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Zitiervorschau

brand eins

Schwerpunkt Nähe und Distanz

brandeins.de brand eins 20. Jahrgang Heft 12 Dezember 2018 10 Euro C 50777

Editorial

Komm schon, Herr Müller

Fotografie: André Hemstedt & Tine Reimer

• Ich duze schnell, das war schon immer so. Ich komme aus Baden, und dort verschwimmen die Formen. Sie und Du werden oft gleichzeitig benutzt, ohne dass dadurch ein Abstand verringert oder Nähe vorgetäuscht wird. Es ist ein bisschen wie das Du in bestimmten Berufsgruppen oder unter Tage: Es signalisiert Zusammengehörigkeit, im Ganzen, nicht von Person zu Person. Inzwischen scheint Baden überall zu sein. Ob im Coffeeshop oder im Konzern: Wer sich jung und modern geben will, überwindet das Sie – und sagt damit nichts. Mit Nähe jedenfalls hat es nichts zu tun, wenn der Vorstand geduzt werden will oder Marketingbotschaften im Kumpelton überbracht werden. Im Gegenteil: Weil es einseitige Angebote sind, die man schwer ablehnen kann, erhöhen sie die Distanz (S. 48, 56). Wie aber lässt sich jene Nähe schaffen, die Zusammenarbeit erleichtert und ein Zusammenleben erst möglich macht? Vertrauen ist auch hier der Anfang von allem. Und die Bereitschaft, den anderen zu achten, nicht zuletzt in seinem Bedürfnis nach Distanz. Ein Ort, an dem das gelernt und beobachtet werden kann, sind die SOS-Kinderdörfer. Kinder mit traumatischen Erfahrungen, Eltern im Angestelltenverhältnis, die für sechs Kinder verantwortlich sind. Wie das funktionieren kann? „Die Kunst ist, da zu sein, empathisch zu sein, verlässlich im Kontakt zu bleiben, aber Ablehnung möglichst nicht persönlich zu nehmen“, sagt die Psychologin Kristin Teuber (S. 68). Das ist harte Arbeit, selbst wenn man eine richtige Familie ist. Die Brüder Johannes und Michael Siebers, die gemeinsam die Ferienhausvermittlung Holidu aufgebaut haben, justieren ihre Beziehung immer wieder neu, um den richtigen Abstand zu wahren. Und auch die vier Zünkeler-Geschwister halten zusammen wie Pech und Schwefel – auch weil sie sich bei aller Freundschaft nicht durch zu viel Nähe auf die Nerven gehen (S. 132, 112). Familie kann zu mehr Nähe verhelfen, aber sie ist kein Garant dafür. Wer wie unser Autor Andreas Molitor zufällig von den Verbrechen des Großvaters erfährt, muss mit den Taten des nahen Verwandten leben lernen. Und entscheiden, ob er durch ihre Veröffentlichung die Familie sprengt (S. 120). Hilfreicher als aufgezwungene Kumpelei oder klebrige Familienbilder ist das Bemühen, dem Verhältnis von Nähe und Distanz mehr Aufmerksamkeit zu schenken. Vergrößert die Distanzlosigkeit in sozialen Medien nicht in Wahrheit den Abstand? Sind Geschäfte unter Freunden ein genialer Marketingtrick oder eine Gefahr? Und warum stößt die Sharing Economy an ihre Grenzen, wenn der andere zu nahe ist (S. 96, 90, 64)? Bei der Suche nach dem richtigen Abstand hilft der Blick über die Grenzen. Oder ein Gespräch mit dem Migrationsforscher Aladin El-Mafaalani, der die allerorten aufbrechenden Konflikte als gutes Zeichen sieht: „Wir kommen uns näher, und gerade deswegen gibt es Zoff.“ Wer den anderen ernst nimmt, setzt sich mit ihm auseinander. Harmonie ist weder in der Gesellschaft noch in der Firma ein erstrebenswertes Ziel (S. 62, 82, 106, 130, 74). Badener können übrigens ganz wunderbar streiten, zum Beispiel wenn man sie Badenser nennt. –

Gabriele Fischer, Chefredakteurin, [email protected] Redaktion brand eins, Speersort 1, 20095 Hamburg Titelbild: Max Kersting 4

brandeins.de, facebook.com / brand.eins, twitter.com / brandeins brand eins 12/18

Inhalt Nähe und Distanz

47 Prolog 48 Distanzkontrolle Wo zu viel Nähe herrscht, kracht es bald Von Wolf Lotter

56 Duzt du schon? Firmen biedern sich gern bei uns an. Über die Nebenwirkungen berichtet Torben Müller

62 Man wird ja wohl fragen dürfen Wieso Privatsphäre in Israel wenig zählt, weiß unsere Korrespondentin Mareike Enghusen

64 Probleme der Sharing Economy und ihre Zukunftsaussichten bespricht ein Pionier der Branche mit Christoph Koch

68 Einfach da sein Das ist der Job eines Ersatzvaters in einem SOS-Kinderdorf. Begleitet hat ihn dabei Alexander Krex

74 Das neue Wir

Unfreundlich, aber nicht distanziert. Ein Erfahrungsbericht aus Russland von Stefan Scholl

84 Nah dran Der Demo-Reporter Martin Kaul geht dahin, wo es auch mal wehtut. Über seine Arbeit spricht er mit Peter Laudenbach

108 Lachen verbindet? Im Gegenteil, Komik sorgt für Abstand Von Peter Laudenbach

110 Warum sind Gründer oft miteinander befreundet? Antworten darauf gibt Stephan A. Jansen

112 Familienbande Vier Geschwister – privat und beruflich unzertrennlich. Wie das funktioniert, verraten sie Peter Laudenbach

90 Meine Lieben! Über lukrative Geschäfte mit Freunden und mit Geschmäckle schreibt Klaus Raab

96 Du bist liebenswert Die Freundschaft in digitalen Zeiten analysiert der Philosoph Björn Vedder im Gespräch mit Nils Wischmeyer

120 Er war es Unser Autor spürte der NaziVergangenheit seines Großvaters nach Von Andreas Molitor

130 Bleib mir von der Pelle! Wieso Amerikaner ihre Verwandten nur aus der Ferne mögen, weiß Steffan Heuer

100 Nähe und Distanz in Zahlen von Ingo Eggert

104 „Ohne Sympathie ist es schwierig“ 132 Starke Bindung Das sagt der Personalberater Heiner Thorborg über sein Verhältnis zu Klienten im Interview mit Thomas Ramge

Wo Bruderliebe dem Geschäft nutzt, erzählt Nils Wischmeyer

138 Zarte Gefühle für den Mars hegt JR Skok. Eine Liebesgeschichte von Steffan Heuer

106 Wo die Zulu-Frau lesbisch

Wie können Einheimische und Zuwanderer miteinander leben? Antworten von Mischa Täubner

sein darf Enge in Südafrika geht nicht mit Engstirnigkeit einher, erläutert Johannes Dieterich

Einstieg

Was Wirtschaft treibt

4 Editorial 10 Mikroökonomie: Ein Autowäscher in Albanien 12 Die Welt in Zahlen 14 Markenkolumne: Der Förmchen-König – Städter 16 Das geht: Aufstocker – Häuser auf Parkdecks 18 Ökonomie der Elemente: Rhenium 20 Wirtschaftsgeschichte: Die Computerpionierin 6

82 „Wir sind doch unter uns!“

24 Schaut auf diese Stadt! Ausgerechnet die einstige KohleMetropole Bottrop ist ein leuchtendes Beispiel in Sachen Klimaschutz Von Stefan Scheytt 32 Die Macht der Vision Die Güterproduktion wird immer billiger und macht ganz neue Geschäfte möglich. Wohin die Nullgrenzkosten-Ökonomie führen kann, analysiert Sarah Sommer

140 Mit Wau-Effekt Luxus für Haustiere: ein launiger Überblick von Franziska Jäger

Was Menschen bewegt 144 Rolle vorwärts Rexy Rolle führt ihre eigene Airline in der Karibik – und singt und tanzt für ihre Fans. Ihre Geschichte erzählt Michael Kneissler

a

Den Schwerpunkt gibt es als Hörversion unter b1.de /audioversion brand eins 12 /18

„Wir kennen jede Schwäche und jede Stärke des anderen.“ – Johannes Siebers, S. 132

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132 Ausstieg

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154 Was wäre, wenn … … der öffentliche Nahverkehr gratis wäre? Von Christoph Koch 157 Prototyp: Immer an der Wand lang Von Frank Dahlmann 159 Leichte Sprache: Und ich habe es trotzdem erzählt Die StGB-Paragrafen 186 und 187 übersetzt von Holger Fröhlich 160 Leserservice und Impressum 162 Letzte Seite – Gewinnspiel

Abbildungen: 140 Der Liebling Foto: Ren Netherland / Barcroft Media / Getty Images

84 Der Reporter Foto: Oliver Helbig

90 Der Verkäufer Collage: Mathieu Bourel

132 Der Gründer Foto: Daniel Delang

144 Die Überfliegerin Foto: Katharina Poblotzki

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Mikroökonomie

Ein Autowäscher in Albanien Text: Nikolai Antoniadis Fotografie: Nele Gülck

Verdienst, Grundkosten, Altersvorsorge Viljon Petritis Gehalt wird anteilig vom Umsatz der Firma berechnet. So kommt er pro Monat auf 220 bis 300 Euro, wenn er sieben Tage die Woche arbeitet. Darauf zahlt er etwa 40 Euro Steuern. Miete fällt nicht an, weil das Haus seiner Familie gehört, und auch keine Grundsteuer, weil Besitzverhältnisse seit Jahren nicht geklärt werden. Traurig ist Petriti darüber nicht, denn das würde ihn einmalig 3000 Euro kosten. Er zahlt für die staatliche Pflichtversicherung (Krankheit, Rente, Arbeitslosigkeit) fast 50 Euro im Monat. Wäre er arbeitslos, bekäme er 20 Euro monatlich. Was bedeutet Ihnen Arbeit? Arbeit hält den Menschen am Leben. Was ist das Wichtigste in Ihrem Leben? Die Familie.

Viljon Petriti, 37, arbeitet als Autowäscher in der 51 000-Einwohner-Stadt Korça im Südosten von Albanien. Eigentlich ist er Agrarwissenschaftler. Er lebt zusammen mit seinem Bruder, der in derselben Waschanlage arbeitet, seiner Frau, seiner Mutter, beide ohne Job, und seiner vierjährigen Tochter.

Was möchten Sie an Ihrem Leben verändern? Ich hätte gern einen Tag pro Woche frei, um mehr Zeit mit meiner Tochter zu verbringen. Aber Waschanlagen sind immer geöffnet, es gibt keine freien Sonntage. Wenn ich nicht komme, übernimmt ein anderer meine Arbeit. Deshalb sehe ich meine Tochter bloß abends eine Stunde. Nur wenn es regnet und weniger Autos kommen, habe ich mehr Zeit für sie. Welche sind Ihre größten Probleme, und wie gehen Sie damit um? Das politische System. Es lässt keinen ehrlichen Wettbewerb zu. Ich arbeite in einer Anlage, die offiziell angemeldet ist, und zahle Steuern. Die meisten anderen arbei-

ten ohne Papiere. Das ist möglich, weil sie jemanden kennen, der sie schützt. Arbeit ist hier außerdem auch oft abhängig von der Parteizugehörigkeit. Als eine neue Regierung kam, verlor meine Frau ihren Job als Lehrerin an jemanden, der das richtige Parteibuch hatte. Aber ich kann es nicht ändern. Man muss damit leben. Was würden Sie tun, wenn Sie ein Jahr lang kein Geld verdienen müssten? Ich würde trotzdem arbeiten. Aber vielleicht weniger als jetzt. Was erwarten Sie von der Zukunft, und was tun Sie dafür? Ich arbeite viel dafür, dass meine Tochter im Ausland studieren kann. Dann kann sie dort bleiben und in ihrem Fachgebiet arbeiten – statt wie ich fünf Jahre Agrarwissenschaft zu studieren und danach Autowäscher zu werden. Würden Sie Albanien verlassen, wenn Sie könnten? Sehen Sie sich um: Jeder will weg! Wenn ich meine Familie mitnehmen könnte, würde ich noch heute gehen. Aber wir sind noch nicht in der EU, wir können nirgendwo hin. –

Albanien

Aktuelle Durchschnittskosten

Einwohner . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2,9 Millionen Währung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Albanischer Lek (ALL) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (125 ALL = 1 Euro) BIP pro Kopf (2017) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3786 Euro Human Development Index (2017) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Platz 68 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (Deutschland Platz 5 von 189)

1 Liter Benzin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1,65 Euro 1 Gedeck im Café (Mokka und Raki) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 0,75 Euro 1 Packung Zigaretten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1,70 Euro 1 Brot . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 0,40 Euro 1 Kubikmeter Holz (für Heizung, Herd und Warmwasser) . . . . . . . . . . 40 Euro 1 Autowäsche (innen und außen) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2,20 Euro

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Grafik: Carte Blanche Design Studio

Die kleinste wirtschaftliche Einheit: der Mensch

L I M I T E D E DI T ION

T H E R I T UA L OF YA L DA PA R F U M Inspiriert durch das alte persische Yalda Fest haben wir mit den weltbesten Parfümeuren eine exklusive Kollektion luxuriöser Eaux de Parfum kreiert.

Das Limited Edition Eau de Parfum Poème d’Azar ist unsere neueste Kreation für Damen. Dieser Duft vereint die eleganten Pudertöne der Schwertlilie mit schwarzer Johannisbeere, süßem Granatapfel und warmer Tonkabohne. Lassen Sie sich mit dem femininen Duft ins mystische Persien entführen – wo immer Sie gerade sind. 50 ml - 39.00 € / Reisegröße 10 ml - 9.50 €

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RITUALS.COM

Die Welt in Zahlen Text: Franziska Jäger

Zahl der britischen Staatsbürger, die sich im Zeitraum von 2000 bis 2015 in Deutschland einbürgern ließen . . . . . . . 5092 Zahl der britischen Staatsbürger, die sich im Jahr 2017 in Deutschland einbürgern ließen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7493 Anteil des weltweiten Downstream-Datenvolumens, das für Videostreaming genutzt wird, in Prozent . . . . . . . . . . . . . . . . 58 Anteil von Netflix am gesamten Downstream-Datenvolumen weltweit, in Prozent . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15 Anteil der deutschen Bevölkerung, der der Meinung ist, dass das Internet und die sozialen Netzwerke einen erheblichen Einfluss auf die Wertvorstellungen der Gesellschaft haben, in Prozent . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 80 Anteil der deutschen Bevölkerung, der diesen Einfluss für negativ hält, in Prozent . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 58 Menge des beschlagnahmten Kokains in der Europäischen Union im Jahr 2016, in Kilogramm . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 70 900 Menge des beschlagnahmten Kokains in Belgien im Jahr 2016, in Kilogramm . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 30 000 Menge an Eiscreme, die 2016 in Italien produziert wurde, in Millionen Litern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Menge an Eiscreme, die 2016 in Deutschland produziert wurde, in Millionen Litern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Menge an Eiscreme, die 2017 in Italien produziert wurde, in Millionen Litern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Menge an Eiscreme, die 2017 in Deutschland produziert wurde, in Millionen Litern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

585 515 511 517

Zahl der Menschen im Jahr 2017, in Milliarden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7,5 Zahl der Mobilfunkanschlüsse im Jahr 2017 weltweit, in Milliarden . . . . 7,7 Anteil der Manager in der Ukraine, die zu unethischem Verhalten bereit sind, um die eigene Karriere zu beschleunigen oder sich einen anderen Vorteil zu verschaffen, in Prozent . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35 Anteil der Manager in Deutschland, die zu unethischem Verhalten bereit sind, um die eigene Karriere zu beschleunigen oder sich einen anderen Vorteil zu verschaffen, in Prozent . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23 Anteil der Manager in Dänemark, die zu unethischem Verhalten bereit sind, um die eigene Karriere zu beschleunigen oder sich einen anderen Vorteil zu verschaffen, in Prozent . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4 Zahl der gesetzlichen Feiertage in Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 Zahl der gesetzlichen Feiertage in Japan . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16 Zahl der gesetzlichen Feiertage in Kambodscha . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 28 Zahl der Dax-30-Unternehmen, die ein halbes Jahr nach Inkrafttreten der Datenschutz-Grundverordnung immer noch Nutzerdaten illegal weitergeben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12 Zahl der Dax-30-Unternehmen, die die Option bieten, die Datenweitergabe an Dritte zu unterbinden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1

Quellen: Statistisches Bundesamt; Sandvine, The Global Internet Phenomena Report 2018; Institut für Demoskopie Allensbach; Europäische Beobachtungsstelle für Drogen und Drogensucht; Eurostat; Deutsche Stiftung Weltbevölkerung, ITU; Ernst & Young; Deutscher Gewerkschaftsbund, Botschaft von Japan in Deutschland, Botschaft des Königreichs Kambodscha; Meedia, Usercentrics

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ZEIT FÜR GENUSS. SEIT 180 JAHREN. Geldermann steht seit 1838 für deutsch-französische Handwerkskunst und wahre Sektkultur. Unsere erlesenen Cuvées reifen mindestens ein Jahr in traditioneller Flaschengärung und erhalten so ihren charaktervollen Geschmack. Erfahren Sie mehr über wahren Sektgenuss auf www.geldermann.de

Was Marken nützt

Der FörmchenKönig Peter Städter ist Herrscher über ein Imperium rund ums Backen. Und ein sehr einfallsreicher Unternehmer.

Text: Jens Bergmann Illustration: Manu Burghart

Ursula und Walter Städter übernehmen 1973 das Geschäft ihrer Eltern, die als Markthändler für Haushaltswaren unterwegs sind. Das Unternehmen floriert, sodass bald ein Verkaufswagen angeschafft und später ein Laden im hessischen Grünberg eröffnet werden kann. Dort entdecken 14

• Heute geht’s in der Firma Städter in Allendorf an der Lumbda, einem Ort, der so ziemlich in der Mitte von Hessen liegt, um das Thema „Tüllen und Co“. Der Chef Peter Städter, 52, öffnet die Tür zum Schulungsraum, wo eine seiner Konditorinnen einer Gruppe Frauen zeigt, wie sich mit dem richtigen Equipment Torten verzieren und etwa aus Buttercreme und Lebensmittelfarbe Rosenblüten zaubern lassen – viel zu schade zum Vernaschen. Mit solchen Kursen fürs allgemeine Publikum und für Fachhändler macht das Unternehmen seit je Werbung für seine Produkte und ist nebenbei nah am Puls von Backfans. Für sie wird ständig Neues entwickelt: Der telefonbuchdicke Städter-Hauptkatalog enthält rund 3000 Artikel. Darunter sind Back- und Ausstechformen mit allen nur denkbaren Motiven – aktueller Bestseller ist das Einhorn –, Zutaten zur Pralinenproduktion und auch ein AirbrushKompressor, mit dem sich Kuchen stylen lassen wie früher nur Sportwagen. Für all das ist Peter Städter verantwortlich, der eigentlich von Beruf Elektroingenieur ist, sich Anfang der Neunzigerjahre aber von den Eltern überreden ließ, ins Familienunternehmen einzutreten. Ursula und Walter Städter führten damals ein Handelsvertreter Ursula Städters selbst entworfene Ausstanzformen, die auf diesem Weg immer größeren Absatz finden. 1983 gründen die Städters ihre Backschule, 1992 tritt Peter Städter in die Firma ein, kümmert sich um Technik, Logistik und Vertrieb. 1998 fertigt Städter den ersten Plätzchen-Ausstecher

Haushaltswarengeschäft und boten ihre Produkte zudem auf Verbrauchermessen feil, wo besonders Neuheiten gefragt waren. Das brachte die Mutter auf die Idee, die damals üblichen Ausstechformen für Plätzchen (Herz, Stern, Tanne) um neue Motive wie Teddybären, Engel oder Blumen zu bereichern, die nach ihren Entwürfen von einem metallverarbeitenden Betrieb hergestellt wurden. Dieses Geschäft lief so gut an, dass die Städters sich schließlich darauf konzentrierten. Der Einzelhändler wurde zum Produzenten. Die Firma lässt heute eigene Werkzeuge für ihre Produkte entwickeln, die fast alle in Deutschland gefertigt werden, verfügt über eine Grafik-Abteilung mit Fotostudio und gestaltet auch die Verpackungen selbst. Die Artikel werden in mehr als 40 Ländern verkauft, Hauptabnehmer sind Fachhändler, denn, so Peter Städter: „Unsere Produkte sind erklärungsbedürftig.“ Gern gesehene Kunden sind zudem Unternehmen, die zu Werbezwecken Plätzchenformen in Gestalt ihres Firmenlogos in Allendorf ordern. Und auch beim Städtemarketing sind die Hessen aktiv: Mithilfe der entsprechenden Förmchen kann man sich zum Beispiel den Mainzer Dom, das Brandenburger Tor oder die Hamburger Elbphilharmonie backen. Städter zeigt exemplarisch, wie sich eine Nische opulent füllen und ein sehr traditionelles Hobby individualisieren lässt. Der Unternehmer mit dem Gespür für Trends hat in all der Zeit allerdings eines nicht gelernt: selbst zu backen. „Aber umso lieber probiere ich das, was bei uns täglich produziert wird.“ –

aus Edelstahl – das Material ist hygienischer und robuster als das bis dahin übliche Weißblech. 2003 wird Peter Städter alleiniger Geschäftsführer, im Jahr 2008 zieht die Firma nach Allendorf in einen modernen Betrieb um. Der persönliche Ehrgeiz des Unternehmers ist es, jedes Jahr aufs

Neue ein besonderes FörmchenMotiv zu etablieren. 2018 sei das wieder mal gelungen: „Das war ganz klar das Jahr des Lamas.“ Städter GmbH Mitarbeiter: etwa 65; Umsatz 2017: 12 Millionen Euro; Gewinn: k. A. brand eins 12 /18

for change

We are all in for change. Are you too? The world is changing. The question is, what will be our contribution to the outcome? At Daimler, interdisciplinary teams are developing the mobility of tomorrow. You are very welcome to join them. Together, we will create new connected ways to move around our globe. Think, try, and thrive with us. daimler.com/career

Das geht

Aufstocker Lasst uns Häuser auf Parkdecks bauen, sagen zwei Gründer. Text: Alexander Krex Fotografie: Jens Passoth

• Björn Hiss und Nikolai Jäger sind keine Typen, die immer einen draufsetzen müssen. Sie tun es nur dort, wo es sich anbietet. Auf dem Parkdeck eines knapp 20 Meter hohen Einkaufscenters im Berliner Stadtteil Friedrichshain zum Beispiel, seit Jahren ungenutzt. Auf einer Fläche von fast 8000 Quadratmetern lassen sie hier gerade ein Hotel zusammensetzen, Zimmer für Zimmer. Die Module sind aus Holz, 6,50 Meter lang, drei Meter breit, drei Meter hoch. Gefertigt wurden sie in einer Schreinerei in Bayern, insgesamt 152 Stück, jeweils zwei passen auf einen Lkw. In Berlin setzt sie ein Kran an die richtige Position auf dem Dach. Das Hotel auf dem Dach ist das erste Projekt von Hiss und Jäger. Im Jahr 2014 haben sie ihre Firma MQ Real Estate gegründet, mit der sie Gebäude über sich hinauswachsen lassen. Im Fachjargon heißt das: Nachverdichtung auf Bestandsimmobilien im urbanen Raum. „Wir haben bewiesen, dass man so etwas machen kann“, sagt Hiss wenige Wochen vor der Eröffnung. In Zeiten steigender Immobilien16

preise und zunehmenden Zuzugs in die Städte ist Nachverdichtung ein Stichwort, das sie Geldgebern nicht lange erklären mussten. Etwa 15 Millionen Euro stecken in dem Hotel, das Eigenkapital stammt von einem kleinen Kreis aus Investoren, den Rest gab die Bank dazu. Die Module bestehen aus Fichte, ein schnell wachsendes und weiches Holz, das durch eine kreuzweise Verleimung in drei Schichten stabilisiert wird. Eine Wand ist acht Zentimeter dick. „Der Schreiner hat uns gesagt, das Holz für ein Modul wachse in kürzester Zeit allein in bayerischen Wäldern nach“, sagt Björn Hiss. Ihm ist es wichtig, dass beim Aufstocken keine zusätzlichen Flächen versiegelt werden. Der 40-Jährige hat einen Master in nachhaltiger Immobilien-Projektentwicklung und kennt sich mit Ökobilanzen aus. Nikolai Jäger, 36, ist Betriebswirt und war zuvor bei einer Unternehmensberatung. Vor vier Jahren aßen die beiden auf der obersten Etage des KaDeWe zu Mittag. Dabei blickten sie auf das Dach des Parkhauses gegenüber, auf dem kein einziges Auto stand. Was für eine Platzverschwendung, dachten sie. Dann suchten sie auf Satellitenbildern im Netz nach weiteren leeren Parkhausdächern. Aus diesen anfänglichen Recherchen, die sie nebenbei machten, wurde das Geschäftsmodell ihrer Firma, die inzwischen sechs feste und fünf freie Mitarbeiter beschäftigt. Die vergangenen Monate haben Björn Hiss und Nikolai Jäger überwiegend in Hotelzimmer 152 verbracht – das einzige frei stehende Modul, das im Innenhof des Hotels seinen Platz hat. Noch ist es das Baubüro, in dem ihr Schreibtisch steht. Auf das Doppelbett im Zimmer werden sich bald die ersten Gäste fallen lassen, die kupferfarbenen Leselampen am Kopfende funktionieren schon. Denn die 16 und 18 Quadratmeter großen Zimmer sind so gut wie fertig, wenn sie in Bayern auf den Lkw geladen werden. Tresor, Waschbecken, Spiegel, Licht – nur Bett und Fernseher

fehlen noch. Den Betrieb des 3-SterneHauses übernimmt die Hotelkette Novum Hospitality mit ihrer Marke Niu, ebenso die Inneneinrichtung, die junge Städtereisende ansprechen soll. Graffiti-Tapeten im Innern und geparkte Trabis im Lichthof signalisieren, dass man in Ostberlin ist. Dass ihr erstes Projekt ein Hotel geworden ist, liegt am Baurecht, das an dieser Stelle nur Gewerbe zuließ. „Wir hätten gern auch Wohnungen gebaut“, sagt Hiss. Denn die Module eigneten sich auch als Mikro-Appartements, etwa für Studenten. Außerdem hätten sie gern mehrere Stockwerke gebaut, bis zu vier Module können aufeinandergestapelt werden. Allerdings wäre das Gebäude dann so hoch geworden, dass es den Brandschutz im gesamten Haus verkompliziert hätte. Jäger und Hiss planen schon die nächsten Projekte, etwa die Aufstockung eines ebenerdigen Parkplatzes. Bis 2021 wollen sie 1000 Module verbaut haben. Die ersten 152 stehen schon an ihrem Platz, die letzten von ihnen werden gerade gedämmt und verputzt. Ihr erstes Vorhaben war für die Gründer eine logistische Herausforderung. Das aufgestockte Parkhaus befindet sich nämlich auf einem Shoppingcenter, dessen Betrieb durch die Bauarbeiten nicht gestört werden durfte. Außerdem ist das Grundstück von viel befahrenen Straßen und einer S-Bahnlinie umgeben. Für einen Kran fand sich ringsum kein Platz, es musste ein teurer Spezialkran aufs Dach gestellt werden. Dennoch gelang der Bau in neun Monaten. „Ein konventioneller Bau braucht etwa doppelt so lange“, sagt Hiss. Die Lobby ist der einzige Raum, der nicht fertig angeliefert werden konnte, weil er zu groß war. Durch die bodentiefen Fenster sieht man im Westen die rot blinkende Spitze des Fernsehturms, auf der Ostseite ist man auf Augenhöhe mit den oberen Geschossen sanierter DDRPlattenbauten. Weitblick in alle Himmelsrichtungen. – brand eins 12/18

Nachverdichtung in Rekordgeschwindigkeit

Das Modul auf dem Innenhof wird bald zum Hotelzimmer 152. Noch ist es das Baubüro von Björn Hiss (links) und Nikolai Jäger

Die Ökonomie der Elemente

Was im Periodensystem an Wirtschaft steckt

Rhenium ( Re) 75 . . . . . . . . . . Ordnungszahl im Periodensystem Re . . . . . . . . . . Elementsymbol; fest (silberweiß) 186,207 . . . Relative Atommasse

Text: Dirk Böttcher

Nach seiner Entdeckung wollte zunächst niemand etwas mit Rhenium anfangen, weil Kosten und Aufwand, es zu gewinnen, so hoch waren. Deutschen Wissenschaftlern gelang das durch einen gigantischen Extraktionsvorgang, bei dem sie aus 660 Kilogramm Molybdän ein knappes Gramm Rhenium gewannen. Mittlerweile ist das Element wegen seiner ausgezeichneten Festigkeit und Elastizität auch bei größter Hitze ein begehrter Zusatz für Hochtemperaturlegierungen. Flugzeugturbinen etwa, die drei bis sechs Prozent Rhenium enthalten, besitzen eine größere Schubkraft und Effizienz; auch in Atomkraftwerken werden diese Legierungen verwendet. Andere Einsatzfelder sind Blitzlichter, hochauflösende Röntgengeräte in der Mammografie und ComputerTomografie, Vakuumröhren und Sensoren für Navigationssysteme in der Luft- und Raumfahrt. Auch in der Herstellung von Tablets, Smartphones, Solarpanels und Brennstoffzellen wird es verwendet. Rheniumisotope kommen in der Strahlentherapie bei einigen Krebserkrankungen zum Einsatz.

Wo findet man es? Die besondere Eigenschaft Das silberweiße Metall zählt zu den seltensten Elementen überhaupt: In der Erdkruste entfallen auf eine Tonne Material nur schätzungsweise 0,0007 Gramm Rhenium. Das Element hat außergewöhnliche Eigenschaften: Es besitzt eine sehr hohe Dichte, die dritthöchste Elastizität und schmilzt erst bei einer Temperatur von 3180 Grad Celsius. Der Schmelzpunkt wird nur noch von Wolfram und Kohlenstoff übertroffen. Das Metall wurde im Jahr 1925 als letztes natürlich vorkommendes Element entdeckt.

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Rhenium fällt als Nebenprodukt in der Kupfer- oder Molybdängewinnung ab. Die größten Vorkommen rheniumhaltiger Erze lagern in den USA, in Chile, Kanada, Peru und Russland.

Wer verkauft es? Zu den größten Anbietern zählen neben dem chilenischen Weltmarktführer Molymet unter anderem China Rhenium aus der Volksrepublik, American Elements aus den USA, das kasachische Staatsunternehmen Redmet, KGHM aus Polen, Uralelektromed aus Russland sowie Plansee

aus Österreich. Ein wichtiger Recycler ist der deutsche Konzern Heraeus.

Der Weltmarkt … … beträgt nach Firmenschätzungen etwa 66 Tonnen. Ende der Neunzigerjahre lag der weltweite Verbrauch bei circa 35 Tonnen. Der mit Abstand größte Anbieter ist Chile, danach folgen die USA, Polen, Usbekistan, Kasachstan, Armenien und China. Deutschland ist führend im Recycling.

Der Preis … … verfünffachte sich zwischen 2003 und 2008 auf mehr als 10 000 US-Dollar pro Kilogramm, bis Mitte 2017 fiel er auf weniger als 1000 US-Dollar. Das lag am Ausbau der Förderung und effektiven Wiederverwertungskreisläufen. 2018 lag die Notierung stabil bei 1290 US-Dollar pro Kilogramm. An der Börse wird Rhenium nicht gehandelt. Verkauft wird es etwa in Form von Draht, Pellets, Folien, Barren, Puder – und in Verbindungen als Flüssigkeit.

Wie geht es weiter? Durch das Recycling von Flugzeugturbinen könnte der Bedarf am Primärrohstoff um 50 Prozent sinken. Trotzdem liegt der Rheniumbedarf aufgrund vieler neuer Techniken über dem verfügbaren Angebot: 2035 werden nach Schätzungen 120 Tonnen benötigt, mehr als das Doppelte der derzeitigen Produktion. Verantwortlich dafür sind vor allem Flugzeughersteller, die Rüstungsindustrie und die Medizintechnik. Dort kann Rhenium das teurere Titan in Implantaten ersetzen. Interessant könnten zudem zwei Verbindungen werden: Rheniumdiborid lässt sich recht preiswert herstellen und ist härter als ein Diamant; mit Rhenium-Silikon-Molekülen können Nanostrukturen für Quanten-Computer aufgebaut werden. – brand eins 12/18

Foto: © Science Photo Library

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Wirtschaftsgeschichte

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Grace Hopper, die das Monstrum namens Mark I zähmte

Foto: © Interfoto / Granger, NYC

„Wir haben nicht einmal begonnen zu verstehen, wie viel wir mit diesen Computern zu tun haben werden“ Grace Hopper programmierte den ersten Großrechner der USA – und sah die Digitalisierung voraus.

Text: Susanne Schäfer 20

brand eins 12/18

• Die beste Zeit, sich einem Ungeheuer zu nähern, war für Grace Hopper die Nacht. Statt zu schlafen, verbrachte sie viele Stunden im Keller des Instituts, um diese große, laute Rechenmaschine zu verstehen. Auf dem Harvard-Campus in Cambridge, Massachusetts, stand der Großrechner Mark I, den IBM gebaut hatte. Das Ungetüm war 15 Meter lang und 2,50 Meter hoch. Als die 37-jährige Mathematikerin Grace Hopper den Keller im Juli 1944 zum ersten Mal betrat, hatte das Gerät noch keine Abdeckung, sodass sie all seine Einzelteile in Bewegung sehen konnte. „Da stand diese wuchtige Riesenmaschine und machte eine Menge Lärm“, erzählte sie später. Ihr neuer Chef war Howard Aiken, der als notorisch schlecht gelaunt beschrieben wird und seinen Mitarbeitern regelrecht Angst einjagte. Dass ihm für eine so wichtige Aufgabe eine Frau unterstellt wurde, war nicht in seinem Sinn. Missmutig zeigte er Hopper das Gerät, danach war sie erst einmal auf sich allein gestellt. „Nun ja, sie gaben mir ein Codebuch und sagten mir, ich solle loslegen.“ Es handelte sich um ein Notizbuch mit groben Anleitungen für die Maschine. Diese hatten ihre Kollegen bei ersten Testläufen geschrieben. Das war der holprige Beginn einer großen Karriere: Grace Hopper wurde Computerpionierin, Erfinderin, Visionärin. Sie begann mit simplen Programmiertechniken für die brand eins 12/18

ersten Rechenmaschinen und entwickelte diese im Laufe ihres Lebens weiter. An der Yale University hatte sie Mathematik studiert und das Fach dann selbst am College unterrichtet, was sie jedoch nicht erfüllte. Nachdem der Angriff auf Pearl Harbor sie schwer erschüttert hatte, meldete sie sich für den Militärdienst und begann 1943 bei der Marine. Der Rechner Mark I wurde von Angehörigen dieses Truppenteils an der Harvard University betrieben. Bis 1949 arbeitete die Mathematikerin dort im Rang eines Leutnants, danach in privaten Unternehmen. Ihre Verwunderung über ihren einzigartigen Berufsweg hört man noch in späteren Interviews: „Ich wurde von der US Navy auf den ersten Computer der Vereinigten Staaten abkommandiert.“ Von ihrem jungen Kollegen Richard Bloch lernte sie nun alles über das Programmieren. Das Problem war nur, dass dieser selbst erst drei Monate zuvor damit angefangen hatte. „Und so wurde die Mark I – die komplexeste, einzigartigste Rechenmaschine, die jemals gebaut worden war – in die Hände einer unerfahrenen MarineOffizierin und ihres 23-jährigen Sidekicks gelegt“, schreibt Kurt W. Beyer in seiner Biografie „Grace Hopper and the Invention of the Information Age“. Um die Maschine zu verstehen, beschäftigte sich Hopper nun nächtelang mit den Schaltplänen, der Hardware. Zwischen ihrem Chef Howard

Aiken und ihr entstand nach und nach eine enge Partnerschaft. Da Hopper seit ihrer Zeit als Dozentin gut erklären konnte, ließ Aiken sie ein Buch schreiben, das erste Programmierhandbuch überhaupt. Jeden Abend las Hopper ihm vor, was sie tagsüber geschrieben hatte, und hörte sich seine Kommentare dazu an. Die Programmierer schrieben damals die Codes per Hand. „Dick Bloch war der Einzige, den ich je kennengelernt habe, der ein Programm in Tinte auf Anhieb korrekt schreiben konnte“, erzählte Hopper einmal. Anschließend wurden die Befehle in Lochkarten gestanzt, damit die Maschine sie lesen konnte. Hoppers Geschichte illustriert auch die Rolle des Militärs für die Computerisierung. Im Zweiten Weltkrieg trieb die Armee die Entwicklung von Maschinen voran, die komplexe Rechenaufgaben mit hoher Geschwindigkeit lösen konnten. Während die Alliierten in der Normandie kämpften, berechneten die Mathematiker ballistisch die Flugbahnen von Geschossen. Auf schreckliche Weise berühmt wurden die Berechnungen an der Mark I zu der Atombombe, die 1945 Nagasaki traf. Im Jahr 1980 sprach Grace Hopper in einem Interview über ihre Arbeit während des Krieges: Viele Aufgaben hätten sie und ihre Kollegen einfach gelöst, ohne zu wissen, wozu die Ergebnisse verwendet würden. „Uns wurde nur gesagt, wir sollten Tabellen

mit bestimmten Funktionen anfertigen. Praktisch alles hatte mit dem Krieg zu tun.“ Von 1949 an arbeitete Hopper für private Firmen. So brachte sie nicht nur für das Militär digitale Entwicklungen voran, sondern auch für die Gesellschaft. Sie entwickelte einen Compiler, der den Quellcode einer Programmiersprache in Maschinensprache übersetzt. Damit vereinfachte sie die Arbeit enorm. Auch den Begriff „bug“ für Fehler machte sie bekannt, wie Walter Isaacson schreibt in seinem Buch „The Innovators“: Eines Abends fiel das Nachfolgemodell Mark II aus. Das Team suchte den Fehler und fand einen Falter, der in einem Relais zerdrückt worden war. Die Programmierer klebten ihn in ihr Protokollbuch mit dem Kommentar: „Ersten Schädling (englisch: bug) leibhaftig gesehen.“ Seitdem heißt das Beheben von Störungen „debugging“. Grace Hopper blieb zeit ihres Lebens fasziniert von der Technik. In dem Interview im Jahr 1980 – sie war damals 74 Jahre alt – sagt sie, sie habe erkannt, dass „die Menge an Information wachsen“ werde. „Ich glaube, wir haben nicht einmal begonnen zu verstehen, wie viel wir mit diesen Computern zu tun haben werden.“ Für die Geräte werde es immer spezifischere Funktionen geben. Und weil man die Software darauf abstimmen könne, werde die Reaktionszeit kürzer: „Es wird immer schneller gehen.“ – 21

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Was Wirtschaft treibt

Schaut auf diese Stadt!

Noch ist der Himmel über Bottrop nicht ganz blau: Abgase der Kokerei

Mag Baustellen: Bernd Tischler im Rathaus

In Bottrop schließt Deutschlands letzte Steinkohlenzeche. Doch die Trauer hält sich dort in Grenzen, denn die Stadt ist aufgebrochen in eine grünere Zukunft.

Text: Stefan Scheytt Fotografie: Julia Sellmann

• „Glück auf!“, sagt der Oberbürgermeister zur Begrüßung, was in einer Bergbaustadt wie Bottrop im Ruhrgebiet nichts Ungewöhnliches ist. Doch in diesen Tagen hat der Bergmannsgruß einen besonderen Klang: Denn im Dezember schließt in Bottrop Deutschlands letzte Steinkohlenzeche Prosper-Haniel. Und weil damit eine Ära zu Ende geht, die mehr als 200 Jahre währte, kommt sogar der Bundespräsident zur Feier, die eigentlich eine brand eins 12/18

Art Staatsbegräbnis ist. Es ist dann Schicht im Schacht, endgültig aus mit der Steinkohle, aber der Oberbürgermeister Bernd Tischler drückt einem fest die Hand und sagt: „Glück auf!“ Seine gute Laune hat ihren Grund. Die Stadt, der er seit 2009 vorsteht, gilt als leuchtendes Beispiel in Sachen Klimaschutz – ausgerechnet die Zechenstadt im Kohleland Nordrhein-Westfalen. Tischler bekommt Einladungen nach China, Russland und Japan; gerade erst waren der Oberbürgermeister von Rotterdam sowie Stadtplaner, Politiker und Unternehmer aus Minnesota zu Gast. Sie alle wollen erfahren, wie es Bottrop gelingt, durch die bereits realisierten und angestoßenen Modernisierungsmaßnahmen im Jahr 2020 38 Prozent weniger Kohlendioxid (CO2) zu emittieren – jährlich 100 000 Tonnen weniger – und warum die Stadt gute Aussichten hat, durch weitere Projekte auch das selbstgesteckte Reduktionsziel von 50 Prozent weniger Treibhausgasen zu erreichen. Gesamtdeutschland hingegen wird bis 2020 wohl nur bei 32 Prozent Einsparungen landen, wie die Bundesumweltministerin erst vor wenigen Monaten einräumen musste – im Vergleich zu 1990. Wie machen die Bottroper das? Kann dort, wo gerade eine Ära zu Ende geht, eine neue beginnen? In Bottrop dürfte es nur noch wenige Menschen geben, die noch nichts davon gehört oder darüber gelesen haben, dass ihre Stadt ein großes Klimalabor ist. Seit 2010 informiert die private Projektgesellschaft Innovation City Management (ICM) im Auftrag der Kommune die Bevölkerung auf vielen Kanälen. „Wir machen Klimaschutz von unten, und Beratung ist dafür die Basis“, sagt der ICM-Geschäftsführer Burkhard Drescher. In einem zentral zwischen Bahnhof und Einkaufszentrum gelegenen Büro geben Energieexperten den Bürgern kostenlos Tipps. Zielgruppe im Pilotgebiet, in dem 70 000 der 117 000 Bottroper wohnen, sind vor allem die Besitzer kleiner Einfamilienhäuser, von denen es in den ehemaligen Zechensiedlungen Tausende gibt. Zeitweise wurde auch ein zum Büro umgebauter Container an wechselnden Plätzen in der Stadt aufgestellt. Dorthin tragen interessierte Bürger ihre Strom- und Heizkostenabrechnungen und gehen mit Vorschlägen für die Modernisierung ihrer Gebäude und Informationen über mögliche Fördermittel wieder nach Hause. „Am Anfang war das Interesse verhalten, inzwischen müssen wir Wartelisten führen“, sagt Rüdiger Schumann, Sprecher der ICM. Auch Info-Abende zu wechselnden Themen wie Heizungsanlagen, Solarmodule oder LED-Leuchten stoßen auf großes Interesse. Seit vergangenem Jahr kommen zudem Quartiersmanager und -architekten auf Wunsch zur Beratung ins Haus. Im Sommer vermeldete die ICM, dass von den gut 10 000 Eigenheimbesitzern im Bottroper Pilotgebiet mehr als 3000 das Beratungsangebot angenommen haben, von denen wiederum mehr als die Hälfte mindestens eine energetische Modernisierungsmaßnahme auch tatsächlich umsetzten. „Es ist kein > 25

Bottroper Impressionen und das Modell eines energiesparenden Hauses

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Zauberwerk, was wir hier machen“, sagt der ICM-Chef Drescher, „wir durchpflügen die Stadt mit allen Mitteln – das ist unser Rezept für die Aktivierung der Bevölkerung.“ An der Osterfelderstraße, die nach Südwesten aus der Innenstadt hinausführt, steht ein Einfamilienhaus, das aussieht wie viele hier: dunkelroter Klinker, der zur Straße hin weiß verputzt ist, ein kleiner Garten hinterm Haus; gebaut haben es in den Fünfzigerjahren ein Bergmann und seine Frau, die beiden leben mittlerweile in einem Pflegeheim, das Haus gehört dem Enkel Jan Lachnicht. Der Berufsschullehrer und seine Frau Nina, eine Erzieherin, wollen es jetzt von Grund auf modernisieren und dafür mindestens 100 000 Euro in die Hand nehmen. Also riefen sie bei der ICM an und gingen kurz darauf mit einem Architekten der Firma zwei Stunden lang durchs leere Haus, in das sie 2019 mit ihren zwei Kindern einziehen wollen. Dabei erfuhren sie, dass ihr Haus ans Fernwärmenetz angeschlossen werden kann, was oft eine bessere Klimabilanz bedeutet. Der Fernwärmeanschluss ist zwar nicht billiger als eine neue Gasheizung, das Ehepaar hat sich dennoch dafür entschieden, weil dann der Kamin abgerissen werden kann und so Platz entsteht für den Dachausbau. Weil ein Fernwärmeanschluss möglich ist, gibt es keinen Zuschuss für einen neuen Heizkessel (sonst 14 Prozent oder maximal 890 Euro), wohl aber für andere Maßnahmen, die die CO2-Bilanz des Hauses verbessern. Wenn die Anträge der Lachnichts bewilligt werden, können sie im Bottroper Rathaus mit Zuschüssen für die Dachdämmung von 25 Prozent der Kosten (bis maximal 4210 Euro) rechnen, für die Fenster mit zehn Prozent oder höchstens 830 Euro. Zehn Prozent Zuschuss bekam auch Klaus Wieczorek, der nur wenige Kilometer entfernt lebt. In seinem Zweifamilienhaus, Baujahr 1978, ersetzte der ehemalige Feuerwehrmann nach dem Hausbesuch zweier Energieberater ein großes Glasbauelement im Treppenhaus, das in den Achtzigerjahren modern war, durch ein Thermopenfenster mit drei Glasscheiben. „Im Winter war es im Treppenhaus ziemlich kalt, im Sommer extrem warm“, berichtet Wieczorek. Auch ohne den Zuschuss von gut 500 Euro hätte er das neue Fenster wohl eingebaut, „aber ein paar Hundert Euro sind doch eine schöne Hilfe“. Ob der Umbau zu niedrigeren Heizkosten führe, könne er noch nicht sagen, aber gelohnt habe er sich auf jeden Fall: „In diesem heißen Sommer war es im Treppenhaus endlich auszuhalten.“ Er denke nun darüber nach, auch die alten wuchtigen Heizkörper durch neue energiesparende auszutauschen und weitere Fenster zu ersetzen. Grundlage für die Zuschüsse ist eine in Deutschland wohl einmalige Förderrichtlinie, die die Stadt und die ICM ersonnen haben. Dafür fließen Mittel aus der Städtebauförderung an Hausbesitzer in Bottrop. „Und zwar sehr unbürokratisch“, betont der ICM-Sprecher Schumann. „Bei uns gehen die Bürger nach der Energieberatung mit ihren Umbauplänen ins Rathaus, bringen drei Angebote für die Handwerkerleistung oder das zu verwenbrand eins 12/18

dende Baumaterial mit und bekommen den Zuschuss sofort ausgezahlt. Ein paar Wochen später kontrolliert jemand, ob die neuen Fenster oder das Dämmmaterial wirklich verbaut wurden.“ Seit 2014 haben rund 500 Bottroper Hausbesitzer fast 1,4 Millionen Euro an Zuschüssen erhalten – und investierten selbst noch einmal fast den achtfachen Betrag. In einer Zwischenbilanz in 2015 kamen Wissenschaftler seit 2010 auf Gesamtinvestitionen privater und öffentlicher Gebäudeeigentümer von 183 Millionen Euro, bis Ende 2020 gelten weitere Investitionen von 108 Millionen Euro als gesichert. „Und schätzungsweise 110 Millionen Euro sind über Aufträge an Bottroper Handwerker, Ingenieurbüros und andere Firmen geflossen oder werden bis 2020 noch fließen“, sagt der ICM-Chef Drescher. „Das zeigt: Klimaschutz kann der Katalysator für wirtschaftliches Wachstum sein.“ In der Zwischenbilanz von 2015 errechneten Wissenschaftler einen direkten und indirekten Beschäftigungseffekt für Bottrop von zusätzlich 1200 Erwerbstätigenjahren.

Das schlagende Argument: Umbau lohnt sich Die seit Jahren laufende Werbeoffensive und die einfache Förderpraxis haben zur Folge, dass die jährliche energetische Modernisierungsrate in Bottrop seit sechs Jahren bei etwa drei Prozent liegt – „die höchste Rate bundesweit“ (Drescher) – während der bundesdeutsche Durchschnitt bei knapp unter einem Prozent dümpelt. „In Deutschland sind drei Viertel aller Wohngebäude älter als 30 Jahre“, sagt Drescher, „deshalb darf man nicht darauf warten, dass Neubauten energieeffizient errichtet werden. Wir müssen noch viel stärker ran an die bestehenden Gebäude.“ Was man laut Drescher aus Bottrop lernen kann: „Wenn man die Energiewende in ganz Deutschland so ,von unten‘ organisieren würde wie bei uns, könnte man die Klimaziele erreichen. Wir zeigen den Leuten – auch denen mit kleinem Geldbeutel – dass es sich für sie rechnet, Energie zu sparen.“ Alle 14 Tage treffen sich in der ICM-Zentrale beim Bahnhof Bottrops Oberbürgermeister Tischler und ICM-Chef Drescher, außerdem Amtsleiter, Dezernenten und der Wirtschaftsförderer aus dem Rathaus sowie je nach Anlass verschiedene Projektmanager, Wissenschaftler, Vertreter von Wohnbaugesellschaften, Energieversorgern, Handwerkern, Gewerbetreibenden und der Zivilgesellschaft. Gemeinsam arbeiten sie die Liste der bis heute rund 300 Einzelprojekte ab, mit denen die Stadt ihren Umbau vorantreibt: Mal geht es um den Anschluss einer Straße an die Fernwärme, mal um Dienstfahrräder für städtische Bedienstete, mal um den Umbau einer Tankstelle mit Fotovoltaik, Luftwärmepumpe und LED-Leuchten zur „Mustertankstelle“, mal um die Rabattaktion eines Baumarktes auf Energiespar-Artikel, mal um Stromspeicher oder um eine frei zugängliche, web-basierte Kartenanwendung, mit der Hausbesitzer adressgenau für ihr Gebäude Fördermittel abrufen können. > 27

wortlich, es gibt eine permanente Abstimmung und teilweise sogar einen Personalaustausch zwischen Rathaus und ICM. Das ist einzigartig.“ Verantwortlich dafür sind vor allem der ICM-Chef Drescher – der als ehemaliger Oberbürgermeister von Oberhausen und als Chef großer Immobilien- und Wohnungsbauunternehmen im Ruhrgebiet bestens vernetzt ist – sowie Bottrops Oberbürgermeister Tischler. Er hat Städtebau studiert und seine Diplomarbeit über die „Ökologische Planung auf kommunaler Ebene“ geschrieben. Als Sozialdemokrat lägen ihm sowohl das Klima als auch die Wirtschaft und die Arbeitsplätze am Herzen. „Mich hat schon früh die Frage umgetrieben, was passiert, wenn die Monostruktur Kohle nicht mehr da ist.“ Das Wichtigste sei, „dass wir es geschafft haben, den Menschen die Angst davor zu nehmen, dass ohne Steinkohle die Lichter ausgehen. Wir haben uns auf etwas Neues eingelassen – das ist die Bottroper Blaupause.“

Hier machen Architekten Hausbesuche

Ist gut verdrahtet: Burkhard Drescher, Chef der ICM

Im Mittelpunkt steht ein sogenanntes Public-Private-Partnership: An der ICM sind die Stadt, ein Brennstoff-, ein Immobilienund ein Beratungsunternehmen mit jeweils neun beziehungsweise zehn Prozent beteiligt. 61 Prozent hält der Initiativkreis Ruhr, ein Wirtschaftsbündnis aus rund 70 Unternehmen und Institutionen in der Region, darunter Schwergewichte wie RWE, EON oder der Steinkohleförderer RAG. „Ja, wir sind industriegetragen, aber bestimmt keine Auftragsagentur unserer Mitglieder“, sagt Drescher. „Die Motivation der Unternehmen, bei uns mitzumachen, ist, dass sie hier neue Geräte, Verfahren und Dienstleistungen im praktischen Alltag ihrer Kunden testen können – oft begleitet von Wissenschaftlern. Und natürlich wollen sie beim Strukturwandel, der sowieso stattfindet, nicht Zuschauer sein und zurückbleiben.“ Koordiniert und organisiert wird die Begleitforschung von einem wissenschaftlichen Beirat unter Leitung des Wuppertal Instituts für Klima, Umwelt und Energie. Der dort zuständige Mitarbeiter, der Geograf Johannes Venjakob, hält das Bottroper Labor für mehr als „nur ein Spotlight wie viele andere Projekte“. Denn die Verwaltung habe sich darauf eingelassen, Stadtentwicklung gemeinsam mit einem privaten Dienstleister zu betreiben. „Viele Kommunen lassen sich von Planungsbüros beraten“, sagt Venjakob, „aber in Bottrop ist die ICM mit zwei Dutzend Mitarbeitern für die komplette Steuerung der Projekte verant28

Für Johannes Venjakob vom Wuppertal Institut ist der entscheidende Punkt, die Energiewende für Bürger begreifbar zu machen: „Denn hier geht es nicht mehr um abstrakte Themen wie Kohleausstieg oder Kraftwerksbau, sondern zum Beispiel darum, wie Hausbesitzer ganz praktisch mit einer modernen Heizungsanlage umgehen können. Die Energiewende zieht in ihre Keller ein, sie wird privat.“ Was das konkret bedeutet, weiß die Lokaljournalistin Petra Berkenbusch-Aust. Der Austausch der Eingangstür und zweier Fenster ihres Hauses aus dem Jahr 1914 sei unkompliziert gewesen. Zu den Kosten von 4500 Euro erhielt sie einen Zuschuss von zehn Prozent. „Wir mussten Fotos vom erfolgten Umbau ins Rathaus schicken und nachweisen, wie viel wir dafür bezahlt hatten, das war’s“, sagt sie. Deutlich mehr Aufwand verursachte dagegen der Austausch der alten Gaszentralheizung gegen eine Kraft-Wärme-Kopplungs-Anlage (KWK), die das Haus der Familie seit vier Jahren mit Gas beheizt und gleichzeitig Strom produziert – auch dies ein ICM-Projekt, das aus diversen Fördertöpfen und von den Anlagenherstellern finanziell unterstützt wurde. Der selbst produzierte Strom sorgt im Haus der Berkenbusch-Austs für heißes Wasser, das zuvor in Durchlauferhitzern auf mehreren Etagen erwärmt werden musste. Zwar stieg der Gasverbrauch mit der neuen Anlage leicht an, dafür sei die Stromrechnung jetzt wesentlich geringer, „insgesamt sparen wir etwa 80 Euro Energiekosten im Monat.“ Eine Auswertung von 52 in Bottrop installierten Anlagen ergab eine Minderung der CO2-Emissionen um durchschnittlich 35 Prozent und sogar um 73 Prozent, wenn sie alte Kohleheizungen ersetzten. Die Bedienung der Anlage sei sehr einfach, sagt Petra Berkenbusch-Aust, extrem kompliziert sei aber der „Schriftkram“ mit den Behörden: Denn mit der KWK-Anlage wurde das > brand eins 12/18

Kosten Die Stadt Bottrop ist mit zehn Prozent an der Innovation City Management GmbH (ICM) beteiligt und hat fünf Mitarbeiter dorthin entsandt, die Kosten für sie sind im städtischen Haushalt mit rund 500 000 Euro jährlich veranschlagt. Darüber hinaus erhielt die ICM nach einer Ausschreibung den Auftrag für das Quartiersmanagement; die 4,5 Stellen in den sechs Quartiersbüros schlagen mit jährlich 385 000 Euro im Bottroper Haushalt zu Buche.

