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German Pages 254 Year 1986

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Table of contents :
Wir sprechen noch darüber......Page 1
Inhalt......Page 4
EVELINE HASLER - Blues für Alec Pirek......Page 7
HERBERT PLATE - Ein südafrikanischer Abend......Page 23
WILLI FÄHRMANN - BON VOYAGE......Page 35
MARIELUISE BERNHARD-VON LUTTITZ - Nur eine Zigeunerin......Page 51
HANS-CHRISTIAN KIRSCH - Der Mann mit dem einen Arm......Page 59
HANS PETER RICHTER - Liebesgeschichte......Page 65
URSULA WÖLFEL - Die Tante, Rudi, eine Verweigerung......Page 73
JOSEF REDING - Die Jäger kommen zurück......Page 86
PETER BERGER - Gesprochen haben wir darüber......Page 93
KARL ROLF SEUFERT - China – das große Experiment......Page 104
IRINA KORSCHUNOW - Mann am Fenster......Page 126
GINA RUCK-PAUQUÈT - Der Baum in der Stadt......Page 137
EVA RECHLIN - Dornen......Page 144
HEINZ VONHOFF - Sand ist locker......Page 152
KURT OSKAR BUCHNER - Warum kamen die Engel nicht?......Page 163
LOTTE BETKE - Mary......Page 167
KURT LUTGEN - Morgen, morgen, nur nicht heute …......Page 186
RUDOLF OTTO WIEMER - Bericht über das Sommerfest der Laubenkolonie »Grüne Hoffnung« im Lambacher Vorort Süd......Page 196
CILI WETHEKAM - Jeder darf mal Engel sein......Page 217
IRMELA BRENDER - Die Geschichte vom guten Leben und Variation 2002......Page 230
HANS-GEORG NOACK - Olaf liest Zeitung......Page 236
Über die Autoren......Page 244
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Zitiervorschau

Noack/Lattmann

Wir sprechen noch darüber Beiträge bekannter Schriftsteller zum Nachdenken und Diskutieren

Arena

Book-FreewareZ ©2004

1. Auflage als Arena-Taschenbuch 1978 © 1972 by Arena-Verlag Georg Popp Würzburg Alle Rechte vorbehalten Umschlaggestaltung: Ingrid Mizsenko Gesamtherstellung: Richterdruck Würzburg ISBN 3 401 01331 9

Inhalt EVELINE HASLER Blues für Alec Pirek HERBERT PLATE Ein südafrikanischer Abend WILLI FÄHRMANN Bon voyage MARIELUISE BERNHARD-VON LUTTITZ Nur eine Zigeunerin HANS-CHRISTIAN KIRSCH Der Mann mit dem einen Arm HANS PETER RICHTER Liebesgeschichte URSULA WÖLFEL Die Tante, Rudi, eine Verweigerung JOSEF REDING Die Jäger kommen zurück PETER BERGER Gesprochen haben wir darüber

KARL ROLF SEUFERT China – das große Experiment IRINA KORSCHUNOW Mann am Fenster GINA RUCK-PAUQUÈT Der Baum in der Stadt EVA RECHLIN Dornen HEINZ VONHOFF Sand ist locker KURT OSKAR BUCHNER Warum kamen die Engel nicht? LOTTE BETKE Mary KURT LÜTGEN Morgen, morgen, nur nicht heute … RUDOLF OTTO WIEMER Bericht über das Sommerfest der Laubenkolonie »Grüne Hoffnung« im Lambacher Vorort Süd

CILI WETHEKAM Jeder darf mal Engel sein IRMELA BRENDER Die Geschichte vom guten Leben und Variation 2002 HANS-GEORG NOACK Olaf liest Zeitung

EVELINE HASLER Blues für Alec Pirek Pirek fehlt. Was Pirek gehörte, ist noch da. Seine Gitarre liegt auf dem Schlafsack im Zelt. Sein Hütchen, jetzt etwas blutverschmiert und mit zerknickter Feder, habe ich, lange bevor die Polypen kamen, von den Steinen aufgehoben und ins Schilf gehängt. (Plunder, zu belanglos, um ihn gleich mitzunehmen; sie plagten sich schon mit dem Fahrrad ab, dem Rucksack, Pireks Papieren.) Morgen werden sie wieder herkommen und alles entfernen. Bis dann, hat Pit gesagt, ist auch unser Zweierzelt abgebrochen; vor dem ersten Hahnenschrei machen wir uns dünn. Pit findet es besser so. Pit ist praktisch. Hier an der Uferböschung, zwischen Schilf und Weidestrünken, brauchen wir wenigstens Pireks blauverwaschenes Zelt nicht mehr zu sehen. Wir müssen uns diese paar Nachtstunden noch um die Ohren schlagen, Pirek; und wenn du jetzt da wärst, neben mir im Schilf, und meinen Kloß im Hals spürtest, würdest du sagen: Nimm meine Gitarre! Bestimmt würdest du das, Pirek. Pit ist vielleicht anders, hast du gesagt, aber Leute 7

wie du und ich, wir müssen unseren Kropf von Zeit zu Zeit leeren können, und wenn kein Freund da ist und wir kein Mädchen haben, das uns zuhört, so schaffen wir es mit einem Lied heraus. Die Nacht ist kühl. Unter den vom Wind bewegten Weidenzweigen sind meine Finger klamm. Die Akkorde lösen sich nur vorsichtig. Gehen gedämpft wie Fußsohlen über Moos, das vollgesogen ist von der milchigen Feuchtigkeit, die aus dem See-Ende steigt. Sofort bereit, in der Dunstwatte zu versickern. Vielleicht erreichen sie noch Pit, der unter dem Baum sitzt, den Pirek den »verzauberten« genannt hat. Es gab da einen bunten Vogel der hieß Pirek Alec Pirek Er war ein König unter blauem Himmel. Vorgestern, Pirek. Der Himmel hatte sich aufgehellt; Pit und ich trampten den Flußweg entlang. Nach verregneten Maiwochen endlich dieser Tag mit einer aufgestauten, heimtückischen Hitze, die uns wie eine Stechmücke belästigte, bis wir die Hemden auszogen. Wir lechzten nach einem Bier. Nach Pits Karte hätte das Flüßchen schon längst in den See einmün8

den sollen, an dem wir unser Zelt aufstellen wollten; aber das Wasser floß immerfort weiter und sah hinter dem staubgrauen Weg und den Erlenbüschen so lustlos und verschlafen aus wie alles an diesem Nachmittag. Ich bin das Trampen nicht gewohnt. Die Lederriemen des Rucksacks scheuerten. »Wir wären besser per Anhalter gefahren«, brummte ich. Pit lachte. Pit hat gut lachen; auf seine Hände und Füße ist ein gewisser Verlaß. Er kann alles, was ich nicht kann: Pflöcke einbauen, Feuerstellen bauen, trampen bis ans Ende der Welt. Pit ist Elektrolehrling. Mich nennt er Bücherwurm. Studenten, behauptet er, bestünden aus lauter überdressierten grauen Hirnzellen, die saugten aus ihren Armen und Beinen alle Kraft. Trotzdem hat mich Pit auf seine Ferientour mitgenommen. Auf der anderen Seite des Flüßchens, nach dem Kornfeld, tauchtest du plötzlich auf. Du schienst aus heiterem Himmel gefallen. Wir lachten über dich, denn es war umwerfend komisch, wie du auf dem Fahrrad saßest: die Gitarre auf dem gewölbten Rücken, die schlaksigen Strampelbeine, das rote Käppchen mit seiner wippenden Feder. Eine Zeitlang verfolgten wir dein Käppchen, das noch da und dort zwischen silbernem Erlengeraschel aufschimmerte; dann verloren wir dich außer Sicht. Später, ein Stück flußabwärts, trafen wir dich 9

wieder. Du saßest an der Uferböschung. Erst jetzt – ein Blattvorhang hatte uns abgeschirmt – entdecktest du uns; du schwenktest dein Käppchen und zeigtest zur Brücke hinüber. Der Brückenboden war aus einzelnen Holzriemen zusammengefügt, von denen jeder einzelne ein klapperndes Geräusch von sich gab, als du, die nackten Füße vorn auf der Lenkstange, uns entgegenfuhrst. Ein Tausendsassa. Hinter der Brücke stiegst du vom Fahrrad, zogst eine Grasrispe durch die Zähne und fragtest: »Wohin in dieser Affenhitze?« »Den Wasser- und Bierlachen nach«, sagte Pit. Du zeigtest mit dem Finger zum Schilfsaum hinüber, und erst jetzt sahen wir Narren das wie Zinkblech blinkende See-Ende, das uns Bäume und Brücke verdeckt hatten. Dein Zelt stand später neben unserem: ein geducktes, fast röhrenförmiges Gebilde aus blau verwaschener Blache, in das dein ausgestreckter Körper wie in ein Futteral hineinpaßte. Abends krochst du wie ein Dachs in deinen Bau. Es gab da einen Vogel der hieß Pirek Ein Kondor unter blauem Himmel Aber schon lauert der Vogelsteller armer Pirek und die Steine am Wasser färbten sich rot. 10

»Ich weiß einen Zeltplatz am See«, hattest du auf der Brücke gesagt. »In der Nähe ist so ein Saftladen.« Einen Steinwurf weit, zwischen Ufer und Autorastplatz, steht der Kiosk. Er hat die Form eines Fliegenpilzes. Im Pilzstrunk, der Straße zugewandt, verkauft der Mann mit dem mürrischen Unterkiefer seine Getränke. Seine Untermieterin, mehr gegen die Seeseite, betreibt eine kleine Milchbar mit Zeitschriftenstand. Es hat sehr viel geregnet in letzter Zeit, das ist selbst für Pilze abträglich; die Geschäfte gehen schlecht. Am ersten Abend, kurz vor dem Gewitter, wollten Pit und ich zwei Flaschen Bier. Pirek hätte gern eine Milchtüte gehabt, aber die Milchfrau hatte gerade zugemacht; wir sahen sie mit wehenden weißen Schürzenbändeln auf ihrem Rad in Richtung Dorf fahren. Der Mann mit dem mürrischen Unterkiefer betrachtete uns mißtrauisch. Dieser Pirek mit seinem strohfarbenen Haarpelz und seiner spöttisch wippenden Feder auf dem Kopf paßte ihm nicht. Als Pirek eine Coca verlangte, sagte er: »Langhaarigen verkaufe ich nichts.« Pirek bekam schließlich doch seine Flasche mit dem Hinweis: »In der Hochsaison, das kann ich euch sagen, da kriegen Halbstarke von mir keinen Becher Limonade, und wenn sie verkrümeln vor Durst.« Pirek lachte, trank mit zurückgebogenem Kopf, wischte sich den Schaum vom Mund. 11

Wir saßen unter dem Baum, der zwei Stämme hat und schließlich zu einer einzigen Krone zusammenwächst. Pirek schlabberte irgend etwas aus einer Büchse, schleckte sich die fettigen Finger und rieb sie an den Hintertaschen seiner Blue jeans trocken. Was Pirek gegessen hatte, weiß ich nicht. Vielleicht war’s Thunfisch; es roch auf jeden Fall so. Pit, der sich Reste von kaltem Brathuhn aus den Zähnen stocherte, fragte plötzlich: »Pirek, seit wann gammelst du in der Weltgeschichte herum?« Du schlugst erst ein paar Akkorde auf deiner Gitarre an. Dann erzähltest du deine Geschichte. »Auch unsere Geschichte«, sagte später Pit. »Nur findet unsere kein Ende: weder ein gutes noch ein schlechtes. Wir sind nur ganz gewöhnliche Sperlinge; er aber ist ein großer, wilder, bunter Vogel.« Es gab da einen bunten Vogel der hieß Pirek Käfige waren ihm ein Graus er pfiff auf alle Futternäpfe der bunte Vogel Alec Pirek fand selbst auf abgeräumtem Feld noch Körner. Pirek, komm heraus, pfiffen die Vögel von den Dächern, als du noch eingesperrt warst hinter dem Schalter, hinter den Büchern; tut mir leid, sagtest du, ich klebe hier fest. 12

Der Winterschnee schmolz, und die Sonne kam, wärmte Mauern und Steine, aber dich wärmte sie nicht. Bitte, sagtest du zu den anderen hinter den Schaltern, was hält uns hier fest? Ein anständiger Mensch, sagten sie, stellt seine Arbeit nicht in Frage; er denkt nicht, er fragt nicht, er tut sie. Wir arbeiten, basta, am Ende steht die Lohntüte. Und was macht ihr mit dem errackerten Geld? Ich habe einen gedeckten Tisch und keine Sorgen, sagte der eine. Ich kauf ’ mir damit einen schönen Feierabend, sagte der andere, nach vielen Stunden Krampf ein kleiner Riemen Freiheit: da lache ich, da zeche ich, da verprasse ich mein Geld. Ich kauf mir einen schönen Lebensabend, sagte der Chef und nahm träumerisch die Hornbrille ab, nach vielen Jahren Krampf ein kleiner Riemen Freiheit; er sagte es, und anderntags traf ihn der Herzschlag, auf einer Bahre hatten sie ihn schließlich von seinem Arbeitsplatz weg in die Freiheit getragen. »Seht ihr«, rief Pirek, sprang auf und machte unter der Krone des zweistämmigen Baums einen Luftsprung. »Er hatte das Gras lange nicht mehr gesehen, jetzt beißt er hinein; keine Blume mehr, jetzt wachsen sie ihm aus der Brust; keine Bäume, jetzt spenden sie Moderschatten für sein Grab.« Pirek tänzelt jetzt mit nackten Fußsohlen über die Ufer13

steine; keine der vielen Flaschenscherben verletzt ihn; Pirek schwebt, Pirek, der Vogel. Pirek kann Steine werfen, daß sie weit drüben hinter dem Fliegenpilz in das kräuselnde Gestrüpp der Erlen fallen, die Büsche schütteln ihre regentriefenden Köpfe, aber es war nicht der Wind; Pirek hat sie getroffen mit seinem geflügelten Stein. Alles in Pireks Hand bekommt Flügel. Aber schon lauert der Vogelsteller armer Pirek und die Steine am Wasser färbten sich rot. Der Mann mahlt mit seinem mürrischen Unterkiefer, mahlt immerzu Schimpftiraden, auch wenn keiner zuhört, mahlt sie wie Pfefferkörner, bis sie in den stumpfen Zähnen hängenbleiben, in den Hals träufeln, stetiges, galliges Gift. Am frühen Nachmittag kam der Junge mit dem Kippkarren. Auf dem Karren schob er Bierflaschen für den durstigen Vater. (Mach schnell, bleib nirgends stehen. Paß auf, wenn du über die Straße gehst.) Die kleinen nackten Füße tänzeln über die Steine. Glutofensteine. Der zwickende höllische Brand auf der Fußsohle. Nur schnell die Füße schwenken im Wasser zwischen dem Schilf, nur schnell. 14

Da lauert zwischen den Steinköpfen die Scherbe, bissiger als eine Natter. Das Kind zieht das Bein mit dem schmerzenden Fuß an, heult auf; der Holzgriff des Karrens reißt sich los aus seiner schwitzenden Hand. Scherbengeklirr. Klebrige Flüssigkeit wie Schneckenspur über Bein und Fuß sucht sich unverschämt schäumend einen Weg zwischen den Steinen. Was der Vater, der ahnungslos auf sein Bier wartet, nicht sieht, sieht in seiner Verlängerung der Mann im Fliegenpilz. Er hebt den Drohfinger. Schimpft Unverständliches. Kommt aus seinem Strunk heraus, latscht mit ausgetretenen Sandalen über die Steine, schnauzt über die geköpften Flaschen: »Bist du verrückt. Mit einem Kippkarren über Ufersteine.« Wir hatten gerade ein Feuerchen entfacht, wollten Fische braten. Pirek schmiß die Fische in den Topf zurück, ging hinüber. »Heul nicht«, sagte Pirek, »lies lieber die Scherben auf. Und wenn der Saftladenmann dir deine Flaschen nicht gratis und franko ersetzt, kauf ’ ich dir neue.« »Fünf Stück waren es«, sagt der Saftladenmann gereizt, »und das Flaschengeld dazu.« »Schenk es, alter Knacker.« »Geschenkt wird nichts. Das Geschäft geht schlecht.« Der Junge heulte noch immer vor sich hin. Pirek 15

zog ihn zum Schilf hinunter. Er trug nichts als seine Blue jeans und das Federhütchen, den Jungen zog er an der Hand. »Horch!« sagte Pirek. »Hörst du das?« Der Junge hörte auf zu schnupfen, wischte sich mit dem Zeigefinger das Feuchte unter der Nase weg. »Gürp-gürp-gürp, hörst du?« Sie blickten angespannt ins Wasser. Pirek griff blitzschnell zwischen die Schilfrohre, und gleich darauf starrte der Junge auf das braune zuckende Etwas auf Pireks Handteller. »Eine Erdkröte. Du erkennst sie an der rotgoldenen Iris und an den Pupillenschlitzen.« Später, als die Erdkröte längst wieder im Wasser war, klaubten sie flache Steine auf am Strand und ließen sie über die Seeoberfläche schnellen. »Also, ich hab’ so meine Prinzipien«, sagte der Vogelsteller zu seiner Untermieterin, der Milchbudenfrau; »in der Hochsaison, da verkaufe ich diesen Tagedieben nichts. Habe schließlich meiner Lebtag nichts anderes als Ordnung und geregelte Arbeit gekannt. Früher waren nur die Südländer so schmuddelig und faul. Denen liegt’s nicht anders im Blut. Mein Vater, ein hochanständiger Mensch, der seine Schuhe selbst zwischen Sohle und Absatz geputzt hat, hätte mir solche Flausen ausgetrieben. Scheren sollte man diese lausigen Affen. Den Balg 16

über den Kopf ziehen. Aber heutzutage greift keiner mehr durch. Da hat keiner mehr den Schneid dazu. (Wie der Hitler, der wenigstens für Ruhe und Ordnung gesorgt hat. Soll einer kommen und sagen, das hätte er nicht.) Heutzutage katzbuckelt man vor ihnen. Und was machen die Vogelscheuchen? Sie vermehren sich wie meine Kaninchen im Hinterhof. Denen mache ich ab und zu mit einem Bolzen den Garaus, wenn sie ins Kraut schießen … Den Vogelscheuchen aber ist man schutzlos ausgeliefert. Bis sie unsereinem den Schädel einschlagen. Aber ich komme ihnen zuvor.« Pirek lag am Abend neben seiner Gitarre unter dem zweistämmigen Baum, starrte, den Kopf auf die verschränkten Arme gelegt, zur Krone hinauf. »Was siehst du, Pirek?« fragte Pit. Pirek legte den Finger an den Mund, an diese fleischige Oase in der stachligen Kakteenlandschaft seines Gesichts. »Pst!« Wir blickten in die Baumkrone hinauf. Hörten den Wind in den Blättern. Sonst nichts. »Hört ihr’s?« »Was?« »Sie flüstern!« »Wer?« »Die verzauberten Königskinder.« Er blickte über unsere verdatterten Gesichter hinweg, nickte ernsthaft. »Ja, ja, der Mond ist schon 17

ganz schmal von ihren Seufzern.« Pit starrte entgeistert auf die beiden Baumstämme, die, aus einer einzigen Wurzel gewachsen, sich wie Menschenleiber auseinanderbogen und sich in einer wuchtigen Krone vereinten. Von da an hielt Pit dich für ein bißchen übergeschnappt. Als du später Gitarre spieltest, ganz frei, einfach aus dir heraus, klang es sehr schön. Selbst Pit hörte zu. Die Frau zwischen Milchbeuteln und Beinen und Busen aus bedrucktem Papier sitzt in der täglich frischen, weiß gestärkten Leinenschürze mit Hohlsaum am Latz, handgemacht nach Feierabend, die Füße auf dem Schemel zur Entlastung der Venen, sitzt da und strickt und wartet auf Kundschaft; niemals müßig, keinen Moment die Hände im Schoß, hört sich dabei an, was der Saftladenmann sagt, hört sich das an und nickt, ohne den Blick vom Strickrohr zu heben. Knick-knack, knick-knack machen die mit Plastikschicht überzogenen Gesundheitsstricknadeln, Masche an Masche, unermüdliche Zellteilung; das Rohr ist schon überlang, Wollstrümpfe liegen in Knäueln herum zu Haus, aber es strickt sich, es strickt sich von selbst, die wunden, abgewetzten Finger können nicht mehr anders, und der Saftladenmann mahlt dazu mit seinem unermüdlichen Unterkiefer. Die Frau verkauft in der täglich frischen, neugestärkten Leinenschürze 18

Schweinereien, Geschäft ist Geschäft; ich weiß von nichts und wasche meine Hände in Unschuld und die Schürze, falls sie einen Fleck abbekommt, mit Persil; viele Waschmittel gibt es heutzutage, nichts ist uns weiß genug, es ist ein reinlichkeitsbesessenes Zeitalter. Ein Skandal, diese Halbstarken. Ihre Hände zittern, verweigern einen Moment das Knick-knack. Heute morgen hat einer ohne Badehose gebadet, ging drei, vier Schritte splitternackt über die Steine; ja, der mit dem roten Käppchen war’s, er trug es, derweil er splitternackt war, auf dem Kopf, sie hatte es, als er schon im Wasser war, noch durch die Schilfruten schimmern sehen. Ja, ja, sie hatte ihn, hinter Milchbeuteln und Papierbusen verschanzt, drei, vier Schritte lang gesehen, sehen müssen, von hinten allerdings, eine lange weiße Erscheinung wie eine frisch geschälte Weidenrute. Ihr unter der gestärkten Schürze züchtig verdeckter Busen hebt und senkt sich vor Empörung, und der Saftladenmann, der leider nichts gesehen hat, mahlt Pfefferkörner: Schade, daß ich dieses Schwein nicht sah, ich hätte es glatt abgeknallt. Er wischt sich den Schweiß von der Stirn; es ist heiß, eine drückende Affenhitze, wahrscheinlich wird es ein Gewitter geben. Pirek, jetzt wieder in Blue jeans, will einen Milchbeutel. Pit und ich wollen ein Bier. »Nein, Schweinen verkaufe ich nichts«, sagt die Milchbudenfrau, 19

blickt gar nicht auf, macht nur knick-knack mit ihren Stricknadeln. »Fort mit den langhaarigen Affen«, sagt der Saftladenmann. »Es ist zwar noch nicht Saison, aber was zuviel ist, ist zuviel, man hat doch noch seine Prinzipien.« Pirek lacht aus seinem leicht zugespitzten Fuchsgesicht. Das Federchen auf seiner roten Mütze nickt. »Stinkt unser Geld, he?« »Alles zusammengestohlen«, mahlt der mürrische Unterkiefer. »Und wenn ihr kein Geld mehr habt, schlagt ihr uns den Stock über den Schädel. Bums! Aber ich komme euch zuvor! Häuseranzünder! Dreckschweine! Fort, sage ich!« »Hör auf zu zetern, mein lieber Alter«, sagt Pirek, »sonst müßten wir deinen Fliegenpilz in die Luft sprengen. Das gäbe einen Giftregen, ui, ui!« Pirek macht zwei, drei Tanzschritte auf den runden Steinen, schwingt seine Arme empor und beschreibt mit wippenden Fingern den Aschenregen, die langsam sinkenden Giftteilchen. »Gürp-gürp-gürp«, rief die Erdkröte im Schilf. Dann fiel der Schuß aus dem eilig zwischen CocaCola und Bierflaschen aufgerichteten Hasentöter. »Also, die drei gefielen mir gleich zu Anfang nicht«, sagte der Mann mit dem mürrischen Unterkiefer zu den Polypen. »Für diese Sorte von Tagedieben habe ich nun einmal nichts übrig. Sobald es warm 20

wird, schießen die Zelte wie Pilze hervor; das ist wie Schimmel zwischen den Schilfrohren … Bin umzingelt von Kriminellen und sollte mich nicht wehren dürfen? Das wäre ja gelacht. Wollte ihm ja schließlich nur einen Schreck einjagen mit meinem Hasentöter. (Was kann ich schon dafür, daß es anders kam? Spediere damit sonst nur meine Kaninchen ins Jenseits.) Wissen Sie, der Kerl hatte nämlich vor, meinen Pilz in die Luft zu sprengen. Spaß, sagen Sie? Spaß? Sie können’s ja täglich in der Zeitung lesen, wie die Spaß machen!« Und der Vogelsteller verfehlte ihn nicht dideldum, dideldum wischte das Lächeln aus seinem Gesicht dideldum, dideldum knickte die Feder um dem bunten Vogel Pirek und die Steine am Wasser färbten sich rot. »Pit, du?« »Das Zelt ist abgebrochen. Alles okay. Vorwärts, Harry, wir gehen.« »Die Gitarre?« »Nimm sie mit.« »Und das Hütchen?« 21

»Häng’s in den verzauberten Baum.« Die Erdkröte, Pirek, dein blau verwaschenes Zelt, alles versinkt hinter unseren Rücken im weißen Dunst zwischen dem Schilf. Nur vorwärts, immer vorwärts über die runden Steine, am verzauberten Baum vorbei; da hängt jetzt dein Hütchen am Ast. Aber sein Lied das Lied des bunten Vogels Pirek hängt für immer über uns in den Zweigen und der Wind in den Kronen trägt es nicht fort Blues für Pirek Blues für Alec Pirek.

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HERBERT PLATE Ein südafrikanischer Abend Ich muß natürlich erklären, auf welche Weise ich Augenzeuge wurde; denn selbstverständlich gehörte ich nicht zu den geladenen Gästen. Auf der Fahrt zu einer entfernten Großstadt erinnerte ich mich eines Mannes, den ich vor fünfzehn Jahren zuletzt gesehen hatte und mit dem mich damals eine gewisse Freundschaft verband. Ich versuchte, mich auf seine mehr dörfliche Wohnlage zu besinnen und beschloß, die gute Gelegenheit zu nutzen, ihn zu besuchen oder nach seinem Verbleib zu forschen. Der windungsreiche, ehemalige Landweg, dem ich folgte, war nun mit Asphalt überzogen und zur Linken von Zäunen, Mauern, Hecken und Toren begleitet, die einander in weiten Abständen folgten, ohne daß man die dahinterliegenden Häuser zu Gesicht bekommen hätte. Bei meinem letzten Besuch war alles Wald, Busch und Weide gewesen. Der diesig-neblige Sommerabend neigte sich der Dunkelheit zu, als ich schließlich ein offenstehendes Tor erreichte, eine Einfahrt, die reusenförmig von zwei Mauern flankiert war. Ich beschloß, den Wagen zu verlassen, hineinzugehen und Erkundigungen einzuziehen. Zu meiner Überraschung verbarg sich hinter der einfachen Fassade ein weiträumiges, parkähnliches Gelände, in dessen Mittelpunkt 23

ein großer, sehr moderner Wohnhauskomplex lag. Mir fielen vor allem an die zwanzig Personenwagen teurer Marken auf, die noch Zuzug erhielten, während ich, plötzlich neugierig geworden, auf den Hauseingang zuschritt. Das Wort neugierig ist wichtig, denn es kennzeichnet eine Seite meines Charakters, von der ich nicht weiß, ob ich sie als Schwäche oder als Stärke bezeichnen soll. Fremde Verhältnisse ziehen mich an, fremde Schicksale interessieren mich brennend. Das mag, wenn auch ungenügend, erklären, warum ich nicht kehrtmachte, denn unzweifelhaft trafen hier Gäste für eine Party, einen Empfang oder ein Fest ein, zu einer Veranstaltung jedenfalls, zu der ich nicht geladen war. Diese jäh angeregte Neugier erklärt auch, warum ich mein ursprüngliches Vorhaben aufgab oder, besser gesagt, es einfach vergaß. Außerdem war ich in gewissem Sinne vorbelastet, denn eben diese erwähnte Charakterschwäche – so will ich sie hier bezeichnen – hatte mich schon einige Male an Cocktailempfängen teilnehmen lassen, die zu besuchen einem geschickten Ungeladenen so wenig Schwierigkeiten bereitet, und die einen ausgezeichneten Einblick in das nach meiner Erfahrung so stupide höhere Gesellschaftsleben vermitteln. So gab es für mich keine Wahl. Es erwies sich als unschätzbarer Vorteil, daß ich meiner Frau zuliebe meinen Hang zu salopper Kleidung, offenen Hemden und Rollkragenpullovern zurückgedrängt hatte und zu einem dunkelgrauen 24

Straßenanzug Hemd und Krawatte trug. Die Herren hatten ebenfalls auf den Smoking verzichtet; sie kamen allesamt in dezenten Straßenanzügen, während ihre Damen sehr unterschiedlich, aber teuer gekleidet waren. Eine Frau Anfang vierzig, mit falb eingefärbter Strähne im dunklen Haar, zog mich sogleich in ein Gespräch. Sie fragte, ob ich das Haus schon besichtigt hätte. Ich gab eine unklare Antwort. Sie meinte, es sei wirklich gut geworden. Für ihren Geschmack könnte das beheizte Schwimmbad größer sein, aber immerhin … Wir gingen ganz zwanglos umher. Das Gebäude entpuppte sich als ein supermodernes Wohnhaus der Luxusklasse, dem man mit Aluminium, Glas, Kunststoffen und Marmor eine unpersönliche Kühle verliehen hatte, die mich unwillkürlich an Hotel- oder Bahnhofshallen erinnerte. Da ich mich gerade mit der Finanzierung eines einfachen Fertigbau-Eigenheimes herumschlagen mußte, besaß ich genug Sachverstand, um das Haus mit aller Vorsicht auf wenigstens achthunderttausend Mark zu schätzen. Alles Weitere entwickelte sich dann von selbst. Ich hatte eine Gesprächspartnerin, ich nahm Cocktails entgegen, die eigenartigerweise von zwei knabenhaften, kohlrabenschwarzen Boys serviert wurden. Sie blickten aus übergroßen dunklen Augen still ergeben, ja furchtsam auf die Gäste. Ihre Bewegungen wirkten roboterhaft. Meine Begleiterin erklärte dazu, wenn man in Südafrika investiere, dann gebe 25

es keine Personalschwierigkeiten. Die Dostowitz’ – es mußte sich wohl um die Gastgeber handeln – seien mit ihren Negern ausnehmend zufrieden. Das Land sei ja zur Zeit ein ganz heißer Anlagetip. Ob ich mich auch schon engagiert hätte? Diese verzeihliche Überschätzung meiner Möglichkeiten zeigte mir, daß ich nach meinem Habitus »in« sein mußte. Inzwischen hatten sich schätzungsweise fünfzig bis sechzig Personen eingefunden, dem Erscheinungsbild nach typisches gehobenes CocktailPublikum. Man war dem Hause anscheinend durch freundschaftliche oder geschäftliche Beziehungen verbunden. Als der Hausherr gegen neun Uhr zur Begrüßung ansetzte, ging ich unauffällig in die Diele. Es gab eine etwas langatmige Vorstellung der Gäste, die alle mit Rang, Namen, Verdiensten und Besitz präsentiert wurden. Der Kern bestand aus Unternehmern, Managern, Ärzten, Anwälten und zwei Kirchenvertretern, von denen der eine Prälat und der andere Superintendent war. Angekündigt wurde ein Südafrika-Abend, der dazu beitragen solle, die Vorurteile und Hetzereien gegen dieses wunderbare Land abzubauen und zu widerlegen; kurzum, durch Sachkenner aufzeigen zu lassen, wie es wirklich sei. Ich hatte mich bis dahin vor allem darum nicht für Südafrika interessiert, weil der Radius meiner Ferienreisen von dem dürftigen Inhalt meiner Brieftasche bestimmt ist. Allerdings hatte sich 26

trotzdem in mir die Vorstellung festgesetzt, das Land sei ein Hort überholter Kolonialpraktiken, die in der Rassentrennung ihren Kristallisationspunkt fänden. Um so dankbarer nahm ich deshalb die Gelegenheit einer objektiven Information wahr. Es traten nun nacheinander drei Redner auf: ein junger, deutschstämmiger Südafrikaner, ein pensionierter Ruhrgebiets-Bergassessor und der sehr konziliant-gewandte Hausherr. So erfuhr ich in den nächsten zwei Stunden sehr viel Wissenswertes. Die Redner lobten übereinstimmend die Schönheit des Landes und das gesunde Klima. Sie priesen die Tüchtigkeit seiner weißen Bewohner und beklagten die vom internationalen Kommunismus gesteuerte Kampagne gegen die friedliche und zukunftsweisende Apartheidspolitik, die sowohl aus christlichmoralischer als auch aus psychologisch-entwicklungsgeschichtlicher Sicht die einzig mögliche zur Kultivierung der schwarzen Bevölkerung sei. Die weiße Bevölkerung – sie wurde mit vier Millionen angegeben – trage für die schwarze – man bezifferte sie mit vierzehn Millionen – eine schwere Verantwortung, ähnlich der eines treusorgenden Familienvaters für die Schar seiner unmündigen Kinder. Und in der Tat mußten die Redner wohl in diesem Sinne fühlen; alle sagten immer wieder: unsere Neger, unsere Schwarzen. Der Bergassessor – er hatte das Land mehrfach als Fachmann für Grubenfragen bereist – bewies mit einigen sehr schönen Farbdias, daß der südafri27

kanische Bergbau hochmodern ausgestattet ist, und folgerte daraus sehr logisch, daß es »unseren schwarzen Bergleuten« genauso gut ginge wie »unseren Ruhrgebietskumpeln«. Ein junger Bantuvorarbeiter, der als Rangzeichen am rechten Handgelenk ein eisernes Armband trug, das sehr an eine Handschelle erinnerte, und der lächelnd ein kopfgroßes Stück Kupfererz präsentierte, diente als fotogener Beweis für das allgemeine Bantuglück. In seiner erfreulich schlichten Sprache legte der Assessor dar, daß die Schwarzen wegen ihrer Mentalität schon darum sehr zufrieden seien, weil sie gar nicht haben wollten, was die Weißen besäßen. Eine relativ gut bezahlte Arbeit, viele Frauen und Kinder und ein Fahrrad genügten ihnen vollauf. Außerdem seien sie, wie die Wissenschaft erwiesen habe, gar nicht in der Lage, dreidimensional zu denken. Ein von der Natur, um nicht zu sagen von Gott gezogener Trennungsstrich sei also unverkennbar. Würde man den Vorstellungen der Kommunisten und weltfremden Intellektuellen nachgeben und diese geistig unterentwickelte 14-Millionen-Masse mitbestimmen lassen, dann führe das zur Abschlachtung der weißen Bevölkerung. Es waren alles in allem sehr überzeugende Argumente, die noch eine wesentliche Unterstützung durch den Beitrag des jungen Südafrikaners erfuhren, der in der deutschen Firma des Gastgebers volontierte. »Unsere Schwarzen«, sagte er dem Sinne nach, »sind vollkommen frei. Sie ver28

dienen sehr gut. Die weiße Bevölkerung bringt ungeheure Mittel auf, um sie zu entwickeln. In garantierten Stammesgebieten leben sie in völliger Selbstverwaltung, und die so sehr diffamierte Apartheidspolitik dient vor allem dazu – leider ist das draußen überhaupt nicht bekannt –, sie voreinander zu schützen, denn die verschiedenen Stämme leben in einer traditionellen Todfeindschaft. Im übrigen kann nur der die Situation beurteilen, der in Südafrika lebt.« Anschließend faßte der Hausherr noch einmal alles zusammen und verwies auf die Vorpostensituation Südafrikas zum Schutz der europäischen Kultur und zur Sicherung der Freiheit. In Südafrika zu investieren hieße also, in humanitär-christlichem Sinne politisch an der Front zu stehen. Der anstrengende Teil des Abends sei damit beendet; nebenan warte das Büfett. Herzlicher, lang anhaltender Beifall dankte ihm und seinen Vorrednern. Es öffnete sich eine Schiebetür. Die Gäste erhoben sich und drängten hindurch. Damit veränderte sich die Situation auf eine Weise, daß sie seither wie ein Alptraum in meinem Bewußtsein lagert. Ich habe schon immer mit einer Mischung aus Faszination und Widerwillen die Verwandlung beobachtet, die sich an einer gebildeten, Kultur konsumierenden Gesellschaft vollzieht, wenn sie sich anschließend um ein Büfett drängt. Die plötzliche, gierige, ausschließliche Konzentration auf 29

eine nicht durch Hunger, sondern lediglich durch Appetit begründete Magenfüllung demonstriert besser als jeder andere Vorgang, wie dünn die Trennungsschicht zwischen Kultur und Barbarei noch immer ist. Hier nun war das Erschrecken besonders groß. Einmal lag es an dem Hausherrn, der irgendwie verändert und sehr befehlend wiederholte: »Zum Büfett!« In dem kleinen Raum drängten sich die Gäste um einen übergroßen Tisch, der mit einer Unmenge von Eßwaren beladen war. In besonderer Erinnerung geblieben ist mir eine Riesenschüssel mit rot leuchtendem, rohem, gehacktem Fleisch und ein gutes Dutzend großer Tranchiermesser mit Hirschhorngriffen. Das Ganze wirkte, als wäre irgendein mächtiges Beutetier in zahllose Stücke zerhackt worden. Um diesen – man verzeihe mir den ordinären Ausdruck – Freßberg drängelten sich nun die Damen und Herren mit einer für mein Empfinden widerwärtigen Gier. Sie spiegelte sich vor allem in dem von Schmissen zerhackten Gesicht des Bergassessors, dessen Zunge in schnellen Intervallen über die dünnen Lippen fuhr. Es war, als bereite sich eine Schlange auf ihre Mahlzeit vor. Der trockene, faltige Superintendent trennte konzentriert und kenntnisreich ein Bruststück aus einem Brathuhn. Eine ältere, ebenfalls sehr faltige, kostbar gekleidete Dame, Nachbarin einer dezent mit Platin und Brillanten verzierten jungen Frau, pendelte wie beschwörend mit ihrem Teller hin und 30

her, ehe ihre ringgeschmückte Hand hier und da zustieß, um aus der Fülle eine Portion herauszuholen. Die Gäste waren über das normale Maß auf einen rein animalischen Genuß zurückgeworfen. Ein fülliger, grauhaariger Herr zog sich mit einem gefüllten Teller in eine Ecke zurück und schob hastig schnappend den Inhalt in seinen Mund. Es sah aus, als müsse er seinen Beuteanteil gegen eine Meute hungriger Genossen verteidigen. Die Ahnung von etwas Drohendem wuchs in mir. Ich hatte mit einem heftigen Widerwillen zu kämpfen und dem Drang, davonzustürzen, zu flüchten. Er wurde aber aufgehoben von einer Faszination, wie sie nur von der Erwartung des Schreckens ausgehen kann. In mein Bewußtsein drängte sich der Bericht eines Ethnologen, in dem ausgezeichnet die rauschhafte Wirkung einer Fleischorgie geschildert wurde, deren Zeuge der Autor in wissenschaftlicher Mission bei einem Jägerstamm nach der Erlegung eines Elefanten wurde. Er legte sehr einleuchtend dar, wie sich in ihm selbst eine erschreckende Bewußtseinswandlung vollzog, die auf einmal alles Lebendige und Tote als Fleisch begriff, als eßbares Fleisch, wohlgemerkt. Er sagte, im nachhinein wäre ihm klar geworden, daß er seinen Bericht nur darum hätte abfassen können, weil die vier Tonnen Fleisch des Elefantenbullen es allen Beteiligten ermöglicht hätten, ihre Freßsucht voll zu befriedigen. Wäre die Beute kleiner gewesen, dann hätte man sich zweifellos an einem oder mehreren Mitgliedern der Horde 31

schadlos gehalten. Und sehr wahrscheinlich wäre er selbst unter den Opfern gewesen, weil er in seiner Andersartigkeit ein Reizobjekt ersten Ranges dargestellt habe. Er selbst wäre allerdings auch bereit gewesen, sich mit den übrigen auf jedes andere vom Zufall bestimmte Opfer zu stürzen. Der Zustand »bis zum Platzen voll« wäre im buchstäblichen Sinne erreicht worden, wie die unförmig aufgequollenen Bäuche bewiesen hätten. Anschließend hätte sich der ganzen Horde eine große, zum Rausch gehörende Müdigkeit bemächtigt. Man wäre auf der Stelle umgesunken und hätte wohl vierundzwanzig Stunden geschlafen. Es erschien mir absurd, die geschilderte mit der gegenwärtigen Situation in Verbindung zu bringen. Gleichzeitig zuckte aber die Frage durch mein Hirn: Und warum nicht? Warum eigentlich nicht? Von den einförmigen Kaugeräuschen und den dazugehörenden, nur wenig differenzierten Urlauten, die sich wie »Aaah«, »Hmmm« und »Guut« anhörten und die vom Klappern der Bestecke sowie den harten Aufschlaggeräuschen künstlicher Zahnreihen untermalt wurden, ging etwas so aufreizend Drohendes aus, daß mir ein Würgen in die Kehle stieg. Es ist eine meiner typischen Reaktionen, die einem Anflug von Panik vorauszugehen pflegen, wogegen ich nur mit äußerster Willensanstrengung angehen kann. Ich erkannte aufgeschreckt meine Außenseiterrolle, weil ich als einziger weder Besteck noch Teller in der Hand hielt, und ich vermeinte, 32

hier und da von kalt abschätzenden Blicken gestreift zu werden. Meine Schwäche überwindend, nahm ich hastig einen Teller und stellte überrascht fest, daß das Büfett im wesentlichen leer war. Mit einem Hühnerskelett gewann ich meine Sicherheit zurück und bemerkte, daß der Professor der Medizin einen Ferkelkopf in den Händen hielt und hastig benagte. Ich registrierte ferner, daß eine sehr stattliche ältere Dame selbstvergessen an dem Schinkenknochen sog und lutschte und daß man allenthalben mit bloßen Händen zupackte. Erst jetzt fiel mir auf, daß die meisten der älteren Männer Gesichtsnarben aufwiesen gleich denen, die bei vielen primitiven Stämmen als Schmuck- und Rangabzeichen dienen. Es paßte zu der Situationsstimmung, daß zu diesem Zeitpunkt einer der schwarzen Boys durch die Reihen gestoßen wurde. Ich begriff entsetzt, daß ich selbst in eine ursprünglich wilde, barbarische Situation zu geraten drohte, die zwar notdürftig überdeckt, doch von Anfang an bestanden hatte. Gleichzeitig empfand ich eine Erleichterung darüber, daß ich endgültig aus der Gefahrenzone heraus war. Mit dem Auftauchen des Afrikaners, dessen nachtdunkler glatter Körper völlig nackt war und dessen Augen so unglaublich ergeben blickten, entstand unter den Gästen eine heftige, hastige Bewegungswelle, ein Drängeln, ein Zupacken. Eine manikürte, mit überlangen Nägeln versehene Frauenhand griff nach dem letzten Tranchiermesser. Um den Afrikaner bildete sich ein Strudel, wie 33

er entsteht, wenn man ein Stück Fleisch in einen Schwarm von Raubfischen wirft. Die Szene wirkte doppelt unheimlich, weil sich alles wortlos vollzog. Dafür füllte sich der Raum mit einem rhythmischen Stöhnen der Wollust. Ich sah noch, daß eine anscheinend vorbereitete hölzerne Tafel auf das Büfett gestellt und mit einem weißen Tuch bedeckt wurde. Anscheinend hob man den jungen Neger darauf. Ich weiß nicht, ob er zu dieser Zeit schon tot war. Jedenfalls hat er keinen Schrei, nicht einen einzigen Ton von sich gegeben. Ich nutzte den Augenblick und flüchtete. Das Tor war geschlossen. Ich mußte über eine hohe Mauer klettern. Mein erster Impuls war, zur Polizei zu fahren, doch ich bin davon abgekommen. Man hätte mich höchstwahrscheinlich ausgelacht. Und möglicherweise kann überhaupt jeder mit seinen Negern machen, was er will. Für einen kleinen Mann wie mich ist es nicht gut, sich mit Negerbesitzern anzulegen, und außerdem müssen wir alle mit unseren Alpträumen leben.

