen Abdrücken“ des Autors im Text oder in sog. historischen „Quellen“ sucht oder daß man die Sprache selbst als Trägerin von Intentionalität betrachtet; nur sollte das in dem Bewußtsein geschehen, daß auch die sog. „historischen“ Quellen intentionale Gegenstände sind und daß bei unserem Mangel an Information neu bedacht werden muß, daß eine genaue Trennung zwischen intentio operis und intentio auctoris nur selten möglich sein wird219. Wie aber tritt der Autor in Erscheinung? Es ist nicht zu leugnen, daß hinter jedem Werk ein Autor (oder mehrere!) steht220. Es ist nicht zuletzt seine Rhetorik, seine Auswahl der Wörter und seine Kompetenzerwartung, die das Profil der Erzähladressaten erkennbar machen221. Die Beschäftigung mit dem Text in seiner Ursprache läßt zudem die geschichtliche Enzyklopädie einer autorialen Gestalt in den Vordergrund treten. Eine besondere Bedeutung haben Negationen, die als bewußte Durchkreuzungen von Repertoireelementen wichtige „Anhaltspunkte für Intention des Autors sowie für die vorausgesetzten Erwartungen des angesprochenen Publikums“ liefern können222. Wenn man also ein Werk aus der Sicht der Rezeption betrachtet, sind automatisch der Autor, seine Strategie und seine Intentionen bereits mit im Spiel223. Manche Literaturwissenschaftler/innen würden hierbei den Begriff des „impliziten

haben, aber sie wird von diesem Platz aus nicht mehr den ganzen Schauplatz und das gesamte System der Äußerung beherrschen können.“ (Randgänge, 150) Etwas vorsichtiger JAUSS, Ästhetische Erfahrung, 688: „[D]ie rekonstruierte Intention des Autors [darf] nicht länger die letzte Instanz des Verstehens bilden, … [muß] aber gleichwohl eine Kontrollfunktion behalten.“ 219 Das Verhältnis beider Intentionsebenen zueinander läßt sich am ehesten noch in christologischer Sprache beschreiben: „unvermischt, ungewandelt, ungetrennt und ungesondert“. NICHOLSON, Seeing and Reading, 223: „[S]ince interpretation is a business in which what we infer from a given text is often mingled with what we know from other sources, the very word ‚author‘ comes to waver and wobble. On the one hand, it is the mind manifested in just this text; on the other, it is the human being, about whom we know empirically this and that. In most cases, it is a combination of the two, and this is the heart of the problem.“ 220 Das NT bietet sehr komplizierte Autorenkonstellationen (s.o. S. 96). Im Falle von alten, editierten Texten ist die Figur des „historischen Autors“ noch vielschichtiger: Sie umfaßt nicht nur den oder die ursprünglichen Verfasser/innen, sondern auch jene Personen, die an der Form der der Kommentierung zugrunde gelegten Textgestalt beteiligt waren; also auch Abschreiber/innen, Übersetzer/innen und Herausgeber/innen. NELLES, „Historical“, 23 fächert zur Veranschaulichung dieser Aussage den historischen Autor des Beowulf in sieben historische Persönlichkeiten auf. 221 Bei ECO, Lector, 7 ist die Mitarbeit des Lesers Teil der Strategie des Autors. Es läßt sich empirisch belegen, daß bewertende Kommentare des Erzählers die Rezeption maßgeblich beeinflussen (vgl. DOLLERUP/HANSEN, „Readers’ Response“, 365). 222 ISER, Akt des Lesens, 338. 223 LINK, „‚Appellstruktur‘“, 554: „Die Strategien der Leserlenkung sind als Reaktionsanweisungen für den Leser zugleich Ausdruck einer Intention des Autors, der ja solche Strategien plant und einsetzt.“

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Autors“ benutzen (s.o. S. 80ff)224. Versteht man unter „implizitem Autor“ das von den Leser/innen aufgrund bestimmter textueller Hinweise gezeichnete Bild des realen Autors (s.o. S. 95ff), dann ist deutlich, daß die Funktion einer autorialen Intention aus dem Zusammenspiel zwischen Text und Lektüre erwächst225. Intentionalität ist daher keine willkürliche Eintragung in den Text, sondern ergibt sich aus der sprachlichen Gestalt des Textes selbst226. Daß ein Rückschluß von diesem textuell rekonstruierten Autor auf den realen Autor möglich ist, wird von Vertreter/innen der Textimmanenz meist bestritten. Gewiß ist eine methodische Trennung hilfreich, ich schlage aber dennoch vor, die Frage offen zu lassen. Je nach Textsorte manifestiert sich die autoriale Präsenz in einer ganz anderen Art und Weise: So erscheint mir die Brücke zum realen Autor im Falle anonymer Erzählungen wie den Evangelien viel brüchiger als im Falle apostolischer Briefe227. In der Regel aber übersteigt die Erfahrung von Intention aufgrund der Rekonstruktion einer textuellen Sprechergestalt den Horizont der Textproduktion228. Insgesamt läßt sich die mögliche Wirkung eines Textes unabhängig von der Frage beantworten, ob sie vom empirischen Autor tatsächlich intendiert war oder nicht. Wenn aber ein Werk eine ausdrückliche Absichtserklärung beinhaltet, dann ist diese zu be224 Schön formuliert ENGEMANN , „‚Unser Text sagt...‘“, 465: „So endgültig sich der Schöpfer von seinem Text getrennt hat, so unwiderruflich hat er sich in ihn hineingeschrieben.“ Desweiteren führt er ein, daß der Autor in Form des impliziten Autors, bzw. Schreibers präsent ist. MÜLLER, „Theologie“, 319 stellt ähnlich fest, daß „ein Autor sich selbst durch seine Aussage … ebensosehr verbirgt, wie er sich in ihr offenbart.“ 225 Vgl. ANDEREGG , Fiktion und Kommunikation, 156. ECO, Lector, 76-82 sieht in seinem symmetrischen Modell nicht nur vor, daß der empirische Autor seinen Modell-Leser „ins Leben ruft“, sondern daß empirische Leser/innen einen „Modell-Autor“ entwerfen, der wie der Modell-Leser eine Aktantenrolle des Textes darstellt. Leser/innen aktualisieren den Text nicht gemäß den Absichten des empirischen Autors, sondern gemäß dem im Text enkodierten und vom Leser präfigurierten Modell-Autors. Dieser „Modell-Autor“ hat ähnliche Züge wie der „implizite Autor“. 226 FISH denkt wie HIRSCH , daß Bedeutung keine Angelegenheit der Sprache sein kann (das wäre formalistisch!), sondern der Intention als Bewußtseinshaltung eines Sprechers. Da diese immer nur vom Interpreten rekonstruiert werden kann, schließt er daraus, daß auch die Zuweisung von Intention nur eine Eintragung ist (vgl. Doing, 7f.25f). 227 Wie bereits festgestellt (s.o. S. 95f), ist im Falle der Evangelien der empirische Autor für uns nur als „impliziter Autor“, letztendlich nur in der Stimme des Erzählers greifbar. Apostolizität zieht aber nicht automatisch Autorenautorität nach sich, denn ein Apostel spricht nach seinem eigenen Selbstverständnis im Auftrag einer höheren Autorität. Es geht ihm um den Inhalt und nicht um die eigene Person (vgl. Gal 1,8). Es wäre also nach der intentio dei und weniger nach der intentio auctoris zu fragen. Der „Sinn Gottes“ ist aber methodisch nicht erfaßbar (1Kor 2). 228 JAUSS, Ästhetische Erfahrung, 89: „Wenn der zeitgenössische Leser und spätere Lesergenerationen den Text aufnehmen, macht sich der Hiatus zur Poiesis darin geltend, daß der Autor die Rezeption nicht an die Intention binden kann, mit der er das Werk hervorbrachte: das vollendete Werk entfaltet in der fortschreitenden Aisthesis und Auslegung eine Bedeutungsfülle, die den Horizont seiner Entstehung bei weitem übersteigt.“ Vgl. 196.

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Literarische Rezeptionskritik und Evangelienexegese

rücksichtigen; allerdings nicht als Auslegungsraster für das gesamte Werk229, sondern als eine Strategie, die vornehmlich dazu dient, um Leseerwartungen zu wecken, und als Dokumentation der beabsichtigten Wirkung. Ich möchte anhand eines abschließenden Beispiels aus der Pauluskorrespondenz das Problem erläutern. Selbst bei den Briefen, die im Gegensatz zu den Evangelien viel mehr über ihre kommunikative Situation und damit auch über mögliche Senderintentionen verraten, ist die Frage nach der Intention nicht eindeutig klärbar, weil man kaum ausdrückliche metakommunikative Absichtserklärungen findet230. Paradoxerweise ist es ein uns nicht erhaltener Brief, der von Paulus derart thematisiert wird, daß sich ziemlich präzise Aussagen über Senderintention und erzielte Wirkung machen lassen können: der sog. „Tränenbrief“, der chronologisch in der KorintherKorrespondenz sehr wahrscheinlich zwischen den beiden erhaltenen Briefen liegt und den Paulus offensichtlich nach einem unerwarteten Eklat in Korinth noch unter dem Eindruck der Ereignisse schreibt (2Kor 1,23-2,10; 7,6-12)231. Die Autorintention wird von Paulus doppelt definiert232: Er wollte die Korinther seiner ehrlichen Liebe vergewissern (2,4), und er wollte ihre Bewährung erkennen, ihren Gehorsam prüfen (2,9) und ihren Eifer für ihn deutlich machen (7,12). Ganz ausdrücklich verneint Paulus, er habe die Intention gehabt, sie in Trauer zu stürzen (2,4) oder seinen privaten Konflikt mit einem Gemeindeglied aus der Welt zu schaffen (7,12). Doch genau das stellt sich in der Wirkung des Briefes ein, von der offensichtlich Titus den Paulus unterrichtet hat (7,5-7): 1. Der Brief versetzt seine Adressaten in eine Situation tiefer Trauer, die aber glücklicherweise nur Durchgangsstadium auf dem Weg zur Reue ist (7,8-11). 2. Die Korinther üben im Hinblick auf den Beleidiger Gemeindezucht und stellen sich somit eindeutig auf die Seite des Paulus, so daß Paulus sie nun bitten muß, ihm zu vergeben (2,6-8). Die Wirkung des Briefes ist offensichtlich der Verfasserintention entglitten, weil der Brief nur schwacher Ersatz seiner Anwesenheit ist (1Kor 5,3-4; 2Kor 10,10-11; 13,10). Dennoch stellt dieses Verfehlen keinen hermeneutischen Fehlschluß seitens der Rezipienten dar, denn Paulus zeigt sich hocherfreut über die erzielte Wirkung (7,9). Wenn also nach QUINTILIAN der Zweck 229 FISH , Is There a Text? 51. 230 Manchmal greift Paulus etwaigen

Mißverständnissen über die Intention seiner Rede voraus: „Nicht um euch zu beschämen, schreibe ich dies, sondern ich ermahne euch als meine lieben Kinder.“ (1Kor 4,14) Oder am Abschluß eines Briefes: „Deshalb schreibe ich euch dies aus der Ferne, damit ich nicht, wenn ich anwesend bin, Strenge gebrauchen muß nach der Vollmacht, die mir der Herr gegeben hat, zu erbauen, nicht zu zerstören.“ (2Kor 13,10) Am Ende eines Briefes auch in 1Petr 5,12: „Ich habe euch wenige Worte geschrieben, zu ermahnen und zu bezeugen, daß das die rechte Gnade Gottes ist, in der ihr steht.“ Das deutlichste metakommunikative Bewußtsein intentionsgeleiteter Schriftlichkeit finden wir in der johanneischen Literatur: Joh 20,31 („geschrieben, damit ihr glaubt…“); 1Joh 1,4 („damit unsere Freude vollkommen sei“); 2,1 („damit ihr nicht sündigt“); 5,13 („damit ihr wißt, daß ihr das ewige Leben habt“). Eine dem Brief insgesamt vorangestellte Absichtserklärung findet sich nur im Judasbrief: Der Autor will erreichen, daß die Adressaten für den Glauben kämpfen (3). 231 Die einleitungskritische Frage, ob Teile des jetzigen 2Kor Fragmente aus diesem Tränenbrief repräsentieren könnten, ist für meinen Argumentationszusammenhang irrelevant. 232 Daß diese Aussage über die eigene Intention erst nachträglich geschieht, läßt natürlich die Frage offen, ob Paulus hier nicht eher rhetorisch-apologetisch argumentiert. Das würde aber ebenso zeigen, wie variabel die eigene Intention aus der Rückschau erscheint.

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der Rhetorik der ist, „die Menschen durch Reden zu dem zu führen, was der Verfasser will“233, dann erweist sich das als eine idealtypische Forderung, die in einer Gerichtssituation sinnvoll erscheint, aber ansonsten nicht die Regel ist. Für Paulus ist die Kommunikation offensichtlich nicht als gescheitert anzusehen, nur weil sich nicht seine Intention verwirklicht hat.

3.7 Zusammenfassung und praktisch-methodische Überlegungen 3.7.1 Zusammenfassung Zusammenfassend möchte ich eine graphische Darstellung wagen und kommentieren: „impliziter Autor“ Erzähler

historischer Autor

Text

empirische Leser/innen

„impliziter Leser“

situativer Rahmen

Ich habe bewußt die kommunikative Achse Autor-Text-Leser/in auf empirische Gestalten reduziert. Auf dieser Ebene kommuniziert kein abstrakter „impliziter Autor“ mit einem abstrakten „impliziten Leser“. Der „implizite Autor“ ist vielmehr (man beachte die Pfeilrichtung!) der sich aus dem Text ergebende Zugriff empirischer Leser/innen auf die historische Autorengestalt. Der „implizite Leser“ ist die durch die textuelle Rhetorik des historischen Autors implizierte Textstrategie oder mögliche Leserolle, die aber erst von empirischen Leser/innen je unterschiedlich realisiert wird (daher zwei Pfeilrichtungen). Durch die Rhetorik des Textes hat der historische Autor indirekt Einfluß auf den Rezeptionsvorgang. Er befindet sich nur im gleichen situativen Rahmen wie die Leser/innen, wenn der Text aus der Perspektive der Erst233 Inst.

Orat. II,15,10 = Rahn, I, 232f: ducere homines dicendo in id quod auctor vei.

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Rezipierenden betrachtet wird. Für alle späteren Rezeptionsstufen ist der empirische Autor nur noch am Verstehensprozeß beteiligt, insofern konkrete Leser/innen auf ihn mit historischen Mitteln rekurrieren wollen. Der Text hat eine vermittelnde und sinn-lenkende Funktion. Das Verhältnis zwischen Text und Leser/in ist aber komplex und spannungsreich. Diese Dialektik wird durch die beiden Pfeilrichtungen gekennzeichnet, die nicht einfach zwei klar abgegrenzte hermeneutische Vorgänge markieren sollen, sondern das ständige Hin- und Herpendeln zwischen Text und Leser/in ausdrücken. Auf der Seite der empirischen Leser/innen unterscheide ich zwischen der hypothetischen Erst-Rezeption und heutigen Lektüren. Die Erst-Rezeption kann erschlossen werden aus dem allgemeinen situativen Rahmen, den die Geschichte des Urchristentums bietet, und aus dem Rollenangebot des Textes selbst, der immer wieder Fährten legt, um den intertextuellen, kulturellen und ganz allgemein enzyklopädischen Repertoire-Elementen der Leser/innen auf die Spur zu kommen. Die Beschäftigung mit der hypothetischen ErstRezeption ist aus zwei Gründen wichtig234: 1. Die Sprache des Textes stellt einen Bezug her zu einer Enzyklopädie bzw. zu einem Repertoire des 1. Jh.s n.Chr. Die Beschäftigung mit der Erst-Rezeption kann daher historische Fragen integrieren, ein hoffentlich fruchtbares Gespräch mit der bisherigen historischen Textauslegung führen und vor allem exemplarisch zeigen, wie eine gelungene und kohärente Rezeption des Textes hätte aussehen können. 2. Dieses nachgezeichnete Geschehen hilft zur Profilierung der eigenen Lektüre. Innerhalb eines rezeptionskritischen Paradigmas ist es der historischen Erst-Lektüre verwehrt, heutige Lektüren besetzt zu halten. Die Begegnung mit der fremden Lektüre soll vielmehr den Einblick für die eigenen Verstehensbedingungen schärfen. 3.7.2 Praktisch-methodische Überlegungen Für die praktische Umsetzung rezeptionskritischer Fragestellungen ist es wichtig, nochmals daran zu erinnern, daß es sich dabei um kein autonomes Paradigma handelt, sondern um „eine partiale, anbaufähige und auf Zusammenarbeit angewiesene, auf das eigene Tun gerichtete und darin methodische Reflexion“235. Wenn also in der folgenden methodischen Skizze viele Schritte der historisch-kritischen Methode erneut ihren Platz finden, dann ist das kein fauler Kompromiß, sondern trägt der Tatsache Rechnung, daß Rezeptionskritik keine Methode, sondern eine Fragestellung ist, unter der jedes methodische Vorgehen betrachtet werden kann. 234

Vgl. zum hermeneutischen Wert und zur Funktion der Erst-Rezeption die Abschlußüberlegungen unten S. 368ff. 235 JAUSS, Ästhetische Erfahrung, 737.

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3.7.2.1 Die Risiken rezeptionskritischer Praxis Dem Versuch einer praktischen Umsetzung seien allerdings noch zwei Problemanzeigen vorausgeschickt: 1. In der Regel zieht es die meisten Rezeptionskritiker/innen in die schwindelerregenden Höhen metakritischer Sprache. Wenn sich dann einzelne von ihnen in die Niederungen praktischer Textauslegung hinabwagen, dann gehen sie entweder allgemein phänomenologisch oder empirisch beschreibend vor. Es fehlen allerdings konkrete methodische Anweisungen für die Textauslegung236. Dadurch begibt sich die rezeptionskritische Forschung in die Gefahr, zur Beschäftigung einer besonders feinfühligen und kreativen literarischen Elite zu verkommen, die sich durch die Verweigerung einer „Methodenlehre“ vor dem Eindringen des Pöbels meint schützen zu müssen bzw. schützen zu können. Obwohl Exegese sicherlich auch etwas mit Kreativität zu tun hat, müssen ihre Vorgehensweisen doch bis zu einem gewissen Grad methodisch-systematisch vermittelbar und nachvollziehbar sein. Diese Anforderung ist vor allem auch im Bereich der exegetischen Didaktik zu stellen. Das bisherige Fehlen einer solchen methodischen Reflexion mag mitunter einer der Gründe dafür sein, daß Rezeptionskritik – von einigen wenigen Ausnahmen abgesehen – sich im Bereich der Exegese nicht hat etablieren können. Es widerspricht allerdings dem Wissenschaftsverständnis der meisten Theoriemodelle, zu einer allumfassenden Systematik gelangen zu wollen, die die potentiellen Widerstände aller Texte mittels einer ausgeklügelten und komplexen Beschreibungssprache meistern kann237. Aus einer methodenskeptischen Position heraus läßt sich jedes methodische Vorgehen als offenes System betrachten, als „vorletztes Wort“ zur Sache, als ein Umhertasten auf der Suche nach Erkärungsmodellen, die zu sinnvollem Verstehen und damit auch zu sinnvollem Leben führen können. Mein eigener Methodenvorschlag wird es sich daher gefallen lassen müssen, im Zusammentreffen mit konkreten Texten modifiziert, erweitert, verkürzt oder auch in Frage gestellt zu werden. 2. Das zweite Problem hat mit dem Status von Interpretation zu tun. Radikale Theoretiker wie Jonathan CULLER oder Stanley FISH stellen den Sinn von Interpretation insgesamt in Frage. In einem wichtigen Aufsatz von 1976 mit dem bezeichnenden Titel „Beyond Interpretation“ sieht Jonathan CULLER den „großen Sündenfall“ vieler produktiver theoretischer Ansätze gerade in ihrem Verharren auf der Position, daß praktische Auslegung der Maßstab für den Wert oder Unwert einer Theorie sei238. In Anbetracht der Fülle an exegetischen Publikationen kann man ihm durchaus eine gewisse Sympathie 236 Selbst die empirische Literaturtheorie, die um eine exakte Beschreibungssprache bemüht ist, gibt keine Anweisungen für den Umgang mit Texten, sondern für den Umgang mit Versuchspersonen, die Texte lesen. 237 Das war m.E. die problematische Utopie des frühen Strukturalismus. 238 „Beyond Interpretation“ = Pursuit, 3-17.

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Literarische Rezeptionskritik und Evangelienexegese

entgegenbringen, wenn er schreibt: „There are many tasks that confront criticism … but one thing we do not need is more interpretations of literary works“239! CULLER möchte ein Wissenschaftskarussell aufhalten, das ständig zu Auslegungen führt, die einerseits so in der wissenschaftlichen Tradition verwurzelt sind, daß sie auf Anerkennung hoffen können, andererseits aber auch sich so innovativ präsentieren müssen, daß ihre Verteidigung in einem übersättigten Markt gerechtfertigt erscheint240. Damit spricht CULLER natürlich ein wichtiges Problem an: Ist eine methodische Fragestellung erst dann wertvoll, wenn sie in der Lage ist, neue Fakten ans Tageslicht zu bringen? Diesem Anspruch kann Rezeptionskritik wohl nicht genügen: Sie kann alte Fakten aus einer anderen Perspektive beleuchten, aber sie wird in der Regel keine neuen Fakten produzieren241. Daher ist die Interpretation ein Wagnis für jede Theorie, ganz besonders aber für rezeptionsorientierte Auslegungsmodelle. Die Frage ist: Was muß eine Theorie leisten, damit sie akzeptabel ist, und warum wird das von ihr erwartet?242 Problematisch gestaltet sich aber auch der Vorgang der Interpretation selbst. Theoretisch besteht ISER darauf, daß es nicht darum gehe, „ein Werk zu erklären“, sondern „statt dessen die Bedingung seiner möglichen Wirkung“ freizulegen243. Er möchte die herkömmliche Frage nach der Bedeutung eines Werkes ersetzen „durch die Frage …, was dem Leser geschieht, wenn er … Texte durch die Lektüre zum Leben erweckt. Bedeutung hätte dann viel eher die Struktur des Ereignisses“244. Wie schwer es aber ist, dieses Ereignis durch die Interpretation nicht zu ent-dynamisieren, zeigt die oftmals wiederholte und zutreffende Kritik an ISER, daß er nämlich in seinen Auslegungen keineswegs „Bedingungen für mögliche Wirkungen“ freilegt, sondern aus dem Sinnpotential des Textes eine Konkretisierung so darstellt, daß sie nicht nur sinnvoll, sondern sinnvoller als alle anderen erscheint. Das heißt: der theoretischen Rede von einem „offenen Text“ steht in der Praxis eine geschlossene Auslegung gegenüber245. Es stellt sich daher die Frage: Läßt sich in der Auslegung Offenheit überhaupt umsetzen? 239 Pursuit, 6. 240 Pursuit, 16. 241 IBSCH , „Reception

Aesthetics“, 41: „In general, there are no new ‚facts‘ which could justify an innovative change. In most cases where we are inclined to speak of innovation, we can only point to well-known facts which are regarded under a new perspective, and it usually is quite an effort to persuade the scholarly community that this new perspective equals a new ‚fact‘.“ 242 Vgl. das erste Kapitel in K.M. N EWTON, In Defence of Literary Interpretation: Theory and Practice (London, 1986). 243 ISER, Akt des Lesens, 36. Das bedeutet allerdings nicht, daß ISER dem Akt der Interpretation gegenüber abgeneigt wäre (vgl. Akt, VII). 244 ISER, Akt des Lesens, 41. 245 BERGER, Exegese, 92: „Die Diskrepanz von Theorie und Praxis ist auf dem Gebiete der Rezeptionsforschung auffallend groß.“ FREUND, Return of the Reader, 152 stellt zum

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Damit sind die zwei großen Risiken dieses praktischen Versuchs benannt: Die Gefahr, nichts substantiell Neues sagen zu können, und die Gefahr, den Textsinn aufbrauchen zu wollen. 3.7.2.2 Eine methodische Skizze Für den groben Aufbau folge ich dem JAUSS’schen Theoriekonzept der „Horizontabhebung“, weil sich damit m.E. am besten sowohl die Erfahrung heutiger Leser/innen als auch die in der Rhetorik des Textes vorgezeichnete Aktualisierung der Erst-Rezipierenden beschreiben läßt246. Heutige Leser/innen sind also nicht dazu aufgefordert, ihre eigenen Erfahrungen aufzugeben, um in die Rolle eines idealen Leserkonstrukts schlüpfen zu können247. Andererseits kann durch die Rekonstruktion der hypothetischen Erst-Rezeption der Text in seiner Fremdheit wahrgenommen werden, ohne gleich in der Erfahrung der modernen Lektüre aufzugehen. So kann am Ende tatsächlich auf einer Ebene reflektiert werden, auf der sich zwei Positionen gegenüberstehen. Die hier vorgeschlagene Vorgehensweise besteht daher im wesentlichen aus drei Schritten248: 1. Der Sinnhorizont des Textes im Spiegel der eigenen Lektüre: Wie bereits dargelegt, erscheint es sinnvoll, zunächst über die eigene Lektüre zu reflektieren. Auch wenn dieser Schritt allzu subjektivistisch anmuten könnte, ist er m.E. als Zwischenschritt unerläßlich für die Horizontabhebung. Folgende Arbeitsetappen lassen sich unterscheiden (die Anordnung spielt keine besondere Rolle): a) Analyse im Vorfeld der Lektüre: Da Lesen immer von den eigenen Prämissen, Erwartungen, Kompetenzen, Interessen, Vorurteilen, Voraussetzungen usw. abhängig ist, sollte man sich Rechenschaft über diese ablegen. Einige Leitfragen im Vorfeld der Lektüre könnten sein: Warum und zu welchem Zweck lese ich diesen Text (vielleicht schon zum x-ten Mal)? Welche Erkenntnisse will ich daraus gewinnen und/oder was erhoffe ich mir persönlich aus der Beschäftigung mit diesem Text? Welchen Ort weise ich meiner hermeneutischen Aktivität zu? Private „Erbauung“ (persönliche Andacht und Meditation, Bibelgesprächskreis o.ä.), kirchliche Kommunikation (Predigt, Katechese usw.) oder Wissenschaft und Lehre (Vorlesung, Vortrag, Publikation, Kolloquium, Dissertation usw.)? Was weiß ich bereits über den zu leAbschluß ihres Forschungsüberblicks fest: „One immediate conclusion that suggests itself from the foregoing survey of reader-response criticisms is the existence of an insurmountable rift between theory and practice.“ 246 Vgl. JAUSS, Ästhetische Erfahrung, 657-86. 247 Ansatzweise sogar bei ECO und deutlich beim frühen FISH, für den der Lektürevorgang zu einer dramatischen Bekehrungserfahrung wird. 248 BERGERS „Abriß einer praktischen Rezeptionskritik an neutestamentlichen Schriften“ (Exegese, 94-107) ist ganz anders aufgebaut.

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senden Text? Welche Erinnerungen und Erfahrungen verknüpfe ich damit? Hierhin gehören prinzipiell auch Fragen nach der eigenen geistig-geistlichen Tradition, nach dogmatischen Präferenzen (z.B. im Hinblick auf den Stellenwert der Bibel), aber auch sozio-ökonomische, kulturelle und geschlechtliche Faktoren. Ich verstehe diese Leitfragen vornehmlich als Teil der privaten hermeneutischen Reflexion im Vorfeld der Lektüre und nicht als eine Aufforderung zum wissenschaftlichen „Outing“249. b) Lektüre des Textes in einer muttersprachlichen Übersetzung: Eine erste Begegnung mit dem Text ist am einfachsten zu analysieren auf der Grundlage einer Lektüre in der eigenen Sprache250. Die Unterstreichung von auffälligen Merkmalen ist ein wichtiges Hilfsmittel für die Beschäftigung mit der eigenen Reaktion. c) Analyse der eigenen Reaktion: Hier sollten nicht nur kognitive Aspekte bedacht werden, sondern auch emotionale und pragmatische. Jede/r sollte in der Lage sein, nach der Lektüre Aussagen über Thema, Inhalt und Intention des Textes zu machen, Verständnisschwierigkeiten zu formulieren und Relationen zum Kontext oder zu anderen Texten herzustellen. Für die Bildung interpretatorischer Kohärenz ist die Beantwortung einfacher Fragen wie „Worum geht es in dem Text?“ oder „Auf welche Frage[n] antwortet der Text?“ entscheidend251. Gefühle wie Ärger, Gleichgültigkeit, Langeweile, Freude, Spannung usw. sollten erkannt und in Bezug zu den eigenen Prämissen gesetzt werden. Schließlich ist zu fragen: Welchen Beitrag leistet der Text zur Veränderung meiner eigenen Lebenspraxis? Was macht die (fehlende) Relevanz dieses Textes für mich aus? d) Überlegungen zur neueren Geschichte der Gattung: Manchmal lassen sich biblische Texte problemlos in Gattungen einordnen, die auch heute noch bekannt sind (z.B. „Genealogie“). Da wir in der Regel Texte als Teile übergreifender Gattungen wahrnehmen, kann eine Beschäftigung mit dem geschichtlichen Wandel dieser Gattung wichtige Aufschlüsse über die Grundlagen der eigenen Rezeption geben. e) Beschäftigung mit anderen modernen Lektüren: Um der Gefahr vorzubeugen, daß die eigene Lektüre den Rang einer repräsentativen Lektüre einnimmt, wäre methodisch eigentlich eine systematische empirische Untersuchung notwendig. Da dies aber in den meisten Fällen nicht geleistet werden 249 Obgleich es der Exegese keinen Abbruch tut, wenn hinter den Seiten exegetischer Werke zuweilen auch die Autor/innen als Menschen hervortreten und wenn die leicht imperialistisch tönende inklusive ersten Pluralform dem Singular weicht. 250 Die eigene Reaktion ist durch den Zugang in der Muttersprache am einfachsten zu analysieren (vgl. zu RIFFATERRE o. S. 33). 251 Dadurch wird ein Raster für die interpretatorische Kohärenz aufgestellt, das bestimmte semantische Eigenschaften aktualisiert und andere in den Hintergrund drängt („Isotopie“, ECO spricht von „Topic“).

Modell für die rezeptionskritische Evangelienexegese

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kann, bleibt noch die Möglichkeit, zumindest über das Gespräch mit Zeitgenoss/innen und durch die Befragung wichtiger Rezeptionszeugnisse der Gegenwart die eigene Lektüre in das Koordinatensystem möglicher Lesarten einzuschreiben. Als Rezeptionszeugnisse sind wissenschaftliche Lektüren wahrscheinlich weniger geeignet, weil diese meistens innerhalb eines Paradigmas arbeiten, das zuweilen auffällig abseits der sozialen Realität stehen kann. Interessanter sind Beispiele aus der Predigtliteratur oder moderne umgangsprachliche Bibelübersetzungen, da hier die Bemühung um eine Rücksichtnahme aktueller Rezeptionsverhältnisse leichter greifbar wird. Die Befassung mit Auslegungen aus anderen Kulturkreisen252 oder mit „nichtfachlichen“ Lektüren aus der Welt der Kunst, Literatur, Musik oder des Films kann hilfreich und provokant sein, weil hier Aspekte ans Tageslicht gebracht werden, die in einem westlichen christlich-theologischen Paradigma schlicht unerkannt bleiben253. 2. Der Sinnhorizont des Textes im Spiegel der hypothetischen ErstRezeption: Die Rekonstruktion der hypothetischen Erst-Rezeption kann auf eine Reihe von Vorgehensweisen zurückgreifen, die auch für die historischkritische Methode charakteristisch sind. Idealtypisch lassen sich drei Arbeitsschritte unterscheiden, wobei aber die ersten beiden in der Praxis wohl meistens ineinander übergehen werden: a) Analyse im Vorfeld der Rezeption: Ein Phantombild der Erst-Rezipierenden läßt sich aufgrund von textuellen und außertextuellen Faktoren erstellen: a) Textuelle Faktoren: Anhand der Liste rhetorischer Signale (s.o. S. 152f) lassen sich zuweilen schon einige Aussagen über das Profil der Leserschaft machen. Gattungs- und motivgeschichtliche Überlegungen erschließen das Repertoire (ISER) oder die enzyklopädische Kompetenz (ECO), die die implizite Leserolle erfordert. Jeder Text stellt von vornherein gewisse Anforderungen an die literarische Kompetenz seiner Leser/innen; d.h. eine konventionalisierte Kenntnis sozialer Gepflogenheiten, relevanter Erzähltechniken und rhetorischer Mittel und vor allem die Fähigkeit, Gattungen zu erkennen bzw. mit der richtigen Erwartungshaltung auf Gattungssignale „intuitiv“ zu reagieren. Durch die Ergründung literarischer Kompetenz können mögliche Aktualisierungen innerhalb des Textes antizipiert und ein geeigneter Rahmen für die Auslegung geschaffen werden. Das leitende Interesse ist aber weniger das nach der geschichtlichen Entwicklung einer Gattung oder eines verarbeiteten Motivs als vielmehr die Beschreibung ihrer kommunikativen Funktion. 252

Etwa E. CARDENAL, Das Evangelium der Bauern von Solentiname (2 Bde; Wuppertal, 1976/1978). 253 Manche hilfreiche Hinweise findet man in D.L. JEFFREY (Ed.), A Dictionary of Biblical Tradition in English Literature (Grand Rapids, MI, 1993); K.-J. KUSCHEL, Der andere Jesus (München, 21991); H. VINÇON, Spuren des Wortes: Biblische Stoffe in der Literatur (3 Bde; Stuttgart, 1988-90).

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Literarische Rezeptionskritik und Evangelienexegese

Besonders interessant für die Rezeption sind natürlich Regelverletzungen oder eine bewußte Ironisierung von vorgegebenen Schemata. In den Bereich der literarischen Kompetenz gehören auch die intertextuellen Signale, mit denen ein Text seine Rezipienten zu anderen Texten führt (s.o. S. 156ff). In diesem Abschnitt kommen form-, traditions- und religionsgeschichtliche Arbeitsschritte besonders zum Einsatz, weil sie die vom Text aufgerufene Enzyklopädie erschließen helfen. b) Außertextuelle Faktoren: Alle Elemente des Textes, die in irgendeinem greifbaren Verhältnis zu Entwicklungen im Urchristentum stehen, können zumindest hypothetisch auf diesem Hintergrund bezogen werden. Es geht nicht um eine Rekonstruktion der ursprünglichen Empfänger und ihrer Geschichte, sondern um die Zeichnung eines historisch plausiblen Rahmens, innerhalb dessen Elemente des Textes einen Sinnzuwachs erfahren. Hier kämen besonders die Ergebnisse der soziologischen Erforschung des frühen Christentums zum Tragen (s.o. S. 138 mit Anm. 19). b) Beschreibung der hypothetischen Erst-Rezeption: In einer streng sequentiellen Satzanalyse können die Aktivitäten der Leser/innen rekonstruiert werden. Das Grundgerüst dieser Arbeit ist die semantische und satzsyntaktische Analyse des Textes. Da der Verlauf der Lektüre besonders wichtig ist, sollten die Bezüge zum Kontext in der Richtung der Lektüre erfaßt und in ihrer Bedeutung für die Sinnkonstitution je punktuell gedeutet werden254. Äußerlich gerät dieser Arbeitsschritt in eine Art kommentierender Nacherzählung, die manchmal „angehalten“ wird, um sich über den möglichen Stand der Rezeption zu informieren. Die Erst-Rezeption kann im Falle der biblischen Literatur in aller Regel nicht auf direkte Rezeptionszeugnisse zurückgreifen. Allerdings gibt es zwei Wege, die vielleicht in diese Nebel-Landschaft weisen können: die Beschäftigung mit der alten Auslegungsgeschichte des Textes und die textkritische Analyse. Manchmal können textkritische Varianten Aufschluß geben über frühe Auslegungen des Textes. Damit haben auch die „verworfenen“ Lesarten einen Wert für die Exegese. c) Überblick über die Erst-Rezeption des Gesamttextes: Abschließend können nochmals die Aktivitäten der Leser/innen auf der kognitiven, affektiven und pragmatischen Ebene zusammengefaßt werden. Die Orientierung und Desorientierung der Leser/innen, ihre Erwartungen, Erwägungen, Hypothesen und Schlußfolgerungen, das Wechselspiel von Rückschau und Antizipation, die Wege der Kohärenzbildung in Handlungs- und Sinngestalt, die Vordergrund-Hintergrund-Beziehung, die Thema-Horizont-Struktur (ISER); all das wird meistens erst aus der Perspektive des Endes erkennbar. Auf der affektiven Ebene ist die Interaktion zwischen den Leser/innen und den Figuren der 254

Eine theologische Gesamtschau ist daher nur bedingt möglich, weil die „Theologie“ immer in Bewegung ist und am Ende nicht identisch ist mit der Summe aller theologischen Aussagen.

Modell für die rezeptionskritische Evangelienexegese

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Geschichte zu bedenken, aber auch ihre mögliche Reaktion auf beschriebene Ereignisse. Da sich die Wirkung eines Textes auch auf der Handlungsebene erkennbar macht, sollte die Frage nach der Übermittlung moralischer Werte und der Impulsgebung für eine veränderte Lebenspraxis gestellt werden. Wenn es sinnvoll erscheint, kann man am Ende noch über mögliche Nuancierungen bei einer Mehrfachlektüre nachdenken. 3. Hermeneutische Abschlußreflexion: Die Beschäftigung mit der Erst-Rezeption, so hypothetisch sie auch sein mag, bietet die Möglichkeit, den Text als fremdes Eigentum wahrzunehmen. Demgegenüber ist der Text in der ersten, spontanen, naiven Lektüre sehr viel stärker bei mir selbst zu Hause. In diesem letzten Schritt lassen sich also die beiden Horizonte gegenüberstellen, nicht um in irgendeiner unbestimmten Weise miteinander zu „verschmelzen“, sondern um den Dialog, die Hinterfragung der eigenen Prämissen, die Erweiterung der eigenen Konstruktion von Realität, den Abbau von Vorurteilen, aber auch den Widerstand gegen die Erfahrung der Erst-Rezipierenden zu ermöglichen. Was die Suche nach einer überzeitlich gültigen und damit auch definitiv autoritativen Auslegung des Textes anbelangt, so tritt die Erfahrung der Erst-Leser/innen auf keinem Fall an die Stelle der autorialen Intention. Das Ende der ganzen Reflexion muß immer offen bleiben: Ob sich die eigene, ursprüngliche Lektüre oder die historisch rekonstruierte durchsetzt oder es doch zur Vereinigung zu einem neuen Blickfeld kommt, ist methodisch nicht mehr erfaßbar.

II. Rezeptionskritische Auslegung von Matthäus 1-2 1. Der Sinnhorizont des Textes im Spiegel der eigenen Lektüre 1.1 Analyse im Vorfeld der Lektüre Obwohl Mt 1-2 kein langer Text ist, kann man kaum von einer einheitlichen Rezeption sprechen. Dies wird bedingt durch die gängige Kapitel- und Perikopeneinteilung, die sich nicht nur graphisch in jeder Bibelausgabe zu erkennen gibt, sondern auch die Predigtpraxis bestimmt. Zumindest für 1,1-17; 1,18-25 und 2,1-23 sind ganz unterschiedliche Lektürehaltungen zu konstatieren. Dies soll in den folgenden Überlegungen im Auge behalten werden. Sieht man allgemein von der wissenschaftlichen Beschäftigung mit Mt 1-2 ab, die ja ganz eigenen Gesetzen folgt, ist das Interesse an der Lektüre dieses Textes angesichts der gegenwärtigen Krise der Bibellektüre (bei der sich die allgemeine Krise des christlichen Glaubens mit dem Rückgang allgemeiner Lesekultur verbindet) nicht selbstverständlich. Man ist fast geneigt zu fragen, ob die matthäische Jesusgeschichte in ihrer Gesamtheit überhaupt noch interessierte Leser/innen finden würde, wenn sie nicht Teil des christlichen Bibelkanons wäre. Die kanonische Stellung garantiert jedoch zumindest im Rahmen von Theologie und Kirche eine interessierte Zuwendung1. In bezug auf Mt 1-2 ist besonders das jährliche Weihnachtsfest ein Anlaß zu einer meist säkularisierten Verarbeitung einzelner Motive der Geburts- und Kindheitsgeschichte, die durch die lange christliche Tradition Teil des kulturellen Gedächtnisses der meisten vom Christentum berührten Kulturen geworden sind. In der allgemeinen Kenntnis der Weihnachts-Historie werden zumeist Elemente aus Mt 1-2 mit Lk 1-2 vermischt. Soche Versatzstücke werden sicherlich auch die heutige Lektüre von Mt 1-2 beeinflussen. Im Spiegel der Predigtpraxis seit dem Jahre 1945 ergibt sich für die einzelnen Perikopen ein sehr ungleiches Bild, wie ein Blick in die Predigtkartei am praktischtheologischen Seminar der Universität Heidelberg zeigt2: 1 Zwar genießt Mt 5-7 auch außerhalb dieses Rahmens eine breite Anerkennung. Aber der Lektüre des Matthäusevangeliums ist das deswegen nicht zugute gekommen, weil die moderne Rezeption der Bergpredigt deren literarisches Umfeld kaum zur Kenntnis nimmt. 2 Stand: März 1996. Der Bequemlichkeit halber werden Predigten zu einzelnen Versen zur übergreifenden Perikope gerechnet.

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Eigene Lektüre Text 1,1-17: 1,18-25 (unter Berücksichtigung von 1,1-17): 1,18-25: 2,1-12: 2,13-23 (meist ohne 2,16-18): Summe:

Predigten

Prozent

11 14 61 159 130

2,9% 3,7% 16,3% 42,4% 34,7%

375

100%

Die Zahlen sprechen für sich: Über Mt 1,1-17 wird so gut wie nicht gepredigt; und Predigten zu 1,18-25, die die Genealogie berücksichtigen, sind eher selten3. Doch selbst die matthäische Geburtsperikope steht nicht im Mittelpunkt der Weihnachtspredigt. Der Grund dafür ist nicht schwer zu erraten: Die aus Mt und Lk zusammengesetzte Weihnachtserzählung ist wie kaum eine biblische Geschichte „mit Emotionen, Gemütswerten und Erinnerungen verbunden“4. Allerdings kann die erzählerisch recht karge Geburtsepisode Mt 1,18-25 bei einer Harmonisierung, die das Bedürfnis nach „weihnachtlichen Gefühlen“ stillen soll, kaum mit der viel dramatischeren und lebendigeren Darstellungsform des Lukas konkurrieren. Besonders das Krippen- und Hirtenmotiv und die zentrale Stellung Marias, die nicht nur für die katholische Frömmigkeit relevant ist5, zeigen auch heute noch eine viel stärkere Wirkung als die matthäische Darstellung6. Daß aber die Predigten zu Mt 2 explosionsartig zunehmen und insgesamt mehr als 3/4 des Predigtmaterials zu Mt 1-2 beanspruchen, liegt in Deutschland sicherlich daran, daß innerhalb der EKD Mt 2,1-12 als Predigttext für Epiphanias und Mt 2,13-18(16-25) für den ersten Sonntag nach Weihnachten im Lektionar vorgeschlagen werden7. Dies sollte aber auch der allgemeinen Wertschätzung von Mt 2 als Teil der Weihnachtserzählung in anderen Ländern entsprechen. Eine weitere moderne Erwartungshaltung ist zu berücksichtigen: Wer von Kindheit an Erzählungen aller Art gehört und später selbst gelesen hat, geht mit der Erwartung an einen Erzähltext heran, daß der Anfang besonders be-

3 Vgl. W. FÜRST, „Christnacht – 24.12.1984: Matthäus 1,(1-17)18-21(22-25)“, GPM 39 (1984/85), 42: „Den sog. Stammbaum Jesu würde ich aus homiletischen Gründen nicht in die Predigt einbeziehen.“ 4 P. O RTH, „Krippenspiel und historisch-kritische Exegese: Ein unversöhnliches Paar?“ KatBl 120 (1995), 792. 5 Das Magnificat ist der Zentraltext für das lutherische Bild von Maria. 6 Die beliebten Krippenspiele haben ja nur in Lk einen biblischen Bezugspunkt, obwohl meistens auch die „Heiligen Drei Könige“ an der Krippe zu finden sind. 7 Mt 1,1-25 wird in der ersten Perikopenreihe für Christnacht vorgeschlagen, allerdings sind die Verse 1-17 und 22-25 eingeklammert. Am „Tag der Unschuldigen Kinder“ (28.12) soll Mt 2,13-18 oder Apk 12,1-16 zur Lektüre gelangen; aber m.W. wird ein entsprechender Gottesdienst kaum noch gefeiert.

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deutsam für das weitere Verständnis ist8. Viele lesen Mt 1-2 mit einer solchen Erwartungshaltung. Weiterhin können Aspekte aus dem eigenen kulturellen Hintergrund eine große Rolle im Vorfeld der Lektüre spielen: So werden z.B. Leser/innen, die (wie ich selbst) in einer städtischen Kleinfamilie aufgewachsen sind, nicht ohne weiteres die Bedeutung der Genealogie, der Davidssohnschaft und des geographischen Werdeganges Jesu in Mt 1-2 erkennen. In der Frömmigkeit der meisten christlichen Kirchen spielt die Gottessohnschaft oder die Vorbildfunktion Jesu eine wichtige Rolle, seine Herkunft aus dem Volk Israel ist für diese Vorstellung eher peripher, weshalb auch die Bezeichnung „Sohn Davids“ liturgisch oder katechetisch nur wenig in Erscheinung tritt9. Das sind natürlich sehr allgemeine Parameter, denen noch eine Reihe privater Einflüsse hinzugefügt werden müßten; aber ich hoffe deutlich gemacht zu haben, welche Aspekte bei der Analyse im Vorfeld der Lektüre zu berücksichtigen sind.

1.2 Analyse der eigenen Reaktion Die Lektüre von 1,1-17 erweist sich für die meisten modernen Leser/innen im westlichen Kulturraum als eine harte Geduldsprobe. Auf kognitiver Ebene nehme ich die listenartige Aufzählung als einen reinen Sachtext wahr, der lediglich über die Vorfahren Jesu zu informieren beabsichtigt. Die ständige Wiederholung der gleichen Formel mutet überflüssig an und berührt emotional höchstens in Form von Langeweile. Der Text spricht keine eigenen Interessen an; im Gegenteil: Abstammungsurkunden sind höchstens interessant, wenn es um die eigene Familie geht. Warum sollten die Vorfahren Jesu für die eigene Lebensbewältigung relevant sein? Wer am Anfang einer Erzählung eine besonders fesselnde und interessante Einführung erwartet und daher aufmerksam nach wichtigen Signalen Ausschau hält, wird nach wenigen Minuten Lesezeit in dieser Erwartungshaltung enttäuscht10. Das kleine Gedicht des recht unbedeutenden Dichters Friedrich von SALLET (1812-1843) ist 8

M.D. HOOKER, Beginnings: Keys that Open the Gospels (London, 1997), 25 fragt, ob der Evangelist ein guter Lehrer ist, wenn er seine Erzählung mit einer Genealogie beginnt. 9 Im neuen Evangelischen Gesangbuch erscheint der Davidssohntitel in vier Liedern (13,2+3: „Hosianna, Davids Sohn“, 19,2: „du Sohn aus Davids Stamm“, 70,1: „du Sohn Davids“, 71,1: „Herr Jesu, Davids Sohn“), wohingegen der Gottessohntitel in verschiedenen Formulierungen etwa 190mal erscheint (Zahlen nach E. LIPPOLD, G. VOGELSANG [Hg.], Konkordanz zum Evangelischen Gesangbuch [Handbuch zum Evangelischen Gesangbuch 1; Göttingen, 1995], 70.183.411f). 10 Selbst Exeget/innen, die sich von Berufs wegen mit den biblischen Texten beschäftigen müssen, tun sich zuweilen sichtlich schwer damit, dem Text eine relevante Sinndimension abzuringen. Es ist dem ungewöhnlichen Umstand zu verdanken, daß vier Frauennamen in der Genealogie erwähnt werden, daß der Text bzw. ein kleiner Aspekt des Textes für die moderne Exegese weiterhin von Interesse ist.

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durch den Matthäus-Kommentar von Ulrich LUZ wieder neu der exegetischen Zunft zugänglich gemacht worden11. Für SALLET schleppt sich der Text „in trägem Leierton bis tote Namen wirr im Hirn sich drehn“ und wird in Adjektiven wie „plump“ und „schnöd“ beschrieben. Schließlich entscheidet sich der Dichter dafür, „das dürre Blatt“ aus dem heiligen Buch auszureißen. Daß dieses Gedicht den „Nerv der Zeit“ auch heute noch trifft, zeigt der Umstand, daß es nach LUZ immer wieder zitiert worden ist12. Die Angst vor dem Effekt der Langeweile ist sicherlich der maßgebliche Grund für die homiletische Vermeidung der matthäischen Genealogie13. Wenn also nicht andere Interessen oder Erinnerungen mit Mt 1,1-17 verknüpft werden können, ist die hier gezeichnete Reaktion m.E. für den westlichen Kulturkreis charakteristisch14. Daß der geschichtliche Wandel einer Gattung die moderne Rezeption eines Textes maßgeblich beeinflussen kann, läßt sich im Falle der matthäischen Genealogie m.E. exemplarisch nachweisen: Das genealogische Interesse im Altertum (und auch heute noch in vielen nicht-industrialisierten Kulturen) ist eng verbunden mit ursprungsmythologischen Welterklärungsmodellen, mit der Vorstellung einer gemeinschaftlichen Solidarität in Schuld und Heil und einem erblichen Kausalzusammenhang menschlicher Tugenden wie Laster zwischen den Generationen und mit dem Festhalten am Geburtsadel, der stets genealogisch begründet wird15. Adelskritische Stimmen gab es zwar vereinzelt bereits bei Griechen und Römern16, doch erst die modernen westlichen Demokratien haben den Adel alle oder fast alle Privilegien einbüßen lassen17. Die moderne Wissenschaft hat Modelle der Welterklärung aufgestellt, mit denen ursprungsmythische Erzählungen kaum noch konkurrieren können. 11

Vgl. LUZ, I, 97, der das Gedicht der Sammlung von G. PFANNMÜLLER, Jesus im Urteil der Jahrhunderte (Berlin, 21939), 515f entnommen hat. 12 M. OEMING, Das wahre Israel: Die „genealogische Vorhalle“ 1 Chronik 1-9 (BWANT 128; Stuttgart, 1990), 9; Anm. 2; H. HEMPELMANN, „‚Das dürre Blatt im Heiligen Buch‘: Mt 1,1-17 und der Kampf wider die Erniedrigung Gottes“, ThBeitr 21 (1990), 7. 13 Ausdrücklich B. VON ISSENDORFF, „Heiligabend – 24.12.1990 Christnacht: Matthäus 1,(1-17)18-21(22-25)“, Homilet. Monatschrift 66 (1990/91), 21: Die Predigt „will die Zuhörer nicht mit dem langen Stammbaum langweilen“. 14 Zwei Beispiele aus meinem Bekanntenkreis belegen jedoch auch eine positive Reaktion auf Mt 1,1-17: 1. Eine Leserin, die den Text zum ersten Mal las (!), fand ihn ungeheuer spannend, weil sie auf die Ästhetik und den Klang der Namen achtete und manche Namen sehr schön fand. Sie wollte unbedingt mehr über die Bedeutung der Namen erfahren. 2. Ein Leser verknüpfte mit der Genealogie eine sehr angenehme Erinnerung: Sein Vater las regelmäßig mit ihm das griechische NT und forderte ihn zum Übersetzen auf. Immer wenn die Lektüre bei Mt 1 ansetzte, konnte er sich beruhigt zurücklehnen, weil er keine Übersetzungsschwierigkeiten zu befürchten hatte. 15 Vgl. W. S PEYER, „Genealogie“, RAC 9 (1976), 1146-8.1152.1187f. 16 Dazu SPEYER, „Genealogie“, 1180-1182.1199-1201. „Wer bezweifelt, daß Adel vererbt werden kann, trifft damit zugleich das genealogische Interesse.“ (1199) 17 Der Prozeß, der zu dieser Zersetzung führte, ist in jedem europäischen Land ganz unterschiedlich verlaufen und braucht hier nicht nachgezeichnet zu werden.

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Schließlich haben die zunehmende Individualisierung, der Abbau der Großfamilie, die Vorstellung absoluter Chancengleichheit und die konsequente Demokratisierung der Ausbildung dazu geführt, daß man kaum noch einen genealogischen Kausalzusammenhang in der Ausprägung individueller moralischer Eigenschaften sieht. Die verhängnisvolle jüngere deutsche Geschichte erschwert zusätzlich den Umgang mit der Gattung „Genealogie“, denn die Rassenbestimmungen zur Erhaltung der Blutsreinheit im „Dritten Reich“ waren mit genealogischen Nachweisen verbunden18. Die verständliche Skepsis in bezug auf jede Art des Nationalismus, der sich über eine Blut-und-BodenIdeologie begründet, trägt auch zur Verringerung genealogischen Interesses bei. So hängt die im Falle der Lektüre von Mt 1,1-17 oftmals als Langeweile empfundene Fremdheit des Textes mit der veränderten Stellung der Gattung zusammen19. Die Lektüre von Mt 1,18-25 hat es etwas einfacher: Der innere Konflikt Josefs verleiht der Erzählung die Dimension eines menschlichen (oder auch männlichen) Dramas. Man kann sich das Geschehen gut ausmalen und mit Josef mitfühlen. Seine Haltung kann durchaus als Verhaltensmodell empfunden werden, wie sich an der Reaktion zweier Teilnehmer an den Gesprächsgottesdiensten mit Ernesto CARDENAL ablesen läßt20: Pancho: „Dieser Josef war ein guter Mann: er redete nicht schlecht von Maria und machte ihr keine Szene und war nicht gewalttätig. Er wollte ihr nicht wehtun.“ Marcelino: „Ich muß denken, was er wohl gelitten hat. Er liebte sie doch. Sie war seine Braut, und sie wollten bald heiraten. Und dann sieht er, daß sie ihm untreu war. Er muß schrecklich eifersüchtig gewesen sein. In solchen Fällen glauben manche, ihre Männlichkeit beweisen zu müssen, indem sie sich rächen. Manche schlagen die Frau tot. Er nicht, er denkt, daß diese Frau nicht für ihn ist und leidet in aller Stille.“

Einige Elemente der Erzählung sind allerdings besonders für eine säkulare Lektüre problematisch oder zumindest hervorstechend: der Engel21, der Begriff der Sünde, der Erfüllungsgedanke22 und ganz besonders das Motiv der 18 Vgl. HEMPELMANN, „Blatt“, 11 und OEMING, Vorhalle, 16. 19 Natürlich gibt es auch heute noch Bereiche, in denen Genealogien

einen positiven Wert haben (vgl. OEMING, Vorhalle, 10-12): Bei Fragen der Übersiedlung oder Rückführung (Spätaussiedler aus Russland, Falascha-Juden aus Äthiopien u.ä.), in der Geschichtswissenschaft (Ahnenforschung), im privaten Bereich aus einfacher Neugierde oder als Mittel der Identitätsfindung (vgl. die Wirkung des historischen Romans von A. HAYLEY, Roots) und aus religiösen Motiven (im Islam, aber auch bei den Mormonen aufgrund der religiös lebendigen Vorstellung der Vikariatstaufe). 20 Bauern von Solentiname, I, 25. 21 Die Erscheinung eines Engels wird angesichts der gegenwärtigen Welle von esoterisch angehauchten Publikationen zum Thema wahrscheinlich weniger befremdlich erscheinen als noch vor zwanzig Jahren. Vgl. aus der Flut an neuer Literatur P. BANDINI, Die Rückkehr der Engel (Bern; München; Wien, 1995); M. GODWIN, Engel: Eine bedrohte Art (München, 1995). 22 ISSENDORFF, „Heiligabend“, 21 möchte den Predigthörer/innen „die Spannung zwi-

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Jungfrauengeburt. Dieses Motiv wirkt für heutige Ohren nicht nur unglaubwürdig, sondern trägt noch den Beigeschmack kirchlicher Marienfrömmigkeit. Eine Demontage der Jungfrauengeburt ist für manche gleichbedeutend mit der Kritik an der christlichen Tradition23. So manche/r Leser/in wird eher bei der Einschätzung Josefs bleiben, daß die „historische Maria“ ihrem Mann wohl untreu gewesen ist24. Die Gattung der Geburtsgeschichte scheint mir in der modernen Literatur eine eher geringe Rolle zu spielen. Moderne Biographien einer historischen Persönlichkeit erzählen in der Regel nichts über ihre Geburt. Der Verlust des Helden im Gegenwartsroman führt dazu, daß, wenn von Geburt oder Geburtsumständen überhaupt noch die Rede ist, dies eher in antitypischer Art geschieht25. Wenn auch in der persönlichen Biographie die Geburt eines Kindes ein ganz besonderer Wendepunkt ist, messen die wenigsten den Umständen der Geburt eine besondere Bedeutung für die Zukunft des Kindes bei. Die Erzählung in Mt 2 erfreut sich ungebrochener Beliebtheit aufgrund der langen und äußerst populären Tradition, die sich mit den „Heiligen drei Königen“ verknüpft26. In manchen Ländern (z.B. Spanien) ist das Drei-KönigsFest oder Erscheinungsfest (6. Januar) der Tag der Bescherung, weshalb die Weisen aus dem Morgenlande von vornherein mit angenehmen Erinnerungen verbunden sind. Abgesehen von solchen traditionellen Faktoren hat auch die Geschichte in ihrer narrativen Qualität heutigen Leser/innen viel zu bieten: schen dem prophetischen Namen Immanuel aus der Jesaja-Weissagung und dem historischen Jesusnamen ersparen.“ (21) 23 Diesen Eindruck vermittelt der bewußt auf Schockwirkung angelegte Film des britischen Regisseurs Peter GREENAWAY, The Baby of Mâcon (1992; dt. Das Wunder von Mâcon), in dem in opulenten Renaissance-Bildern erzählt wird, wie ein alte, häßliche Frau ein wunderschönes Baby zur Welt bringt, das zunächst von seiner älteren Schwester, die sich als die jungfräuliche Mutter des Kindes ausgibt, skrupellos religiös vermarktet wird, und dann in die Obhut der Kirche gerät, die ein noch viel größeres Kapital aus diesem Schwindel schlägt. Am Ende bringt die (falsche) Mutter das Kind aus Verzweiflung um und wird selbst von der Kirche kaltblütig und brutal zu Tode gebracht. Der Film gilt als „Abrechnung“ Greenaways mit der Kirche. 24 Vgl. W. BIERMANN, „Rotgefärbter Tatsachenbericht vom wahren Leben und Tod des Jesus Christus“, in Preußischer Ikarus (München, 1981), 95-98 = KUSCHEL, Der andere Jesus, 225: „Wahr ist, daß seine leibliche Mutter / Ihrem Ehemann Hörner aufsetzte. Die edle / Einfalt des Zimmermanns aber rettete Maria / Vor der üblichen Todesstrafe.“ Die These einer Vergewaltigung Marias ist neuerdings von J. SCHABERG historisch-exegetisch zu begründen worden versucht: The Illegitimacy of Jesus (Sheffield, 1995); „Feminist Interpretations of the Infancy Narrative of Matthew“, JFSR 13 (1997), 35-62. 25 In P. SÜSKINDS Das Parfüm (Zürich, 1985), 7f wird Grenouille an einem heißen Tag in einer stinkenden Fischbude zur Welt gebracht. 26 Die Tötung der Kinder in Betlehem (2,13-23) wird in den Weihnachtspredigten zwar umgangen, ist aber im Rahmen der theologischen Diskussion um den Holocaust oder den Vietnam-Krieg zur Sprache gekommen (vgl. R.J. ERICKSON, „Divine Injustice?: Matthew’s Narrative Strategy and the Slaughter of the Innocents [Matthew 2.13-23]“, JSNT 64 [1996], 5f und Anm. 3 und 4).

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exotische Reisende, ein grausamer König, ein Wunderstern, die Ermordung unschuldiger Kinder, die Rettung des Kindes und der Tod des bösen Monarchen. Aus den Leerstellen einer solchen Konfiguration läßt sich in der Phantasie eine sehr effektvolle Geschichte zusammensetzen. Das vorrangige Interesse an Mt 2 läßt sich gut anhand des Films des italienischen Schriftstellers und Regisseurs Pier Paolo PASOLINI (1922-1975), Das erste Evangelium – Matthäus (Italien, 1964) deutlich machen 27. Die unterschiedliche Bewertung von Mt 1 und Mt 2 wird allein schon an der unterschiedlichen Erzählzeit deutlich: Für Mt 1,18-2528 braucht der Film weniger als vier Minuten, während die Ereignisse von Kap. 2 etwas über fünfzehn Minuten in Anspruch nehmen. Das Eintreffen der Weisen in Jerusalem, die betroffene Reaktion des Herodes und seine Anweisung an die Weisen, nach Betlehem zu ziehen und ihn dann zu informieren, erzählt der Film relativ kurz. Dann aber nimmt sich PASOLINI viel Zeit und Ruhe für Mt 2,9-11: Die Weisen gehen nach Betlehem, wo sie Maria und das Kind im Freien antreffen 29. Im Hintergrund erklingt ein Spiritual („Sometimes I feel like a motherless child“). Sie knieen nieder vor der Mutter mit dem Kind, dann reicht sie ihnen das Kind, einer küßt seine Füße30. Die Freude steht in den Gesichtern der Umherstehenden. Erst am Ende bringt ein Helfer die Geschenke. Die Szene der Ermordung unschuldiger Kinder läßt sich filmisch äußerst wirkungsvoll umsetzen: Die Soldaten stehen vor dem Dorf und rennen nach einem Signal los. Überall fliehen Frauen schreiend vor ihnen davon, doch diese reißen ihnen die Kinder aus der Hand und schlagen sie mit Schwertern und Knüppeln tot. Unterlegt mit einer entsprechend dramatischen Musik, erweist sich diese Szene sicherlich als die, der es am stärksten gelingt, die Zuschauer/innen emotional in den Film einzubeziehen. Die aufgestauten Gefühle werden zum Teil abgebaut, indem der Tod des Herodes anschließend gezeigt wird. Alles in allem zeigt dieses Beispiel das große Wirkungspotential, das Mt 2 auch heute noch besitzt31.

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Der dem Andenken von Papst Johannes XXIII gewidmete Schwarz-Weiß-Film des umstrittenen, marxistisch gesinnten Regisseurs ging auf eine Erfahrung zurück, bei der PASOLINI nach eigener Aussage das Mt-Evangelium, das er seit zwanzig Jahren nicht gelesen hatte, voller Begeisterung über seine ästhetische Vitalität wie einen Roman von Anfang bis Ende las. Er wollte dieses Evangelium wörtlich und getreu in Bilder umsetzen, ohne es in ein eigenes Drehbuch umzuschreiben. Gedreht wurde mit Laiendarsteller/innen in der kargen Landschaft Süditaliens. PASOLINI folgt streng dem Wortlaut, aber nicht immer der Anordnung (!) des Matthäustextes und setzt mit sparsamen erzählerischen Mitteln eigene Akzente, um die tiefe Menschlichkeit Jesu sichtbar zu machen. Vgl. E. SICILIANO, Pasolini (Heyne Filmbibliothek 32/241; Weinheim; München, 1994), 345-55. 28 Die Genealogie wird bezeichnenderweise nicht filmisch umgesetzt, obwohl PASOLINI einen Sprecher einsetzt, der z.B. die Erfüllungszitate an gegebener Stelle spricht und der demnach auch zu Anfang Mt 1,2-17 hätte sprechen können. 29 Die besondere Führung durch den Stern läßt PASOLINI aus. 30 Hier liegen Einflüsse der mittalterlichen Ikonographie vor. (Hinweis von Olaf Waßmuth) 31 Interessanterweise erzählt PASOLINI von der Rückkehr nach Israel, überspringt aber den Wechsel nach Nazaret und läßt damit ein Erfüllungszitat aus (Mt 2,22-23).

2. Der Sinnhorizont des Textes im Spiegel der hypothetischen Erst-Rezeption Erwartung steht in den Augen der verschiedenen Männer, Frauen und Kinder. In gespannter Stille richten sich die Blicke aller auf einen von ihnen, der stehend eine Rolle in den Händen hält. Für die meisten sind die schwarzen Zeichen auf dem Papyrus stumm, doch bald sollen sie lebendig werden. Unendlich wertvoll erscheint ihnen die Rolle, nicht weil ihre Herstellung langwierig und mühevoll war, sondern weil darin die Geschichte ihres auferstandenen Herrn verborgen ist: „Was werden wir zu hören bekommen? Wohin wird uns die Erzählung führen?“ Fragen erfüllen den Raum.

Dieser kurze Ausflug in die anfechtbaren Gefilde historischer Phantasie soll illustrieren, daß Rezeptionsprozesse nie an einem Nullpunkt beginnen. Ihnen gehen vielmehr ganz konkrete Erwartungshaltungen voraus. Die daraus erwachsende „Spannung“ zwischen den Interessen der Rezipierenden und den Sinnangeboten des Textes kommt besonders in der Lektüre des Anfangs zum Tragen. Für die Erfassung der vom Text erforderten Wahrnehmungsstrategie ist daher nicht so sehr der Schluß einer Erzählung ausschlaggebend, sondern deren Beginn1.

2.1 Die literarische Funktion narrativer Anfänge Die Jünger sprachen zu Jesus: „Sage uns, wie unser Ende sein wird?“ Jesus sprach: „Habt ihr denn etwa den Anfang bereits enthüllt, daß ihr schon nach dem Ende sucht? Denn wo der Anfang ist, dort wird auch das Ende sein. Selig, der am Anfang fest steht, denn er wird das Ende erkennen und den Tod nicht schmecken!“ Thomas-Evangelium 18

Mit der Funktion narrativer Anfänge hat sich nicht erst die moderne Literaturwissenschaft beschäftigt2, sondern bereits die antike Rhetorik3:

1 Damit wird die seit O. MICHEL viel wiederholte Regel, daß man das Mt-Evangelium „von hinten her“ verstehen müsse („Der Abschluß des Matthäusevangeliums“, EvTh 10 [1950/51], 21), in einer rezeptionsorientierten Auslegung fragwürdig. Vielmehr wird man „auf das Ende hin“ lesen. 2 Vgl. M.C. PARSONS, „Reading a Beginning/Beginning a Reading: Tracing Literary Theory on Narrative Openings“, Semeia 52 (1990), 11-32. Die gesamte Nummer steht unter dem Titel: „How Gospels Begin“ (vgl. Bibliographie auf den Seiten 33-41). 3 Vgl. D.E. S MITH, „Narrative Beginnings in Ancient Literature and Theory“, Semeia 52 (1990), 1-9; D. EARL, „Prologue-form in Ancient Historiography“, ANRW I/2 (1972), 842-56. Zum Bereich der klassischen Literatur vgl. F.M. DUNN, T. COLE (Eds.), Beginnings in Classical Literature (Yale Classical Studies 29; Cambridge, 1992).

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1. Es gehört von jeher zu den Hauptfunktionen einer narrativen Einleitung, die wichtigsten Hauptfiguren einzuführen, die Grundkonflikte der Geschichte andeutungsweise vorwegzunehmen und nicht zuletzt auch dadurch das Interesse der Rezipierenden an der weiteren Entwicklung der Geschichte zu wecken. In seiner Rhetorik bestimmt ARISTOTELES die Funktion des Gerichtsproömiums in Analogie zu den Prologen anderer Gattungen: „Die Pröomien der Gerichtsrede (tà dè toü dikanikoü prooíma) aber müssen verstanden werden als etwas, was die gleiche Wirkung besitzt wie die Prologe der Dramen und die Proömien der Epen (t¨wn dramátwn oÓ prólogoi kaì t¨wn hep¨wn tà prooíma) … In den Prosareden aber wie in den Heldengedichten ist das Proömium ein Hinweis auf die folgende Rede (deïgmá hesti toü lógou), damit man im voraus wisse, wovon die Rede handelt (“ina proeid¨wsi perì oˆu ~j n Ho lógoß), und der aufmerkende Verstand nicht in Ungewißheit bleibe; denn das Ungewisse verursacht ein Umherirren. Wer uns also den Anfang (t`jn harc´j n) gleichsam in die Hand gibt, der bewirkt, daß man seiner Rede folgen kann (hakolouqeïn t¨^w lóg^w) … Auch die Tragiker geben Aufschluß über den Stoff des Dramas (kaì oÓ tragikoì djloüsi perì tò dräma) … Die notwendigste Funktion des Proömiums und gleichzeitig seine Eigenart ist es, Aufschluß zu geben, welches der Zweck ist, um dessentwillen die Rede gehalten wird (tò mèn o~un hanagkaiótaton ‘ergon toü prooimíou kaì ‘idion toüto, djl¨wsai tí hesti tò téloß oˆu e“ neka Ho lógoß)… Die übrigen Formen von Proömien aber, die Anwendung finden, sind Rezepturen und allen Redegattungen gemein. Sie resultieren teils aus der Person des Sprechers, teils aus der des Zuhörers, teils aus der behandelten Sache, teils aus der Person des Gegners (légetai dè taüta ‘ek te toü légontoß kaì toü hakroatoü kaì toü prágmatoß kaì toü henantíou)… Die Topoi, die die Appelle an den Zuhörer betreffen, werden hergeleitet aus der Absicht, diesen wohlwollend zu stimmen bzw. ihn in Zorn zu versetzen (tà dè pròß tòn hakroat`j n ‘ek te toü e‘u noun poi¨jsai kaì hek toü horgísai).“4

Rund vier Jahrhunderte später äußert sich QUINTILIAN ähnlich: „Gegenstand der Einleitung ist es lediglich, den Hörer so vorzubereiten, daß er bei den übrigen Teilen der Rede leichter für uns gewonnen wird (causa principii nulla alia est, quam ut auditorem, quo sit nobis in ceteris partibus accommodatior, praeparemus). Daß dies in dreifacher Hinsicht geschieht, darüber besteht in den meisten Lehrschriften Übereinstimmung: wenn wir nämlich den Hörer wohlwollend, gespannt und aufnahmebereit machen (benevolum, attentum, docilem) – nicht, weil diese drei Ziele nicht die ganze Rede hindurch beachtet werden müßten, sondern weil sie besonders notwendig sind für die Gestaltung des Eingangs (sed quia initiis praecipue necessaria), durch den wir Einlaß zum Herzen des Richters gewinnen, um auf diesem Weg dann weiter vordringen zu können.“5

2. Der Anfang und das Ende gehören zu den hervorgehobensten Stellen einer Erzählung6. Gemeinsam bilden sie einen Rahmen, der es den Leser/innen bzw. Hörer/innen ermöglicht, die Perspektive des Textes einzunehmen und am Ende wieder aus ihr herauszutreten. Der Anfang hat daher die Funktion, 4 5 6

Rhetorik III,14,5-7 = 1415a (= dt. Sieveke, 205-7; gr. Freese, LCL, 428-33). Inst. Orat. IV,1,5 (= Rahn, 406f). P.J. RABINOWITZ, Before Reading (Ithaca; London, 1987), 58f.