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Vorzeigeprojekte Dazu zählt die Kläranlage des Wasserwirtschaftsverbands Emschergenossenschaft, in der Haus- und Industrieabwässer aus Bottrop, Gladbeck, Essen und Gelsenkirchen gereinigt werden. Sie ist der größte kommunale Verbraucher von Strom – den sie seit Kurzem zu 100 Prozent selbst produziert: mit Sonnenenergie, Windkraft, Wasserkraft, Klärgas und durch die Verbrennung des energiereichen Klärschlamms. So können jährlich bis zu 70 000 Tonnen CO2 eingespart werden.

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Im Mai wurde auf der Fläche einer ehemaligen Bottroper Kiesgrube eine Fotovoltaik-Anlage in Betrieb genommen, die 250 Haushalte mit Sonnenstrom versorgt. Sie spart 377 Tonnen CO2 pro Jahr.

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„Ein bundesweit absolut innovatives Projekt“ ist nach dem Urteil des Wuppertal Instituts für Klima, Umwelt und Energie das „Zukunftshaus“ am Ostring 124 in Bottrop-Batenbrock. Das 55 Jahre alte Vierfamilienhaus des Wohnungsunternehmens Vivawest wurde aufwendig saniert. Auf dem Satteldach und einer Giebelwand: Hochleistungs-Solarmodule. Auf den Außenwänden: 20 Zentimeter dicke Dämmung. Die Fenster: dreifach verglast. Die neuen Balkone aus Aluminium: vom Gebäude abgesetzt, um Kältebrücken zu unterbrechen. Im Keller: anstelle des alten Gasbrenners eine mit Erdwärme betriebene Wärmepumpe, die ihren Strom aus den Solarmodulen bezieht. Die Briefkästen: in eine Betonstele vor den Hauseingang verlagert, um Kältebrücken zu vermeiden. In den Wohnungen: LED-Leuchten, energieeffiziente Haushaltsgeräte in den vom Hauseigentümer gestellten Küchen, eine moderne Lüftungsanlage. Das Gebäude produziert jetzt mehr Energie (rund 22 000 Kilowattstunden), als die Mieter verbrauchen (zwischen 10 000 und 12 000 Kilowattstunden, vor dem Umbau 33 000 Kilowattstunden); der Überschuss wird ins Stromnetz eingespeist. In Serie geht das Projekt aber nicht. „Es war nie das Ziel, es zigfach zu replizieren“, sagt der Vivawest-Fachbereichsleiter Dirk Büsing. „Der Mehrwert für uns besteht darin, im Live-Betrieb mit Mietern die einzelnen Komponenten mit den Herstellern und teilweise mit Hochschulen zu testen und daraus weitere Erkenntnisse zu gewinnen.“ Längst nicht alles kann auf andere Gebäude übertragen werden. Die Haustechnik etwa ist zu komplex, um von den Mietern bedient zu werden. Immerhin: Die neue Balkon-Architektur ist bei Vivawest inzwischen Standard, auch LED-Leuchten werden in den Fluren und Kellern anderer Vivawest-Häuser eingebaut. In der Garage am Bottroper Ostring gibt es jetzt auch eine ElektroTankstelle, die ihren Strom aus den Solarmodulen auf dem Dach bezieht. „Damit könnte man ein Auto, einen Scooter oder Elektrofahrräder betanken“, sagt Dirk Büsing. „Der Solarstrom ist umsonst, aber keiner der Mieter nutzt bislang diese Möglichkeit.“

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Sonne auf dem Dach und das E-Mobil vor der Tür: So soll Bottrop künftig funktionieren

Ehepaar zum umsatzsteuerpflichtigen Stromproduzenten – der nicht selbst verbrauchte Strom wird ins Netz eingespeist und vergütet –, weshalb regelmäßig Korrespondenz mit dem Finanzamt angesagt ist. Und auch mit dem Hauptzollamt muss sich Berkenbusch-Aust herumschlagen, wenn sie sich die Energiesteuer des Gaslieferanten erstatten lassen will: „Das Zollamt ist überhaupt nicht darauf vorbereitet, dass solche Dinge jetzt auch in Privathaushalten stattfinden.“ Im Jahr 2020 läuft das Pilotprojekt in Bottrop aus, die Manager der ICM wollen nun anderswo aktiv werden: Sie haben für Quartiere in 17 Städten Nordrhein-Westfalens und anderen Bundesländern Konzepte erarbeitet. Eine Eins-zu-eins-Übertragung ist allerdings nicht möglich, denn die Ausgangsbedingungen sind unterschiedlich. In der einen Stadt brennt der Bürgermeister für die Idee, wird aber von seiner Verwaltung ausgebremst. In einer anderen verfolgt der örtliche Energieversorger seine eigene Strategie, in einer dritten gibt es keine Fernwärmeversorgung, in einer vierten nur wenige Hauseigentümer, aber viele Mietshäuser im Besitz großer Wohnbaugesellschaften.

Eine Öko-Bilanz mit Tücken Auch in Bottrop gelang nicht alles. So konnten dort nur wenige Menschen zum Umstieg auf den öffentlichen Nahverkehr, das Fahrrad oder Elektrofahrzeuge bewegt werden. Zudem zogen nur wenige Gewerbebetriebe bei der Energiewende mit – weil sie ihre Daten nicht offenlegen wollten oder ihnen Geld und Personal für den Umbau fehlten. Auch die Berechnung der Öko-Bilanz hat ihre Tücken. Die Datenlage ist teilweise lückenhaft, außerdem stellt sich die Frage, welche CO2-Einsparung dem Modellprojekt zuzurechnen ist. So wurde etwa die letzte Kohlenzeche nicht bilanziert, „weil wir durch ihre Schließung im Dezember das Reduktionsziel von 30

50 Prozent bereits Ende 2018 erreicht hätten“, wie Drescher erklärt. Andererseits fließt der nur ein Jahr nach dem Projektstart begonnene Umbau der Bottroper Kläranlage – eine der größten Deutschlands – vom Energieverbraucher zum Energieproduzenten in die Bilanz ein und macht dort mehr als die Hälfte der gesamten CO2-Einsparung aus (siehe Kasten). Wenn sich der bundesweite Strommix zugunsten erneuerbarer Energien verändert, verbessert das auch die Bottroper CO2-Bilanz – ohne Zutun auf lokaler Ebene. Und wäre es ein Projekterfolg und Beitrag zum Klimaschutz, wenn die berühmte Bottroper Skihalle, gebaut auf einer Zechenhalde, ihren Kunstschnee für die 640 Meter lange Piste zu 100 Prozent mit Strom aus Wind- und Sonnenkraft produzieren würde? Auch das begleitende Wuppertal Institut für Klima, Umwelt und Energie kommuniziert die Bottroper Erfolgszahlen zur CO2Minderung, die so viel Interesse wecken. Auf die Frage, ob sie auch halten, was sie versprechen, antwortet Johannes Venjakob: „Entscheidend ist nicht, ob es am Ende 50 Prozent weniger Treibhausgas-Emissionen sind, oder 48 oder 44. Entscheidend ist, dass Bottrop modellhaft Pfade aufzeigt, wie klima freundlicher Stadtumbau organisiert werden kann durch hoch motivierte Leute, die die Bevölkerung aktivieren. Klar ist aber auch, dass man um eine Systemtransformation – also zum Beispiel Kohleausstieg und eine andere Mobilität – nicht herumkommt, wenn man die Pariser Klimaziele erreichen will.“ Mit anderen Worten: Hausbesitzer und Autofahrer können mit neuen Heizungen, gedämmten Kellerdecken und Carsharing auf lokaler Ebene manches erreichen, aber den Rahmen muss die Politik setzen. „Ich könnte ad hoc sechs Punkte an die Wand schreiben, wie man die Energiewende und den Klimaschutz in wenigen Jahren auf die Spur bringt“, sagt der ICM-Geschäftsführer Burkhard Drescher. „Aber ich sitze nun mal in Bottrop, nicht in Berlin.“ – brand eins 12/18

Was Wirtschaft treibt

Die Macht der Vision

Der Ökonom Jeremy Rifkin prophezeit die NullGrenzkosten-Gesellschaft und das Ende des Kapitalismus. Vermutlich wird es nicht so kommen. Aber das ist noch lange kein Grund, diesen Zukunftsentwurf nicht ernst zu nehmen.

Text und Interview: Sarah Sommer Illustration: Julia Ossko und Eugen Schulz

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• Thorsten Eller wollte dieses Jahr eigentlich seine Doktorarbeit schreiben. Doch nun tingelt er durch Baden-Württemberg und gibt sein Bestes, um schwäbische Industrieunternehmer von seiner Idee zu überzeugen. Sie sollen ihre Maschinen verleihen und dafür Daten über deren Auslastung teilen. Übers Internet. Mit Konkurrenten. Nur warum sollten sie das tun? Die sogenannten Hidden Champions sind jahrzehntelang gut damit gefahren, niemandem von außen Einblicke in ihr Geschäft zu gewähren. Doch überraschenderweise scheint Ellers Unterfangen nicht aussichtslos zu sein. „Die Industrieunternehmer zu überzeugen ist ein Kraftakt. Aber sie machen mit“, sagt er. Eller ist Mitgründer des Start-ups VIndustry im schwäbischen Ostfildern. Er und seine beiden Mitstreiter wollen eine kollaborative Industrieplattform aufbauen. Auf der sollen Unternehmen freie Maschinenkapazitäten automatisiert melden, damit andere Unternehmen sie nutzen können. Ziel ist es, dass sich die Maschinenbesitzer nicht nur eine zusätzliche Einkommensquelle erschließen, sondern auch fit werden für eine Zukunft, in der die Prinzipien der Sharing Economy wichtiger werden. Eller ist überzeugt, dass diese Zukunft schnell näher rückt. „Wenn wir heute von kollaborativen Nutzungsmodellen reden, denken die meisten Menschen an den Taxidienst Uber, an Musik-Streaming oder an Wohnungsmarktplätze wie Airbnb“, sagt er. „Alles Modelle, bei denen es um Konsumgüter oder Dienstleistungen geht und sich die Angebote immer an Endverbraucher richten.“ An Industrieprodukte hingegen denke niemand. Die Unternehmer aus dem produzierenden Gewerbe seien noch der Ansicht, dass die Sharing Economy ihr Geschäft nicht berühre. Es ist ja auch schwer vorstellbar: Airbnb, Uber, Foodora oder Car2go mögen die Spielregeln bei der Zimmervermittlung, bei Lieferdiensten oder in der Taxibranche ändern. Aber wie brand eins 12/18

soll Vergleichbares bei der Produktion realer Güter möglich sein? Es war Jeremy Rifkin, der das Thema aufgebracht hat. Der US-amerikanische Ökonom, Soziologe und Autor ist für überraschende Zukunftsvisionen bekannt. In seinem 2014 erschienenen Buch „Die Null-Grenzkosten-Gesellschaft“ entwirft er ein Szenario, in dem Tauschen und Teilen nicht nur für ein paar Dienstleistungen, sondern für große Teile der Ökonomie immer wichtiger werden. Aus unserer industriell geprägten Gesellschaft erwachse eine globale, gemeinschaftlich orientierte, so der Vordenker. Treiber der Entwicklung seien gegen null sinkende Grenzkosten. Das sind die Kosten, die in einem Unternehmen entstehen, wenn es eine zusätzliche Einheit eines Gutes herstellt. Bei Musik etwa sind die Grenzkosten schon lange vergleichsweise gering. Ist ein Album erst einmal produziert und auf einer CD gespeichert, fallen

für jede weitere Kopie Produktionskosten von vielleicht einem Euro an. Seit man Musik auch im Internet downloaden kann, liegen ihre Kosten noch darunter, bei nahezu null. Das gilt gleichermaßen für Filme, Software und E-Books. Bei physischen Gütern wie etwa Autos ist die Lage anders. Zwar sind hier die Unternehmen um die Steigerung ihrer Produktivität bemüht, was dazu führt, dass die Grenzkosten sinken. Doch downloaden lassen sich Industriegüter nicht. Die eingesetzten Materalien kosten Geld, und auch die Kosten für Maschinen, die Logistik, das Personal lassen sich nicht einfach wegdigitalisieren. Und doch hält Rifkin die Vorstellung für naiv, dass die Industrieproduktion vom Effekt stark sinkender Grenzkosten ausgenommen sei. Auch sie, so seine These, stehe durch die Kombination neuer Techniken wie 3D-Druck, Robotik, künstliche Intelligenz und dem Internet der Dinge

vor einem Umbruch. In einer digitalisierten und weitgehend automatisierten Wirtschaftswelt, so seine Argumentation, sinken die Kosten für Kommunikation, Transaktionen, Logistik und Energie immer weiter. Kleinere, kollaborative Produktionseinheiten könnten schon bald eine echte Konkurrenz zur zentralen Massenproduktion in großen Fabriken werden. Diese Anlagen würden Produkte direkt dort herstellen, wo sie gebraucht werden, statt sie über lange Wege zu transportieren. Auch Know-how werde flexibler nutzbar: Verschiedene Produzenten könnten auf gemeinsam genutzte Ressourcen und OpenSource-Netzwerke zurückgreifen. Kunden könnten sich in den Herstellungsprozess einschalten, Produkte nach ihren Bedürfnissen mitgestalten oder gleich selbst mit dem 3D-Drucker fabrizieren. Die Grenzkosten können sich auch in einem solchen Szenario nicht so stark >

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Digital versus physisch Die Herstellung eines physischen Gutes verursacht sowohl fixe als auch variable Kosten. Die Fixkosten, zu denen Gehälter, Mieten und Entwicklungsaufwand gehören, fallen immer an – egal ob das Unternehmen 10 oder 10 000 Einheiten produziert. Die variablen Kosten verändern sich hingegen je nach Produktionsmenge. In der Praxis entsprechen die variablen Stückkosten meist den Grenzkosten, also jenem Kostenzuwachs, der entstünde, wenn ein Unternehmen genau eine zusätzliche Einheit eines Gutes produzierte. Die Herstellung digitaler Güter verursacht im Gegensatz zu physischen kaum variable Kosten. Laptop Stückpreis: 1000 Euro Fixe Kosten: 1 000 000 Euro Variable Kosten: 500 Euro Gewinnzone ab 2000 Stück Download Stückpreis: 1 Euro Fixe Kosten: 1 000 000 Euro Variable Kosten: ca. 0 Euro Gewinnzone: ab 1 000 000 Stück

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der Null-Linie annähern, wie das bei einigen digitalen Gütern der Fall ist. Aber sie sinken womöglich so weit, dass in der Industrieproduktion ganz neue Geschäftsmodelle entstehen können. Unternehmer in klassischen Industrien wie dem Maschinenbau oder der Automobilindustrie tun demnach gut daran, sich Gedanken darüber zu machen, ob der Null-GrenzkostenEffekt nicht auch ihr Geschäft betreffen könnte.

Plattformen für neue Produktionsgemeinschaften Tatsächlich gibt es heute schon Firmen, die auf einen solchen Wandel setzen – und gleich auch passende Geschäftsmodelle entwickeln. Das US-Unternehmen LM Industries etwa könnte einem von Rifkins Büchern entsprungen sein: Es stellt in lokalen Mikrofabriken seiner Tochterfirma Local Motors mithilfe von 3D-Druck den selbstfahrenden, elektrisch angetriebenen Minibus „Olli“ her. Eine weitere Tochterfirma managt eine sogenannte Co-Creation-Community namens Launch Forth. Darin sind rund 196 000 Entwickler, Designer und Techniker aus der ganzen Welt vernetzt. Sie beteiligen sich am Design neuer Prototypen und der Weiterentwicklung von Produkten wie Olli. LM Industries nennt sich mit dieser Kombination aus Mikroproduktionsanlagen und Crowdsourcing selbstbewusst den ersten digitalen Fahrzeughersteller der Welt. Die Mikrofabriken bestehen im Wesentlichen aus einer Reihe verschiedener 3D-Drucker und haben das Ausmaß einer größeren Garage. Sie können schnell auf- und abgebaut werden. Die Entwicklergemeinschaft arbeitet derweil ständig an neuen Varianten des Minibusses. Um Programmierer und Ingenieure für die Mitarbeit in der Community zu gewinnen, schafft Launch Forth gezielt Anreize: Mitglieder erhalten freien Zugang zu spezieller Software, sie können bei Wettbewerben Preise für die beste Gestaltungsidee oder Problemlösung gewinnen, sie

können im Netzwerk Mentoren suchen, ihre Ideen mit anderen diskutieren und sie an der Community beteiligten Konzernen wie Allianz oder HP präsentieren. Wer ein konkretes Projekt managt, wird für diese Arbeit von der Plattform bezahlt. Und was hat der Betreiber von einer solchen Tüftler-Plattform? „Wir können neue Techniken oder Materialien in unseren Mikrofabriken viel schneller einsetzen und Ideen, die in der Entwickler-Community entstehen, viel schneller umsetzen als Automobilkonzerne“, sagt Matthew Rivett, Executive Vice President bei Local Motors. Klassische Fahrzeughersteller investieren in teure Fabriken, die sich nur dann rechnen, wenn in ihnen weitgehend standardisierte Fahrzeugmodelle in Massen hergestellt werden. Jedes neue Modell erfordert immer wieder hohe Investitionen in die Umrüstung der Fabriken. Kleine, innovative Firmen hatten zu dem von Konzernen dominierten Markt lange keinen Zugang, da sie keine wettbewerbsfähige Infrastruktur aufbauen konnten. Der 3DDruck und der Trend zu leichter zu verbauenden Elektromotoren werden das ändern. „Wir müssen keine Massenproduktion aufbauen, um wirtschaftlich zu arbeiten, sondern können auch Kleinserien profitabel herstellen“, sagt Rivett. Zwei Mikrofabriken, eine Verkaufsund Demonstrationsanlage sowie ein Forschungs- und Entwicklungszentrum hat das Unternehmen in den USA aufgebaut – weitere Mikrofabriken auf der ganzen Welt sollen folgen. „Die Idee ist, dass wir die Fabriken jeweils dort aufbauen, wo unser selbstfahrender Bus dann auch zum Einsatz kommen soll“, sagt Rivett. Dadurch könne man eng mit Behörden vor Ort zusammenarbeiten und den Bus an die jeweiligen Anforderungen anpassen. Etwa ein Jahr braucht es nach Unternehmensangaben vom ersten Konzept bis zum fertigen Produkt. Wenn die Rahmenbedingungen vor Ort nicht stimmen, können die Mikrofabriken auch schnell wieder verschwinden: Ein Pilotprojekt in Berlin brand eins 12/18

beispielsweise wurde 2017 nach zwei Jahren Probebetrieb wieder eingestellt. Man konzentriere sich derzeit stärker auf andere Partnerstädte und -regionen in den skandinavischen Ländern, in Kanada und Australien, sagt Rivett. Ein Auto für den privaten Alltagsgebrauch, das in Qualität und Ausstattung mit den Produkten großer Automobilhersteller mithalten kann, könnte Local Motors derzeit allerdings wohl noch nicht herstellen. Auch deshalb konzentriert sich das Unternehmen auf eine Marktnische. Der selbstfahrende Bus soll als Shuttle den öffentlichen Nahverkehr ergänzen, auf Firmen-, Klinik- oder Universitätsgeländen, an Flughäfen, Bahnhöfen oder in Fußballstadien zum Einsatz kommen. Bescheidene Anfänge für große Pläne: Local-Motors-Mitgründer John B. Rogers will sein Konzept weiterentwickeln und es für „fast jede Art von Hardware“ in der Industrieproduktion nutzbar machen. Klassi-

sche Massenherstellung sei das Relikt einer Ära, die bald der Vergangenheit angehören werde, ist er überzeugt. So wie Amazon die Art und Weise verändert habe, wie Menschen Dinge bestellen, wolle Local Motors nun die Art und Weise verändern, wie sie Dinge produzieren.

Siegt die Tauschwirtschaft? Damit passen Rivett und Rogers idealtypisch in die Rifkin’sche Null-Grenzkosten-Ökonomie. Der zufolge würden die nunmehr kollaborativ und dezentral erzeugten Produkte und Dienstleistungen langfristig immer billiger zu haben sein. Denn die klassische Ökonomie lehrt: Mit sinkenden Grenzkosten fallen auch die Preise. Liegen die Grenzkosten nahe bei null, sind Produkte und Dienstleistungen kaum noch gewinnbringend zu vermarkten. Rifkins Argumentation: Was gemeinschaftlich produziert wird, kann

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auch nur noch gemeinschaftlich genutzt werden. Die Produkte würden irgendwann nur noch auf Sharing-Märkten gehandelt, auf denen ein kostenloses Produkt gegen ein anderes kostenloses Produkt oder eine kostenlose Dienstleistung getauscht wird. Konsequent zu Ende gedacht, schafft sich in diesem Modell der Kapitalismus ab. Rifkin schreibt: „Je mehr Güter und Dienstleistungen, die das Wirtschaftsleben unserer Gesellschaft ausmachen, sich in Richtung Nahezu-null-Grenzkosten bewegen, (…) desto mehr wird sich der kapitalistische Markt in schmale Nischen zurückziehen, in denen Unternehmen, die Profit abwerfen, nur am Rande der Wirtschaft überleben.“ Ein ebenso radikaler wie spannender Gedanke. Viele Ökonomen halten ihn allerdings nicht für sehr realistisch. Irene Bertschek beschäftigt sich als Leiterin des Forschungsbereichs Digi- >

tale Ökonomie am Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung tagein, tagaus mit der Herausforderung, die Auswirkungen der Digitalisierung auf verschiedene Branchen, Unternehmen und Kunden messbar zu machen. „Die Phänomene, die Rifkin beschreibt, sind durchaus da: wie das Aufkommen von Sharing-Anbietern und von Unternehmen und Privatpersonen, die kollaborativer arbeiten und Dienstleistungen und Produkte bereits heute scheinbar kostenlos anbieten“, sagt Bertschek. Aber: „Traditionelle Marktmechanismen können durch diese Trends meiner Einschätzung nach nicht ersetzt werden.“ Bei digitalen Gütern wie etwa Musik, Software, Büchern und im Dienstleistungssektor hätten sich Märkte zwar recht schnell verändert, und Grenzkosten seien zum Teil gegen null gesunken. „Dennoch sehen wir, dass die Geschäftsmodelle, die sich aus dieser Situation entwickeln, nicht grundlegend anders sind als solche, die wir bislang kennen“, sagt die Wirtschaftsforscherin. „Statt dezentraler Kollaborations- und Sharing-Lösungen entwickeln sich eher Modelle, die im Grunde nichts anderes als Abo- und Flatrate-Lösungen sind.“ Oder die Unternehmen schaffen ein Netz von Dienstleistungen rund um ihre Kostenlos-Produkte, die sich leichter vermarkten lassen. „Besitz wird flexibler, Profite verschieben sich in andere Bereiche.“ Sobald physische Güter im Spiel seien, werde dieser Effekt noch deutlicher, sagt Bertschek. Selbst wenn diese womöglich dezentraler als bisher und vielleicht mit einem 3D-Drucker produziert würden und die Grenzkosten dadurch sänken, 38

könne es bei ihrer Vermarktung maximal darum gehen, dass diese Güter dann eben nicht gekauft, sondern nur temporär genutzt werden – „so wie das schon heute im Grundsatz mit Miet- und Leasing-Modellen längst etabliert ist“. Kein Unternehmen lasse sich dazu motivieren, neue Geschäftsmodelle zu entwickeln, mit denen sich keine Profite erwirtschaften lassen. „Wenn man die Potenziale der Digitalisierung nutzen möchte, sind dafür immense Investitionen in Infrastrukturen und Prozesse nötig“, sagt Bertschek. Ohne die Aussicht auf ein ertragreiches Geschäftsmodell würden Unternehmen diese Investitionen schlicht nicht tätigen. „Wir haben es am Ende des Tages also immer noch mit traditionellen Gütern und Dienstleistungen zu tun, und das sind immer noch Märkte, auf denen Angebot und Nachfrage zusammengebracht werden, wenn auch mit

teilweise veränderten Mechanismen.“ Das Ende des Kapitalismus sei bei Weitem nicht absehbar. Rifkin schieße mit seiner Prognose übers Ziel hinaus. Doch das muss nicht heißen, dass sich Industrieunternehmer beruhigt zurücklehnen können. Denn Unternehmen wie LM Industries zeigen, dass die Vision einer kollaborativen, dezentralen Industrieproduktion weniger weit hergeholt ist, als sie auf den ersten Blick erscheint. Wenn sich bald jeder Tüftler und Gründer in eine Gemeinschaft einklinken und in seiner Garage ein eigenes Elektroauto oder andere Industrieprodukte entwickeln kann, um es anschließend in einer Mikrofabrik in seiner Nähe ausdrucken und zusammensetzen zu lassen, dann heißt das: Die Eintrittsbarrieren zu Märkten, die bislang nur finanzstarken Großunternehmen offenstehen, sinken – innovative Newcomer erhalten Zugang. Mittelständische Betriebe, die sich heute noch schwertun, Informationen über freie Kapazitäten ihrer Maschinen zu teilen, müssen sich womöglich an den Gedanken gewöhnen, in Zukunft mit vernetzten Mikrofabriken zu konkurrieren. „Zum Glück müssen wir die Unternehmer nicht mit solchen visionären Ideen einer neuen Wirtschaftswelt von unserem Sharing-Modell überzeugen“, sagt V-Industry-Gründer Thorsten Eller. „Unser Argument ist viel pragmatischer: Mit dem Sharing-Prinzip können sie ohne großen Aufwand Zusatzerträge generieren und ohnehin vorhandene Ressourcen monetarisieren.“ Dass mit solchen einfachen ersten Schritten womöglich auch ein ferner strategischer Nutzen verbunden sein könnte – darüber könne man ja später einmal sprechen. – > brand eins 12/18

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„Geschichten über die Zukunft schaffen parallele Realitäten“ Jens Beckert, Direktor am Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung, untersucht Zukunftsentwürfe wie die von der Null-GrenzkostenÖkonomie mit den gleichen Instrumenten wie literarische Fiktion.

brand eins: Herr Beckert, für Sie sind einflussreiche Wirtschaftsakteure vor allem gute Geschichtenerzähler. Was halten Sie von der Geschichte, dass wir bald in einer Null-Grenzkosten-Ökonomie leben und der Kapitalismus etwa im Jahr 2050 an seiner eigenen Produktivität zugrunde geht? Jens Beckert: Nicht uninteressant. Erzählungen vom Ende des Kapitalismus haben ja zurzeit Konjunktur. Damit hat die Geschichte einen Faktor erfüllt, der Zukunftsentwürfe wirkmächtig machen kann: Sie lässt sich in einen bekannten Erzählrahmen einbetten. Ein zweiter Faktor, der für die Geschichte spricht: Sie hat einen guten rhetorischen Spannungsbogen, einen überzeugenden Plot. Volle Punktzahl also. Nicht ganz. Wenn wir herausfinden wollen, ob eine Geschichte nicht nur eine gute Geschichte ist, sondern auch performativ wirken kann – ob sie also unsere Realität beeinflusst –, müssen wir noch auf weitere Faktoren schauen. Man kann sich erstens fragen, ob die Akteure in dieser Geschichte glaubwürdig positioniert sind und ihr Handeln nachvollziehbar erscheint. Diese Geschichte verkennt wo40

möglich die Handlungsmuster und Motive der Akteure, die im bisherigen System Profite erzeugen und verteidigen. Eine weitere wichtige Frage lautet: Gibt es einen charismatischen und einflussreichen Erzähler dieser Geschichte? Jeremy Rifkin, prominentester Erzähler dieser Zukunftsvision, bringt schon eine gewisse Bekanntheit mit. Jemand wie Rifkin ist prominent und gut vernetzt und kann damit viele Kanäle nutzen, über die er seine Interpretation der Zukunft diffundieren und viele Menschen erreichen kann. Tatsächlicher Einfluss und Ressourcen, wie sie etwa einem Zentralbank-Präsidenten, einem Regierungschef oder einem erfolgreichen Großunternehmer zur Verfügung stehen, fehlen ihm aber. Daher ist seine Geschichte zunächst einmal nur eine unter vielen. Damit sie sich gegen andere Versionen der Zukunft durchsetzen kann, müsste er mächtigere Akteure von seinem Narrativ überzeugen. Die Welt, die er ausmalt, müsste ihnen glaubwürdig genug erscheinen, ihre Entscheidungen daran auszurichten. Meine These ist, dass genau solche fiktionalen Erwartungen der Akteure, ihre Imaginationen der Zukunft, die maßgeblichen Treiber der kapitalistischen Dynamik sind. Wie meinen Sie das? Es ist so: In traditionellen, geschlossenen Gesellschaften stellen sich die Menschen die Zukunft wesentlich als Wiederholung der Vergangenheit vor. In einer modernen Gesellschaft wird die Zukunft als offen betrachtet, und es konkurrieren immer mehrere Zukunftsszenarien miteinander um Einfluss. Das Spannende daran ist: Geschichten über die Zukunft schaffen parallele Realitäten – und sie sorgen dafür, dass sich Akteure hier und heute so verhalten, als würde sich die Realität tatsächlich entsprechend entwickeln. Wir tun so, als ob – ganz so, als würden wir bei einem guten Roman mitfiebern. Nur eben im richtigen Leben.

Und welche Geschichten setzen sich wirklich durch? Das lässt sich so einfach nicht beantworten. Es kommen immer viele Faktoren zusammen. Denken Sie beispielsweise an Tesla-Gründer Elon Musk. Er hat eine Zukunftsvision entwickelt, in der Elektroautos die Mobilität der Zukunft bestimmen. Er war nicht der Erste, der mit dieser Geschichte herumgelaufen ist. Die Automobilindustrie hat das allerdings lange nur mäßig interessiert. Erst Musk hat es geschafft, mit dieser Geschichte enorm einflussreich zu werden. Durch sein öffentlichkeitswirksames Charisma und durch seine Beziehungen zu ökonomisch machtvollen Akteuren, die er von seiner Vision überzeugt hat. Weil er die Ressourcen hat, seine Ideen im echten Leben auszuprobieren und gewissermaßen ein Real-Life-Experiment daraus zu machen. Er hat das Zukunftsnarrativ einer ganzen Branche verschoben, sodass nun auch andere Akteure gezwungen sind, sich darauf einzustellen. Seine Erzählung hat unsere Realität verändert. Weil sie, nach literarischen Maßstäben gemessen, eine gut erzählte und glaubwürdige Geschichte ist. Und weil ihr Erzähler ein mächtiger Mann ist. Massenweise Elektroautos sehen wir allerdings noch nicht auf den Straßen. Das stimmt – kann sich aber schnell ändern. So oder so: Musk hat eine Dynamik von Investitionen und Innovationen in Gang gesetzt, die unsere Realität verändert. Einflussreiche Akteure haben sich darauf geeinigt, dass sich die Zukunft sehr wahrscheinlich in eine bestimmte Richtung entwickelt, und haben daraufhin koordiniert gehandelt. Das zeigt: Zukunftsvorstellungen sollte man ernst nehmen. Und zwar unabhängig davon, ob sie irgendwann Realität werden? Einzelne Visionen scheitern, andere setzen sich durch und treiben damit die wirtschaftliche Entwicklung an. Auf Scheitern wird mit neuen Zukunftsprojektionen reagiert. Einfluss erlangt eine Geschichte > brand eins 12/18

gerade dann, wenn sie eine Überraschung beinhaltet, häufig einen angekündigten Bruch mit dem Bestehenden. Dies ist bei der Idee der Null-Grenzkosten-Ökonomie der Fall. Auch wenn die Beteiligten wissen, dass sich solche Zukunftsvorstellungen nicht vollständig verwirklichen, sorgt eine Geschichte wie die vom Ende des Kapitalismus und einer vollkommen neuen Wirtschaftswelt für mehr Aufmerksamkeit und entfaltet mehr Wirkung als eine Erzählung, die besagt: „Hey, wir werden bald in einigen Bereichen viel effizienter sein und etwas anders als früher zusammenarbeiten.“ Oder: „Wahrscheinlich werden bald auch Elektroautos neben anderen Fahrzeugen zum Straßenbild gehören.“ Klingt nicht so spannend, oder? Können solche Geschichten dazu führen, dass Firmen und Investoren im großen Maßstab Gelder umleiten, dass Forscher all ihre Zeit und Energie in die Entwicklung neuer, innovativer Produkte und Lö-

sungen stecken, dass Politiker Regularien ändern, dass Verbraucher ihr Konsumverhalten umstellen? Eher nicht. Es sind die visionären, gut erzählten, spannenden, aufregenden Geschichten, die Aufmerksamkeit erlangen und möglicherweise Weichen stellen. Geschichten, bei denen die Fantasie angeregt wird, sich auszumalen, wie wir in dieser zukünftigen Welt agieren werden. Entstehen durch solche Geschichten nicht auch Blasen, bei deren Platzen Ressourcen in großem Maßstab vernichtet werden? Gerade deshalb plädiere ich dafür, imaginierte Zukünfte als Einflussfaktoren ernst zu nehmen. Sie sollten meiner Meinung nach sogar im Mittelpunkt moderner ökonomischer Theorien stehen. Nicht nur, weil Geschichten gefährlich werden können. Sondern auch, weil wir auf das Geschichtenerzählen weder verzichten können noch sollten. Die Beharrungskräf-

te der bestehenden Systeme und Akteure sind groß. Ohne Geschichten einer verheißungsvollen Zukunft würde man gleich sagen: Lassen wir doch alles beim Alten. Und ohne solche Vorstellungen der Zukunft würde uns die Orientierung fehlen, die wir für Entscheidungen brauchen. Denn wir lassen uns gern immer wieder mitreißen. Wir lieben es, uns vorzustellen, wie sich eine andere Zukunft anfühlen würde. Ließen wir uns nicht immer wieder begeistern von neuen Geschichten, gäbe es keinen Kapitalismus, der auf genau diese Dynamik angewiesen ist. Stärkt also die Geschichte von der NullGrenzkosten-Ökonomie letztlich den Kapitalismus, den sie für tot erklärt? Ja, indem sie auf neue Möglichkeiten hinweist und dazu beiträgt, ansonsten unverständliche Entscheidungen plausibel erscheinen zu lassen. Faszinierend, oder? –

Ist die Null-Grenzkosten-Ökonomie unsichtbar? Paul Schreyer ist stellvertretender Statistikchef der OECD und leitet ein Team, das sich mit der Messbarkeit der digitalen Ökonomie befasst. Kann es sein, dass etablierte Wirtschaftskennzahlen wie BIP, Inflation und Produktivität das Wachstum der Null-Grenzkosten-Ökonomie gar nicht erfassen und bewerten können? „Das Thema Digitalisierung und ihr Einfluss auf statistische Instrumente wie etwa die Volkswirtschaftliche Gesamtrechnung beschäftigt Statistiker in allen OECD-Ländern seit einigen Jahren sehr intensiv. Die Krux ist: Man kann die digitale Ökonomie ohne die richtige Brille nicht sehen. Zum Teil haben wir es mit einfachen, ganz praktischen Messproblemen zu tun: Wie bewerte ich volkswirtschaftlich zum Beispiel ein Gratisprodukt? Eine andere Bewertungsfrage, mit der wir uns auseinandersetzen, ist: Deklarieren private Haushalte, die über Sharing-Plattformen Wohnungen oder Fahrdienstleistungen anbieten, diese Einkommen? Finanzämter entwickeln in vielen Ländern gerade Regeln und beginnen, so etwas zu erfassen. Die praktischen Messprobleme bekommen wir als Sta42

tistiker in den Griff – da muss man einfach dranbleiben an der Entwicklung. Andere konzeptionelle Fragen sind nicht so leicht zu lösen. Ist zum Beispiel jemand, der in seiner Freizeit als Open-Source-Programmierer an einem Computerspiel mitarbeitet oder einen Wikipedia-Eintrag erstellt, Teil eines kollaborativen Produktionsnetzwerks, dessen Leistung wir volkswirtschaftlich erfassen müssen? Oder ist das schlicht sein Privatvergnügen und hat in der Berechnung der wirtschaftlichen Leistung nichts zu suchen? Es gibt Kritiker, die sagen, dass Kennzahlen der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung wie das BIP oder auch Kennzahlen wie die Produktivität und die Inflationsrate verzerrt werden, wenn wir diese digitalen Aktivitäten nicht erfassen. Aber ich denke, das muss man in Relation zu anderen Bereichen setzen, die im derzeitigen System auch nicht erfasst werden wie etwa Hausarbeit, Kindererziehung und häusliche Krankenpflege. Vom Volumen her sind sie viel bedeutender als die digitalen Aktivitäten im Graubereich zwischen Produktion und Freizeit. Wir haben in Modellen durchgerechnet, ob die Kennzahlen tatsächlich massiv verzerrt wären,

wenn wir zum Beispiel einen Wert für digitale Gratisprodukte ansetzen oder mal annehmen, dass die Qualitätsentwicklung bestimmter Produkte unterbewertet wird. Dabei zeigte sich: Die Wirkungen auf das Gesamtaggregat sind, gemessen an den gesamten Haushaltsausgaben und dem gesamten Produktionsvolumen, noch nicht sehr groß. Das heißt natürlich nicht, dass wir all diese Aktivitäten nicht erfassen sollten oder dass die Digitalisierung keine ernst zu nehmenden Auswirkungen hat. Ich halte es sogar für sehr wichtig, dass wir die vielfältigen digitalen Aktivitäten von Unternehmen und Haushalten erfassen, die nicht über herkömmliche, preisgesteuerte Märkte abgewickelt werden. Wir müssen ein Gefühl für die Größenordnungen bekommen, um die es da geht. Und wir müssen auch aufzeigen, dass viele der Dienstleistungen und Produkte, die auf den ersten Blick gratis sind, natürlich sehr wohl an anderer Stelle zu monetären Gewinnen führen. Wir sollten das aber in einem ergänzenden, neuen Zahlenwerk tun.“

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– Stephan A. Jansen: „Warum starten Gründer eigentlich am liebsten mit guten Freunden?“

S. 110

Wir leben in einer Duz-Welt. Allgemein ist eine Tendenz zur Entgrenzung festzustellen. Privates und Geschäftliches vermischen sich zunehmend. – Ronny Jahn: „Siezen Sie noch, oder duzt du schon?“

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Selbstironie funktioniert nach dem Prinzip, lieber selbst den Witz über eigene Schwächen und die Desaster des eigenen Lebens zu machen, bevor andere das tun. – Tim Wolff: „Lachen verbindet?“

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Es gibt Leute, die rücken einem auf die Pelle und merken gar nicht, dass das dem Gegenüber unangenehm ist. – Heiner Thorborg: „Ohne Sympathie ist es schwierig“

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Wenn ich mal wieder der Arsch bin, dann ist der liebe Gott immer noch der liebe Gott. brand eins 12/18

– Jörg Lamprecht: „Einfach da sein“

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Distanzkontrolle Im Leben und im Geschäft zählt eines: der richtige Abstand. Über Nähe und Distanz und ihr richtiges Maß. Text: Wolf Lotter

1. Abstandsregler Jeder kennt das von der Straße. Wenn alles flüssig läuft, jeder auf Abstand fährt, ist alles super. Doch wenn’s dichter wird und zäher, gilt: Komm mir bloß nicht zu nahe! Zeiten der Veränderung sind wie der Stoßverkehr: Mal geht’s flüssig, mal gibt’s Stau. Man muss achtgeben, dass es nicht kracht. Veränderungen definieren auch die Nähe und Distanz von Beziehungen neu, privat und geschäftlich. Wie viel Nähe halten wir aus – und ist sie echt? Oder ist das allgegenwärtige Rankumpeln nichts weiter als ein sozialer Auffahrunfall? Leicht ist das nicht: Zu viel Distanz gilt als steif, zu viel Nähe als übergriffig. Das ist das alte Lied vom Gegensatz von Individuum und Gemeinschaft.

2. Stachelschweine Das Verhältnis von Nähe und Distanz wird immer dann neu justiert, wenn sich Kulturen grundlegend verändern. Das ist heute ebenso der Fall wie zu Beginn der Industrialisierung in Deutschland im 19. Jahrhun48

dert. Im Jahr 1851 verfasste der Philosoph Arthur Schopenhauer sein Werk „Parerga und Paralipomena“, in dem sich die kluge Parabel von den Stachelschweinen findet. Damals war die Lage höchst unübersichtlich. Die Fabrikarbeit bedrohte das Handwerk und die alten Sitten und Gebräuche. Die alten Machthaber – der Adel und die Kirchen – wurden immer öfter ganz grundsätzlich infrage gestellt. Sie lieferten keine brauchbaren Antworten mehr für das Leben und verloren an Zulauf und Macht. Die bürgerliche Revolution von 1848 war eben erst und mehr schlecht als recht von den alten Machthabern in ihre Schranken verwiesen worden – unter großen Konzessionen an die aufstrebende Klasse. Die meisten Menschen beklagten den Verlust alter Gewissheiten und die Unwägbarkeiten der Zukunft. Mal war ihnen die alte Gesellschaft zuwider, mal vermissten sie diese. Die Menschen, so die Schlussfolgerung Schopenhauers, verhielten sich einerseits

K e e p Y o u r Distance!

wie „eine Gesellschaft Stachelschweine“ an einem kalten Wintertag, die sich zusammendrängen, um sich durch die „gegenseitige Wärme vor dem Erfrieren zu schützen“. Doch wenn sie das taten, stachen sie einander mit ihren Stacheln, was sie wiederum auf Distanz hielt: „Wenn nun das Bedürfnis nach Erwärmung sie wieder näher zusammenbrachte, wiederholte sich jenes zweite Übel, sodass sie zwischen beiden Leiden hin- und hergeworfen wurden, bis sie eine mäßige Entfernung voneinander herausgefunden hatten, in der sie es am besten aushalten konnten.“ Auf der einen Seite möchte man nicht allein sein, treibt „das Bedürfnis der Gesellschaft (…) die Menschen zueinander“, andererseits würden aber deren „widerwärtige Eigenschaften“ und „unerträglichen Fehler“ sie wieder voneinander abstoßen. So sei es schon immer gewesen, so Schopenhauers Einsicht, und das Ziel aller Bemühungen der Stachelschweine sei es letztlich, die richtige „mittlere Entfernung“ brand eins 12/18

herauszufinden, bei der ein „Beisammensein bestehen kann“. Das Mittel zu diesem Zweck, die ideale Distanz, nennt Schopenhauer „Höflichkeit und feine Sitte“, heute würden wir wahrscheinlich beides schlicht Anstand und Respekt nennen. Derlei fällt in den Zuständigkeitsbereich der Kultur. Sie müsse, so Schopenhauer, laut und vernehmlich Keep Your Distance rufen, wenn jemand die Grenzen überschreitet und uns zu nah kommt – und gleichsam warne sie uns auch davor, von der Straße abzukommen und, fernab vom Pfad, die Orientierung zu verlieren. Es ist ein Kompromiss, niemand wird gestochen und sticht den anderen, aber auch das Bedürfnis „gegenseitiger Erwärmung“ kann dabei „nur unvollkommen befriedigt werden“, wie der Meister weiß. Das klingt unspektakulär – ist also für Zeiten wie diese genau das Richtige. Schopenhauers Stachelschweine sind unser ewiges Vorbild, sie führen zum Konzept der offenen Gesellschaft und der Organisation der Vielfalt, in der bürgerliche Privatsphäre ebenso ihren Platz hat wie Engagement fürs Ganze. Nähe und Distanz gehören zusammen, zusammen ergeben sie ein Kraftfeld, das sich ständig verändert und unserer Aufmerksamkeit bedarf.

3. Etikette Aber selbst wenn wir achtgeben: Es gibt immer welche, die es nicht tun. Es ist wie beim Verkehrsrowdy, der die Spur ganz für sich allein will oder zu dicht auffährt: Es fehlt ihm an brand eins 12/18

Manieren. Manieren sind kein Schnickschnack. Manieren sind die harte Währung allen Sozialverhaltens, die Art und Weise, wie wir den Umgang miteinander regeln. Zu den Manieren gehört immer auch die Etikette, ein altmodisches Wort, das aber seinen Sinn nicht verloren hat. Sie ist sozusagen der Ablaufplan der Manieren und des Respektes, das jeweils richtige Sozialverhalten, das auf geschriebenen und ungeschriebenen Normen und Regeln baut. Es ist die Gesamtheit dessen, wie wir miteinander am besten umgehen, ohne uns zu piksen oder vor Einsamkeit zu frieren – das richtige Maß also. Das, was heute so fehlt. In Schopenhauers Zeiten waren die Manieren, also die Art und Weise des Umgangs miteinander, gerade einem tief greifenden Wandel unterzogen. Unter dem Einfluss des erfolgreichen Bürgertums lockerte sich die steife Etikette des Adels, der streng nach Zeremoniell lebte und bei dem jedes Wort und jede Geste nach klaren Regeln ablief, in unveränderlichen Ritualen. Man konnte kaum unterscheiden, ob man bei Königs zum Tee war oder gerade in einem Gottesdienst. Hier wie dort lief alles wie auf Schienen ab. Abweichungen waren grobe Entgleisungen. Der schrillste Vertreter dieser Etikette war das im 15. Jahrhundert im steinreichen Burgund entwickelte „Spanische Hofzeremoniell“, das den Umgang zwischen Fürsten und adeligem Hofstaat bis ins kleinste Detail bestimmte. Für Jahrhunderte war es das Ideal für den Umgang der besseren

Manieren sind kein Schnickschnack

Distanz zueinander ist wichtig. Das verhindert persönliche und geschäftliche Auffahrunfälle. Wir sind nicht alle Kumpel. Und wir sollen es auch gar nicht sein.

Kreise untereinander. Das Zeremoniell war pure Disziplin und Inszenierung, aber kein Selbstzweck, denn es diente dem Machterhalt und der klaren Hierarchie. Wer sich nicht daran hielt, war draußen. Die Welt war nie allein in Arme und Reiche unterteilt, sondern vor allen Dingen in Angepasste und Außenseiter, Mächtige und Ohnmächtige. Deshalb führte das aufstrebende Bürgertum auch einen Kulturkampf gegen diese alte Etikette, „alte Zöpfe“ mussten abgeschnitten werden. Die neue Welt der Bürger versprach ein weniger steifes und nach Konventionen ausgerichtetes Leben. Das war im 18. und 19. Jahrhundert ein großes Versprechen, denn der Einzelne lebte eingeengt, im Korsett der Konventionen. Freiheit war, wenn es mal ein klein wenig lockerer zuging. Bürgerlich war mal, wenn man nicht steif in der Gegend herumstehen musste. Doch der Bruch mit der Etikette, den das Bürgertum versprach, war nicht von allzu langer Dauer. Tatsächlich passten sie die alten Regeln nur an die neuen, an ihre Verhältnisse, an. Wer da nicht mitmachte, wurde aus den bürgerlichen Salons ebenso ausgeschlossen wie zuvor Abweichler am Hof. Wer der neuen Macht nahestand, teilte unweigerlich deren Vorlieben und Gewohnheiten, ihren Geschmack, ihren Habitus, wie die renommierten Sozialforscher Norbert Elias und Pierre Bourdieu es nannten. Der Habitus ist mächtiger, als es der Knigge je sein konnte. Er entscheidet über Karriere oder Versagen, Nähe und Ferne zur Macht. > 49

Wer den Habitus nicht beherrscht, lebt in einer Art von totem Winkel des Gemeinwesens, weil er nicht weiß, was sich gehört. Derlei lernt man nicht in der Tanzschule oder im Seminar: Der Habitus ist nirgendwo fasslich, er besteht, wie es Pierre Bourdieu in seinem gleichnamigen Hauptwerk nannte, aus den „feinen Unterschieden“. Er legt fest, was den Stachelschweinen nah genug ist und was ihnen eindeutig zu weit geht. Das geht aber noch weiter: Jede Gruppe und jede Organisation verfeinert die feinen Unterschiede noch einmal. Man kann das mit dem vagen Begriff der Unternehmenskultur beschreiben, die ja auch nicht aus aufgeschriebenen Regeln und Selbstdarstellungen besteht, sondern aus vielen ungeschriebenen Gesetzen, nach denen man sich richtet. Wer die richtige Einstellung hat, der weiß, wie es hier läuft. Der Rest passt irgendwie nicht zu uns. So einfach und so undurchschaubar ist das mit der Nähe und der Ferne.