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WILLI FÄHRMANN BON VOYAGE Sie war zweiundvierzig, als sie es wagte. »Was ist schon dabei«, sagte sie sich, »nach so vielen Jahren.« Ganz bewußt hatte sie sich diesen Satz immer wieder vorgesprochen, als die Maschine in Lohausen weich aufsetzte, langsam wurde, einschwenkte, ausrollte. Ihr war es angenehm, daß die Triebwerke mit niedrigen Touren weiterliefen. So brauchte sie sich nicht darüber Rechenschaft zu geben, ob nicht das leise Zittern doch und allein ihr Zittern war. »Nach so vielen Jahren«, flüsterte sie, als sie die Uniform der Zollbeamten, der Polizei sah, die glatten, hellhäutigen Gesichter, jungenhaft und frisch. Jetzt konnte sie nicht mehr das Beben ihrer Hände, ihres Körpers mit der verhaltenen Kraft der Maschine erklären. »Was ist schon dabei«, sagte ihr Verstand. Aber ihr Herz sprach eine andere Sprache. Sie hatte Angst. Zwar gelang es den Argumenten, das Zittern zu vertreiben, die dumme Angst irgendwohin in einen Winkel zu drängen. Sie wollte nicht daran denken. Die Formalitäten waren bald erledigt. Auf die Routinefragen nach der Zollpflicht erwartete niemand eine Antwort. Sie fuhr mit dem Bus gleich zum Hauptbahnhof 35

Düsseldorf weiter. Die Stadt bedeutete ihr nichts. Zwar war sie einmal als Kind mit ihrem Vater dort gewesen, hatte jenen Onkel Siegfried besucht, der ihnen später die riesige Summe Geld lieh, Geld, das ihnen den begehrten Stempel für die Ausreiseerlaubnis beschaffen sollte. Sie erinnerte sich jedoch lediglich an das elegante, schwarze Auto, mit dem der Chauffeur sie vom Bahnhof abgeholt hatte. Sie wollte keinen Aufenthalt. Mit dem Intercity fuhr sie die eine Station bis zur nächsten Großstadt. Aber dann blieb ihr nichts anderes übrig, als in den nur aus einer Lokomotive alter Bauart und drei Wagen bestehenden schmutzigen Personenzug umzusteigen. Auf den Nebenstrecken war die Zeit stehengeblieben. Der Zug quälte sich über die Rheinbrücke, die Stadt blieb zurück. Die Glocke der Lokomotive schlug vor den unbeschrankten Bahnübergängen an, Kühe sprangen in den Weiden mit drei, vier Sätzen ein wenig weiter von den Schienen weg. Im Abstand von wenigen Kilometern hielt der Zug, oft genug an längst verlassenen Bahnhofsgebäuden, die viel zu gewichtig schienen für die zwei, drei Personen, die ein- oder ausstiegen. Die Namen der Orte klangen ihr allmählich bekannter in den Ohren, je näher sie der kleinen Stadt kam. In A. war sie gelegentlich an den Samstagen zum Gottesdienst gewesen. Ihre Mutter war hier aufgewachsen. Ihre Verwandten hatten einmal dort 36

gewohnt, Onkel, Tanten, Großeltern. Sie griff nach ihrer Tasche. Lange bevor der Zug in die enge Schneise einfuhr, ging sie zur Tür am vorderen Ende des Wagens. Sie wollte den ersten Blick auf die Stadt nicht verpassen. Der Zug schob sich aus der Schneise heraus. Vor ihr lagen die Türme, die Tore, die Häuser, die Mauern, und über das Gewirr ragte der gewaltige, strahlende Dom hinaus, viel zu weit und zu hoch für die kleine Stadt. Sie stieg aus. Ihr Blick suchte Himmelkamp, den Bahnhofsvorsteher. Aber statt des rundlichen, freundlichen Mannes mit dem Seehundsbart trug ein langer, hagerer die rote Mütze, hob das Signal und blies in die Trillerpfeife. In einem Anflug von Übermut trat sie auf den Langen zu und redete ihn an: »Ist Herr Himmelkamp nicht mehr hier?« Der Lange tippte mit dem Finger grüßend an den Schirm der Mütze, schaute die zierliche Dame unsicher an und fragte: »Himmelkamp?« Ihr schoß eine zarte Röte ins Gesicht. »Wie dumm von mir, verzeihen Sie, er ist vielleicht längst tot. Er war, warten Sie, er war vor etwa fünfunddreißig Jahren hier Bahnhofsvorsteher.« »Aber natürlich!« rief der Lange. »Einer meiner Vorgänger. Er ist im Februar ’45 bei dem schweren Bombenangriff noch umgekommen.« Er nahm ihre Tasche und trug sie bis zum Ausgang. »Die Stadt ist damals ziemlich zerstört worden. Auch der Dom. Aber wir haben alles wieder aufgebaut«, sagte er nicht ohne Stolz. »Ein Verwandter 37

von Ihnen, der alte Himmelkamp?« »Nein, ich habe ihn nur flüchtig gekannt«, antwortete sie, bedankte sich für seine freundliche Hilfe und winkte dem einzigen Taxi zu, das vor dem Bahnhof parkte. »Hotel Pfaube«, sagte sie. Es stimmt, dachte sie, ich habe ihn nur flüchtig gekannt. Und doch hat er uns das Leben gerettet. Er hat damals genau gewußt, was gespielt wurde. Trotzdem hat er meinem Vater die Fahrkarten verkauft. Trotzdem hat er uns zugeflüstert: »Steigen Sie besser nicht in den letzten Wagen ein. Da sitzen ein paar …« Den besten Rat aber gab er mir, als er auf meinen kunterbunten Beutel zeigte und sagte: »Den drehst du besser um, Kind!« In der Eile hatte sie damals ihren Handarbeitsbeutel gegriffen und wahllos vollgestopft. In großen Buchstaben hatte sie in der Schule daraufgestickt: HANNAH RANIEL, BON VOYAGE. Guter Rat war damals teuer. Dieser hätte ihn das Leben kosten können. Das Taxi bremste vor dem Hotel. Sie zahlte. Pfaube war das größte Hotel der kleinen Stadt, aber für einen Hausdiener war es nicht groß genug. Sie faßte die Tasche und trug sie in den dämmrigen Flur. Hier hatte sich nichts verändert. Selbst die verstaubten Lorbeerbäume standen noch in ihren grünen Kübeln. Der Wirt saß mit offenem Hemdkragen an dem runden Stammtisch vor der 38

Theke. Die Glocke vom Dom her schlug zehn. Es war noch sehr früh für ein Hotel in einer kleinen Stadt. Er blickte auf. »Guten Morgen. Kann ich ein Zimmer bekommen?« Sie konnte sogar wählen, ob mit, ob ohne Bad. In das Anmeldeformular schrieb sie ihren Namen. Sie brauchte nicht zu fürchten, erkannt zu werden. Es war der Name ihres Mannes: Barschel. »Ich trage Ihnen die Tasche gleich nach oben«, sagte der Wirt. In seinem Lächeln erkannte sie den alten Pfaube wieder. Dies war wohl sein Sohn Paul. »Lebt Ihr Vater noch?« Überrascht blickte er sie an. »Nein. Er starb kurz nach dem Krieg. Kannten Sie ihn?« »Ja. Ich war vor vielen Jahren schon einmal in Ihrem Haus.« Sie nahm sich vor, vorsichtiger zu sein. Die schweren Bauernmöbel in der Gaststube, das blauweiße Delfter Porzellan, der schmiedeeiserne Leuchter, die römischen Vasen, das kleine Sofa … Zum erstenmal fühlte sie sich nicht mehr fremd. Sie bestellte sich eine Tasse Kaffee, goß viel Sahne hinein und nahm zwei Löffel Zucker. Das entsprach zwar nicht ihrem Geschmack, doch es war eine späte Reverenz an ihre Kindertage. So trank man den Kaffee in Holland, und Holland lag nicht weit. 39

In ihrem Zimmer ruhte sie sich ein wenig aus, aber einschlafen konnte sie nicht. Trotz einer gewissen Unrast zwang sie sich, nicht vor der Essenszeit hinunterzugehen. Inzwischen hatte ein Kellner seinen Dienst angetreten. Die Tische in der Gaststube waren fast alle besetzt. Sie mußte mit einem in der Mitte der Stube vorliebnehmen. Die Speisekarte war reichhaltig. »Nehmen Sie Ente«, riet der Kellner. »Ente gut, Chef selbst geschossen.« Seiner Sprache nach war er Italiener. Sie folgte seinem Rat. Tatsächlich schmeckte die Ente delikat. Sie überlegte, ob sie das Rezept der würzigen Füllung erfragen sollte, schob es aber zunächst auf. Sie verlangte zum Nachtisch Kaffee und fragte den Kellner: »Wissen Sie, ob es den Judenfriedhof noch gibt?« »Judenfriedhof?« Er zuckte die Schultern, drehte sich halb um und sprach einen älteren Herrn am Nachbartisch an: »Wissen Sie, Herr Lehrer, ob es gibt hier irgendwo Judenfriedhof?« Der legte seinen Löffel in den Teller, schaute sich neugierig nach der Fragestellerin um und antwortete: »Natürlich. Oben am Krankenhaus. Stimmt doch, Pohl, nicht wahr?« Der angesprochene Herr Pohl wischte sich den Bierschaum von den Lippen. »Ja«, sagte er, »stimmt. Wenn Sie vom Krankenhaus zur Hees hinauflaufen, sehen Sie ihn dort liegen, eine düstere Baumgruppe im freien Feld.« 40

»Danke«, sagte sie. Es war ihr unangenehm, daß der Kellner ihre Frage dem ganzen Lokal bekanntgemacht hatte. Aber, was sollte es. Früher oder später würden sie doch wissen, wer sie war. Sie machte sich auf den Weg. Die Mittagssonne hatte schon Kraft. Sie fand den Friedhof bald. Ganz in der Nähe hatte die Stadt ihre Müllkippe eingerichtet. Niemand würde sich etwas dabei gedacht haben. Das Gittertor war verschlossen. Doch zwischen dem Torpfeiler und der Hecke gab es einen Durchschlupf. Der Friedhof war gepflegt, die beiden kreisförmigen Kieswege waren frei von Unkraut. Nur auf wenigen Grabsteinen waren die Namen noch zu entziffern. Immer wiederholten sich die Zeichen: Schmetterlinge, eine gespreizte Hand, Davidsterne. Unter den Begrabenen gab es viele, die ihren Namen trugen. Die Raniels hatten viele hundert Jahre in der kleinen Stadt gelebt. Sie fand bald den Grabstein ihres Bruders, der als Dreizehnjähriger an Tbc gestorben war. »Er hätte Butter bekommen müssen, fette Kost«, flüsterte sie. Aber damals gingen die Geschäfte schon schlecht. Außerdem scheuten sich die Ärzte, Karl Raniel zu behandeln. Wer wollte schon etwas mit Juden zu tun haben, damals. Ihre Bluse war durchschwitzt, als sie am späten Nachmittag wieder in die Stadt zurückkam. Sie ließ sich Zeit, versuchte sich zu erinnern. Doch die Stadt hatte ihr Gesicht verändert. Nur hier und da zeigte sie unter der Schminke lasierter Klinker 41

und chromblitzender Fensterrahmen ihre altehrwürdigen Züge. Das Gotische Haus am Markt, die Karthause, das Doppeltor am Nordwall. Auch der Verlauf der Straßen erinnerte an die Stadt ihrer Kindertage. Das Haus, in dem sie geboren worden war und bis zum November 1938 gelebt hatte, stand nicht mehr. Auch die Bäckerei, das Nachbarhaus, war verschwunden. An ihre Stelle waren, dem mittelalterlich schmalbrüstigen Zuschnitt der Grundstücke folgend, zwei rotgieblige, schmucke Neubauten getreten. Über den Ostwall warf sie einen Blick in die Gärten. Den alten Apfelbaum, dessen niedrige Äste ihr so oft verbotenerweise das Überklettern der Mauer ermöglicht hatten, hätte sie berühren können. Und dort, wo die Rosenstöcke auszuschlagen begannen, dort hatten sie sich damals verborgen, damals in jener Nacht im November. Sie erinnerte sich genau an jede Einzelheit. Der Lärm auf der Straße, das rote Licht der sich nähernden Pechfackeln. »Hier müssen sie irgendwo wohnen, die verdammten Juden«, hatte eine Männerstimme geschrien. Doch die Nachbarn öffneten nicht ihre Fenster, gaben keine Auskunft. Mit fliegenden Händen hatte Mutter ihr das blaue Samtkleid und den warmen Mantel übergezogen. »Nimm deine Tasche!« sagte sie. »Gleich werden sie unser Haus gefunden haben.« »Leuchte auf die Namensschilder. Daniel heißt das Pack.« Sie weinte verkrampft, griff nach irgen42

deiner Tasche, stopfte ihre alte Puppe hinein und suchte das Goldstück, das Onkel Siegfried ihr geschenkt hatte. Und die Zahnbürste, die Seife, ihre Schlittschuhe … »Hier!« schrie es draußen. »Hier ist es. Raniel heißen die, nicht Daniel.« »Raniel oder Daniel, das ist doch scheißegal. Aufmachen! Aufmachen!« »Brecht die Tür auf! Holt sie endlich heraus!« Während die ersten Stöße schwer gegen die Tür donnerten und das Glas der Scheiben unter den Steinwürfen zerklirrte, zog die Mutter ihre Tochter in den Garten. Erst als die Tür mit lautem Knall zerbarst und eisenbeschlagene Stiefel hart auf die Steinfliesen schlugen, folgte ihr Vater. »Dort, dort, schnell, unter den Kohl«, sagte er. Seine Stimme klang heiser vor Angst. Sie verbargen sich unter dem dichten Blätterdach des Grünkohls und preßten sich gegen die weiche, feuchte Erde. Die Kälte des späten Herbstes kroch ihnen in die Glieder. Mehrmals leuchteten die Männer mit ihren Fackeln den Garten ab. Das Dröhnen ihrer Tritte und der harte Schlag des Blutes in ihren Ohren flossen ineinander. »Verdammt! Ausgeflogen!« riefen sie sich im Haus zu. Sie ließen ihre Wut an den Möbeln aus, an den Büchern. Die Oberbetten schlitzten sie auf und schüttelten die Federn zum Fenster hinaus. Im Mondlicht tanzten die tausend weißen Flokken. Die Schultern des Mannes bebten. Er weinte. 43

Endlich wurde es ruhiger. Die drei jedoch trauten sich nicht aus dem Versteck. »Frau Raniel, Hannchen, wo steckt ihr?« rief mit leiser Stimme die Nachbarin durch die Hecke. Sie wagten sich nicht zu rühren. »Hannchen! Frau Raniel!« rief sie wieder und kam die Hecke entlang. »Ja, Frau Baltes, wir sind hier«, antwortete der Vater schließlich. »Kommen Sie ins Haus. Sie holen sich ja sonst was bei dem Wetter.« »Das ist viel zu gefährlich für Sie, Frau Baltes.« »Reden Sie nicht, kommen Sie. Kommen Sie schon, ehe die Burschen wiederkommen!« Sie krochen aus dem Kohl heraus, schlugen sich, so gut es gehen mochte, in Baltes Backstube den Schmutz von den Kleidern und wärmten sich auf. Herr Baltes brachte Beerenschnaps. Auch Hannah bekam ein Gläschen voll. Die Wärme und der süße Schnaps schläferten sie ein. Vor dem Morgenlicht aber faßte der Vater sie beim Arm, schüttelte sie wach und sagte: »Komm, Hannah, wir müssen fort. Gott der Gerechte will uns retten.« Was er damit meinte, sah sie, als sie aus der Tür ins Freie trat und kalter, dicker Nebel ihr ins Gesicht schlug. Ungesehen erreichten sie den Bahnhof. Der Vater ging zunächst allein ins Gebäude. Was würde Himmelkamp tun? Ein Anruf … Statt dessen half er. »Tante, suchst du was?« fragte ein Kind und riß 44

sie aus ihren Erinnerungen. »Nein, Kind, nein.« Sie ging weiter. Ihre Handflächen waren naß von Schweiß. Wie damals, dachte sie. Am alten Lehrerinnenseminar bog sie zum Dom hin ein. Sie hatte sich das herrliche Bauwerk bis zuletzt aufgespart. Das Michaelstor war wieder aufgebaut. Doch einige Kleinigkeiten störten sie: die fehlende Außentreppe, die neuen Reliefs über dem romanischen Bogen. Das Südportal zeigte noch die Wunden, die Bomben und Granaten gerissen hatten. Die schöngegliederte Halle des Doms hatte sich verwandelt. Die ehemals graugrünen Töne des Anstrichs waren den kräftigen Erd- und Metallfarben des Mittelalters gewichen. Die tiefstehende Sonne ließ das großflächige Westfenster mit seinen vielfältigen Rotfarben aufglühen. »Herrlich«, sagte sie halblaut. Ein lahmender Alter trat beflissen hinzu und erklärte: »Professor Wendung, gnädige Frau. Eine seiner letzten Arbeiten.« Sie konnte den Blick nicht von dem flutenden Licht abwenden. »Soll die Zerstörung der Stadt in den Flammen von 1945 darstellen, wissen Sie?« »Das ist ein Bild jener Zeit«, antwortete sie. »Blut, überall Blut.« »Ja, so kann man es auch sehen«, gestand er, wurde dann aber von einer hereinströmenden Gruppe wissensdurstiger Holländer angezogen. Sie saß allein in der Gaststube. Vorn, in der 45

kleinen Nische vor der Theke, redete ein Mann in grünem Jägeranzug mit den Wirtsleuten. Aus der Bauernstube drang der Lärm von einer Runde Doppelkopfspieler. Der italienische Kellner brachte gelegentlich ein Tablett voller scharfer Getränke dorthin. Sie aß in Ruhe und versuchte sich darüber klar zu werden, wie lange sie bleiben wollte. Vielleicht fünf, sechs Tage? »Wenn Sie Lust haben, Frau Barschel, setzten Sie sich zu uns«, bot die Wirtin ihr an. »Warum nicht«, antwortete sie und trug ihr Teeglas hinüber. Der Gast stellte sich vor. Er war ein Bauer aus der Umgegend. »Sie sagten, Sie wären früher schon einmal bei uns gewesen, Frau Barschel?« forschte der Wirt, und zu dem anderen Gast gewandt: »Frau Barschel hat meinen Vater gekannt.« Er wies auf ein vergilbtes Foto an der Wand hinter der Theke. »Ja, das ist er«, sagte sie und betrachtete das Foto. Genauso hatte sie Herrn Pfaube in Erinnerung. Hier, an diesem runden Tisch, hatte ihr Vater oft und oft gesessen. Gelegentlich hatte sie ihn holen müssen, weil Bauern gekommen waren, die Vieh verkaufen wollten, oder auch Verwandte aus Düsseldorf oder aus A., und nie hatte sie das Haus verlassen, ohne daß Herr Pfaube ihr ein Himbeerbonbon oder ein Zuckerstückchen geschenkt hatte. Einmal war sie sogar in höchster Not in das Hotel 46

geflohen, als Jungen ihr auf dem Heimweg von der Schule aufgelauert hatten, sie mit Erdklumpen bewarfen und »dreckige Judensau« schrien. Er hatte sie bei der Hand genommen, war mit ihr vor das Haus getreten und hatte die Jungen zurechtgewiesen und sie »dösige Blagen« genannt. Zum Trost gab er ihr eine ganze Tafel Schokolade. »Der Name Barschel ist hier nicht bekannt«, bohrte der Wirt. »Mit meinem Mädchennamen heiße ich Raniel, Hannah Raniel.« »Raniel? Raniel?« murmelte der junge Pfaube. Der Bauer fragte: »Raniel? Etwa die Tochter von Karl Raniel, der in der Niederstraße gewohnt hat?« »Ja, die bin ich. Bis zum 9. November 1938 haben wir dort gelebt. Ich war damals neun Jahre alt.« »1938«, sagte der Wirt, »war damals ein schlimmes Jahr für Sie, nicht wahr?« »Ja.« Sie wunderte sich, daß ihre Mitteilung keinerlei Befangenheit auslöste und mußte sich erst ins Gedächtnis zurückrufen, daß höchstens der Bauer damals schon erwachsen gewesen war. »Ja, ja«, sagte der. »Lange Zeit, über dreißig Jahre. Seit ’38 gibt es hier keine Juden mehr. Der Sander soll nach Amerika gegangen sein, und der Ostrich ist ja wohl mit seiner ganzen Familie …« Er stockte kurz: »Äh, ist wohl umgekommen.« »In Auschwitz vergast«, sagte sie. Die Doppelkopfbrüder nebenan hatten aufge47

hört zu spielen. Sie setzten sich mit an den runden Tisch. Es wurde ein wenig eng. Sie erkannte ihn sofort wieder, seinen eiförmigen Kopf, das rotgeäderte Gesicht, die vorstehenden Augen. Die ehemals schütteren blonden Haare legten einen dünnen, grauweißen Schleier um seinen Nacken, sein Mund war durch ein Null-achtfünfzehn-Gebiß ein wenig eingefallen, über seine Handrücken faltete sich runzlig und trocken die Haut. Ihr wurde heiß. Krolle trug in jenen Jahren nur einen einzigen Anzug: die goldbraune Uniform. Er hatte ihre Familie oft und oft drangsaliert, hatte ihre Mutter aus seinem Lebensmittelgeschäft gewiesen und ihr das Schild vor die Augen gehalten: »Wir verkaufen nicht an Juden.« Sie zwang sich dazu, ruhig zu bleiben. »He, Itacker, ein Alt!« tönte Krolles Stimme. Sie verriet selbst in ihrem Alter noch den Wohlklang eines geschulten Tenors aus der Liedertafel. »Bitte sehr, Herr Krolle.« Der Kellner zeichnete einen weiteren Strich auf Krolles Bierdeckel. »Sind Sie seitdem noch nicht wieder in der Bundesrepublik gewesen?« knüpfte der Wirt das Gespräch wieder an. »Nein. Ich habe lange gezögert, aber dann hat es mich doch gelockt, die Stätten meiner Kindheit noch einmal zu besuchen. Es soll ja heute alles ganz anders sein in Deutschland.« 48

»Das ist ganz sicher«, bestätigte der Bauer. Krolle blinzelte listig. »Stätten Ihrer Kindheit? Stammen Sie denn von hier? Ich kenne hier Jan und Allemann. Ich müßte doch auch Sie …« »Du kennst sie auch, Theo. Das ist doch die Kleine von Raniel.« Zum erstenmal registrierte sie eine gewisse Spannung. »Raniel, Niederstraße?« fragte Krolle. »Richtig.« »Ist ja großartig!« rief er aus. »Nach so vielen Jahren! Das Hannchen!« »Sie müßten übrigens hier auf dem Schulfoto zu sehen sein«, sagte der Wirt. Er nahm eine Gruppenaufnahme von der Wand. »Hier müßten Sie mit dabeisein.« Sie kramte in ihrer Tasche nach der Brille und schaute auf das Bild. Sie stand in der Mitte. Vor sich trug sie den blauen Handarbeitsbeutel, den sie damals mitgeschleppt hatte. HANNAH RANIEL, BON VOYAGE. Sie konnte es deutlich lesen. »He, Itacker, ’ne Runde Alt auf meine Rechnung!« rief Krolle. »Das Wiedersehen müssen wir feiern.« Ihr Rücken versteifte sich. Der Kellner verteilte die Gläser und malte acht Striche auf Krolles Bierdeckel. Sie schob ihr Glas ein wenig zurück. Krolle sah es, seine Äderchen färbten sich blau. Hart fuhr er den Kellner an: »Du hast zwei Striche zuviel gemacht, Itacker! Meinst 49

wohl, ich wäre schon blau, wie?« »Ich habe genau gemacht acht, Otto, Herr Krolle, acht!« Er zeigte die Zahl mit den Fingern. »Ich habe es genau gesehen«, rief Krolle böse. »Man sollte euch ausländisches Pack …« »Vergasen«, sagte Hannah Barschel. Es wurde sehr still in der Runde. Krolle faßte sich als erster. »Hannchen, laß uns einen trinken, laß uns die ganze Zeit vergessen. Es hat sich alles geändert. Prost!« Er hob ein Glas. »Alles hat sich nicht geändert.« Sie stand auf. »Nach so vielen Jahren«, fügte sie leise hinzu. »Was ist schon dabei? Nach so vielen Jahren«, brummte er. »Gute Nacht«, würgte sie hervor. Die ausgestreckte Hand von Krolle übersah sie geflissentlich. Als sie am nächsten Morgen ihre Tasche zum Bahnhof schleppte, lag dichter Nebel über der kleinen Stadt.

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MARIELUISE BERNHARD-VON LUTTITZ Nur eine Zigeunerin Ich vernahm Keuchen, hastiges Treppenlaufen. Dann, als es klingelte, wußte ich schon, daß keine Fragen angebracht waren. Ich zog im Gegenteil die schweißüberströmte Frau eilig herein. Sie zerrte das verstörte Kind hinter sich her, dem ich mit einem Bonbon das Weinen erstickte. Beide preßten sich unter das tiefhängende Bett, das am Tag zur Couch umfrisiert war. »Hinter zur Wand!« flüsterte ich, als es ein zweites Mal klingelte. Ich ging zur Tür, keineswegs zögernd, aber auch nicht zu schnell. »Ach, Herr Blockwart«, sagte ich und bat ihn herein. »Wird schon wieder gesammelt? Wir haben doch erst …« Doch er hatte keine Sammelbüchse dabei. Im Wohnraum, der von dem anschließenden Schlafgemach nur durch einen Vorhang getrennt war, bot ich ihm eine Zigarette an. Er lehnte ab, um so gieriger zuzulangen, nachdem ich ihn freundlich ermuntert hatte. Er tat dies mit der linken Hand. Die rechte war in feindlicher Erde verfault, gleich in den ersten Wochen des Krieges. »Feindliche Erde«, so hieß es damals, ob es sich nun um Polen, Frankreich oder später um Rußland handelte. Ich reichte das Feuer und rauchte auch, obwohl 51

es mir um jedes Stück Brot oder Speck leid tat, das man für Rauchwaren einhandeln konnte. Schwarz, natürlich. Aber darum ging es jetzt nicht. Es galt, gemeinsames Tun herzustellen, das auf gleiche Gesinnung schließen ließ. Dann entschuldigte ich mich. »Einen ganz kleinen Augenblick nur.« Ich streifte die Schürze ab und stellte in der winzigen Küche, einer Kochstelle eher, den Gashahn auf Klein. Weißkohldüfte breiteten sich aus. In jenen Jahren bewirkten – sonst bekanntlich verpönt – Essensgerüche allein schon Lust. Man sog sie wie Veilchenwürze ein. Ich brüstete mich: »Einen riesigen Kopf habe ich heute früh auf dem Markt erwischt. Ich war natürlich ganz zeitig da. Neulich durfte ich drei Stunden anstehen und kam dann mit leerem Einkaufskorb heim.« So plauderte ich. Doch der Hüter politischer Ordnung, jedenfalls was die zwei mal zwei Straßenlängen unseres Viertels und ihre Bewohner betraf, teilte meine Freude sichtlich nicht. Er räusperte sich. Er blickte streng. Er sagte: »Jemand hält hier im Haus eine Frau versteckt. Eine Zigeunerin mit ihrem Balg. Das Pack macht einem bald genauso zu schaffen wie das verfluchte Judengesindel. Man sollte sie aufhängen, allesamt.« Der Herr Blockwart wischte sich den Schweiß von der Stirn, während ich ihn ungläubig anlächelte. »Aber Herr Meier! Zigeuner? Die gibt’s 52

doch bei uns gar nicht mehr. Ich glaube, ich habe die letzten als Kind gesehen. Die treiben sich doch höchstens noch an den Grenzen herum.« Ich rückte – wie unabsichtlich – das Bild meines Mannes ins rechte Licht. Es stellte ihn in Uniform dar, wenn es auch eine andere war als die, in der sich der Blockwart – inzwischen – gefiel. Jedenfalls duldete er kein Stäubchen auf dem braunen Rock, wie auch Hosenfalte und Hakenkreuzbinde stets frisch gebügelt schienen. Sein Blick sog sich dennoch an der anderen, der grauen, für ihn verlorenen, fest. Er fragte: »Gute Nachricht, hoffe ich, vom Herrn Gemahl?« Ich erwiderte: »Nein, ich hörte sehr lange nichts«, um nunmehr selbst zum Angriff überzugehen. »Wenn Sie die Zigeunerin bei mir vermuten, Herr Meier, so schauen Sie sich um. Sie brauchen nichts zu erklären.« Er erklärte dennoch: »Es ist meine Pflicht.« »Lassen Sie sich nicht abhalten«, sagte ich. Aber es gab nicht viel umzuschauen. Wir waren das zweite Mal verbombt. Anderthalb Zimmer, wenig Hausrat. Ein Barockschrank dazwischen. »Den«, sagte ich, »haben wir als einziges Stück noch herausbekommen.« Herr Meier öffnete Küchenkasten und Kleiderschrank und den Barockschrank natürlich auch. Er schob die Gardinen vom Fenster weg und die vor der Besenecke zurück. 53

Die Felldecke lüftete ich selbst. »Wollen Sie unter das Bett schauen?« fragte ich. »Nein«, sagte er. Das Bücken fiel ihm anscheinend schwer. Endlich bat er, die Falltreppe im Flur herunterzulassen, die eine Art Bodenverschlag über der Wohnung vermuten ließ. Es gab auch einen, in dem sich weder stehen noch kauern ließ. Der Blockwart leuchtete mit der Taschenlampe die Winkel aus. Ein paar Koffer entdeckte er da. Kaum Platz für mehr. Er sah mich an. Er musterte mich, entschuldigte sich. »Tja«, sagte ich, »tut mir leid, Herr Meier.« »Mir nicht«, sagte er. »Schließlich kenne ich Sie ja als anständige Frau.« »Die ich auch zu bleiben hoffe«, erwiderte ich. Ich lauschte. Er klingelte in dem Stockwerk darunter, wo das Verhör noch schneller verlief. Ich wartete hinter den Gardinen, bis er um die Straßenecke verschwand. Das Kind war inzwischen fast blau im Gesicht. Die Mutter hatte ihm den Mund zugepreßt. Auch sie selbst rang nach Luft. Doch als ich sie stützend hochziehen wollte, blieb sie auf den Knien. Sie packte meinen Kleidersaum, meine Hand. »Gute, gute Frau! Allen Segen von Himmel über gute Frau.« »Ich kann ihn gebrauchen«, nickte ich. »Aber jetzt dürfte er Ihnen noch nötiger sein. Was haben Sie 54

vor? Wo wollen Sie hin? Hier behalten kann ich Sie nicht. Das ist Ihnen hoffentlich klar.« Die Frau fiel zurück. Sie schlug die knochigen Hände vor ein Gesicht, das von Hunger und Elend gezeichnet war. Strähniges Haar bedeckte die Stirn. Ich teilte meinen Weißkohl mit ihr und mit dem Kind. Dann wiederholte ich, wenn es dunkele, müsse sie gehen. Sie schrie auf: »Wohin?« Ich verlor meine Haltung. »Schreien Sie nicht so! Sonst setze ich Sie gleich an die Luft.« Die Wände hatten schon lange Ohren. Keiner traute dem anderen mehr. Ich wußte natürlich genau Bescheid: Juden und Zigeuner waren vogelfrei. Wer den einen oder anderen Zuflucht bot, machte sich als Volksverräter verdächtig und hatte ähnliches Geschick zu erwarten. Die Frau schluchzte nur noch in sich hinein. Sie drückte ihr zwei- oder dreijähriges Mädchen an sich, das sich auf einmal seltsam apathisch gab. Die Nazis hatten den Sohn in ein Strafbataillon an die Front geschickt, den Mann bald darauf ins KZ gesperrt. Pferde und Wagen nahmen sie mit. Die Frau ließ man laufen. Sie verbarg sich Tage und Nächte im Wald – mit dem Kind. Wenn es dämmerte, kroch sie an den Gehöften des Dorfes entlang. Die Bauern jagten sie zankend davon. Nur die Bäuerinnen, die jungen vor allem, ließen sich heimlich und schnell in die Hände schauen. Sie wenigstens tauschten die Weissagung von Glück und Reichtum gegen 55

ein Stück trockenes Brot, einen Teller Essen, eine Nacht im Heu. Es herbstete, und die Verfolgten suchten in die Stadt zu entkommen, wo es doch so viele Menschen gab. Wer achtete da auf den einzelnen? Nun, auf sich achtete man. Ihre Blicke verbrannten mich jetzt fast. Sie riß sich ein kleines Kreuz vom Hals und hielt es mir hin. »Da, Frau! Da! Behalten, bitte. Für eine Nacht. Daß Kind schlafen kann. Kind krank. Kind nicht gesund. Kind immer Fieber. Und hat Angst, immer Angst. Kind nicht mehr richtig im Kopf.« Ich glaubte es. Ich glaubte es ja. Ich brauchte gar nicht mehr hinzuschauen. Wir hatten Mitwisser, als am Abend die Freunde kamen, verläßliche Freunde, ganz und gar. Vielleicht wußten sie Rat? Sie steckten der Frau einen Geldschein zu, und sie fuhren dem Kind über das Haar. Doch zu mir sagten sie: »Bist du verrückt? Du bringst dich um Kopf und Kragen, und nicht nur dich. Deinen Mann und deine Brüder dazu. Oder weißt du noch nichts von Sippenhaft? Das ist kein Mut mehr. Du verhältst dich den Deinen gegenüber verbrecherisch. Und glaube nur nicht, daß du dem Meier trauen kannst. Der steckt selbst voller Angst bis zum Hals, weil seine Schwiegergroßmutter Jüdin ist.« Sie trugen dick auf, um mich zu bekehren, flüsternd, während noch immer das Radio lief. Die Zigeunerin wiegte ihr krankes Kind. 56

»Ja, ja«, sagte ich. »Geht ihr nur jetzt. Hoffentlich gibt’s keinen Alarm heute nacht.« Aber es gab ihn, vor Mitternacht noch. Die Sirenen heulten in der gleichen Minute, als die fremde Frau ihr Kind schüttelte. Sie schüttelte und rüttelte es, als habe sie es mit einer Sofapuppe zu tun. Dem Mädchen war das Haupt zur Seite gefallen. Rotes Gerinnsel lief ihm aus dem Mund. Die Frau gab einen irren spitzen Schrei von sich. Das Kind war tot. Die Nachbarn klopften zum zweitenmal. Man hatte mich im Keller vermißt. »Was ist denn mit Ihnen? Großalarm! Der Blockwart hat schon nach Ihnen gefragt. Wenn Sie nicht kommen, holt er Sie!« Der Blockwart pflegte von Haus zu Haus zu gehen, ungeachtet der eigenen Gefahr. Er hatte sich auch dies zur Pflicht gemacht: Er stellte fest, wer nicht im Keller anwesend war. Denn es gab welche, die mochten nicht mehr. Die ließen’s darauf ankommen. Die blieben im Bett. Aber das sollten sie nicht. Das durften sie nicht. Ihr Leben gehörte nicht ihnen, sondern dem Volk. Der Volksgemeinschaft, der wir alle verpflichtet waren. So wurden wir ja doch laufend belehrt. Die Bomber waren in jener Nacht wie das Jüngste Gericht über der Stadt. Einschlag folgte auf Einschlag. Ganze Häuserreihen fielen krachend in sich zusammen. Aus anderen schlugen die Lohen wie Fackeln heraus. Der Himmel sah aus, als habe ihn einer blutig gespuckt. Das meinte ein Pimpf, der schreiend von draußen kam. Etliche stürzten hingegen ins 57

Freie hinaus. Sie konnte auch der Luftschutzwart nicht mehr halten. Sie wollten lieber von berstenden Balken erschlagen werden, als im Haus unter Trümmern begraben zu sein. Doch dann hasteten sie auch schon wieder zurück. »Es brennt. Es brennt. Bei Ihnen da oben! Unter dem Dach.« Sie zeigten auf mich. Ja, unter dem Dach wohnte ich. Die Luftschutzmannschaft, die im Laufe der Jahre mehr zu einer Luftschutzfrauenschaft geworden war, stolperte die Treppe hinauf. Ihr oblag zu retten, was noch zu retten war, und vor allem das übrige Haus zu bewahren. Ich war unter ihnen. Der Barockschrank trotzte noch unversehrt. Nur die Gardinen hatten Feuer gefangen, und die Frau, die mit dem Kind auf dem Arm am Fenster stand, brannte lichterloh. Zum Helfen war es bereits zu spät. Die Flammen sättigten sich an ihr, bis sie unkenntlich vornüberfiel. Im Keller glotzten mich alle an. Ihr Blick war nicht gut. »Mein Gott«, fragte jemand, »wer war denn das?« »Das war«, sagte ich und sah dem Blockwart fest ins Gesicht, »das war nur eine Zigeunerin.«

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HANS-CHRISTIAN KIRSCH Der Mann mit dem einen Arm Ich habe einmal einen Mann gekannt, der war noch jung zu der Zeit, als der letzte große Krieg anfing in Europa. Ich war damals noch ein Kind. Ich kam gerade in die Schule. Der junge Mann meldete sich freiwillig zu den Soldaten. Der junge Mann und ich lebten damals im Großdeutschen Reich, und Deutschland machte Krieg mit einem Land nach dem anderen, um noch größer zu werden. Es gab zu Anfang viele Siege. Bei jedem Sieg spielten sie im Radio eine Fanfare. Da lief ’s einem kalt über den Rücken, aber es war so schön und feierlich wie zu Weihnachten, wenn die Tür zu dem Zimmer aufgemacht wird, in dem beschert wird. Damals sagten die Erwachsenen den jungen Männern, es wäre tapfer und mutig, wenn man in den Krieg ziehe und andere Menschen totschieße, die keine Deutschen waren, sondern Untermenschen. Ich hatte keine Ahnung, was Untermenschen wohl für Leute wären. Ich dachte mir, die wohnten vielleicht unter der Erde und sähen ganz schwarz aus. Aber ich wußte, wer gut traf und viele totschoß, bekam einen Orden, und dann bewunderten ihn alle Leute sehr, wenn er auf Urlaub kam. 59

Manchmal kam der Orden auch ohne den jungen Mann zurück. Dann weinten die Frauen und die Großväter, aber in der Zeitung stand bald darauf eine Anzeige, in der zu lesen war, wie stolz sie auf ihre Trauer waren. Das begriff ich nicht so ganz, aber ich nahm es eben hin, wie manches, was einem unerklärlich bleibt bei den Großen. Also, ich bewunderte diesen jungen Mann sehr, als ich in die erste Klasse ging. Als ich in die zweite Klasse kam, hatte er inzwischen noch mehr Orden. Es hieß, er wäre schneidig, und sofern das möglich ist, bewunderte ich ihn noch mehr. Auch in der dritten Klasse noch. Ich wollte so werden wie er. Daß man Leute totschießen muß, um Orden zu bekommen, war mir zwar etwas unangenehm. Ich hatte meine Zweifel, ob ich das fertigbringen würde. Der Knall – man erschrickt. Der Rückstoß des Gewehres oder der Pistole. Man läßt vielleicht die Waffe aus der Hand fallen und ist blamiert. Aber ich redete mir dann ein: wenn du erst einmal groß bist, wirst du das schon lernen. Dann bist du stärker, kannst härter zupacken und erschrickst vielleicht nicht mehr so sehr bei dem Knall. So mußte es wohl sein. Ich kam in die vierte Klasse. Da war der Krieg aus. Was den jungen Mann anging, so hatte er Glück gehabt. Von ihm kamen nicht nur die Orden zurück. Er selbst kehrte heim, wenngleich abgemagert, abgerissen, nach langer Gefangenschaft – und 60

nur noch mit einem Arm. Er beklagte sich darüber, wie hart er in Rußland habe schuften müssen, wie wenig es zu essen gegeben habe. Ich bewunderte ihn jetzt nicht mehr: denn erstens wußte ich inzwischen aus eigener Erfahrung, wie es ist, wenn man zu denen gehört, die von Soldaten gejagt und totgeschossen werden sollen. Und außerdem: mit dem einen Arm, in den abgerissenen Kleidern und mit seinen eingefallenen Wangen sah er eher mitleiderregend als bewunderungswürdig aus. Aber ich konnte auch nicht so recht Mitleid für ihn empfinden wie manche andere. Wir verloren uns dann aus den Augen. Erst fünfundzwanzig Jahre später sahen wir uns zufällig wieder. Er war, nun sagen wir, irgend etwas; es spielt keine Rolle, welchen Beruf er ausübte. Ich will deswegen mich nicht mit allen Beamten, noch mit allen Milchmännern, noch mit allen Lastwagenfahrern anlegen. Wichtig für diese Geschichte ist auch nur, daß er einen Beruf hatte, in dem man genug Geld verdiente, um sich etwas zu essen und trinken zu kaufen, ein Haus zu bauen, seine Kinder auf gute Schulen zu schicken und ein Auto zu fahren. Wir trafen uns, und wir redeten so, wie man eben redet. Von alten Zeiten und den neuen Zeiten, in denen so vieles anders geworden war. Von der kranken Tante und vom Erfolg. Dann erzählte er mir, daß er wieder Soldat sei. Nein, nicht im Hauptberuf und nicht Soldat. Reserveoffizier. Das ist jemand, 61

der Ferien nimmt, um Offizier zu spielen, könnte man sagen. Ich blickte fragend auf den leeren Ärmel an seiner Jacke. »Du, mit dem einen Arm?« Ich fand das einfach verrückt. »Jemand muß sich darum kümmern«, entschuldigte er sich. Ich wußte nicht mehr, was ich sagen sollte. »Na ja«, fügte er immer noch etwas verlegen über meine Bestürzung hinzu. »Da krieg’ ich später mal mehr Geld, wenn ich mal pensioniert werde. So mußt du das sehen.« Es verging einige Zeit, in der wir uns nur gelegentlich begegneten. Dann kam jener August, da die russischen Truppen in Prag einmarschierten. Wir saßen an einem dieser Abende zufällig zusammen vor dem Fernsehapparat und sahen uns die Nachrichten in der Tagesschau an. Man sah junge Männer, die sich um die Panzer drängten und mit den russischen Soldaten, die das Land plötzlich besetzt hatten, diskutieren wollten. Der Mann, den ich einmal bewundert hatte, der junge Mann, der jetzt schon ein älterer Herr ist, der Mann, der nur noch einen Arm hat, dessen anderer Arm irgendwo in Rußland abgeschossen wurde und verfault ist, der Mann, der genügend verdiente, der Mann, der wieder Soldat wurde, um einmal noch mehr zu verdienen, Reserveoffizier – dazu reicht offenbar auch ein Arm aus, wenn man nur einen eisernen Willen hat und eine schar62

fe, durchdringende Stimme –, dieser Mann sagte plötzlich, als wir die Bilder in der Tagesschau sahen: »Bewunderungswürdig diese Russen … Welch eine Disziplin. Wäre ich mit meinen Männern dort gewesen, ich hätte nicht lange gefackelt. Dreimalige Aufforderung und dann … Feuer frei, aber nicht über die Köpfe hinweg, sondern mitten hinein in die Menge!« Ich habe nichts gesagt, verdammt. Mir ist nicht das passende Wort eingefallen. Mir graute vor diesem Mann. Ich gehe ihm seither aus dem Weg. Ich mache einen Bogen um ihn. Aber solche wie ihn gibt’s mehr als man denkt. Und man kann ja schließlich nicht um alle einen Bogen machen. Übrigens sah ich im Fernsehen einen Bericht aus Washington. Da zogen junge Männer in abgerissenen Uniformen, manche an Krücken, andere waren unrasiert, zu dem vornehmen Haus mit der leuchtend weißen Kuppel und dem Säulenvorbau, in dem das Parlament tagt. Es waren Soldaten, die aus dem Krieg in Vietnam heimgekehrt waren und die Schandtaten dieses Krieges nicht vergessen konnten. Man hatte ihnen für die Schandtaten, die man ihnen dort zu begehen befohlen hatte, Orden verliehen. Sie trugen sie an ihren verdreckten Uniformjacken, während sie zum Kapitol marschierten. Und als sie dort angekommen waren, rissen sie die Orden ab, nahmen sie und schmissen sie über den Zaun in den Dreck. 63

Manchmal, glaube ich, gibt es doch noch eine Hoffnung. Es waren tapfere Männer, manche hatten auch nur noch ein Bein oder einen Arm.