Hypothetische Erst-Rezeption

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die Leserschaft mehr oder weniger behutsam in die Erzählwelt einzuführen und dort zu orientieren7. Daher sind räumliche, zeitliche und thematische Signale am Anfang einer Erzählung besonders relevant8. 3. Die zeitliche Wahrnehmung eines (vor)gelesenen Textes bringt es mit sich, daß sich die „ersten Eindrücke“ ganz besonders im Horizont der Empfänger/innen festsetzen und von dort aus die weitere Aufnahme der Erzählung steuern. Erst die Häufung widersprechender Textmerkmale kann die Rezipient/innen dazu bewegen, anfangs gemachte Einsichten zu revidieren oder ganz fallen zu lassen. Es besteht also ein dynamisches Wechselverhältnis zwischen dem Phänomen, daß der Anfang ein besonders helles Licht auf die weitere Sinnkonstitution wirft („primacy effect“), und dem entgegengesetzten, daß nämlich frühere Schlußfolgerungen durch den Verlauf der Erzählung revidiert werden („recency effect“)9. 4. Da keine auch noch so ausgefeilte Erzählung allen Erwartungen einzelner Rezipient/innen in ihrer Komplexität und Vielschichtigkeit Rechnung tragen kann, gehört es zu den Funktionen eines Anfangs, jene Leserrollen auszubreiten, die für eine sinnvolle Aufnahme der Erzählung relevant sind. Die Einleitung aktiviert daher bestimmte Erwartungshaltungen und Kompetenzbereiche der Rezipierenden und drängt dafür andere in den Hintergrund. Dadurch gewinnt die implizite Leserschaft (die Textstrategien) an Konturen, so daß wirkliche Leser/innen diese aus dem Dämmerzustand bloßer Potentialität „ins Leben rufen“ können. Eine rezeptionsorientierte Erzählanalyse wird in ihrer Beschäftigung mit dem Erzählbeginn verstärkt nach grundlegenden Selektionsfiltern suchen und möglichst präzise ihre steuernde Funktion beschreiben10.

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In bezug auf die Kindheitsgeschichten der Evangelien spricht J.D.M. DERRETT, „Further Light on the Narratives of the Nativity“, NT 17 (1975), 81 von „the functions of both narratives as a preparation for the hearing of the gospels as a whole“. 8 Vgl. B. USPENSKY, A Poetics of Composition (Berkeley, 1973), 137. Ihm folgt PARSON, „Beginning“, 14f. 9 Diese Terminologie wird vor allem von jüdischen Literaturwissenschaftler/innen benutzt: PERRY, „Literary Dynamics“, 48-57; RIMMON-KENAN, Narrative Fiction, 120f; M. STERNBERG, Expositional Modes and Temporal Ordering in Fiction (Baltimore, 1978), 96. Mit ISER kann man auch vom „wandernden Blickpunkt“ sprechen. 10 Manche Ausleger/innen sprechen von der „Erziehung des Lesers“ (z.B. HOWELL, Matthew’s Inclusive Story, 115). Der Ausdruck ist etwas unglücklich, weil er die Freiheit des Lesers bzw. der Leserin zu sehr einschränkt und leicht den Eindruck erwecken kann, daß die Lektüre an einem Nullpunkt beginnt, von dem aus jemand „erzogen“ werden muß.

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Rezeptionskritische Auslegung von Matthäus 1-2

2.2 Von Abraham bis Jesus (Matthäus 1) 2.2.1 Die Überschrift (1,1) 2.2.1.1 Allgemeine Überlegungen Am Anfang eines literarischen Werkes erwarten heutige Leser/innen eine Überschrift11. In der Antike war die Sachlage etwas komplexer: In der Antike versahen Autor/innen in der Regel ihre schriftlichen Erzeugnisse nicht mit einem gesonderten Buchtitel12. Die klassische Dichtung bedurfte angesichts der mündlichen Vortragsweise keiner Sachtitel, ebensowenig wie die fachwissenschaftliche Prosaliteratur, die bereits in der Einleitung Namen, Gegenstand und Vorgehensweise ihrer Darstellung den Rezipierenden zu eröffnen pflegte13. Die Umstände, die zur Setzung von äußeren Sachtiteln führten, waren ganz unterschiedlich: Von den Autor/innen wurde eine gesonderte Titelwahl dann bewußt getroffen, wenn sie ihre Werke zu Festspielen einreichen oder diese ausdrücklich über den öffentlichen Büchermarkt vertreiben wollten 14. Fremde Titelsetzung war unumgänglich beim Anschaffen und Sortieren von größeren Buchbeständen in öffentlichen und privaten Bibliotheken und im Falle der Sammlung und Weitergabe von Schriften einer herausragenden Lehrerpersönlichkeit im Rahmen einer Schule15. Ähnlich wie die populären Bezeichnungen für manche Klaviersonaten Beethovens waren Titel oftmals das Ergebnis der Rezeptionsgeschichte eines Werkes 16, wobei die Anfangsworte Anstoß zur Titelgebung liefern konnten 17. Solche Titel wurden bei Rollen in der Regel an der geschütztesten Stelle, also am Schluß, gesetzt; da aber so der Titel bei geschlossener Rolle nicht sichtbar war, versah man die Rolle mit einer vertikal verlaufenden Außenaufschrift (hepígramma) oder mit beschriebenen Pergamentfähnchen am oberen Rand der Rolle (sílluboß; titulus). Im späteren Kodex nahm der Anfangstitel

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Ich halte mich hier weitgehend an das grundlegende Werk von A. ROTHE, Der literarische Titel (Frankfurt, 1986). Weitere Literatur zum Thema bei HOLTHUIS, Intertextualität, 147-153. 12 HENGEL, Evangelienüberschriften, 28-33; L. KOEP, „Buch I (technisch)“, RAC 2 (1954), 674; NACHMANSON, Buchtitel; SCHMALZRIEDT, PERI FUSEWS, 20-2; C. WENDEL, Die griechisch-römische Buchbeschreibung verglichen mit der des vorderen Orients (HM 3; Halle, 1949), 29-34. 13 Vgl. zu letzterem bes. S CHMALZRIEDT, PERI FUSEWS, 32-50. 14 Zur antiken Bücherverbreitung vgl. H. BLANCK, Das Buch in der Antike (Beck’s Archäologische Bibliothek; München, 1992), 113-32. 15 Interessant ist eine Bemerkung des antiken Arztes Galenos aus Pergamon (2. Jh. n.Chr.) in seinem Werk „Über die eigenen Bücher“ (perì t¨wn ˙díwn biblíwn): Er habe seine Werke ohne Titel (cwrìß hepigraf¨jß) verfaßt, weil diese nicht zur Veröffentlichung bestimmt waren (ohu dèn pròß ‘ekdosin … gegonóta), sondern nur als Gedächtnisstütze (Hupomn´jmata) für Freunde und Schüler. Erst als seine Schriften später in Umlauf kamen, habe ihnen jeder einen anderen Titel gegeben (vgl. NACHMANSON, Buchtitel, 25). 16 „Die Titelgebung ist vorrangig eine Angelegenheit der literarischen Rezeption und Kommunikation, weshalb sie nicht selten durch das ‚Publikum‘ erfolgt“ (C.W. MÜLLER, „Rezension zu Schmalzriedt, PERI FUSEWS“, Gnomon 50 [1978], 628f). 17 NACHMANSON, Buchtitel, 49f. Mk 1,1 mag daher entscheidend für die Bezeichnung der Evangelien als „Evangelien“ gewesen sein (vgl. HENGEL, Evangelienüberschriften, 49f).

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(hepigraf´j; inscriptio) entweder die erste Seite oder das ganze erste Blatt ein 18. Abgesehen von solchen gesonderten, technischen Titeln, fanden sich am Anfang eines Werkes oftmals Aussagen über das gesamte Werk. Nach D.E. SMITH unterschied man in der Antike zwischen dem eigentlichen „Vorwort“ (prooímion; exordium), dem „dramatischen Prolog“ und einer kurzen Einleitung mit der technischen Bezeichnung incipit19. Der kurze prädikatlose Satz, mit dem Matthäus seine Erzählung beginnt, wäre demnach als „incipit“ zu bezeichnen, aber insgesamt erscheint die Unterscheidung zu konstruiert, zu schwach belegt und trägt zudem zu einer literatursoziologischen Einordnung des Matthäusevangeliums nichts bei20.

Titel als vom Text gesonderte „Nebentexte“ oder „Paratexte“21, wie wir sie heute verstehen, waren in der Antike also keineswegs die Regel. In einem solchen technischen Sinne läßt sich m.E. mit Gewißheit sagen, daß Mt 1,1 kein titulus ist, da es ausgeschlossen erscheint, daß das Matthäusevangelium für den öffentlichen Buchmarkt o.ä. gedacht war, und es auch keinen textkritischen Hinweis auf eine spätere Glosse gibt. Erst im Zuge der Verbreitung, Sammlung und Kanonisierung einzelner Evangelien wurde es notwendig, sie mit den bekannten „paratextuellen“ Titeln „Evangelium nach Matthäus“ usw. zu versehen22. Dennoch hat der erste Satz als Teil des Textes eine gewisse Titelfunktion, wofür weder die allgemeine Tatsache der Voranstellung noch der Hinweis auf eine besondere Titelsprache (z.B. fehlendes Prädikat) entscheidend sind23. Mt 1,1 erfüllt vielmehr eine für Titel ausschlaggebende Bedingung: Es handelt sich um ein „metasprachliches“ Zeichen24. „Der Titel wird, wie jedes sprachliche Zeichen, vom Sender über ein Medium einem Empfänger übermittelt, er referiert aber – anders als sonst üblich – nicht auf die außersprachliche Wirklichkeit, sondern wiederum auf Sprachliches, auf einen Text.“25 Der „Referens“26 des Titels ist also der Text selbst. Die Beschäftigung mit der modernen Funktion von Titeln hat eine Reihe von Ergebnissen

18 Zum Ort des Titels vgl. KOEP, „Buch“, 675; W ENDEL, Buchbeschreibung, 24-9. 19 Vgl. S MITH , „Narrative Beginnings“. Leider führt er gerade für die letzte Kategorie

keine antiken Quellen an! 20 Der Begriff „incipit“ ist zudem mißverständlich, da dies auch der technische Ausdruck für die Bezeichnung eines kurzen Werkes (z.B. eines Gedichts) nach seinen Anfangsworten ist (vgl. WENDEL, Buchbeschreibung, 29-34). Ob und inwieweit das für Mt 1,1 zutrifft, wird zu prüfen sein. 21 Zum Titel als „Paratext“ vgl. G ENETTE, Palimpseste, 11-13. 22 Vgl. HENGEL, Evangelienüberschriften. 23 ROTHE, Titel, 24-26. 24 ROTHE, Titel, 15.19. Ähnlich sprechen F. SCHNIDER, W. STENGER in bezug auf Mt 1,1 und 1,17 von „metanarrativen Sätzen“ („Die Frauen im Stammbaum Jesu nach Matthäus: Strukturale Beobachtungen zu Mt 1,1-17“, BZ 23 [1979], 188). 25 ROTHE, Titel, 29. 26 „Der Referens ist … der vom Symbol benannte Gegenstand“ (U. ECO, Einführung in die Semiotik [UTB 105; München: Fink, 1972; 81994], 70).

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erbracht, die zum Teil auf Mt 1,1 anwendbar sind27: 1. Titel haben die analoge Funktion wie Namen bei Menschen: identifizieren und unterscheiden28. 2. „Der Titel schlägt … die erste Brücke zum Leser, er macht auf den Text aufmerksam und informiert über ihn, er hat also eine eminent kommunikative Aufgabe.“ Um das Interesse zu wecken und möglichst lange zu halten, entwickeln Titel eine eigene Ästhetik, die sich im Klang, in der Verwendung von Metaphern, Antithesen, Ellipsen, Ambiguitäten, bestimmten Reizwörtern u.ä. ausdrücken kann29. 3. Die Erwartung der Kongruenz von Titel und Text ist Grundbestand heutiger Leseerwartung. Oftmals werden bereits im Titel grundsätzliche Informationen über die Erzählung gegeben, allen voran der Name der Hauptfigur30. 4. Viele Titel geben auch elementare Auskünfte über Gattung, Sprache und Stil des Werkes31. 2.2.1.2 Lektüre Die an den Anfang gestellte syntaktische Einheit bíbloß genésewß wirft viele Fragen auf, vor allem aber die nach ihrem „Referens“. Die herkömmliche Art und Weise, mit diesem Problem umzugehen, besteht darin, jedes Wort einzeln zu betrachten und den Sinn schließlich wie eine Addition zusammenzusetzen32. Daß diese „atomistische“ Vorgehensweise in eine Sackgasse führt, soll exemplarisch gezeigt werden: Bíbloß kann ebenso wie biblíon eine Papyrusrolle oder ein einzelnes Papyrusblatt, ein Buch als Ganzes oder als Teil eines Gesamtwerkes 33 sowie ein offizielles Schriftstück bezeichnen 34. Abgesehen von der an sich nicht sehr bedeutsamen Tatsache, daß

27

ROTHE, Titel, 29f unterscheidet: Referenzfunktion (Text), Ausdrucksfunktion (Sender), Appellfunktion (Empfänger), poetische Funktion (Titel selbst), phatische Funktion (Medium bzw. Kommunikation als solche) und metasprachliche Funktion (Code). Nicht alle dieser Funktionen sind für die Auslegung von Mt 1,1 bedeutsam. 28 ROTHE, Titel, 13-15; 34-8 (zum Unterscheidungszwang). 29 ROTHE, Titel, 27 (Zitat); 49-85 (Ästhetik); 90-5 (Gebrauch von Reizwörtern). 30 ROTHE, Titel, 171-75 (zur Kongruenz); 176-183 (zu Namen in Titeln). 31 ROTHE, Titel, 197-208 (zu Gattung), 218-222 (zu Sprache und Stil). 32 Vgl. etwa H. FRANKEMÖLLE, Jahwe-Bund und Kirche Christi: Studien zur Form- und Traditionsgeschichte des „Evangeliums“ nach Matthäus (NTA 10; Münster, 21984), 362f; S. BLANCO PACHECO, „Las mujeres en la genealogía mateana de Jesús (Mt 1,1-17)“, EphMar 43 (1993), 11. 33 Vgl. Jos., Ant 1,94 (Zitat aus dem 96. bíbloß der Universalgeschichte des Nikolas von Damaskus); 4,74 (Rückverweis auf bestimmte Ausführungen im Buch davor = hen t¨∆ prò taútjß bíbl^w; vgl. Philo, Ebr 1; ähnlich Sacr 51: dià t¨wn protérwn biblíwn); 20,267 (zum Ende seines Werkes faßt Josephus zusammen, daß es zwanzig biblía und 6000 Stichoi umfaßt); Bell 1,30 (in der Einleitung zum Bellum wird bereits darauf hingewiesen, daß es sieben biblía umfaßt). 34 Brief: Herodot 3,128 (biblía grayámenoß pollá); 2Bas 11,14f (‘egrayen Dauid biblíon pròß Iwab … kaì ‘egrayen hen t¨^w biblí^w); 3Bas 20,8f (‘egrayen biblíon hepì t¨^w honómati Acaab … kaì hapésteilen tò biblíon … kaì hegégrapto hen toïß biblíoiß); 4Bas 5,5-7 (hexapostel¨w biblíon pròß basiléa Israjl …). Scheidungsurkunde: Dtn

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für die letztere Bedeutung vornehmlich das Diminutiv biblíon benutzt wird 35, ist an den genannten Stellen ein Verständnis im Sinne von „Dokument“ oder „Brief“ durch den Kontext genau gekennzeichnet. Auch handelt es sich nicht um Belege, die Überschriftcharakter tragen und am Anfang eines Werkes stehen. An so exponierter Stelle würde man bíbloß/biblíon am natürlichsten in Beziehung mit dem gesamten Werk oder zumindest einem größeren Teil davon setzen 36. Aus dieser Kurzanalyse ließe sich schließen, daß „das Wort dort, wo es in einer Überschrift erscheint, immer in der Bedeutung ‚Buch‘ gebraucht“ wird und „das ganze jeweils folgende Werk“ meint 37. Der Ausdruck génesiß hat im klassischen Griechisch ein sehr weites Bedeutungsspektrum, je nachdem, auf welcher sprachlichen Ebene er benutzt wird 38: In den Kosmogonien und klassischen Epen wird damit „die Geburt, der Ursprung oder die Zeugung“ von Göttern, Halbgöttern und Heroen bezeichnet, in der Philosophie bekommt der Begriff einen festen Platz in der Refexion über die Entstehung des Kosmos39, in der Mysteriensprache steht er für „geistliche Zeugung, Wiedergeburt“, in der Wissenschaft und Technik für „Produktion, Bildung, Ursprung“ und in der Kunst für „Schöpfung“. Daneben stehen alltäglichere Bedeutungsfelder wie „Geburt“, „Zeugung, Fortpflanzung“ und „Familienlinie, Sippe, Generation“40. Die LXX benutzt den Ausdruck oft im Zusammenhang mit Genealogien41.

24,1.3 (biblíon hapostasíou). Weitere Belege in Adrados, Diccionario Griego-Español, IV, 763. 35 G. SCHRENK , „bíbloß, biblíon“, ThWNT 1 (1933), 614/15f: „Sachlich ist ein Unterschied in der Bedeutung beider Wörter nicht festzustellen, nur eine Bevorzugung bei gewissen Formeln… Auch in LXX gibt es keine Sonderbedeutung von biblíon, die nicht wenigstens in vereinzelten Handschriften unter Umständen auch durch bíbloß wiedergegeben wäre.“ In Jos., Ant 8,44 ist offensichtlich ohne Unterschied von den biblía und den bíbloi des Salomo die Rede (vgl. a. 10,93-95; Philo, All. 1,19). 36 Beispiele aus der atl.-jüd. Literatur: Nah 1,1: „Ausspruch über Ninive. Das Buch der Vision (biblíon Horásewß) des Nahum aus Elkosch.“ Bar 1,1: „Und dies sind die Worte des Buches (oˆutoi oÓ lógoi toü biblíou), die Baruch … niederschrieb.“ (ähnlich 1,3.14) Tob 1,1: „Buch der Worte Tobits (bíbloß lógwn Twbiq).“ TestHiob 1,1: „Buch der Worte Hiobs (bíbloß lógwn Iwb), genannt Iobab.“ Jub tit: „Buch der Einteilung“ (nach CD 16,3f: „Buch der Einteilungen der Zeiten nach ihren Jubiläen und ihren Jahrwochen“); 1QS 1,1 („[Buch der Ord]nung der Gemeinschaft“; ergänzt nach 4QSa); 4QAmramc (=4Q545) 1,1 (= García Martínez, Textos, 321); 4Esr tit (= Violet, 2-3 [Anmerkung]: lat.: „incipit liber Ezrae“, syr.: „Buch Esras, des Schreibers“, äth.: „[Buch] des Propheten Esra“); ApkAbr tit. 37 FRANKEMÖLLE, Jahwe-Bund, 363; das gleiche Ergebnis rezeptionskritisch formuliert in FRANKEMÖLLE, 129: „Jeder Leser des MtEv mußte das erste Wort als ‚Buch‘ verstehen.“ 38 Belege in Diccionario Griego-Español, IV, 795f. 39 Der philosophische Spracheinfluß ist auch deutlich in Weish 1,14; 7,5.12; 12,10; 19,10f; 2Makk 7,23. 40 „Vorfahren“ (Gen 31,13; 32,9; Rut 2,11); „Geburt“ (Gen 40,20: Hjméra genésewß = Geburtstag; Hos 2,3[5]; Ez 4,14; 16,3f; PsSal 3,9); „Sippschaft, Familienclan, Geschlecht“ (oft verbunden mit katá: Ex 6,25; 28,10.21; Num 1,18; 1Chr 5,7; 7,2.4.9; 8,28; 9,9.34; 26,31; Weish 3,12; 14,6; 18,12). 41 Z.B. Gen 6,9; 10,1.32; 11,10.27; 25,12.19; 36,1.9; 37,2; Ex 6,24; Num 3,1; Rut 4,18; 1Chr 1,29; 4,2.21. Im Unterschied zu Mt 1,2-16 erscheint hier immer der Plural als Bezeichnung der Nachkommen des Genannten und nicht der Vorfahren.

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Setzt man beide Begriffe zusammen, dann ergeben sich nach unserer Wahrnehmung zwei unterschiedliche Leseanweisungen: während bíbloß in Anfangsposition auf das gesamte Werk hinzuweisen scheint, verliert génesiß nach Mt 1 jeglichen wörtlich nachweisbaren Bezug zum Text. Diese wie mit einem Skalpell das sprachliche Gewebe trennende Vorgehensweise ist dem gewöhnlichen Rezeptionsprozeß, vor allem im Hörvorgang, ganz und gar fremd, denn sprachliches Erfassen richtet sich weniger nach der Bedeutung einzelner Wörter als vielmehr nach größeren syntaktischen Einheiten42. In diesem Falle ist eine atomisierende Auslegung irreführend, weil bíbloß genésewß als Einheit ein deutlicher intertextueller Rückverweis auf die Septuagintafassung von Gen 2,4 und 5,1 ist und von dorther verstanden werden sollte43. Gen 2,4 A“utj Hj bíbloß genésewß ohuranoü kaì g¨j ß.

X®rDaDh◊w MˆyAmDÚvAh twødVlwøt hR;lEa

Gen 5,1 A“utj Hj bíbloß genésewß hanqr´wpwn

M∂dDa tOdVlwø;t rRpEs h‰z

Mt 1,1 Bíbloß genésewß h Ijsoü Cristoü …

Die griech. Wendung in Gen 2,4 entspricht nicht exakt dem hebr. twdlwt hla44. Die Hinzufügung von Hj bíbloß ist eine Eintragung aus 5,1, wo das hebr. rps übersetzt wird. Beide Sätze sind zumindest in der LXX-Fassung deutlich als Einführungsformel zu verstehen. Die Zusammenstellung von génesiß mit „Himmel und Erde“ in Gen 2,4 LXX hat zu der Vermutung geführt, daß hier die zwei biblischen Schöpfungsberichte im Sinne der platonischen Kosmogonie gedeutet werden45. Obwohl einiges für die Richtigkeit dieser Deutung spricht46, so erbringt dies ebensowe42 Vgl. ISER, Akt des Lesens, 179-83 in Anlehnung an psycholinguistische Untersuchungen. Sowohl im Rabbinentum als auch in Qumran sind allerdings „atomistische“ Deutungen belegt, bei denen z.B. einer syntaktischen Einheit eine neue Bedeutung verliehen wird, indem man jedes Wort einzeln interpretiert (vgl. D.I. BREWER, Techniques and Assumptions in Jewish Exegesis before 70 CE [TSAJ 30; Tübingen, 1992], 22.213 und das rabbinische Beispiel 109). 43 Die in der CD-Rom zum Thesaurus Linguae Graecae zusammengestellten Texte zeigen, daß diese syntaktische Einheit außerhalb der von Gen 2,4 und 5,1 beeinflußten Literatur nicht belegt ist. 44 Die Toledotformel erscheint sonst noch in Gen 6,9 (Noah); 10,1 (Söhne Noahs); 11,10 (Sem); 11,27 (Terach); 25,12 (Ismael); 25,19 (Isaak); 36,1.9 (Esau); 37,2 (Jakob); Num 3,1 (Aaron und Mose). Im atl. Erzählkontext markiert sie „die Punkte in dem Verlauf der Weltund Menschheitsgeschichte …, an denen diese sich verengt, um schließlich in das Volk Israel oder dessen kultische Repräsentanten als ihr Ziel auszumünden“ (O. EISSFELDT, „Biblos Geneseos“, [1958] in: Kleine Schriften III [Tübingen, 1966], 464). Vgl. zur weiteren Diskussion B.S. CHILDS, Introduction to the Old Testament as Scripture (London, 1979), 145-50; S. TENGSTRÖM, Die Toledotformel und die literarische Struktur der priesterlichen Erweiterungsschicht im Pentateuch (Lund, 1981). 45 Vgl. M. RÖSEL, Übersetzung als Vollendung der Auslegung: Studien zur GenesisSeptuaginta (Berlin; New York, 1994), 57f: „Für antike Leser/innen wie für den Übersetzer kann diese Einleitung an die platonische Unterscheidung von Sein und Werden erinnert haben.“ (58) 46 In der Tat scheint Philo Gen 2,4 so verstanden zu haben, wenn er die Genitivkonstruk-

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nig für das zeitgenössische Verständnis von Mt 1,1 wie die philonische Auslegung von Gen 5,1 47. Mt 1,1 knüpft nicht an diese uns bekannten Auslegungstraditionen an.

Beachtenswert in Mt 1,1 ist das Fehlen von a“utj Hj, das im Kontext von Gen 2,4; 5,1 deutlich die Verbindung zum unmittelbar Folgenden markiert. Dadurch wird der Überschriftcharakter von Mt 1,1 so hervorgehoben, daß den Leser/innen nicht nur Gen 2,4 und 5,1 in Erinnerung kommen konnte, sondern auch die damals gängige Überschrift des ersten Buches der Bibel48. Die Bücher des hebräischen Kanons wurden oft nach den ersten Worten oder wichtigen Begriffen aus dem Anfangsteil bezeichnet. Die LXX wählt für das erste Buch der Torah allerdings nicht das entsprechende hen harc¨∆, sondern stellt den Ausdruck génesiß aus 2,4 an den Anfang49, denn im Gegensatz zum incipit-Charakter der hebräischen Titelgebung orientieren sich die griechischen Titel stärker am Inhalt50. Sehr interessant ist eine kurze Erklärung Philos dazu: „Das erste der fünf Bücher, in denen die heiligen Gesetze niedergeschrieben sind, heißt und trägt den Titel (kaleïtai kaì hepigráfetai) ‚Genesis von der Genese der Welt (Génesiß hapò t¨jß toü kósmou genésewß)‘, eine Aussage über den Inhalt des Anfangs (hen harc∆ periécei). Es trägt diese Benennung (laboüsa t`jn prósrjsin), wenn es auch unzählige andere Dinge umfaßt; etwa von Frieden oder Krieg oder Fruchtbarkeit und Fruchtlosigkeit oder Hungersnot und Überfluß oder über die große Vernichtung von allem, was auf der Erde ist, durch Feuer und Wasser, oder andererseits über die Schöpfung und Wohlernährtheit (genéseiß kaì ehu trofíaß) der Tiere und Pflanzen aufgrund der milden Temperatur der Luft und der Jahreszeiten und ebenso auch über die Menschen,

tion bíbloß genésewß epexegetisch deutet: Das „Buch“ entspricht dem vollkommenen Logos (téleioß lógoß), dem vernünftigen Ordnungsprinzip, in dem die geschaffenen Dinge bereits vor ihrer Schöpfung „geschrieben“ waren; und dies ist gleichbedeutend mit dem ursprünglichen Anfang (harc`j genésewß) von Sinn und Wahrnehmung (All 1,19; vgl. a. Op 129; All 1,21; Post 65; Quaest in Gn 1,1). 47 Philo bezieht a“utj auf Enosch, der aufgrund von Gen 4,26 als Prototyp des hoffenden Menschen gilt. Nach dem Buch Gottes (t¨∆ qeoü bíbl^w) ist daher nur der als Mensch (‘anqrwpoß) zu bezeichnen, der Hoffnung hat (Det 139). Das „Buch“ ist nicht ein Buch aus Papier, sondern das Buch der Natur, in welchem die guten Taten aufgeführt werden (Abr 11; Quaest in Gen 1,80). Enosch selbst ist das Buch der Menschwerdung, des wahren Menschseins (Abr 11: bíblon genésewß toü pròß hal´jqeian hanqr´wpou). 48 Ich folge hier einer Fährte von DAVIES/A LLISON, I,151; als Möglichkeit auch von R.E. BROWN, The Birth of the Messiah (Garden City, 21993), 66; Anm. 7 erwogen. 49 B, S: Génesiß (s.a. Philo, Post 127; Aet 19; Melito von Sardes = Eusebius, HE IV,26,14 und Origenes = Eusebius, HE VI,25,2); A: Génesiß kósmou. Justin, Dial 20,1 spricht von den Vorschriften, die Mose niedergeschrieben hat hen t¨∆ bíbl^w t¨jß Genésewß. Vulgata übersetzt Incipit Liber Bresith id est Genesis. Die Überschrift Incipit Genesis in LibAnt ist wohl sekundär von 1,1 (initium mundi) herzuleiten (so Dietzfelbinger, 102 in der JSHRZ-Ausgabe). 50 G. FOHRER, Einleitung in das Alte Testament (Heidelberg, 121979), 113. Daß die LXXNamen für die biblischen Bücher bereits alt sind, macht deren Gebrauch in Philo deutlich (vgl. R. BECKWITH, The Old Testament Canon of the New Testament Church and its Background in Early Judaism [Grand Rapids; London, 1985], 246).

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von denen manche ein tugendsames und andere ein lasterhaftes Leben zusammen lebten. Aber da einiges davon Teil der Welt und anderes Ereignisse sind und die Welt die vollkommene Erfüllung ist, widmete er das ganze Buch ihr [gemeint ist die Welt].“ (Abr 1-2; eig. Übers.)

M.E. lassen sich zwei für die Reaktion der Erst-Rezipierenden relevante Schlußfolgerungen ziehen: 1. Im Gegensatz zu uns hegten frühere Leser/innen nicht die Erwartung einer umfassenden Kongruenz zwischen dem Titel und dem Werk in allen seinen einzelnen Teilen51. Wenn also nach Kap. 1 von der „Genese Jesu“ nicht mehr die Rede ist, dann ist das aus der Perspektive der Erwartungshaltung der Erst-Rezipierenden kein entscheidender Einwand gegen ein Verständnis von 1,1 als Titel des gesamten Werkes. Um Mt 1,1 als Gesamtüberschrift zu lesen, braucht man demnach nicht das griechische génesiß theologisch so zu überfrachten oder philologisch so zu erweitern, daß es am Ende zum Inhalt des gesamten Evangeliums paßt52. Ein schlichter Titel wie „Buch des Ursprungs Jesu“ würde – wie viele Titel der Hebräischen Bibel auch! – einen wichtigen Begriff aus dem Anfangsteil aufnehmen und zusätzlich auch das unerläßliche Unterscheidungskriterium voll und ganz erfüllen53. 2. Verstärkt wird diese Vermutung durch die Möglichkeit, daß Mt 1,1 parallel zum Titel des ersten Buches der Torah formuliert und daß dies aufgrund der intertextuellen Zirkulation dieses Buchtitels für die Erst-Rezipierenden erkennbar sein könnte. Der Titel erfüllt damit zwei wichtige Funktionen: Er weckt durch den gezielten Einsatz eines mehrdeutigen und inhaltsschweren Bibelarchaismus das Interesse der Rezipierenden und gibt Auskunft über das sprachliche Niveau und den religiösen Charakter des Gesamtwerkes. Die mat51

So werden die Bücher des Pentateuchs im Judentum und Christentum als „Buch des Gesetzes“ oder einfach als „das Gesetz Gottes“, „das Gesetz des Mose“ oder „das heilige Gesetz“ bezeichnet (griech. nómoß), obwohl sie viel mehr als „Gesetz“ enthalten (vgl. die Belege in BECKWITH, Canon, 247; B.J. DIEBNER, „Das meistbenutzte Buch im Alten Testament, nebst verloren gegangenen Schriften und rekonstruierten Titeln“, Lese-Zeichen für Annelies Findeiß, hg. C. Burchard, G. Theißen [DBAT.B 3; Heidelberg, 1984], 37-49). Notabene: Das hebräische h∂rwø;t ist von dieser Beobachtung ausgenommen, weil es nicht im engen Sinne „Gesetz“, sondern „Lehre, Weisung, Unterweisung“ bedeutet. 52 Dieser Umstand wird m.E. von den Vertreter/innen einer Deutung als Gesamttitel viel zu wenig berücksichtigt. Das gilt z.B. für die seit ZAHN, 40 sehr verbreitete (vgl. etwa FRANKEMÖLLE, 129; MORRIS, 18f; H.C. WAETJEN, „The Genealogy as the Key to the Gospel according to Matthew“, JBL 95 [1976], 213f) Deutung von génesiß im Sinne von „Geschichte“. Meistens werden Texte wie Gen 2,4; 5,1; 6,9; 37,2 u.a. als Belegstellen für eine solche Bedeutung zitiert. Dem liegt aber die Fehlannahme zugrunde, daß Genealogien ausschließlich Namen aufzulisten haben (das Postulat der „reinen Gattung“). Genealogien beinhalten aber oft historische Notizen und sind daher stark mit der Darstellung von Geschichte verquickt (s.u. S. 217ff). Die philologische Bedeutung von génesiß ist deswegen aber nicht über das hellenistisch belegte Bedeutungsspektrum hinauszuführen. 53 Der große äußere Unterschied zwischen Mk und Mt besteht ja darin, daß Mt eine Geburtsgeschichte voranstellt. Daß der erste Satz genau darauf abhebt, mag ein Zeichen des Unterscheidungswillens gegenüber der mk. Jesusgeschichte sein.

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thäische Erzählung stellt sich gattungskritisch damit in die Tradition der alttestamentlichen Geschichtsschreibung54. Mir scheint die Frage nach dem „Referens“ von 1,1, die in der exegetischen Diskussion weiterhin sehr unterschiedlich beantwortet wird55, aus der Perspektive der Rezeption doppelt beantwortet werden zu können: auf philologischer Ebene steht Mt 1,1 in ganz engem Bezug zu Kap. 1, aber auf funktionaler Ebene umfaßt es das gesamte Werk. Man sollte sich aus der Perspektive der Erst-Rezeption allerdings davor hüten, diesen ersten Vers als Titel zum ganzen Evangelium gleichsam zum Freiwild für hochtrabende theologische Spekulationen zu erklären56, auch wenn die intertextuelle Parallelisierung zwischen dem Werden der Welt (Gen tit; 2,4), der Menschheit (Gen 5,1) und der Person Jesu (Mt 1,1) nicht in der Bedeutungslosigkeit versinken sollte. Nur wird sie nicht in einem einfachen Ursache-Wirkung-Mechanismus der automatische Auslöser einer hoch-christologischen Schlußfolgerung gewesen sein57, sondern viel eher unterschwellig etwas über die ungeheuere Bedeutung der Hauptfigur vermittelt haben. Solche unmarkierten intertextuellen Signale sind eher einfache Schatten und Farbimpressionen auf der Leinwand einer möglichen Erst-Rezeption als fest umrissene Figuren. Daher ist der Verzicht auf eine explizite theologischdiskursive Deutung dieser Anfangswendung kein Zeichen methodischer Unschärfe, sondern ein hermeneutisch geradezu gebotener Verzicht auf die „Erniedrigung“ des Textes durch seine endgültige Beförderung in den Rang einer R. RIESNER, Jesus als Lehrer (WUNT II/7; Tübingen, 31988), 31. Der Einfluß der Septuaginta dürfte entscheidend sein, denn erst in der Anordnung der LXX tritt eine besondere Geschichtsschreibung hervor. Im hebräischen Kanon gehören jene Werke, die wir als Geschichtswerke zu behandeln pflegen, zu den „Propheten“; vgl. dazu E.A. KNAUF, „Die Mitte des Alten Testaments“, Meilenstein (FS H. Donner), hg. M. Weippert, S. Timm (ÄAT 30; Wiesbaden, 1995), 82-4. 55 Die grundlegenden Positionen werden kurz bei DAVIES/ALLISON , I,149f; GNILKA , I,7; SAND, 41 und W. SCHENK, Die Sprache des Matthäus (Göttingen, 1987), 303 referiert. Daß diese Frage in hohem Maße ungeklärt ist, machen drei Beiträge in der Festschrift für Frans Neirynck (The Four Gospels 1992, ed. F. van Segbroeck et al. [Leuven, 1992]) deutlich: G.N. STANTON („Matthew: bíbloß, ehu aggélion, or bíoß?“) bezieht 1,1 auf 1,2-17 oder 1,2-25 (II,1189f), B. STANDAERT („L’évangile selon Matthieu: Composition et genre littéraire“) auf 1,2-25 (II,1247) und D. DORMEYER („Mt 1,1 als Überschrift zur Gattung und Christologie des Matthäus-Evangeliums“) auf das gesamte Buch (II,1361-3). Letztere Position wird auch von DAVIES/ALLISON vertreten (I,149-54). 56 LUZ, I,88 spricht von „eine[r] lockere[n] Assoziation an das Alte Testament …, die nicht weiter theologisch befrachtet werden darf.“ Eine theologische „Überinterpretation“ stellt die Deutung dieses Verses im Sinne einer „neuen Schöpfung, die Jesus herbeiführt“ dar (so DAVIES/ALLISON, I,150-4; dagegen J. NOLLAND, „What kind of Genesis do we have in Matt 1.1?“ NTS 42 [1996], 463-71, der allerdings die Verbindung zum Titel des ersten Buches der Torah herunterspielt). 57 FRANKEMÖLLE, Jahwe-Bund, 365 schließt aus Mt 1,1, daß mit Jesus Christus „eine neue Epoche der universalen Geschichte an[fängt]“. In seinem Kommentar sieht er aufgrund des Bezugs zu Gen 5,1 eine universalistische Botschaft (130). 54

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theologisch-systematischen Aussage, die mit einem einfachen Aussagesatz zur Ausradierung reicher Assoziationsmöglichkeiten führt. Eine weitere Erwartung wird mit dem Titel erfüllt: die Hauptfigur Jesus wird eingeführt58. Doch begnügt sich der Erzähler nicht mit der Nennung des Eigennamens, sondern fügt noch (in fast bekenntnisartiger Apposition) Cristoü uÓoü Dauìd uÓoü h Abraám hinzu59. Die Wendung ist insgesamt so offen, daß man diesen Vers einerseits als eine Zusammenfassung matthäischer Christologie lesen könnte60, andererseits aber auch als eine sehr begrenzte Aussage über die genealogische Herkunft Jesu, bei der Cristóß bereits zum Beinamen verblaßt ist61. Die rein genealogische Aussage wäre in etwa: „Jesus Christus ist ein Jude aus dem königlichen Geschlecht Davids“62. Der Christus-Name ist eine Leerstelle, „bei der der Leser gespannt ist, wie Matthäus näherhin den Titel ‚Christus‘ inhaltlich auffüllt.“63 Die Bezeichnung „Davidssohn“ schließt allerdings so deutlich an die jüdische Erwartung eines Messias aus dem Hause Davids an64, daß die Erst-Rezipierenden hier nicht nur eine rein genealogische, sondern auch eine christologische Sinnrichtung entdeckt haben dürften65. Dieser enge Zusammenhang zwischen Messianität und Davidssohnschaft läßt hinter Cristóß vielleicht 58 RABINOWITZ, Before Reading, 128: „Showing up in a position privileged by a rule of notice is one way of attracting attention. In fact, merely being the first-mentioned character in a novel is enough to arouse some expectation … of centrality.“ Das gleiche gilt für Mk 1,1; Joh 1,1; Apg 1,1. Nur Lk wartet bis 1,31, um Jesus deutlich zu benennen. Gerade von den atl. Parallelen her erscheint es sehr schwer, den Genitiv h Ijsoü Cristoü als genitivus subiectivus zu lesen, wie es DAVIES/ALLISON mit ihrer Übersetzung „Book of the New Genesis wrought by Jesus Christ“ zu verstehen geben (I,153.156; vgl. a. W.D. DAVIES, The Setting of the Sermon on the Mount [Cambridge, 1963], 69f; ähnlich J.A. CARRASCO, „La genealogía de San Mateo [1,1-17] y sus implicaciones teológicas“, EstJos 28 [1974], 146; dagegen BROWN, Birth, 59). 59 Hier wird eine Kenntnis der beiden atl. Gestalten David und Abraham vorausgesetzt, denn sonst wäre die Genealogie als Eröffnungstext irrelevant für die Charakterisierung Jesu. 60 Vgl. etwa DORMEYER, „Mt 1,1“, 1361-83. 61 (Juden-)christliche Hörer/innen werden eher darüber hinweghören, während für jüdische Hörer/innen eine solche Bezeichnung sicherlich Aufmerksamkeit und skeptische Neugierde im Hinblick auf die Geschichte eines Messiasanwärters erregen sollte. Daß die Bezeichnung cristóß für einen Juden nicht a priori tabu ist, zeigt sich in dem umstrittenen, aber m.E. zum Teil doch echten Testimonium Flavianum (Jos. Ant 18,63f; 20,200). 62 Sowohl die folgende Genealogie als auch der nicht-christologische Gebrauch von „Sohn Davids“ in 1,20 in bezug auf Josef stärken diese Lektüre. Zur Voranstellung einer Kurzfassung vor einer längeren Genealogie vgl. G. MUSSIES, „Parallels to Matthew’s Version of the Pedigree of Jesus“, NT 28 (1986), 36. 63 FRANKEMÖLLE, 131. 64 Dieser messianische Zusammenhang ist äußerst breit belegt: 2Sam 7,12f (vgl. 1Chr 17,11f); Jes 11,1-9; Mi 5,1; Jer 23,5; 30,9; 33,15; Ez 34,23f; 37,24f; Am 9,11; PsSal 17-18; 4QFlor 1,10-12. Vgl. C. BURGER, Jesus als Davidssohn (FRLANT 98; Göttingen, 1970), 16-24; Bill., I,11-3; M. KARRER, Der Gesalbte (FRLANT 151; Göttingen, 1991), 267-94. 65 Allgemein dazu BURGER, Davidssohn, 16.

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doch mehr als ein cognomen vermuten66. Ähnlich wie bei der Bezeichnung bíbloß genésewß stellt ein christologischer Titel an so exponierter Position für viele moderne Ausleger/innen eine beinahe unwiderstehliche Versuchung dar, alle christologischen Aspekte, die sich mit diesem Titel synchron und diachron in Verbindung bringen lassen, den Leser/innen von Mt 1,1 als Reisegepäck mitzugeben. Aus der Sicht der Rezipierenden ist auch an dieser Stelle Zurückhaltung geboten, denn christologische Hoheitstitel sind keine klar umgrenzten semantischen Einheiten, sondern sie sind vieldeutige Zeichen und können je nach narrativem Umfeld unterschiedliche Bedeutungen annehmen67. Als aussagekräftige Unbestimmtheitsstellen haben sie die Funktion, die Position Jesu innerhalb einer heterogenen Zielgruppe zu festigen68. Theologische Schlußfolgerungen scheinen mir also in Mt 1,1 noch verfrüht. Man wird sich eher durch die Lektüre der weiteren Jesusgeschichte (vor allem auch der Genealogie) die Bedeutung der Davidssohnschaft Jesu langsam erschließen lassen69. Liest man allerdings hier bereits alle späteren Nuancen hinein, dann ist man, salopp gesprochen, ein „textueller Geisterfahrer“.

66 DAVIES/ALLISON , I,155; HAGNER, I,9; J. NOLLAND , „The four (five) Women and other Annotations in Matthew’s Genealogy“, NTS 43 (1997), 531 Anm. 13; GNILKA, I,8: „Auch kann der Christus-Name trotz des fehlenden Artikels seinen messianologischen Sinn nicht ganz verloren haben.“ Anders LUZ, I,88: „Gebraucht der Evangelist Cristóß titular, so verwendet er in der Regel den Artikel.“ 67 Vgl. zur Kritik titularer Christologie KECK , „Renewal“, 362-77; bes. 368-70. Für Mt stellt U. LUZ, „Eine thetische Studie zur matthäischen Christologie“, Anfänge der Christologie (FS F. Hahn), hg. C. Breytenbach et al. (Göttingen, 1991), 223 treffend fest: „Während ursprünglich die christologischen Hoheitstitel als Prädikativ funktionierten, um auszusagen, wer Jesus ist, scheint es bei Mt vor allem umgekehrt: Die mt Jesusgeschichte funktioniert als Prädikativ und bestimmt den Inhalt der traditionellen Hoheitstitel neu.“ 68 Zur soziologischen Funktion von Titeln vgl. B. DUPRIEZ, A Dictionary of Literary Devices (New York, 1991), 456f. BERGER, Exegese, 102: „[D]as Nebeneinander verschiedener christologischer Titel und der Verzicht auf Vereinheitlichung [schafft] einen Spielraum von Unbestimmtheit, der verschiedene Traditionen und damit ihren Trägern Existenzberechtigung bietet.“ 69 Die meisten Arbeiten zum Davidssohntitel im Matthäus-Evangelium zerstören m.E. diese Dynamik in der Wahrnehmung des Textes, indem sie die einzelnen Belegstellen zu einer theologischen Synthese verbinden, die von deren Verortung im Diskurs der Erzählung abstrahiert: Vgl. D.C. DULING, „The Therapeutic Son of David: An Element in Matthew’s Christological Apologetic“, NTS 24 (1977/78), 392-410; „Matthew’s Plurisignificant ‚Son of David‘ in Social Science Perspective“, BTB 22 (1992), 99-116; J.M. GIBBS, „Purpose and Pattern in Matthew’s Use of the Title ‚Son of David‘“, NTS 10 (1964), 446-464 (er respektiert zumindest den Verlauf der Erzählung zwischen Kap. 9-21); H.B. GREEN, „Solomon, the Son of David, in Matthean Typology“, StEv 7 (1982), 227-230; J.D. KINGSBURY, „The Title ‚Son of David‘ in Matthew’s Gospel“, JBL 95 (1976), 591-602; W.R.G. LOADER, „Son of David, Blindness, Possession, and Duality in Matthew“, CBQ 44 (1982), 570-585; A. SUHL, „Der Davidssohn im Matthäus-Evangelium“, ZNW 59 (1968), 36-72.

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Anders steht es mit der Bezeichnung „Abrahamssohn“, für die sich weder jüdisch noch christlich eine titulare Bedeutung nachweisen läßt70 und die daher viel eher eine rein genealogische Bedeutung haben bzw. einfach an den „Anfang“ (aus damaliger Sicht!) der Geschichte Israels erinnern könnte. Ob die Tatsache, daß die beiden Bezeichnungen „Davidssohn“ und „Abrahamssohn“ eigentlich in chronologisch verkehrter Reihenfolge stehen, für die Rezeption bedeutsam ist, ist schwer zu beantworten. Eine solche Anordnung könnte einfach eine rücklaufende Zusammenfassung der folgenden Genealogie sein71. Da jeder Davidide zugleich auch ein Nachkomme Abrahams ist, stellt sich allerdings die Frage nach der Bedeutung dieser „Übercodierung“. Als Leerstelle wird dieser „Titel“ ganz unterschiedliche Assoziationen geweckt haben72. Noch ist es zu früh, um die Bedeutung der Abrahamssohnschaft zu erschließen, aber es gibt deutliche Zeichen dafür, daß es um mehr geht als eine bloße Feststellung der Volkszugehörigkeit Jesu73. Fazit: Mt 1,1 erfüllt in vielfacher Weise die Funktion eines Titels: 1. Die Hauptfigur wird vorgestellt74. 2. Durch den Gebrauch von Bibelarchaismen und assoziationsreichen Epitheta wird der Erzählung eine ehrwürdig-sakrale Atmosphäre verliehen75. 3. Das Alte Testament wird als primärer intertextueller Bezugsrahmen auf den Plan gerufen. 4. Nicht zuletzt wird durch die 70

Nach DAVIES/ALLISON, I,158 bezeichnet „Abrahamssohn“ ganz allgemein einen Juden und spezifischer noch einen Juden, der sich seines Ahnen Abrahams als würdig erweist. Der manchmal zitierte Text TestLev 8,14f („es wird ein König aus Juda aufstehen … aus dem Samen Abrahams, unseres Vaters“) ist vielleicht christlich bearbeitet (so Becker, JSHRZ, 53). 71 Daß 1,1b-d mit 1,2.6.16 einen Chiasmus bilden (so DAVIES/ALLISON, I,149), ist zwar in einer entsprechenden Gliederung gut erkennbar, aber als Erklärung für die Anordnung der Appositionen in 1,1 ungenügend; zumal sich bei Chiasmen, die über eine größere Texteinheit verteilt sind, immer die Frage stellt, inwieweit diese für die Rezipierenden erkennbar sind und welche Relevanz ihnen für das Verständnis des Textes zukommen soll. 72 U. LUZ, Die Jesusgeschichte des Matthäus (Neukirchen-Vluyn, 1993), 35. 73 FRANKEMÖLLE, 133f läßt seinen „bibelkundigen Leser“ in den Bezeichnungen „Sohn Davids“ und „Sohn Abrahams“ eine Aussage über das spannungsreiche Verhältnis zwischen Partikularismus (Heil für Israel) und Universalismus (Heil für alle Völker) erkennen. M.E. schließt er diese Leerstelle zu früh und engt ihre Bedeutungsmöglichkeiten damit unnötig ein. Ebenso R. PESCH, „‚He will be Called a Nazorean‘: Messianic Exegesis in Matthew 1-2“, The Gospels and the Scriptures of Israel, hg. C.A. Evans, W.R. Stegner (JSNT.S 104; Sheffield, 1994), 139f, der eine Isaak-Typologie hinter der Bezeichnung „Abrahamssohn“ vermutet. 74 R.A. BURRIDGE, What Are The Gospels? (MSSNTS 70; Cambridge, 1992), 195 wertet die Nennung der Hauptfigur am Anfang eines Werkes als ein weiteres Indiz für die Gattungsbestimmung der Evangelien im Bereich antiker Biographien bzw. bíoi. Leser/innen, die mit dieser hellenistischen Tradition vertraut sind, werden gerade in der Genealogie und Kindheitsgeschichte charakteristische Merkmale biographischer Literatur sehen (vgl. a. P.L. SHULER, A Genre for the Gospels: The Biographical Character of Matthew [Philadelphia, 1982], 53-6.92-8). 75 HAGNER, I,9: „It is obvious that by this beginning Matthew wishes to call attention to the momentous, even sacred character of the genealogy and therefore also of the narrative to follow.“

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Offenheit der Aussage das Interesse des narrativen Publikums am weiteren Verlauf der Erzählung geweckt. Erst im folgenden Rezeptionsgeschehen werden die je nach Hintergrund ganz unterschiedlichen Erwartungen und Assoziationen der Hörer/innen auf jene eingeschränkt, die für die Sinngebung der matthäischen Jesusgeschichte relevant sind76. Es ist schwer, die Wirkung eines solchen Incipits analytisch zu beschreiben, aber das Hineintauchen der Jesusfigur in die Sprache der Genesis, der jüdischen Messiaserwartung und des christlichen Bekenntnisses wird gewiß das narrative Publikum nicht nur mit Neugierde fesseln, sondern auch mit einer gewissen Ehrfurcht erfüllen. An ihrem Erwartungshorizont ersteht das Bild einer religiösen Erzählung, deren zentrale Figur von äußerster Relevanz ist. 2.2.2 Die Genealogie (1,2-17) 2.2.2.1 Allgemeine Überlegungen 1. Zur Geschichte der Gattung „Genealogie“77: Der für die hypothetische Erst-Rezeption abzusteckende Wahrnehmungshorizont der Gattung „Genealogie“ unterscheidet sich wesentlich von unserem (s.o. S. 199f). In der gesamten alttestamentlich-jüdischen Tradition spiegelt sich die Bedeutung von Genealogien bereits an deren häufiger literarischer Verwendung wider78. Ideolo76

DORMEYER, „Mt 1,1“, 1382: „Matthäus wählte den … Weg, … jeden Leser, den gläubigen wie den ungläubigen, potentiell mit einer singulären, eschatologischen Gründungsgestalt (Gesalbter) aus einer mit divergierenden Heilserwartungen besetzten Königsdynastie eines religiös privilegierten Volkes anzusprechen und die korrelierenden Lesererwartungen im Verlauf des Lesens umzukehren.“ 77 L. FREUND , „Über Genealogien und Familienreinheit in biblischer und talmudischer Zeit“, Festschrift Adolf Schwarz, hg. S. Krauss (Berlin; Wien, 1917), 163-192; K. FRIIS PLUM, „Genealogy as Theology“, SJOT 3/1 (1989), 66-92; J. JEREMIAS, Jerusalem zur Zeit Jesu (Göttingen, 31962), 308-31; M.D. JOHNSON, The Purpose of the Biblical Genealogies (MSSNTS 8; Cambridge, 1969), 77-82; OEMING, Vorhalle, 9-36; M. ORSATTI, Un saggio di teologia della storia: Esegesi di Mt 1,1-17 (Studia Biblica Paideia; Brescia, 1980), 15-31; R.B. ROBINSON, „Literary Functions of the Genealogies of Genesis“, CBQ 48 (1986), 595-608; SPEYER, „Genealogie“; R.R. WILSON, „The Old Testament Genealogies in Recent Research“, JBL 94 (1975), 169-89; Genealogy and History in the Biblical World (New Haven, 1977). 78 Vgl. im AT: Gen 4,1f.17-22.25f; 5,1-32; 6,9-10; 10,1-32; 11,10-32; 19,37f; 22,20-24; 25,1-6.12-26; 35,21-26; 36,1-43; 46,8-27; Ex 6,14-25; Rut 4,18-22; Zef 1,1; 1Chr 1-9; Esr 7,1-5; Est 2,5. Daneben gibt es levitische Register (Num 3,14-39; 1Chr 9,19-34; 15,4-24; 2Chr 17,8; 29,12-14; 31,12-17; 34,12f; 35,8f; Neh 10,2-13; 12,1-26), politisch-militärische Register (2Sam 23,8-39; 1Chr 11,11-47; 12,3-23; 27,1-34) und allgemeine Familien- und Einwohnerlisten (Num 26,1-65; 1Chr 9,3-17; Esr 2,1-63; 8,1-14; 10,18-44; Neh 7,4-65; 10,1-28; 11,1-19). Vgl. weiterhin Tob 1,1; Jdt 8,1; 9,2; Bar 1,1; 1Makk 2,1; Jub 4,1-33; 7,18f; 8,1-8; 33,21-24; 44,11-34; Josephus, Ap 1,7; Vita 1; LibAnt 1-2; 4-5; 8; 42,1. Zur Bedeutung von Genealogien im rabbinischen Judentum s. Bill., I,114; FREUND, „Genealogien“, 174-92. Vgl. etwa mEd 8,7 (= Bill., IV, 792-4: Elijah führt die gewaltsam getrennten Familien wieder zusammen); mJeb 4,13b (Rabbi Simon findet in einem Geschlechtsregister in Jerusalem Aussagen über den Status eines Bastards); bPes 62b (das Studium des „Buchs der Genealogie“

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gische Grundlage dafür ist auch im alten Israel die Vorstellung einer genealogischen Solidarität in bezug auf Segen und Fluch79. Nach M.D. JOHNSON haben Genealogien folgende Funktionen80: Sie drücken politische Beziehungen zu Nachbarvölkern aus, dienen zur Überbrückung von Geschichtsperioden, über die wenig traditionelles Material vorliegt81, sind Grundlage chronologischer Spekulationen über weltgeschichtlich wichtige Perioden, werden als Legitimationsmittel für bestimmte politische und religiöse Ämter wie Könige und Priester eingesetzt82 und erbringen den Nachweis für die ethnische Homogenität und Kontinuität des Volkes besonders in schweren Krisenzeiten (vgl. Esra und Nehemia). Jegliches historiographische Anliegen ist diesen Zielsetzungen untergeordnet83. Die Trägerkreise solcher Listen sind oft in einem priesterlichen Umfeld zu finden84. Auch wenn sich kein generelles Leserbild erstellen läßt, so ist doch die Feststellung OEMINGS in bezug auf die „genealogische Vorhalle“ in 1Chr 1-9 interessant: „Der intendierte Leser der ‚Vorhalle‘ ist ein hochgebildeter Kenner der Tradition mit Lust und Freude am Detail, also im wahrsten Sinne ein Schriftgelehrter. Wissenssoziologisch betrachtet, ist sie Literatur von Schriftgelehrten für Schriftgelehrte.“85

Seit der Rückkehr aus dem babylonischen Exil nimmt das genealogische Interesse innerhalb der jüdischen Gesellschaft zu86. Im rabbinischen Judentum waren genealogische Nachweise für die Eheschließung mit einem Priester

gehört zu den schwersten der rabbinischen Ausbildung); bQid 69a-79b (Einteilung Israels in Kategorien gemäß der Abstammung). 79 Vgl. Ex 20,5f (Fluch bis in die dritte und vierte Genearation, Segen an tausend Generationen); allgemein SPEYER, „Genealogie“, 1202-5. 80 Purpose, 3-82. 81 JOHNSON, Purpose, 81: „The predetermined character of the course of history is to be inferred especially from the symmetrical arrangement of epochs in the priestly chronology.“ 82 In diesem Sinne ist es zu verstehen, daß nicht nur für Priester und Könige bestimmte genealogische Voraussetzungen zu gelten hatten, sondern auch für den künftigen König oder den Messias. Vgl. Gen 49,10 (der Fürst aus Juda); Num 24,17 (der Stern aus Jakob); 2Sam 7,12f (Davidsverheißung); Jes 11,1 (das Reis aus dem Baumstumpf Isais); Mi 5,1 (der Herrscher aus Betlehem); Jer 23,5; 33,15 (Sproß Davids); ähnlich Jer 30,9; Ez 34,23f; 37,24f; Am 9,11; Hag 2,20-23 (s. A. MALAMAT, „King Lists of the Old Babylonian Period and Biblical Genealogies“, Essays in Memory of E.A. Speiser [JAOS 88/1; New Haven, 1968], 170f). 83 WILSON, Genealogy, 199 kommt zu dem Schluß, daß Genealogien erhalten werden „for domestic, politico-jural, and religious purposes, and historical information is preserved in the genealogy only incidentally“. 84 JOHNSON, Purpose, 81. 85 OEMING, Das wahre Israel, 206. 86 Vgl. die Texte in Bill., I,1-11; Paulus in Röm 11,1; Phil 3,4f. Josephus schützt sich z.B. gegen Angriffe auf seine Person mit einem Hinweis auf seinen Familienstammbaum (Vita 1-6). Vgl. JOHNSON, Purpose, 85-138. In mQid 4,1-3 = Bill., I,1f wird das Volk in zehn verschiedene Kategorien eingeteilt und die Ehe nur zwischen bestimmten Gruppen erlaubt.

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unerläßlich für die Bewahrung priesterlicher Reinheit87. Besonders ausgeprägt scheint der Zusammenhang zwischen genealogischem Interesse und messianischen Spekulationen gewesen zu sein88, wie überhaupt biblische Genealogien oftmals zur Grundlage äußerst kreativer und esoterischer Auslegungen werden konnten89. Im hellenistischen Raum war die Gattung „Genealogie“ nicht minder beliebt90. Da die Begründung des eigenen Seins in der harc´j zu finden ist und die gemeinsame Vergangenheit die Nachkommen zu einer Schicksalsgemeinschaft zusammenschweißt, ist der adlige Status, das Wohlgeborensein (ehugéneia), eines der wichtigsten gesellschaftlichen Privilegien im Altertum91. Von da leitet sich die wichtige Rolle von Genealogien in der Politik als Legitimierungsmittel der Kontinuität von Herrschaftssystemen und -dynastien92, aber auch in der Literatur ab93.

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Nach Josephus, Ap 1,30-36 existierten zu diesem Zweck besondere Archive in Jerusalem. In Auseinandersetzung mit JEREMIAS, Jerusalem, 304-24 kommt JOHNSON, Purpose, 104-8 zu einem vorsichtig negativen Ergebnis in bezug auf die Existenz von genealogischen Unterlagen für Laien in Jerusalem. Genealogische Kenntnisse innerhalb nichtpriesterlicher Familien wurden wohl vorwiegend oral tradiiert. Die vom Chronisten Africanus überlieferte Notiz, Herodes habe in den Archiven vorhandene Geschlechtsregister der hebräischen Familien verbrennen lassen, damit niemand seine edle Abstammung ihm gegenüber nachweisen könne (Eusebius, HE I,7,13), ist wahrscheinlich historisch unglaubwürdig, nicht nur weil Josephus einen solchen Umstand nicht erwähnt, sondern weil er seinen eigenen Stammbaum (Vita 1) amtlichen Urkunden entnommen hat (s. FREUND, „Genealogien“, 173; Anm. 3). 88 WILSON, Genealogy, 1. 89 In bezug auf die blühende genealogische Spekulation in rabbinischen Kreisen faßt G. KITTEL, „Die genealogíai der Pastoralbriefe“, ZNW 20 (1921), 62f zusammen: „Das Bestreben ist … vor allem das der Kombination. Man hat das Bedürfnis, möglichst viele Identifikationen und Beziehungen innerhalb des AT herzustellen. Die leichteste Möglichkeit aber, zu verknüpfen, ergibt sich durch genealogische Spekulation. Besonders beliebt sind die Versuche, Unbekanntes mit Bekanntem in Verbindung zu bringen… Ein weiterer methodischer Grundsatz ist, Näheres über unbekannte Persönlichkeiten von den mit ihnen in Verbindung gebrachten Personen aus zu erschließen.“ 90 Ich folge dem ausgezeichneten Artikel von S PEYER, „Genealogie“, 1149-1201. 91 „So folgerte man, daß sich die körperliche und geistige Leistung des Archegeten in seinem Geschlecht vererbe und sich Leistung und Herkunft wechselseitig bedingten.“ (SPEYER, „Genealogie“, 1152) 92 Viele genealogische Forschungen und Fälschungen wurden betrieben und angefertigt, um sich gegen Konkurrenten durchzusetzen (Beispiele in SPEYER, „Genealogie“, 1155f; vgl. Jos. Ant 17,324-338: der falsche Alexander). 93 Genealogien von Helden: Euripides, Iph. T. 1-5; Phoen 7-11; Orest 4-24; Ion 258f; Homer, Il 6,123.142.145-211; 20,208f.213-241; 21,140-143.150-160.184-9; 24,387; Od. 1,170 = 10,325; 11,235-329 (Frauenkatalog); 19,178-181 (erdichtete Genealogie des Odysseus); Pind., Pyth 4,97-100; Aeschylos, Eum 437f (der Held soll seine Heimat und sein Geschlecht nennen); Sophokes, Phil. 56f.220-243; Vergil, Aen 8,114; Horaz, Epist. I,7,53f (Erkundigung nach Vorfahren; Schöne, 158f). Zur Rolle der Genealogie im Enkomion s. SPEYER, „Genealogie“, 1170-2. Vgl. QUINTILIAN, Inst. III,7,8.10f.19f.26 und weitere Texte in MUSSIES, „Parallels“.

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2. Zu Form und Funktion der matthäischen Genealogie: Eine auf eine Hauptfigur zentrierte Erzählung mit einer Aufzählung ihrer Vorfahren zu beginnen, ist im Kontext der Erst-Rezipierenden sicherlich wenig überraschend; zumal sich nach dem Rückbezug auf die alttestamentliche Toledotformel in Mt 1,1 eine Genealogie von ganz selbstverständlich anschließen dürfte94. Dazu einige allgemeine Bemerkungen: a) Die Funktion(en) der Genealogie: Die sprachliche Anlehnung an alttestamentliche Muster ist unübersehbar95. Damit wird die matthäische Genealogie zu einem Mittel der Geschichtsschreibung und -deutung96. Durch sie macht der Erzähler die zurückliegende Geschichte Israels für sein narratives Publikum überschaubar, die Menschen, die an ihr beteiligt sind, zählbar und Höhe- und Tiefpunkte leichter erkennbar. Die Periodisierung von Geschichte, wie sie in 1,17 vorgenommen wird, ist eine wichtige Hilfskonstruktion, um Vergangenheit sinnvoll „in den Griff zu bekommen“. Dabei dienen einzelne Namen in einer mnemisch viel ausgebildeteren Gesellschaft als die unsere als Kurzchiffren für bestimmte Geschichten97. Was uns so trocken und monoton erscheint, ist in Wirklichkeit die knappste Form der Geschichtserzählung (s.u. S. 235). Durch die Genealogie wird also die narrative Vorstellungskraft der Erzähladressaten aktiviert. Von den vielen soziologischen, politischen, ökonomischen wie auch reli94

Eine ähnliche Abfolge von incipit und Genealogie findet man in Zef 1,1; Bar 1,1 und Tob 1,1. Weitere Beispiele für Genealogien am Anfang einer Erzählung in MUSSIES, „Parallels“, 33f. 95 In Gen 5,1-32 folgt nach der Einleitung a“utj Hj bíbloß genésewß h anqr´ wpwn (5,1) eine Genealogie. Vgl. a. Gen 6,9f; 10,8.10-27; 25,3; Num 26,33.58. Die Form X hegénnjsen Y erscheint in 1Chr 1-9 über 80mal (vgl. 1,10.34; 2,1-18.36-41; usw.). Inhaltlich stimmt Mt 1,2-6 mit 1Chr 1,34-2,15; Rut 4,18-22 und Mt 1,6-12 mit 1Chr 3,1-19 überein. Ab Mt 1,13 gibt es keine atl. Bezüge mehr. Auch der Gebrauch von hegénnjsen ist interessant, denn in hellenistischen Genealogien erscheint diese Verbform nicht, sondern eher gínetai oder hegéneto (MUSSIES, „Parallels“, 37). 96 Ähnlich M. DAVIES, 30: „The genealogy recalls Israel’s history.“ JOHNSON, Purpose, 254: „The genealogy has become a means of structuring history.“ FRANKEMÖLLE, 138: „Als Bündelung einer sich über Jahrhunderte hinziehenden Geschichte im Zeitraffer.“ D.D. KUPP, Matthew’s Emmanuel (MSSNTS 90; Cambridge, 1996), 53: E. LERLE, „Die Ahnenverzeichnisse Jesu: Versuch einer christologischen Interpretation“, ZNW 72 (1981), 115: „An Hand der einzelnen Namen konnte in der Verkündigung, im Midrasch und in der Unterweisung die biblische Geschichte des AT entfaltet werden.“ LIMBECK, 25: „Matthäus spricht mit Hilfe der Ahnenliste Jesu von Geschichte.“ J. NOLLAND, „Genealogical Annotation in Genesis as Background for the Matthean Genealogy of Jesus“, TynB 47 (1996), 115-22; Ders., „Women“, 529; PESCH, „Messianic Exegesis“, 139: „The history can be encoded in condensed form through the succession of generations.“ WAETJEN, „Genealogy“, 209: „Matthew’s catalog of ancestry evidently is intended to be an historical outline.“ Vgl. C. WESTERMANN, Genesis 1-11 (BKAT I/1; Neukirchen-Vluyn, 1974), 9f. 97 Gegen J.M. JONES, „Subverting the Textuality of Davidic Messianism: Matthew’s Presentation of the Genealogy and the Davidic Title“, CBQ 56 (1994), 263: „[T]his genealogy concerns itself with people, not with events.“

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giösen Funktionen, die Genealogien konkret erfüllen konnten (s.o. S 217ff), kommen für die Leser/innen der matthäischen Genealogie nur wenige in Betracht. Dabei ist die konkrete Funktion bereits an der äußeren Form der Genealogie ablesbar98. „Horizontale Genealogien“, die verschiedene parallel verlaufende Geschlechterfolgen auflisten, wurden eher zur Beschreibung von sozio-politischen Gruppen- und Familienverhältnissen verwendet, während „lineare Genealogien“, die nur eine Linie von Vorfahren oder Nachkommen erwähnen, vornehmlich religiösen oder politischen Legitimierungszwecken dienten99. Da sich bei der linearen, chronologisch vorwärts laufenden Genealogie von Mt 1,2-16 schon von der äußeren Form her die Funktion der Legitimation nahelegt100, ist sie als ein wichtiges Mittel direkter Charakterisierung zu werten. Das heißt: Durch die genealogische Zusammenfassung der Geschichte Israels, wie sie sich auf Jesus zubewegt, wird eine christologische Aussage gemacht. b) Regelmäßigkeit und „Synkopierung“: Der matthäischen Genealogie mangelt es in ihrer sturen Regelmäßigkeit an jeder textuellen Bezugnahme zu ihren Leser/innen: Wir finden keine Form der Anrede, keine Fragen oder Negationen, keine Anspielungen, Vergleiche oder Analogien. Allerdings finden sich inmitten dieser stetig vorwärts treibenden Struktur auch synkopische Elemente101, die an neun Stellen den im mündlichen Vortrag ganz besonders monoton klingenden Rhythmus durchbrechen102. Dadurch wächst die Genealogie zu einem vielschichtigen Gebilde, in dem mehrere Geschichten gleichzeitig „erzählt“ werden: Die „Hauptgeschichte“ erklingt in dem 39maligen X (dè) hegénnjsen tòn Y, das sich gezielt von Abraham über die königlichdavidische Linie auf Jesus zubewegt. Doch werden die Rezipierenden durch bewußte Durchbrechungen des genealogischen Gefüges auf weitere, für das Verständnis der Person Jesu relevante Gleise geführt. Diese „Synkopen“ sind 98 WILSON, „OT Genealogies“, 179. In bezug auf die Tradierung von genealogischem Material ist WILSON, Genealogy zu dem Schluß gekommen, daß in oralen Kulturen die Form einer Genealogie je nach Bedarf wechseln kann, so daß zwei verschiedene Genealogien koexistieren können, ohne daß diese als einander ausschließend gedacht würden (166). 99 WILSON, „OT Genealogies“, 180; Genealogy, 194. 100 LUZ, I,93. 101 Ich benutze die Metapher der „Synkope“ nicht im grammatikalischen Sinne (= Verkürzung eines Buchstabens oder einer Silbe), sondern im musikalischen (= rhythmische Störung der normalen Betonungsordnung). 102 Die betreffenden Stellen sind: 2c: „(Juda) und seine Brüder“; 3a: „(Perez) und Sarah von Tamar“; 5a: „(Boas) von Rahab“; 5b: „(Obed) von Rut“; 6a: „(David), den König“; 6b: „(Salomo) von der des Uria“; 11: „(Jojachin) und seine Brüder zur Zeit der Wegführung nach Babylon“; 12a: „Nach der babylonischen Gefangenschaft“; 16: „(Josef), den Mann Marias, durch die Jesus geboren wurde, der Christus genannt wird.“ Die Nennung von Frauen ist besonders auffällig (vgl. dazu den Exkurs unten S. 243ff). MUSSIES, „Parallels“, 37 weist darauf hin, daß Aszendenztafeln (wie Lk 3,23-38) in der Regel keine Erweiterungen aufweisen; während Deszendenztafeln (wie Mt 1,2-16) selten ohne Unterbrechungen sind.