4. Äquidistanz Alle Stachelschweine streben danach, so gut wie möglich miteinander auszukommen, ohne sich selbst zu verleugnen. Sie versuchen, das Beste daraus zu machen. Aus dieser Idee hat sich in der demokratischen, bürgerlichen Gesellschaft das Prinzip entwickelt,

Absta nd b i t t e!

Mir ist es zu eng hier.

dass die Menschen vor dem Gesetz gleich sind – und Macht allen Interessengruppen von gleicher Distanz aus gegenüberstehen soll. Nicht nur der Staat und das Recht, auch Unternehmer und Manager waren offiziell stets dieser Formel verpflichtet: Es herrscht gleicher Abstand zu allen. Das gilt auch für Ideologien, Parteien, Interessengruppen. Das ist das Prinzip der Äquidistanz, das Stachelschweinmaß aller Dinge. Es ist der Inbegriff einer ausgleichenden, vernünftigen Grundhaltung. In Zeiten der Polarisierung steht sie unter Generalverdacht: Der Äquidistanz fehle es an Haltung, heißt es, das sei ihre Schwäche. Das ist schon mal falsch, denn die Fähigkeit zur Distanz gegenüber allen ist ihre größte Stärke. Der gleiche Abstand entzieht der Moral, die nur zwischen Gut und Böse und vermeintlich Richtig und Falsch unterscheidet – und dabei oft nur den eigenen Standpunkt überhöht – den Boden. Äquidistanz, der gleiche Abstand, macht sich weder mit dem einen noch mit dem anderen gemein und nimmt auf diese Weise den Extremen ihre Kraft. Sympathie, Abneigung, Liebe, Hass – sie sind miserable Kriterien für objektive Entscheidungen, die jedes Unternehmen, jede Gemeinschaft braucht. Mit Abstand fährt es sich am besten. Natürlich kämpft die menschliche Natur dagegen an, denn seine eigene Distanzlosigkeit vermag das Stachelschwein nicht so ohne Weiteres zu erkennen. Es ist der alte Streit von Vernunft und Gefühl. Der Grund, weshalb

K o m m d o c h näher! Äquidistanz ist für das Funktionieren des Gemeinwesens elementar.

in vielen Unternehmen Liebesbeziehungen zwischen Mitarbeitern verpönt sind und enge Freundschaften als Seilschaften verstanden werden, ist ja nicht das Vorhandensein menschlicher Wärme und Gefühle, sondern die gleichzeitig ziemlich wahrscheinliche Abwesenheit nüchterner Distanz, jener Sachlichkeit, die es braucht, wenn es ums Ganze geht. Darum kennt der Volksmund die gute Regel „Strenge Rechnung, gute Freunde“. Geschäft ist Geschäft, und Schnaps ist Schnaps. Das lässt sich nur machen, wenn völlig klar ist, dass im Alltag Nüchternheit herrscht und Leistung nicht weniger wert ist als Sympathie und Vorlieben, Habitus und Kumpelei. Das klappt nur, wo es fair zugeht. Das ist viel Arbeit. Man muss sich zusammenreißen. Und das liegt nicht jedem. Nun ist jede Transformation immer auch ein bisschen Kulturkampf, also die Auseinandersetzung unter Rechthabern und Besserwissern. Dabei geht es nicht um Mitte, Objektivität und sinnvollen Kompromiss, also das, was machbar ist. Es geht darum, die Mitte möglichst weit zur eigenen Position hin zu verschieben. Kein Extremist behauptet von sich, Extremist zu sein. Jede extreme Position hält sich für normal und richtig. Die Verrückten sind immer die anderen. In Transformationszeiten ist aber alles (und alle) ein wenig ver-rückt. Die Stachelschweine suchen eine neue Position. Nähe und Distanz – die richtige Mitte – wird gesucht. Das sind harte Zeiten für den Respekt. > brand eins 12/18

5. Distanzlos Die Nähe ist launisch. Sie kann Zuneigung bedeuten und ihr Gegenteil: Respektlosigkeit und Arroganz. Noch vor ein paar Jahren duzten viele Chefs ihre Mitarbeiter ganz selbstverständlich. Die wiederum sagten zu ihrem Vorgesetzten natürlich „Sie“. Sekretärinnen wurden „Fräulein“ oder einfach beim Vornamen gerufen, Auszubildende hießen in der Regel „He, du da!“. Das war der ganz normale Ober-Ton, der denen unten zeigte, wo sie hingehörten. Das war nicht böse, es war jovial. Jovial leitet sich vom Göttervater Jupiter ab, lateinisch Iovialis. Götter siezen andere nicht. Sie sind allmächtig. Und wenn sie sich herablassen, mit ihren Untergebenen zu sprechen, dann sind sie, was anderes haben sie nicht nötig, freundlich, herablassend, distanzlos – jovial eben. Die scheinbare Nähe ist Distanzlosigkeit, ein Mittel, um zu zeigen, wer das Sagen hat. Das Sie hingegen lässt dem Menschen ein wenig Luft, ein bisschen Abstand, den Raum, den man für seine Würde braucht. Auch hier ist das Sie und das Du eine Machtfrage. Wer es auf Habitus und Autorität abgesehen hat, der nimmt zuerst die Sprache ins Visier. Genau das machte die später als Achtundsechziger bekannt gewordene Jugendbewegung in den Sechzigerjahren. Ihr Feind war die Etikette der spröden Nachkriegszeit. Distanzlosigkeit war ein hervorragendes Mittel, um

Fräulein! 52

Spießer und Klassenfeinde aus dem Konzept zu bringen. Wer Manieren hatte, gehörte zum Establishment, und das „ostentative Duzen ist Teil einer Großoffensive gewesen, mit der die bürgerliche Gesellschaft mit all ihren als antiquiert angesehenen Verkehrsformen in die Knie gezwungen werden sollte“, sagt der deutsche Politikwissenschaftler Wolfgang Kraushaar, dessen aktuelles Buch „Die blinden Flecken der 68er-Bewegung“ vieles über die Kultur von Nähe und Distanz vermittelt. Mit der berühmten Chiffre „68“, sagt Kraushaar, sei ja vor allen Dingen „eine grundlegende Umwälzung“ gemeint, bei der „alles auf Direktheit, Spontaneität und unmittelbare Kommunikation“ gemünzt wurde. Distanz? Geht gar nicht: „Das Private war nun politisch und das Politische privat. Das bedeutete eine möglichst grenzenlose Öffnung in alle Sphären hinein – bis in die Intimsphäre. Es wurde keinerlei Distanz mehr geduldet“, fasst Kraushaar zusammen. Das begann Mitte der Sechzigerjahre an Universitäten, an denen sich die Studenten untereinander noch siezten, wie Kraushaar erklärt. Die berühmte Kommune I in Berlin, gegründet zur Jahreswende 1966/67, galt als „Pressure Group für das Über-denHaufen-Werfen möglichst aller Konventionen.“ Der politisch einflussreiche Sozialistische Deutsche Studentenbund holte sich dort immer wieder Anregungen, seit Rudi Dutschkes antiautoritäre Gruppe dort 1965 das Ruder übernommen hatte.

Aber ebenso wichtig als Verbündete waren die Medien – Magazine wie »Stern«, »Quick«, »Spiegel«, die »Bild«Zeitung und bald auch das Fernsehen, das mit Duzen, Distanzlosigkeit und zuweilen provozierender Nacktheit einerseits mit „der „moralischen Verkommenheit der Studentenbewegung schockte“, wie Kraushaar sagt, andererseits den Voyeurismus des Publikums bediente. Wer nackt ist, ist ganz nah und gibt seine Privatsphäre preis. Das geht auch in voller Montur, wie sich bald zeigen sollte, nämlich dort, wo zunehmend mehr Leute öffentlich über ihre „intimsten Geheimnisse“ sprachen und ihr Innerstes nach außen kehrten. Die neue Distanzlosigkeit verfügte über einen perfiden Mechanismus: Wer sich gegen sie wehrte, „outete“ sich damit automatisch als Teil des Establishments, das mit der Forderung nach mehr Distanz und Manieren bloß seine Privilegien und Macht verteidigen wollte. Diesen Mechanismus kann man heute wieder in den Shitstorms und Dauererregungen in den sozialen Medien erkennen. Das ist die alte Logik der Inquisition: Man kann gestehen und widerrufen. Aber wer sich unschuldig wähnt und sich verteidigt, zieht die Schlinge um seinen Kopf nur enger. Distanzlosigkeit heißt: keine Bewegung. Dies alles, zur Erinnerung, geschah und geschieht nicht aus böser Absicht. Die Distanzlosigkeit wollte 1968 wie heute die Autorität bekämpfen, um das Selbst zu befreien. Doch wo landet die Person, wenn sie Nähe und Distanz

„Ich bin d e i n Kollege. Nicht d e i n Freund.“ nicht selbst bestimmen kann? Kann man Zwang mit Zwang bekämpfen? Dass der bei aller Distanzlosigkeit nicht abwesend ist, zeigt sich auch dort, wo es scheinbar ganz harmlos zugeht, in der neuen Kumpelökonomie der Start-ups, die als kulturelles Leitbild auch für etablierte Organisationen in der Wirtschaft und Gesellschaft gilt.

6. Die Bussi-BussiÖkonomie Wer erfolgreich ist, kommt den anderen nahe. Oder tut so. Und das ist, sagt Jens Kapitzky, gar nicht gut, sondern das Gegenteil davon. Nun ist es ja nicht so, dass der Mann, im Hauptberuf Berater bei Metaplan, kein Herz für echte Kumpel hätte. Er hat im Ruhrgebiet studiert, Kommunikationswissenschaften. Da habe er das echte Du kennengelernt, das Kohlekumpel und Stahlarbeiter sprechen, ohne Attitüde, und die damit „zeigen, dass man zu einer Gemeinschaft gehört, die aufeinander angewiesen ist – wo es echte Solidarität gibt > brand eins 12/18

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I nteressenkonf likte lassen sich nicht wegduzen

Start-up-Kulturen als Vorbild für etablierte Organisationen – das ist verrückt. Eine Illusion. 54

und nichts von diesem aufgesetzten Start-up-Duzen, das man heute so häufig findet“. Hinter dieser scheinbar vertrauten Anrede steckt nichts Verbindliches. Hinter dem Du gähnt das Nichts. „Und das ist der Punkt: die Bedeutung, die wir dem zumessen.“ Was steckt eigentlich hinter der vorgeschobenen Nähe? Wie viel Distanz ist da? Kapitzky zerlegt nach dem Metaplan-Modell jede Organisation zunächst in drei Ebenen. Erstens „die Schauseite, also das, was man nach außen hin sein möchte. Da steht dann drüber, wie toll man ist, wie engagiert, wie transparent und innovativ und kundenorientiert“, kurz, so der erfahrene Berater, „der ganze Zirkus, von dem die Mitarbeiter drinnen wissen, dass man davon nicht unbedingt viel halten muss“. Dann gibt es die zweite Ebene: „Die ist die der internen Regeln, Strategien, Ablaufpläne, alles, was man für den Betrieb braucht und was sich klar und eindeutig formulieren lässt.“ Aber der Bereich, in dem „wirklich die Musik spielt, das wahre Leben ist, ist das, was wir Informalität nennen“. Diese Informalität ist ganz nah und ganz laut, aber man kann sie nicht fassen. Neue Mitarbeiter lernen sie erst, wenn ihnen die alten wohlgesonnen sind. Dann sagen sie Sätze wie: „Ich sag’ dir mal, wie es hier wirklich läuft.“ Ab hier herrscht Nähe, das Du. Informalität ist die Realität in nächster Nähe. Weißte Bescheid? Das Ausmaß der Informalität ist meistens eine Frage der Größe und der Entwicklung eines Unternehmens. „Dort

macht jeder alles – viele Kompetenzen sind unklar, und die Arbeitsteiligkeit ist nicht hoch entwickelt“, sagt Jens Kapitzky. Große oder ältere Unternehmen hätten das „meist hinter sich. Sie sind in weiten Teilen klar geregelt, was man sowohl als Orientierungshilfe als auch als Einengung verstehen kann.“ Manche Manager sehnten sich dann nach früher zurück und glaubten, durch das Kumpeln und das Orientieren an Start-ups käme so etwas wie eine kreative Stimmung auf. Das aber sei „einfach eine Illusion“. Darum wirkt es auch so merkwürdig, wenn das Führungspersonal von Konzernen einen auf Start-up-Kultur macht: aufgesetzt halt – so, als sänge ein Rudel älterer Leute mit brüchiger Stimme „Forever Young“. Das klingt, wie es aussieht: komisch.

7. Echte Nähe Warum ist das so? Weil solche Leute, ganz gleich, wo sie in der Hierarchie stehen, „organisationsblind sind,“ sagt Kapitzky. „Sie kennen das Koordinatensystem ihrer eigenen Firma nicht, und deshalb können sie zwischen echter Nähe und nötiger Distanz nicht unterscheiden.“ Der Erfolg und das Erwachsenwerden von menschlichen Organisationen hat mit dem Verstehen zu tun, dass es nicht nötig ist, dass wir uns alle lieb haben, uns nahestehen. Die Firma und die Gesellschaft ist keine Familie. Sie ist dann erfolgreich, wenn jeder das tut, was er am besten kann. Dazu müsse man sich nicht nahestehen, sondern ein-

fach akzeptieren, dass es Interessen gibt, und damit „Reibung zwischen den Menschen und Abteilungen, das ist so sicher wie dass morgen die Sonne aufgeht“. In der Praxis heißt das: Harmonie verblödet. Der Streit ist normal und nichts Schlechtes. Die Sucht nach Nähe ist nur ein Versuch, sich der Mühe zu entziehen, „Interessen immer wieder verhandeln zu müssen“, so Jens Kapitzky. Wer glaubt, dass sich Interessenkonflikte wegduzen lassen, ist auf dem Holzweg. „Die Konflikte gibt es ja auch, wenn man sie nicht aussprechen darf – sie werden nur härter und hinterhältiger ausgetragen. Wer keine klaren Regeln macht, sorgt dafür, dass es schmutzig wird“, sagt Kapitzky. Falsche Nähe sorge für Ärger und endlose Machtkämpfe – das lasse sich in den Start-ups auch ständig beobachten. Man streitet sich und scheitert, ohne was gelernt zu haben. Zu viel Nähe sorge für menschliche Enttäuschungen. Was hilft? Kapitzky hat einen einfachen, aber wohl wirksamen Rat: „Es geht um das ehrliche Verstehen und Akzeptieren, wie Menschen ticken. Wir können und müssen nicht alle Freunde sein. Aber es wäre schön, wenn wir unsere Interessen klarlegen könnten.“ Nähe heißt, Menschen so sein zu lassen, wie sie sind. Sie nicht erziehen und belehren und ihnen nicht mehr auf die Pelle rücken, als es gut sein kann. Das liegt nicht im Zeitgeist, aber in unserem Wesen. Gerade fahren, Spur halten, immer ein wenig Abstand. So kommt man am besten voran. – brand eins 12/18

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Siezen Sie noch, oder duzt du schon? Immer mehr Firmen entscheiden sich für Letzteres – ohne an die Risiken und Nebenwirkungen zu denken.

Text: Torben Müller Illustration: Max Kersting

brand eins 12/18

• Vor einigen Jahren bekam ich eine E-Mail von einem Mitarbeiter meiner Bank. Er hatte mir wenige Tage zuvor am Telefon einen Basisrentenvertrag verkaufen wollen und ich dummerweise nicht gleich deutlich genug abgelehnt. Nun meldete er sich wieder, pries die Steuervorteile – und schloss seine Nachricht mit einem „Freundschaftlich“. Wie bitte? Ich hatte den Mann noch nie getroffen oder gesprochen. Wir hatten noch nicht mal eine Brieffreundschaft. Trotzdem schmiss er sich an mich ran, als ob wir beste Kumpel wären. Da wurde mir klar: Es war Zeit, die Bank zu wechseln. Kurz zuvor, im Frühsommer 2009, hatte Apple begonnen, seine Kundenansprache radikal zu ändern. Hatte die Firma mich bislang gesiezt, wurde ich nun geduzt – erst auf der Website, später auch in E-Mails und von den Verkäufern in den firmeneigenen Läden. Paradoxerweise fühlte ich mich dadurch plötzlich alt. Mit 20 war es mir noch unangenehm gewesen, mit Sie angesprochen zu werden. Jetzt, mit Ende 30, wollte ich nicht mehr einfach so geduzt werden. Privat und unter Kollegen hatte ich damit keine Probleme. Doch im Geschäftsleben erschien es mir übergriffig und unseriös – und bei dem Gedanken kam ich mir vor wie ein alter Spießer. Danke, Apple! Andere Unternehmen drückten mir ebenfalls ungefragt das Du auf: Ikea sowieso, aber auch Sportscheck oder die Carsharing-Anbieter Car2go und Drive Now. Mittlerweile scheint es mir, als sei die Wirtschaft generell an die Konsumenten auf unangenehme Weise herangerückt. Waren Firmen früher auf höfliche Distanz gegenüber ihren Kunden bedacht, geben sie sich heute als Freunde aus – und das nicht nur bei Facebook. „Die Kundenansprache hat sich seit Mitte der Neunzigerjahre in einem schleichenden Prozess grundlegend verändert. Firmen suchen zunehmend die Nähe“, sagt Andreas Baetzgen, Professor für Strategische Kommunikation an der Hochschule der Medien in Stuttgart. Er führt

dafür vier Gründe an: Zum einen gehe es im Marketing mittlerweile vorrangig darum, eine Beziehung zum Kunden aufzubauen und ihn langfristig an eine Marke zu binden. Zum anderen beeinflusse die Sprache in den sozialen Netzwerken den Umgang mit dem Konsumenten auch auf anderen Kanälen. „Auf Facebook und Instagram ist Duzen die Regel“, sagt Baetzgen. „Das übernehmen viele Firmen dann zum Beispiel auch auf ihrer Website.“ Außerdem ermöglichten elektronische Kommunikation und Datenerfassung heute eine stärkere Personalisierung. „Früher wusste man wenig über seine Kundschaft, und man konnte lediglich eine Anzeige in der Zeitung aufgeben oder eine Postwurfsendung verschicken. Da war die Sie-Anrede als Zeichen der Distanz folgerichtig. Heute haben die Firmen oft ein sehr detailliertes Bild von jedem einzelnen Kunden mit seinen Vorlieben und Abneigungen. Deshalb können sie ihn viel persönlicher ansprechen.“ Und nicht zuletzt spiele nach Ansicht des Forschers auch der allgemeine gesellschaftliche Wandel eine Rolle. „Ich habe als kleiner Junge meine Nachbarn und Kindergärtnerinnen gesiezt. Das hatte ich so gelernt“, sagt Baetzgen. „Meine fünfjährige Tochter kennt die Sie-Form dagegen noch gar nicht, weil die Gesellschaft es von ihr nicht verlangt.“ „Wir leben in einer Duz-Welt“, sagt auch der Soziologe Ronny Jahn von der International Psychoanalytic University in Berlin. „Allgemein ist eine Tendenz zur Entgrenzung festzustellen. Privates und Geschäftliches vermischen sich zunehmend.“ Und so versuchen die Firmen, sich in unser Leben zu schleichen. Da sollen Kunden im Internet von ihrem schönsten Erlebnis mit einem Produkt erzählen oder sich damit auf Bildern präsentieren. Und indem die Konzerne uns dabei vertraulich anreden, rühren sie an tief sitzende Instinkte. „Das Du schafft das Gefühl von Nähe, Vertrauen und Zugehörigkeit“, sagt Claas Christian Germelmann, Professor für > 57

Marketing und Konsumentenverhalten an der Universität Bayreuth. „Es suggeriert, dass man zu einer gemeinsamen Familie, einem Stamm oder einem Dorf gehört.“ Das ist offenbar auch Apples Strategie. Früher, als das Unternehmen seine Nutzer noch siezte, fühlten sich diese ohnehin miteinander verbunden im Widerstand gegen das scheinbar übermächtige Microsoft. „Heute stimmt das einstige Markenimage nicht mehr“, sagt Germelmann. „Viele Menschen haben ein iPhone oder iPad, über den Besitz allein kann man sich nicht mehr abgrenzen. Deshalb versucht das Unternehmen, über die Anrede ein Gefühl von Familie zu erzeugen.“ Die Frage sei jedoch, ob man es sich als Firma leisten kann, mit extrem teuren Produkten Familienmitglieder auszunehmen. Germelmann: „Die Gefahr besteht, dass die Kunden irgendwann sagen: ‚Du duzt mich, aber ziehst mir den letzten Cent aus der Tasche – das mache ich nicht mehr mit.‘“

Der Kunde ist jetzt „Member“ Apple äußert sich dazu nicht. Über Unternehmensstrategien werde nicht öffentlich gesprochen, heißt es. Ikea erklärt seine Du-Strategie dagegen ganz offen mit seiner Herkunft. „Wir stammen aus Schweden, und dort ist es gängig, sich praktisch überall zu duzen“, sagt Sabine Nold, Leiterin der Unternehmenskommunikation in Deutschland. 2004 habe das Möbelhaus die Anrede auch hier eingeführt – allerdings erst nach langen Überlegungen, ob man sich so viel Vertrautheit herausnehmen dürfe. „Doch als wir bemerkt haben, dass selbst die Niederlassungen in Österreich, wo man ja besonders viel Wert auf Titel und Etikette legt, bereits im Jahr zuvor umgestellt hatten, haben wir es uns erst recht getraut.“ Mitunter übertreiben es die Mitarbeiter allerdings mit der skandinavischen Kumpeligkeit, wie die Kassiererin in einer Hamburger Filiale, die eine mehr als 70 Jahre alte Frau, die vor mir in der 58

Schlange stand, hartnäckig mit Du ansprach. Der Frau war das offensichtlich unangenehm, doch die Mitarbeiterin ignorierte das und duzte sie munter weiter. „Das sollte nicht passieren“, sagt Nold. „Wir verwenden das Du eigentlich nur in der Massenkommunikation, also in der Werbung, auf der Website oder im Katalog. Im direkten Kontakt siezen wir die Kunden dagegen grundsätzlich, weil es in Deutschland immer noch so üblich ist. Und daran halten wir uns.“ Der Autovermieter Car2go geht da deutlich weiter. „Hallo Torben, super, dass du dich für Car2go entschieden hast. Anbei erhältst du deine aktuelle Rechnung“, flötet es mir da in den E-Mails entgegen. Man ziele auf eine urbane, kosmopolitische Gruppe, die sich gern als Teil von etwas Größerem sieht, sagt der Marketing-Chef Raphael Stange. „Durch die gemeinsame Nutzung der Autos entsteht neben der traditionellen Beziehung zwischen Kunde und Unternehmen auch eine Beziehung der Nutzer untereinander. Das Duzen soll das Gemeinsame unterstreichen.“ Deshalb nenne man die Kunden auch Member. Mag sein, dass manche Nutzer so denken. Ich sehe die Sache dagegen nüchtern als Geschäft und begreife mich immer noch als Kunde. Schließlich teile ich mir kein Auto mit Freunden auf Selbstkostenbasis, sondern miete einen Wagen, wenn ich ihn brauche, und bezahle eine Firma dafür. Und wie schnell die angebliche Freundschaft bei Car2go aufhört, erlebte ich im vorigen Jahr, als ich wegen eines Blechschadens dort anrief. „Car2go, mein Name ist XY, was kann ich für Sie tun“, sagte die Dame mit klassischer Distanz. Auf einmal war ich nicht mehr Member, sondern wieder Kunde. Duzen mag modern sein, doch die klassische Form hat nach Ansicht der Forscher durchaus noch ihre Berechtigung. „Das Sie signalisiert durch die Distanz Kompetenz und Seriosität“, sagt Claas Christian Germelmann. Allein deshalb sei Duzen beispielsweise für einen

Arzt oder Rechtsanwalt undenkbar. Zudem lasse die distanziertere Variante dem Konsumenten eine Rückzugsmöglichkeit. „Über das Du nimmt mich der Anbieter sozusagen fest in seinen Stamm auf. Siezt er mich, kann ich dagegen jederzeit aus der Höhle verschwinden, wenn ich das Mammut gegessen oder den geliehenen Faustkeil zurückgebracht habe.“ „Das Sie schafft professionelle Distanz, ohne Vertrauen zu mindern“, sagt auch der Soziologe Ronny Jahn. „Wenn wir uns beim Arzt ausziehen, ermöglicht es uns erst, unsere Nacktheit vor dem Fremden zu verorten und damit zu ertragen.“ Zudem zeige es dem Gegenüber Anerkennung in seiner Rolle: als zahlender Kunde, der so die Existenz eines Betriebs sichert. Wie kommt das Duzen bei der Mehrheit der Konsumenten an? „Wir haben gute Erfahrungen gemacht“, sagt der Car2go-Marketingmann Raphael Stange. Man überprüfe die Resonanz im Rahmen der Marktforschung. Konkrete Zahlen nennt er jedoch nicht. Ikea hat sich laut der Firmensprecherin Nold bei der deutschen Kundschaft umgehört – allerdings vor der Umstellung aufs Du. „Danach gab es einige negative Reaktionen“, sagt sie. „In diesen Fällen haben wir uns entschuldigt u nd den Hintergrund erklärt. Jetzt habe ich schon lange keine Beschwerden mehr bekommen.“ Nach Erfahrung der Wissenschaftler Baetzgen und Germelmann, die auch Firmen beraten, ist die Frage der Anrede den Unternehmen zwar wichtig, in der Marktforschung werde allerdings praktisch nie kontrolliert, ob die Kunden sie angemessen finden. „In den Projekten, an denen ich mitgearbeitet habe, war das kein Thema“, sagt Germelmann. Auch fehle wissenschaftliche Evidenz. Baetzgen: „Empirisch gesicherte Zahlen wären wünschenswert. Da sich die Frage aber vor allem im deutschsprachigen Raum stellt, kann man damit als Forscher international nicht punkten. Und so gibt es bislang keine entsprechenden Studien.“ brand eins 12/18

Kleiner Test: Sie oder Du? Die Digital-Marketing-Agentur Webrepublic in Zürich hat einen Google-Anzeigen-Test gemacht. Beworben wurde unsere neue edition brand eins – einmal mit der Ansprache in der Sie-Form, einmal mit dem Du. Das Ergebnis: „Sie“ erreichte bei 3324 Seiten aufrufen 68 Klicks und somit eine Klickrate von 2,05 Prozent. Das „Du“ brachte bei 4113 Seitenaufrufen 66 Klicks. Das ergibt eine Klickrate von 1,6 Prozent. Der Erfolg der Sie-Anzeige lag somit um 28 Prozent höher als bei der Du-Ansprache. „Welche Variante besser ist, kann sich je nach Thema, Marke und Nische unterscheiden. Bei den Themen Neue Arbeit, Digitalisierung und Zukunft von Unternehmen spricht die Sie-Version die Zielgruppe passender an“, sagt Tobias Zehnder, Mitbegründer von Webrepublic. „Der Test zeigt auch, dass sprachliche Finesse selbst in Google Ads wirksam und bedeutsam ist.“ brand eins 12/18

Bleibt zu klären, welchen Grad der Vertraulichkeit Unternehmen nach Ansicht der Wissenschaftler ihren Kunden zumuten sollten. „Das kommt auf die Branche, die Marke und die Situation an“, sagt Germelmann. „Wenn zum Beispiel ein junges Modeunternehmen junge Leute ansprechen will, finde ich das Du in Ordnung. Und wenn man bei einer älteren Zielgruppe ein Gefühl der Jugendlichkeit erzeugen will, zum Beispiel bei Sportartikeln, kann das auch stimmig sein.“ Katastrophal sei es aus Marketingsicht jedoch, wenn die Strategie nicht authentisch wirkt und als Masche entlarvt wird. Germelmann: „Wir kennen das aus der Forschung über das falsche Lächeln. Sobald man diese vorgespielte Freundlichkeit erkennt, wird aus Vertrauen Misstrauen. Der Kunde fragt sich, ‚Warum machen die das?‘, fühlt sich womöglich betrogen und wendet sich ab.“ Andreas Baetzgen rät zur individuellen Entscheidung. „Es spricht nichts dagegen, wenn zum Beispiel eine Drogeriekette junge Mädchen duzt, denen sie auf ihrer Website Schminktipps gibt, und Eltern siezt, denen sie Feuchttücher verkaufen möchte.“ Ebenso könne man nach Kanälen unterscheiden: Komme eine Reklamation über Facebook, biete sich das Du an, rufe der Kunde dagegen an, wird er gesiezt. Claas Christian Germelmann empfiehlt, die Konsumenten routinemäßig zu fragen, wie sie angesprochen werden wollen, die Antwort in der Kundendatenbank zu speichern und sie anschließend auf der Website, in Rundmails oder am Telefon individuell zu berücksichtigen. „Das sollte im Zeitalter der Personalisierung kein Problem mehr sein“, sagt er. Das klingt für mich nach einer vernünftigen, pragmatischen Lösung, die alle zufriedenstellen dürfte. Also, liebe Marketing-Leute bei Apple, Sportscheck, Car2go und anderswo, falls ihr das hier lest, vermerkt doch bitte: Ich möchte euch gern das Sie anbieten. Schlagt ihr ein? – 59

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Man wird ja wohl noch fragen dürfen

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Small Talk braucht man in Israel nicht. Auch unter Fremden geht es direkt ans Eingemachte. Text: Mareike Enghusen Illustration: Silke Weißbach

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• Als Journalistin steht die Arbeitsteilung bei einem Interview eigentlich fest: Ich frage, mein Gegenüber antwortet. In Israel jedoch werden die Rollen oft vertauscht: Bevor ich mein Aufnahmegerät anschalte, fragen meine Gesprächspartner erst einmal mich aus. Was hat dich nach Israel verschlagen, was hältst du von der Regierung, hast du Kinder, und bist du eigentlich jüdisch? Unverfänglicher Small Talk ist in Israel weitgehend unbekannt und überhaupt unnötig, denn zwischen Fremden muss kein Eis gebrochen werden. Man kommt ohne rhetorische Umwege zum Eingemachten – ob im Beruf, auf Grillpartys oder auf der Straße. Kürzlich nahm ich ein Taxi im Norden Israels zur jordanischen Grenze. Die Fahrt dauerte eine Viertelstunde, die mein Fahrer effizient dafür nutzte, sämtliche Aspekte meiner beruflichen und privaten Lebensplanung abzufragen. Er war nicht anzüglich, bloß neugierig, wie so viele seiner Landsleute, und dabei frei von jeglichen Hemmungen. Ob Politik, Geld oder Religion – mit Themen, die in anderen Ländern unter Fremden als Tabu gelten, lassen sich in Israel problemlos Gespräche einleiten. Die fehlende Distanz macht manches leichter: Die ausgedehnte, manchmal mühsame Kennenlernphase zu Beginn einer freundschaftlichen oder romantischen Verbindung, die Deutsche durchlaufen müssen, um sich miteinander wohlzufühlen, fällt in Israel kurz aus oder ganz weg. Wem jedoch etwas an seiner Privatsphäre liegt, der hat es hierzulande schwer. In Cafés passiert es, dass Fremde sich in die politische Diskussion am Nebentisch einmischen, wenn sie eine dort gefallene Äußerung besonders lobens- oder empörenswert finden. Beim Joggen im Park hielt mich einmal eine Dame an, um mir den freundlichen Tipp zu geben, meinen Mp3-Player in die Tasche zu stecken, statt ihn unbequem in der Hand zu halten. Mütter mit Babys müssen in der Öffentlichkeit damit rechnen, Ratschläge oder gar Kritik zu Erziehung, Ernährung und Kleidung des Nachwuchses zu ernten. brand eins 12/18

Geraten zwei Fremde aneinander, kann es rasch laut werden, ohne dass dies Konsequenzen nach sich zöge: Man schreit sich einander ein paar deftige Beleidigungen zu, die oft mit der Mutter des Kontrahenten zu tun haben, um sich anschließend rasch zu beruhigen und seiner Wege zu ziehen. Wie bei einem herzhaften Familienstreit. Apropos Familie: Manche erklären die israelische Direktheit damit, dass unter der jüdischen Bevölkerungsmehrheit das Gefühl vorherrscht, jeder sei mit jedem verbandelt. Treffen sich zwei Israelis, ist die Chance groß, dass der Bruder des einen mit der Cousine der Ex-Freundin des anderen in derselben Fakultät studiert hat. Andere erklären das Phänomen mit dem mehrjährigen Wehrdienst, den die meisten Israelis im Alter von 18 Jahren antreten müssen: Soldaten haben keine Zeit für umständliches Geplänkel, zudem schweißt die intensive Zeit – für Männer drei, für Frauen zwei Jahre – die Rekruten zusammen. Das kollektive Bewusstsein einer jahrtausendealten und größtenteils tragischen

„Als Juden gehören wir am Ende zur selben Sippe.“ Geschichte verbindet zusätzlich. „Achi“, zu Deutsch „mein Bruder“, ist eine verbreitete Anrede unter jungen israelischen Männern: Kumpel nennen einander so, Verkäufer und Barkeeper sprechen ihre Kunden damit an, und Naftali Bennett, nationalistischer Bildungsminister mit höheren Ambitionen, hat aus seiner häufigen Verwendung dieser Ansprache ein Markenzeichen gemacht. Seine Botschaft: Egal wer du bist, was du machst, wo du politisch stehst – als Juden gehören wir am Ende zur selben Sippe. Die israelische Direktheit schlägt sich auch in der Wirtschaft nieder. Das Desinteresse an Formalitäten und Hierarchien gilt vielen Experten als einer der Schlüssel für die Innovationskraft der hiesigen High-

tech-Branche: In israelischen Firmen wird ohne Rücksicht auf Rangordnung diskutiert, der Schülerpraktikant darf, ja, soll der Chefin widersprechen, wenn er glaubt, die bessere Idee zu haben. Der Vorteil der barrierefreien Debatte liegt auf der Hand: Werden mehr Stimmen gehört, kommen mehr Ideen auf den Tisch, und wenn keiner sich fürchten muss, Kritik an Vorgesetzten zu äußern, werden Fehler schnell entdeckt. Auf ausländische Besucher kann die israelische Geschäftskultur indes irritierend wirken. Ein deutscher Dienstleister für interkulturelle Kommunikation rät auf seiner Website dazu, es nicht „allzu persönlich“ zu nehmen, sollten israelische Geschäftspartner ihre Kritik in deftigen Worten äußern oder Fragen nach dem Privatleben stellen. Dass die hebräische Sprache keine formale Ansprache wie das deutsche Sie oder das französische Vous kennt, schafft zusätzliche Nähe, ebenso wie die Angewohnheit, gnadenlos jeden mit Vornamen anzusprechen. Nachnamen existieren quasi nicht. Richte ich wider besseres Wissen eine E-Mail an Professor Cohen, weil ich meine deutsche Förmlichkeit nicht abstellen kann, wird der seine Antwort-Mail garantiert mit „Dani“ unterzeichnen. Bei meiner Arbeit sorgt die israelische Direktheit immer wieder für überraschende Momente. Ein älterer Professor, den ich zur nahöstlichen Sicherheitslage interviewen wollte, verwickelte mich in eine Diskussion über Familienplanung (stets ein großes Thema im kinderbegeisterten Israel). Eine Aktivistin in einem abgelegenen Dorf im Norden des Landes bot mir spontan an, im Gästezimmer ihrer Eltern zu übernachten, statt den späten Bus nach Hause zu nehmen. Und der Kassierer im Supermarkt um die Ecke, der jede Begegnung nutzt, um mir ein neues persönliches Detail zu entlocken, müsste demnächst genügend Material zusammenhaben, um meine Biografie zu schreiben. Die landestypische Direktheit macht das Leben und Arbeiten in Israel manchmal anstrengend, manchmal lustig, manchmal anrührend – nur eines gewiss nie: langweilig. – 63

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„Wenn eine richtige Rezession kommt, könnte es mit der Sharing Economy ganz schnell gehen“

Eigentum ist out. Es genügt, Zugriff auf Dinge zu haben, sie zu teilen. Das ist das Credo der Sharing Economy. Aber warum setzt sie sich nicht durch? Ein Gespräch mit Philipp Glöckler, einem Pionier der Branche. Interview: Christoph Koch Fotografie: Jens Umbach

brand eins: Herr Glöckler, Sie haben 2012 die Firma Why own it gegründet. Worum ging es da? Philipp Glöckler: Das war eine App, mit deren Hilfe die Nutzer Gegenstände ver- und ausleihen konnten: ein Surfbrett, ein ausgelesenes Buch oder eine Bohrmaschine. Erst nur mit ihren Freunden, später konnte man dann zum Beispiel auch Dinge tauschen mit Leuten in seinem Viertel, die man nicht kannte. Teilen entspricht dem Zeitgeist. Überall hört man: „Ich muss nicht 1000 Dinge besitzen. Ich brauche keine Bohrmaschine, ich brauche ein Loch in der Wand!“ Die App sollte also Millionen von Nutzern gehabt und Sie reich gemacht haben. Leider nicht. Wir haben es nie geschafft, das Ding zum Fliegen zu bekommen. 2015 habe ich den Stecker gezogen. Aber ich sage immer: Wenn etwas funktioniert, dann ist neben viel Arbeit auch sehr viel Glück dabei. Warum wurde das Angebot nicht angenommen? Es gab vor allem zwei Probleme: Zum einen haben wir nie eine kritische Masse erreicht. Irgendjemand hat zwar die berühmte Bohrmaschine verliehen, die man gesucht hat. Aber eben nicht eine Straße weiter, sondern am anderen Ende der Stadt. Das hat es umständlich gemacht, gerade wenn man sich in Zeiten von Onlineshopping und Ebay auch schnell eine nach Hause liefern lassen kann, die nicht die Welt kostet. Was war das zweite Problem? Es gab mehr Nutzer, die etwas ausleihen wollten, als solche, die etwas verleihen wollten. Das klassische Empty-Room-Problem habe ich unterschätzt. Alle modernen Online-Plattformen, die wie Marktplätze funktionieren, müssen beide Seiten gleich >

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Bekamen Anbieter bei Why own it Geld, wenn sie etwas verliehen? Ich wollte das umsonst machen. Die Währung sollte eher Vertrauen und Freundschaft sein. Ich wollte erst ein cooles Produkt erschaffen und es später monetarisieren.

„ Freundschaften pflegen, Freunde besser kennenlernen und gleichzeitig Konsum reduzieren – das war meine Vision. “

Das klingt ein bisschen romantisch. Meine Idee war, dass ich vor einer Reise nach Barcelona in die App schaue und sehe, dass eine Freundin einen Reiseführer für die Stadt hat. Ich treffe sie auf einen Kaffee, sie gibt mir das Buch und erzählt mir nebenbei noch von ihren Lieblingsplätzen in Barcelona. Freundschaften pflegen, Freunde besser kennenlernen und gleichzeitig Konsum reduzieren – das war meine Vision. Dass das nicht so viele Leute wirklich machen wollten, dass uns also der Product-Market-Fit fehlte, merkte ich erst viel zu spät, weil ich mich vorher so sehr auf die App und ihre Benutzbarkeit und andere Details konzentriert hatte.

gerannt sind. Gleichzeitig wurde Carsharing wie Car2Go immer populärer, das ohne feste Stationen, spontan und per App funktionierte. Mein Mitgründer bei Avocado Store, Stephan Uhrenbacher, hatte mit 9flats gerade einen Airbnb-Klon gegründet. Dort sah ich, wie Menschen plötzlich Fremden ihre Haustürschlüssel gaben, Vertrauen schien also nicht das Problem zu sein. Ich war damals total auf dem Nachhaltigkeits-Trip und wollte die Leute dazu bringen, insgesamt weniger zu kaufen.

schnell hochziehen können. Airbnb konnte nur wachsen, weil es sowohl viele Leute gab, die Unterkünfte buchen wollten, als auch viele, die welche angeboten haben. Die Gründer haben das Problem damals gelöst, indem sie anfangs viele Wohnungsangebote einfach vom US-Kleinanzeigenportal Craigslist abgeschöpft haben. Dadurch konnten sie ihre Angebotsseite schnell skalieren und somit auch auf der Nachfrageseite schnell wachsen.

Was war das Kurioseste, das verliehen wurde? Ich war total überrascht, als ich gesehen habe, dass manche Frauen Nagellack anboten. Als ich eine Nutzerin danach fragte, erklärte sie mir, dass Nagellack irgendwann eintrocknet. Sie wollte ihn lieber hergeben, als ihn irgendwann wegzuschmeißen. Es war also kein klassisches Verleihen, heute würde sie den Nagellack wohl eher über Ebay-Kleinanzeigen oder eine lokale Facebook-Gruppe wie „Free Your Stuff“ verschenken, die es inzwischen in vielen Städten gibt. Sie selbst hatten sich zu Werbezwecken öffentlich vorgenommen, ein Jahr lang nichts zu kaufen. Hat das geklappt? Ja, aber Dinge für meinen Kühlschrank oder Toilettenpapier waren natürlich ausgenommen. Für mich war es immer wichtig, so glaubwürdig wie möglich zu sein. Vor Why own it hatte ich 2009 Avocado Store gegründet, einen Marktplatz für nachhaltig produzierte Kleidung. Damals war klar, dass ich selber nicht mit Sweatshop-Klamotten rumlaufen kann. Und bei Why own it musste ich derjenige sein, der sich alles leiht. Du kannst so ein Produkt nur anbieten, wenn du voll dahinterstehst. Woher kam die Faszination für die Sharing Economy? Avocado Store hatte gut funktioniert, und den Laden gibt es heute noch. Aber ich merkte, dass die Leute uns zwar liebten und manche auch bei uns einkauften, aber trotzdem noch zu H&M 66

Uber-Fahrer nehmen niemanden in ihrem Auto mit, um Gesellschaft zu haben, und Airbnb-Hosts sehnen sich nicht nach Fremden in ihrer Wohnung. Die allermeisten wollen Geld verdienen. Das stimmt. Aber auf meiner Plattform sollten ja auch keine Sportwagen verliehen werden, sondern Alltagsgegenstände. Für die hätte man keine großen Leihgebühren nehmen können. Der durchschnittliche „Basket“, wie man im E-Commerce sagt, war einfach viel zu klein. Für eine Bohrmaschine hätte man vielleicht fünf Euro verlangen können, für ein Buch höchstens einen. Das lohnt sich nicht für den Verleiher und schreckt den Ausleihenden vielleicht trotzdem ab. Und für die Plattform bleibt auch nicht viel übrig. Andere Plattformen dieser Art sind hierzulande aus ähnlichen Gründen eingegangen. Gibt es niemanden, der aus dem Verleih von Gebrauchsgegenständen ein Geschäft gemacht hat? In den USA gibt es Omni, eine Plattform, die im Jahr 2014 in San Francisco gegründet wurde und mehr als 35 Millionen Dollar Wagniskapital bekommen hat. Aber die haben ein etwas anderes Modell: Die holen die Bohrmaschine oder das Surfbrett ab, lagern die Sachen dann ein und verleihen sie für den Anbieter gegen Gebühr. Man hat zu Hause also mehr Platz, verdient Geld mit seinen Sachen, und wenn man sie selber braucht, lässt man sie sich zuschicken. Die haben zwar noch nicht international expandiert, scheinen sich aber ganz gut halten zu können. brand eins 12/18

Liegt das eventuell daran, dass sie – ähnlich wie Uber – die persönliche Interaktion minimieren? Wollen die Leute am Ende gar nicht irgendwo klingeln und sich was ausborgen? Sondern dass alles über die Nutzeroberfläche einer App läuft? Das ist eine Typfrage. Manchen ist das sicherlich zu viel Nähe, sich persönlich irgendwo zu treffen, um sich einen Tennisschläger auszuleihen. Genauso wie manche froh sind, dass sie ihr Ziel direkt in die Uber-App eintippen können und gar nicht mehr mit dem Fahrer reden müssen. Für manchen potenziellen Whyown-it-Nutzer war der Gedanke vielleicht abschreckend, dass der Typ, dessen Playstation er für ein Wochenende geborgt hatte, vielleicht ein Schwätzchen halten will, wenn er ihn das nächste Mal auf der Straße trifft. Aber es gibt auch andere, denen macht diese soziale Komponente Spaß. Die freuen sich über den zwischenmenschlichen Kontakt. Auch bei Airbnb stand am Anfang das Versprechen, dass man interessante Menschen kennenlernt, wenn man dort bucht. Dass man in eine Stadt anders eintaucht, als wenn man ins Hotel geht. Inzwischen trifft man meist niemanden mehr, sondern bekommt den Zugangscode für die Haustür per SMS. Trotzdem boomt die Plattform. Ist das Geheimnis einer erfolgreichen Sharing-Plattform viel Bequemlichkeit und wenig echte Nähe? Da ist schon was dran. Allerdings sind es Begegnungen und Erlebnisse mit den Vermietern, die Kunden an Airbnb binden. Das sind die Geschichten, die geteilt werden. Von all meinen AirbnbErfahrungen teile ich nur die schönsten mit meinen Freunden und Bekannten. Mein Erlebnis mit einem Typen in New York zum Beispiel, der mir sein Gästezimmer vermietet hat und damit für den Verlobungsring seiner zukünftigen Frau sparte. Sein Nachbar, dessen Airbnb-Angebot eher einem illegalen Hotel ähnelt, wird maximal als billige Alternative zum Hotel weiterempfohlen. In Deutschland werden gerade Nachbarschaftsplattformen wie Nebenan.de oder Nachbarschaft.net populär. Haben die bessere Chancen? Der Trend kommt aus den USA, wo sich Nachbarn auf Plattformen wie Nextdoor vernetzen. Solche Netzwerke werden auf alle Fälle weniger Probleme mit der kritischen Masse haben als wir damals. Weil sich die Leute nicht nur zum Verleihen und Ausleihen anmelden, sondern aus allen möglichen Gründen – weil sie ein Straßenfest organisieren, über Neuigkeiten aus der Nachbarschaft informiert werden wollen oder was auch immer. Und wenn dann jemand eine Bohrmaschine sucht, hat er bessere Chancen, weil er mehr Menschen in seinem unmittelbaren Umfeld erreicht? Genau. Die Macher von Nextdoor haben in Interviews erzählt, dass die Leute am Anfang skeptisch waren, ob sie ihre Nachbrand eins 12/18

barn wirklich auch online kennenlernen und sich mit ihnen vernetzen wollen. Aber am Ende gelingt es ihnen anscheinend, die Menschen zusammenzubringen. Wie viele dort Sachen verleihen, tauschen und teilen, weiß ich aber nicht. Sie sind dem Thema Sharing treu geblieben. Was macht Ihr neuer Arbeitgeber Moovel? Moovel ist eine Tochterfirma der Daimler AG und startete 2012 mit einer Mobilitätsapp. Heute bieten wir eine Plattform für Verkehrsverbünde, Städte und Unternehmen und ermöglichen diesen, verschiedene Mobilitätskonzepte zu verwirklichen. Wir sehen uns als Experten für urbane Mobilität und wollen helfen, Staus in Städten zu reduzieren. Wie sieht das konkret aus? In Deutschland nutzen beispielsweise der Karlsruher Verkehrsverbund und die Stuttgarter Straßenbahnen AG (SSB) Bestandteile unserer Mobility-as-a-Service-Plattform. In Karlsruhe können Bürger mittels einer App Fahrten mit dem öffentlichen Nahverkehr und Nextbike-Leihräder suchen, buchen und bezahlen. Beim SSB berechnet eine App auf Basis des monatlichen Nutzungsverhaltens die bestmögliche Tarifkombination. Glauben Sie noch an die Sharing Economy? Auf jeden Fall. Aber ich glaube, dass der Wechsel vom Kaufen zum Tauschen, Teilen und Verleihen Zeit braucht. Es ist ein ähnlich großer Wandel wie vom Offline- zum Onlinekaufen. Das hat auch 10 bis 20 Jahre gedauert. Wenn eine richtige Rezession kommt, könnte es mit der Sharing Economy auch ganz schnell gehen. Im Moment haben wir Vollbeschäftigung, allen geht es gut, und die meisten können sich dreimal am Tag einen Cappuccino leisten. Wenn das irgendwann mal nicht mehr so ist und die Leute nicht mehr so viel konsumieren können, werden sie auch wieder kreativer. Wenn das Geld zwar für Lebensmittel und andere Notwendigkeiten reicht, aber die schönen Sachen, die Erlebnisse anders gestaltet werden müssen – dann poppen vielleicht neue Modelle auf. –

Philipp Glöckler, 34, gründete 2012 die Verleihplattform Why own it, die er rund drei Jahre später mangels Erfolg einstellen musste. 2009 hatte er zusammen mit Stephan Uhrenbacher (heute 9flats) den Avocado Store gegründet, einen Onlineshop für nachhaltige Produkte und nach eigenen Angaben heute Deutschlands größter Marktplatz für Öko-Mode. Inzwischen arbeitet Glöckler für die Daimler-Tochter Moovel, die in Zusammenarbeit mit Verkehrsverbünden und Städten versucht, öffentlichen Nahverkehr mit Mobilitätslösungen wie Car- oder Fahrradsharing zu kombinieren und Fahrten mit mehreren unterschiedlichen Transportmitteln durch eine gemeinsame Routenplanung und Buchung benutzerfreundlicher zu machen. 67

Einfach da sein

In SOS-Kinderdörfern finden Kinder ein neues Zuhause. Das gelingt nur mit Menschen, die sich rund um die Uhr um ihre Schützlinge kümmern. So wie Jörg Lamprecht, der in einer Einrichtung am Ammersee drei Mädchen und drei Jungen ein Ersatzvater ist.

Text: Alexander Krex Fotografie: Sigrid Reinichs

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„Ich habe sie alle lieb“: Jörg Lamprecht und seine Pflegekinder im SOS-Kinderdorf am Ammersee

• In einer Frühlingsnacht im vergangenen Jahr sitzen Jörg Lamprecht, 58, und der 14-jährige Merlin* nebeneinander im Auto. Sie schauen auf die von Scheinwerfern mal hier, mal dort erhellte Autobahn und sprechen über den Tod. Merlins Mutter ist gestorben, vor einer Stunde kam der Anruf aus dem Krankenhaus. Am Telefon hatte Lamprecht gesagt: Wir kommen uns verabschieden, in zwei Stunden sind wir da. Während sie Richtung Norden durch Bayern fahren, bereitet er Merlin darauf vor, dass sich die Haut seiner Mutter kühl anfühlen wird. Sie sprechen auch darüber, auf welche Weisen ein Mensch bestattet werden kann. Auf brand eins 12/18

einmal fällt Merlin ein, dass er kaum Fotos von ihr besitzt. Lamprecht verspricht, welche zu besorgen. Außerdem verspricht er ihm, dass sie das Grab regelmäßig besuchen werden. Merlin zweifelt nicht daran. Es ist nicht die erste schwere Stunde, in der Jörg Lamprecht für ihn da ist. Da zu sein ist Lamprechts Job. Merlin nennt ihn Papa, genau wie die anderen fünf Pflegekinder: Linus, 8, Johan, 10, Tabea, 12, Sandra, 13, und Dora, 15. Sie alle leben unter einem Dach im SOS-Kinderdorf am Ammersee, zusammen mit Lamprecht, dessen Zimmer im ersten Stock liegt. „Ich hab’ sie alle lieb“, sagt er. Es ist Dienstagvormittag, > 69

die Kinder sind in der Schule. Der Hausherr nutzt die Zeit für eine Führung. Sie beginnt in der Küche, die von einem 4,70 Meter langen Tisch dominiert wird, um den zehn Stühle stehen. Lamprecht öffnet die Türen zu fünf Bädern, zeigt die Computerecke der Kinder und vergisst auch nicht die Porzellanverzierungen an Tabeas Prinzessinnenbett. Er schwärmt wie ein stolzer Vater. Im Flur bleibt er vor einer Tafel mit den Terminen seiner Schützlinge stehen: Saxofon, Geige, Mathe-Nachhilfe, Tanzen. Daneben hängt ein Holzkreuz, darauf ist zu lesen: Lieber Gott Erde braucht Regen Pflanzen brauchen Sonne Tiere brauchen Platz Kinder brauchen Achtung Menschen brauchen Liebe Alle brauchen Dich Lamprecht ist Katholik. Das ist nicht nur sinnstiftend, sondern auch praktisch. „Wenn ich mal wieder der Arsch bin, dann ist der liebe Gott immer noch der liebe Gott“, sagt er. Bei sechs Kindern braucht er diesen Trost eigentlich ständig. Er weiß zum Beispiel jetzt schon, dass Johan sauer sein wird, wenn er aus der Schule kommt. Am Morgen war der Elektriker da, um in dessen Zimmer eine Lampe anzubringen. Mit dem Fuß der Leiter hat er einige Spielzeugautos verschoben, die in einer langen Reihe aufgestellt waren. Das darf aber nicht passieren, weil ein nicht mehr an seinem Platz stehender Feuerwehrwagen Johans innere Ordnung empfindlich stören kann. Er ist Autist. Aus diesem Grund bringt ihn ein Fahrdienst zur Schule. „Eine Biene, eine Hummel, ein Schmetterling: Allein würde er nie in der Schule ankommen“, sagt Jörg Lamprecht.