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HANS PETER RICHTER Liebesgeschichte Am späten Nachmittag hatte es aufgehört zu regnen. Die nasse Straße glänzte schwarz; es tropfte von Vorsprüngen und Traufen; die Dämmerung schlich in die Stadt. Wer nicht nach Hause eilte, schlenderte und genoß die saubere Luft, die ein leichter Wind in die Klüfte zwischen den Mietshäusern trieb. »Klapp mir den Kragen hoch«, befahl der Mann und blieb stehen. Die Frau gehorchte. Dann setzte sie stumm den Weg an seiner Seite fort. Ihre Stirn war gefurcht; ihre Blicke hafteten am Boden. Erst das Lachen zweier junger Männer ließ sie aufmerken. Die beiden lehnten in einer Toreinfahrt. Vor Wind und Nässe geschützt, erzählten sie unbekümmert, was sie von den Vorübergehenden dachten. Müde musterte die Frau die lachenden jungen Männer. »Die gefallen dir«, warf ihr der Mann verbittert vor. Sie antwortete nicht. »Ich sehe doch, was los ist«, behauptete er gereizt. »Gesunde junge Männer, da guckst du hin.« Die Frau senkte den Kopf. »Gib es doch zu«, steigerte sich der Mann. Seine 65

Stimme zitterte. »Du …« »Laß das eifersüchtige Gezänk«, bat sie ruhig. Wortlos gingen sie weiter; sie näherten sich einer Ecke. Die Frau faßte ihren Mann bei der Schulter und verlangsamte ihren Schritt. Unwillig versuchte er, die Hand abzuschütteln. Er betrat die Fahrbahn. »Laß das!« zischte er. Aber sie zog ihn zurück. Nachdem sie sich vergewissert hatte, daß kein Fahrzeug in der Nähe war, schob sie ihren Mann sacht voran. Sie führte ihn über die Straße bis in den Lichtkreis der Leuchtschrift auf der gegenüberliegenden Seite. Der Name einer Gastwirtschaft spiegelte sich in den regenfeuchten Platten des Gehsteigs. Er färbte Boden, Häuserfront, Kleidung und Gesichter grün. Der Mann trat an den kleinen Aushangkasten; er prüfte die Preise der Speisekarte. Von drinnen drang ihm Stimmengewirr entgegen. »Hast du Geld bei dir?« fragte er seine Frau. »Ja«, erklärte sie gleichgültig. »Komm«, forderte er sie auf und steuerte dem Eingang zu. »Ich möchte unter Menschen sein.« Ohne ein Wort ging sie vor, öffnete, raffte den Windvorhang beiseite und hielt die Tür offen. Laut und gewohnheitsmäßig grüßte der Wirt vom Schanktisch her. Die meisten Gäste standen dort, tranken und unterhielten sich lärmend. Niemand unter ihnen 66

beachtete die Eintretenden. Hinter ihrem Mann schloß die Frau die Tür; sie nahm ihm den Hut vom Kopf. Den Hut in der Hand, suchte sie Platz. Nur wenige Tische waren besetzt. Sie wählte eine Nische, halbdunkel, nur vom Schanktisch aus eingesehen. Ihrem Mann half sie aus dem Mantel. Während er sich hinter den Tisch setzte, hängte sie seinen Mantel an einen Haken und stülpte den Hut darüber. Ihre Jacke behielt sie an. Als auch sie saß, kam der Wirt. »Guten Abend, die Herrschaften!« Ohne seine Gäste anzuschauen, knickte er einen Bierdeckel und fegte damit über die weißgescheuerte Tischplatte. »Was darf es sein?« »Haben Sie Wein?« erkundigte sich der Mann. Ohne eine Antwort zu geben, holte der Wirt vom Nebentisch eine Getränkekarte und stellte sie vor den Gast. Aber die Frau griff danach. Sie hielt die Karte so, daß auch ihr Mann sie lesen konnte. Der Mann beugte sich vor. Mit der Brust lehnte er sich gegen die Tischkante und überflog das Angebot. Dann bestellt er: »Zwei Glas Mosel.« Der Wirt zerbrach den Bierdeckel und steckte ihn in seine Schürzentasche. »Zwei Mosel«, wiederholte er und wollte sich umwenden. »Und einen Strohhalm, bitte«, fügte die Frau noch hinzu. Der Wirt drehte den Kopf zurück. Er betrachtete 67

die Frau. »Einen Strohhalm?« Seine Mundwinkel verzogen sich. »Ja, bitte«, beharrte die Frau, »zwei Mosel und einen Strohhalm.« Der Wirt preßte die Lippen aufeinander. Wortlos verließ er den Tisch. Er ließ sich Zeit, ehe er den Wein brachte. Als er die Gläser absetzte, betonte er nachdrücklich: »Zwei Mosel«, machte eine Pause, »und einen Strohhalm.« Dabei legte er den Strohhalm neben das Glas der Frau. Sie bedankte sich nickend und lächelte kaum merklich. Während der Wirt zum Schanktisch zurückkehrte, riß sie das Ende der Papierhülle ab; den Rest der Hülle blies sie durch den Strohhalm mit kindlicher Freude über den Tisch fort in die Gaststube. Dann rückte sie das Weinglas des Mannes bis fast zur Tischkante vor und steckte den Strohhalm hinein. Mit den Lippen faßte der Mann das Röhrchen und begann, den Wein zu saugen. Das beobachtete der Wirt vom Schanktisch aus. Er schüttelte den Kopf. Da betrat ein Mädchen von etwa achtzehn Jahren die Gaststube. Genießerische Blicke der Trinker am Schanktisch maßen sie. Auch der Mann hob den Kopf vom Glas. Den Strohhalm behielt er im Mund und bewegte ihn auf und ab. Seine Augen tasteten das Mädchen ab. Die Lippen zitterten und teilten die Erregung dem Strohhalm mit. Das Mädchen kaufte zwei Flaschen Bier. 68

Die Blicke des Mannes folgten ihr, bis sie hinter dem Windvorhang verschwunden war. Die Frau seufzte unhörbar. Er ließ den Strohhalm zurück in das Glas fallen. »Zigarette!« verlangte er. Sie kramte in ihrer Jackentasche, schüttelte zwei Zigaretten aus der Packung und steckte ihm eine davon zwischen die Lippen. Dann suchte sie Streichhölzer, um sich und ihm die Zigaretten anzuzünden. Beide rauchten unruhig und schweigend. Sie lauschten den Gesprächen am Schanktisch. Die Gäste dort hatten schon viel getrunken. Sie feierten einen jungen Mann in ihrer Mitte. »Los, leg mal ’ne Platte auf!« rief einer dem Wirt zu. »Alte Kameraden!« Kurz darauf dröhnte der Lautsprecher: »Tam, tatatata, tam, tatatata, tamtatatatata …« Die Gäste am Schanktisch stampften im Takt mit. Sie hoben ihre Gläser und prosteten dem Jüngling zu. »Auf unseren jungen Soldaten!« Der Junge lächelte hilflos. »Wenn du die Stiefel erst einmal eingelaufen hast, macht es dir schon Spaß«, tröstete ihn einer. Ein Alter klopfte ihm auf die Schulter. »Laß dich nicht kleinkriegen«, ermahnte er ihn, bereits ein wenig lallend. »Die paar Monate schleifen dich zum Mann!« Die Zigarette im Mundwinkel des Mannes in der Nische zuckte. Er kniff die Augen zu. »Mann!« stieß er laut und angeekelt zwischen den Lippen hervor. 69

»Nimm!« fuhr er die Frau an. Sie nahm ihm die Zigarette aus dem Mund und legte sie auf den Rand des Aschenbechers. »Misch dich nicht ein«, bettelte sie leise. »Komm mit«, sagte er schroff. Absichtlich schob er seinen Stuhl so zurück, daß es kreischte; er erhob sich; mit knallenden Schritten durchquerte er die Gaststube. Alle schauten plötzlich zu ihm hin und verstummten. Der Wirt schaltete den Plattenspieler aus. Die Frau drückte ihre Zigarette in den Aschenbecher und folgte ihrem Mann. Der Mann wartete; er kehrte sich noch einmal den Gästen zu, laut und deutlich betonte er: »Mann!« Sie zögerte noch. Ihr Blick glitt über die Gesichter der Gäste am Schanktisch. Dann öffnete sie die Tür mit der Aufschrift »Damen« und ging mit ihrem Mann hinein. »Großer Gott!« stöhnte der Wirt. »Das ist mir vorhin überhaupt nicht aufgefallen! Deswegen der Strohhalm!« In die Stille sagte einer: »Die arme Frau!« »Und ihr mit eurem dummen Geschwätz!« schimpfte der Wirt. Er holte eine Flasche aus dem Kühler und füllte zwei kleine Gläser. Der Mann und die Frau betraten wieder die Gaststube. Schweigend starrten ihnen alle entgegen. Der Blick des Mannes streifte die Schweigenden 70

nur. Fest und aufrecht begab er sich an seinen Platz zurück. Die leeren Ärmel seiner Jacke schlenkerten bei jedem Schritt. Der Wirt eilte mit den beiden Schnapsgläsern hinzu. Er schob dem Mann den Stuhl zurecht. Dann setzte er die Gläser vor und erklärte: »Darf ich Ihnen dies im Auftrag der Herren da vorn bringen. Wir bitten vielmals um Entschuldigung, es tut uns leid …« Der Mann sprang auf, daß der Stuhl umkippte. »Ich verzichte auf ihr Mitleid!« schrie er den Wirt an. Die leeren Ärmel fuchtelten über dem Tisch. »Mitleid verdienen die Dummköpfe dort!« Er deutete mit dem Kinn in Richtung zum Schanktisch. »Die Dummköpfe, die glauben, erst Soldatenspielen mache zum Mann!« Sein Atem jagte; seine Stimme überschlug sich. »Da, Junge, das hat man davon!« Er schleuderte seine Ärmel in die Höhe; erregt schluchzte er auf. Verlegen rückwärtsgehend wich der Wirt vom Tisch. Niemand sagte ein Wort. Man hörte nur das heftige Atmen des Ohnhänders. Seine Frau bückte sich und hob den umgestürzten Stuhl auf. Ruhig redete sie auf ihn ein: »Sie haben es doch nicht so gemeint.« Sie drückte ihn bei den Schultern auf seinen Platz. »Was quatschen sie denn so«, stammelte er, »was quatschen sie denn so, wenn sie es nicht meinen!« Die Gäste am Schanktisch zahlten und gingen 71

lautlos. Nur die Gläser klirrten, die der Wirt forträumte. Der stoßende Atem des Ohnhänders füllte die Gaststube. Seine Frau flüsterte: »Beruhige dich, bitte, beruhige dich.« Sie strich ihm über das Haar. Wie ein Kind beschwichtigte sie ihn: »Sei still. Wir gehen nach Hause. Ruhig. Ich bin doch bei dir. Mach dir keine Sorgen. Ich bleibe bei dir.«

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URSULA WÖLFEL Die Tante, Rudi, eine Verweigerung Es fiel ihr jetzt immer schwerer, morgens pünktlich im Amt zu sein und ihre drei Zimmer in der gewohnten Ordnung zu halten. Sie ging auch seit einiger Zeit nicht mehr oft genug zum Friseur. Sie trug Röcke, die ihr zu eng geworden waren, und trotzdem kaufte sie sich jeden Tag nach dem Dienst Kuchen. Ihre knochige, derbe Figur war jetzt teigig auseinandergegangen. Seit beinahe dreißig Jahren war sie Postbeamtin, und seit ungefähr ebenso langer Zeit war sie »die Tante« für elf Nichten und Neffen. Früher hatte sie ihnen Höschen, Jäckchen und Mützchen gestrickt, dann war sie mit ihnen in den Zoo, zum Rummelplatz und manchmal auch zum Zahnarzt gegangen. Sie hatte mit Lob, Tadel und Ehrgeiz ihre Schulerfolge beobachtet, sie hatte ihnen für Partys, Reisen, Motorradreparaturen und Kleider Geld zugesteckt. Nun waren sie fast alle erwachsen und verheiratet. Sie besuchten die Tante immer seltener, und eines Tages würden sie wohl ganz wegbleiben. Für ihre kleinen Kinder interessierte die Tante sich wenig. Ihre Tantenzeit sei vorbei, meinte sie selbst. Sie blieb jetzt an den Wochenenden auch lieber zu Hause vor dem Fernsehapparat, obwohl sie nun ein 73

Auto hatte. Nur Birgit und Rudi kamen noch regelmäßig, die Kinder ihres jüngsten Bruders. Mit der Schwägerin verstand die Tante sich nicht gut, seit Erwin sich von seiner Frau getrennt hatte. Sie sahen sich kaum einmal im Jahr. Birgit war jetzt zwölf Jahre alt, aber sie wirkte wie fünfzehn. Die Tante schenkte ihr mehr Geld und Kleider als je den anderen Nichten, denn sie mochte Birgit nicht. Rudi hatte einmal von Birgit gesagt: »Die ist wie dem Kasperle seine Gretel.« Das war so Rudis Art. Manchmal sagte er etwas, das war wie der letzte Satz einer langen Rede – oder wie der erste. Das übrige mußte man erraten. Er hatte recht, so war Birgit: geschwätzig und laut, und sie neigte zum Jammern und Zetern. Aber im Grunde war sie wohl ganz gutmütig. In den ersten Jahren nach seiner Schulentlassung kam Rudi fast jede Woche einmal zur Tante. Er blieb meist kaum länger als eine halbe Stunde, saß nur da und ließ sich von ihr unterhalten und schien sich wohl zu fühlen. Die Tante wußte wenig von ihm. Als er die Lehrstelle wechselte, erfuhr sie das von anderen. Und als sie ihn danach fragte, sagte er nur: »Ja, das stimmt.« Und zur Begründung: »Ich konnte da nicht länger bleiben.« Mehr erzählte er nicht. Vor sieben Monaten mußte Rudi zum Wehrdienst, und seitdem war er nur zweimal zu seinen kurzen, schweigsamen Besuchen gekommen, im74

mer in Zivilkleidern. Die Tante hätte ihn gern einmal in Uniform gesehen. Und nun, an einem Freitagabend, kam Birgit und sagte: »Du solltest mal mit dem Rudi sprechen, Tante. Der spielt verrückt. Wenn er Wochenendurlaub hat, dann fährt er einfach nicht wieder zurück in die Kaserne. Jedesmal macht er das so. Nachher kommen immer die Feldjäger und holen ihn, und dann muß er ins Loch. Das letztemal hatte er sogar drei Wochen Bau, das hat er selbst erzählt. Die Nachbarn zerreißen sich schon das Maul. Wie ein Verbrecher wird er abgeführt. Aber auf uns hört er ja nicht.« »Und weshalb tut er das?« fragte die Tante. »Das sagt er nicht. Kein Wort. Morgen kommt er wieder, er hat eine Postkarte geschrieben. Und bestimmt wartet er wieder, bis sie ihn holen, da kannst du Gift drauf nehmen. Der ist so stur wie ein Affe.« Birgit leckte sich die Lippen, und ihre Augen glänzten. Wahrscheinlich übertreibt sie, dachte die Tante. Das alles paßt doch gar nicht zu Rudi. Der hat schon als Kind niemals auffallen wollen. Wenn sie ihm Kleider schenkte, durfte es nichts besonders Buntes oder Modisches sein. Sie sagte: »Er soll mich doch mal wieder besuchen. Sag ihm das.« Sie schenkte Birgit ein Fünfmarkstück und schickte sie nach Hause. 75

Rudi kam nicht. Am Sonntagnachmittag überlegte die Tante, ob sie zur Schwägerin fahren sollte. Aber dann konnte sie doch ihre Sonntagsträgheit nicht überwinden. Außerdem hatte sie Rudi ja eingeladen. Wenn er nicht kommen wollte, hatte er wohl keine Lust, sie zu sehen. Vielleicht war er jetzt auch schon längst wieder fort. Aber am Montag kam Birgit zu ihr ins Amt. »Hast du keine Schule?« fragte die Tante. Birgit flüsterte: »Er ist immer noch da! Ob du nicht schnell mal kommen könntest? Ich gehe erst in die zweite Stunde, die Mama hat mir eine Entschuldigung geschrieben. Kommst du? Auf dich hört er vielleicht. Er soll wegfahren, ehe die Feldjäger ihn wieder holen.« Die Tante sagte den Kollegen etwas von Zahnschmerzen, und in einer Stunde wolle sie wieder zurück sein. Zum erstenmal entschuldigte sie sich im Dienst mit einer Lüge. Sie traf Rudi zu Hause in der Küche. Er rauchte und las die Zeitung. Als die Tante kam, wurde er rot. Er rückte die Stühle am Tisch zurecht und holte ihr den Sessel vom Fenster. Sie sagte: »Ich dachte, du würdest mich mal wieder besuchen. Hat Birgit das nicht ausgerichtet?« »Die hat dir wohl allerhand von mir erzählt, die Birgit?« fragte er. Die Schwägerin rief: »Gleich kommen sie wieder und holen ihn. Rudi! Gleich kommen sie, und du kriegst wieder Strafe!« 76

»Wenn schon«, sagte er. »Macht dir das gar nichts aus?« fragte die Tante. »Mir stinkt das eben alles. Wenn sie mich holen, muß ich. Aber freiwillig gehe ich nicht.« Die Tante sagte: »Jeder muß seine Pflicht tun, ob dir’s nun paßt oder nicht, jetzt bist du einmal dabei. Du kannst dich nicht einfach drücken.« »Ja, ja«, sagte er, »weiß ich.« Er blätterte in der Zeitung. »Alle müssen doch zur Bundeswehr«, sagte die Schwägerin. »Alle nicht. Und manchen macht es ja auch Spaß. Mir eben nicht.« Die Tante riß ihm die Zeitungsblätter weg. »Laß das! Auf deinen Spaß kommt es nicht an. Es ist ein Gesetz! Kapierst du das nicht?« Er nahm eine Zigarette aus dem Päckchen. Seine Hände zitterten. Er hob den Kopf und sah die Tante an, als wollte er etwas sagen. Dann zuckte er mit den Schultern und schwieg. »Los!« sagte die Tante. »Ich habe das Auto unten. Wir fahren zum Bahnhof. Los! Pack deine Sachen! Du kannst sagen, du wärst krank gewesen, vielleicht ist es dann nicht so schlimm.« »Soll die Mama mir eine Entschuldigung schreiben wie der Birgit? Und meinst du, die würden mir das glauben? Mir? Ich bin doch schon Stammgast im Kasten. Ist ja auch gar nicht so schlimm. Die sind ganz nett, die Wachleute da.« »Also gut«, sagte sie, »dann viel Vergnügen!« 77

Wütend und unzufrieden mit sich selbst fuhr sie zum Amt zurück. Weshalb hatte sie sich da überhaupt eingemischt? Schließlich war Rudi jetzt ein erwachsener Mann. Und gedankt wurde einem so etwas schon gar nicht. Aber sie mußte den ganzen Tag an Rudi denken. Mit den Kollegen oder mit ihrer Freundin vom Fernmeldeamt mochte sie nicht darüber sprechen. Sie schämte sich für Rudi. Was war denn nur aus ihm geworden? Ein liederlicher Kerl, ein Faulpelz, ein Mensch ohne Zucht und Pflichtgefühl. Immer wieder kam ihr der Zorn hoch. Aber dann fuhr sie nach dem Dienst doch wieder zur Schwägerin. Die Feldjäger hatten Rudi schon bald nach ihrem Besuch abgeholt. Und wie immer war er ohne Widerrede mitgegangen. »Das nächstemal wird’s schlimm. Dann muß er vor Gericht!« sagte Birgit. »Aber das ist dem Rudi auch egal. Dem ist einfach alles egal.« Die Tante schickte Rudi ein Päckchen mit Zigaretten und Schokolade und schrieb einen kurzen, freundlichen Brief dazu. Er antwortete nicht. Also gut. Wenn er nicht wollte, daß man sich um ihn kümmerte – sie konnte das auch lassen. Acht Wochen später, an einem Samstag, kam Birgit wieder, atemlos vor Aufregung. Gestern abend sei Rudi gekommen, richtig auf Urlaub, jedenfalls habe er das gesagt. Er wolle aber nur schnell seine Sachen packen und heute zum Onkel in den 78

Harz fahren. Birgit weinte jetzt. »Und dann sind die Feldjäger wieder gekommen, heute, und er hat sie gesehen, vom Fenster aus, zufällig. Und er ist weg, durch die Waschküche und über den Hof und dann durchs Nachbarhaus auf die Straße. Aber die kennen ihn ja alle schon, die Feldjäger. Sie sind hinterher, und jetzt sitzt er in einer Schrebergartenbude, da hat er sich eingeschlossen, und wenn sie zu nahe herankommen, hat er geschrien, dann erschießt er sich selbst!« Die Tante lief mit Birgit zu den Schrebergärten. Die Schwägerin war schon dort, und viele Kinder und Erwachsene standen auf dem breiten Mittelweg um einen Jeep. Drei Feldjäger waren da. Zwei lehnten am Zaun, einer stand im Jeep auf dem Fahrersitz. Er rief durch ein Megaphon: »Rudi, komm raus! Mach doch keine Dummheiten! Komm raus, Mensch!« Ein Mann mit einem roten Gesicht sagte: »Das ist ein Deserteur! Dem blüht was, wenn sie ihn haben. Im Krieg, da hat man mit solchen Kerlen kurzen Prozeß gemacht!« Rudis Mutter fing laut an zu weinen. »Idiot!« sagte die Tante. »Jetzt ist kein Krieg.« Sie wollte an den Feldjägern vorbei zur Gartenhütte. Aber einer hielt sie am Arm fest. »Der Mann ist bewaffnet.« »Meine Verantwortung!« sagte sie. »Ich bin seine Tante. Ich muß mit ihm reden.« »Auf seine Mutter hat er auch nicht gehört«, sagte 79

der andere Feldjäger. »Und ich bin eine Beamtin!« sagte sie, riß sich los und rannte auf die Hütte zu. Im Laufen versuchte sie, den aufgeplatzten Reißverschluß am Rock hochzuzerren. Hinter ihr rief jemand: »Paß auf, Rudi! Die Tante kommt! Jetzt kannst du was erleben!« Und einige lachten. Sie schlug mit der Faust an die Hüttentür. »Rudi! Ich bin’s, die Tante! Mach auf!« Er antwortete nicht. »Bist du da, Rudi? Sag doch irgend etwas.« »Ja«, sagte er. Sie hörte, daß er dicht hinter der dünnen Bretterwand stand. »Ich verstehe das alles nicht. Ist es denn so schlimm in der Kaserne? Hast du Streit mit den Kameraden? Oder liegt es an deinen Vorgesetzten, an den Offizieren?« »Nein«, sagte er. »Es ist das Ganze. Ich will nicht.« »Ich will nicht! Du bist doch kein kleines Kind mehr!« Er sagte: »Und was man da alles lernen muß.« »Also nichts als Bequemlichkeit?« rief sie. »Du warst doch früher nicht so.« Er schwieg. Sie zerrte wieder am Reißverschluß. Sie sagte: »Da hinten stehen sie alle und gaffen. Mach doch keine Schau, Rudi!« »Schau?« schrie er und stieß mit dem Fuß gegen 80

die Tür. »Schau? Hast du eine Ahnung!« Und dann sagte er leise: »Hat ja alles keinen Zweck.« Er kam heraus und sah sie nicht an. Sofort waren die Feldjäger da. Rudi hatte keine Waffe, auch in der Hütte war keine. Sie führten ihn zum Jeep. Einer bot ihm Zigaretten an. Er nahm eine, behielt sie aber in der Hand. Er sah nicht, daß der Fahrer ihm sein Feuerzeug geben wollte. Die Tante zog den Pullover über den verklemmten Reiß Verschluß und fragte die Feldjäger: »Wer von Ihnen ist der Offizier?« »Ich«, sagte einer, ein kleiner mit einem runden, fröhlichen Gesicht. Sie fragte: »Er kann doch immer noch den Wehrdienst verweigern? Stimmt das?« »Natürlich kann er das«, sagte der Mann. »Er soll nur mal den Mund aufmachen.« Die Schwägerin weinte wieder. »Er hat Heimweh!« rief sie. »Es ist das Heimweh!« Rudi sagte: »Reg dich mal nicht auf. Ich hab’ kein Heimweh.« Die Tante drängte sich zum Jeep. »Du hast es gehört«, sagte sie. »Du mußt jetzt endlich reden. Wenn du den Wehrdienst verweigern willst – gut. Aber alles muß seine Ordnung haben.« »Laß doch«, sagte Rudi. »Laßt mich doch alle in Ruhe!« »Drecksack!« schrie der Mann mit dem roten Gesicht. »In Ruhe willst du gelassen werden? Du 81

mieser Hund! Keine Ehre im Leib! Kriegsdienstverweigerer? Hosenscheißer, sag’ ich!« Rudi dreht den Kopf weg. »Da, nimm!« sagte der Fahrer und schob ihm das Feuerzeug in die Hand. »Sehen Sie?« sagte der Offizier. »Wir fressen ihn nicht.« Dann fuhren sie weg. Die Tante nahm die Schwägerin und Birgit mit sich nach Hause und kochte Kaffee. »Jetzt wird er wohl zur Vernunft kommen«, sagte sie. Aber das glaubte sie selbst nicht. Sie dachte: Er ist unglücklich, er ist verzweifelt. Warum will er kein Soldat sein? Manche verweigern den Wehrdienst, weil sie nicht töten wollen. Aber besonders fromm war er nie, und sanftmütig ist er eigentlich auch nicht. Sie erinnerte sich, daß Rudi früher oft bei schweren Prügeleien mitgemacht hatte. Er war jähzornig, schon als Kind. Einmal mußte sie ihm achtzig Mark geben, weil er dem Gesellen in der Werkstatt die Brille zerschlagen hatte. »Der?« sagte die Schwägerin. »Der ist wie sein Vater. Der Erwin wollte auch nicht zur Vernunft kommen. Ich habe immer zum Rudi gehalten, die ganze Zeit. Und dann sagte er: ›Ich hab’ kein Heimweh!‹ Vor allen Leuten!« »Es muß etwas anderes sein«, sagte die Tante. »Der ist bloß eigensinnig. Wie der Erwin, genau wie der Erwin.« Und sie stritten sich bis zum Abend. 82

Deshalb erfuhr die Tante in der nächsten Zeit nichts mehr von Rudi. Sie mochte die Schwägerin danach nicht besuchen, und Birgit kam nicht mehr. Sie schrieb an Rudi. Vielleicht wurde seine Post jetzt gelesen, darum schrieb sie mit Absicht: »Wenn es eine Verhandlung gibt, kannst du mich als Zeugin kommen lassen. Ich weiß, daß du ein anständiger Junge bist. Das werde ich aussagen. Vielleicht hilft dir das. Schließlich bin ich seit achtundzwanzig Jahren Beamtin und habe immer meine Pflicht getan.« Für den letzten Satz schämte sie sich später, aber da war der Brief schon unterwegs. Wieder kam keine Antwort. Aber die Tante erwartete jetzt eine Vorladung. Sie kaufte sich ein neues Kostüm, streng und dunkel, und sie ging wieder jede Woche zum Friseur. Sie holte sich auch keinen Kuchen mehr. Sie fragte in einer Buchhandlung nach einem Buch über Wehrdienstverweigerung. Das fiel ihr schwer, aber sie tat es und las das Buch und machte sich Notizen. Sie sprach jetzt auch mit den Kollegen über Rudi und ließ sich Ratschläge geben. Noch einmal schrieb sie ihm und fragte, ob sie ihn besuchen dürfe. Es gebe jetzt doch so manches zu besprechen. Keine Antwort. Sie fuhr zur Schwägerin und entschuldigte sich für den Streit. Auch seiner Mutter hatte Rudi nicht geschrieben. Es war nun Sommer, und die Tante kaufte sich ein zweites Kostüm. Im Amt lächelte man über 83

sie, weil sie immer noch bei jeder Gelegenheit von »ihrer Verhandlung« sprach. Sie machte sich nichts daraus. Und dann traf sie Rudi eines Tages auf der Straße. Sie hatte eingekauft, und er nahm ihr die Tasche ab und trug sie zum Auto. Er sagte: »Du brauchst keine Angst zu haben. Diesmal bin ich nicht weggelaufen. Sie haben mich vorzeitig entlassen. In Unehren.« Sie erschrak. »In Unehren? Aber das schadet dir doch? Im Beruf, meine ich?« »Kann sein. Macht nichts.« Sie war auch gekränkt und enttäuscht. »Weshalb sollte ich nicht als Zeugin kommen? Es hat doch bestimmt eine Verhandlung gegeben? Und was hast du denen gesagt?« »Nichts.« Er nahm ihr den Autoschlüssel aus der Hand und schloß den Kofferraum auf. Dann sagte er: »Du könntest dir eigentlich mal wieder ein neues Auto kaufen. Ich wüßte eins, das würde dir gefallen. Gebraucht, aber noch prima in Ordnung. Und nicht teuer.« Dann sprachen sie also von Autos. Als sie sich schon verabschiedet hatten, kam Rudi noch einmal zurück. Er klopfte an die Scheibe und wartete, bis sie das Fenster heruntergedreht hatte. »Die reden immer von Feuerwehr«, sagte er. »Aber die Feuerwehr steckt doch keine Häuser an. Das lernt man nicht bei der Feuerwehr.« Dann ging 84

er. »Warum hast du das nicht gesagt?« rief sie. Er drehte sich um. »Konnte nicht. Weißt du doch.« Sie wollte ihn einholen, aber in der Aufregung würgte sie den Motor ab. Als der Wagen endlich fuhr, sah sie Rudi nicht mehr. »Weißt du doch«, hatte er gesagt. Aber bis jetzt hatte sie es nicht gewußt. Und sie kannte ihn schon so lange! Erst in diesem Augenblick verstand sie alles: Er konnte nicht reden wie andere. Das war es. Manchmal war er einfach wie ein Stummer, wie zugestopft. Darum konnte er sich nur mit seinem Schweigen wehren. Er hatte über alles nachgedacht, monatelang, und dann hatte er keine Worte für seine Gedanken. Erst jetzt kamen sie ihm, als alles vorbei war, zu spät. Und er hatte recht. Aber sie hatte immer nur von Pflicht und Ordnung geschwätzt. Als sie an einer Bäckerei vorbeikam, parkte sie den Wagen im Halteverbot und kaufte sich Kuchen.

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JOSEF REDING Die Jäger kommen zurück Erst hatten die Jungen auf der Wiese Hockey gespielt. Eine verbeulte leere Milchdose war ihr Puck. In ihren schmalen Händen wogen die Jungen Knüttel als treffsichere Schläger. Aber die feuchte Wiese hemmte das Spiel, machte die Laufschritte schwer und die Wirkung der Hiebe gering. Unter den Schuhsohlen der Jungen schmatzte eine wassersatte Grasnarbe. Am vorletzten Herbsttag schon hatte eine daumentiefe Schneedecke auf der Wiese gelegen. Aber eine Tauwetterwoche schob sich vor den Winter und legte einen gelbgrauen Rasen bloß. Weil das entschlossen begonnene Hockeyspiel der kleinen Jungenhorde auf dieser schlammigen Fläche allmählich schwunglos und zäh wurde, brach der rothaarige Anführer es ab. Er war der jüngste von den acht Jungen auf der Wiese. Aber seine graublauen, ruhig prüfenden Augen über den dichten Siedlungen der Sommersprossen auf den Wangen machten ihn zum ältesten. So gab es erlöste Zustimmung, als der Rothaarige die Hand hob und rief: »Hat keinen Zweck mehr! Zuviel Patsche! Wir spielen lieber Krieg.« Nur einer, der mit der Kosakenmütze, machte mürrisch den Einwand: »Davon geht die Patsche 86

auch nicht weg.« Er hatte gerade den Puck ins Tor geschoben. Der Erfolg machte ihn keck. Der Rothaarige wischte den Einwand mit einer sicheren, horizontalen Handbewegung zur Seite. »Patsche ist gerade richtig für ’n Krieg«, sagte er. »Bringt die Knüppel weg und holt die Gewehre aus ’m Schuppen!« Er warf dem Jungen mit der Kosakenmütze seinen Schläger zu. »Nimm meinen Stock mit. Ich bleib’ hier. Ihr kommt ja sofort wieder.« »Soll ich dein Gewehr aus ’m Schuppen mitbringen?« fragte der Junge mit der hohen Pelzmütze. »Nicht nötig«, sagte der Rothaarige. »Hab’ meine Waffe dabei.« Er zog eine Holzpistole zwischen Pullover und Hosenbund hervor. »Offiziere brauchen keine Gewehre«, erklärte er noch. »Die haben Pistolen.« »Frag’ ja nur«, sagte der Junge mit der Pelzmütze entschuldigend. Er schulterte die beiden Hockeyknüppel und stapfte hinter den anderen her, die auf den mannshohen Verschlag am Wiesensaum zustrebten. Der Bauer hatte den kleinen Schuppen zum Unterstellen einiger Rechen, Heugabeln und Stacheldrahtrollen flüchtig gezimmert. Für die Jungen war der windschiefe Schober vor der Stadt das Hauptquartier, Zeughaus, Wigwam und Weltraumschiff, je nach Auffassung des Rothaarigen, der entsprechend jeweils als General, Chef, Häuptling oder Commander angesprochen wurde. Der Rothaarige schaute auf den gezackten Umriß 87

der Schuttaufwürfe vor dem Stadtblock. Er sah, daß das Grau im Osten dunkler wurde, und er spürte, wie der herankommende Abend Kälte mitbrachte und sich anschickte, den lauen Brodem über der abgestorbenen Wiese zu verdrängen. Der Junge ging zu den Buchen bei der Viehtränke hinüber. Er streckte die Holzpistole in die Hosentasche und sammelte dürres Astwerk, das der Herbstwind ohne Mühe aus den Baumkronen gekämmt hatte. Das Holz war feucht. Aber hinter dem Wassertrog fand der Rothaarige einen trockenen Zweig, den er in fingerlange Stücke brach. Jetzt zog der Junge ein handtellergroßes buntes Bilderheft aus der Brusttasche des Sporthemdes unter dem Pullover. Er riß bedächtig Blatt um Blatt aus der Klammerung, knäuelte das Papier leicht, legte die Kugeln auf dem Boden zusammen und schichtete darüber die trockenen Zweigstücke. Dann klaubte er eine zerdrückte Zündholzschachtel aus der Hosentasche und steckte seinen kleinen Aufbau in Brand, nachdem er mit nassem Finger die Windrichtung geprüft und sich mit dem Körper schützend über die Streichholzflamme gebeugt hatte. Als der Brand Kraft bekam, legte der Junge die stärkeren Äste zu einem dichten Spitzdach um das Feuer. Er beobachtete, wie die Hitze an den Bruchstellen des mürben Holzes schmurgelnden Schaum herauspreßte. Da sah der Rothaarige durch die zerrissenen Qualmfahnen die Gefährten vom Schuppen zu88

rückkommen. Er richtete sich neben dem Feuer auf, hob langsam die Holzpistole, schlug sie auf den Jungen mit der Pelzmütze an und rief: »Der Krieg beginnt! Jeder gegen jeden!« Der Junge mit der Pelzmütze riß sein Holzgewehr von der Schulter. Der Rothaarige machte »Pchchch! Pchchch!« und schrie: »Umfallen! Tot!« Der Junge mit der Pelzmütze ließ das Holzgewehr fallen und warf sich in das fahle, nasse Gras. Regungslos blieb er liegen; auch, als seine Pelzmütze ihm vom schräggeneigten Kopf rutschte. Der Rothaarige nickte, blies unsichtbaren Pulverdampf von der blinden Mündung der Holzpistole und blickte auf das Getümmel der schleichenden, springenden und stürzenden Leiber seiner Jungen, die sich jetzt mit vorgestreckten Holzgewehren belauerten und mit dumpfen Schimpfrufen den erwählten Feind zur Aufgabe der Deckung hinzureißen versuchten. Der Rothaarige zielte genau. Auf die Köpfe, die Hälse, die Herzen seiner Mitmacher. Und sein »Pchchch!« streckte einen nach dem anderen nieder. Da aber sah der Rothaarige die Fremden. Sie kamen in lockeren Lodenumhängen daher, moosgrün und mausgrau. In ihren Armbeugen verneigten sich bei jedem Schritt die brünierten Doppelläufe ihrer Jagdgewehre vor der Erde, auf die sie gerichtet waren. Jetzt blieben beide Jäger am Feuer stehen und blickten auf den Rothaarigen, der seine Holzpistole 89

gegen die Eindringlinge erhoben hatte. Die Jungen lösten sich voneinander und von der Erde und traten stumm zu ihrem Anführer. Von weither, aus der Richtung der Schutthalden, kläfften aufgeregte Hunde. Die Jäger sahen einander an. Der magere von beiden hatte ein gelbliches Gesicht. Der andere, der dick war und Wickelgamaschen um die Waden trug, zog eine flache Flasche mit hellbraunem Lederbezug unter dem Umhang hervor, schraubte den blinkenden Verschluß ab und reichte sie dem Gelbgesichtigen, der sie sofort an die Lippen setzte. Am hageren Hals hüpfte der Adamsapfel beim Schlucken schnell auf und nieder. Dann trank der Dicke, ohne Eile und mit einem Schnaufen des Wohlbehagens beim Absetzen der ledermäntligen Flasche. Das heisere Bellen der Hunde wurde lauter. Die Jäger blickten in die Richtung der Schutthügel. Der Rothaarige ließ die Holzpistole sinken und schaute auch zum Kläffen hinüber. Jetzt erkannte der Junge drei dunkle Punkte, die in ziellosen Windungen über die graue Wiesenplane liefen. Aber trotz der Zickzacklinien und unerwarteten Kurven kamen die Flecke langsam an die Jungen, das Feuer und die Jäger heran. Da sprach der Gelbgesichtige. Er tat es so plötzlich, daß die Jungen zusammenzuckten. Er sagte zu dem dicken Jäger: »Dein Schuß!« Der Dicke nahm das Gewehr vom Unterarm und drückte den metallbeschlagenen Kolben in 90

die Schulter. Dann setzte er die schwere Jagdflinte noch einmal ab, stülpte ein winziges Silberpapier über das Korn am Ende des Doppellaufs und zog den Kolben wieder ein. »Kein Büchsenlicht mehr«, nuschelte der Dicke mit dem Kolbenholz eng an der rosigen Wange. »Versuch’s trotzdem«, sagte der Gelbhäutige. Jetzt sahen die Jungen, wie aus den Flecken ein Hase und zwei Hunde wurden. Der Hase vorn, die Hunde in einigem Abstand schräg dahinter. Die Haken, die der Hase schlug, wurden kleiner und regelmäßiger. Man konnte mit großer Genauigkeit voraussagen, wann der Hase nach rechts oder links ausbrechen würde. Es war schon so dämmrig, daß der plötzliche tiefrote Strahl vor den Gewehrläufen wie ein Schnitt im Dunstschleier über der Wiese lag. Der Dicke ließ den Gewehrkolben neben seinen taubengrauen Wickelgamaschen hinunterhängen. Er spähte dahin, wo das Geheul beider Hunde zusammentraf. Das Gesicht des dicken Jägers entspannte sich, als einer der Stöberhunde ihm winselnd einen torfbraunen Balg vor die derbsohligen Schuhe legte: den Hasen. Der Rothaarige konnte jetzt neben dem fast schon verlöschenden Feuer den Kopf des toten Tieres deutlich erkennen. Der Junge schluckte; eine Schrotkugel hatte dem Hasen das Auge herausgeschlagen. Die Jäger waren jetzt flink bei der Sache. Sie 91

griffen in das durchgebohrte Fell und schleuderten und banden, hakten fest und verteilten beruhigendes Klopfen und anerkennende Worte an die hechelnden Hunde. Dann stakten die Jäger mit langen Schritten durch die nachgiebige Wiese davon. Der Rothaarige war zuerst an der Feuerstelle. Er sah neben der Holzglut, die hier und da im leichten Wind unruhig wurde, den dunklen Schleimstreifen des Blutes. Da wußte er, daß es keinen Sinn mehr hatte, auf dieser Wiese zu spielen. Die Jäger kommen zurück, dachte er. Sie kommen morgen zurück oder übermorgen und zerschießen den Tieren die Augen und legen Blutspuren neben unsere Feuer. Wir dürfen hier nicht mehr hingehen. Der Rothaarige warf die Holzpistole zwischen die Glutstücke. Ein paar Funken wirbelten hoch. Dann war wieder die Flamme da. Neben sich spürte der Rothaarige den Jungen mit der Pelzmütze. Er wird sein Gewehr auch ins Feuer werfen, dachte der Rothaarige. Er wird es bestimmt tun. Er muß es tun, wenn er es gesehen hat! Der Rothaarige wartete.

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PETER BERGER Gesprochen haben wir darüber »Schon die Zeitung gelesen?« »Nein, was gibt’s denn?« »Da, lies! Unglaublich! Und das sind genau dieselben Leutchen, die vor einem Jugendlichen ausspucken, weil es ihm Spaß macht, sein Haar bis zur Schulter zu tragen!« Karin Weyand reichte ihrem Klassenkameraden Klaus Hansen die Zeitung. »Du hast zwar recht, Karin, aber neu ist das nicht.« »Willst du damit sagen, daß du diese Zustände kennst?« Das Gesicht der Siebzehnjährigen verriet ihr Erstaunen. »Nicht so kraß, wie es hier steht, Karin. Aber wer weiß denn in unserem Nest nicht, wie man die Notlage dieser armen Teufel ausnutzt? Außerdem bilden die hiesigen Hausbesitzer gar keine Ausnahme. Jede Zeitung in der Bundesrepublik könnte solche Artikel täglich veröffentlichen.« »Und wir zerbrechen uns seit Wochen den Kopf, wie wir dafür sorgen können, daß unsere Schülerzeitung beachtet wird!« »Du spinnst mal wieder, Schätzchen. Wenn es nach dir ginge, müßte ein Vertreter von uns in der UNO, in der Bundesregierung und weiß Gott wo sitzen. Aber wir machen eine Zeitung für unsere 93

Schule, über das, was hier geschieht oder geschehen sollte, weiter nichts.« »Und so was nennt sich Chefredakteur!« Karin schüttelte den Kopf. »Eigentlich merkwürdig, Klaus. Sonst reagierst du doch bei sozialkritischen Themen ganz anders? Oder bist du diesmal nur deshalb nicht interessiert, weil die Firma Hansen bei uns eine ganz schöne Menge Haus- und Grundbesitz hat?« Klaus lächelte überlegen. »Das soll heißen, daß meine Eltern auch zu diesen Ausbeuterkreisen gehören, nicht wahr? Aber auch dann lehne ich es ab, unsere kostbaren Seiten für dieses Thema zu verwenden.« Karin wurde hitzig. »Gibt es nicht eine ganze Menge Gastarbeiter, die mit ihren Familien hier wohnen? Und sind wir für Gastarbeiterkinder vielleicht nicht zuständig? Seit wann bist du denn Nationalist?« Bevor Klaus seiner Mitredakteurin antworten konnte, wurde die Tür zum Zeichensaal aufgerissen. Herein stürmte ein junger Mann, dem man nach dem ersten Eindruck einen Platz auf der Weltrangliste der Profiboxer zutrauen konnte. »Vergiß dein Stichwort Nationalismus nicht, Karin!« rief er mit Bärenstimme. »Aber die heutige Zeitungsmeldung ist noch wichtiger. Paßt auf! ›Beispielloser Skandal! Gastarbeiter vegetieren in Höhlen und Verschlägen! Beamte des Ausländeramtes der Kreisverwaltung gestehen: So etwas ha94

ben wir noch nicht gesehen! In einem vor Nässe triefenden Keller wohnt ein italienisches Ehepaar mit einer dreijährigen Tochter. Die Frau ist im sechsten Monat schwanger. Kein Tageslicht fällt in diese Wohnung. Im selben Haus wird die Garage von zwei jugoslawischen Gastarbeiterinnen bewohnt. Die Betten stehen wegen der Nässe auf Lattenrosten. Es stinkt entsetzlich, denn die Nässe rinnt aus der danebenliegenden verstopften Toilette. Über halbfertige, geländerlose Treppen geht es aufwärts in die oberen Räume. Die hier ausgemauerten kleinen Verschläge erinnern an Schwalbennester. Die größten davon messen sieben bis acht Quadratmeter. Einige der Käfige besitzen nicht einmal ein Fenster. Auf dem Speicher gibt es ähnliche Kammern, nur daß hier die Zwischenwände aus Pappe bestehen. Dreißig Gastarbeiter beherbergt dieses Haus, in dem es nur eine einzige Toilette und eine Waschgelegenheit gibt. 3500 bis 4000 Mark kassiert der Hausbesitzer monatlich von seinen Mietern! Ein Einzelfall? Nein. Nur eine der Unterkünfte der 1500 Gastarbeiter in unserer Stadt!‹« »Schon gut«, unterbrach ihn Klaus. »Das wissen wir ja alles.« »Und da sitzt du hier noch tatenlos herum? Das muß in unsere Zeitung! Und wir nennen genau Namen und Anschrift dieser Dreckschweine von Vermietern!« 95

»Kommst du auch noch mit diesem Blödsinn?« gab Klaus gereizt zurück. »Lest ihr eigentlich nur die Lokalseite in unserem Provinzblättchen? Es vergeht doch kein Tag, an dem in dieser Hinsicht nicht irgendwo die haarsträubendsten Dinge aufgedeckt werden!« »Aber jetzt sind sie hier ans Tageslicht gekommen. Klaus! In einer Stadt von 20 000 Einwohnern. Und die bilden sich alle etwas ein auf ihre Stadt, in der es sich so gut leben läßt. Bei uns gibt es doch höchstens mal am Wochenende eine Wirtshausschlägerei und hin und wieder einen Führerscheinentzug wegen Trunkenheit am Steuer. Und dann heißt es an den Stammtischen und bei den Kaffeekränzchen, daß es natürlich mal wieder die bösen Jugendlichen waren, die sich brutal über Moral, Recht und Ordnung hinwegsetzen. Aber diesmal können sie nicht schreien: Immer diese Jugendlichen! Wer ruiniert denn hier die Gesundheit von Menschen und verlangt dafür noch Wuchermieten?« Karin stimmte dem Riesen begeistert zu. »Großartig, Axel! Du hast es erkannt. Diesmal können wir auf die Pauke hauen. Aber wenn wir das in unserer Zeitung anprangern, das reicht nicht aus. Diesmal müssen wir geschlossen auf die Straße! Die ganze Jugend unserer Stadt müssen wir auf die Beine bringen. Es muß ein Schweigemarsch sein, aber unsere Plakate und Transparente müssen auch den letzten Bürger wachrütteln. Alles muß schnell und gründlich geschehen. Ich schlage vor, wir bilden so96

fort einen Arbeitsstab und …« »Und, und, und … Lieschen Müller hat eine großartige Idee! Es könnte bloß dabei herauskommen, daß am Ende hundert oder noch mehr Gastarbeiter gar kein Dach mehr über dem Kopf haben! Wir protestieren lauthals oder leise, und schon kündigen auch anständige Vermieter ihren Gastarbeitern, weil sie Angst haben, daß ihnen sonst Jugendliche die Fensterscheiben einwerfen. Seid doch ehrlich, ihr beiden. Es geht euch doch gar nicht um die Gastarbeiter. Den Bürgern wollt ihr eins auswischen, das ist alles. Aber das ist mir keine Zeitungszeile wert, und schon gar keinen Protestmarsch. Laßt euch etwas einfallen, was diesen armen Teufeln wirklich hilft, dann bin ich dabei. So, das wär’s. Ich gehe jetzt in meine Klasse.« Karin und der Riese Axel waren allein. Axel knüllte die Zeitung zusammen, feuerte sie in die Ecke und knurrte: »Trotzdem! Diesmal muß man dem Pack mal zeigen, daß es einen anekelt!« Karin antwortete nicht. »Na? Ist dein lodernder Zorn schon verraucht?« fragte der Hüne spöttisch. »Komisch, was Klaus sagt, ist für alle Damen unserer Schule Gesetz.« »Quatsch. Aber er denkt eben schneller und besser als alle anderen Jungen seiner Klasse zusammen.« »Bedauerlich, daß er das jetzt nicht selbst hören konnte. Und dabei hattet ihr doch anscheinend 97

vorhin erst Meinungsverschiedenheiten. Aber dein Glaube an Klaus ist wohl nicht zu erschüttern, wie? Schade, daß du nicht in mich so verknallt bist wie in ihn.« Karin lachte, dann griff sie nach ihrer Tasche und sagte: »Komm, Kleiner, sonst kommen wir zu spät zum Unterricht!« An diesem Vormittag verliefen die Unterrichtspausen anders als gewohnt. Axel Gellert nutzte jede Minute aus, um Anhänger für seinen öffentlichen Protest zu gewinnen. Klaus benahm sich, als interessierte ihn das alles nicht, und Karin beriet sich mit einigen Klassenkameradinnen. »Zuerst war ich von Axels Vorschlag begeistert«, erklärte sie. »Aber Klaus fürchtet, daß wir den Gastarbeitern damit mehr schaden als nützen könnten. Das macht mich unsicher. Schließlich müssen wir doch etwas auf die Beine bringen, was den Leuten wirklich hilft.« »Hilfe bedeutet in solchen Fällen immer Geld, und das haben wir nicht«, sagte eines der Mädchen. »Wir könnten Gastarbeiterkinder betreuen. Besonders die schulpflichtigen. Denen kann doch zu Hause niemand bei den Schularbeiten helfen.« »Ja, das könnte etwas werden«, stimmte Karin zu. »Wenn nur jede von uns dreien wöchentlich einen Nachmittag opfert, können wir schon jeden zweiten Tag helfen. Aber es machen bestimmt noch mehr mit.« »Einen Raum dafür bekommen wir vom Jugend98

amt. Wozu haben wir schließlich das Freizeitheim?« »Wenn man erst Behörden einschalten muß, geht doch alles schief. Wie wäre es denn mit eurem Blockhaus, Karin? Für zehn Kinder reicht der Platz bestimmt.« »Sogar für zwanzig. Aber wie soll ich das meinem Vater beibringen? Bei jedem Sonderwunsch fängt er an: ›Als ich so alt war wie du, erlebte ich gerade das Kriegsende als Flakhelfer. Als die Amerikaner in unsere Stellung eindrangen, tastete mich ein farbiger Soldat nach Waffen ab. Ich hatte Angst, er würde mich umbringen, aber dann drückte er mir eine Tafel Schokolade in die Hand, tätschelte mir die Wange und sagte: Lauf nach Hause, Baby! Auf meine nächste Tafel Schokolade habe ich dann drei Jahr warten müssen.‹ Ich kann die Geschichte schon nicht mehr hören. Und was unser Familienoberhaupt eigentlich mit diesem Blockhaus vorhat, weiß kein Mensch. ›Wenn ich mehr Zeit habe, werdet ihr es ja erleben‹, antwortet er, wenn man ihn fragt. Dabei wird sein Wartezimmer von Tag zu Tag voller.« »Dann klemm dich doch hinter deine Mutter, Karin! Sie war Lehrerin, also muß ihr unser Plan sympathisch sein«, meinte eines der Mädchen. »Ich kann’s ja versuchen. Ihr zwei schaut euch inzwischen nach weiteren Kindermädchen um. Das wäre doch gelacht, wenn wir das nicht hinkriegten!« 99