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aus zwei Gründen für die Eruierung der Lese-Erfahrung von Bedeutung: a) Die Intention der Genealogie erschöpft sich nicht darin, mittels „trockener Information“ die Aussage in 1,1 genealogisch zu untermauern. In diesem Falle würde das Ökonomieprinzip eine Beschränkung auf die Namen, die für die Erreichung dieses Ziels notwendig sind, erfordern. Der Überschuß an Information führt aber deutlich über das bloße genealogische Beweisenwollen hinaus. b) Als „Unterbrechungen“ im gewohnten Gang der Geschichte machen sie erst richtig Sinn, wenn die Genealogie für Leser/innen konzipiert ist, die mit einigen Gestalten, Episoden und Ereignissen aus dem Alten Testament vertraut sind, die also durch diesen „Informationsüberschuß“ sich dazu anregen lassen, narrative Leerstellen auszufüllen und über die „Hauptgeschichte“ hinauszudenken. Daher soll diesen auffälligen „Zwischentönen“ im Hinblick auf die christologische Relevanz der gesamten Genealogie eine ganz besondere Aufmerksamkeit geschenkt werden. c) Abweichungen der Form: a) Die weithin unkommentierte Erwähnung von weniger ruhmreichen Episoden aus der Vergangenheit der genannten Personen (Juda-Tamar, Prostituierte Rahab, David-Batseba) entspricht nicht den Erwartungen innerhalb einer enkomiastischen Tradition103. Damit setzt die matthäische Genealogie einen gewissen „parodisierenden“ Akzent besonders im Hinblick auf ihre legitimierende Funktion; d.h. der Text partizipiert an der genealogischen Konvention seines Umfeldes, distanziert sich aber zugleich diskret davon, so als ob die Relevanz des genealogischen Nachweises eingeschränkt werden sollte104. b) Eine weitere Auffälligkeit der matthäischen Genealogie ist ihre Tiefe, die von Jesus über vierzig Generationen zurück-

103 Johannes Chrysostomus, der noch in einem Umfeld lebte, in dem Genealogien eine wichtige Rolle spielten, erahnt diesen Formbruch, wenn er bei der Erwähnung Tamars aufschreit: „Wie! Der Evangelist erwähnt sogar die Geschichte eines Ehebruches? Und was verschlägt dies? Hätten wir die Familiengeschichte eines gewöhnlichen Menschen zu erzählen, so möchte man derlei wohl mit Recht übergehen. Wenn es sich aber um den menschgewordenen Gott handelt, so darf man nicht nur nicht davon schweigen, sondern muß es noch ganz besonders hervorheben, damit so Gottes Vorsehung und Allmacht deutlich hervortreten. Denn darum ist er ja gekommen, nicht um unserer Schmach zu entrinnen, sondern um uns von ihr zu befreien.“ Daher sollen auch wir „Schlechtigkeit unserer Vorfahren uns nicht scheu … verbergen, sondern nur eines … suchen, die Tugend.“ (In Matthaeum 3,2 = PG 57,37f = BKV 23,46-48) Er versteht die Genealogie als eine Art Ironisierung jüdischer Genealogien und als implizite Kritik an dem damit verbundenen Verdienstgedanken. Sieht man einmal von dem antijüdischen Element ab, das Chrysostomus als Negativfolie für die Paränese gebraucht bzw. mißbraucht, begegnet ein wichtiger Gedanke: Die Erweiterungen in der Genealogie wirken in einer Kultur, die auf eine möglichst makellose Ahnenreihe Wert legt, befremdend. Hier kann uns Chrysostomus einen Weg zur Erst-Rezeption weisen. 104 Die rabbinische Tradition verschleiert selbstverständlich auch nicht die „Sünde“ der messianischen Vorfahren Juda und David, aber sie listet Namen nicht unkommentiert auf, sondern versucht durch geschichts-teleologische Umdeutungen die Schuld dieser großen Männer zu relativieren. Der mt. Genealogie fehlt jeder Entschuldigungsmechanismus.

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reicht105; d.h., daß der bewußte Ansatz mit Abraham eine Bedeutung hat, die über die bloße Legitimierung Jesu als messianischer Davidide hinausreicht. g) In der Regel unterscheidet man zwischen einer Aszendenztafel, in der der „Proband“ an die Spitze seiner Vorfahren gestellt wird106, und einer Deszendenztafel, in der der „Proband“ an der Spitze seiner Nachkommen erscheint107. Die matthäische Genealogie wäre formal als Deszendenztafel ein Familienverzeichnis Abrahams, aber da nach 1,1 der Proband Jesus an der Spitze seiner Vorfahren steht, handelt es sich um eine seltsame Mischform108. Aufgrund ihrer intertextuellen Kompetenz mögen manche Leser/innen dies als auffällig empfunden haben: Durch den Messias Jesus gewinnt die Geschichte Israels ein neues Telos, auf das alles sich trotz mancher Verzweigungen von Generation zu Generation hinbewegt109. Die großen Ahnväter sind Verbindungsglieder auf dem Weg zum Messias. Da stellt sich die Frage: Wer adelt wen? Die Genealogie Jesus oder Jesus die Genealogie? Die Genealogie setzt nicht nur Jesus in Verhältnis zur Geschichte Israels, sondern auch die Geschichte Israels in Verhältnis zu Jesus110. Wenn wir berechtigterweise davon ausgehen, daß ein Autor sein Publikum nicht gleich am Anfang verlieren will, welches Publikum außer ein christliches (oder ein dem christlichen Glauben sehr nahe stehendes) wäre denkbar, das an einer solchen christozentrischen Umformung der Gattung keinen Anstoß nehmen sollte? d) Bemerkungen zum Leserprofil: Der narrative Adressat der matthäischen Genealogie lebt in einer kulturellen Umgebung, in der Genealogien zur Legitimierung von Personen eine wichtige Rolle spielen und in der die Rechtmäßigkeit des Messias auch von seiner Herkunft abhängig ist. Die „christoteleologische“ Struktur der Genealogie deutet an, daß die Rezipierenden eher in einem christlichen Umfeld zu suchen sind. Diese sind derart mit Eckdaten der Geschichte Israels vertraut, daß sie die genealogischen Erweiterungen sinnvoll mit narrativem Hintergrundwissen auffüllen können111. Sie kennen 105 WILSON, „Genealogies“, 179 bemerkt, daß lineare Genealogien im Höchstfall 19 Generationen umfassen, aber in der Regel kürzer sind. 106 Vgl. Tob 1,1; Bar 1,1; LibAnt 42,1; Lk 3,23-38. 107 Vgl. Gen 5,1; 6,7; 10,1; 11,10.27. 108 FRIIS PLUM, „Genealogy as Theology“, 88, Anm. 44: „‚Toledot‘ in the Old Testament belongs to the ancestor, not to the person, whose descent is to be mapped out as in this case.“ 109 PATTE, 18: „This departure from biblical usage shows that Jesus is presented as the fulfillment of the sacred history of Israel and that Jesus as fulfillment is more important than those who precede him. … This first twist of the readers’ expectation begins to specify in which sense Jesus is extraordinary.“ 110 Ähnlich GARDNER, 28. 111 Daß das autoriale Publikum dieses Wissen aus dem AT hat, wird m.E. schon daran deutlich, daß, sobald die genealogische Linie über die Grenzen des ATs hinausläuft (Serubbabel in 1,12 ist der letzte im AT belegte Name), keine weitere Erläuterung mehr vorkommt. Selbst Strukturalisten, die sonst zu den konsequentesten Vertretern der Textimmanenz zählen, müssen dieses Prinzip durchbrechen, weil eine solche Kompetenz „zu den Verständnisvor-

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also die Patriarchengeschichte, auch mit ihren Schattenseiten (Gen 38: Juda und Tamar), sie wissen um Rahab (Jos 2) und Rut, sie sind mit der Geschichte Davids vertraut, und zwar nicht nur in der Chronikfassung (ein Bezug zu 1Chr 1-9 ist möglich), sondern auch in der Samuelfassung, denn nur hier wird Davids Ehebruch mit der Frau des Uria erzählt (2Sam 11), und schließlich wissen sie mit dem Stichwort „Wegführung nach Babylon“ etwas anzufangen. Von dieser textuellen Kompetenzerwartung läßt sich m.E. die intendierte Leserschaft in einem jüdisch geprägten Umfeld lokalisieren. Gerade an einem solchen Ort erweist sich der genealogische Nachweis als ein wichtiger Baustein in der Verteidigung der Messianität Jesu. Ob allerdings die intentio operis sich, wie oft angenommen, auf diese apologetische Komponente reduzieren läßt, möchte ich eher anzweifeln112, denn gerade die synkopischen Elemente, die eine gewisse Distanz zu diesem genealogischen Beweisschema schaffen, zeigen, daß der Text entweder mit Leser/innen rechnet, deren Interessen nicht nur oder nicht mehr rein genealogisch-apologetischer Art sind, oder aber zu einer solchen Horizonterweiterung führen will. 2.2.2.2 Lektüre113 1,2 Die gattungsgeschichtliche Betrachtung hat deutlich gemacht, daß die Abfolge von Titel und Genealogie zunächst stabilisierend auf die Erwartungshaltung der Rezipierenden wirkt. Die Genealogie beginnt erwartungsgemäß mit den drei Patriarchen Abraham, Isaak und Jakob, gefolgt von Juda und seinen Brüdern. Intratextuell markiert der Name Abraham einen Rückbezug zu 1,1 und deutet den Titel „Abrahamssohn“ im offensichtlichen Sinne physischer Abstammung. Da dies aber bereits im Titel „Davidssohn“ impliziert ist, behält der Abrahamssohn-Titel weiterhin einen Sinnüberschuß. Der genealogische Weg über Juda ist insofern bedeutend, als dieser Name mehr als der jedes anderen der zwölf Stammesväter in der alttestamentlich-jüdischen Tradition mit messianischen Vorstellungen verbunden wurde und daher an dieser Stelle ein aussetzungen des dem Verf[asser] und seinem Leser gemeinsamen Codes“ gehört (SCHNIDER/STENGER, „Frauen“, 193). 112 Vgl. auch J. DE FREITAS F ERREIRA, Conceiçâo Virginal de Jesus (Analecta Gregoriana 217/B Nr. 69; Rom, 1980), 83-9; G. STRECKER, Der Weg der Gerechtigkeit: Untersuchung zur Theologie des Matthäus (FRLANT 82; Göttingen, 1962), 54. 113 FRANKEMÖLLES rezeptionskritische Auslegung der Genealogie (137-47) behandelt diesen Text nicht in seiner linearen Form: Erst werden 1,17 und dann die Erweiterungen und Abweichungen in thematischer Folge (David als König, 1,16, Nennung von Brüdern, Frauen) ausgelegt, um schließlich nach der Intention des Autors zu fragen. Ähnlich verfährt er in anderen Abschnitten seines sonst sehr anregenden Kommentars. Mir scheint, daß hier charakteristische Züge rezeptionskritischer Fragestellungen nicht beachtet worden sind: Die strenge Linearität der Lektüre und der Verzicht auf eine Bindung der Lektüre an die Intention des Autors, wenn diese im Text nicht ausdrücklich markiert ist.

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wichtiges Mittel für die Charakterisierung Jesu als Messias Israels darstellt114. Daß neben Juda auch seine Brüder genannt werden, gehört zu den auffälligen, aber wenig beachteten Unterbrechungen des Textes. Da in Mt 1,11 ein ähnlicher Fall vorliegt (s.a. 1,3: „Perez und Serach“), ist eine kurze Erklärung notwendig. Brüder als anonymes Kollektiv werden in den atl. Genealogien selten erwähnt. In 1Chr 1-9 erscheinen die „Brüder“ einige Male, wenn ihre geschichtliche Rolle im Rahmen der besonderen Schwerpunkte der Genealogie im Vergleich mit dem Genannten als gering zu beurteilen ist115. Im Falle Judas lenkt die Nennung der Brüder nicht nur den Blick auf Gesamtisrael116, sondern macht den Rezipierenden deutlich, daß die messianische Linie über Juda und nicht über den ältesten Sohn Ruben läuft117. Da Stammbäume meistens ein besonderes Interesse am ältesten Sohn haben, findet sich bereits in der Stammesliste Rubens in 1Chr 5,1-10 eine kurze Notiz zur herausragenden Rolle Judas, die auch auf Mt 1,2 eingewirkt haben könnte: „Juda erlangte nämlich die Herrschaft über seine Brüder, und einer aus ihm wurde der Fürst [gemeint ist David], obwohl das Erstgeburtsrecht [LXX: Segen] bei Josef war“ (5,2). Dieses Motiv der geschichtlichen Vorrangstellung jüngerer Geschwister könnte auch im Falle von 1,11 eine Rolle spielen (s.u. S. 234).

1,3a Die Genealogie nimmt ihren Verlauf über die Zwillinge Perez und Serach118. Hinter diesen beiden Namen verbirgt sich eine Geschichte, die keineswegs zum messianischen Glanz des Juda zu passen scheint. Der die genealogische Ordnung durchbrechende Name Tamars aktiviert die narrative Vorstellungskraft der Rezipierenden und ruft mit Gen 38 eine Erzählung in ihr Gedächtnis, auf die in der jüdischen Tradition häufig Bezug genommen wird. Da die „En114

Der Basistext für diesen „enzyklopädischen Eintrag“, wie es ECO nennen würde, ist der Segen Jakobs über Juda in Gen 49,10 (vgl. P. FEGHALI, „Le Messie de Juda: Gn 49,8-10 dans saint Éphrem et les traditions judaïques“, La vie de la parole [FS P. Grelot; Paris, 1987], 165-172). Vgl. weiterhin 1Chr 5,2; Gen 49,10 LXX; 4QpGena (= 4Q252) 5,1-7 (= Maier, II,198; vgl. zur Deutung F. GARCÍA MARTÍNEZ, „Messianische Erwartungen in den Qumranschriften“, JBTh 8 [1993], 174-7); TestJud 1,6; 17,6; 21,2; 22,1-3; Offb 5,5 und die späteren Targumim (TPsJ zu Gen 49,11 = Bill., IV, 877f; GenRab 98 zu Gen 49,10 = Bill IV,879; bSanh 98b = Bill. I,65f; vgl. M. PÉREZ FERNÁNDEZ, Tradiciones mesiánicas en el Targum Palestiniense [Valencia, 1981], 123-144; R. SYRÉN, The Blessings in the Targums [AAA.H 64/1; Abo, 1986], 101-19). 115 Vgl. 1Chr 4,9 („Jabez war angesehener als seine Brüder“); 4,27 („doch seine [= Schimi vom Stamm Simeon] Brüder waren nicht kinderreich, und alle ihre Sippen erreichten nicht die Zahl der Söhne Judas“); 5,2.7.13. 116 So HAGNER, I,10. 117 BLANCO P ACHECO, „Mujeres“, 19; G REEN , 52. 118 Perez und Serach erscheinen oft nebeneinander (z.B. Gen 38,29f; 46,12; 1Chr 2,4; Jub 41,21; Jos., Ant 2,178). Die Nennung des Zwillingsbruders könnte hier ähnlich wie in 1,2 ein Hinweis darauf sein, daß die Messiaslinie nicht über den ältesten Sohn Judas läuft (BLANCO PACHECO, „Mujeres“, 19). Als Messiasvorläufer war Perez für die rabbinische Deutung von Interesse (s. M. PÉTIT, „Exploitations non-bibliques des thèmes de Tamar et de Genèse 38: Philon d’Alexandrie, textes et traditions juives jusqu’aux Talmudim“, ALEXANDRINA [FS P.C. Mondésert; Paris, 1987], 99f).

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zyklopädie“ im Falle der Tamar besonders interessant ist und in vielen Punkten deutlich von der späteren christlichen Wahrnehmung dieser Episode abweicht, möchte ich exemplarisch etwas ausführlicher darauf eingehen119: Der intertextuelle Verweis auf Gen 38 ist von seinem alttestamentlichen Erzählziel her insofern nicht unberechtigt, als es dort um den äußerst verzweigten Verlauf geht, der die Weiterführung der Familienlinie Judas ermöglicht. Durch den frühen Tod von zwei seiner insgesamt drei Söhne und den Tod seiner Frau hängt die Nachkommenschaft Judas an einem seidenen Faden. Aus seiner Perpektive geht die Bedrohung jedoch von Tamar aus. Dem mächtigen Patriarchen tritt die kinderlose Witwe gegenüber, die durch ihren kühnen Einsatz (sie verführt Juda als Prostituierte verkleidet) ihr Leben gefährdet, aber schließlich die Weiterführung der genealogischen Linie „erzwingt“. Ihr unorthodoxes Vorgehen wird nicht moralisch getadelt, vielmehr erweist sich Juda als der Schuldige und bekennt (38,26a): „Sie ist im Recht mir gegenüber (yˆ…nR;mIm h∂q√dDx), weil ich sie meinem Sohn Schela nicht gegeben habe.“ Wie ist diese ungewöhnliche Geschichte später gedeutet worden?120 1. Der Umgang mit der Schuld Judas: In der jüdischen Wahrnehmung dieses Textes gibt es kein einheitliches Bild der Schuld Judas. Die LXX-Fassung von Gen 38,26a macht mit der Perfektform anstelle des hebräischen Komparativs (dedikaíwtai Qamar ’j heg´w) deutlich, daß Tamar aufgrund ihrer Handlung gerechtgesprochen worden ist121. Die Darstellung in Jub 41 baut die Schuld Judas aus, sieht aber darin vor allem ein sexuelles Vergehen, welches vergeben wird, weil Juda so inständig fleht und Tamar noch Jungfrau war (vgl. 41,23-28; s.a. TestJud 12,1-12)122. Entlastungsversuche gibt es natürlich auch: Das beginnt schon damit, daß die Ehe zwischen Tamar und dem letzten Sohn nicht aufgrund eines Wortbruchs des Patriarchen vereitelt wurde, sondern aufgrund der Intrigen seiner kanaanitischen Frau (Jub 41,2.7; TestJud 10,6). Der fiktive Ich-Erzähler aus TestJud erscheint dann vollends als ein tragischer Held 123, dessen Schicksal von Alkohol, jugendlicher Begierde und Frauen negativ bestimmt wird (8,2; 11,1-4; 13,3-8; 14,6) und der im Alkoholrausch Opfer

119

Vgl. zur Figur der Tamar und zur Nachgeschichte von Gen 38: R. BAUCKHAM, „Tamar’s Ancestry and Rahab’s Marriage“, NT 37 (1995), 314-20; R. BLOCH, „‚Juda engendra Phares et Zara, de Tamar‘ (Mt 1,3)“, Mélanges Bibliques (FS André Robert; Paris, 1957), 381-389 (wichtiges Korrektiv zu Bill., I,15-18); H.L. GINSBERG, „Tamar“, EJ 15 (1971), 782f; C.E. HAYES, „The midrashic career of the confession of Judah (Genesis 38,26)“, VT 45 (1995), 62-81.174-87; JOHNSON, Purpose, 270-2; E.M. MENN, Judah and Tamar (Genesis 38) in Ancient Jewish Exegesis (Supplements to JSJ 51; Leiden, 1997); PÉTIT, „Exploitations“ (beste Darstellung!); C. WASSÉN, „The Story of Judah and Tamar in the Eyes of the Earliest Interpreters“, Literature and Theology 8 (1994), 354-66. 120 Josephus überspringt in seiner Nacherzählung des ATs Gen 38. 121 Damit steht die LXX wesentlich näher an der alttestamentlichen Darstellung als der Targum Onkelos, der übersetzt: „Sie ist unschuldig/gerecht. Von mir hat sie empfangen, weil ich ihr meinen Sohn Schela nicht gegeben habe.“ Der für Juda ungünstige Vergleich zwischen Juda und Tamar wird aufgelöst (vgl. HAYES, „Midrashic career“, 70-80). 122 HAYES, „Confession“, 67-9; WASSÉN, „Story of Judah“, 359-62. BERGER, JSHRZ, 515.520 weist darauf hin, daß das Ende der sieben fruchtbaren Jahre durch die Verknüpfung mit Jub 41,22 als Strafe für Judas Vergehen gedeutet wird. 123 Vgl. ausführlich dazu MENN , Judah and Tamar, 107-213 (mit einem instruktiven Vergleich zwischen Juda und Herakles).

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einer Täuschung wird (12,3.5f; 14,5). Daraus lernt Juda nicht nur, wie gefährlich Wein ist (14,4-6), sondern vor allem die im gnomischen Präsens ausgedrückte allgemeingültige Wahrheit, daß das weibliche Geschlecht grundsätzlich eine Gefahr für einen Mann darstellt (15,5f)124. Die im rabbinischen Judentum verbreitete Interpretation Judas als Messiasvorläufer fordert eine umfassende geschichtsteleologische Entschuldigung des Patriarchen: Hinter diesem merkwürdigen Geschehen verbirgt sich Gottes auf den Messias hin lenkende Hand 125. 2. Die Bedeutung Tamars: Tamar wird schon innerhalb des ATs zum Sinnbild für eine Frau, die durch ihre Mutterschaft das Haus Israel baut, und wird daher auf eine Stufe mit Rahel und Lea gestellt (Rut 4,11f). LibAnt 9,5f legt Amram, dem Vater Moses, eine Ermutigungsrede an seine Mit-Israeliten in den Mund, in der Tamar als Verhaltensmodell für das kreative Beharren auf Nachkommenschaft in schweren Zeiten und damit wie Abraham und Amram selbst als Symbol für tätige Bundestreue erscheint126. Die Bezeichnung Tamars als „unsere Mutter“ läßt sie als weibliches Pendant zu Abraham erscheinen 127. Ähnlich zeigt Philo anhand der Figur Tamars, daß eine Frau aus einer heidnischen Familie ebenso wie Abraham wahren Adel durch Tugend erlangen kann (Virt §219-222); sie verkörpert die tugendsame Witwenschaft (Imm §137), die verschleierte und jungfräuliche Weisheit (Congr §124-126), den Sieg (All III §74; Imm §137: Tamar = „Palme“), die unbesiegbare Tugend (Fug §149; s.a. Mut §132-6), „das schönste Besitztum, die Frömmigkeit“ (Fug §150) und die wahrhaft gebildete und weise Seele, die „sich durch Anstand, Besonnenheit und

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Im Hinblick darauf, daß eine Frau in ihrer Macht zur Verführung immer eine Gefahr für den Mann darstellt, stehen Bet-Schua und Tamar auf der gleichen Stufe (13,3). Vgl. zur androzentrischen Perspektive dieser Darstellung Tamars bes. WASSÉN, „Story of Judah“, 355-9 und allgemein zum Topos der Frau als sexuelle Gefahrenquelle L.J. ERON, „‚That Women Have Mastery Over Both King and Beggar‘ (TJud 15.5): The Relationship of the Fear of Sexuality to the Status of Women in Apocrypha and Pseudepigrapha“, JSP 9 (1991), 43-66. 125 Vgl. die Texte in Bill., I,15-18 und D.U. ROTTZOLL, Rabbinischer Kommentar zum Buch Genesis (SJ 14; Berlin, 1994), 438-52. BLOCH, „Juda“, 382: „La tradition juive est unanime à mettre en relief le caractère providentiel de cette histoire et s’attache à en dégager le sens profond dans les desseins de Dieu.“ Typisch TanchB §13 = 92b: „Ein Buhler, der belohnt wurde, war Juda; denn von ihm erstanden Pereç und Cheçron, die David und den König, den Messias, stellen sollten, der Israel erlösen wird. Sieh wieviel Umwege Gott machen … mußte, bevor er den König, den Messias, aus Juda erstehn lassen konnte.“ (= Bill I,16) Im TFrag spricht die Himmelsstimme beide von jeder Schuld frei: „Ihr beide seid unschuldig, von mir ist die Sache ausgegangen.“ 126 Vgl. B. HALPERN-A MARU , „Portraits of Women in Pseudo-Philo’s Biblical Antiquities“, „Women Like This“, ed. A.-J. Levine (SBL Early Judaism and its Literature 1; Atlanta, 1991), 92. Insgesamt hebt sich die Darstellung in LibAnt von den deutlich androzentrischen Nacherzählungen in Jub und TestJud ab, zumal hier im Gegensatz zu den anderen beiden Werken Tamar und nicht Juda im Mittelpunkt steht (vgl. WASSÉN, „Story of Judah“, 362.364f). 127 P.W. VAN DER HORST, „Portraits of Biblical Women in Pseudo-Philo’s Liber Antiquitatum Biblicarum“, Essays on the Jewish World of Early Christianity (NTOA 14; Fribourg; Göttingen, 1990), 112 weist darauf hin, daß eine solche Bezeichnung für eine biblische Frauengestalt in der atl.-jüd. Literatur analogielos ist (vgl. aber Sarah in Gen 17,15f; Jes 51,2).

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die übrigen Tugenden auszeichnet“ und „einem einzigen Manne anhängt, eines Mannes Hause treu bleibt und an der Monarchie Gefallen hat“ (§154)128. Im Rabbinat gilt sie als moralisches Beispiel, weil sie „züchtig verhüllt im Hause ihres Schwiegervaters lebte“ und daher als würdig angesehen wurde, daß aus ihr „Könige und Propheten“ (David und Jesaja!) hervorgehen (bMeg 10b = Bill. I, 18). 3. Herkunft Tamars: Die Herkunft Tamars gehört zu den vielen Leerstellen in Gen 38. Jub 41,1f und TestJud 10,1.6 klären diese Frage dahingehend, daß sie von Aram abstammt. Ob sie damit als Aramäerin zu gelten hat, wie oft behauptet wird, ist keineswegs so deutlich, da zwei potentielle Ahnen gleichen Namens in Frage kommen 129. Der Ausdruck „von den Töchtern Arams“ aus Jub 41,1 erscheint bereits in 35,20 in bezug auf die Frau Levis mit der ausdrücklichen Präzisierung, daß es sich um einen Nachkommen Terachs handelt 130. Es ist also durchaus denkbar, daß Tamar ähnlich wie andere Patriarchenehefrauen als aus dem familiären Umfeld Abrahams stammend gedacht wurde131. In LibAnt 9,5 nimmt Amram Tamar in Schutz, „weil ihre Absicht nicht in Hurerei bestand; sondern da sie nicht weichen wollte von den Söhnen Israel, überlegte sie und sprach: „Besser ist es mir, (fleischlich) vermischt mit meinem Schwiegervater zu sterben, als mich mit Heiden (gentes) zu vermischen.“132 Aus der erstaunlichen Tatsache, daß Tamar zum Vorbild für die konsequente Ablehnung der Mischehe wird 133, ist wohl zu schließen, daß Pseudo-Philo sie als Vollmitglied des jüdischen Volkes betrachtet134. Als Kanaaniterin deutet sie Philo, wenn er Tamar aus dem syrischen Palästina stammen läßt, wobei diese geographische Angabe auch der Paralleliserung Tamar/Abraham dient (Virt §221)135. Die spätere rabbinische Tradition sieht in Tamar eine Frau aus dem priesterlichen Geschlecht Sems (Sem ist rabbinisch identisch mit Melchisedek)136.

128

78-88.

129

Übersetzung nach Cohn u.a. VI,88-90. Zu Tamar in Philo vgl. PÉTIT, „Exploitations“,

Die Aramäer stammen von Aram, dem Sohn Sems, ab (Gen 10,22; Jub 7,18; 9,5). Daneben gibt es einen Aram, der über Nahor von Terach, dem Vater Abrahams, abstammt (Gen 22,21; Jub 34,20). Historisch handelt es sich wohl um zwei genealogische Verortungen ein und der gleichen Person. 130 Terach gilt in der jüdischen Tradition seit Jub 12,1ff als Götzendiener (vgl. Bill., III,194). 131 Ausführliche Begründung in BAUCKHAM, „Tamar’s Ancestry“, 314-18. Ihm folgt NOLLAND, „Women“, 535, Anm. 26. 132 = Dietzfelbinger, 124. 133 Ein „Lieblingsthema“ Pseudo-Philos (vgl. z.B. 18,13f; 21,1; 30,1; 43,5; 44,7; 45,3), das anhand der Figur Tamars erstmalig eingeführt wird. 134 Vgl. HORST, „Portraits“, 113. Vorsichtiger BAUCKHAM, „Tamar’s Ancestry“, 319, der auch die Möglichkeit erwägt, daß sie als Proselytin galt (so Philo, Virt §220-222 und bSot 10a = Bill., I,16). Interessant ist aber die Ähnlichkeit zu einer späteren rabbinischen Tradition, in der die Ankündigung der Verbrennung Tamars (Gen 38,24) als Beispiel für das frühe Verbot der sexuellen Vereinigung einer Israelitin mit einem Heiden angeführt wird (bAZ 36b = Bill., I,298; s. PÉTIT, „Exploitations“, 101.104.107). 135 Vgl. PÉTIT, „Exploitations“, 79f. 136 Vgl. die Texte in Bill., I,16f. JOHNSON, Genealogies, 271 denkt, daß diese Deutung Tamars bereits im 1. Jh. n. Chr. geläufig war, aber BAUCKHAM, „Tamar’s Ancestry“, 319 weist m.E. zu Recht darauf hin, daß dies keine Relevanz für die mt. Genealogie hat.

Hypothetische Erst-Rezeption

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Fazit: Trotz der unterschiedlichen Deutungen Tamars wird ihr Handeln nirgendwo geahndet, auch wenn in einigen Fällen die Brisanz der Geschichte durch Versuche, Judas Schuld zu entlasten, entschärft wird. Tamar steht als eine für den Bau des Volkes Israels wichtige Frau in der Nähe der Patriarchenehefrauen. Die Frage ihrer Herkunft wird nicht eindeutig geklärt, doch die Zeugnisse stimmen mehrheitlich darin überein, in ihr eine Heidin zu sehen (ausgenommen vielleicht LibAnt).

Da die Frage nach der Herkunft Tamars in der alttestamentlich-jüdischen Literatur eher nebensächlich zu sein scheint und da ich davon ausgehe, daß die Genealogie die Aufmerksamkeit auf Geschichten und nicht auf isolierte Individuen lenken will, soll der Name Tamars nicht bereits im Licht der Heid/innen-Thematik gedeutet werden. Den Hörer/innen sprang nicht eine Frau in ihrer Funktion als Heidin ins Auge, sondern in ihrer Funktion als Verdichtung einer alttestamentlichen Erzählung, die gedeutet werden konnte als Geschichte der Schuld Judas137, als Geschichte des mutigen Einsatzes einer Frau für das Fortbestehen der Familienlinie Judas oder als Geschichte der verwickelten Führung Gottes auf den Messias hin. Eine konkrete Gestaltbildung scheint mir an dieser Stelle nicht möglich. 1,3b-5 Nach dieser „Unterbrechung“ nimmt die Genealogie wieder ihren gewohnten Gang: Perez zeugte Hezron, gefolgt von Aram, Amminadab, Nachschon, Salmon und schließlich Boas (vgl. Rut 4,18-20 LXX). Dort angelangt, wird die Reihe durch die Nennung von gleich zwei Frauen „gestört“: die Kanaaniterin Rahab138 und die Moabiterin Rut (1,5). Nicht nur die unmittelbare Nähe beider Frauen zueinander, sondern auch die Alliteration ihrer Namen weist

137

J. P. HEIL, „The Narrative Roles of the Women in Matthew’s Genealogy“, Bib 72 (1991), 540: „The explicit mention of Tamar, then, reminds the reader that sinfulness was connected with the Davidic kingship from its very beginning with Judah.“ 138 Die mt. Schreibung H Racab statt des in der LXX und bei Josephus üblichen H Raab hat Anlaß zu der Vermutung gegeben, daß es sich hierbei nicht um die berühmte Prostituierte aus Jericho, sondern um eine sonst unbekannte Rahab handeln könnte. Bereits Origenes schrieb: „Es wird auch eine Frau namens Rachab erwähnt… Sie ist unbekannt (‘asemoß o~usa) und wird sonst nirgendwo in der Schrift erwähnt. Deshalb behaupte ich, daß sie auf dem Weg der Erfindung (hapò mjcan´jmatoß) in das Evangelium gelangt ist.“ (Mt-Fragment 6 = Klostermann/Benz, 17 = dt. G. BROSZIO, Genealogia Christi: Die Stammbäume Jesu in der Auslegung der christlichen Schriftsteller der ersten fünf Jahrhunderte [Bochumer Altertumswissenschaftl. Colloquium 18; Trier, 1994], 60f). Diese Position, die neuerdings von J.D. QUINN, „Is H RACAB in Mt 1,5 Rahab of Jericho?“ Bib 82 (1981), 225-8 vertreten worden ist, scheitert m.E. an der mangelnden Plausibilität der Annahme, daß zu den drei das genealogische Schema durchbrechenden bekannten Frauennamen der Name einer vollkommen Unbekannten hinzutreten sollte (vgl. R.E. BROWN, „Rachab in Mt 1,5 Probably Is Rahab of Jericho“, Bib 63 [1982], 79-80). Der Text, so wie er im mündlichen Vortrag geklungen hat, kann es nicht verhindern, daß man an die alttestamentliche Rahab denkt, zumal das frühe Christentum ein reges Interesse an dieser Frau hatte (Hebr 11,31; Jak 2,25; 1Clem 12,1.3; Justin, Dial 111,4).

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Rezeptionskritische Auslegung von Matthäus 1-2

die Rezipierenden an, nach den beide Frauen verbindenden Merkmalen zu suchen139. Da die Sachlage hier eindeutiger ist als im Falle Tamars, reicht ein kurzer Blick in die hierfür relevante alttestamentlich-jüdische Literatur140: Im Gegensatz zu Juda und Tamar treten im Falle von Rahab-Salma und Rut-Boas die Männer vollkommen in den Hintergrund. Vom atl. Erzählkontext her (Jos 2,1-21; 6,22-25; Rut) ist es offensichtlich, daß beide Frauen als Heidinnen zu betrachten sind, die sich mit Mut und Beharrlichkeit in Bekenntnis und Taten mit Israel solidarisch zeigen (vgl. Jos 2,4-12; Rut 1,16b; 2,12) und schließlich Aufnahme in das Bundesvolk finden (Jos 6,25; Rut 4,11)141. Beide Frauen vertreten jeweils einen Aspekt der Tamar-Geschichte: Rut ist eine junge Witwe auf der Suche nach einer Regelung ihres Anspruches auf Nachkommenschaft (vgl. Rut 4,12!)142 und Rahab ist eine Prostituerte (Jos 2,1b: hÎnwøz; LXX: gun`j pórnj). Diese Gemeinsamkeiten sind nicht nur für das moderne Auge erkennbar, sondern führten auch im rabbinischen Schrifttum dazu, daß beide Frauen oft nebeneinander aufgeführt wurden 143. Sind die Gemeinsamkeiten deutlich, sollen noch beide Frauen einzeln betrachtet werden: 1. Rahab scheint erst für das rabbinische Judentum von größerem Interesse zu sein144, In der Nacherzählung des Josephus erscheint sie als Besitzerin eines Gasthauses (Ant 5,8)145. In rabbinischen Kreisen gilt sie als „Sexsymbol“ der alten Zeit, als eine der vier schönsten Frauen der Geschichte, die in ihren vierzig Jahren „Berufserfahrung“ mit allen wichtigen Fürsten und Herrschern ihrer Zeit zusammengekommen ist146. Dieser Blick in das lasterhafte Vorleben Rahabs dient vor allem dem Zweck, ihren Wandel zum Glauben Israels um so stärker hervorzuheben, denn

139 HEIL, „Narrative Roles“, 540. 140 Vgl. zu Rahab: BAUCKHAM, „Tamar’s

Ancestry“, 320-9; M.A. BEEK, „Rahab in the Light of Jewish Exegesis“, Von Kanaan bis Kerala (FS J.P.M van der Ploeg), ed. W.C. Delsman u.a. (AOAT 211; Kevelaer; Neukirchen-Vluyn, 1982), 37-44; Bill., I,20-3; F. LANGLAMET, „Rahab“, DBS 9 (1979), 1065-92; Y. ZAKOWITCH, „Rahab als Mutter des Boas in der Jesus-Genealogie (Mt 1,5)“, NT 17 (1975), 1-5. Zu Rut (neben den Kommentaren): D.R.G. BEATTIE, Jewish Exegesis of the Book of Ruth (JSOT.S 2; Sheffield, 1977); Bill., I,23-27; J.R. LEVISON, „Josephus’s Version of Ruth“, JSP 8 (1991), 31-44 (45-52: Antwort von L.H. FELDMAN). 141 Der Grund für Rahabs mutigen Einsatz liegt nach ihrer eigenen Aussage darin, daß sie davon gehört hat, wie Gott Israel geholfen hat (Jos 2,9f). Darauf spielt wahrscheinlich auch Jos., Ant 5,12 an: Sie weiß von dem Sieg Israels aufgrund bestimmter sjmeïa, die Gott ihr gegeben hat. 142 M. HALLER, „Ruth“, in M. Haller, K. Kalling, Die fünf Megilloth (HAT 18; Tübingen, 1940), 1: „Die Verwandtschaft zwischen den Taten der Ruth und der Tamar wird denn auch vom Verfasser des Büchleins Ruth ausdrücklich hervorgehoben (4,12). Beidemal erfolgt übrigens die Lösung des Pflichtenkonflikts letztlich gegen den anfänglichen Widerstand von außen (der Löser 4,1-4) auf dem gesetzmäßigen Weg der Schwagerehe.“ 143 Vgl. die Beispiele in ZAKOWITCH , „Rahab“, 2-4. 144 Philo und Jub erwähnen Rahab nicht. LibAnt 20,6-7 erzählt die Geschichte der Kundschafter, ohne Rahab zu erwähnen. 145 Damit folgt Josephus der palästinischen Interpretation, wie man sie auch im Targ zu Jos 2,1 findet (vgl. aber C. COHEN, „Rahab“, EJ 13 [1971], 1514, der das aramäische Wort für „Gasthausbesitzerin“ als Euphemismus für Prostituierte versteht). 146 Vgl. die Texte in Bill., I,20.

Hypothetische Erst-Rezeption

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in ihrem fünfzigsten Lebensjahr wurde sie Proselytin147. Die Ehe zwischen Rahab und Salma (= Salmon)148 ist weder im AT noch in uns erhaltenen jüdischen Quellen belegt149. Da der Text m.E. mit Rezipierenden rechnet, die bereit sind eine solche Verbindung zu akzeptieren, ist es nicht undenkbar, daß eine entsprechende Tradition bekannt war150. 2. Josephus erzählt die Geschichte Ruths (Ant 5,318-337) aus einer geschichtsteleologischen Perspektive, um zu zeigen, wie es Gott in seiner Macht möglich ist, einfache Menschen zur höchsten Würde zu erheben, womit wahrscheinlich ihre Einreihung in die Vorfahren Davids gemeint ist. Ähnlich wie Rahab gilt Rut als Prototyp einer gerechten Proselytin, die durch ihre Tat zur Voll-Israelitin wurde151. Ihre Rolle in der Ahnenreihe des Messias war providentiell vorherbestimmt 152.

Die Präsenz der Geschichte von zwei Heidinnen, die als Proselytinnen dem verheißenen Volk einverleibt werden, läßt sich als Realisierung der Abrahamsverheißung (Gen 12,3; 18,8; 22,18) verstehen. Es bleibt allerdings eine bloße Potentialität des Textes, ob die Leser/innen schon konkret an die Aufnahme von Heid/innen in die christliche Gemeinde gedacht haben (vgl. Gal 3,1-14; Apg 3,25)153. Der Abrahamssohn-Titel in 1,1 würde dadurch eine Tiefendimension erlangen, die den genealogischen Bereich übersteigt. In jedem

147 Vgl. Mekh Ex 18,1 (64b) = Bill., I,21. COHEN, „Rahab“, 1514; A.T. HANSON, „Rahab the Harlot in Early Christian Tradition“, JSNT 1 (1978), 54: „[R]abbinic tradition magnified Rahab’s profligacy, but this was only in order to bring out the wonder of her repentance.“ 148 Salma bzw. Salmon erscheint zwischen Nachschon und Boas in Rut 4,20f und 1Chr 2,11. Über seine Frau wird im AT nichts gesagt. 149 Belegt ist eine Tradition, wonach sie Josua geheiratet hat und dann die Ahnin von acht Propheten und einer Prophetin wurde (vgl. G INZBERG, Legends, 4 [1913], 5; 6 [1928], 171 Anm. 12). 150 Vgl. zu den möglichen hermeneutischen Gedankengängen, die zu einer solchen ehelichen Zusammenführung hätten führen können, BAUCKHAM, „Tamar’s Ancestry“, 322-9 und ZAKOWITCH, „Rahab“, 2. 151 Vgl. LibAnt 61,1: „Ruth aber erwählte sich die Wege des Allmächtigen und wandelte in ihnen“ (= Dietzfelbinger, 256). A. ROTHKOFF, „Ruth. In the Aggadah“, EJ 14 (1971), 522: „Ruth is regarded as the prototype of the righteous convert.“ In diesem Sinne deutet der Midrasch Rut (ca. 500 n.Chr.). 152 Vg. die Texte in Bill., I,26f. 153 Die christlich-typologische Deutung Rahabs als heilsgeschichtliches Sinnbild für die Aufnahme der Heiden in die Kirche findet sich explizit erst bei Irenäus Adv. haer. IV,20,12 (= SC 100, 674/375-377) und dann bei Origenes: „Es wurde auch eine Ruth erwähnt, die Moabiterin war. Dies geschieht, so sagten wir, damit die Moabiter, die nicht hineingelangen ‚in die Versammlung des Herrn (e˙ß hekkljsían kuríou) bis zur zehnten Generation und bis zur Ewigkeit‘ (Dtn 23,3), hineingelangen können in die Kirche Gottes (e˙ß t`j n hekkljsían toü qeoü) und mit jenen auch die, die ausgeschlossen sind (oÓ haforizómenoi), wenn sie dem Beispiel Ruths folgen (heàn mimjsámenoi), die die Israeliten nicht verlassen wollte, sondern sagte … [Zitat aus Rut 1,16f].“ (Fragment 6 = Klostermann/Benz, 17 = dt. BROSZIO, Genealogia, 60f) Vgl. J. DANIÉLOU, Sacramentum Futuri: Études sur les Origines de la Typologie Biblique (Paris, 1950), 217-232; A. FELBER, Ecclesia ex gentibus congregata: Die Deutung der Rahabepisode (Jos 2) in der Patristik (Dissertationen der Karl-FranzensUniversität 85; Graz, 1992), 41-51.

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Rezeptionskritische Auslegung von Matthäus 1-2

Fall deuten sich mit dem Hinweis auf das Schicksal zweier Heidinnen wichtige Entwicklungslinien der gesamten Erzählung an. 1,6 Von Jobed über Jessai gelangt die Genealogie zum zweiten Fixpunkt der Geschichte Israels: David. Sein Status als König wird ausdrücklich hervorgehoben. Damit prägt sich den Leser/innen die königlich-messianische Dimension der Davidssohnschaft Jesu ein154. Doch auch dieser ehrwürdige Name, der noch stärker als „Juda“ messianisch konnotiert ist, wird durch die Nennung einer Frau mit einem Treuebruch in Verbindung gebracht: Batseba. Ein kurzer Blick in die Nachgeschichte von 2Sam 11-12 kann erneut das Repertoire der Erzähladressaten erschließen155: 1. Die Schuld Davids: Indem der Text Batseba nicht beim Namen nennt, sondern als Frau des Urija einführt, wird der Aspekt des Ehebruchs m.E. deutlich in das Blickfeld der Rezipierenden gebracht 156. Bereits im AT und in der Nacherzählung des Josephus (Ant 7,130-158) wird Batseba im Zusammenhang mit der Geschichte von der Schuld Davids vornehmlich als „Frau Urijas“ und erst später mit ihrem Eigennamen bezeichnet157. Der Text erinnert also deutlich daran, daß David sich nach damaligem Verständnis an „fremdem Besitz“ versündigt hat und dafür von Gott mit dem Tod seines Sohnes bestraft worden ist (2Sam 11,1-12,25). Bereits im AT wird das Gebet um Vergebung Ps 51 im Zusammenhang mit der Schuld Davids gelesen (vgl. 51,1f). Ähnlich wie im Falle Judas ist die Schuld einer so herausragenden Gestalt eine schwere Hypothek für die spätere Rezeption des Textes. Für Josephus ist David der vollkommene König – mutig, gerecht, umsichtig und tugendsam –, der nie falsch gehandelt hat, außer im Falle „der Frau des Urija“ (Ant 7,390f)158. Ähnlich heißt es in CD 5,5, daß die Werke Davids gerühmt werden, außer das Blut Urijas. Viele Rabbinen deuteten das Geschehen teleologisch: Batseba war dem David vor154 M.J. MORETON, „The Genealogy of Jesus“, StEv 2 = TU 87 (1964), 223. Verstärkt wird der Bezug auf Jesus durch den Umstand, daß neben Jesus, dem Messias (1,1.16f), David die einzige Person der Genealogie ist, der ein besonderer Titel verliehen wird (SCHNIDER/STENGER, „Frauen“, 189f; FRANKEMÖLLE, 139). Das Königtum Jesu wird im weiteren Verlauf des Evangeliums bis zum Einzug des „sanften Königs“ weiter aufgenommen und variiert (LUZ, I,93). 155 Vgl. L.H. F ELDMAN, „Josephus’ Portrait of David“, HUCA 60 (1989), 129-176; M. PÉTIT, „Bethsabée dans la tradition juive jusqu’aux Talmudim“, Jud. 47 (1991), 209-223; S.R. SHIMOFF, „David and Bathseba: The Political Function of Rabbinic Aggada“, JSJ 24 (1993), 246-256. 156 L.W. COUNTRYMAN, Dirt, Greed and Sex: Sexual Ethics in the New Testament and their Implications for today (Philadelphia, 1988), 91; H EIL, „Narrative Roles“, 541; G. KITTEL, „Qamár, H Racáb, H Roúq, Hj toü Ohuríou“, ThWNT 3 (1938), 1, Anm. 5; NOLLAND, „Women“, 537; E. PASCUAL, „La Genealogía de Jesús según S. Mateo“, EstB 23 (1964), 131. 157 2Sam 11,3.26; 12,10.15; Josephus, Ant 7,131.153f.391. PÉTIT, „Bethsabée“, 209: „C’est seulement après que son union avec David eût été légalisée que son nom, Bethsabée réapparait.“ 158 Aber auch bei Josephus gibt es trotz aller Schuld auch einige Entschuldigungsmechanismen: Batseba ist von überragender Schönheit (7,130); als sie die Schwangerschaft entdeckt, fordert sie ihn auf, die Sünde zu verschleiern (7,131).

Hypothetische Erst-Rezeption

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herbestimmt, nur hat er sie zu früh zur Frau genommen159. Interessanterweise stehen sich in den rabbinischen Haggadot zwei Positionen gegenüber: die vollkommene Entlastung Davids und die Verschärfung seiner Schuld160. 2. Herkunft und Bedeutung Batsebas161: Die Umschreibung „die des Urija“ ist von manchen als Signal gedeutet worden, daß Batseba als Frau eines Hetiters auch als Heidin angesehen werden soll. Eine solche Schlußfolgerung ist logisch wohl kaum geboten 162 und folgt eher dem Formzwang, ein gemeinsames äußeres Merkmal für alle vier Frauen finden zu müssen. Eine solche Vermutung läßt sich m.W. durch konkrete alttestamentlich-jüdische Texte nicht positiv belegen163. Batseba gilt im AT als Tochter Eliams (2Sam 11,3) bzw. Ammiels (1Chr 3,5) – ein Name mit „hebräischem“ Klang (vgl. 2Sam 23,34). In der rabbinischen Tradition wurde der Eliam aus 2Sam 11,3 mit dem aus 2Sam 23,34 identifiziert, der wiederum ein Sohn Ahitofels aus Gilo im Gebiet Juda (nach Jos 15,51) war164.

In Anbetracht dieser potentiellen Enzyklopädie der Erst-Rezipierenden läßt sich ein ähnlicher Schluß wie im Falle Juda-Tamar ziehen: Im Mittelpunkt steht nicht die Schuld oder die ethnische Herkunft einer Frau, sondern der moralische Fall eines Mannes, der in diesem Falle ebenso eine herausragende und für die zeitgenössischen messianischen Vorstellungen sehr wichtige Rolle

159 Vgl. 160 Für

bSan 107a und GINZBERG, Legends 6 (1928), 265; Anm. 93. Beispiele aus dem babylon. Talmud vgl. SHIMOFF, „David and Bathsheba“: 1. Positive Aussagen (248-50): z.B. Batseba war geschieden; da Gott David nicht in die Liste der Patriarchen aufnehmen wollte, sündigte dieser absichtlich, um das Urteil Gottes als gerecht zu erweisen; David sündigte nur, um den Beweis zu erbringen, daß Gott dem reuigen Sünder vergibt. 2. Negative Aussagen (254f): z.B. die Sünde Davids ist an der Teilung des Reiches und an dem Exil Schuld; David sündigte aus Hochmut, weil er absichtlich seine Tugendstärke unter Beweis stellen wollte. Nach SHIMOFF dienten solche Aussagen in Wirklichkeit dazu, die zeitgenössische rabbinische Führung, die sich auf ihre davidische Abstammung berief, zu verteidigen bzw. zu kritisieren. 161 Im Werk Philos bleibt Batseba unerwähnt. 162 S. MUÑOZ IGLESIAS, Los Evangelios de la Infancia IV: Nacimiento e infancia de Jesús en San Mateo (BAC 509; Madrid, 1990), 93: „En todo caso, el estar casada con un hitita no arguye necesariamente que ella lo fuera también.“ Warum Batseba „rechtlich aufgrund ihrer Ehe mit einem Hetiter ebenfalls nicht als Jüdin gelten kann“ (HEMPELMANN, „Blatt“, 13; ähnlich FRANKEMÖLLE, 142) oder „zur Ausländerin wurde“ (SCHWEIZER, 9; ähnlich LUZ, Jesusgeschichte, 38), ist nicht klar, vor allem, wenn man bedenkt, daß nach jüdischem Recht das Kind aus einer solchen gesetzlich nicht tolerierten Verbindung als Jude galt (bYev 45b), während im umgekehrten Fall (jüd. Vater, heidnische Mutter) das Kind als Nicht-Israelit betrachtet wurde (Bill, II,741; Apg 16,1: Timotheus). Es ist historisch natürlich anachronistisch für das 10. Jh. v. Chr. von einer „Jüdin“ zu sprechen, aber aus der Perspektive einer jüdisch geprägten Erst-Rezeption im 1. Jh. n.Chr. ist ein solcher Fragehorizont durchaus angemessen. 163 Es ist nicht einmal deutlich, daß jeder Rezipient des Textes bei dem Namen Urija automatisch daran denken würde, daß er Hetiter war. Josephus stellt ihn als einen tapferen und pflichtbewußten Soldaten dar, der bis in den verräterischen Tod hinein heldenhaft kämpft, ohne ein Wort über seine hetitische Herkunft zu verlieren (Ant 7,131-140). 164 PÉTIT, „Bethsabée“, 210-12. Ahitofel beteiligte sich als Ratgeber Davids am Aufstand Absaloms gegen seinen Vater und erhängte sich schließlich (2Sam 15-17). Nach bSanh 104b105a galt er als Nachkomme Judas. Anders LACHS, 4.

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Rezeptionskritische Auslegung von Matthäus 1-2

spielt165. Batseba ist allerdings im Vergleich zu Tamar wesentlich passiver und farbloser (eben auch namenlos in der Genealogie); von ihrer heidnischen Herkunft kann kaum ausgegangen werden. 1,7-11 Nach der Hervorhebung des davidischen Königtums folgt die Genealogie erwartungsgemäß über Salomo der Linie der judäischen Königsdynastie166: Rehabeam, Abija, Asa(ph), Joschafat, Joram, Usija, Jotam, Ahas, Hiskija, Manasse, Amos(n), Joschija, Jojachin (1,7-11). Die auffällige Nennung der Brüder Jojachins läßt aus verschiedenen Gründen die Vermutung zu, daß hier die beiden fast gleichnamigen Könige Jojakim und Jojachin zusammengedacht worden sind167: Eine Verwechslung zwischen den beiden Königen wäre nicht überraschend168. Jojakim wird nicht genannt (s.u.)169. In 1Chr 3,15f werden drei Brüder Jojakims aber nur ein Bruder Jojachins genannt. Von „Brüdern“ kann also, streng genommen, nur im Falle Jojakims die Rede sein. Sollte die Nennung der Brüder wie in 1,2 ein Hinweis darauf sein, daß die Linie nicht über den ältesten Sohn läuft, dann trifft das auf Jojakim zu (nach 1Chr 3,15 ist er der Zweitälteste), aber nicht auf Jojachin170. Auf zwei kleinere Probleme soll noch eingegangen werden: 1. Fehlende Namen: Zwischen Joram und Usija fehlen Ahasja (2Kön 8,25-29), Joasch (12,1-22) und Amazja (14,1-22)171; zwischen Joschija und Jojachin fehlt Jojakim (2Kön 23,34-24,7)172. Sollte dies überhaupt im Hörvorgang registriert worden sein, so ist

165 Möglicherweise schaut in TestJud 17,1-3 Juda bereits auf die Sünde Davids voraus, so daß hier eine Verbindung zwischen diesen beiden Ereignissen möglich erscheint. 166 Vgl. aber Lk 3,31, wo die genealogische Linie über Natan weiterläuft. Vgl. zu den zahlreichen Harmonisierungsversuchen JOHNSON, Genealogies, 140-5 und MUSSIES, „Parallels“, 39-44. 167 NOLLAND , „Women“, 532 setzt m.E. eine zu subtile und im Hörvorgang kaum vorstellbare Rezeption voraus, wenn er voraussetzt, daß der „informed“ und „alert reader“ merken soll, daß mit Jojachin Vater und Sohn gleichzeitig gemeint sind. 168 Hebr.: MyIqÎywøh◊y / NyIkÎywøh◊y oder hÎy◊nÎk◊y; griech.: Iwakím / Ieconíaß. 169 Die seit dem Matthäus-Kommentar des Hieronymus (zu 1,12ff = CChr.SL 77,9) bis heute (LAGRANGE, 5.7f; ZAHN, 56-9; HAGNER, I,6; A. VÖGTLE, „‚Josias zeugte den Jechonias und seine Brüder‘ (Mt 1,11)“, Lex Tua Veritas [FS Hubert Junker], hg. H. Groß, F. Mußner [Trier, 1961], 307-313) vertretene Konjektur, daß ursprünglich in 1,11 Jojakim und erst in V. 12 Jojachin gestanden habe, ist textkritisch nicht haltbar. 170 Eine alternative Erklärung wäre, daß die Brüder genannt werden, weil zwei davon als König regierten (MUSSIES, „Parallels“, 38; VÖGTLE, „Josias“, 309). Aber auch in diesem Fall handelt es sich um Brüder Jojakims (Joahas: 2Kön 23,31-34; Zidkija: 2Kön 24,1; 1Chr 3,15). 171 Ahasja, Joas und Amazja werden in Dluc syc eingefügt. 172 Der Königsname Jojakim wird in M U Q S f1 33 209 258 478 661 954 1354 1604 syh** geo eingefügt. Er fehlt in a B C E K L S V W G D P multi min it vg syrc.s.p copsa.bo arm eth und ist damit textkritisch in jedem Fall zu streichen. Der textkritische Harmonisierungsversuch mit 1Chr 3,15-16 nimmt es in Kauf, das Vierzehner-Schema im zweiten Abschnitt zunichte zu machen.

Hypothetische Erst-Rezeption

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kaum anzunehmen, daß dem eine tiefere Bedeutung beigemessen wurde173, da von einer Genealogie keine lückenlose Auflistung erwartet wurde174. 2. Ungewöhnliche Namensschreibungen 175: Der Name Asaph bezeichnet im AT eigentlich einen Psalmisten bzw. eine Gruppe von Tempelsängern (vgl. Ps 50; 73-83 tit) und nicht den König Asa (1Kön 15,9ff)176. Ob hier eine unwissentliche Verwechslung 177, eine midraschartige Identifizierung 178 oder aber eine abweichende Schreibweise vorliegt179, ist nicht mehr zu entscheiden. Ähnlich steht der Fall mit der Schreibung „Amos“, die eher an den Propheten als an den König Amon erinnert 180. Aus der Sicht der hypothetischen Erst-Rezeption im Hörvorgang läßt sich für beide Fälle feststellen, daß der Unterschied in der Aussprache relativ gering ist und sich im Rahmen der damals denkbaren Abweichungen bewegt. Das gesprochene Wort verhallt, und ehe man sich über die Aussprache wundern kann, wird man schon mit dem nächsten Namen konfrontiert. Da das kontextuelle Umfeld ganz deutlich auf einen König hinweist, dürfte an dieser Stelle kaum jemand sich widerwillig gefragt haben, was ein Psalmist und ein Prophet hier zu suchen haben.

1,12-15 Die Königslinie wird durch die Wegführung nach Babylon unterbrochen (11-12a)181. Zunächst mag es seltsam erscheinen, daß in einer Namensliste ein historisches Ereignis erscheint, aber das bestätigt nur, daß die Namen als

173 Entgegen

der in der lateinischen Auslegungstradition beliebten Theorie einer damnatio memoriae erasio nominis: Der Evangelist habe ihre Namen bewußt ausgelassen, weil sie als gottlose Könige nach Ex 20,5 bis zur dritten Generation von Gott „heimgesucht“ sind (BLANCO PACHECO, „Mujeres“, 14; CARRASCO, „Genealogía“, 144; LAGRANGE, 5; NOLLAND, „Women“, 531, Anm. 15; ORSATTI, Saggio, 48-50; bereits Hieronymus In Matthaeum zu 1,8f = CChr.SL 77,8f; als Möglichkeit bei HAGNER, I,8). 174 Vgl. zum Brauch des genealogischen „telescoping“ WILSON, Genealogy, 27-36; passim und die Bemerkungen in G.A. RENDSBURG, „The Internal Consistency and Historical Reliability of the Biblical Genealogies“, VT 40 (1990), 200f. 175 Neben den beiden hier genannten Fällen gibt es eine Reihe anderer kleinerer Abweichungen von der LXX-Schreibweise wie z.B. H Racab (1,5) statt H Raab, Bóeß (1,5) statt Bóoz/Bóoß, h Abiá (1,7) statt h Abioud. 176 „Asaph“ ist mit P1vid a B C (Dluc) f1.13 700 1071 pc it co arm eth geo besser bezeugt als das an die LXX angeglichene „Asa“ (L W Maj [a] f ff1 vg sy). 177 DAVIES/A LLISON, I,175. 178 BAUCKHAM, „Tamar’s Ancestry“, 321, Anm. 23 weist darauf hin, daß es im Judentum durchaus gewöhnlich war, ähnliche Namensträger zu identifizieren. Ähnlich SCHNIEWIND, 10; HEMPELMANN, „Blatt“, 9. 179 Nach METZGER, Textual Commentary, 1 lesen die meisten Textzeugen in 1Chr 3,10 h Asá, lediglich ms. 60 liest h Asáb. Josephus benutzt in seinen Ant die Form ‘ Asanoß (8,286f.290.293-5.298.306; usw.), während in der lateinischen Josephusübersetzung Asaph belegt ist. 180 „Amos“ ist textkritisch hervorragend bezeugt (a B C [Dluc] G D Q f1 33 pc it vgmss sa bo), während die Verbesserung zu „Amon“ neben den vielfältigen Vertretern des Mehrheitstextes von L W f13 lat sy mae gelesen wird. 181 Metoikesía in diesem Sinne ist in LXX 4Bas 24,16; 1Chron 5,22 und Ez 12,11 belegt.

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Rezeptionskritische Auslegung von Matthäus 1-2

Chiffren für den Verlauf der Geschichte Israels zu verstehen sind182. Da das babylonische Exil gleich zwei-mal erwähnt wird, erweckt es besondere Aufmerksamkeit bei den Rezipient/innen: Die Katastrophe von 587 bedeutete das (vorläufige) Ende der davidischen Dynastie und war aus der Sicht der späteren Reflexion nicht nur eine politische Krise, sondern die theologische Sinnkrise Israels überhaupt 183. Der Verlust des Tempels, die Trennung vom Land und der Zusammenbruch aller nationalen Erwartungen warf die Frage nach der Treue Gottes zu seinen Bundesverheißungen auf. In der Perspektive der Erstrezeption beginnt mit Abraham die Geschichte Israels, erreicht unter der Herrschaft Davids ihren nationalen Höhepunkt, droht aber durch die Wegführung nach Babylon gewaltsam zu Ende gebracht zu werden 184. Theologisch wurde das Geschehen als Strafe Gottes aufgrund der Schuld des Volkes gedeutet (vgl. 1Chr 9,1c; 2Chr 36,15-21; Ez 8-11; Thr; Ps 74; Bar). Von Juda über David und die Linie der judäischen Könige tritt damit die Schuld Israels, die schließlich zum Exil führt, deutlich in den Blickpunkt der Adressaten 185. Im Geschichtsbild der Apokalyptik war die gesamte nachexilische Zeit eine Zeit des Abfalls186. In der Zeit nach 70 n.Chr. galt in vielen Kreisen die babylonische Krise als Paradigma, um die neue Katastrophe zu deuten (etwa in LibAnt; 4Esr; syrBar). Setzt man die Leserschaft in der Zeit nach der Tempelzerstörung an, dann wäre hier ein aktueller Bezug durchaus denkbar.

Über Jechonias und Salathiel gelangt die Liste zu dem letzten, im AT belegten Namen: Serubbabel (12b). Als derjenige, der die ersten Rückkehrer nach Jerusalem zurückführte und mit dem Tempelaufbau begann187, bekam seine Gestalt messianische Konnotationen188. Mit Juda, David und Serubbabel werden also drei messianische Gestalten aus dem Alten Testament in der Ahnenreihe Jesu aufgeführt. Nach Serubbabel folgen eine Reihe Namen, die nicht näher erläutert werden und wohl kaum bekannt waren: Abiud, Eliakim, Azor, Sadok, Achim, Eliud, Eleazar, Mathan, Jakob (13-15). 1,16 „Und Jakob zeugte Josef, und Josef zeugte Jesus aus der Maria.“ Das würde zwar dem Schema entsprechen, doch bricht die strenge Monotonie in 1,16

182

Historische Notizen sind auch in atl. Genealogien belegt: Vgl. z.B. Gen 4,26; 5,24.29; 10,5.8-12.25; 11,10.28; 36,31; 46,12.20; 1Chr 1,10.19; 2,3.7.23; 3,4.9f.22.31. 38-43; 5,1f.6.9f. 18-22.25f.36.41; 7,21-24; 8,8. 183 D.J. V ERSEPUT, „The Davidic Messiah and Matthew’s Jewish Christianity“, SBL.SP 34 (1995), 108. 184 Daß eine solche Schau nicht den heutigen Rekonstruktionen der Geschichte Israels entspricht, versteht sich von selbst. Vgl. zum Exil H. DONNER, Geschichte des Volkes Israel und seiner Nachbarn in Grundzügen (GAT 4/2; Göttingen, 1986), 381-90; J.M. MILLER, J.H. HAYES, A History of Ancient Israel and Judah (London, 1986), 416-36. 185 HEIL, „Narrative Roles“, 542. 186 Vgl. äthHen 93,9 und O.H. STECK, Israel und das gewaltsame Geschick der Propheten (WMANT 23; Neukirchen-Vluyn, 1967), 153. 187 Vgl. Esr 1-6; Hag 1,1-2,9; Sach 4,6-10; Sir 49,11f; Jos. Ant 11,33-78. 188 Vgl. bes. Hag 2,20-23; Sach 6,12f.

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zusammen. Die umständliche Formulierung von 1,16 („Jakob zeugte den Josef, den Mann Marias, von der geboren wurde Jesus, der Christus“) wirkt auf heutige Leser/innen meist überraschend189, so daß man sich fragen kann: Wer ist der tatsächliche Vater Jesu? Wie kann Jesus „Davidssohn“ genannt werden, wenn die davidische Abstammungslinie ihn nicht auf biologischem Wege erreicht?190 Inwiefern „paßt“ überhaupt die gesamte davidisch-messianische Genealogie zu ihrem Zielpunkt, Jesus? V. 16 kann zwar solche und viele andere Fragen aufwerfen, nimmt aber bereits vorweg, daß Maria die rechtmäßige Ehefrau Josefs191 und Jesus ihr rechtmäßiger Sohn ist und daß Jesus letztendlich den Christus-Namen trägt192. Da die Erst-Rezipierenden m.E. auch mit dem Motiv der Jungfrauengeburt vertraut waren (s.u. S. 253 zu 1,18), sollte die Wirkung der Desorientierung oder Überraschung, die uns befallen mag, nicht allzu schnell für die Erst-Rezeption postuliert werden. Die Formulierung in 1,16 baut also nicht eine neugierige Spannung auf, die dann erst in der folgenden Geschichte gelöst wird und die durch den erzählerischen Kommentar in 1,17 noch verzögert wird, sondern deutet lediglich an, daß Jesus nicht ohne Schwierigkeiten in die davidische Abstammungslinie gekommen ist, und bereitet damit die „Geburtserzählung“ in 1,18-25 vor. Interessant ist weiterhin, daß die Christozentrik geltende hierarchische Strukturen umkehrt: Josef, der Mann, wird eingeführt über seine Ehebeziehung zu Maria und diese über ihre Rolle als Erzeugerin und Mutter des Kindes, Jesus. Es sind solche Einzelheiten, die die gesamte Aufmerksamkeit der Rezipierenden auf die Figur Jesu lenken193. 189 HAGNER, I,12 spricht z.B. von „the biggest surprise in the genealogy“. 190 KINGSBURY, Matthew as Story, 47; WAETJEN , „Genealogy“, 206. 191 In der Bezeichnung Josefs als „der Mann Marias“ sahen einige Kirchenväter

die Gefahr einer Lektüre, die mit der Vorstellung der jungfräulichen Geburt unvereinbar wäre und die sie daher zu entkräften versuchten (vgl. Joh. Chrysostomus, In Matthaeum 4,2-3 = PG 57,41f = BKV 23,60-62; Hilarius, In Matthaeum 1,3-4 = SC 254,94-99; Ambrosius, Expositio Lucam 2,5 = CChr.SL 14,32f = BKV 21,51f; Hieronymus, In Matthaeum zu 1,16 = CChr.SL 77,9). 192 Die Wendung Ho legómenoß Cristóß legt durch den fehlenden Artikel nahe, daß Cristóß hier im Sinne eines Eigennamens und nicht als christologischer Titel gebraucht wird (HAGNER, I,12). 193 Die Textkritik zu diesem Vers ist nicht so sehr von Interesse, weil eine Entscheidung besonders schwer wäre (die Lesart h Iak`wb dè hegénnjsen h Iws`jf tòn ‘andra Maríaß, hex ˆjß hegenn´j qj h Ijsoüß Ho legómenoß Cristóß ist mit P1 a B C L W usw. hervorragend bezeugt und als ursprünglich anzusehen), sondern weil es Varianten gibt, die als Rezeptionszeugnisse interessant sind. Tendentiell gehen die Varianten in zwei unterschiedliche Richtungen: 1. Einige Textzeugen trennen noch deutlicher Josef vom Zeugungsvorgang und betonen die Jungfräulichkeit Marias: Q f13 ita.(b).c.d.(k).q (h Iws`j f ˆ^w mnjsteuqeïsa parqénoß [-q], Mariám hegénnjsen h Ijsoün tòn legómenon Cristón) und syc (h Iws`jf ˆ^w mnjsteuqeïsa ~j n Mariám parqénoß, ”j ‘eteken h Ijsoü Cristóu). 2. Relativ vereinzelt steht die Vetus Syra Sinaiticus da, die nach dem vorgegebenem Schema formuliert: „Josef, der mit Maria, der Jungfrau, verlobt war, zeugte Jesus.“ Vgl. zur mittlerweile beigelegten textkritischen Diskussion A. G LOBE, „Some doctrinal variants in Mt 1 and Lk 2 and the Authority of

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Rezeptionskritische Auslegung von Matthäus 1-2

Die Passivform hegenn´jqj wird oftmals direkt als Passivum divinum und damit bereits im Hinblick auf die Zeugung und Vaterschaft Gottes gedeutet (ähnlich gennjqén in 1,20c)194. Selbst wenn dieses Motiv zum Repertoire der Hörer/innen gehören sollte (s.u. S. 253 zu 1,18), ist eine solche Deutung an dieser Stelle grammatikalisch keineswegs unumgänglich. Ein Passivum divinum kann m.E. nur konstatiert werden, wenn der literarische Kontext das erfordert oder wenn das passive Verb der Ergänzung durch ein Subjekt bedarf195. Das Verb gennáw wird allerdings relativ oft im Passiv benutzt, auch innerhalb von genealogischen Listen, die in der Regel Aktivformen verwenden 196. Die syntaktische Einheit gennjq¨jnai hek bedeutet zunächst „von jemandem geboren werden“, ohne eine Aussage über Vaterschaftsverhältnisse zu machen. Die Wendung betont nicht die Zeugung, sondern die Geburt durch Maria, bereitet allerdings den Ausschluß Josefs aus dem Zeugungsvorgang vor.

1,17 Die eigentliche Pointe der Genealogie findet sich am Ende in 1,17. In einem erzählerischen Kommentar wird den Hörer/innen eine Richtung angegeben, um die vorherige Auflistung von Namen in einem tieferen geschichtstheologischen Sinn deuten zu können197. Die Aufteilung in drei mal vierzehn Generationen von Abraham bis David, von David bis zur babylonischen Gefangenschaft und von dort bis Christus greift Anfang, Höhepunkt und Tiefpunkt der Geschichte Israels heraus198. Eine solche Periodisierung von Geschichte in gleich lange Abschnitte entspricht der zeitgenössischen Überzeugung, „daß sich das Handeln Gottes nach einem numerisch periodisierbaren Zeitplan vollzieht“199.

the Neutral Text“, CBQ 42 (1980), 63-6; B.M. METZGER, „The Text of Mt 1,16“, Studies in the New Testament and Early Christian Literature (FS A. Wikgren), ed. D. Aune (Leiden, 1972), 16-24; MUÑOZ IGLESIAS, Nacimiento, 50-60; J. NOLLAND, „A text-critical Discussion of Matthew 1:16“, CBQ 58 (1996), 665-673. 194 Etwa HAGNER, I,4.12; LUZ, I,92.95; PESCH, „Messianic Exegesis“, 148; SCHENK, Sprache, 301; KINGSBURY, Matthew as Story, 43: „The passive voice … may well be indicative of a circumlocution for divine activity (‚Jesus was born by a special act of God‘).“ FRANKEMÖLLE, 140: „Ohne Zweifel setzt er aufgrund der passivischen Formulierung bereits in 1,16 den Glauben an die Jungfrauengeburt voraus.“ 195 Vgl. allgemein zum Problem W. BÜHLMANN, K. SCHERER, Stilfiguren der Bibel (BiBe 10; Fribourg, 1973), 85; M. ZERWICK, Biblical Greek (SPIN 114; Rom, 1963), §236; E.M. SIDEBOTTOM, „The So-Called Divine Passive in the Gospel Tradition“, ET 87 (1976), 200-4; rabbinisches Material in Bill., I,443. 196 Vgl. Gen 4,18 (hegenn´j qj dè t¨^ w En` wc Gaidad, kaì Gaidad hegénnjsen tòn Maijl); 10,1 (kaì hegen´jqjsan ahutoïß uÓoí); 10,21 (t¨^w Sjm hegen´j qj); 1Chron 1,19 (t¨^w h Eber hegenn´j qjsan dúo uÓoí); 2,3 (treïß hegenn´j qjsan ahut¨^w hek t¨jß qugatròß Sauaß); 3,4 (”ex hegenn´jqjsan ahu t¨^w hen Cebrwn); 7,15 (kaì hegenn´j qjsan t¨^w Salpaad qugatéreß). 197 FRANKEMÖLLE, 138f. 198 Aus redaktionskritischer Sicht muß das Interesse des Erzählers an Dreier-Strukturen hervorgehoben werden (DAVIES/ALLISON, I,85-7). 199 HEMPELMANN, „Blatt“, 9.

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In den atl. Genealogien finden sich zuweilen auch Tendenzen, Abstände zwischen wichtigen Persönlichkeiten mit „runden Zahlen“ auszudrücken 200. Vor allem jedoch ist in der jüdischen Apokalyptik eine periodische Einteilung der Geschichte ein wichtiges Mittel, um im Chaos der Ereignisse Gottes lenkende Hand erkennen zu können201: Dan 2 (vier Weltreiche); 9,20-27 (siebzig Jahrwochen); Jub (49 Jubiläen von je 49 Jahren); äthHen 93,1-10; 91,12-17 (Zehnwochenapokalypse)202; 89,59-90,27 (Allegorie der siebzig Hirten von der syrisch-babylonischen Periode bis zum messianischen Reich); slavHen 33,1f (Einteilung der Geschichte in sieben TausendjahrTage)203; Offb (sieben Siegel, sieben Posaunen usw.); syrBar 53-74 (eine Wolke bringt im Wechsel je sechs trübe und sechs helle Wasser auf die Erde, die die Geschichte von Adam bis zum zweiten Tempel symbolisieren, gefolgt von zwei weiteren Epochen der Trübsal und der messianischen Freude)204; AssMos 10,12 (250 Jahrwochen = 1750 Jahre von Mose bis zum Messias; vgl. Sanh 97b); 4Esr 14,11f (Einteilung der Weltgeschichte in zwölf Abschnitte). Eine solche Periodisierung von Geschichte ist typisch für den apokalyptischen Geschichtsdeterminismus (vgl. Dan 11,36; Jub 1,29; 4Esr 4,36f; AssMos 12,4f) und zeigt die tiefe apokalyptische Prägung der matthäischen Jesusgeschichte205.

