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German Pages 184 Year 2007
Marcus Schuckel, Waldemar Toporowski (Hrsg.) Theoretische Fundierung und praktische Relevanz der Handelsforschung
GABLER EDITION WISSENSCHAFT
Marcus Schuckel, Waldemar Toporowski (Hrsg.)
Theoretische Fundierung und praktische Relevanz der Handelsforschung
Deutscher Universitäts-Verlag
Bibliografische Information Der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.
. . 1. Au 1. Auflage Februar 2007 Alle Rechte vorbehalten © Deutscher Universitäts-Verlag | GWV Fachverlage GmbH, Wiesbaden 2007 Lektorat: Ute Wrasmann / Sabine Schöller Der Deutsche Universitäts-Verlag ist ein Unternehmen von Springer Science+Business Media. www.duv.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Umschlaggestaltung: Regine Zimmer, Dipl.-Designerin, Frankfurt/Main Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in Germany ISBN 978-3-8350-0702-4
Univ.-Prof. Dr. Lothar Müller-Hagedorn
Vorwort Ein solch umfassendes Werk wie die vorliegende Festschrift ist nicht zu realisieren ohne die Unterstützung zahlreicher Helfer. An erster Stelle ist natürlich den Autoren zu danken, die mit ihren Beiträgen in dieser Festschrift ein facettenreiches Bild der Handelsforschung und damit des Forschungsbereichs von Prof. Dr. Lothar Müller-Hagedorn zeichnen. Hervorzuheben ist die hohe Bereitschaft der von uns angeschriebenen Handelsforscher an Universitäten und Fachhochschulen, sich mit einem Beitrag an der Festschrift zu Ehren von Prof. Dr. Müller-Hagedorn zu beteiligen. Wirkliche Absagen haben wir kaum erhalten; nahezu alle haben sich gerne mit einem eigenen Beitrag eingebracht und nur einigen wenigen war dies nicht möglich. Dies ist Ausdruck der sehr hohen Wertschätzung, die Lothar Müller-Hagedorn im Kollegenkreis genießt. Die überaus positive Resonanz hat uns sehr gefreut, sie hat es uns zugleich leicht gemacht, die vorliegende Festschrift mit einer großen Zahl von interessanten Beiträgen zu füllen. Einen fast ebenso wichtigen Beitrag wie die Autoren haben die vielen Helfer im Hintergrund geleistet. Ihnen kam einerseits die Aufgabe zu, den Schriftverkehr mit Autoren und Verlag zu koordinieren, andererseits trugen sie die Hauptlast bei der redaktionellen Bearbeitung und Formatierung der Beiträge. Daher sei allen Mitarbeitern der Abteilung Handel des Instituts für Marketing und Handel an der Universität Göttingen herzlich gedankt. Besonders hervorzuheben ist der unermüdliche Einsatz, den die wissenschaftlichen Mitarbeiter, Frau Dipl.-Kffr. Madlen Boslau, Frau Dipl.-Kffr. Britta Lietke und Herr Dr. Stephan Zielke, gezeigt haben. Darüber hinaus haben sich die studentischen Hilfskräfte, Frau Mareen Schulz, Frau Julia Tepel und Frau Sara Wolf, um die äußere Gestaltung der Beiträge verdient gemacht. Frau Margret Magerkorth im Sekretariat gilt der Dank für die Übernahme zahlreicher Koordinationsaufgaben mit den Autoren. Gedankt sei auch Frau Brigitte Berens, die uns im Sekretariat von Prof. Dr. Müller-Hagedorn eine wichtige Ansprechpartnerin gewesen ist und uns nicht nur jegliche Unterstützung bei der Vorbereitung unseres Vorhabens gewährte, sondern auch alle unsere Aktivitäten geschickt vor Prof. Dr. Müller-Hagedorn verbergen konnte. Der Dank gilt auch Herrn Dipl. Kfm. Ralf Wierich, der bei Fragen und Koordinationsproblemen für die notwendige Unterstützung aus Köln sorgte. Bedanken möchten wir uns auch bei Frau Ute Wrasmann und Frau Sabine Schöller vom Gabler-Verlag für die sehr gute Zusammenarbeit.