Die Mädchen waren Feuer und Flamme; auch noch am nächsten und am übernächsten Tag. Genau wie Axel, dessen Vorhaben sich prächtig anbahnte. Sämtliche Jugendgruppen der Stadt hatten zugesagt. Sie wollten sich am Protestmarsch beteiligen. Es kam nur noch darauf an, Plakate und Transparente zu malen, Zeit und Strecke des Marsches festzulegen, die behördliche Genehmigung einzuholen und die Presse zu informieren. Zur letzten großen Besprechung hatte Axel alle Gruppen bereits eingeladen. Eigentlich schade: Gerade am Tag dieser Besprechung meldete die Zeitung, in einigen Fällen des Wohnungsskandals sei Anzeige erstattet worden, weitere Fälle würden noch überprüft. Dann gab es auch eine ganze Reihe von Leserbriefen zu diesem Thema. Die meisten drückten Empörung aus. Es gab aber auch Zuschriften, die das Problem von einer anderen Seite sahen. Ein Hausbesitzer schilderte, er habe eine Dreizimmerwohnung an eine fünfköpfige Familie aus Sizilien vermietet. Der deutsche Vermieter habe die Wohnung in einem ausgezeichneten Zustand verlassen, und er habe die Miete nicht erhöht. Nach einem knappen Jahr, in dem es dauernd nervenaufreibenden Ärger gegeben habe, sei die italienische Familie nun wieder ausgezogen. Der Hausbesitzer habe aus eigener Tasche 3500 Mark ausgegeben, um Bad, Toiletten, Fußböden usw. wieder instand zu setzen, damit er die Wohnung erneut vermieten könne. Über alle an100

deren Schwierigkeiten, die von der fremden Familie in Haus und Nachbarschaft heraufbeschworen worden seien, wolle er lieber schweigen. Kurz vor der Besprechung wurde Axel von zwei Jugendgruppenleitern angerufen. Sie sagten, sie müßten auf die Teilnahme am Schweigemarsch verzichten. Die behördlichen Maßnahmen seien ja nun angelaufen, und überhaupt sehe es so aus, als habe da irgendein Zeitungsfritze einmal wieder maßlos übertrieben. Von dem Türken, der gestern auf einer Baustelle den Polier durch Messerstiche schwer verletzt habe, wolle man in diesem Zusammenhang gar nicht reden. Zehn Personen hatten zugesagt, zu der Besprechung zu kommen, vier kamen. Selbst von Axels Schulkameraden hatten zwei die Lust verloren. »Wenn wir für jeden Prozeß, den in Deutschland ein Hausbesitzer führt, weil seine deutschen Mieter eine Wohnung zum Saustall gemacht haben, und für jeden deutschen Messerhelden eine Mark bekämen, hätten wir wahrscheinlich für den Rest unseres Lebens ausgesorgt«, sagte Axel, aber es klang nicht mehr so begeistert und überzeugungskräftig. Drei Tage später sprach man weder in der Stadt noch in der Schule von den Wohnproblemen der Gastarbeiter. Zehn Tage waren seit dem Erscheinen des so heftig diskutierten Zeitungsberichts vergangen. Als Karin aus der Schule kam, wunderte sie sich. Vor dem 101

Blockhaus im Garten standen zwei Personen- und ein Lastwagen, und Männer in Arbeitskleidung liefen dort herum. »Was ist denn in unserem Garten los?« fragte Karin ihre Mutter. »Hast du Vater endlich überzeugt, daß ein Swimming-pool schöner und nützlicher wäre als dieses Blockhaus?« »Schade, daß du es schon bemerkt hast«, antwortete Frau Weyand. »Eigentlich wollte Vater dich damit überraschen.« »Überraschen? Womit denn?« »Der Lastwagen hat Stühle und Bänke gebracht. Vater hat sie kostenlos vom Schulamt bekommen. Neu sind sie nicht, aber für eure Zwecke reichen sie. Die beiden Monteure legen eine Heizung, denn sonst kann man ja nur im Hochsommer Kinder betreuen.« Frau Weyand sah ihre Tochter prüfend an. »Schade«, sagte sie dann. »Und Vater hatte sich so darauf gefreut. Richtig stolz war er auf seine Tochter.« »Hat Vater noch Sprechstunde?« fragte Karin. »Vor einer Stunde wurde er abgerufen, aber einige Patienten wollten unbedingt warten, bis er zurückkommt.« Fast im selben Augenblick wurde die Terrassentür geöffnet, und Karins Vater kam herein. »Ich brauche einen starken Kaffee«, sagte er und ließ sich in einen Sessel fallen. »Ein Deutscher hät102

te wahrscheinlich einen Krankenwagen gerufen. Vielleicht hätte das Kind am Leben bleiben können, wenn alles schneller gegangen wäre. Aber er wird sich gedacht haben: Lauf schnell zum Doktor, der weiß gleich, was du willst, und kann helfen.« »Und die Mutter?« fragte die Frau des Arztes. »Die ist ziemlich robust und wird es wohl bald überwunden haben. Der Mann war völlig verzweifelt. Sie haben schon ein dreijähriges Mädchen, und diesmal wäre es der ersehnte Sohn gewesen. Wahrscheinlich ist die Frühgeburt durch die Aufregung der letzten Tage hervorgerufen worden. Es ist die italienische Familie, die in dem lichtlosen Kellerverlies haust. Bring mir den Kaffee bitte in die Ordination. Ich kann die Leute nicht noch länger warten lassen.« Karin ging in ihr Zimmer hinauf und sah aus dem Fenster auf das Blockhaus im Garten. »Mein Gott«, sagte sie. »Seit Tagen haben wir kein Wort mehr darüber verloren!« Sie kam sich gar nicht so energisch und schwungvoll vor wie vor zehn Tagen, als die Empörung sie noch beflügelt hatte. Aber dann lief sie die Treppe hinunter zum Telefon, um ihre Freundinnen anzurufen. Wenn die Stühle und Bänke nun einmal da waren – die zwanzig Gastarbeiterkinder ließen sich bestimmt auftreiben!

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KARL ROLF SEUFERT China – das große Experiment Sorgfältig ausgerichtet, in einer Art Gleichschritt, soweit es die kleinen Füße schon erlaubten, marschierten sie in Dreierreihen heran. Man hatte sie einheitlich in graugrüne Jacken geknöpft, die den Blusen der Roten Garden nachgeschnitten waren. Nur die Fußbekleidung wollte nicht in die moderne Uniformität passen – schwarze Tuchschuhe mit fingerdicken weißen Filzsohlen, wie sie schon die Mandarine der Ming- und Ch’ing-Dynastie getragen hatten. Mit energischen Trippelschritten, die abgegriffenen Holzgewehre steil geschultert, kamen sie Bonnet entgegen. Nun erschienen auch die beiden Betreuerinnen. Ihre schwarzen Zöpfe wippten auf den weißen Blusen. Die Gesichter aufmerksam den Kleinen zugewandt, schwenkten sie die Arme – kritisch, spöttisch-resigniert, wie es Bonnet schien, und doch mit einer kalten, beziehungslosen Zuneigung im Blick. Sie machten eine Schwenkung und hielten an. Erwarteten sie etwa eine Rede? Aber Mr. Liu, der Dolmetscher, der Bonnet mit sanfter Energie und mit dem vollendeten Takt des Ostens über dreitausend Kilometer von Kanton über Schanghai bis Peking begleitet hatte, blickte angestrengt gerade104

aus. Es war sonst nicht seine Art, irgend etwas, das sich planen ließ, dem Zufall zu überlassen, und er hatte ihn nicht informiert. Plötzlich ein halblautes Kommando aus einem der vorderen Glieder; die Holzgewehre fuhren hoch, und hundert Kinderstimmen schrien begeistert: »Lang lebe der Vorsitzende Mao!« Ein Junge trat vor, das Spielzeuggewehr neben den schwarzen Tuchschuhen. Ruhig sah er den Engländer aus seinen dunklen Chinesenaugen an, dann sagte er: »Das Kinderkollektiv der Volkskommune ›Roter Oktober‹ heißt den europäischen Freund willkommen.« »Danke schön«, sagte Bonnet. »Das hast du fein gemacht – ihr alle. Ihr alle habt euch gewaltig angestrengt. Darum dürft ihr jetzt auch die Gewehre abnehmen und wieder spielen.« Mr. Liu rückte an dem Stahlrand seiner Brille. »Die Jugend Chinas verehrt den Vorsitzenden Mao sehr.« »Gewiß«, sagte Bonnet und versank in Schweigen. Wenn es in diesem Riesenreich irgendwo eine Gruppe geben sollte, die den Vorsitzenden Mao nicht verehrte, so war er ihr jedenfalls noch nicht begegnet. Sie wandten sich dem roten Backsteinbau zu. Die Fronten zu beiden Seiten des Eingangs waren mit Zeitungen beklebt, von denen die Parolen vom glücklichen Leben im Sozialismus leuchteten. 105

Mr. Liu deutete auf das Haus. »Ein Überbleibsel aus Chinas schmachvoller Zeit vor der Befreiung, Sir. Von amerikanischen Imperialisten-Missionaren zu Beginn des Jahrhunderts errichtet, um die Jugend Chinas an den Kapitalismus zu versklaven.« »Tatsächlich? In seiner Häßlichkeit wirkt es schon wieder modern«, murmelte Bonnet. »Aber der mangelnde Schönheitssinn seiner Erbauer läßt nicht notwendigerweise schon auf böse Absichten schließen.« Sie betraten den langen Flur, und augenblicklich schlug Bonnet jener eigenartige Geruch entgegen, wie ihn nur chinesische Häuser besaßen eine Mischung aus frischgescheuerten Steinen, grünem Tee und vielen Kindern. Der Raum, in den man ihn führte, war groß. In vier langen Reihen saßen die Kinder an Zweiertischen und klatschten. Mechanisch fiel Bonnet in das Klatschen ein und lächelte über sich selbst. Fünf Wochen chinesischer Volksrepublik waren nicht ohne Wirkung geblieben. Die Kinder strahlten ihn an – runde, dickwangige Gesichter, die Mädchen mit Ponyfrisuren oder Zöpfen, einige von überraschendem Liebreiz; die Buben, etwas derber, schwenkten ihre Zeichenblätter und winkten mit drolliger Tolpatschigkeit. Einige trugen zu einem fast preußisch kurzen Haarschnitt überraschend eine senkrecht aufragende, rasierpinsellange Skalplocke, wie Bonnet sie von amerikanischen Indianerillustrationen her kannte. Man hatte sich für eine Malstunde entschieden, 106

sah er. Vor jedem Kind lag ein Blatt Papier, daneben stand ein Tuschefäßchen. »Die sozialistische Schulung im Geist unseres Vorsitzenden Mao hat bereits einen hohen Standard erreicht«, murmelte der Dolmetscher, während er neben Bonnet durch die Reihen schritt. »Die Kinder wählten in freier Entscheidung den roten Stern als Thema.« »Hätten sie sich denn auch für andere Themen entscheiden können?« fragte Bonnet. »Etwa für Märchen, Blumen oder Tiere?« »Selbstverständlich«, sagte der Dolmetscher mit Überzeugung. »Die Kinder diskutieren und malen dann, was immer sie wollen – den sozialistischen Aufbau, Genossen bei der Erntearbeit, ihre Mutter in der Produktionsschlacht, Arbeitsgeräte, Maschinen, Traktoren, Fabriken und die Friedenswaffen unserer Volksarmee.« »Bleiben die Kinder den ganzen Tag über hier?« »Normalerweise bringen die Mütter sie hierher, ehe sie zur Arbeit gehen, und holen sie abends wieder ab. Dieses Kollektiv wohnt jedoch auch im Kindergarten.« »Leben die Eltern der Kleinen nicht mehr?« Mr. Liu lächelte. »Eine Hundertschaft unserer Frauen arbeitet zur Zeit an dem neuen Staudamm in den Westbergen.« »Sie kommen abends nicht nach Hause?« »Sie verzichteten darauf, denn die Arbeitsstelle ist siebzig Kilometer entfernt. Ihre Verpflichtung 107

lief ursprünglich für einen Monat, wurde dann aber freiwillig von den Frauen um die gleiche Zeitspanne verlängert. Danach wird sie eine andere Hundertschaft der Kommune ablösen.« »Und wer betreut die Kinder in dieser Zeit?« Der Dolmetscher deutete auf vier alte Frauen. Sie standen etwas abseits, hagere Gestalten mit Gesichtern wie altes Elfenbein, alle in Hosen und einer Art Kittelbluse. Ruhig, aufmerksam, ohne das übliche Höflichkeitslächeln blickten sie zu ihm her. Augenscheinlich erwarteten sie keine formelle Begrüßung, und impulsiv reichte ihnen Bonnet die Hand. »Die betagten Helferinnen entstammen der reaktionären Klasse«, erläuterte Mr. Liu mit einem nervösen Blinzeln. Offensichtlich hätte er die Begegnung gern vermieden. »Sie brachen jedoch, dank der intensiven Aufklärungsarbeit der Partei, mit ihrer Vergangenheit und zählen heute zu den glühendsten Verfechterinnen des Sozialismus. Da sie nicht mehr am Produktionskampf teilnehmen können, verpflichteten sie sich freiwillig, für das körperliche Wohl der Kinder zu sorgen.« Bonnet nickte. Zwei der Frauen stützten sich auf Ebenholzstöcke. Wahrscheinlich hatte man ihnen als Mädchen noch die Füße eingebunden, kleine Füße waren einst im kaiserlichen China der Inbegriff weiblicher Schönheit. »Seit der Befreiung durch die Kommunistische Partei haben unsere Frauen ein neues gesellschaft108

liches Bewußtsein gewonnen. Sie fühlen sich nicht mehr als Sklavinnen der Familie und arbeiten an der Vollendung des Sozialismus.« »Ich verstehe. Und die beiden Kindergärtnerinnen, die wir draußen trafen?« »Ihnen obliegt die geistige und ideologische Betreuung der Kinder. Sie sind Studentinnen der Pädagogischen Akademie von Peking und bewährte Parteigenossinnen.« Mr. Liu blickte auf seine Uhr. »Wenn Sie gestatten, Sir, werden wir jetzt eine Klasse der Volksschule besuchen, an die der Kindergarten angegliedert ist.« Die Schule wirkte wie eine Mischung aus Kaserne und Fabrikhalle. Auf dem alten Hof marschierte eine Klasse unter dem Kommando eines Mitschülers durch den knöcheltiefen Sand. In kurzer Folge fielen die Befehle, die Schüler warfen sich zu Boden, rutschten auf Knien und Ellbogen vorwärts, die Gewehre waagrecht vor den Gesichtern. Schließlich sprangen sie auf und stürmten gegen einen unsichtbaren Feind. Voller Stolz deutete der Dolmetscher auf einen Wiegebalken, der so über einem Wassergraben angebracht war, daß er zu kippen begann, sobald man die Hälfte seiner Länge überschritten hatte. Die Schüler konnten sich nur durch einen Riesensprung aufs Trockene retten, oder aber sie stürzten in das Wasser. »Unsere modernen Schulen nehmen die Weisungen unseres Vorsitzenden ernst«, erklärte Mr. Liu. »Sie tragen ihren Teil zur Bewahrung der Unab109

hängigkeit des Landes bei und schützen aktiv die Diktatur des Proletariats gegen alle äußeren und inneren Feinde.« »Meinen Sie nicht, daß sich die Schule vor allem um die geistige Entwicklung der jungen Menschen kümmern sollte?« Bonnet deutete auf mehrere Stacheldrahtrollen, die dicht über dem Sand an eisernen Pfosten aufgehängt waren. »Das mag vielleicht für Soldaten angehen, aber von der Schule erwartet die Gesellschaft normalerweise mehr, denke ich. Dabei will ich gar nicht leugnen, daß es auch in Europa ähnliche Verirrungen gegeben hat. Zum Glück dauerten sie niemals sehr lange.« Bonnet lächelte. »Was sagen denn die Mütter, wenn ihre Kinder abends mit nassen, verschmutzten und zerrissenen Kleidern nach Hause kommen?« Mr. Liu sah angestrengt geradeaus. Eine zweite Klasse marschierte singend heran. Wie Windstöße wehten die Worte über den Hof. Bonnet erkannte die Melodie. »Rot ist der Himmel im Osten …« Schrill, begeistert, von heiseren Zischlauten durchpeitscht, sangen die Schüler: »Und der Osten siegt über den Westen …« »Die Mütter unserer Schüler sind echte Patriotinnen«, erklärte der Dolmetscher. »Sie wissen, daß die Schule mit allen ihren Möglichkeiten der marxistischen Erziehung dient.« Bonnet fielen etliche sarkastische Bemerkungen ein; aber er schwieg. Der Dolmetscher war kaum 110

der rechte Gesprächspartner für seine Vorbehalte; außerdem war sein Englisch wohl auch nicht so gut, daß er die Ironie herausgehört hätte. Ein Mädchen mit dem leuchtend roten Halstuch der Jungen Pioniere geleitete sie über eine Betontreppe zu einer Klasse im ersten Stock. Der Unterricht hatte bereits begonnen, und Bonnet bewegte sich auf Zehenspitzen zu seinem Stuhl. An der Längswand, der Fensterfront gegenüber, hing eine Tafel mit den lateinischen Druckbuchstaben in Groß- und Kleinschrift. »Die Schüler haben auf Weisung der Partei begonnen, die lateinische Schrift zu lernen«, flüsterte der Dolmetscher. Die Lehrerin lächelte, zeigte die Faust mit hochgerecktem Daumen und nickte dann leicht mit dem Kopf. Die Schüler der ersten Bankreihe sprangen auf, legten die Hände auf den Rücken und riefen: »A!« Ein Mädchen, das neben der Wandtafel saß, zeigte den Buchstaben auf der Karte, wiederholte den Laut, und die Klasse sprach ihn im Chor nach. Die Lehrerin hob erneut die Faust, diesmal mit gerecktem Zeigefinger, und nickte in Richtung der zweiten Tischreihe. Die Schüler erhoben sich. Der Zeigestock wanderte zum I, und sechs begeisterte Kinderstimmen riefen: »I«. Darauf folgte das E. Die Lehrerin streckte drei Finger der rechten Hand waagrecht aus, und die Kinder der dritten Tischreihe riefen: »E«. 111

Auf die Vokale folgten die Konsonanten, sie jedoch stets in Verbindung mit einem Vokal: ab und ba, ka und ak, da und ad, al und la, im und mi, in und ni. Hier gab es keinen gelockerten Unterricht, keine Diskussionen, keine freien Beiträge. Das Geschehen verlief im strengen Frage- und Antwortrhythmus. Still, sehr aufmerksam, die Hände auf dem Rücken, saßen die Schüler auf ihren Stühlen. Niemand flüsterte mit dem Nachbarn, niemand kicherte oder spielte heimlich, soweit Bonnet es feststellen konnte. Schließlich holten die Schüler ihre Hefte hervor, die Mädchen warfen die Zöpfe über die Schultern, und alle schrieben zwei Reihen voller »A«. Es folgten die »I«, und Mr. Liu blickte auf seine Uhr. Bonnet verstand den Wink, und sie verließen den Klassenraum. Sie besuchten den Rechenunterricht einer fünften Klasse, nahmen an der Leseübung einer vierten Klasse teil, und überall bot sich ihnen das gleiche Bild: sehr aufmerksame, sehr disziplinierte Schüler, die ganz im Stil der Lernschule des 19. Jahrhunderts unterrichtet wurden. »Wenn Sie noch einige weitere Klassen zu besuchen wünschen, Sir? Die Rektorin ist durchaus dazu bereit.« »Danke schön«, murmelte Bonnet, »das wird nicht nötig sein.« Mr. Liu deutete auf einen buddhistischen Tempel 112

inmitten eines kleinen Parks. »Das Lehrerkollektiv erwartet uns zu einer Aussprache, Sir.« »Muß das sein? Ich gestehe freiwillig, daß mich kaum etwas so sehr beeindruckt hat wie Chinas Schüler. Der Eifer, mit dem sie lernen, hat etwas Imponierendes, und ihre Disziplin ist wohl einzigartig auf der Welt.« Der Dolmetscher errötete vor Freude. »Ihre Ansichten werden die Genossen sehr interessieren, Sir. Sie sind auch jeder Kritik gegenüber aufgeschlossen. Dort hinaus, Sir.« Sie schritten einen Fußweg entlang, vorbei an wunderbar gepflegten Rabatten. Ein Kieferngehölz warf seine blauen Schatten über den Kies, Zikaden zirpten in der mittäglichen Stille. Irgendwo tschilpte ein Vogel. Eine Holzbrücke spannte sich über einen lotosbewachsenen See. Hier war noch ein Zipfel des alten China – des Chinas der Pagoden, der Tempel und fremden Götter, der Seide und des Porzellans. Schade nur, daß das Bild nicht mehr der Wirklichkeit entsprach – aber war es wirklich schade? Wahrscheinlich hatte China in dieser Form überhaupt niemals existiert. Frau Wu, die Rektorin, eine zierliche, graziöse Chinesin, empfing ihn mit dem in rotes Kunstleder gebundenen Zitatenbuch Mao Tse-tungs. Auf den ersten Blick wirkte sie wie Anfang dreißig, aber Bonnet wußte, daß sie leicht auch zehn Jahre älter sein konnte. Sie winkte, kam Bonnet einige Schritte über die Treppe des Tempels hinab entgegen und 113

reichte ihm die Hand. »Das ist sehr liebenswürdig«, sagte sie fröhlich in einem ausgezeichneten Englisch, »daß Sie uns hier nicht sitzenlassen.« Sie geleitete ihn an zwei matt glänzenden Bronzelöwen vorüber, die trotz ihrer gesträubten Mähnen und der grimmig gereckten Köpfe einen eher gutmütigen Eindruck machten. Bonnet drückte einem halben Dutzend ihn erwartungsvoll umdrängenden Chinesen die Hand, und Frau Wu bahnte ihm zielstrebig einen Weg durch den dämmrigen Raum zu einem großen Tisch. Eine Schale mit grünem Tee stand bereit, dazu Tassen. Man servierte kochendes Wasser, und Frau Wu bot Zigaretten an. »Ein schreckliches Laster ich weiß es«, gestand sie lächelnd, als Bonnet ihr Feuer reichte. »Aber ich fürchte, ich werde nicht mehr loskommen davon.« Sie stieß den Rauch überraschend kräftig aus, beinahe wie ein Mann. »Rauchen Sie auch?« »Hin und wieder schon. Obwohl ich mich bemühe, es mir abzugewöhnen – eigentlich schon seit Jahren«, sagte Bonnet. »Man behauptet neuerdings, es sei schädlich. Vielleicht sollte ich gleichfalls ernst damit machen und aufhören.« Sie nickte mit einem resignierten Lächeln. »Aber was rede ich hier! Schließlich sind Sie nicht gekommen, um mit mir über das Rauchen zu diskutieren, nicht wahr?« »Die Genossin bittet Sie, recht viele Fragen zu 114

stellen«, warf der Dolmetscher mit einem besorgten Blick auf seine Uhr ein. Er schätzte solche Gespräche gar nicht, wie Bonnet wußte. Bonnet wandte sich direkt an die Chinesin. »Ihr Englisch ist ganz hervorragend. Wo haben Sie das gelernt? Waren Sie im Ausland oder vielleicht in Hongkong?« »Ich war nie im Ausland, nicht einmal in Hongkong«, antwortete sie. »Aber es ist reizend von Ihnen, das zu sagen. Wirklich ganz reizend … Ich studierte zwei Jahre am Fremdspracheninstitut in Peking, wie Mr. Liu. Dort haben wir sogar Charles Dickens und Mark Twain gelesen.« Bonnet musterte die bunten Pyramiden kleiner Pappwürfel, die auf einem steinernen Lotossockel gestapelt waren, von dem einst ein lebensgroßer Buddha auf Generationen gläubiger Beter herabgelächelt haben mußte. Jeder Würfel war mit chinesischen Schriftzeichen bemalt. »Vor der Befreiung waren sechzig Prozent unseres Volkes Analphabeten«, erläuterte der Dolmetscher. »Heute studieren über fünfundneunzig Prozent der werktätigen Massen ohne fremde Hilfe die Werke unseres Vorsitzenden Mao.« »Wir beginnen bereits im Vorschulalter mit dem Lesen«, erklärte die Rektorin. »Unsere Genossen haben die Würfel in ihrer Freizeit angefertigt. Sie sind für den Kindergarten der Kommune bestimmt.« »Spielendes Lesenlernen.« Bonnet nickte. »Mit ähnlichen Versuchen beschäftigt man sich auch in 115

Europa. In China hat das Lesen allerdings seine besonderen Probleme, nehme ich an.« »Ja, in der Tat!« rief sie entschieden, und für einen Moment spürte Bonnet ihre vogelhaft zarte Hand auf seinem Arm. »Manchmal meine ich – wie wir alle hier –, unsere Sprache bestehe nur aus Problemen … Wissen Sie, im Gegensatz zu allen europäischen Sprachen besitzt das Chinesische keine Formenlehre, überhaupt keine Grammatik, nichts, was das Miteinander der Worte regelt. Dasselbe Wort kann bei uns Substantiv, Adjektiv, Verb oder auch Adverb sein – und in keiner dieser Funktionen wird es flektiert. Vielleicht können Sie ermessen, welche Schwierigkeiten das für uns in der Schule mit sich bringt?« »Erstaunlich, daß sich dabei überhaupt zwei Chinesen verstehen«, sagte Bonnet. »Aber sie tun es ja auch nicht!« rief sie, lehnte sich über den Tisch und funkelte den Dolmetscher an. »Sie verstehen sich tatsächlich nicht, falls sie nicht zufällig aus derselben Provinz stammen. Habe ich nicht recht, Genosse? Oh, Genosse Liu wird Ihnen ein Lied davon singen können!« Sie klatschte in komischer Übertreibung in die Hände. »Und Sie sehen keine Möglichkeit, hier reformierend einzugreifen?« fragte Bonnet. »O doch!« sagte sie überzeugt. »Wir sind seit Jahren dabei. Unentwegt. Sehen Sie, unsere Sprache ist ein echtes Überbleibsel aus Chinas Feudalzeit. Man braucht Tausende von Stunden, besonders als 116

Angehöriger eines geistigen Berufes, um lesen und schreiben zu lernen. Und was bedeutet das? Es bedeutet, daß die hohen Güter unserer Kultur immer nur einer verschwindenden Minderheit erreichbar waren, denn wer sonst konnte seinen Söhnen eine so kostspielige und langwierige Erziehung bieten, die nun einmal die Voraussetzung war … Wie Sie vielleicht wissen, bezeichnen unsere Schriftzeichen keine Laute, keine Silben, sondern einsilbige Wortinhalte. Alle Grundwörter sind bei uns einsilbig«, erläuterte sie, nunmehr ganz ruhig und sachlich. »In der Praxis läuft das darauf hinaus, daß die meisten Zeichen mehrere Bedeutungen besitzen – besitzen müssen –, die wir beim Sprechen durch die Tonhöhe unterscheiden. Aber das ist noch nicht alles! Daneben bleibt noch ein erheblicher Rest, der sich auf gar keine Weise eindeutig bestimmen läßt, sondern allein aus dem Zusammenhang verständlich wird. Während sich unsere Dialekte ebenso stark unterscheiden wie etwa das Französische vom Italienischen und das Englische vom Deutschen, waren die Schriftzeichen allen verständlich. Sie blieben sogar über alle feudalistischen Epochen hinweg das einzige Bindeglied des Reiches. Während uns die Genossen in Kanton oder Schanghai nicht verstehen, können wir uns mit ihnen ohne Mühe schriftlich verständigen.« Bonnet nippte an dem Tee. Er erinnerte sich der zahlreichen örtlichen Dolmetscher, die Mr. Liu in Südchina zur Verfügung gestanden hatten. »Hat es 117

eigentlich schon einmal jemand unternommen, alle Schriftzeichen zu zählen?« fragte er. Frau Wu lächelte und griff nach einem zierlichen Bambusfächer. »Ich bin nicht sicher. Aber man schätzt ihre Zahl auf etwa vierzigtausend.« »Wieviel Zeichen beherrscht der Schüler einer Abschlußklasse der Volksschule?« Frau Wu wechselte eine Bemerkung mit ihrer Umgebung. »Etwa dreitausend, Sir. Sie genügen in der Regel auch, um eine Zeitung zu lesen. Für ein Buch braucht man allerdings fünftausend.« »Und Sie?« fragte Bonnet. »Wieviel Schriftzeichen lesen und schreiben Sie?« »Ich habe sie nie gezählt«, murmelte sie. »Aber ich nehme an, ungefähr zehntausend … Durchaus keine ungewöhnliche Leistung«, fügte sie rasch hinzu und fächerte graziös die Luft. »Na, ich weiß nicht«, bemerkte Bonnet zweifelnd. »Ich fürchte, ich wäre in Ihrem Lande nie über die Volksschule hinausgelangt. Aber ich habe gesehen, daß man jetzt auch das lateinische Alphabet lehrt.« »Gewiß«, sagte sie. »Im Rahmen unseres ›großen Springens nach vorn‹ gab die Partei in Übereinstimmung mit den Gedanken unseres großen Vorsitzenden die Weisung aus, die lateinischen Buchstaben zu erlernen. Inzwischen gingen sämtliche Lehrer unseres Kollektivs selbst wieder zur Schule und studierten in Abendkursen die lateinische Schrift, um sie an die werktägigen Massen weiterzugeben. Die Pekinger Staatsdruckereien lie118

ferten dazu rund 76 Millionen Lehrbücher.« »Vielleicht können Sie mir etwas über die Art sagen, wie Sie die Schule leiten.« »Ich habe vor allem organisatorische Aufgaben. Die Entscheidungen trifft das Lehrerkollektiv nach Diskussionen gemeinsam.« »Sind alle Lehrer Mitglieder der Partei?« »Gewiß – Mitglieder oder Anwärter.« »Chinas Bildungssystem galt einmal als vorbildlich und einzigartig in der ganzen Welt«, sagte Bonnet. »Nach welchen Maßstäben beurteilen Sie heute die Leistungen der Schüler?« Sie griff nach einer Zigarette, und Bonnet reichte ihr Feuer. »In der Bewertung befolgen wir das Prinzip, daß die ideologische Leistung der erste und grundlegende Maßstab ist. Die wissenschaftlichen Leistungen spielen gleichfalls eine Rolle. Das ist ganz selbstverständlich. Aber sie stehen erst an zweiter Stelle.« »Empfinden Sie das nicht als Widerspruch? Hier handelt es sich doch nicht um eine Parteiinstitution, sondern um eine allgemeinbildende Schule.« »Aber keineswegs, Sir.« Das leise, harte Lächeln, das sie niemals ganz aufgab, wurde ein wenig deutlicher. »Die ideologische Schulung des jungen Menschen ist entscheidend für sein Leben im Sozialismus. Der Grundsatz, allein die wissenschaftliche Qualität gelten zu lassen, war ein Mittel der bürgerlichen Welt, die Jugend daran zu hindern, am Freiheitskampf des Proletariats teilzunehmen.« 119

Bonnet nippte erneut am Tee. »Chinas Prüfungsund Ausleseverfahren galt einmal als das strengste der Welt. Es dauerte von der Sung-Zeit bis 1907, also rund tausend Jahre, und enthielt eine bis in die letzte Einzelheit durchdachte Stufenleiter von Prüfungen, die von den örtlichen bis hin zu den hauptstädtischen Examen reichte. Wie ich gelesen habe, schickte man die Kandidaten sogar in Klausur. Erst dort erfuhren sie die Prüfungsthemen. Außerdem kennzeichnete man die Arbeiten mit Chiffren anstelle der Namen. Schon bei den Provinzexamen fielen bis zu 98 Prozent der Kandidaten durch. Ein vom Kaiser persönlich ausgewählter Stab von hohen Beamten schlug die für den Aufstieg in die höheren Ränge bestimmten Kandidaten vor – keine ganz einfache Sache, denn die Beamten hafteten persönlich für die Qualität und das Wohlverhalten der jungen Leute. Erwiesen sie sich als Versager, so reichten die Strafen, die der Bürge auf sich nehmen mußte, von Geldbußen bis hin zur Verbannung.« »Ein großartiges System – in der Theorie«, sagte sie rasch und überzeugt. »Leider verhinderte es nicht den Niedergang des kaiserlichen China und seine Auslieferung an die kapitalistischen Mächte des Westens einschließlich Rußlands und Japans – und vor allem nicht die entsetzliche Not der breiten Massen.« »Darin stimme ich Ihnen zu«, sagte Bonnet. »Trotzdem war es eine imponierende Einrichtung – imponierend vor allem durch den Willen, der da120

hinterstand, keine echte Begabung auszulassen.« »Und wie sah es in der Praxis aus?« fragte sie, sah Bonnet fest an und hatte wieder jenes leise, starre Lächeln um die Lippen. »Sicherlich konnte sich jeder melden, auch die Söhne der Kleinbauern und der Lastenträger … Aber hatten sie auch eine Chance, die Prüfungen zu bestehen? Wie sollten sie zu den Kenntnissen kommen, für die auch Hochbegabte jahrelange Studien brauchten – Bücher, Zeit, Lehrer. Nein, nein, das konnten sich nur die Söhne wohlhabender Familien leisten – und die kaiserlichen Jahrbücher bestätigen das. Schon vor tausend Jahren entstammten vierzig Prozent der Kandidaten der Oberschicht, und in den späteren Epochen stieg diese Zahl auf weit über sechzig Prozent.« Mr. Liu blickte auf seine Uhr, um das Ende der Diskussion anzudeuten, und Bonnet wechselte das Thema. »Welche Ziele hat sich die chinesische Schule heute gesetzt?« »Unsere Schule dient dem Proletariat.« »Was heißt das?« »Unsere Schule erzieht die jungen Menschen im Geist des Marxismus-Leninismus. Hier geht das Lernen mit der Praxis Hand in Hand. Die Schüler lernen und beteiligen sich gleichzeitig an der Produktion, wobei wir überzeugt sind, daß das eine das andere fördert und ergänzt. Alle Studien, die nicht der Praxis dienen, sind steril und damit ohne 121

Sinn. Die Ausbildung der besonderen Anlagen des einzelnen ist dabei für die Masse des Proletariats nur insoweit von Interesse, als sie ihn befähigt, damit den breiten Schichten des Volkes besser zu dienen.« Einer der Kollegen, der bisher stumm der halblauten Übersetzung des Dolmetschers gefolgt war, mischte sich ein, und Frau Wu lauschte mit gesenktem Kopf seinen Bemerkungen in einem rasend schnellen Chinesisch. Schließlich nickte sie bestätigend und wandte sich Bonnet zu. »Genosse Feng Hua bittet den ausländischen Freund zu beachten, daß unsere Arbeit in der Schule drei Prinzipien folgt. Erstens: Treue zu den Richtlinien der Partei im allgemeinen«, übersetzte sie. »Zweitens: Anwendung der Richtlinien der Partei im Unterricht. Drittens: Aufbau des Sozialismus und Stärkung der Diktatur des Proletariats, was in der Praxis unseren täglichen Kampf gegen alle bürgerlichen Widerstände fordert.« Bonnet blickte vor sich hin. »Ich hatte heute vormittag Gelegenheit, den Kindergarten der Kommune zu sehen«, sagte er. »Ich nehme an, Ihre Kinder gehen gleichfalls dorthin. Wieviel Stunden am Tag sehen Sie Ihre Kinder?« »Oh, wie reizend von Ihnen, das zu sagen!« rief die Chinesin und lachte ein helles, vergnügtes Lachen. »Ich habe drei Kinder, aber sie gehen schon lange nicht mehr in den Kindergarten. Mein ältester Sohn ist vierzehn.« 122

»Wann sahen Sie ihn zum letztenmal?« »Das wüßte ich selbst nicht einmal mehr genau«, sagte sie ruhig. »Vielleicht vor fünfzehn Monaten. Er ging mit seiner Klasse nach Honan, um dort eine neue Kommune aufzubauen.« »Und Ihre beiden jüngeren Kinder?« forschte Bonnet. »Ach, denen geht es ausgezeichnet, nehme ich an«, rief sie. »Sie besuchen seit zwei Jahren in Peking die höhere Schule. Gelegentlich kommen sie in den Ferien für einige Tage – und manchmal auch nicht.« Sie zögerte plötzlich und blickte auf den Dolmetscher. Niemand außer ihm verstand noch Englisch. »Sie sind recht selbständig, müssen Sie wissen. Sie brauchen mich eigentlich schon gar nicht mehr.« Ein Lächeln huschte über ihren Mund und verschwand sofort wieder. »Sie sind zehn und elf, und sie brauchen mich schon nicht mehr. Erstaunlich, nicht wahr?« Mr. Liu sah wieder auf seine Uhr und räusperte sich. »Wir sollten jetzt aufbrechen, Sir. Der Wagen wartet bereits.« »Ich kann nicht sagen, woran es liegt«, murmelte sie in Gedanken. »Ich kann es nicht erklären. Irgend etwas läuft da nicht richtig. Das ist ein Problem, mit dem ich nicht fertig werde …« Sie hob den Kopf und streifte den Dolmetscher mit einem schnellen Blick. »Das heißt jedoch nicht, daß ich darüber unglücklich wäre«, sagte sie entschlossen. 123

Bonnet nickte. »Noch eine Frage. Es war gerade von bürgerlichen Widerständen die Rede. Welches ist nach Ihrer Meinung das Haupthindernis auf dem Weg zum Sozialismus?« »Das Haupthindernis?« wiederholte sie überrascht. »Nun, die Familie, nehme ich an«, sagte sie dann leise. »Die Kleinfamilie. Die Partei ist der Meinung, daß die Kleinfamilie, wie sie schon seit Tausenden von Jahren besteht, zerschmettert werden muß. Sie sieht in ihr den Hort aller Reaktion.« Bonnet zögerte. Es war ihm unbehaglich zumute. »Und was will man an ihre Stelle setzen?« »Wir müssen die Menschen dazu bringen, daß sie die Volkskommune als ihre Familie betrachten, lehrt die Partei.« »Ein enormes Wagnis, das die Partei da eingeht«, sagte Bonnet. »Vielleicht das größte in der langen Geschichte Chinas.« Die Chinesin sah niemanden an. »Wir alle wurden noch in der Ehrfurcht vor den Eltern erzogen, und doch lassen sie sich nicht mit dem Vorsitzenden Mao und der Partei vergleichen. Wir alle sind daran gewöhnt, die Mutterliebe zu verherrlichen. Aber die Partei lehrt, daß das falsch ist. Es ist ein Rückschritt, lehrt sie, den Menschen von einem sozialen zu einem biologischen Wesen zu erniedrigen.« Bonnet erhob sich mit einem seltsamen tauben Gefühl in den Beinen. »Leben Sie wohl!« Sie reichte ihm die Hand, 124

sah ihn mit einem rätselhaften Blick an, lächelte mit Lippen, die ein wenig zitterten, und schüttelte leicht krampfhaft den Kopf. »Verzeihen Sie, aber es ist nicht immer ganz leicht«, flüsterte sie, und ehe Bonnet etwas sagen konnte, war sie gegangen, und er konnte ihren leichten, schnellen Schritt hören, als sie durch den leeren Tempelvorraum schritt und dann treppab und vorbei an den beiden bronzenen Löwen. Schließlich verhallten ihre Schritte auf dem Kiesweg und verklangen ganz.