Was dies für die Rezipierenden bedeutet206, deutete schon BILLERBECK an: „In diesem Geschichtsverlaufe sollen die Leser nicht das Spiel des Zufalls,

200 In Gen 5 und 1Chr 1,1-4 sind es genau sieben Stufen von Adam bis Henoch und insgesamt zehn bis Noah. Nach Gen 11,10-26 und 1Chr 1,24-27 sind es zehn von Schem zu Abraham. Vierzehn Namen von Abraham zu David leiten sich aus 1Chr 1,28-2,15 und Rut 4,12.18-22 ab. Auch die Rabbinen maßen solchen Zahlen Bedeutung zu (vgl. ExRab zu 12,2 = Bill., I,43f [15 Generationen von Abraham bis Salomo] und die Beispiele in JOHNSON, Genealogies, 191). 201 Vgl. F. DEXINGER, Henochs Zehnwochenapokalypse und offene Probleme der Apokalyptikforschung (StPB 29; Leiden, 1977), 68-70; A. YARBRO COLLINS, „Numerical Symbolism in Jewish and Early Christian Apocalyptic Literature“, [1984] Cosmology and Eschatology in Jewish and Christian Apocalypticism (Supplements to JSJ 50; Leiden, 1996), 55-138; jüdische Texte in Bill., IV,986-96. 202 Eine ähnliche Einteilung in zehn Geschlechter bestimmt Sib 1/2; 4. Zum Versuch BILLERBECKS, Mt 1,17 direkt in Bezug mit der Zehnwochenapokalypse zu setzen (Bill. I,44f), vgl. die Kritik in JOHNSON, Genealogies, 195-7. 203 Die siebte Tausendjahr-Periode entspricht dem Weltensabbat. Diese Einteilung war v.a. rabbinisch sehr beliebt (vgl. Bill., IV, 989-94). 204 WAETJEN, „Genealogy“, 207-12 möchte in diesem Text den Referenztext für Mt 1,17 sehen, aber abgesehen von der Frage nach der Datierung (Mt und syrBar könnten etwa zur gleichen Zeit entstanden sein), ist es nicht recht ersichtlich, wie die Einteilung der Geschichte Israels bis zur Geburt Jesu in drei Vierzehnergruppen mit einer Einteilung der gesamten Weltgeschichte in 12+2 Perioden auf einen Nenner gebracht werden kann (DAVIES/A LLISON, I,162). 205 Vgl. allgemein (aber leider ohne Bezug auf 1,17) D.A. HAGNER, „Apocalyptic Motifs in the Gospel of Matthew: Continuity and Discontinuity“, HBT 7 (1985), 53-82; D.E. ORTON, The Understanding Scribe: Matthew and the Apocalyptic Ideal (JSNT.S 25; Sheffield, 1989); C.C. ROWLAND, „Apocalyptic, the Poor, and the Gospel of Matthew“, JThS 45 (1994), 504-18; L. SABOURIN, „Apocalyptic Traits in Matthew’s Gospel“, RStT 3 (1983), 19-36. 206 Vgl. JOHNSON , Genealogies, 197: „[T]he meaning of the periodization of Matt. 1 would be easily understood by those to whom such systems were no novelty.“

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sondern das Walten einer höheren Hand erkennen.“207 Mit Jesus führt Gott die Geschichte Israels erneut an einen Wendepunkt, der an Wichtigkeit den mit Abraham, David und der Wegführung nach Babylon verbundenen Abschnitten mindestens gleichkommt208. Der erzählerische Kommentar in 1,17 bietet als „Pause“ den Hörer/innen Gelegenheit zur Rückschau und zur vertiefenden Reflexion. Sie werden vielleicht sogar mit Staunen vernommen haben, daß die auf Jesus zulaufende Geschichte Israels sich in drei Perioden einteilen läßt. Daß der Messias Jesus zusätzlich am Ende der dritten Periode erscheint, macht deutlich, daß mit ihm eine besondere Zeit angebrochen ist209. Die Hörer/innen, die selbst in dieser „Jesus-Periode“ leben, können ihre eigene Gegenwart als eine Zeit verstehen, die nicht hoffnungslos dem Chaos verfallen ist, sondern die einem geordneten Plan Gottes folgt. Eine solche Geschichtsschau hatte also eine tröstende und stabilisierende Funktion für die eigene Gegenwartsdeutung. Zwei Probleme, die in der traditionellen Forschung diskutiert werden, sollen noch aus der Sicht der Erst-Rezeption bedacht werden: 1. Jede/r moderne Leser/in des Matthäus-Evangeliums kann sich durch einfaches Nachzählen vergewissern, daß die Einteilung, streng genommen, nicht aufgeht210. Alle Versuche, die mathematische Kompetenz des Erzählers zu retten, sagen mehr über den Einfallsreichtum des/der betreffenden Ausleger/in aus als über die Rezeptionsmöglichkeiten des Textes 211. Genaues Nachzählen ist nur möglich aufgrund der Beschäftigung mit einer schriftlichen Vorlage. Den Hörenden sind solche Möglichkeiten des Überprüfens nicht vergönnt. Unter der Annahme, daß die primäre Aufnahme der Matthäusgeschichte im Hören stattfand, ist diese „Unstimmigkeit“, rezeptionskritisch betrachtet, kaum von Belang 212. 2. Die meisten Ausleger/innen geben sich nicht damit zufrieden, hinter der Periodisierung in 1,17 ganz allgemein eine geschichtstheologische Vorstellung zu vermuten, sondern möchten in der Zahl Vierzehn noch eine spezifische Bedeutung

207 Bill., I,43; ähnlich LIMBECK , 22; HAGNER, I,7 spricht von „the providential design behind the history of Israel“. 208 D.E. NINEHAM, „The Genealogy in St. Matthew’s Gospel and its Significance for the Study of the Gospel“, BJRL 58 (1976), 429. Die Datierung wichtiger Ereignisse nach gleich langen Generationsintervalen ist auch hellenistisch belegt (vgl. MUSSIES, „Parallels“, 46). 209 Dieser klimaktischen Stellung Jesu entspricht die seltsame Form einer Deszendenztafel, die auf den Probanden zuläuft. 210 Die erste Reihe zählt mit Abraham und David vierzehn Namen und eigentlich dreizehn Generationen, die zweite mit David und Jojachin fünfzehn Namen und vierzehn Generationen und die letzte mit Jojachin und Jesus wieder vierzehn Namen und dreizehn Generationen, wobei bei dieser Zählung David und Jojachin bereits zweimal gezählt worden sind. 211 Vgl. W AETJEN, „Genealogy“, 209f und H. SCHÖLLIG , „Die Zählung der Generationen im matthäischen Stammbaum“, ZNW 59 (1968), 261-8. 212 Der bereits angeführte Text aus ExRab zu 12,2 (= Bill., I,43f) führt in der zweiten Hälfte von Rehabeam bis Zidkija sechzehn Generationen, obwohl es nach eigener Aussage fünfzehn sein müßten.

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erkennen 213. Die größte Schwierigkeit mit den meisten Vorschlägen liegt an ihrer mangelhaften Kommunikabilität. Dazu einige Beispiele214: a) G.F. MOORE hat die vierzehn Generationen zwischen Gefangenschaft und Jesu Auftreten mit den sieben Jahrwochen (= 490 Jahre) in Dan 9,24-27 unter der Annahme verbunden, daß eine Generation mit genau 35 Jahren berechnet wird (35 mal 14 = 490)215. Es ist kaum anzunehmen, daß zeitgenössische Leser/innen eine Generation mit genau 35 Jahren fixiert und ohne jedwede Anspielung auf die sieben Jahrwochen Daniels die Multiplikation von 14x35 durchgeführt haben sollten. b) Die Hypothese, daß hier symbolisch auf die zunehmende und abnehmende Mondphase von je vierzehn Tagen angespielt sei216, kann sich zwar auf eine ähnliche Symbolik in ExRab zu 12,2 stützen 217, aber zum einen wird hier eine Mondphase in zweimal fünfzehn Tage eingeteilt, und zum anderen kann ExRab zwar die Denkweise der damaligen Menschen erhellen, kommt aber aus Datierungsgründen (10-12 Jh.?) unmöglich als Grundlage für die Erst-Rezeption von Mt 1,17 in Frage. Warum also sollte jemand bei 1,17 an den Mond denken? c) Besonderer Beliebtheit erfreut sich die gematrische Lösung, die aus den Buchstabenwert der Zahl den Namen David (dwd = 6+4+6) rekonstruiert218. Diese Deutung paßt vorzüglich zum davidischen Grundtenor der Genealogie und wäre auch innerhalb des apokalyptischen Rahmens von 1,17 gut vorstellbar. Sie setzt aber Leser/innen voraus, die sich nicht nur ohne ausdrückliche Textsignale auf das esoterische Terrain der Gematrie wagen 219, sondern dies auch noch über den Zah213

Abgesehen von der Tatsache, daß vierzehn ein Vielfaches von sieben ist, hat diese Zahl in der atl.-jüd. Tradition keine besondere Bedeutung: Gen 31,41 (Jakob dient Laban 14 Jahre für die beiden Töchter); Ex 12,6.18; Lev 23,5; Num 9,3.5.11; 28,16; Jos 5,10; 2Chr 30,15; 35,1; Esr 6,19; Ez 45,21 (Paschamahl am Abend des 14. Nissan); Num 29,13. 15.17.20.23.26.29.32 (Opfer von 14 einjährigen Lämmern); 1Kön 8,65 (Einweihungsfeier des Tempels dauert zweimal sieben Tage); 2Kön 18,13; Jes 36,1 (Sanherib zieht gegen Juda im 14. Jahr der Regierungszeit Hiskijas); 1Chr 25,5 (Heman hat 14 Söhne); 2Chr 13,21 (Abija nimmt 14 Frauen); Ez 40,48; 43,17 (14 Ellen im neuen Tempel); Koh 3,2-8 (Aufzählung von vierzehn Oppositionen); Tob 8,19f; 10,7 (14-tägiges Hochzeitsfest); äthHen 3,1 (14 Baumarten, die das ganze Jahr über Frucht tragen); Philo, All 1,10 (der Mann ist mit 14 Jahren zeugungsfähig). 214 Zu den verschiedenen Meinungen vgl. DAVIES/A LLISON , I,161-5; HAGNER, I,6f; JOHNSON, Genealogies, 189-208; ORSATTI, Saggio, 50-61; T. STRAMARE, „Per un riesame della genealogia di Matteo“, BeO 28 (1986), 3-6; WAETJEN, „Genealogy“, 210-2. 215 „Fourteen Generations – 490 Years“, HThR 14 (1921), 97-103. 216 C. KAPLAN, „Some New Testament Problems in the Light of Rabbinics and the Pseudepigrapha: The Generation Schemes in Matt. 1:1-17, Luke 3:24ff“, BS 87 (1930), 465-471. 217 Die fünfzehn Tage bis zum Vollmond entsprechen der Zunahme von Licht in der Zeit der fünfzehn Geschlechter von Abraham bis Salomo und die fünfzehn Tage bis zum Neumond entsprechen der Abnahme von Licht zwischen Rehabeam und Zidkija (= Bill., I,43f). 218 CARRASCO, „Genealogía“, 144; DAVIES/A LLISON, I,163-5; HILL, 74; H OOKER, Beginnings, 26; JONES, „Subverting“, 266; PATTE, 18; PESCH, „Messianic Exegesis“, 141; u.v.a.m. Im übrigen wird „David“ im AT und in Qumran auch dywd geschrieben. 219 Vgl. allgemein zum Thema der Gematrie: G. BOHAK , „Greek-Hebrew Gematrias in 3 Baruch and in Revelation“, JSP 7 (1990), 119-121; M.H. FARBRIDGE, Studies in Biblical and Semitic Symbolism (New York, 1970), 87-156; P. FRIESENHAHN, Hellenistische Wortzahlenmystik im Neuen Testament (Leipzig; Berlin, 1935); E. G ÜTTGEMANNS, „Gematriyya und Lecheschbon: Zur Semiotik des ‚Gramma‘ und der Zahl im Judentum“, LingBibl 64 (1990), 23-52; J.A. ROMEO, „Gematria and John 21.11 – The Children of God“, JBL 97 (1978), 263f; D.S. RUSSELL, „Countdown: Arithmetic and Anagram in Early Biblical Interpretation“, ET 104 (1993), 109-13.

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lenwert der hebräischen Buchstaben meistern 220. Eine solche Deutung wäre aus der Sicht der Rezipierenden nur dann sinnvoll, wenn man dem Mt-Evangelium generell eine besondere Vorliebe für solche Verschlüsselungen nachweisen könnte und/oder wenn die davidische Bedeutung für die Zahl Vierzehn fester Bestandteil des konventionalisierten Repertoires der Erst-Rezipierenden wäre. Doch fehlen für solche Annahmen konkrete Hinweise im Text und in seinem literarischen Umfeld. Kontextualität und Kommunikabilität stehen in diesem Fall in einem umgekehrten Verhältnis zueinander. Alles in allem zeigt die Forschung eine gewisse Hilflosigkeit bei der Suche nach einem geeigneten Rahmen, in dem die Zahl den Verdacht purer Zufälligkeit verlieren und zur Chiffre für tiefgründige theologische Aussagen werden könnte221. Der Text verschweigt jedoch mit erstaunlichem Erfolg jeglichen Hinweis auf einen geeigneten Intertext. Folgt man RIFFATERRES Vorschlag, daß unlösbare Leerstellen Hinweis auf einen fehlenden Intertext sein können222, dann ist doch stark anzuzweifeln, ob 1,17 wirklich seine Leser/innen in die dürre Wüste der Zahlenspekulation schicken will. Für die Rezeption im Sinne einer geschichtstheologischen Konzeption ist nicht die konkrete Anzahl von voerzehn Generationen entscheidend, sondern die Abfolge von drei gleich langen Generationszyklen223. Das „Rätsel“, das die Zahl Vierzehn der modernen Wissenschaft aufzugeben scheint, wird aus der Perspektive der ErstRezeption in seiner kommunikativen Relevanz relativiert, zeigt aber auch die Grenzen des biographischen Intentionalismus der herkömmlichen Exegese besonders deutlich224.

220

Es ist zwar sehr gut denkbar, daß die gematrische Bedeutung der Rätselzahl 666 in Offb 13,18 auf eine hebräische Transliteration des Griechischen abzielt (Neron Qesar = rsq Nwrn = 200+60+100+50+6+ 200+50 = 666), aber im Unterschied zu 1,17 werden die Leser/innen der Offb ausdrücklich zum Berechnen der Zahl aufgefordert. 221 WAETJEN, „Genealogy“, 213 liest aus den 14 Generation sogar zwei unterschiedliche eschatologische Konzepte heraus! 222 Zum Problem der Intertextualität s.o. S. 156ff. 223 Von 1Chr 1-2 her steht die Einteilung der ersten Einheit in vierzehn Generationen fest. Die Ausweitung zu drei gleichlangen Zyklen ist genauso bedeutsam wie naheliegend (vgl. ZAHN, 51; LAGRANGE, 2-3; A. VÖGTLE, „Die Genealogie Mt 1,2-16 und die matthäische Kindheitsgeschichte“, Das Evangelium und die Evangelien [KBANT; Düsseldorf, 1971], 91f). Vielleicht hat die Einteilung in 1,17 auch einen mnemotechnischen Nebeneffekt, obwohl das als Erklärung alleine nicht ausreicht (HAGNER, I,6: „for more than pedagogical reasons“; PASCUAL, „Genealogía“, 145, Anm. 58: „no es meramente mnemotécnica“). 224 Genährt wird eine solche Suche durch autor-zentrierte Aussagen wie „He must surely have meant the attentive hearer to resolve the significance here“ (MORETON, „Genealogy“, 223) oder „it seems likely that our evangelist believed it to hold some sort of intrinsic, symbolic significance“ (DAVIES/ALLISON, I,163). Wie tief die Orientierung an der Intention des Autors in der Exegese verwurzelt ist, wird daran deutlich, daß nicht wirklich begründet wird, warum das eigentlich so sein muß. Ehrlicher urteilt HAGNER, I,7: „We are unable conclusively to discern Matthew’s intent in the 3x14 structure.“

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Zusammenfassung Die Genealogie macht eine Aussage über Jesus, und zwar eine solche, die für die Wahrnehmung der gesamten Erzählung relevant ist. Deswegen steht sie am Anfang der Erzählung. In ihrem rhythmischen Grundgerüst ist sie eine ideale Ahnentafel, um jemanden formal als Messias zu legitimieren. Jesus kann als messianischer Davidssohn bezeichnet werden, weil er die genealogischen Voraussetzungen genaustens erfüllt. Daß der Person Jesu Messianität bereits in vollem Maße zuerkannt ist, macht die Anordnung der Genealogie deutlich: die gesamte Geschichte Israels läuft auf ihn zu. Er ist der Selektionsfilter für die genealogische Abfolge; er bestimmt, welche Namen genannt werden und welche ungenannt bleiben oder im anonymen Kollektiv der Brüder eingereiht werden. Doch machen die zahlreichen synkopischen Elemente deutlich, daß die Genealogie bei tieferer Reflexion weitere Aussagen über Jesus machen will, die über diese eher formale Begründung der Messianität Jesu hinausführen sollen225. Die Genealogie schließt eine Lücke, indem sie deutlich macht, daß Jesus formell Sohn Abrahams und Sohn Davids ist. Aber sie eröffnet eine neue Perspektive, indem sie die Rezipierenden erahnen läßt, daß die matthäische Jesuserzählung über die königlich-messianische Deutung Jesu hinaus noch viel mehr zu sagen hat. Die Frage nach der tieferen Bedeutung der Abrahamssohnschaft in 1,1, deutet die Genealogie wahrscheinlich in der Präsenz einiger Heidinnen an. Aber die Bedeutung von 1,1 wird nicht schon mit der Genealogie erschlossen, sondern gewinnt im Verlauf der gesamten Erzählung immer neue Dimensionen hinzu. 2.2.3 Exkurs 4: Die Erwähnung der Frauen aus rezeptionskritischer Sicht Die Erwähnung von Frauen in der matthäischen Genealogie hat von jeher die Aufmerksamkeit der Exegese ganz besonders auf sich gezogen226. Exeget/innen sind sich darin einig, daß die Nennung von Frauen einen auffälligen

225

FRIIS PLUM, „Genealogy“, 88 schreibt über die mt. und lk. Genealogie: „[O]n the one hand they presuppose and partake of the Jewish speculations on a Messiah, on the other hand they reflect the way Christianity deflected these and broke with them.“ 226 S. BARTINA, „Las mujeres en la genealogía de Jesús“, Lum. 23 (1974), 397-412; S. BLANCO PACHECO, „Mujeres“; N. DE CHAZAL, „The Women in Jesus’ Family Tree“, Theology 97 (1994), 413-419; E.D. FREED, „The Women in Matthew’s Geneology“, JSNT 29 (1987), 3-19; A.D. HEFFERN, „The Four Women in St. Matthew’s Genealogy of Christ“, JBL 31 (1912), 68-81; HEIL, „Narrative Roles“; HEMPELMANN, „Blatt“, 12-4; KITTEL, „Qamár“; NOLLAND, „Women“; SCHNIDER/STENGER, „Frauen“; F. SPITTA, „Die Frauen in der Genealogie des Matthäus“, ZWT 54 (1912), 1-8; H. STEGEMANN, „‚Die des Uria‘: Zur Bedeutung der Frauennamen in der Genealogie von Mt 1,1-17“, Tradition und Glaube (FS K.G. Kuhn), hg. G. Jeremias u.a. (Göttingen, 1971), 246-276; VÖGTLE, „Genealogie“, 92-5; W.J.C. WEREN, „The Five Women in Matthew’s Genealogy“, CBQ 59 (1997), 288-305.

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Bruch mit den Gesetzen der genealogischen Gattung darstellt227. Der Ausschluß von Frauen aus den Geschlechtsregistern ist typisch für das Verständnis von Abstammung in einer patriarchalen Gesellschaftsstruktur und spiegelt ihre untergeordnete soziale Rolle wider228. Wenn also in Ausnahmefällen Frauen namentlich genannt werden, dann stellt sich natürlich die Frage nach der Bedeutung einer solchen Abweichung von der Norm. BILLERBECKS These, daß Frauen nur genannt werden, wenn „Unregelmäßigkeit in der Deszendenz oder sonst etwas Bemerkenswertes sich an den Namen einer Frau knüpft“, ist zu allgemein229. Die in alttestamentlichen Genealogien aufgeführten Frauennamen sind oftmals nichts weiter als ein notwendiges formales Ordnungsprinzip, um die Söhne entsprechend „verteilen“ zu können, da in vielen Fällen ein Mann mehrere Frauen oder Nebenfrauen hatte230. Seltener werden Frauen aufgrund ihrer Verwandtschaft zu wichtigen männlichen Gestalten genannt231. In den Genealogien in LibAnt erscheinen relativ häufig Frauennamen, vor allem die von Töchtern 232 und seltener auch Namen von im AT nicht namentlich bezeichneten Ehefrauen 233. Das bedeutet allerdings nicht, daß Frauen im LibAnt eine wichtigere genealogische Rolle spielen als sonst234; vielmehr entspricht dieses Vorgehen ganz dem „midraschischen“ Interesse an der namentlichen Identifizierung von anonymen atl. Gestalten 235.

Da die Frauen der matthäischen Genealogie weder als formales Ordnungsprinzip notwendig sind, noch dem Interesse entstammen, Ungenannte aus der Anonymität zu entreißen, ist anzunehmen, daß ihre Namen bereits für die Erst-Rezipierenden eine Provokation zur Reflexion darstellten236. Innerhalb 227

Das betrifft im übrigen auch hellenistische Geschlechtsregister (s. MUSSIES, „Parallels“, 38f). 228 OEMING, Vorhalle, 209; SCOTT, „Birth“, 87. 229 Bill., I,15 nennt als Beispiele 1Chr 2,21.24.34.48f; 7,24. Ihm folgen u.a. HEMPELMANN, „Blatt“, 12; S CHNIDER/S TENGER, „Frauen“, 187. 230 Vgl. Gen 4,19-22; 22,20-24; 25,1f.12; 35,22c-26; 36,1-5.9-19; 46,15.18.22.25; 1Chr 1,32f; 2,3f.18-27.46.48f; 3,1-9; 4,4-7.17-20; 7,13-19; 8,8-11. In diesem Sinne werden auch Könige über ihre entsprechende Mutter eingeführt (1Kön 14,21; 15,2.10; 22,42; 2Kön 8,26; 12,2; 14,2; 15,2.33; 18,2; 21,1.19; 22,1; 23,31.36; 24,8.18). C. LEVIN, Der Jahwist (FRLANT 157; Göttingen, 1993), 181: „Im allgemeinen sind für die Genealogien die Mütter eher unwesentlich.“ Die genaue Betrachtung der Genesis-Texte in I. FISCHER, Die Erzeltern Israels: Feministisch-theologische Studien zu Genesis 12-36 (BZAW 222; Berlin usw., 1994), 71f ergibt allerdings, daß Mütter in den Toledot eine wichtige Rolle spielen, während Töchter relativ bedeutungslos sind. 231 Z.B. Gen 11,29-31 (Sarai); Ex 6,20 (Jochebed, Mutter des Mose); 6,23 (Elischeba, Frau Aarons). 232 1,4.6.8.10.12.14.17.19; 2,4; 4,12-14; 8,8. 233 2,1f (Frau Kains); 4,11 (Frau Melkas); 8,5 (Frauen Esaus). 234 So HALPERN-AMARU , „Women in Pseudo-Philo“, 84-87. 235 Vgl. allgemein R.A. FREUND , „Naming Names: Some Observations on ‚Nameless Women‘ Traditions in the MT, LXX and Hellenistic Literature“, SJOT 6 (1992), 213-32; E. SEGAL, „Sarah and Iscah“, JQR 82 (1992), 419 („retreat from anonymity“). 236 JONES, „Subverting“, 261f spricht treffend vom „iconoclastic effect of these interruptions“. Einen interessanten Aspekt der Wirkungsgeschichte dieses Textes bezeugen einige junge, meist lateinische oder zumindest bilinguale Textzeugen, die einzelne Frauennamen

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welchen Rahmens kann dies stattgefunden haben? Seit den ältesten nachweisbaren metakritischen Aussagen zum Text in der Alten Kirche ist es üblich, die Frauen nicht als individuelle weibliche Personen zu betrachten, sondern als „Kollektivtypen“ für theologisch abstrakte Aussagen237. Innerhalb dieses Paradigmas gibt es verschiedene Formen der Gestaltbildung238: 1. Die in der Alten Kirche verbreitetste Deutung sieht in den Frauen paradigmatische Sünderinnen, die die Notwendigkeit der Erlösung durch Jesus versinnbildlichen239. Dieser Versuch einer einheitlichen Gestaltbildung verdankt seinen Erfolg verschiedenen Umständen: Zum einen transformiert er ein Textelement, das an sich belanglos oder zufällig sein könnte, in eine Aussage von zentraler gesamtbiblischer Relevanz: die Menschen sind Sünder und bedürfen der Erlösung durch Jesus (vgl. Mt 1,21). Damit erlaubt diese Deu-

auslassen und die damit verbundenen Geschichten ausblenden: Rahab fehlt in D* 251 506a, Rut in copbo (1MS) Epiph und „die des Uria“ in vg1MS (Angaben nicht nach NESTLE/A LAND27, sondern nach S.C.E. LEGG, Nouum Testamentum Graece secundum textum WestcottHortianum: Evangelium secundum Matthaeum [Oxford, 1940]). 237 Vgl. die Matthäus-Fragmente 6-8.10 des Origenes (= Klostermann/Benz, 17-20), zu denen BROSZIO, Genealogia, 60 bemerkt: „So sind die neben Maria in der Genealogie Christi erwähnten Frauen … nicht als weibliche Personen zu betrachten. Sie sind vielmehr den Judenchristen bekannte Gestalten des Alten Testaments, die eine auf Christus vorausweisende Funktion erfüllen. In diesen ‚Vorherbildern‘ (túpoi) ist die Wahrheit des Evangeliums bereits vorgezeichnet. Erst durch das Evangelium, durch die Ankunft Christi, kann diese Wahrheit jedoch enthüllt und auch das Alte Testament zur Heilsbotschaft werden.“ 238 Die folgende Liste ist natürlich nicht vollständig und beschränkt sich nur auf die populärsten Vorschläge. Die strukturale Auslegung von SCHNIDER/STENGER, „Frauen“, hat mit dem Merkmal „Zeugung im Fremden“ (195f) ein so hohes Abstraktionsniveau gewählt, daß dies für die Rezeption m.E. nicht diskutiert werden kann. Die manchmal aufgeführten Belege für eine besondere Verbindung der vier Frauen mit dem Wirken des Heiligen Geistes „sind teils spät, teils nicht vorhanden“ (LUZ, I,93 und Anm. 36) und werden daher hier nicht mehr diskutiert. 239 Vgl. zur Auslegungsgeschichte BARTINA , „Mujeres“, 398-400; BROSZIO, Genealogia. Vgl. Origenes, In Lucam 28 (= Sieben, FC IV/2,290-7): „Matthäus, der den Heiland vom Himmel herabsteigen läßt, erwähnt dabei auch einige Frauen, und zwar nicht irgendwelche, sondern Sünderinnen, die in der Heiligen Schrift getadelt worden waren (et mulieres non quaslibet, sed peccatrices et, quas scriptura reprehenderat, introducit)“. Diesem theologischen Anliegen dienen allerdings nicht nur die Ehefrauen, sondern auch Salomo, Roboam und die Namen vieler anderer Könige, deren Taten im Alten Testament getadelt werden. Auch für Chrysostomus, In Matthaeum 3,2.4 (= PG 57,33-36 = BKV 23,46f.50-52) zeigen die Frauen, was für unbedeutende und verkommene Vorfahren Jesus hatte und daß „er gekommen ist, um uns von all unserem (Sünden-)Elend zu befreien“ (BKV 23,50). Die sich abzeichnende opinio communis belegt Hieronymus, In Matthaeum zu 1,3 (= CChr.SL 77,8 = dt. BROSZIO, Genealogia, 116): „Es ist bemerkenswert, daß in der Genealogie des Erlösers keine heiligen Frauen angeführt werden, sondern nur die, die die Schrift tadelt (nullam sanctarum adsumi mulierum, sed eas quas scriptura reprehendit), damit der, der wegen der Sünder gekommen war, von Sünderinnen abstammend, die Sünden aller vernichte. Weswegen auch folgerichtig Ruth, die Moabiterin, und Batseba, die Frau des Uria, erwähnt werden.“ Vgl. auch PLUMMER, 3; KITTEL, „Qamár“, 1/18f: „[D]iese vier Frauen … sind als Unwürdige, nämlich in Sünde und als Fremde, von Gott gewürdigt worden.“

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tung sehr weitreichende theologische Konsequenzen240. Zum anderen fährt eine solche Sicht im Windschatten der weit verbreiteten Dämonisierung des weiblichen Geschlechts in der Alten Kirche241 und teilt damit die falsche Sicht Judas in Gen 38, daß die Frau grundsätzlich an dem Übel schuld sei. Dieser Aspekt ist aber nicht nur den alttestamentlichen Erzählungen, sondern auch dem größten Teil der jüdischen Rezeption ganz und gar fremd242. Die sündigen Gestalten sind Juda und David, keineswegs Tamar und Batseba. Rahab wird wegen ihres Berufes nicht getadelt, und Rut ist eine über jeglichen Verdacht erhabene Glaubensheldin. Daher halte ich diese Lösung im Hinblick auf die Rekonstruktion der hypothetischen Erst-Rezeption für insgesamt sehr unwahrscheinlich243. 2. In der neueren Auslegungsgeschichte gewinnt die Deutung immer mehr Raum, die in den vier Frauen Heidinnen sieht244. Ihre Präsenz in der Messiasgenealogie soll die theologische Grundwahrheit vermitteln, daß Heiden und Heidinnen ihren Platz in der neuen messianischen Heilsgemeinde haben. Der Vorteil dieser Deutung liegt nicht nur darin, daß sich zumindest bei drei Frauen der Eintrag „Heidin“ für die enzyklopädische Kompetenz der Hörer/innen eindeutig bestimmen läßt, sondern auch darin, daß die Heid/innen-Thematik kontextuell sehr kohärent in das theologische Gesamtgefüge des Evangeliums paßt. Die Formulierung „die des Urija“ will aber nicht ganz zu dieser Deutung passen, weil sie die Aufmerksamkeit der Rezipierenden auf den Ehebruch Davids und nicht auf die Herkunft der betreffenden Frau legt und weil sich Batseba nicht positiv als Heidin identifizieren läßt. Weiterhin stellt die Präsenz Marias ein vielleicht noch größeres Problem für diese Deutung dar245.

240 KITTEL, „Qamár“, 1/20-25 folgert, „erstens, daß die Geschichte des zum Volk des Christus ‚erwählten‘ Volkes nicht so sehr Glanz als vielmehr Gnade ist; zweitens, daß es der Weg dieser Gnade ist, ihr Werk auch durch den Fall der Menschen zu vollbringen. So umschreibt der Stammbaum einen durch das ganze Evangelium sich hindurchziehenden Grundgedanken: daß die Letzten die Ersten sein werden.“ 241 Vgl. K. THRAEDE, „Frau“, RAC 8 (1972), 242f.256-60. WAINWRIGHT, Feminist Critical Reading, 63f: „That the women are regarded as sinners resonates with the biblical and cultural linking of women, sexuality and sin.“ Ähnlich urteilt WEREN, „Women“, 288. 242 Vgl. BLANCO PACHECO , „Mujeres“, 21f; BARTINA , „Mujeres“, 400-8, der aus kompositionsgeschichtlicher Sicht auch darauf hinweist, daß einige wirklich boshafte und sündige Frauen wie Atalja, die Frau Jorams (2Kön 8,18; 11,1), oder Joscheba, die Tochter Jorams (2Kön 11,2; 2Chr 22,10f), fehlen (407). 243 MUÑOZ IGLESIAS, Nacimiento, 97. Eine moderne Variante dieser Auslegung versteht die Frauen als Verteidigung gegenüber jüdischen Vorwürfen gegen Maria (FREED, „Genealogy“; LACHS, 2; ähnlich JOHNSON, Genealogies, 152-9). Doch wäre das „eine bedenkliche Apologie der Jungfrauengeburt“ (KLOSTERMANN, 2). 244 CARRASCO , „Genealogía“, 145; M. DAVIES, 31 (als Möglichkeit für Leser/innen); HEMPELMANN, „Blatt“, 13; LAGRANGE, 2; LIMBECK, 23; LUZ, I,94; MORRIS, 23; MUSSIES, „Parallels“, 38; SCHWEIZER, 9; STEGEMANN, „Uria“, 260-6; ZAKOWITCH, „Rahab“, 2f. 245 Ähnlich FRANKEMÖLLE, 142.

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Warum nämlich sollte die fünfte Frau, Maria, aus einer einheitlichen Gestaltbildung ausgeschlossen werden (wenn wirklich eine solche intendiert ist)? Daß sie aber unmöglich als Heidin angesehen werden kann, macht die Kohärenz der Heidinnen-These zunichte246. 3. Eine theologisch viel umfassendere Deutung sieht in den vier Frauen ein Zeichen der verzweigten, aber am Ende ihr Ziel erreichenden Geschichtsführung Gottes247. Diese Deutung vermag nicht nur die Nennung der vier Frauen und Marias zu erklären248, sondern macht auch andere Erweiterungen verständlich249: Gott beginnt seinen Weg mit Abraham, dann wählt er Juda und nicht seine Brüder. Juda gefährdet die Weiterführung der Familienlinie, doch dank der dramatischen Intervention Tamars kann sie fortgeführt werden. Von ihren Zwillingskindern erwählt Gott Perez und nicht Serach. Rahab ermöglicht durch ihren mutigen Einsatz die Landnahme, und Rut wird durch ihre Beharrlichkeit zur Ahnfrau Davids. Die Sünde des großen Königs David ist ein dramatischer Punkt für die beginnende davidische Königsdynastie. Diese wird aber von Salomon und den folgenden judäischen Königen weitergeführt, bis sie in der Katastrophe des Exils ihr vorläufiges Ende findet. Mit Serubbabel wird ein bescheidener Neuanfang gestartet, der Generationen später in der außergewöhnlichen Geburt des Messias Jesus ihren Höhepunkt findet. Mit Jesus von Nazaret hat diese verzweigte und dramatische Geschichte ihr Telos erreicht; Gott hat seine Verheißung an Israel erfüllt.

Obwohl diese Erklärung innerhalb des kulturellen Umfeldes der Erst-Rezipierenden möglich erscheint, kann sie den Verdacht nicht von sich abwenden, so generell und abstrakt zu sein, daß sie praktisch immer greift. Daß geschichtstheologische Interessen mit der Genealogie verbunden sind, macht 1,17 seinen Hörer/innen unmißverständlich klar. Allerdings konnte so gut wie jedes Detail der verzweigten Geschichte Israels im Hinblick auf göttliche Führung 246

Unter entsprechenden ideologischen Vorzeichen ließ sich aus dem Formzwang einer gemeinsamen Deutung aller Frauen die zweifelhafte Behauptung begründen, daß Maria in Wirklichkeit Heidin und Jesus somit nicht-jüdischer Herkunft war (vgl. die Beispiele in LUZ, I,94; Anm. 43). 247 HANSON, „Rahab“, 53: „Perhaps we might say that irregularity of some sort characterized all four, and in that respect they foreshadowed Mary’s case.“ Ähnlich BLANCO PACHECO, „Mujeres“, 25f („lo irregular y lo inesperado“); W. CARTER, Matthew (Peabody, 1996),122f; BROWN, Birth, 73f; FENTON, 52f; M.-L. GABLER, „Die Mutter Jesu im Zeugnis der Evangelien“, ThBer 21 (1995), 16; HAGNER, I,10; PASCUAL „Genealogía“, 132 („irregularidad“); STENDAHL, „Quis et Unde“, 101. 248 In Pseudo-Philo wird die Mutterschaft bestimmter Frauen geschichtstheologisch als Zeichen göttlicher Bewahrung und Führung gedeutet (vgl. HALPERN-A MARU, „Women in Pseudo-Philo“, 95.105f). 249 In diesem Sinne interpretiert das spätere rabbinische Judentum auch manche der in der mt. Genealogie aufgerufenen Episoden. So macht der Homilien-Midrasch Tanchuma §13 (400 n.Chr.?) eine Aussage zur Juda-Tamar-Episode, die nach dieser Deutung als Motto über Mt 1 stehen könnte: „Sieh wieviel Umwege Gott machen mußte, bevor er den König, den Messias, aus Juda erstehn lassen konnte.“ (= Bill., I,16)

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gedeutet werden. Wozu bedurfte es dann der spezifischen Nennung von Frauen und warum konkret dei der hier genannten Frauen? Göttliche Führung allein kann viele synkopische Elemente erklären, vermag aber den spezifischen Charakter der Frauen allgemein und der genannten im besonderen innerhalb der Erweiterungen des genealogischen Schemas nicht zu erklären. Sollte der Text tatsächlich den verzweigten Fortbestand der jüdischen Verheißungslinie im Sinn haben250, dürfte eine für die Begründung des Gottesvolkes so dramatische Erzählung wie die der Mutterschaft Sarahs (Gen 17,15f; 18,1-15; 21,1-7) oder der mütterlichen Bevorzugung Jakobs durch Rebekka (Gen 27) nicht fehlen. Das bisher gezeichnete Bild kommt einer Pattsituation ziemlich nahe251. Doch scheint mir diese Situation Ergebnis zweier miteinander zusammenhängender Annahmen zu sein, die aus rezeptionskritischer Sicht hinterfragt werden können: 1. Die erste und grundlegende Annahme ist die, daß alle vier Frauen ein „symbolisches Kollektiv“ bilden. Auf dieser Grundlage findet die Suche nach jenen Eigenschaften, die allen vier gemeinsam sind, statt. Kritisch wäre hier bereits zu fragen, warum im Falle einer solchen „weiblichen Gesamtgestalt“ meistens Maria unberücksichtigt bleibt252. Entscheidend aber ist der Umstand, daß zwischen den vier erwähnten Frauen alle möglichen Allianzen gebildet werden können, aus denen aber immer mindestens eine ausscheidet: a) Die Nähe von Rahab und Rut schweißt beide deutlich zusammen. Es handelt sich um Heidinnen, die durch vorbildhaftes Benehmen Aufnahme in Israel finden und dadurch zum Paradigma eines weiblichen Proselyten werden. Von ihren Ehemännern weiß man fast nichts. b) Tamar und Batseba sind beide Teil einer sexuellen Fehlhandlung, bei der die Schuld auf einer herausragenden und messianisch konnotierten atl. Gestalt lastet. c) Tamar hat einige Bezüge zu Rut und Rahab: Sie gilt allgemeinhin als Heidin, tritt wie Rahab als Prostituierte auf und geht wie Rut eine Leviratsehe ein253. d) Gemeinsamkeiten zwischen Batseba und Rut/Rahab sind kaum vorhanden: Von einem sexuellen Vergehen kann man bei Rut kaum sprechen. Batseba ist weder eindeutig eine Heidin, noch hat sie aktiv das Geschehen bestimmt. Überhaupt setzt 250 So FRANKEMÖLLE, 142. 251 FRIIS PLUM, „Genealogy“,

91: „[W]hen all Old Testament and Jewish traditions are gathered together, it seems as if there is no model that will fit all four women as well.“ HEIL, „Narrative Roles“, 544: „Most previous attempts to explain the roles of the women in Matthew’s genealogy have overestimated what they all have in common and underestimated their differences.“ SCHNIDER/STENGER, „Frauen“, 193: „Das, was man nun in Kenntnis … des AT über die Frauen weiß, läßt es kaum zu, ohne mehr oder weniger elegante Umdeutungen alle erwähnten Frauen in einer Bedeutungsstruktur zu vereinen.“ NOLLAND, „Women“, 529 sieht allerdings in der Absage an die Suche nach einer Gemeinsamkeit für alle Frauen „a counsel of despair“. 252 Eine Berücksichtigung Marias leistet von den oben genannten drei Möglichkeiten der Gestaltbildung nur die dritte; aber diese umfaßt eben noch viel mehr als die fünf Frauen. 253 Das Motiv der Leviratsehe scheint den Erst-Rezipierenden bekannt zu sein (vgl. Mt 22,24-27).

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sie sich durch die Nicht-Nennung ihres Eigennamens von den drei übrigen Frauen ab. e) Während es in den Geschichten um Tamar, Rut und Batseba um Nachkommenschaft innerhalb der davidischen Linie geht, ist dieser Aspekt der Rahabgeschichte vollkommen fremd.

Angesichts dieser Möglichkeiten scheint mir die Problematik auf eine einfache Alternative reduziert werden zu können: Entweder war der Erzähler nicht in der Lage, sein Anliegen einer einheitlichen Gestaltbildung für alle vier bzw. fünf Frauen zu vermitteln, oder er hat gar nicht mit Rezipierenden gerechnet, die in dieser uns heute so selbstverständlichen Weise verfahren254. Im zweiten Falle sollte die Möglichkeit einer komplexen, gemischten Gestaltbildung ernsthaft erwogen werden255. 2. Aus der ersten Annahme leitet sich in der Regel eine zweite ab: Die Frauennamen sind von ihrem narrativen Umfeld isoliert als theologisch signifikante typologische Zeichen zu betrachten. Aus der Sicht der Rezeption habe ich versucht zu zeigen, daß die Namen und besonders die Erweiterungen des genealogischen Schemas nicht einfach die Erinnerung an individuelle Gestalten wachrufen, sondern die an bestimmte Erzählungen256. Eine rezeptionskritische Betrachtung sollte daher weniger theologisch abstrakt als vielmehr narrativ konkret vorgehen. Es ist allerdings sehr schwer, vorherzusagen, wie eine gemischte narrative Gestaltbildung konkret ausgesehen haben mag. Im Blick auf die Schwerpunkte der wachgerufenen alttestamentlichen Geschichten scheint es mir, daß sich hier zwei grundsätzliche Ereignisse gegenüberstehen: Während die Geschichten von Rahab und Rut paradigmatisch die Teilnahme von Heidinnen am universalen „Segen Abrahams“ erzählen, erscheinen die zwei wichtigsten Messiasvorläufer, Juda und David, in einem geradezu peinlichen Kontrast dazu als Ehebrecher. Im Verlauf der Lektüre wird also die vorbildhafte Treue der Heidinnen von dem Vergehen zweier herausragender Ahnen gerahmt257. Maria würde als Messiasmutter schon aufgrund der ganz unterschiedlichen Formulierung in 1,16 aus der Gruppe der vier Frauen herausragen258. 254

Die Sachlage wäre natürlich anders, wenn wir eine feststehende, aber bei der jetzigen Quellenlage nicht mehr nachweisbare Tradition postulieren könnten, wie z.B. eine Proselytinnengeschichte mit Batseba als Heidin oder eine „Mutterschaftsgeschichte“ um Rahab und Salma. 255 Hält man sich streng an eine lineare Lektüre, dann ist es nicht zwingend notwendig, für alle vier Frauen ein gemeinsames Merkmal zu finden. Das setzt einen Überblick über den gesamten Text voraus. Da sich dieser aber erst kumulativ im Hörvorgang erschließt, sind die primären Bezüge je punktuell herauszustellen. 256 Nicht nur die Erwähnung der Wegführung nach Babylon, sondern auch die Unterteilung der Geschichte in drei Abschnitte von je vierzehn Generationen in 1,17 deutet darauf hin, daß die Genealogie die narrative Vorstellungskraft ihrer Rezipierenden aktivieren will. 257 Ähnlich HEIL, „Narrative Roles“, 545. 258 J.C. ANDERSON , „Mary’s Difference: Gender and Patriarchy in the Birth Narratives“, JR 67 (1987), 189; HEIL, „Narrative Roles“, 542f.

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Obwohl ich mir eine solche Gestaltbildung vorstellen kann, sind die Frauennamen insgesamt Leerstellen, die die narrative Phantasie und mnemische Kompetenz der Hörer/innen unterschiedlich aktivieren. Im Verlauf jeder individuellen Lektüre entscheidet sich, welche der möglichen Gestalten am ehesten realisiert wird. Alle genannten Aspekte spielen im weiteren Verlauf der Matthäusgeschichte eine mehr oder minder wichtige Rolle (providentielle Erfüllung der Pläne Gottes in Jesus, Israels Sünde und Erlösung davon, Aufnahme von Heid/innen in das Volk Gottes). Nur ist es m.E. nicht statthaft, hier bereits die gesamte matthäische Theologie herauslesen zu wollen. Wer sich allerdings an dieser Stelle für eine konkrete Gestalt entscheidet, wird folgerichtig in der weiteren Lektüre nach Elementen suchen, die diese Entscheidung bestätigen. Die Fixsterne im literarischen Universum sind durch den Text vorgegeben, aber die Leser/innen entscheiden letztendlich, wie man sie verbindet. V. 17 gibt allerdings für alle Kombinationsmöglichkeiten einen passenden geschichtstheologischen Rahmen vor. 2.2.4 Die Geburtsgeschichte (1,18-25) 2.2.4.1 Allgemeine Überlegungen Die Geburtsgeschichte des Matthäus (1,18-25) erfüllt eine doppelte Funktion als narrative Umsetzung der ungewöhnlichen Formulierung in 1,16 und als unerläßliche Leseanweisung für den weiteren Verlauf der Jesusgeschichte259. Zunächst einmal ist diese Episode rückbezüglich zur Genealogie zu lesen, da hier der anfängliche Anspruch, daß Jesus der Sohn Davids ist (1,1), im Lichte von 1,16 einer narrativen Erklärung bedarf260. Mit einer Art narrativem „Zoom“ führt der Erzähler den Abschluß der Genealogie genauer aus261. Die seltsame Struktur der Genealogie, die anscheinend mit Leser/innen rechnet, 259 Die oft zitierte Formulierung STENDAHLS, Mt 1,18-25 sei „an enlarged footnote to the crucial point in the genealogy“ („Quis et Unde“, 102), liest die Geburtsgeschichte zu ausschließlich im Zusammenhang mit 1,16. F. L. HORTON, „Parenthetical Pregnancy: The Conception and Birth of Jesus in Matthew 1:18-25“, SBL.SP 26 (1987), 175 spricht sogar von einem „tiny interlude or parenthesis between the genealogy … and … the second chapter“. BLANCO PACHECO, „Mujeres“, 12: „Mt 1,18-25 no es sino una nota explicativa a 1,16 y, por lo mismo, parte integrante de la genealogía de Jesús.“ Es wird sich zeigen, daß diese Sicht reduktionistisch ist (s.a. LUZ, I,102.105). Richtig daher ALBRIGHT/MANN, 10: „[T]he genealogy paves the way for vss. 18-25.“ Ähnlich LUCK, 21: „Auf dieses Geschehen zielt der ganze Zusammenhang der Geschichte hin, der im Aufriß der Generationen sichtbar gemacht wird.“ 260 Diese Einsicht hat sich allgemein durchgesetzt. Bereits SCHLATTER, 7 überschrieb 1,18-25 „Die Einpflanzung Jesu in das Geschlecht Davids“. 261 Vgl. F. SCHNIDER, W. STENGER. „‚Mit der Abstammung Jesu Christi verhielt es sich so: …‘ Strukturale Beobachtungen zu Mt 1,18-25“, BZ N.F. 25 (1981), 255: „Die Erzählung … führt das sich in der Unregelmäßigkeit des genealogischen Schemas in V. 16b … andeutende Problem erzählerisch aus.“ ZAHN, 71: „Was v. 16 nur erst negativ angedeutet ist, wird nun positiv dargelegt.“

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die keinen Widerstand gegen die zentrale geschichtstheologische Stellung Jesu leisten, hat bereits die Vermutung genährt, daß das intendierte Erzählpublikum sich aus Christ/innen oder zumindest aus solchen, die dem christlichen Glauben sehr nahe stehen, zusammensetzt (s.o. S. 222ff). Es ist daher für die Rezeptionsanalyse von 1,18-25 die Frage zu stellen, ob die Erst-Rezipierenden mit den erzählerischen Grunddaten bereits vertraut sind. Methodisch gehe ich davon aus, daß die charakteristischen Handlungsmuster einer Episode oder einzelne Motive daraus nicht als bekannt vorausgesetzt werden dürfen, solange die Rhetorik des Textes keine Spuren postulierter Bekanntheit erkennen läßt. Einiges spricht dafür, daß das in 1,18-25 der Fall ist262: 1. Die Geschichte wird insgesamt ohne Pathos oder besonderen Sinn für dramaturgische Spannung erzählt263. Der Erzähler verzichtet auf Bewegung und Dialog; der Diskurs erscheint eher statisch und sehr sparsam in der Auswahl erzählerischer Mittel, obwohl der Stoff durchaus zu einem ausschweifenden Erzählstil hätte Anlaß geben können264. Ganz im Gegensatz zu Kap. 2 fehlen konkrete Angaben zu Ort und Zeit265. Temporale Signale werden nur ganz vage gegeben und immer in relativer Beziehung zu Ereignissen, die nicht ausdrücklich erzählt werden: die Eheschließung (1,18: „bevor“) und die Geburt Jesu (1,25: „bis“). Insgesamt wirkt diese spärliche Erzählweise wie die Zusammenfassung einer den Hörer/innen in ihren Umrissen bekannten Episode. So ließe sich zumindest der große erzählerische Unterschied zwischen 1,18-25 und Kap. 2 erklären. 2. Wie die Auslegung zeigen wird, gibt es einige Elemente, die auf einen spezifisch christlichen Hintergrund weisen: die Engelsoffenbarung, daß Jesus das Volk von seinen Sünden erlösen wird, und die Jungfrauengeburt, die äußerst knapp und ohne rhetorische Hervorhebung erwähnt wird. Mir scheint eine Kenntnis der jungfräulichen Empfängnis Jesu außerhalb des narrativen Umfeldes einer konkreten Geburtsgeschichte schwer vorstellbar. 3. Die Erzählung baut keine Spannung um die Klärung des wahren Schwangerschaftsgrundes Marias auf. Vielmehr wird der Inhalt der Engelsoffenbarung teilweise in 1,18 vorweggenommen. Dahingegen werden die Verse 262 Bekanntheit mit der Erzählung vermuten auch BONNARD , 18; LUZ, I,99; ZAHN , 73. 263 LUZ, I,99: „spannungslos … prosaisch und nüchtern wie nur irgend möglich erzählt.“

Anders HAGNER, I,22: „told with enthusiasm and restraint“. 264 Im Unterschied zu Lukas ist das Auseinanderdriften von Erzählzeit (ca. 90 Sek.) und erzählter Zeit (mehrere Monate von Entdeckung der Schwangerschaft bis zur Geburt) nennenswert. 265 Allerdings verzichtet die Episode keineswegs auf sozio-kulturelle Signale: Leser/innen, die (wenigstens elementar) mit jüdischen Verlobungssitten, der Rolle unehelicher Kinder und deren Mütter und der Rolle des Vaters in einer solchen Situation vertraut waren, werden diese Episode im Raum sozialer Schande und Unwürde lokalisieren. Vgl. K.A. PLANK, „The Human Face of Otherness: Reflections on Joseph and Mary (Matthew 1:18-25)“, Faith and History (FS P.W. Meyer), ed. J.T. Carroll, et al. (Atlanta, 1990), 62-4.

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20-23 rhetorisch stärker hervorgehoben. Diese Gewichtung ist einfacher zu verstehen, wenn die Grundmuster der Erzählung als bekannt vorausgesetzt werden können. 2.2.4.2 Lektüre 1,18 Die Frage nach der „Geburt“ Jesu ergibt sich aus dem Zueinander von 1,1 und 1,16. Daß 1,18-25 genau diesen Sachverhalt klären will, hebt der Erzähler gleich zu Anfang doppelpunktartig hervor (Toü dè h Ijsoü Cristoü Hj génesiß o“utwß ~jn) und erleichtert damit seinen Leser/innen eine kohärente Gestaltbildung. Eine solche vorangestellte Inhaltsangabe ist in der erzählenden Literatur des Neuen Testaments äußerst selten. Der Begriff génesiß und der Doppelname „Jesus Christus“ verweisen die Hörer/innen deutlich auf 1,1 und 1,16 zurück. Nach der monotonen Wiederholung von hegénnjsen in der Genealogie wird sich die Bedeutung von génesiß in 1,18 auf „Zeugung“ oder „Geburt“ einengen lassen können266. Man wird zwar gegen die Bedeutung „Geburt“ aus der Rückschau einwenden mögen, daß die folgende Episode die Geburt Jesu als solche nicht erwähnt, aber der Vergleich mit anderen alttestamentlich-jüdischen Geburtsgeschichten zeigt, daß das eigentliche Interesse dem Davor und dem Danach und nicht der Geburt selbst galt267. Die Leser/innen werden in die Zeit geführt, als Maria und Josef noch verlobt sind. Da in 1,19 ohne weitere Erläuterungen von „Scheidung“ die Rede ist, scheint der Text mit Leser/innen zu rechnen, die mit der jüdischen Verlobungssitte, nach der Mann und Frau legal wie Eheleute angesehen werden, zumindest elementar vertraut sind268. Auffällig ist die Tatsache, daß Maria in ihrer Eigenschaft als Mutter Jesu hervorgehoben wird (t¨jß mjtròß ahutoü Maríaß), während der Erzähler es konsequent vermeidet, Josef als Vater Jesu zu bezeichnen. Um die Wirkung zu steigern, wird die Tatsache ausdrücklich hervorgehoben, daß beide noch keinen ehelichen Umgang miteinander gehabt haben269. In Anbetracht der allgemeinen Wertschätzung der Jungfräulichkeit in der Antike erscheint Marias Schwangerschaft zumindest für einen Augenblick als ein schockierender „Fund“ (1,18b: eHuréqj). Statt den wahren Grund dieses verdächtigen Zustandes möglichst lange zu verheimlichen, führt 266

Die vom Mehrheitstext, von L und f13 gebotene Lesart génnjsiß, die von ZAHN, 72 Anm. 37 bevorzugt wird, ist in Anbetracht der gewichtigen Zeugen für génesiß (a, B u.v.a.) mit hoher Wahrscheinlichkeit sekundär (METZGER, Textual Commentary, 8). 267 Es ist also nicht erforderlich diese kurze Inhaltsangabe theologisch zu überfrachten, etwa im Sinne von „Genese des davidischen Messias“ o.ä. 268 L. CANTWELL, „The Parentage of Jesus Mt 1:18-21“, NT 24 (1982), 305. Zu den jüdischen Verlobungssitten vgl. Bill., II,393-8. 269 Sunércomai meint die Übersiedlung in das Haus des Bräutigams und der Beginn sexueller Beziehungen (DAVIES/ALLISON, I,199; HAGNER, I,17; LUZ, I,103).

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der Erzähler ihre Schwangerschaft auf das schöpferische Wirken des heiligen Geistes zurück. Das Motiv der Jungfrauengeburt ist in schlichte und kaum auf eine besondere Wirkung abzielende Rhetorik eingekleidet270. Der Erzähler scheint demnach mit einem Publikum zu rechnen, das nicht nur dieses Motiv kennt, sondern auch bereit ist, dies von der Zeugung Jesu ohne weiteres anzunehmen271. Von der Rhetorik der Erzählung her ist es im Hinblick auf die mögliche ErstRezeption kaum geboten, die Jungfrauengeburt in den Mittelpunkt zu stellen, wenn auch weithin ungeklärt bleibt, auf welchem Hintergrund die Leser/innen den knappen Hinweis darauf wahrgenommen und wie sie sich ein solches „Geschehen“ konkret vorgestellt haben könnten272. Außerhalb der beiden voneinander unabhängigen Geburtsgeschichten in Mt 1-2 und Lk 1-2 ist im NT an keiner Stelle ausdrücklich von einer geistgewirkten Zeugung Jesu in der Jungfrau Maria die Rede273. Die Hebräische Bibel enthält keine Anknüpfungspunkte, als deren Weiterentwicklung sich die Jungfrauengeburt begreifen ließe274. Die Evidenz für das hellenistische Judentum ist eher spärlich: Jes 7,14 LXX spricht wahrscheinlich davon, daß die Frau bis zum Zeitpunkt ihrer Empfängnis 270

GABLER, „Mutter Jesu“, 17: „relativ unbetont“; LUZ, I,101: „In der heutigen Textgestalt ist die Jungfrauengeburt nicht Skopus, sondern relativ unbetonte Voraussetzung der Geschichte.“ Anders G.I. MÜLLER, Was heißt: Geboren von der Jungfrau Maria? (QD 119; Freiburg, 1989), 65: „Das wichtigste und entscheidende Einzelelement, um das sich in den christologischen Prologen [= Mt 1-2; Lk 1-2; M.M.M.] alles andere gruppiert und auf das alles hinzielt, ist ohne jeden Zweifel die Aussage über die geistgewirkte Lebensentstehung aus der Jungfrau Maria.“ 271 LUZ, I,99.102; FREITAS F ERREIRA, Conceiçâo, 85. 272 In bezug auf die Jungfrauengeburt hat sich in der katholischen Diskussion der Begriff „Theolog(o)umenon“ eingebürgert, der versucht zwischen einer Glaubensaussage und einer historisch-biologischen Aussage zu unterscheiden. Eine solche für heutige Leser/innen sehr sinnvolle Unterscheidung kann für die Erst-Rezeption allerdings nicht angenommen werden (vgl. A. VÖGTLE, „Offene Fragen zur lukanischen Geburts- und Kindheitsgeschichte“, Evangelium und die Evangelien, 44). 273 Vgl. I. BROER, „Die Bedeutung der ‚Jungfrauengeburt‘ im Matthäusevangelium“, BuL 12 (1971), 249f; H.F. VON CAMPENHAUSEN, „Die Jungfrauengeburt in der Theologie der Alten Kirche“, [1962] Urchristliches und Altkirchliches (Tübingen, 1979), 69-78; J. FITZMYER, „The Virginal Conception of Jesus in the New Testament“, [1973] To Advance the Gospel (New York, 1981), 47-51; FREITAS FERREIRA, Conceiçâo, 252-68; MÜLLER, Geboren, 56-60. Insgesamt positiver wertet das Quellenmaterial C.E.B. CRANFIELD, „Some Reflections on the Subject of the Virgin Birth“, SJTh 41 (1988), 177-89 aus. 274 Die ausschließliche intertextuelle Bezogenheit auf das AT, die FRANKEMÖLLE in seinem Kommentar für die Lektüre des Mt-Evangeliums postuliert, läuft hier m.E. ins Leere. Daher ist sein Versuch (149-54; ganz ähnlich PESCH, „Messianic Exegesis“, 150-61), dieses Motiv rein aus atl.-jüd. Schöpfungsvorstellungen ableiten zu wollen, unbefriedigend. Gott hat zwar als Schöpfer mit der Bildung des Kindes im Mutterleib zu tun und kann solches auch durch ein Wunder bewirken, aber niemals unter Ausschluß männlicher Kausalität (W. BERG, „Geburt“, NBL 1 [1991], 748-51). Die biblisch-theologische Konstruktion von H. GESE, „Natus Ex Virgine“, [1971] Vom Sinai zum Zion (BEvTh 64; München, 31990), 130-46 kann zwar eine messianisch-davidische Erwartung der Geburt eines Erneuerers glaubhaft machen, aber eben keine jungfräuliche Geburt.

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Jungfrau ist, das verheißene Kind also eine Erstgeburt ist275. Die oft zitierte Stelle in Philo, De Cherub 40-47 spricht zwar von einer Zeugung ohne männliche Beteiligung, aber es ist von den genannten Frauen, Sara, Leah, Rebekka und Zippora, nicht als historische Einzelgestalten die Rede, sondern als Allegorien für die Tugend, die von Gott reiche Frucht empfängt276. Wesentlich klarer sind die Aussagen in slavHen 23 (Sopanima wird ohne männliche Teilnahme in hohem Alter schwanger und gebiert Melchisedek), VitProph 2,7f (Jeremia sagt die Geburt eines Erlösers in einer Krippe aus einer Jungfrau voraus) und ApokAd NHC V,5,78,18-79,19 (der Erlöser aus einer Jungfrau). Aber abgesehen von der Datierung der einzelnen Schriften (frühestens Ende des 1. Jh.s n.Chr.), ist die Möglichkeit christlichen Einflusses nicht auszuschließen. Weit verbreitet war das Motiv einer gottgewirkten Geburt v.a. in Ägypten, wo die göttliche Zeugung des neuen Königs fester Bestandteil der frühen Hofmythologie war277. Der ägyptische Geburtsmythos wurde auch in den Geburtshäusern des Gotteskindes (sog. „Mammisi“) bildlich dargestellt und szenisch nachgespielt278. Einzelne Elemente des Zyklus sinken in die spätere Welt des ägyptischen Denkens ab und prägen Erzählungen von der Vereinigung eines Gottes mit einer Frau, wobei ihre Jungfräulichkeit sekundär ist 279. Im hellenistischen Bereich sind 275

So BROWN, Birth, 145-9.523f; CRANFIELD, „Reflections“, 181; DAVIES/ALLISON, I, 214; GESE, „Natus“, 145. Parqénoß kann auch eine weitere Bedeutung als „Jungfrau“ haben (vgl. G. DELLING, „Párqenoß“, ThWNT 5 [1954], 825f.831). Für eine Deutung im Hinblick auf eine jungfräuliche Zeugung plädieren aufgrund des ägyptischen Einflusses M. RÖSEL, „Die Jungfrauengeburt des endzeitlichen Emmanuel: Jesaja 7 in der Übersetzung der Septuaginta“, JBTh 6 (1991), 135-51 und in Auseinandersetzung mit ihm auch J. KÜGLER, Pharao und Christus? (BBB 113; Bodenheim, 1997), 218-22. 276 Vgl. GESE, „Natus“, 131; Anm. 2; GNILKA , I, 26; MÜLLER, Geboren, 41. Anders M. DIBELIUS, „Jungfrauensohn und Krippenkind“, [1931] Botschaft und Geschichte (Tübingen, 1953), I, 30-4. 277 Vgl. dazu E. BRUNNER-TRAUT, „Die Geburtsgeschichte der Evangelien im Lichte ägyptischer Forschungen“, ZRGG 12 (1960), 97-111; J. ASSMANN, „Die Zeugung des Sohnes“, in J. Assmann u.a., Funktionen und Leistungen des Mythos (OBO 48; Fribourg, CH; Göttingen, 1983), 13-61; KÜGLER, Pharao und Christus? 18-81. 278 Eine ausführliche Besprechung der einzelnen Szenen bietet H. BRUNNER, Die Geburt des Gottkönigs: Studien zur Überlieferung eines altägyptischen Mythos (ÄA 10; Wiesbaden, 2 1986), 10-166, der sich auf die Überlieferung bis zum Ende des Neuen Reichs (ca. 1070 v.Chr.) beschränkt. 279 Vgl. Herodot 1,182 (eine Frau, die im Tempel des thebanischen Zeus nächtigt, wird von einem Gott schwanger); Diodorus Siculus, BiblHist IV,2,1 (gottgewirkte Geburt des Dionysius durch Zeus); IV,9,1-10,4 (= LCL 303 [1935], 368-75: Zeus nimmt die Gestalt Amphitryons an, um mit der jungfräulichen Alkmene Herakles zu zeugen; als Hera aus Eifersucht das Kind töten will, versteckt es Alkmene); Heliodor, Aithiopika 3,14 (der Ägypter Kalasiris belehrt einen griechischen Freund, daß Homer in Theben durch die Verbindung der Gemahlin eines Priesters mit Hermes bei einer Kulthandlung gezeugt wurde; vgl. Reymer, BAW, 93); Strabo 17,46; Plutarch, Numa 4,6 (die Ägypter denken, daß es für eine Frau nicht unmöglich ist, daß sie mit dem göttlichen Geist verkehre). Die hellenistische ägyptogene Burleske des Pseudo-Kallisthenes Der Trug des Nektanebos (hg. O. Weinreich; Auswahl in Pfister) führt die Herkunft Alexanders auf den ägyptischen Gott Amun zurück. Die Vorstellung der gottgewirkten Geburt war in der ptolomäisch-hellenistischen Zeit weiterhin lebendig und zeigte im ganzen Mittelmeerraum Wirkung auf die Osiris-Mysterien bis zum römischen Kaiserhof (BRUNNER-TRAUT, „Geburtsgeschichte“, 104f). Das später von einigen Kirchenvätern bezeugte alexandrinische Geburtsfest des Aion-Helios (Epiphanius, Panarion 51,22,8ff; Cosmas Indicopleustes V,10-12) bezeugt solche Einflüsse, wobei nicht gesichert ist, ob die

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Vorstellungen einer gottgewirkten Geburt von historischen Einzelgestalten wie Alexander oder Platon überliefert280. Fazit: Das Motiv einer gottgewirkten, wenn auch nicht notwendigerweise jungfräulichen Zeugung hat von Ägypten aus in der hellenistischen Welt Verbreitung gefunden. Dem Judentum ist diese Vorstellung fremd 281. Sie begegnet erst spät in Texten, die im ägyptischen Raum anzusiedeln sind und christlich beeinflußt sein könnten. Bildet die ägyptisch-hellenistische Vorstellungswelt den Wahrnehmungshorizont für Mt 1,18?282 M.E. würde ein solches Verständnis im Hinblick auf die Weiterentwicklung der Figur Jesu Erwartungen wecken, die im Verlauf der Erzählung nicht eingehalten werden 283, denn Jesus erweist sich weder als Gott-König noch als titanischer Held, sondern als der gehorsame Gottessohn, der, in einer inneren Verbindung zu Gott stehend, den Tod auf sich nimmt. Der matthäischen Erzählung fehlt im Gegensatz zu den ägyptischen und hellenistischen Texten jedes ausmalende Element; sie schildert keine Begattung durch eine Metamorphose der Gottheit284. In diesem Fall ist die Rhetorik des Textes so karg, daß auch die Religionsgeschichte die Enzyklopädie der Leser/innen nicht erschließen kann. Was Mt schreibt und wie er es schreibt, sagt für jüdische Hörer/innen zuviel und für heidnische zuwenig aus 285. Als Leerstelle läßt sich dieses Motiv dem Repertoire keines dieser beiden Umfelder sinnvoll zuordnen. Wie die jungfräuliche Zeugung zu einer für die Rezipierenden des Matthäusevangeliums so selbstverständlichen Voraussetzung werden konnte, liegt m.E. theologiegeschichtlich im Dunkeln.

Feiern in die ptolomäische Zeit zurückreichten (vgl. RÖSEL, „Jungfrauengeburt“, 146). 280 Zur Alexandersage vgl. Plutarch, Alexander 2,2ff; Tertullian, De anima 46; und den köstlichen satirischen Dialog in Lukian, Dialogi mortuorum 13,1f (= MacLeod, 66-71); vgl. KÜGLER, Pharao und Christus? 136-45. Zur Geburt Platos vgl. Origenes, Contra Celsum I,35-39 (= Borret, 170-183); Diogenes Laertius 3,2 (beruft sich auf athenische Lokaltradition, wonach Ariston von Apollo Weisung erhielt Periktione bis zur Geburt Platos nicht zu berühren); Olympiodor, Vita Platonis 1 (= Hermann VI,191); Hieronymus, Adv. Jovinianum 1,42 (nennt Platon neben Buddha, Minerva u.a. als Beispiele heidnischer Fabeln göttlicher Geburten). 281 BULTMANN, Geschichte, 316, Anm. 3; Bill. I,49f. 282 Eine direkte religionsgeschichtliche Herleitung der Jungfrauengeburt aus dem ägyptischen Umfeld ist seit E. NORDEN, Die Geburt des Kindes (1924; Nachdr. Darmstadt, 1956) weit verbreitet. Vgl. BRUNNER-TRAUT, „Geburtsgeschichte“, 107-9; M. GÖRG, Mythos, Glaube und Geschichte: Die Bilder des christlichen Credo und ihre Wurzeln im Alten Ägypten (Düsseldorf, 1992), 97-121; H. KLEINKNECHT, „pneüma“, ThWNT 6 (1959), 340f; RÖSEL, „Jungfrauengeburt“, 145-8. 283 LUZ, I,110; Anm. 86 fragt zu Recht: „Wird nicht Jesus als Jungfrauensohn mindestens für hellenistische Leser und Hörer einer relativ großen Gruppe von Heroen, Königen, Philosophen (qeïoi ‘andreß) zugeordnet, statt von ihnen unterschieden?“ M. DAVIES, 31: „If the Matthaean text had taken over this form of story, readers would have to understand Jesus as a semi-divine hero. The Matthaean text, however, does not draw on this tradition, but on Scripture.“ 284 Ein solches Verständnis wird schon durch die Nennung des Heiligen Geistes verbaut, der im Griechischen neutrisch und im Hebräischen feminin gedacht wird (vgl. LUZ, I,104). 285 Man kann also nicht pauschal sagen: „The genealogy was intended for Jews …, while the Virgin Birth story was intended for the Greco-Roman world.“ (LACHS, 5f)

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Der fehlende Zugang zur Enzyklopädie der Leser/innen läßt auch weithin offen, ob sie bei diesem Motiv automatisch an die Gottessohnschaft Jesu gedacht haben286. Die beiläufige Einführung des Titels im Hosea-Zitat in 2,15 setzt eine Kenntnis der Gottessohnschaft Jesu voraus. Andererseits kommt es im Verlauf der Geburtsepisode viel eher auf die Funktion Jesu als Sündenerlöser und „Immanuel“ an287. Nachdem bereits der Titel sprachlich die Genesisgeschichte in das Bewußtsein der Rezipierenden gerufen hat, könnte der an das Ende des Satzes gestellte Hinweis auf den göttlichen Geist an dessen Wirken in der Schöpfung erinnern288. Das wäre ein weiterer Baustein für die Gestaltbildung der Rezipierenden, der sich zusammen mit dem Titel (1,1), der teleologischen Stellung Jesu in der Genealogie und der Aufteilung in drei gleich lange Perioden (1,17) zu einem kleinen christologischen Gebäude zusammensetzen läßt: Mit Jesus läßt Gott etwas Neues beginnen; er ist der entscheidende Wendepunkt in der Geschichte Gottes mit seinem Volk. Wie wenig der Erzählung an einer legendenhaften Verarbeitung des Motivs der jungfräulichen Geistzeugung liegt, zeigt der interessante Umstand, daß in 1,18 eigentlich das Rätsel der Geburt Jesu vorzeitig gelöst wird. Die Rezipierenden sind mit dem Wissen um die tatsächliche Ursache des Konflikts Josef, dem eigentlichen Handlungsträger dieser Episode, um einiges voraus. Indem der Erzähler diese Information preisgibt, konstituiert sich das Verhältnis Autor-Leser/in in analoger Weise zu dem Verhältnis Engel des

286 Die kausale Verbindung zwischen Jungfrauengeburt und Gottessohnschaft fehlt in Röm 1,3f, wird aber in Lk 1,31f ausdrücklich hergestellt. In diesem Sinne J. K REMER, „Das Erfassen der bildsprachlichen Dimension als Hilfe für das rechte Verstehen der biblischen ‚Kindheitsevangelien‘ und ihre Vermittlung als lebendiges Wort Gottes“, Metaphorik und Mythos im Neuen Testament, hg. K. Kertelge (QD 126; Freiburg, 1990), 104: „das Wunder der nie zu begreifenden, in Gottes Schöpferkraft gründenden Menschwerdung des ewigen Sohnes“. ANDERSON, „Gender“, 10: „Although Jesus is Son of David through Joseph, he is Son of God through Mary.“ H. G EIST, „Jesusverkündigung im Matthäusevangelium“, Jesus in den Evangelien, hg. W. Pesch (SBS 45; Stuttgart, 1970), 122: „Jesus ist vom Geiste gezeugt, er ist bereits als Sohn Gottes geboren.“ KINGSBURY, Matthew as Story, 43: „By reason of his unique origin, he is the Son of God.“ Vgl. aber auch: R. H UMMEL, Die Auseinandersetzung zwischen Kirche und Judentum im Matthäusevangelium (BEvTh 33; München, 21966), 116: „Mit der jungfräulichen Geburt hat er die Gottessohnschaft Jesu … nicht ausdrücklich in Verbindung gebracht.“ Skeptisch auch D.J. VERSEPUT, „The Role and Meaning of the ‚Son of God‘ Title in Matthew’s Gospel“, NTS 33 (1987), 532f; FREITAS FERREIRA, Conceiçâo, 241f; J. NOLLAND, „No Son-of-God Christology in Matthew 1.18-25“, JSNT 62 (1996), 5-8. 287 Vgl. HORTON, „Parenthetical Pregnancy“, 179-86. 288 Nach G. WALLIS, „Die theologische Bedeutung der Wundergeburten im Alten und Neuen Testament“, De la Tôrah au Messie (FS H. Cazelles), hg. M. Carrez u.a. (Paris, 1981), 178 geht es um das „schöpferische Eingreifen Gottes in die Geschichte“, wobei aber die „Mittelbarkeit des göttlichen Handelns … soweit abgebaut [worden ist], daß sie weiter nicht mehr reduziert werden kann.“ Zur kosmischen Funktion des Geistes im AT und im Judentum vgl. F. BAUMGÄRTEL, E. SJÖBERG, „pneüma“, ThWNT 6 (1959), 361/5-33; 364/11-31; 384/31-385/6.