VIII Dem Institut für Handelsforschung, namentlich dem Geschäftsführer Herrn Dr. Andreas Kaapke sei herzlich gedankt für das Grußwort und die finanzielle Unterstützung, ohne die die Festschrift in dieser Form nicht hätte realisiert werden können. Göttingen und Brühl, im Dezember 2006 Waldemar Toporowski und Marcus Schuckel
Grußwort Als eine der zentralen Herausforderungen der Bildungspolitik der kommenden Jahrzehnte in Deutschland wird die bessere Vernetzung von Wissenschaft und unternehmerischer Praxis angesehen. Aus Sicht zahlreicher Experten werden zu selten die oftmals bahnbrechenden und fundamentalen Erkenntnisse universitärer Forschung in den Tagesablauf von Unternehmen gelenkt, ungeachtet der jeweiligen Disziplin. Bei der Gründung des Instituts für Handelsforschung an der Universität zu Köln im Jahr 1929 stand dieser zentrale Gedanke des Transfers universitärer Erkenntnisse in die Praxis bereits Pate. Durch die Arbeiten des IfH sollten Impulse in die unternehmerische Arbeit von Handelsunternehmen getragen werden. Eine solche Einrichtung war nur an einer größeren Fakultät denkbar, denn nur dort sind die institutionellen Verflechtungen zu namhaften Ministerien, Kammern und Verbänden sowie zu den bedeutenden Unternehmen auf Dauer gewährleistet. Auf der anderen Seite sind die großen Universitäten heute noch stärker als zur Gründungszeit des IfH von Studierenden überlaufen, was es den Ordinarien kaum oder nur bedingt möglich macht, neben den Aufgaben aus Forschung und Lehre den Transfergedanken permanent zu bewegen. In der Konstruktion des Instituts hat sich deshalb eine Aufgabenteilung ergeben. Der Direktor wirkt wie ein Aufsichtsratsvorsitzender und gestaltet damit die wesentlichen Eckpunkte der Institutsarbeit mit, überträgt aber die laufenden Arbeiten und die permanente Leitung an eine von ihm ausgewählte Geschäftsführung. Prof. Dr. Lothar Müller-Hagedorn ist und war der vierte Direktor des Instituts für Handelsforschung. Nach dem Begründer Rudolf Seÿffert (1929-1963) und dessen Schülern Edmund Sundhoff (1963-1980) und Fritz Klein-Blenkers (1980-1991) wurde mit Lothar Müller-Hagedorn im Jahr 1991 erstmals ein „Nicht-Kölner“-Wissenschaftler auf den Lehrstuhl berufen. Mit seiner Berufung auf den für Handelsfragen spezialisierten Lehrstuhl an der Universität zu Köln ging die Leitung des Instituts einher. Dieser Aufgabe widmet sich Prof. Dr. Müller-Hagedorn seit 1992. Zuvor war er ab Mitte der 70er Jahre Professor für Betriebswirtschaftslehre, insbesondere Marketing, an der Universität Trier. In seinen ersten Kölner Jahren stand die inhaltliche Neugestaltung der bestehenden Aufgaben im Mittelpunkt seines Schaffens am IfH. Der in die Jahre gekommene Betriebsvergleich wurde in vielfacher Hinsicht modifiziert. Maßgeblich waren hierbei die Entwicklung des Unternehmenskompasses, der insbesondere die Lesbarkeit der Ergebnisse vereinfachte, ohne die Komplexität der Auswertung zu bagatellisieren, und die Lenkung des Blickes auf die erklärende Interpretation der Betriebsvergleichsergebnisse als Ergänzung zur bis dahin