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IRINA KORSCHUNOW Mann am Fenster Haller stand am Fenster und sah seiner Frau und dem Jungen nach, wie sie durch den Garten gingen, Hand in Hand den weißen Plattenweg entlang. Angela öffnete und schloß das Tor, prüfte sorgfältig, ob es geschnappt hatte, und Axel blieb stehen, um seinem Vater zuzuwinken. Der kleine, fröhliche Junge, hell in der Morgensonne, den einen Arm erhoben, in der anderen die Zuckertüte, und oben am grünen Hütchen der zitternde Adlerflaum: Haller dachte, daß man es knipsen müsse, dieses Bild, und dachte gleichzeitig an die Aufnahme, die man von ihm selbst gemacht hatte am ersten Schultag, vor einem Mietshaus, kein eigenes Gartentor, so etwas hatten seine Eltern nicht besessen. Ein Mietshaus mit abgeblättertem Putz, graue Wetzsteine vor der Eingangstür, auf der ersten Stufe der Junge im zu großen Matrosenanzug, verschreckt an seine Zukkertüte geklammert. Kein fröhliches Kind, dem Bild nach. Haller glaubte auch kaum, daß er ein fröhliches Kind gewesen war. Natürlich, man wußte nie, ob man die Dinge richtig sah, alles lag so weit zurück, Vergangenheit, zugeschüttet von immer neuen Schichten Vergangenheit. Aber wenn Haller an seine frühen Jahre dachte, sah er Angst, Wolken von Angst. 126

Er sitzt auf der Fußbank beim Küchenherd, und die Mutter sagt: »Geh doch auf den Hof, spiel mit den anderen.« Doch er mag nicht auf den Hof gehen, weil er Angst hat vor den anderen Kindern, die fix sind, unbekümmert zuschlagen. »Geh endlich«, sagt die Mutter und schiebt ihn hinaus, »geh an die Luft.« Er schleicht die Treppe hinunter, drückt sich durch die Tür, möchte unsichtbar werden, hineinkriechen in die hölzerne Füllung – und da sind sie schon über ihm, sie brauchen ihn nur zu sehen, dann geht es auf ihn. Grölende Bubenstimmen, aufgerissene Münder und Augen, Fäuste in der Luft. Wie das Bild sich gewandelt hat. Jetzt waren es die anderen, die sich fürchteten, und vor ihm. Aber das hob die Angst von damals nicht auf. Ob Axel sie schon kannte, diese Angst? Haller versuchte das Gesicht heranzuholen, in ihm zu lesen. Er wußte so wenig von Axel. Die Arbeit fraß einen auf, ein großes Loch, in das man hineinstürzte, Tag für Tag. Erfolg fiel einem nicht in den Schoß, wenn Angela es auch manchmal zu glauben schien, sie hatte schließlich nie um etwas kämpfen müssen. Ob Axel diese Angst kannte? Da ging er über die Straße, sein grüner Hut wippte bei jedem Schritt, nett und adrett sah er aus, wie die anderen Kinder in diesem Viertel. Auf jeden Fall würde Axel nicht dazustehen brauchen wie er selbst damals in der 127

Schule, zitternd gegen seine Bank gedrückt, und rundherum der Hohn der anderen, die an der Jacke zerrten, diese elenden Jacken, ewig zu weit, zu lang, so schief geschnitten, daß es selbst einem Haufen kleiner Jungen auffiel. Haller sah seine Mutter an der Maschine sitzen, Abend für Abend, schon halb im Schlaf, einmal hatte sie sich den Finger durchgenäht, weil ihr die Augen zugefallen waren. »Die rechte Tasche ist viel höher als die linke«, hörte er sich jammern, und seine Mutter sagte: »Schiet wat.« Sie stammte aus einem Heidedorf, dort hatte man die Röcke noch so genäht, daß man den Saum einfach umdrehen und zum Bund machen konnte, wenn er durchgestoßen war. Gut, sie hauste in ihrer Küche und brauchte sich nicht um die Stadt zu kümmern, in die es sie verschlagen hatte. Aber ihn, dachte Haller, ihn hatten sie hinausgeschickt, und da war es mit derben Sprüchen nicht getan, und sicher lag es zum Teil an den schiefgeschnittenen Jacken, daß er vom Turm springen mußte, acht Meter hoch, und unten das schwarze Wasser. Dieser verdammte Turm, mitgeschleppt durch Jahre und Jahre wie ein Teil des Körpers, und immer wieder die Treppen hinaufsteigen, immer wieder springen, immer geht alles wieder von vorn los. Vielleicht, wenn jemand da wäre, mit dem man darüber sprechen könnte, irgendwo sitzen im Dunkeln und es herauslaufen lassen wie Wasser, das man geschluckt hat, eine Unmenge Wasser, die Lungen 128

voll zum Ersticken – vielleicht käme man hinter, daß alles ein Irrtum war, daß es nichts zu bedeuten hatte, das mit dem Turm. Aber wer? Angela? Mit einer schnellen Bewegung schob Haller den Namen beiseite, den Blick, der zu dem Namen gehörte, für alles bereitgehalten, was über die wohltemperierte Alltagskurve hinauszuckte. Sehr aufrecht ging Angela die Allee entlang, mit ihrem raschen, exakten Gang, ein Schritt wie der andere. Axel an ihrer Hand machte den Versuch stehenzubleiben. Haller sah, wie er nach oben zeigte, vielleicht, daß er ein Vogelnest entdeckt oder eines in die Zweige hineinphantasiert hatte. Angela behauptete, sein Kopf stecke voller Flausen. Da faßte sie ihn auch schon fester, die kleinen Schritte in ihren Rhythmus zwingend, zwei gleichbewegte Körper wieder unter den Kastanien der Allee. Vermutlich, dachte Haller, waren Axels Flausen und Abenteuer nur Geschichten, die er sich selbst erzählte, in der eingemauerten Gartenlandschaft, in seinem Reservat mit Sandkasten, Reck und Schaukel. Wohlerzogene Kinder kamen zu ihm zum Spielen, er erwiderte die Besuche in ihren Gärten. Und jetzt wurde er hinausgejagt, schutzlos, unvorbereitet, das war fast noch schlimmer, als wenn er schiefgeschnittene Jacken trüge. Aber vielleicht hatte Angela es schon geschafft, vielleicht hatte sie ihm ihre Gangart schon ins Blut gezwungen, vielleicht, dachte Haller, war er überhaupt nach Angela geraten, einer von den Kühlen, den Zuschauern und Danebenstehenden, 129

und das wäre gut für ihn, dann würde er bestimmt nicht vom Turm springen müssen. Angela, die nie aus ihrem Gleichmaß fiel, keine Exzesse, nicht im Guten, nicht im Bösen, immer liebenswürdig, mit der man sich nie zanken konnte. Vielleicht, dachte Haller, wäre es besser, wenn sie sich zanken könnten, sich hineinwerfen in das Wildwasser eines lauten Streits, wo man von Strudeln gegriffen wird, hinuntergezogen und wieder ausgespuckt, um plötzlich in der Stille eines Uferstreifens zu sich zu kommen. Aber Angela blieb immer am Rand stehen, kein Gedanke daran, abzuspringen, und wenn man sie mitreißen wollte, so machte sie sich los, mit einer ruhigen, verwunderten Geste, und ging davon im Rhythmus ihrer klappernden Schritte. Nein, Angela würde es nie begreifen, das mit dem Turm, und was Axel betraf, so wäre es auch für ihn besser, nichts davon zu begreifen. Da ging er, sein kleiner Sohn, die Alleebäume rückten immer dichter an ihn heran, Alleebäume, keine Mietskasernen, das war schon ein Unterschied, und die Schule in einem guten Viertel, ein reicher Vater im Hintergrund. Vielleicht würden sie ihn schonen, ihn nicht in Ecken drücken und an Wände. Haller sah sich, wenn er zurückblickte in die ersten Schuljahre, immer in Ecken und an Wände gedrückt, das Relief eines zitternden, schäbigen Jungen, ausgeliefert an die johlende, puffende, prügelnde Horde, zu der er so gern gehört hätte, johlend und prügelnd wie sie. Aber damals 130

konnte er es noch nicht. Jeden Abend, wenn er im Bett lag und die Dunkelheit rundum wuchs und wuchs, ein riesiger Ballon voller Schwärze, und er mitten darin, immer kleiner werdend, winzig, ganz winzig – jeden Abend nahm er es sich vor, zurückzuschlagen am nächsten Morgen. Aber er brachte es nicht fertig, die Hand blieb ihm in der Luft hängen, er hatte Angst, zuzuschlagen und wehzutun. Vielleicht – er wußte es nicht mehr genau, aber er glaubte, daß es so gewesen war – vielleicht hatte er die Versprechungen, die man ihn lehrte, Gott zu geben, ernstgenommen. Seine Mutter war fromm gewesen, von Anfang an bemüht, ihn auf ihren lieben Gott zu verpflichten. Er auf seinem Bänkchen am Ofen, und sie am Herd oder an der Maschine, und aus ihrem Mund träufelten die Geschichten von Hiob und Josef, dem Töchterlein des Jairos, der Bergpredigt, schöne Geschichten, er konnte nicht genug davon hören, und vielleicht, dachte Haller, war er einer von jenen gewesen, die die linke Wange hinhalten, wenn man ihnen die rechte schlägt. Vielleicht war er gut gewesen, oder ein Teil von ihm gut gewesen, und wenn das so war, so hoffte er nur, daß es sich nicht wiederholte bei Axel. Denn dann würde ihm auch sein schöner Anzug nichts nützen und die Villa im Garten, dann würde sich die Meute zusammenrotten, schwarz und geifernd gegen den mit dem fremden Geruch, und so gern er mit ihr laufen möchte, aufgenommen in die warme Mitte, weil das Land groß ist und er allein verloren 131

– sie will ihn nicht, nicht so, wie er ist, nur so, wie sie selbst ist, und hetzt ihn, hetzt ihn immer weiter, bis zum äußersten, bis hinauf auf den Turm, bis er oben auf dem Turm steht und springen muß. Da ging Axel, ganz klein nur noch am Ende der Allee, und als Haller daran dachte, daß sie vielleicht auch Axel den Turm hinauftreiben könnten, acht Meter hoch über dem Wasser, daß er dort oben stünde, ein schmaler Strich im Sommertag, zitternd, nur Angst, ganz reduziert auf Angst, sein Junge – als Haller daran dachte, glaubte er für einen Moment, es nicht zulassen zu können, hinter ihm herlaufen zu müssen, ihn zurückholen, ihn verstecken zu müssen. Hinter ihm herlaufen die Allee entlang, laufen, laufen, laufen, und dort vorn ein weißer Adlerflaum, immer gleich weit entfernt, so schnell man auch läuft. Dann, ganz plötzlich, hält man sie in den Händen, die mageren Schultern, will sie unter den Mantel ziehen, wie früher, als Axel klein war. Aber das sind Angelas Augen, der kühle, gelassene Blick, und langsam gleiten die Hände von den Schultern. Axel geht wieder, zusammen gehen sie weiter, Axel und Angela, werden kleiner, verschwinden. Was wußte Angela von der Feindschaft der Meute, Angela, immer am Rande mitlaufend, ohne fremden Geruch. Auch in seiner Klasse, erinnerte sich Haller, waren einige von dieser Art gewesen, abseits, den Schlägern zusehend oder über sie hinwegsehend, und wenn er es bedachte, so hatte er 132

sie besonders gehaßt, später, als er gelernt hatte zu hassen. Und dann war er auf Angela verfallen. Vielleicht, daß sie doch ein Wunschbild verkörperte, wie sie dasaß im Haus ihres Vaters, so eingefädelt in innere und äußere Sicherheit – ganz abgesehen davon, daß er sie haben wollte, auch ihres Geldes wegen, vor allem aber, weil man nicht bereit war, sie ihm zu geben, dem Emporkömmling, der sich nach oben gewühlt hatte ins Helle. Es hatte ihm Spaß gemacht, sie ihrem Vater wegzureißen und dem, der sie haben sollte. Es war ihm schon in Fleisch und Blut übergegangen, das Wegreißen, er ließ sich nicht mehr in die Quere kommen, damals nicht und heute erst recht nicht. Die Leute sagten, er sei brutal, aber warum hatten sie ihn auf den Turm gejagt. Jetzt winselten sie um ihn herum mit ihren Wechseln, aber warum hatten sie das getan, das mit dem Turm? Es war ein so blauer Sommertag gewesen, er wußte es noch genau, der Himmel von derselben Farbe wie das Kleid der Musiklehrerin, Fräulein Munk hieß sie. Er hatte Fräulein Munk sehr gern, er freute sich die ganze Woche auf die Chorstunde am Montagnachmittag, in der es friedlich zuging, mit schönen Liedern, seine Stimme eingelegt in die Stimmen rundherum, helle Stimmen, noch nicht getroffen vom Bruch. »Kumm, o kumm, Geselle min«, hatten sie geübt an jenem Tag, und er war beinahe glücklich gewesen dort oben auf dem Podium, einer zwischen den anderen, und der Sommer vor den geöffneten Fenstern. Niemand tat 133

ihm etwas, kein Puff von hinten, kein Bein, über das er fiel, er fühlte sich zugehörig, treibend in der Mitte der anderen, hinaustreibend aus dem Musiksaal, hinaus aus der Schulpforte, mit den anderen zur Badeanstalt. So ein blauer Sommertag, tausend Sommer in einem Extrakt von Sommer, grün das Wasser, in weißen Wellen der Strand, Schreie hinund herschwirrend. Und er taucht vom Warmen ins Kühle und zurück und liegt auf den heißen Planken des Laufstegs und läßt die Nässe verdampfen und ist Teil eines großen, feuchten Körpers und versteht den Ruf nicht gleich, will ihn vorbeifliegen lassen, aber der fliegt nicht weiter, bleibt stehen, wird groß und schrill, und da sind sie schon über ihm: »Haller, spring vom Turm!« »Haller, spring vom Turm!« schrien sie, griffen ihn, stießen ihn endlose Leitersprossen hinauf, und dann stand er oben auf der Plattform, acht Meter über dem Wasser, an das Geländer geklammert, ein schmaler Strich, körperlos, ohne Gewicht, eingepreßt zwischen die hitzeschwere Luft und die Tiefe, in die er springen sollte. Er stand oben auf dem Turm, die Meute im Rücken, und in diesen Sekunden oder Minuten oder woraus immer dieses Stück Zeit sich zusammensetzte, hörte er auf, zu sein, was er bisher gewesen war, wurde Angst, geballte Angst, ein Ballen Angst, und als er sprang, ins Leere hineinstürzend, explodierte die Angst, Wolken von Haß flammten auf, ein rasender Feuerball, in dem er und sein ganzes zukünftiges 134

Leben kreisten, und als er aufschlug auf das Wasser, vom Dunkel eingeholt und wieder ausgeworfen, da war er ein anderer geworden, einer, der über den nächstbesten seiner Peiniger herfiel, auf das bloße Fleisch losdreschend, ohne Gedanken daran, daß es wehtun könnte. Der Geprügelte wollte sich wehren, aber es gab kein Wehren gegen diese Fäuste. Die anderen standen stumm daneben. Sie spürten, daß es sinnlos war, ihm in den Weg zu kommen. Als ob es gestern gewesen ist, dachte Haller. Er sah sich über den Laufsteg gehen, die starre Wut der anderen im Rücken, ein trauriger kleiner Junge, der etwas verloren hatte. Viel zu früh, so früh hätte es nicht passieren dürfen. Er hatte sich eine Menge geholt dafür, alles, was er wollte, aber es war immer geblieben wie damals, jeder Erfolg schleppte Trauer hinter sich her. Selbst mit Axel war es so. Er hatte ihn ins Leben gezwungen, Angela zu Ärzten geschickt, zu Kuren, Operationen, weil er einen Erben wollte. Ein Erbe hatte noch gefehlt, und nun war es Axel, sein Junge. Bald würde er in der Klasse sitzen, unter den anderen Jungen, Bildchen malen sie, Liedchen singen sie, und plötzlich die Entdeckung, daß es Fäuste gibt, mit denen man schlagen kann. Was würden sie ihm tun? Was er ihnen? Vielleicht ging alles gut, vielleicht kam er um alles herum, vielleicht konnte er ungestört heranwachsen hinter den Barrieren der Kindheit. Nur um ihn, seinen Vater, gab es kein Herumkommen. Er stand da, unausweichlich, mit allem, was er war und besaß und 135

wie er es sich geholt hatte. Würde Axel eines Tages in das gleiche Leben springen, hinein in dieses schwarze Wasser? Dann wäre ich es, der ihn gestoßen hätte, dachte Haller, ich, und er wünschte, sie hätten ihn damals gelassen, wie er war, linkisch und furchtsam. Dann könnte er seinen Sohn in Ruhe heranwachsen sehen, ohne Angst, daß er werden könnte, wie er selbst geworden war. Aber, dachte Haller, warum sollte Axel so werden? Wenn er es nicht in sich hat, das Prügeln, dann prügelt er nicht, und wenn er es in sich hat, dann kommt es durch, so oder so. Wahrscheinlich wäre es auch bei ihm selbst durchgekommen, langsam hervorsickernd, von innen nach außen, wie das Wasser an der nördlichen Hauswand, erst ein Punkt und jetzt ein großer, ausgefaserter Fleck, weil irgendwo ein Rohr schadhaft ist, ein haarfeiner Riß, wer weiß, wie lange schon, und nicht zu finden. Vielleicht war er nur feige gewesen damals, einer von denen, die sich hinter Geschichten der Mutter verkriechen und schiefgeschnittenen Jacken, als ob es darauf ankäme. Vielleicht war alles gar nicht so, wie er es jetzt sah, und auch bei Axel würde alles anders sein, auch Axel mußte sein eigenes Leben auswachsen. Haller stand am Fenster und hatte Angst um ihn und dachte, immer im Kreis, daß er ihm doch helfen müßte. Aber er wußte nicht, wie.

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GINA RUCK-PAUQUÈT Der Baum in der Stadt Die Kinder nannten das unbebaute Grundstück an der Straßenecke »den Garten«. Jetzt stand das Gras so hoch, daß es Kiri bis an die Knie reichte. Aber sie war auch noch ziemlich klein. Ihr Bruder Gerd hob sie auf den untersten Ast des Baumes, dann kletterten auch Jochen und er hinauf. Hoch über Kiris Kopf hatten sie »ihre Stelle«. Der Baum war der Mittelpunkt des Gartens. Es war eine alte Buche. Ihre starken Äste lagen in geringem Abstand übereinander, und ein Junge vermochte ohne weiteres bis in ihren Gipfel zu gelangen. Jochen und Gerd konnten die Straße übersehen. Sie spielten das Autospiel. »Mercedes 300!« rief Gerd. »Der gehört mir!« Und Jochen nahm einen BMW in sein Eigentum auf. Kiri kannte die Regeln des Spieles nicht. Sie wollte sie auch gar nicht kennen. Sie war vorsichtig ein Stückchen höher geklettert und kuschelte sich nun in ihr Blätternest. Sie drückte die Nase an die braune Rinde des Baumes und schnupperte daran. Sie war ein Eichhörnchen. Wenn sie die Augen schloß, konnte sie sich ein rotes Fell träumen. Und 137

einen dicken, buschigen Schwanz. Die Straße war sehr laut. Aber Eichhörnchen hören so etwas nicht. Sie hören, wie der Wind mit den Blättern raschelt. Und sie spüren die Sonne auf ihren Pfoten. Sie war ein Eichhörnchen und wohnte hier. Immer. Im Winter würde sie einfach die Augen schließen. »Kiri?« Das war Gerd. »Piep«, antwortete Kiri. Sie wußte nicht genau, wie Eichhörnchen sprechen. »Ist gut«, sagte Gerd. Er fürchtete manchmal, sie sei hinuntergefallen. Kiri hatte den Eindruck, Gerd habe mit vollem Mund gesprochen. Wahrscheinlich aßen sie Gummischlangen. Wer wußte schon, was die alles da oben hatten! Aber es machte ihr nichts aus. Wenn sie wollte, war sie ein Vogel und flog fort. Das hatte sie gestern auch gemacht, als die Jungen so laut waren. »Siehst du ihn?« hatte Jochen gerufen. »Den Piloten! Ich seh’ den Piloten! So sitze ich später auch in meinem Flugzeug!« Und Gerd hatte geschrien, es stehe seit langem fest, daß er, Gerd, Pilot werde. Und Jochen solle ihm nicht alles nachmachen. Da hatte Kiri, die ein Goldvogel war, ihre Flügel gebreitet, war emporgestiegen und auf einer Wolke gelandet. Und die Wolke war im blauen Himmel 138

herumgefahren und hatte manchmal geschaukelt wie der Omnibus der Linie sieben. Aber dann war es Abend, und sie mußte zurück auf den Baum. Und dann wurde sie wieder Kiri, und Gerd half ihr hinunter, und sie gingen nach Hause. Das war nicht so schlimm, denn sie kamen alle Tage wieder her. Auch wenn es regnete. Kiri spannte einfach den kleinen, roten Schirm auf, und die Jungen hatten sich ein Dach aus Pappe zwischen die Zweige gebaut. Manchmal machten sie sogar ihre Schulaufgaben da oben. Der Baum war schon prima! Eines Tages aber stand ein Schild auf dem Eckgrundstück. »Zu verkaufen«, las Gerd. Sie schauten sich an. Nie wäre einer von ihnen auf den Gedanken gekommen, daß der Garten einen Besitzer habe. Dann kletterten sie auf den Baum und vergaßen es wieder. Es war der Tag, an dem die Jungen lasen und Kiri nicht Mundharmonika spielen durfte, weil das störte. Da weinte sie ein bißchen. Aber weil sie den Arm um den dicken Baumstamm legen konnte, war es nicht so schlimm. Eine Zeitlang geschah nichts Außergewöhnliches. Dann waren plötzlich Leute im Garten. »Es scheint mir das richtige zu sein«, sagte der Mann im hellen Anzug. »Ich glaube, ich kaufe es.« 139

Die Kinder hielten sich ganz still. »Was wird passieren?« fragte Jochen, als die Männer fort waren. »Wird er hier ein Haus bauen? Dann fällt er unseren Baum!« »Denkste!« knurrte Gerd. Er steckte beide Hände tief in die Hosentaschen. »Der Baum bleibt!« Sie kletterten hinauf zu ihrer Stelle und redeten darüber. »Ich glaube nicht, daß er ihn so einfach umhauen darf«, meinte Gerd. »Nee!« rief Jochen. »Mein Vater hat gesagt, es sind sowieso zu wenig Bäume in der Stadt. Darum ist auch die Luft so schlecht.« »Ich kenne einen von der Polizei«, erklärte Gerd, »der hilft uns bestimmt.« Kiri hörte nur mit halbem Ohr hin. Sie machte sich keine Sorgen. Das gab es nicht, daß jemand den Baum fällte! Erstens war er viel zu groß, und zweitens war er schon immer da. Sie schloß die Augen und träumte, daß der Baum mit ihr spazierenging. Tap, tap, tap die Straße entlang. Und alle Autos mußten warten. »Versteh’ ich nicht«, sagte Jochen am anderen Tag, als Gerd von der Polizei zurückkam. »Na ja«, sagte Gerd, »er hat gesagt, es tut ihm auch leid. Aber hier ist nun mal ’ne große Stadt, und Menschen brauchen Häuser, um darin zu leben. Da müssen die Bäume Platz machen. Früher 140

sollen hier überhaupt lauter Wälder gewesen sein.« »Und was jetzt?« fragte Jochen. Gerd dachte nach. Plötzlich lachte er los. »Mensch!« sagte er. »Ganz einfach! Schließlich haben wir Ferien. Wir werden abwechselnd oben wachen. Glaubst du, daß sie einen Baum fällen, wenn ein Kind darin sitzt?« »Nee«, meinte Jochen. Und dann lachten sie beide. Nach zwei Tagen war es soweit. Gerd wollte eben Jochen ablösen, als der Lastwagen vorfuhr. Schnell hob Gerd Kiri auf den untersten Ast und kletterte selbst hinauf. Es waren sechs Männer, die jetzt ihr Werkzeug heranschleppten. »Na, denn komm mal runter!« rief ein junger Bursche Kiri zu. »Nein«, sagte sie. »Was heißt hier nein?« brummte einer, der ein rotes Hemd trug. »Wir wollen nicht, daß der Baum gefällt wird!« schrie Jochen. Und Gerd fügte hinzu: »Wir bleiben sitzen!« Der mit dem roten Hemd wurde wütend. Die anderen lachten. »Nun kommt schon«, sagte da der Leiter des Trupps, der ein alter Mann war. »Hat ja doch keinen Zweck.« »Hat Zweck!« schrie Gerd. »Ihr könnt den Baum nicht umhauen, wenn wir drauf sitzen!« »Das nicht«, gab der Alte zu. »Aber wir können 141

euch runterholen«, erklärte er dann. »Pah!« machte Jochen. »Zur Not mit der Feuerwehr.« »Ihr dürft den Baum nicht fällen«, sagte Gerd. »Er ist schön. Und er ist der letzte weit und breit.« Der alte Mann zündete sich eine Zigarette an. Er nickte. »Ich versteh’ euch schon«, sagte er. »Ist auch schade. Aber der Baum wird gefällt werden, und ihr könnt es nicht ändern. Ich möchte euch nicht mit Gewalt runterholen. Aber wenn eine Sache keinen Sinn hat, sollte man ein guter Verlierer sein. Überlegt euch das. Eine Minute Bedenkzeit.« »Wir gehen nicht runter!« schrie Kiri. »Sei still«, sagte Gerd. Und auf einmal war er neben ihr. Und es war wie alle Tage, wenn er ihr vom Baum half, weil sie nach Hause mußten. Aber es war trotzdem ganz anders. Zuerst sperrten die Männer das Grundstück ab. Die Kinder mußten zurück bis auf den Bürgersteig. Dann hörte Kiri die Schläge der Axt. Sie schaute nicht hin. Der Baum würde nicht gefällt werden, das war klar. Irgend etwas würde geschehen. Jochen und Gerd sahen schweigend zu, wie sich die elektrische Säge in den Baum fraß. Seltsam starr standen sie nebeneinander, und man hätte meinen können, daß sie Feinde seien. Kiri blickte auf die Straße. Die Jungen würden etwas unternehmen. Die machten das schon. Sie mußte nur ein bißchen warten. 142

Aber dann drehte sie sich plötzlich um. Es war der Augenblick, in dem der Baum fiel. Kiri sah, wie er sich langsam vornüberneigte. Danach war der Himmel groß und sehr leer. Kiri blickte die Jungen an. »Nein«, sagte sie. Und als sie keine Antwort bekam, nach einer Weile noch einmal: »Nein.«

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EVA RECHLIN Dornen Markus, sagte ich, sieht aus wie ein immer frisch gebadeter kleiner Indianer. Olivbraun, schwarzes glattes Ponyhaar. Schwarzbraune Pupillen in milchig blauen Augäpfeln. Er lispelt ulkig, wie manche Berliner lispeln. Gehörst du zum Kastanienhaus? fragte ich, nachdem er mir zum viertenmal auf dem einsamen Weg durch die Wiesen begegnet. Das Kastanienhaus liegt hinter den Wiesen am Waldrand, wechselt Jahr um Jahr die Besitzer, erst vor ein paar Wochen wieder. Große alte Villa, viel warmes dunkles Holz außen und innen. Markus nickt, bleibt stehen, wartet auf weitere Fragen, nennt auf die nächste seinen Namen und wartet auf noch mehr Fragen. Die vielen Kinder, die neuerdings das Kastanienhaus bewohnen, sind auffallend glücklich, wenn einer ihretwegen anhält. Alle hoffen und hoffen sie, daß jemand mit ihnen redet. Man wird sie nicht wieder los, sagt Frau B., wenn man erst mal mit ihnen zu reden anfängt. Man wird sie nicht wieder los. Besonders Marion nicht, obwohl gerade sie es einem zunächst am schwersten macht. Verstockt, lauernd, mißtrauisch. Acht Jahre, und weiß nicht mal ihren Geburtstag. Der ist wohl 144

nie gefeiert worden – etwas so Wichtiges wie ein Kindergeburtstag! Und auf die Frage, wie alt, hielt sie bloß acht Finger hoch. Hat man sie aber erst mal so weit, daß sie mit einem redet, wird man sie nicht mehr los. Bei uns holen sie die Milch fürs Kastanienhaus, sagt die Bäuerin vom Wiesenhof, und sie kommen fast immer im Rudel. Ich hab’ doch keine Zeit für die. Kühe und Wiesen und eigene Kinder und Feriengäste machen genug Arbeit. Sauber und anständig gekleidet sind sie ja, die vom Kastanienhaus. Aber dieses Gefrage und Geschwatze! Stadtkinder. Keiner will sie haben. Nicht mal die eigenen Eltern. Da stimmt doch was nicht. Ihre Eltern hätten keine Zeit, sagen sie. Und wir? Wir arbeiten schließlich auch. Hat man deshalb keinen Platz für sein Kind? Platz findet sich doch immer. Was ist mit Eltern los, die in ihrem Leben keinen Platz für ihr Kind haben? Da stimmt doch was nicht! Zeit müßte man für sie haben, sage ich. Daß man sich mal Zeit für sie nimmt, ist das wichtigste. Markus treffe ich heute im Rudel. Er bleibt einfach stehen, strahlt mich an. Wir sind also Bekannte, seit wir miteinander geredet haben. Er wohnt mit Peter in einem Zimmer. In allen Heimen bisher gab es nur Schlafsäle. Ein Zimmer für nur zwei, das ist das tollste am Kastanienhaus. Platz ist eben auch wichtig. Und in den Sommerferien darf Markus vierzehn Tage nach Göttingen zu seiner Mutter. Sie studiert noch. Darum ist er hier. Aber wenn sie fer145

tig ist, darf er vielleicht für immer zu seiner Mutter. Für immer und ewig, sagt Markus, für immer und ewig zu meiner Mutter. Peter dagegen redet nur von einem Vater. Nicht von seinem, von einem Vater. Er lügt ein bißchen, sagt Markus, augenzwinkernd. Fast jede Woche lügt er uns einen neuen Vater vor. Seit vorgestern ist es der Tankwart auf dem Weg zur Schule. Der fährt einen Porsche und hat Peter Kaugummi geschenkt, und Peter durfte alles anfassen auf der Tankstelle, und der Tankwart hat beinahe eine Stunde mit Peter geredet, eine volle Stunde beinahe! Und jetzt behauptet Peter, der Tankwart wäre sein Vater. Schon der achte mindestens, seit sie im Kastanienhaus sind – oder, Peter? Peter grinst. Markus grinst. Mir ist es ja egal, sagt Markus, aber Oliver – den macht jeder neue Vater wütend und immer wütender. Darf ich Ihren Hund streicheln? fragt Marion, die bis dahin stumm am Wegrand hockte. Erst streichelt sie den Hund, umschlingt ihn bald, tupft Küßchen auf sein Fell. Die Heimleitung hat den Kindern zwei Ponys und einen Hund gestiftet, sagt Frau B.; Marion erzählte es mir heute im Handarbeitsunterricht. Ein Bastard, der Hund, nicht schön, doch gutmütig. Nur so einer kann das Gekose und Geküsse von zweiundzwanzig ungeliebten Kindern ertragen. Schlimm sind die einheimischen Schüler, trotz aller 146

Aufklärung. Für sie sind die aus dem Kastanienhaus asoziale Idioten, die keiner haben wollte. Als wäre etwas faul an ihnen. In den Pausen auf dem Schulhof stehen die einen allein, und die anderen wollen sie auch hier nicht haben. Wie Rassenhaß. Und der Hochmut der Einheimischen, daß sie zu Hause leben dürfen! Nur Oliver wehrt sich. Oliver schlägt um sich. Oliver straft die Hochmütigen mit Prügel. Aber das ist keine Lösung, das macht alles nur schlimmer, das reißt den Graben immer tiefer. Und die anderen sind ja auch in der Mehrheit. Wenn sie sich mal zusammenrotten gegen das Kastanienhaus und seinen blindwütigen Ritter Oliver – nicht auszudenken. Hätte ich nicht selbst vier Kinder am Hals, sagt Frau Gr., ich ließe alles stehen und liegen für diese gottserbärmlich armen Würmchen im Kastanienhaus. Ein ganzes Rudel von dort blieb heute an meinem Vorgartenzaun stehen und starrte auf meine zwei Jüngsten, wie sie mir im Blumenbeet halfen. Starrten richtig sehnsüchtig durch den Zaun. Eine Frage an die, und sie erzählen einem alles. Es sind Zwillinge dabei, Edi und Adi. Sehen ja tatsächlich aus wie kleine Äffchen und können mit fünf noch kaum reden. Das sind unsere Doofis, erklärte ein großer Frecher. Oliver. Alle redeten und redeten. Man braucht nur hin und wieder anzustupsen, schon geht’s weiter. Einer 147

behauptet, unser Pfarrer wäre sein Vater. Peter. Nur eine etwa achtjährige Blonde sagte kein Wort. Marion. Die Ponys stellen sie bei uns ein, sagt die Bäuerin vom Wiesenhof, und jeden Tag kommt die Kindergärtnerin mit einem Rudel her, und ein paar dürfen reiten. Verschwendung, wenn Sie mich fragen, es gibt schließlich genug Natur hier. Was sind das denn für Kinder? Die einen unehelich, die anderen vernachlässigt, die dritten für viel Geld von vergnügungssüchtigen Eltern ins Heim abgeschoben, die vierten vom Jugendamt eingewiesen, die fünften aus gescheiterten Ehen, die sechsten von überlasteten Eltern, und der Steuerzahler darf es büßen. Aber Ponys halten müssen sich solche. Man könnte statt dessen eine Kuh füttern, bei dem Milchverbrauch im Kastanienhaus. Denken Sie doch mal praktisch! Ja, ich weiß, die Kinder können nichts dafür, für das alles. Mich geht es ja auch nichts an. Wir haben unsere eigenen Sorgen. Und selbst noch Schreihälse im Haus. Darf ich Ihren Hund streicheln? sagt Marion und steht mit drei vom Wegrand gezupften Margeriten vor der Haustür. Sie bringt mir einen Blumenstrauß, wir wollen ihn gleich in die richtige Vase stellen. Es paßt nur ein Eierbecher. Marion findet das schön. Drinnen vergißt sie den Hund, huscht nur rat148

tenhaft von Zimmer zu Zimmer und will es nicht glauben – ein ganzes Haus für eine einzige kleine Familie mit Hund. Ein ganzes Haus. Es muß ihr ja aufstoßen: Wir sind zwölf Kinder zu Hause, Papa arbeitslos, Frühinvalide, und nur drei Zimmer. Und die älteren Schwestern kriegen selbst auch schon wieder Kinder, und allesamt in drei Zimmern, alle und alles, und in den Ferien muß sie womöglich wieder dahin. Aber ihr Geburtstag ist Gott sei Dank noch vorher, hat die Heimleiterin gesagt, und diesmal wird er gefeiert, im Kastanienhaus. Dabei huscht sie von Zimmer zu Zimmer, zum erstenmal in einem Haus, das nur eine Familie bewohnt. Und so viele Bücher in den Regalen. Ob nicht eines für sie dabei wäre? Wer so viele hätte, könnte doch eines spenden. Ihre Eltern und elf Geschwister kriegten öfters Spenden. Oder zwei Bücher, mit Bildern drin. Richtig zufrieden ist sie erst nach der dritten Spende. Beim gemeinsamen Verlassen des Hauses – mit Hund – entdeckt Marion die einzige Rose, die diesen Sommer im Garten blüht. Alle anderen Knospen haben nachts die Rehe gefressen, nur diese eine blühte auf. Rosen mag ich am liebsten, sagt Marion und streckt die Hand danach aus. Es ist unsere einzige, sage ich, sie gehört unserem Vater, er hat sie gezüchtet, es ist eine sehr kostbare Sorte, und du hast doch schon die drei Bücher. Aber Rosen mag ich am liebsten, sagt Marion 149

und streichelt die Rose. Komm, sage ich, du mußt ins Kastanienhaus, es wird Abend. Oliver und Peter dürfen nicht länger zusammen im gleichen Haus bleiben, sagt Markus. Die spinnen ja alle beide. Gut, daß bald Ferien sind, dann darf ich vierzehn Tage nach Göttingen. Nämlich zu meiner Mutter. Danach muß sie wieder weiterarbeiten, bis sie mit dem Studium fertig ist und mich holen kann. Oliver muß nach Nizza zu seinem Vater, auch in den Ferien. Er will nicht. Hat einen Vater, sogar einen reichen, und will ihn nicht. Verstehen Sie das? Warum dürfen Oliver und Peter nicht länger zusammenbleiben? Wir haben einen Fernsehapparat gekriegt, sagt Markus, nur für uns. Was wir sehen dürfen, stimmen wir ab. Bis jetzt klappt es. Bloß gestern gab es Stunk, aber nicht wegen dem Programm. Gestern hat Peter gesagt, der eine Sportreporter, ist ja egal welcher, stimmt ja sowieso nicht, also der wäre sein Vater. Sogar Edilein und Adilein habens kapiert und wollten sich kaputtlachen. Nur Oliver hat nicht gelacht. Ganz langsam ist er aufgestanden und auf Peter los, und ganz ernst dabei. Ich kann das nicht mehr hören, hat Oliver gesagt, daß einer hier dauernd von Vater-Vater-Vater spinnt. Und dann hat es auch schon gekracht. Peter mit dem Kopf an die Wand. So was von Kinnhaken wie Olivers Kinnhaken hat die Welt noch nicht gesehen. Alle schrien, bloß Peter nicht. Der war bewußtlos. 150

Der liegt jetzt im Bett. Gehirnerschütterung. Und kein Wort mehr von Vater. Komisch, oder? Ich sah Sie vorhin mit dem kleinen Dunklen aus dem Kastanienhaus, sagt Frau Gr. über ihren Zaun herüber, das ist der netteste. Unehelich, soviel ich rauskriegen konnte, Mutter studiert. Den würde ich glatt nehmen, so aufgeweckt und exotisch. Aber seien Sie vorsichtig, geben Sie dem Rudel keine Süßigkeiten, das war mein Fehler. Es macht sie frech. Im Ernst. Einmal Schokolade an sie verschenken – und beim nächstenmal fordern sie es bereits oder betteln. Man muß da eben erst Erfahrungen sammeln. Süßigkeiten sind ja auch kein Ersatz für das, was ihnen fehlt. Mit Geschenken macht man sie zu Affen im Zoo. Zeit nehmen müßte man sich für sie, fragt sich bloß, woher? Übrigens sah ich vorhin die stille kleine Blonde aus Ihrem Garten kommen, wollte wohl was von Ihnen und war keiner da. Wie haben Sie es geschafft, daß sie den Mund aufmacht? Ach ja, natürlich, der Hund … Für was alles hat Marion sich an unserer Rose gerächt? Die samtroten Blütenblätter liegen zerrupft und zertrampelt vor der Haustür. Sie hat den Stiel regelrecht geköpft. Rosen mag ich am liebsten, sagte Marion. Sprach wenigstens endlich. Übrig bleiben Dornen, nichts als Dornen.

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HEINZ VONHOFF Sand ist locker I Bericht des Hausarztes der Johanna K. an den Leiter des Inselheimes Johanna K., 11 Jahre alt, leidet an Heuschnupfen und weiteren Allergien, besonders der Haut. Ein Kuraufenthalt an der See erscheint deshalb dringend geboten. Das Mädchen hat in den vergangenen Jahren bereits einigemal gemeinsam mit seiner Mutter die Sommerferien an der See verlebt. Der heilende Einfluß des Seeklimas auf ihre Allergien ist unverkennbar, sollte aber durch einen vier- bis sechswöchigen Kuraufenthalt verstärkt werden. Außerdem kann erwartet werden, daß der Aufenthalt in der Gemeinschaft der Kinder des Heimes für Johanna K. auch eine Überwindung ihrer unverkennbaren Kontaktarmut mit sich bringen wird. Johanna K. ist nicht nur ein Einzelkind, sondern zugleich auch so stark mutterbezogen, daß sie auch in der Schule völlig vereinsamt und bis jetzt nicht gemeinschaftsfähig erscheint. Die Heimleitung wird deshalb gebeten, in besonderer Weise darauf zu achten, daß Johanna K. Kontakt mit den übrigen Kindern bekommt und Zugang zur 152

Gemeinschaft im Heim findet. Die starke Bindung an die Mutter unter nahezu völliger Ablehnung anderer Bindungen, etwa an Kinder der Nachbarschaft oder der Schulklasse, hat ihre Ursache auch darin, daß die Ehe der Mutter schon sehr früh geschieden wurde. Die Mutter lebt ebenfalls gemeinschaftsfern und allein für ihre Tochter. Das hat sich auch bei den bisherigen Inselaufenthalten leider nicht geändert. Die Mutter sieht diese Schwierigkeit und hat sich deshalb dringend um einen Heimaufenthalt der Tochter bemüht. II Erster Brief der Johanna K. aus dem Inselheim an die Mutter Liebe Mutter! Nun sind wir schon acht Tage auf der Insel. Als Du wieder weggefahren bist, habe ich viel geweint. Deshalb habe ich da noch nicht geschrieben. Ich wollte Dir nicht weh tun. Jetzt ist es aber anders. Es gefällt mir hier gut. Der Heimarzt ist gut zu mir und gar nicht so streng. Ich gehöre zu der Gruppe von Schwester Monika. Schwester Monika ist auch sehr nett zu mir. Sie macht mit unserer Gruppe viele Spiele und will immer, daß ich mitspielen soll. Manchmal spiele ich mit, aber es gefällt mir nicht sehr. Die anderen Mädchen sind oft so albern. Und die Jungen werden immer gleich frech. Ich bin lie153

ber für mich. Es ist schon schade, daß Du nicht hier sein kannst. Nun will ich Dir schreiben, was ich alles mache. Wenn wir an den Strand gehen und dort spielen, setze ich mich oft auf die Düne über unserem Sandplatz und schaue den anderen zu. Oder ich schaue aufs Meer, wo große Schiffe vorbeifahren. Ein paarmal habe ich mir eine kleine eigene Sandburg gebaut, aber der Sand hier ist so locker. Er fällt immer so schnell wieder zusammen. Wenn es geregnet hat, ist das anders. Aber bis jetzt hat es erst einmal geregnet. Sonst muß man eben mit dem Eimer Wasser aus dem Meer holen und den Sand fest machen. Wenn man tiefer gräbt, wird der Sand fester. Vielleicht grabe ich mir morgen eine tiefe Burg, gerade groß genug, daß für mich Platz ist. Hoffentlich machen mir die Jungen diese Burg nicht auch wieder kaputt. Am schönsten ist es, wenn wir schwimmen. Ich kann jetzt auch unter den Wellen durchtauchen. Die anderen spritzen sich immer und treiben Unfug. Ich schwimme für mich. Aber Du brauchst keine Angst zu haben. Schwester Monika paßt gut auf. Es gefällt ihr, daß ich so tüchtig schwimmen kann. Im Heim sitze ich oft in dem stillen Zimmer und lese. Jetzt habe ich diesen Brief geschrieben und möchte weiterlesen. Darum mache ich Schluß. Gruß von Deiner Johanna.