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Herrn/Josef in 1,19-21: Der Erzähler ist Übermittler göttlicher Geheimnisse und die Hörer/innen willige Empfänger von „Offenbarungen“289. 1,19 Die Erzählung schwenkt nun von Maria auf Josef. Das ist aus zwei Gründen erforderlich: 1. Sozialgeschichtlich steht die Erzählung in einer Kultur, in der das Fehlverhalten einer Frau als Schande für den über ihr stehenden Mann empfunden wird290. Der Verdacht des Ehebruchs würde für den Uneingeweihten durchaus naheliegen. Da Maria bereits verlobt ist, ist für die Klärung dieser Angelegenheit nicht ihr Vater, sondern Josef zuständig. 2. Theologisch ist Josef als Träger der davidischen Verheißungslinie in seiner Rolle als Vater Jesu unerläßlich, wenn die Genealogie irgendeinen Sinn machen soll. Marias Schwangerschaft ist demnach eine Erschwerung auf dem Weg zur genealogischen Zuweisung der Davidssohnschaft Jesu. An dieser Stelle, in der ein Mann-Frau Konflikt im Rahmen einer „shame-and-honour-Kultur“ zur Sprache kommt, ist es übrigens sehr gut vorstellbar, daß weibliche Hörerinnen intensiver mit Maria mitgefühlt haben als männliche. Daß der Konflikt schließlich einer Lösung zugeführt wird, wurde bereits in 1,16 angedeutet und durfte den Erst-Reziperenden aus ihrem Traditionswissen womöglich auch bekannt sein. Die direkte Charakterisierung Josefs als díkaioß spiegelt das von Erzähler und Erzähladressaten geteilte Normrepertoire wider. Der Plan der heimlichen Scheidung steht in einem direkten Zusammenhang mit seiner Gerechtigkeit. Doch lassen die Semantik von díkaioß wie die Syntax der beiden adverbial gebrauchten Partizipialsätze (díkaioß ’wn kaì m`j qélwn ahut`jn deigmatísai) mindestens zwei Interpretationen zu: 1. Antithetisch: Die Gerechtigkeit Josefs wird zum Konfliktherd für die Geschichte, weil sie seine bedingungslose Treue zur Torah bezeichnet291. Obwohl er also gerecht ist und das Gesetz gerade dies von ihm fordert, möchte er Maria nicht öffentlich bloßstellen (deigmatízw)292. Der fromme Josef würde damit im Zwiespalt zwischen seiner Treue gegenüber der Torah, die deutlich Scheidung gebietet, und seiner „Treue“ gegenüber seiner Verlobten, die

289 Der Erzähler weiß über das Innenleben seiner Charaktere Bescheid (1,19f) und deutet für seine Leser/innen den hebräischen „Namen“ Immanuel (1,23). Eine ähnliche Vorgehensweise läßt sich in 16,17 beobachten: Wenn dort das Bekenntnis zu Jesus als Gottessohn auf göttliche Offenbarung zurückgeführt wird, dann hat der Erzähler seine Leser/innen (und nicht einzelne Figuren innerhalb der Erzählung, wie die dritte Singularform in 3,17 belegt) schon in 3,16-4,11 (Taufe und Versuchung) an diesem Geheimnis teilnehmen lassen! 290 Vgl. E. und W. STEGEMANN, Urchristliche Sozialgeschichte (Stuttgart, 1995), 318: „Die Ehre des Mannes kann durch die Frau verletzt werden.“ In der mediterranen Gesellschaft waren Frauen „‚repositories‘ der männlichen Ehre“ (319). 291 Vgl. BROWN , Birth, 84f; DAVIES/A LLISON, I,202f. Gerechtigkeit im Sinne von Gesetzesgehorsam auch bei Josephus, Ap 2,293; Ant 1,225; 6,165; 8,208. 292 Vgl. Dtn 22,20-27; Bill., I,51f.

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deutlich Diskretion gebietet, stehen293. 2. Komplementär: Josefs Gerechtigkeit erweist sich weniger im Gesetzesgehorsam als vielmehr in seiner Freundlichkeit und Milde294, weshalb seine Entscheidung, sie nicht bloßzustellen, eine logische Konsequenz dieser inneren Verfassung ist. Ob die Leser/innen allerdings diese Auslegungsunterschiede auch gesehen haben, mag dahingestellt sein. Spätestens aber bei einer relecture sollte deutlich werden, daß die Verbindung von Gesetzesgehorsam und Milde für das moralische Wertesystem der gesamten Erzählung grundlegend ist (9,13; 12,7; 23,23; 25,46; 27,19.24), so daß Josef als Prototyp des matthäischen Frömmigkeitsideals295 zugleich eine Identifikationsfigur für die Leser/innen werden kann. Um so mehr mögen die Leser/innen, die ihm an Wissen voraus sind, bedauern, daß er dennoch eine schlechte und den gesamten Status Jesu gefährdende Entscheidung zu treffen im Begriff ist. Aus einer leserorientierten Perspektive läßt sich m.E. ziemlich deutlich Stellung beziehen zu der vorwiegend katholischerseits vertretenen Auslegung, daß Josef um die Umstände der Zeugung Jesu wisse und seine Reaktion nichts anderes als Scheu vor dem Kontakt mit dem heiligen Kinde sei 296. Man könnte zwar die Anweisung des Engels an Josef, sich vor der Heirat mit Maria nicht zu fürchten, als Beleg für diese Deutung in Anspruch nehmen, aber abgesehen von der schwer begründbaren Redundanz der Engelsbotschaft in 1,20c ist das Motiv der heiligen Scheu vor dem Kind in vergleichbaren Geburtsgeschichten kaum belegt (vgl. a. 1QapGen 2,1-16; äthHen 106,4-6). Es ist auch schlicht nicht zu erklären, warum der fromme Josef einerseits die Heiligkeit des Kindes erkannt haben sollte, um dann eine Entscheidung zu treffen, die zumindest im jetzigen Textgefüge für den messianischen Status des Kindes so gefährlich ist. Aus der Sicht der Rezipierenden läßt sich mit ziemlicher Gewißheit sagen, daß Josef den wahren Grund von Marias Schwangerschaft erst durch die Offenbarung des Engels in 1,20 erfährt 297.

1,20a Die Erzählung ist am Ende von 1,19 wieder in eine Sackgasse geraten. Der Entschluß Josefs trägt zur Bildung von Spannung insofern bei, als die Le-

293

Vgl. SCOTT, „Birth“, 90; D. O. VIA, „Narrative World and Ethical Response: The Marvelous and Righteousness in Matthew 1-2“, Semeia 12 (1978), 136: „He hesitates between ‚legal‘ righteousness and ‚compassionate‘ righteousness.“ 294 So bes. C. S PICQ, „‚Joseph, son Mari, étant juste…‘ (Mt. 1,19)“, RB 71 (1964), 206-214; s.a. LUCK, 23. 295 LUZ, I,104: „Josef legt das Gesetz im Sinne des Liebesgebotes aus.“ KUPP, Emmanuel, 58: Josefs Verhalten „provides the first contribution to the implied author’s paradigm of the true follower.“ 296 Klassisch dargestellt in X. LÉON-DUFOUR, „L’annonce a Joseph“, Etudes d’Evangile (Desclée, 1965), 65-81. Vgl. zur Kritik BROER, „‚Jungfrauengeburt‘“, 252f. Weitere Literatur in LUZ, I,103, Anm. 34. 297 GABLER, „Mutter Jesu“, 18: „Für den Leser/die Leserin von Mt 1,18 ist dies klar, Josef erfährt es erst durch die Deutung des Engels.“

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ser/innen wissen, daß sein Verdacht unbegründet ist298. Josef selbst scheint allerdings nicht sehr fest entschlossen zu sein, denn die Engelsoffenbarung trifft ihn, als er gerade über die Angelegenheit nachsinnt299. Diese Verzögerung gibt Anlaß zu einer überraschenden (˙doú) Peripetie in der Erzählung, die durch einen Engel des Herrn herbeigeführt wird. Über sein Auftreten können sich die Rezipierenden nur freuen: Josef erfährt das, was sie schon längst wissen, ihm aber nicht mitteilen können. Der Engel des Herrn erscheint Josef im Schlaf und klärt ihn über die Lage auf300. Erzählungen von Traumvisionen hatten im Altertum eine relativ feste Form, die über die Grenzen der atl.-jüd. Literatur hinausreicht301: 1. Exposition („scene-setting“): Angaben über den Offenbarungsempfänger, Zeit, Ort und Verfassung des Träumenden302. 2. Einleitung mit technischen Ausdrücken wie ‘onar ˙deïn, henúpnion, “orama, ‘oyiß, fásma usw. Der Traumbericht wird dabei meist durch das Verb dokeïn eingeleitet. 3. Bericht der Traumvision, die in drei Kategorien unterteilt werden kann: a) Audio-visueller Traum: Eine Traumoffenbarungsfigur (oft eine Gottheit oder ein Engel) erscheint, wird identifiziert und beschrieben und übermittelt der träumenden Person eine Botschaft, meist mit einer konkreten Anweisung verbunden. b) Audition: Im Traum wird nur die Stimme der Gottheit wahrgenommen. c) Vision: Im Traum werden nur Szenen ohne Botschaft und Interpretation geschaut. 4. Reaktion und Antwort: Der Mensch wacht auf und reagiert mit Furcht oder Verwunderung, um dann aber das Befohlene auszuführen. Solche Visionsberichte, die in antiken Geschichtserzählungen, Biographien, Briefen und Novellen keine Seltenheit darstellen, sind nicht nur dekoratives Beiwerk, sondern leiten oftmals einen wichtigen Umschwung in der Erzählhandlung ein303. In diesem Sinne fügt sich Mt 1,18-25 nicht nur äußerlich, sondern auch funktionell in dieses Spektrum ein 304.

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BROER, „‚Jungfrauengeburt‘“, 252: Der Evangelist hat „dadurch, daß er dem Leser von Anfang an klarmacht, woher die Schwangerschaft Mariens stammt, zugleich aber den Joseph als unwissend … darstellt, sehr geschickt den Spannungsbogen hergestellt.“ 299 Zur Bedeutung von henquméomai vgl. F. BÜCHSEL, „h enquméomai“, ThWNT 3 (1938), 172. 300 Der Begriff ‘o nar ist ein mt. Vorzugswort (1,20; 2,12f.19.22; 27,19), das in der LXX nicht belegt ist, dafür aber um so häufiger in Josephus (etwa Ant 1,208.313f; 2,12.63.70.72.82; 5,192.219.222; 8,125; 9,85; 10,195f.200.203f.206.208.211; 12,112; 17,238.345.351; Bell 2,112. 114.116). Weitere Belege von ‘onar als terminus technicus für Visionsberichte bei J.S. HANSON, „Dreams and Visions in the Graeco-Roman World and Early Christianity“, ANRW II/23,2 (1980), 1408; Anm. 51. 301 Vgl. bes. HANSON, „Dreams and Visions“, 1400-13 (Lit!). 302 Ähnlich wie in Mt 1,20 hat Alexander eine Traumvision, als dieser bei sich überlegt (pròß hemautòn diaskeptomén^w), wie er Asien erobern könnte (Jos., Ant 11,334). 303 HANSON , „Dreams and Visions“, 1413. 304 HANSON, „Dreams and Visions“, 1413: „It conforms completely to formal expectations.“ Eine enge Verbindung zu den Traumvisionen in Gen ist von R. GNUSE, „Dream Genre in the Matthean Infancy Narratives“, NT 32 (1990), 97-120 hergestellt worden.

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1,20b-21 Im Zentrum des Berichtes steht die konkrete Rede des Engels: Signifikant ist schon die Anrede Josefs als Sohn Davids, die gleich in aller Klarheit den Leser/innen dessen zentrale Funktionszuweisung in dieser Episode deutlich macht. Für die Beziehung zwischen den Leser/innen und Josef, der derzeitigen Hauptfigur, bedeutet dies allerdings auch, daß der Vorbildcharakter, den der gerechte Josef nach 1,19 erfüllen konnte, nun wieder etwas in die Ferne gerückt wird, da er hier als jemand auftritt, der eine einmalige geschichtliche Funktion wahrnehmen soll: Jesus den formalen Anspruch auf die Davidssohnschaft sichern. Dafür sind zwei Schritte notwendig: 1. Josef soll sich nicht „fürchten“, seine Verlobte Maria zu heiraten (m`j fobjq¨∆ß paralabeïn)305. Der Aufruf, sich nicht zu fürchten, hat hier nicht die in Angelo- und Theophanien übliche Funktion, den Offenbarungsempfänger zu beruhigen (so in Mt 14,27), sondern ist auf das Verhältnis Josefs zu seiner Verlobten bezogen306. Es geht hier also weniger um „heilige Furcht“ (s.o. 258), als um die berechtigte Angst, innerhalb der moralischen Strukturen der damaligen Welt einen solchen Schritt zu wagen. Positiv sagt der Engel nichts anderes als: „Schäme dich nicht, deine Frau zu heiraten!“ Die Begründung bringt die für die Hörer/innen aus 1,18 bekannte Information: das in ihr gezeugte Kind ist vom Heiligen Geist307. 2. Für die „Einpflanzung“ Jesu in das davidische Geschlecht bedarf es noch eines zweiten Schrittes: Wenn Maria einen Sohn gebären wird, soll Josef ihn „Jesus“ nennen308. Diese Formulierung weckt nicht nur Erinnerungen an andere alttestamentlich-jüdische Geburtsgeschichten309, sondern bereitet die Leser/innen bereits auf das Jesaja-Zitat in 1,23 vor. Der Akt der Namensgebung beschließt die Aufnahme Jesu als einen legitimen Sohn Josefs310. Die 305

Das Verb paralambánw („zu sich nehmen“) ist auf dem Hintergrund der Heimholung der Braut durch den Bräutigam am Tag der Hochzeit zu verstehen. 306 Zur Wendung fobéomai mit Infinitiv vgl. Mt 2,22; Lk 9,45; LXX: Gen 26,7; 46,3; Ex 34,30; Num 12,8; Ri 7,9(10); 1Bas 3,15; 2Bas 1,14; Tob 4,8; Hi 32,6; VitAd 18,5; grHen 101,1; JosAs 11,15. 307 Zur Frage, ob die Passivform gennjqén als Passivum divinum zu verstehen ist, vgl. zu 1,16. GAECHTER, 49: „tò gennjqén betont nicht das Gezeugtsein als solches, sondern besagt einfach das im Mutterschoß zum Leben gebrachte Kind.“ 308 STENDAHL, „Quis et Unde“, 100 spricht von einer „legend of divine name-giving“. In den rabbinischen Quellen galt der Name des Messias als von Anbeginn der Schöpfung an bekannt (Bill., I,64). 309 Neben Jes 7,14 vgl. Gen 16,11 (der Engel des Herrn zu Hagar: h Idoù sù hen gastrì ‘eceiß kaì téx∆ uÓòn kaì kaléseiß tò ‘onoma ahu toü Ismajl, “oti hep´jkousen kúrioß t¨∆ tapein´wsei sou = Philo, Fug 1,204); 17,19 (Gott zu Abraham: ˙doù Sarra Hj gun´j sou téxetaí sou uÓón, kaì kaléseiß tò ‘onoma ahutoü Isaak = Philo, All 3,85; Mut 253.261); äthHen 106,18 (Lamech soll seinen Sohn Noah nennen); LibAnt 42,3 (die Frau Manoahs wird einen Sohn gebären und soll ihn Simson nennen). 310 Daß die Benennung durch den Vater einer Adoption gleichkommt, wird allgemein angenommen (z.B. HOOKER, Beginnings, 26f; HORTON, „Parenthetical Pregnancy“, 184: „sons-

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Anweisung zur Namensgebung bietet einen geeigneten Anlaß, in einem angefügten Begründungssatz den Namen „Jesus“ theologisch zu vertiefen. Eine solche Erklärung gehört nicht unbedingt zu den gattungsspezifischen Erwartungen der Leser/innen311. Bedenkt man, daß Namensetymologien in Erzählungen, besonders wenn sie in der Futurform formuliert werden, oft programmatischen Charakter haben, dann kommt dieser Aussage eine hohe kommunikative Relevanz zu312. Das betont vorangestellte ahutóß weist darauf hin, daß jetzt von etwas die Rede ist, das von Jesus in ganz besonderer Weise gesagt werden kann. Die etymologische Erklärung basiert offensichtlich auf einem Wortspiel: h Ijsoüß leitet sich von AoUvwøh◊y („Jahwe ist Rettung“) ab, das wiederum ein Verbalnomen von ovy („retten“, „befreien“, „helfen“) ist313. Bereits BULTMANN stellte fest: „In V. 21 müßte eigentlich der Name h Ijsoüß übersetzt sein, damit die Begründung ahutòß gàr s´wsei ktl. verständlich wird.“314 Diese etymologische Herleitung des jüdischen Allerweltsnamens „Jesus/Joschua“ scheint allerdings auch im griechischsprachigen Judentum so bekannt gewesen zu sein, daß den Leser/innen an dieser Stelle keine Kenntnisse der hebräischen Sprache unterstellt werden müssen, damit der Text „funktioniert“315.

hip in scripture is not a matter of biological generation but of paternal acceptance“). Anders JONES, „Subverting“, 259-61; MUSSIES, „Parallels“, 34: „[T]here is no reliable evidence for the existence of adoption in post-Exilic Jewish Palestine.“ Es spielt allerdings kaum eine Rolle, ob dies dem damaligen Adoptionsbrauch entspricht oder nicht, da sich aus der narrativen Rhetorik schließen läßt, daß mit der väterlichen Namensgebung das „Verfahren“ als abgeschlossen zu betrachten ist. 311 Eine Namensetymologie bei der Geburtsankündigung bietet im AT nur Gen 16,11 (Ismael). 312 Auffällig ist die Ähnlichkeit mit dem Vaticinium in der Geburtsankündigung Simsons: “oti ˙doù sù hen gastrì ‘eceiß kaì téx∆ uÓón, … kaì ahutòß ‘arxetai toü s¨wsai tòn Israjl hek ceiròß Fulistiim (Ri 13,5 [B]). Vgl. a. LibAnt 9,10 (Geburtsankündigung Moses; Vaticinium, daß Gott durch ihn Zeichen tun wird und sein Volk erlösen wird). Rabbin. Texte bei R. BLOCH, „Die Gestalt des Moses in der rabbinischen Tradition“, in H. Cazelles u.a., Mose in Schrift und Überlieferung (Düsseldorf, 1963), 111f. Zur zentralen Rolle von Namen für die Charakterisierung des Helden im AT vgl. M. GARSIEL, Biblical Names (Ramat-Gan, 1991) und für den hellenistischen Bereich KENNEDY, „Language and Meaning“, 86f. 313 W. FOERSTER, „h Ijsoüß“, ThWNT 3 (1938), 289/45-290/1. 314 BULTMANN, Geschichte, 316. 315 Philo, von dessen Hebräischkenntnissen die Forschung nichts Positives zu berichten weiß, kann immerhin den Namen „Jesus“ mit swtjría kuríou wiedergeben (Mut 121; vgl. L.L. GRABBE, Etymology in Early Jewish Interpretation: The Hebrew Names in Philo [BJSt 115; Atlanta, 1988], 168). Nach Sir 46,1 war Joschua dazu geschaffen, seinem Namen entsprechend (katà tò ‘o noma ahu toü), für die Erwählten eine Rettung (swtjría) zu sein, indem er an den Feinden Rache nimmt und Israel in das Land führt. Richtig daher HAGNER, I,19: „The reader’s knowledge of the meaning of h Ijsoüß via its Hebrew meaning is assumed by the gár without further explanation, indicating that this early Hebrew etymology had already become a part of the common tradition of the Greek-speaking church.“

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Das Stichwort „Rettung“ mag vielleicht manche Leser/innen in Richtung einer national-politischen Deutung geführt haben316, denn von der militärischen Befreiung des Volkes ist in der alttestamentlich-jüdischen Literatur oft die Rede317. Die göttliche Verheißung in bezug auf die Person Jesu geht aber deutlich in eine andere Richtung: Er wird sein Volk nicht aus einer politischen Notsituation retten, sondern von seinen Sünden318. Von einem Sünden vergebenden Messias sprechen jüdische Texte eher selten319. Demnach ist damit zu rechnen, daß hier ein spezifisch christliches Anliegen zum Tragen kommt320, dessen Bedeutung eigentlich nur von Leser/innen erkannt werden kann, die in der christlichen Tradition stehen oder sie zumindest kennen. Die Hörer/innen werden bei Sünden nicht nur an individuelle Einzelvergehen denken, sondern auch an die Gesamtschuld des Volkes321. Ob mit laóß das Bundesvolk Israel oder bereits die christliche Gemeinde gemeint ist, wird unterschiedlich beantwortet322. Spätestens in 2,6 wird man bei laóß an Israel denken, nur bleibt zu fragen, ob die Erst-Rezipierenden so scharf wie wir zwischen Israel und Kirche getrennt haben. 1,22-23 Der Erzähler nimmt direkt nach der Rede des Engels die Gelegenheit wahr, um die Gedanken seiner Leser/innen auf einen intertextuellen Bezug zwischen den erzählten Ereignissen und der alttestamentlichen Prophetie zu lenken. Ob das Schriftzitat noch zur Rede des Engels gehört323 oder ein Kom316 Ähnlich HAGNER, I,19. 317 Gideon befreit das Volk

von den Midianitern (Ri 6,14.37); Simson von den Philistern (Ri 13,5); ebenso Saul (1Bas 9,16: s´wsei tòn laón mou hek ceiròß hallofúlwn; vgl. 10,1) und David (1Bas 23,2 A); ein jüdischer Soldat opfert sich im Kampf, um sein Volk zu retten (1Makk 6,44). Ansonsten ist von der Befreiung des Volkes durch Gott die Rede: Dtn 33,29; 2Bas 22,28; 2Chr 32,13-15; Y 17,27; 27,9; Jer 38(31),7; Dan Q 12,1; Sach 8,7; 2Makk 2,17. 318 Die Verbindung s^´wzw hapò t¨ wn Hamarti¨ wn ist meines Wissens in der griech. Literatur nicht belegt. Selbst s^´wzw hapò ist selten (normal ist s^´wzw hek; vgl. aber Y 68,14; Jes 46,2.7; Jer 49,17; 51,28; Dan LXX 6,20.22; 11,41). Sachlich am nächsten kommt Y 129,8: kaì ahutòß [= kúrioß] lutr´wsetai tòn Israjl hek pas¨wn t¨wn hanomi¨wn ahutoü. 319 Vgl. Bill., I,67ff; IV,978ff. LUZ, I,104, Anm. 45 stellt fest, daß jüdische Texte von der Beseitigung der Sünder durch den Messias reden, „aber nicht davon, daß er Sünden vergibt“. D.J. VERSEPUT, „The Davidic Messiah and Matthew’s Jewish Christianity“, SBL.SP 34 (1995), 108 verweist allerdings auf CD 14,19: „... bis zum Auftreten des Gesalbten Aarons und Israels. Und es sühnt ihre Verschuldung.“ (= Maier, I, 29; GARCÍA MARTÍNEZ, Textos, 92 übersetzt klar im Sinne eines von Sünden vergebenden Messias.) 320 Vgl. Mt 9,8; 26,28. 321 C.-H. SUNG , Vergebung der Sünden (WUNT II/57; Tübingen, 1993), 141: „Nach der apokalyptischen Vorstellung ist die Weltzeit, die dem Kommen des Messias vorangeht, voll von Sünde, Schlechtigkeit und Ungerechtigkeit.“ 322 Für Israel: FRANCE, 78; LUZ, I,105, SCHENK , Sprache, 128; WEISS, 55; ZAHN, 79. Für christliche Gemeinde: BONNARD, 421; DAVIES/A LLISON, I,210; FRANKEMÖLLE, Jahwe-Bund, 211-18; GNILKA, 21; GUNDRY, 25; McNEILE, 8. 323 CARSON , 76; FENTON, 79f; W EISS, 55.

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mentar des Erzählers ist324, mag zwar für die Wahrnehmung des Textes nicht ausschlaggebend sein, aber die Tatsache, daß traditionellerweise die Botschaft des Engels mit dem Auftrag zur Namensgebung zu Ende ist, läßt eher vermuten, daß die Rezipierenden hier die Stimme des Erzählers vernommen haben325. Wenn jedoch die Offenbarung durch einen Engel Gottes so nahtlos in die Enthüllung von textuellen Querbezügen durch den Erzähler übergehen kann, dann hat dieser ganz offensichtlich ein Publikum vor Augen, das an seiner Autorität als Schriftinterpret keine Zweifel hegt und willig ist, ihm auf seiner Reise in die Heiligen Schriften Israels zu folgen326. Die Wendung tò Hrjqèn Hupò kuríou (V. 22) ist seit dem klassischen Aufsatz von Rudolf PESCH „Der Gottessohn im matthäischen Evangelienprolog (Mt 1-2)“327 ein wichtiger Schlüssel, um die Geburtsepisode im Sinne einer Gottessohn-Christologie zu lesen 328. PESCH, dessen vorrangiges Interesse der Kompositionsweise des Autors gilt, stellt aufgrund einer sehr genauen Analyse des Wortlautes aller Erfüllungszitate fest, daß Hupò kuríou nur in den Einleitungen 1,22 und 2,15a erscheint. Da beide Stellen zusätzlich das Wort uÓóß im Zitat gemeinsam haben und in 2,15 auf Jesus als Gottessohn referiert wird, kann die autoriale Intention determiniert werden: In der Geburtsepisode möchte der Evangelist betonen, daß Jesus nicht nur Sohn Davids, sondern auch Sohn Gottes ist. Aus rezeptionskritischer Sicht müssen einige Bedenken gegenüber dieser sehr einflußreichen Argumentation angemeldet werden: Die für PESCH leitende Frage, warum sich diese Wendung nur an diesen beiden Stellen findet329, ist dem Wahrnehmungshorizont einer oralen Rezeption fremd, weil sie einen Überblick über den exakten Wortlaut aller Zitate voraussetzt. Ebenso ist die Schluß324

BONNARD, 21; DAVIES/ALLISON, I,212; GNUSE, „Dream Genre“, 109f; HAGNER, I,20 („an aside by the evangelist“); MATEOS/CAMACHO, 25; u.v.a. 325 WEREN, „Women“, 294: „These two verses function exclusively as part of the communication between the narrator and his readers.“ 326 EDWARDS, 13: „[T]he narrator gives the reader a further reason to accept the validity of his comments while at the same time establishing the role of God in these events.“ Die Autorität, die der Erzähler den Leser/innen gegenüber beansprucht, gründet sich ganz stark auf seine Fähigkeit, das AT richtig zu interpretieren, nicht aber in einem wie auch immer gearteten Anspruch, eine „neue“ Offenbarung der Person Jesu zu bieten. HAGNER, I,20: „This … reveals the evangelist in his role as teacher. He will not only tell the story but also convey its significance.“ Daß spätere Generationen jüdischer Leser/innen dieser Autorität nicht folgen konnten, zeigt die Polemik zwischen Christen und Juden über die „Erfüllung“ von Jes 7,14 (vgl. LUZ, I,107f; A. KAMESAR, „The Virgin of Isaiah 7:14: The Philological Argument from the Second to the Fifth Century“, JThS 41 [1990], 51-75). 327 Bib 48 (1967) 395-420. 328 Diese Lektüre ist seit PESCH sehr geläufig: D.R. BAUER, The Structure of Matthew’s Gospel (JSNT.S 31; Sheffield, 1988) 125; BROWN, Birth, 125.134.140; FRANKEMÖLLE, Jahwe-Bund, 165f; GEIST, „Jesusverkündigung“, 122f; GUNDRY, 24; J.D. KINGSBURY, Matthew: Structure, Christology, Kingdom (Philadelphia, 1975), 40-53; M. MIYOSHI, „Zur Entstehung des Glaubens an die jungfräuliche Geburt Jesu in Mt 1 und Lk 1“, AJBI 10 (1984), 41f; SCHENK, Sprache, 301; STANTON, Gospel, 361; G.M. SOARES PRABHU, The Formula Quotations in the Infancy Narrative of Matthew (AnBib 63; Rom, 1976), 53; A. VÖGTLE, Messias und Gottessohn: Herkunft und Sinn der matthäischen Geburts- und Kindheitsgeschichte (Düsseldorf, 1971), 17-19. 329 PESCH, „Gottessohn“, 397.

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folgerung von 2,15 auf 1,22f im Rahmen einer linear verlaufenden Lektüre nicht statthaft330. Der normale Rezeptionsverlauf läßt auch im Hörvorgang eher eine Parallelität zwischen 1,22f und 1,20f erkennen 331: Der Text macht durch Wiederholung die Leser/innen auf zentrale Aspekte aufmerksam (2mal ˙doú): Der Herr (kúrioß) spricht (légw) durch ein Medium (Engel/Prophet), offenbart die zukünftige Geburt eines Sohnes (téxetai uÓón) und erschließt seine Bedeutung anhand einer Namengebung (kaì kaléseiß/kalésousin tò ‘onoma ahutoü …). Für die Lektüre ergibt sich aus der Tatsache, daß Hupò kuríou nur in der Einleitung zu den ersten beiden Zitaten erscheint, vielleicht nur dies: Im Sinne des Ökonomieprinzips braucht die volle Einleitungsformel nur die ersten Male benutzt zu werden. Die Hörer/innen wissen ab jetzt, daß mit tò Hrjqén immer ein göttlicher Sprechakt gemeint ist, auch wenn dies nicht mehr explizit gesagt wird332. M.E. ist der Text offen, um auf dem Hintergrund einer Gottessohn-Christologie verstanden zu werden, aber diese Verbindung wird auf der Textoberfläche rhetorisch nicht ausdrücklich für die Hörer/innen relevant gemacht.

Den Hörer/innen wird noch einmal das „ganze Geschehen“ (toüto dè “olon gégonen) vor Augen geführt. Doch während wir aufgrund der gängigen Perikopeneinteilung und der Fehleinschätzung, daß 1,1-17 mit „Geschichte“ nichts zu tun hat, nur an das in 1,18-25 Beschriebene denken, ist nicht auszuschließen, daß das Erzählpublikum darüber hinaus auch an die in der Genealogie „nacherzählte“ und auf Jesus als ihren Telos hin orientierte Geschichte Israels gedacht haben könnte333. Alles Geschehen, das mit dem Messias Jesus zu tun hat, steht im Kontext von Verheißung und Erfüllung und erscheint daher „sinn-voll“, weil es das Ziel (“ina pljrwq¨∆) eines konkreten Ausspruchs Gottes durch den Propheten ist. Für aufmerksame und bibelfeste Leser/innen kommt das Jesaja-Zitat kaum überraschend, denn die gesamte Geburtsepisode ist mit sprachlichen Versatzstücken daraus durchsetzt334. Jetzt aber „zwingt“ der Erzähler sein Publikum, das bisherige Geschehen im Kontext der Immanuel-Verheißung zu verstehen335:

330 In 2,15 ist „Sohn“ durch den Artikel und das Possessivpronomen determiniert (tòn Huión mou), so daß im Gegensatz zu 1,23 die Gottessohnschaft Jesu deutlich hervorgehoben wird (vgl. M. OBERWEIS, „Beobachtungen zum AT-Gebrauch in der matthäischen Kindheitsgeschichte“, NTS 35 [1989], 139). In 1,23 bildet Huióß das natürliche Komplenym zu Maria als Mutter (m´j tjr in 1,18; 2,11.13f.20f). 331 Vgl. KUPP, Emmanuel, 57; NOLLAND, „No Son-of-God“, 11; SOARES PRABHU , Formula Quotations, 239. 332 W. ROTHFUCHS, Die Erfüllungszitate des Matthäus-Evangeliums (BWANT 88; Stuttgart, 1969), 40f hat darauf aufmerksam gemacht, daß Hupò kúriou den Passiv tò Hrjqén deutlich als Passivum divinum kennzeichnet. 333 Die ähnliche Formulierung in Mt 26,56 läßt ebenso offen, wie weit zurück die Leser/innen das toüto beziehen sollen. 334 HAGNER, I,14f zeigt schön auf, wie stark die Episode sprachlich an Jes 7,14 angeglichen ist. 335 Die folgende tabellarische Gegenüberstellung ist nur als Lesehilfe für unsere „verwöhnten Augen“ gedacht, hat aber für die Perspektive der Erst-Rezeption keinen Wert.

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Hypothetische Erst-Rezeption Jes 7,14 MT

MRkDl a…wh yÎnOdSa NE;tˆy NEkDl h´…nIh twøa NE;b t®dRlOy◊w h∂rDh hDmVlAoDh lEa …wnD;mIo wømVv ta∂r∂q◊w

Jes 7,14 LXX

Mt 1,23

dià toüto d´wsei kúrioß ahutòß Humïn sjmeïon≥

˙doù Hj parqénoß hen gastrì “exei kaì téxetai uÓón, kaì kaléseiß tò ‘onoma ahutoü Emmanoujl

˙doù Hj parqénoß hen gastrì “exei kaì téxetai uÓón, kaì kalésousin tò ‘onoma ahutoü Emmanoujl

Ein so klar markiertes Zitat ist ein eindeutiger Akt der Leserlenkung. Aber intertextuelle Bezüge entwickeln eine gewisse Eigendynamik, weil der Erzähler nicht wirklich kontrollieren kann, welche Gefühle, Assoziationen und Überlegungen die Rezipierenden mit dem aufgerufenen Intertext verbinden werden336. Wir sind es gewohnt, aufgrund der gängigen Verseinteilung solche Bezüge nur auf der Ebene einzelner Verse zu denken, aber in einer „verslosen“ Welt ist es ebenso möglich, daß größere Texteinheiten den Aufnahmehorizont der Rezipierenden bilden konnten. Das „Eindringen“ des fremden Textes in die matthäische Erzählung stellt für die Rezipierenden einen impliziten Aufruf zur Reflexion dar. Leider sind keine frühjüdischen Auslegungen von Jes 7,14 bekannt337. Viele Ambiguitäten des hebräischen Textes werden in der LXX-Fassung aufgelöst338. Ein messianisches Verständnis läßt sich leicht mit dieser Übersetzung in Verbindung bringen: „10 Und der Herr setzte seine Rede fort und sagte zu Ahas: 11 ‚Fordere für dich selbst ein Zeichen (a‘itjsai seaut¨^w sjmeïon) vom Herrn, deinem Gott, aus der Tiefe oder aus der Höhe (e˙ß báqoß ’j e˙ß “u yoß).‘ 12 Und Ahas sagte: ‚Auf keinen Fall werde ich (das) fordern, noch werde ich den Herrn versuchen (ohu m`j a˙t´jsw ohudh ohu m`j peirásw kúrion).‘ 13 Und er sagte: ‚Hört jetzt (hakoúsate d´j), Haus Davids: Ist es für euch nicht etwas Geringes, daß ihr einen Kampf mit Menschen führt (m`j mikròn Humïn hag¨wna parécein hanqr´wpoiß)? Und wie (kann es sein, daß) ihr mit dem Herrn Kampf führt (kaì p¨wß kurí^w parécete hag¨wna)? 14 Deswegen (dià toüto) wird der Herr selbst euch ein Zeichen geben (d´wsei kúrioß ahu tòß Humïn sjmeïon): Siehe die Jungfrau wird schwanger werden und einen Sohn gebären, und du wirst seinen Namen Immanuel nennen. 15 Butter und Honig wird er essen. Bevor (prín) er dieses wissen oder sich Böses vornehmen kann, wird er bereits das Gute wählen (’j gn¨wnai ahu tòn ’j proelésqai ponjrà hekléxetai tò hagaqón). 16 Deshalb, bevor das Kind Gutes oder Böses weiß, widersteht es dem Bösen, um das Gute zu wählen (dióti prìn ’j gn¨wnai tò paidíon hagaqòn ’j kakòn hapeiqeï ponjríâ toü hekléxasqai tò hagaqón), und das Land wird verlassen sein (kaì kataleifq´jsetai Hj g¨j), vor dessen beiden Königen du dich fürchtest (”j n sù fob¨∆ hapò pros´wpou t¨wn dúo basiléwn).‘“ (Eig. Übersetzung) 336 Zum Problem der Intertextualität s.o. S. 156ff. 337 Nach Bill., I,75 hat das rabbinische Judentum

Jes 7,14 auf Hiskija gedeutet; aber das könnte bereits eine Reaktion auf die christliche Vereinnahmung dieses Textes sein. 338 Vgl. zur Auslegung des hebräischen Textes H. WILDBERGER, Jesaja (BKAT X/1; Neukirchen-Vluyn, 21980), 289-93 und zur LXX-Fassung G. GUTHKNECHT, „Das Motiv der Jungfrauengeburt in religionsgeschichtlicher Beleuchtung“, Diss. masch., Greifswald, 1952, 31-74; RÖSEL, „Jungfrauengeburt“, 136-45.

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Die Besonderheit des Kindes wird in den Versen 15f in leichter Abänderung des hebräischen Textes deutlich: das Kind ist in der Lage, sich für das Gute zu entscheiden, bevor es eigentlich zwischen Gut und Böse unterscheiden kann. Martin RÖSEL schließt daraus: „Alles Gewicht dieser Verse liegt also darauf, die besondere, übernatürliche Begabung des Kindes herauszustreichen, die seiner wunderhaften Zeugung entsprechen würde… Der Messias wird als übernatürliches, sündloses Wesen gesehen – dem dann verständlicherweise auch eine besondere Herkunft eignen muß… Damit wurde den von ihrer Umwelt geprägten Lesern die besondere Bedeutung des Immanuel-Kindes als kommende Heilsgestalt schon vor der Beschreibung seiner wunderhaften Fähigkeiten signalisiert und gleichzeitig der Gegenwartsbezug der alten Weissagung betont.“339

Jes 7,14 LXX wäre demnach für die Erst-Rezipierenden eine positive Aussage über den Heilsbringer für Israel340. Inwieweit noch weitere Bezüge des ursprünglichen Kontextes von Jes 7,14 für die Erst-Rezeption eine Rolle spielen341, ist aus dem Text selbst nicht zu entnehmen342. In jedem Fall setzt das Zitat die jungfräuliche Schwangerschaft und die Geburt eines Sohnes in den Zusammenhang göttlicher Verheißungen. Überraschend dürfte allerdings der Akt der Namensgebung sein, denn dieser ist durch den vorherigen Kontext nicht vorbereitet worden und steht außerdem in einer gewissen „Konkurrenz“ zum Jesus-Namen. Der Wechsel vom Singular (kaléseiß) in der LXX zum Plural (kalésousin) im Zitat ist für die Rezeption auffällig, selbst wenn man nicht voraussetzen darf, daß die Hörer/innen den genauen Wortlaut der griechischen Vorlage memorisiert hatten343. Vielmehr sollte der Wechsel vom Singular zum Plural bereits aufgrund der Parallelisierung von 1,20f und 1,22f (s.o. S. 264) Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Die zweite Namensgebung geht offensichtlich über die erste hinaus. Die Bedeutung des Immanuel-Namens wird, ähnlich wie im Falle des Jesus-Namens, in einer Übersetzung des Erzählers den Rezipierenden nahegebracht344. Jesus wird durch das Jesaja-Zitat 339 RÖSEL, „Jungfrauengeburt“, 149.151. 340 Die laufende Diskussion, ob Jes 7 als

Gerichtsandrohung über den untreuen König oder als Heilszusage zu verstehen ist, tangiert die LXX-Fassung nicht mehr und spielt daher auch für die Wirkung von Mt 1,22f keine Rolle. 341 In diese Richtung deuten etwa A.M. D UBARLE, „La conception virginale et la citation d’Is. 7,14 dans l’Evangile de Matthieu“, RB 85 (1978), 368f; OBERWEIS, „AT-Gebrauch“, 141-6. 342 SOARES PRABHU, Formula Quotations, 216f warnt vor theologischen Überinterpretationen: „[A] text as a formula quotation in the narrative of a certain event in the life of Jesus … presents the event itself …, and not some abstract doctrine implied in it.“ Seine Dichotomisierung von „event“ und „doctrine“ kann ich allerdings nicht teilen. Matthäus vermittelt Theologie gerade durch Erzählung. 343 R.H. GUNDRY, The Use of the Old Testament in St. Matthew’s Gospel (NT.S 18; Leiden, 1967), 90 nimmt an, daß die Pluralform auf eine hebräische Vorlage ähnlich der Textform von 1QJes zurückgehe. Diese Beobachtung hängt aber zu sehr von der korrekten Vokalisierung der hebräischen Konsonanten ab (vgl. SOARES PRABHU, Quotations, 229).

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den Rezipierenden nahegebracht344. Jesus wird durch das Jesaja-Zitat als Verheißungsträger göttlicher Anwesenheit identifiziert. Damit stellt der Erzähler seine Hauptfigur in den Kontext einer theologischen Vorstellung, die zentral für das Alte Testament ist345: Eine Lektüre der reichhaltigen Belege ergibt folgendes Bild346: 1. Im allgemeinen ist Gottes Anwesenheit gleichbedeutend mit seinem Segen347. 2. Im Kontext der Wanderschaft besteht die göttliche Gegenwart konkret in der Bewahrung vor Gefahren 348. 3. In Zeiten des Krieges ist Gottes Nähe Garantie für den militärischen Sieg349 und somit auch für die politische Macht und Stabilität in Israel350. Da Gott den Kampf anführt (2Chr 13,12; vgl. Dtn 20,1.4), führt die Verweigerung seines Beistandes zur militärischen Niederlage351. 4. Gottes Anwesenheit ist auch dem Einzelnen oder einer Gruppe von Menschen zugesagt, wenn diese eine ganz besonders schwere Aufgabe zu vollbringen haben 352. 5. Als Trostzuspruch ist Gottes Mit-Sein oft verbunden mit der Aufforderung, sich nicht zu fürchten353. Damit beschreibt im AT die Anwesenheit Gottes seine schützende Nähe und heibringende Begleitung in den verschiedensten Situationen des Einzelnen wie des Volkes. Der Gott Israels ist ein deus viatorum, der sich um die Seinen kümmert in Zeiten des Krieges und des Zerwürfnisses. Inmitten einer feindlich gesinnten Umwelt dient die Formel „Gott ist mit uns“ als Umschreibung für das Selbstverständnis als Volk Gottes und als Unterscheidungskriterium gegenüber allen anderen

344 Die abschließende Notiz Ho hestin meqermjneuómenon Meqh Hjm¨ wn Ho qeóß spiegelt Jes 8,8 (meqh Hjm¨wn Ho qeóß) und 8,10 (meqh Hjm¨wn kúrioß Ho qeóß) wider. 345 WILDBERGER, Jesaja, 300 meint, daß eine gesamte Theologie des ATs auf dieser Vorstellung aufgebaut werden könne. Vgl. H.D. PREUSS, „‚… ich will mit dir sein!‘“ ZAW 80 (1968), 139-73 und W.C. VAN UNNIK, „Dominus Vobiscum: The Background of a Liturgical Formula“, [1959] Sparsa Collecta III (NT.S 31; Leiden, 1983), 362-91. In der hellenistischen Welt hat diese Formel keine Entsprechung. Die populäre griechische Wendung sùn qeóß ist insofern von der atl. Vorstellung zu unterscheiden, als dort die Initiative vom Menschen ausgeht und nicht wie im AT von Gott (W. GRUNDMANN, „sún - metá ktl.“, ThWNT 7 [1964], 772f; FRANKEMÖLLE, Jahwe-Bund, 31). Hinzu kommt, daß die LXX hebräische Wendungen für Gottes Mit-Sein nie mit sún wiedergibt, sondern stets mit metá. 346 Es geht im wesentlichen um folgende syntaktische Einheit: hyh (mit Jahwe als Subjekt) + ta oder Mo (beide Präpositionen sind praktisch austauschbar) + Personalsuffix. Vgl. für die allgemeine Bedeutung der beiden Präpositionen H.D. PREUSS, „ta“, ThWAT 1 (1973), 485-500; D. VETTER, „Mo“, THAT 2 (1976), 325-8. 347 Vgl. D. V ETTER, Jahwes Mit-Sein: Ein Ausdruck des Segens (AzTh I/45; Stuttgart, 1971). 348 Gen 26,3; 28,15.20; 31,3.5; 35,3; 48,21; Ex 33,16; Dtn 2,7; 32,12; Jos 1,9; 2Sam 7,9 (= 1Chr 17,8); 2Chr 36,23; Esr 1,3; Ps 23,4; Jes 43,2.5. 349 Gen 26,28; Dtn 31,6,8; Jos 1,5; 6,27; 14,12; Ri 1,19.22; 2,18; 6,12.16; 1Sam 17,37; 2Chr 20,17; 35,21; Ps 46,8.12; Jes 8,8.10; Jer 15,20; 30,11; 42,11. 350 2Sam 5,10 (= 1Chr 11,9); 7,9 (= 1Chr 17,8); 1Kön 1,37; 11,38; 2Kön 18,7; 1Chr 22,18; 2Chr 1,1; 17,3. 351 Num 14,43; Jos 7,12; Ri 6,13; 2Chr 25,7-8. 352 Ex 3,12; 18,19; Dtn 31,23; Jos 1,5.9.17; 2Sam 7,3 (= 1Chr 17,2); 14,17; 1Chr 9,20 MT; 22,11,16; 28,20; 2Chr 19,11; Jer 1,8.19; Hag 1,13; 2,4. 353 Gen 26,24; Dtn 20,1.3-4, 31,6.8; Jos 1,9; 1Chr 28,20; 2Chr 20,17; 32,7-8; Jes 41,10; 43,1-2.5; Jer 1,8; 30,10-11; 42,11; 46,28 vgl. Ps 23,4.

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Völkern 354. Die Formel „Gott mit uns“ wird geradezu zum „identity marker“ des wahren Israels 355.

Natürlich ist das hier gezeichnete Bild, das eine große Menge von Texten zu einer Synthese verbindet, für den Horizont der Erst-Rezipierenden viel zu umfassend. Dennoch weckt der Immanuel-Name Erwartungen an die Charakterisierung Jesu, die gerade auf diesem alttestamentlichen Hintergrund im Verlauf der Erzählung zunehmend an Profil gewinnen356. Bis zur Abschlußverheißung ewigen Beistandes (28,20) ist es zwar ein weiter Weg357, aber eine solche Entsprechung von Anfang und Ende ist für die Kohärenzbildung bei jeder relecture des Textes ungemein wichtig358. Der grundsätzliche Respekt vor der zeitlich-linearen Erfahrung der Lektüre sollte jedoch auch hier gegenüber allen Versuchen, die gesamte matthäische Christologie in 1,23 sehen zu wollen, zur Vorsicht mahnen359. Die Christologie ist hier, ähnlich wie Jesus, in einem „embryonalen“ Zustand. Sie wächst mit der Erzählung in den Köpfen und Herzen der Rezipierenden. 1,20-23 (Überblick) Daß der Erzähler kein besonderes Interesse daran hat, den wundersamen Charakter der Zeugung und Geburt Jesu in den Mittelpunkt der intendierten Rezeption zu stellen, macht die Vorwegnahme des Schwangerschaftsgrundes in 354

Aufschlußreich ist Ex 33,13-16 (Mose spricht zu Jahwe): „Wenn ich nun Gunst gefunden habe in deinen Augen, dann laß mich doch deine Wege erkennen, so daß ich dich erkenne, damit ich Gunst finde in deinen Augen, und bedenke, daß diese Nation dein Volk ist! Er antwortete: Mein Angesicht (yÅnDÚp) wird mitgehen (…wkEl´y = proporeúsomai) und dich zur Ruhe bringen (yItOjˆnShÅw = katapaúsw). Er aber sagte zu ihm: Wenn dein Angesicht nicht mitgeht (MyIkVlOh = poreú∆), dann führe uns nicht von hier hinauf! Woran soll man denn sonst erkennen ( oådÎ…wˆy = p¨wß gnwstòn ‘estai), daß ich und dein Volk Gunst gefunden habe (NEj yItaDxDm = e“urjka cárin) in deinen Augen? Nicht daran, daß du mit uns gehst (wnD;mIo ÔKV;tVkRlV;b = sumporeuoménou sou meqh Hjm¨wn) und wir, ich und dein Volk, dadurch vor jedem Volk auf dem Erdboden ausgezeichnet werden?“ 355 Jes 41,10; vgl. Ez 34,30 MT mit LXX! 356 Die Bedeutung der Immanuel-Christologie ist seit langem erkannt worden: FRANKEMÖLLE, Jahwe-Bund, 7-83; H. JÍMENEZ, „La base cristológica y teológica de la comunidad según Mateo (meth hymoon)“, Cuestiones Teológicas 13 (1978), 139-153; KUPP, Emmanuel; E. LAVERDIÉRE, „God is with us“, Emmanuel 98 (1987), 26-31.60; J.A. ZIESLER, „Matthew and the presence of Jesus“, EpworthR 11/1 (1984), 55-63; 90-97. 357 SCOTT, „Birth“, 93: „[I]t is a long way for a reader/hearer to remember the phrase without significant reinforcement.“ 358 Von einer inclusio reden u.a. FRANCE, 80; LUZ, I,105. 359 Das gilt besonders für den Vorschlag, den Immanuel-Namen mit der Göttlichkeit Jesu in Verbindung zu bringen (so CARSON, 80; J.C. FENTON, „Matthew and the Divinity of Jesus: Three Questions Concerning Mt 1.20-23“, Studia Biblica 1978, ed. E.A. Livingstone [Sheffield, 1980], II,79-82; FRANKEMÖLLE, Jahwe-Bund, 18; GUNDRY, 25; HAGNER, I,21; MATEOS/CAMACHO, 25; J. RIEDL, „Mt 1 und die Jungfrauengeburt“, Salz der Erde – Licht der Welt: Exegetische Studien zum Matthäusevangelium [FS A. Vögtle], hg. L. Oberlinner, P. Fiedler [Stuttgart, 1991], 95; zur Vorsicht mahnen DAVIES/A LLISON, I,217; KUPP, Emmanuel, 56; NOLLAND, „No Son-of-God“, 8-10).



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1,18 deutlich. Dadurch wird die Aktivität der Rezipierenden viel stärker auf die christologische Dimension der Erzählung gelenkt. Nun tritt aber in 1,20-23 neben der bisher dominierenden davidisch-messianischen Perspektive eine weitere hinzu: Sündenerlösung und Beistand Gottes. Hier werden wichtige Weichen für die weitere Lektüre gestellt, denn die beiden programmatischen Futurformen (1,21: s´wsei tòn laòn; 1,23: kalésousin tò ‘onoma ahutoü h Emmanou´jl) sprengen den gegenwärtigen Erzählrahmen und weisen damit über die davidisch-messianische Mitte des Textes hinaus360. Die besondere Stellung von 1,20-23 innerhalb der ganzen Geburtsepisode ist an dem zweimaligen ˙doú (1,20.23b)361 und an der relativen Länge abzulesen362. Engelserscheinung und Schriftzitat erhalten aber ihr ganz besonderes Gewicht dadurch, daß sie auf je unterschiedliche Art und Weise die direkte Stimme Gottes in der Erzählung zum Sprechen bringen. Die Leser/innen werden sozusagen von Gott selbst aufgefordert, die matthäische Jesusgeschichte als die Geschichte des messianischen Davidssohns zu lesen, der sich als Erlöser der Sündenschuld des Gottesvolkes erweist und Gottes heilsame Gegenwart verkörpert363. Die gesamte Erzählung ist eine narrative Auffüllung der Leerstellen „Sündenvergebung“ und „Gott mit uns“. M.E. zeigt diese starke Gewichtung der Verse 20-23, daß die eigentliche Geburtserzählung als bekannt vorausgesetzt und daher nur in ihren Umrissen konkret im Hinblick auf 1,16 erzählt wird. Es handelt sich erneut um ein Signal, daß deutlich in Richtung einer christlichen intendierten Leserschaft hinweist. Da im Alten Testament (politische) Rettung und göttliche Gegenwart eng miteinander verbunden sind, liegt es nahe anzunehmen, daß die Erst-Rezipie360

Abgesehen von den Einleitungen zur Rede des Engels (1.20ab) und zum Erfüllungszitat (1,22) sind alle Elemente von 1,20-23 durch den vorhergehenden Kontext bereits vorweggenommen worden und werden schließlich in der kurzen Beschreibung von Josefs Gehorsam in 1,24-25 nachträglich noch einmal bestätigt: Josef als Sohn Davids (1,20; vgl. 1,16), die Anweisung, Maria zu heiraten (1,20; vgl. 1,16.19-20a.24b), die jungfräuliche Zeugung aus dem Geist (1,20.23; vgl. 1,18), die Geburtsankündigung und der Auftrag zur Namensgebung (1,21.23; vgl. 1,1.16b.25). Keine Entsprechung im textuellen Umfeld finden jedoch die beiden programmatischen Sätze, die durch ihre Sprengung des bisherigen Erzählhorizontes überraschen. Vgl. C.T. DAVIS, „Tradition and Redaction in Matthew 1:18-2:23“, JBL 90 (1971), 412f. 361 Vgl. SCHNIDER/STENGER, „Strukturale Beobachtungen“, 256. 362 Im Vergleich mit der Kürze der Episode nehmen die Erscheinung des Engels und das Schriftzitat einen auffällig großen Raum ein (LUZ, I,99). 363 Ähnlich F.W. BURNETT, „Characterization and Christology in Matthew: Jesus in the Gospel of Matthew“, SBL.SP 28 (1989), 592f: „[T]he connotation of savior determines what will be proper for the reader to attach to the proper name Jesus. But even more … the narrative destiny of the proper name is given here… [T]he Gospel of Matthew becomes, then, an unfolding of the characteristics … which refer to the proper name Jesus.“ LAVERDIÉRE, „God“, 60: „[T]he entire Gospel of Matthew … can be read as the story of what it means for God to be with us in the person of Jesus. … To know what Emmanuel means we must read the Gospel from beginning to end.“ KUPP, Emmanuel, 57.173.

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Rezeptionskritische Auslegung von Matthäus 1-2

renden die beiden programmatischen Aussagen in Beziehung zueinander stellten, vielleicht sogar, weil ein solcher Sachbezug Teil des Repertoires ihrer konventionalisierten Vorstellungen war364. Der Wechsel vom Singular (LXX kaléseiß) zum Plural (kalésousin) markiert auf der synchronen Ebene den Unterschied zwischen der Namensgebung durch Josef (vgl. 1,25) und einer „Namensgebung“, die zwar programmatisch, aber nicht „onomastisch“ in der Erzählung konkretisiert wird. Die Erzähladressaten werden sich also fragen: Wer sind jene, die Jesus „Immanuel“ nennen werden? Vom Kontext her kommt nur Ho laóß in Frage (1,21b), das zwar grammatikalisch eine Singularform ist, aber in einer constructio ad sensum durchaus pluralen Charakter hat (vgl. t¨wn Hamarti¨wn ahut¨wn). Die Hörer/innen können also ohne weiteres eine einheitliche Gestalt herstellen, indem sie die Sündenerlösung mit der Anerkennung Jesu als „Gott mit uns“ in eine Kausalreihe setzen365: Jesus wird sein Volk von dem befreien, was es von Gott trennt, nämlich von der Sünde; und es wird ihn als Manifestierung der Gegenwart Gottes anerkennen. Wenn man die Erwartungen des narrativen Publikums an dieser Stelle definieren will, dann ist sicherlich an ein „Happy-End“ zu denken: Jesus kommt als davidischer Messias, erlöst sein Volk von dessen Sünden und wird als Manifestierung göttlichen Mit-Seins anerkannt. Ich greife voraus: Im Verlauf der Jesusgeschichte wird der Begriff des wahren Gottesvolkes neu definiert366. In diesem Zusammenhang ist der intertextuelle Bezug auf den alttestamentlichen Topos der Gottesgegenwart von ungemeiner Tragweite, da es sich dabei um ein konstitutives Merkmal des wahren Bundesvolkes handelt. Die große Tragödie der matthäischen Jesusgeschichte ist der Wechsel der Gegenwart Gottes in der Hinwendung der Kirche zu den Heiden aufgrund der Ablehnung Jesu durch das jüdische Volk. Vgl. 1Sam = 1Bas 4,3: „Und als das Volk ( MDoDh = Ho laóß) ins Lager zurückkam, sagten die Ältesten Israels: Warum hat uns der Herr heute vor den Philistern geschlagen? Laßt uns von Silo die Bundeslade Jahwes zu uns holen, daß er in unsere Mitte komme (wnE;b√rIqVb aøbÎy◊w = hexelqétw hen més^w Hjm¨wn) und uns aus der Hand unserer Feinde rette (wnEoIvOy◊w = kaì s´wsei Hjmäß)!“ Ri 2,18 (kaì ~j n kúrioß metà toü kritoü kaì ‘eswsen ahutoúß); 6,15f (Gideon fragt: „Womit soll ich Israel retten [s´wsw]?“ Worauf Jahwe antwortet: kúrioß ‘estai metà sou); 2Chr 32,8 (meqh Hjm¨wn dè kúrioß Ho qeòß Hjm¨wn toü s´^wzein … Hjm¨wn); Jes 43,2f (… metà soü e˙mi … ”oti heg`w kúrioß Ho qeóß sou … Ho s´^wzwn se); Jer 15,20b (metà soü e˙mi toü s´^wzein se) 26(MT: 46),27f (heg`w s´^wzwn se … metà soü heg´w e˙mi); 49(MT: 42),11b (meqh Hjm¨wn heg´w e˙mi toü … s´^wzein Humäß). 365 Diesen Zusammenhang sehen auch DAVIES/A LLISON, I,214; FENTON, 81f; F RANCE , 79; FRANKEMÖLLE, Jahwe-Bund, 16-19; GOMÁ CIVIT, 44; GRUNDMANN, 71; HAGNER, I,21; KUPP, Emmanuel, 58; SCHNIDER/STENGER, „Strukturale Beobachtungen“, 257f; WAETJEN , „Genealogy“, 230. 366 CARSON , 76: „The words ‚his people‘ are therefore full of meaning that is progressively unpacked as the Gospel unfolds. They refer to the ‚Messiah’s people‘.“ Ähnlich LOHMEYER, 11; E. RASCO, „Matthew I-II: Structure, Meaning, Reality“, StEv 4 (1968), 222; Anm. 2.

……

364

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1,24-25 Die Beschäftigung mit der göttlichen Offenbarung in 1,20-23 läßt beinahe vergessen, daß die Erzählung eigentlich noch nicht abgeschlossen ist. Der Gehorsam des gerechten Josef wird in genauer Entsprechung zum Auftrag des Engels erzählt367: Als er vom Schlaf erwacht, nimmt er Maria zur Frau, hat keinen sexuellen Verkehr mit ihr, bis sie das Kind auf die Welt bringt, und gibt dem Kind den Namen „Jesus“. Überraschend und neu ist allerdings die kurze Notiz, daß Josef keinen sexuellen Verkehr mit Maria bis zur Geburt hatte. Interessant ist die Stellung zwischen der Eheschließung und der Namensgebung, wodurch der Eindruck entsteht, als ob die sexuelle Enthaltung auch zur Anweisung des Engels gehört. Da aber solches nicht befohlen worden ist, werden die Leser/innen aufhorchen368. Eigentlich leitet sich dieses Verhalten weniger von der Anweisung des Engels als vielmehr vom JesajaZitat ab, denn nur so wird garantiert, daß Maria zur Zeit der Entbindung auch wirklich „Jungfrau“ ist369. Jede Möglichkeit einer natürlichen Zeugung Jesu ist damit ausgeschlossen. Mit seinem Gehorsam festigt Josef seine Rolle als vorbildhafter Gerechter, trägt zur Erfüllung der Prophetie bei und schafft für die Leser/innen eine logische Verbindung zwischen 1,16 und 1,1.

2.3 Von Betlehem bis Nazaret (Matthäus 2) Glendower: „Als ich geboren, war der Himmel voll Feuerzeichen, und die Ziegen rannten nieder vom Berghang, und die Herden brüllten seltsam ringsum auf furchterstarrten Feldern. Die Zeichen zeigen, ich bin auserlesen. Und auch mein ganzer Lebenslauf beweist, daß ich nicht so bin wie die andern Menschen.“ Shakespeare, König Heinrich IV, 1. Teil, 3. Akt, 1. Szene, übers. E. Fried, Frankfurt, 1995, I, 533

2.3.1 Allgemeine Überlegungen 2.3.1.1 Die Bedeutung der Geographie Der Kontrast zwischen dem vollkommenen Fehlen zeitlicher wie örtlicher Signale in Kap. 1 und deren Häufung in Kap. 2 könnte größer kaum sein. 367

R. PESCH, „Eine alttestamentliche Ausführungsformel im Matthäus-Evangelium“, BZ 10 (1966), 220-245; 11 (1967), 79-95 hat gezeigt, wie stark diese Entsprechung von Anweisung und Ausführung im AT verwurzelt ist. 368 Zum Topos der sexuellen Enthaltung bis zur Geburt eines Gottesmannes im Hellenismus und zum Unterschied zur Mt-Erzählung vgl. LUZ, I,106 und Anm. 54. 369 Vgl. bes. A. VÖGTLE, „Mt 1,25 und die Virginitas B.M. Virginis post partum“, ThQ 147 (1967), 28-39. Zur katholischen Wirkungsgeschichte von 1,25 im Streit um die bleibende Jungfräulichkeit Marias vgl. LUZ, I,108, der am Ende schließt: „Da eine dauernde Jungfräulichkeit Marias für seine Leser etwas sehr Ungewöhnliches gewesen wäre, hätte sie Matthäus expressis verbis ausdrücken müssen.“

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Während das erste Kapitel die Geschichte Israels in „Kurzchiffren“ von Abraham bis zur Geburt Jesu erzählt, führt das zweite Kapitel vom Osten über Jerusalem nach Betlehem, dann von Betlehem nach Ägypten und zurück nach Nazaret. Die seit dem klassischen Aufsatz von Krister STENDAHL programmatische Bezeichnung dieser beiden Kapitel mit „Quis et Unde?“370 mag sich zwar für die Einzelbetrachtung als zu schematisch erweisen, gibt aber Schwerpunkte innerhalb der Erzählung treffend wieder371. Wenn dieses ausgeprägte geographische Interesse auf dem Hintergrund des Wahrnehmungshorizontes der Erst-Rezipierenden sinnvoll erscheinen soll, dann muß auch unsere eigene Wahrnehmung biblischer Geographie bedacht werden, da diese meistens mit dem Blick in eine maßstabsgetreue und möglichst mehrfarbige Karte ihr Ende findet. Ein solcher Umgang ist insofern reduktionistisch, als in der Alltagssprache das assoziative Potential geographischer Angaben mindestens ebenso wichtig ist wie ihre objektiven äußeren Daten372. Die Frage stellt sich also, ob sich die Wirkung der Geographie in Mt 2 mit dem Instrumentarium der modernen historischen, physischen und soziopolitischen Geographie überhaupt erschließen läßt373. Die visuelle Erfahrung mit Landkarten prägt auf entscheidende Weise unsere mentalen Vorstellungen vom physischen Raum. Hält man sich die frühe und stetig ansteigende Entwicklung der antiken Kartographie vor Augen374, dann kann man nicht a priori ausschließen, daß die Erst-Rezipierenden zumindest elementar über die Raumverhältnisse einzelner Orte Bescheid wußten. Das römische Erziehungssystem machte durch den Einsatz von Textbüchern, Landkarten und Weltglobussen breite Bevölkerungsschichten mit den Ergebnissen der geographischen Forschung

370

STENDAHL, „Quis et Unde.“ Vgl. a. R.T. FRANCE, „The Formula-Quotations of Matthew 2 and the Problem of Communication“, NTS 27 (1981), 234. 371 BROWN, Birth, 53f; 179f erweitert dieses Schema auf Quis (1,1-17), Quomodo (1,18-25), Ubi (2,1-12) und Unde (2,13-23). 372 Einige Beispiele, die zumindest für den westlichen Kulturbereich Geltung beanspruchen dürften, können das belegen: Bei „Hiroshima“ denken wir weniger an eine bedeutende japanische Hafenstadt im Mündungsdelta des Ota, sondern vielmehr an den ersten Kernwaffeneinsatz der Geschichte. Der Name „Südafrika“ stand früher unweigerlich für Rassentrennung, mittlerweile denkt man dabei erfreulicherweise auch an deren Überwindung. „Berlin“ ist Symbol für den kalten Krieg gewesen, mit „Paris“ verbinden viele Romantik, „Liverpool“ erinnert an die Beatles, „Stratford-upon-Avon“ ist untrennbar mit Shakespeare verbunden, „New Orleans“ mit Jazz, und bei „Palma de Mallorca“ denken die meisten an Sonne und überfüllte Strände. 373 Ganz in diesem Sinne verfährt J. GONZÁLEZ ECHEGARAY, „Las tres ciudades de los evangelios de la infancia de Jesús: Nazaret, Belén y Jerusalén“, EstB 50 (1992), 85-102. 374 Vgl. J.B. HARLEY , D. WOODWARD (Eds.), Cartography in Prehistoric, Ancient, and Medieval Europe and the Mediterranean (The History of Cartography 1; Chicago; London, 1987), bes. den Einleitungsartikel „The Map and the Development of the History of Cartography“ (1-42). Ein frühes schriftliches Zeugnis für das Bestreben, die Welt zweidimensional zu repräsentieren, finden wir in Homers Beschreibung des Schilds des Achilleus (Illias 18,480-610; vgl. Strabo, Geogr. III,4,4).

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vertraut375 und auch darüber hinaus fanden Karten Verbreitung auf Münzen, an öffentlichen Gebäuden oder als Verzierung von Kunstwerken 376. Das hellenistische Judentum war weitgehend von den geographischen Vorstellungen seiner Umgebung geprägt – mit dem Hauptunterschied, daß Jerusalem nicht nur als Zentrum der jüdischen Diaspora, sondern überhaupt der gesamten bevölkerten Welt gedacht wurde (vgl. Ez 38,12; Jub 8,12.19; Jos., Bell 3,52)377.

Über den Rahmen der visuell-räumlichen Einordnung von Ortsangaben hinaus erfüllt die Geographie in der alttestamentlich-jüdischen Literatur oftmals politische und damit auch theologische Funktionen378. Da allerdings die politische Dimension in der Charakterisierung Jesu bisher eher in den Hintergrund gerückt worden ist (s.o. S. 262 zu 1,21), steht die Geographie in Mt 2 ganz im Dienst der Christologie, wie sich an der singulären Verbindung von Erfüllungszitaten mit geographischen Angaben ablesen läßt379. Geographische Angaben sind also wichtige Bausteine, die der Text den Rezipierenden in die Hand gibt, um über die Person Jesu nachdenken zu können380. Ob dahinter die nachweisbare jüdische Polemik gegen die Herkunft Jesu aus Nazaret (vgl. Joh

375

HARLEY/W OODWARD, Cartography, 167-173; 254-6. Der Gebrauch von Landkarten im Unterricht des alten Athen spiegelt sich in Aristophanes, Wolken, 200-217 wider (= Dover, 16f; 123: „[C]ertainly the idea of a map of the world was not a complete novelty to Aristophane’s audience“). Mit Claudius Ptolemäus (90-168 n.Chr.) erreicht die antike Kartographie ihren Höhepunkt. 376 Vgl. R. O STER, „Numismatic Windows into the Social World of Early Christianity: A Methodological Inquiry“, JBL 101 (1982), 204-208; HARLEY/WOODWARD, Cartography, 158f (ionische Münzen); 164.245f (röm. Münzen); 171 (Sarkophage und Gemälde); 246-8 (Mosaike); 250f (Lampen); 265f und die Farbbilder 7 und 8 (Madaba-Mosaik, ein Mosaik aus byzantinischer Zeit [ca. 540], auf dem u.a. Jerusalem in einer Art „Stadtplan“ dargestellt ist). 377 Zur jüdischen Geographie vgl. P.S. ALEXANDER, „Geography and the Bible (Early Jewish)“, ABD 2 (1992), 977-88 (Lit!); W.D. DAVIES, The Gospel and the Land (1974; repr. Sheffield, 1994), 49-74; J. MAIER, „Zu ethnographisch-geographischen Überlieferungen über Japhetiten (Gen 10,2-4) im frühen Judentum“, Henoch 13 (1991), 157-94; J.M. SCOTT, „Luke’s Geographical Horizon“, The Book of Acts in Its Graeco-Roman Setting, ed. D.W.J. Gill, C. Gempf (The Book of Acts in its First Century Setting 2; Grand Rapids; Carlisle, 1994), 492-9. Besonders einflußreich für die Bildung einer visuellen Vorstellung der Welt war die jüdische Beschäftigung mit der Völkertafel aus Gen 10 (vgl. Jub 8-10; LibAnt 4,1-10; 1QM 2,10-14 und die detaillierte Interpretation in Jos., Ant 1,122-47). 378 Für einen knappen Überblick vgl. A.H.W. CURTIS, „Theological Geography“, A Dictionary of Biblical Interpretation, ed. R.J. Coggins, J.L. Houlden (London; Philadelphia, 1990), 687-9. Wie Geographie im Schnittpunkt zwischen Theologie und Politik stehen kann, zeigt z.B. die Völkertafel (Gen 10), das Itinerar Israels (etwa Num 33), Beschreibungen von Grenzen (Num 34,2-12) und topographische Gebietszuweisungen (Jos 15-19). 379 STENDAHL, „Quis et Unde“, 98 scheint diesen Zusammenhang zu ahnen und spricht von „christological geography“, ohne aber diesen Begriff theoretisch zu vertiefen. 380 Daß räumliche Kategorien wichtige Mittel der literarischen Charakterisierung sein können, weiß auch die moderne Narratologie: „[S]pace can play an important role in narrative … as a characterization device.“ (PRINCE, Dictionary of Narratology, 88). In akademischen Zirkeln hat z.B. das Aufzählen eines möglichst langen Itinerars einzelner angesehener Studienorte oftmals eine ähnliche legitimierende Funktion.