Trotz aller Regeln und Rituale: Ausgelassenes Herumtoben muss sein

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Wer selbst Kinder hat, weiß, dass Liebe nicht nur Kopfkraulen, Buchvorlesen und Gute-Nacht-Kuss ist. Die Organisation eines kindgerechten Alltags schluckt einen Großteil dieser Liebe. Die Strumpfhose, die nicht kratzt, die Zahnpasta, die schmeckt, das Gefahre zum Judo-Training – all das ist Liebe. Wie Energie geht sie nicht verloren, sie tritt nur in unterschiedlichen Aggregatzuständen auf. Es geht vor allem darum, da zu sein, immer wieder da zu sein, niemals nicht da zu sein. Anwesenheit als das unausgesprochene Versprechen: Du bist nicht allein auf dieser Welt, in die du ungefragt gekommen bist. Um allen Kindern gerecht zu werden, wird Lamprecht von zwei Pädagoginnen und einer Hauswirtschafterin unterstützt – Letztere ist seine Frau Eva-Maria. Das Zimmer am Ende des Ganges gehört den Erzieherinnen, hier schlafen sie, wenn die Lamprechts alle paar Wochen für einige Tage in ihr anderes Zuhause im thüringischen Eichsfeld fahren. Weil die Kinder das nicht mögen, haben sie einen Deal: Papa ist immer erreichbar. Wenn sein Telefon klingelt, hört er meist die Frage: In drei Tagen bist du wieder da, stimmt’s? Wieder und wieder müssen sie sich seiner versichern. Linus etwa, acht Jahre alt, kam schon als Kleinkind in die Familie. Ein ganzes Jahr lang saß Lamprecht Nacht für Nacht bei ihm am Bett, der Kleine konnte einfach nicht schlafen. Das Essen war auch ein Kampf, viel zu schmal war er, wollte nur Schokoriegel, kannte nichts anderes. „Als Linus seine erste Banane aß, haben wir gefeiert“, erinnert sich Lamprecht. Das SOS-Kinderdorf Ammersee-Lech, eingeweiht am 7. Juni 1958, ist das älteste in Deutschland. Eine 33 000 Quadratmeter große Idylle südwestlich von München. 21 Gebäude ziehen sich einen Hang hinauf, im Tal hängt Herbstnebel. Außer den Lamprechts – so kann man das ruhig sagen – leben hier acht weitere Familien. Die anderen Häuser beherbergen Verwaltung, Gemeinschaftsräume und eine öffentliche Kita. Die Dorfstraße schlägt zwei Bögen und endet an einem Basketballplatz, der von gelbem Laub bedeckt ist. Zwischen Dorf und Seeufer erstreckt sich ein Vogelschutzgebiet, Kenner unterscheiden die Rufe von Kiebitz, Graugans und Stockente. In das Kinderdorf kommen Kinder, die Gewalt oder sexuelle Übergriffe erfahren haben. Deren Eltern süchtig sind, psychisch krank oder massiv überfordert. Auch Empathielosigkeit kann das Kindeswohl gefährden. Es gibt Eltern, denen der sprichwörtliche Vater- oder Mutterinstinkt fehlt, die einfach nicht sehen, was ihr Kind braucht. Manchmal beginnt der Weg in ein Kinderdorf dramatisch. Wenn Gefahr im Verzug ist, werden Kinder schon mal von der Polizei aus der Schule geholt. Neuankömmlinge sind im Durchschnitt zwischen fünf und acht Jahre alt, es kommen aber auch brand eins 12/18

Entwirft pädagogische Leitlinien: Kristin Teuber, Referatsleiterin in der Münchener Zentrale der SOS-Kinderdörfer

Babys. Die SOS-Kinderdörfer sind auf langfristige Unterbringung ausgelegt. Das Jugendamt geht also nicht davon aus, dass sich die Verhältnisse in den Familien bald bessern. Nicht selten kommen mehrere Geschwister, weil ein solches Dorf die nötige Infrastruktur bietet. Die Schwester oder den Bruder in der Nähe zu haben kann eine zusätzliche Stütze sein. Aber kann man eine Familie überhaupt nachbilden? Nein. Daher geht es im Kinderdorf nicht darum, die Familie zu kopieren, sie soll gelebt werden. Der Gründer der Organisation, Hermann Gmeiner, hat einst formuliert, was ein Kind braucht: eine Mutter, Geschwister, ein Haus und ein Dorf. Im Grunde hat sich daran bis heute nichts geändert. Lamprecht wird nach dem Tarifvertrag für den öffentlichen Dienst bezahlt, nach Abzügen bleiben ihm etwa 2500 Euro. Das ist also geregelt, der Job ist es nicht. Vater ist man immer, ohne Pause, ohne Feierabend. Weil die Kinderdorffamilie eine Lebensgemeinschaft ist, greift das Arbeitszeitgesetz nicht. In diesem Haus klingt Work-Life-Balance wie eine Vokabel aus einer anderen Welt. Man müsse schon auf gewisse Weise vorgeschädigt sein, um das hier zu machen, sagt Lamprecht. „Und man braucht Liebe. Klingt abgedroschen, aber so ist es.“ Er selbst kommt aus schwierigen Verhältnissen, wuchs mit sechs Brüdern auf, einer der älteren war schwer krank, um den kümmerte er sich. Der Vater war kein schlechter Kerl, aber er trank, und wenn er trank, schlug er zu. Der Kummer seiner Mutter machte Jörg Lamprecht zu schaffen. Damals schwor er sich, es einmal besser zu machen. brand eins 12/18

Gegenüber seinen eigenen Kindern – beide sind mittler weile erwachsen – hat er das Versprechen eingelöst. Aber das reichte ihm nicht. In der DDR war er Grundschullehrer, später Heimbetreuer, 2012 ging er ins Kinderdorf nach Bayern. Er habe immer ein Herz für jene gehabt, die keinen guten Start ins Leben hatten, sagt er. Seine Söhne verstünden das. Sie kennen ihren Vater nicht anders, er war immer gesellschaftlich engagiert. Dass er seine Enkel nicht bei jedem Entwicklungsschritt begleiten kann, macht er in den Wochen wett, in denen er in Thüringen ist. In einer Kinderdorffamilie bestimmen klare Regeln den Umgang. Die Erzieherinnen in den Familien helfen nicht nur, sie sind auch eine Kontrollinstanz, außerdem muss Lamprecht den Alltag dokumentieren. Nicht alles, was in einer normalen Familie geht, geht auch hier. Seine drei Mädchen beispielsweise bräuchten viel Nähe, sagt Lamprecht, Nähe, die er ihnen nicht geben kann. Er kann sich nicht neben sie legen und sie in den Arm nehmen, wie es ein leiblicher Vater könnte. Sie haben deshalb ein Ritual entwickelt: Lamprecht legt ihnen die flache Hand auf den Kopf und zeichnet mit seinem Daumen ein Kreuz auf die Stirn. Es ist eine Art Allzweckgeste: Ich-hab’-dich-lieb, Auf-Wiedersehen und Pass-auf-dich-auf in einem. Manchmal muss er es trotzdem ein zweites Mal machen, doppelt hält besser.

Ablehnung nicht persönlich nehmen – eine Kunst Der Alltag im Kinderdorf sei „durchpädagogisiert“, sagt Kristin Teuber. Die promovierte Psychologin ist Referatsleiterin in der Münchener SOS-Zentrale. Für 38 Einrichtungen deutschlandweit entwirft sie die pädagogischen Leitlinien. „Der institutionelle Rahmen gibt den Kinderdorfmüttern und -vätern Sicherheit für ihre Aufgabe“, sagt sie. Viele Kinder entwickeln Verhaltensweisen, die schwer auszuhalten sind. „Manche sind aggressiv, andere verletzen sich selbst, viele können sich erst mal nicht auf eine Beziehung einlassen und sind zugleich sehr bedürftig.“ Für die Betreuer ist das eine enorme Herausforderung. Trotz der Regeln soll die Beziehung zu den Kindern so unmittelbar wie möglich sein. Morgenrituale, Abendessen, Sanktionen, Geburtstage, Weihnachten, all das wird individuell gestaltet, wie in einer Familie eben. „Den Zustand gekonnter Deprofessionalität zu erreichen ist natürlich sehr professionell“, sagt Teuber. „Die Kunst ist, da zu sein, empathisch zu sein, verlässlich im Kontakt zu bleiben, aber Ablehnung möglichst nicht persönlich zu nehmen.“ Wenn etwa ein Kind erlebt hat, dass Nähe im Elternhaus zu sexuellen Übergriffen führt, wird es Zuneigung als Bedrohung empfinden. Wenn ein Kind zu Hause nicht ausreichend versorgt wurde, kann es sein, dass es im Kinderdorf Essen hortet, bis es unterm Bett schimmelt. Es dauere, das nötige Vertrauen aufzubauen, sagt Teuber. Sie erzählt von Kinderdorfeltern, die > 71

kaum Schlaf finden, weil die Kinder mehrmals in der Nacht zu ihnen ans Bett kommen, um zu sehen, ob sie noch da sind. „Man braucht schon eine sehr hohe Motivation, um diesen Job zu machen.“ Ein Betreuer muss auch wissen, dass die Kinder zu ihren leiblichen Eltern halten – egal was zu Hause vorgefallen ist. Deshalb werden sie einbezogen. Die Forschung hat gezeigt, dass sich Kinder besser entwickeln, wenn kein Loyalitätskonflikt zwischen Herkunftsfamilie und Kinderdorffamilie entsteht. Wenn es gut läuft, erkennen die leiblichen Eltern, dass es ihrem Kind im Dorf besser geht, und geben das auch zu.

An Weihnachten geht es auf die Hütte Jörg Lamprecht würde nie schlecht über die Eltern eines Kindes sprechen. Trotzdem muss er den Kindern ihre Situation erklären. Das fängt mit der Frage an: Warum bin ich hier? Sonst kann es passieren, dass sich die Kinder selbst die Schuld geben oder den Geschwistern. So war es bei Tabea und Johan. Tabea machte ihren kleinen Bruder dafür verantwortlich, dass sie von der Mutter wegmussten. Die war aber schon vor dem zweiten Kind überfordert gewesen. Seit Tabea das verstanden hat, kann sie ihren Bruder wieder lieb haben. Wenn die Kinder volljährig sind, müssen sie ausziehen, für viele ein schwerer Schritt. Damit das Kinderdorf nicht zur Käseglocke wird, müssen sie lernen, dass sie nicht nur Teil der kleinen Dorfgemeinschaft sind, sondern auch der großen Welt drum herum. Einen Zaun gibt es deshalb nicht. Die Offenheit funktioniert beidseitig: Viele Ehemalige bleiben mit ihren Kinderdorffamilien in Kontakt. So wie Armin, der mit 22 noch jedes zweite Wochenende bei den Lamprechts verbringt. Er ist der Beweis, dass auch eine zusammengewürfelte Familie eine Familie ist. Natürlich hat sie auch ihre eigenen Dynamiken: Drei von Lamprechts Mädchen sind gleichzeitig in der Pubertät. An einem Tag sind sie BFF, best friends forever, am nächsten hassen sie sich scheinbar grundlos. „Man braucht viel Humor, um das durchzustehen“, sagt Lamprecht. Wenn es mal wieder knallt, interveniert er, dann heißt es: in fünf Minuten im Büro. Dort setzt er sich auf den Stuhl mit der großen Lehne und lässt sich erklären, was vorgefallen ist. Auch wenn es keinen Streit gibt, verbringt Lamprecht viele Stunden im Büro, um der Dokumentationspflicht nachzukommen. Er schreibt einen täglichen Bericht, notiert, welche Eltern sich gemeldet haben, oder fertigt Protokolle von Treffen mit Familienangehörigen an. Dann sind da natürlich noch der Budgetplan und diverse Förderanträge. Gerade hat er bei der Leiterin des Kinderdorfs eine Beteiligung für Merlins Klassenfahrt beantragt. In den Werbeprospekten auf dem Schreibtisch sucht er nach den Sonderangeboten der Woche. Bei so vielen Kindern lohnen sich Rabattaktionen gleich mehrfach. 72

Eine Großfamilie funktioniert nur mit einem eingespielten Rhythmus. Unter der Woche stehen Lamprecht und seine Frau um 5.45 Uhr auf, schmieren die Frühstücksbrote und hoffen, dass sich die Mädchen im Bad nicht in die Haare kriegen. Das erste Tagesziel: „Die Kinder haben gefrühstückt und verlassen das Haus pünktlich und mit guter Laune.“ Eltern wissen, dass dieser Satz trivial klingt, es aber nicht ist. Die Nachmittage vergehen über Schularbeiten und Musikunterricht, kurz vor sechs gibt es Abendessen. Danach dürfen die Kinder noch eine Stunde fernsehen. Das Ecksofa im Wohnzimmer ist groß genug für alle, manchmal gibt es Streit, wer neben Papa sitzen darf. Meist ist es Linus, der Jüngste. Auch an Weihnachten sind sie alle zusammen. Lamprecht fährt sie mit seinem Neunsitzer ins Berchtesgadener Land, wo das Kinderdorf eine Hütte hat. Ende Dezember liegen dort schon mal drei Meter Schnee. Wenn die Wasserleitung eingefroren ist, ersetzen zwei Eimer Schnee die Toilettenspülung. Ein Tannenzweig aus dem Wald wird mit Christbaumschmuck dekoriert, es gibt Bratäpfel. Vor der Bescherung liest jedes Kind einen Teil der Weihnachtsgeschichte vor, wer das nicht kann, erzählt etwas. Dann ist Bescherung. Was Geschenke angeht, sind die Kinder erfinderisch. Kürzlich wurde Lamprecht 58, Dora schenkte ihm ein Marmeladenglas mit 58 Papierröllchen, auf denen je ein Spruch steht. Viele hat die 15-Jährige selbst verfasst. Auf dem Zettel, den er heute Morgen entrollte, stand, er schaut kurz nach: „Von deiner Geduld sollten sich viele Menschen eine Scheibe abschneiden.“ Jörg Lamprecht lächelt, dann schaut er auf die Uhr und atmet tief durch. Gleich müssten die ersten seiner Schützlinge aus der Schule kommen. Dann wird aus dem stillen Haus wieder ein lebendiges Zuhause. Dafür wurde es gebaut. In drei Jahren könnte Lamprecht ausziehen und in den Vorruhestand gehen. Acht Jahre will er noch machen, sagt er, für die Kinder. „Dann sind sie aus dem Gröbsten raus.“ – (* Die Namen aller Kinder sind geändert.)

Der Verein SOS-Kinderdorf zählt zu den renommiertesten Jugendhilfeträgern in Deutschland. 1949 gründete Hermann Gmeiner das erste Kinderdorf im österreichischen Imst. Er war der Meinung, dass Kinder vier Dinge bräuchten: eine Mutter, Geschwister, ein Haus, ein Dorf. Die Idee einer Kinderdorfmutter als verlässliche Bezugsperson war nicht nur in der Fachwelt umstritten. Auch die Kirche sprach sich zunächst dagegen aus, weil sie das traditionelle Familienbild gefährdet sah. 1955 wurde der deutsche Ableger des Vereins gegründet, drei Jahre später das erste deutsche Kinderdorf am Ammersee. Anfangs machten Kriegswaisen einen Großteil der zu Betreuenden aus, heute sind es fast ausschließlich Kinder aus schwierigen Familienverhältnissen. An 38 Standorten beschäftigt der Verein landesweit 3907 Mitarbeiter und 1122 Ehrenamtliche. In mehr als 100 Kinderdorffamilien leben annähernd 700 Kinder und Jugendliche. Knapp 1300 werden darüber hinaus in stationären Wohngruppen betreut. brand eins 12/18

Jetzt im Handel Die zweite Ausgabe der edition brand eins ist da: Das Beste von uns zum Thema Neue Arbeit.

Das neue Wir

Globalisierung und Migration führen die Menschen enger zusammen. Doch wie viel Vielfalt verträgt eine Gesellschaft? Und wie kommen Fremde miteinander klar? Eine Annäherung. Text: Mischa Täubner Fotografie: Tobias Kruse

Für die einen einer der coolsten Orte, für die anderen Horror: Szenen aus dem von verschiedenen Kulturen und Milieus geprägten Bezirk Berlin-Neukölln

1. Heimat Thomas de Maizière war unzufrieden, das wollte er so nicht stehen lassen. Eine Initiative des Deutschen Kulturrats hatte im Frühjahr vergangenen Jahres 15 Thesen für den gesellschaftlichen Zusammenhalt ausgearbeitet, die zu beschreiben versuchten, welche Werte die Menschen in Deutschland miteinander verbinden. Auslöser waren die heftigen Diskussionen über den Umgang mit Migration gewesen. Alle möglichen Gruppen beteiligten sich an der Initiative: die Kirchen und Religionsgemeinschaften, die Bundesregierung, Länder, Kommunen, Medien und Sozialpartner. Auch de Maizière gehörte ihr als damaliger Bundesinnenminister an. Als er das Ergebnis absehen konnte, erstellte er jedoch schnell einen eigenen Zehn-Punkte-Katalog zur „deutschen Leitkultur“ und veröffentlichte ihn in der »Bild am Sonntag« – etwa zwei Wochen bevor die Kulturrat-Initiative ihre Thesen vorlegte. Geist und Ton der beiden Schriftstücke klaffen weit auseinander. Die 15 Thesen der Initiative preisen die Vielfalt Deutschlands, heben die Rolle des Grundgesetzes als Grundlage des Zusammenlebens hervor, weisen darauf hin, dass Umgangsformen und kulturelle Gepflogenheiten keineswegs starr sind, sondern einem Wandel unterliegen, und betonen, dass Religion auch in den öffentlichen Raum gehört. 76

De Maizière wollte dagegen die Grenzen des Deutschseins enger ziehen. Der erste seiner zehn Punkte schließt mit den Worten: „Wir zeigen unser Gesicht. Wir sind nicht Burka.“ Seine Ausführungen zur deutschen Kultur sind manchmal schlicht politisch („Die Nato schützt unsere Freiheit“) und manchmal unfreiwillig komisch („Wir geben uns zur Begrüßung die Hand“). Sie unterstreichen, dass es unmöglich ist, die Mitglieder einer pluralistischen Gesellschaft auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen. Habe er sagen wollen, möchte man den ehemaligen Bundesinnenminister polemisch fragen, dass alle Burkalosen zu Deutschland gehören und alle Küsschen-stattHandgeber nicht? Dennoch drückt sich in de Maizières Heimatkunde ein allzu verständliches Bedürfnis aus. Das Bedürfnis nach Orientierung und Harmonie angesichts der giftigen Debatten, etwa über Kopftuch und Zwangsehe, die mit der Einwanderung aufkamen. Einheitliche Traditionen und soziale Gepflogenheiten erleichtern das Zusammenleben, man versteht sich, man fühlt sich sicher. Vielfalt macht es anstrengender. Zuwanderer, auch gut integrierte, verändern das Land. Ein Teil der alteingesessenen Bevölkerung befürchtet den Verlust von Heimat, lehnt > brand eins 12/18

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Der einstige Problembezirk hat sich in den vergangenen Jahren zum Szeneviertel entwickelt: Armut und soziale Spannungen gibt es in den Vierteln zwischen Hermannplatz, Sonnenallee und dem Tempelhofer Feld zwar nach wie vor, doch längst zieht Neukölln auch Hipster, Studenten und Touristen aus aller Welt an 78

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Zuwanderung ab und wählt die AfD. Ist das – genauso wie der Ruf nach einer deutschen Leitkultur – nicht ein Indiz dafür, dass zu viel Vielfalt die Gesellschaft überfordert?

2. Konkurrenz Der Migrationsforscher Aladin El-Mafaalani hat darauf eine klare Antwort: Nein. Dass zurzeit so heftig gestritten wird, sei ganz im Gegenteil ein gutes Zeichen. Die Gesellschaft wachse zusammen. „Wir kommen uns näher, und gerade deswegen gibt es Zoff.“ Kürzlich ist sein Buch zum Thema erschienen: „Das Integrationsparadox – warum gelungene Integration zu mehr Konflikten führt.“ Der 40-Jährige ist Professor für Politikwissenschaft und seit April dieses Jahres Abteilungsleiter im Integrationsministerium von Nordrhein-Westfalen. Seine Eltern sind Anfang der Siebzigerjahre aus Syrien nach Deutschland gekommen. Er wuchs im Ruhrgebiet auf und kann sich noch gut daran erinnern, wie es war, als Einwandererkind im Deutschland der Achtzigerjahre. „Diskriminierung gehörte zum Alltag“, sagt er, „Migranten hatten es viel schwerer als heute.“ Deren Nachfahren, zeigt die Bildungsforschung, gehen inzwischen immer häufiger aufs Gymnasium und zur Universität. Mit der besseren Bildung sind auch die Chancen auf dem Arbeitsmarkt, die Gehälter und die Ansprüche auf Zugehörigkeit gestiegen. „Manche Menschen mit Migrationshintergrund“, so El-Mafaalani, „fragen sich, was sie noch alles tun müssen, um anerkannt zu sein und vollständig dazuzugehören: Sprache, Staatsbürgerschaft, Gefühl und Heimat, alles deutsch, und trotzdem fehlt immer etwas.“ Auf der anderen Seite hätten manche Alteingesessene das Gefühl, ihre Heimat und Identität zu verlieren. Beide hätten irgendwie recht. „Das ist der Prozess des Zusammenwachsens. Der dauert lange und tut weh.“ Die hitzig diskutierte Frage, ob der Islam zu Deutschland gehört oder nicht, sei Ausdruck dieses Konflikts, aber auch des brand eins 12/18

Fortschritts. „In den Neunzigerjahren wäre die Frage ein schlechter Witz gewesen oder gar nicht verstanden worden, weil die Antwort ein bedingungsloses Nein gewesen wäre. Auch die meisten Muslime hätten mit Nein votiert. Heute hingegen wird die Frage nicht einheitlich beantwortet, es ist eine 50:50-Situation.“ Dass Integration zu mehr Konflikten statt zu Harmonie in der Gesellschaft führen soll, klingt zunächst wie ein Widerspruch. Aber Integration bedeutet ja nicht, dass es keine Unterschiede mehr gibt, sondern mehr Teilhabe und damit neue Konkurrenz. Minderheiten sitzen nicht mehr in der Ecke, sondern mit am Tisch und wollen auch etwas vom Kuchen. In den Achtzigern, als El-Mafaalani Schüler war, kamen ihm nach der letzten Stunde oft kopftuchtragende Frauen entgegen, die zum Putzen ins Schulgebäude hineingingen. Sie sprachen kaum Deutsch, mussten schwere Arbeit leisten, um die Familie über Wasser zu halten. „Das Kopftuch“, sagt er, „hat damals niemanden gestört, es wurde ja nur von Putzfrauen getragen.“ Nicht mehr okay sei es erst gewesen, als es Frauen trugen, die studierten und Lehrerinnen wurden.

3. Parallelgesellschaften Der Konflikt ist laut El-Mafaalani kein rein sozialer. Es gehe nicht nur um Verteilung, sondern auch um Identität. Das mache die Situation so diffus. Das ermögliche es der AfD, Wähler aus den unterschiedlichsten Milieus zu gewinnen. Es sei kein Konflikt zwischen Kulturen, sondern um die Kultur. Was macht ein gutes Leben aus? Um diese Frage stritten Befürworter und Gegner einer offenen Gesellschaft. Der Migrationsforscher liegt hier auf einer Linie mit dem Soziologen Andreas Reckwitz, der von einer neuen Klassengesellschaft spricht, in der es eine alte und eine neue Mittelschicht gibt, die Gefahr laufen, wie Parallelgesellschaften nebeneinander zu existieren: die Angehörigen der ersten haben meist keine Universität besucht und leben eher in den Klein- > 79

Nichts für Konsumenten „Vitsœs Möbel schreien nicht. Sie funktionieren vielmehr in relativer Anonymität neben Möbeln eines jeden Designers in Häusern aus jeder Epoche. Unser Bestreben ist es, Produkte für intelligente und verantwortungsbewusste Nutzer – nicht für Konsumenten – herzustellen, die sich bewusst für Produkte entscheiden, welche sie wirklich nutzen können. Gutes Design muss sich anpassen können.” Dieter Rams, 1976

4. Respekt Eine aktuelle Studie der Stiftung Zentrum für Türkeistudien und Integrationsforschung zeigt: Die Nachfahren türkischer Migranten fühlen sich Deutschland heute weniger verbunden als noch vor 2010. Denn danach folgten die Sarrazin-Debatte und der NSU-Skandal, Pegida und AfD betraten die politische Bühne. Viele Deutschtürken wandten sich ab, oft die, die bestens Deutsch sprechen und gut verdienen. Für El-Mafaalani sind das temporäre Rückschläge im Prozess des Zusammenwachsens. Und wie gibt es wieder Fortschritte? Bernd Simon, Sozialpsychologe und Leiter der im September neu gegründeten Forschungsstelle Toleranz der Universität Kiel, sieht die Mehrheitsgesellschaft, sprich die alteingesessenen Deutschen, in der Pflicht. Einzufordern, dass die Menschen die Lebensstile von Fremdgruppen wertschätzten, bringe allerdings nichts. „Realistischer ist die Forderung nach Toleranz“, sagt Simon, „Toleranz setzt Ablehnung nämlich geradezu voraus.“ Sie verlange aber auch, dass die Ablehnung gezügelt wird. In seinen Studien, die Schwule und Lesben sowie Muslime als gegensätzliche Pole eines kulturellen Spektrums in den Blick nehmen, macht er Respekt als entscheidende Größe aus, die gegenseitige Ablehnung zähmen und so für Stabilität innerhalb der Gesellschaft sorgen könne. Simon stellte überdies bemerkenswerte Parallelen fest: Beide Gruppen fühlten sich respektiert, wenn sie trotz ihrer Andersartigkeit als gleich anerkannt wurden. Zudem zeigte sich, dass die Einstellung der Schwulen und Lesben umso positiver Wo früher Flugzeuge starteten, gibt es nun mehr als 300 Hektar Freiraum für Spaziergänge, Sport und Kunstprojekte: das Tempelhofer Feld gegenüber Muslimen war, je stärker sie davon ausgingen, dass Muslime Schwule und Lesben respektierten, städten, materiell durchaus gut gesichert und noch der Welt ver- und je stärker sie sich von der Gesamtgesellschaft als Gleiche haftet, in der alle einen ähnlichen Lebensstil verfolgten. Sie mei- anerkannt fühlten. Das heißt: Wer selbst Respekt erfährt, erwinen, nicht mehr mithalten zu können mit den Angehörigen der dert ihn beziehungsweise gibt ihn weiter, auch über Gruppenneuen Mittelschicht, die einen Wertewandel forcieren, weg von grenzen hinweg. Mit ihrer Identität als andersartige Gleiche unterbreiteten Normen, hin zu Selbstentfaltung, Kosmopolitismus, Vielfalt. Die Kluft lasse sich wunderbar an Berlin-Neukölln illus- Minderheiten der Mehrheitsgesellschaft ein Angebot, das diese trieren, sagt El-Mafaalani. Für die einen sei dieser von unter- nicht ausschlagen sollte, sagt Simon. Durch Sarrazin, NSU, Peschiedlichsten Milieus und Kulturen geprägte Stadtbezirk ein gida und AfD sahen viele Deutschtürken ihre Anerkennung inSehnsuchtsort, was sich nicht zuletzt in den hohen Mieten frage gestellt. Ihre Zugehörigkeit zu betonen ist daher vor allem widerspiegele. „Für die anderen hingegen, die eine historisch für Parteien und Regierende ein Gebot der Stunde. gewachsene, Sicherheit versprechende Gleichheit als Bedingung für Heimat verstehen, ist der Bezirk eher ein Gräuel.“ 5. Übersetzen, aushandeln, ringen Auf eine Leitkultur, die für alle gelten soll, werde man sich kaum einigen können. Je mehr wir uns der offenen Gesellschaft Und wie überzeugt man jene, die den Verlust von Heimat beklaannäherten, umso stärker würde die Gegenwehr, prophezeit El- gen, vom Respekt gegenüber Migranten und ihren Nachfahren? Mafaalani. Der Konflikt sei unumgänglich und sollte, so seine Der Ethnologe Tilmann Heil empfiehlt Pragmatismus. Viel lehrKernbotschaft, positiver wahrgenommen werden. „In einer of- reicher als Diskussionen über den konzeptionellen Überbau von fenen Gesellschaft ist Streitkultur die beste Leitkultur.“ Gesellschaft sei der Blick auf das, was wirklich passiert, wenn 80

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Menschen aus verschiedenen Ecken der Welt an einem Ort zusammenleben. Heil hat über einen längeren Zeitraum Begegnungen von Einwanderern aus dem Senegal mit der bereits ansässigen Bevölkerung in Katalonien im Norden Spaniens beobachtet. Dass die Afrikaner die fremde Sprache nicht perfekt beherrschten, sei kein Problem gewesen, so eine seiner Erkenntnisse. „Ein paar Brocken Katalanisch reichten, um Verständnis und Anerkennung zu erzeugen.“ Große Bedeutung hatte das Grüßen. Insbesondere bei der älteren Generation beinhaltet es ein Gespräch über die ganze Familie. Ein kurzes „Hallo“ oder nur Kopfnicken gilt als respektlos. Heil beobachtete, dass die Senegalesen in Katalonien schnell ein Gespür für die dort üblichen Formen des Grüßens bekamen, und sich so einen respektvollen Umgang erwarben und ihn auch einfordern konnten. Mit anderen Worten: Sie übersetzten die eigenen sozialen Gepflogenheiten und handelten mit den Katalanen ein für beide Seiten akzeptables Miteinander aus. Auch Konflikte, etwa darüber, wie laut man als Gruppe im öffentlichen Raum sein darf, nahm der Ethnologe als positiv wahr, weil sie, ganz im Sinne El-Mafaalanis, ein produktives Ringen im Prozess des Zusammenlebens sind. Resümierend sagt Heil: „Es ist faszinierend zu sehen, wie Situationen zum Gefallen aller ausfallen, obwohl zunächst kaum Gemeinsamkeit vorhanden ist.“

6. Kulturschock Das bestätigt Imme Gerke, eine Verhaltensbiologin, die Kurse für den Umgang mit Menschen fremder Kulturen anbietet. Sie betont allerdings: „Das aktive Gestalten solcher Situationen setzt gewisse Kompetenzen voraus.“ Gerke ist viel in der Welt herumgekommen, hat lange in Madagaskar und Westafrika gelebt. Nachdem in den Neunzigerjahren eine kanadische Blauhelmtruppe in Somalia einen Mann brutal gefoltert und ermordet hatte, warf Gerke der kanadischen Regierung vor, brand eins 12/18

die Soldaten auf ihren Einsatz in der Fremde nicht genügend vorbereitet zu haben. Daraufhin wurde sie als Beraterin angeheuert. Mit ihrem Mann erarbeitete sie für das kanadische Militär einen Kurs zum kreativen Umgang mit Kulturschocks. Den bietet sie in Bremen nun in abgespeckter Form für jedermann an. Die Globalisierung lasse sich nun mal nicht aufhalten, sagt sie. Viele Leute seien bei Begegnungen mit fremden Kulturen verunsichert, weil sie nicht wüssten, was auf sie zukommt. „Wir haben aber ein angeborenes Bedürfnis nach Vorhersehbarkeit und Sicherheit.“ Der Hauptteil ihres Kurses besteht aus der Konfrontation mit Situationen, die Gerke selbst erlebt hat. Manche sind vergleichsweise harmlos, wie die plötzlich entstehende Unruhe unter den Bewohnern eines madegassischen Dorfes, nachdem Gerke ein Foto von ihnen gemacht und es ihnen gezeigt hatte. Andere sind bedrückend, wie der Moment, als sie in einem Auto sitzend beobachtet, wie eine aufgebrachte Gruppe von Leuten direkt neben ihr einen Mann fast zu Tode prügelt. Die Kursteilnehmer lesen einen Bericht über diese Szenen, der nur beschreibt, was passiert. Die Erklärung für das Verhalten wird offen gelassen. „Die Teilnehmer sollen einen Kulturschock erleben, eine Situation, in der die erlernten Routinen nicht weiterhelfen“, sagt Imme Gerke. Oft sei die Verunsicherung förmlich zu spüren, „manche Teilnehmer werden ganz still oder gehen kurz vor die Tür“. Mithilfe von Gesprächen in Kleingruppen und Rollenspielen gehe es dann darum zu erfahren, dass man nicht hilflos ist, sondern die Situation verändern kann. Gerke möchte, dass die Deutschen Begegnungen mit fremden Kulturen als bereichernd empfinden. Ob man dafür einen Kurs braucht oder einfach die Bereitschaft, mal mit dem syrischen Nachbarn zu sprechen, sei dahingestellt. Wenn sie von ihren eigenen Erlebnissen erzählt, lernt man jedenfalls eines: zu schätzen, wie Menschen, die zu uns kommen, sich in der für sie fremden Kultur zurechtfinden. – 81

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„Wir sind doch unter uns!“

Die Russen mögen unfreundlich sein, distanziert sind sie nicht. Text: Stefan Scholl Illustration: Silke Weißbach

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• Jeden Abend das gleiche, vergebliche Ritual. Nach dem Zähneputzen lese ich unserer vierjährigen Tochter etwas vor, dann der achtjährigen. Hinterher wird gebetet, Licht aus. Geistig-moralisch sollten beide nun bereit sein zum Einschlafen. Doch stattdessen kichert es auf Russisch aus dem Kinderzimmer: Meine russische Frau kuschelt erst das eine Kind in den Schlaf, dann das andere. Oft kuscheln und kichern auch alle drei gemeinsam. Und meine Einwände, Kinder müssten doch lernen, beim Einschlafen auch ohne Mamas warme, weiche Haut auszukommen, bleiben ungehört. Nicht nur die Schlafgewohnheiten der Russen widersprechen dem westlichen Konzept von menschlichem Miteinander, das auch zwischen Kindern und Eltern einen gewissen Abstand vorsieht. Russlands Einwohner verlieren sich laut Statistik auf acht Seelen pro Quadratkilometer, von ihnen gibt es mehr als 17 Millionen, eine Unendlichkeit, die laut Rainer Maria Rilke schon an Gott grenzt. Umso mannigfaltiger zelebrieren die Russen Nähe, umso mehr brauchen und ertragen sie. Jeden Winter müssen sie außer weißer Endlosigkeit noch sibirische Fröste aushalten. Ein Allgemeinplatz, ungefähr so alt wie die anschmiegsame Schlafkultur, die die bäuerlichen Großfamilien während solcher Frostnächte auf den riesigen Steinöfen in ihren Blockhäusern einübten. Diese Blockhäuser versammelten sich in Haufendörfern, deren Bewohner gemeinsam ernteten oder fischten, Kinder erzogen, neue Blockhäuser bauten, sich prügelten oder betranken. Man hielt eng zusammen. Das dörfliche Kollektiv schwebt noch über vielen Großstädten Russlands. Moskauer oder Petersburger organisieren auch dort weiterhin sehr rustikale Netzwerke, beim Geschäfte-Machen oder ChefpostenVergeben traut man Blutsverwandtschaft, alter Kindheitsfreundschaft oder Eishockeykameradschaft mehr als fremder Kompetenz. Zumal Russlands Städte ihre neuen Bewohner noch enger zusammenzwangen, in Barackenwohnheime oder „Komunalbrand eins 12/18

kas“, eine Mode, die der Sowjetstaat diktierte: unfreiwillige Wohngemeinschaften, in denen sich mehrere Parteien ein Quartier teilen mussten, einen Korridor, einen Kochherd, ein Klosett. Die Enge war drangvoll, laut, oft heftig umstritten, organisiert von einer Obrigkeit, die 1931 für jeden Leningrader neun Quadratmeter Wohnraum vorsah. Und noch immer werden nicht nur Einzelzimmer, sondern auch deren vier Ecken vermietet. Die Haus- oder Wohnungstür, die man zwischen sich und dem Rest der Welt zuschlägt, ist in Russland keine Selbstverständlichkeit. Russen sind nicht besonders höflich, Höflichkeit braucht Distanz. Dafür kommen sie einander schneller nah. Sie empfangen Gäste, indem sie sie nötigen, ihre Schuhe auszuziehen und in zu weiche, zu warme oder einfach albern aussehende Pantoffeln zu steigen. Und wenn die Gäste gute Bekannte sind, läuft die Hausfrau weiter im Morgenrock umher, ihr Mann trägt Trainingshose und ein schlichtes Unterhemd. Das Halbangezogene, das Halbbeschuhte öffnet sich hier ohne große Umschweife zu einem vertrauensvollen „Wir sind doch unter uns!“ Auch in Situationen, in denen im westlichen Abendland noch einige Zeit hochgeknüpfte Unverbindlichkeit angesagt wäre. Schwulsein gilt in Russland als Laster oder als Krankheit. Aber russische Männer fassen sich an, noch vor gar nicht langer Zeit küssten sie sich, auch auf den Mund. Unter zarischen Militärs galt der Männerkuss als Auszeichnung für Untergebene, die zu einem Sturmangriff aufbrachen. Und in den öffentlichen Banjas, den Bade- und Schwitzhäusern, schrubben und seifen nackte Russen einander bis heute ein, verdreschen sich keuchend vor Wonne mit feuchten Birkenruten. Man hat keine Angst vor dem Schweiß, dem Atem der anderen. Man duldet sie auch aus der Nähe, ihre Blicke, ihre Berührungen, ihre Geräusche. Das gilt für Männer wie für Frauen. In Diskotheken rempeln Mädchen gern Männer an, oder plötzlich steht jemand lächelnd vor dir: „Ich bin Tanja

und mache Volkstanz. Und wie heißt du?“ Die Geschlechter nähern sich hier ohne listige oder artige Umwege, dafür mit Hochgeschwindigkeit. Schon beim ersten Geplauder spürt man oft den kurzen, zugleich prüfenden und ermunternden Druck einer jungen weiblichen Hand auf dem eigenen Oberschenkel. „Me too!“ ist hier häufiger Aufforderung als Anklage. Die bösen Blicke der russischen Frauen erntet nicht, wer zu frech, sondern wer nicht frech genug gewesen ist. In Russland ist alles möglich, alles zum Greifen nah, auch wenn es sich eigentlich gegenseitig verbietet. Vielleicht weil die Leute hier jahrhundertelang so wenig Schranken, Sicherheiten und Sicherheitsabstände eingebaut haben. Prunk und

In Diskotheken rempeln Mädchen gern Männer an Armut, Freiheit und Angst gehen Arm in Arm, auch Tod und Leben. Auf dem holprigen Asphalt eines Omsker Bürgersteigs liegt jemand, schwarz und steif wie ein Pfahl, in einem italienischen, aber abgerissenen Anzug. Als sich der Notarzt über ihn beugt, erwacht er plötzlich zu neuem Leben, richtet sich auf, schwankt, fängt an zu fluchen. Und schlägt mit den Fäusten nach seinem Retter. Russland lehrt alle Arten von Nähe. Auf den Autostraßen schießt das Verhängnis immer wieder mit tolldreisten Überholmanövern einen halben Meter an einem vorbei. Das 20-Millionen-Konglomerat Moskau ist das vielleicht größte Haufendorf der Welt. Auch wenn es längst nicht mehr funktioniert – Moskau besitzt zu viel Masse und zu viel Geld für die alte bäuerliche Nähe. Trotzdem passiert es, dass eine Moskauer Oma jäh beginnt, mich auszuschimpfen: weil ich dachte, ich könnte mein Kind schon Ende April ohne SkiAnzug und Schal ausführen. „Willst du, dass die Kleine erfriert? Schäm dich!“ –

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Nah dran

Der Demo-Reporter Martin Kaul geht auf Tuchfühlung mit dem Objekt seiner Berichterstattung – ohne die notwendige Distanz zu verlieren.

eine Kundgebung von Rechtsextremen berichtet. Die wollten mir mein Handy abnehmen und haben mich aus der Menge geschubst. Aber es ist nicht der Regelfall, dass man verhauen wird, und das sollte auch möglichst so bleiben.

Interview: Peter Laudenbach Fotografie: Oliver Helbig

• Martin Kaul geht beruflich zu vielen Demonstrationen. Der Journalist, Jahrgang 1981, berichtet seit neun Jahren als Redakteur der Berliner »Tageszeitung« (»Taz«) über soziale Bewegungen. Seit er mit Livestreams arbeitet, hat er auch außerhalb der »Taz«-Leserschaft eine Fangemeinde. Seine Kunst besteht darin, sich unerschrocken ins Getümmel zu stürzen und trotzdem professionell zu berichten. Seine Filme von Demonstrationen verbinden den Erklärstil der „Sendung mit der Maus“ („… und was wir hier sehen, ist eine vorläufige Festnahme“) mit ausgesuchter Höflichkeit und Ironie.

brand eins: Herr Kaul, wann wurden Sie bei Ihrer Berichterstattung zum letzten Mal körperlich angegangen? Martin Kaul: Richtig heftig eigentlich nur einmal, das war im Juli 2017 beim G20-Gipfel in Hamburg. Ich habe gefilmt, wie im Schanzenviertel vier Vermummte einen Bankautomaten aufbrechen wollten. Das fanden die nicht so gut. Ich hatte die Kamera eigentlich etwas versteckt gehalten, aber einer von ihnen hatte sie gesehen. Er ist auf mich zugerannt und hat mit voller Wucht zugeschlagen. Ich lag am Boden, Brille und Handy waren kaputt. Ich habe den Einsatz dann abgebrochen. Zuletzt gab es im September in Köthen eine kleinere Rangelei. Ich habe über 86

Warum marschieren Sie bei Ihrer Berichterstattung über Demos mit, statt Abstand zu halten? Nah ranzugehen ist kein Selbstzweck. Eine klassische LatschDemonstration im Livestream zu verfolgen klingt erst mal nicht sonderlich spannend. Interessant wird es erst durch KontextInformationen und durch Genauigkeit. Waren zum Beispiel neulich in Köthen alle Demonstranten Rechtsradikale, mit welchen Milieus haben sie sich gemischt? Und waren es wirklich mehr als 2000 Demonstranten, wie die Polizei gemeldet hat, oder nicht deutlich weniger? Da ist die eigene Beobachtung wichtig. Die Demonstration in Köthen fand statt, kurz nachdem in Chemnitz Rechtsradikale nach einem mutmaßlichen Totschlag durch Asylbewerber Menschen durch die Stadt gejagt hatten. In Köthen gab es eine ähnliche Situation, Rechtsradikale hatten dort sehr schnell mobilisiert. Wir wollten uns das ansehen. Nach einem sogenannten Trauermarsch wurden dort offen volksverhetzende, vermutlich auch strafrechtlich relevante Reden gehalten. Das haben wir gefilmt und gestreamt. Ich war näher dran als die Polizei, die zu diesem Zeitpunkt im inneren Bereich der Kundgebung nicht präsent war. Ich weiß nicht, ob die Polizei vor Ort hören konnte, dass mit diesen Redebeiträgen mutmaßlich Straftaten begangen wurden. Ich kann auch nicht beurteilen, aus welchen Gründen die Polizei das nicht unterbunden hat. Aber aus journalistischer Sicht war es sinnvoll, sehr nah am Geschehen zu sein, um es ungefiltert zu dokumentieren. Geben Sie mit diesem Stream rechtsradikaler Hetze nicht ungewollt eine Plattform? Natürlich gibt es die Gefahr des Missbrauchs. Aber ist die Alternative, meine Arbeit deshalb einzustellen? Wir haben später festgestellt, dass die Polizei unser Live-Material als Lagebild genutzt hat. Soll ich mich davon beeindrucken lassen? Nein. Ich kann nicht kontrollieren, wer unser Material wie nutzt. Das kann auch nicht der Maßstab der Berichterstattung sein. Als Redakteur der »Taz« dürfte Ihre politische Haltung gegenüber Demonstrationen von Rechtsextremen eindeutig sein. Sind Sie in solchen Situationen eher Aktivist als Journalist? Ich bin als Journalist erst mal Beobachter, und das möglichst genau. Sicher, die »Taz« wurde aus sozialen Bewegungen heraus gegründet und hat in ihrer Frühphase auch eigene Kampagnen initiiert. Aber in der journalistischen Arbeit, egal ob in Köthen, bei G20 oder im Hambacher Forst, sind Demonstrationen und brand eins 12/18

soziale Bewegungen nicht Freunde oder Gegner, sondern das Objekt der Berichterstattung. Natürlich habe ich eine politische Haltung, die kann auch jeder in meinen Kommentaren erkennen. Und natürlich sage ich in einem Livestream, wenn in Köthen ein Rechtsextremist von einem „Rassenkrieg“ spricht und dazu auffordert, „Auge um Auge, Zahn um Zahn“ zurückzuschlagen, dass es sich bei solchen Aussagen meiner Meinung nach um Volksverhetzung handelt. Aber meine politische Haltung darf die Berichterstattung nicht verzerren. Wenn beim G20-Gipfel Demonstranten Straftaten begehen, sehe ich keinen Grund, das nicht zu zeigen. Vor Kurzem habe ich die Rollen gewechselt, als ich den Aufruf zu der Berliner #unteilbar-Demonstration unterzeichnet habe. Das mache ich sonst eigentlich nicht, eben um die Trennung zwischen Beobachter und Akteur sauber zu halten. Bei dem sehr breiten #unteilbar-Aufruf war das anders, ich wollte als Bürger und »Taz«-Redakteur Farbe bekennen. Aber das muss transparent sein. Wenn ich im Stream von der Demo berichte, mache ich also kenntlich, dass ich da nicht neutral bin. Wenn es Nähen gibt, die die journalistische Distanz gefährden, muss man das deutlich markieren.

Gab es auf Demonstrationen Szenen, die Sie gefilmt, aber bewusst nicht verwendet haben, um die Gefilmten zu schützen? Wenn Szenen an die Grenze der Menschenwürde gehen, sollte man sie nicht zeigen. Meine »Taz«-Kollegin Anett Selle hat von den Demonstrationen im Hambacher Forst berichtet. Während eines Livestreams sah man, wie im Hintergrund ein Mensch von einem Baum stürzt. Sehr schnell war klar, dass er den Sturz nicht überlebt hat. Wir haben das Material sofort aus dem Netz genommen und untersagt, dass andere diese Bilder verbreiten. Meine Aufgabe ist nicht, Sensationslust zu bedienen. Bei G20 in Hamburg hat das militante Lager bewusst Bilder der Eskalation inszeniert. Auf »N 24« konnte man im Splitscreen auf der einen Seite des Bildschirms das Innere der Elbphilharmonie mit den Gipfelgästen sehen, auf der anderen das brennende Schanzenviertel und vermummte Autonome. Diese Kontraste waren ein von den Autonomen erwünschter Effekt. Das heißt nicht, dass man die brennenden Autos nicht zeigen soll. Aber es ist nicht das ganze Bild. Ich habe bei G20 darauf geachtet, auch durch die umliegenden, leeren Straßen zu fahren, die Perspektive zu wechseln, zu zeigen, dass eine Straße weiter ganz normaler Alltag stattfindet. Es ist Unsinn zu sagen, das ganze Schanzenviertel brennt, wenn in einigen Straßen Autos brennen. Das ist schlimm genug, aber man muss es nicht noch aufblasen. >

Druck wird das Wasser gesprüht, ist es ein Sprühnebel, oder kann der Druck Demonstranten von der Straße zwingen? Geht der Wasserstrahl in die Luft, oder wird er direkt und hart auf die Demonstranten gerichtet? Hier hat der Wasserwerfer das Wasser mit sehr geringem Druck in die Luft gesprüht. Die Einzigen, die nass wurden, waren die Polizisten. Das haben wir gezeigt.

Kriegsberichterstatter sprechen von einer Art Sucht nach dem Adrenalinkick bei gefährlichen Einsätzen. Kennen Sie das auch? Ich kann das verstehen, deshalb muss man da mit sich selbst ehrlich sein. Mir selbst geht es aber nicht so, dass ich die nächste Nazi-Demo gar nicht erwarten kann. Die Chance unserer Livestreams liegt oft gerade in der Enthysterisierung oder im Versuch, etwas andere Geschichten zu erzählen als die in einem Fernsehbeitrag von 90 Sekunden. Am Dienstag vor dem G20-Gipfel gab es ein sogenanntes hedonistisches Massencornern, die Leute standen auf der Straße und tranken Bier, eine völlig entspannte Situation. Die Polizei hat sie dann gebeten, ihr Bier nicht auf der Straße, sondern nebenan in einem Park zu trinken. Irgendwann ist die Polizei mit Wasserwerfern aufgefahren, hat begonnen, Wasser zu versprühen. Eine Agentur-Meldung lautete dann etwa so: „Polizei setzt Wasserwerfer ein.“ Auf den Zeitungsfotos sah das am nächsten Tag aus wie das klassische Wasserwerfer-Krawall-Bild. Bei uns im Livestream konnte man sehen, dass die Situation wesentlich ruhiger war. Und wir können Details zeigen: Mit welchem

Gehört zum Einhalten der notwendigen Distanz auch, dass Sie in Ihren Berichten von Polizisten oder Polizeibeamten sprechen und nicht, wie es früher ab und zu die »Taz« tat, von „Bullen“? Ja, aber das ist eigentlich selbstverständlich. Polizeibeamte sind nicht mein Feindbild. Die machen ihre Arbeit, und hoffentlich machen sie sie gut. Meine Aufgabe ist es nicht, jemanden zu dämonisieren, sondern zu informieren, zum Beispiel über Demonstrationsrecht, Polizeieinsatzrecht oder Presserecht auf Demonstrationen. Ein klassisches Beispiel ist eine Sitzblockade, also Widerstand. Die Polizei darf Widerstand brechen. Die Mittel, die sie einsetzt, müssen angemessen und verhältnismäßig sein, von Wegtragen bis Wasserwerfer. Ein trainiertes polizeiliches Mittel ist ein Schmerzgriff auf die Nase, bei der die Nase hoffentlich nicht bricht. Die Schmerzen sind heftig, in der Regel lassen sich die Leute dann los, wenn sie untergehakt auf dem Boden sitzen. Dann wird gern reflexhaft „Gewalt! Scheißbullen …“ gerufen. Viele wissen nicht, dass dieser Griff geübte Polizeiroutine und kein Gewaltexzess ist. Unabhängig davon, ob man das gut oder schlecht findet und wie immer man die Angemessenheit in der jeweiligen Situation bewertet, geht es erst mal darum, das einzuordnen und zu schildern. Ein Urteil kann sich dann ja jeder selbst bilden. Aber ein regelkonformer Schmerzgriff zur Auflösung einer Sitzblockade ist etwas anderes, als wenn ein Polizist einem Demonstranten einfach so in den Bauch tritt, wie wir es im September am Kottbusser Tor in Berlin gesehen haben. So etwas ist unverhältnismäßig, das muss zu Ermittlungen und gegebenenfalls zu strafrechtlichen Konsequenzen führen.