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III Die Mutter, nachdem sie Johannes Brief gelesen hat Vor einer Stunde ist der Brief eingetroffen. Ich habe die ganze Woche darauf gewartet und ihn deshalb gleich dreimal gelesen. Ich freue mich, daß es Johanna in dem Heim gefällt. Aber ich mache mir Sorgen, weil sie doch wieder so allein bleiben will. Ich weiß wohl, daß ich mitschuldig bin. Aber damals, als ich mit Johanna allein blieb, habe ich daran nicht gedacht. Ich wußte nur: Du hast dein Kind. Und du mußt jetzt ganz für dein Kind da sein. Und ich wußte: Johanna hat mich lieb, sehr lieb. Es ist jetzt auch noch so, daß ich nur mein Kind habe, sonst nichts. Aber mein Kind darf nicht nur mich haben. Johanna braucht eine Freundin, braucht Gemeinschaft mit anderen Kindern. Es geht so nicht weiter in der Schule. Und auch hier daheim nicht. Was ist, wenn sie mich einmal nicht mehr hat? Der Heimarzt und die Schwester geben sich sicher viel Mühe mit Johanna. Man muß Geduld haben. Es kommt nicht von heute auf morgen. Aber nach einer Woche hätte ich doch gern gelesen, daß Johanna eine Freundin hat. Oder wenigstens, daß sie einmal den Namen eines anderen Kindes nennt. Sie schreibt nur von Mädchen und Jungen. Und daß sie für sich sein will. Vielleicht gelingt es Schwester Monika doch. Von ihr hat Johanna in dem Brief am meisten ge155

schrieben. Ich will nachher im Heim anrufen und mit ihr sprechen. Ich muß ihr auch sagen, daß sie am Strand aufpassen soll. Der Sand ist wirklich zu locker. Johanna darf keine so tiefe Burg graben. Alle sagen, ich solle erst nach der Kur wieder hinfahren, wenn ich Johanna abholen kann. Ich möchte am liebsten gleich morgen fahren und bei ihr sein. Sie braucht mich ja doch. Sie schreibt ja auch, daß es schade ist, daß ich nicht dort bin. Aber es ist wohl doch richtig so. Nun will ich anrufen. IV Der Heimarzt, nachdem ihn Johannas Mutter angerufen hat Wir dürfen nicht ungeduldig werden. Acht Tage sind keine Zeit. Erst vorhin hat mir Schwester Monika gesagt, daß es mit Johanna in der Gruppe besser geht, als wir angenommen haben. Schade, als der Anruf kam, war Schwester Monika bereits mit den Kindern auf dem Weg zum Strand. Bis zur Badezeit sind es noch zwei Stunden. Solange wollten sie spielen, dann baden und dann zum Mittagessen heimkommen. Nein, wir brauchen uns nicht zu sorgen. Johanna ist zwar viel für sich, aber sie schließt sich nicht einfach ab. Mit der Zeit wird sie auch Freude an den gemeinsamen Spielen bekommen. Wegen des Sandes braucht sich Johannas Mutter 156

auch nicht zu sorgen. Er ist an unserem Platz so locker, daß er immer gleich nachrutscht. Da kann man gar kein tiefes Loch graben. Außerdem sind ja immer alle Kinder zusammen. Und Schwester Monika paßt gut auf. V Johanna, als die Gruppe am Strand angekommen ist Jetzt kommt bei Mutter der Briefträger. Jetzt liest sie meinen Brief. Ich habe ihr geschrieben, daß ich heute eine tiefe Burg ganz für mich allein graben werde. Ich setze mich dann hinein, und es ist so, als wenn meine Mutter bei mir wäre. Ich habe mir extra einen großen Spaten mitgenommen. Als Schwester Monika ihn gesehen hat, mußte sie lachen, und sie hat gefragt, ob ich heute einen neuen Deich bauen will. Nein, habe ich gesagt, heute baue ich meine Burg. Es geht ganz gut. Ich bin schon einen halben Meter tief, aber ich will tiefer. Ich muß nur aufpassen, daß die Wände nicht immer wieder einfallen. Vielleicht muß ich doch noch Wasser holen. Die anderen spielen Fußball. VI Schwester Monika zu Johanna Jetzt mußt du aufhören zu graben. Du hast eine schöne Burg. Aber mir wäre sie zu tief. Eine Burg 157

muß doch oben so sein, daß man etwas sehen kann. Komm, spiel mit den anderen Fußball. Es fehlt noch jemand. Wenn du nicht Fußball spielen willst, dann schau wenigstens zu, wie die anderen spielen. Es ist lustig. VII Johanna zu Schwester Monika Wenn ich in meiner Burg sitze, will ich nicht sehen, was die anderen tun. Ich will auch nicht gesehen werden. Darum habe ich so tief gegraben. Ich glaube, ich muß noch etwas tiefer gehen. Ich mag Fußball nicht. Und die anderen sind so laut dabei. Darf ich nachher in die Dünen gehen? Ich möchte mir einen Strauß Stranderika holen für meine Burg. Wenn Sie es mir verbieten, werde ich nicht weitergraben. Ich will nur den Sitz noch etwas schöner formen. Unten ist der Sand gar nicht so locker. Da hält er viel besser. Es gefällt mir in meiner Burg. VIII Schwester Monika, als alles vorbei und zu spät war Ich habe gesehen, wie Johanna in die Dünen gegangen ist. Ich war sicher, daß ihre Burg zusammenfallen würde, bevor sie zurückkam. Die ande158

ren haben Fußball gespielt. Es war nicht nur lustig. Sie haben Streit bekommen und sind wie die Wilden übereinander hergefallen, die Jungen und die Mädchen. Es war nicht leicht, sie auseinanderzutreiben. Es dauerte eine Weile. Dann standen alle um mich herum und schnauften. Plötzlich rief einer, ich habe nicht einmal erkannt, wer es war: Jetzt ist Johannas Burg schon kaputt! Johanna! War Johanna noch in den Dünen? Ich rannte die wenigen Meter zu dem zusammengefallenen Loch. Der Spaten lag draußen. Von der Düne her war der lockere Sand in das Loch gerutscht. War Johanna noch in den Dünen? Schaut, wo Johanna ist, schrie ich die Kinder an. Einen Jungen hielt ich fest – ich weiß auch nicht, wer es war: Renn und ruf um Hilfe! Vielleicht ist Johanna … Dann fing ich an, mit den Händen zu graben, blindlings, wild, nichts als Angst. Mit dem Spaten darf ich nicht, dachte ich, sonst kann ich ihr weh tun. Und mit den Händen ging es langsam, sehr langsam. Als die Männer kamen, fühlte ich im Sand das Kleid. Johanna war in ihrer Burg. Ich hörte vom Dorf her die Alarmsirenen. Ich hörte das Feuerwehrauto. Ich sah den Arzt kommen, als wir Johanna aus der Burg heraushoben und auf die Trage legten. Der Arzt begann mit der Mund-zu-Mund-Beatmung. In der rechten Hand hielt Johanna ein kleines 159

Sträußchen Stranderika. Ich verstehe das alles nicht. Es kann doch nicht wahr sein. IX Aus dem Bericht des Heimarztes Johanna K. muß etwa eine Viertelstunde verschüttet gewesen sein. Sie war offenbar nur ganz kurz in den Dünen gewesen, so daß Schwester Monika ihre Rückkehr wegen des Fußballstreites gar nicht bemerkt hatte. Johanna K. erhielt etwa zwölf Minuten lang Mund-zu-Mund-Beatmung durch den Arzt des Roten Kreuzes, der schnell zur Stelle gewesen war. Dann stand das Sauerstoffgerät zur Verfügung. Mit seiner Hilfe kehrte nach etwa vierzig weiteren Minuten das Leben der Johanna K. zurück. Daraufhin wurde sie mit dem Rettungshubschrauber von der Insel an Land geflogen und in das Krankenhaus überführt. Ihr Zustand war sehr ernst, die Hoffnung, ihr das Leben zu erhalten, gering. Und sicher war, daß, wenn sie am Leben blieb, beträchtliche Schäden zurückbleiben mußten. Nach vier Tagen ist Johanna K. gestorben. Ihre Mutter und Schwester Monika waren bis zuletzt bei ihr. Der Staatsanwalt erhob pflichtgemäß Anklage wegen Vernachlässigung der Aufsichtspflicht. Die Mutter verzichtete auf eine Anklage. Schwester Monika erlitt nach Johannas Tod einen schweren 160

Zusammenbruch und mußte in ein Sanatorium eingewiesen werden. X Aus einem Brief, den Schwester Monika aus dem Sanatorium an Johannas Mutter geschrieben hat Ich hätte mit ihr in die Dünen gehen sollen. Oder ich hätte, als sie in den Dünen war, dem lockeren Sand nachhelfen sollen, daß er früher in das Loch gerutscht wäre. Ich bin schuldig, daß Johanna sterben mußte. Warum habe ich sie nicht gezwungen, mit den anderen zu spielen? Warum habe ich nicht auf sie gewartet, bis sie aus den Dünen zurückkam? Warum habe ich mich durch den dummen Streit der anderen Kinder ablenken lassen? Ich bin schuldig, und es ist richtig, daß der Staatsanwalt mich anklagt. XI Aus dem Antwortbrief der Mutter … sind wir alle schuldig. Ich am meisten. Aber was hilft das? Wenn Sie die Burg zerstört hätten, hätte das Johanna sehr verletzt. Wenn Sie sie zum Spielen gezwungen hätten, wäre nichts von dem erreicht worden, was wir alle, besonders ich, erhofft hatten. Ich habe den Staatsanwalt ersucht, die Anklage zurückzuziehen. Wir wußten alle, daß der Sand lok161

ker ist. Aber war es verkehrt, daß wir mehr an das Kind als an den Sand dachten? Wenn Sie aus dem Sanatorium entlassen werden, besuchen Sie mich bitte, bitte …

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KURT OSKAR BUCHNER Warum kamen die Engel nicht? »Warum stören Sie die Feier?« fragte der Pfarrer gereizt. Ein Polizist näherte sich den beiden. »Wie kommen Sie dazu, mitten hineinzuschneien?« Der Mann kniff die dunklen Augen ein. Er schüttelte den Kopf. Aus dem Saal drang der Gesang der Festversammlung: »Vom Himmel hoch, da komm ich her …« Das Gesicht des Mannes sah verfallen aus, fast leer vor Ekel oder Schmerz. Der Polizist mischte sich ein. »Herr Pfarrer, Sie werden drin benötigt, denke ich. Lassen Sie mich mit dem Herrn das erledigen. Also, bitte – vielleicht kommen Sie mit nach unten. Und dann reden Sie gefälligst.« »Es war nur wegen des Kindes«, sagte der Mann. »Das den kleinen Engel spielt bei der Weihnachtsfeier?« Der Mann schüttelte den Kopf. »Nein, es hieß … Es war vier Jahre alt. Vier Jahre erst.« »Was hat das mit dem Störversuch zu tun?« »Der andere fuhr so dicht auf, ein Opel. Heute hält ja keiner mehr Abstand. Keiner mehr.« »Das Kind ist verunglückt.« »In seiner Butze – ja.« 163

»Wie sagen Sie …« »Im Kofferraum. Das war seine Wohnung, sein Häuschen, seine Höhle oder Butze oder …« »Ach so, das Kind – ich verstehe. Es sah wohl dem kleinen Aufführungsengel ähnlich?« Der Mann schüttelte den Kopf. Fast mitleidig. Als sei das unmöglich. Der Beamte spielte mit seinem Notizbuch. Er wurde ungeduldig. So sanft hatte sich der Kerl vorhin nicht gebärdet. »Vielleicht erklären Sie sich etwas deutlicher – schneller vielleicht.« »Ja, damals ging auch alles viel zu langsam. Außer dem Unglück. Das war eins – alles in einem. Der Hund auf der Straße – mein Bremsen, das Aufkrachen des Opels und der gräßliche Schrei des Kindes. Es hatte eben noch gelacht.« »Setzen Sie sich doch«, sagte der Beamte. Der Mann sah seltsam hohl aus. »Wir konnten es nicht herausholen. Es war eingeklemmt. Und schrie immer. Ich hockte bei ihm, bis der Krankenwagen und die Polizei kamen. Dann brachen sie die Trümmer auseinander. Und dann luden sie das Kind ein. Nicht einmal ohnmächtig durfte es werden. Vielleicht hätte es dann nicht immer das von den Engeln gerufen.« »Von den Engeln? Was denn?« Von oben ertönte Harmoniumklang und wieder Gesang. Laut und festlich. »Setzen Sie sich doch«, sagte der Beamte. Ihm war unbehaglich zumute. »Danke, nein. Aber das war die Folge von meinen 164

Geschichten. Ich habe den Kindern immer viel davon erzählt.« Das war einer von den medizinischen Fällen, wurde dem Beamten klar. Er sagte gewollt väterlich: »Wovon haben Sie denn erzählt, lieber Herr?« Aber seine Ungeduld klang doch durch. »Das war falsch. Tun Sie’s nicht. Oder haben Sie keine Kinder. Ja? Dann zeigen Sie ihnen nur nicht solche Weihnachtsspiele und Engel und – und …« »Aber diese süßen harmlosen Engelchen da oben …« Der Polizist ließ offen, bis wohin sein »oben« zielte. Der Mann schüttelte den Kopf. Fast böse. »Der Fuß war zerquetscht und das kleine Rückgrat angebrochen, und jede Bewegung muß rasend geschmerzt haben. Und dann immer die Frage: ›Warum kommen denn die Engelchen nicht, Vati? Ruf sie doch. Die sollen mich heilmachen. Vati, ruf sie doch! Warum rufst du nicht?‹« »Hätten Sie ihr doch den Gefallen getan.« Der Mann sah den Beamten an, wie man ein kleines Kind ansieht, das noch nichts vom Leben weiß. Aber er mußte sich nun doch setzen. Er sagte leise: »Ich hab’ sie ja gerufen …« Der Beamte steckte sein Buch ein. Das brauchte er hier nicht. Vor diesem zusammengesunkenen Häufchen Mann dort. »Na, sehen Sie«, sagte er ermunternd und wollte zum Schluß kommen. Der Mann achtete nicht darauf. Er sagte seine 165

Geschichte zu Ende, als dürfe er sich nichts ersparen. »Aber sie kamen nicht. Natürlich nicht. Und nun war ich am Ende. ›Sie kommen sicher gleich‹, habe ich erst noch geflüstert. Aber Kinder spüren, wenn man lügt. O – das Schreien und das Schluchzen –, ich glaube, ich … Und dann rief sie noch, vier Jahre alt und rief: ›Vati, du hast mich ja nicht lieb!‹ und schrie vor Schmerzen. Bis das Morphium half.« Der Beamte grüßte und ging leise hinaus. Im Treppenhaus strömten die Leute von der Weihnachtsfeier dem Ausgang zu. »Wie niedlich die Engelchen waren«, sagte eine Stimme.

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LOTTE BETKE Mary Hörbild eines Jungen von zwölf Erzähler: Kraak hatte das Bootshaus abgeschlossen. Es war grau an dem Tag. Keine Leute zu erwarten, die Boote mieten wollten. Kraak ging mit mir flußabwärts. Er hatte lange schlaksige Beine. Das eine zog er etwas nach; er konnte nicht mehr zur See fahren. Aber er sprach von der See und der See und der See und der See. Seine Worte schmeckten mir. Ich verschlang sie gierig. Sie deckten das andere zu, das in mir war und nicht gut schmeckte. EBENE I Jens (als Junge): Und der Dunst, die Küchentür geht auf, Wäsche, Kaldaunen für den Hund. Vater, Bierschaum im Bart, Brocken Brot. Nein – Mutter – ich weiß nicht. Der lange Korridor in der Schule hallt, ehe man die Klassentür zu fassen hat. Er hallt – Jedertag, Jedertag – aber Kraak … Kraaks Stimme taucht auf Kraak: Sagte der Alte Gottverdammich, Gottverdammich, sagte er, wenn’s in Surabaya donnert … taucht wieder unter Erzähler: Und mehr und mehr Kraak. Und salzi167

ger Wind, Sand, Flut und grelle Möwenflügel. Beim Gehen stieß Kraak mit der Fußspitze an irgend etwas; nicht Stein, nicht Muschel. Kein Treibholz. Er bückte sich und fing an zu buddeln, buddelte wortlos und ich wortlos mit. Wie ein Hund spritzte ich den Sand zwischen meinen gespreizten Beinen durch, immer weg! Als mir die Nägel weh taten, glotzten wir in ein starres Auge. Kraak pfiff. Und dann hackten wir wieder runter wie Möwen, buddelten da, wo das andere Auge sein mußte. Aber es kam nicht. Nur Haar. Das war mächtig schwarz, in regelmäßige hölzerne gerippte Wellen gelegt. EBENE II Kraak: Das Rabenaas. Pennt im Sand. Jens: Es hat bloß ein Auge? Kraak: Was ’n Weibstück. Galionsfigur. Jens: Die saß vorn am Bug? Kraak: Brust in den Wind. Jens: Holen wir noch das andere Auge? Kraak: Los! Erzähler: Bö mit Tropfensprengseln. Halbverschluckte Möwenschreie. Aus dem feuchten Klitsch kam die Nase. Wie ein Turm. Große geblähte Nasenflügel. Als wir das andere Auge hatten, starr und blau, blutete mein Zeigefinger. Es war graudunkel geworden. Geräuschlos, mit rotem und grünem Auge, schwamm ein Übersee-Elefant den Fluß runter. Kraak wischte sich die Hände an den Hosen ab. 168

EBENE II Kraak: Schluß jetzt! Jens: Kraak! Wenn wir sie raus haben, tun wir sie an den Kutter. Kraak: Den hab’ ich noch nicht, Junge! Jens: Aber du kriegst ihn. Kraak: Mal sehn. Guck! Da kommt wieder so ’n Elefant. Bomderomdom. Jens: Was machen wir jetzt? Kraak: Sand auf ihre blauen Augen. Jens: Zuschütten! Wo wir so weit sind? Kraak: Sand drauf, sag’ ich. Laß Mary schlafen. Ich muß da rüber. Jens: Heißt sie Mary, Kraak? Kraak: Ja. Erzähler: Kraak stiefelte durch den Sand auf die Himbeerlampen zu. Ich rannte ein paar Schritte hinter ihm her, kehrte um. Fing an, Mary mit Sand zu bedecken. Ich tat es langsam. Handvoll um Handvoll. Der Wind nuschelte. EBENE I Jens: Wie es hallt! Und der Jederabend. Im Schlaf hochschießen von der Schlafbank, wenn Ellee in die Küche kommt, spät. Licht macht, den Teekessel auf den Herd knallt. Nebenan jammert es. Mutter zählt immerzu: Drei Mark waren es doch, und dazwischen der Ansager sagt: das und das Hoch und Tief ist im Anzug. Wie es hallt. Der Jedermorgen. Matratze ist durch auf der Schlafbank, und Georg 169

wäscht sich unterm Wasserhahn, raucht, und Mutter nebenan schimpft, und es rauscht, und er schreit zurück. Die Hoftür und das Licht; wie die riechen, die Kaldaunen, Pullover finden, Hund an der Kette, Brot mit Schmalz. Der lange, lange Korridor. Wie es hallt. Er ist so lang. Es hallt, hallt. Erzähler: Hartes blaues Wetter am anderen Tag mit weißen geblähten Dreiecken auf dem Strom. Kraak stand da, wo der Bootssteg ziemlich hoch über dem Sand läuft. Er beugte sich zu mir runter, packte mich am Arm, hievte mich auf den Steg. Geräusche, Stimmen, aus der Erinnerung kommend, zusammengeronnen, liegen darunter. Dann real. EBENE II Kraak: Wo steckst du so lange? Jens: Schöner Betrieb, Kraak? Kraak: Könntest es trotzdem heute allein schmeißen. Jens: Mußt du weg? Kraak: Findest alles im Bootshaus. Weißt ja Bescheid, Billette und den Kram. Kasse immer abschließen, weißt ja! Mach dir auf dem Kocher was heiß! Stimme (älterer Mann): Krieg’ ich nun mein Boot? Mein Boot, mein Boot, krieg’ ich das? Jens: Aber allein hab’ ich ja noch nie – Kraak –, und – was ist mit Mary? Kraak: Später – mal sehn, (ab) Stimmen (nahe, unwirsch): Was ist mit dem Boot? 170

Frauenstimme: Und wenn es nun leck, sagt man ja wohl, nicht? Leck, leck, haha. Jens (etwas leiernd, wie auswendig gelernt): Ja, ja, nein, nein. Nur Ruderboote. Oder mit Motor. Die zum Segeln gibt’s drüben beim Tanzlokal. Frau: So ’n Junge. Ob er noch Bonbons mag? Mann: Wo ist denn der Schleifbein? Frau: Ist wohl der Sohn? 2. Frau (flüsternd, nicht zu real): Nein, der hat keinen Sohn. Ist doch der, der gesessen hat, wegen der … 1. Frau: Ach ja, Schleifbein. Geräusche, Wind, Knattern, Wasserklatschen Jens: Was hat er mir gegeben? Ach, zwanzig kriegen Sie! 2. Mann: Junge, paß auf! EBENE I Jens: Und? Wenn da nun ein Fleck ist, wo Mary liegt im Sand. Wenn das nun jemand sieht? Und er gräbt auch? Vielleicht war letzte Nacht die Flut darüber? Das wär’ gut. Dann ist nichts zu sehen. Die Schaufel nicht vergessen. Kraak sagen, wenn er heute abend kommt. In der Sonne sind die Himbeerlampen blaß. Da, wo die Himbeerlampen sind, da ist er hingegangen. Kraak, Kraak. Kraak sagt, Mary geht bloß bis zur Brust. Mehr kommt nicht bei ’ner Galion – Galionsfigur, heißt das. Heut abend – vielleicht. Wenn wir doch mit dem Kutter wegkönnten – Kraak und ich, und dann – ja – oh! 171

Wieviel hat der Mann mir gegeben? Schon wieder – das Geld. Domderomdom. Das Wasser glitzert. Das gibt dicken Mond. Wir können gut sehen, wenn wir graben. Bis zur Brust. Mehr nicht. Wie das flimmert draußen. Die Segel. Und da – nahe bei … Erzähler: Mein Mund blieb offen. Ich sah Kraak. Ein Segelboot zog ab mit Kraak drin. Zog ab von dem Bootshaus, dem feinen, flußauf, von dem feinen, wo der Verleiher immer ’ne blaue Jacke trug mit Goldknöpfen dran. Kraak stand und hievte. Im Heck saß jemand. Eine Frau. Viel war von ihr nicht zu sehen. Von dem Gesicht schon gar nicht. Nur ein heller Haarberg drüber. EBENE I Kraaks Stimme: Domderomdom! Dazu auf See. Das Dunkel platzt, der Mond kommt raus, wie ’ne fette Apfelsine hängt er überm afrikanischen Busch. Bomderomdom – fahren wir. Feiner Onkel, der drüben. Goldknöpfe. Aber segeln – domderomdom, Junge, der kann Segelboote verleihen – vom Segeln hat er keine Ahnung. Domderomdom. Was Segeln ist, zeig’ ich dir. Mal – ja dann – irgendwann – ja – müssen wir – Junge, Afrika – dom – dann – irgendwann – mal – sehn – dann – bestimmt. EBENE II Frau: Der hört einfach nicht. Jens: (real): Ich komme ja schon! 172

Frauenstimme (asthmatisch): Wer hätte das gedacht. Nein? Daß wir so herrliches Wetter kriegen, nein? Dabei war Morgenrot. Aber der Junge tut nichts, nein? Er könnte mich doch aus dem Boot ziehn, rauf auf den Steg, na, dann schieb du mal von hinten nach, hoch! Dann kriegt er auch, ungefällig, kein Trinkgeld, Johannes. Der hört einfach nicht. EBENE I Jens: Kraak kreuzt los auf Yversand. Möwen. Möwen können da nicht brüten, sagt Kraak. Bei Flut geht der Fluß drüber, sagt er. EBENE II Jens: (real): Kraak! Und Mary? Erzähler: Den ganzen Nachmittag ging das so: Taue vertäuen, Taue losmachen, Geld, Geld wechseln – in die Hosentasche schieben, paß auf – paß auf! Die Abendsonne ertrank. Alle Boote waren vertäut. Kraak kam nicht. Ich langte mir ’ne Schaufel. Tür zu, Schlüssel ins Rattenloch. Ich sprang vom Steg in den Sand. Weiter unten klatschte das Wasser um die Duc d’Alben. Ich ging langsam vom Bootshaus weg. Oben, unter den Bäumen, wo der Strand anfängt, lagen zwei in ’ner Kuhle. Da lagen immer welche. Flußabwärts, wo keine Bäume mehr stehen, war kein Mensch. Plötzlich kriegte ich Angst. Wenn ich Mary allein nicht fand! Ich fand sie. Ich fing gleich an, im feuchten Sand zu graben, 173

diesmal mit der Schaufel. Beim siebten Spatenstich stieß ich auf was Hartes. Um Mary nicht kaputtzumachen, nahm ich meine Hundearbeit wieder auf, schaufelte den Sand mit den Händen, spritzte ihn zwischen den Beinen durch. Scharren und scharren. Dann kam Marys rechte Brust raus. Wie ein Berg. Sie war zersplittert. Ich mußte höllisch aufpassen wegen der Splitter und versuchte lieber, ihren Hals frei zu kriegen. Nach einer Weile bekam ich das mächtige Holzkinn zu fassen. Ich ruhte mich einen Augenblick aus. Eine Brise hauchte mich an. Ich zitterte. Irgend etwas schrie, landeinwärts, Vogel oder Mensch? Ich machte weiter. Marys geblähte Nasenlöcher kamen mir aus dem Sand entgegen. Dann die Augen. Sie waren im Mondlicht wie Blei. Die Haare ließ ich im Sand. Ich kroch auf den Knien um Mary herum. Dann machte ich weiter. Kraak hatte sich geirrt. Mary hörte nicht unter der Brust auf. Da war noch etwas. Ein gewölbter Leib. Schuppig wie Fisch. Wieder schrie was. Der Wind brachte es mit. Es kam vom Land her. Meine Zähne klapperten. EBENE I Jens: Allein werd’ ich nicht fertig mit ihr. Ich muß sie wieder zumachen. Muß nach Hause. Ist das ’n Marder, der da schreit – unter den Bäumen? Nein – dahinter, dahinter. Vielleicht ’n Tier – Marder beißt die Kehle durch. Aber dann würde es doch nicht mehr schreien. Ich muß weg. 174

Ob er wieder segelt, morgen? Wie es hallt … Erzähler: Mich fror. Ich ging nicht direkt nach Hause. Ich schlug einen Haken an Kraaks Bootshaus vorbei. Kein Licht hinter den Fenstern. Unter den Bäumen kamen mir zwei entgegen. Eng umschlungen. Das Haar der Frau lag wie ein Haufen Stroh über der Stirn. Aber der Mann war heil. Er hatte kein Schleifbein. Am anderen Tag sah ich sie schon von weitem. Sie saß auf dem Bootssteg und hatte Kraaks dicken schwarzen Buscherump an. Der ging ihr bis zu den Knien. Sie baumelte mit den bloßen Beinen. Sie kaute und blinzelte mich an. EBENE II Dina: Noch keinen Menschen gesehen? Jens: Wo ist Kraak? Dina: Irgendwo dahinten. Fummelt im Boot rum. Jens: Kraak! Kraak (entfernt): Komm her! Schritte, Stimmen, Wasser, das an Holzbalken schlägt, wie vorher: Geräusche, wie man sie gedämpft in der Erinnerung hört. Kraak: Wo bleibst du? Hol die Billette! Der Herr will eine Stunde! Jens: Mit Motor? Kraak: Was sonst! Drei Personen. Mach! Stimmen, Geräusche wie vorher. Laufen auf den Holzbohlen des Stegs. Dina: Halt, Kleiner! 175

Jens: Loslassen! Dina: Nicht so wild, Kleiner! Lauf mal rüber ins Lokal. Hol mir ’ne Packung. Jens: Hab’ keine Zeit, Kundschaft! Karl: Bedienen Sie sich. Dina: Danke. Karl: Ich auch. Rauchen wir eine zusammen. Dina: Feuer? Karl: Bitte. Frieren Sie nicht? Dina: Hab’ ja oben was an. Karl: Und die Beine? Dina: Nein! EBENE I Jens: Ich geh’ nach Hause. Ich geh’. Geh’ nach Hause. EBENE II Dina (singt): Jimmy, Jimmy, je Jimmy, Jimmy ist o. k. Jimmy, Kimmy, o. k., Jimmy. Männerlachen vorm Bootshaus EBENE II Kraak: Feierabend. Dina: Der ist immer noch da? Kraak: Gehst du rein? Machst mir ’n Kaffee? Dina: Moment. Erst ausrauchen. Im Bootshaus 176

Dina: Der ist wohl immer hier? Kraak: Gib ihm auch ’ne Tasse! Dina: Mit viel Zucker, Kleiner? Jens schweigt Dina: Hat der keinen Mund? Kraak: Laß ihn. Tu ihm drei Stück Zucker rein! Dina: Jimmy – o – Jimmy! Kraak: War ’n Bekannter von dir? Dina: Wer? Kraak: Der aufm Steg? Heut nachmittag. Dina: Und wenn? Jens: Kraak. Kraak: Was? Jens: Ich – hab’ noch Geld in der Hosentasche. Erzähler: Ich wollte ihm sagen, daß ich Mary fast freigebuddelt hatte und daß viel mehr an ihr dran war, als er gedacht hatte: Daß sie einen Fischleib hatte und wir sie hier ins Bootshaus schaffen mußten. Aber wie sollte ich ihm das sagen? Ich war ja nie mehr mit ihm allein. Abends lag ich zu Hause in unserer Küche auf der Schlafbank. Wälzte mich rum. Ich konnte nicht raus. Mein Vater hatte die Hoftür abgeschlossen. Der Hund war los. Türen schlugen. Radio aus. Stille. Aber dann knackte es auf dem Flur. Meine Schwester Ellee machte die Küchentür auf, leuchtete mit einer Taschenlampe flüchtig über mich hin. Dann ging sie zum Herd, fischte sich ein paar Stücke aus der Kaldaunenschüssel. Sie schloß die Küchentür auf, schlüpfte auf den Hof. Ich hörte 177

den Hund knurren. Plötzlich war alles wieder still. Ich schaltete: Pullover, Hose, aus der Tür. Draußen schob Ellee gerade den Riegel an der Lattentür zurück. Der Hund lag vor der Hütte und zerfetzte die Kaldaunen. Ellee schrie leise auf, als ich neben ihr auftauchte. Sie versuchte mich zurückzustoßen. Ich biß sie in die Hand, da riß sie mich mit nach draußen unter die Bäume. Sie warf das letzte Kaldaunenstück vor die Hofplanke, wischte sich die Hände mit Gras und Blättern ab. Aus der Erinnerung aufsteigende Geräusche. Wind. Nachtvögel. Dampfertuten. EBENE II Ellee: Sieh zu, wie du wieder reinkommst. Untersteh dich und nimm den Fetzen Fleisch. Den brauch’ ich, wenn ich wieder zurückkomme. Jens: Ich weiß, wohin du gehst. Ellee: So? Jens: Laß mir ’n Stück Kaldaune liegen, und ich sag’ nichts. Ellee: Ich will dir mal was sagen, du kleines Stinktier. Ich geb’ mich mit anständigen Leuten ab. Der Kerl, zu dem du läufst, landet genau da, wo er hergekommen ist. Jens: Kraak – Kraak kauft ’n Kutter. Ellee: Daß ich nicht lache. Die ist doch wieder da. Für die hat er schon mal – ach was. Ich sag’ dir, nimm dich in acht! Mit solchen Leuten haben wir 178

nichts zu tun. Vater ist Schauermann, vergiß das nicht. Wenn ich dich noch mal erwische, sag’ ich’s. Jens: Ich seh’ da was Rotes, Glimmendes unter den Bäumen. Erzähler: Sie sagte nichts. Sie schlug mich hart ins Gesicht, ging rasch auf den roten Punkt zu, der unter dem niedrigen schwarzen Geäst war. Ich spuckte aus, rieb mir die Backe. Es knackte unter den Bäumen, der rote Punkt erlosch. Stille. Ich lief unter schwarzem Astwerk durch, duckte mich, bis nichts mehr über mir war. Auf dem hellen Sand blieb ich stehen. EBENE I Jens: Ich komme ja, Mary! Erzähler: Aber ich ging zum Bootshaus. Vielleicht war Kraak da. Allein. Das Fenster oben stand offen. Dahinter war es dunkel, Ich hörte das Jimmylied. Ich schlich hinter das Bootshaus. An der Wand lehnte der Spaten. Ich nahm ihn, schulterte ihn, diesmal lief ich zum Wasser runter. Das Geräusch der auflaufenden Wasserzungen rann über mich hin. An einem Steg scheuerte sich ein Haufen Boote wie schlafende Tiere. Kein Schrei heute vom Land her. Der Wind klomm den Fluß rauf, brachte allerlei dicke Gerüche mit von See. Viel Tang. Domderomdom. Ich versuchte mir Kraaks und meinen Kutter vorzustellen, aber ich kriegte ihn nicht hin. Die Stelle, wo Mary auf mich wartete, fand ich sofort. 179

Ich schaufelte gierig. Diesmal schaufelte ich Marys Kopf ganz frei. Ihre mächtige, in Holzrippen gebändigte schwarze Mähne glänzte matt. Ihre Fischaugen sahen durch mich durch. Sie hatte einen aufgeworfenen farblosen Mund, hochgebogen an den Winkeln. Mit dem Mund sah sie mich spöttisch an. Ich berührte ihn mit der Nasenspitze. Das Blut schoß mir in den Kopf. Ich fuhr in die Höhe und begann Marys Gesicht vom Sand zu befreien. Am meisten Sand saß in den gerippten Haarwellen. Ich fegte und rieb mit meinen Handtellern und Fingern in dem gebirgigen Gesicht herum. Immer schneller und wilder wurden meine Bewegungen, als müsse ich zu einer bestimmten Zeit damit fertig sein. Der Wind kam in lauen Stößen. Ich arbeitete an Marys Hals. Er war vorgewölbt wie ein Schwanenhals, aber dick und stark. Es war schön, ihn aus dem Sand zu holen. Lang, gebogen und rund. Ich glühte. Ich zitterte. Etwas schwamm mit mir davon. Ich wollte mich irgendwo festhalten, aber der Strudel machte mit mir, was er wollte. Ich lag im Sand. Ich stand auf. EBENE I Jens: Ich geh’ jetzt den Fluß runter. Ich will den Fluß runter, den Fluß runter. Wenn ich bis zur Mündung gehe, da kommt vorher der Kanal – da geh’ ich rüber und dann. Vielleicht krieg’ ich ein Schiff. Domderomdom. Erzähler: Ich ging nicht den Fluß runter. Eine 180

Woche hielt ich es aus. Dann ging ich wieder zum Bootshaus. Ich schwang mich auf den Steg, lief über die Planken. Im Haus war nur Kraak. Er hatte das Schleifbein hochgelegt. Auf dem Boden standen ein paar leere Bierflaschen. Leises Motortuckern – leises Möwengeschrei. EBENE II Kraak: Du bist gestern nicht gekommen. Warte – es waren mehrere Tage. Ich kriege die Zeit einfach nicht zu fassen. Jens: Draußen ist jemand. Der Lehrer, der immer das Grüne will. Kraak: Ja. ’n anderes will er nicht. Geh. Gib’s ihm! Mach’s los! Jens: Das Billett nehme ich gleich mit. Kraak: Ist da – sonst noch jemand? Jens: Der Steg ist leer. Ich geb’ dem Lehrer das Grüne. Kraak: Mach. Komm sofort wieder. Wir müssen wieder zusammen in den Busch. Domderomdom. Geräusche: Schritte auf Holzplanken. Wasser, das um Pfähle leckt. Leises Motortuckern, zuletzt wieder eilige Schritte auf Holzplanken. Kraak: Ist da jemand? Draußen? Jens: Der Lehrer ist weg. Der Steg ist leer. Kraak: Wir müssen – aufpassen. Jens: Und der Busch? Kraak: Der ist auch leer. Jens: Aber wenn der Mond kommt, Kraak? 181

Kraak: Dann platzt das Dunkel auseinander – in lauter Fetzen. Hast du sie gesehen? Jens: Ja. Kraak: Wann? Jens: Gestern, Kraak. Kraak: Abends? Jens: Ja. Kraak: War sie unter den Bäumen? Jens (ausbrechend): Im Sand. Im Sand doch, Kraak. Da ist sie! Allein. Ja. Ich kann sie nicht rauskriegen! Sie ist zu schwer für mich. Kraak, wenn du wüßtest. Sie hat Schuppen. Einen Leib voll Schuppen. Und viel größer, als du gesagt hast. Wenn sie an unseren Kutter kommt – wo soll ich mit ihr hin? Kommst du heute abend? Kraak: Heute nicht. Ich kann hier nicht weg. Jens: Dann morgen. Kraak: Morgen. Sicher. Mal sehn. Ist da nicht jemand? Jens: Niemand. Kraak: (wild): Ich hab’ dich was gefragt! Jens: Niemand! Der Steg ist leer. Kraak: Geh rüber ins Restaurant. Die machen jetzt schon Musik, sicher. Hol mir ’n Bier. Sieh in der Hinterstube nach. Vielleicht ist sie da. Du weißt doch, wie sie heißt? Jens: Ja. Kraak: Sag ihr … Erzähler: Sie war nicht in der Hinterstube und nicht auf dem Tanzparkett, wo sich die Paare hin 182

und her schoben. Sie kam auch am nächsten Tag nicht. Ich lief unter den Bäumen hindurch zu Kraak. Er saß da und trank. Von da an ging ich nicht mehr zum Wasser. Auch nicht mehr auf den offenen hellen Strand. Ich vergrub mich unter diesen nicht ganz geratenen Bäumen. Manchmal kroch ich ins verkrüppelte Astwerk, drückte mich an den Stamm, hörte einen Dampfer tuten. EBENE I Jens: Da geht einer raus. Wenn Winter wär’! Und man wär’ ein Tier. Kriech in die Höhle! Da ist viel zu essen. Niemand kann rein. Kein Marder. Kein Jedertag. Dunkel. Aber es ist hell jetzt. Dick werden die Blätter. Dicht. Aber ich seh’ dich, Kraak. Kann durchgucken zwischen all den Blättern, seh’ alles, was du tust, Kraak. Erzähler: Ich lag wie ein Tier auf dem Baum, unter dem Baum, jeden Tag. Nach einer Woche, es war früh am Morgen, sah ich von meinem Baumplatz einen Klumpen. Da, wo das Bootshaus war, war ein schwarzer Klumpen. Große Ameisen, Menschenameisen. Sie krochen um das Haus rum, an dem Steg rauf. Ich kriegte Angst, fiel vom Ast, brach unter dem Gekrüppel und Geflecht raus, rannte, bis ich auf dem hellen Strand war. Der schwarze Klumpen klebte am Bootshaus wie Käfer am Aas. Ich fühlte, daß der Klumpen was mit Kraak zu tun hatte. 183

Hinter mir auf der Straße fing eine Sirene an zu brüllen. Ein Rover ratterte über den Sand. Der schwarze Klumpen fiel auseinander. Ich stolperte vorwärts. Blieb stehen. Stimmfetzen wehten zu mir rüber. Stimme, Geräusche, aufsteigend wirklich-unwirklich. EBENE II Frauenstimme: Ist sie angeschwemmt? Mann: Erwürgt. 1. Frauenstimme (beharrlich): Aber angeschwemmt. Alte Frau: Mein Gott. Männerstimme: Aber das ist doch, das ist doch, das ist doch … 2. Frauenstimme: Sag’ ich doch. 3. Frauenstimme: Aber sie kriegen ihn. 1. Frauenstimme: Angeschwemmt, angeschwemmt. Gedunsen und angeschwemmt. Mann: Der ist da. Voll. Alte Frau: Mein Gott. Erzähler: Getrappel auf dem Steg. Alles drängt zum Bootshaus hin, und ich konnte nun das Bündel sehen. Das Kleiderbündel unter dem Steg. Zwei in Uniform rammten die Tür vom Bootshaus, brachen sie auf. Sie zerrten etwas aus der Tür. Ich sah, das war Kraak. Zwei Schritte näher. Da sah er mich. Über den Klumpen aus Menschenameisen hinweg sprachen wir endlich miteinander. Mit den Augen. 184

EBENE I Kraak: Nicht näher, Junge, nicht näher. Den Fluß runter, Domderomdom. Nicht näher, hörst du? Den Fluß runter. Geh – geh mit dem Fluß. Jens: Ja. Mit dem Fluß. Und dann? Was dann? Erzähler: Kraak gab mir keine Antwort. Die Männer hatten ihn umzingelt. Eine Frau schrie. Eine Möwe kippte schreiend durch die auffrischende Brise.

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KURT LUTGEN Morgen, morgen, nur nicht heute … Ich kann euch sagen, ich erschrak nicht schlecht, als heute früh der Fredi mit seinem schweren Motorrad auf den Hof gefahren kam. Ich saß gerade vor der Haustür und frühstückte in aller Gemütsruhe, als der Kerl ankam. Eigentlich hätte ich um diese Zeit ja schon bei der kleinen Holzbrücke sein sollen, die über das tiefe, trockene Bachbett zu unserem Weidekamp führt. Der Bauer hatte es mir nämlich in der Frühe, ehe er in die Stadt fuhr, noch mal auf die Seele gebunden: »Bring endlich die neuen Bohlen auf den Brückensteg«, hatte er gemahnt. »Die alten sind schon so morsch, daß unsere Kühe sich eines Tages Hals und Beine brechen, wenn sie darübergehen!« Schon vor drei Tagen hat der Bauer das gesagt, aber ich habe jeden Tag geantwortet: »Morgen mach’ ich’s!« Es kam mir aber immer was dazwischen, und so war ich mit der anderen Arbeit nie so weit, daß ich mir für die Brücke noch Zeit nehmen konnte. Der Bauer versteht es nicht so recht, daß mir die Arbeit oft so langsam von der Hand geht. Er denkt und sagt das auch oft genug, ich bin ein bißchen faul. Aber das stimmt nicht. Ich bin nicht faul. Ich muß nur so oft über was nachdenken. Und wenn das über mich kommt, dann vergesse ich die Arbeit 186

darüber. Und das versteht der Bauer eben nicht. Na, was hat der auch schon erlebt! Dem haben sie den Vater nicht totgeschlagen und die Mutter nicht verschleppt! Den haben sie nicht zu Hause weggejagt, wie mir das geschehen ist! Und das ist es, worüber ich immer wieder nachdenken muß. Warum mußte es gerade mir geschehen, daß ich Vater und Mutter und Zuhause verlor? Ja, gewiß, es war Krieg, und der Krieg kam eines Tages auch an unser Dorf heran. Die Leute kamen gelaufen und schrien aufgeregt: »Macht, daß ihr wegkommt! Oder wollt ihr, daß sie euch umbringen?« Aber mein Vater sagte: »Warum soll ich weglaufen? Ich bin Bauer. Ich habe meinen Acker hier zu bestellen wie mein Vater und mein Großvater. Ich bleibe. Der Krieg wird ja auch mal ein Ende nehmen. Und ob Krieg oder nicht Krieg, die Menschen brauchen, was auf dem Acker wächst, und so werden sie mich hier auch brauchen, wo mein Acker ist. Anderswo habe ich keinen Acker. Da brauchen sie mich nicht.« Das hat mein Vater gesagt; ich weiß es noch ganz genau. Und so sind wir geblieben. Mein Vater hat vom vielen Nachdenken nichts gehalten. Darin war er genauso wie mein Bauer hier. Der würde auch nicht weggehen von seinem Hof und seinem Acker, wenn ihm einer sagte: »Du mußt weglaufen!« Aber es war verkehrt, daß wir blieben, ganz verkehrt. Denn die fremden Soldaten kamen und 187

schlugen auf den Vater und auf die Mutter los, und da versteckte ich mich schnell in der Scheune. Als ich mich am Abend wieder ins Freie traute, da lag der Vater tot auf dem Misthaufen, und die Mutter war weg, und im Dorf tobten die Fremden überall ebenso wie in unserem Haus. Da bekam ich Angst, fürchterliche Angst, und ich lief weg. Ich weiß nicht, wie lange ich in der Nacht damals gelaufen bin. Ich weiß auch nicht, wie ich durchkam. Aber das weiß ich: damals wurde zum erstenmal in meinem Kopf die Frage lebendig: »Warum, warum das alles?« Nein, mein Bauer hier, der hat so etwas nie erlebt. Darum versteht er’s auch nicht, daß unsereiner so oft nachdenken muß und daß mir die Frage »Warum nur, warum?« bei der Arbeit so oft in die Quere kommt. Heute früh freilich, als ich vor dem Haus saß und frühstückte, da dachte ich nicht nach. Da fühlte ich mich einfach wohl und zufrieden, daß ich hier bei dem Bauern war und daß ich mein Essen hatte und mein Bett und meine Arbeit und überhaupt alles, was zu einem richtigen Leben gehört. Hier war beinahe alles so, wie es daheim gewesen war, als ich ein Kind war – ja, wirklich beinahe alles. Der Bauer und seine Frau waren vom ersten Tag an gut zu mir gewesen. Aber manchmal machte gerade das alles noch schwerer, was ich mit mir herumschleppte. Denn ich mußte mich immer wieder fragen: Wären sie wohl auch so gut zu dir, wenn sie alles von dir wüßten? 188

Aber daran dachte ich heute früh nicht. Ich ließ mir’s einfach wohl sein bei meinem Frühstück. Und ausgerechnet da mußte der verdammte Kerl, dieser Fredi, mit seinem Motorrad angeknattert kommen. Ausgerechnet der Fredi, dieser Halunke! Dabei wußte ich doch, daß sie ihm damals nach dem Einbruch in der Heinfelder Mühle drei Jahre aufgebrummt hatten und daß die noch längst nicht herum waren. Und daß er seine schwere Maschine nicht gekauft hatte und daß sein Besuch nichts Gutes bedeutete, das wußte ich auch gleich, als ich ihn kommen sah. Und da war meine Freude an diesem schönen, ruhigen Morgen gleich weg. »Morgen, Kleiner, ist der Bauer da?« fragte Fredi, als er abstieg, und seine Augen spionierten dabei sofort über meinen Kopf hinweg am Haus entlang. »Nein«, fuhr es mir heraus, und schon beim Sprechen wußte ich, daß ich eine Dummheit machte. »Nein, der Bauer ist in die Stadt zu seiner Frau. Die liegt im Krankenhaus. Was willst du von ihm?« »Ach, nichts Besonderes«, grinste Fredi. »Ich wollte ihn bloß mal fragen, ob er mit dir auch zufrieden ist. Wann kommt er denn wieder?« Da machte ich die zweite Dummheit und sagte: »Der kommt bald wieder. Gegen Mittag ist er bestimmt wieder hier.« Ich sah gleich an Fredis schmierigem Grinsen, wie dumm diese Antwort war. »Hat der Bauer wohl ein Schwein zu verkaufen?« fragte er. »Ich hätte Abnehmer dafür.« 189

Da packte mich die Wut, und ich schrie ihn an: »Du und kaufen? Ja, wer so billig einkauft wie du …« »Der bringt’s zu was«, fiel er mir ins Wort. »Ja, zu drei Jahren Gefängnis«, sagte ich bissig. Da sah er mich giftig an und sagte: »Du dummer Hund! Du willst jetzt wohl den Gerechten spielen? Kannst dich wohl nicht mehr daran erinnern, daß du damals bei dem Einbruch in der Heinfelder Mühle dabei warst und auch bei den Dingern, die wir vorher gedreht haben, wie?« »Verdammt noch mal«, schrie ich, »Ich habe meine Strafe dafür gekriegt und habe sie abgebrummt. Und nun habe ich einen dicken Strich unter all das gemacht, was vorher war, und stehe hier in fester, anständiger Arbeit. Ich will nichts mehr mit dir zu tun haben! Ich bin fertig mit dir!« »Aber ich nicht mit dir«, höhnte Fredi. »Ich will noch was mit dir zu tun haben, hörst du? Du stehst nämlich bei mir noch in der Kreide, weißt du das, mein Junge? Wer hat dich denn damals auf dem Bahnhof in Hannover aufgelesen, als du am Verhungern warst? Der Fredi, wer sonst! Wer hat vor Gericht den Mund gehalten über die Einbrüche, bei denen du mitgespielt hast? Wer hat dafür drei Jahre gekriegt? Und wer ist mit vier Monten davongekommen? Nein, nein, mein Junge, du hast noch Schulden bei mir! Und Schulden muß man bezahlen. So gehört sich das unter Brüdern.« »Ich will aber nicht länger dein Bruder sein, du Lump«, sagte ich bockbeinig und biß die Zähne 190

aufeinander. Er sollte mich nicht wieder kleinkriegen – heute nicht mehr so wie damals, als er mich aufgelesen hatte und mit mir machen konnte, was er wollte. Damals war ich wie ein verlaufener Hund gewesen, der die Hand leckt, die ihm ein bißchen Futter hinhält. Ich stand auf und schrie ihn an: »Hier wird nicht gestohlen, hier nicht, hörst du!« »Langsam, langsam«, sagte er drohend. »Du wirst schon hübsch das Maul halten und mitmachen, wenn ich will. Oder hast du dem Bauern hier vielleicht gesagt, was du auf dem Kerbholz hast?« Oh, dieser verdammte Gauner! Er wußte genau, wo mir’s weh tat, und packte natürlich gleich genau dahin. »Die Leute hier sind gut zu mir«, bettelte ich kleinlaut. »Bleibt hier weg! Laßt mich doch endlich in Frieden!« Fredi grinste noch schmieriger. »Siehst du«, sagte er und ließ sein Motorrad wieder anspringen, »siehst du, langsam nimmst du wieder Vernunft an. Ich will ja gar nicht, daß du mitmachst. Du brauchst nur das Maul zu halten, du dummer Kerl. Und du wirst auch das Maul halten. Denn wenn’s passiert ist und du willst uns verpetzen, dann glaubt dir doch keiner, daß du nicht mitgespielt hast – der Bauer nicht und die Polizei schon gar nicht. Du hast nun mal Dreck am Stecken, und der bleibt dran, und den mußt du herzeigen, wenn sie dir auf den Pelz rücken. So ist das nun mal, mein Junge. Nun weißt du Bescheid. 191

Also, gegen Mittag ist der Bauer wieder da, sagst du? Jetzt ist’s eben acht. Da habe ich ja noch Zeit, was zu besorgen. Ich komme dann wieder, und dann machen wir unser Geschäft, verstanden?« So ein gemeiner Kerl! Ich wußte ganz genau, was er vorhatte. Ich kannte seine Tricks ja von früher her. Er fuhr jetzt schnell in die Stadt, holte seine Kumpane mit einem Laster, und dann wollten sie den Hof ausplündern, ehe der Bauer zurückkam. Und der gemeine Lump wußte genau, wenn er das geschafft hatte, dann mußte ich wieder mit ihm gehen – runter in den Dreck. Denn er hatte ja recht: Nach allem, was ich hinter mir hatte, glaubte mir kein anständiger Mensch, daß ich diesmal nicht mitgespielt hatte. Fredi wendete sein Motorrad. »Sag mal, führt der Feldweg hier auf die Chaussee?« fragte er und zeigte auf den Weg, der von unserem Hof zu der kleinen Holzbrücke führt, die ich ausbessern sollte. »Ja«, sagte ich wahrheitsgemäß, »der führt an unserem Weidekamp vorbei auf die Chaussee.« Einen Augenblick dachte ich: Du mußt ihm sagen, daß die Brücke morsch ist. Aber die Wut über seine Gemeinheit war so groß, daß ich dachte: Mag er zum Teufel fahren! Aber angst wurde mir doch dabei, und ich lief weg und versteckte mich in der Scheune. Da lag ich hinterm Stroh und dachte: Na, der ist erst mal weg! Und ich wollte mich freuen darüber und mir einreden: Bis er wiederkommt, ist der Bauer 192

vielleicht wieder da, und dann wagt sich die Bande nicht heran. Aber ich konnte mich nicht freuen. Ich konnte auch nicht klar denken. Ich mußte bloß immerzu an die morsche Holzbrücke denken, und dabei zitterte ich, und die Zähne klapperten mir vor Angst. Bis gegen Mittag hockte ich in der Scheune hinterm Stroh und horchte auf jedes Geräusch auf dem Hof. Aber es blieb ganz still. Nur die Hühner kakelten, und manchmal stampfte das Pferd in seinem Stall. Auf einmal höre ich den Bauern laut nach mir rufen und gehe nach draußen. Der Bauer ist mächtig wütend, das sehe ich gleich. Er läßt mich gar nicht erst zu Wort kommen, sondern packt mich vorn an der Jacke und beutelt mich hin und her, daß mir der Kopf wackelt. »Kerl«, schreit er mich an, »Kerl, was hast du angerichtet mit deiner verfluchten Faulheit? Solltest du nicht heute morgen endlich die neuen Bohlen auf die Brücke bringen? Hast du wieder gedacht: Morgen mach’ ich’s? Immer: Morgen, morgen, nur nicht heute … Und nun haben wir das Unglück! Als ich von der Stadt komme, gehe ich an unserem Weidekamp entlang, um den Weg abzukürzen, und was sehe ich im Bachbett? Einen Mann, der mit gebrochenem Genick unter seinem Motorrad liegt! Und auf der Brücke sind die morschen Bohlen durchgebrochen! Kerl, was hast du angerichtet mit deiner Faulheit!« 193