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1,45f; 7,41f.52) steht, kann nur vermutet werden381. Das würde (zumindest teilweise) das ausgesprochene Interesse an dem Wo? (poü) Jesu in 2,1-12 und die klimaktische Endstellung von 2,23 („Er wird Nazoräer genannt“) erklären, denn der Gang von Betlehem nach Nazaret zeigt den „Umzug“ Jesu in das galiläische Dorf als Ergebnis göttlicher Führung382. So dient letztendlich das „Unde“ dem „Quis“. 2.3.1.2 Intertextualität und Traditionsgeschichte Viel stärker noch als bei der Auslegung von Mt 1 sieht es die herkömmliche historisch-kritische Exegese bei der Beschäftigung von Kap. 2 als ihre Aufgabe an, minutiös alle nur erdenklichen Traditionsstränge auseinanderzufalten. Im Bild gesprochen: Es geht darum, alle vermeintlichen Mosaiksteine, die das Textgewebe formen, herauszuhauen, zu analysieren und schließlich an ihrem „ursprünglichen“ Ort neu einzuordnen. Ausgangspunkt eines solchen Unternehmens ist die wenig reflektierte Annahme, daß ein Text alle Spuren seiner Kompositionsgeschichte in sich trägt. Jede aus heutiger Sicht noch so kleine Inkohärenz auf der Erzähloberfläche wird zum Indiz für mündliche und schriftliche Quellen. Bei diesem durchaus reizvollen „Detektivspiel“ kommt intertextuellen Referenzen eine tragende Rolle zu; d.h.: wenn sich einzelne Elemente des Textes auf unterschiedliche alttestamentlich-jüdische Traditionen verteilen lassen, dann wähnt man sich den eingearbeiteten Quellen einen Schritt näher. Das derzeitige Angebot an solchen dem Text zugrundeliegenden Traditionen ist für Mt 2 äußerst reichhaltig383: Es sind Verbindungen hergestellt worden zur biblischen Mosegeschichte und den sich daraus ableitenden jüdischen Mose-Haggadot, zum Exodus, zur Geschichte von Jakob und Laban, zu Abraham, zu Bileam, zum Motiv der Völkerwallfahrt und zum Einzug des Partherkönigs Tiridates in Rom. Manche dieser Vorschläge setzen ein recht hohes Abstraktionsniveau voraus, um die „Parallelität“ erkennbar zu machen. Dennoch sind aus produktionsästhetischer Perspektive solche Fragen legitim, wenn auch eine tiefere methodische Reflexion über die textwissenschaftlichen und empirischen Grundlagen, die Kontrollierbarkeit und Intersubjektivität solcher Vorschläge wünschenswert wäre. Was ist aber aus rezeptionsästhetischer Perspektive davon zu halten? 1. Zunächst einmal handelt es sich hierbei um ein sehr aussagekräftiges Beispiel dafür, wie stark selbst leiseste intertextuelle Verweise die Assoziati381

Vgl. BROWN, Birth, 179f; FRANCE, „Formula-Quotations“, 238; STENDAHL, „Quis et Unde“, 97-9. 382 FRANCE, „Formula-Quotations“, 246 bezeichnet 2,23 treffend als „the QED [= quod erat demonstrandum; M.M.M.] to which the whole chapter has been building up.“ 383 Vgl. das informative Referat in E. N ELLESSEN , Das Kind und seine Mutter: Struktur und Verkündigung des 2. Kapitels im Matthäusevangelium (SBS 39; Stuttgart, 1969), 63-79.

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onskraft von Leser/innen (auch von modernen!) aktivieren können. Das heißt allerdings nicht, daß ein Text unendlich viele intertextuelle Weckungsstrahlen freisetzen kann384; aber doch, daß jede sprachliche Äußerung Elemente enthält, die es Rezipierenden erlauben, einen Bezug zu anderen sprachlichen Äußerungen herzustellen, auch wenn dies vom Sprecher nie beabsichtigt war. Die Erfahrung scheint zu belegen: Je undeutlicher ein intertextueller Verweis im Text markiert ist, um so stärker wird das „text-archäologische“ Interesse moderner Ausleger/innen aktiviert und um so größer wächst auch das Angebot möglicher Bezugstexte an. So kommt selbst einem/r bibelkundlich bewanderten Leser/in bei der Lektüre von Mt 2 die Geschichte von Jakob und Laban nicht ohne weiteres in den Sinn. Um so erstaunter liest man bei DAUBE eine lange Aufzählung unterschiedlicher Kontaktpunkte zwischen beiden Texten 385. Ist man bereit, diese gelehrte Sammlung von „Parallelen“ auf die eigene Lektüre wirken zu lassen, dann erscheint Mt 2 in einem anderen Licht. Wie ist es aber möglich, daß manche Ausleger/innen einen solchen Bezug als vom Text vorgesehen und vom Autor intendiert vehement verteidigen, während andere dies nicht minder dezidiert bestreiten? Es liegt im Spielraum jeder Interpretation, gewisse sprachliche Merkmale im Text stärker zu gewichten als andere. Im Rahmen einer solchen Hierarchisierung wird der Blick auf unterschiedliche Intertexte gelenkt. Intertextuelle Relationen müssen sich allerdings auf begrifflicher und/oder narrativer Ebene nachweisen lassen. Es reicht aber nicht, katalogartig zu belegen, daß in zwei Texten ähnliche oder gleiche Begriffe oder Handlungsmuster begegnen. Es muß sich dabei um signifikante Bezugspunkte halten, d.h. um solche, die für beide Texte charakteristisch oder besonders relevant sind386. Weiterhin spielen natürlich bei einer historisch verpflichteten Exegese Überzeugungen in bezug auf das historische Umfeld des Textes eine gewichtige Rolle, denn diese bestimmen, welchen Ausschnitt aus der uns bekannten Motiv- und Religionsgeschichte wir für mehr oder minder relevant erachten. Mt 1 hat den Bezug zu den Heiligen Schriften Israels so deutlich gemacht, daß alle Bezugspunkte, die sich von dort herleiten lassen, a priori als wahrscheinlicher als etwa hellenistische Parallelen zu gelten haben.

2. Auch für die Erst-Rezipierenden wird es (wie heutzutage) eine breite Palette an Bezugsmöglichkeiten zu anderen Texten gegeben haben. Da intertextuelle Verweise Einladungen zur meditativen Gegenüberstellung von verschiedenen Textwelten sind, ist ihre Reichweite unvorhersehbar und vom Au384 Es wäre z.B. äußerst schwer, eine sinnvolle und für das Verständnis des Textes relevante Verbindung zwischen Mt 2 und der Geschichte vom Turmbau zu Babel herzustellen – obwohl bei entsprechender Motivation auch das nicht unmöglich sein sollte. 385 D. DAUBE, The New Testament and Rabbinic Judaism (London, 1956), 190-2. Weitere Vertreter dieser Position bei N ELLESSEN, Kind, 69 Anm. 44. Zur Kritik an DAUBES These sei auf VÖGTLE, Messias, 43-53 verwiesen. 386 Die Tatsache z.B., daß Jesus in Mt 5,1 auf einen Berg steigt, stellt keinen signifikanten Einzelzug dar, der die Beweislast einer Parallelität mit dem Sinai-Aufstieg Moses zu tragen in der Lage wäre. Die religiöse Bedeutung des Berges als Ort der Offenbarung ist so weit verbreitet, daß es sich kaum um ein die beiden Geschichten verbindendes, weil charakteristisches Motiv handelt.

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tor nach seinem Ausscheiden aus dem Spiel der Interpretation kaum zu begrenzen. Über die tatsächlich gemachten Bezüge zu anderen Texten und literarischen Motiven lassen sich kaum sichere Angaben machen. Es kann nur noch jenen Hinweisen nachgegangen werden, die sich mehr oder weniger als textuell intendiert und historisch verifizierbar erweisen lassen. Dabei müssen jene Intertexte, die deutlich als Zitat markiert sind, im Hinblick auf ihre kommunikative Relevanz besonders hervorgehoben werden. An gegebener Stelle möchte ich dann einige Vorschläge anhand der oben aufgestellten Kriterien kommentieren387.

2.3.2 Lektüre 2,1 Die Geburtsepisode endet mit dem Namen Jesu (1,25), und so beginnt auch dieser neue Abschnitt mit „Jesus“388. Die theologische Bedeutung dürfte noch nachhallen: Die Geburt389 Jesu, des Sündenbefreiers, fand in Betlehem in Judäa zur Zeit der Herrschaft des Königs Herodes statt. Damit wird eine Leerstelle in der bisherigen Erzählung, die auf der lokal-temporalen Ebene in einer merkwürdigen Schwebe hing, aufgefüllt. 1. Ort: Mit Betlehem, südlich von Jerusalem390, verbinden sich viele Assoziationen, doch ist von Kap. 1 her eine am wahrscheinlichsten: Es handelt sich um die Geburtsstadt Davids, in der Samuel ihn zum König salbte (1Sam 16,1; 17,12.15.58; 20,6.28)391. In diesem Sinne ist Betlehem auch der Schauplatz der Erzählung von Davids Stammutter Rut (vgl. Rut 4,11; Jos. Ant 5,323). Es handelt sich also um den idealen Geburtsort für den Sohn Davids. Die Präzisierung „in Judäa“ (t¨jß h Ioudaíaß) dient im AT meistens zur Unterscheidung des gleichnamigen Ortes im Gebiet Sebulon (Jos 19,15)392. Wahrscheinlich hat sich dieser Sprachgebrauch mehr oder weniger eingebürgert, so daß zunächst keine tiefere Bedeutung darin zu suchen ist393. 387 Vgl. 388 Zur

die Kriterien zum Umgang mit Intertexualität oben S. 159ff. Konstruktion genitivus absolutus mit dé und ˙doú vgl. die Tabelle in BROWN,

Birth, 108. 389 Gennjqéntoß knüpft an h egenn´j qj in 1,16 an, wobei der Aorist andeutet, daß die Geburt bereits geschehen ist. 390 Nach Jos, Ant 7,312 lag Betlehem 20 Stadien (unter 4 km) von Jerusalem entfernt. 391 Lk 2,4 spricht von Betlehem als „Stadt Davids“ (vgl. a. 1Sam 20,6: „seine Stadt“). Auch Josephus betont stark die Herkunft Davids aus Betlehem (Ant 6,157.167.227; 7,312). 392 Vgl. Ri 17,7-9; 19,1-2; Rut 1,1f; 1Sam 17,12. 393 Auch bei Josephus ist Betlehem sehr eng mit dem Namen Judas verbunden (vgl. Ant 5,136. 271.318). BROWN, Birth, 166 sieht eine Angleichung an basileùß t¨wn h Ioudaíwn in 2,2: „By using a related word, Matthew shows that the King of the Jews was born in a town in Jewish territory.“

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2. Zeit: Die Wendung hen Hjméraiß (hebr.: y"myib.) gefolgt von einem Genitiv bezeichnet einen zeitlich begrenzten Abschnitt. Im Genitiv findet man dabei stets ein allgemein bekanntes Element, das auf charakteristische Art und Weise diese Zeitperiode dominiert394. Im griechischen Alten Testament erscheint diese Wendung vorzugsweise in Verbindung mit dem Namen eines Richters, Königs oder einer anderen hervorgehobenen Persönlichkeit der Geschichte395. Da eine solche Wendung außerhalb der Septuaginta kaum belegt ist396, handelt es sich um einen bewußten Anklang an Erzählschemata des griechischen Alten Testaments. Durch einen solchen bibelarchaischen Stil nehmen die Erst-Rezipierenden die folgende Episode in den Farben der biblischen Geschichte wahr397. Die Geburt Jesu fällt in die Regierungszeit des Königs Herodes; ein Name, der den Erst-Rezipierenden mit ziemlicher Gewißheit bekannt sein durfte398. Natürlich ist es nicht angebracht, hier alle Einzelheiten der komplexen Vita dieser sehr ambivalenten Herrschergestalt, wie man sie den Werken des Josephus oder der Fachliteratur entnehmen kann, kurzerhand in der Enzyklopädie der Erst-Rezipierenden festzusetzen399. Die Frage ist eher, welches Bild des Herodes nach dessen Tod überlebte. Manche seiner Taten hätten durchaus Anlaß dazu geben können, dankbar seiner zu gedenken: So führte z.B. die Zerschlagung einer Räuberbande in Syrien dazu, daß man in Dörfern und Städten Herodes pries (Humnéw) und gar „Sextus Caesar“ nannte (Bell 1,205). Auch war er wie kaum ein anderer als großzügiger Wohltäter bekannt, der innerhalb und außerhalb Palästinas viele Bauten stiftete (allen voran der pracht394 Z.B. Ernte (Gen 30,14; Ri 15,1; 2Bas 21,9; Jdt 2,27; 8,2; Sir 24,26), Weinlese (Sir 24,27), Sommer (Sir 50,8), Hunger (Ps 36[37],19), Fremdherrschaft (Ri 15,20), Gericht (Tob 1,18), u.v.a.m. 395 Vgl. Ri 5,6; 8,28; 2Bas 8,7; 1Chron 4,41; 5,10.17; 7,2; 2Chron 9,20; 2Esdr 4,7 (= Esr 4,7); 2Esdr 22,7.12.22.26.46f (= Neh 12,7.12.22.26.46f); Tob 1,2; Sir 46,7; 47,1; Hos 1,1; Am 1,1; Mi 1,1; Zef 1,1; Sach 14,5; Jer 42,1. 396 Belegt ist h en Hjméraiß mit anschließendem Adjektiv in profangriechischen Texten meistens in Form einer konkreten Zahlenangabe: In der LXX nur 2Chron 29,17 (in acht Tagen) und im NT nur Lk 2,36 (hen Hjméraiß pollaïß). Jos., Ant 12,107 (in 72 Tagen); 13,427 (in fünfzen Tagen); 14,210 (in zehn Tagen); Philo, Fug, 186; Som 2,112 und häufig bei den Geschichtsschreibern Diodorus Siculus, Dionysius von Halikarnassos und Polybius. 397 Wenn wir die Wendung „Es geschah einmal vor langer, langer Zeit…“ hören, wissen wir uns in die Welt des Märchens versetzt. Ähnlich transportiert diese Erzählformel in die Sphäre atl. Geschichte. 398 Man identifiziert nicht eine Zeitperiode über eine historische Gestalt („in den Tagen des Herodes“), wenn diese unbekannt ist. 399 Vgl. die praktische Zusammenstellung von Belegstellen im Index der Loeb-Ausgabe (Josephus Bd. 10, 253-9). Nach wie vor grundlegend ist die monumentale Arbeit von A. SCHALIT, König Herodes (SJ 4; Berlin, 1969). Kürzere aktuelle Überblicke bei G. BAUMBACH, „Herodes/Herodeshaus“, TRE 15 (1986), 159-62; H. MERKEL, D. K OROL, „Herodes der Große“, RAC 14 (1988), 815-49; E. SCHÜRER, G. VERMES, F. MILLAR, The History of the Jewish People in the Age of Jesus Christ (175 B.C. - A.D. 135) (Edinburgh, 1973), I,287-329.

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volle Tempelausbau) und in vielen Notlagen das Notwendige spendete (vgl. die Aufzählungen in Bell 1,401-428; Ant 16,136-49). Andererseits scheinen aber noch zu seinen Lebzeiten breite Schichten der jüdischen Bevölkerung ein tiefes Ressentiment gegen den Regenten, der der Hasmonäer-Dynastie ein Ende setzte, gehegt zu haben. Viele seiner Hellenisierungsmaßnahmen – z.B. Einführung athletischer Wettkämpfe oder Bau eines Theaters in Jerusalem – wurden als Angriff gegen den überkommenen Glauben gewertet und gaben damit Anlaß zu Aufständen (Ant 15,267-291). Auch die brutale Weise, Familienkonflikte durch Mord aus der Welt zu schaffen, und ganz besonders die Hinrichtung seiner beiden Söhne, Alexander und Aristobolus, brachte das Volk in Aufruhr (Ant 16,373-86). Später weigerte sich eine Gruppe von 6000 Pharisäern, einen Treueid auf Herodes abzulegen (Ant 17,42). Gegen Ende seiner Regierungszeit war er auf der Beliebtheitsskala so weit unten, daß er ein königliches Volkstrauern angesichts seines baldigen Todes mit Gewalt meinte erzwingen zu müssen (Ant 17,174-79). Nach seinem Tod entlud sich schließlich der aufgestaute Zorn des Volkes (Ant 17,210-12), und eine jüdische Delegation sprach in Rom vor, um Augustus davon zu überzeugen, der herodianischen Herrscherdynastie ein Ende zu setzen. Dabei zeichnet sie ein extrem negatives Bild der Regierungszeit des Herodes (Ant 17,304-10)400. Das Urteil des Josephus ist weitgehend negativ: er anerkennt zwar die großzügigen Wohltaten des Herodes, führt aber aufgrund seines erbarmungslosen Umgangs mit Untertanen und Verwandten diese nicht auf seine Natur, sondern auf seine unbändige Ruhmsucht zurück (Ant 16,150-9)401. In der jüdischapokalyptischen Schrift Assumptio Mosis (wahrscheinlich erste Hälfte 1. Jh. n.Chr.) sagt der im Sterben liegende Mose die Geschichte Israels voraus. Über Herodes heißt es (6,2-7)402: „2 Und ein frecher König (rex petulans) wird ihnen [= den Hasmonäern] folgen, der nicht priesterlicher Abstammung sein wird, ein verwegener und boshafter Mann (homo temerarius et improbus). Und er wird sie richten, wie sie es verdient haben (quomodo digni erunt). 3 Er wird ihre Führer (principales) mit dem Schwert ermorden lassen und wird ihre Körper an unbekannten Orten begraben (sepeliet emendiert von singuliet), so daß niemand weiß, wo ihre Körper sind. 4 Er wird Junge und Alte ohne Rücksicht töten (occidit majores natu et juvenes et non parcet) 403. 5 Dann wird bittere Angst vor ihm (timor ilius 400

E.M. SMALLWOOD, The Jews under Roman Rule (SJLA 20; Leiden, 1976), 103f rechnet nach dem Tod des Herodes mit der Bildung von „Tyrannen-Legenden“, zu denen neben Mt 2 auch Jos., Ant 17,174-9.193 gehört. 401 Bei einem Vergleich mit der Regierung Agrippas läßt Josephus Herodes in einem sehr schlechten Licht erscheinen (Ant 19,328-331). Mit einer solchen negativen Bewertung hat Josephus nach eigener Aussage den Zorn noch lebender Nachkommen des Königs auf sich gezogen (Ant 16,187). Zur Auffassung des Josephus und der Nachwelt vgl. SCHALIT, Herodes, 646-9 und zum Bild des Herodes in der Alten Kirche MERKEL/K OROL, „Herodes“, 826-30. 402 Der Name „Herodes“ wird zwar nicht genannt, aber daß besagter Monarch gemeint ist, läßt sich eindeutig aus der Angabe seiner Regierungszeit in 6,6 (34 Jahre) entnehmen (vgl. Jos., Bell 1,665; Ant 27,191). 403 E. STAUFFER, Jesus: Gestalt und Geschichte (Bern, 1957), 36f wertet diese Aussage als eine unabhängige historische Tradition für den Kindermord zu Betlehem. Doch ist die Formel „alt und jung“ eine gängige rhetorische Form (Merismus), die durch die Nebeneinanderstellung von zwei Oppositionen eine umfassende Größe beschreibt. Vgl. TROMP, Assumption, 201: „As often in the biblical literature polar concepts are juxtaposed in order to express inclusiveness.“

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acervus) in ihrem Land herrrschen. 6 Und er wird sie 34 Jahre lang richten (faciet in eis judicia), wie es die Ägypter getan haben, und er wird sie bestrafen (punivit eos). 7 Und er wird Kinder zeugen, die ihm folgen werden. Diese werden für kürzere Zeitperioden herrschen.“

Auch die späteren rabbinischen Schriften wissen nichts Gutes über Herodes zu berichten404.

Obwohl also der konkrete Umfang der historischen Kompetenz der Leser/innen in bezug auf die Figur des Herodes nicht genauer umrissen werden kann, ist doch mit einiger Gewißheit dieser Name Auslöser negativer Assoziationen405. Trotz seiner Wohltaten scheint im Gedächtnis der Menschen das Bild eines unbarmherzigen Tyrannen haften geblieben zu sein. Auch Mt 2 gehört in die Wirkungsgeschichte dieser ambivalenten historischen Gestalt und ist so angelegt, daß der Mord unschuldiger Kinder am Ende der Episode trotz seiner Grausamkeit niemanden überraschen sollte406. Der Name läßt also von vornherein Böses ahnen. Vor allem die Bezeichnung des Herodes als König steht in Spannung zu der königlichen Dimension Jesu in Kap. 1407. Im Gegensatz zu Herodes kann Jesus allerdings eine davidische Genealogie aufweisen408. Nach der szenischen Vorbereitung nimmt die Erzählung eine unvorhergesehene Wende (˙doú): Eine Gruppe von mágoi tritt in Erscheinung. Daß sie aus dem Osten kommen, zeichnet sie deutlich als Heiden aus409. Ihre genaue Herkunft gehört zu den weniger bedeutenden Leerstellen dieses Textes410. Unbestimmt bleibt zunächst auch der Grund ihres Auftretens. Sollte die folgende Erzählung nicht bereits aus der Tradition bekannt sein411, ist zu fragen:

404 Vgl. Bill., I,88f; F REUND , „Genealogien“, 173; Anm. 3. 405 EDWARDS, 14, der von einem Tabula-Rasa-Leser ausgeht,

leitet die Kenntnis über Herodes nur vom Text ab. Die negative Sicht setzt sich erst dann durch, wenn Herodes die Kindertötung befiehlt. 406 DERRETT, „Further Light“, 96; Anm. 59: „Matthew’s hearers would believe anything of that ogre.“ 407 HAGNER, I,26. 408 Daß Herodes Idumäer war (vgl. Jos., Ant 14,8-10; Bell 1,123; vgl. A. SCHALIT, „Die frühchristliche Überlieferung über die Herkunft der Familie des Herodes“, ASTI 1 [1962], 109-18), konnte durchaus den Leser/innen bekannt sein. Ob Herodes sich allerdings einen davidischen Stammbaum zurechtlegte (so A. SCHALIT, „Die ‚herodianischen‘ Patriarchen und der ‚davidische‘ Herodes“, ASTI 6 [1968], 114-23), ist historisch unsicher. 409 M. H ENGEL, H. MERKEL, „Die Magier aus dem Osten und die Flucht nach Ägypten (Mt 2) im Rahmen der antiken Religionsgeschichte und der Theologie des Matthäus“, Orientierung an Jesus (FS J. Schmid), hg. P. Hoffmann (Freiburg, 1973), 144; HAGNER, I,27: „Matthew would have to indicate that they were Jews for his readers to draw this conclusion.“ 410 Im Zuge der Auslegungsgeschichte ist diese Leerstelle mit verschiedenen Vorschlägen besetzt worden (vgl. das Referat in BROWN, Birth, 168-70). 411 Zur möglichen Bekanntheit von 1,18-25 s.o. S. 250f. Da sich solche Spuren in Mt 2 nicht finden lassen, gehe ich davon aus, daß die Erzählung nicht bekannt war.

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Wie werden die Leser/innen auf diese Reisenden reagiert haben? Diese Frage läßt sich nur beantworten, wenn die mögliche enzyklopädische Kompetenz erörtert wird: Der Begriff mágoß bezeichnet im technischen Sinne den Angehörigen einer persischen Priesterklasse und allgemeiner einen „Astrologen“, „Traumdeuter“ oder „Zauberer“, aber auch einen „Betrüger“ oder „Verführer“412. Welche Empfindung haben die Leser/innen diesen exotischen Gestalten entgegengebracht? Zwei Lektüren scheinen mir möglich: 1. Ein Blick in den wichtigsten „Intertext“ der Matthäusgeschichte, das griechische Alte Testament, bringt ein recht mageres Ergebnis zutage: Von mágoi berichtet wörtlich nur die Daniel-Erzählung. Dort zählen sie zu den am Hof angestellten Weisen, Beschwörern, Wahrsagern und Zauberern, die der babylonische König befragt, wenn es darum geht, Träume und Zeichen zu deuten, und die stets mit ihren Fähigkeiten Daniel und seinen Freunden unterlegen sind413. Vielleicht kommen ihnen auch noch die Wahrsager am Hofe Pharaos, die mit Mose und Aaron in einen Wettstreit treten, in den Sinn 414. Obwohl sich innerhalb des frühen Judentums auch eine positive Übernahme astrologischen Gedankenguts belegen läßt415, überwiegt bereits vom AT her bis in das frühe Christentum die klare Verurteilung der Magie und der Astrologie416. Von diesem Hintergrund aus wäre anzunehmen, daß

412 G. D ELLING, „mágoß ktl.“, ThWNT 4 (1942), 360f. 413 Dan 2,2.10; in der Fassung des Theodotion auch noch

1,20; 2,27; 4,7; 5,7.11.15. Vgl. die entsprechenden Nacherzählungen in Josephus Ant 10,195.198.199.203.216.234-6. Zwischen den einzelnen Bezeichnungen für diese Gruppe von Hofgelehrten gibt es keine präzise semantische Unterscheidung. So kann mágoi als Oberbegriff für alle anderen benutzt werden (Jos., Ant 10,199.216.235f). 414 In seiner Nacherzählung spricht Philo von sofistaì kaì mágoi (VitMos 1,92). Die Wahrsagepriester am Hofe Pharaos in der Josephgeschichte werden von Symmachus als mágoi bezeichnet (Gen 41,8.24). 415 Vgl. die Quellenanalyse in J.H. CHARLESWORTH , „Jewish Astrology in the Talmud, Pseudepigrapha, the Dead Sea Scrolls, and the Early Palestinian Synagogues“, HThR 70 (1977), 183-200 und L. WÄCHTER, „Astrologie und Schicksalsglaube im rabbinischen Judentum“, Kairos 11 (1969), 181-200; anders: M.R. LEHMANN, „New Light on Astrology in Qumran and the Talmud“, RdQ 32 (1975), 599-602. Zur Aufnahme des astrologischen Tierkreises im Judentum vgl. W. HÜBNER, Zodiacus Christianus: Jüdisch-christliche Adaptationen des Tierkreises von der Antike bis zur Gegenwart (BKP 144; Königstein im Taunus, 1983), 17f.22-29.61f.64-8. Astronomische Texte aus Qumran in GARCÍA MARTÍNEZ, Textos, 457-80. 416 Vgl. Dtn 4,19 (Verbot der Anbetung von Himmelskörpern); 18,9-14 (Warnung vor Zauberei und Wahrsagerei); 2Kön 9,22 (Vorwurf der Zauberei gegen Isebel); Jes 44,25 (Gott macht die Wahrsager zu Narren); 47,13f (Spott über die babylonischen Sterndeuter [LXX: oÓ hastrológoi]); Jer 10,1-2 (Warnung, nicht vor den Zeichen des Himmels zu erschrecken); Dan 2,27f (Überlegenheit Daniels über die babylonischen Magier); äthHen 8,3 (die gefallenen Engel unterrichten die Menschen in Astrologie und Beschwörungskünsten); Sib 3,221-233 (Aufzählung magischer Sünden); Jub 12,16-18 (Abraham kommt zur Erkenntnis, daß er die Sterne nicht zu befragen braucht, weil Gott ihr Schöpfer ist); bSchab 75a (= Bill I,76): „Wer ein einziges Wort von einem Magier lernt, der ist des Todes schuldig“. Das griechische AT Aquilas benutzt mágoß regelmäßig für Hellseher und Totenbeschwörer (Dtn 18,11; 1Bas 28,3.7-9; 4Bas 21,6; 23,24). Zur christlichen Abscheu vgl. Apg 8,9.11; 13,6.8.13 (Elymas); Barn 20,1; Did 2,2 (Dekalog-Erweiterung: ohu mageúseiß); 5,1.

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die mágoi zunächst als negativ gefärbte Figuren, mit denen man sich nicht so ohne weiteres identifizieren will, wahrgenommen worden sind. 2. Natürlich ergibt sich bei einem anderen Hintergrund ein anderes Bild: Geht man über den Bereich der atl.-jüd. Literatur hinaus, findet man die verschiedenartigsten Zeugnisse über das Auftreten von mágoi417. Ihre Rolle bei der Geburt eines Herrschers beläuft sich meistens darauf, daß sie die künftige Größe des Kindes voraussagen418. Bedenkt man die Faszination, mit der viele Menschen in hellenistischer Zeit auf den geheimnisvollen Orient schauten419, dann könnte man sich ebensogut vorstellen, daß für die Leser/innen die mágoi fesselnde und anziehungsstarke Gestalten, heidnische Weise und gesellschaftlich hoch angesehene Gelehrte waren, von denen sie sich womöglich eine Aussage über die zukünftige Herrschaft Jesu erhoffen 420.

Läßt sich vom Text her eine dieser beiden Reaktionen auf die Figur der mágoi favorisieren?421 Die Kombination der charakteristischen Motive „Geburt eines Herrschers“ und „Auftreten von Weisen“ scheint eine Nähe zu den hellenistischen Erzählungen anzudeuten. Allerdings setzen die matthäischen mágoi ihre Fähigkeiten nicht dazu ein, um eine Voraussage über die Zukunft des Kindes zu treffen. Dies hat Gott durch seinen Engel und seine Verheißung aus

417

Herodot 1,101 (Beschreibung des medischen Volksstammes der Magoi); 1,132 (Beteiligung am Opfer); 7,37 (Deuter bes. Vorzeichen); Strabo XV,3,15 (Feuerkult); Aristot., Metaph 13,4 1091b/10 (philosophische Arbeit der Magoi); Jos, Ant 11,31 (nach dem Tod des Kambyses regierten die Magi ein Jahr in Persien, doch wurden diese getötet und Darius zum König proklamiert); 20,142 (Felix bringt Agrippas Schwester Drusilla dazu, ihn zu heiraten, mittels eines befreundeten zyprischen Magiers). Vgl. BERGER/COLPE, Textbuch, 115; DELLING, „mágoß“; J. DUCHESNE-GUILLEMIN, „Magoi“, KP 3 (1975), 890f; „Die Magier in Betlehem und Mithras als Erlöser?“ ZDMG 111 (1961), 469-475; HENGEL/MERKEL, „Magier“, 143-46; A.D. NOCK, „Paul and the Magus“, [1933] Essays on Religion and the Ancient World (Oxford, 1972), I,308-330; „Greeks and Magi“, [1940], Essays, II,516-26. 418 Vgl. R.D. AUS, „The Magi at the Birth of Cyrus, and the Magi at Jesus’ Birth in Matt 2:1-12“, Religion, Literature, and Society in Ancient Israel, Formative Christianity and Judaism, ed. J. Neusner u.a. (Lanham, 1987), 99-114; HENGEL/MERKEL, „Magier“, 151f. Cicero, de div I,23,47: persische Magoi deuten den Brand des ephesinischen Diana-Tempels als Zeichen der Geburt eines großen Kriegers, der Pest und Verderben über Asien bringen wird; gemeint ist Alexander von Makedonien. Vgl. dazu W. KROLL, „Alexanders Geburt im Roman“, Hermes 59 (1924), 474-7. Man wird aber aber nicht sagen können, daß diese Episode der Alexandersage „Vorbild“ für die mt. Erzählung ist (gegen H. USENER, „Geburt und Kindheit Christi“, ZNW 4 [1903], 19). Vgl. a. Sueton, Aug. 94,5 (der Okkultist Nigidius Figulus sagt die Weltherrschaft des Augustus bei dessen Geburt voraus); Tib. 14,2 (der Astrologe Scribonius sagt die Herrschaft des Tiberius voraus). 419 Vgl. DERRETT, „Further Light“, 98-100. 420 GAECHTER, „Magierperikope“, 281; DERRETT, „Further Light“, 98: „Matthew’s hearers will have shared what was then a common sentimental attitude to eastern religions, taking it for granted that spiritual men in the East … knew a great deal more about life than mere westeners.“ 421 Philo zeigt, daß beide Deutungsmöglichkeiten bei ein und demselben Schriftsteller koexistieren können: Einerseits kann er Ex 22,18 auf mágoi kaì farmakeutaí übertragen und damit die Todesstrafe für solche fordern, die den Menschen mit Lügen und Tricks schaden (SpecLeg 3,93f), andererseits spricht er von der wahren Wissenschaft der persischen Magoi in größter Hochachtung (SpecLeg 3,100f; Quod omnis probus liber sit 74).

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Jesaja bereits in Kap. 1 getan. In Anbetracht dessen, daß das griechische Alte Testament sowohl stilistisch als auch textuell von Anfang der Erzählung an präsent ist und offensichtlich den Hintergrund bildet, von dem aus die matthäische Jesusgeschichte wahrgenommen werden soll, ist das Eintreffen der mágoi eher Anlaß zu einer negativen Erwartung im Hinblick auf ihren Beitrag zur narrativen Entfaltung. Die Erst-Rezipierenden würden sie eher auf der Seite des bösen Herodes vermuten und ihr Kommen als eine Steigerung der bedrohlichen Stimmung ansehen. Im Verlauf der Lektüre wird sich ihre Bewertung dieser heidnischen Weisen allerdings in eine viel positivere Richtung bewegen422. Die positive Anziehungskraft dieser exotischen Fremden belegt auch die Wirkungsgeschichte von Mt 2: Wenige Nebenfiguren der Evangelien haben ein so eigenständiges „textuelles Nachleben“ geführt!423 Obwohl die Geburt Jesu im nachhinein in Betlehem lokalisiert wird, verlagert sich das Geschehen jetzt auf Jerusalem, wohin die Reisenden gelangen. Die Rezipierenden sehen sich also zunächst einer Parallelhandlung mit einem neuen Szenario und neuen Handlungsträgern gegenübergestellt, die auf den ersten Blick nichts mit dem davor Geschilderten zu tun zu haben scheinen. Der Name „Jerusalem“ kann vom Alten Testament her die vielfältigsten Assoziationen wecken424: Königsresidenz, Hauptstadt, Symbol des Volkes, Gottessitz, Kultusort, Tempelstadt, Stadt der eschatologischen Heilszeit und der Theokratie, aber auch Stadt der Sünde und des Gerichts (v.a. bei den Propheten). Für viele Christ/innen der ersten Generationen wurde dieses Erbe noch 422 Von daher ist kaum anzunehmen, daß diese Episode ein anti-astrologisches Potential enthält. BROWN, Birth, 168: „There is not the slightest hint of conversion or of false practice in Matthew’s description of the magi; they are wholly admirable.“ PLUMMER, 15: „There is not one word in the narrative to indicate that the Magi did wrong in drawing inferences from what they saw in the heavens.“ Anders sehen es z.B. C.S. MANN, „Epiphany – Wise Men or Charlatans?“ Theology 61 (1958), 495-500 (die Magoi sind Experten der schwarzen Magie, die die Produkte ihrer Arbeit dem Messias übergeben); DAVIES, Setting, 78-80 (genauso wie die Zauberer Pharaos den Vorrang Moses anerkennen müssen, fügen sich die Magier unter die Autorität des „neuen Mose“); ähnlich schon Ignatius, Eph 19,3 (die Sternerscheinung hat die Auflösung aller mageía zur Folge); Justin, Dial 78,9 (die Magier waren vorher Werkzeuge des Teufels, haben sich aber nach der Begegnung mit Jesus von diesen Praktiken entfernt); Tertullian, De Idol 9,3 (mit der Erscheinung des Messiassternes ist die Macht der Sterne außer Kraft gesetzt). Zu den Schwierigkeiten, die die Kirchenväter hatten, angesichts dieses Textes die Astrologie zurückzuweisen vgl., U. RIEDINGER, Die Heilige Schrift im Kampf der griechischen Kirche gegen die Astrologie von Origenes bis Johannes von Damaskos (Innsbruck, 1956), 130-46; L. KOEP, „Astrologia usque ad Evangelium concessa: Zu Tertullian, De Idolatria 9“, Mullus (FS Th. Klauser), hg. A. Stuiber, A. Hermann (JAC.E 1; Münster, 1964), 199-208. 423 Vgl. B.M. METZGER, „Names for the Nameless in the New Testament: A Study in the Growth of Christian Tradition“, [1970] New Testament Studies: Philological, Versional, and Patristic (NTTS 10; Leiden, 1980), 23-30; W.A. SCHULZE, „Zur Geschichte der Auslegung von Matth. 2,1-12“, ThZ 31 (1975), 150-60. 424 Vgl. G. FOHRER, „Si´ wn ktl.: A. Zion-Jerusalem im Alten Testament“, ThWNT 7 (1964), 305-318; M. TSEVAT, „MIAlDv…wr◊y“, ThWAT 3 (1982), 930-9.

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durch den Umstand problematisiert, daß Jerusalem die Stadt der Kreuzigung Jesu war425. Welche Vorstellung wird durch die Erzählung zurückgedrängt und welche in den Vordergrund gestellt?426 Bei Jerusalem ist zunächst an die Hauptstadt zu denken, das religiöse und politische Zentrum Israels, den traditionellen Regierungssitz der davidischen Königsdynastie, die „Stadt Davids“427. Während der wahre König im unbedeutenden Betlehem geboren wird, sitzt in der Davidsstadt der Idumäer Herodes. Je nachdem, wie stark die Erst-Rezipierenden von einer negativen Sicht Jerusalems als der Stadt der Ermordung Jesu (so im Mk-Evangelium) bestimmt gewesen sind, könnte sie hier bereits eine Vorahnung der Gefahr ergriffen haben. 2,2 Bei ihrem Eintreffen in Jerusalem fragen die Weisen nach dem Aufenthaltsort (poü) des Königs der Juden, der geboren wurde (2,2a: Ho tecqeìß basileùß t¨wn h Ioudaíwn)428. An dieser Stelle sind die Leser/innen erneut den Figuren der Erzählwelt an Wissen voraus, ist für sie doch die Beantwortung dieser

425

J.K. ELLIOTT, „Jerusalem: II. NT“, TRE 16 (1987), 609: „Die neutestamentlichen Autoren sprechen von Jerusalem selten in rein geographischem Sinn. Als die Stätte der Kreuzigung Jesu hatte es vielmehr theologische Bedeutung.“ 426 M.E. läßt sich diese Frage nicht über die verschiedenen Schreibweisen, H Ierosóluma und h Ierousal´jm, klären. Im Mt-Evangelium findet sich mit Ausnahme von 23,37 nur H Ierosóluma (2,1.3; 3,5; 4,25; 5,35; 15,1; 16,21; 20,17f; 21,1.10). Für das NT insgesamt (und besonders für das lukanische Schrifttum) sind oftmals theologische Gründe für die Wahl der Bezeichnung geltend gemacht worden. Philologisch läßt sich eine solche Unterscheidung allerdings kaum halten: Während die LXX in den aus dem Hebräischen übersetzten Büchern durchgehend h Ierousal´jm benutzt (nach Philo, Som 2,250 ist dies der von den Hebräern gebrauchte Name), erscheint in den Schriften des hellenistischen Judentums überwiegend die Bezeichnung H Ierosóluma (vgl. M. BACHMANN, Jerusalem und der Tempel [BWANT 109; Stuttgart, 1980], 18f). Die hellenistische Form setzte sich durch, zum einen, weil sie deklinierbar ist, und zum anderen, weil hier „der Anklang an das Wort Óeróß empfunden wurde“ (E. LOHSE, „Si´wn, ktl.: B. Zion-Jerusalem im nachbiblischen Judentum“, ThWNT 7 [1964], 318/21-3). Schon allein von daher erscheint es widersinnig, philologisch in H Ierosóluma eine negative Nuance sehen zu wollen. Es ist also ganz und gar unwahrscheinlich, daß durch die Wortwahl bereits die Wahrnehmung dieser geographischen Angabe in eine bestimmte Richtung gelenkt wird. Am ehesten kann man noch sagen, daß „h Ierousaljm … oft einen archaischen oder feierlichen Klang gehabt, während H Ierosóluma mehr alltäglich und neutral gelautet hat“ (L. HARTMAN, „Jerusalem“, EWNT 2 [1981], 433). 427 Vgl. 2Sam 5,7.9 (= 1Chron 11,5.7); 2Sam 6,10.12.16; 2Kön 9,28; 12,22. Die Bezeichnung Jerusalems als „Stadt Davids“ begegnet 44mal im AT; vgl. J.P. FLOSS, „Jerusalem und die Davidsstadt: Entwicklung einer Ortsbezeichnung“, Zion – Ort der Begegnung (FS L. Klein), hg. F. Hahn u.a. (BBB 90; Hanstein, 1993), 413-37. 428 Zur Übersetzung des seltsamen Attributs tecqeíß im Sinne von „der König, der geboren wurde“ und nicht „der neugeborene König“ vgl. C. BURCHARD, „Fußnoten zum neutestamentlichen Griechisch II“, ZNW 69 (1978), 143-5. BROWN, Birth, 170 bemerkt: „[T]his is unusual, for in Matthean style the attributive participle with its article normally follows the noun.“

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Frage vom Erzähler in 2,1 vorweggenommen worden429. Ganz gleich aber, wie sie die mágoi einschätzen, so vernehmen sie hier verwundert nicht nur, daß diese über die Geburt Jesu Bescheid wissen, sondern auch, daß sie ihn „König der Juden“ nennen. „König der Juden“ ist als solches keine spezifisch messianische oder gar christliche Bezeichnung, sondern hat zunächst eine rein politische Bedeutung und ist aus heidnischer Sicht formuliert430. Die Leser/innen vermögen aber darin aus der Perspektive von Kap. 1 einen tieferen messianischen Sinn zu entdecken431. Damit werden sie zu wichtigen Fokalisatoren für die Wahrnehmung der Charakterisierung Jesu und bieten sich zugleich als Identifikationsfiguren für die Leser/innen an. Die Bezeichnung Jesu als „König“ der Juden antizipiert den treibenden Grundkonflikt des zweiten Kapitels: die Gleichzeitigkeit von zwei Königen in Israel432. Die Frage steht natürlich im Raum, woher diese von fernen Ländern hergereisten Nicht-Juden ihre Kenntnisse über die Geburt des jüdischen Königs eigentlich haben beziehen können. Die geheimnisvollen Reisenden verweisen selbst darauf, daß sie „seinen Stern beim Aufgehen“ (hen t¨∆ hanatol¨∆)433 ge-

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Daß Jesus in Betlehem geboren wurde, mag für die Erst-Rezipierenden daher bekannt gewesen sein. 430 Matthäus selbst scheint diesen Unterschied zu machen, denn ansonsten begegnet der Titel „König der Juden“ nur im Mund heidnischer Sprecher: 27,11 (Pilatus); 27,29 (die römischen Soldaten); 27,37 (Anschrift am Kreuz). Josephus, der für ein hellenistisches Publikum schreibt, benutzt diesen Titel für David (Bell 6,439; Ant 7,72), Jechonja (Bell 6,103), Alexander Jannai (Bell 7,171) und besonders oft für Herodes (Bell 1,282; Ant 14,9; 15,373.409; 16,291.311). 431 VÖGTLE, Messias, 35 spricht treffend von einer „geschickt ambivalente[n] Formulierung, die der Vorstellung der heidnischen Astrologen entspricht und zugleich das intendierte messianische Verständnis gestattet.“ 432 Den Kontrast zwischen beiden Königen hebt D.R. BAUER, „The Kingship of Jesus in the Matthean Infancy Narrative“, CBQ 57 (1995), 308-13 besonders hervor. Der Formulierungsunterschied zwischen „König“ für Herodes (1,1.3.9a) und „König der Juden“ für Jesus (1,2) soll wahrscheinlich den Unterschied zwischen legitimem und illegitimem Herrscher untermauern; vgl. M. GIELEN, Der Konflikt Jesu mit den religiösen und politischen Autoritäten seines Volkes im Spiegel der matthäischen Jesusgeschichte (BBB 115; Bodenheim, 1998), 30. 433 Der Singular hanatol´j ist nicht im Sinne des Plurals (2,1: hapò hanatol¨ wn) geographisch, sondern vielmehr als astrologische Bezeichnung für das „Aufgehen“ eines Sternes zu verstehen (vgl. Bl/Deb/Reh, §141, Anm. 5; §253, Anm. 7; BROWN, Birth, 173; GAECHTER, „Magierperikope“, 281-3; HAGNER, I,27; LUZ, I,112; Anm. 1). H. KRUSE, „Gold und Weihrauch und Myrrhe (Mt 2,11)“, MThZ 46 (1995), 210 wendet ein: „Was soll ein astronomischer Fachausdruck im legendären Kontext? Kein Leser würde ihn verstanden haben.“ Sein eigener Vorschlag, „daß die Magier den Messias unter seinem kryptischen Namen hanatol´j … erspäht hätten“, erscheint mir eine weitaus unwahrscheinlichere Leser/innen-Kompetenz vorauszusetzen. Ist also die Übersetzung „beim Aufgang“ zu bevorzugen, dann gibt es keine textuellen Hinweise für die geläufige Vorstellung, die mágoi seien dem Stern vom Osten bis Jerusalem gefolgt (GAECHTER, „Magierperikope“, 285). Erst in V. 9 erweist sich der Stern als Führer bis zur Geburtsstelle.

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sehen haben (2,2b)434. Spätestens hier wird der semantische Bereich von mágoß auf „Astrologe“ oder „Sterndeuter“ eingeschränkt. Im hellenistischen Volksglauben war die Vorstellung verbreitet, daß jeder Seele ein Stern zugeteilt wird435. Die Frage, ob dieser Gedanke hinter der Formulierung von Mt 2,2 steht436, läßt sich schwer alleine aus dem vorangestellten Possessivpronomen entscheiden. Diese Leerstelle läßt sich nur durch eine eindeutige Zuweisung eines kulturellen Umfeldes für die Leser/innen auffüllen; aber dafür scheinen mir die Belege nicht genügend Anhalt zu bieten. In jedem Fall ist der Stern (auch) ein Zeichen für die Geburt Jesu437. Nach alttestamentlichjüdischer Anschauung ist Gott Schöpfer der Himmelskörper. Von daher werden die Erst-Rezipierenden hinter dieser ungewöhnlichen Begebenheit göttliche Führung vermuten. Die Frage stellt sich allerdings, ob der Stern zugleich ein intertextuelles Signal ist. Viele Exeget/innen sehen in Mt 2,2 eine Anspielung auf die Bileamprophetie aus Num 24,17 438. Die sprachlichen Kontakte sind nicht besonders signifikant oder charakteristisch für beide Erzählungen 439. Aber es lassen sich einige narrative Analogien aufweisen: In der atl. Erzählung segnet ein heidnischer Prophet das Volk Israel, indem er einen mächtigen Herrscher voraussagt, und vereitelt damit die Pläne des bö434 Fern der Interessen der Erst-Rezipierenden steht das moderne Bestreben, diese Himmelserscheinung astronomisch zu präzisieren (vgl. das Referat in BROWN, Birth, 171-3. 610-3; H.W. MONTEFIORE, „Josephus and the New Testament“, NT 4 (1960), 142-4). 435 Vgl. Platon, Timaeus 41d; Plinius, NatHist 2,28 (richtet sich gegen die populäre Vorstellung, daß die Gestirne einzelnen Menschen zugeteilt sind [singulis attributa nobis] und an ihrer Leuchtkraft das Schicksal des Einzelnen widerspiegeln = König/Winkler, II,30f). Nach Midr. Ps zu 148,1 hat jeder Gerechte seinen eigenen Stern. 436 So F. BOLL, „Der Stern der Weisen“, ZNW 18 (1917/18), 44; HENGEL/MERKEL, „Magier“, 148; USENER, „Geburt“, 19; ablehnend: GAECHTER, „Magierperikope“, 259f. 437 In der altkirchlichen Rezeption dieses Textes war der Stern ein ambivalentes Zeichen: Einerseits wurde sein Glanz hervorgehoben (Justin, Dial 78,1a; Protoev. Jak 21-22 = Schneider, 134-41), andererseits wurde er aufgrund seiner astrologischen Bedeutung auch gerne übergangen (AscJes 11,2-4; Justin, Dial 78,5). 438 Etwa BROWN, Birth, 190-96 (der die Bileam-Episode zur Rekonstruktion der vormatthäischen Geschichte benutzt); FRANKEMÖLLE, 166f; G NILKA, I,36f; HENGEL/MERKEL, „Magier“, 144f; A. HILHORST, „Biblical Metaphors taken Literally“, Text and Testimony (FS A.F.J. Klijn), ed. T. Baarda et al. (Kampen, 1988), 125; E. LOHMEYER, „Der Stern der Weisen“, ThBl 17 (1938), 288-299; PÉREZ FERNÁNDEZ, Tradiciones Mesiánicas, 275f; B.T. VIVIANO, „The Movement of the Star, Matt 2:9 and Num 9:17“, RB 103 (1996), 58-64. Zu den haggadischen Traditionen um die Figur Bileams vgl. G. VERMES, Scripture and Tradition in Judaism (StPB 4; Leiden, 1961), 127-77, der ebenso Mt 2,2 von der jüdischen Nachgeschichte von Num 24,17 beeinflußt sieht (165, Anm. 3). 439 LXX formuliert ha nateleï ‘astron h ex h Iak´wb, kaì h anast´jsetai ‘a nqrwpoß he x h Isra´jl. Matthäus benutzt hast´jr (2,2.7.9.10) und LXX das allgemeinere ‘astron (= „Himmelskörper, Gestirn“), obwohl beide semantisch zusammenfallen können. Einen weiteren Bezug kann man zwischen LXX hanateleï und Mt hen t¨∆ hanatol¨∆ herstellen. In Num 23,7 ist davon die Rede, daß Bileam „vom Osten“ kommt (haph hanatol¨wn; vgl. Mt 2,1 ähnlich von den mágoi).

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sen Königs Balak. In der Matthäusgeschichte kommen heidnische Gelehrte, um dem israelitischen Herrscher zu huldigen, und lassen schließlich den König Herodes mit seiner hinterhältigen Intrige auflaufen 440. Eine bewußte intertextuelle Rezeption von Mt 2 im Lichte der Bileamprophetie gewinnt dadurch an Plausibilität, daß sich für Num 24,17 eine frühjüdische messianische Interpretation nachweisen läßt 441. Ein definitives Urteil kann allerdings nicht gefällt werden: Der Text in Num 24,17 war für die Erst-Rezipierenden verfügbar, vielleicht sogar unter messianischem Vorzeichen; er läßt sich sinnvoll mit der thematischen Entwicklung der Matthäuserzählung verknüpfen und ist bereits früh in der Auslegungsgeschichte mit dieser in Beziehung gebracht worden 442. Andererseits wird die Bezugnahme nur ungenügend markiert, der Umfang des übernommenen Materials auf sprachlicher Ebene ist sehr gering, und insgesamt scheint das Numeri-Buch in der Matthäuserzählung kaum eine Rolle zu spielen443. Auf der Ebene der Strukturalität wird man kaum sagen können, daß die Bileam-Geschichte als Folie für die gesamte Episode dient.

Ich würde insgesamt daher von einer zufälligen, „aleatorischen“ Intertextualität reden, also von einer Bezugnahme, die nicht zwingend erkannt werden muß, um den Text sinnvoll aneignen zu können, die aber durchaus die Lektü-

440 Andere Bezugsmomente erscheinen mir aus der Sicht der Rezipierenden als zu subtil oder zu konstruiert. So etwa, daß der böse König Balak vom transjordanischen Gebiet kam, wie auch Herodes, der als Idumäer von den Edomitern abstammt (BROWN, Birth, 193, Anm. 41). Auch daß Philo, VitMos 1,276 Bileam als mágoß bezeichnet (BROWN, Birth, 193), scheint mir nichts anderes als ein interessanter „Zufall“ zu sein. V ERMES, Scripture, 172f bemerkt, daß Bileam später mit Zoroaster gleichgesetzt wurde, der allgemein als Urvater der magischen Künste galt (vgl. Plinius, NatHist 30,3 = König/Winkler XXX,118f). Er schließt: „Since the Infancy Gospel of Matthew is constructed from purely Jewish material, it may safely be assumed that in those circles the Magi of Persia were known as the disciples of Balaam.“ 441 Vgl. CD 7,19; 4QTest 9-13; 1QM 11,6 (anders KARRER, Gesalbte, 318; Anm. 28, der für diese Stellen eine nicht-messianische Deutung vorschlägt). Im Falle von TestLev 18,3; TestJud 24,1 ist christlicher Einfluß zumindest denkbar. Eine spezifisch messianische Deutung von Num 24,17 ist auch von Rabbi Akiva belegt, der den „Stern aus Jakob“ mit dem Ausspruch „Dies ist der König Messias!“ auf Bar Koseba bzw. Bar Kochba anwendet (jTaan 4,8/68d = Lenhardt/Osten-Sacken, 308-317). Diese Tradition ist aber wahrscheinlich nicht ursprünglich; vgl. L. MILDENBERG, The Coinage of the Bar Kokhba War, hg. P.E. Mottahedeh (Typos: Monographien zur antiken Numismatik 6; Aarau usw., 1984), 73-6. In den Targumim finden sich sowohl messianische als auch nicht-messianische Deutungen des NumeriTextes (vgl. PÉREZ FERNÁNDEZ, Tradiciones, 271-82; S.H. LEVEY, The Messiah: An Aramaic Interpretation [New York, 1974], 20-6). Deutlich messianisch im NT ist Offb 22,16. 442 Vgl. J. DANIÉLOU, „L’étoile de Jacob et la mission chrétienne à Damas“, VigChr 11 (1957), 128f; HILHORST, „Metaphors“, 125, Anm. 10; RIEDINGER, Die Heilige Schrift, 139-2. 443 Numeri wird im Mt-Evangelium nirgendwo explizit zitiert, aber ein nicht markiertes Zitat findet sich in 9,36b: „wie Schafe, die keinen Hirten haben“ (= Num 27,17). Zwei mögliche Anspielungen sind: 8,2 (Heilung eines Aussätzigen; Num 12,10.13: Bitte um Heilung der aussätzigen Mirjam); 11,29 (Demut Jesu; Num 12,3: Demut Moses). Das Schwurverbot mit dem Aufruf zur Wahrhaftigkeit Mt 5,33-37 könnte mit Num 30,3 in Beziehung stehen.

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re mit Sinn bereichert, wenn man darauf kommt444. Es ist daher weder historisch noch textuell unwahrscheinlich, daß manchen der Erst-Rezipierenden die Bileam-Prophetie in den Sinn kommen konnte. Neben dieser messianischen Deutung des Sterns steht eine andere zur Verfügung: die Sternerscheinung deutet darauf hin, daß mit der Geburt Jesu ein Ereignis von größter historischer Relevanz und Dramatik eingetreten ist. Der Stern konnte in der Antike als Zeichen der politischen Umwälzung und/oder des Eintritts in eine neue Periode gedeutet werden: Der Glaube, daß wichtige Ereignisse durch Omina, Prodigien und astrologische Vorzeichen angekündigt werden, war in der griechisch-römischen Antike auch in jüdischen Kreisen lebendig 445: Nach Josephus wurde der Fall der Stadt Jerusalem durch „Warnrufe Gottes“ angekündigt (Bell 6,289f)446: Über der Stadt erschien ein schwertähnliches Gestirn, ein Komet blieb ein ganzes Jahr lang über Jerusalem, und zum Fest der ungesäuerten Brote überflutete ein helles Licht nachts eine halbe Stunde lang den Altar und den Tempel. „Den Unerfahrenen schien das zwar etwas Gutes zu bedeuten, die Gelehrten der heiligen Schrift aber deuteten es sofort auf das, was dann gekommen ist.“ (6,291)447 Nach Sueton, Augustus 94,3 verbot der Senat für ein ganzes Jahr das Großziehen eines Kindes aufgrund eines nicht genauer definierten Wunderzeichens (prodigium), das sich öffentlich in Rom zugetragen haben sollte und 444

BROWN, Birth, 196: „The echoes of the Balaam story would remind the reader familiar with the Bible and Jewish midrashic tradition that already in the OT God had revealed His salvific intent to Gentiles.“ 445 Vgl. F. BÖMER, „Über die Himmelserscheinungen nach dem Tode Caesars“, Bonner Jahrbücher 152 (1952), 27-40; F. BOLL, „Der Sternglaube in seiner historischen Entwicklung“, Kleine Schriften zur Sternkunde des Altertums, hg. V. Stegemann (Leipzig, 1950), 369-96; F.H. CRAMER, Astrology in Roman Law and Politics (Philadelphia, 1954); GAECHTER, „Magierperikope“, 258-267; B. GRASSMANN-FISCHER, Die Prodigien in Vergils Aeneis (München, 1966); H. GUNDEL, „Kometen“, PRE XI/1 (= 21. Halbband) (1921), 1143-1193; Astrologumena: Die astrologische Literatur in der Antike und ihre Geschichte (Wiesbaden, 1966); H. KYRIELEIS, „Qeoì Horatoí: Zur Sternsymbolik hellenistischer Herrscherbilder“, Studien zur klassischen Archäologie, hg. K. Braun, A. Furtwängler (Saarbrückener Studien zur Archäologie und alten Geschichte 1; Saarbrücken, 1986), 55-72; MONTEFIORE, „Josephus“, 140-148; M.P. NILSSON, Geschichte der griechischen Religion (HbAW V/2; München, 21961) II,486-506; H. POPP, „Die Einwirkung von Vorzeichen, Opfern und Festen auf die Kriegführung der Griechen im 5. und 4. Jahrhundert v.Chr.“, Diss. Erlangen, 1957, 11-38. 446 Vgl. M. CASLAND, „Portents in Josephus and in the Gospels“, JBL 51 (1932), 323-35; O. MICHEL, „Studien zu Josephus: Apokalyptische Heilsansagen im Bericht des Josephus (Bell 6,290f.,293-95); ihre Umdeutung bei Josephus“, Neotestamentica et Semitica (FS M. Black), hg. E.E. Ellis, M. Wilcox (Edinburgh, 1969), 240-4. 447 Übersetzung von Bauernfeind/Michel, II/2, 51. Vgl. zur Deutung dieser Zeichen Bell 6,310.314. Eine ähnliche Aufzählung von Vorzeichen der Zerstörung Jerusalems findet sich bei Tacitus, Hist. 5,13 und bei Eusebius, HE II,8,1-9, der allerdings Josephus zitiert. Eine ähnliche Tradition „feuriger Schwerter“ als Vorzeichen des Untergangs findet sich in Sib 3,673.798f. Bauernfeind/Michel, 181, Anm. 137 verweisen auf b. Ber 58b: „Wenn der Komet am Kesil (= Orion) vorüberzieht, so würde die Welt zerstört werden.“ Gegen MONTEFIORE, „Josephus“, 140-8 halten sie fest: „Matthäus deutet messianisch, Josephus im Sinne einer kosmischen Katastrophe. … Man wird nicht sagen können, daß zwischen Josephus und Matthäus unmittelbare oder mittelbare Beziehungen vorliegen“ (181).

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als Zeichen der Geburt eines Königs galt. Der grausame Nero wurde durch einen mehrere Nächte hindurch sich zeigenden Kometen, der „nach dem Volksglauben den Untergang des Herrschenden anzeigt“, so in Schrecken versetzt, daß er auf Anraten seines Astrologen beschloß, stellvertretend einige Häupter des Adels umbringen zu lassen (Sueton, Nero 36,1). In Vergils Aeneis erbittet Anchises, der Vater des Helden, von Zeus ein Zeichen der göttlichen Führung, woraufhin ein Stern mit strahlendem Licht die Nacht umschweift, über das oberste Dach des Hauses hinweggleitet und in jenem Wald versinkt, wo Rom gegründet werden soll (2,688-704)448. Die Beispiele ließen sich noch vermehren 449. Dieses kleine religionsgeschichtliche Panoptikum zeigt nicht nur, daß die „Metaphorik vom Stern … in der römischen Kaisermetaphysik eine große Rolle“ spielte450, sondern darüber hinaus, daß solche Phänomene ganz allgemein „seine zukünftige Größe und sein immerwährendes Glück“ zu erkennen gaben (Sueton, Aug. 94,1 = Schmitz, 142f). Nach weit verbreiteter Meinung weist auf jüdischen Münzen ein „Stern“ über dem Kopf des Abgebildeten auf seinen messianisch-königlichen Anspruch hin451. Der hier hergestellte Zusammenhang ist allerdings fraglich452. Auf jeden Fall ist die Verbindung zwischen Stern und König motivgeschichtlich so breit belegt, daß man dafür kein rein hellenistisches Umfeld postulieren muß453. Prinzipiell kann man also sagen: „Je breiter die Streuung der mit einer Tradition vergleichbaren Texte ist, um so wahrscheinlicher ist es, daß es sich hier um eine nicht nur dem Autor, sondern auch den Lesern vertraute Basis handelte.“454

448 Vgl. W. VON ENGELHARDT, „Der vom Himmel gefallene Stern: Zu Vergil, Aeneis II 692-700“, Das Altertum und jedes neue Gute (FS W. Schadewaldt), hg. K. Gaiser (Stuttgart, 1970), 459-75. 449 Vgl. weiterhin Junianus Justinus, Historiae Philippicae 37,2 (zitiert eine Tradition des Pompeius Trogus aus dem 1. Jh v.Chr., wonach im Jahre der Geburt und des Regierungsantritts des Königs Tiridates VI [† 63 v.Chr.] ein Komet je 70 Tage lang den Himmel hell beleuchtete); Script. Hist. Aug., Alexander Severus 13,5 (zu seinem Geburtstag erschien eine stella primae magnitudinis); Sib 3,334f (ein Komet ist den Menschen Zeichen von Krieg, Hunger und den Tod des Herrschers); Sueton, Caesar 88; Cassius Dio, Hist. XLV,7,1 (= Cary, IV, 418f: 44 v.Chr. wird Komet am Himmel als Zeichen der Unsterblichkeit Cäsars gedeutet; Octavius läßt Bronzestatue mit Stern im Venus-Tempel aufstellen); Plinius, NatHist 2,94 (während eines Sportwettbewerbs steht eine Woche lang ein Komet am Himmel, den das Volk als ein Zeichen der Aufnahme Caesars unter die unsterblichen Götter deuten, während Augustus darin ein Zeichen für seine eigene Regierung „zum Heile der Welt“ [salutare id terris fuit] sieht = König/Winkler, II,78f). 450 HENGEL/MERKEL, „Magier“, 149; Anm. 48. 451 M. KÜCHLER, „‚Wir haben seinen Stern gesehen …‘ (Mt 2,2)“, BiKi 44 (1989), 179-86; A. STROBEL, „Weltenjahr, große Konjunktion und Messiasstern: Ein themageschichtlicher Überblick“, ANRW II/20,2 (1987), 1066f; 1105-7 und Tafel I-II. 452 MILDENBERG , Coinage, 44f weist darauf hin, daß es sich nicht um einen Stern, sondern um eine Rosette handelt, die im Rahmen der Ornamentkunst des Tempels gedeutet werden muß und nicht im Rahmen späterer rabbinischer Traditionen. Für diesen Hinweis danke ich Prof. E.A. Knauf. 453 In einer späteren haggadischen Nacherzählung der Geburt Abrahams sehen die Sterndeuter Nimrods nachts einen Stern im Osten, der vier Sterne verschlingt, woraus sie entnehmen, daß ein Kind geboren werden soll, das über der ganzen Erde herrschen wird (GINZBERG, Legends, 1 [1909], 207). 454 BERGER, Exegese, 95.

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Ziel ihrer Reise ist die „Proskynese“ des Königskindes (2,2c: ‘jlqomen proskun¨jsai ahut¨^w). Das Verb proskunéw bezeichnet grundsätzlich „die tiefe, kniend ausgeführte Verneigung“, wobei diese, je nachdem, in welchem Verhältnis Subjekt und Objekt der Handlung zueinander stehen, verschiedene Bedeutungsnuancen annehmen kann455: Gegenüber Gästen, Freunden oder Verwandten bezeichnet das Verb eine Geste der Höflichkeit456, gegenüber einem politischen oder religiösen Würdenträger hat man an den kniefälligen Akt der Ehrerbietung oder Huldigung zu denken457, und gegenüber der Gottheit nimmt es die stärkere Bedeutung der „Anbetung“ an458. In Anbetracht der Bezeichnung Jesu als „König der Juden“ liegt zunächst einmal der Gedanke an die Huldigung an einen König am nächsten459. Ausländische Delegationen, die dem König zu einem besonderen Anlaß mit Geschenken huldigen, findet man in der antiken Literatur nicht selten, so daß die Erst-Rezipierenden hier in ähnlichen Bahnen gedacht haben könnten460. Doch muß in Anbetracht des 455 Vgl. H. GREEVEN, „proskunéw“, ThWNT 6 (1959), 759-67; Zitat: 782/28f. In der LXX übersetzt proskunéw fast immer hÎwSjA;tVvIh (148mal nach HATCH/REDPATH, Concordance to the Septuagint, II,1217f), welches meistens im Sinne von „niederfallen“ verstanden wird (H.D. PREUSS, „hwh, hÎwSjA;tVvIh“, ThWAT 2 [1977], 784-794). 456 Gen 18,2; 19,1 (Abraham vor den Gottesboten); 23,7.12 (Abraham vor den Hetitern); Ex 18,7 (Mose vor Jitro); 1Bas 20,41 (David vor Jonatan); 3Bas 1,47 (David vor den Ministern Salomos); 2,19 (Salomo vor Batseba). 457 Vgl. LXX: Gen 33,3-7 (Jakob vor Esau); 37,9f; 42,6; 43,26.28 (vor Josef); Ex 11,8 (vor Mose); Rut 2,10 (Rut vor Boas); 1Bas 24,9 (David vor Saul; vgl. Jos., Ant 6,285); 28,14 (David vor Samuel); 3Bas 1,16.23.31 (vor David; vgl. Jos., Ant 7,187.349.354); 4Bas 2,15; 4,37 (vor Elischa); Est 3,2.5 (Weigerung Mordechais vor Haman); Jes 45,14; 49,23 (vor Zion); eigenartig ist Dan 2,46 (LXX/Q: Nebukadnezzar vor Daniel); weiterhin: Jos., Ant. 2,11; Philo, Jos 164 (die Brüder vor Josef); Op 83 (Tiere vor Adam); LegGai 116 (die Proskynese vor dem Kaiser wird als barbarische Sitte abgelehnt). 458 LXX: Gen 22,5; 24,26.48.52; Ex 4,31; 24,1; Dtn 26,10; Y 5,8; 29,2. Das bezieht sich auch auf die Anbetung falscher Götter: Ex 20,5; 23,24; 34,14; Dtn 4,19; 3Bas 22,54; 4Bas 5,18; Jes 2,8; 44,17; Philo, SpecLeg 1,24 (Reichtum). Parallel zu latreúw in Ex 20,5; 23,24; Dtn 4,19; 5,9; 8,19. Josephus vermeidet in bezug auf die Juden seiner Zeit proskunéw, welches er vornehmlich für die heidnische Götterverehrung benutzt (so GREEVEN, „proskunéw“, 763/4-21). Andererseits ist auch von der Proskynese gegenüber dem Tempel oder der Torah die Rede (Jos., Ant. 10,211; 12,114; Arist 177.179; Philo, LegGai 310; VitMos. 2,23.40). 459 AUS, „Magi“, 103; BROWN, Birth, 174: „[T]he association of the action with the title ‚King of the Jews‘ in vs. 2 directs the reader’s thought to homage paid to the royalty rather than to worship of divinity.“ 460 Vgl. Jos., Ant 16,136-141 (bei der Beendigung des Baus von Caesarea kommen Kundschafter aus der ganzen Welt mit Geschenken zu Herodes); Cassius Dio, Hist., LXIII,1,2-7,1 (= Cary VIII,146f: Zug des Tiridates nach Rom, Anbetung [proskunéw] Neros, der ein Standbild mit einem Stern über dem Kopf hat); Suet., Nero 13 (der armenische König Tiridates kommt mit einer großen Gesandtschaft, unter denen auch mágoi sind, vom Osten nach Rom, um Nero zu ehren). Seit A. DIETERICH, „Die Weisen aus dem Morgenlande“, ZNW 3 (1902), 1-14 ist in der Tiridates-Episode der Bezugstext für die Magierszene in Mt 2 gesehen worden (vgl. a. F. CUMONT, „L’Adoration des Mages et l’art triomphal de Rome“, APARA ser III/3 [1932], 82-105; neuerdings auch AUS, „Magi“, 112-14). Sollten die Leser/innen mit dieser Tradition vertraut sein, wäre die Bedeutung in der Tat die, daß Jesus und nicht der Kai-

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erneuten Wortgebrauchs in den Versen 8 und 11 gefragt werden, ob sich damit die Tiefendimension der Handlung der mágoi erschöpft. Die Proskynese vergrößert in jedem Fall den Graben zwischen Herodes und Jesus, denn die Magi wollen Jesus und nicht Herodes huldigen, obwohl ihm das als König durchaus zustünde461. Im kulturellen Umfeld des Matthäusevangeliums bedeutet dies eine grobe Verletzung königlicher Ehre. 2,3 In der Regel wäre die Ankündigung der Geburt eines neuen Herrschers ein willkommener Anlaß zur Freude. Wie reagiert aber Herodes, der derzeitige König462, als er von den Weisen und deren Frage erfährt463? Mit hetarácqj, einer Passivform von tarássw („aufrühren, in Aufregung, Unruhe, Verwirrung bringen“), benutzt der Erzähler ein vielseitiges Verb, das kurz näher untersucht werden soll: Im nicht-übertragenen Sinne bezeichnet das Verb z.B. das „Aufwühlen“ von Wasser (Joh 5,7) und erscheint auch in poetischen Beschreibungen des Gerichtshandelns Gottes, das die Naturelemente zur „Erschütterung“ und zum „Taumeln“ bringt (2Bas 22,8; Y 17,8; 45,4; 76,17; Jes 17,12; 24,14; Jer 5,22)464. In der Regel jedoch wird das Verb im übertragenen Sinne zur Bezeichnung einer emotionalen Befindlichkeit des Menschen benutzt465. Ganz allgemein handelt es sich um „die Reaktion

ser der wahre König ist (so AUS, „Magi“, 113). Aber zum einen verwirklicht sich eine Antinomie Jesus-Kaiser nirgends im Verlauf der Matthäusgeschichte (vgl. Mt 22,21), und zum anderen erfüllen die mágoi in beiden Erzählungen ganz unterschiedliche Funktionen. 461 R.A. HORSLEY, The Liberation of Christmas: The Infancy Narratives in Social Context (New York, 1989), 40. 462 Nach 2,1 wird hier der Königstitel mit Bezug auf Herodes erneut benutzt und damit die Frage nach dem „König der Juden“ in 2,2 umrahmt. 463 Die Erzählung spricht erst in 2,7 deutlich von einer Begegnung zwischen Herodes und den Weisen. Die szenische Vorbereitung in 2,1-2 läßt eher vermuten, daß die Weisen ihre Frage allgemein in Jerusalem stellten, wovon Herodes in 2,3 erfährt (hakoúsaß). 464 Tarássw (pass.) bildet in diesem Zusammenhang ein semantisches Feld mit seíw (vgl. Mt 21,10) = „beben, wanken“ (2Bas 22,8a), sparássw = „zerren, reißen“ (2Bas 22,8b), saleúw: „erschüttern“ (Y 17,8; 45,6-7; 47,6; 106,27), ‘entromoß hegenn´jqj = „in Zittern geraten“ (Y 17,8), hjc´ew = „tönen“ (Y 45,4; Jes 17,12; Jer 5,22), klínw = „neigen“ (Y 45,7) und kumaínw = „wallen, wogen“ (Jes 17,12). 465 Die affektive Dimension wird deutlich durch die häufige Benutzung von Subjekten wie yuc´j (Gen 41,8; Jdt 14,19; Ps 6,4; Y 30,10; 37,11; PsSal 6,3; Hab 3,2 = OdSal 4,2; TestAbr [rec. brevior] 13,6), kardía (Est 5,2a; Y 54,5; 142,4; Hi 37,1; Klgl 2,11), pneüma (Jes 19,3; Joh 13,21), splágcna (Sir 30,7), der Verbindung mit hen hemoí bzw. hen ahu toïß (Y 54,5; 142,4; Jes 19,3; Klgl 1,20; TestAbr [rec. brevior] 13,6) und der Nähe zu Verben wie qaumázw (Y 47,6) oder hexístjmi (Gen 42,28; Rut 3,8; Weish 5,2; Hab 3,2 = OdSal 4,2; Jes 13,8; vgl. Dan 2,1 Theod mit LXX). Aber auch die Gebeine (tà hostä: Ps 6,3; Y 30,11; PsSal 8,5), das Auge (Y 30,10) und die Bauchgegend (gast´jr: Y 30,10; koilía: Sir 51,21; Klgl 1,20) sind davon betroffen. Man könnte wohl von einem psychosomatischen Phänomen sprechen.