X eher beschreibenden Dokumentation. In diesem Kontext sind auch bemerkenswerte Ergebnisse zur Erfolgsfaktorenforschung entstanden. In der zweiten Phase (ab 1996) standen die Erweiterung des Leistungsspektrums und die organisatorische und strategische Neuausrichtung des Instituts im Mittelpunkt. Dies war auch deshalb erforderlich, da die Förderung für Betriebsvergleiche von der öffentlichen Hand ab 1996 zunächst zurückgeführt und ab 2000 gänzlich eingestellt wurde. Die Finanzierung des Instituts, die zu rund 90 Prozent von dieser Förderung abhing, musste in den folgenden Jahren gänzlich umgestellt werden. Themen wie der bis dahin eher stiefmütterlich in der Wissenschaft behandelte Großhandel, alternative Distributionssysteme wie das Franchising oder Verbundgruppen, Arbeiten rund um den Berufsstand der Handelsvertretungen wurden stärker in den Mittelpunkt der Institutsarbeit gerückt. Dazu kamen Felder wie die Einführung von Balanced Scorecards im Handel oder die Entwicklung des Online-Betriebsvergleichs. Kunden- und Mitarbeiterzufriedenheit, Standortthemen ebenso wie die Auseinandersetzung mit Efficient Consumer Response waren und sind ausgewählte Themen, mit denen sich Müller-Hagedorn fortan intensiv auseinandersetzte. Der Handel hat sich in den letzten Jahren dramatischer weiterentwickelt als vermutlich in den 40 Jahren zuvor. Deshalb beherrschten vor allem die Neuentwicklungen im Handel wie E-Commerce, RFID usw. von nun an die Projektarbeit im Institut. In dieser inhaltlichen Ausrichtung des Instituts wird das Grundverständnis von Prof. Dr. Müller-Hagedorn als Direktor deutlich. Die Wissenschaft muss Themen vordenken und sie dann in die Praxis übertragen. Diesen Transfergedanken verlor Müller-Hagedorn in seiner Amtszeit nie aus den Augen. Gerade die Institutspublikationen sind von ihm stark geprägt worden. Allein drei Relaunches haben die Mitteilungen des Instituts unter seiner Führung hinter sich, die heute unter dem Titel „Handel im Fokus“ erscheinen. Die dauernde Verbesserung dieser Schriften ist maßgeblich für das Arbeiten von Prof. Dr. Müller-Hagedorn am Institut. Im gleichen Atemzug kann die zweimalige Beteiligung als Vorsitzender der sog. Katalogkommission angesehen werden, die der Aufgabe nachging, ein einheitliches Begriffsverständnis für die wesentlichen Begriffe im Handel festzulegen. Das Fach Handel und Distribution wird in Deutschland nur an wenigen Universitäten gelehrt. Köln ist bis zum heutigen Tag die zentrale Einrichtung für Handelsfragen in Deutschland, was sich aus dem Zweiklang von Lehrstuhl und Institut ergibt. Müller-Hagedorn hat den neuzeitlichen Gedanken der funktionellen BWL durch sein Fach Marketing mit der praxisorientierten institutionellen BWL durch das Fach Handel und Distribution aufs Engste miteinander verwoben. Ein generelles Marketingverständnis alleine wird der Vielschichtigkeit und Dynamik des institutionellen und funktionalen Handels nicht gerecht. In den letzten Jahren sind die Inhaber der ersten Marketing-Lehrstühle in Deutschland sukzessive emeritiert worden. Müller-Hagedorn, der dieser Epoche zuzuordnen
XI ist, ist als Frühberufener einer der letzten dieser Generation. Mit ihm tritt ein bekennender Marketing- und Handelswissenschaftler in den Ruhestand. Nur wenige BWL-Studenten der letzten 30 Jahre dürften im Rahmen des Studiums nicht auf eine Veröffentlichung von Müller-Hagedorn gestoßen sein. Kaum ein Praktiker, der nicht in den letzten Jahren mit einem der vielfältigen Vorträge von Müller-Hagedorn konfrontiert worden ist. Aus Sicht des Handels geht ein Großer von Bord. Man darf gespannt sein, wie er den Handel in den nächsten Jahren begleiten wird. Als Nutzer zweifellos, aber sicher auch als Mahner und Beobachter. Das IfH ist Prof. Dr. Lothar Müller-Hagedorn zu großem Dank verpflichtet. Die schwierigen Jahre der finanziellen Umstellung hat er mitbewegt und mitgetragen. Bekanntheitsgrad und Image des IfH haben sich in seiner Amtszeit nachhaltig verbessert. In inhaltlicher Hinsicht hat sich das IfH einem weiten Themenspektrum geöffnet. Dem IfH wird Müller-Hagedorn auch weiter wohlgesonnen zur Seite stehen, wo es gut tut als Förderer, wo es Not tut als Mahner. Köln, im Dezember 2006 Andreas Kaapke Geschäftsführer des Instituts für Handelsforschung