Der Reporter im Einsatz

Sind Ihre Demo-Livestreams auch ein Marketing-Instrument? Weil wir über Nähe reden, würde ich eher sagen, sie schaffen eine andere Verbindung zum Nutzer. Im Marketing-Deutsch würde man sagen, sie stärken die Leser-Blatt-Bindung. Wir experimentieren da noch, aber wir wollen diese Art der Berichterstattung ausbauen. Wir erreichen damit Leute, die die »Taz« bisher nicht lesen. Und die Zahl der Nutzer, die freiwillig für unser Online-Angebot zahlen, wächst deutlich, das nennt sich „Taz – zahl ich“. Allein im September hatten wir 700 neue Anmeldungen von Nutzern, die jetzt etwas zahlen, so viele wie in keinem Monat davor. Nicht alle, aber viele von ihnen beziehen sich auch auf diese Livestream-Angebote. – 88

brand eins 12/18

Abbildungen: Martin Kaul

Manchmal ist Distanz also nötig, um den Blick zu schärfen. Distanz ist ein gutes Mittel. In Köthen zum Beispiel sind wir nicht erst mitten in der Demo auf Sendung gegangen, sondern mehrere Hundert Meter davor. Man bekommt ein Gefühl von der Umgebung, auch dafür, ob die Demonstration zum Beispiel die örtliche Bevölkerung interessiert oder ob das eher auf Gleichgültigkeit stößt. Das relativiert das Geschehen.

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Meine Lieben!

• Caroline Scheff begrüßt die Gastgeberin wie eine alte Vertraute. „Vorsicht, nicht zu nahe kommen, ich bin erkältet“, sagt Anke noch, aber da hat Scheff sie schon umarmt. Es ist 19 Uhr an einem Dienstag. Anke, die vor Kurzem bei Scheff ein ThermomixKüchengerät gekauft hat, hat einige Auf Thermomix-Partys und beim Frauen – Inge, Hilde, Iris und Anja – Influencer-Marketing behandeln Verkäufer zu einer Verkaufsparty zu sich nach ihre Kunden wie Freunde. Hause eingeladen. Und Caroline Scheff? Kommt rein, legt ab, besetzt die Küchenablage. Zwei Minuten später nennen sie alle Caro. Ist das in Ordnung? Nichts mit „Was wünschen die Dame?“ oder „Kann ich Ihnen behilflich sein?“ – auf der Verkaufsparty gibt Text: Klaus Raab Collage: Mathieu Bourel es erst mal Weißwein und Smalltalk, und dann wird über Generationsgrenzen hinweg geduzt. Der Plan für den Abend lautet: ein Fünf-Gänge-Menü zubereiten, selbst gebackenes Brot inklusive, und gemeinsam essen. „Ich hoffe, ihr habt Hunger mitgebracht“, sagt Scheff, auf deren Oberteil glitzernd „Thermomix“ steht. Alles andere als ein allgemeines Du würde in dem Rahmen unangemessen wirken. So beginnt die Kunst des Verkaufens unter Freunden. Andere Generation, andere Veranstaltung: InfluencerMarketing. Vreni Frost hat vor Kurzem bei Instagram ein Foto dreier Taschen gepostet. Darunter schrieb sie: „Mein lieber @kiliankerner_ hat gemeinsam mit @mysamsonite eine weitere Taschenkollektion gelauncht.“ Sie setzte ein Bizeps- und ein Herzsymbol und schrieb: „Me Likey“. Es klang wie eine Empfehlung an Freunde, wie sie in den sozialen Medien üblich ist: Leute, schaut, was mein alter Freund Tolles gemacht hat! Vreni Frosts Posting aber war Reklame. Sie verschleiert das nicht, das Posting beginnt mit dem Hinweis „[Werbung]“. Und doch, was auffällt, ist dieser fast zärtliche Ton: „lieb“, dazu das Herz. Der Designer, Kilian Kerner, dankte Frost mit Herzchen, Küsschen und verliebtem Smiley und schrieb: „danke dir liebes“. Instagram-Nutzerinnen stimmten in den Kommentaren in den Sound ein: „wundervoll“, fand eine. Eine andere lobte eine Tasche: „Oh > die blaue ist ein Traum.“

Es ist Werbung, die wirkt wie ein Gespräch unter Freunden. Eine Art Verlängerung der Verkaufsparty in die sozialen Medien. Die Bloggerin Vreni Frost sitzt an einem Herbsttag auf einer Couch in einem gläsernen Besprechungsraum in Berlin und erklärt, was sie tut. Hauptsächlich verdient sie ihr Geld mit klassischen Advertorials, Blog-Posts mit Social-Media-Verlängerung, Instagram-Storys und -Posts. Manches, was sie sagt, könnte aber schon vor Jahrzehnten jemand gesagt haben. Etwa dass sie „Werbung für Produkte mache, mit denen ich mich identifizieren kann“. Das ist eine brauchbare Definition von Influencer-Marketing: Es funktioniert am besten, wenn man den Werbebotschaftern abnimmt, dass sie die jeweilige Marke selbst gut finden. Marilyn Monroe hat 1952 nichts anderes behauptet, als sie in einem Interview einfließen ließ, welches Parfüm sie benutzt. Vermutlich hätte sie nicht glaubwürdig über Motorenöl sprechen können. Chanel No. 5 dagegen fügte sich organisch in ihren Gesamtauftritt. Allerdings hat sich durch die sozialen Medien das Verhältnis von Vorbild und Fan verändert. Stars sind wie funkelnde Sterne, die man anhimmeln kann. Aber weit weg. In der medienpsychologischen Forschung ist von parasozialen Beziehungen die Rede: Gerade Teenager entwickeln mit diesen abgehobenen Figuren oft eine Verbundenheit, die einer Freundschaft ähnelt. Bei Influencern ist das anders. Nahbarkeit und Zugänglichkeit, sagt Vreni Frost – darum gehe es. „Du kannst der Person schreiben, du kannst einen Kommentar absetzen. Das ist das Tolle“, sagt sie. „Ich antworte praktisch auf jede Privatnachricht, die ich bekomme.“ Die großen Instagram-Accounts heute seien zwar „durchgestylt wie ein Hochglanzmagazin“, und wer Millionen von Followern habe, sei auch kaum noch wirklich für jeden erreichbar. „Aber die Nahbarkeit ist trotzdem noch da, auch weil viele Influencer die direkte Ansprache pflegen.“ Eine Ansprache, mit der man bei Instagram nicht auffällt, ist etwa „Meine Lieben“. Man sieht Frauen, die in Tracht auf einer Waschmaschine sitzen, und welche, die Pflegeprodukte auf ihrem Babybauch balancieren. Darunter liest man Kommentare, die Zweifel daran wecken, dass in sozialen Netzwerken wirklich Hate Speech dominiert. „Tolles Outfit, meine Liebe“, steht da. „Luv your style du süße maus“. Oder „Wooow! Sieht toll aus hab einen schönen Dienstag“. Man geht miteinander um wie mit wirklich guten Freundinnen. Love Speech. So verkaufen Influencer Produkte und Markenbotschaften an Social-Media-Freunde. Die Frage ist nur: Ist es für die, die sich auf solchen Partys oder auf Influencer-Accounts tummeln, in Ordnung, dass sie 92

Die gut sichtbare Kennzeichnung werblicher Instagram-Posts als Werbung oder Anzeige soll Nutzer schützen. Cornelia Holsten ist die Vorsitzende der Direktorenkonferenz der Landesmedienanstalten und steht der Kommission für Zulassung und Aufsicht vor, dem zentralen Organ der Medienanstalten, das Verstöße gegen Werberegeln beurteilt. Sie sagt: „Die Idee der Werbekennzeichnung ist, dass ein ‚Obacht‘ ausgesprochen wird wie ein Ausrufezeichen. Jeder muss erkennen können, ob er gerade Werbung sieht. Und das ist bei Influencern besonders wichtig, weil die Zielgruppe jung ist und damit ganz besonders schutzbedürftig.“ Das Prinzip sei einfach: „Wo Werbung drinsteckt, muss Werbung draufstehen. Wenn keine Werbeabsicht vorliegt, braucht es natürlich auch keine Kennzeichnung als Werbung.“ Nur kursieren derzeit unterschiedliche Ansichten darüber, was eine Werbeabsicht ist. Wie viele Instagramer ist Vreni Frost in diesem Jahr von einem Verband wegen dreier Fotos abgemahnt worden. Darauf hatte sie die Hersteller von Accessoires und der Kleidung, die sie trägt, verlinkt. Das sei werblich, monierte der Verband. Frost argumentiert: Erstens habe sie sich die Sachen privat gekauft. Zweitens sei es „das Prinzip von Social Media“, sich zu vernetzen und andere Accounts zu taggen. „Wenn ich mir eine Computer-Fachzeitschrift kaufe, will ich doch auch wissen, was ein Teil kostet, das da vorgestellt wird, und wo es das gibt.“ Doch das Landgericht Berlin hat im Mai eine einstweilige Verfügung ausgesprochen. Das Urteil ist nicht rechtskräftig. Aber Frost will sichergehen. Seitdem kennzeichnet sie ausnahmslos alle InstagramBeiträge als Werbung. Sogar Fotos ihrer Kater. Die Kennzeichnungspflicht, die doch eigentlich dem Schutz von Nutzern dienen solle, sagt sie, sei dadurch „für die Katz: Im Moment kennzeichnen alle alles, und die Gefahr ist, dass der Werbebegriff verwässert“. In der Branche wird mit Spannung erwartet, wie das Verfahren ausgeht. brand eins 12/18

sich auf einem Marktplatz befinden, obwohl geredet wird wie bei einer Pyjamaparty?

„Es gibt ein Gschmäckle“ Die Betriebswirtschaftlerin Claudia Groß von der Universität Nijmegen in den Niederlanden beschäftigt sich seit vielen Jahren mit Verkaufsstrategien von Direktvertriebsunternehmen. Sie sagt, solche Verkaufspartys hätten „schon etwas mit Gemeinschaft zu tun, mit Liebe zum Produkt“. Darin, glaubt sie, ähnelten die Partys Instagram-Communitys. „Wenn man jemandem folgt, also Teil einer Fangruppe ist, dann gehört man da dazu.“ Die vielen Fotos, die unter Hashtags wie #thermomix gesammelt werden, zeugen davon, dass es auch in dem Fall eine echte Gemeinschaft gibt. Das Küchengerät verbindet Menschen. Und doch, sagt Groß: „Es gibt, wie man bei meiner Mutter im Schwäbischen sagen würde, ein Gschmäckle. Freundes- und Bekanntenkreise zum Verkaufen zu nutzen finde ich einfach fragwürdig.“ Ein schöner Abend, der in eine Abrechnung eingeht; ein Herzchen-Posting, das einer ökonomischen Logik folgt – das passt dann doch nicht wirklich. Die Ambivalenz spürt man bei Ankes Thermomix-Abend. Iris und Anja beginnen irgendwann selbst von den Vorzügen des

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Geräts zu schwärmen. Hilde und Inge dagegen, die Älteren in der Runde, gehen schon in Abwehrposition, bevor es angeschaltet wird: „Wir haben eine kleine K¾chenablage, wir haben eh keinen Platz dafür“, sagt Hilde, und Inge nickt. Lieber vorbeugen, damit nicht hinterher jemand sagt, sie hätten jetzt für lau gegessen. Claudia Groß sagt: „Das Problem, das ich sehe, ist, dass eine Verkaufsparty überhaupt nicht angenehm sein muss. Wie schafft es ein Unternehmen, mir Sachen zu verkaufen, die womöglich überteuert sind? Natürlich weil ich in einer Verkaufssituation bin, in der ich nicht vergleichen kann und den sozialen Druck fühle, auch etwas zu kaufen.“ Tatsächlich sind die Erwartungen ein Thema unter den Gästen. Anke, die Gastgeberin, sagt, das sei ihr aufgefallen, als sie die Einladungen ausgesprochen habe: „Es gab das Problem, dass viele glauben, dann müssen sie so ein Ding kaufen.“ Iris: „Ich habe mich das schon auch gefragt.“ Anke: „Das denken alle. Aber nee, sag’ ich, du sollst nur kochen kommen.“ Iris: „Das hat mir dann auch eingeleuchtet. Bei Tupper-Partys gibt es ja auch etwas Kleines, dann kauft man halt irgendwas. Aber hier gibt es ja nur ein einziges Gerät, das mehr als tausend Euro kostet. Natürlich kann niemand davon ausgehen, dass man das einfach kauft, ohne noch mal darüber nachzudenken.“ >

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Bei den vom Hersteller Vorwerk initiierten Thermomix-Partys ist der soziale Druck tatsächlich niedriger als bei ähnlichen Veranstaltungen mit Produkten anderer Unternehmen, auch weil die Gastgeberin hier kein Geschenk bekommt, dessen Wert sich am Umsatz eines Kochabends bemisst. Keine Freundin, kein Freund muss der Gastgeberin zuliebe kaufen. „Das Risiko bleibt komplett bei uns“, sagt Caroline Scheff. Sie ist selbstständig wie die meisten Unternehmensrepräsentantinnen in der Direktvertriebsbranche; rund 12 000 sind laut Vorwerk in Deutschland allein freiberuflich für Thermomix tätig. Sie bekommt eine Provision für jedes Gerät, das sie verkauft. „Wenn niemand etwas kauft, habe ich Pech gehabt.“ Sie hat Glück. Iris ist interessiert und erkundigt sich nach den Konditionen. Scheff hat ein Spezialangebot. Und ein weiteres Erlebniskochen bei Iris zu Hause gäbe es ohnehin inklusive, mit neuen Gästen, dann aus Iris’ Bekanntenkreis. „Da brauche ich drei Kaufwillige?“, fragt sie. „Nein, nein, keine Kaufwilligen“, sagt Caroline Scheff. „Es wäre gut, wenn drei Haushalte vertreten wären, die noch keinen Thermomix haben. Aber bitte niemanden fragen, ob er einen kaufen will. Wir kochen nur, und ich zeige dir ein paar Tricks am Thermomix. Ganz entspannt.“ So wird, das ist der gewünschte Effekt, das Netzwerk an potenziellen Kunden mit jedem Verkauf größer.

Ein Geschäft, das Freundschaften zerstört Sogenannte Multi-Level- oder Network-Marketing-Unternehmen beuten die sozialen Beziehungen ihrer Vertreter aus. Sie halten diese nicht nur dazu an, Produkte an Freunde und Bekannte zu verkaufen. Sondern auch dazu, dort weitere Verkäufer zu rekrutieren, um an deren Umsätzen mitzuverdienen und so weiter und so fort. Bei den Verkäufern ganz unten bleibt erheblich weniger hängen als ganz oben. Im schlimmsten Fall bekommen sie die Ausgaben für die Produkte nicht mehr zurück. Der Grat zwischen einem legalen Modell und einem illegalen Schneeballsystem, bei dem die Anwerbung neuer Mitarbeiter im Vordergrund steht, kann schmal sein. Amway und Herbalife, zwei der bekanntesten dieser Unternehmen, standen in den USA schon im Verdacht, illegal zu agieren; Herbalife musste einen dreistelligen Millionenbetrag an ehemalige Direktvertriebler zurückzahlen, die Geld verloren hatten. Doch selbst wenn ein Unternehmen sich im legalen Rahmen bewegt, kann das Verkaufen an Freunde dazu führen, dass man irgendwann keine Freunde mehr hat. Michael Kehl (Name geändert) hat beim Unternehmen Juice Plus erfahren, wie es Freundschaften verändern kann, wenn man sie mit Geschäftsmodellen verwechselt. „Eine Freundin hat jemanden getroffen, der ihr sagte, Obst und Gemüse würden nicht reichen, um den Vitaminbedarf zu decken, weil sie überzüchtet seien. Mit den Nahrungsergänzungsmitteln von 94

Juice Plus könne man diese Lücke schließen.“ Der Verkäufer machte ihr Hoffnung auf einen guten Verdienst, wenn sie die Produkte verkaufe. Drei Freunde – auch ihn – habe sie daraufhin als neue Mitarbeiter gewonnen. „Alle haben ihr zuliebe mitgemacht“, sagt Kehl. Er sei allerdings längst überzeugt, dass das Produkt „keinerlei Wert hat. Diese Vitaminlücken gibt es einfach nicht.“ Der Glaube an die Wirksamkeit aber werde intern so stark gefördert, dass eine Auseinandersetzung kaum stattfinde. Seine Freundin sei einmal wirklich sauer auf ihn gewesen, als er Zweifel formuliert habe. Michael Kehl sagt, er sei nur noch nicht ausgestiegen, weil er nicht wolle, dass seine Freundschaft zerbreche. Mittlerweile merke die Freundin aber selbst, „dass sich ihr Traum vom guten Geld nicht erfüllt“. Juice Plus hat auf den Vorwurf, die Mitarbeiterin sei über Verdienstmöglichkeiten getäuscht worden, schriftlich reagiert: Man sei „ehrlich bestürzt“, heißt es. Sollte der Vorwurf zutreffen, läge ein „Verstoß gegen unsere Verhaltensregeln vor“. Es dürfe nicht der Eindruck erweckt werden, „ein bestimmtes Einkommen sei garantiert oder einfach zu erreichen“. Claudia Groß hält das Produkt für den Direktverkauf für ungeeignet: Menschen ohne medizinische Befähigung sollen ihren Freunden und Bekannten Nahrungsergänzungsmittel andrehen. Das Problem der geringen Einkommenschancen sieht sie bei allen derartigen Unternehmen. Tupperware oder Thermomix sind nach Ansicht von Groß ungefährlich. Wer zu einem Erlebniskochen geht, weiß, dass dort ein Produkt verkauft wird. Und dass man das auch problemlos lassen kann. Wissen das die Kinder, die sich auf Youtube und Instagram tummeln, auch? Cornelia Holsten ist die Direktorin der Bremischen Landesmedienanstalt; Werbeaufsicht und Medienkompetenzförderung gehören zu ihrem Beruf. „Vor ein paar Wochen hatte ich ein Gespräch mit einer Neunjährigen, die mir von Youtube erzählte“, sagt sie. Das Mädchen schaue Beauty-Videos und wisse, dass die Influencerin auch Werbung macht und deshalb ganz reich ist, aber sie gucke sie trotzdem. „Ein schön aufgeklärtes Kind.“ Das Problem sei, dass so viel Medien- und Werbekompetenz nicht selbstverständlich sei. Sie gehe auch in Schulklassen, sagt Holsten, und da gebe es „auch viele, die den Tränen nahe sind, wenn ich ihnen sage: Das sind nicht eure Freundinnen. Die schreiben unter ein Posting, ‚ich hab’ euch lieb‘. Aber nicht weil sie euch lieb haben, sondern weil sie Geld dafür bekommen.“ Dass es einen Zusammenhang zwischen Freundschaft und Geld geben könnte, muss man wohl lernen. Es ist nicht die schönste Lektion des Lebens. –

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„Wir versichern uns gegenseitig, dass wir liebenswert sind“ Was bedeutet Freundschaft in Zeiten von Facebook? Antworten gibt der Philosoph Björn Vedder. Interview: Nils Wischmeyer Fotografie: Jens Schwarz

gemein geliebt werden. Das bedeutet, die Anerkennung erzeugt er selbst, indem er den Erwartungen der Gesellschaft entspricht. Und heute? Im späten 18. Jahrhundert beginnt sich die moderne Persönlichkeit zu entwickeln. Die allgemeine Liebe reicht uns seitdem nicht mehr. Der Mensch will etwas Besonderes sein, etwas Einzigartiges, und dafür geliebt werden. Wir versichern uns also gegenseitig, dass wir liebenswert sind. Das ist die Essenz moderner Freundschaften. Diese Bestätigung suchen wir in herkömmlichen Freundschaften, die in Zahl und Qualität übrigens dieselben wie früher sind, und in sozialen Netzwerken. Über sie bekommen wir die quantitative Anerkennung. Wie hat sich die Idee der Freundschaft historisch sonst noch verändert? Bis ins 19. Jahrhundert, etwa zu Zeiten der Romantik, galt die viel besungene Freundschaft in der Not. Oder auch die Idee der Kameradschaft. Beides sind Konzepte, die nicht so stark auf Anerkennung, sondern auf Verbrüderung beruhen: Ich habe dir geholfen, jetzt hilfst du mir. Das ist in Systemen ohne soziale Absicherung wichtig, hat sich aber überlebt. „Der Mensch will etwas Besonderes sein“: Björn Vedder am Ammersee

brand eins: Herr Vedder, wie wichtig ist Freundschaft? Björn Vedder: So wichtig wie noch nie. Wenn Sie Menschen fragen, was ihnen wichtig ist, liegt sie meist auf den vorderen Plätzen. Sie ist oftmals wichtiger als die Liebe oder auch die Karriere. Denn diese Beziehungen erodieren, während die Freundschaft als beständig gilt. Was macht sie aus? Freundschaften sind Beziehungen, die auf gegenseitiger Anerkennung beruhen und über die wir uns versichern, dass wir liebenswürdig sind. Danach streben wir auf zwei Arten: Es gibt zum einen den Wunsch, von wenigen Menschen, die wir sehr gut kennen, anerkannt zu werden. Das ist die qualitative Bestätigung aus dem engen Kreis der Freunde. Andererseits gibt es die quantitative Bestätigung, bei der wir von möglichst vielen möglichst häufig, aber oberflächlich anerkannt werden wollen. Ist also Anerkennung der entscheidende Antrieb? Das war sie schon immer. Die Art der Anerkennung aber hat sich geändert. Früher galt: Der Mensch will zunächst einmal all98

Warum? Wenn wir uns heute am Konzept der Freundschaft in der Not orientieren und trotzdem vom Freund individuelle Anerkennung bekommen möchten, ist das fatal. Wir können uns dann nicht sicher sein, ob der Gefallen nun eine Dienstleistung ist oder die Suche nach Anerkennung. Es entsteht das Problem der Heuchelei. Denn wir tauschen dann zwar Dienstleistungen, tun aber so, als wären wir dem anderen aus reiner Liebe behilflich. Wenn wir davon ausgehen, dass alles von Anerkennung bestimmt wird, klingt das narzisstisch. Aber es ist zumindest ehrlich und zunächst einmal weder gut noch schlecht. Wie sähe die schlechte Seite aus? Im schlimmsten Fall wird ein Gegenüber zum bloßen Spiegel. Wenn das der Fall ist, findet man nie die Anerkennung, die man sucht – und wird unglücklich. Einseitige Anerkennung ist nichts wert und frustrierend, aber es gibt natürlich Beziehungen, die genau darauf hinauslaufen. Dann ist der Narzissmus schlecht. Ist Narzissmus das nicht per se? Auf keinen Fall. Narzisstische Freundschaften haben auch eine große moralische Qualität. In meinen Augen sind meine Freunde immer ein bisschen größer, besser und schöner, ich idealisiere brand eins 12/18

sie, weil ich von möglichst tollen Menschen anerkannt werden will. Das ist etwas Schönes. Auf der anderen Seite frage ich mich: Was ist an mir liebenswert? Und hebe das hervor. Wenn ich von anderen Menschen geliebt werden will, muss ich aus mir jemanden machen, der für andere liebenswert ist. Der Narzissmus macht uns in diesem Fall zu besseren Menschen. Welche Rolle spielt Facebook dabei? Das soziale Netzwerk hat eine Doppelrolle: Zum einen hält es uns den Spiegel vor, zeigt uns, wie narzisstisch wir sind. Zum anderen bestärkt Facebook unseren Wunsch nach Geltung, nach Anerkennung, nach Liebe um unser selbst willen. Je einfacher es für mich ist, den Wunsch nach Anerkennung zu befriedigen, desto mehr werde ich das nutzen – und bei Facebook ist das sehr einfach. Verlieren wir uns immer stärker in diesem digitalen Spiegelkabinett? Der Wunsch nach Anerkennung kann zumindest quantitativ nie gestillt werden. Wer also ausschließlich auf Facebook nach Anerkennung sucht, wird nie vollends befriedigt werden. Auch der ständige Vergleich kann einen runterziehen. Wir stehen in einem ständigen Konkurrenzkampf um Aufmerksamkeit, genauso wie Nachrichtenseiten. Niemand schreibt heute mehr: „Björn Vedder … fährt jetzt U-Bahn.“ Das ginge unter. Facebook funktioniert ja nach dem Prinzip: Wer Likes hat, dem wird gegeben. Daran orientieren wir uns und versuchen, möglichst auffällige Posts zu setzen. Das ist nicht zwangsweise schlecht. Denn wir überlegen uns: Was ist denn liebenswürdig, wofür kriege ich Likes? Das hilft zu reflektieren und führt mir vor Augen, dass ich mich zu jemandem machen muss, der tatsächlich liebenswert ist. Waren unsere Großeltern weniger narzisstisch? Deren KegelbahnFreundschaften halten schließlich immer noch, und unglücklich wirken sie damit nicht. Ich glaube, es gab damals einfach weniger Möglichkeiten, um Anerkennung zu buhlen. Sonst hätten sie das auch gemacht. Der italienische Filmemacher Federico Fellini erzählt aus seiner Kindheit in Italien, wie er abends mit der Mutter flanieren ging und sie ihn ermahnte, er solle nicht mit dem Finger in der Nase bohren, sondern sich die Frauen anschauen. Man hatte sich herausgeputzt, flanierte im besten Staat und wollte zeigen: Schau, ich bin schön, erkenne mich an. Wenn es in sozialen Netzwerken so einfach ist – warum suchen wir überhaupt noch irgendwo anders nach Anerkennung und Liebe? Weil wir den physischen Kontakt brauchen. So richtig kennen kann man sich nur, wenn man sich auch mal anfasst, also bebrand eins 12/18

greift. Nur über Kommunikation kann man eine intime Beziehung niemals herstellen. Das widerspricht aber Ihrer These, dass Facebook-Freunde echte Freunde sind. Das eine schließt das andere nicht aus. Es gibt eben die beiden Strategien, Anerkennung zu erlangen – und deswegen auch unterschiedlich intime Freundschaften. Wir brauchen beides und nehmen die physischen Freunde auch gern mit ins Virtuelle. Und was bringt das? Digitale Medien erleichtern die Pflege der Freundschaften. Auch wenn alle aufgrund ihrer individuellen Lebenswege in unterschiedliche Städte und Länder ziehen, kann man Kontakt halten. Das ersetzt den physischen Kontakt nicht, aber es kommt dem sehr nahe. Eigentlich ist das wie eine Briefkultur, nur war deren Intimität damals den Eliten vorbehalten, heute ist das durch das Internet demokratisiert. Das heißt, Facebook rettet Freundschaften, die sonst endeten? Mein Vater hat sein halbes Leben mit Manni Fußball gespielt. Der Manni hat die Flanken gegeben, und mein Vater hat versucht, ein Tor zu machen. Dann ist mein Vater weggezogen und hat den Manni nicht mehr gesehen, und mit dem Austausch ist auch ihre Freundschaft verschwunden. Solche Beziehungen sind dank digitaler Kanäle heute konstanter. Wenn wir so viele Möglichkeiten haben, Freundschaften zu pflegen: Warum sind dennoch viele Menschen unglücklich? Weil in ihren Köpfen noch die alten Ideale vorherrschen: von der Freundschaft in der Not und der Kameradschaft beispielsweise. Diese Konzepte passen nicht zum modernen Menschen. Solange wir unsere Vorstellung von der Freundschaft und unsere Erwartungen nicht an die heutige Zeit anpassen, können wir nicht glücklich werden. Jetzt kennen wir uns ein paar Stunden. Ich schicke Ihnen dann eine Facebook-Anfrage, okay? Oh, danke, das freut mich. Ist das nicht verrückt? Überhaupt nicht. Das ist großartig. –

Björn Vedder, 42, ist Philosoph, Publizist und Kurator. Er beschäftigt sich mit Phänomenen der Gegenwart und hat 2017 das Buch „Neue Freunde – Über Freundschaft in Zeiten von Facebook“ veröffentlicht. Vedder lebt mit seiner Familie in Herrsching am Ammersee. 99

Nähe und Distanz in Zahlen

Geschätzte Zahl der Deutschen, die einen Chip unter der Haut tragen, um damit beispielsweise ihre Haustür zu öffnen

4000

Anteil der Deutschen, die sich vorstellen können, einen Gesundheits-Chip unter der Haut zu tragen, in Prozent

19

Zusammengestellt von Ingo Eggert

Durchschnittliche Dauer eines Direktflugs von New York nach Houston im Jahr 1973, in Minuten

Entfernung vom unzugänglichsten Ort Deutschlands, der Sandbank Großer Knechtsand, zur nächsten Straße, in Kilometern 13,6

Bevölkerungsdichte von Macau, einer Sonderverwaltungszone Chinas, in Einwohnern pro Quadratkilometer 20 547 Bevölkerungsdichte von Australien, in Einwohnern pro Quadratkilometer 3

Durchschnittliche Zeit, die die Angestellten in zwei US-Unternehmen direkt miteinander kommunizierten, bevor sie aus ihren Einzelbüros in ein Großraumbüro gezogen sind, in Stunden pro Tag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5,8 Durchschnittliche Zeit, die diese Angestellten direkt miteinander kommunizieren, seitdem sie im Großraumbüro sitzen, in Stunden pro Tag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .1,7

Rückgang der direkten Gespräche in diesen beiden Firmen, in Prozent . . . . . . . . . . 70 Zunahme der verschickten E-Mails, in Prozent . . . . . . . . . 56 Zunahme der verschickten Nachrichten über MessengerDienste, in Prozent . . . . . . . . . . 67

Steigerung des US-Kerosinpreises seit Ende der Siebzigerjahre, in Prozent

415

(Um Kosten zu senken, fliegen die Flugzeuge heute langsamer. Dadurch verbrauchen sie weniger Treibstoff.)

1 Zahl der Personen, die die Berliner Mauer geheiratet haben

Entfernung vom entlegensten Punkt der Welt, Point Nemo, zum nächsten Land, in Kilometern 2688

Durchschnittliche Dauer eines Direktflugs von New York nach Houston im Jahr 2016, in Minuten

Nähe, die man für gewöhnlich nur von engen Freunden, Partnern oder Verwandten zulässt, in Metern bis zu 0,5 Distanz zu Personen, mit denen man eine Konversation führt, ohne sich dabei bedrängt zu fühlen, in Metern zwischen 0,5 und 1 Distanz zu Fremden, beispielsweise am Bahnsteig der U-Bahn, die als angemessen empfunden wird, in Metern

1 bis 4

157 230

1964 Zahl der Kinder, die in Deutschland als vermisst gelten

Zahl der Kontakte mit Freunden pro Monat von Männern, wenn sie Single sind . . . . . . . . 14 wenn sie verheiratet sind . . . 7

Zahl der Kontakte mit Freunden pro Monat von Frauen, wenn sie Single sind . . . . . . . . 13 wenn sie verheiratet sind . . . 6

Anteil der Eltern in Deutschland, die der Meinung sind, dass es in der Nähe ihres Wohnortes zu wenig Kinder- und Jugendärzte gibt, in Prozent . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 34

Zahl der Berührungen, die Briten mit ihren Gesprächspartnern innerhalb einer Stunde austauschen

0

180

Zahl der Berührungen, die Puerto-Ricaner mit ihren Gesprächspartnern innerhalb einer Stunde austauschen

© Christopher Wool

DIE WELT DES CHRISTOPHER WOOL Einmal im Jahr gestaltet ein zeitgenössischer Künstler DIE WELT. Am 14. Dezember 2018 erscheint die neunte Künstlerausgabe.

Quellen: »Geo«, Hanshack.com; Weltbank; »Die Welt«, Royal Society Publishing; »Kölner Stadt-Anzeiger«, Bitkom; »Business Insider UK«, U.S. Energy Information Administration; »Jetzt.de«, www.duliebesding.de; »Apotheken Umschau«; BKA; »Gehirn und Geist«; Deutsches Kinderhilfswerk; »British Journal of Social and Clinical Psychology«, »Journal of Mass Communication & Journalism«; YouGov, Sinus, Pew Research Center; Stiftungszentrum für Türkeistudien und Integrationsforschung; Earthovershoot Day; Deutsche Bischofskonferenz

Zahl der Personen, die Deutsche als enge Freunde bezeichnen 3,7 11 42,5

Zahl der Personen, die Deutsche zu ihrem erweiterten Freundeskreis zählen Zahl der Personen, die Deutsche zu ihrem Bekanntenkreis zählen Mittlere Zahl (Median) an Facebook-Freunden von erwachsenen Facebook-Nutzern

200

29. DEZEMBER Anteil der Türkeistämmigen in Deutschland, die sich von der Bundesregierung vertreten fühlen, in Prozent

37 Anteil der Türkeistämmigen in Deutschland, die sich von der türkischen Regierung vertreten fühlen, in Prozent

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Zeitpunkt, zu dem alle Rohstoffe der Erde von Menschen verbraucht waren, die innerhalb eines Jahres nachwachsen oder neu entstehen können, im Jahr 1970

1. AUGUST Zeitpunkt, zu dem alle Rohstoffe der Erde von Menschen verbraucht waren, die innerhalb eines Jahres nachwachsen oder neu entstehen können, im Jahr 2018

Zahl der Kinder und Jugendlichen, die zwischen 1946 und 2014 von Geistlichen der katholischen Kirche sexuell missbraucht worden sind . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3677 Zahl der Geistlichen, die im Missbrauchs-Skandal als Täter beschuldigt werden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1670 Zahl der deutschen Bischöfe, die als Konsequenz aus dem Missbrauchs-Skandal zurückgetreten sind . . . . . . . . . . . . . 0

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„Ohne Sympathie ist es schwierig“

Heiner Thorborg unterstützt seit vier Jahrzehnten Topmanager bei der Karriereplanung – und Unternehmen bei der Suche nach den passenden Vorständen. Ein Gespräch über die Gratwanderung zwischen Nähe und Distanz in Führungsetagen.

Interview: Thomas Ramge Fotografie: Michael Hudler

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brand eins: Herr Thorborg, wie nahe sind Sie den Führungskräften, die Sie betreuen? Heiner Thorborg: Sehr nah. Sonst kann ich nicht für sie arbeiten. Wieso? Nähe ist zunächst einmal ein Gefühl. Um es zu erzeugen, muss es gegenseitige Sympathie geben. Es gibt sicher auch Leute, die ganz gut zusammenarbeiten, obwohl sie sich nicht besonders sympathisch sind. Aber Exzellenz in der Zusammenarbeit entsteht durch Nähe. Ohne Sympathie ist es extrem schwierig, eine Vertrauensbeziehung aufzubauen. Diese wiederum ist notwendig für gemeinsamen Erfolg. Deshalb vertrete ich keine Talente oder Manager, die mir nicht sympathisch sind. Das klingt fast romantisch. Sehen das im Topmanagement alle so? Gewiss nicht. Und natürlich wohnt dem Begriff Nähe so viel Subjektivität inne, dass zwei Manager behaupten können, ihnen sei Nähe zu Vorstandskollegen oder Mitarbeitern sehr wichtig – dabei aber unter Nähe etwas völlig anderes verstehen. Man spürt das ja oft schon beim brand eins 12/18

Körperlichen: Es gibt Leute, die rücken einem auf die Pelle und merken gar nicht, dass das dem Gegenüber unangenehm ist. Und es gibt Menschen, die merken nicht, wie sie mit Körpersprache Distanz aufbauen. Erfolgreiche Manager haben in der Regel ein gutes Gespür dafür, was in einer bestimmten Situation die nötige Distanz oder hilfreiche Nähe ist. Ich habe den Eindruck, dass es auch in Unternehmen immer körperlicher zugeht. Kolleginnen und Kollegen küssen sich die Wangen. Männer umarmen sich zur Begrüßung wie Fußballer nach einem Tor … Die zunehmende körperliche Nähe in Deutschland hat sicher etwas damit zu tun, dass wir unsere Kultur hier und da als zu steif empfinden. Und dann imitieren wir Franzosen oder Italiener oder Südamerikaner in ihrer Körperlichkeit (siehe auch: „Nähe und Distanz in Zahlen“, S. 100). Es mag Leute geben, denen das leicht fällt. Die finden Körperlichkeit schick oder progressiv, und die fühlen sich dann auch wohl mit importierten kulturellen Ritualen. Aber ich muss immer schmunzeln, wenn ich diejenigen sehe, die solche Nähespiele mitmachen müssen, obwohl sie ihnen eigentlich zuwider sind. Auffällig ist auch, dass ein verordnetes Du das Gegenteil von Nähe schafft. Nähe kann man nicht verordnen. Das Gleiche gilt für Lockerheit. Inwiefern? Nur weil ein Vorstand eine Krawatte ablegt, wird er doch kein nahbarer Typ. Es ist heute ja fast umgekehrt: Du darfst keine Krawatte mehr tragen, wenn du als innovativ gelten möchtest. Das finde ich lächerlich. Wenn einer eine Krawatte tragen möchte, soll er das doch machen. Wie viel Zeit braucht es eigentlich, um Nähe in Arbeitsbeziehungen an der Unternehmensspitze herzustellen? Die Vorstandsmandate werden ja immer kürzer. Im Durchschnitt stimmt das, aber wir haben immer noch Unternehmen, in debrand eins 12/18

nen Vorstände über viele Jahre zusammenarbeiten. Da wächst Nähe meist automatisch. Bei Vorständen, die häufiger das Unternehmen wechseln, gehört es zur Kernkompetenz, schnell Nähe aufzubauen, um auf Zeit vertrauensvoll zusammenarbeiten zu können. Es ist ein wenig wie bei Fußballprofis, die in einem neuen Team schnell funktionieren müssen. Dazu müssen die anderen Spieler ihnen vertrauen, sonst bekommen sie in den entscheidenden Momenten nicht den Ball.

mengefallen, weil sie keine neuen Einflüsse zugelassen haben. Da durfte ja nur rein, wer es schon geschafft hatte, nach dem Motto: Uns nützt nur einer, der bereits einer von uns ist. Das ist natürlich ein Auslaufmodell. Aber das heißt nicht, dass die Methode heute nicht mehr funktioniert. Es gibt nach wie vor wichtige Netzwerke, wie zum Beispiel die BadenBadener Unternehmer-Gespräche. Wer ihnen angehört, bekommt Zugang zu Menschen, an die er sonst nicht herankäme.

Tendenziell wird die Zusammensetzung von Vorständen vielfältiger. Verändert sich etwas im Nähe-Distanz-Spiel, wenn Frauen und Menschen verschiedener Herkunft auf Topmanagement-Ebene zusammenarbeiten und nicht nur weiße Männer in grauen Anzügen jenseits der 50? Absolut. Es ist unbestritten, dass heterogene Teams bessere Leistungen erbringen können als homogene. Das gilt aber nur, wenn ihnen kulturelle Differenzen nicht in die Quere kommen, sondern jeder seine Stärken einbringen kann. Ich beobachte seit Jahren mit Freude, dass besonders Frauen in gemischten Teams Konflikte viel intelligenter lösen als Männer. Sie lassen sich seltener provozieren, bleiben souverän und sachlich, reduzieren Aggressionen, indem sie besser zuhören. Oft schaffen sie in Konfliktsituationen die nötige Distanz, um die Emotionen zu entschärfen. Und im zweiten Schritt legen sie wieder die Basis für vertrauensvolle Zusammenarbeit und erlauben wieder mehr Nähe. Bei der Fähigkeit zum Netzwerken haben aber Frauen noch Nachholbedarf.

Und warum taten oder tun sich Frauen damit schwer? Die mussten erst lernen, wie hilfreich gegenseitige Gefallen sein können, ohne dass dies gleich ein Fall für den Compliance-Beauftragten ist. Sie lernen das aber gerade mit hoher Geschwindigkeit. Frauennetzwerke boomen, weil immer mehr Frauen merken: Es ist nicht falsch, sich gegenseitig zu unterstützen, weil man viel voneinander hält.

Auf der einen Seite sind die alten OldBoys-Netzwerke der Deutschland AG endgültig Vergangenheit, andererseits reden junge Führungskräfte dauernd darüber, wie wichtig Networking ist. Ja, das ist in der Tat auffällig. Ich kannte die alten Netzwerke der Deutschland AG noch ganz gut. Die sind in sich zusam-

Braucht es für Nähe Mut? Erfolgreiche Führungskräfte müssen offen sein. Nur dann finden sie das richtige Verhältnis von Nähe und Distanz. Es gibt ein schönes Zitat des österreichischen Schriftstellers Ernst Ferstel: „Nähe zu wagen ist ein schwieriger Balanceakt. Wer zu weit geht – oder nicht weit genug, entfernt sich vom anderen.“ Ohne Offenheit und Sympathie werden wir diesen Balanceakt nicht bewältigen. Oder besser gesagt: Je diverser Teams werden, desto mehr brauchen wir davon. –

Heiner Thorborg, 74, ist einer der bekanntesten Personalberater Deutschlands. Nach zehn Jahren als Partner bei der Schweizer Personalberatung Egon Zehnder International machte er sich 1989 mit einer Headhunter-Firma selbstständig. Im Jahr 2007 gründete er Generation CEO – ein Netzwerk für weibliche Führungskräfte 105

Wo die Zulu-Frau lesbisch sein darf

Je näher, desto weiter der Horizont: Beobachtungen aus Südafrika. Text: Johannes Dieterich Illustration: Silke Weißbach

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• „Diese Weite!“, pflegen Touristen in den Gästebüchern südafrikanischer Lodges zu schwärmen. Ihre Farmen steckten sich die europäischen Siedler einst derart weiträumig ab, dass das Gutshaus des Nachbarn mit bloßem Auge nicht zu sehen war. In den Städten waren die Grundstücke so großzügig, dass sich die weißen Villenbesitzer hinter private Waldstücke zurückziehen konnten. Das erste Gebot der südafrikanischen Bleichgesichter: „Rück mir bloß nicht auf die Pelle!“ Gegen etwas mehr Distanz hätte auch Lungu Dlamini nichts einzuwenden. Wenn

Durch die Wände aus Wellblech hört sie die Nachbarn schnarchen die 33-Jährige auf dem Bett in ihrer Hütte im Johannesburger Stadtteil Jeppestown liegt, kann sie mit ausgestreckten Armen fast die beiden gegenüberliegenden Wände ihrer Behausung berühren, auch am Fußende des Bettes ist nur noch Platz für ein paar Küchenutensilien. Nachts hört sie ihren Nachbarn durch zwei Wände aus Wellblech hindurch in dessen kaum einen Meter entfernten Hütte schnarchen. Und wenn er sich tagsüber mit seiner Freundin streitet, kriegt Dlamini jedes Wort und jedes Schluchzen mit. „Selbst wenn sie Sex haben, höre ich das“, sagt sie und lacht etwas verschämt. Die Zulu-Frau hat für umgerechnet 20 Euro im Monat eine Blechhütte im „Squattercamp“ Mangolongolo gemietet: ein zwischen einer Straße, einer Eisenbahnlinie und einem Fabrikgelände eingeklemmtes Areal von der Größe eines Fußballfeldes, auf das sich mehr als 400 kleine Blechhütten quetschen. In Mangolongolo lebt keiner freiwillig. Dafür sorgen schon der Schmutz, die Ratten, die fehlenden sanitären Einrichtungen, die ganze Würdelosigkeit der Armut. brand eins 12/18

Psychologen wissen von den Schäden, die das Leben im Slum vor allem unter Kindern anrichtet. In der dicht gedrängten Umgebung sind sie der rauen, von Gewalt, Alkohol und Sex beherrschten Erwachsenenwelt schutzlos ausgesetzt. Auch Dlamini fallen zunächst nur die Nachteile ihres beengten Lebens ein: der nachts an ihrem Kopf vorbeidonnernde Zug, die grundlos eifersüchtige Nachbarin, die soziale Kontrolle. „Hier weiß jeder alles über jeden“, sagt die Slumbewohnerin. Selbst dass sie sich von Frauen und nicht von Männern angezogen fühlt, konnte sie nicht lange verheimlichen. Dass Dlamini dieses Thema überhaupt anspricht, kommt überraschend, denn gleichgeschlechtliche Liebe ist in Südafrika lebensgefährlich. Obwohl sie von einer der modernsten Verfassungen der Welt ausdrücklich geschützt wird, ist Homosexualität in der Bevölkerung mehr als verpönt. Immer wieder werden lesbische Frauen Opfer von Gewaltverbrechen. Lungu Dlamini blieb das bislang erspart. „Meine Nachbarn würden es niemals zulassen, dass mir etwas zustößt“, sagt sie bestimmt. Nicht nur dass ihr die räumliche Nähe zu ihren Anwohnern in diesem Fall die nötige Sicherheit bietet. Auch scheinen es homophobe Vorurteile in der Enge des Slums schwer zu haben. Jeder kennt hier Lungu Dlamini, wie sie leibt und wie sie lebt. Ressentiments pflegen von der Distanz zwischen dem Urteilenden und seinen Objekten zu leben. Die Gegenprobe: In den Farmhäusern mit dem grenzenlosen Horizont hätte man eigentlich offene Bewohner vermutet. Doch in Wahrheit sind sie vorurteilsbeladen wie sonst nirgendwo. Gnade der weißen Farmerstochter, deren Eltern herausgefunden haben, dass sie statt Knaben Mädchen begehrt. Zwischen der Weite des Umfelds und der des Denkens scheint ein umgekehrt proportionales Verhältnis zu herrschen. Genau wie Enge nicht mit Engstirnigkeit einhergeht. Ein Beispiel für Letzteres: Nobuswe Gxalekas Wohnung in Johannesburgs

Wildwest-Stadtviertel Hillbrow, in der gegenwärtig 23 Menschen leben, zuweilen sind es mehr als 30. In den zwei Zimmern des Apartments steht ein Bett neben dem anderen. Nur ein enger Durchgang ist frei, durch den sich tagsüber unzählige Bewohner wie Besucher quetschen. Ein Doppelbett wird üblicherweise von zwei bis drei Schläfern okkupiert. Mann schläft neben Frau, Jung neben Alt, Südafrikaner neben Ausländer, Muslim neben Christ. „Wir nehmen jeden auf“, sagt Gxaleka. Vorausgesetzt, er kann die monatlichen zwölf Euro für einen Bettplatz aufbringen. Manche benutzen die beengte Unterkunft lediglich als Sprungbrett, andere sind schon seit Jahren hier. „Es ist unser Zuhause“, sagt Malindi Yeko, bevor er noch einen tiefen Schluck aus seiner Brandwein-Pulle nimmt. Nobuswe Gxaleka weiß, wie wichtig unter solchen Umständen klare Regeln sind. Um 22 Uhr geht das Licht aus, wer später kommt, muss leise sein oder fliegt raus. Wer beim Beten allein sein will, geht ins Bad; und wer Sex haben will, muss sich aufs Dach verziehen. Privatsphäre ist in den zwölf Euro nicht inbegriffen. Um auf diese Weise zusammenleben zu können, müsse man eine große Portion Toleranz mitbringen, sagt Nobuswe Gxaleka. „Hier darf keiner den anderen allein wegen seiner Herkunft oder seiner sexuellen Orientierung missachten.“ Längst weiß jeder, dass zwei junge Männer hier ein Paar sind. Sie haben sich in der Unterkunft kennengelernt, schlafen nebeneinander. Oft kämen Mitbewohner zu ihm, um sich Rat zu holen, erzählt einer von ihnen. Noch nie habe er wegen seiner sexuellen Ausrichtung irgendetwas Negatives zu hören bekommen. „Es gibt vieles, was mich hier stört“, sagt der junge Mann und legt den Arm um seinen Freund: „Und manches, das ich nirgendwo anders finden kann.“ –

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Lachen verbindet?

Im Gegenteil: Komik sorgt für Abstand.

Text: Peter Laudenbach Illustration: Jan Robert Dünnweller

• Wenn es jemanden gibt, der weiß, wie Komik funktioniert und dass es sich dabei nicht um eine harmlose Angelegenheit handelt, dann dürfte es Georges Feydeau sein. Der Franzose (1862–1921) hat Ende des 19. Jahrhunderts Boulevard-Komödien geschrieben, bei denen sich bis heute jeder zweite Komödien-Drehbuchautor bedient. Bei Feydeau konnte sich das Publikum prächtig über Ehebruch-Tollpatschigkeiten, Geldgier, Ehrsucht und Dummheit, die großen und kleinen Lügen der Bürger-Karikaturen auf der Bühne amüsieren. Weil die Zuschauer ihresgleichen sahen (denn Feydeau kannte sie nur zu gut), lachten sie immer auch über sich selbst – allerdings aus dem sicheren Dunkel des Zuschauerraums. Erst diese Anonymität erlaubt es, die Lächerlichkeit der eigenen Macken und des eigenen Milieus zu genießen. Komik braucht Distanz. Henri Bergson, Philosoph und Literaturnobelpreisträger lädt in seinem 1900 erschienenen Essay „Das Lachen“ zu einem schönen Gedankenexperiment ein: „In einem Salon, wo getanzt wird, brauchen wir uns nur die Ohren zuzuhalten, damit uns die Tänzer lächerlich vorkommen. Wie viele menschliche Handlungen hielten einer solchen Prüfung stand?“ Je ernster sich Akteure nehmen, desto komischer wirken sie aus der Distanz. Auch Bergson wusste, dass Lachen grausam sein kann: „Das Lachen ist meist mit einer gewissen Empfindungslosigkeit verbunden. Ich will nicht behaupten, dass wir über einen Menschen, für den wir Mitleid oder Zärtlichkeit empfinden, nicht lachen könnten – dann aber müssten wir diese Zärtlichkeit, dieses Mitleid für eine kurze Weile unterdrücken.“ Wahrscheinlich kannte Bergson Feydeaus Vaudeville-Komödien. In diesen Pointen-Maschinen steuern Biedermänner zielsicher in die Katastrophe, den Bankrott, die Peinlichkeit. Je panischer sie in den Fallen zappeln, die der Intrigenkonstrukteur ihnen stellt, desto lustiger wird der Theaterabend. Georges Feydeaus Umgang mit seinen Bühnenfiguren ist nicht frei von Sadismus. Die Freude, die er seinen Zuschauern bereitet, ist Schadenfreude. Seine Bauanleitung für eine wirkungsvolle Komödie lautet: „Nehmen Sie eine möglichst tragische Situation, eine Situation, die einen Leichenwäscher erschaudern lässt, und versuchen Sie, die komische Seite daran freizusetzen. Es gibt keine menschliche Tragödie, die nicht auch ein paar komische Aspekte böte.“ 108

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„Wenn einem etwas nahegeht, kann man nicht darüber lachen.“

Das gilt auch umgekehrt: Es gibt keine Komik ohne menschliche Tragödien. Diese Ansicht vertrat zumindest der 2007 gestorbene Dramatiker und Regisseur George Tabori – jeder „wirkliche Humor“ sei „schwarz“. Tabori hat in Hollywood Drehbücher für Alfred Hitchcock geschrieben, in den Achtzigerund Neunzigerjahren gehörte er zu den wichtigsten deutschen Theaterregisseuren. Sein Humor war menschenfreundlich, und er war traurig. Taboris Vater Cornelius und viele seiner Verwandten waren in Auschwitz ermordet worden. Die Stücke, die Tabori darüber geschrieben hat, waren von schwärzestem Witz. Wahrscheinlich wäre es anders kaum zu ertragen gewesen. Komik braucht nicht nur Abstand, sie stellt diesen Abstand sogar selbst her. „Bei allen guten Witzen geht es um eine Katastrophe“, lautete einer der Kernsätze des Dramatikers. „Die Pointe ist eine Überraschung, die erlöst, und man lacht. Warum man lacht? Ich weiß es nicht. Die Katastrophe ist ja nicht vorbei.“ Aber im Moment des Lachens kann man sie auf Abstand halten. Auf die Frage, weshalb er über den Schrecken keine Tragödien schrieb, antwortete Tabori mit einem Zitat von Friedrich Hölderlin: „Immer spielt ihr und scherzt? (…) Ihr müsst! O Freunde! Mir geht dies in die Seele, denn dies müssen Verzweifelte nur.“ Tim Wolff, noch bis Ende dieses Jahres Chefredakteur der Satire-Zeitschrift »Titanic«, knüpft nahtlos daran an: „Komik entwickelt man im Zweifel, wenn man mit irgendeiner Form von Demütigung umgehen muss“, sagt er. „Wenn man darüber Witze machen kann, hebt man die Demütigung zumindest für diesen Augenblick auf. Bei gelungener Komik muss immer etwas kaputtgehen. Komik schafft Distanz zum Gegenstand. Wenn einem etwas nahegeht, kann man nicht darüber lachen. Trauer zum Beispiel verträgt sich nicht mit Komik. Eine Beerdigung ist nicht komisch. Aber nach der Beerdigung gehen alle miteinander essen und erzählen sich Anekdoten über den Toten. Da sind die Komik und der Abstand, den sie zum Schmerz schafft, geradezu ritualisiert.“ Das gilt nicht nur für die großen Katastrophen des Lebens. Auch „Selbstironie funktioniert nach dem Prinzip, lieber selbst den Witz über eigene Schwächen und die Desaster des eigenen Lebens zu machen, bevor andere das tun. Das fängt spätestens auf dem Schulhof an“, sagt Wolff. Komik hilft, mit Verletzungen umzugehen. Und Komik kann verletzen. Wie sich diese beiden Seiten der Komik, das befreiende und das verletzende Lachen, berühren, hat der Standbrand eins 12/18

up-Comedian Oliver Polak erlebt. Polak kommt aus einer jüdischen Familie, sein Vater ist KZ-Überlebender. Darüber macht er Witze (vgl. brand eins 08/2014: „Ich darf das, ich bin Jude“) *. So sagte Polak im Jahr 2013, die Lokführer streikten gerade, bei einem Auftritt in Berlin: „Liebe Lokführer, hättet ihr vor 70 Jahren gestreikt, hättet ihr uns eine Menge Ärger erspart.“ Das ist vielleicht geschmacklos, aber auch befreiend, denn das Lachen stellt Distanz zum Schrecken her. Wenn jedoch, wie Polak in seinem neuen Buch „Gegen Judenhass“ berichtet, der Geschäftsführer eines Comedy-Clubs vor einem Auftritt zu ihm sagt: „Wenn du heute wieder nicht lustig bist, landest du im Aschenbecher“, zertrümmert der Sprecher damit jede schützende Distanz. Und dann gibt es eigentlich für niemanden mehr etwas zu lachen. – * b1.de/o_ polak

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WARUM STARTEN GRÜNDER EIGENTLICH AM LIEBSTEN MIT GUTEN FREUNDEN?