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des Bestürztseins, Erschreckens bei außergewöhnlichen Erscheinungen“466. Doch bedarf diese Definition einiger Präzisierungen: Das durch das Verb ausgedrückte Gefühl steht in der Nähe von Trauer467 oder Furcht468 und wird oft mit dem Verlust an Lebensenergie und dem Gefühl existentieller Bedrohung in Zusammenhang gebracht469. Es kann der betroffenen Person wörtlich die Sprache verschlagen (Gen 45,3; Y 76,5). Nur in ganz seltenen Fällen drückt es positive Ergriffenheit aus 470. Die Reaktion des Menschen bei der Begegnung mit Gott (Y 67,5; Hi 37,1) oder einem Engel (Tob 12,16; Lk 1,12.29) wird mit diesem Verb beschrieben, doch mischt sich hier bereits ein Element der Furcht vor dem Unbekannten mit hinein 471. In den meisten Belegen wird das Verb deutlich im Zusammenhang mit Situationen benutzt, deren Ausgang für die Betroffenen ungewiß 472, bedrohlich oder traurig ist473. In den Psalmen begegnet das Verb oft in der Beschreibung der Bedrängnis des Beters (Ps 6,3f.8.11; Y 30,10f; 37,11; 54,3-5; 76,5; Hab 3,16 = OdSal 4,16)474. Fazit: Die

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H. BALZ, „tarássw“, EWNT 3 (1983), 804. Meistens hat das Verb den Charakter einer „Reaktion auf etwas“, kann aber auch die „ausschauende Erregung auf etwas hin“ (Sir 51,21), eine zögernde Haltung (Y 118,60; vielleicht auch Gen 19,16) oder die Ehrfurcht vor einem König (Est 5,2a), einer Heldin (Jdt 14,7; 16,10) oder dem Vater (Sir 30,7) bezeichnen. 467 Gen 45,3-5; Jdt 14,19; Y 41,6f; 54,3; Am 8,8; JosAs 24,11; im Zusammenhang mit Weinen und Wehklagen: Gen 43,30; 2Bas 19,1; Ps 6,7-11; Y 30,11; 37,9-11; Klgl 2,11; 3Makk 1,17f. 468 Im Zusammenhang mit trómoß (Dtn 2,25; Y 47,6f; 54,5f; Hab 3,16 = OdSal 4,16; Jes 61,1f), fóboß/fobéomai (Dtn 2,25; Jdt 4,2; 1Makk 3,6; Y 54,5f; 63,9f; 64,8f; 76,17; PsSal 8,5; Weish 5,2; Hab 3,2 = OdSal 4,2; Jes 8,12; Mt 14,26f//Mk 6,50; Lk 1,12f; 1Petr 3,14; JosAs 26,8), hwdïna = „Geburtswehen“ (Dtn 2,25; Y 47,6f; Jes 13,8), fríttw = „schaudern“ (Jdt 16,10), ptoéw = „erschrecken“ (PsSal 6,3) und foberízw = „in Schrecken versetzen“ (Dan Q 4,5). 469 Schwäche (Ps 6,3; Y 30,11; 63,9; Jes 13,7f; PsSal 8,5), Schmerz (Y 30,11), Verlassen der Lebenskraft (Y 30,11; 37,11; Klgl 2,11), Sorge (Y 54,3) und Schmach (Ps 6,11; Y 82,18). 470 Als Josef Benjamin begegnet, ist er „ergriffen“ und muß sich zum Weinen zurückziehen (Gen 43,30). Der Fall in Gen 45,4 liegt anders: Als die Brüder Josefs erfahren, daß ihr totgeglaubter Bruder noch lebt, sind sie auch „ergriffen“, aber aus Furcht vor der Rache Josefs. Daher fordert Josef sie auf, nicht traurig zu sein (45,5: m`j lupeïsqe). 471 So auch im Falle von Theopompus, der 30 Tage „betrübt“ ist, weil er die Torah ins Griechische übersetzen will (Jos, Ant 12,112). 472 Explizit in 3Makk 1,17: Die Bewohner rennen „aufgeschreckt“ (taracqénteß) auf die Straße, weil sie denken, es sei etwas „Ungewisses“ (‘adjlon) geschehen. 473 So nach einem düsteren Traum oder unverständlichen Orakel (Gen 41,8; LXX Dan 2,1; Theod Dan 4,5; 5,9; Jos., Ant 10,234; 20,19), einem unerwarteten Ereignis (Gen 42,28 [vgl. Jos., Ant 2,127]; 45,3; Rut 3,8; Est 7,6; Jos., Ant 2,55; 7,359; Bell 3,237; JosAs 26,8; TestHiob 30,2; 46,3; Mt 14,26; bes. im Krieg: Dtn 2,25; Jdt 7,4; Jos., Ant 5,206.300; Vit 281.371; Bell 5,337; 7,41.88); bei einer schlimmen Nachricht (Est 4,4 [vgl. Jos., Ant 11,222]; Jdt 4,2; Jos., Ant 7,153; 10,18; 11,208.265; Vit 159.313; JosAs 24,11; Todesnachricht: 2Bas 19,1; 3Bas 3,26; Jdt 14,19; TestHiob 19,1), einer Naturkatastrophe (Jos., Ant 10,269), der Zerstörung Jerusalems (Thr 1,20; 2,11), dem Gerichtshandeln Gottes über Israel und die Völker (Ps 6,11; Y 45,7; 47,6; 63,9; 64,8; 82,18; 89,7; 103,29; Hab 3,2; Weish 5,2; 16,6; Jes 13,8; 17,12; 19,3; 64,1; Ez 30,16) oder bei der Ankündigung des Verrats durch Judas (Joh 13,21). 474 Vgl. die Nähe zu qlíbomai bzw. qlïyiß (Y 30,10; Klgl 1,20; Hab 3,16 = OdSal 4,16).

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Passivform von tarássw bezeichnet eine heftige emotionale Reaktion auf ein unerwartetes Ereignis. Zur Übersetzung bieten sich Begriffe an wie „erschrecken; bestürzt, schockiert, ergriffen, aufgewühlt, entsetzt, beunruhigt, erschüttert sein“475.

Die Nachricht von der Geburt des Königskindes läßt Herodes emotional alles andere als kalt. Von der am häufigsten belegten Verwendung des Verbes kann seine Reaktion nur schwerlich als ein positives Ergriffensein verstanden worden sein. Der von vornherein negativ gefärbte Name des Herodes kann nur die Sicht bestärken, daß für den Regenten die Geburtsankündigung eine unheilvolle und bedrohliche Botschaft ist, auf die er „tief beunruhigt“ und „bestürzt“ reagiert, weil er dahinter eine potentielle Bedrohung seiner persönlichen Macht vermutet476. Leser/innen, die auch nur peripher etwas über den Umgang des Herodes mit potentiellen und tatsächlichen Widersachern oder Machtkonkurrenten wußten, konnten ahnen, daß dieses „Bestürztsein“ nach „herodianischer Logik“ nur in dem Versuch münden kann, das Königskind zu töten477. Obwohl der Erzähler es nicht besonders betont, scheint es doch auf den ersten Blick überraschend, daß alle Bewohner Jerusalems (päsa H Ierosóluma) in diese Reaktion mit einstimmen. Die Anbindung an Herodes ist durch kaí meth ahutoü so eng, daß es m.E. kaum möglich ist, zwei unterschiedliche Reaktionen im Text zu erblicken478. Eigentlich hätten nur die herrschenden Schichten Grund, sich durch die Geburt des neuen Königs bedroht zu fühlen. Ähnlich wie in der Exodus-Nacherzählung des Josephus, in der es ausschmückend heißt, daß neben dem Pharao auch alle Ägypter in Furcht vor dem angekündigten hebräischen Befreier gerieten (deídw)479, erscheint Jerusalem hier in einer unheilvollen Solidarität mit jener Macht, die durch die Geburt des Messias in Frage gestellt wird. Für diese an sich erstaunliche Tatsache wird keine Erklärung geliefert. Der Erzähler scheint mit Erzähladressaten zu rechnen, die von vornherein bereit sind, eine so negative

475

Von dem semantischen Befund wird man nicht sagen können: „[S]ie reagieren wie Heiden, denen Gottes Gericht bevorsteht“ (HENGEL/MERKEL, „Magier“, 145). 476 Die oben angeführten Texte zur weltpolitischen Deutung von Sternerscheinungen zeigen, daß diese nicht nur die Geburt eines neuen Herrschers, sondern oftmals auch den Tod oder die Absetzung des amtierenden Königs ankündigen. Auf einem solchen Hintergrund wird die Reaktion des Herodes für die Rezipierenden „verständlicher“. 477 Im übrigen ist das Motiv des Erschreckens nicht selten für Erzählungen dieser Art: Vgl. Jos., Ant 2,206 (Pharao gerät in Furcht); Suet., Aug 94,3 (der Senat wird durch ein Wunderzeichen, das die Geburt eines neuen Herrschers verkündet, in Schrecken versetzt [senatum exterritum censuisse]). Zum Motiv der Verfolgung des Königskindes s.u. S. 312f zu 2,16. 478 Die These, daß die Jerusalemer zusammenschrecken, weil sie Angst vor den Maßnahmen des Herodes haben (so GAECHTER, „Magierperikope“, 286; GRUNDMANN, 77; SCHMID, 47; TRILLING, I,36; ähnlich LUCK, 25), geht am Duktus der Erzählung vorbei (vgl. A. VÖGTLE, „Das Schicksal des Messiaskindes“, BiLe 6 [1965], 259f). 479 Jos., Ant. 2,215.

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Rolle für Jerusalem zu akzeptieren. M.E. ist dies vor allem dann plausibel, wenn die Erst-Rezipierenden z.B. mit der Passionstradition vertraut sind480 und somit für sie die urchristliche Ambiguität in bezug auf die heilige Stadt, die zugleich die Stadt der Ablehnung und Ermordung Jesu geworden ist, im Hintergrund steht481. Der präludierende, proleptische Charakter dieser Episode482 wurde den Erst-Rezipierenden also wahrscheinlich schon bei der ErstLektüre bewußt. 2,4 Herodes selbst ist nicht in der Lage, die Frage nach dem Geburtsort des Königskindes zu beantworten, weiß aber, wo er nachzufragen hat. Er ruft alle Hohenpriester und Schriftgelehrten zusammen (sunagag´wn)483 und befragt sie nach dem Geburtsort des Messias (poü Ho Cristòß gennätai)484. Herodes versteht die Ankunft einer ausländischen Gesandschaft, die durch eine Sternerscheinung zur Reise nach Jerusalem mit der Absicht der Huldigung bewegt worden ist (2,2), als ein messianisches Zeichen. Mit den jüdischen Führern betritt für einen kurzen Augenblick eine neue Gruppe die Szene der matthäischen Geschichte. Der Text läßt keinerlei Schlüsse darüber zu, welche Assoziationen diese Gruppe bei den Erst-Rezipierenden auslösen konnte. Sollte aber hinter der impliziten Negativbewertung Jerusalems in 2,3 die Kenntnis der Passionsgeschichte stehen, dann würden sich die jüdischen Führer hier für die Leser/innen recht „harmonisch“ an die Seite des bösen Herodes einfü480 Wenn z.B. in 10,4 Judas Iskariot eingeführt wird als „der ihn verriet“, dann setzt das deutlich eine Kenntnis der Passionstradition voraus. 481 Zu Jerusalem im Mt-Evangelium vgl. LOHSE, „Si´wn ktl.“, 329f; F.A. NIEDNER Jr., „Rereading Matthew on Jerusalem and Judaism“, BTB 19 (1989), 43-7; H. MERKLEIN, „Jerusalem – bleibendes Zentrum der Christenheit? Der neutestamentliche Befund“, Zion – Ort der Begegnung (FS L. Klein), hg. F. Hahn u.a. (BBB 90; Hanstein, 1993), 48-50: „Noch schärfer als im Markusevangelium wird im Matthäusevangelium Jerusalem als Ort der Ablehnung Jesu herausgestellt.“ (48) DAVIES, Gospel and the Land, 242: „The sin of the city is particularly real to the Evangelist … For Matthew, the Holy City has become the guilty city.“ Eine generelle Anklage gegen Jerusalem und die dort ansässigen Führer findet man auch in der prophetischen Tradition Israels (vgl. Mi 3,9-12; Ez 22,1-16). Die Zerstörung des Tempels 70 n.Chr. führte innerhalb des Judentums zu einer negativen Bewertung Jerusalems und seiner Bewohnerschaft. So ist für Josephus der Einfall der Römer in die Stadt ein Akt der Reinigung vor den Greueltaten, die die Einheimischen begangen haben, denn Jerusalem ist nicht mehr Gottes Stadt, darf aber auf bessere Zeiten hoffen (Bell 5,19). 482 Vgl. FRANKEMÖLLE, 161. 483 Die sprachliche Brücke zu Ps 2,2 (oÓ ‘arconteß sun´jcqjsan h epì tò ahutò katà toü kuríou kaì katà toü cristoü ahutoü) ist schwach. Nur die christologische Bedeutung dieses Psalms im Urchristentum könnte es geschichtlich plausibel machen, daß einzelne Leser/innen an diese Stelle gedacht haben könnten. 484 Damit formuliert Herodes als Repräsentant Israels die Frage der Heiden nach dem „König der Juden“ (2,2) in jüdische Sprache um und „bekennt“ sich ironischerweise zur Messianität Jesu. Für Matthäus sind die „Titel“ Davidssohn, König der Juden und Messias in Mt 1-2 offensichtlich austauschbar (vgl. 26,63 mit 27,37).

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Rezeptionskritische Auslegung von Matthäus 1-2

gen485. Da vorher bereits gesagt worden ist, daß „ganz“ Jerusalem in die Reaktion des Herodes mit einstimmt und hier wieder pointiert von „allen“ die Rede ist, bildet sich vor den Augen der Adressaten das Bild einer geschlossenen Front politisch-religiöser Macht gegen Jesus486. Die Hohenpriester und Schriftgelehrten agieren als offizielle Führungsrepräsentanten des jüdischen Volkes (toü laoü) und stehen als „Teilmenge von ganz Jerusalem“ auf der Seite des Tyrannen487. Wie das gesamte jüdische Volk außerhalb Jerusalems zu der ganzen Sache steht, wird mit keinem Wort erwähnt. Von 1,21 (tòn laòn ahutoü) wissen die Leser/innen auch, daß es sich um das Volk Jesu handelt, zu dem er gekommen ist, um es von Sünde zu erlösen488. Es deutet sich bereits an: Wenn Israel in den Händen solcher Führer ist, dann ist es gefährdet. Daß schließlich „alle“ wie zu einer „Vollversammlung“ zusammenkommen, macht den dramatischen Ernst der Lage deutlich und verteilt die Verantwortung für die Ablehnung des Messias auf Herodes, Jerusalem und die dort ansässigen religiösen Führer des Volkes489. Je nachdem, welche alttestamentlichen narrativen Paradigmen den ErstRezipierenden bei dieser narrativen Konstellation in den Sinn kamen, wäre hier eine bittere Ironie erkennbar: In der Mose- und Danielerzählung sind heidnische Zauberer, Beschwörer und Astrologen auf der Seite der bösen Machthaber, sind dann aber in ihrem Wissen den Vertretern des Bundesvolkes unterlegen. In der Matthäuserzählung hat in gewisser Weise ein Rollentausch stattgefunden490: Jetzt sind es die religiösen Vertreter des jüdischen Volkes, die sich vor den Karren des bösen Herrschers spannen lassen und ihm bei der Bekämpfung des Messiaskindes mit Rat zur Seite stehen; die heidnischen Weisen, deren literarische Vorgänger am ägyptischen bzw. babylonischen Hof noch die Rolle der etwas hilflosen Verbündeten heidnischer Macht spielten, sind hier Identifikationsfiguren für die rechte Haltung Jesus gegen-

485

Gerade deswegen würde ich nicht sagen, daß die Leser/innen, „sofern sie sich an die wirkliche Geschichte des Herodes erinnern“, über eine historisch so unplausible Allianz (Herodes mit den religiösen Führern) „überrascht gewesen sein“ mögen (LUZ, Jesusgeschichte, 39). In der Passionsgeschichte ist auffällig oft vom Zusammenkommen (sunágw) der Gegner Jesu die Rede (26,3.57; 27,17.27.62). Allgemein zu den intratextuellen Bezügen zwischen Kindheits- und Passionsgeschichte vgl. BROWN, Birth, 183. In jeder Neulektüre der Erzählung wird die Wechselwirkung von Anfang und Ende vertiefend wahrgenommen. 486 LUZ, Jesusgeschichte, 39: „Eine unheilige Front des Bösen zeichnet sich ab.“ 487 GIELEN , Konflikt, 29. Später in 27,1 heißt es: sumboúlion ‘elabon pánteß oÓ harciereïß kaì oÓ presbúteroi toü laoü katà toü h Ijsoü “wste qanat¨wsai ahutón. 488 Die Schlußfolgerung von BROWN, daß die Formulierung toü laoü „raises the possibility that Matthew no longer considers himself part of that people“ (Birth, 175), erscheint mir zu weitreichend. 489 BROWN, Birth, 175. 490 Ähnlich LUZ, Jesusgeschichte, 36.39.

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Hypothetische Erst-Rezeption

über491. So werden Elemente aus dem Repertoire in dieser Episode auf überraschende Art und Weise neu kombiniert und ein Kontrast zwischen jüdischer Ablehnung und heidnischer Annahme angedeutet. 2,5-6 Die religiösen Führer müssen nicht lange überlegen, um die Frage zu beantworten. Was die Erst-Rezipierenden schon längst wissen (spätestens aus 2,1), erfahren die Erzählfiguren aus der genauen Kenntnis der alttestamentlichen Propheten: Der Messias wird in Betlehem in Judäa geboren492. Ihre Kenntnis steigert nicht nur ihre Schuldhaftigkeit, sondern macht sie selbst zu unbewußten Zeugen der Messianität Jesu. Die jüdischen Gelehrten begründen ihre Antwort mit einem prophetischen Schriftzitat. Es handelt sich um eine Verbindung aus Mi 5,1 und 2 Sam 5,2, wobei der Wortlaut an einigen Stellen von der griechischen Vorlage abweicht493: Mi 5,1 LXX

Kaì sú, Bjqleem o~ikoß toü Efraqa, holigostòß e~i toü e~inai hen ciliásin Iouda≥ hek soü (B* C: hex oˆu) moi hexeleúsetai toü e~inai e˙ß ‘arconta hen t¨^w Isra´jl,

Mt 2,6

Kaì sú, Bjqléem g¨j h Ioúda, ohudam¨wß helacístj e~i hen toïß Hjgemósin h Ioúda≥ hek soü gàr hexeleúsetai Hjgoúmenoß,

2Bas 5,2 (= 1Chr 11,2) kaì e~ipen kúrioß pròß sé Sù poimaneïß tòn laón mou tòn Isra´jl.

“ostiß poimaneï tòn laón mou tòn h Isra´jl.

In einer noch stark von Oralität geprägten Gesellschaft ist den meisten Hörer/innen der Blick in die schriftliche Vorlage des zitierten Textes kaum möglich494. Das ist nicht nur eine Frage der individuellen Lesefähigkeiten, sondern auch der Verfügbarkeit von Büchern. Es ist daher kaum abzuschätzen, wie sehr die Erst-Rezipierenden mnemisch mit dem genauen Wortlaut und dem Kontext des Intertextes vertraut sein konnten. Die Redaktionskritik hat uns an eine Lektüre gewöhnt, bei der unser Blick immer jenes Element besonders 491

Wenn VÖGTLE, Messias, 33 schreibt: „Die mágoi von Mt 2 entsprechen als sternkundige Männer eindeutig den Astrologen der … Pharao-Mose-Überlieferung“, dann kann sich das unmöglich auf ihre narrative Funktion beziehen. 492 Vgl. Joh 7,41f. Die rabbinischen Belege für Betlehem als Geburtsort des Messias lassen sich schwerlich vor das 3. Jh. n.Chr. datieren (s. Bill., I,83; bes. TJon zu Mi 5,1 [= Sperber, 3,446]; KARRER, Gesalbte, 332; Anm. 104). 493 Zwischen LXX und MT besteht in diesem Fall kein nennenswerter Unterschied (vgl. BROWN, Birth, 184-6). Die Verbindung von zwei sprachlich oder sachlich miteinander verwandten Texten war in der jüdischen Exegese keine Seltenheit (vgl. BREWER, Techniques and Assumptions, 22f.67f.160). Die Zusammenstellung von Mi 5,1 mit 2Sam 5,2 ist an sich nicht verwunderlich, da zwischen beiden Texten sachliche (david. Königtum) wie sprachliche (Mi 5,3: Herrscher als Hirt; 2Bas 5,2: David als Hjgoúmenoß) Anziehungspunkte bestehen (vgl. auch F. MARTIN, „The Image of the Shepherd in the Gospel of Matthew“, ScEs 27 [1975], 272-4). 494 Zum Phänomen der Mündlichkeit s.o. S. 166ff.

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hervorhebt, das verändert worden ist. Für die Rekonstruktion der hypothetischen Erst-Rezeption empfiehlt sich eine solche Vorgehensweise nicht. Es ist aber kaum anzunehmen, daß die Erst-Rezipierenden – selbst bei präziser mnemischer Kenntnis der Vorlage – die abweichenden Elemente höher bewertet hätten als das wörtlich Übernommene. Es geht letztlich um die Gesamtaussage des Zitats: Darin wird Betlehem im Land Juda lokalisiert, womit an die Herkunft Jesu aus Juda erinnert wird (1,1.2)495. Seltsam ist aber der Hinweis darauf, daß es sich bei Betlehem keineswegs (ohudam¨wß) um das geringste oder unbedeutendste Dorf unter den Fürsten Judas handelt. Negationen nehmen oft Bezug auf die Erfahrungswelt der Rezipierenden. Daher scheint es mir hier am ehesten möglich, daß der Erzähler mit einer Kenntnisnahme der Modifizierung seitens seiner Adressaten rechnet496. Zwar ist Betlehem politisch unbedeutend (so der ursprüngliche Text), aber aufgrund der Tatsache, daß der Messias von dort kommen soll, erfährt der Ort einen ungeheuren Wertzuwachs497. Eine solche Änderung des ursprünglichen Wortlautes wird wohl dann nicht auf Gegenwehr seitens der Rezipierenden stoßen, wenn diese bereits von der Messianität Jesu ausgehen und somit auch dem Ort Betlehem eine vollkommen neue Bedeutung beimessen konnten498. Man kann also sagen: Nicht nur die Stadt charakterisiert Jesus, sondern auch Jesus die Stadt. Daß solches aus dem Munde der jüdischen Führer vernommen wird, vertieft die Einsicht, daß diese wider besseres Wissen mit dem Bösen kollaborieren. Da die Zufügung von 2Sam 5,2 eigentlich für die Beantwortung der Ortsfrage keine Bedeutung mehr hat499, ist anzunehmen, daß das Zitat die christologische Komponente des Geburtsortes vertiefen will: Jesus erscheint als ein Führer (Hjgoúmenoß), der das Gottesvolk Israel wie ein Hirt weiden wird (poimaneï tòn laón mou). Beide Begriffe verleihen der davidisch-königlichen Dimension des Textes Ausdruck: H Jgoúmenoß bezeichnet „Männer in leitender Stellung aller Art“500 und erscheint ebenso als geläufige Bezeichnung für den König501. Auch die Hirtenmetaphorik hat eine Verbindung mit der alttestamentlichen Königsideologie und der Vorstellung eines davidischen 495

BROWN, Birth, 185; FRANCE, „Formula-Quotations“, 242; HAGNER, I,29: „It is possibly a theological alteration to remind the reader of Jesus’ descent from Judah (with the messianic implication) as in 1:1,2.“ 496 Ähnlich FRANCE, „Formula-Quotations“, 242: „ohudam¨wß helacístj achieves its force precisely as an alteration: in itself it would cause no surprise.“ 497 Das erklärt auch die Einfügung von gár. 498 Solange keine konkrete Textform belegbar ist, nehme ich nicht an, daß Mt hier eine bekannte, aber nicht mehr erhaltene atl. Textform zitiert (so z.B. LOHMEYER, 23; ALLEN, 13; auch im Targum zu Micha findet sich diese Textform nicht [gegen GUNDRY, Use, 91]). 499 KARRER, Gesalbte, 331 spricht von einem „Mischzitat, das weit über eine Begründung der Ortssetzung Betlehem hinausschießt“. 500 Bauer/Aland, 696. 501 1Bas 15,17 (Saul); 22,2; 25,30; 2Bas 5,2; 6,21; 7,8 (David); 3Bas 1,35; 9,5 (Salomo).

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Messias502. Damit kommt ein weiterer Aspekt zu dem im ersten Kapitel gezeichneten „Programm“ des Dienstes Jesu503: Jesus wird sein Volk von den Sünden befreien und als „Immanuel“ wahrgenommen werden (1,21-23), und er wird sein Volk als davidischer Hirt-Führer leiten und beschützen (2,6)504. Die Vorrangstellung der soteriologischen Bedeutung Jesu schafft einen neuen Kontext, der die Erst-Rezipierenden daran hindert, die Hinweise auf die Führertätigkeit Jesu als „König der Juden“ im politischen Sinne zu deuten505. Die Entwicklung der Jesusgeschichte wird also zeigen müssen, wie dieses „Weiden des Volkes“ aussieht. 2,7-8 Herodes bleibt als König weiterhin Handlungssouverän dieses Teils der Erzählung. Nach seiner Einberufung der jüdischen Gelehrtenschaft ruft er jetzt die heidnischen Weisen zu sich. Doch im Gegensatz zu seiner ersten Handlung geschieht dies „heimlich“ (láqrâ). Eine solche Geheimniskrämerei läßt bereits vermuten, daß etwas „nicht in Ordnung“ ist506. Die Absicht des Herodes scheint auf dem ersten Blick ganz harmlos: Er erkundigt sich ganz genau (hakribów) nach der Zeitdauer bzw. dem Zeitpunkt507 der Erscheinung des Sternes. Erst später wird sich herausstellen, was er mit dieser Information anfangen wird (vgl. 2,16). Herodes schickt die Weisen nach Betlehem. Als Sendender (pémpw) gibt er ihnen auch einen Auftrag: Sie sollen genaue Nachforschungen (hexetásate hakrib¨wß) über das Kind (paidíon) anstellen und, wenn sie es gefunden ha-

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Wichtige Gestalten Israels waren Hirten: Jakob (Gen 30,31.36; Jdt 8,26), Josef und seine Brüder (Gen 37,2.13; TestGad 1,4), Mose (Ex 3,1) und David (1Sam 16,11; 17,15.34; Ps 78,70f; Midr. Rabbah 2,2 zu Ex 3,1). Bereits Mose (Jes 63,11; ExR 2,68b = Bill II,209) und die Richter (2Sam 7,7 // 1Chr 17,6) werden in ihrer politischen Funktion als Hirten des Volkes beschrieben. Zu David und den davidischen Messias vgl. bes. Y 77,70-72 (vgl. 2Bas 7,8); Ez 34,23f, 37,24; PsSal 17,40. Vgl. J. JEREMIAS, „poim´jn, ktl.“, ThWNT 6 (1959), 486/23-487/26; J.A. SOGGIN, „hor“, THAT 2 (1976), 793f; J.G.S.S. THOMPSON, „The Sheperd-Ruler Concept in the Old Testament and its Application in the New Testament“, SJTh 8 (1955), 406-418; G. WALLIS, „hor“, ThWAT 7 (1993), 566-576. 503 J.P. HEIL, „Ezekiel 34 and the Narrative Strategy of the Shepherd and Sheep Metaphor in Matthew“, CBQ 55 (1993), 700. 504 Mit dem Begriff des Weidens ist „weitgehend die Vorstellung der Fürsorge verbunden“ (WALLIS, „hor“, 573). 505 FRANKEMÖLLE, I,164: „Mögen bibelkundige Leser mit dem Bibelzitat politische Erwartungen verknüpfen, so wird dies von der bisherigen matthäischen Textstruktur dem Leser verwehrt.“ 506 Ähnlich GIELEN, Konflikt, 31. In 1,19 wollte der gerechte Josef Maria „heimlich“ (láqrâ) entlassen. Heimliches Handeln kann Zeichen einer Intrige sein: In 3Bas 18,22 läßt Saul David im geheimen (láqrâ) übermitteln, sein Schwiegersohn zu werden; was aber Teil seiner Intrige gegen David ist (18,21). Bakchides schickt heimlich (láqrâ) Briefe an alle Verbündeten, damit diese Jonatan gefangennehmen (1Makk 9,60). 507 Crónoß kann sich auf beides beziehen (vgl. BURCHARD, „Fußnoten“, 144, Anm. 4).

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ben, Herodes davon berichten508. Der König setzt alles in Bewegung, um seinen Informationsbedarf zu stillen: Er versammelt die jüdischen Führer und befragt sie (2,4), er ruft die Weisen und erkundigt sich (2,7), er gibt Anweisung, daß sie ihm von ihren Nachforschungen berichten (2,8), er möchte wissen, wo der Messias geboren werden muß (2,4), wann die Gelehrten den Stern gesehen haben (2,7) und alle weiteren Einzelheiten über das Kind (2,8), und er möchte über alles möglichst „genaue“ Auskünfte (7f: hakribów/¨wß). Warum? Nach seiner eigenen Aussage möchte er auch hingehen und dem königlichen Kind huldigen (khag´w helq`wn proskun´jsw ahut¨^w). Die Erst-Rezipierenden werden das dem König kaum abgenommen, sondern vielmehr hierin den Versuch gesehen haben, die Weisen aus dem Orient für die Durchsetzung seiner Macht als Komplizen zu mißbrauchen und sie so in die Reihe der Messiasfeinde einzugliedern. Wüßten die Erzähladressaten nichts über den weiteren Verlauf der Jesusgeschichte, würden sie an dieser Stelle sicherlich um das Wohlergehen des königlichen Kindes bangen. Da sie aber sicher sein können, daß Herodes mit seinen mörderischen Intrigen ins Leere laufen muß, kann die Frage nur sein: Wie kommt Jesus heil aus der Situation? 2,9-10 Die Weisen folgen der Anweisung des Königs509 und machen sich auf die Reise. Indem sie sich unter die Autorität des Monarchen stellen, haben sie unwissentlich den ersten Schritt in die Komplizenschaft getan510. Für die ErstRezipierenden steht daher die Frage im Raum, ob sie auch den zweiten Teil der Anweisung des Herodes ausführen werden. Auf ihrer Reise nach Betlehem ereignet sich wieder etwas Unerwartetes (˙doú): Der Stern, dessen Aufgang sie gesehen haben, geht jetzt vor ihnen her (proágw), bis er schließlich über dem Ort stehen bleibt, wo das Kind ist511. Spätestens hier muß die Vorstellung einer „natürlichen“ Sternerscheinung aufgegeben werden: Die Leser/ innen wissen, es handelt sich um eine vollkommen außergewöhnliche Führung Gottes, die erneut das Wundersame der Geburt Jesu betont512. Nachdem mehrmals nach dem Wo des Königskindes gefragt worden ist (poü in den Versen 2.4), ist jetzt endlich der Ort erreicht (hepánw oˆu ~jn tò paidíon)513. 508 Vgl. BROWN, Birth, 176: „The verb [hapaggéllw] does not make clear whether the magi are to send word or to bring it themselves. The latter is implied by 2:12.“ 509 Möglicherweise impliziert hakoúw mit Genitiv bereits Gehorsam (GAECHTER, „Magierperikope“, 288; allgemein Bauer/Aland, 63 [sub 4]). 510 GAECHTER, „Magierperikope“, 288: „Diese Wendung bedeutet, daß die Magier den Auftrag des Königs formell übernommen haben.“ 511 Die Formulierung hestáqj h epánw oˆu ~jn tò paidíon hat durchaus Ähnlichkeit mit dem Bericht des Josephus über ein Gestirn, das über Jerusalem stehen blieb (Bell 6,289: Hupèr t`jn pólin ‘astron ‘estj). Zu den Ähnlichkeiten vgl. MONTEFIORE, „Josephus“, 146. 512 Zur hinweisenden Funktion des Sterns in 2,7,9a.b vgl. F RANKEMÖLLE, 163. 513 Der von manchen Exegeten konstruierte Kontrast zwischen der „dürftigen“ Offenbarung durch die Natur (der Stern der Heiden) und der „klaren“ Offenbarung durch die Schrift

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Die Begenung der Weisen mit dem neuen König ist durch den Umweg über Jerusalem und das Herrscherhaus verzögert worden (2,2-8), jetzt endlich nähern sie sich dem richtigen Ort (V. 10). Beim Erblicken des Sterns über dem Aufenthaltsort des Kindes reagieren sie nicht wie Herodes mit Bestürzung, sondern mit übermäßiger Freude. Einiges spricht dafür, daß der Text seine Hörer/innen einladen will, diese Stimmung der Freude auf sich übergreifen zu lassen514: Zum einen sind die Weisen aufgrund ihrer positiven Ausrichtung auf Jesus die einzigen Identifikationsfiguren des Textes, und zum anderen wird die Freude rhetorisch äußerst stark ausgedrückt. Die Wendung hecárjsan carán ist ein semitisch angehauchter Pleonasmus, der dazu dient, die verbale Aussage zu intensivieren515. Durch das Adjektiv megálj („groß“) und das Adverb sfódra („sehr, heftig“)516 wird der gesamte Ausdruck gleich mehrfach verstärkt. Eine solche rhetorische „Überladung“ vermittelt den Eindruck einer überwältigenden Erfahrung der Freude. Die Bedeutung der Freude soll daher noch weiter vertieft werden: Die moderne Psychologie definiert „Freude“ als ein „gerichtetes (F[reude] über etwas), lebensaufschließendes, das spezifisch Menschlich-persönliche einbeziehendes Gefühl“517. Auch im Altertum ist Freude ein „unmittelbares Empfinden“518. Aber welche Vorstellungen von Freude könnten der Lebenswirklichkeit der ErstRezipierenden entsprechen? Zunächst gibt der Text selbst einige Hinweise: Die Freude der Weisen wird durch das Erblicken des auf den Aufenthaltsort des Messias hinweisenden Sternes ausgelöst. Dieses Geschehen hat seinen Grund in göttlicher Führung und seinen Zielpunkt in Jesus. Mit ihrer Freude reagieren sie auf Gottes Machttaten, die die Heiden zur Begegnung mit dem Messias Israels führen. Damit fügt sich die Freude der Weisen in den Rahmen der christlichen Vorstellung von Freude als „Teilhabe an der himmlischen Welt“519; oder wie KÄSEMANN so treffend in 2,5f (BROWN, Birth, 182f; LUCK, 24: „die allgemeine Rettererwartung bedarf also der Schrift, um zum Ziele zu kommen“) entspricht zwar dem modernen Interesse, den Status der natürlichen Offenbarung biblisch in seine Schranken zu weisen, läßt sich aber m.E. kaum vom Text stützen, weil die Sterndeuter anfangs zwar auf die Auskunft der Schriftgelehrten angewiesen sind, aber zum genauen Aufenthaltsort schließlich doch von dem Stern geführt werden. 514 LUZ, I,120: „Wie in verwandten Berichten soll auch hier der Leser Gottes Führung spüren, die in dem ganzen Geschehen am Werke ist, und die übergroße Freude, die die Magier darüber empfinden, teilen.“ 515 Bl/Deb/Reh §153. Vgl. Jona 4,6 (h ecárj … caràn megáljn); Jes 39,2 (A S [nicht B]: hecárj … caràn megáljn); 66,10 (cárjte “ama ahut∆ car^ä); JosAs 3,3 (hecárj caràn megàljn sfódra; vgl. a. 4,1; 7,8; 9,1; 15,11; 18,10; 21,3; 24,5). Eine Verbindung des Verbs mit dem inneren Objekt cará ist auch in der griechischen Literatur belegt (vgl. H. CONZELMANN, „caírw, ktl.“, ThWNT 9 [1973], 351/8f). 516 Vgl. Sach 9,9: Caïre sfódra, qúgater Siwn. 517 W. KRETSCHMER, „Freude“, LPs 1 (21980), 636. 518 CONZELMANN , „caírw“, 350/12 (vgl. Belege in Anm. 5). Im AT wird die Freude oft in Verbindung gebracht mit dem Herzen (Ex 4,14; Ps 19,9; 84,3; 104,15; 105,3; Spr 15,30; Jes 66,24; Hab 1,15 LXX). 519 K. BERGER, „caírw“, EWNT 3 (1983), 1080.

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formuliert hat: „der Stand unter offenem Himmel“520. Heutzutage neigt man dazu, sich die Freude als ein Gefühl innerer Wonne vorzustellen. Haben die ErstRezipierenden dabei auch an einen stillen und besinnlichen Schauer gedacht und vielleicht selbst so empfunden, oder war für sie mehr impliziert? Natürlich ist es „schwer zu fassen“, „wie diese Freude erlebt wurde“521, aber bereits im AT „liegen Empfindung und Äußerung der Freude unmittelbar beisammen… Die Freude ist nicht auf das Innerliche begrenzt… Sie ist eine Verfassung des ganzen Menschen“ 522 und äußert sich oftmals in konkreten Taten oder Gesten. In unserem Zusammenhang braucht man nicht lange zu suchen, wie sich die Freude der Weisen konkret erweist: Sie ist die Antriebskraft zur Proskynese Jesu 523.

2,11 Der Höhepunkt der Geschichte ist erreicht, als die Weisen in das Haus hineinkommen (2,11). Jetzt schauen sie nicht mehr auf den Stern (2,2.9), sondern auf das Kind mit Maria, seiner Mutter524. Die in Kap. 2 stets wiederkehrende Wendung „das Kind und seine Mutter“ (2,11.13f.20f) werden die Leser/innen im Licht der komplizierten Vaterschaftsverhältnisse von Kap. 1 auffassen525. Der Erzähler meidet es, Josef als Vater Jesu zu bezeichnen, und bringt daher das Kind immer in Verbindung mit seiner Mutter526. Die Tatsache jedoch, daß das Kind immer vor der Mutter genannt wird, macht deutlich, wer im Mittelpunkt des Erzählinteresses steht. Die Anbetung des Kindes durch die mágoi wird in zwei parallel aufgebauten Partizip-Indikativ-Sequenzen erzählt: 1. kaì pesónteß prosekúnjsan ahut¨^w: Das Hauptverb proskunéw bezeichnet die beabsichtigte Ehrerbietung der heidnischen Sterndeuter (2,2.8). Hier erschließt sich für die Hörer/innen allerdings ein tieferer Sinn, der über

520 E. KÄSEMANN, An die Römer (HNT 8a; Tübingen, 41980), 365 (zu Röm 14,17). 521 So R. KAMPLING in seiner knappen, aber anregenden Studie zu Paulus: „Freude

bei Paulus“, TrThZ 101 (1992), 79. 522 CONZELMANN , „caírw“, 353/8f.14.16. 523 Ähnlich wird in Sib 3,771-3 von dem ewigen Reich gesagt, daß alle mit Freude (ehufrosúnj) Weihrauch und Geschenke zum Tempel bringen. Freude in kultisch-liturgischen Kontexten: Lk 19,37; Offb 19,7; Apg 13,48; 1Thess 5,17. 524 DAVIES/A LLISON, I,248. 525 In einer feministischen Lektüre müßte der Umstand bedacht werden, daß 1. nur der Mann Josef Empfänger göttlicher Offenbarung ist und damit auch immer die entscheidenden Handlungen vornimmt, 2. Maria vollkommen passiv und rezeptiv ist und 3. sie ihre Bedeutung gerade nur aus ihrer Rolle als Messiasmutter gewinnt. Während Maria in der lukanischen Kindheitsgeschichte eine bedeutende und eigenständige Rolle spielt, ist Mt 1-2 vorwiegend an Josef als Vermittler der davidischen Genealogie und Handlungsträger in Notsituationen interessiert. Dieses Interesse spiegelt deutlich eine patriarchale Familienstruktur wider (vgl. WAINWRIGHT, Feminist Critical Reading, 70f.73f). 526 DAVIES/A LLISON, I,248 vermuten aufgrund von Ex 4,20 (t`jn gunaïka kaì tà paidía) eine Mose-Typologie für diesen Ausdruck. Es ist aber kaum anzunehmen, daß ein solche „Normalwendung“ die Leser/innen so deutlich zu der Mosegeschichte geführt haben sollte.

Hypothetische Erst-Rezeption

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die Bedeutung des höflichen Niederfallens vor einem Ranghöheren in 2,2 hinausweist. Da die Vorstellung des Niederfallens bereits im vorangestellten Partizip ausgesagt worden ist (pesónteß), ist anzunehmen, daß proskunéw hier stärker die Anbetung im vollen Umfang bezeichnet527. Für jüdische Hörer/innen muß dies befremdlich wirken; ein christliches Erzählpublikum wird sich allerdings nicht nur mit der Freude identifizieren, sondern sich auch für den Akt der Anbetung Jesu begeistern können. Eine solche Reaktion wird auf dem Hintergrund einer auf Jesus Christus ausgerichteten Frömmigkeit, wie sie das frühe Christentum pflegte, verständlich528: Christologische Hymnen, einige Fälle des Gebets zu Jesus, liturgische Handlungen „im Namen Jesu“, die regelmäßige Feier eines Erinnerungsmahls, die Bildung von christologischen Bekenntnissen und prophetischen Jesusworten und der christologische Gebrauch von alttestamentlichen Jahwe-Texten 529 zeigen, wie Elemente, die im Alten Testament die Beziehung zwischen Israel und Jahwe bestimmten, jetzt auf die Beziehung zwischen der christlichen Gemeinde und Jesus übertragen werden können. Dazu gehört auch die Anbetung Jesu, die für die Leser/innen durch die Heiden im Text präfiguriert wird 530. Die Sternkundigen fungieren daher als „Verstärker“ der Christus-Frömmigkeit.

2. kaì hanoíxanteß toùß qjsauroùß ahut¨wn pros´jnegkan ahut¨^w d¨wra, crusòn kaì líbanon kaì smúrnan. Wie diese Anbetung konkret aussieht, wird in der zweiten Partizip-Indikativ-Sequenz deutlich: Sie öffnen ihre Schatzkästen (toùß qjsauroúß) und bringen dem Kind wertvolle Geschenke dar. Dieses merkwürdige Geschehen erweckt möglicherweise messianische, in jedem Fall aber königliche Assoziationen531: Einem König keine Geschenke zu bringen, ist ein Akt der Verachtung ihm gegenüber (1Bas 10,27). In 3Bas 5,14 berichtet LXX (nicht aber MT!) davon, wie Salomo aufgrund seiner Weisheit Geschenke von allen Königen der Erde empfängt 527

HAGNER, I,28; LUZ, I,120. Die Verbindung von píptw und proskunéw erscheint außerdem noch in Mt 4,9; 18,26; Apg 10,25; 1 Kor 14,25; Offb 4,10; 5,14; 7,11; 11,16; 19,4.10; 22,8; Rut 2,10; 1Bas 20,41; 2Bas 14,22.33; 4Bas 4,37; 2Chr 7,3; 20,18; 29,30; Hi 1,20; Sir 50,17; Dan 2,46; 3,5-7.10-11.15; 1Makk 4,55; VitAd 27,5; TestSeb 3,7; JosAs 15,11; 28,2.9; Jos. Ant 7,95; 9,11. 528 Vgl. dazu L.W. HURTADO , One God, One Lord: Early Christian Devotion and Ancient Jewish Monotheism (Philadelphia, 1988); R. BAUCKHAM, „The Worship of Jesus in Apocalyptic Christianity“, NTS 27 (1980/81), 322-41. 529 Vgl. D.B. CAPES, Old Testament Yahweh Texts in Paul’s Christology (WUNT II/47; Tübingen, 1992). 530 HAGNER, I,31: „[T]hey anticipate the propriety of the worship of the Son of God in the early church.“ Diese „liturgische“ Lektüre mag noch dadurch verstärkt werden, daß die Anbetung des Königskindes im Haus stattfindet, also in jenem Ort, in dem sich auch die ersten Christ/innen zum Gottesdienst versammelten. Für eine synchrone Studie gottesdienstlicher Begriffe im Mt-Evangelium vgl. M.A. POWELL, „A Typology of Worship in the Gospel of Matthew“, JSNT 57 (1995), 3-17, der leider keinen Bezug zur Stellung Jesu im urchristlichen Gottesdienst herstellt. 531 DAVIES/A LLISON, I,249f; F RANCE, 84; als Möglichkeit auch LUZ, I,121.

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Rezeptionskritische Auslegung von Matthäus 1-2

(helámbanen d¨wra parà pántwn t¨wn basiléwn t¨jß g¨jß)532. Y 71 (MT: 72) stellt ein Gebet für den König dar, dem aufgrund seiner Gerechtigkeit und seines Erbarmens eine geographische wie zeitliche Machtausdehnung gewünscht wird (Verse 8-15)533. Wenn es soweit ist, werden fremde Könige Geschenke und Gold bringen (10: d¨wra; 15: crusíon) als Zeichen des Dienstes und der Huldigung des Königs (11: kaì proskun´jsousin ahut¨^w pánteß oÓ basileïß)534. In der Zukunftsvision von Jes 60,3-6 wird ein ähnliches Szenario auf das zukünftige Zion übertragen: Wenn es in neuem Glanz erscheint, werden die Könige der Nationen kommen, um ihren Reichtum – Gold und Weihrauch! – als Gabe zu bringen (vgl. a. Jes 45,14f; Zef 3,10; Tob 13,13). Ähnlich wird nach Mi 4,13 die Tochter Zion die Völker besiegen, und das Vermögen der Völker wird dem Herrn geweiht. Als letztes sei noch PsSal 17,31 genannt: Hier werden die Heiden zum vom Messias neu gereinigten Jerusalem pilgern, um seine Herrlichkeit zu betrachten und ihm ihre ermüdeten Söhne als Geschenke zu bringen (‘ercesqai ‘eqnj haph ‘akrou t¨jß g¨jß ˙deïn t`jn dóxan ahutoü féronteß d¨wra toùß hexjsqenjkótaß uÓoùß ahut¨jß)535. Im Rahmen einer intertextuellen Taxonomie kann man hier höchstens von motivgeschichtlichen Bezugnahmen sprechen, sicherlich aber nicht von einem Zitat 536. Es gibt kaum Elemente in der Matthäus-Erzählung, die so spezifisch wären, daß sie ganz konkret auf einen dieser Texte hinlenken könnten. Insgesamt jedoch ist das Motiv breit genug gestreut, um als eine weitere messianische Farbimpression in der Charakterisierung Jesu wahrgenommen werden zu können.

Daß der davidische Messias-König auch eine Rolle für die Heiden spielt, ist in der Genealogie bereits angedeutet worden. Zu erwägen ist, ob die drei Geschenke einen symbolischen Deutungsgehalt haben oder einfach den überragenden Wert der Gaben darstellen sollen. Die Elemente „Gold, Weihrauch und Myrrhe“ sind keineswegs Teil einer festgefügten dreigliedrigen Formel537. Alle einzelnen Elemente konnten vielfältig verwendet werden. Von 532 Vgl. a. die Geschenke an Salomo beim Besuch der Königin von Saba (1 Kön 10,1-13). 533 Es handelt sich um einen Salomo-Psalm, der in der LXX-Fassung wahrscheinlich

schon messianische Untertöne trägt. Im Targum und im späteren Rabbinentum wurde Ps 72 deutlich auf den Messias gedeutet. Vgl. E. ZENGER, „‚So betete David für seinen Sohn Salomo und für den König Messias‘: Überlegungen zur holistischen und kanonischen Lektüre des 72. Psalms“, JBTh 8 (1993), 61-64. 534 Vgl. a. Ps 68,29-32: Die heidnischen Könige werden mit Gaben nach Jerusalem kommen (LXX 67,30b: soì o‘isousin basileïß d¨wra). 535 ÄthHen 53,1 wird zwar in diesem Zusammenhang genannt (z.B. BROWN , Birth, 187, Anm. 26; DERRETT, „Further Light“, 96), paßt aber nicht hierher: Sünder versuchen durch Geschenke den Messias gnädig zu stimmen, was dieser aber ablehnt. 536 So sprechen in bezug auf Jes 60,6 und Ps 72,10-11 z.B. BROWN , Birth, 187f von „implicit citation“ oder GUNDRY, Use, 129f von „allusive citation“. ZENGER, „David“, 63 vermutet, Ps 72,10 sei in Mt 2,11 „eingespielt“. HENGEL/MERKEL, „Magier“, 140 Anm. 6: „Das ‚Zitat‘ Is 60,6 in Mt 2,11 ist zwar nicht direkt als solches eingeführt, aber doch erkennbar.“ VÖGTLE, Messias, 71 spricht vorsichtiger von einem „Anklang“ an Jes 60,6. 537 Alle drei Elemente zusammen sind selten bezeugt: Der antiochenische König Seleukus II spendete 243 v.Chr. dem Apollo-Tempel in Milet zur Anbetung goldene Becher, Weihrauch und Myrrhe (Boeckh, CIG 2852); Antiochus VII Sidetes veranstaltete ca. 130 v.Chr. täglich luxuriöse Massengastmähler, bei denen er reichlich Fleisch, Fisch und Honigkuchen servieren ließ mit Kränzen aus Myrrhe und Weihrauch (stefánwn hek smúrnjß kaì li-

Hypothetische Erst-Rezeption

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daher tun sich heutige symbolische Deutungen sichtlich schwer, einheitliche Bedeutungsinhalte zu ermitteln538. Am ehesten wird man noch sagen können, daß alle drei den Aspekt der Anbetung unterstreichen539. Auch wenn symbolische Konnotationen für die Erst-Rezipierenden nicht ausgeschlossen werden können, sind sicherlich alle darin übereingekommen, daß die Geschenke von hohem Wert und wahrlich eines Königs würdig sind. 2,12 In dieser Episode ist der Erzähler vorwiegend an dem verzögerten Zusammentreffen zwischen den heidnischen Sterndeutern und dem Messiaskind interessiert. Doch er hat bereits den sich anbahnenden Konflikt zwischen dem König Herodes und dem König Jesus vorbereitet540. Es ist deutlich, daß der mächtige Herodes etwas im Schilde führt. Werden die Magier zu ihm zurückkehren und ihm gutgläubig das Kind ausliefern? Wie kann das ungeschützte Messiaskind vor dem König bewahrt bleiben? Nur durch göttliche Intervention. Durch einen Traum teilt Gott den Fremden seine weiteren Pläne mit541: Sie sollen nicht zu Herodes zurückkehren, sondern auf einem anderen Weg sich in ihr Land zurückziehen. Die Fremden empfangen die göttliche Weisung genauso wie der gerechte Jude Josef in 1,20. Die Aufforderung zum Ungehorsam gegenüber dem politischen Machthaber Israels macht den Leser/innen deutlich, wie die ideologischen Fronten in diesem Kapitel verlaufen: Auf der einen Seite stehen Herodes, die religiösen Führer und die Bewohner Jerusa-

banwtoü) mit mannshohen Bändern aus komprimiertem Gold (handrom´jkesi ljmnískwn crus¨wn pil´jmasin: Posidonius, Fragment 61a = Edelstein/Kidd I,81 und II,298-300 [= Theiler, 151a = Jacoby, FGH 2a,87,F frg. 9a = Athenaios V,210c.d = XII 540b.c]); Sib 1,334f ist deutlich Teil einer christlichen Einfügung, die ab 324 beginnt. Vgl. sonst noch Jes 60,6 (crusóß/líbanoß); Hld 3,6; 5,11.13f (smúrna/líbanoß, líbanoß in V. 15 bezieht sich auf den Libanon); Sir 50,8f (crusíon/smúrna); Plutarch Alex. 25,4 (Alexander bringt Leonides libanwtòn … kaì smúrnan); Polybius, Hist XIII,9,5 (die Gerräer und Antiochus bringen Silber, Weihrauch und Myrrhensaft [stacte] dem König); Hippokrates, De mulierum affectibus 63,32-4 (= Littré VIII,130f: bei akuter Geschwürbildung in der Gebärmutter soll eine Salbe aus verschiedenen Zutaten aufgetragen werden, u.a. Myrrhe, Weihrauch und goldener Kupferspat [crusokólla]); Diodorus Siculus, BiblHist. V,41,4-6 (= LCL 340 [1939], 212f: auf der arabischen Insel Hiera werden Weihrauch und Myrrhe für die Götter hergestellt; die Weihrauchblüte ist goldfarben). 538 Vgl. den m.E. gescheiterten Versuch von KRUSE, „Gold“, die altkirchliche symbolische Deutung Myrrhe-Gold-Weihrauch = Mensch-König-Gott (etwa bei Irenäus oder Origenes) zu modifizieren: Gold = König, Weihrauch = Priester, Myrrhe = Prophet. 539 DERRETT, „Further Light“, 103: „All three gifts mean worship.“ (vgl. Belege ebd., Anm. 88) 540 Manche vermuten daher, daß hier zwei literarkritisch zu trennende Geschichten redaktionell zusammengefügt worden sind (vgl. DAVIES/ALLISON, I,190-195). 541 Das Verb crjmatízw weist auf eine spezielle göttliche Offenbarung hin (vgl. Jos. Ant 3,212; Lk 2,26; Apg 10,22; Hebr 8,5; 11,7; 12,25).

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lems und auf der anderen Seite das Messiaskind, seine Familie, die Fremden aus dem Osten und schließlich Gott selbst, der alle Fäden zieht. Die Episode 2,1-12 beginnt mit dem Kommen der mágoi und endet mit ihrem Fortgang. Der narrative Bogen hat allerdings die Wahrnehmung der heidnischen Sterndeuter verändert: Ihr Auftritt in 2,1 war mit der großen Leerstelle besetzt, ob die Rezipierenden ihnen eine positive oder eine negative Rolle zuweisen sollen. Bald stellt sich heraus, daß sie mit ihrer Absicht der Huldigung zu den positiven Gestalten der Erzählung gehören (2,2), doch besteht die Gefahr, daß sie unwissentlich zu Komplizen des Herodes werden (2,9). Als sie schließlich Jesus im Haus mit Freude anbeten, königliche Geschenke überreichen und durch Träume von Gott gewarnt werden (2,10-12), besteht kein Zweifel mehr: Die göttliche Führung, die sich in der Geschichte Israels (1,2-17) und dem persönlichen Schicksal Josefs (1,18-25) erwiesen hat, findet in den Heiden aus dem Osten eine geglückte Fortführung. 2,13 Mit dem Fortgang der Weisen ist zwar eine gewisse Zäsur erreicht, aber der lauernde Konflikt zwischen Herodes und dem Königskind ist nocht nicht ausgestanden, die Bedrohung des Messias ist noch keineswegs aus der Welt. Nach bewährter, aber immer noch überraschender Art und Weise greift Gott in den Verlauf der Geschichte ein542, indem er durch seinen Engel Josef im Traum (kath ‘onar) Anweisungen zum weiteren Handeln gibt (vgl. 1,20f). Damit tritt nach 1,18-25 wieder Josef in den Blickpunkt. Als Davidide ist er weiterhin Offenbarungsempfänger und entscheidender Handlungsträger543. In diesem Fall soll er sich aufmachen (hegerqeíß), das Kind und seine Mutter nehmen (parálabe) und nach Ägypten fliehen (feüge). Dort soll er bleiben, bis Gott es ihm sagt (“ewß ’an e‘ipw soi). Die Messiasfamilie steht damit auch weiterhin unter der besonderen Führung Gottes544. Wie die Sterndeuter so muß auch sie vor Herodes fliehen (12: hanacwréw, 13: feúgw)545. Die Notwendigkeit der Flucht hebt noch einmal die Bedrohung hervor. Wenn dies 542

Die Spannung wird durch ˙doú und das Präsens Historicum faínetai intensiviert. ANDERSON, Narrative Web, 155: „This time … contemporaneity of the implied reader with Joseph and the angel is achieved with the use of the historical present in 2.13.“ 543 Die Fixierung auf Josef wird auch in 2,15 deutlich. Obwohl der Erzähler von der ganzen Familie spricht, formuliert er singularisch (kaì ~jn hekeï) in bezug auf Josef. 544 Ähnlich spricht auch Gott im AT, wenn er die Geschicke einzelner Persönlichkeiten lenkt: So soll z.B. Abraham seinen Sohn nehmen (labé), in das Land Morija gehen und ihn auf dem Berg opfern, ˆwn ‘an soi e‘ipw (Gen 22,2); Isaak soll sich bei einer Hungersnot nicht nach Ägypten begeben, sondern sich in dem Land niederlassen, ˆ∆ ‘an soi e‘ipw (Gen 26,2); Bileam soll nur das sagen, ”o heàn e‘ipw proß sé (Num 22,35); Gideon soll für den Kampf gegen die Midianiter nur jene ausmustern, ”on heàn e‘ipw pròß se (Ri 7,4); Samuel soll den zum König salben, ”on heàn e‘ipw pròß se (1Bas 16,3). Auch für Israel gilt: Wenn das Volk alles tut, “osa ’an e‘ipw soi, dann wird Gott die Feinde vernichten (Ex 23,22). 545 Diese narrative Parallelisierung bindet erneut die heidnischen Weisen mit dem Messias zusammen.

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nicht auf Anweisung Gottes geschehen wäre, könnten die Rezipierenden darin eine Niederlage sehen. Aber das Messiaskind und die, die zu ihm gehören, räumen nicht den Feinden das Feld, sondern ziehen sich für eine Zeit zurück. Soziale Anfeindung, punktuelle Erfahrungen von Verfolgung und unter Umständen auch Flucht könnten durchaus zum Erfahrungshorizont der ErstRezipierenden gehören546. Sollten sich Leser/innen tatsächlich in einer bedrohlichen Situation wähnen, dann vermittelt dieser Text die Einsicht, daß Flucht kein Scheitern für die Fliehenden und kein Sieg für die Feinde ist, sondern durchaus unter Gottes Führung stehen kann. Der Hinweis auf Ägypten (= Ä.) vermag eine Menge Assoziationen zu wecken 547: Besonders deutlich steht Ä. im AT im Zusammenhang mit der Unterdrückung des Volkes, die schließlich in der soteriologischen Grunderfahrung, der Befreiung aus Ä., ihr Ende findet (Ex 12-14). Der Name Ä. ist damit stark negativ konnotiert und gleichbedeutend mit „Sklavenhaus“ oder „Schmelzofen“ und Sinnbild für Laster und Götzendienst. Ä. galt aber auch als sicherer Fluchtort in Zeiten politischer Bedrängnis548: a) Als Urija, ein mit Jeremias gleichgesinnter Prophet, erfährt, daß der König Jojakim ihn töten lassen will, flieht er aus Angst nach Ä, wird aber dort von den Schergen des Königs aufgespürt, nach Juda zurückgeholt und erschlagen (Jer 26,20-24)549. b) Der Edomiter Hadad, ein Gegner Salomos, flieht vor den Israeliten nach Ä. und kehrt nach dem Tod Davids wieder zurück (1Kön 11,17f; Jos., Ant 8,199-204). c) Als Salomo danach trachtet, Jerobeam, einen weiteren seiner Gegenspieler, zu töten, flieht dieser nach Ä., wo er bis zum Tode Salomos bleibt (1Kön 11,40; vgl. a. 12,2; Jos., Ant. 8,210)550. d) Philippus, ein Jugendfreund des Antiochus, begibt sich nach dessen Tod nach Ä. zu Ptolemäus Philometor, „weil er dem Sohn des Antiochus nicht traute“ (2Makk 9,29). e) Der Hohepriester Onias IV flüchtet vor Antiochus Epiphanes, der seinen Onkel Menelaos ermordet hat, nach Ä., wo 546

Verfolgung und Flucht spielen in der weiteren Erzählung sowohl in der Darstellung Jesu eine Rolle (hanac´wrew: 12,14f; 14,13; 15,21; D. GOOD, „The Verb ANACWREW in Matthew’s Gospel“, NT 32 [1990], 1-12) als auch in der meist in der Zukunft liegenden Realität der Jünger, die mit der Gegenwart der Leser/innen identisch ist (feúgw: 10,23; 24,15f; di´wkw, diwgmóß: 5,10-12.44; 10,23; 13,21; 23,34). Vgl. aus redaktionsgeschichtlicher Sicht D.R.A. HARE, The Theme of Jewish Persecution of Christians in the Gospel according to St. Matthew (MSSNTS 6; Cambridge, 1967). 547 Vgl. H. RINGGREN , H.-J. FABRY , „MˆyårVxIm“, ThWAT 4 (1984), 1099-1111. 548 Vgl. auch 2Kön 25,26; Jer 41,17f; Tob 8,3; Jos, Ant 15,45f; Bell 7,410; Midrasch zu Dtn 26,5-8 (Jakob flieht vor Laban nach Ägypten; vgl. D AUBE, New Testament, 189-192); bSanh. 107b (= Bill 1,84f). 549 LXX Jer 33,20-24. Sprachlich ist 33,21 interessant: kaì ‘j kousen Ho basileùß Iwakim kaì pánteß oHi ‘arconteß pántaß toùß lógouß auhtoü kaì hez´jtoun hapokteïnai auhtón, kaì ‘jkousen Ouriaß kaì e˙s¨jlqen e˙ß A‘igupton. 550 3Bas 11,40: kaì h ez´j tjsen Salwmwn qanat¨ wsai tòn Ieroboam, kaì ha néstj kaì hapédra e˙ß A‘igupton pròß Sousakim basiléa A˙gúptou kaì ~jn hen A˙gúpt^w, “ewß oˆu hapéqanen Salwmwn. Jos., Ant. 8,210: „Als Salomo von seiner Absicht [Jerobeams Plan, das Königreich zu spalten] Kenntnis erhielt, suchte er ihn zu fassen, um ihn zu töten (hez´jtei sullab`wn ahu tòn haneleïn). Aber da Jerobeam davon rechtzeitig erfuhr, floh (feúgei) er zu Isakos, dem ägyptischen König, und blieb dort bis zum Tod Salomos (kaì mécri t¨j ß Solom¨wnoß teleut¨j ß hekeï meínaß), wodurch er den Gewinn hatte, nicht durch ihn zu leiden und für das Königtum bewahrt zu bleiben.“

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er unter dem Schutz des Königs einen Tempel errichtet (Jos. Ant 12,387f; Bell 7,423). f) Bei einer Belagerung Jerusalems fliehen die angesehensten Juden der Stadt nach Ä. (Jos. Ant 14,21). g) Auch Herodes muß mit seiner Familie vor den Parthern fliehen und zieht sich (hanacwréw) nach Ä. zurück (Jos. Ant 14,374).

Es scheint mir sehr wahrscheinlich, daß es eine feste „Ägypten-Flucht-Tradition“ gab, die die Rezipierenden aus dem Alten Testament und späteren Erzählungen kennen konnten551. Die Flucht nach Ägypten ist also Teil des bekannten Inventars: In Ägypten ist die Messiasfamilie sicher vor dem Zugriff des gefährlichen Tyrannen. Solange vom Text keine anderen Signale ausgehen, ist die Bedeutung Ägyptens dadurch genügend erhoben552. Im übrigen ist die Erzählung so knapp, daß die Phantasie der Leser/innen frei über den Ägyptenaufenthalt verfügen kann. Die Begründung (13c: gár) für diesen Aufbruch erwähnt erstmals ganz explizit den Plan des Herodes, das Kind zu töten (ähnlich später 27,20)553. Die ganze Angelegenheit ist besonders dringlich, weil die tödliche Intrige bereits im Gange ist (méllei)554. Es ist jedoch anzunehmen, daß die Leser/innen nicht besonders überrascht darauf reagieren. Sie haben so etwas wohl geahnt oder befürchtet. Der krasse Widerspruch zwischen der Absicht, die Herodes den Weisen gegenüber bekundete (2,7), und der tatsächlichen Absicht, die der Engel Gottes Josef offenbart, zeigt nicht nur die Gefährlichkeit dieses Herrschers, sondern auch, daß Gott die wahren Absichten der Menschen kennt und dafür Sorge trägt, daß sein Wille auch auf Erden geschehe. Damit baut der Text nicht nur Abneigung gegen Herodes auf, sondern vor allem festes Vertrauen in das wirkmächtige Handeln Gottes. 2,14-15 Die Hörer/innen haben von 1,20-25 ein positives Bild Josefs und rechnen daher mit einer sofortigen und genauen Ausführung der göttlichen Anweisung. Hier wie dort wird dies rhetorisch an der fast wörtlichen Wiederholung der 551 Mit BROWN, Birth, 203 gegen 552 Die Vorstellung von Ägypten

HAGNER, I,36. als Heidenland, die in der Alten Kirche in den Text eingebracht wurde (vgl. LUZ I,129; Anm. 26), ist für die Erst-Rezipierenden sicherlich kein primärer „lexikalischer“ Eintrag. FRANCE, „Formula-Quotation“, 238f hat allerdings vorgeschlagen, daß der umständliche Weg von Betlehem nach Nazaret über Ägypten den Sinn habe „to show that his [= Jesus’] mission is wider than even the ideal extent of Israel“ (239). Er sieht darin „an indication of the universality of his role as Messiah“ (240). M.E. ist aber die Verbindung Ägyptens mit dem Flucht-Motiv oder dem Exodus-Motiv so stark, daß sie die Heidenthematik eher in den Hintergrund drängt. Im übrigen wäre es auch nicht ganz deutlich, warum ein wohl als kurz zu denkender Fluchtaufenthalt in Ägypten den Umfang des missionarischen Wirkungsgebietes des Messias abstecken sollte. 553 Ähnlich auch Ex 2,15 von der Tötungsabsicht des Pharao: ‘jkousen dè Faraw tò Hr¨jma toüto kaì hez´j tei haneleïn Mwus¨jn. 554 BROWN , Birth, 203: „The idea is one of imminence.“ Vgl. allgemein Bl/Deb/Reh §356.

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Auftragsworte deutlich555. Erneut zeigt sich, daß er ein „gerechter“ Mann ist (1,19). Das einzig neue Element im Vergleich zum Auftrag ist die Zeitangabe nuktóß. Da die Offenbarung im Traum mitgeteilt wurde, entsteht der Eindruck einer sofort ausgeführten Nacht-und-Nebel-Aktion556. Dies kann einerseits den bedrohlichen Ernst der Lage und andererseits auch den Gehorsam Josefs in den Blickpunkt der Rezipierenden bringen. Josef – offensichtlich samt seiner Familie, die hier aber nicht genannt wird – bleibt in Ägypten bis zum Tod des Herodes (2,15a). Ähnlich verhielten sich schon andere ÄgyptenFlüchtlinge (s.o. S. 305 die Beispiele b und c). Der Tod des Herodes wird ganz lapidar festgestellt, ohne irgendeinen Ausdruck der Freude oder des Sieges; wahrscheinlich deswegen, weil die Bedrohung mit seinem Tod nicht beendet ist. Nicht nur wird bald sein Sohn genannt (2,22), sondern vor allem werden die jüdischen Führer später seine Rolle als Messiasgegner übernehmen. Neben der göttlichen Führung durch den Engel bekommt das Geschehen erneut eine tiefere Sinndimension durch seine Einbettung in den Zusammenhang der Erfüllung alttestamentlicher Prophetie (2,15b)557. Die Einführungsformel zum Hosea-Zitat wiederholt wörtlich 1,22. Die Wendung Hupò kuríou steht im Verhältnis zur Gottessohnprädikation im Zitat. Neben der Führung durch den Engel des Herrn tritt erneut das Wort des Herrn: Hos 11,1 MT

…whEbShOaÎw lEa∂rVcˆy rAoÅn yI;k yˆnVbIl yIta∂r∂q MˆyårVxI;mIm…w

Hos 11,1 LXX Dióti n´jpioß Israjl, kaì heg`w hj gápjsa ahu tòn kaì

hex A˙gúptou metekálesa tà tékna ahutoü.

Mt 2,15b

h Ex A˙gúptou hekálesa tòn uÓón mou.

Ein solches Zitat setzt erneut ein großes Potential an Verbindungsmöglichkeiten frei. Dabei läßt sich die Frage, wieweit die Erst-Rezipierenden mit dem alttestamentlichen Kontext vertraut waren und welche theologischen Schlußfolgerungen sie daraus de facto gezogen haben, kaum beantworten. Da dies nicht die einzige Hosea-Stelle ist, die in der Matthäus-Erzählung eine Rolle

555 Der Wechsel von feúgw (13b) zu ha nacwréw (14) ist nicht weiter bedeutungsvoll. Zum einen können beide Verben austauschbar sein (beide übersetzen in der LXX jrb und M…wn; vgl. a. 1Bas 19,10.12 [Flucht Davids], 2Bas 4,4; Tob 1,18f; Y 113,5 im parallelismus membrorum; Ri 4,17 [A: hanec´wrjsen – B: ‘efugen]), und zum anderen wird dadurch auch sprachlich an das Wegziehen der Weisen angeknüpft (12.13a). 556 G.M. SOARES PRABHU, „Jesus in Egypt: A Reflection on Mt 2:13-15.19-21 in the Light of the Old Testament“, EstB 50 (1992), 236-8 sieht in nuktóß einen Hinweis auf den Auszug aus Ägypten, der nachts stattfand. Die sprachliche Verbindung ist zu wenig spezifisch und der betriebene Aufwand entspricht kaum dem Ökonomieprinzip. 557 Vgl. BROWN , Birth, 219-21; GUNDRY, Use, 92-4; B. LINDARS, New Testament Apologetic (London, 1961), 216f; ROTHFUCHS, Erfüllungszitate, 62f; SOARES PRABHU, Formula Quotations, 216-18; STENDAHL, School of Matthew, 101f.