Da kam ich endlich zu Wort, und ich sagte dem Bauern, was es mit dem Fredi auf sich hatte und was ich mit dem erlebte. Alles sagte ich, das, was heute früh gewesen war, und das Frühere auch. Mir war sehr schlecht dabei, und ich dachte: Jetzt jagt der Bauer dich bestimmt weg! Aber als ich fertig war und ganz ehrlich alles gesagt hatte, was ich auf dem Kerbholz hatte, da sagte der Bauer zunächst gar nichts. Er sah mich nur an und schüttelte den Kopf, und dann legte er mir plötzlich die Hand auf die Schulter und sagte leise: »Also so einer war das, der da mit dem Motorrad! Ich glaube, ich kann dich verstehen, Junge, und deshalb wollen wir das auch unter uns bleiben lassen, hörst du. Aber verzeihen, was du angerichtet hast, verzeihen kann dir nur Gott, und du mußt es mit ihm ausmachen.« Da wurde mir auf einmal ganz leicht und frei zumute, und ich mußte weinen wie ein Kind – weinen, daß es mich schüttelte und der Bauer mich stützen mußte. Herrgott, tat das gut, daß ich weinen konnte und daß der Bauer mich dabei hielt! Und dann gingen wir hin und holten den Gendarm, und der Bauer sagte zu ihm: »Ich ahnte gar nicht, daß meine Holzbrücke schon so morsch war. Na, heute lasse ich sie sofort reparieren.« Sie brachten den Toten weg – ohne mich, denn der Wachtmeister sagte: »Das ist nichts für einen so grünen Jungen!« Und am Nachmittag habe ich die Bohlen zur Brücke gefahren und sie da aufge194

stapelt. Wie ich dabei war, kam das Nachdenken wieder über mich, und ich setzte mich auf den Bretterstapel und fragte mich: »Warum muß gerade dir das alles geschehen, das Böse und das Gute? Und warum ist es so eingerichtet, daß das Böse und das Gute manchmal so ineinanderfließen?« Die Sonne schien warm. Aber wenn ich an den toten Fredi dachte, fror mich, und ich konnte keine Hand mehr rühren. Und ich dachte: Wirst du nun immer so frieren müssen, wenn du über diese Brücke gehst und daran denkst? Einmal kam der Bauer, um nach mir zu sehen, aber als er mich auf den Brettern sitzen sah, sagte er nur ganz freundlich: »Na, heute will es wohl nicht so recht, wie?« Da schämte ich mich, daß er mich schon wieder bei der Faulheit ertappte. Aber ich fühlte auch, daß er’s mir nicht übelnahm, und da sagte ich: »Nein, ich glaube, heute werde ich mit der Brücke nicht mehr fertig. Aber von morgen an werde ich fleißig sein. Von morgen an ganz bestimmt!«

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RUDOLF OTTO WIEMER Bericht über das Sommerfest der Laubenkolonie »Grüne Hoffnung« im Lambacher Vorort Süd Zeitungsnotiz: Auch in diesem Jahr beschloß der Vorstand der Laubenkolonie »Grüne Hoffnung« des Lambacher Vorortes Süd, dem traditionellen Brauch folgend, drei Insassen der benachbarten Strafanstalt zur Teilnahme am Sommerfest einzuladen, ein Beschluß, der um so höher einzuschätzen ist, wenn man bedenkt, daß in eben dieser Laubenkolonie, wie vor einigen Monaten gemeldet, ein schändlicher Einbruch mit Verwüstung mehrerer Hütten zu beklagen war. Wir wünschen unseren hochherzigen Mitbürgern die Gunst des Wettergottes und einen harmonischen Verlauf der Veranstaltung. I Das Sommerfest begann gegen fünfzehn Uhr mit den herkömmlichen Zeremonien. Die aus vier Mitgliedern bestehende dünntönige, mitunter schrille Blaskapelle postierte sich im Rosenhof an der Frontseite des Vereinshauses und schmetterte los. Der Siedlungswart, sonst für die Reinhaltung der 196

Gehwege verantwortlich, ein forscher, mit einem Jägerhütchen geschmückter Bäckermeister, ließ die grünseidene Fahne hissen, auf welcher das in Silber gestickte Emblem, ein von Rosen umkränzter Spaten, nur kurze Zeit zu sehen war, weil bei der vorläufig noch windlosen Schwüle das Tuch schlaff am Fahnenmast herabhing. Desungeachtet fiel die Schar, die dichtgedrängt den Vorplatz füllte, mit kräftiger Stimme ein, als die Bläser, unterstützt durch eine Quetschkommode, das Vereinslied »Grüne, du Hoffnung«, verfaßt vom Ehrenvorsitzenden Leopold Hufschmidt, intonierten. Dies jedenfalls ist mit Freude und Genugtuung zu registrieren: die Versammlung der zahlreichen, festlich gekleideten Siedlerfamilien; die einträchtige, allerseits erwartungsvolle Stimmung; die bunten Papierfähnchen in den Händen der Kinder; der Eisstand in der Ecke des Geräteschuppens; die Batterie der gestapelten, grellfarbigen Limonadeflaschen; der weit sich wölkende Bratwurstduft wie auch die Rede, die der jetzige Vorsitzende, Steuerrendant Jahnke, ein kleines, dickbäuchiges Männchen, sozusagen aus dem Hut hielt, indem er nach der dort verborgenen Liste die Gäste vorstellte und begrüßte. Zuerst den zweiten Bürgermeister Eberwein; dann den Stellvertreter des leider am Kommen verhinderten Herrn Landrats; dann die Abgesandten befreundeter Vereine; dann die beiden Vertreter der Feuerwehr, die in Anbetracht des geplanten Schluß- und Knalleffekts, der sogenannten Licht197

parade, als Fachleute engagiert waren; dann die hochherzigen Stifter der Ehrenpreise für die besten Ergebnisse der Obst-, Gemüse- und Kartoffelernte; dann gewisse Geschäftsleute, besonders für Werkzeug, Samen und Düngemittel; schließlich einen Angehörigen des Gesundheitsamtes wie auch den verdienstvollen Leiter des Büros für Ungezieferbekämpfung. Zuletzt, so sagte der Vorsitzende Jahnke, habe er sich, wie alljährlich, der angenehmen Pflicht zu entledigen, die Freunde aus der unmittelbaren Nachbarschaft – dabei zeigte er zum Gefängnis hinüber, dann auf die drei, die dicht vor ihm standen –, nämlich Jupp, Freddy und Kanaldeckel, zu begrüßen, wobei er mitteilen wolle, daß besagte Freunde ihn gebeten hätten, es bei eben diesen Namen, einer Art Spitznamen, bewenden zu lassen. Er knüpfte daran die Versicherung, daß alles getan sei, den reibungslosen Ablauf des Festes zu gewährleisten, und legte den Hut auf die Seite, während man die letzte Strophe des Vereinsliedes sang und, mit einem Blick auf den mehr und mehr sich bedeckenden Himmel, das vorgeschriebene, aus einer Reihe von Programmpunkten wie Sackhüpfen, Eierlaufen und ähnlichen Spielen bestehende muntere Treiben begann. II Was die drei, Jupp, Freddy und Kanaldeckel betrifft, so machten sie, zugegeben, keinen garstigen 198

Eindruck. Wie sie so dastanden, in aufpoliertem Zivil, mit Schlips und Kragen, untätig vorerst, verlegen blinzelnd, drei junge Burschen, von denen Jupp an die einundzwanzig, Kanaldeckel noch nicht neunzehn Sommer zählen mochte, traute man ihnen eine Straftat keineswegs zu, im Gegenteil, sie wirkten eher bescheiden und gutwillig, als sie jetzt, von beherzten Siedlern aufgefordert, sich unter die Leute mischten, der glattgescheitelte, flachsblonde Jupp zuerst. Er war schon bald beim Ausschank behilflich, während Freddy, der behauptete, ein Kinderfreund zu sein, auf dem Spielplatz die Bälle zurückwarf und die verlorengegangenen Porzellaneier geschickt zu finden wußte. Dieser Freddy mit dem kohlschwarzen Schnurrbart schien außerdem Witz zu haben. Überall, wo er auftauchte, gab es Gelächter, jawohl, denn Freddy konnte mit den Ohren wackeln und erstaunliche Grimassen schneiden, niemand machte ihm das nach. Jupp und Freddy waren denn auch, wie man zu sagen pflegt, mittendrin. Sie tauchten bald hier, bald dort auf, rollten die Fässer, schleppten die Flaschenkästen, halfen beim Verteilen der Luftballons, die am Spätnachmittag, als das Kuchenessen beendet war, aus den Händen der Kinder aufwärts in den Himmel schwebten, jeder Ballon mit einer Karte, die dem glücklichen Finder den Gruß der Laubenkolonie überbrachte. Nette Kerle, diese beiden, das mußte man sagen. Und was hat der Tausendsassa Freddy jetzt wieder 199

vor? Er spuckt in die Hände, schwingt sich in den Birnbaum, klettert wie eine Katze aufwärts, und da ist er schon oben in der Spitze, er reckt den Arm, von unten prasselt Händeklatschen zu ihm empor, er winkt und läßt den hängengebliebenen Ballon fliegen – na, da muß man doch mit ihm anstoßen, man ruft: »Freddy, komm her«, klopft ihm die Schulter, zeigt ihm die frischgestrichene Wohnlaube, die Regenwasseranlage, die Windfahne auf dem Dach, den riesigen Kürbis, wie Freddy noch keinen gesehen hat, man sagt: »Gib’s zu, Freddy«, und der lachend, indem er unter dem Schnurrbart die weißen Zähne zeigt: »Nee, wahrhaftig, is’n Rekord, so was.« III Und Kanaldeckel? Er war ein vierschrötiger Kerl, trug schulterlanges, struppiges Haar und fand sich nur zögernd bereit, an einem der hölzernen Tische Platz zu nehmen. Oh, er hätte ohne Mühe das größte der Bierfässer über die Schulter geschwungen, solche Muskeln hatte er, man sah es, die Jacke hing über seinem Arm, die Hemdärmel waren hochgestreift. Doch er schien zu Darbietungen, wie Jupp und Freddy sie vollführten, wenig Lust zu haben. Scheu blickte er sich im Kreis der Siedler um und fing erst an, einsilbige Antworten zu geben, nachdem er die spendierten Schnäpse und mehrere Bier hastig durch die Gurgel hatte rinnen lassen; sein Adamsapfel rollte großartig bei jedem Schluck. 200

Na, und dann wollte man natürlich wissen, woher der Bursche den kuriosen Spitznamen hatte. Sein Tischnachbar, Edmund Pfefferkorn, zwinkerte ihm mehrfach zu. Doch Kanaldeckel erzählte lieber, wie er mit Zementsäcken zu jonglieren pflegte oder wie er auf dem Baugerüst ausgeglitten und fünf Meter tief in eine Mistgrube gefallen wäre, und was der Bravourstücke mehr waren. Kanaldeckel tischte sie auf, mit wachsendem Stimmton. Schon versammelte sich ein Häuflein Sensationshungriger in der von Liguster eingehegten Gartenecke, die zu Pfefferkorns Areal gehörte. Man spitzte anzügliche Bemerkungen und schoß sie ab. Man pries die Kraft und die Schläue des Burschen, man lockte ihn mehr und mehr aus sich heraus, indem man ihm zuprostete und den rollenden Adamsapfel belachte. »Kanaldeckel?« sagte er schließlich. »Was wird da schon gewesen sein? Nachdem wir das Ding gedreht hatten, sahen wir plötzlich weiße Mäuse. Es war Zeit, sich zu verdünnisieren. Aber wohin verschwindet man mitten auf der Straße, He? Weit und breit kein Baum, nicht mal ’n Strauch oder so was. Nur Laternenpfähle, aber das war mir zu hell. Jupp und Freddy schmissen sich platt auf die Erde. Blödsinn, wie? Wurden auch prompt erwischt. »Nee, so doof war ich nicht.« Der Bursche blinzelte. »Hätten sie mich nicht verpfiffen, kein Aas wäre mir auf die Spur gekommen. Und ich säße jetzt nicht hier auf der Bank, nee. Nach Hamburg wäre ich gegangen. Hätte mir dort einen Job geangelt. Aufs 201

Schiff, nach Amerika. Oder zu den Fidschi-Inseln, was weiß ich. Hab’ mal ’nen Schmöker gelesen, da ist noch was zu machen.« Kanaldeckel hob, hinterhältig lächelnd, das Glas. »Prost, ihr Kleingärtner! Fleißige Leute, doch nicht viel los. Was wächst schon auf eurem Komposthaufen? Nicht mal Melonen. Ist doch alles Murks«, so redete er, plötzlich gesprächig geworden, bis Franz Schilke, der Klempner, ihm ins Wort fiel: wo er sich denn nun eigentlich versteckt habe vor den weißen Mäusen. »Los, heraus mit der Sprache«, sagte Schilke. Der Vierschrötige musterte ihn verdutzt, als habe er längst darüber Auskunft gegeben. »In der Kanalisation«, sagte er leicht gekränkt, »bin doch mal städtischer Bauarbeiter gewesen, da weiß man Bescheid.« »Wie«, sagte Schilke, »ins Gully bist du gekrochen!« »Quatsch. Ist doch viel zu eng für mich. Aber das große Kanalloch, wo die Rohre zusammenlaufen – schon mal was von Zuleitung gehört, wie? Und von Abwasser?« Schilke nickte. »Mußte natürlich erst den Kanaldeckel hochheben, sonst kommt man da nicht rein. Und fix gehen mußte es auch. Aber ich hatte alles bei mir. Ich meine, den Haken zum Hochheben. Na, und dann bin ich eben verschwunden. In der Kanalisation.« Prima hatte er das gemacht. Die Polente an der Nase herumgeführt. Ringsum war keiner, den das 202

nicht freute. Nur Pfefferkorn, der als Feinmechaniker in kniffligen Sachen geübt war, hatte Hintergedanken. Er packte den Struppshaarigen beim Arm und sagte: »Und was war das für ein Ding, das ihr vorher gedreht habt?« Kanaldeckel wischte sich über den Mund. »Tut nichts zur Sache.« Seine breiten, vom Bierschaum feuchten Lippen legten sich fest aufeinander, als habe er sich Schweigen befohlen. Doch dann, als er die sechs oder sieben Augenpaare lüstern auf sich gerichtet sah, hob er belustigt den Kopf. »Was für ein Ding?« Er strählte den Haarschopf mit den Fingern. Er gluckste, er rieb die Fäuste ineinander. Irgend etwas rumorte in seiner gewaltigen Brust. »Dummköpfe«, murmelte er. Schließlich beugte er sich zu Pfefferkorn, schlang den Arm um seine Schulter und flüsterte ihm etwas ins Ohr. Danach schlug er mit der Faust auf den Tisch und lachte so breit und unverschämt, daß die Kleingärtner sich betroffen anblinzelten. Pfefferkorn sagte zuerst nichts. Er verzog nur das Gesicht, als hätte ihm jemand Sand in die Augen gestreut. Dann kniff er die Lippen ein. Seine Züge bekamen einen strengen, beleidigten Ausdruck. Mit einem Ruck stand er von der Bank auf, sagte halblaut: »Also ihr seid das gewesen«, wendete sich schroff von Kanaldeckel ab und ging mitten durch die sprachlos gebliebenen Nachbarn davon. 203

IV Es dauerte nicht lange, da wußten es alle auf dem Festplatz: Jupp, Freddy und Kanaldeckel, die von der »Grünen Hoffnung« aus Menschenfreundlichkeit eingeladenen, nun hier umsorgten und bewirteten, für wenige Stunden beurlaubten Gefängnisinsassen, ausgerechnet sie sind es gewesen. Man erinnere sich doch: zwei Gartenhäuser in schändlicher Weise demoliert! In erster Linie das Pfefferkorns. Dann die Hütte des Klempners Franz Schilke, wir kennen ihn, er sitzt noch immer bei Kanaldeckel am Tisch. Gleich wird ihn jedoch Jahnke, der Vorsitzende, oder war es der Kassenwart Sponholz, aufklären. Er wird, während Kanaldeckel sich schwankend erhebt und, auf irgendein Abenteuer erpicht, nun endlich dem Festplatz zustrebt, da also wird Jahnke dem Klempner verraten, mit wem er eben noch auf gute Nachbarschaft angestoßen hat. Und Schilke, der ein akkurater, genau rechnender Mann ist, wird – ja, was wird er tun? In der ersten Wallung wollte er hinter Kanaldeckel her, ihn zur Rede stellen, womöglich gar ihn am Schlips packen. Doch er sah rasch ein, daß er dem Burschen in dieser Hinsicht nicht gewachsen war. So machte er sich mit Jahnke davon. Fuchs und Wellwatz und Gieseborn und Pätzold kamen dazu. Ohne Aufsehen versammelte man sich hinter der Limonadenbude. Eine Herausforderung, ohne Zweifel. Fast schon 204

eine Beleidigung. Konnte man sie ohne Widerspruch hinnehmen, und was war von einer Gefängnisleitung zu halten, die unter mehr als zweihundert Sträflingen die Auswahl hatte und die dann dreist genug war, ohne Absprache oder Vorwarnung ausgerechnet diese drei zum Sommerfest der Grünsiedler zu schicken? Gab es nicht ein paar gutartige Automatenknacker? Oder einen Spezialisten für Sparkassen? Meinetwegen einen Kaufhausdieb oder einen Urkundenfälscher? Sträflinge waren schließlich auch Menschen. Bisher war das stets gutgegangen. Man traktierte sie mit Kuchen, Schokolade und Bratwürsten. Man prostete ihnen zu, sogar an der Verlosung der Geschenke durften sie teilnehmen. Und man hatte mit keiner Wimper gezuckt, als im Vorjahr ein solcher Bursche den Hauptgewinn, eine Bowlenschüssel mit zwölf Gläsern, in das Gefängnis entführte. Nicht einmal in diesem Sommer hatte man sich der edlen Pflicht entzogen, obwohl der gute Wille auf eine harte Probe gestellt war. Das mochten die übrigen Kleingärtnervereine, zum Beispiel »Edelweiß« oder »Frohsinn« oder »Langer Wilhelm«, erst mal nachmachen. Freilich, was zuviel ist, ist zuviel. Erwartete man allen Ernstes, daß die Hochherzigkeit, um es so auszudrücken, sich selbst ins Gesicht schlug? Nein, zum Donner noch mal, da hört der Spaß auf!

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V Gedonnert hatte es übrigens, wenn auch ganz in der Ferne. Der Himmel, schwer und bleischwarz, hing tief herab. Die Schwüle war kaum noch zu ertragen. Und vielleicht wäre es schon jetzt zum Ausbruch des allgemeinen Zorns gekommen, hätte nicht Hebestreit, der Müllkutscher, den Bierhahn plötzlich zugedreht und gesagt: »Wo ist Linchen?« Linchen Hebestreit hatte eben noch mit Sabine und Rolf und Dieter gespielt. Alle zusammen waren sie geknipst worden, zur Erinnerung an das Sommerfest. Dann hatte Linchen ihre Mutter gesucht; und jetzt war sie weg. Ohne Zweifel, Linchen hatte den Augenblick schlecht gewählt. Überall stand man in Gruppen, man tuschelte, man machte finstere Gesichter, man hörte Flüche und Drohungen – wer wollte da auf ein Kind aufpassen? Zudem traten Jahnke, Sponholz und mehrere andere aus der Hütte. Womöglich hatten sie einen Beschluß gefaßt, einen großherzigen, der den Schock mit Selbstverleugnung überwand. Sie merkten jedoch, daß da kaum noch etwas zu machen war. Die Siedler rotteten sich zusammen. Einige hatten sich bereits bewaffnet. Wellwatz, der Vereinsdiener, schwang einen kurzen Spaten. Schollmann führte den Hackenstiel bei sich, und Linchen Hebestreit wäre womöglich noch lange umhergeirrt, hätte nicht Freddy, übermutig wie er war, den Ball viel zu weit weggeworfen, den Ball, den er 206

nun suchte, aber nicht fand. Dafür fand er das weinende Linchen Hebestreit hinter der Rosenhecke, bei Sponholzens Häuschen. Und weil Linchen nicht aufhören wollte zu weinen, hat Freddy ihr den Hampelmann geschenkt, den er kurz vorher an der Schießbude gewonnen hatte: »Da, behalt ihn. Siehst du auch, wie lustig er mit Armen und Beinen zappelt?« Ganz einfach, so war das. Linchen gab sich mit dem Hampelmann zufrieden. »Wie heißt er?« fragte sie. »Freddy«, sagte der Mann mit dem schwarzen Schnurrbart. »So heiße ich nämlich auch. Ulkig, was?« Er brauchte bloß das Kind an der Hand zu nehmen. Und dann, ehe das Gewitter losbrach, rasch zurück durch die Ligustergassen zum Festplatz! Da ist es, euer verlorengegangenes Linchen! Wozu die Aufregung? Ihr seht ja: auf Freddy ist Verlaß. Nein, keine große Sache. Aber ihr könntet ruhig mal »danke« sagen. Und: gut gemacht, Freddy. Verdammt, was wollten die Leute? Freddy blieb stehen, zuerst belustigt, dann mißtrauisch. In Gruppen standen sie, die Grünsiedler, und steckten die Köpfe zusammen. Irgend etwas war passiert, wovon Freddy nichts wußte. Man fuchtelte mit den Fäusten. Schimpfworte flogen durch die Luft wie aufgescheuchte Vögel: »Unverschämt!«, »Gemeinheit so was!«, »Fort mit den Schuften!« Und da entdeckte man ihn schließlich. Die Köpfe fuhren herum. Ein oder zwei Zeigefinger waren auf 207

ihn gerichtet. Wie kam der Kerl zu dem Mädchen? War das nicht Linchen Hebestreit, das man eben noch gesucht hatte? Na, was habe ich gesagt? Ein wachsames Auge hätte man haben müssen auf die Bagage. Und besonders auf diesen Freddy! Stimmt, der lustigste von den dreien – aber hat er sich nicht stets am Spielplatz der Kinder aufgehalten? Na, wem war das nicht von Anfang an verdächtig? Jetzt hat er sich entlarvt, der Bursche! Auf kleine Mädchen hat er es abgesehen! Wozu hätte er, dieser Schwarzhaarige, sonst hinter Linchen Hebestreit hergeschnüffelt? Linchen war zwar erst sieben Jahre alt, doch gut entwickelt, mit kräftigen Armen und Beinen, und sie hatte fast nichts als ein dünnes Kleidchen an. Kein Wunder, daß dieser vorbestrafte Mensch da Interesse zeigte. So etwas liest man doch jeden Tag in der Zeitung – kurz, die Stimmung für Freddy schlug, noch ehe es ein zweites Mal im Westen über den Pappeln blitzte, gefährlich um. Einige riefen: »Kinderonkel!«, »Nehmt ihn fest!« Man setzte sich in Bewegung. Freddy ließ die Hand des Mädchens los und sprang zur Seite. VI Jupp und Kanaldeckel hatten von alledem nichts gemerkt. Sie standen an der Theke, knallten die Biergläser gegeneinander und sangen. Plötzlich fanden sie sich von einem Haufen Siedler umringt. Sie sahen die zornroten Köpfe, 208

die offenen Münder, die erhobenen Zaunlatten, Harken. »Was ist los?« fragte Jupp. Kanaldeckel, der jetzt nicht übel Lust hatte, eine Rede zu halten, rülpste und zuckte die Achseln. Irgend etwas stimmte da nicht. Er lachte und drehte den aufgebrachten Grünsiedlern den Rücken. Komisch, so was. Erst scheißfreundlich, und nun … Sollten sich doch mal beruhigen, die Leute. Freddy allerdings zögerte keinen Augenblick. Er sah noch, wie Linchen Hebestreit heulte, weil ihre Mutter ihr den Hampelmann fortnahm, dann war er ebenfalls bei der Theke. Er packte die beiden Kumpane am Arm, zerrte sie durch die Bierbude den schmalen, mit Hainbuche eingefaßten Gehweg entlang, rechts um die Ecke und, da er von dort ebenfalls einen Siedlertrupp kommen sah, ein paar Schritte zurück. »Verdammt, man hat uns umzingelt«, knirschte er. »Bleibt doch stehen, ihr Dummköpfe!« Damit riß er die Tür des nächstbesten Gartenhauses auf, stieß Jupp und Kanaldeckel hinein, griff noch zu der Eisenschiene, die draußen an der Wand lehnte, sprang selbst ins Haus, verriegelte die Tür, schloß die Fensterläden und sagte: »So, fürs erste langt es.«

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VII Inzwischen war das Gewitter herangerückt. Der Wind fegte in böigen Stößen durch die Kolonie. Er wirbelte Papier und angewelkte Blumen hoch, ließ die Wimpel, die an Drähten über den Platz gespannt waren, wild flattern und rüttelte am Fahnenmast. Wohl hatten einige Furchtsame sich vorzeitig auf den Heimweg gemacht, doch die Menge der Festteilnehmer, trunken von der Lust auf Verfolgung, schloß sich um die Hütte zusammen, in der die drei endlich entlarvten Übeltäter gefangensaßen. Denen wollte man es zeigen. Das Fest durfte nicht eher zu Ende gehen, bis die Reputation des Vereins wiederhergestellt war. »Sind wir auch kleine Leute«, hörte man den entrüsteten Schickedanz sagen, »mit Rowdies haben wir nichts zu tun.« Und der Vergnügungswart Ernst Hohlbaum fügte, verächtlich grinsend, etwas von »Rechnung begleichen« hinzu. Zu Schilkes Ehre muß allerdings gesagt sein, daß er der Gewalt zu wehren suchte. Er redete auf die erbosten Männer ein, die Knüppel und Bierflaschen aus der Hand zu legen. Er zeigte auf die in Lambach West niedergehenden Regensträhnen und rief, sie sollten sich lieber in die Unterkünfte flüchten, bevor das Wetter vollends herabschlüge – nichts half. Man schrie: »Raus mit den Dreckskerlen!« Man fuchtelte, man hob die Kinder auf die Schultern, als gäbe es in Kürze den besten Programmpunkt des Festes zu bestaunen, 210

und Pfefferkorn, der unstreitig am wildesten tat, soll sogar einen Backstein gegen den Fensterladen geschmettert haben, wogegen der erste Vorsitzende Jahnke, dem die Hütte gehörte, sogleich Einspruch erhob. Pfefferkorn, sonst ein besonnener Mann, ließ sich jedoch, wie er sagte, kein X für ein U mehr vormachen. Hatte er nicht von Anfang an nur mit Widerstreben für die Einladung gestimmt? Na, und? Waren sie nicht alle bitter enttäuscht worden, besonders solche wie er, die noch ein Wort für die Guttat einzulegen sich überwunden hatten? »Jetzt aber«, schrie Pfefferkorn, »habe ich genug!« Er schrie es, in Hemdsärmeln, mit schief hängendem Schlips, Schweißtropfen auf der Stirn. Jahnke, der Pfefferkorn so nicht kannte, schüttelte mißbilligend den Kopf: »Mensch, Otto, besinn dich!« Pfefferkorn wurde nur um so wütender. Eine Schande, daß solche Leisetreter im Vorstand saßen! Da sollte man aufräumen! Remedur sollte man da machen! Keuchend schleppte er einen Kasten leerer Limonadeflaschen herbei. »Los!« brüllte er. »Laßt sie nicht entwischen! Bombardiert sie!« Die Hütte war eingekreist. Die ersten Tropfen fielen. Da wurde einer der Holzläden zurückgeschlagen und das Fenster weit aufgemacht. Irgend etwas Weißes erschien in der Öffnung. »Aha«, rief Pfefferkorn, »sie ergeben sich! Freien Abzug wollen sie haben! Aber nichts da, Leute! Kein 211

Pardon! Haut sie zusammen! Holt die Polizei!« Schilke, der nicht weit von Pfefferkorn stand, puffte den Schreier in den Rücken. »Halt die Schnauze«, sagte er und deutete nach dem Fenster der Hütte. »Ich glaube, die haben ganz was anderes vor.« Wahrhaftig, eine Papierrolle wurde gezeigt, die war rosa geblümt, denn Jahnke wollte im Herbst neu tapezieren. Auf der Rückseite der Tapete aber war etwas geschrieben. Mit Kohle. Gut lesen konnte man das nicht, zumal Freddy die Rolle von Zeit zu Zeit schwenkte. »Achtung! Feuerwerk! Alles 30 Meter weg!« war da geschrieben. Und zur Warnung ließen die beiden anderen einen Dreher los. VII Der erste, der einen Schrei ausstieß, war Jahnke. Schließlich gehörte die Hütte ihm. Außerdem konnte kein anderer wissen, was die Burschen vorhatten, außer den Mitgliedern des Festausschusses, doch die waren anscheinend taub. Jahnke hob also die Hände und schrie: »Zurücktreten, Leute! Bringt euch in Sicherheit, um Gottes willen!« Was er noch schrie, war nicht viel anders. Genaueres dachte er nur, denn er wollte eine Panik vermeiden. In Fetzen, wie vom Wind gescheucht, flog es durch sein Gehirn: dort, in der Hütte, lager212

ten die Feuerwerkskörper, die für die Lichtparade bei Einbruch der Dunkelheit vorgesehen waren; Knallfrösche, Kanonenschläge, Summer und Dreher; Sternräder, Böller, Raketen. Jede Menge lagerte dort, mit Zündschnüren und Mörsern – nicht auszudenken, wenn man den Vorrat mit einmal in Brand steckte! Die Burschen hatten das offensichtlich vor. Jahnke schüttelte verzweifelt den Kopf. »Haut ab!« schrie er. »Los! Weg mit euch!« Er suchte sich eine Gasse durch den Haufen zu bahnen. »Versteht ihr nicht? Ein Feuerwerk wollen sie machen! Ein gottverdammtes Feuerwerk!« Da fing es an zu regnen. Nicht einzelne Tropfen mehr, nein, es prasselte plötzlich wie aus Kübeln herab. Gleichzeitig fuhr ein Blitz quer über die Kolonie, der Donner krachte. Irgendwo hinter dem Gefängnis mußte es eingeschlagen haben. Die Grünsiedler standen eine Weile erstarrt. Dann wendeten sie sich um und fielen in wilde Flucht. Sie stießen sich, stürzten übereinander, rafften sich wieder hoch. Sie zogen Jacken und Kleider über die Köpfe, rannten wie Ameisen in den engen Arealgassen davon, rissen die Türen der Gartenlauben auf und standen schließlich durchnäßt und schwer atmend, die schreienden Kinder fest an der Hand, in den niedrigen, fast dunklen Gelassen. Dort hörten sie, stumm und zusammengepfercht, wie die Ladung hochging.

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IX Womöglich wäre die lautstarke Manifestation gar nicht nötig gewesen. Jupp, Freddy und Kanaldekkel verfügten offensichtlich über den Beistand des Himmels, und der entleerte sich, nachdem die Fensterscheiben in Jahnkes Hütte zerklirrt und ein Teil des Daches in die Luft geflogen war, mit sintflutartigem Geprassel. Der Platz um die Hütte war leer. Lange, so sagte man später, habe man kein solches Unwetter gehabt, allerdings auch nicht solch einen pompösen Ausgang des Sommerfestes. Die Burschen hatten doch wirklich Feuerwerk gespielt! Besonders Kanaldeckel war kaum zu halten gewesen, als er die Raketen entdeckte. Wäre es nach seiner Absicht gegangen, verdammt, die Grünsiedler hätten nicht auf die Lichtparade zu verzichten brauchen. Jahnkes Hütte war genau das richtige Objekt. Kanaldeckel hätte gar zu gern eine kleine Demonstration daraus gemacht: »Hallo, hallo! So und nicht anders sieht die Rache argloser Knastkumpel aus, wenn man Schindluder mit ihnen treibt!« Er war bereits dabei, die Zündschnur in den größten Raketenstapel zu stecken, als Freddy ihm in die Arme fiel: »Halt doch die Luft an, Mensch! Ein paar gekoppelte Bumsdinger das genügt für den Heimweg! Oder meinst du, ich will noch mal sechs Monate brummen?« Und so waren sie entwischt, beim gleichzeitigen Knall des Donners und der Kanonenschläge. 214

Vorzeitig, zur Überraschung des diensthabenden Aufsehers, fanden sich die drei in der Wachstube ein. Über den Grund ihrer sichtlich angeregten Stimmung Auskunft zu geben, weigerten sie sich. Von der Enttäuschung der Kinder, die nicht zu ihren Lampions gekommen waren, wollen wir nicht reden. Auch nicht von der Verwüstung, die das Gewitter in den Parzellen anrichtete. Nicht mal, daß nun auch Jahnkes Hütte übel zugerichtet war, gab zu Bedauern Anlaß, im Gegenteil, mancher Grünsiedler gönnte dem allzu versöhnungsbereiten Vorsitzenden den Schaden. Sie wählten einen Vorstand, der Pfefferkorn hieß, und sie beschlossen, die Gefängnisleitung davon in Kenntnis zu setzen, daß man prüfen werde, ob man in Zukunft vorbestrafte Personen zum Sommerfest einzuladen noch in der Lage sei. Im übrigen ging alles glimpflich ab. Selbst Linchen Hebestreit durfte wieder mit dem Hampelmann spielen. Sie saß in der »Grünen Hoffnung« vor der Hütte und sah zu, wie der Vater das Erdbeerbeet umgrub. Und sooft jemand vorbeikam, zog sie an der Schnur. O ja, man freute sich, wenn der lustige Kerl mit den Armen und Beinen zappelte. »Er heißt nämlich Freddy«, sagte dann Linchen Hebestreit und zeigte zum Gefängnis hinüber.

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Zeitungsnotiz: Unser Bericht über den bedauerlichen Ausgang des Sommerfestes der Laubenkolonie »Grüne Hoffnung« des Vorortes Lambach Süd, den wir kürzlich veröffentlichten, hat zu zahlreichen Vermutungen und Kontroversen Anlaß gegeben. Es ist von »verunglückter Humanitätsduselei« und »unsozialem Verhalten«, ja sogar von »Spießigkeit und Arroganz« die Rede gewesen. Wir meinen, daß wir diesen gewiß nützlichen Überlegungen Raum geben sollten. Eine Stellungnahme der Laubenkolonie »Grüne Hoffnung« und eine solche der Gefängnisleitung hoffen wir bald vorlegen zu können. Darüber hinaus fordern wir unsere Leser auf, sich freimütig zu äußern, und hoffen auf eine fruchtbare Erörterung des Sachverhalts.

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CILI WETHEKAM Jeder darf mal Engel sein Er war ein Flegel, und er wußte es. Es gab viele Möglichkeiten, sich entsprechend zu benehmen: keine Antwort auf gestellte Fragen geben, jemanden anstarren oder in einem Gespräch irritierende Fragen stellen. Aber am meisten genoß er es, mit verächtlichem Lachen schweigend dabeizusitzen und sich anzuhören, was die Freunde seiner Eltern verzapfen. Die Eltern praktizierten penetrant die Demokratie, indem sie jeden seine Meinung sagen ließen, darauf eingingen und eingeschüchtert ein paar Geistesfusseln rauszupften, die vielleicht noch zu ihrer eigenen Gesinnung paßten. Später, wenn der Gast gegangen war, zupften sie dieselben Fusseln wieder aus ihren alten Auffassungen heraus und bliesen sie kopfschüttelnd in den Wind. Er kannte das und verachtete sie dafür. Er verachtete die ganze Welt. Denn so, wie die Dinge darin standen, hing alles vor Verlogenheit aneinander. Meinungshaß griff sogar jene an, die tolerant sein wollten, und trieb sie in furchtsames Schweigen. Was die Intoleranten nur noch lauter schreien ließ. Bernie beschäftigte die rein theoretische Frage, ob ein Toleranter bereits intolerant war, wenn er die Intoleranz nicht duldete. Darüber redete er stundenlang scharfsinnig mit seinesgleichen. 217

Seinesgleichen waren Langhaarige in vermotteten Pelzen, deren stumme Anwesenheit in der Straßenbahn bestimmte Bürger bereits zur Weißglut brachte. Diese jungen Leute registrierten lächelnd Gehässigkeiten, indem sie den Verhöhnenden beim Aussteigen noch höflich das Türgitter offenhielten. Oder aber sie hoben spöttisch-zackig den Arm, wenn einer von »Zucht und Ordnung« sprach. Im übrigen redeten sie so frei über Sex wie alte Leute über Politik. Manchmal meistens verachtete Bernie auch sich selbst. Er starrte in den Spiegel und zählte aufblühende und abklingende Pickel, probierte seinen Bart und erinnerte sich aller Gelegenheiten, bei denen er etwas Verkehrtes gesagt oder getan hatte, dachte auch an den sonderbar ergebenen Zug im Gesicht seiner Mutter, wenn eine seiner Bemerkungen wieder wie ein Hieb gesessen hatte. Sie antwortete niemals auf eine Gehässigkeit. Wahrscheinlich hatte sie einmal in ihrem Groschenheft gelesen, daß man Jugendliche möglichst gewähren lassen sollte und nicht ihren Trotz wecken. Nur an dem Zucken ihrer Mundwinkel erkannte er, wenn er sie gekränkt hatte. Aber er hätte sie wütend und ungerecht erleben mögen, selbst zum Verletzen bereit, damit sie endlich zugäbe, daß sie ihresgleichen vor sich hatte und keinen dummen Jungen. In Gesellschaft anderer schonte er sie. Es genügte ihm, ihre Spannung zu spüren, wenn jemand etwas sagte, was an seinen Einsichten rüttelte, die noch unreif wie Augustäpfel 218

an den jungen Ästen seiner Überlegungen schaukelten. Er nannte seine Eltern heimlich »Kaninchen«. Treuherzige Jasager waren sie, die nur mit den Nasen zuckten, wenn ihnen etwas ungeheuerlich erschien. Daß sie harmlos waren, nahm er ihnen übel. Die Harmlosen hatten den Mächtigen gestattet, die Gesellschaft zu dem zu machen, was sie geworden war. Die Harmlosen fuhren fort, jene unter sich zu dulden, die sie seiner Meinung nach hätten ausstoßen müssen, denen sie aber statt dessen erlaubten, ihre antiquierten Auffassungen, ohne rot zu werden, auch noch hinauszuposaunen. Geburtstagsfeiern waren sehr ergiebig für solche Beobachtungen. Dann kam alles, was die Eltern an Freunden und Bekannten im Laufe der Jahrzehnte angesammelt hatten: solche, aus deren Meinungswelt sie herausgewachsen waren wie aus einem Konfirmationsrock, solche, für die sie immer ein wenig zu unkompliziert gewesen waren, zu schwach, zu schüchtern, zu anständig oder zu dumm. Daß sie alle, die nicht mehr zu ihnen paßten, niemals abgeschoben hatten, nannten sie Treue. Er nannte es Feigheit. Er dachte das Wort manchmal so stark vor sich hin, daß er meinte, es müßte spürbar in der Luft stehen, wenn diese sich mit Tabakqualm, Kaffeeduft und exquisitem Deodorant füllte. Er hatte einen Stenokursus besucht und führte in Sigeln ein Heft mit Notizen, die niemand lesen konnte. Alle Dummheiten oder Bosheiten, die die 219

Menschen um ihn herum einander sagten, trug er ein. Eines Tages würde er eine Statistik darüber anlegen. Später wollte er menschliches Verhalten in der Nächstenliebe studieren und über eben diese Bemerkungen eine Doktorarbeit schreiben. Er schaute politisch weder nach links noch rechts, lehnte die Aggressionstheorie als Erklärung oder Entschuldigung für alle Kriege ab und fuhr fort, die ältere Generation zu verachten, die meinte, die Welt sei in Ordnung, nur weil ihre eigenen Familien satt wurden, während ganze Völker hungerten. Am meisten war ihm ein sehr alter Bekannter seiner Eltern zuwider, ein wohlhabender Versicherungsmensch, ehemaliger SS-Mann, dessen Regiment in einen Prozeß verwickelt gewesen war, wie Bernie hatte munkeln hören. Dadurch war der Mann vom mutmaßlichen Missetäter zum zweifelhaften Märtyrer aufgerückt, weil er, wie die Mutter sicher zu wissen schien, niemandem auch nur ein Haar hatte krümmen können. Breit lag er in des Vaters liebstem Sessel, verzehrte Unmengen von Kuchen und stülpte viele Tassen Kaffee in sich hinein. Währenddessen hielt er lange Monologe über die Politik, die Leute in der Nachbarschaft, über Darwin, das amerikanische Rassenproblem, die geringe Anzahl tatsächlich vergaster Juden und beschwor heitere Kriegserinnerungen herauf. Man lauschte ihm höflich, denn er war reicher, forscher, sicherer und skrupelloser als die anderen. Bernie hörte gleichfalls zu. Dabei schaute er 220

ironisch auf die Mutter, die um Fassung zu beten schien und obendrein noch stolz auf ihre guten Manieren war. (Gast im Hause, Gott im Hause, wie man in Polen sagte. Früher hatten die Deutschen die Polen verachtet. Jetzt zitierten sie ihre Sprichwörter. Also doch ein Fortschritt?) Man sprach über eine alleinstehende Frau, die in der Nähe einen Käseladen aufgemacht hatte. Sie hatte nur ein schwachsinniges Kind, das sie manchmal an der Hand spazierenführte. »Mongoloide Idiotie«, dozierte der Gast, der so viel Platz brauchte, »entsteht dadurch, daß sich anstatt fünfundvierzig sechsundvierzig Chromosomen entwickeln.« Man schwieg respektvoll vor dieser wissenschaftlichen Äußerung. »Hoffnungslose Fälle. Sollte man schmerzlos töten. Diese Kinder kosten die Gesellschaft nur Mühe und Geld. Unwertes Leben …« Es brütete eine Stille im Raum. Schließlich wagte die beherzteste der Anwesenden: »Aber die Mutter wird es auch lieben. Oder nicht?« Hilflos blickte sie sich nach Beistand um. Bernie sah seine Mutter noch dringender an. Errötend sagte sie heiser: »Ich finde – man muß – hm – man muß als Mutter – selbst in einer solchen Situation gesteckt haben, um sich wirklich ein – Urteil darüber erlauben zu können. Wer nicht selbst …« Der breite Gast nahm einen großen Schluck. 221

»Unsinn!« herrschte er die Gastgeberin an. »Wie können Sie denn ahnen, was für Nerven und Energie solch ein Kind seine Mutter kostet?« »Sind es Ihre Nerven?« fuhr Bernie plötzlich hoch. Seine Augen sprühten. Sein sperriger langer Putz stand unschön von seinen Ohren ab. Jemand hatte seine Mutter angegriffen, sein armes, harmloses Kaninchen! Der Gast wurde eisig. »Junger Mann, schneiden Sie sich erst einmal die Haare, dann rede ich mit Ihnen! Nicht eher!« Bernie war so wütend, daß er stotterte. »Lassen Sie – lassen Sie gefälligst die Meinung meiner Mutter gelten!« Der Vater erhob sich halb, die Mutter legte beschwichtigend eine Hand auf Bernies Arm. »Erst die Haare!« forderte der Gast. Bernie stürmte aus dem Raum, nahm zwei Stufen zugleich. Dem werd’ ich’s! dachte er. Dem – ihm fielen alle schamlosen, boshaften und bornierten Bemerkungen ein, womit die Leute sich gegenseitig zusetzten. Er dachte an die hoffnungslos spießige Erziehung seiner Mutter, die gute Manieren über die Gerechtigkeit stellte und nun doch – endlich – die Grenze ihrer Jasagefähigkeit erreicht zu haben schien. Man mußte ihr beistehen, wie einem Kind, das zu Schweres hebt. Der Kies knirschte auf dem Gartenweg. Die Hyazinthen dufteten. Müder Frühlingsspätnachmittag, matte laue Sonne, die schon schlafen möch222

te … Bernie ging in Gedanken, verwundert, fast befreit, daß ihn etwas aus seinem starren Schweigen hatte herausfordern können. Er hatte niemals über Schwachsinnige nachgedacht. Es gab gute und schlechte Menschen, kluge und dumme. Weshalb durfte es keine Schwachsinnigen geben? Was wußte man von ihrem Innern? War man so sicher, daß sie Hyazinthenduft und Frühlingssonne, Mutterliebe und Sättigung nicht empfanden, nur weil sie sich nicht äußern konnten? War einer dieser Neunmalklugen jemals selbst so ein Geschöpf gewesen? Wieso erdreisteten sie sich? Sie, die hinkten, durften am Leben bleiben. Sie, die blind waren, auch. Wer stahl und mordete, kleinen Kindern nachstellte, KZs bewachte, Arbeiter ausbeutete, Kriege anzettelte, Bomben auf Wehrlose warf – ebenfalls. Aber einer, der ohne Verschulden schwachsinnig auf diese Welt gekommen war … Einmal hatte er für die Eltern kurz vor Ladenschluß französischen Käse in dem betreffenden Geschäft einkaufen müssen. Gewöhnlich bekam man den kleinen Jungen nicht zu Gesicht. Er trat und spuckte nach der Kundschaft, so hielt die Mutter ihn abseits. Aber an jenem Abend, vielleicht, weil man niemand mehr erwartet hatte, war der Kleine plötzlich in dem Laden erschienen: schmächtig, mit schielendem Mongoloidenblick, vorgeschobenem Unterkiefer und rotschilfernder Gesichtshaut. 223