Fragen an Stephan A. Jansen

Gründer-Teams bestehen oft aus Freunden – Zufall oder Trend? Nach Zahlen des jüngsten Deutschen Startup Monitors ist es ein stabiler Trend: Seit dem Jahr 2013 werden durchschnittlich circa drei von vier Start-ups im Team gegründet. Der Anteil der Solo-Gründungen lag 2017 entsprechend bei nur knapp einem Viertel – das autistische Genie ist die Ausnahme. Die durchschnittliche Teamgröße liegt bei 2,4 Gründern – mehr als jede dritte Gründung wird durch zwei Personen und jede vierte durch drei Personen geschultert. Gut 16 Prozent wurden von vier oder mehr Personen angestoßen. Haben Sie dafür eine Erklärung? Im 19. und 20. Jahrhundert waren Gründungen vor allem patriarchale Veranstaltungen, die sich aber gern Familienunternehmen nannten – wohl auch weil alle in der Familie unter der Firma litten oder irgendwie dem Herrn Papa zuarbeiten mussten. Mit der Jahrtausendwende und dem zeitgleichen Phänomen der sogenannten New Economy haben insbesondere die Universitäten – und nicht mehr die Heiratsmärkte – die Neugründungen befördert: Mehr als vier von fünf Gründungen sind seitdem mit einem Hochschulabschluss und dem damit verbundenen Kommilitonen-Netzwerk gesegnet. Das Prinzip: Fachschaft statt Familie. Allerdings sind die hochschulbezogenen Freundschaftsnetzwerke der Start-ups auch ein Eliten-Phänomen. Nur knapp sechs Prozent der Gründer schafften es mit Fachabitur, mittlerer Reife oder einem Hauptschulabschluss. Warum ist das so? Neben dem Trend, Unternehmen an der Hochschule zu gründen, und der damit

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verbundenen Bildung von Netzwerken in einigen wenigen Studiengängen – zu einem Drittel Wirtschaftswissenschaft, zu je einem Fünftel Informatik und Ingenieurwissenschaften – zeigt sich ein anthropologischer Befund: Gleich und Gleich gesellt sich generell gern und bei Gründungen besonders gern. Diese Tendenz, Beziehungen zu Individuen aufzubauen, die einem ähnlich sind, ist uns Menschen quasi angeboren. Die Witze über die Boy Groups – alle weiß, alle zwischen 25 und 35 und eben alle an renommierten Hochschulen ausgebildet – machen ja nicht nur in Frauennetzwerken die Runde, sondern auch bei Gründungsfinanzierern. Es kommt also nicht von ungefähr, dass wir in der Führungs- und PersonalManagement-Theorie so viel über Diversity Management lesen müssen. Denn aus der Netzwerk-Theorie der schwachen und starken Verbindungen wissen wir, dass Management unter Freunden mit hoher Ähnlichkeit von Kompetenzen und Kognitionen hochkritisch ist. Dabei wird Frauen doch ein viel größeres Bedürfnis nach Nähe nachgesagt. Interessanterweise zeigt sich das bei Firmengründungen nicht. Im Gegenteil: Seit Jahren gründen Frauen seltener im Team als Männer, zuletzt sogar mit 16 Prozentpunkten Unterschied. Dazu kommt allerdings auch, dass der Anteil der Gründerinnen mit gut 15 Prozent zwar leicht ansteigend ist, aber eben doch ein Randphänomen. Warum achten Finanzierer und Aufsichtsgremien nicht stärker auf Diversität? Das ist in der Tat eine gute Frage, die nicht nur Gründer-Teams, sondern auch Dax-Unternehmen betrifft. Denn auch brand eins 12/18

dort sind neue Vorstandsvorsitzende viele Jahre – und mit nicht zu unterschätzendem Zeitaufwand – damit beschäftigt, eine Gruppe von Wegbegleitern in den eigenen Vorstand und die Organisation einzugliedern. Zwei Begründungen: Wer im Risiko operiert oder in Führungspositionen ist, wird einsamer und damit kuschelbedürftiger. Da neigt man zu gleichgesinnten und führbaren Mitstreitern. Die Aufsichtsgremien und Finanziers stützen das, weil sie vor allem in das Management und deren Beziehungen untereinander investieren und stark auf potenzielle Konfliktkosten achten. Und: Auch die Aufsichtsräte leiden unter Ähnlichkeit. Der Deutsche Corporate Governance Kodex enthält nicht ohne Grund seit 2009 Empfehlungen, dass der Aufsichtsrat bei seiner eigenen Zusammensetzung als auch bei der des Vorstands auf Diversität achten soll. Viele Gründer verschreiben sich hehren Zielen, wenn nicht gar der Weltenrettung – ist das mehr als Marketing? Diese Beobachtung mache ich auch. Und bin mir als Zivilgesellschafts- und Sozialunternehmensforscher selbst unsicher, wie ich das finden soll. Sicher ist: Das geht nicht mehr weg. Die Bewegung scheint aus zwei Quellen gespeist zu werden: der kalifornischen Utopie des unvermeidlich digitalen, biosynthetischen Fortschritts und der europäischen Dystopie des Untergangs. Fakt ist: Die guten Unternehmer von heute wurden von einer Elterngeneration sozialisiert, die in hohem Maße materialistisch, aber wenig ökologisch und sozial eingestellt war und ehrgeizig nach Positionen strebte – die Entwicklung der Kinder kann man da schon nachvollziehen. Aber: Diese neue Unternehmergeneration brand eins 12/18

geht ohne klassische Generations- und System-Konflikte – also Elternstreitigkeiten oder Sozialismus-Renaissance – ans Werk. Und zwar so, dass das die Eltern, die ihr eigenes Leben längst kritisch reflektieren, durchaus begeistert. Nicht selten werden die Unternehmer- und Vorstandskinder von ihren Vätern sogar ermutigt und anfangs finanziell unterstützt. Was ist von Gründern mit Mission zu halten? Elon Musk gilt vielen in dieser Gründergeneration – trotz und wegen all seiner Lausbubigkeiten und Launenhaftigkeiten – als Vorbild für den derzeit als so zentral empfundenen transformationalen und disruptiven Führungsstil. Er zeigt mit seinen Entscheidungen, dass Tesla, eines seiner Wagnisse, kein Unternehmen mit einer Mission, sondern eine Mission mit einem Unternehmen ist. Das ist wohltuend angesichts all der Bemühungen der Konzerne, einen „Purpose“ zu definieren, wie man die sinnstiftende Zweckdefinition für das „Warum machen wir das?“ nennt, die so oft als sehr durchsichtig und gesellschaftlich erwünscht daherkommt. Nützlich erscheint mir auch die Verbindung von unternehmenspolitischen Strategien mit gesellschaftspolitischen Notwendigkeiten, wenn wir an die Mobilitäts-, Gesundheits-, Bildungs-, Pflege- oder Klimapolitiken denken. Hier geht es ja nicht um Sozialromantik, sondern um Sozialinnovationen, also darum, aus gesellschaftlichen Problemen ein profitables Geschäft zu entwickeln. Andererseits ist aber auch klar, dass das oft nur eine wohlfeile Geste ist und das Ganze im Zusammenspiel mit den Erfahrungen der New Economy und der kalifornischen Zukunftseuphorie wie eine nicht enden wollende Kindergeburtstags-

party wirkt, in der jeder seine Heldengeschichten im Futur II beisteuern will. Und jetzt klopft eben ab und zu doch die Realität an die Türen der Visionäre: Datenschutz, sexuelle Selbstbestimmung, Verantwortung von Geschäftsmodellen oder andere zivilgesellschaftliche und (supra-)nationale Ideen der globalen Gemeinschaft. Amazon, Facebook, Google oder Uber sind inzwischen mit durchaus kürzerer Geschichte und deutlich kleineren Belegschaften durchaus auf dem SkandalNiveau etablierter Organisationen wie der Automobil-, Chemie- oder Finanzindustrie angelangt. Sind die neuen Gründer-Teams, die sich dem Guten verschrieben haben, auf Enttäuschungen und auch das Scheitern vorbereitet? Diese Frage kann ich noch nicht abschließend beantworten. Eine durchaus reflektierte Gruppe ist mit teils sehr harter Trauerarbeit konfrontiert – und mit einem Wiedereinstieg in normale Industrien, in Beratung oder auch beim Staat. Die andere Gruppe verkauft ihre Unternehmungen vor dem Beweis der Nachhaltigkeit, was man Exit nennt – eine Stufe zwischen der Liquidierung und dem derzeitigen Maximal-Heldenstatus des „Serien-Unternehmers“. Ich kann mich dem Feiern des Scheiterns nicht anschließen, und es wirkt auch eher wie ein larmoyant-pubertierender Jugendgeburtstag. Und nicht selten sind ja die Feindschaften der FreundschaftsGründungen auch Anlass für das Scheitern. Denn: Wer sich sehr nah ist oder war, kann sich gegenseitig zu nahe treten. – Stephan A. Jansen, Leiter Center for Philanthropy & Civil Society, Karlshochschule, Karlsruhe 111

Familienbande Eine Architektin, ein Jurist, ein Softwareunternehmer, ein Werber: Geschwister, die etwas mehr miteinander zu tun haben als andere. Text: Peter Laudenbach

• Sie sind die Menschen, mit denen wir unsere längste Beziehung haben. Die Eltern sind irgendwann nicht mehr da, und die Lebens- und Ehepartner lernt man in der Regel nicht in der Kindheit kennen. Geschwister aber sind von Anfang an Teil des eigenen Lebens. Und mit etwas Glück – wenn keine Familienfehden, Erbschaftsstreits, Todesfälle oder einfach Desinteresse dazwischenkommen –, begleiten sie uns durch die Jahrzehnte. Die Architektin Eva Sweeney, geborene Zünkeler, der Werber Ulrich Zünkeler, der Jurist Bernhard Zünkeler und der Softwareunternehmer Martin Zünkeler sind mehr als nur miteinander verwandt. Sie teilen ihre Liebe zur Kunst, Entscheidungen über die berufliche Zukunft, und sie arbeiten zusammen.

Eva Sweeney, geborene Zünkeler, 48, lebt in Los Angeles und betreibt mit ihrem Mann und mit ihrem Bruder Bernhard das spendenfinanzierte ArtLab Esmoa, das Künstler fördert, Bildung für Kinder und Erwachsene anbietet und große Ausstellungen organisiert, zum Beispiel gemeinsam mit dem Getty Research Institute.

Ulrich Zünkeler, 50, gründete nach 16 Jahren in großen Werbeagenturen zunächst mit zwei Freunden die Kommunikationsagentur Orange Council, die heute Kommunikation und Kunst miteinander verbindet. Ein Beispiel: Im Telekom-Hauptquartier in Bonn haben Künstler nicht nur alle Büros mit ihren Werken bestückt, sondern auch neue Raumlösungen entwickelt.

Martin Zünkeler, 52, war Jurist und Werber und ist heute Gründer und geschäftsführender Gesellschafter von Kairos, ein auf Softwareentwicklung für die medizinische Forschung spezialisiertes Unternehmen.

Bernhard Zünkeler, 53, gründete nach Jahren als Wirtschaftsjurist bei einer Bank ein unabhängiges ArtLab, um Künstler zu fördern, und ist heute geschäftsführender Gesellschafter bei Orange Council.

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Fotos: privat

Farbfoto rechte Seite: Martin, Bernhard, Ulrich, Eva (von links)

Die vier Geschwister haben die Fragen zu ihrer Beziehung getrennt voneinander beantwortet. Die Antworten der anderen sehen sie erst bei der Lektüre dieser Ausgabe. > brand eins 12/18

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Auf einer Skala von 1 (kaum) bis 10 (sehr eng): Wie eng ist Ihre Verbindung zu Ihren Geschwistern? Eva Sweeney, geborene Zünkeler: In meiner Kindheit war ich sehr eng mit Uli verbunden, meine Oma nannte uns das Ehepaarchen. Während meines Studiums war mein Bruder Martin mein engster Verbündeter. Seitdem ich in den USA lebe, ist Bernhard am engsten mit mir befreundet. Die momentane Skala wäre: Bernhard: 10, Martin: 9, Uli: 8. Ulrich Zünkeler: 10 – zu allen. Martin Zünkeler: Eine harte 10. Für Dritte und manchmal auch für Ehepartner vielleicht zu eng. Es fällt mir schwer, eine Rangordnung abzugeben. Ich telefoniere fast täglich mit meinem Bruder Bernhard, wöchentlich mit meiner Schwester und monatlich mit meinem Bruder Ulrich. Bernhard Zünkeler: Sehr eng, seit meiner Kindheit: 9. Uli ist mir in seinem Charakter am ähnlichsten. Allerdings hat er eine Art, Dinge zu betrachten, die mir immer ein Rätsel bleiben wird. Er sieht Dinge, die ich nie sehen würde. Am engsten ist das Verhältnis zu meiner kleinen Schwester. Auf gewisse Weise hält sie uns alle zusammen. Am Anfang wahrscheinlich, weil sie bei uns älteren Brüdern Beschützerinstinkte weckte. In den vergangenen Jahren verhält es sich fast umgekehrt, sie ist der stabile Anker. Martin und ich tauschen uns über alles aus, vielleicht gerade, weil sich unsere Einschätzungen mitunter extrem unterscheiden. Das Verhältnis ist eng geblieben, auch wenn sich unsere Rollen immer wieder geändert haben. Augenblicklich würde ich sagen: Eva: 9,9, Martin: 9, Uli: 8. Als Mutter von drei Kindern hat meine Schwester einfach die weiteste Perspektive, sie ist der beste Kommunikator von uns, bei uns Brüdern wechselt das ständig.

Um was konkurrieren Sie mit Ihren Geschwistern? Um was konkurrieren Ihre Geschwister mit Ihnen? Eva Sweeney: Ich habe als kleine Schwester immer um die Anerkennung meiner Brüder gekämpft. Ich glaube, heute ist es umgekehrt. Meine Brüder wollen meine Anerkennung. Ulrich Zünkeler: Bei vieren im Nest war es wohl Aufmerksamkeit. Heute ist es vielleicht die beste Pointe. Martin Zünkeler: Ganz ehrlich? Das kann ich nicht beantworten. Ich weiß nicht, warum ich mich mit Uli häufiger gestritten habe als mit Bernhard. Und wenn, dann war der Grund eher belanglos. Essmanieren, Aussprache, Verhalten anderen gegenüber, Kleinigkeiten. Wir sind eigentlich nie gegeneinander angetreten. Bernhard Zünkeler: Ich habe nie eine Konkurrenz zu meinen Geschwistern gespürt, jedenfalls nicht im Sinne von „ich will besser sein“. Ich war immer stolz, wenn meine Geschwister Erfolge hatten. Ich glaube nicht an Konkurrenz. Das bedeutet 114

nicht, dass bei uns nicht auch die Fetzen fliegen, wir können uns gewaltig anschreien. Aber am nächsten Morgen beginnt ein neuer Tag, und der Streit ist erledigt.

Von welchem Ihrer Geschwister haben Sie am meisten gelernt? Und was? Eva Sweeney: Meine Brüder waren immer an meiner Seite, sie haben mich beschützt, beobachtet und mir die Welt erklärt. Bernhard hat mir das Laufen beigebracht. Martin hat mir mit viel Geduld das Fahrradfahren beigebracht. Uli hat mich vor dem verhassten Schwimmunterricht gerettet und mir dann das Schwimmen beigebracht. Natürlich hatten alle drei den größten Spaß daran, mir mit sieben Jahren zu erklären, wo die Babys herkommen. Ulrich Zünkeler: Nie kapiert habe ich, wie mein Bruder Bernhard mit dem Ball umgehen kann. Ganz genau sagen kann ich, was ich von allen noch lernen müsste: mehr Disziplin. Martin Zünkeler: Klar, von Bernhard: Zuversicht, Geduld (oder zumindest das, was ich aufbringen kann), moralische Grundwerte, Kommunikation, Durchhaltevermögen, Entschlossenheit. Von Eva: Ausgleich, Freude teilen, Gelassenheit, Selbstlosigkeit (großes Wort). Von Ulrich: Wettbewerb, Zielstrebigkeit. Bernhard Zünkeler: Von meinen Geschwistern habe ich gelernt, dass es eine Dimension von Verhalten und Gefühlen gibt, die durch keine gesellschaftlichen, moralischen oder persönlichen Differenzen im Kern erschüttert werden kann. Keine Ahnung, wie man das nennt – vielleicht Geschwisterliebe.

Welche Rolle spielten Ihre Geschwister bei Entscheidungen über berufliche Veränderungen? Eva Sweeney: Nach dem Abitur bin ich als Au-pair für ein Jahr in die USA gegangen, weil ich nicht wusste, was ich machen sollte. Als ich danach immer noch nicht wusste, was ich studieren sollte, schlug Bernhard mir Architektur vor. Sein Argument: Du hast immer Kunst und Mathe geliebt. Mit Bernhards und Ulis Hilfe habe ich mich für ein Fulbright-Stipendium beworben. Ich war in Panik, die Deadline nahte, es fehlten noch viele Formulare und Essays. Bernhard hat mir die Fragen gestellt, Uli hat alles aufgeschrieben und formuliert. Ulrich Zünkeler: Bei meinem Weg in die Werbung spielten sie keine große Rolle. Bei der Entscheidung, die Vorteile einer leitenden Funktion in einer der besten deutschen Agenturen mit den Nachteilen der Selbstständigkeit nüchtern abzuwägen und schließlich in der Agentur zu kündigen, war es wohl Bernhard. Martin Zünkeler: Bernhard und ich haben Jura studiert. Ulrich hat mir geraten, in der Werbebranche zu starten, in der er schon war. Wir wären beinahe Arbeitskollegen in Hamburg geworden. Ulrich hat mir klar gesagt, dass ich kein Jurist sei, sondern eine sonnige Sales-Person, die sympathisch verkaufen könne. Genau das, was in einer Agentur benötigt wird. brand eins 12/18

Im WM-Sommer 1974 im Bochumer Stadtpark: Bernhard, Martin, Ulrich und Eva (von links)

Bernhard Zünkeler: Gravierend war für mich die Entscheidung, als Rechtsanwalt aufzuhören und mich der Kunst zu widmen. Auch wenn ich meinem Vater zuliebe Jura studiert und mich in European Law zur Promotion gequält hatte, war das nie meine Leidenschaft. Das wussten meine Geschwister und haben mir den Rücken gestärkt, als ich vor gut zwölf Jahren den Wechsel ins Unbekannte als Kurator eines ArtLab vollzogen habe.

Wären Sie ohne Ihre Geschwister heute beruflich da, wo Sie sind? Eva Sweeney: Mit Sicherheit nicht. Mein Fulbright-Stipendium hätte ich nie ohne meine Brüder bekommen. Ich wäre nicht in die USA gegangen, hätte kein eigenes Architekturbüro eröffnet, hätte nicht meinen Ehemann kennengelernt und nicht Esmoa gegründet. Ulrich Zünkeler: Was wir heute im Orange Council machen, wäre ohne die Experimentierfreudigkeit von Bernhard nicht möglich. Ohne die Zuversicht von Martin und Eva auch nicht. Martin Zünkeler: Ganz sicher nicht. Meine Schwester hat mir zweimal Geld für den Aufbau meiner beiden Firmen geliehen. Die erste Firma habe ich Ende 2007 verkauft und ihr das Geld zurückgezahlt, ohne Zinsen. Bei der zweiten Firmengründung brand eins 12/18

hat meine Schwester zusammen mit ihrem Ehemann Brian Geld investiert. Werblich hat mich Uli bei beiden Firmen beraten. Für meine jetzige Firma habe ich Bernhard als ständigen strategischen Berater. Bernhard Zünkeler: Sicher nicht. Ohne meine Geschwister hätte ich vermutlich etwas ganz Eigenständiges verfolgt und nicht so etwas wie dieses komplexe Familienunternehmen. Wir machen zwar jeder etwas anderes, aber vieles ist sehr stark auf die anderen bezogen.

Wer ist der oder die Geschäftstüchtigste? Eva Sweeney: Martin und ich sind die Pragmatischsten von uns vieren. Und Martin hat wohl das beste Händchen für „money making“. Ulrich Zünkeler: Mein Bruder Martin verkauft einem Eskimo Eiswürfel, wenn es sein muss. Martin Zünkeler: Ich würde nicht sagen, dass ich der Geschäftstüchtigste bin. Ich fürchte, dass ich am empfänglichsten bin für Konsum und materielle Dinge. Bernhard Zünkeler: Ich glaube, dass Eva und Martin sehr geschäftstüchtig sind. Beide haben einen guten Sinn für die Realität und den notwendigen Pragmatismus. Und beide wissen, > 115

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wann etwas wirtschaftlich keinen Sinn ergibt. Martin hat einen sehr guten Instinkt, wenn es darum geht, einen Bedarf zu erahnen und diesen mit einem gesunden Verständnis für Finanzen zu bedienen. Meine Schwester Eva konnte immer ihre Fähigkeiten als Architektin mit der Nähe zu Menschen verbinden. Selbst der Rockmusiker Edge von U2 und seine Frau konnten ihr bei einem Grundstücksdeal nicht widerstehen. Ich glaube, Uli und ich neigen eher zum Romantizismus mit einem Schuss ins Schräge. Das kann inspirierend und unterhaltsam sein, aber wirtschaftlich neigt man da manchmal zum Selbstbetrug.

Wer ist der oder die Kreativste? Eva Sweeney: Bernhard und Uli. Ulrich Zünkeler: Das weiß wohl nur der liebe Gott. Immerhin habe ich schon im zarten Alter von zwei Jahren entdeckt, wie man mit dem Hinterkopf ein Loch in die Wand schlägt. Martin Zünkeler: Schwer zu beantworten. Im Sinne von ohne Limit: Bernhard. Innerhalb festgelegter Grenzen: Uli. Bei Geschäftsprozessen: Eva und ich. Bernhard Zünkeler: Ich glaube, jeder von uns ist auf seine Art kreativ. Ich bin wahrscheinlich nur der Radikalste oder Verträumteste.

Wären Sie ohne Ihre Geschwister ein anderer Mensch? Eva Sweeney: Mit Sicherheit, und ich glaube, ein schlechterer. Ulrich Zünkeler: Sicher. Martin Zünkeler: Ganz sicher. Mir würde wahrscheinlich die Rückkopplung fehlen und letztlich der Halt. Bernhard Zünkeler: Ja.

Ist es eine gute Idee, mit den eigenen Geschwistern eine Firma zu gründen? Eva Sweeney: Mir macht es Spaß, mit meinen Brüdern zusammenzuarbeiten. Allerdings ist die Voraussetzung, dass man sich als Partner auf Augenhöhe begegnet. Ich könnte nie die Angestellte von einem meiner Brüder sein. Ulrich Zünkeler: Die Risiken liegen in der Verletzbarkeit. Menschen, die ich nicht liebe, können mich nicht verletzen. Martin Zünkeler: Ohne wenn und aber: ja. Allerdings gelten bei Geld leider andere Regeln. In einer Familie kennt man die Stärken und Schwächen der anderen. Geschwister können leider auch verletzend sein. Bernhard Zünkeler: Für mich: ja. Ich glaube, der Schlüssel liegt darin, ehrlich miteinander zu sein. Wir hatten ja in der Vergangenheit nicht nur erfolgreiche Projekte zusammen, manches ist gründlich schiefgegangen. Dann muss man Farbe bekennen, aufräumen und neu anfangen. Zwanghaft alles unter eine Glocke zu bringen würde bei uns nicht funktionieren. Natürlich kann man sich auch auf die Nerven gehen, aber man bekommt brand eins 12/18

immer ein echtes und schonungsloses Feedback. Ich kann mir nichts Schöneres vorstellen, als mit meinen Geschwistern zusammenzuarbeiten.

Sind Ihre Geschwister für Sie Ratgeber, Inspiration, soziale Kontrolle, Schutz? Können Sie diese Reihe mit eigenen Worten ergänzen? Eva Sweeney: All das. Ich kann noch hinzufügen: beste Freunde, Freude am Leben, Emanzipation, Tutoren, Eroberer und Erkunder. Ulrich Zünkeler: Vorbilder, engste Verbündete. Bernhard Zünkeler: Alles stimmt. Es geht um das Gefühl, jemanden zu haben, der einen verortet. Ein Leben mit Geschwistern ist einfach eine andere Form, durch sein Leben zu gehen. Jeder Moment kann geteilt werden.

„Ein Leben mit Geschwistern ist einfach eine andere Form, durch sein Leben zu gehen.“ Haben Sie sich ab und zu über berufliche Entscheidungen Ihrer Geschwister gewundert oder geärgert? Martin Zünkeler: Als Uli seinen letzten Arbeitgeber verlassen hat. Da hätte er mehr für sich kämpfen können. Bei Bernhard waren einige unternehmerische Aktionen aus rein kaufmännischer Sicht Himmelfahrtkommandos. Da wollte er zu viel. Er hat sich viel zu viel zugemutet, und so sind einige sehr interessante Projekte irgendwie auch gescheitert. Aber sie dienten ihm dann als Grundlage für die neue Firma. Vielleicht hat sich Bernhard auch in der Vergangenheit manchmal zu schnell für die falschen Geschäftspartner entschieden.

Der unangenehmste Konflikt mit einem oder mehreren Ihrer Geschwister in den vergangenen zehn Jahren? Eva Sweeney: Der schwerste Konflikt war die Erkrankung und der Tod unseres Vaters. Er hat unter Alzheimer gelitten. Wir Kinder mussten ihn zwingen, seine Rechtsanwaltskanzlei aufzugeben. Manche von uns hätten mehr helfen müssen, inklusive mir selbst. Ulrich Zünkeler: Wir können Konflikte ausräumen. Wir können verzeihen. Wir können vergessen. Der unangenehmste Konflikt? In den letzten … Wie lange? Ich weiß es nicht mehr. Scharmützel kommen in einem Rudel schon mal vor. > 117

Martin Zünkeler: Eva: keiner. Ulrich: Einstellung zur Normalität. Bernhard: vorzeitiger Rückruf eines Darlehens. Ich wollte selbst ein Haus kaufen und habe alle Mittel zusammengezogen, auch ein kleines Darlehen, das ich Bernhard gegeben hatte. Das war unnötig. Bernhard Zünkeler: Ein schwieriges Thema. Unser Vater hat im Krieg Entsetzliches erlebt, unter anderem den Tod seines kleinen Bruders. Als kriegstraumatisiertes Kind hat er immer nur funktionieren müssen. Er hatte einen Hang zur Melancholie. Manchmal bricht das auch bei unserer Generation aus, das muss man dann konsequent bekämpfen.

Welche Rolle spielt für Sie und Ihre Geschwister bildende Kunst, beruflich und privat? Eva Sweeney: Meine Eltern haben uns immer in Museen und alte Kirchen geschleppt. Kunst ist mehr als nur eine Dekoration an der Wand. Mein Bruder Bernhard ist wohl der stärkste Verfechter der These: „Art is a state of mind“. Ulrich Zünkeler: Für mich liegt in der Kunst die gesamte Ambivalenz des Lebens. Kommt also direkt hinter Gott, unserer Mutter und Fußball. Martin Zünkeler: Schon als wir Grundschulkinder waren, sind unsere Eltern an den Wochenenden mit uns in Museen oder Kirchen gegangen. Ich war in romanischen Kirchen oder dem Wallraf-Richartz-Museum in Köln, bevor ich das erste Mal den Kölner Zoo gesehen habe. Ohne Kunst hätten wir nie die eigene Kreativität entfalten können. Ich glaube, ich wäre dann immer noch Fachanwalt für Steuerrecht. Bernhard Zünkeler: Für mich ist Kunst einfach eine Art zu denken. Meine Eltern haben uns bereits im Kindergartenalter auf die Documenta und in romanische Kirchen mitgeschleppt. Wir haben gemeinsam mit unserer Mutter schon Türen und Möbel bemalt, als so etwas im Freundeskreis noch als antiautoritäre Erziehung galt.

Und wer von Ihnen versteht am meisten von Kunst? Eva Sweeney: Bernhard hat wohl die meiste Ahnung von Kunstgeschichte. Ulrich Zünkeler: Verstehen ist schwer zu messen. Die größte Leidenschaft für Kunst haben wahrscheinlich Eva und Bernhard. Martin Zünkeler: Allgemein und in der Ausführung: Bernhard. Architektur: Eva. Und Werbung: Uli. Bernhard Zünkeler: Kunstgeschichte hat mich wahrscheinlich immer am meisten interessiert. Vielleicht auch, weil ich mit Franz-Josef van der Grinten einen begnadeten Inspirator als Kunstlehrer hatte. Die Gebrüder van der Grinten hatten nach dem Zweiten Weltkrieg Joseph Beuys auf ihrem Bauernhof aufgenommen. Mein Kunstlehrer hat mir schon früh die Idee der 118

Sozialplastik nähergebracht. Insofern war ich vielleicht etwas privilegierter als meine Geschwister.

Befürchten Sie, dass es irgendwann Streit ums Geld oder die Erbschaft geben könnte? Eva Sweeney: Nein. Zum Glück haben unsere Eltern all ihr Vermögen in das Aufwachsen von uns Kindern investiert. Mein Motto ist: Wer Geld hat, hilft den anderen drei Geschwistern aus. Ulrich Zünkeler: Erbschaft? Sie scherzen. Martin Zünkeler: Nein. Ich bin davon überzeugt, dass wir das ohne Streit untereinander regeln könnten. Bernhard Zünkeler: Ich glaube, wir sind da ziemlich immun.

Eine Kindheitserinnerung? Eva Sweeney: Jeden Samstag erlaubte unsere Mutter, dass wir uns beim Einkaufen etwas Süßes aussuchen. Meine Brüder hatten ihre Schokoriegel oder ihre Kaubonbons meistens schon im Auto aufgegessen. Nicht ich. Ich habe so lange gespart, bis die drei bettelnd zu mir kamen und für jedes Spielchen zu haben waren. Natürlich nur so lange, wie mein süßer Vorrat reichte. Ulrich Zünkeler: Uuuuuli, wach auf. Bringst du mich zu Mama und Papa ins Bett? Martin Zünkeler: Immer was los. Bernhard Zünkeler: Für ein Weihnachtsfest hatte meine Mutter aus Satin einen Morgenmantel für meinen Vater genäht. Weil noch Stoff übrig blieb, schneiderte sie für uns Jungs daraus an die 20 Unterhosen. Einziger Nachteil: Die Hosen bekamen Gummieinzüge, auch an den Beinen. Wir sahen aus wie in Pampers gewickelt. Uli gab darin eine Supervorstellung.

Was wünschen Sie sich von Ihren Geschwistern für die Zukunft, beruflich und privat? Eva Sweeney: Viele gemeinsame Urlaube mit unseren Familien. Ulrich Zünkeler: Weiter viel Geduld mit mir. Martin Zünkeler: Stärkere Achtsamkeit auf ihre Gesundheit, nicht uneigennützig – so habe ich länger was von ihnen. Eva: mehr Geduld mit sich selbst. Ulrich: mehr leben im Hier und Jetzt, sonst bekommt man keine Kinder. Bernhard: nicht zu altruistisch sein. Bernhard Zünkeler: Ich hoffe, dass wir mit unseren jährlichen gemeinsamen Urlauben den Familiensinn auf unsere Kinder übertragen können. So vergnüglich und beharrlich, wie es unsere Oma durch fröhliches Zusammenleben mit ihren vier Geschwistern auf uns übertragen hat. –

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Er war es

Die Geschichte meines Großvaters. Text: Andreas Molitor Illustration: Tine Fetz

• „Bist du sicher, dass es Opa war?“ Die E-Mail meiner Schwester bestand nur aus diesem einen Satz, aber sie ließ das ganze Entsetzen erahnen. Ja, ich war sicher. Alles passte. Name, Ort, SADienstrang. „Er war es“, schrieb ich zurück. „Er war ein brutaler Sadist“, wollte ich noch ergänzen. Aber dann löschte ich den Satz wieder. Ich wusste, dass meine Schwester, fünf Jahre älter als ich, sein Lieblingsenkelkind gewesen war. Es gibt ein Foto von ihr, auf dem sie ein Schwarzwaldmädelkleid trägt und lange Zöpfe. Das Kleid hatte unser Großvater ihr gekauft. So stellte er sich wohl ein deutsches Mädchen vor. Mit meiner Schwester werde ich wohl nie mehr sprechen über das, was unser Großvater getan hat. Sie will nichts davon hören. Vielleicht wäre es besser gewesen, ihr jene Textpassage mit der Aufforderung „Lies mal. Das ist furchtbar“ nie zu schicken. Joachim Schmitz hat das Gesicht des SA-Mannes, der an jenem Julitag des Jahres 1933 immer wieder den Befehl zum Zuschlagen gab, nicht vergessen, auch nach 16 Jahren nicht. „Wen kassieren Sie Hund noch?“, schreit er, der Älteste der in dem Raum des SA-Heimes stehenden Männer. In Schmitz’ Wohnung haben sie ein KPD-Parteibuch gefunden. Nun will der Anführer des Trupps von ihm die Namen weiterer Genossen wissen, bei denen Schmitz Mitgliedsbeiträge einsammelt. „Ich habe nichts zu kassieren“, antwortet Schmitz. „Geben Sie dem roten Lump mal die erste Auflage“, befiehlt der Mann mit dem Rangzeichen des Truppführers auf

dem linken Kragenspiegel. Die SA-Männer fassen Schmitz und schlagen mit Stahlruten und Karabinerhaken auf ihn ein, bis er zu Boden sinkt. „Bei wem kassieren Sie?“, fragt der Anführer wieder. Auf seinen Befehl hin erhält Schmitz noch vier weitere „Auflagen“. Jedes Mal dreschen die SA-Männer auf ihn ein – bis er schließlich das Bewusstsein verliert. Zwischendurch wird er angespuckt und mit Kinnhaken traktiert. Zum Schluss tragen sie ihn hinaus und werfen ihn auf einen Sandhaufen. Als Schmitz wieder zu Bewusstsein kommt, sieht er einen SAMann, der mit einem Karabiner bewaffnet neben ihm steht. „Bei dem brauchst du nicht Posten zu stehen, der verreckt ja doch“, hört er einen anderen SA-Mann sagen. Da geht der Posten ins SA-Heim zurück, und Schmitz kann sich in der Dunkelheit davonschleichen. Joachim Schmitz ist 55 Jahre alt, als er am 3. November 1949 vor den Richtern und Geschworenen der Schwurgerichtskammer des Landgerichts Aachen Zeugnis über seine Misshandlungen ablegt. Angeklagt sind neun ehemalige SA-Männer aus der nahe gelegenen Stadt Düren. Das Protokoll des Prozesses, die Anklageschrift und die Urteilsbegründung, Aktenzeichen 4 Ks 5/49, liegen vor mir. 54 Seiten, eng mit der Maschine beschrieben, mit handschriftlichen Ergänzungen hier und da. Der Mann, der immer wieder das Kommando zum Zuschlagen gab an jenem Tag, der SA-Truppführer, der Joachim Schmitz halb tot prügeln ließ, hieß Josef Mundt. Er war mein Großvater. >

Ich habe an ihn wenige schemenhafte Erinnerungen. Als er 1973 starb, war ich neun Jahre alt. Die sonntäglichen Besuche bei den Großeltern mit Vater, Mutter und Schwester, das waren lange Nachmittage, die nicht vergehen wollten. Stundenlang saß ich da und studierte den von zu Hause mitgebrachten Märklin-Katalog. Oder ich sah aus dem Küchenfenster und wartete darauf, dass wieder ein Güterzug am Waldrand vorbeizog, damals noch von einer Dampflok gezogen. Bis heute habe ich den Geruch in der Nase, den das kleine Ölöfchen im Wohnzimmer verbreitete. Dort saß mein Großvater, den Scheitel stets zackig gezogen, auf dem Sofa. Ich war dazu ausersehen, mir seine Erzählungen von früher anzuhören. Es waren immer die gleichen Geschichten. Seine Meisterprüfung als Schlosser. Sein erster großer Auftrag. Seine erste elektrische Bohrmaschine. Zur Kommunion kaufte er mir einen Anzug, den ich danach nie mehr trug. Brotscheiben konnte er millimetergenau schneiden. Zum Frühstück trank er jeden Morgen ein rohes Ei und einen Schnaps dazu. Er war mir sehr fern, fast fremd. Ich kann mich nicht erinnern, dass er mich mal in den Arm genommen hätte. Nie hat er mich gefragt, wie es in der Schule vorangeht, nie ist er mit mir zur Kirmes gegangen oder auf die Felder, die gleich hinter dem Haus begannen, um Falken und Bussarde bei der Jagd zu beobachten. Ich glaube, er wusste nicht, was er mit mir anfangen sollte. „Ein guter Handwerksberuf ist Gold wert“, sagte er oft. Ich aber hatte zwei linke Hände. Meine Laubsägearbeiten waren ein Ausweis völliger Begabungsfreiheit.

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Er starb mit 83 Jahren nach einem Schlaganfall. Meine Mutter kam aus dem Krankenhaus heim und sagte: „Sie haben ihn jetzt ins Sterbezimmer gelegt.“ Ich habe mich damals gefragt, warum sie eigentlich nicht geweint hat. Dass mein Großvater ein Nazi war, wusste ich aus den Erzählungen meiner Mutter. Er war früh in die Partei eingetreten, im rheinischen Düren, wo die ganze Familie wohnte, 1930 schon, ein „alter Kämpfer“ also. Ein Jahr später wurde er Mitglied der SA. Die „Sturmabteilung“, die Braunhemden, das war Hitlers Truppe fürs Grobe. Mein Großvater hat seinen Führer verehrt und imitiert, mit Frisur, Stummelbart unter der Nase und Schäferhund. Wenn eine Hitler-Rede übertragen wurde im Rundfunk, mussten alle still sein, und oft gab es Streit, weil meine Großmutter beim Metzger oder beim Bäcker nicht mit „Heil Hitler“ grüßte. Er vernachlässigte die Arbeit und führte seine einst gut gehende Schlosserei in den Ruin. Aufträge von Juden nahm er nicht mehr an. Sein Lebensmittelpunkt war das Schlageterheim geworden, das frühere Jugendheim der Arbeiterwohlfahrt in der Wernersstraße, das die SA nach der Machtübernahme für sich in Beschlag genommen hatte. Mit seinen Kameraden verbrachte er den ganzen Tag in diesem Heim, benannt nach Albert Leo Schlageter, ein früher Anhänger Hitlers, der wegen mehrerer Sprengstoffanschläge 1923 hingerichtet und von den Nazis zum Märtyrer erhoben worden war. Meine Mutter hat sehr darunter gelitten, dass ihr Vater ein überzeugter Nationalsozialist war. Sie

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musste mit ansehen, wie ihr älterer Bruder Schläge bezog, wenn er in der Nachbarschaft für den »Stürmer« kassiert hatte und die Kasse nicht stimmte, weil manche das Geld nicht hatten. Der verordnete Gemeinschaftskult, dem mein Großvater huldigte, war ihr zuwider. Ihr Vater zwang sie in den Jungmädelbund, wo sie die meisten Gruppennachmittage schwänzte. Sie mochte die Lieder nicht singen, „Ein junges Volk steht auf, zum Sturm bereit“. Meine Großmutter zahlte dann von ihrem bisschen Haushaltsgeld stillschweigend die Strafe für die versäumten Gruppenstunden, Hauptsache, der Vater bekam nichts davon mit. Als Einzige aus ihrer Volksschulklasse nahm meine Mutter nicht am Religionsunterricht teil. Sie war ja nur „gottgläubig“, so der NS-Jargon für konfessionslos. Mein Großvater entstammte einer erzkatholischen Familie, hatte als junger Mann sogar im Kirchenchor gesungen, aber nun wollte er mit der Kirche nichts mehr zu schaffen haben. Als meine Mutter sieben oder acht war, nahm er sie mit zur Maikundgebung, wo er eine Rede hielt und sich dabei an der gleichen Gestik versuchte wie Hitler. Sie schämte sich. Gern hätte sie eine Pagenfrisur gehabt, aber ihr Vater verbot es: „Ein deutsches Mädel muss Zöpfe haben.“ Er erzählte ihr, dass die Juden Menschenblut in den Teig für die Matzenfladen gäben, die sie für ihr Pessachfest herstellen. Sie fürchtete sich jedes Mal, wenn sie an der Judenschule vorbei musste. Und sie hatte Angst, wenn ihr Vater sie mit dem Siphon Bier holen schickte am Werderplatz, durch die Straßen, wo die Kommunisten wohnten.

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„Schick das Mädel doch nicht da lang in der Dunkelheit“, sagten die Verwandten zu meinem Großvater. Aber beim nächsten Mal schickte er sie wieder. Am schlimmsten waren die Nächte. Da lag sie wach und wartete darauf, dass ihr Vater aus dem Schlageterheim kam. Wenn er getrunken hatte, wurde er laut und grob, und wenn die Bratkartoffeln nicht gleich auf dem Tisch standen, mitten in der Nacht, oder ihre Mutter ihm die Stiefel nicht schnell genug ausgezogen hatte, setzte es Schläge. „Ich erkannte immer schon am Stiefelschritt auf der Straße, ob er getrunken hatte“, sagt sie. Meistens hatte er getrunken. Dass mein Großvater zu Hause seine Familie tyrannisierte, ist schlimm genug. Aber was geschah eigentlich in den 10, 12, 15 Stunden des Tages, die er nicht daheim war? Morgens zwischen acht und halb neun machte er sich auf den Weg, natürlich in Uniform – Braunhemd, braune Breecheshose, brauner Binder, Stiefel, Mütze mit Sturmriemen, braunes Lederkoppel mit Schulterriemen und Binde mit Hakenkreuz am linken Arm – und kam meist erst spätabends wieder heim. Meine Mutter kann sich nicht erinnern, dass er je erzählt hat, wie es zuging im Schlageterheim. Das SA-Heim war Terra incognita. Irgendwann habe ich mir genau diese Frage gestellt: Was hat mein Großvater eigentlich den ganzen Tag so gemacht in diesem Heim? Ich hatte gelesen, woraus der SA-Dienst bestand: Uniformkontrolle, Anwesenheitskontrolle, Bekanntgabe von Befehlen und Anordnungen, Vorträge über Ehre, Treue, Kameradschaft, gemeinsames Singen, Exerzieren. Aber war das alles? Wie war es, wenn sie ausrückten und im Gleichschritt durch die Straßen von Düren marschierten, er als Truppführer voran, unter Absingen von „SA marschiert“ und „Das Sturmband am Kinn“? Er war SA-Mann, ein Landsknecht, ein Kämpfer jener „braunen Bataillone“, die schon lange vor Hitlers Machtübernahme in üblem Ruf standen, weil sie pöbelten und prügelten, Saalschlachten und Straßenkämpfe anzettelten. Nachdem Hitler an die Macht gekommen war, trug die SA Gewalt und Terror in jeden Winkel des Landes, verhaftete und folterte politische Gegner; ihre Männer standen mit Schildern „Kauft nicht bei Juden“ vor jüdischen Geschäften Posten und zündeten in der Pogromnacht in ganz Deutschland die Synagogen an. >

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Wo war Josef Mundt, als all dies passierte? Ich gebe fünf Wörter in die Suchmaske ein: Josef, Mundt, Düren, Schlageterheim, SA. Das einzige Suchergebnis ist ein Volltreffer: ein Text über das Dürener Schlageterheim, verfasst von einem Autor der örtlichen Geschichtswerkstatt. Er enthält die Schilderung von Joachim Schmitz über seine Misshandlung durch die SA. Und den Satz: „Mundt gab die Anordnung zu dieser Prügelverteilung.“ Es finden sich Hinweise auf eine Vielzahl weiterer Grausamkeiten: „Das Schlageterheim wurde in den folgenden Monaten zu einer regelrechten Zentrale des Terrors“, steht da. Und es gab wohl einen Gerichtsprozess in der Nachkriegszeit, bei dem etliche SA-Leute, darunter mein Großvater, sich verantworten mussten. Ich schreibe eine E-Mail an den Geschichtsverein. Ich sei der Enkel des Josef Mundt. Ob sie vielleicht wüssten, wo die Prozessakten mit den Zeugenaussagen liegen. Wenige Tage später finde ich Kopien sämtlicher Akten in meinem Mail-Postfach. Es sind Zeugnisse des SA-Terrors in jener Zeit. Und sie geben Einblick in den täglichen Dienst meines Großvaters. Zum ersten Mal in meinem Leben rückt er mir sehr nahe. Auf eine furchtbare Weise. Zwischen Mai und August 1933 verwandelte sich das Dürener Schlageterheim in eine Stätte der Inquisition. Nachdem die Reichstagsbrandverordnung vom 27. Februar 1933 nahezu alle Grundrechte

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aufgehoben hatte, konnte sich der „Volkszorn“ entladen. Die Straße gehörte den Braunhemden. Schubweise und planmäßig gingen die SA-Stürme gegen den politischen Feind vor; eine beispielslose Verhaftungswelle setzte ein. „Der Tag der Vergeltung und der Sühne für alle eure Not und Verfolgung kommt“, hatte SA-Führer Ernst Röhm seinen Männern verheißen. Jetzt war der Tag gekommen. Dutzende Dürener Kommunisten wurden aus ihren Wohnungen geholt. Die SA, so die Anklageschrift, „führte sie in das Schlageterheim, wo sie fortlaufend systematisch und in entwürdigender Weise misshandelt wurden“ – manche bis zu drei Tage lang. Die SA hoffte, die Namen weiterer KPDMitglieder, die Parteizeitungen wie die »Rote Fahne« verteilten oder Beiträge kassierten, aus den Verhafteten herauszuprügeln. Düren war damals eine Arbeiterstadt, in den Fabriken hatte die KPD eine starke Basis. Im Schlageterheim wurde jetzt noch mehr gesungen als sonst üblich. Das Einüben von Kampfliedern war ohnehin Bestandteil des täglichen Dienstes. Aber in diesem Sommer, so heißt es in dem Urteil des Schwurgerichts, gab es noch einen anderen Anlass zum Singen: „Damit die Schreie der Misshandelten auf der Straße nicht zu hören waren.“ Mein Großvater bestimmte in vielen Fällen den Takt der Folter, ihr Anfang und ihr Ende. Er führte den zweiten Sturm der Standarte 161, die etliche Vernehmungen durchführte. Er war nicht einer der

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Schergen, sondern ihr Befehlshaber. „Die Verhafteten waren“, so das Gericht in seiner Urteilsbegründung, „der Willkür und dem Terror des Angeklagten Mundt schutzlos preisgegeben.“ Der seit zwei Jahren arbeitslose Schlosser hatte auf einmal Macht. Er war Führer. Der damals 43-Jährige war der bei Weitem Älteste seines Trupps, auf seine Befehle warteten die jungen Kerle. In seinem Trupp sammelten sich all die zu kurz Gekommenen und Entwurzelten. Fast alle der mit meinem Großvater Angeklagten gaben als Grund für ihren Eintritt in die SA an, dass sie keine Arbeit gehabt hatten. Die SA bot ihnen Kameradschaft, Weltbild, Feindbild, einen Teller Suppe, Bier, eine fest gefügte Ordnung, Sinn. Und die Möglichkeit, Rache zu nehmen – zum Beispiel für den Überfall von Kommunisten auf das frühere SA-Heim im Jahr zuvor sowie für den Tod eines angeblich von Kommunisten umgebrachten Dürener SA-Kämpfers. Auch 16 Jahre nach den Torturen können sich die Zeugen im Gerichtssaal an fast alles erinnern. Vor allem an meinen Großvater. Selbst das sperrige Protokolldeutsch kann die Grausamkeit des Geschilderten nicht übertünchen. „(…) Der Angeklagte Mundt wollte von dem Zeugen wissen, woher die in Düren aufgetauchte kommunistische Broschüre über den Reichstagsbrand ,Im Zeichen des Kreuzes‘ stammte. Als der Zeuge das gewünschte Geständnis nicht ablegte, wurde er vom Angeklagten mit ,Lump‘ und ,Schwein‘ tituliert. Daraufhin fiel ein Teil von den 10 bis 15 anwesenden SA-Männern über den Zeugen her und misshandelte ihn mit Schulterriemen und anderen Gegenständen. (…)“ Zeuge Alois Mainusch, zur Tatzeit 33 Jahre „(…) Als der Zeuge die Frage des Mundt nach der Verteilung von Flugblättern und der Mitgliedschaft zur KPD verneinte, schlug ihn Mundt mit der Faust ins Gesicht. Mundt rief ihm zu: ,Du Hund, wir kriegen dich schon zum Sprechen!‘ Die SA-Leute fielen daraufhin über den Zeugen her, schlugen ihn mit Holzstücken zu Boden und traten ihn mit Füßen. Diese Misshandlungen wiederholten sich des Öfteren zweieinhalb Tage lang. (…)“ Zeuge Johann Fücker, zur Tatzeit 38 Jahre

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„(…) Mundt fragte nun den Zeugen, wer von der kommunistischen Jugend illegal weitergearbeitet habe. Hierauf gab der Zeuge zur Antwort, dass er das nicht wisse, weil er erst vor Kurzem aus der Schutzhaft entlassen worden sei. Diese Antwort erschien dem Angeklagten Mundt nicht ausreichend, und er schlug dem Zeugen mehrmals mit der Hand ins Gesicht. (…)“ Zeuge Max Eichler, zur Tatzeit 21 Jahre „(…) richtete der dem Zeugen von Aufmärschen her bekannte Angeklagte Mundt und ein zweiter SAMann, an einem Tisch sitzend, je eine Pistole auf den Zeugen und forderte ihn auf, auszusagen, wer kommunistische Zeitungen und Flugblätter in Düren verbreitet habe. Als er keine Aussagen machte, wurde er auf Mundts Zeichen von den SA-Leuten geschlagen. (…)“ Zeuge Engelbert Erven, zur Tatzeit 18 Jahre „(…) Man wollte den Zeugen zwingen, das Horst-Wessel-Lied zu singen. Der Zeuge stellte sich so, als ob er mitsinge. Als der Gesang einsetzte, wurde er auf ein Zeichen Mundts von den SA-Leuten misshandelt. Man schlug ihm die Zähne aus. (…)“ Und immer wieder heißt es: „… befahl Mundt …“ „… gab Mundt ein Zeichen …“ „… hob Mundt die Hand …“ Die spröden Sätze verdichten sich in meinem Kopf zu Bildern wie in einem Film. Aber die Erinnerung stellt Fallen. Der Mann, den ich vor mir sehe, der die Hand hebt als Signal zum Zuschlagen, trägt weder Braunhemd noch Stiefel, es ist der Großvater, den ich in Erinnerung habe, ich kenne ja keinen anderen, habe nie ein Foto aus jungen Jahren gesehen. Da steht ein alter Mann in Pantoffeln und Hosen mit Bügelfalte. Düren war eine kleine Stadt mit nur 50 000 Einwohnern. Mein Großvater muss die meisten seiner Opfer gekannt haben, zumindest vom Sehen. „Beide kannten sich von der Arbeit her“, heißt es in den Akten über meinen Großvater und einen der Misshandelten. Zu Beginn der Vernehmung habe er ihn gefragt, wie er „als anständiger Arbeiter ein Kommunist“ sein könne. „Du bist ein sehr guter Kerl, aber politisch bist du ein Lump.“ Es waren einfache Leute wie er, Arbeiter und Handwerker, viele >

Die Sturmabteilung (SA) war die paramilitärische Organisation der NSDAP. Sie entwickelte sich Anfang der Zwanzigerjahre aus Trupps, die zum Schutz nationalsozialistischer Versammlungen in München formiert worden waren. Im Wesentlichen bestand die SA aus Schlägern, die in den Jahren vor der Machtübernahme der Nazis gezielt Zusammenstöße mit Kommunisten provozierten, die vielfach in brutale Saal- und Straßenschlachten ausarteten. Die SA wuchs in dieser Zeit zu einer schlagkräftigen und straff organisierten Formation heran. Sie erhielt, nicht zuletzt aus den Massen arbeitsloser Männer, großen Zulauf – die Mitgliederzahl stieg allein zwischen November 1930 und August 1932 von 60 000 auf 471 000. Die meisten SAMänner waren auch Mitglied der NSDAP; dies war aber nicht > Voraussetzung.