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spielt558, ist es m.E. durchaus denkbar, daß der Erzähler seinen Adressaten die intertextuelle Kompetenz zumutet, ihre Kenntnis des textuellen Umfeldes von Hos 11 in das Verständnis des Textes einzubringen. Der Prophet gibt in Kap. 11 eine knappe Zusammenfassung der Geschichte Israels, an deren Anfang der größte Erweis Gottes erwählender Liebe steht: die Befreiung aus Ägypten. Damit tritt eine Sinndimension in die matthäische Erzählung, die bereits bei der Erst-Nennung Ägyptens „schlummerte“. Daß eine Verbindung zum Exodus-Geschehen hergestellt werden soll, wird auch daran deutlich, daß die Erzählung die Flucht nach Ägypten (13/14: e˙ß), das Zitat aber von einer durch Gott initiierten Bewegung aus Ägypten heraus (15: hex) spricht559. Selbst ohne Kenntnisse des alttestamentlichen Kontextes lenkt die Formulierung den Sinn der Rezipierenden deutlich auf den Auszug aus Ägypten. Es kommt also in dem Zitat zu einer implizierten Permutation Israel-Jesus, die auf der Grundlage gemacht werden kann, daß von beiden als „Sohn Gottes“ gesprochen werden kann. Das Verhältnis zwischen Jahwe und Israel wird in der alttestamentlichen und der von ihr abhängigen jüdischen Tradition nicht selten mit Begriffen aus dem Bildfeld Vater-Sohn metaphorisch erfaßt560. Im Zusammenhang mit dem Auszug aus Ägypten ist Ex 4,22f besonders relevant: Mose spricht zum Pharao: „So spricht Jahwe: Israel ist mein erstgeborener Sohn (uÓòß prwtótokóß mou Israjl). Ich sage dir: Laß meinen Sohn ziehen, damit er mich verehren kann (“ina moi latreús∆). Wenn du dich weigerst, ihn ziehen zu lassen, bringe ich deinen erstgeborenen Sohn um.“

Der intertextuelle Verweis in der Mt-Erzählung knüpft deutlich an diese Tradition an561. Zu dieser Perspektive, die das Zitat von seinem ursprünglichen NESTLE/ALAND27, 798 verzeichnet als Anspielungen Hos 2,1 (Mt 5,9); 6,2 (Mt 16,21); 6,6 (Mt 23,23); und als direkte Zitate Hos 6,6 (Mt 9,13; 12,7) und 11,1 (Mt 2,15). Zum Gebrauch Hoseas im Urchristentum vgl. C.H. DODD, According to the Scriptures (London, 1952), 75-8. 559 Es besteht eine gewisse Ähnlichkeit zu Num 24,8: qeòß Hwd´ jgjsen ahutòn h ex A˙gúptou. Daß aber Matthäus (oder seine Leser/innen) über eine messianische Interpretation von Num 24,7f zu Hos 11,1 geführt werden sollen (so DAVIES/ALLISON, I,262 im Anschluß an LINDARS, Apologetic, 216f), macht m.E. die Sache unnötig kompliziert und entspricht somit nicht dem Prinzip der „isotopischen Ökonomie“. 560 Vgl. G. FOHRER, E. SCHWEIZER, E. LOHSE, „uÓóß ktl.“ ThWNT 8 (1969), 352/21-354/23; 355/27-44; 360/11-361/6. „Sohn“ parallel zu „Volk“: Ex 4,21-23; Dtn 32,6.43 (LXX nicht MT); Jes 1,2-4; 30,9; 63,8; Jer 4,22; Hos 2,1; Weish 9,7; 12,19; Sir 36,17; 4Esr 6,58. „Sohn“ parallel zu „Israel“: Ex 4,22; Jes 1,3f; Hos 2,1; 11,1. Rabbinische Belege bei Bill I,219f; III,17-19. 561 Abgesehen von Ex 4,22f und Hos 11,1 begegnet der metaphorische Gebrauch der Singular-Form „Sohn“ für Israel selten (vgl. Jer 31,9.20; Sir 36,17). Ausgenommen sind Singular-Formen in Vergleichen (griech. meist mit Hwß: Dtn 1,31; 8,5; Jes 66,13; 3Makk 7,6; Mal 1,6; 3,17; PsSal 13,9; 18,4). Die Singular-Belege in Weish 2,18 und Sir 4,10 beziehen sich nicht auf das Volk im allgemeinen, sondern auf den einzelnen Gerechten als Idealtyp für Israel. Der Plural „Söhne“ für Israel begegnet in Dtn 32,5; Jes 45,11; 68,8.16; Jdt 9,4; Weish 558

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Kontext her mitbringt, gesellt sich eine christologische: Der Gottessohn, der aus Ägypten herausgerufen wird, ist Jesus. Der Gottessohntitel spannt sich somit wie ein Schirm über Israel und Jesus. Konkrete Individuen werden in der atl.-jüd. Literatur selten als „Sohn Gottes“ bezeichnet. Gott selbst nennt allerdings den davidischen König seinen Sohn (2Sam 7,14; vgl. a. Ps 2,7; 89,27f und vielleicht 110,3). Eine messianische Deutung dieses Titels hat in den jüdischen Texten, die uns bekannt sind, wenige eindeutige Spuren hinterlassen562. Die bisher diskutierten Stellen sind entweder recht vage563 oder bereits in die christliche Zeit zu datieren 564. Das jetzt vollständig veröffentlichte Fragment 4Q246 hat allerdings die Diskussion neu belebt565. In 2,1 heißt es: „Er wird Sohn Gottes genannt werden und sie werden ihn Sohn des Allerhöchsten nennen“ (vgl. Lk 1,35!). Die Frage nach der Identität der hier bezeichneten Figur wird entweder positiv-messianisch oder negativ-historisierend beantwortet. Da die Singularform „Sohn Gottes“ aber von der atl. Davidsverheißung her positiv besetzt ist und die Passivform („er wird Sohn Gottes genannt werden“ [rmaty]) am ehesten als Passivum divinum zu deuten ist, scheint dieser Text in der Tat einen messianischen Gebrauch des Gottessohntitels im Judentum zu belegen 566.

12,20f; 16,10.21.26; 18,4; Jub 1,24f; JosAs 19,18. Vgl. zur jüdisch-rabbinischen Deutung von Ex 4,22f und Hos 11,1 V. HUONDER, Israel Sohn Gottes: Zur Deutung eines alttestamentlichen Themas in der jüdischen Exegese des Mittelalters (OBO 6; Fribourg, CH; Göttingen, 1975), 35-54. 562 Etwas zu pessimistisch urteilt LOHSE, „uÓóß“, 361/24-26: „Bis heute hat überhaupt kein sicherer Beleg für die Annahme, daß das Judentum in vorchristlicher Zeit den Titel Sohn Gottes jemals für den Messias verwendet haben sollte, beigebracht werden können.“ 563 Indirekte Anspielungen sind in Qumran belegt: 4QFlor 1,10-13 (= Lohse, 256f: 2Sam 7,11-14 wird auf den messianischen „Sproß Davids“ übertragen); 1QSa 2,11f (= Lohse, 50f: Gott läßt unter den Männern der Gemeinschaft den Messias geboren werden). Vgl. GARCÍA MARTÍNEZ, „Messianische Erwartungen“, 197; O. MICHEL, O. BETZ, „Von Gott gezeugt“, Judentum, Urchristentum, Kirche (FS J. Jeremias), hg. W. Eltester (BZNW 26; Berlin, 1964), 10-12. 564 Das gilt für 4Esr 7,28f; 13,22.37.52; 14,9. Vgl. dazu Schreiner, JSHRZ V/4, 345 mit Anm. zu V. 28b; K. KOCH, „Messias und Menschensohn: Die zweistufige Messianologie der jüngeren Apokalyptik“, JBTh 8 (1993), 88; S. GERO, „‚My Son the Messiah‘: A Note on 4 Esr 7,28-29“, ZNW 66 (1975), 264-7. Die wichtige Stelle in äthHen 105,2 fehlt im griechischen Text und könnte daher spätere Hinzufügung sein. 565 Textedition: E. PUECH, „Fragment d’une apocalypse en araméen (4Q 246 = PsDana) et le ‚Royaume de Dieu‘“, RB 99 (1992), 98-131. Vgl. zur Auslegung J.J. COLLINS, The Scepter and the Star: The Messiahs of the Dead Sea Scrolls and Other Ancient Literature (New York, 1995), 154-72; J.A. FITZMYER, „4Q246: The ‚Son of God‘ Document from Qumran“, Bib 74 (1993), 153-74; G. KUHN, „Röm 1,3f und der davidische Messias als Gottessohn in den Qumrantexten“, Lese-Zeichen für Annelies Findeiß, hg. C. Burchard, G. Theißen (DBAT.B 3; Heidelberg, 1984), 103-13; S.L. MATTILA, „Two Contrasting Eschatologies at Qumran: 4Q246 vs 1QM“, Bib 75 (1994), 518-38; E. PUECH, „Notes sur le fragment d’apocalypse 4Q246 – ‚le fils de dieu‘“, RB 101 (1994), 533-58. 566 Ausführliche Argumentation in J. ZIMMERMANN, „Messianische Vorstellungen in den Schriftfunden von Qumran“, Diss. Tübingen, 1996 (erscheint in WUNT); vgl. auch seinen demnächst erscheinenden Aufsatz „Notes on 4Q246: The ‚Son of God‘“, Qumran Messianism, ed. J.H. Charlesworth, H. Lichtenberger, G.S. Oegema (Tübingen).

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Rezeptionskritische Auslegung von Matthäus 1-2

Eine problemlose Rezeption der „Mutation“ einer Aussage über Israel in eine Aussage über Jesus kann m.E. nur vonstatten gehen, wenn der Text mit Leser/innen rechnet, die mit dem urchristlichen Bekenntnis zu Jesus als Sohn Gottes (vgl. Röm 1,3) positiv vertraut sind. Rezipierende, die die Gottessohnschaft Jesu a priori ablehnen, würden über keine Grundlage verfügen, um die Übertragung von Hos 11,1 auf Jesus zu akzeptieren. Der Erzähler könnte bereits an dieser Stelle nicht mehr mit ihrer Teilnahme an der Sinnkonstitution rechnen. Das Hosea-Zitat eröffnet den Rezipierenden also eine Perspektive, die im weiteren Verlauf der Lektüre wesentlich klarer hervortreten wird (z.B. 4,1-11): In Anbetracht der fehlenden Leitung des Volkes, durchlebt Jesus erneut das Schicksal Israels; in ihm nimmt die Geschichte des Volkes einen neuen Anfang567. 2,16 Nachdem in 2,15 bereits darüber berichtet wurde, daß Josef bis zum Tod (teleut´j) des Herodes in Ägypten blieb, müßte Herodes aus der Erzählwelt getreten sein. Doch in 2,16 knüpft der Erzähler zeitlich an 2,12 an568 und erzählt aus der Sicht des Herodes, was in der Zeit der in 2,13-14 beschriebenen Ereignisse am Hof geschehen ist569: Das Verb hempaízw bezeichnet den Akt des Gehorsams der Sterndeuter gegenüber Gott aus dem Blickwinkel des hintergangenen Herrschers als einen Akt der persönlichen Verspottung570. In Anbetracht der gesellschaftlichen Stellung des Herodes ist dies in der Tat ein Affront gegen die persönliche Ehre des Monarchen. Erwartungsgemäß zeigt er sich darüber „sehr aufgebracht“ (hequm´wqj lían)571. Herodes meint, auf eine 567

D.C. A LLISON Jr., „The Son of God as Israel: A Note on Matthean Christology“, IBSt 9 (1987), 77 spricht von Jesus als „embodiment of true Israel“ (ähnlich HAGNER, I,36). DAVIES, Setting, 78: „Matthew sees in the history of Jesus a recapitulation of that of Israel.“ T. L. H OWARD, „The Use of Hosea 11:1 in Matthew 2:15: An Alternative Solution“, BS 143 (1986), 324: Jesus „completes all that Israel as a nation was designed to perform“. LUZ, I,129, der „ein Moment der Israeltypologie“ bei „bibelfeste[n] Leser[n]“ für „unweigerlich“ (Anm. 24) hält, stellt fest: „In Jesus wiederholt und vollendet sich der Auszug aus Ägypten … Das Heil ereignet sich noch einmal neu.“ Vgl. zur eschatologischen Erwartung eines neuen Exodus Bill I,85-88. 568 Tóte ist im Mt-Evangelium eine unspezifische Zeitangabe (vgl. A.H. McN EILE, „tóte in St. Matthew“, JThS 12 [1911], 127f). 569 Das ist eines der wenigen Beispiele im Matthäusevangelium für mehrperspektivisches Erzählen. EDWARDS, 14: „The time-scheme … is slightly confused.“ 570 Ähnlich DAVIES/ALLISON , I,264. 571 Das Bild des Herodes als eines in seinem Zorn unberechenbaren Mannes vermittelt auch Josephus: Im Zorn will Herodes mit einem Heer gegen Jerusalem ziehen (Bell 1,214: kath horg´jn; Ant 14,180f: horgizómenoß), läßt viele aus dem Volk ermorden (Bell 1,252: kath horg´jn), läßt Malichos ermorden (Bell 1,230: qumóß), möchte die Frau seines jüngeren Bruders Pheroras aus der Familie ausschließen (Bell 1,571: e˙ß horg`j n) oder nimmt Doris, der Mutter Antipaters, alle Kostbarkeiten und verstößt sie (Bell 1,590: qumóß). Der Zorn des Herodes gegen seine Söhne wird durch Verleumdungen und Intrigen so lange geschürt, bis er schließlich zu ihrer Verurteilung zum Tode führt (Bell 1,480.636; Ant 16,363: qumóß; Bell

Hypothetische Erst-Rezeption

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menschliche Tat zu reagieren, aber die Leser/innen wissen, daß es hier um einen Akt der Auflehnung gegen den messianischen Heilsplan Gottes für sein Volk Israel geht. Nach 2,3 (tarácqj) ist dies nun das zweite Mal, daß die Erzählung die Ablehnung des Messias auf der affektiven Ebene beschreibt572. Die „große Wut“ des Herodes steht in einem deutlichen Kontrast zur „großen Freude“ (2,10: cará megálj) der Weisen573. Die „große Wut“ des Monarchen antizipiert für die Rezipierenden eine „große“ Grausamkeit. Und diese wird unmittelbar (kaí) in die Wege geleitet: Er entsendet seine Leute mit dem Auftrag zum Kindermord574. Das angegebene Alter richtet sich nach der Angabe der Sternerscheinung, die er von den Weisen erfragt hatte (vgl. 2,7). Erst jetzt erschließt sich also die Bedeutung dessen, was in 2,7 noch so unverfänglich erschien. Herodes besticht durch seine grausame „Gründlichkeit“: Er tötet nicht nur die etwa zweijährigen Knaben in Betlehem, sondern auch alle (pántaß), die jünger sind und in der gesamten Umgebung (hen päsi toïß Horíoiß ahut¨jß) von Betlehem leben. Damit möchte er sichergehen, daß er sich des potentiellen Rivalen auch wirklich entledigt hat. Die Rezipierenden wissen aber (im Gegensatz zu Herodes!), daß das gesuchte Kind durch Gottes Führung bereits in Sicherheit gebracht worden ist. So wird diese Schreckenstat erst recht zu einem vollkommen sinnlosen Massaker und zu einem tragischen Beispiel dafür, von wie grausamen „Hirten“ das Volk geleitet wird. Der Kontrast könnte nicht größer sein: Dem davidischen Messias-König, der sein Volk wie ein Hirte ernährt und beschützt (2,6), steht der idumäische „Mörder-König“ gegenüber575. Auffällig ist der nüchterne, von Leerstellen durchsetzte und auf das Wesentliche beschränkte 1,526; Ant 16,90.262-6.334.372: horg´j). Viele im Umfeld des Herodes mißbrauchen diesen mörderischen Zorn des Königs (fon¨wnti t¨^w basilik^¨w qum^¨w), um durch Intrigen Feinde aus dem Weg räumen zu lassen (Bell 1,492f; vgl. a. Ant 16,200). Als Herodes gegen Ende seiner Regierungszeit erkrankt, ist er aus Angst, hintergangen zu werden (katafronéw), derart ungestüm, daß er jeden mit Zorn und Bitterkeit (horg´j kaì pikría) behandelt (Ant 17,148). Das Gerücht über seinen Tod bringt den schwerkranken Monarchen „durch seinen übermäßigen Zorn“ (dih Huperbol`jn horg¨jß) wieder auf die Beine, um die Unruhestifter bestrafen zu lassen (Bell 1,654). Rückblickend stellt Josephus über Herodes fest: „Er war ein Mann grausam (hwmóß) gegenüber allen seinesgleichen, dem Zorn zwar ergeben (horg¨jß mèn “jsswn), sich aber über das Recht erhebend (kreísswn dè toü dikaíou).“ (Ant 17,191; eigene Übersetzung) 572 Beide Begriffe können sich übrigens semantisch nahe kommen: Y 6,8 (h etarácqj hapò qumoü); 30,10 (hetarácqj hen qum^¨w). 573 DAVIES/ALLISON , I,258: „The disparity between the magi’s response to the child Messiah and that of Herod could hardly be more pronounced.“ 574 Über die fast immer politisch motivierten Morde des Herodes berichtet Josephus an vielen Stellen: Jeder, der seinen Machtanspruch in Frage stellte, wurde aus dem Weg geräumt (Ant 16,156). Er tötete Pharisäer, die den Untergang seines Königreiches vorhersahen (Ant 17,43-45). Die Beispiele ließen sich beliebig vermehren (vgl. MONTEFIORE, „Josephus“, 147). 575 L. ALONSO SCHÖKEL, „Notas de Antiguo Testamento a los Evangelios de la Infancia“, EstB 50 (1992), 15.

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Rezeptionskritische Auslegung von Matthäus 1-2

Erzählstil, der in keinem Verhältnis zur Dramatik des beschriebenen Ereignisses steht576. Der Erzähler spielt nicht auf der Klaviatur der Emotionen seiner Leser/innen, wahrscheinlich damit der Blick nicht von dem Motiv der Erfüllung weggelenkt wird. Es bleibt ihnen überlassen, sich dieses schreckliche Ereignis auszumalen (oder auch nicht). Das zweimalige päß und der frühere Hinweis, daß Betlehem keineswegs klein ist (2,6), wird eher die Vorstellung von einem Mord größeren Ausmaßes wahrscheinlich machen577. Das Motiv von der Bedrohung und Bewahrung des Königskindes ist sehr vielfältig in der antiken Literaturgeschichte belegt578: Berühmte Gestalten wie Gilgamesch, Sargon, Zarathustra, Kyros, Apollo, Perseus, Herkules, Romulus und Remus, Augustus, Seth-Horus, Kypselos, Tiridates, Nero, Krischna u.v.a. sind in ihrer Kindheit tödlichen Gefahren ausgesetzt gewesen und haben diese überwunden, um später eine große Aufgabe zu erfüllen. Donald B. REDFORD hat 32 Beispiele analysiert und systematisch zu ordnen versucht 579. Er unterscheidet zwischen drei Kategorien: 1. Die Geburt des Kindes erzeugt eine Situation gesellschaftlicher Schande, weswegen man sich des Kindes entledigen muß 580. 2. Der regierende Herrscher versucht das Kind zu töten, weil er aufgrund einer Prophezeiung weiß, daß es sein Reich übernehmen soll581. 3. Ein generelles Massaker bedroht das Leben des Kindes; der Verfolger kennt aber seine Identität nicht582. Auch wenn Elemente des zweiten Typs mit

576

LUZ, I 126: „Formal ist der Abschnitt [2,16-18] – wie schon 1,18-25 – sehr karg. Kein Wort ist zuviel; der Evangelist verweigert sich jeder legendarischen oder novellistischen Ausschmückung. Gerade diese Kargheit muß interpretiert werden.“ DAVIES/ALLISON, I,261: „The evangelist sticks to the barest essentials.“ Eine solche Häufung narrativer Leerstellen bietet natürlich viele Anknüpfungspunkte für die spätere Legendenbildung. 577 Nach HAGNER, I,37 dachte man in der byzantinischen Tradition an 14000 und in der syrischen sogar an 64000 ermordete Kinder. Es gehört zu den Bemühungen derer, die diese Episode historisch deuten wollen, daß sie die Zahl der „tatsächlich“ ermordeten Kinder möglichst geringhalten (ZAHN, 20; HAGNER, I,37; aber auch der jüdische Gelehrte SCHALIT, König Herodes, 648f; Anm. 11 hält wenigstens den Befehl für historisch). Die ErstRezipierenden haben sicherlich nicht an Faktoren wie geringe Bevölkerungsdichte oder hohe Kindersterblichkeitsrate gedacht. Im übrigen scheint es mir angesichts der geschilderten Untat etwas geschmacklos, nüchtern über quantitative Abstufungen zu diskutieren. 578 Einen synoptischen Überblick findet man bei LUZ I in einer Tabelle zwischen den Seiten 84 und 85. Vgl. a. G. BINDER, Die Aussetzung des Königskindes Kyros und Romulus (BKP 10; Meisenheim am Glan, 1964); B.S. CHILDS, „The Birth of Moses“, JBL 84 (1965), 109-122; C. COHEN, „The Legend of Sargon and the Birth of Moses“, JANES 4 (1972), 46-51; J. COHEN, The Origins and Evolution of the Moses Nativity Story (SHR 58; Leiden, 1993); DAVIES/ALLISON, I,258f; R.T. FRANCE, „Herod and the Children of Bethlehem“, NT 21 (1979), 1f.105-8; Z.P. THUNDY, Buddha and Christ: Nativity Stories and Indian Traditions (SHR 60; Leiden, 1993). 579 D.B. REDFORD, „The Literary Motif of the Exposed Child (cf. Ex. 2,1-10)“, Numen 14 (1967), 209-28. 580 REDFORD, „Motif“, 211-14. 581 REDFORD, „Motif“, 215-17. 582 REDFORD, „Motif“, 217-19.

Hypothetische Erst-Rezeption

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hineinspielen, so gehört Mt 2 in die dritte Kategorie583. Interessanterweise kann REDFORD in dieser Kategorie neben Mt 2; Ex 2,1-10 und der in Josephus und anderen jüdischen Schriften belegten Mose-Haggada nur noch zwei weitere Beispiele nennen584: a) Nach Sueton versetzt wenige Monate vor der Geburt des Augustus ein Wunderzeichen die Bewohner Roms in Aufregung, weil man darin ein Zeichen für die Geburt eines römischen Königs sieht. Als der Senat beschließen will, daß in dem Jahr kein Kind aufgezogen werden darf, stellen sich jene Senatsmitglieder, deren Frauen schwanger sind, dagegen, weil sie hoffen, daß die Prophezeiung auf ihr Kind zutreffen mag (Aug 94,3). b) Plutarch schreibt in seiner Biographie des Pyrrhus (§2), daß kurz nach dessen Geburt aufgrund eines Aufstandes ein Großteil seiner Verwandtschaft ums Leben gekommen ist. Als die übrigen auf der Flucht mit dem Kind an einen wilden Fluß kommen, bauen Einheimische ein Floß aus Baumblättern und bringen so das Kind vor den Verfolgern in Sicherheit.

Die Rezipierenden werden sich demnach vornehmlich an die Rettung des Mose erinnert haben. Dabei ist nicht nur an die alttestamentliche Erzählung als Intertext zu denken, sondern sicherlich auch an die im Judentum bekannten haggadischen Erweiterungen, denn nur diese verbinden den Plan Pharaos, die hebräischen Knaben zu töten, ausdrücklich mit der Ankündigung der Geburt des Mose585. Natürlich lassen sich nicht nur Parallelen, sondern auch Unterschiede zwischen beiden ausfindig machen586. Aber es geht nicht darum, einen parallelen Verlauf zu konstruieren, der unseren Vorstellungen narrativer Logik entspricht587, sondern „Impressionen“ des Exodus zu vermitteln. Mit dem Kindermord wird schließlich auch Herodes dem bösen Pharao angegli583

So auch REDFORD, „Motif“, 218. Die Geburtsgeschichte des Kyros (Herodot 1,107-28), in der Astyages nach einem furchterregenden Traum von den Traumdeutern erfährt, daß der Sohn seiner Tochter an seiner Stelle regieren werde, und er daraufhin versucht, das Kind zu töten, gehört in die zweite Kategorie. Die Bezüge zu Mt 2 sind keineswegs so stark, daß man die Geburt des Kyros als einen Intertext sehen könnte (gegen AUS, „Magi“). 584 Man könnte auch noch Sueton, Nero 36 dazuzählen, obwohl die Tötungsabsicht Neros umfassender ist: Als mehrere Nächte hindurch ein Komet am Himmel streift, sieht Nero nach dem Volksglauben seine Herrschaft in Gefahr. Daraufhin beschließt er, alle vornehmen Römer zu töten, und läßt die Kinder der Verurteilten aus der Stadt verweisen und durch Gift oder Hunger sterben. 585 Deutlich in Jos., Ant 2,205-9: Ein ägyptischer Óerogrammateúß sagt dem Pharao die Geburt eines Kindes voraus, das die Vorherrschaft Ägyptens brechen und die Israeliten erhöhen wird. Daraufhin ordnet der erschrockene König die Ertränkung aller israelitischen Knaben an. Das rabbinische Schrifttum berichtet, daß Pharao einen Traum hatte, aus dem seine Obermagier Jannes und Jambres entnehmen, daß der Befreier Israels bereits geboren worden ist (vgl. R. BLOCH, „Gestalt des Moses“, 108). 586 Die Unterschiede betonen J.D. CROSSAN, „Structure and Theology of Mt 1,18-2,23“, CJos 16 (1968), 130f; B. NOLAN, The Royal Son of God: The Christology of Matthew 1-2 (OBO 23; Fribourg, CH; Göttingen, 1979), 88f; LUZ I,127 Anm. 13. Für eine eingehende Diskussion der Bezüge zwischen Jesus und Mose in Mt 2 vgl. VÖGTLE, Messias, 32-41 (Pharao-Mose-Haggada = „die eigentlich strukturbildende ‚Vorlage‘ [41]). Ihm folgt I. BROER, „Die Kindheitsgeschichte im Matthäusevangelium und die neuere Exegese“, Siegener Pädagogische Studien 23 (1977/78), 50-53. 587 Vgl. a. LUZ I,127. Das Hosea-Zitat brachte eher die Israel-Typologie zum Vorschein, während hier stärker die Mose-Figur in den Sinn kommt.

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Rezeptionskritische Auslegung von Matthäus 1-2

chen588. Folgerichtig erscheint die Situation Israels, in die Jesus geboren wird, als eine der Knechtschaft und Unterdrückung. 2,17-18 Auch der sinnlose Tod unschuldiger Kinder wird mit einem Prophetenzitat in Verbindung gebracht. Eine kleine Änderung in der bereits gewohnten Einführungsformel (tóte statt “ina) stellt allerdings den Bezug zwischen Ereignis und Prophetie in ein anderes Licht589: Die grausame Tat ist nicht mit dem einzig und alleinigen Ziel geschehen, daß sich die Prophezeiung erfüllen möge. Gott hat mit der Tat und der durch sie verursachten Trauer nur so viel zu tun, daß er es durch seinen Propheten vorhergesagt, nicht aber daß er es herbeigeführt hat590. „Die Tat des Herodes ist nicht Vollstreckung des Willens Gottes!“591 Damit wird das für Matthäus sehr wichtige Bild der Fürsorge Gottes für sein Volk von vornherein nicht unnötig belastet. Dieses tragische Geschehen erfüllt auf kontingente Art und Weise die prophetische Weissagung Jeremias. Daß der Prophet namentlich genannt wird, ist aus dem Blickpunkt der Rezipierenden vor allem dann sinnvoll, wenn diese mit dem Bild Jeremias als eines tragischen Unheilsverkündigers vertraut sind592. Jer 31,15 MT

Jer 38,15 LXX-B

lwøq hÎwh◊y rAmDa hO;k oDmVvˆn hDm∂rV;b

O“utwß e~ipen kúrioß Fwn`j hen Rama hjkoúsqj

Myîr…wrVmAt yIkV;b yIh◊n

qr´jnou kaì klauqmoü kaì hodurmoü≥ Racjl hapoklaioménj[ß kaì (a)]

hD;kAbVm lEj∂r hÎnSaEm Dhy‰nD;b_lAo Dhy‰nD;b_lAo MEjÎ…nIhVl …w…n‰nyEa yI;k

ohuk ‘jqelen paúsasqai hepì toïß uÓoïß ahut¨jß (a), “oti ohuk e˙sín.

Mt 2,18

Jer 38,15 LXX-A

klauqmòß kaì hodurmòß polúß≥

O“utwß e~ipen kúrioß Fwn`j hen t¨∆ Huyjl¨∆ (a* Aq cod 86 Tg) hjkoúsqj qr´jnou kaì klauqmoü kaì hodurmoü≥

H Rac`jl klaíousa tà tékna ahut¨jß, kaì ohuk ‘jqelen parakljq¨j nai,

Racjl hapoklaioménjß hepì t¨wn uÓ¨wn ahut¨jß kaì ohuk ‘jqelen parakljq¨jnai (Bc Aq),

“oti ohuk e˙sín.

“oti ohuk e˙sín.

Fwn`j hen H Ramà hjkoúsqj,

588 LUZ I,127: „Wenn eine Entsprechung durchgehalten ist, ist es die zwischen Herodes und dem Pharao, nicht die zwischen Jesus und Moses.“ LUZ, Jesusgeschichte, 36: „Es ist der König Israels, der jetzt die Rolle Pharaos spielt.“ Eine Verbindung zwischen der Zeit unter Herodes und dem Leiden des Volkes unter dem Pharao findet sich in AssMos 6. 589 Später ähnlich in der Einführung zum „Jeremia"-Zitat (eigentlich Sach 11,13) bei der Episode zum Tod des Judas (27,9: tóte hepljr´wqj tò Hrjqén dià h Ieremíou). 590 FRANKEMÖLLE, 170. 591 LUCK , 26. 592 M.J.J. MENKEN , „The References to Jeremiah in the Gospel according to Matthew (2,17; 16,14; 27,9)“, EThL 60 (1984), 5-24. Zum Bild Jeremias im Judentum vgl. C. WOLFF, Jeremia im Frühjudentum und Urchristentum (TU 118; Berlin, 1976) und (stark davon abhängig!) M. KNOWLES, Jeremiah in Matthew’s Gospel (JSNT.S 68; Sheffield, 1993), 247-64.

Hypothetische Erst-Rezeption

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Die Abweichungen sind für eine Rezeption im Hörvorgang so minimal, daß in diesem Fall ein genauer Textvergleich für die rezeptionskritische Perspektive nichts erbringt593. Auch wenn der Erzählstil uns trocken und emotionslos anmutet, so wird durch das Zitat die affektive Reaktion auf den Kindermord in den Vordergrund gestellt: unsagbare Trauer594. In Rama hört man die laut weinende und klagende Stimme Rahels. Die Taten des Despoten bringen sogar die Stammutter zum Weinen595. Diese Note der Verzweiflung ist aber nicht das letzte Wort der Matthäusgeschichte. Die Leser/innen wissen, daß Jesus entkommen ist, und haben daher Zuversicht, daß das von Gott verheißene Heilsprogramm auch tatsächlich verwirklicht wird. Die Kenntnis des gesamten Umfeldes von Jer 31 kann diesen positiven Kontrapunkt nur noch verstärken, denn in diesem Kapitel spricht der Prophet von der Freude der Rückkehr aus dem Exil. Da zusätzlich zu dem Zitat wörtliche Berührungspunkte zwischen Mt 1-2 und Jer 31 hergestellt werden können596, ist es nicht undenkbar, daß diese Hoffnungsnote für die Rezipierenden den Hintergrund für ihre Wahrnehmung der weinenden Rahel bilden konnte597. Eine solche Querverbindung würde aber m.E. eher in den Bereich der „aleatorischen“ Intertextualität gehören. 2,19-21 In 2,19 schließt der Erzähler zeitlich wieder an 2,15 an: Nach dem Tod des Herodes erscheint erneut ein Engel des Herrn dem Josef im Traum und gibt ihm Anweisung, das Kind und seine Mutter zu nehmen und wieder in das

593

L. HARTMAN, „Scriptural Exegesis in the Gospel of St. Matthew and the Problem of Communication“, L’Evangile de Matthieu, hg. M. Didier (BEThL 29; Gembloux, 1972), 138. 594 Man kann historisch darüber spekulieren, wie die vortragende Person diese Stelle betont oder u.U. ausgemalt hat. Vielleicht wie der Rhapsode Ion, der von sich sagt: „Wenn ich nämlich etwas Klägliches (heleinón) vortrage, so füllen sich mir die Augen mit Tränen, wenn aber etwas Furchtbares und Schreckliches (foberòn ’j deinón), so sträuben sich die Haare aufwärts vor Furcht und das Herz pocht.“ (Platon, Ion 535c = Eigler/Schleiermacher I,18f) 595 Ob man allerdings sagen kann, der Erzähler denke „es sich ganz konkret so, daß die Stammmutter Rahel in ihrem Grabe anwesend ist und vom Grabe aus mit mütterlichem Herzen das grausame Geschick ihrer Kinder miterlebt und mit untröstlichem Weinen begleitet“ (J. JEREMIAS, Heiligengräber in Jesu Umwelt [Göttingen, 1958], 127), scheint mir recht unsicher. 596 ERICKSON, „Divine Injustice?“ 11f; DAVIES/ALLISON , I,267 rechnen dazu: Das rückkehrende Volk erscheint als Jungfrau (Jer 31,4.21), wird als Sohn angesprochen (9.20), aus dem Exil kehrt „die Frau mit Kind“ zurück (8), und es ist davon die Rede, daß „der Herr sein Volk errettet“ hat (7; vgl. Mt 1,22). Der allgemeine Gebrauch von Jer 31 im Urchristentum ist breit bezeugt (vgl. DODD, Scriptures, 44-6). 597 M. BOURKE, „The Literary Genus of Matthew 1-2“, CBQ 22 (1960), 171f; FRANCE, „Formula-Quotations“, 245f; GUNDRY, Use, 210; VERSEPUT, „Davidic Messiah“, 109. DAVIES/ALLISON, I,269 zeigen sich unentschlossen darüber, ob Matthäus damit rechnet, daß seine Leser/innen den gesamten Kontext von Jer 31 im Hintergrund halten.

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Rezeptionskritische Auslegung von Matthäus 1-2

Land Israel zurückzukehren, weil jene tot sind, die nach dem Leben des Kindes trachteten. Obwohl der Text keine deutliche Aussage macht, können die Leser/innen einen kausalen Zusammenhang zwischen dem Tod des Herodes und seinem Mordplan gegen den Sohn Gottes herstellen. Die stetige Wiederholung des Traumschemas brennt es den Rezipierenden in Herz und Verstand ein: Gott sorgt für seinen Sohn598! Die Rückkehr in das „Land Israel“ hat einen sonoren Klang599. Die Wendung g¨j Israjl ist in der jüdisch-hellenistischen Literatur eher selten600, entspricht aber rabbinischer Ausdrucksweise601. Es ist das bereits Abraham verheißene Land, in dem Gott jetzt durch seinen Sohn einen neuen Abschnitt in der Beziehung zu seinem Volk beginnen will. Da in V. 19 nur von Herodes die Rede ist, bedarf der Plural oÓ zjtoünteß einer Erklärung. Die Rezipierenden könnten es darauf beziehen, daß in 2,3-5 ganz Jerusalem auf der Seite des Herodes stand. Das würde aber implizieren, daß mittlerweile alle leitenden Personen, die mit Herodes kooperiert haben, gestorben sind. Da aber die jüdischen Führer später wieder als Gegner Jesu erscheinen, würde diese Perspektive spätestens bei einer relecture des Evangeliums in den Hintergrund treten. Wahrscheinlich haben wir es hier mit einer „alttestamentliche[n] Reminiszenz“602 an Ex 4,19f zu tun603. Natürlich ist der Handlungsverlauf ganz unterschiedlich: In Ex 4,19f kehrt Mose von Midian nach Ägypten zurück, während Josef mit Maria und dem Kind von Ägypten nach Israel zieht. In beiden Texten ist jedoch eine Rückkehr erst dann möglich, als jene gestorben sind, die nach dem Leben Moses’ bzw. Jesu trachteten. Dieser intertextuelle Pinselstrich vermag Assoziationen an die MoseFigur und die Exodusgeschichte zu wecken604. Wie gewohnt, führt Josef die Anweisung sofort aus (2,21). Die wörtliche Parallelität zwischen 2,19-21 und 2,13-14 drängt sich auch im Hörvorgang auf: Genauso wie Gott die Messiasfamilie nach Ägypten geführt hat, führt er sie jetzt auch nach Israel zurück605.

598

GNUSE, „Dream Genre“, 119: „Dreams are the ultimate symbol of divine providence and guidance.“ 599 FRANKEMÖLLE, 174 sieht hier Anklänge an den Einzug in das Heilige Land. 600 Vgl. LXX: Ri 3,27; 6,5; 1Bas 13,19; 4Bas 5,2.4; 6,23; 1Chr 13,2; 22,2; 2Chr 2,16; 30,25; 34,7; Ez 38,8.19; Tob 1,4; 14,4. 601 Bill. I,90f; SOARES PRABHU , „Jesus in Egypt“, 242-6. 602 LUZ, I,126. 603 LXX: metà dè tàß Hjméraß tàß pollàß h ekeínaß h eteleútjsen Ho basileùß A˙gúptou. e~ipen dè kúrioß pròß Mwus¨jn hen Madiam Bádize ‘apelqe e˙ß A‘igupton≥ teqn´jkasin gàr pánteß o˙ zjtoüntéß sou t`j n yuc´j n. hanalab`wn dè Mwus¨jß t`j n gunaïka kaì tà paidía h anebíbasen ahu tà hepì tà Hu pozúgia kaì hepéstreyen e˙ß A‘igupton≥ 604 Vgl. die ausführliche Diskussion in ALLISON , New Moses, 142-6. 605 ANDERSON, Narrative Web, 156.

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2,22-23 Als Josef erfährt, daß Archelaus als König über Judäa herrscht, hat er Angst, dorthin zurückzukehren (hefob´jqj hekeï hapelqeïn). Ob die Rezipierenden mit dem Namen Archelaus etwas anfangen konnten, ist schwer zu sagen606. Die etwas umständliche Erklärung, daß er „anstelle seines Vaters Herodes“ (hantì toü patròß ahutoü H Jr´^wdou) regiert607, zeigt, daß der Erzähler sichtlich bemüht ist, seine Rezipierenden über die Verwandtschaftsbeziehung zwischen Archelaus und Herodes zu informieren. Für die Leser/innen, die also nicht mit solchen Daten der jüdischen Geschichte nach dem Tod des Herodes vertraut sind, ist damit genug gesagt: Wo der Sohn eines so bösen Tyrannen herrscht, ist es sicherlich gefährlich zu leben. Für geschichtlich informierte Leser/innen wäre es kein Problem zu wissen, daß in Galiläa mit Herodes Antipas auch ein Herodessohn herrschte. Die Quellen bezeugen, daß Archelaus von allen Ethnarchen den schlechtesten Ruf hatte608. Er war so „brutal und tyrannisch“ (Jos., Ant 17,342: Homótjß kaì turanníß), daß er von Augustus 6 n.Chr. abgesetzt werden mußte (Ant 17,342f; Bell 2,111-3)609. Die Furcht Josefs ist also in jedem Fall verständlich. Wie die Weisen wird Josef im Traum von Gott gewarnt und zieht sich zurück in das Land Galiläa (22b)610, das als wichtigster Ort der Tätigkeit Jesu wahrscheinlich bekannt war (vgl. 4,12-16). Dort läßt er sich in einer „Stadt“ namens Nazaret nieder (23b)611. Durch das dreimalige e˙ß werden die Rezipierenden teleskopartig zum Land Israel (21: e˙ß g¨jn h Isra´jl) nach Galiläa (22b: e˙ß tà mérj t¨jß Galilaíaß) und schließlich nach Nazaret (23a: e˙ß 606

LUZ, Jesusgeschichte, 40; Anm. 40 nimmt an, daß dieser Name als bekannt vorausgesetzt wird. 607 Mit dem Präsens basileúei nimmt der Erzähler die zeitliche Perspektive Josefs ein (DAVIES/ALLISON, I,272f). 608 Vgl. SCHÜRER/VERMES/MILLAR, History, I,353-7; S MALLWOOD, Jews, 102-19. 609 Daß Matthäus von ihm als herrschendem König (basileúei) spricht, ist als Ungenauigkeit gewertet worden, weil er streng genommen kein König, sondern nur Ethnarch war. Es ist aber tröstlich zu sehen, daß auch Josephus von Archelaus als Königsnachfolger des Herodes spricht (Ant 18,93: Ho hepikatastaqeìß ahut^¨w [= t¨^w H Jr´wd∆] basileùß h Arcélaoß). Im übrigen bezeichnet das Verb basileúw nicht ausschließlich die Aktivität eines Königs, sondern auch die eines Archonten (Isokrates 18,5 = Norlin/Hook, III,256f), eines römisches Kaisers (Jos, Ant 20,148) oder eines Philosophen in Platos Idealstaat (Politeia 473c). Die allgemeine Bedeutung „regieren“ liegt daher nahe (vgl. s.v. ADRADOS, Diccionario GriegoEspañol, IV,693 Abschnitt b). Von daher würde ich den Gebrauch dieses Verbes weder „volkstümlich und ungenau“ nennen (LUZ I,131), noch darin eine neue Gegenüberstellung zwischen dem König Archelaos und dem König Jesus erblicken (DAVIES/ALLISON I,273), wofür dann doch eine Wendung wie basileúß ~j n deutlicher gewesen wäre. 610 V. 12 und V. 22b sind weitgehend parallel formuliert. 611 Ob die Bezeichnung póliß für ein unbedeutendes Dorf zeigt, daß der Autor (und wohl auch seine Leser/innen) Palästina nicht kennt (LUZ I,131) oder daß der neutestamentliche Sprachgebrauch zwischen póliß und k´wmj keinen prinzipiellen Unterschied macht (DAVIES/ALLISON, I,274 unter Hinweis auf Mk 1,38), ist nicht deutlich auszumachen.

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Rezeptionskritische Auslegung von Matthäus 1-2

… Nazarét) geführt612. Diese sonderbare Verzögerung verleiht der Übersiedlung nach Galiläa und nach Nazaret ein besonderes Gewicht613. Dabei muß es sich bei Nazaret, wie der Mangel an zeitgenössischen Zeugnissen zeigt, um einen recht unbedeutenden Ort gehandelt haben614. Wichtig ist aber, daß auch durch diese scheinbar unbedeutende geographische Notiz eine prophetische Weissagung in Erfüllung geht: „Er wird Nazoräer genannt werden.“ (2,22f) Nach „Jesus“ und „Immanuel“ ist das der dritte Name des Messias. Obwohl die Bedeutung im matthäischen Erzählkontext deutlich ist, stellt das letzte Erfüllungszitat der Kindheitsgeschichte eine bekannte crux interpretum dar615. Das Problem des genauen Referenztextes läßt sich allerdings aus rezeptionsästhetischer Perspektive kaum umgehen. Dabei deuten einige Änderungen in der Einführungsformel bereits darauf hin, daß die Rezipierenden auf diese Problematik aufmerksam werden konnten: Zum einen wird das Zitat nicht auf einen bestimmten Propheten zurückgeführt, sondern erfolgt ganz allgemein dià t¨wn profjt¨wn, und zum anderen ist das gängige légontoß durch “oti ersetzt worden, das auch die Einleitung zu einem indirekten Zitat markieren könnte (vgl. 26,54)616. Das Zitat erweist sich als eine wahre Herausforderung für alle modernen „Textarchäologen“. Die olympisch anmutende Jagd nach einem geeigneten Intertext hat u.a. folgende Vorschläge erbracht 617: a) Das Zitat knüpft entweder direkt an Simsons Berufung zum Nasiräat (Ri 13,5.7; 16,17) an 618 oder verweist ganz allgemein auf das alttestamentliche Ideal des Nasiräers 619. Sprachlich wäre ein gewisser Anknüpfungs612 DAVIES/A LLISON, I,273f. 613 LUZ, I,126; S. F REYNE, Galilee,

Jesus and the Gospels (Dublin, 1988), 71: „The fact that we are assured by the narrator that this movement which brings them to Galilee is divinely directed …, alerts the reader to the importance of Galilee for shaping the story from the very outset.“ 614 Vgl. W. BÖSEN, Galiläa als Lebensraum und Wirkungsfeld Jesu (Freiburg, 1985), 110-145; G. DALMAN, Orte und Wege Jesu (Gütersloh, 1919), 46-74; R. RIESNER, „Nazaret“, GBL 2 (1988), 1031-7. 615 Die streng philologisch-diachrone Frage nach der Möglichkeit einer etymologischen Herleitung von Nazwraïoß aus Nazarét soll hier nicht weiter interessieren. Vgl. LUZ, I,131f. 616 DAVIES/A LLISON, I,275; G UNDRY, 39; STRECKER, Weg, 61f. In Esr 9,11 ist von Geboten die Rede, ”aß ‘edwkaß Hjmïn hen ceirì doúlwn sou t¨wn profjt¨wn légwn. Das „Zitat“, das folgt, ist „a mosaic of many passages and scriptural allusions“ (H.G.M. WILLIAMSON, Ezra, Nehemiah [WBC 16; Waco, TX, 1985], 137). 617 Ausführliches Referat in D AVIES/A LLISON, I,276-281. 618 LUZ, I,132 (nur für den Fall, daß das Zitat redaktionell sei); M.D. GOULDER, Midrash and Lection in Matthew (London, 1974), 240f; J.A. SANDERS, „Nazwraïoß in Matthew 2.23“, [1965] in Evans/Stegner, Gospels, 116-28; H. SCHAEDER, „Nazarjnóß, Nazwraïoß“, ThWNT 4 (1942), 879-884; E. SCHWEIZER, „‚Er wird Nazoräer heißen‘ (zu Mc 1,24; Mt 2,23)“, [1960] Neotestamentica (Zürich, 1963), 51-55; SOARES PRABHU, Formula Quotations, 205-7; E. ZUCKSCHWERDT, „Nazwraïoß in Mat 2,23“, ThZ 31 (1975), 65-77. 619 DAVIES/A LLISON, I,276f mit einer aufwendigen Herleitung über Jes 4,3 (“agioi kljq´jsontai) auf der Grundlage, daß „Heiliger“ und „Nasiräer“ gleichbedeutend sind.

Hypothetische Erst-Rezeption

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punkt darin gegeben, daß im Codex Alexandrinus die Belege von ryˆzÎn aus dem Richterbuch mit Naziraïoß wiedergegeben werden 620. Der Vokalwechsel zu Nazwraïoß wäre als Anwendung der rabbinischen Methode der „Exegese durch Vokaländerung“ (Al-Tiqré-Deutung) erklärbar621; doch scheint ein direkter Bezug zu den Richterstellen für die Leser/innen auf der Grundlage der nicht einmal wörtlichen Übereinstimmung eines einzigen Begriffes kaum erkennbar zu sein622. Eine allgemeine Verbindung zum Nasiräat würde in den Rezipierenden die Erwartung wecken, daß Jesus in der weiteren Erzählung diesem Frömmigkeitsideal auch nachkommt 623. Die narrative Charakterisierung Jesu im Matthäusevangelium bringt an keiner Stelle Elemente des Nasiräats ausdrücklich mit Jesus in Verbindung: Von einem ungehemmten Haarwuchs, das wichtigste äußere Zeichen des Nasiräers, ist nirgends die Rede. Daß Jesus die Hand eines toten Mädchens berührt (Mt 9,25), paßt genausowenig zum Bild des Nasiräers wie die Rede vom Menschensohn als „Fresser und Trinker“ (Mt 11,19). Selbst wenn die sprachliche Form ein Nasiräat für Jesus andeuten könnte, so erweist sich diese Perspektive im Verlauf der Lektüre als falsch. b) Ein weiterer Kandidat ist Jes 11,1 624: „Doch aus dem Baumstumpf Isais wächst ein Reis (r"cEn) hervor, ein junger Trieb aus seinen Wurzeln bringt Frucht.“ Auf der Grundlage einer messianischen Interpretation diese Stelle625 könnte zwar eine Plazierung im Umfeld von Mt 1-2 verständlich erscheinen, aber in diesem Falle wäre von den Rezipierenden die Kompetenz erfordert, eine Homophonie zwischen einem hebräischen und

620 Ri 13,5 (A: Hj giasménon naziraïon ‘ estai t¨^ w qe¨^ w; B: nazir); 13,7 (A: naziraïon qeoü hestin; B: “agioß); 16,17 (A: naziraïoß qeoü heg´w e˙mi; B: “agioß). 621 Zu dieser exegetischen Vorgehensweise vgl. BREWER, Techniques and Assumptions, 173f. 622 FRANCE, „Formula-Quotations“, 248: „[I]t is odd that Matthew should have substituted kljq´jsetai for the no less suitable ‘estai of the LXX, thus reducing the allusion to a single word, and that differing from any known Greek rendering of ryˆzÎn.“ 623 Ganz allgemein bezeichnet ryˆzÎn eine Person oder eine Sache, die für einen besonderen Dienst ausgesondert worden ist: So ragt z.B. Josef aus seinen Brüdern heraus (Gen 49,26; Dtn 33,16); aber auch der für Gott reservierte unbeschnittene Weinstock kann ryˆzÎn sein (Lev 25,5.11). Im technischen Sinne – und den müßte man für Mt 2,23 annehmen – wird der Begriff für Menschen benutzt, die Gott ganz besonders geweiht sind (vgl. G. VON RAD, Theologie des Alten Testaments [München, 91987], I,76f). Im Falle von Simson und Samuel handelt es sich um ein lebenslanges Gelübde (Ri 13,5.7; 16,17; 1Sam 1,11), während in Num 6 von zeitlich begrenzten Gelübden die Rede ist. Der Nasiräer obliegt einer strengen Lebensweise: keine alkoholischen Getränke (Ri 13,4.7.14; Am 2,11f; Num 6,3f; Jos. Bell 2,313), Haare wachsen lassen (Ri 13,5; 16,17; Num 6,5.9.18f; 1Sam 1,11; Jos. Bell 2,313) und nicht in die Nähe eines Toten kommen (Num 6,6f.9). Das zeitlich beschränkte Nasiräer-Gelübde (meistens dreißig Tage) war auch weiterhin im Judentum lebendig (vgl 1Makk 3,49; Lk 1,15; Apg 18,18; 21,18-26; Jos., Ant 19,294; Bell 2,313f; mNazir; Hegesipp in Eusebius, HE II,23,4; vgl. Bill II,80-88.747-51.755-761). 624 Bill I,92-6; W. CASPARI, „‚Nazwraïoß‘: Mt 2,23 nach alttestamentlichen Voraussetzungen“, ZNW 21 (1922), 122-7; DALMAN, Orte und Wege, 48; GUNDRY, 40; HAGNER, I,41; LUZ, I,132 (für die vormt. Tradition); PESCH, „Messianic Exegesis“, 174f; H.P. RÜGER, „NAZAREQ/NAZARA/NAZARJNOS/NAZWRAIOS“, ZNW 72 (1981), 257-263; SCHLATTER, 49; SCHNIEWIND, 20; W EISS, 57f. 625 Im Judentum ist r´xRn als messianischer Titel belegt (4QpIsaa 3,15-26; TestJud 24,6; Bill I,94).

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Rezeptionskritische Auslegung von Matthäus 1-2

einem griechischen Begriff zu erkennen626. Um das plausibel machen zu können, müßte weitere Evidenz aus der Matthäusgeschichte beigesteuert werden. c) Manche identifizieren als Intertext ganz allgemein alttestamentliche Aussagen über die Demut des leidenden Gottesknechtes 627. In diesem Fall wäre „Nazoräer“ nichts anderes als eine Metapher für niedere Herkunft.

Das Ergebnis ist also weitgehend negativ. Doch sagen diese Schwierigkeiten etwas über die vorstrukturierten Leser/innen aus: Sollte die intentio operis darin bestehen, außenstehende Juden durch eine Erklärung der Verbindung Jesu mit dem unbedeutenden Nazaret für den messianischen Glauben an Jesus zu gewinnen, dann wäre 2,23 als Zielpunkt der ganzen Erzählung in Kap. 2 nicht nur antiklimaktisch, sondern auch ein Akt rhetorischer Selbstzerstörung. Gerade dort, wo der Text mit seiner „stärksten Karte“ aufwarten sollte, liefert er den Skeptikern mit einem so schwach bezeugten Zitat eine ideale Grundlage zur Demontage. Wenn aber die Erzählung nach innen wirken will zur Stärkung der eigenen Gruppe, dann stehen zwei Möglichkeiten offen: 1. Es handelt sich um ein Insider-Zitat, dessen Kenntnis auf eine klar umrissene Gruppe reduziert bleibt. Dann kann die moderne Exegese zwar die kompliziertesten Verbindungslinien zu alttestamentlichen Texten herstellen, wird aber keine Mittel haben, diese zu verifizieren. 2. Oder: Das Vertrauen in den Erzähler ist so groß, daß die Leser/innen es einfach glauben628. Letzteres halte ich für wahrscheinlicher629. FRANCE, „Formula-Quotations“, 248: „The r´xRn of Isa. 11,1 suffers from the rather serious disability that there is no way a Greek-speaking reader of Matthew could spot the reference, nor does it offer any explanation of kljq´jsetai.“ Selbst für jüdische Leser/innen wäre das schwer nachzuvollziehen (STRECKER, Weg, 60). Aus einem ähnlichen Grund sind andere Herleitungen vom hebräischen Text wenig überzeugend: Jes 40,3 (J. REMBRY, „‚Quoniam Nazaraeus vocabitur‘ (Mt 2,23)“, SBFLA 12 [1961], 46-65); Jes 49,6 (LINDARS, New Testament Apologetics, 194-199; B. GÄRTNER, Die rätselhaften Termini Nazoräer und Iskariot [HSoed 4; Uppsala, 1957], 5-36); Jer 31,6 (E. ZOLLI, „Nazarenus vocabitur“, ZNW 49 [1958], 135f). Die Vermutung von HAGNER, I,41f, daß die Herleitung von Jes 11,1 mündlich überliefert und daher allgemeines Bildungsgut der Gemeinde war, ist zwar nicht undenkbar, aber anders als im Falle der hebr. Etymologie von h Ijsoüß (vgl. zu 1,21) durch keinen Text zu untermauern. 627 BONNARD, 30; FRANCE, „Formula-Quotations“, 247f; LAGRANGE, 39. Ähnlich ZAHN, 116ff, der vorschlägt, “oti kausal zu deuten: das allgemeine Zeugnis der Propheten erfüllt sich, weil (“oti) das Volk Jesus mit der Bezeichnung „Nazaräer“ verwirft. Vgl. aber STRECKER, Weg, 61: „Das theologische Motiv der Armseligkeit des Ortes Nazaret ist schwerlich aus unserem Text zu erheben.“ 628 Das vermutet auch F RANCE, „Formula-Quotations“, 247. M.E. stellt gerade dieser Text das Modell eines „bibelkundigen Lesers“, mit dem FRANKEMÖLLE in seinem anregenden rezeptionskritischen Mt-Kommentar arbeitet, in Frage. Ein Leser, der mit so viel biblischem Hintergrundwissen ausgestattet ist, würde dieses Zitat schlecht nachvollziehen können. 629 Auch die Bezeichnung der Christen als „Nazaräer“ im syrischen Raum könnte hier eine Rolle spielen (FRANKEMÖLLE, 172). LUZ, I,132f sieht hier eine „ekklesiologische Note“ mitschwingen. SCHAEDER, „Nazarjnóß“, 883 Anm. 1 u. 18 verweist darauf, daß erst die patristische Literatur Ende des 2. Jh.s „Nazareni“ als allgemeine Bezeichnung der Christen durch das Nasiräat begründet hat (Tertullian, Adv. Marc., 4,8). Vgl. zu den Quellen der Alten 626

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Insgesamt vermittelt die parallele Struktur zwischen 13-15 und 19-23 630 den Rezipierenden eine Sicherheit in bezug auf die handelnde Figur Josef und die iterative Gestalt der Führung Gottes. Die für den Erzählverlauf entscheidende Funktion der Traumoffenbarung ist so etwas wie die „Unterschrift Gottes“ unter jede Episode. Im Mittelpunkt der bisherigen Erzählung steht also Gott631. Seine wunderbare Führung und die Bewahrung seines Sohnes erschließt den Leser/innen, was „Immanuel“ bedeutet. Im Zusammenhang mit der typologischen Übertragung mancher Stationen der Geschichte Israels auf das Geschick des Messiaskindes erscheint Gott als segnender und bewahrender deus viatorum. In Jesus erschließt sich für die Leser/innen eine analoge Gotteserfahrung, die gekennzeichnet ist von der Sicherheit der Bewahrung und Führung durch Gott.

2.4 Zusammenfassende Überlegungen zur hypothetischen Erst-Rezeption Wenn es schon ein Wagnis darstellt, die Erst-Rezeption der Leser/innen aus dem Text und dem außertextuellen Umfeld rekonstruieren zu wollen, dann scheint der Versuch einer Zusammenfassung noch stärker dem Postulat der Vielfalt und Offenheit eines Textes zuwiderzulaufen. Eine theologische Lektüre, die zusammenfassend in den Kategorien der systematischen Theologie etwa nach der Christologie, Anthropologie, Ethik oder Eschatologie eines Textes fragt, muß gerade wegen ihrer Sebstverständlichkeit aus der Perspektive der Lektüre hinterfragt werden. Denn die Übertragung systematischer Kategorien auf die biblische Theologie vermittelt eine Leseoptik, in der ganz bestimmte Merkmale des Textes automatisch in das Blickfeld geraten, andere hingegen in den Hintergrund gedrängt werden. Der dadurch entstandene Fragehorizont entspricht den Interessen einer langen theologisch-christlichen Tradition, muß aber nicht notwendigerweise auch für die Erfahrung der ErstRezipierenden Geltung haben. Die Parzellierung des theologischen Gehalts eines Textes läßt die Frage nach der Rolle der Erzählgattung und der zeitlichen Leseerfahrung unberücksichtigt und macht es zudem schwer, Querbezüge zwischen einzelnen theologischen Topoi zu erkennen632.

Kirche A.F.J. K LIJN, G.J. REININK, Patristic evidence for Jewish-Christian sects (NT.S 36; Leiden, 1973); R.A. PRITZ, Nazarene Jewish Christianity from the end of the New Testament period until its disappearance in the fourth century (StPB 37; Leiden, 1988). 630 LUZ, I,125. 631 LUZ, I,133. 632 Daß die Anwendung literaturwissenschaftlicher Fragestellungen auf die Evangelien „zu einem radikalen Überdenken des Begriffs von Theologie zwingen“, bemerkt

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Rezeptionskritische Auslegung von Matthäus 1-2

Vieles, was man zusammenfassend zu Mt 1-2 sagen kann, fällt unter die traditionellen Kategorien der Christologie und der eigentlichen Theologie. Ohne andere Aspekte verdrängen zu wollen, kann m.E. keine Lektüre an dem vorrangigen kommunikativen Interesse des Textes vorbeilesen: Der Gott Israels manifestiert in seinem Sohn, dem davidischen Messias Jesus von Nazaret, seine Anwesenheit zur Sündenerlösung und Leitung Israels. Die alles geschieht in Erfüllung seiner Verheißungen, mit der Hilfe gehorsamer Juden (Josef) und Heiden (Weise) und gegen alle menschliche Opposition (Herodes, jüdische Führerschaft, Jerusalemer). Nun mögen solche Sätze als Antwort auf die Frage „Worum geht es in Mt 1-2?“ ihren Sinn haben. Damit ist aber noch keine Aussage darüber gemacht, was mit den Leser/innen geschieht, während sie solches in der gegebenen Reihenfolge wahrnehmen. In Wirklichkeit beschäftigt sich Rezeptionsästhetik mindestens mit zwei parallelen Geschichten: mit der erzählten Geschichte (textorientiert) und der erlebten Geschichte (rezeptionsorientiert). Wie aber kann man Aussagen über die Erfahrung der Lektüre machen, die irgendwie die traditionellen Fragen nach der Christologie oder eigentlichen Theologie des Textes aufgreifen und weiterführen? Eine terminologische Hilfe, um der Statik theologisch-systematischer Kategorien entgehen zu können, stellt der literaturwissenschaftliche Begriff der „Charakterisierung“ dar633. Als „Charakter“ wird jede handlungstragende „Figur“ innerhalb der Erzählung bezeichnet 634. Man kann zwischen direkter und indirekter Charakterisierung unterscheiden, je nachdem, ob der Erzähler oder Figuren innerhalb der Erzählung direkt die Eigenschaften einer Figur bezeichnen oder diese erst indirekt aus deren Handlungen, Reden, Reaktionen usw. erschlossen werden müssen. Die Aktivität der Leser/innen kann daher auch hier nicht ausgeblendet werden, denn „Charaktere“ sind weit mehr als Worte; sie nehmen vielmehr Gestalt an in den Rezipie-

G. SCHUNACK, „Neuere literaturkritische Interpretationsverfahren in der anglo-amerikanischen Exegese“, VF 41 (1996), 47. 633 Vgl. M.H. ABRAMS, A Glossary of Literary Terms (Fort Worth u.a., 51988), 22-24; CHATMAN, Story and Discourse, 107-38; CULPEPPER, Anatomy, 99-148; GENETTE, Narrative Discourse, 244; C. KAHRMANN, G. REISS, M. SCHLUCHTER, Erzähltextanalyse (Bodenheim, 3 1993), 142-7; KINGSBURY, Matthew as Story, 9f; W. MARTIN, Recent Theories of Narrative (Ithaca; London, 1986), 116-21; C. PELLING (Ed.), Characterization and Individuality in Greek Literature (Oxford, 1990); POWELL, Narrative Criticism, 51; M. PRICE, Forms of Life (New Haven; London, 1983); PRINCE, Dictionary, 12; M.D. SPRINGER, A Rhetoric of Literary Character (Chicago; London, 1978), 11-44; RHOADS/MICHIE, Mark as Story, 101f. 634 Narrative Charaktere lassen sich klassifizieren nach textueller Prominenz (Haupt- und Nebenfiguren), nach ihrer moralischen Qualität (ARISTOTELES, Poetik 1448a: uns unterlegen, uns gleich, uns überlegen), nach der Kohärenz ihrer Eigenschaften (statisch oder dynamisch, je nachdem ob ihr Profil sich im Verlauf der Erzählung verändert oder gleichmäßig bleibt) oder nach der Vorhersehbarkeit ihrer Handlungen („round“ = komplex, vielseitig und nicht immer vorhersehbar; „flat“ = einseitig, stereotyp und vorhersehbar; „stock“ = eine konventionelle Figur, die nur eine Eigenschaft verkörpert; z.B. die grausame Stiefmutter im Märchen).

Hypothetische Erst-Rezeption

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renden und können selbst bei fiktiven Texten ein nachtextuelles Eigenleben führen 635.

Die Charakterisierung Gottes und Jesu beginnt in 1,1 nicht an einem Nullpunkt. Bereits die ersten Worte, bíbloß genésewß, setzten eine gewisse Vertrautheit mit der Bibel Israels voraus. Die Durchsetzung der Erzählung mit konkreten Zitaten ist als Lenkungsstrategie nur dann bedeutend, wenn die Erst-Rezipierenden die Meinung teilen, daß Gott in diesen Worten spricht. Da sich in Jesus die Aussagen der Propheten peinlich genau erfüllen, kann man über ihn nur angemessen in der Sprache der heiligen Schriften Israels sprechen. Einige narrative Handlungsmuster zeigen außerdem, daß auch die jüdische Auslegungstradition (etwa Mose-Haggadot) in den Wahrnehmungshorizont der Rezipierenden gehört. Es hat sich in der Lektüre, die ich für die ErstRezipierenden vorgeschlagen habe, weiterhin gezeigt, daß an solche zu denken ist, die bereits dem christlichen Glauben angehören (oder diesem sehr offen gegenüberstehen). Trotz zahlreicher Versuche, Mt 1-2 im Kontext einer Antwort auf eine jüdische, antichristliche Polemik zu deuten, wirbt die Erzählung weder für die Zuverlässigkeit ihres Erzählers, noch versucht sie von einer gemeinsamen Grundlage aus, Andersdenkende zu gewinnen oder sie zumindest „wohlwollend“ (Quintilian, Inst. Orat IV,1,5) zu stimmen. Es sollen nochmals kurz jene textuellen Elemente zusammengefaßt werden, die m.E. eine Spur in Richtung einer spezifisch christlichen Kompetenzerwartung legen: 1. Die Genealogie könnte zwar als eine Form der Legitimierung nach außen verstanden werden, aber die synkopischen Elemente, die gattungsgeschichtlich ganz unübliche teleologische Stellung Jesu am Kopf seiner Vorfahren und die geschichtstheologische Einteilung in 1,17, die Jesus zum Kulminationspunkt der Geschichte Israels macht, lassen für Autor wie Leser/innen einen gemeinsamen Horizont erkennen, in dem gegen ein Verständnis Jesu als Erfüllung der Geschichte Gottes mit Israel keine Einwände zu erwarten sind. 2. Die Kargheit der Erzählweise in 1,18-25, die in einem auffälligen Kontrast zu Kap. 2 steht, und die rhetorisch kaum betonte Vorwegnahme des wahren Schwangerschaftsgrundes Marias in 1,18 deuten an, daß das Motiv der Jungfrauengeburt und auch eine entsprechende Geburtsgeschichte bekannt sind. 3. Der Name „Jesus“ wird in 1,21 im Hinblick auf seine Retterfunktion gedeutet. Es geht dabei aber nicht um die jüdisch gängige Vorstellung eines politischen Befreiers, sondern um das charakteristisch christliche Bild des von den Sünden erlösenden Messias. 4. Die Reflexionszitate rechnen in ihrer als ganz selbstverständlich geltenden christozentrischen Struktur offenbar nicht mit Einwänden oder Gegenwehr. „[G]erade die ‚Beweiskraft‘ der Erfüllungszitate wird ja kein jüdischer Leser der ‚Schriften‘ (damals wie heute), der nicht an Jesus als den Messias glaubt, anerkennen und mitvollziehen können.“636 5. Die negative Sicht der Jerusalemer Bevölkerung 635 Vgl. CHATMAN , Story and Discourse, 116-21; PRICE, Forms of Life, 55-62. Ein solches „Nachleben“ führen heute viele Romanfiguren wie Sherlock Holmes, Frankenstein, Robin Hood oder eben die „Heiligen Drei Könige“. 636 N. WALTER, „Zur theologischen Problematik des christologischen ‚Schriftbeweises‘ im Neuen Testament“, NTS 41 (1995), 355.

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Rezeptionskritische Auslegung von Matthäus 1-2

und der dort ansässigen jüdischen Führer, die mit dem „Erzbösewicht“ Herodes gemeinsame Sache machen (2,3-5), scheint der Erzählung so selbstverständlich zu sein, daß der Einfluß frühchristlicher Passionstraditionen angenommen werden kann. 6. Die auffällige Negierung der Kleinheit Betlehems im Micha-Zitat in 2,6 (ohudam¨wß) gründet sich auf die gemeinsame Überzeugung, daß der Geburtsort des Messias Jesus nicht unbedeutend sein kann. 7. Die rhetorische Einladung zur Identifikation mit der Freude und Anbetungshaltung der heidnischen Sterndeuter (2,10-11) paßt zum wahrscheinlichen Rezeptionsumfeld eines christlichen Gottesdienstes. 8. Die Übertragung von Hos 11,1 über den Gottessohn-Titel auf Jesus (2,15) setzt Einverständnis mit diesem grundlegenden frühchristlichen Bekenntnis voraus. 9. Das mysteriöse Zitat am Kulminationspunkt der Erzählung (2,23) setzt entweder starkes Vertrauen in die hermeneutische Autorität des Erzählers voraus oder Kenntnisse einer spezifisch christlichen „Insidersprache“.

Jede Beobachtung, für sich genommen, könnte leicht in eine andere Richtung gedeutet werden, aber insgesamt scheint mir die Textevidenz eindeutig: Die Erzählung setzt eine spezifisch christliche Enzyklopädie voraus. Das „enzyklopädische Gepäck“, das die Leser/innen mit auf ihre Reise nehmen, setzt sich demnach aus Elementen der christlichen wie der alttestamentlich-jüdischen Tradition zusammen. Alles, was die Leser/innen im Vorfeld über Gott oder Jesus gedacht haben mögen, wird sich vorrangig von hier herleiten. Der Titel 1,1 stellt nicht nur die Hauptfigur der Erzählung vor, sondern taucht diese von vornherein in die ehrwürdig-sakrale Sprache der Heiligen Schriften ein. Durch die starke Assoziationskraft eines Bibelarchaismus spricht 1,1 die Rezipierenden nicht nur auf kognitiver, sondern auch auf affektiver Ebene an. Die Geschichte Jesu ist eine heilige Erzählung. Die Titel „Sohn Davids“ und „Sohn Abrahams“ haben insofern den Charakter einer Leerstelle, weil erst die folgende Erzählung aus den möglichen Bedeutungsebenen einige in den Vordergrund stellen wird. Der Davidssohn-Titel, der bereits vorchristlich messianisch „besetzt“ ist, wird im Hinblick auf Jesu Rolle als Sündenerlöser (1,20f), „Immanuel“ (1,22f) und Hirt des Volkes (2,6) ausgeführt. Der Abrahamssohn-Titel bleibt hingegen merkwürdig blaß. Wenn er sich nicht ganz von der Genealogie her versteht637, dann erschließt er sich vielleicht über die Heiden-Thematik, die in einigen Frauen der Genealogie anklingt und mit dem Auftritt der Sterndeuter an Gestalt gewinnt. Eine christliche Hörerschaft konnte wohl die christlich-missionarische Deutung der Abrahamsverheißung kennen (Gal 3,1-14; Apg 3,25). Die folgende Genealogie läßt in kurzen Momentaufnahmen die Leser/innen eine Fassung der mit Abraham beginnenden Geschichte Israels erleben, die sie nicht nur durch die Höhen des davidischen Königtums, sondern

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Die Genealogie muß mit Abraham ansetzen, weil ihr an der Zusammenfassung der gesamten Geschichte Israels liegt und weil sich vor David bereits wichtige „Nebengleise“ legen lassen (etwa Tamar, Rahab, Rut).

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auch durch die Tiefen der babylonischen Gefangenschaft führt, die sie nicht nur mit der Treue heidnischer Frauen, sondern auch mit der Sünde herausragender Gestalten Israels konfrontiert. Aufregende Bilder, bewegende Geschichten, bekannte Figuren, Helden und Antihelden treten für wenige Sekunden in das Blickfeld der Rezipierenden638. Der rhetorische Zusammenbruch des Schemas in 1,16 könnte zur Orientierungslosigkeit der Leser/innen beitragen, da aber das Motiv der Jungfrauengeburt bekannt war, stellt 1,16 kein allzu großes Problem für die Konstituierung von Sinn dar. Für das Verständnis der Genealogie ist 1,17 zentral: Obwohl Gott als Handlungsträger in 1,2-16 nicht erscheint, wissen die Hörer/innen, daß ein Drei-mal-vierzehnSchema nicht das Ergebnis eines kuriosen Zufalls sein kann, sondern auf Gottes Geschichtslenkung zurückgeht. Durch alle geschichtlichen Höhe- und Tiefpunkte ist es Gott, der letztendlich die Geschichte Israels in geordneten Bahnen auf den Messias Jesus zubewegt. Als Menschen, die Jesus nahe stehen, schauen die Leser/innen daher nicht auf die Geschichte Israels wie teilnahmslose Zuschauer/innen, sondern betrachten sie als eigene Geschichte. Abraham, Isaak und Jakob sind auch ihre Väter – oder werden es im Verlauf der Lektüre. Was das in den Leser/inn