Speichel war ihm aus einem Mundwinkel getropft. Mürrisch hatte er den fremden Großen angestarrt, der die Mutter von ihm ablenkte. »Tag, kleiner Bruder!« hatte Bernie zu ihm gesagt und seinen Arm ausgestreckt. »Gib mir die Hand!« Nichts hatte er sich dabei gedacht. Er hatte es getan, weil die Sonne geschienen hatte und er in der Straßenbahn Ulrike begegnet war, die sich nicht abgewandt, sondern mit ihm gesprochen hatte. Die Welt war rosig geworden in ihm. Sie war es nicht oft. Er hatte etwas davon weitergeben wollen. Mißtrauisch war das Kind näher gekommen. Hatte die offene Hand kurzsichtig beäugt. Und dann glucksend die eigene kleine daraufgelegt. Hinter dem Ladentisch hatte die Mutter mit dem Käsemesser in der Hand verzückt zugeschaut. »Das macht er bei niemandem. Nie!« »Siehst du, wir sind Freunde«, hatte Bernie gesagt und die kleine Hand tüchtig geschüttelt. Es war ihm vorgekommen, als machten seine Worte einen langen Weg, ehe sie zu dem Kind gelangten, jedenfalls hatte er eine ganze Zeit auf ein Nicken warten müssen. Und noch länger hatte es gedauert, bis er begriffen hatte, was der Kleine von ihm wollte: einen Bleistift, ein Stück Papier. Bernie fand beides in seiner Jacke und gab es ihm. Zeichnete vorher rasch ein komisches Männlein auf und sah mit ätzendem Mitleid zu, wie die unsichere Kinderhand über das Papier krakelte. Der Käse war eingepackt worden und bezahlt. 224

Mit Tränen in den Augen hatte die Mutter Bernie das Geleit zur Tür gegeben. »Kommen Sie bald wieder! Er hat Sie lieb! Nicht wahr, das ist doch eine sehr positive Regung, ein Fortschritt, finden Sie nicht auch?« Daß sie den Mund nicht hatte halten können! Es war so peinlich gewesen, so überflüssig! Typisch erwachsen. Was hatte Ulrike einmal in größerem Kreis gemeint? Kluge, hübsche Ulrike mit dunklem, wehendem Haar: »Die Erwachsenen, vor allem die Mütter, ach Gott, ach Gott! Erinnern mich immer an alte Jungfern, die einen Schmetterling auf einer Blüte sehen, sich darüber neigen, ›wie süß!‹ hauchen und damit natürlich den Schmetterling verjagen! Anstatt die Klappe zu halten und es in Ruhe geschehen zu lassen, was sie rührt. Man geniert sich ja schon genug …« Ach, er war keine Blüte, und ein Schmetterling war er auch nicht. Aber das Kind hatte ihm neben der vergrämten Mutter lange nachgewinkt. Zweimal hatte Bernie sich noch nach ihnen umgedreht, dann war es ihm zu albern geworden. Wie hatte das Kerlchen überhaupt geheißen? Herbert … Nein. Norbert? Ja, natürlich. Armer kleiner Norbert … Glücklicher kleiner Norbert … Hätte er vor dreißig Jahren gelebt, wäre seine Existenz sehr kurz gewesen. Sollte er sich nun deswegen die Haare schneiden lassen, sich die feixenden Bemerkungen anhören … Aber da war die Mutter, deren Meinung so grob 225

niedergeschlagen worden war. Es gab Haare, und es gab Meinungen. Und miese Typen gab es auch. Sie im Glauben lassen, daß sie keine seien, war unfair gegenüber den anderen, die zu schwach waren, für ihre Meinung einzutreten und doch gern gut sein wollten. Sie trauten sich nur nicht, weil die Miesen ihnen in der Sonne standen. Die miesen Typen standen immer dort. Es nützte nichts, daß man ihre Bemerkungen wie Tropfen Gift sammelte. Man mußte schon Gegengift versprühen. Er erinnerte sich an einen Schulkameraden, der Friseurlehrling geworden war. Wenn er sich beeilte … Gleichgültig sah er seine rosa Locken fallen. Ulrike würde weggucken. Er hatte ihr wenigstens dadurch imponieren können, daß er die längsten Haare von allen hatte. Gewiß war das der Duldsamkeit seiner Eltern zu verdanken, der gleichen Duldsamkeit, die er bei anderen Gelegenheiten verachtete. Der Friseurlehrling war noch nicht lange im Fach. Schwitzend fuchtelte er mit der Schere herum. »Ich weiß nicht«, sagte er, unzufrieden mit seinem Schnitt. »Mach schon! Hauptsache, der Putz ist ’runter. Das wächst schon wieder nach. Dieser bornierte Knabe wollte erst mit mir reden, wenn ich kurze Haare hab’. Den Kerl mach’ ich zur Schnecke!« Als er heimging, fiel der Abend. Immer noch lau und welk die Luft. In einem verwaschenen Blau al226

ter Küchenschürzen blinkte ein blasser Stern. Eine Orgel wurde an Bernie vorbeigeschoben, eine jener, die im Frühling durch die Straßen rollten, Lieder dudelten und Kinder herbeilockten. Zwischen aufgemalten bunten, verschleierten Göttinnen standen silbrige Tonpfeifen. Kitsch im Quadrat. Aber auf der kleinen Bank darunter hockte ein Kind und wurde mitgefahren. Bernie schaute näher hin. »Sagen Sie mal, was fahren Sie denn da für ein Kind herum?« fragte er den gleichgültigen Mann. »Weiß ich viel? Lief immer hinter mir her und setzte sich aufs Bänkchen. Ließ sich nicht anfassen. Spuckte, trat und kratzte. Hörte auf die Musik. Und hat ein Butterbrot von mir angenommen. Jetzt fahr’ ich’s zur Polizei.« »Norbert!« rief Bernie. Der Kleine wandte ihm langsam sein armes Gesicht zu. »Geben Sie ihn mir. Ich weiß, wo er wohnt, und bringe ihn nach Hause. Komm, Norbert, komm!« Bernie streckte dem Kind die Hand zu. Im Zeitlupentempo erhob sich der Kleine, kam näher und legte die seinige hinein. »Sehen Sie?« »Spart mir einen Weg«, sagte der Mann, grüßte und schob seine Orgel weiter. Schweigend liefen die beiden nebeneinander. Erstes Laternenlicht fiel auf das noch sehr junge Laub der Bäume und ließ es wie seltsames Geschmeide schimmern. Wie blind und taub und stumm ging Norbert daher. Nur die Berührung war 227

die einzige Brücke vom Ich zum Du. Bernie dachte daran, wie eingesperrt so ein Wesen in sich selbst sein mußte. »Bist du sehr müde? Bald sind wir zu Hause.« Und da sagte eine helle Stimme: »Wenn das nicht der Bernie ist! Und dann mit totalem Kahlschlag! Herzliches Beileid!« Ulrike in blauen Jeans, wehend das lange Haar. »Wen hast du denn da?« So waren Mädchen: einen Blick und sie erfaßten eine ganze Situation. »Norbert. Er ist seiner Mutter ausgebüxt. Jetzt bringe ich ihn nach Hause.« Wortlos glich Ulrike zu Bernies Verwunderung ihre Schritte den seinigen an. »Komm, Norbert, gib mir die andere Hand! Du hast noch eine. Siehst du? Da ist sie ja! Schön, nicht, so zwischen uns zu gehen? Kannst du hüpfen? Mach mal so! Hüpf!« Ein winziger Kinderfuß, der einen unsicheren Zwischenschritt wagte. »Hüpf!« sagte eine lallende Stimme. »Hüpf!« Ein Kichern folgte. Sie hüpften zu dritt. Und während sie auf diese Weise das Kind heimwärts lockten, spuckte Bernie seinen Zorn vor Ulrike aus. Sie hüpfte und hörte zu. »Dufte«, sagte sie schließlich. »Gib es ihm! Mein Vater sagt zwar, die checken das nicht mehr, die müssen langsam aussterben, aber gib es ihm trotzdem. Ich finde, so was ist den ganzen Putz wert …« Norberts Mutter redete vor Freude wirres Zeug, 228

das Bernie verlegen machte. Ulrike nahm die Frau einfach in ihre Arme, da wurde sie still. »Ist ja alles gut! Tschüs, Norbert! Hüpf!« »Hüpf!« antwortete das Kind und zeigte der Mutter, wie man es machte. Es waren jetzt viel mehr Sterne am Himmel. Aber Bernie sah auf Ulrike. »Raff deine Argumente wie Friedenssoldaten zusammen, Bernie! Schweig bloß nicht vor dich hin! Ist doch auch ein Mensch, der Kleine. Hast ja gesehen, wie er sich freuen konnte! Übrigens bist du nett, Bernie!« sagte Ulrike. Ein leichter Kuß streifte seine Wange. Dann war Ulrike fort. Bernie stand am Gartentor. Die Hyazinthen dufteten stärker. In der Ferne hupte ein Unfallwagen. Jetzt starb vielleicht einer auf der Straße. Überall in der Welt starben die Menschen, litten aneinander und richteten einander auf. Die Geburtstagsfeier war noch in vollem Gang. Bernie strich sich über das ungewohnt kurze Haar, grinste, drückte die Türklinke herab und trat ins Helle. In Vaters liebstem Sessel rekelte sich der selbstsichere Gast und moserte immer noch. »Hier bin ich!« sagte Bernie in das jähe Schweigen hinein. »Ich eröffne die Diskussion!«

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IRMELA BRENDER Die Geschichte vom guten Leben und Variation 2002 »Wenn du es genau nimmst«, sagte Jelinek damals, schon lange her, »dann gibt es auf der ganzen Welt nur fünf Geschichten. Na gut sagen wir zehn. Meinetwegen, sind wir großzügig ein Dutzend. Alles andere sind Variationen. Die Geschichte vom Guten Leben, zum Beispiel, hat man mir erzählt in Südamerika. Dann stand sie in einem deutschen Lesebuch. Und ein Lappe kannte sie in Kiruna. Aber eigentlich habe ich sie von meinem Großvater, und der hatte sie von dem seinen. Und da ging sie so: Es war einmal ein Fischer, der lag am Ufer des Sees, kaute an einem Gänseblümchen und döste vor sich hin. Die Angel lag neben ihm. Da kam ein Fremder und sagte: ›He, Fischer! Nicht schlafen sollst du, sondern angeln!‹ ›Warum?‹ fragte der Fischer und achtete vor allem darauf, daß er das Gänseblümchen nicht verlor. ›Wenn du fischst von Sonnenaufgang bis zum Abendrot‹, sagte der Fremde, ›dann gibt das einen Eimer voller Fische, und du kannst dem Krämer einen reichen Fang verkaufen.‹ ›Wozu?‹ fragte der Fischer. ›Der Krämer wird dir viel Geld dafür geben, und je länger du fischst vom Sonnenaufgang bis zum 230

Abendrot, um so reicher wirst du sein.‹ ›Wozu?‹ fragte der Fischer. ›Damit du dir ein Boot kaufen kannst, fürs erste. Später Netze. Immer mehr Fische wirst du fangen. Immer mehr Geld wirst du verdienen. Schließlich wirst du dir Angestellte leisten können.‹ ›Wozu?‹ fragte der Fischer. ›Damit sie für dich Fische fangen und deine Arbeit tun. Du kannst dann in der Sonne liegen und dich ausruhen.‹ ›Das tue ich schon‹, sagte der Fischer und schloß die Augen.« Auch Jelinek schloß die Augen, damals, schon lange her, und dachte seiner Geschichte nach. »Variationen«, sagte er dann. »Es wird immer neue Variationen von der gleichen alten Geschichte geben. Wenn du eine hörst sei so gut und schreib sie für mich auf.« Ich habe das getan. Zuerst Jelinek zuliebe. Dann wurde eine Gewohnheit daraus. Es gab immer neue Variationen. In dem Jahr, in dem Jelinek starb, hatte der Fischer kein Gänseblümchen mehr zwischen den Zähnen, sondern ein Schild in der Hand, und darauf stand: »Macht kaputt, was euch kaputtmacht!« Diese Variation hatte Jelinek nicht mehr mitgekriegt. Er war tot, und ich lebe noch ein bißchen. Ich schreibe weiter auf. Variation 1005 … 1500 … 231

Inzwischen diktiere ich. Variation 1700 … 1800 … Ich füttere die Fakten jetzt dem Computer. 1900 … 1950 … Es spart Zeit. Ich muß dann nur noch das entsprechende Programm abfangen und habe sofort die ganze Geschichte richtig aufgeschlüsselt und übersichtlich vor mir. Jelinek würde staunen, wenn er noch ein bißchen lebte. Vielleicht müßte ich ihm manches übersetzen. Zum Beispiel Variation 2002. Fischer LM – AD 895 /30 /35 … Statistisch einwandfrei – Produktion – Beseitigungsprobleme – beseitigt. Für Jelinek wäre das keine Geschichte gewesen. Zu kurz, zu knapp, zu verschlüsselt. Dabei kommt es gerade darauf an, wie Variation 2002 beweist. Fischer nämlich – müßte ich Jelinek erklären, wenn ich ihm noch etwas erklären könnte –, Fischer lebt inzwischen in einer Westwabe unserer Megapolis. Es hat alles seine Richtigkeit mit ihm, er ist registriert, geimpft, hat den Pilotenschein, den Torpedoschein, den Schein Nr. 3 für chemische Bewußtseinsveränderung und Nr. 5 für elektronische und was man heute sonst noch braucht. Er ist verheiratet und hat zwei Kinder. Auch das ist, wie es sein muß, jeder Registrierte darf sich einmal reproduzieren, so bleibt die Weltbevölkerung konstant. Fischer arbeitet – ich erkläre das, wie gesagt, nur für Jelinek – in der Produktion. Es muß ungeheuer viel produziert werden heute, denn jeder braucht seinen Arbeitsplatz, an dem er genug Geld verdient, um 232

das Produzierte kaufen zu können. Ein Beispiel: Als Fischer in leitender Stellung in der Behälterproduktion tätig war, mußten, um die Stabilität der Arbeitsplätze zu erhalten, wöchentlich pro Wabe – oder Wohnung – oder Familie – oder vier Personen – zwei Großbehälter und vier Kleinbehälter produziert werden. Umgekehrt hatte jede Wabe – oder Wohnung – oder Familie – oder vier Personen – zwei Großbehälter und vier Kleinbehälter in der Woche zu kaufen. Damals fing übrigens bei Fischer der Ärger an. Seine Frau weigerte sich, wöchentlich sechs Behälter zu kaufen. Sie hatte keinen Platz mehr dafür in der Wabe. Sie verlangte, daß Fischer ihr einen Kaputtmacher einstellte. Um den Kaputtmacher bezahlen zu können, mußte Fischer mehr Geld verdienen. Damit er mehr Geld verdiente, mußte er mehr produzieren. Weil er mehr Behälter produzierte, mußte er mehr Behälter kaufen. Weil seine Frau keinen Platz für noch mehr Behälter hatte, verlangte sie einen zweiten Kaputtmacher. Das Ganze war natürlich nicht nur Fischers Problem. Bei den leitenden Angestellten in der Bekleidungsproduktion, in der Fahrzeugproduktion, in der Medienproduktion und in allen anderen Produktionen ging es ähnlich zu. Es wurde zuviel produziert. Es wurde zuviel gekauft. In den Waben gab es zu wenig Platz. Die Frauen verlangten zu viele Kaputtmacher. 233

Die Männer mußten zuviel verdienen. Indem sie zuviel produzierten … Fischer sah nie, wie sich das in der Wabe abspielte. Früh am Morgen, nachdem sie ihre Nahrungs-, Bildungs- und Zerstreuungskapseln geschluckt hatten, setzten sich Frau, Tochter und Sohn in ihre Hubschrauber und fuhren zum Einkaufen. Auf dem schnellsten Weg eilten sie zurück und legten ihre Päckchen den inzwischen eingetroffenen Kaputtmachern auf den Tisch, die sich sofort an die Arbeit machten. Sie waren Spezialisten: ein Zerreißer, ein Zerklopfer und ein Zermalmer. Kaum hatten sie die ersten Einkäufe bewältigt, da kehrten Frau Fischer, Sohn und Tochter schon mit den nächsten zurück, und so ging es bis zum Abend. Erst dann fand die Familie Zeit, sich im Multi-Media-Raum zu entspannen. Doch es gelang ihr nie, sämtliche Programme zu konsumieren, und damit verstießen Fischers gegen den IndexBeteiligungsplan der Medienproduktion. Fischer mußte Überstunden machen, weil immer mehr Arbeitskräfte aus der Produktion abwanderten und Kaputtmacher wurden. Die Überproduktion aus den Überstunden erlaubte es Fischer, zwei weitere Kaputtmacher zu beschäftigen: einen Verbrenner und einen Zerstäuber. Doch die Überproduktion wuchs so, daß auch die Kaputtmacher Überstunden machen mußten. Ich weiß nicht, ob Jelinek, wenn er noch lebte, das alles verstanden hätte. 234

Für neun Personen war die Wabe zu klein. Übrigens taten sie nur ihre Pflicht: der Zerreißer, der Zerklopfer, der Zermalmer, der Verbrenner, der Zerstäuber. Kein Stäubchen blieb mehr von Fischer LM – AD 895 /30 /35. Sicher hätte Jelinek bedauert, daß Fischer nie ein Gänseblümchen zwischen den Zähnen hielt. Mir tut leid, daß er damals, in Jelineks Todesjahr, das Schild seines Vorgängers nicht gesehen hat. Oder?

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HANS-GEORG NOACK Olaf liest Zeitung Wenn man dreizehn ist, so meint sein Vater, darf man nicht einfach in den Tag hinein leben. Höchste Zeit wird es, daß man sich mit der Welt beschäftigt, in der man lebt. Das tut man nicht nur vor dem Bildschirm. Da sind die Eindrücke zu flüchtig; sie huschen vorbei und hinterlassen keine Spuren. Wer sich in der Welt auskennen will, muß Zeitung lesen, sagt der Vater. Er selbst tut es auch, und gutes Beispiel wirkt ansteckend, also greift auch Olaf täglich zur Zeitung. Und er liest: »Industrie und Handel schätzen, daß die Bürger der Bundesrepublik am Silvesterabend Feuerwerkskörper im Gesamtwert von 70 Millionen Mark verwenden werden, um das neue Jahr lautstark und strahlend zu begrüßen. Das bedeutet, daß wir uns pro Kopf der Bevölkerung – Kinder und Greise inbegriffen – unser Begrüßungsfeuerwerk 1,16 DM kosten lassen.« Aber: Im vergangenen Monat wurde für das Müttergenesungswerk gesammelt. Auch Olaf gehörte zu den Sammlern. Er ist in seiner Straße von Haus zu Haus gegangen. Da kennt er jeden Menschen. Deshalb konnte er sicher sein, daß niemand ihn 236

allzu leicht abweisen würde. Die Straße ist nur kurz. Es stehen nicht viele Häuser darin. Das haben Straßen so an sich, wenn zu jedem Haus eine Garage gehört und ein Stück Garten. Nur zweiundzwanzig Häuser sind es. Darin wohnen insgesamt neunundsiebzig Menschen. Als Olaf die Runde hinter sich gebracht hatte, konnte er als Sammelergebnis 12,64 DM abführen. In der Sammelstelle sagte man ihm, das sei ein sehr gutes Ergebnis. Damals hat er nicht weiter gerechnet und nachgedacht. Jetzt tut er es. Das Ergebnis: Genau sechzehn Pfennig pro Kopf der Bevölkerung Greise und Kinder inbegriffen. Allerdings müßte er eigentlich erst noch die zwei Mark abziehen, die er am Anfang selbst in kleinen Münzen in die Sammelbüchse gesteckt hat, damit er schon etwas zu klappern hatte. Aber so genau braucht man das wohl nicht zu nehmen. Und er liest: »Endlich ist die Entscheidung gefallen, auf die alle Sportfreunde seit langem gewartet haben. In seiner gestrigen Sitzung beschloß der Rat der Stadt, die Mittel für den Ausbau des Fußballstadions für die Gruppenspiele zur Fußballweltmeisterschaft zu bewilligen. Mit einem Kostenaufwand von 18 Millionen Mark, von denen ein erheblicher Teil aus Bundesmitteln bereitgestellt wird, kann nun das Stadion die erforderliche Zahl von Sitzplätzen unter Bedachung erhalten.« 237

Aber: Olaf wohnt in einem Neubauviertel. Deshalb ist auch seine Schule noch nicht alt. Als man sie vor ein paar Jahren baute, hat man allerdings noch nicht gewußt, wieviel Kinder sie besuchen würden. Die Schule platzt aus allen Nähten. Deshalb hat man schon zwei Pavillons auf den Schulhof gestellt, aber sie reichen nicht aus. Augenblicklich gibt es an Olafs Schule außer seiner eigenen noch sechs weitere Wanderklassen. Sie haben kein eigenes Klassenzimmer, sondern müssen eben immer dahin wandern, wo gerade etwas frei ist, weil eine andere Klasse sich in der Turnhalle, im Musiksaal oder im Physikraum aufhält. Freilich haben die Stadtväter längst erkannt, daß es so nicht weitergehen kann. Der Bau einer neuen Schule in Olafs Wohnviertel ist bereits seit drei Jahren geplant. Man kann mit dem Bauen nur noch nicht anfangen, weil nicht genug Geld zur Verfügung steht. Ein Paar Jahre wird Olaf noch wandern müssen. Und er liest: »Die schulärztlichen Untersuchungen haben auch in diesem Jahr wieder auf erschreckende Tatsachen aufmerksam gemacht. So mußte festgestellt werden, daß bereits mehr als die Hälfte der achtjährigen Schulkinder Haltungsschäden aufweisen. Ärzte führen diese Erscheinung vor allem auf unzureichende Bewegung zurück.« Aber: 238

Es gibt ein anderes Neubauviertel in der Stadt, gar nicht sehr weit von der Straße, in der Olaf wohnt. Dort sind die Häuser sehr hoch. Die Garagen reichen nicht für alle Autos der Bewohner aus, aber dafür ist vor jedem Haus ein Parkplatz. Alles sieht sehr schmuck und freundlich aus. Zwischen den Hochhäusern sind Rasenflächen angelegt worden. Grün ist gut für Nerven und Augen, und außerdem sind solche Rasenflächen vorgeschrieben. In den Hochhäusern wohnen viele Kinder, die meisten noch recht klein. Die haben anfangs auf den Rasenflächen gespielt. Das war gut so. Die Mütter konnten dann immer einmal über den Kochtopf hinweg aus dem Fenster sehen und wußten, daß ihre Kinder noch da und wohlauf waren. Aber dann haben sich kinderlose Mieter beschwert, und die Baugesellschaft, der die Häuser gehören, hat gesagt: Der Rasen ist angelegt worden, weil er gut für Nerven und Augen und obendrein vorgeschrieben ist. Er ist kein Kinderspielplatz. Die Mieter haben ein Recht auf Ruhe, und Kinderlärm stört. Darum hat man den Spielplatz, der ebenfalls vorgeschrieben und nicht ganz so groß ist wie die Parkplätze vor einem einzigen der Häuser, auch ein wenig abseits gelegt. Die Eltern waren nicht einverstanden. Es hat einen mächtigen Streit gegeben. Sogar vor Gericht ist der Fall gekommen, und die Richter haben entschieden: die Baugesellschaft hat recht. Der Rasen ist nicht zum Spielen da. Und er liest: 239

»Strafvollzug bedeutet nicht Rache des Staates oder der Gesellschaft am Straftäter. Sein Ziel ist es, dem Gestrauchelten zu helfen, den Weg in die Gesellschaft zurückzufinden.« Aber: Olaf erinnert sich genau an die Sache mit Gerhard, der in seine Klasse geht. Sie waren nicht gerade Freunde, aber sie kamen gut miteinander aus. Manchmal kam Gerhard am Nachmittag zu Olaf. Sie haben dann gemeinsam Schularbeiten gemacht, weil Olaf in Mathematik besser war und Gerhard in Englisch. Da wäscht eine Hand die andere. Dann hat es eines Tages einen mächtigen Aufruhr gegeben. Bis heute begreift Olaf nicht, wie es dazu gekommen ist. Jedenfalls ist Gerhard in der Schule erwischt worden, als er auf dem Flur aus den Manteltaschen Geld gestohlen hat. Ursprünglich hatte man ihn von der Schule verweisen wollen. Dann durfte er doch bleiben. Seither ist auch nichts mehr vorgefallen. Aber Olafs Mutter hat ihm damals gesagt: »Den Gerhard, den bringst du mir aber nicht mehr ins Haus!« Dabei ist es bis heute geblieben. Und er liest: »Die diesjährige Ernte war so groß, daß daraus schwierige Marktprobleme entstanden sind. Vor allem an Äpfeln und Pfirsichen, aber auch an Tomaten und Blumenkohl war das Angebot so groß, daß es vom Markt nicht ohne erhebliche Preiseinbrüche aufgenommen werden konnte. Auch in diesem 240

Jahr mußten deshalb erhebliche Teile der Ernte der EWG-Länder vernichtet werden. Aus dem gemeinsamen Fonds der beteiligten Länder wurden entsprechende Vernichtungsprämien gezahlt.« Aber: In Olafs Schule hängt ein Plakat: »Brot für die Welt«. Und im Fernsehen hat Olaf Bilder von Kindern in Afrika gesehen. Ihre Bäuche waren vom Hunger aufgetrieben, die Arme dünn, die Gesichter hager, die Augen übergroß. Und er hat auch gelesen, was die Vereinten Nationen gemeldet haben: von 800 Millionen Kindern auf der Welt seien 480 Millionen unterernährt. Das sind sechs von zehn! Und er liest: »Eine weitere Verstärkung der Entwicklungshilfe ist unerläßlich.« Aber: Er weiß, daß gerade erst Indien und Pakistan Krieg gegeneinander geführt haben. Auf beiden Seiten waren dabei Flugzeuge, Panzerwagen, Kanonen eingesetzt. Sie kamen aus denselben Ländern, die auch Entwicklungshilfe für Indien und Pakistan leisten. Und er liest: »In seiner Neujahrsansprache wies der Bundespräsident auf die Bedeutung der Zivilcourage hin.« Aber: Gestern hat ihm sein Vater gesagt: »Es gibt so viel Unrecht, mit dem man sich abfinden muß. Man muß auch einmal etwas einstecken, weißt du. 241

Wer aufmuckt, der kriegt nur Ärger, und das ist die Sache gar nicht wert.« Und er liest: »Der Mensch erobert fremde Gestirne.« Aber: Auf der Erde ist manches so faul, daß es zum Himmel stinkt. Und er liest: »Es geht in der Politik nicht nur um die Gegenwart; es geht um die Zukunft!« Aber: Wenn diese Zukunft nun ebenso aussieht wie die Gegenwart? Olaf liest Zeitung; das ist gut. Er denkt dabei; das ist besser. Wahrscheinlich wird er auch künftig Zeitung lesen. Man gewöhnt sich dran. Vermutlich wird er auch weiterhin dabei denken. Das kann ebenfalls zur Gewohnheit werden. Und eines Tages – in ein paar Jahren schon – wird Olaf die Widersprüche nicht mehr ertragen, auf die er dabei Tag für Tag stößt. Vielleicht läßt er dann die Zeitung liegen und schließt die Augen, weil Widersprüche, die man nicht entdeckt, nicht quälen können. Weil er sich an das Denken gewöhnt hat, ist allerdings auch möglich, daß er eines Tages herausfindet, daß Lesen und Denken allein nicht genügen, weil dadurch noch nichts geändert wird. Und er wird herausfinden, daß gar nichts sich ändert, wenn 242

er es nicht ändert. Dann wird er versuchen, etwas zu tun. Denkbar wäre es, daß sein Vater dann sagt: »Nein, daß ausgerechnet mein Junge einmal zu diesen Revoluzzern gehören würde, die alles besser wissen, die alles umstürzen wollen, das hätte ich wahrhaftig nicht gedacht.« Aber das ist unwahrscheinlich. Er wird wohl eher stolz auf seinen Jungen sein. Warum hielte er ihn wohl sonst schon heute zum Zeitunglesen an?

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Über die Autoren Peter Berger: »Ich wurde 1915 in Rheinbrohl geboren und wuchs in Leverkusen auf. 1929 Werkschüler bei der IG Farben, ein Jahr später Beginn der Ausbildung zum Industriekaufmann. In Abendlehrgängen und im Selbststudium war ich bemüht, mein Wissen zu erweitern, immer von dem Wunsch angetrieben, einmal als Journalist oder gar als freier Schriftsteller meinen Lebensunterhalt zu finden. Arbeitsdienst, Wehrdienst, Krieg und Gefangenschaft störten die Zukunftspläne. Bald nach dem Wiedereintritt geordneter Lebensverhältnisse erste schriftstellerische Arbeiten. 1954 erschien das erste Jugendbuch ›Abenteuer am Strom‹. Inzwischen sind es deren zwanzig geworden, darunter das mit dem Deutschen Jugendbuchpreis ausgezeichnete ›Im roten Hinterhaus‹ und das auf die Auswahlliste zum Jugendbuchpreis aufgenommene ›Benjamin Habenichts‹.« Marieluise Bernhard-von Luttitz: 1913 in Oschatz/ Sachsen geboren. Humanistisches Abitur in Dresden, Buchhändlerin, freie Mitarbeiterin an Zeitungen. Anschließend Studium am Institut für Tiefenpsychologie und psychotherapeutische Forschung in Berlin. Eigene Praxis. Auslandsreisen (vorwiegend Südamerika). Während des Krieges Leiterin eines Rotkreuzheimes in Norwegen. Ehe. Zwei Kinder. Witwe. Nach dem Krieg Volkshochschuldozentin 244

in Bremen. Neuerliche Veröffentlichungen. Freie Mitarbeit beim Rundfunk. 20 Buchveröffentlichungen, darunter 16 Jugend- und Kinderbücher. Erfolgreichste Titel: »Ottochen im Turm«, »Uns gibt’s nur einmal«, »Karoline Tulpenzwiebel«. Heute freie Autorin in Bernau am Chiemsee. Lotte Betke: »Ich bin in Hamburg geboren. Jetzt lebe ich in Stuttgart. Ich arbeite als Lektorin am Kinderfunk des Süddeutschen Rundfunks. Ab und zu spiele ich Theater. Ich schreibe Hörspiele. Für Erwachsene und Kinder. Und Spiele fürs Marionettentheater. Ein Buch heißt ›Anneke im Vogelbaum‹.« Irmela Brender wurde 1935 in Mannheim geboren. Seit 1953 ist sie Journalistin. Von 1961-1970 war sie Verlagslektorin für Jugendbücher. Jetzt lebt sie als freie Schriftstellerin bei Stuttgart. Veröffentlichungen u. a. 1961: »Noch einmal Dankeschön« (ausgezeichnet mit dem Preis der Franckh’schen Verlagshandlung in einem Wettbewerb um das beste Romanmanuskript für junge Mädchen); 1966: »… und schreib mal aus Warschau« (Auswahlliste zum Deutschen Jugendbuchpreis); 1971: »Fünf Inseln unter einem Dach«; 1971: »Ich nehme eine Abwaschschüssel aus meiner frühen Kindheit auseinander, die zum Mond führt«. Features SDR/WDR.

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Kurt Oskar Buchner: 1912 in Berthelsdorf/ Oberlausitz geboren, die Jugend auf einem thüringischen Rittergut verbracht, Abitur in Erfurt; Studium der Germanistik, der Geschichte, der evangelischen Theologie und der Dramaturgie in Leipzig und Königsberg. Krieg und Gefangenschaft. Seit 1950 vor allem belletristische Buchveröffentlichungen. Seit 1952 im niedersächsischen Schuldienst. 25 Buchveröffentlichungen, darunter »Der abenteuerliche Wohnwagen«, »Burg der Freiheit«, eine Schiller-Biographie, »Wir meutern für Vater«, »Nur ein kleines Herz«. Willi Fährmann wurde 1929 in Duisburg geboren. Nach dem 2. Weltkrieg begann er eine Maurerlehre und arbeitete mehrere Jahre auf dem Bau. In Abendschulen holte er die Qualifikation zum Studium nach und studierte an den Pädagogischen Hochschulen in Oberhausen und Münster. Zehn Jahre war er dann in Duisburg Lehrer, seit 1963 leitet er in Xanten eine große Hauptschule. Er ist Schriftleiter einer bedeutenden jugendpädagogischen Zeitschrift. Aus seinen Veröffentlichungen: 1962: »Jahr der Wölfe« (Auswahlliste zum Deutschen Jugendbuchpreis); 1966: »Die Stunde der Puppen«; 1968: »Es geschah im Nachbarhaus« (Auswahlliste zum Deutschen Jugendbuchpreis, Ehrenliste zum Internationalen Hans-Christian-Andersen-Preis); 1971: »Ausbruchversuch«. 1976: »Das feuerrote Segel«; 246

1977: »Kristina vergiß nicht …«, »Grand Prix der Dreizehn«. Eveline Hasler lebt in St. Gallen, Schweiz. Nach Studien in Freiburg und Paris unterrichtete sie 13- bis l6jährige Jugendliche. Längere Auslandsaufenthalte, die ihre Beziehung zum Film als Ausdrucksmittel für Gegenwartsprobleme verstärkten. In ihren Büchern, z. B. »Komm wieder, Pepino«, »Adieu Paris, adieu Catherine«, »Die seltsamen Freunde«, und in ihren Kurzgeschichten möchte sie Verständnis wecken für abseits stehende Menschen und für die Probleme Jugendlicher in unserer Gesellschaft. 1968 auf der Ehrenliste zum Internationalen HansChristian-Andersen-Preis. Frederik Hetmann (Hans-Christian Kirsch): geb. 1934 in Breslau. Nach Studium, nach ausgedehnten Reisen durch Europa, nach Afrika und in die USA Verlagslektor in München, seit 1963 freier Schriftsteller, verheiratet, zwei Kinder. Wichtigste Bücher: »Mit Haut und Haar« (Roman 1961), »Blues für Ari Loeb« (1961), »Amerika Saga« (Deutscher Jugendbuchpreis 1965), »Das schwarze Amerika« (1970), »Gewalt oder Gewaltlosigkeit« (1972), »Bitte nicht spucken« (Kindergeschichten 1972). Irina Korschunow lebt in Bayern. Geboren und aufgewachsen ist sie in Stendal, einer preußischen Kleinstadt, in die es ihren russischen Vater ver247

schlagen hatte. Nach dem Krieg übte sie die verschiedensten Tätigkeiten – vom Kühemelken bis zum Verfassen von Theaterkritiken – aus, studierte dann in Göttingen und landete schließlich in München. Dort heiratete sie und fing an zu schreiben – Erzählungen, Feuilletons, Sendungen für Funk und Fernsehen und Kinderbücher. Einige Titel: »Der Zauberstock des Herrn M. M.«, »Die Wawuschels mit den grünen Haaren«, »Duda mit den Funkelaugen«, »Der kleine Clown Pippo« (Auswahlliste zum Deutschen Jugendbuchpreis). Kurt Lütgen: geb. 1911. 1933 bis 1941 Buchhändler, 1941 bis 1945 Soldat im Sanitätsdienst, seit 1945 freier Schriftsteller und Übersetzer. Seit 1971 Mitglied des PEN-Zentrums der Bundesrepublik. Wohnort: Bad Salzuflen. Auszeichnungen: Gerstäckerpreis 1952 und 1972, Deutscher Jugendbuchpreis 1956 und 1967, Sonderpreis 1975 zum »Jahr der Frau«. Hauptwerke: »Der große Kapitän« (1950), »Kein Winter für Wölfe« (1955), »Lokkendes Abenteuer Afrika« (1962), »Rätsel Nordwestpassage« (1966), »Wagnis und Weite« (1969), »Suzume, Sohn der Samurai« (1970), »Hinter den Bergen das Gold« (1971). Hans-Georg Noack: 1926 in Burg bei Magdeburg geboren, nach Krieg und Gefangenschaft mehrere Jahre in der internationalen Jugendarbeit, als Dolmetscher und als Konzertdirektor tätig. Seit 248

1955 Buchveröffentlichungen, seit 1960 freischaffender Schriftsteller und Übersetzer. Einige seiner Titel: »Hautfarbe Nebensache« (1960); »Das große Lager« (1960); »Stern über der Mauer« (1962); »Der gewaltlose Aufstand« (1965); »Die Milchbar zur bunten Kuh« (Ehrenliste zum österreichischen Staatspreis für Kinder- und Jugendliteratur); »Rolltreppe abwärts« (Auswahlliste zum Deutschen Jugendbuchpreis 1971); »Trip« (1971); »Abschlußfeier« (1972). Deutscher Jugendbuchpreis (als Übersetzer) 1970. Herbert Plate: Jahrgang 1918. Westfale aus altem Bauerngeschlecht. Fünf Jahre Krieg, schwere Verwundung. Studienreisen in alle Erdteile. Seit 1953 freier Schriftsteller. 1965 Friedrich-Gerstäcker-Preis für die Erzählung »Der aus dem Dschungel kam«. Einige wichtige Titel: »Narren und Knöpfemacher« (zeitkritischer Roman); »Brennende Dschungel« (Erzählung aus dem Vietnamkrieg, Auswahlliste zum Deutschen Jugendbuchpreis); »Der Ring«; »Der Herr der Karawanserei«; »Das Beste aber ist das Wasser«; Kinder- und Tierbücher sowie Arbeiten für Funk und Fernsehen runden das Schaffen ab. Eva Rechlin: 1928 in Mecklenburg als Tochter eines evangelischen Landpfarrers geboren, begann früh zu schreiben. Nach feuilletonistischen Veröffentlichungen erschien 1952 das erste Jugendbuch. Bis249

her 32 Kinder- und Jugendbücher, einige davon auf der Auswahlliste zum Deutschen Jugendbuchpreis. Mit dem Buch »Tonki soll leben« 1956 auf der Ehrenliste des Hans-Christian-Andersen-Preises. Etliche Titel verfilmt. Hunderte von Rundfunkmanuskripten, auch Chanson- und Liedertexte für moderne Interpreten, einige auf Schallplatten. Josef Reding: geb. 1929 in Castrop-Rauxel. Nach dem Abitur zwei Jahre Betonarbeiter, dann Studium von Psychologie, Anglistik, Germanistik und Kunstgeschichte an deutschen und amerikanischen Universitäten. In den USA im engeren Mitarbeiterkreis von Martin Luther King. Ein Jahr freiwillig im Grenzdurchgangslager Friedland. Insgesamt drei Jahre in den Hunger- und Aussätzigengebieten Asiens, Afrikas und Lateinamerikas. Reding lebt seit 1965 in Dortmund, verheiratet, drei Söhne. Er wurde unter anderem ausgezeichnet mit dem Rom-Preis Villa Massimo, dem Annette-von-Droste-HülshoffPreis und dem Literaturpreis der westeuropäischen Autorengemeinschaft »Kogge«. Werke u. a.: »Nennt mich nicht Nigger«, »Wer betet für Judas?«, »Allein in Babylon«, »Papierschiffe gegen den Strom«, »Ein Scharfmacher kommt«, »Trommler Ricardo«. Dr. Hans Peter Richter: geb. 1925 in Köln, Sozialpsychologe; neben wissenschaftlichen Arbeiten zahlreiche Erzählungen, Romane (»Damals war es Friedrich«, übersetzt in zehn Sprachen, Jugend250

buchpreis des Sebaldusverlags 1961, Auswahlliste zum Deutschen Jugendbuchpreis 1962, Woodward School Book Award 1971, Mildred Batchelder Award 1972), Hörfunk- und Fernsehsendungen; bisher rund 20 Bücher geschrieben (unter anderem »Ich war kein braves Kind«, »Kunibert im Schlafanzug«, »Katzen haben Vorfahrt«); sechs Bücher herausgegeben (unter anderem »Der jungen Leser wegen«, »Schriftsteller erzählen von der Gewalt«). Mitarbeit an vielen Sammelwerken. Stipendien der Bundesrepublik Deutschland 1965/66 für die Cité Internationale des Arts, Paris. Gina Ruck-Pauquèt: In Köln geboren, lebt als freie Schriftstellerin mit einem Hund und einem Kater in Buchberg bei Bad Tölz. Volksschule, Lyzeum, zahnärztliche Assistentin, Fotomodell, Empfangsdame in einem Modesalon, Werbeassistentin, Akkordeonvertreterin, Mannequin, Bildreporterin. Sehr viele Bücher, von denen eine ganze Reihe auf den Auswahllisten zum Deutschen Jugendbuchpreis standen. Auch die Ehrenliste zum Hans-ChristianAndersen-Preis, die Ehrenliste zu den österreichischen Staatspreisen und der Internationale Preis »Cittá di Caorle« gehören zu den Auszeichnungen. Einige Titel: »Joschko«, »Gespenster essen kein Sauerkraut«, »Der kleine Igel«, »Die bezauberndsten Kinder der Welt«, »In jedem Wald ist eine Maus, die Geige spielt«, »Niko mit den vielen Namen«.

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Karl Rolf Seufert: geb. 1923 in Frankfurt am Main, verheiratet, zwei Kinder, lebt seit 1945 in Hallgarten im Rheingau, Konrektor an einer Hauptschule. Auf Reisen nach Afrika, in den Vorderen Orient, in den Mittleren und Fernen Osten, darunter auch in die Volksrepublik China, lernte er einen großen Teil der Welt kennen. Besondere Interessen: China, Entdeckungsgeschichte, Archäologie. Arbeitsgebiete: Roman, Erzählung, Sachbuch. Einige Titel: »Karawane der weißen Männer«; »Einmal China und zurück«; »Abenteuer Afrika«; »Und morgen nach Nimrud«; »Die Schätze von Copán«. Auszeichnungen: Friedrich-Gerstäcker-Preis, Junior Book Award, Auswahlliste zum Deutschen Jugendbuchpreis, Kurt-Lütgen-Sachbuchpreis. Heinz Vonhoff: geb. 1922 in Betzdorf/Sieg. Nach dem Abitur fünf Jahre im Krieg. Volks- und Sonderschullehrer in Frankfurt, Heidenheim und Kreßbronn. Seit 1965 Schuldekan im evangelischen Kirchenbezirk Heidenheim. Neben religionspädagogischen und kirchengeschichtlichen Arbeiten (»Herzen gegen die Not«, »Weltgeschichte der Barmherzigkeit«) vor allem Erzählungen und Jugendbücher (»Das fünfte Rad am Wagen«, »Kunterbunte Kinderwelt«), Laienspiele, Hörspiele, Herausgeber (»Wir leben nicht allein«, »Der Mensch ist kein Gerät«, »Am Rande erlebt«). Zahlreiche Tätigkeiten auf jugendliterarischem Gebiet.

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Cili Wethekam: geb. 1921 in Buvrinnes bei Charleroi, Belgien. Vater Tscheche, Mutter Rheinländerin. Groß geworden und die Schulen abwechselnd in Frankreich, Holland, Deutschland, Holland, Frankreich, Holland besucht. Wohnhaft in Bremen. Eine Tochter Jahrgang 1955. Bücher unter anderem »Ein Loch im Dach«, »Parole Kraxelmax«, »Bald beginnt das Leben« (Auswahlliste zum Deutschen Jugendbuchpreis), »Gebt acht auf Fräulein Wurzelwein«, »Drei Tage und kein Ende«, »Vollpension für 17 Wilde«, »Tignasse, Kind der Revolution«. Rudolf Otto Wiemer: geb. 1905 in Friedrichsroda (Thüringen), Lehrer in Böhmen, Thüringen, Niedersachsen. Zeitweise Schauspielrezensent, Bibliothekar, Puppenspieler. Jetzt Schriftsteller in Göttingen. Romane, Gedichte, Erzählungen, Kinderbücher, Hörspiele, Stücke für Laien. Lyrikpreis 1948. Hauptwerke: »Ernstfall« (Gedichte), »Stier und Taube« (Roman), »Unsereiner« (Erzählungen), »Pit und die Krippenmänner« (Auswahlliste), »Der gute Räuber Willibald« (Auswahlliste), »Das Pferd, das in die Schule kam«, »Der Kaiser und der kleine Mann«. Übersetzungen in viele Sprachen. Ursula Wötfel: 1922 im Ruhrgebiet geboren, Germanistikstudium in Heidelberg, im Krieg verwitwet, Studium am Pädagogischen Institut Jugenheim und in Frankfurt/M., Assistentin am Pädagogischen Institut, Sonderschullehrerin in Darmstadt, seit 1961 253

freie Schriftstellerin; 1962 Kinderbuchpreis zum Deutschen Jugendbuchpreis (für »Feuerschuh und Windsandale«); Ehrenliste zum Hans-ChristianAndersen-Preis 1964 (für »Feuerschuh und Windsandale«) und 1972 (für »Die grauen und die grünen Felder«). Andere Titel: »Mond Mond Mond« (1962), »Sechzehn Warum-Geschichten« (1971) und viele Kinderbücher.

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