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Nach der Machtübernahme der NSDAP entwickelte sich die SA vollends zum Terrorinstrument der Partei und sicherte Hitlers Macht auf der Straße ab. Besonders Kommunisten, Sozialdemokraten und Gewerkschafter wurden Opfer des Terrors. 1934 entzog Hitler der SA – deren Machtfülle er zunehmend als Bedrohung empfand – seine Gunst. Er intrigier te gegen den SAFührer Ernst Röhm, ließ Putschgerüchte verbreiten und Röhm schließlich ermorden. Danach versank die SA allmählich in der Bedeutungslosigkeit; ihre Mitgliederzahl sank von 2,9 Millionen im August 1934 auf 900 000 Anfang 1940. Eine wichtige Rolle spielten die SA-Trupps beim Boykott jüdischer Geschäfte und in der Pogromnacht vom 9. auf den 10. November 1938.

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Familienväter darunter. Wie konnte er seine Männer immer wieder auf sie hetzen, frage ich mich, auch wenn die Opfer bereits zerschunden und blutüberströmt am Boden lagen? Und wie mag es beim ersten Mal gewesen sein? Hat er da noch gezögert, vielleicht einen Moment? Ich fürchte, nein. Spätestens Ende August 1933 gab es in Düren keinen kommunistischen Untergrund mehr. Die KPDMitglieder saßen entweder im Gefängnis oder blieben verängstigt daheim. Die SA-Männer hatten die unumschränkte Herrschaft über die Straßen. Nicht die neuen Männer im Rathaus waren die Macht, sondern sie. Mein Großvater hatte seine Sache offenbar zur Zufriedenheit seiner Vorgesetzten gemacht. Kurz nach dem Ende der Verhaftungs- und Folterungswelle wurde er zum Obertruppführer befördert, später sogar bis zum Obersturmführer. Das entspricht einem Oberleutnant beim Heer. Hinweise auf weitere Gewalttaten in den darauffolgenden Jahren finden sich nicht in den Gerichtsakten. Meine Mutter erinnert sich, dass mein Großvater seine schützende Hand über Verwandte legte, seine Geschwister zum Beispiel, von denen er wusste, dass sie Sozialdemokraten waren und Hitler die Pest an den Hals wünschten. Einer seiner Brüder stellte, um 1940 muss das gewesen sein, den im gleichen Haus wohnenden Juden Essen in den Flur. Ein anderer hörte heimlich BBC. Mein Großvater habe das gewusst, erzählt meine Mutter. „Aber er hat sie nicht angezeigt.“ Ende 1943 kam mein Großvater eines Tages nach Hause und sagte, er habe gehört, dass die Juden mit Zügen in Konzentrationslager gebracht und dort in Gaskammern umgebracht würden. „Der Hitler ist ein Schwein!“, hörte meine Mutter meine Großmutter sagen. Ich weiß nicht, ob er wirklich erschüttert war über das, was er erfahren hatte, oder ob es bloß Anlass war, ein paar Vorsichtsmaßnahmen zu treffen für den immer wahrscheinlicher werdenden Fall der Kriegsniederlage. Er trug kaum noch Uniform, kaufte sich zwei Anzüge und ging nur noch selten ins Schlageterheim. Das Hitlerporträt verschwand aus der Stube meiner Großeltern. Bei den Dürener Parteioberen wuchsen offenbar die Zweifel an seiner politischen Zuverlässigkeit. 1944 wurde er, obwohl schon 54 Jahre alt, zur Wehrmacht eingezogen. Meine Großmutter verließ mit meiner Mutter Düren mitten in der Nacht – nicht nur aus Angst vor

den Bombenangriffen. „Wenn der Krieg vorbei ist, werden hier Köpfe rollen“, hatte ein Nachbarsmädchen drohend zu meiner Mutter gesagt. Es roch nach Vergeltung. Meine Mutter und meine Großmutter zogen in die Nähe von Breslau, wo mein Großvater stationiert war. Doch als bald darauf schon die Artillerie der Roten Armee zu hören war, flohen sie mit dem Flüchtlingstreck zurück gen Westen und strandeten schließlich im 30 Kilometer von Düren entfernten Bergheim. Nach Düren kehrten sie nicht zurück – aus Angst vor Rache, aber auch, weil es kein Düren mehr gab. Ein verheerender britischer Luftangriff hatte die Stadt am 16. November 1944 nahezu komplett ausgelöscht und 99,2 Prozent der Wohnungen zerstört. Nur vier Menschen harrten danach noch in den Trümmern aus. Ernest Hemingway, damals Korrespondent für das amerikanische Magazin »Collier’s Weekly«, sah eine „zu Staub zermahlene Stadt“. Mein Großvater kam in Kriegsgefangenschaft und im Oktober 1945 wegen seiner NSDAP- und SA-Mitgliedschaft für ein Jahr zur politischen Umerziehung in ein amerikanisches Internierungslager in Recklinghausen. Die Insassen lebten völlig von der Außenwelt isoliert. Erst im Februar 1946 wurde ihnen gestattet, monatlich zwei Postkarten mit maximal 25 Wörtern zu schreiben. Vielleicht hatte mein Großvater nach der Entlassung aus der Internierung gehofft, er sei noch mal davongekommen. Aber seine Opfer hatten ihre Qualen nicht vergessen. Und sie erinnerten sich an Josef Mundt. Eines Tages im Sommer 1949 wurde er abgeholt aus der Wohnung in Bergheim. „Kommense, Herr Mundt, ich gehe voraus und Sie hinter mir her“, sagte der Polizist, der gegenüber wohnte, zu ihm. „Die Nachbarn müssen es ja nicht mitkriegen.“ Ich suche in den Gerichtsprotokollen, aber ich finde kein Wort der Reue, der Scham, des Bedauerns, keine Entschuldigung bei den Menschen, die er gequält hatte und die ihm im Gerichtssaal gegenübersaßen. Nicht einmal ein Eingeständnis seiner Taten. „Der Angeklagte Mundt will keineswegs einer der maßgebenden Männer im SA-Heim gewesen sein“, heißt es. Sein Vorgesetzter, der Sturmbannführer Klotsch, „habe selbst alle Vernehmungen durchgeführt“. Es sei zwar „darüber gesprochen worden, dass Ausschreitungen in dem Heim vorgekommen seien, er habe sie aber nicht veranlasst“.

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Außerdem sei er ja tagsüber an den meisten Tagen gar nicht im Heim gewesen, sondern mit seinem Sturm „ausmarschiert zum Exerzieren und zu sportlichen Übungen“. Die von den Zeugen geschilderten Vorfälle seien ihm „unerklärlich“, er habe niemanden misshandelt, niemanden „über irgendwelche Broschüren ausgefragt“. Das Gericht zeichnet das Bild eines Angeklagten, der „durch ausweichende Antworten dem Kern der Dinge zu entgehen suchte und in keiner Weise den Eindruck eines Mannes machte, der zu seinem früheren Verhalten steht“. Am 5. November 1949 verhängt das Gericht gegen meinen Großvater wegen „Verbrechens gegen die Menschlichkeit in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung“ eine Gefängnisstrafe von einem Jahr. Ein anderer SA-Mann aus seinem Trupp muss für zwei Monate ins Gefängnis. Die übrigen sieben Angeklagten werden freigesprochen, weil die Beweise nicht ausreichen oder die Zeugenaussagen sich widersprechen. Ich lese die Zeugenaussagen noch einmal und denke, dass ein Jahr Gefängnis ein ausgesprochen mildes Urteil ist für die körperlichen und seelischen Qualen, die diese Menschen durch ihn erleiden mussten. Damals kamen viele Mörder ohne Prozess oder mit Freisprüchen davon. Dass die Justiz bei ehemaligen Nazis hart durchgriff, war in den Jahren nach dem Krieg nicht der Normalfall. Meine Großmutter schickte meine Mutter immer wieder mit frischer Wäsche nach Aachen ins Gefängnis. Sie selbst hat ihn kein einziges Mal dort besucht, auch beim Prozess war sie nicht dabei. „Der kommt mir hier nicht mehr rein“, sagte sie, als seine Entlassung anstand. Vielleicht war das ihre Rache. Meine Mutter weinte. „Aber es ist doch der Vater“, bettelte sie meine Großmutter an. Da nahm sie ihn doch wieder auf. Sie haben miteinander gelebt, irgendwie, 23 Jahre noch, bis mein Großvater starb. Sie überlebte ihn um sechs Jahre. In der Familie meines Großvaters ist später nie über diese Zeit geredet worden. Nicht über die SA, nicht über den Krieg, nicht über seine Tyrannei daheim. Und nicht übers Schlageterheim. Auch sein Sohn, der nach dem Krieg mit den Kommunisten sympathisierte, die Trinkerei anfing und zwei Jahre vor ihm starb, hat ihn nie zur Rede gestellt. Als wäre all dies nie geschehen. Als hätte es den Obersturmführer Josef Mundt nie gegeben. Auch jetzt

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wollen meine Mutter und meine Schwester die Aussagen der Zeugen nicht lesen. Vielleicht wird es jetzt heißen, dass man den Namen der eigenen Familie nicht beschmutzt. Aber ich will, dass die Taten nicht in Vergessenheit geraten. Und auch die Namen und das Leiden der Geschundenen und Gedemütigten nicht. Dies alles aufzuschreiben ist wie eine Dekontamination. Hass empfinde ich keinen, nicht mal Verachtung. Dass sein Blut in meinen Adern fließt, ist nicht schön, aber aus mir ist deshalb kein Nazi geworden. Mir tun die Menschen leid, die unter seiner Willkür leiden mussten. Es muss doch Nachkommen geben. Ob sich der eine oder andere vielleicht ausfindig machen lässt? Aber was soll ich ihnen sagen? Mein Großvater hat sich, da ist meine Mutter sich sicher, nach dem Krieg nie mehr politisch betätigt. Er war wohl ein Anhänger Adenauers, sonst ein biederer, allseits geschätzter Bürger. Eine kleine Schlosserwerkstatt hat er sich noch einmal eingerichtet und sehr schöne Arbeiten angefertigt. Ein schmiedeeiserner Tisch aus seiner Hand, filigran gearbeitet, steht bei mir daheim als Unterlage für meinen Drucker. „Nazi-Opa-Tisch“ nenne ich ihn. Eine Frage bleibt. Ich rufe meine Mutter an. „Wo war denn dein Vater eigentlich in der Pogromnacht?“ Auch in Düren hatten SA-Männer die Synagoge niedergebrannt, jüdische Geschäfte geplündert und demoliert. „An dem Abend war er zu Hause“, sagt meine Mutter, „da bin ich mir sicher. Aber warum, weiß ich nicht mehr.“ Am nächsten Tag ruft sie an. Es ist ihr eingefallen. „Er lag krank im Bett mit einer Nierenkolik.“ Ihre Mutter habe sogar den Arzt rufen müssen. „Da war er nicht dabei“, sagt meine Mutter noch. „Was für ein Glück.“ –

Der Autor dankt der Dürener Geschichtswerkstatt für ihre Unterstützung und würde sich freuen, wenn Leser zu einer Spende bereit wären: Dürener Geschichtswerkstatt e. V., Bankverbindung: IBAN DE34 3955 0110 0000 6544 42, BIC SDUEDE33

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Bleib mir von der Pelle!

In den USA legt man Tausende Meilen für ein kurzes Familientreffen zurück. Sonst aber geht man sich höchst freundlich aus dem Weg. Text: Steffan Heuer Illustration: Silke Weißbach

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• Es gibt in Amerika eine eigene Sparte Horrorfilm, das verbindende Thema lautet: „Familienbesuch über die Feiertage“. Ich habe keine Ahnung, wie viele Versionen dieses Kultklassikers existieren, aber es müssen Hunderte sein. Jeder Star versucht im Laufe seiner Karriere, mindestens eine dieser schicksalsschweren Prüfungen zu absolvieren (und zu überleben). Die erbarmungslose Dramaturgie läuft folgendermaßen ab: Die Familie ist über den gesamten Kontinent verstreut und pflegt unterschiedlichste Lebensstile. Zu Thanksgiving, wahlweise auch Weihnachten oder Chanukkha, nehmen die Jüngeren den Treck zu den Eltern auf sich. Doch die Hoffnung, sich für ein paar Tage wieder nahezukommen, entpuppt sich als grober Irrtum. Denn man hat sich nicht nur nichts zu sagen, sondern weiß plötzlich wieder, warum man so weit weggezogen und der Sicherheitsabstand über mehrere Zeitzonen hinweg segensreich ist. In den meisten Filmen bleibt es bei Alkoholmissbrauch und Wortgefechten. In einigen wenigen Fällen gleitet die offene Feindseligkeit in Handgreiflichkeiten oder schlimmere Gewalt ab. Disharmonie bei Familientreffen gibt es vermutlich überall auf der Welt. Doch abgesehen von China, wo zum Neujahrsfest ebenfalls Verwandte aus allen Teilen des Landes an einem Ort zusammenkommen, setzt sich wohl nirgendwo sonst auf der Welt jedes Jahr eine derart gewaltige Menschenlawine in Bewegung, um den vermeintlich Liebsten ein paar Tage nahe zu sein. 2017 waren an Thanksgiving, dem wichtigsten Feiertag des Landes, knapp 51 Millionen Menschen auf Achse, fast jeder siebte US-Bürger. Dass an den Klischees, die Hollywood bedient, einiges dran ist, weiß ich von einem guten Bekannten, dessen engste Verwandtschaft zwischen Illinois und Arizona, Florida und Kalifornien verteilt lebt. Er muss sich Monate im Voraus überlegen, wen er diesmal besucht und mit welcher wohlkalkulierten Begründung („Tut mir leid, zu viel Arbeit liegen geblieben“) er nach 24 Stunden vorzeitig abreist. brand eins 12/18

Während sich in Deutschland die Heimkehr ins Elternhaus meist mit einer relativ überschaubaren Zugfahrt bewerkstelligen lässt, löst die Reise in den USA mitunter einen Kulturschock aus. Etwa zu Weihnachten: Man steigt in Kalifornien, umgeben von braun gebrannten Beautys, bei 20 Grad Celsius ein und sechs Stunden später irgendwo im Mittleren Westen bei minus 15 Grad und umgeben von Menschen mit drei bis vier Konfektionsgrößen gefühlt mehr wieder aus. Am besten greift man jetzt zum Smartphone und lässt sich anzeigen, wo es einen Whole Foods Market, Trader Joe’s oder gar einen Apple Store gibt –

Kollisionen auf dem Bürgersteig werden vorausschauend verhindert nationale Einzelhandels-Oasen, die das Gefühl von Vertrautheit geben und das Ankommen etwas erleichtern. Der Streifzug durch Regale voller Bioprodukte oder Importartikel lindert für wertvolle Minuten die Panik davor, sich zu weit vom eigenen Ökosystem entfernt zu haben. Beim gemeinsamen Abendessen kommt es zu ersten Meinungsverschiedenheiten. Traditionell treten dabei die Teams Ostküste gegen Westküste gegeneinander an. Los Angeles sei fake und hohl, sagen die einen. New York habgierig und neurotisch, halten die anderen dagegen. Die ältere Generation, die Daheimgebliebenen, sind außen vor und wundern sich, wie aus den einst vertrauten Familienmitgliedern nach ihrem Wegzug an eine der beiden Küsten solche Großstadtneurotiker werden konnten. 48 Stunden später sind alle erleichtert, dass die verkorkste Zusammenkunft ein Ende hat. Man verspricht sich lächelnd, in Kontakt zu bleiben, und: „Solltet ihr mal in der Nähe sein, meldet euch unbedingt!“ Das ist schnell dahergesagt, weiß man doch, dass das eher unwahrscheinlich ist in diesem weitläufigen Land.

Es ist auch relativ dünn besiedelt mit durchschnittlich 36 Menschen pro Quadratkilometer (in Deutschland sind es 237 und in Singapur etwa 8000). Den Amerikanern ist räumliche Distanz wichtig, das gilt auch für die Metropolen, wie sich im Alltag immer wieder feststellen lässt. „Hab einen großartigen Tag!“ schmettern sie sogar Unbekannten gern entgegen, so laut, dass sich ein Näherkommen erübrigt. Am auffälligsten ist die Vorliebe zur Distanz in allen Situationen, die unter Umständen eine körperliche Berührung mit sich bringen könnten. Wenn etwa zwei Personen gleichzeitig auf den Eingang eines Cafés zusteuern, könnte es in Deutschland gut passieren, dass beide einen Schritt zulegen, um schneller da zu sein und den womöglich letzten Platz zu ergattern. In den USA undenkbar. Lieber verzichtet man auf den Café-Besuch, als Gefahr zu laufen, dass man dem Fremden an der Tür zu nah kommt. Auch auf dem Bürgersteig werden mögliche Kollisionen vorausschauend verhindert. Steuern zwei Amerikaner auf einer Linie aufeinander zu, sorgen Blicke und ein prophylaktisches „I’m sorry!“ oder „Excuse me!“ dafür, dass der Sicherheitsabstand eingehalten wird. Das Konzept des heiligen Nahraums wird schon in der Schule eingeübt. Dort reden die Lehrer von einer unsichtbaren „persönlichen Blase“, die jeden Menschen umgebe und in die man auf keinen Fall eindringen dürfe. „Je schlechter deine Laune ist, desto größer ist die Blase!“ erklärt mir meine Tochter fachmännisch. Wer das missachte, sei ein Aggressor. Genauso wenig wie man die ausnehmende Freundlichkeit der Amerikaner als oberflächlich abtun sollte, sollte man ihre paranoid wirkende Distanzwahrung als Zeichen von Kälte bewerten. Nichts hat das Land so sehr geprägt wie das Aufeinandertreffen verschiedener Kulturen. Die Menschen haben Mittel entwickelt, bei aller Unterschiedlichkeit miteinander klarzukommen. Insofern kann man das herzliche Aus-dem-Weg-gehen auch als Vorbeugen von Missverständen verstehen – und damit als Ausdruck von Respekt. – 131

Starke Bindung

Johannes Siebers, 33, (links) und Michael Siebers, 29

Sie sind Brüder und könnten kaum unterschiedlicher sein. Eine gute Voraussetzung, gemeinsam eine Firma zu gründen. Text: Nils Wischmeyer Fotografie: Daniel Delang

• Ein einziges Mal haben sie sich nicht an die Regeln gehalten. Vor knapp zweieinhalb Jahren war das. Da stritten die beiden Gründer des Ferienhausportals Holidu so sehr, dass am Ende gar nichts mehr ging. Es brauchte einen Vermittler, und so setzte sich Jan Willem Siebers in den Zug von Offenburg nach München. Wer da anreiste, war der Vater. Michael und sein Mitgründer Johannes sind Brüder. Sie sind füreinander die wichtigsten Menschen. Acht bis zehn Stunden sehen sie sich in ihrer Firma, Tag für Tag. Ein Großraumbüro im vierten Stock eines Gewerbe-Komplexes in München, bei ihnen sieht es aus wie in einem typischen Startup: Alle sitzen in einem Raum vor ihren Laptops, an den Wänden kleben bunte Post-its, Obst und Kaffee sind selbstverständlich gratis. Dass hier mit Urlaubsvermittlung Geld verdient wird, erkennt man nur an den Strandkörben und den ausrangierten Flugzeugsitzen im Aufenthaltsraum. Michael Siebers, 29, offenes Lachen, blaue Augen, die blonden Haare lässig zur Seite geföhnt, ist der Mann für die Technik, derjenige, der bis spät in die Nacht noch arbeitet. Johannes, 33, braune Wuschelfrisur, Hemd, den Pullover über die Schultern gelegt, ist der Mann für Finanzen und Verträge. Wenn es darum geht, neue Partner zu gewinnen, setzt er sich in den Flieger. Sie vertrauen niemandem mehr als einander. Aber die gemeinsame Firmengründung machte ihnen trotzdem Angst. Was, wenn ihre Beziehung daran zerbräche? Was, wenn die Eltern mit reingezogen würden? Alles fing im Dezember 2012 an, als Michael und Johannes Siebers Urlaub in Portugal machen wollten und nach Unterkünften suchten. Sie waren genervt von den unübersichtlichen Angeboten und dachten, es wäre doch eine gute Idee, eine Suchmaschine für Ferienhäuser zu entwickeln. Die beiden beschlossen, das Risiko einzugehen: 2014 gründeten sie ihre Firma Holidu, als Brüder. Mittlerweile hat Holidu 150 Mitarbeiter, zehn Millionen Häuser und Wohnungen in der Datenbank, Millionenumsätze, genügend Investoren und die schwarze Null im Blick. Dass die großen Konkurrenten sich nicht auf dieses Geschäft gestürzt hätten, liege an einer Besonderheit, sagt Michael Siebers. Häuser und Wohnungen seien oft auf verschiedenen Websites gelistet, mit jeweils anderen Namen. Einmal handle es sich um eine „schicke Altbauwohnung“, dann wieder um ein „zentral gelegenes Apartment“. Die Brüder haben einen Algorithmus entwickelt, mit dem sie die Bilder aus verschiedenen Anzeigen analysieren können. So können sie Duplikate identifizieren, den Preis vergleichen und das beste Angebot auf der eigenen Website anbieten. Für jede vermittelte Unterkunft erhalten sie eine Provision. In ihrer Firma pflegen Michael und Johannes Siebers eine offene Kultur, in der alle ihre Meinung sagen und auch mal streiten sollen. Gerade weil sie Brüder seien, hielten sie das gut aus, 134

sagen sie. Dass ein Streit eskaliert, sei nur dieses eine Mal vorgekommen. „Wir vertrauen uns zu hundert Prozent, wir kennen jeden Tick, jede Schwäche und jede Stärke des anderen und kommunizieren extrem schnell. Mit welchem anderen Menschen hat man das schon?“, sagt Johannes Siebers. Er glaubt, dass sie schneller und konsequenter Entscheidungen treffen als andere Gründer. Das Brüdersein hilft ihnen im Geschäft. Und auch, dass sie so unterschiedlich sind. Johannes und Michael Siebers sind behütet aufgewachsen, in Offenburg im Schwarzwald, im großen Haus der Eltern. Gemeinsam mit ihrer Schwester, sie ist das zweite der drei Kinder. Ihre Mutter hat Medizin studiert, ihr Vater war viele Jahre Chefarzt der Gynäkologie des örtlichen Krankenhauses. Als Kinder waren die beiden Brüder eher introvertiert und verschlossen, aber ehrgeizig. Der Ältere war besser in der Schule, was den jüngeren wurmte, der jüngere war handwerklich geschickter, was den älteren anstachelte. Es gab Konkurrenzkämpfe, und manchmal rauften sie sich – aber nie schlimm und nur so lange, bis Michael genauso stark war wie Johannes. Das war früh der Fall.

Regel 1: Verantwortungen sind strikt getrennt Wenn man die zwei Brüder in ihrer Firma besucht, merkt man schnell, dass Johannes Siebers der ältere ist. Auch wenn sie beide gleichberechtigte Chefs sind, spricht er bei den Teammeetings zuerst. Er ist auch der vernünftigere. Als Kind hielt er sich an die Regeln der Eltern, in der Schule schrieb er gute Noten. Johannes sei alles zugeflogen, sagt seine Mutter Sabine Siebers. Erfolg im Sport, am Klavier, in der Schule. Mit 14 Jahren handelte er aus seinem Kinderzimmer heraus erstmals mit Aktien, gewann viel Geld, verlor am Ende aber alles, weil er nicht rechtzeitig verkaufte. Johannes Siebers ist einer, der gern länger nachdenkt und lieber eine Nacht vergehen lässt, bevor er etwas entscheidet. „Johannes ist in jedem Fall der Kopfmensch“, sagt Simon von Hertzberg, der Johannes aus dem Spanisch-Kurs an der Uni kennt und nun bei Holidu arbeitet. Wenn man Michael Siebers fragt, wie er seinen Bruder beschreiben würde, sagt er: „Mutig, neugierig und detailverliebt.“ Und nach einer Pause: „Fokussiert“, manchmal ein wenig zu sehr. Nach dem Abitur studierte Johannes Siebers internationale Betriebswirtschaftslehre in Tübingen, Madrid und Sydney und fing danach bei Siemens an. Dort kümmerte er sich in der Risikokapital-Sparte des Konzerns darum, Start-ups zu fördern. „Ich war immer stolz darauf, wie er das gemacht hat“, sagt sein jüngerer Bruder. brand eins 12/18

Bei der Arbeit: Johannes und Michael Siebers in ihrer Firma

Michael Siebers war immer mehr der Machertyp und rebellischer. Hatte er Hausarrest und Computerverbot, legte er heimlich Kabel über den Balkon. Als kleiner Junge baute er einmal eine riesige Holzeisenbahn quer durch ein Zimmer, ein anderes Mal im Garten eine Seilbahn. „Michael hatte schon in der Jugend seine Projekte“, sagt seine Mutter. Er habe sie aber selten allein umgesetzt, sondern meist seinen älteren Bruder gefragt. Der half ihm gern. Mit 14 Jahren wurde Michael Siebers zu einem begeisterten Programmierer. Erst entwickelte er eine Art SchülerVZ für seine Stadt, später die Anwendung Picturecloud, die wie Dropbox funktioniert. In der Schule war er nicht so gut. Während seine Eltern das hinnahmen, habe sein Bruder ihn „gepusht“, besser zu werden, sagt er. „Er hat mich immer angestachelt. Heute stacheln wir uns gegenseitig an.“ In gemeinsamen Gesprächen wirft Michael immer wieder einen Blick zu Johannes, schaut, ob er ansetzt zu reden, und wenn nicht, spricht er. Der ältere Bruder wiederum sitzt auf beiden Händen und schaukelt mit seinem Oberkörper vor und zurück, wenn der jüngere redet. Nach seinem Abitur studierte Michael Siebers Informatik in Karlsruhe und Südafrika, dann begann er, als Werkstudent bei Zalando zu arbeiten. Dort baute er mit seinem damaligen Chef Arash Yalpani das IT-Team auf, programmierte und übernahm die Verantwortung für größere Projekte. In dieser Zeit sammelte er auch Managementerfahrung. „Michael denkt mit. Dem kannst du eine komplexe Aufgabe geben, und der macht eigenständig etwas daraus“, sagt Yalpani. Es war auch Michael Siebers, der die Nächte durcharbeitete und seinen Job zuerst schmiss, als sie beschlossen, ein Unternehbrand eins 12/18

men zu gründen. Johannes Siebers blieb noch vier Monate lang bei Siemens und unterstützte seinen Bruder vor und nach der Arbeit. Als die erste Version des Produktes stand, kündigte er. Holidus Firmenzentrale liegt, wenig idyllisch, in einem Industriegebiet im Münchener Stadtbezirk Moosach. Dass sie ihr Unternehmen dort gründeten, lag daran, dass Johannes Siebers schon in der Stadt lebte und sein Bruder nach dem Studium flexibel war. Die beiden Brüder sind nicht immer die Ersten, aber die Letzten im Büro, sie arbeiten viel. Am Anfang waren es 70 Stunden pro Woche, jetzt sind es um die 60. Ihre Büros sind nur wenige Schritte voneinander entfernt. „Wenn man sich mal über etwas auslassen muss, geht man schnell ins Büro des anderen“, sagt Michael Siebers. Auch wenn es ein Problem in der Firma oder zwischen ihnen gibt. „Wir müssen nicht auf eine Feedback-Runde warten“, sagt Johannes Siebers. Abends sitzen die Brüder in den Strandkörben im Gemeinschaftsraum und bringen sich auf den neuesten Stand über „den anderen Teil“ der Firma. Denn das ist ihre vielleicht wichtigste Regel: Ihre Verantwortungen sind strikt getrennt. Michael Siebers entscheidet über Technik, Johannes Siebers über Finanzen. „Das letzte Wort bei Entscheidungen hat immer der, in dessen Bereich die Entscheidung fällt“, sagt Johannes Siebers. „Einen einzigen Boss gibt es nicht. Wichtige Entscheidungen treffen wir zusammen.“ Als sie die Firma gerade gegründet hatten, sagt Chris Hitchen, einer ihrer Investoren, hätten sich Johannes und Michael Siebers in einer Investorenrunde beide als Managing Director vorgestellt. Für die Geldgeber sei das irritierend gewesen. Wer denn nun der Boss sei, hätten sie gefragt. Wir beide, antworteten die Brüder. „Die beiden ergänzen sich, die sind mehr so eine Symbiose“, sagt Hitchen.

Regel 2: Der Familienfrieden muss gewahrt bleiben Das erste Büro von Holidu in München war sehr klein: 100 Quadratmeter, knapp ein Dutzend Mitarbeiter, draußen brütete die Hitze, drinnen schwitzten die Programmierer. Innerhalb nur weniger Wochen wuchs die Firma schnell. Das führte dazu, dass überall Männer in T-Shirts, Badehosen und Laptops auf dem > 135

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Schoß herumsaßen, ihre Füße in Eimern mit Eiswasser. Es sei die Zeit gewesen, in der die Brüder lernen mussten, dass sie auch führen müssen, sagt Hitchen. „Das sind keine geborenen Führer. Aber sie haben von anderen und untereinander extrem schnell und viel gelernt.“ Nach sechs Monaten wurde das Büro zu klein – und die Firma zog in das Gebäude in Moosach. Als Michael Siebers von Karlsruhe nach München zog, schlief er bei seinem Bruder im Wohnzimmer, bis er eine eigene Wohnung gefunden hatte. Die Brüder teilten sich ein Hotelzimmer, wenn sie reisten. Sie reisten viel in den ersten zwei Jahren. All das stärkte das Band zwischen ihnen. Thomas Hax-Schoppenhorst, Pädagoge an der psychiatrischen Fachklinik LVR-Klinik Düren und Buchautor zu dem Thema Geschwisterbeziehungen, erklärt: Meist entwickelten sich zwei Geschwister sehr unterschiedlich, wenn ihre Eltern das förderten. „Wenn beide unterschiedliche Richtungen einschlagen und die Rolle, die damit einhergeht, zufrieden ausfüllen, gibt es keine bessere Beziehung“, sagt Hax-Schoppenhorst. „Dann gibt es meist blindes Vertrauen.“ Angst, dass sie mit der Firma die Familie zerreißen könnten, hatten auch ihre Eltern. „Wenn es der Familie schaden würde, sollen sie es lieber lassen“, sagt Sabine Siebers noch heute. „Bisher läuft das aber alles sehr harmonisch, das ist dann toll.“ Dass sich Gründer wegen finanzieller Fragen oder strategischer Entscheidungen zerstreiten, kommt häufig vor.

Regel 3: Persönliches bleibt in der Firma außen vor Dieses Risiko bestehe immer, und Brüder, sagt Hax-Schoppenhorst, seien in dieser Hinsicht besonders gefährdet: „Die Brüderbeziehung kann etwas sehr Starkes sein, aber deshalb auch etwas extrem Zerstörerisches.“ Für alle Varianten gibt es Beispiele: Die in der deutschen Start-up-Szene bekanntesten Brüder, die gut zusammenarbeiten, sind Marc, Oliver und Alexander Samwer. Erst wurden sie mit Klingeltönen Millionäre, dann bauten sie mit Rocket Internet einen der wichtigsten Inkubatoren für junge Unternehmen hierzulande auf. Mit ihrer Hilfe sind Firmen wie Home24 oder Zalando erfolgreich geworden. In der Popkultur für ihre ständigen Anfeindungen unvergessen sind dagegen die Brüder Liam und Noel Gallagher, die bis 2009 als Oasis zusammenspielten, die Band dann aber auflösten. Die ersten Jahre waren für die Brüder anstrengend. „In der Anfangszeit, wenn wir keinen Schlaf hatten, gestresst waren, die Verantwortung groß war: Klar, streitet man da schneller mal“, sagt Johannes Siebers. Man ärgere sich über den anderen, obwohl es nur um Kleinigkeiten gehe. „Aber dadurch dass wir brand eins 12/18

Brüder sind, vergessen wir kleine Streits viel schneller wieder“, sagt Michael Siebers. In ihrer Firma diskutieren die beiden miteinander und mit ihren Mitarbeitern manchmal bis ins kleinste Detail, aber es werde nie persönlich, sagt Simon von Hertzberg. „Die diskutieren schon heftig, aber es geht immer um die Sache.“ Nur das eine Mal, als ihr Vater anreisen musste, ging es schief. Damals waren viele Dinge zusammengekommen: Die Brüder stritten sich um Zuständigkeiten in der Firma, über die Quartalsplanung, und weil sie sich kaum noch sahen, tauschten sie sich zu wenig aus. Der eine ärgerte sich, weil ihm einige Neuigkeiten nicht mitgeteilt wurden, der andere darüber, dass die Meetings schlecht geplant waren. Viele Kleinigkeiten, die sich aufgestaut hatten und nun aus beiden herausbrachen. „Das war schon ernst“, sagt Jan Willem Siebers, der Vater, das habe er vor Ort gemerkt. Über Stunden sprachen sie sich aus, es wurde laut, mit Türen geknallt. Aber am Ende konnte der Vater beide beruhigen, sie machten eine Flasche Wein auf, reichten sich die Hand und arbeiteten weiter. „Das ist dann der Unterschied, wenn man als Brüder gründet“, sagt Johannes Siebers, „beide wissen, ohne den anderen mach’ ich das hier nicht.“ Seit diesem Vorfall gibt es eine dritte Regel: Alle zwei Wochen – wenn es zeitlich passt – gehen die Brüder abends essen. „Wir sprechen über Privates, was wir im Büro kaum schaffen“, sagt Johannes Siebers. Sie haben gemeinsame Freunde, gehen zusammen aufs Oktoberfest, fahren mit der Familie in den Urlaub und an den Wochenenden manchmal zusammen weg. Außerhalb des Büros ist das Thema Holidu dann tabu. Während ihre Mitarbeiter vor ihren Laptops tippen und telefonieren, sitzen Johannes und Michael Siebers mittlerweile fast nur noch in Meetings. Den anderen immer auf den neuesten Stand zu bringen sei zu einer der größten Herausforderungen geworden, sagt Johannes Siebers. „Umso größer der Laden hier wird, desto schwieriger wird das.“ Gerade deswegen kommen sie abends zusammen und besprechen die nächsten Schritte. Der Lieferbote bringt ihnen fast jeden Abend Essen vorbei. Dadurch dass sie sich so oft austauschen, könne sie auch kein Mitarbeiter oder Investor gegeneinander ausspielen, auch das sei ein Pluspunkt, sagen die Brüder. In den vergangenen vier Jahren wurden sie oft nach ihrer Gründungsgeschichte gefragt. Dabei kam immer wieder dieselbe Frage auf: Obwohl ihr Brüder seid? Seit einiger Zeit haben Johannes und Michael Siebers darauf eine Standardantwort: gerade weil. –

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Zarte Gefühle für einen Planeten Der Mars ist so weit entfernt, dass ihn noch nie ein Mensch betreten hat, aber nah genug, um eine Expedition in Betracht zu ziehen. Ein Forscher aus den USA kann es kaum erwarten.

Text: Steffan Heuer Fotografie: David Magnusson

Das Werben Skok hat nichts gegen Nebenbuhler, sondern wünscht sich, dass möglichst viele Menschen seine Leidenschaft teilen. Wie aber lassen sich bei Leuten, die nicht so versessen sind wie er, Gefühle für einen derzeit rund 200 Millionen Kilometer entfernten Himmelskörper mit kargem Antlitz erzeugen? Skok hat zu diesem Zweck die Kampagne „Made of Mars“ ersonnen: Sie wirbt für Produkte aus Material von seinem Lieblingsplaneten.

Der Verehrer Der Weltraum-Geologe John Roma (kurz: JR) Skok fühlt sich dem Mars schon seit Teenager-Tagen verbunden. Als er 13 war, beklebte seine Mutter seine Zimmerdecke mit Sternbildern. Er half in der örtlichen Kopernik-Sternwarte im Norden des Bundesstaates New York aus. Das muss irgendetwas in ihm ausgelöst haben. Heute arbeitet der 33-Jährige im südlich von San Francisco gelegenen Seti-Institut, das seit 1984 das Weltall und extraterrestrische Intelligenz erforscht. Skok ist Teil eines Teams, das gerade die vielversprechendsten Landepunkte für das Nasa-Fahrzeug ermittelt, das 2020 zum Mars aufbrechen soll. Das freut ihn. Noch glücklicher wäre er, wenn er seinem Herzens-Planeten bald selbst seine Aufwartung machen könnte.

Das Lockmittel Ein bisschen Schummelei ist dabei: Denn der Basalt, den er heute verwendet, stammt von der Erde. Die Klumpen vom Bild hat Skok im Pisgah Lava-Feld in der Mojave-Wüste Südkaliforniens und dem Taylor Valley in der Antarktis eingesammelt. Immerhin: Hätte eine Sonde Basalt vom Mars zur Erde transportiert, sähe es nicht anders aus.

Das Objekt der Begierde „Die dunklen Flecken auf der Oberfläche des Mars sind riesengroße Basaltvorkommen, allen voran das Syrtis-Major-Plateau, das Menschen schon im 17. Jahrhundert mit einem Teleskop sehen konnten“, erklärt Skok mit leuchtenden Augen. Wenn Menschen den Planeten in der Zukunft tatsächlich nicht nur betreten, sondern sich dort auch niederlassen sollten, bräuchten sie eine entsprechende Behausung. Baumaterial von der Erde dorthin zu transportieren erscheint umständlich, der Abbau des vor Ort vorhandenen Vulkangesteins wesentlich praktikabler.

Die Planung Leichter als Stahl oder Aluminium, hitzebeständig und korrosionsfrei – das schätzen Ingenieure auf der Erde an Basaltfasern. Man stellt sie her, indem man die Gesteinsbrocken zu Pulver zermahlt, bei 1300 bis 1450 Grad Celsius schmilzt und zu Fasern spinnt. Das Gewebe sieht aus wie eine golden schimmernde Rüstung. In Skoks Plänen soll eine modulare Fabrik dabei helfen, Mars-Geröll in Baustoff zu verwandeln. Sie soll damit anfangen, lange bevor die ersten Bewohner anreisen. Damit sie transportfähig würde, müsste sie in eine Rakete passen. Circa 100 Millionen Dollar würde die Entwicklung einer solchen Fabrik kosten, hat Skok ausgerechnet.

Der Anreiz Das Versprechen Basalt-Produkte werden heute vor allem für die Isolierung von heißen Röhren in Fabriken oder für Bewehrungsstäbe verwendet, die der Verstärkung von Betonbauteilen dienen. Stäbe aus Basalt seien genauso robust wie Eisenstäbe, gleichzeitig bedeutend leichter und rostfrei, schwärmt Skok. „Zudem sind sie flexibler als Glasfasern und viel billiger als Kohlefasern.“ Er verspricht viele weitere praktische Anwendungen – es müssten sich nur Leute ernsthaft damit beschäftigen.

Um Materialwissenschaftler und Designer dazu zu bewegen, über Basalt-Produkte nachzudenken und auch bei der Entwicklung der modularen Fabrik zu helfen, will Skok das Gestein populärer machen. Er hat Laptop- und Brieftaschen aus Basalt und Leder herstellen lassen, in der Hoffnung, dass diese vielleicht besser als Bewehrungsstäbe geeignet sind, Begeisterung zu erzeugen. Zudem hat Skok eine Kampagne auf der Finanzierungsplattform Kickstarter initiiert. Wer spendet, kann sich eines der ersten Produkte sichern, die später in der Fabrik entstehen sollen. Ob das hilft, seinem geliebten Mars näher zu kommen? Skok lässt jedenfalls nichts unversucht.

Fotos: © Ren Netherland / Barcroft Media / Getty Images (6); ddp images; Media Drum World / Alamy Stock Photo (2) – Bildrecherche: Silke Baltruschat

Mit Wau-Effekt

Vielen sind ihre Hunde und Katzen die Liebsten – und lassen sich diese Zuneigung etwas kosten. Einblick in ein krisenfestes Business. Text: Franziska Jäger

• In deutschen Haushalten leben Schätzungen zufolge knapp 14 Millionen Katzen, mehr als 9 Millionen Hunde und 6 Millionen Kleintiere. Hinzu kommen Ziervögel und all das, was in Aquarien schwimmt und in Terrarien kriecht. Verglichen mit den europäischen Nachbarn, liegen die Deutschen mit ihrer Tierliebe auf Platz zwei hinter den Russen. Mit der Geburt eines Tieres beginnt das Geldverdienen – und hört längst nicht mit dem Tod auf. Mehr als 9 Milliarden Euro werden pro Jahr in Deutschland für Haustiere ausgegeben. Fertignahrung stellt den größten Kostenpunkt dar, gefolgt von der tierärztlichen Versorgung, Zubehör und Dienstleistungen. Was nun genau hinter den Begriffen Zubehör und Dienstleistungen steckt, ist eine Geschichte für sich.

Chalets für Vierbeinere Eine große Lounge zum Kuscheln, Schwimmteich mit Terrasse und Sonnenliegen bietet das Fünf-Sterne-Hundehotel Platzhirsch in Essen an, das seit 2013 „Hundeurlaub à la Rosamunde Pilcher“ verspricht. Dort herrscht kein „Massentourismus“, wie es auf der Website heißt. Maximal 10 Hunde werden gleichzeitig aufgenommen. 60 Euro pro Tag zahlen Halter, die ihren Hunden große, weiche Betten, Fernseher und Warmwasserduschen für gepflegte Pfoten gönnen möchten. Ob das Programm ihren Hunden gut genug ist, können die Besitzer per Webcam verfolgen. Im Animal Resort Wesel bekommt jeder Hund gleich sein eigenes Chalet mit Privat-Garten. Jedes Holzhäuschen hat eine eigene Küchenzeile und Fenster bis auf den Boden, „damit auch der Kleinste nach draußen blicken kann“. Sollte der Hund > Des Pudels neue Frisur: Die abgebildeten Fotomodelle aus den USA wurden von ihren Besitzern gestylt – und tragen ihre neuen Haarkleider mit Fassung.

Eingewöhnungsprobleme haben, lassen sich Geräusche aus dem eigenen Zuhause über eine Anlage abspielen. In den Chalets für Katzen stehen Riesenkratzbäume, die bis zur Decke reichen. Schafft es die Katze, den Eichenbaum hochzuklettern, gelangt sie zum Panoramafenster und hat zur Belohnung Ausblick über das gesamte Areal. Angenehm für sensible Pfoten: Die Chalets verfügen über Fußbodenheizung. Eine Nacht pro Katze kostet 21, die Betreuung tagsüber zusätzlich 18 Euro. Für den Hund werden pro Nacht 36 Euro fällig, in der Tagesstätte 22 Euro. Einen besonderen Service bietet das Canis Resort in Freising an, etwa 40 Kilometer von der Münchener Innenstadt entfernt: Gegen einen Aufpreis (1,50 Euro pro Kilometer) holt ein eigenes Taxi den Hund im Hotel oder am Flughafen ab und bringt ihn dort auch wieder hin.

Therapie gibt’s auch Glücksdrogen für depressive Hunde, Psychopharmaka für gestresste Katzen – die Pharma-Industrie hat mit Haustieren eine neue Patientengruppe entdeckt. Hunde mit Trennungsängsten etwa können angeblich nicht allein in der Wohnung bleiben. Sobald sich der Besitzer zur Haustür bewegt, geraten die Tiere in Panik und verwüsten die Wohnung. Der Pharmakonzern Pegasus Laboratories hat deshalb eine Pille auf den amerikanischen Markt gebracht, die denselben Wirkstoff enthält wie das menschliche Antidepressivum Prozac, Fluoxentin. Die Kautablette Reconcile schmeckt nach Rindfleisch. Für übergewichtige Hunde gibt es in Deutschland das Mittel Slentrol. Der Abspecksaft reduziert die Fettaufnahme aus der Nahrung. Außerdem hemmt das Mittel den Appetit – wer den Fressnapf nur noch halb füllt, darf also hoffen, dass er nicht allzu vorwurfsvoll angeschaut wird. Ist die Katze ängstlich oder aggressiv, bieten Tierpsychologen ihre Hilfe an. Konkret lauten die Probleme, die behandelt werden sollen: Angst vor Menschen oder anderen Katzen, Kratzen an der Schlafzimmertür, Möbeln oder Teppichen, Selbstverletzung durch Beißen, übermäßiges Putzen, Hyperaktivität. Für das erste Beratungsgespräch können schon mal 220 Euro fällig werden, um die 90 Euro für jede weitere Stunde. Manche alternative Tierheilpraxen bieten Rundum-Pflegeprogramme an: Zahnreinigung für 15 Euro, Blutegelbehandlung gegen Rheuma und Muskelverspannungen für 60 Euro, halbstündige Akupunktur für 35 Euro, außerdem Massagen sowie Wärme- und Aromatherapien für den Hund. Gegen Stress, hervorgerufen etwa durch das Feuerwerk an Silvester, den Tierarztbesuch, einen Umzug oder eine Reise, sollen Bachblüten helfen. Die pflanzlichen Beruhigungsmittel in Tablettenform gibt es in der Apotheke. Sie helfen angeblich auch gegen Angst vor Gewitter. 142

Und Designermöbel Abgewetzte Hundekörbe und schlichte Kartons, in denen Katzen spielen – das war gestern. Die Designbranche hat mittlerweile auch Tiere auf dem Radar und legt den Besitzern besonders feine Stücke nahe: Hunde-Sofas aus Kunstleder mit dekorativen Kissen gibt es in Graubraun oder Nougatbraun für knapp hundert Euro. Eine große Auswahl an Kratzbrettern und ganzen Katzenhäusern haben die Tierdesigner ebenfalls geschaffen: von schlicht und zeitlos bis barock und verschnörkelt. Stilbewusste Katzen wohnen heute zum Beispiel in einer Höhle aus Leder auf einem Standfuß aus Edelstahl. Die halb geschlossene Form soll die Katzen abschirmen vor dem, was in der Wohnung sonst so passiert. Kostenpunkt: ab 570 Euro für das Modell „Rondo Stand“. Minimalistischer ist dagegen das „Kläffer-Hundebett“ aus Birken-Sperrholz. Optisch ist es schlicht gehalten, ohne jeden Schnickschnack, es besteht nur aus zusammengesteckten Holzplatten. Eine Decke wird mitgeliefert. Doch gerade das Understatement will bezahlt sein: 650 Euro kostet das Bett für den das Puristische liebenden Hund.

Außerdem Doga In London gehen Hunde einfach mit zur Sportstunde. Mensch und Tier entspannen gemeinsam, Yoga-Übungen machen sie in trauter Zweisamkeit. Die Trainerin Mahny Djahanguiri hat Doga (abgeleitet von Dog und Yoga) in Großbritannien bekannt gemacht. „Doga ist Menschen-Yoga, bei dem Hunde dabei sein und frei herumlaufen dürfen“, sagt sie. Beim Doga wird der Hund zum Beispiel als lebendiges Gewicht auf den Bauch gelegt. Oder er soll die Entspannung verstärken: Bei einer Übung sitzt der Yogi vor dem Hund, schaut ihm tief in die Augen und presst Luft gut hörbar aus den Lungen heraus – Stress wird nach dem Vorbild des Hundes einfach weggehechelt. Auch in Deutschland gibt es erste Studios, die Doga anbieten.

Schließlich Diamanten aus tierischer Asche Gedenkstein mit Tupfmalerei, 3D-Foto im Glasblock mit Teelichtvertiefung, Gipsguss-Pfotenabdruck oder Armband mit eingraviertem Namen: Trauernde Tierbesitzer haben die Qual der Wahl, wenn es darum geht, ihre Gefährten in Form eines Erinnerungsstückes zu verewigen. Die Semper Fides Diamonds GmbH aus Salzgitter hat sich auf die exklusive Variante spezialisiert. Schon wenige Gramm Asche oder Tierhaar von Pferd, Hund, Katze oder Vogelfedern genügen, um den verstorbenen Liebling in einen Diamanten zu pressen. Aus fünf verschiedenen Farben (Gelb, Grün, Blau-Weiß, Rot oder Pink) können die Tierbesitzer wählen. Kosten: ab 2990 Euro für den gelben Brillanten, den Diamanten mit zwei Karat gibt’s für knapp 20 000 Euro. – brand eins 12/18

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Rolle vorwärts Die Luftfahrtbranche wird beherrscht von alten weißen Männern.

Noch. Denn nun startet Rexy Rolle durch. Text: Michael Kneissler Fotografie: Katharina Poblotzki

• Natürlich beginnt eine Geschichte über eine junge schwarze Anwältin, die eine Airline auf den Bahamas führt, damit, dass man mit einem ihrer Flugzeuge dahin fliegt. Es ist eine nicht mehr ganz taufrische Saab 340 mit zwei tosenden Propellern, die einen von der Inselhauptstadt Nassau ein paar Korallenriffe weiter nach Freeport auf Grand Bahama bringt. Das Flugzeug hat 37 Sitze, 16 sind besetzt, keine ganz optimale Auslastung, dafür ist der Blick aus dem Fenster grandios: viel Wasser, viel Himmel, ein paar Wolken, kleine Inseln. 35 Minuten später rollt die Maschine vor einer flachen blauen Baracke aus, auf der in roten Buchstaben Western Air Terminal steht. Die junge Flugbegleiterin klappt die Treppe aus, auf dem Rollfeld empfängt die Passagiere ein milder warmer Wind. Sie schnappen sich ihre Koffer und Einkaufstüten und sind innerhalb von fünf Minuten verschwunden. Das würde ich mir auch für München, Frankfurt oder Berlin wünschen. Ich setze mich vor der Baracke auf einen roten Plastikstuhl und warte auf Rexy Rolle. Neben mir sitzen zwei sehr entspannte Männer und warten auf nichts. Sie blicken auf ein Stück Rasen und ein paar Bäume hinter dem Parkplatz. Ich auch. Rexy Rolle ist 30 Jahre alt, und ich kenne sie von Instagram. Sie ist eine erfolgreiche Influencerin mit mehr als 23 000 Abonnenten, alle zwei bis drei Tage postet sie Selfies. Mal steht sie im Businesskostüm vor einem Flugzeug, mal im Bikini am Strand. Und gelegentlich sieht man sie tanzen oder singen. Neulich hat sie ein Musikvideo online gestellt, es heißt „Here to Stay“ und spielt im und am Wasser. Die Musikrichtung ist Tropical Pop, man sieht wenig Kleidung und viel Twerking, das ist der Fachbegriff für rhythmische Bewegungen des Hinterteils. Davon sollte man sich allerdings nicht zu sehr ablenken lassen. Im Hauptberuf ist Rexy Rolle nämlich Vice President of Operations & General Counsel einer der wenigen Fluglinien im Besitz einer schwarzen Familie. Und sie macht ihren Job so gut, dass alle von ihr schwärmen – außer den Platzhirschen in der traditionell von weißen Männern dominierten Branche. Die müssen sich erst noch daran gewöhnen, dass in ihren Kreisen plötzlich eine junge schwarze Frau mitmischt, die wie ein Popstar auftritt. Vor dem Western Air Terminal fährt jetzt ein Kleinbus vor. Drei dicke Frauen steigen aus, grüßen mich fröhlich, küssen die beiden Männer neben mir und verschwinden im Gebäude. Hier kennt man sich. „Cousinen“, sagt einer der Männer, „die fliegen mit der nächsten Maschine nach Nassau.“ Der andere Mann steht gemächlich auf und kommt nach einiger Zeit mit einer Tasse Kaffee zurück, die er mir in die Hand drückt. „Rexy ist bestimmt gleich da“, sagt er. Wir schauen wieder auf den Parkplatz und das Rasenstück. Ein paar Vögel picken etwas aus dem Gras. Man kann nicht sagen, dass das Leben hier besonders hektisch ist. Aber dann braust ein schwarzer Cadillac Escalade auf den Parkplatz, 5,70 146

Rexy Rolle weiß, wie eine gute Pose aussieht. Hier eine auf dem Rollfeld ihrer Airline am Flughafen von Freeport

Meter lang, 1,90 Meter hoch, acht Zylinder, 420 PS, und eine zierliche Frau mit wallender Haarpracht steigt aus.

Auftritt Rexy Rolle! Der Boss ist da Die beiden Männer erheben sich von der Bank, der eine nimmt einen Besen und fegt ein wenig den Boden, der andere öffnet Rexy Rolle die Tür zum Terminal. „Michael!“, ruft Rexy. Sie trägt einen Anzug von Tommy Hilfiger, High Heels von Louboutin, eine Handtasche von Marc Jacobs. „Sorry für die Verspätung“, sagt sie, „aber heute hat es etwas länger gedauert.“ Ihre Morgenroutine kostet eben Zeit. Am längsten braucht sie für das Gebet, Rexy ist gläubige Christin, am zweitlängsten für die Haare und das Schminken. „Ohne Make-up und ohne künstliche Wimpern gehe ich nicht aus dem Haus“, sagt sie, „ich bin schließlich ein Mädchen.“ Das Frühstück dagegen ist kaum erwähnenswert. Es besteht aus einer Flasche Proteinshake, Schokogeschmack. Das kann man im Auto zu sich nehmen. Der ganze Kofferraum ist voll damit. brand eins 12/18

Ihr Büro befindet sich unmittelbar hinter dem Check-in, der aus zwei Schaltern besteht. Es ist etwa zehn Quadratmeter groß und fensterlos. Im Büro gibt es einen Schreibtisch mit drei Computern, eine Klimaanlage, eine Couch (auf der ich jetzt neben Rexys Handtasche sitze) und einen Monitor mit Bildern von neun Überwachungskameras. Viel ist nicht zu sehen. Ab und zu kommt der Mann mit dem Besen ins Bild, die drei Damen für den Nassau-Flug sitzen im Warteraum, am Sicherheits-Check wartet eine Mitarbeiterin auf Kundschaft, an der Bar im Abflugbereich zeigen die Kameras ein gut gefülltes Regal mit Alkoholika, sonst herrscht gähnende Leere. Der nächste Flug geht erst in 90 Minuten. Durch die offene Bürotür hört man das Personal am Check-in und ab und zu das Telefon. „Ich habe noch ein größeres Büro am anderen Ende des Gebäudes“, sagt Rexy. „Aber ich bin lieber hier, da kriege ich hautnah mit, was läuft.“ Der Monitor schaltet um auf das Rollfeld vor dem Terminal. Dort sieht man zwei schlanke Jets im Sonnenschein blitzen. Das ist zurzeit Rexys größter Erfolg. Und ihr größtes Problem.

Trauerreden gehalten. Für Shandrice Rolle war das ein Schlüsselerlebnis. „Reden Sie mal mit meinen Eltern“, sagt Rexy. Besuchen geht leider nicht, sie leben ein wenig abgelegen auf einer anderen Insel mit ungünstiger Flugverbindung. Da ist noch Luft nach oben für Western Air. Rexy richtet eine Konferenzschaltung ein. Auf der einen Seite: ich neben Rexys Handtasche. Auf der anderen Seite: Mrs. Rolle neben Mr. Rolle. „Ich war stinksauer!“, ruft Rexys Mutter ins Telefon. „Dort die tote Oma, und wir sitzen irgendwo auf einer Insel fest. Da musste ich einfach was unternehmen, ich hatte schließlich gerade meinen Bachelor gemacht und hielt mich für ein BusinessGenie. Ich sagte meinem Mann: ,Rex, das ist eine Marktlücke, wir gründen unsere eigene Airline. Du fliegst, ich mache den Rest.‘ Stimmt doch, Rex?“ Durchs Telefon hört man ein zustimmendes Grunzen. „Wahrscheinlich isst Papa gerade etwas und hat den Mund voll“, flüstert Rexy. Sie kennt ihren Vater. Ihre Mutter erzählt jetzt, wie es dann statt einem drei TurbopropFlugzeuge gab, weil der Investor aus Missouri mehr Geld als erwartet locker machte, und wie sie plötzlich tatsächlich eine eigene kleine Airline hatten. Soziale Medien und Gottvertrauen „Das klingt jetzt so einfach!“, ruft Shandrice Rolle auf der Western Air gibt es seit 2001. Damals war Rexy zwölf Jahre alt anderen Insel ins Telefon, „aber es war ein langer und harter und lebte mit ihren Eltern in Fort Lauderdale, Florida. Papa Rex Weg. Die Behörden hatten keine Ahnung von privaten FlugRolle, ein Mann im XXL-Format, arbeitete als Privatpilot und linien. Und wir auch nicht.“ Rexy nickt: „Ich würde gern sagen, flog Turboprop-Maschinen über die USA und die Karibik. Mama dass wir nicht diskriminiert worden sind wegen unserer HautShandrice Rolle beendete gerade ihr Management-Studium. Da farbe. Aber das wäre gelogen. Wir mussten ständig kämpfen starb die Oma auf den Bahamas. und kämpfen immer noch.“ Die Flugreise zur Beerdigung wurde zum Fiasko: FlugzeugEs dauerte ein Jahr, bis alle Widerstände überwunden und die ausfälle, Verspätungen, Ärger, Stress. Während Familie Rolle erste Maschine in der Luft war, Rex Rolle am Steuerknüppel. noch auf einem Inselflughafen festhing, wurden schon die ersten „Von da an“, sagt seine Frau, „ging’s aufwärts.“ Rexy Rolle ergänzt: „Das geht nur mit absoluter Überzeugung für deine Arbeit, mit BeharrlichDer Check-in-Schalter im Western Air Terminal. Anderswo geht es hektischer zu keit. Und Gottvertrauen.“ Wie gut, dass Rex Rolle aus einer Pastorenfamilie kommt und Rexy täglich betet. Und im Flugzeug ist man dem Himmel ohnehin sehr nahe. Das Geschäft brummte schließlich lauter als die Motoren der kleinen Propellermaschinen, mit denen Western Air unterwegs war, und das Familienleben fand nun am Flughafen statt. Bei jeder neu gekauften Maschine kam ein Geistlicher und sprach Gebete, während Oma und Opa (von der anderen Seite der Familie) ein paar Gospels schmetterten. Mittlerweile hat ein Onkel, Pastor Gunsmoke, die Leadstimme des verstorbenen Großvaters übernommen. All das scheint zu helfen. Noch nie ist eine Western-Air-Maschine abgestürzt. > brand eins 12/18

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10 Gebote von Rexy Rolle 1. Deine wichtigste Superpower ist Empathie. Verstehe die Perspektive anderer, auch wenn du sie nicht teilst. Das erleichtert dir die Kommunikation. 2. Keine Panik, alles hat seinen Sinn. 3. Wenn es stressig wird, mach eine Pause, entspanne kurz, lache, telefoniere mit deiner Mama oder Freundin – danach geht alles leichter. 4. Suche nicht nach Geld und materiellen Gütern. Suche nach dem Sinn. 5. Lass dich nicht in die Schublade stecken, die andere für dich bereithalten. 6. Sei unermüdlich, hoffnungsvoll, intuitiv und achtsam. 7. Trage internen Streit niemals nach außen. 8. Wer Erfolg haben will, muss Risiken eingehen. 9. Fehler sind ärgerlich, aber unvermeidlich. Lerne von Menschen, die ihre Fehler schon gemacht haben. Dann brauchst du sie nicht zu wiederholen. 10. Gib dein Bestes und lege den Rest in Gottes Hand.

Bahamas Die Bahamas sind ein Inselstaat vor der Küste Floridas mit mehr als 700 Inseln und 2400 Korallenriffs. Staatsoberhaupt ist Queen Elizabeth, Amtssprache ist Englisch. Die 350 000 Einwohner leben hauptsächlich von Tourismus und Geldwäsche. Die Bahamas stehen auf der Schwarzen Liste der Steueroasen der EU. Die wichtigsten Städte sind die Hauptstadt Nassau (266 000 Einwohner) auf New Providence und Freeport (27 000 Einwohner) auf Grand Bahama. Freeport befindet sich im Privatbesitz

der Familie St. George und des global aktiven Mischkonzerns Hutchison aus Hongkong, der unter anderem Häfen, diverse Unternehmen und Immobilien besitzt.

Western Air Ltd. Anzahl der Flugzeuge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16 Flüge pro Tag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24 Zahl der Destinationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 Sitzauslastung, Durchschnitt 2018, in Prozent . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85 Umsatz 2018, in Millionen US-Dollar . . . . . . . . 61 Zahl der Mitarbeiter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145

(Quelle: The Bahamas Civil Aviation Department (BCAA), Advisory Circular AC-12-001)

(Quelle: Western Air)

Luftnummern Zahl der Flugpassagiere weltweit im Jahr 1998, in Milliarden . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1,5 Zahl der Flugpassagiere weltweit im Jahr 2018, in Milliarden . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4,3 Durchschnittspreis pro Rückflugticket im Jahr 1998, in US-Dollar . . . . . . . . . . . . . . . . . 604 Durchschnittspreis pro Rückflugticket im Jahr 2018, in US-Dollar . . . . . . . . . . . . . . . . . 380 Umsatz der Luftfahrtbranche weltweit im Jahr 2018, in Milliarden US-Dollar . . . . . . 834 Gewinn der Luftfahrtbranche weltweit im Jahr 2018, in Milliarden US-Dollar . . . . . . . 34 Höchste jemals gemessene Zahl von Flügen pro Tag* . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 205 468 Höchste jemals gemessene Zahl von Flugzeugen in der Luft* . . . . . . . . . . . . . 19 000 (*gemessen am 13.7.2018; Quellen: IATA, Worldbank, Flightradar24)

Rexy wuchs mehr oder weniger hinter dem Ticketschalter auf, und in den Ferien jobbte sie am Gepäckband. „Es war keine Frage, dass ich später in die Firma einsteigen würde“, sagt sie. Aber erst sollte sie eine gute Ausbildung bekommen. Sie studierte Politikwissenschaften und Kommunikation in Ottawa und Florida, schloss selbstverständlich mit summa cum laude ab. Danach machte sie noch schnell den Dr. jur. in Kalifornien, Schwerpunkt Luftfahrts- und Wirtschaftsrecht, arbeitete in einer US-Kanzlei, die Millionendeals im Aviation-Business einfädelte, nebenher sang und tanzte sie, und 2015 wurde sie dann Vice President bei Western Air. Seitdem weht dort ein anderer Wind. „Wir flogen jeden Tag“, sagt Rexy, „alles funktionierte, aber der Check-in war seeeeehr entspannt, und wir hatten jede Menge Verspätungen.“ Klar, wenn alle sich kennen so wie hier, wartet man eben noch ein paar Minuten, bis Onkel und Tante endlich da sind und der Pastor und natürlich auch der lokale Abgeordnete. 148

Wie man eine Fluggesellschaft gründet Um ein Airline Operator’s Certificate (AOC) zu erhalten, muss man eine Reihe bürokratischer Hürden nehmen. Businessplan, Führungspersonal, Banksicherheit oder Finanzkraft der Firma – ein Antrag wird in fünf Phasen sehr sorgfältig geprüft. Auch Gebäude und Maschinen werden untersucht und Testflüge durchgeführt. Erst wenn alles gut gelaufen ist, kann eine Fluglinie in Betrieb gehen. Der Genehmigungsprozess dauert bis zu einem Jahr.

„Guter Job“ Gerald Wissel ist der Geschäftsführer von Airborne Consulting in Hamburg, einem international tätigen Beratungsunternehmen für Fluglinien. Über Western Air sagt der Luftfahrtexperte: „Airline und Standort sind sehr attraktiv. Aus unserer Sicht macht Rexy Rolle einen guten Job mit Western Air, indem sie systematisch die Schwächen der konkurrierenden Bahamasair nutzt. Das ist ein Wettbewerbsvorteil. Als Staatslinie fliegt Bahamasair nicht unbedingt die wirtschaftlich sinnvollsten Strecken, sondern politisch gewünschte. Außerdem gilt Bahamasair als besonders unzuverlässig. Western Air dagegen fliegt pünktlich, zuverlässig und kostengünstig mit gut gewarteten gebrauchten Maschinen. Rexy Rolles Marketingstrategie über die sozialen Medien hilft, neue Kunden zu gewinnen. Aber entscheidend ist die Performance von Western Air. Die muss gut und zuverlässig bleiben, um Kunden zu binden. Kundenbindung macht den Unterschied zwischen Erfolg und Misserfolg aus.“

Es war ein ziemlicher Schock für alle Beteiligten, für Mitarbeiter und Passagiere und auch für die eigene Familie, als Rexy begann, den Schalter eine Stunde vor Abflug zu schließen. Knallhart ließ sie alle stehen, die danach noch gemütlich angeschlendert kamen. Die entspannten Bahamiens verstanden die Welt nicht mehr. Rexy wird seitdem in der Familie „der Diktator“ genannt. Sie trägt den Titel mit Stolz. Seit Western Air geradezu überpünktlich fliegt – 85 bis 90 Prozent aller Flüge kommen rechtzeitig an –, wächst das Vertrauen in die kleine Fluggesellschaft, sie hat mehr Fluggäste denn je. Mittlerweile finden viele von ihnen Rexy und ihr strenges Regiment auch ganz gut. Damit das so bleibt, hat Rexy fünf Millionen Dollar ausgegeben und ein neues Terminal nur für Western Air gebaut. Jetzt ist sie nicht mehr davon abhängig, wie gut andere arbeiten. Hier hat sie das Sagen. Und da kommen die beiden blitzenden Jets auf dem Rollfeld ins Spiel. Die hat Rexy angeschafft. Es brand eins 12/18

war ihre Idee, eine ziemlich größenwahnsinnige. Denn das sind keine lärmenden Turboprop-Maschinen mit scheppernder Karosserie, sondern nagelneue und nicht gerade günstige Regionaljets vom Typ Embraer 145. Zwei Stahltriebwerke, 50 elegante blaue Ledersitze, eine Reisegeschwindigkeit von bis zu 860 Kilometern pro Stunde, eine Reichweite von 2800 Kilometern. Karibik, wir kommen! Jamaica, Kuba, Belize, die Dominikanische Republik und nächstes Jahr die USA – das sind die neuen Reiseziele. Diese Orte fliegt Western Air zwar schon mit Charterflügen an, aber sobald die beiden Jets startklar sind und zwei weitere geliefert werden, soll der Linienflug beginnen. So weit die Theorie. Im Moment ist nämlich gar nichts startklar. Auf den Triebwerken der Jets stecken Schutzhüllen, sie dürfen nicht in die Luft. Die zuständigen Behörden in Nassau geben keine Genehmigung – weil sie nicht können. „Wie sich herausstellte, kennen sich die Inspektoren hier mit diesem Typ nicht aus“, sagt Rexy. „Also müssen erst mal zwei geschult werden. Auf meine Kosten, 80 000 Dollar.“ Das geht noch. Doch auch die Leasingfirma bucht jeden Monat 215 000 Dollar ab, während die beiden Jets nutzlos auf dem Rollfeld herumstehen. So verbrennt man Geld. Rexy sagt: „Gott sei Dank wurden die Jets verspätet ausgeliefert. Der erste sollte im Mai da sein, er kam im August, und die beiden letzten sind noch gar nicht da. Ist doch gut, wenn wir sie ohnehin nicht fliegen dürfen. Für Maschinen, die nicht da sind, zahlen wir natürlich auch keine Leasinggebühren.“ Ein Privatflugzeug aus den USA landet mit zwei Herren an Bord, die gern mit Rexy Rolle reden würden. Sie hätten zwei weitere Embraer-Jets im Angebot, sagen sie, gebraucht, generalüberholt, günstig. In der Branche der Flugzeugmakler hat sich

herumgesprochen, dass Rexy große Pläne hat und expandieren will. Mit ihrem Vater haben sie schon gesprochen, der ist offiziell der Chef. Aber die Entscheidungen trifft Rexy. Mit Mama. „Papa unterschreibt alle Verträge“, sagt Rexy, „aber ob er sie auch alle liest? Eher nicht. Ist aber nicht so schlimm: Gott in seiner weisen Voraussicht hat mich schließlich Luftfahrtsrecht studieren lassen.“ Shandrice Rolle ist immer noch in der Leitung. Sie ruft: „Ich glaube, dass ich letztlich die entscheidende Person bin, weil ich Lösungen finde. Rexy und Rex sind beide sehr starke Charaktere, da prallen große Energien aufeinander. Sie brauchen mich, um einen Ausgleich zu finden.“ Rexy nickt. Stimmt. Manchmal ist sie ein wenig verspannt. Zum Beispiel, wenn Behörden und Verbände sie schlechter behandeln als die Konkurrenz. Oder wenn sie bei einem Branchentreffen ist und die Herren sie zunächst für die Sekretärin halten, bevor ihnen schwant, dass die personifizierte Disruption vor ihnen steht. Die Luftfahrt ist noch überwiegend in Männerhand, und obwohl ihre Airlines von Pan Am über Swissair bis Air Berlin eine Pleite nach der anderen hinlegen, wenn sie nicht vom Staat oder von Scheichs gesponsert werden, sitzen im 30-köpfigen Board of Governors der International Air Transport Association (IATA), dem wichtigsten Verband der globalen Luftfahrtindustrie mit 290 Mitgliedsgesellschaften, nur zwei Frauen: Christine Oumieres-Widener von der Flybe Group im Vereinigten Königreich und Maria José Hidalgo Gutiérrez von Air Europa. Nur drei Prozent aller Geschäftsführer in dieser Branche sind weiblich, in anderen Industrien ist dieser Wert viermal so hoch. Da besteht Aufholbedarf – und Rexy ist so etwas wie die Speerspitze der Frauenpower, die hier bald stärker vertreten sein will. Die beiden Herren aus dem Privatflugzeug scheinen keine Probleme mit Rexys Alter oder ihrer Hautfarbe zu haben. Aber hier geht’s ja auch In ihrem Büro direkt hinter dem Check-in ist die Airline-Chefin nah dran am Geschehen nicht um Politik, sondern ums Geschäft. Wir essen im Pier One, einem Lokal im Hafen. Vor der Terrasse des Restaurants warten meterlange Haie im glasklaren Wasser auf Essensreste. Die Männer machen Fotos. Rexy bestellt Sushi, ihr Lieblingsgericht. Für die Haie bleibt nichts übrig. Im Gespräch geht es jetzt um Details. Eine Flugstunde mit der alten Saab kostet Western Air 1800 Dollar, eine Stunde mit den neuen Jets 2800 Dollar. Wenn beide Maschinen zu 50 Prozent ausgelastet sind, wird die Gewinnschwelle auf der Strecke Nassau-Freeport mit einem Ticketpreis von 56 Dollar erreicht, bei einer Auslastung von 100 Prozent schon mit der Hälfte des Preises. Das heißt: Wenn die Flugzeuge > brand eins 12/18

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Was? Wann? Wo?

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QUO VADIS 2019

15. Europäischer Trendtag

29. Jahresauftakt für Immobilienentscheider

Beyond Words: Neue Interfaces für eine neue Kommunikation

WANN 18.–20.02.2019

WANN 13.03.2019

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WIE VIEL 3150 Euro

Die Immobilienbranche verzeichnet den längsten Boom aller Zeiten. Und dennoch sind existenzielle Fragen unbeantwortet: Wie lassen sich angesichts teils absurder Bodenpreise, Auflagen und Baukosten noch Gewinne erzielen? Wie wird die Zukunft stark wachsender Metropolen verlaufen und liegen die Standorte von morgen etwa ganz woanders? Wie wird denn nun alles? QUO VADIS 2019 greift die drängenden Themen punktgenau auf, nimmt die Politik in die Pflicht, schaut nach vorne, zeigt Lösungen. Sind Sie dabei?

WO Rüschlikon/Zürich *

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Bald werden wir vielleicht über Hirn-Maschinen-Interfaces kommunizieren – beyond words. Maschinen erkennen und erfüllen unsere Wünsche immer schneller und reibungsloser. Gleichzeitig waren Propaganda und Attention Hacking nie einfacher als heute. Am 15. Europäischen Trendtag erörtern Vordenker und Praktiker die Zukunft der Kommunikation. Sie diskutieren Fragen wie: Ersetzen die Bildwelten von Youtube und Instagram bald den geschriebenen Text? Wer hört überhaupt noch zu? Was bedeutet das für das Marketing? Ist Biometrie das nächste Interface?

* Hotel Adlon Berlin * GDI Gottlieb Duttweiler Institute

Mehr Infos und Anmeldung unter: heuer-dialog.de/quovadis

Mehr Infos und Anmeldung unter: gdi.ch/trendtag2019

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Hinterland of Things Conference 2019

brand eins Konferenz So geht Zukunft. Für Menschen, die Wirtschaft gestalten wollen

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Die ’Hinterland’ bringt Startups, die Größen des deutschen Mittelstands und digitale Pioniere zusammen. Auf zwei Stages mit 40 international bekannten Speakern und 160 Experten wird die digitale Zukunft der deutschen Wirtschaft neu geschrieben! Seien Sie dabei, wenn es heißt „best of both worlds“: Deutschlands Top-Startups treffen den “German Mittelstand”. * Lokschuppen Bielefeld - Stadtheider Straße 11

WANN 23.05.2019

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WIE VIEL 833 Euro *

„Mach es selbst, sonst macht es keiner“ – das ist das Motto unserer nächsten Zukunftskonferenz. Auch diesmal werden wir mit rund 300 Lesern Antworten auf die brennenden Fragen von Morgen suchen. Uns interessiert nicht der Status Quo, wir wollen wissen, was sich entwickelt und wer diese Entwicklung treibt. Auf der Bühne und im Publikum: Menschen und Unternehmen, die nicht jammern und stillstehen, sondern beherzt vorangehen. Haben Sie Lust, mit uns die Gesellschaft der Zukunft zu gestalten? Dann warten Sie nicht länger: Machen Sie mit! Wir freuen uns auf Sie. * Rabatte für Gruppen, Studierende und Abonnenten

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Mehr Infos und Anmeldung unter: brandeins.de/zukunftskonferenz

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voll sind, kann Rexy Tickets für 28 Dollar verkaufen, ohne Verlust zu machen. Normalerweise kosten Hin- und Rückflug auf dieser 30-Minuten-Strecke um die 200 Dollar. Gut für Rexy. Im weltweiten Durchschnitt verdient die Branche laut IATA nur 7,54 Dollar pro Flugschein, bei der Airline-Chefin von den Bahamas ist es deutlich mehr. Von ihr können die Jungs von der Konkurrenz noch etwas lernen. Problematischer ist die Pilotenfrage. Der Markt sei leer gefegt, sagen die Männer aus den USA. China, Indien und Dubai kaufen jeden weg, der einen Steuerknüppel halten kann, und zahlen auch noch bis zu 20 000 Dollar Gehalt. Pro Monat. Das ist zu viel für Rexy. Sie zahlt höchstens 9000 Dollar, kann aber damit punkten, dass die Bahamas schöner sind als die meisten Orte in Indien, China oder Dubai. Wahrscheinlich müsse sie ihre Piloten selbst ausbilden, sagen die beiden Herren. Sie hätten da zufällig eine Pilotenschule in der Hinterhand. Auf dem Rückweg zum Flughafen erklärt mir die Unternehmerin, wie man neue Destinationen auswählt: Man wertet Statistiken aus, wie viele Menschen aus welchen Ländern wo landen, und man braucht ein wenig Erfahrung. „Für Flüge von den Bahamas in die USA“, sagt sie, „gibt es eigentlich nur eine Bedingung: ein möglichst großes Einkaufszentrum direkt am Flughafen. Bei uns hier ist alles so teuer, dass die Leute vor dem Rückflug taschenweise elektrische Geräte, Handys und andere Produkte einpacken wollen.“ Bei Flügen nach Jamaica sollte man Kingston meiden und direkt nach Montego Bay fliegen, weil die meisten ohnehin dorthin wollen und die 170 Kilometer Überlandstraße zwischen den beiden Städten der blanke Horror sind. Nur warum plötzlich alle nach Belize fliegen wollen, dahinter ist Rexy noch nicht gekommen.

Cockpit würden Frauen das Kommando übernehmen und alle Flugbegleiterinnen Prada und Louboutin tragen, die Kabine wäre hell und weiblich eingerichtet, und die Beleuchtung schmeichelte dem Teint. Die Sicherheitseinweisung würde einer HipHop-Choreografie folgen, und als kleine Aufmerksamkeit gäbe es einen Detox-Shake oder ein edles Praliné. Bisher lacht sie noch über diese Idee. Aber den Mut zu dieser Veränderung hätte sie schon. Dann wäre ihre Fluglinie wirklich Kult. Auf dem Rückweg in die USA muss ich mit der Konkurrenz fliegen. Für diese Strecke sind die Western Air Jets noch nicht zugelassen. Rexy bringt mich noch zum anderen Terminal. Was sie dann macht, erfahre ich nach der Landung in Florida, als sich mein Smartphone in das Internet einloggt und ich sofort eine Facebook-Nachricht erhalte. @VPRexy hat etwas Neues online gestellt: „Happy to be hosting German magazine brand eins at Western Air today! Talkin’ jets, family, women in aviation, legal fights, social media and not being afraid to be yo self!“, steht da. Darunter hat sie zwei Fotos gepostet von sich, im Business-Outfit. Auf ein Bild von mir hat sie verzichtet. Ziemlich clever, diese Rexy Rolle. –

„Be yo self!“: Die Unternehmerin schreitet im Gegenlicht zum Hangar von Western Air

Welcher Boss kann schon singen und tanzen? In den sozialen Medien ist sie ein absoluter Profi. „Als urban millennial weiß ich, wie wichtig Onlinepräsenz ist“, sagt sie. „Ich hatte keinen Werbeetat und wollte trotzdem so viel Aufmerksamkeit schaffen, als hätte ich einen. Außerdem war es wichtig, uns international bekannt zu machen, auf den Bahamas kennt uns ohnehin schon jeder.“ Deshalb setzt sie auf Instagram, Facebook, Twitter und Youtube, schließlich kann sie singen, tanzen und twerken wie kein anderer Airline-Boss – und selbst wenn die es könnten, würde Rexy besser dabei aussehen. Fromm, wie sie ist, glaubt sie, dass der liebe Gott ihr den Körper nicht zum Spaß geschenkt hat, sondern auch damit ein höheres Ziel verfolgt. Also zeigt sie ihn jedem, der @rexyisland auf Instagram eintippen kann. Und hat damit ihre kleine, aufstrebende Airline ohne finanziellen Aufwand bekannter gemacht, als es jede Werbekampagne hätte schaffen können. Vielleicht verändert sie bald sogar das Branding ihrer Fluglinie und nennt sie Rexy Air – the first all female Airline. Im brand eins 12/18

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DENKMOTOR Noch kein Weihnachtsgeschenk? Das Buch DENKMOTOR ist das perfekte Geschenk für Menschen, die ihrer Kreativität einen Kick geben wollen. DENKMOTOR – Nichts ist gefährlicher als eine Idee, wenn es die einzigee ist. it Autoren Chris Brügger und d Jiri Scherer Gabal Verlag, ISBN-13: 978-3869365978, 3 3869365978, 192 Seiten, EUR 24.90 4 4.90

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Was wäre, wenn … … der öffentliche Nahverkehr gratis wäre? Ein Szenario. Text: Christoph Koch Fotografie: Philotheus Nisch

• Im Mai 2018 wurde es der EU-Kommission endgültig zu viel: Sie verklagte die Bundesrepublik Deutschland und fünf andere Länder vor dem Europäischen Gerichtshof, weil diese die vereinbarten Grenzwerte für die Luftqualität zu lange und zu oft überschritten hatten. Drei Monate zuvor hatten das Kanzleramt und die Ministerien für Umwelt und Verkehr noch mit einer Vorschlagsliste versucht, die EU-Kommission von einer Klage abzubringen. Einer dieser Vorschläge: kostenloser öffentlicher Nahverkehr. „Zusammen mit den Ländern und der kommunalen Ebene erwägen wir, den öffentlichen Nahverkehr gratis anzubieten, um die Zahl der Privatfahrzeuge zu reduzieren“, hieß es in dem Schreiben. Die Klage kam trotzdem. Die Bundesregierung kündigte daraufhin an, den öffentlichen Personennahverkehr (ÖPNV) zu fördern und die verkehrsbedingten Emissionen zu senken. Neben anderen Maßnahmen sollen in fünf Städten (Bonn, Essen, Herrenberg, Mannheim und Reutlingen) die Preise für den ÖPNV gesenkt werden. Bonn plant ein Klima-Jahresticket für einen Euro pro Tag, Essen will Prämien zahlen, wenn jemand über einen längeren Zeitraum Monatstickets kauft. Aber was wäre, wenn der öffentliche Nahverkehr komplett kostenlos wäre? Es macht einen Unterschied, ob eine Großstadt wie Berlin, in der sowieso 154

schon viele Bewohner auf ein Auto verzichten, den Fahrpreis für ihr dichtes und großflächiges Netz abschafft – oder ob eine ländliche Gemeinde den Bus, der zweimal am Tag fährt, kostenlos anbietet. Das Thema ist komplex, und doch lassen sich einige wahrscheinliche Konsequenzen durch verschiedene Studien und Modellversuche vorhersagen. Die wohl wichtigste Erkenntnis: Der Preis ist für viele Menschen nicht der entscheidende Faktor, wenn es darum geht, sich für oder gegen ein Verkehrsmittel zu entscheiden. „Den ÖPNV gratis anzubieten ist ein nahezu wirkungsloses Instrument, wenn es darum geht, die Menschen zum Umsteigen vom Auto in Bus und Bahn zu bewegen“, sagt Marlon Philipp vom Fachbereich Techniksoziologie der TU Dortmund, der dazu eine Simulationsstudie durchgeführt hat. „Die Menschen wägen nach vielen verschiedenen Kriterien wie Schnelligkeit, Komfort oder Flexibilität ab und gewichten diese individuell unterschiedlich.“ Sein Fazit: Gratis-Tickets für den ÖPNV allein bringen niemanden dazu, das Auto stehen zu lassen. Hinzukommen müssten Regeln, die das Autofahren unattraktiver machen. Etwa eine Citymaut, drastische Parkgebühren, Tempolimits. Oder ein besseres Streckennetz und eine höhere Taktung von Bussen und Bahnen, um schneller und flexibler unterwegs zu sein.

Der niederländische Verkehrsforscher Oded Cats von der Universität Delft ist zu einem ähnlichen Ergebnis gekommen. „Würde man das Geld für den GratisÖPNV stattdessen in einen höheren Takt der öffentlichen Verkehrsmittel investieren, also mehr Züge und Busse in kürzeren Abständen, würden deutlich mehr Menschen auf öffentliche Verkehrsmittel umsteigen“, sagte er Anfang des Jahres in einem Interview mit »Spiegel Online«. „Das Auto bietet für viele Menschen immer noch die höchste Verbindungsqualität. Gleichzeitig sind die gesellschaftlichen Kosten beim Autofahren, also die Emissionen, Staus und der Verbrauch öffentlichen Raums, für den Verursacher quasi unsichtbar.“ In einer Statista-Umfrage vom März 2018 gaben 54 Prozent der Befragten in Deutschland an, im Falle kostenloser Fahrscheine bei innerstädtischen Fahrten auf das eigene Auto zu verzichten. Bessere Verbindungen waren für 41 Prozent eine weitere Voraussetzung dafür, eine kürzere Taktung für 31 und mehr Sitzplätze für 17 Prozent. 18 Prozent wollten gar nicht umsteigen, 12 Prozent nur bei höheren Treibstoff- und Energiepreisen. Bislang sind weltweit viele Modellversuche, einen Gratis-Nahverkehr einzuführen, an der Finanzierung gescheitert (siehe „Freie Fahrt für alle“, brand eins 06/2017) *. Anders in der estnischen Hauptstadt Talbrand eins 12/18

linn: Dort ist der ÖPNV seit dem Jahr 2013 für Einheimische kostenlos und das Experiment erfolgreich – die Zahl der Fahrgäste ist um 14 Prozent gestiegen. Allerdings sind kaum Autofahrer hinzugekommen, sondern vor allem Menschen, die zuvor zu Fuß gegangen oder Fahrrad gefahren waren und den ÖPNV jetzt noch öfter nutzen als vorher. „An der CO2Bilanz ändert es kaum etwas, wenn die Ticketpreise auf null gesenkt werden“, sagt der Dortmunder Techniksoziologe brand eins 12/18

Philipp. „Aber soziale Auswirkungen kann es durchaus haben, da hierdurch Menschen die Nutzung ermöglicht wird, die sich vorher weder Auto noch ÖPNV leisten konnten.“ In Tallinn müssen Auswärtige weiterhin für ihre Tickets bezahlen. Automaten und Fahrscheinkontrollen werden jedoch erst überflüssig, wenn niemand mehr ein Ticket braucht. Automaten und Schaffner machen allerdings auch nur drei bis fünf Prozent der Gesamtkosten aus.

Wie würde sich ein kostenloser Nahverkehr auf den Straßenverkehr auswirken? Zahl und Schwere der Unfälle könnten sinken. Denn Fußgänger und Radfahrer, die öfter in den ÖPNV wechseln, sind die ungeschütztesten Verkehrsteilnehmer und am stärksten von Unfällen betroffen. Die meisten der bisherigen Tests fanden in Kleinstädten in ländlichen Regionen statt. Der niederländische Experte Oded Cats hält das für sinnvoll, weil in diesen Orten wenig mit Fahrscheinen verdient wird, die Subventionen aber hoch sind. Ein Gratis-Nahverkehr könnte dort mit geringen Mehrkosten einen großen gesellschaftlichen Nutzen haben. In Großstädten dagegen sind die öffentlichen Verkehrsmittel schon oft an die Grenzen ihrer Auslastung gelangt, und es ist fraglich, ob mehr Fahrgäste ohne vorherige Investitionen in zusätzliche Gleise, Busse und Waggons zu bewältigen und wünschenswert wären. Denn wenn der ÖPNV durch ständig überfüllte Busse und Bahnen sowie längere Haltezeiten für seine treuen Kunden unattraktiver wird, erreicht man schlimmstenfalls das Gegenteil: dass die Menschen von Tram und U-Bahn zurück hinters Steuer eines Autos wechseln. –

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Endlich. Maßarbeit in einer neuen Dimension.

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Prototyp – Idee sucht Geld

Immer an der Wand lang

• Hausverwaltungen oder Architekten messen in der Regel mit einem Laser, wie groß ein Zimmer oder ein Gebäude ist. Das ist zeitaufwendig. Die Freiburger Firma Dotscene macht das praktisch im Vorbeigehen, beziehungsweise im Vorbeifliegen, in ein paar Minuten.

Eine Firma aus Freiburg vermisst Gebäude im Fluge – dank Drohnenund Robotertechnik.

Kernstück der Erfindung ist ein Sensorsystem, wie es ähnlich auch zum autonomen Fahren verwendet wird. Es sendet ein Laserlicht aus, das zum Beispiel von einer Mauer reflektiert wird und zum Sensor zurückkommt. Aus der Zeit, die dazwischen vergeht, kann die Software den Abstand zum Objekt ermitteln. Sagenhafte 600 000 Punkte misst der Sensor in der Sekunde. Das funktioniert nicht nur statisch, sondern auch in Bewegung, da die Software erkennt, wo sich der Sensor zum Zeitpunkt der Messung befindet. Es ist daher egal, ob er durch Innenräume getragen wird oder mit einer Drohne außen um das Gebäude herumfliegt. Dargestellt werden die Messungen in einer dreidimensionalen Punktewolke. Je mehr Messpunkte hinzukommen, desto klarer zeichnen sich die Konturen eines jeden Gebäudeteils ab. Und das rasend schnell und zentimetergenau. Bauherren und Architekten können so Häuser oder ganze Fabrikanlagen vermessen, Hausver-

Abbildung: © dotscene GmbH

Text: Frank Dahlmann

Gespenstisch: Aus einer Punktewolke entsteht ein ganzes Gebäude. brand eins 12/18

waltungen die Quadratmeter einer Fassade berechnen, die gestrichen werden müssen, und Unternehmer ermitteln, wie sie eine Produktionsstraße in einer Halle unterbringen. Die Messergebnisse werden dazu in gängige CAD-Programme übertragen. Das System erfunden haben fünf Freiburger – zwei Unternehmer und zwei Wissenschaftler des Instituts für autonome intelligente Systeme der Universität Freiburg. Hinzu kommt Professor Wolfram Burgard, der als Wissenschaftlicher Berater fungiert. Er forscht seit mehr als 20 Jahren an autonomer Roboternavigation und hat die technischen Grundlagen für das autonome Fahren miterfunden. Auf einer Modellbaumesse lernte man sich kennen, tauschte Ideen aus und beschloss, Drohne, Sensor und Robotersoftware für einen Test zu kombinieren. „Unser erstes Objekt war eine Burgruine in der Nähe von Freiburg“, erzählt Maryan Wieland, einer der fünf Gründer. „Das war unser Wow-Moment. Wir waren total verblüfft, wie gut das funktioniert.“ Im Oktober 2016 gründeten sie dann Dotscene und entwarfen den ersten Prototyp. Der Sensor musste leicht genug sein, um von einer Drohne getragen zu werden. Er sollte Objekte aus bis zu 100 Metern Entfernung messen. Und er sollte auch von Laien bedienbar sein. Dabei musste die Software nicht nur eine Karte der Umgebung erfassen, sondern auch erkennen, wo sich die Drohne selbst gerade befindet. Mitte 2019 soll das System so weit sein, dass es auch an Laien vermietet werden kann. „Die Technik funktioniert“, sagt Wolfram Burgard. „Nun müssen wir die Infrastruktur aufbauen, um die Idee in großem Stil umzusetzen.“ – Dotscene GmbH Nicolas Trusch, Maryan Wieland, Andreas Wachaja, Michael Ruhnke, Wolfram Burgard Kontakt: [email protected] 157

Den Unterschied zu anderen Wirtschaftsmagazinen kann man auch hören.

Der brand eins-Schwerpunkt als Audioversion auf b1.de/audioversion: auswählen, herunterladen, hören.

Leichte Sprache

Und ich habe es trotzdem erzählt

Die Leichte Sprache nimmt den Inhalt ernst, aber nicht schwer. Das kann erhellend sein. Hier die Übersetzung der Paragrafen 186 und 187 aus dem Strafgesetzbuch.

Text: Holger Fröhlich

§ 186 Üble Nachrede

Das ist verboten: schlecht über andere Leute reden

Wer in Beziehung auf einen anderen eine Tatsache behauptet oder verbreitet, welche denselben verächtlich zu machen oder in der öffentlichen Meinung herabzuwürdigen geeignet ist, wird, wenn nicht diese Tatsache erweislich wahr ist, mit Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder mit Geldstrafe und, wenn die Tat öffentlich oder durch Verbreiten von Schriften (§ 11 Abs. 3) begangen ist, mit Freiheitsstrafe bis zu zwei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft.

Manche Sachen sind im Gesetz verboten. Wenn ich sie trotzdem mache, kriege ich eine Strafe. Das nennt man: Straf·Tat. Die „üble Nachrede“ ist eine Straf·Tat. Das bedeutet „üble Nachrede“: – Wenn ich über einen anderen Menschen schlecht rede. – Wenn das dem anderen Menschen peinlich ist oder ihm schaden kann. – Wenn ich die Sachen nicht beweisen kann. Vielleicht habe ich sogar die Wahrheit gesagt. Aber ich habe nicht genug Beweise. Vielleicht war ich der Erste, der die Sachen erzählt hat. Oder ich habe sie nur weitererzählt. Das ist dem Gesetz egal. Das passiert, wenn ich es nur wenigen Leuten erzählt habe: – Ich muss bis zu einem Jahr ins Gefängnis, – oder ich muss Geld bezahlen. Das passiert, wenn ich es vielen Leuten erzählt habe: – Ich muss bis zu zwei Jahre ins Gefängnis, – oder ich muss Geld bezahlen.

§ 187 Verleumdung

Das ist auch verboten: über andere Leute Lügen erzählen

Wer wider besseres Wissen in Beziehung auf einen anderen eine unwahre Tatsache behauptet oder verbreitet, welche denselben verächtlich zu machen oder in der öffentlichen Meinung herabzuwürdigen oder dessen Kredit zu gefährden geeignet ist, wird mit Freiheitsstrafe bis zu zwei Jahren oder mit Geldstrafe und, wenn die Tat öffentlich, in einer Versammlung oder durch Verbreiten von Schriften (§ 11 Abs. 3) begangen ist, mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder mit Geldstrafe bestraft.

Die „Verleumdung“ ist ähnlich wie die „üble Nachrede“. Nur schlimmer. Denn diesmal habe ich mit Absicht gelogen. Ich wusste, dass es eine Lüge war. Und ich habe es trotzdem erzählt. Vielleicht hat deshalb jemand kein Geld von der Bank bekommen. Das passiert, wenn ich es nur wenigen Leuten erzählt habe: – Ich muss bis zu zwei Jahre ins Gefängnis, – oder ich muss Geld bezahlen. Das passiert, wenn ich es vielen Leuten erzählt habe: – Ich muss bis zu fünf Jahre ins Gefängnis, – oder ich muss Geld bezahlen.

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Impressum Wege zu brand eins für Leser, die Artikel kommentieren wollen:

oder Sie wenden sich an die Redaktionsadresse: brand eins Redaktion, Speersort 1, 20095 Hamburg Fax: 040 / 32 33 16 – 20 Wir freuen uns über Ihre Zuschriften. Ihr Brief muss sich klar auf einen in brand eins veröffentlichten Artikel beziehen und Ihren Namen und Wohnort enthalten. für Leser, die eine Anfrage haben: Betrifft sie einen bestimmten Kollegen, gilt bei uns das E-Mail-System:

Geht es um eine Kontaktadresse, den Kontakt zu einem der freien Autoren oder um die Nachfrage nach einem früher erschienenen Beitrag, helfen Ihnen: oder

Herausgeber: brand eins Medien AG, Speersort 1, 20095 Hamburg Telefon: 040 / 32 33 16 – 70, Fax: 040 / 32 33 16 – 80, Internet: brandeins.de Chefredaktion: Gabriele Fischer (verantwortlich), Jens Bergmann (stellvertretend) Artdirection: Mike Meiré Redaktion: Sophie Burfeind / Textredaktion , Patricia Döhle / Textredaktion , Holger Fröhlich / Textredaktion , Renate Hensel / Schlussredaktion , Katharina Jakob / Schlussredaktion , Angelina Mrsic / Orga-nisation , Katja Ploch / Dokumentation , Uwe Rasche / Textredaktion , Susanne Schäfer / Textredaktion , Jörg Steinmann / Chef vom Dienst , Victoria Strathon / Dokumentation , Mischa Täubner / Textredaktion Einleitung: Wolf Lotter / Textredaktion Layout: Tim Giesen , Monika Kochs , Anna Kranzusch / Bildredaktion , Tobias Laukemper / Bildredaktion , Stefan Ostermeier / Layout und Bildredaktion , Sarah Rubensdörffer / Bildredaktion

für Autoren, die ein Thema vorschlagen wollen: Alle nebenstehend unter Redaktion aufgeführten Kollegen sind ansprechbar.

Autoren und Korrespondenten: Dirk Böttcher, Johannes Dieterich (Südafrika), Ulf J. Froitzheim (Technik), Steffan Heuer (USA), Christoph Koch, Dorit Kowitz, Peter Laudenbach, Andreas Molitor, Thomas Ramge (Technik), Stefan Scholl (Russland), Harald Willenbrock

für Leser, die ein Abonnement bestellen wollen: Entweder über brandeins.de/abo oder direkt über unseren Abo-Service: DPV - Vertriebsservice GmbH Abo-Service brand eins Postfach 10 03 31, 20002 Hamburg

Telefon: 040 / 468 60 – 51 92, Fax: 040 / 378 45 – 9 – 56 77

Mitarbeiter dieser Ausgabe: Text: Nikolai Antoniadis, Mareike Enghusen, Franziska Jäger / Textpraktikantin, Prof. Dr. Stephan A. Jansen, Michael Kneissler, Alexander Krex, Torben Müller, Klaus Raab, Steffan Scheytt, Sarah Sommer, Nils Wischmeyer

für Leser, die ein Einzelheft bestellen wollen: Hier führt der schnellste Weg über b1.de /einzelhefte

Online-Redaktion: Frank Dahlmann , Ingo Eggert , Pia Hilger , Janice Schumacher

für Abonnenten, die brand eins auch hören wollen: Eine E-Mail mit Ihrer Abo-Kundennummer an

genügt und schon erhalten Sie Ihren persönlichen Zugangscode für zwölf Monate kostenloses Hören des Schwerpunktes für Print-Käufer, die brand eins auch digital lesen wollen: Print-Abonnenten und Einzelheftkäufer können gegen einen Aufpreis von 1 Euro pro Ausgabe die digitale AppVersion dazubuchen. Abonnenten finden eine Anleitung unter b1.de /kombi-abo Einzelheftkäufer beantworten u. a. eine Frage aus dem Heft. Eine Schritt-für-Schritt-Anleitung finden Sie hier: b1.de /print-und-app für Leser, die ein Zukunfts-Abo beziehen oder eines finanzieren wollen: Schreiben Sie eine E-Mail an , oder besuchen Sie unsere Website brandeins.de /zukunftsabo für Leser, die ein Solidar-Abo nutzen wollen: Seit September 2005 gibt es für brand eins-Abonnenten, die sich durch Arbeitslosigkeit, Studien-Ende ohne Job oder andere Umstände in finanzieller Notlage befinden, die Möglichkeit, brand eins bis zu einem Jahr kostenlos zu beziehen. Dazu brauchen Sie keine Bescheinigungen oder Begründungen zu liefern, eine E-Mail mit Angabe der Abo-Nummer genügt:

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Redaktionsadresse: brand eins Redaktion, Speersort 1, 20095 Hamburg; Postfach 10 19 26, 20013 Hamburg Telefon: 040 / 32 33 16 – 0, Fax: 040 / 32 33 16 – 20, E-Mail: [email protected] Internet: brandeins.de Verlag: Anzeigen und Vertrieb: Jan van Münster (verantwortlich), Telefon: 040 / 32 33 16 – 73 Anzeigenberatung: Anja Biester , Telefon: 040 / 32 33 16 – 78; Norbert Böddecker , Telefon: 040 / 32 33 16 – 51; Christina Fichtinger , Telefon: 040 / 32 33 16 – 43; Stefanie Giese , Telefon: 040 / 32 33 16 – 83 Sabrina Kleinjohann , Telefon: 040 / 32 33 16 – 64 Marketing: Carina Jesch , Telefon: 040 / 32 33 16 – 82 Anzeigenassistenz: Helene Windolph , Telefon: 040 / 32 33 16 – 88 Bankverbindung: GLS Gemeinschaftsbank e.G., IBAN: DE04430609672009984500, BIC: GENODEM1GLS Gerichtsstand und Erfüllungsort: Hamburg Anzeigenpreise: Preisliste 20, gültig ab 01.01.2018 Heftpreise: Einzelheft: € 10,- (Schweiz: sfr 12,-). Jahres-Abonnement über 12 Ausgaben: Inland € 102,- (inkl. Porto / Versand). Studenten-Abonnement: € 72,- (inkl. Porto / Versand). Probe-Abonnement: € 22,50 (inkl. Porto / Versand). Ausland auf Anfrage. Kombi-Abonnement über 12 Ausgaben (Print + App): € 114,- (inkl. Porto / Versand). Abonnement-Kündigungen sind jederzeit möglich Lithografie: PX2@ Medien GmbH & Co. KG, Speersort 1, 20095 Hamburg Druck: Evers-Druck GmbH – ein Unternehmen der Eversfrank Gruppe –, Ernst-Günter-Albers-Straße, D-25704 Meldorf Abonnenten-Service: D P V - Vertriebsservice GmbH, Abo-Service brand eins, Postfach 10 03 31, 20002 Hamburg Telefon: 040 / 468 60 – 51 92, Fax: 040 / 378 45 – 9 – 56 77, E-Mail: [email protected] Vertrieb: D P V - Vertriebsservice GmbH, Am Sandtorkai 74, 20457 Hamburg, www.dpv-vertriebsservice.de/ Telefon: 040 / 378 45 – 27 70, Fax: 040 / 378 45 – 9 – 27 70, E-Mail: [email protected] ISSN-Nr.: 1438-9339; Erscheinungsweise: 12-mal jährlich Für unverlangt eingesandte Manuskripte und Bilder wird keine Haftung übernommen Beihefter: Haufe-Lexware GmbH & Co. KG, 79102 Freiburg (Gesamtauflage); Schiesser AG, 78315 Radolfzell (Abo-Auflage Inland) Beilagen: Clarins GmbH, 82319 Starnberg (Abo-Auflage Inland); Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, 60327 Frankfurt (Abo-Auflage); Google Germany GmbH, 20354 Hamburg (Gesamtauflage); Gravis Computervertriebsges. mbH, 10587 Berlin (Abo- und EV-Auflage Inland); Neues Deutschland Druckerei und Verlag GmbH, 10243 Berlin (Abo-Auflage)

Die nächste Ausgabe von brand eins erscheint am 21. Dezember 2018 160

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Wer hat’s gesagt? „ Ein verordnetes Du schafft das Gegenteil von Nähe. Nähe kann man nicht verordnen.“ Dieses Zitat * stammt von a. Heiner Thorborg, Personalberater b. Johannes Siebers, Gründer c. Caroline Scheff, Freiberuflerin d. Eva Sweeney, Architektin e. Philipp Glöckler, Unternehmer f. Björn Vedder, Philosoph * Sie finden es in dieser Ausgabe.

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In brand eins 10 / 2018 fragten wir nach folgendem Zitat aus dem Heft: „Es geht … darum, Dinge auf neue, womöglich bessere Art und Weise anzuordnen.“ Das hat gesagt: Tobias Nolte, Unternehmer Ein Bett, Modell Marquis, von Hästens im Wert von rund 7110 Euro hat gewonnen: Christian Lebrenz, Wachtberg 162

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Carolin Fell, Marketing Manager

Markenbekanntheit steigern, Employer Branding stärken – gerade für IT-Beratungen wie Platinion kommt es =QBNE?DPECLH=PVEAjAKPO?D=_AJ=JŽ ͙J@AJEAIEPίENLKjA@E=@EAJ̇?DOPA PQBA DNAN KIIQJEG=PEKJOOPN=PACEAŽ APVPOP=jAJQJ@AiKHCAƆH=J@AJŽ@A