Prof. Dr. Lothar Müller-Hagedorn – den Handel im Fokus Die vorliegende Festschrift ist Prof. Dr. Lothar Müller-Hagedorn gewidmet, der am 28.12.2006 das 65. Lebensjahr vollendet und mit Ablauf des WS 2006/07 seine aktive Laufbahn als Hochschullehrer beendet. Er hat als Professor für Marketing an der Universität Trier (1974-1991) und als Ordinarius für Handel und Distribution an der Universität zu Köln (1991-2007) sein Fach in vielfältiger Weise bereichert und geprägt. Sein wissenschaftliches Werk soll mit dieser Festschrift gewürdigt und durch das breite Spektrum der Beiträge seiner Kollegen, Schüler und Mitarbeiter reflektiert werden. Der Titel der Festschrift „Theoretische Fundierung und praktische Relevanz der Handelsforschung“ bringt mit der Handelsforschung den zentralen Schwerpunkt des vielfältigen und reichhaltigen Schaffens von Lothar Müller-Hagedorn zum Ausdruck und zugleich das zentrale Anliegen seiner wissenschaftlichen Arbeit, einen theoriegeleiteten Beitrag zur Lösung zentraler Problemstellungen der betrieblichen Handelspraxis zu leisten. Der Handelsforscher Dem Handel und der Handelsforschung hat sich Müller-Hagedorn schon vergleichsweise früh zugewandt. Lange bevor er den Ruf auf den Handelslehrstuhl der Universität zu Köln annimmt, beschäftigt er sich mit den besonderen Fragen des Handelsmanagements. Aus seinen frühen Publikationen ist sicherlich seine Monographie zum Handelsmarketing hervorzuheben, die erstmals 1984 erschienen und mittlerweile in der 4. Auflage zu einem Standwerk des Faches avanciert ist. In seinem Lehrbuch Der Handel, welches 1998 erscheint, ergänzt er die marketingorientierte Sichtweise auf den Handel um weitere zentrale Entscheidungsbereiche des Handelsmanagements, wie z.B. die strategische Planung, Beschaffung und Logistik oder Controlling zu einem umfassenden Lehrbuch über den Handel. In der institutionalen Ausrichtung auf den Handel fügen sich die vielfältigen Interessens- und Arbeitsschwerpunkte von Müller-Hagedorn zu einer ganzheitlichen und disziplinenübergreifenden Betrachtungsweise betriebswirtschaftlicher, handelsbezogener Phänomene zusammen. So konnten sowohl seine im Rahmen der Dissertation erworbenen Erkenntnisse zur Personalplanung als auch seine Habilitationsschrift zum Konsumentenverhalten – ein Lehrbuch zum Konsumentenverhalten folgte 1986 – Eingang in die Analyse betriebswirtschaftlicher Probleme des Handels finden. Nicht nur aufgrund seines wissenschaftlichen Interesses, den Handel in seiner Vielfalt erfassen und analysieren zu wollen, sondern auch aus einer natürlichen Neugier heraus hat Lothar Müller-Hagedorn in den zurückliegenden 32 Jahren seiner Tätigkeit als Hochschul-
XIV lehrer zahlreiche Probleme des Handels aus unterschiedlichen Perspektiven untersucht. Das breite Spektrum seines wissenschaftlichen Wirkens wurde bereits in einem Beitrag in der Zeitschrift für betriebswirtschaftliche Forschung gewürdigt. In der vorliegenden Festschrift spiegelt sich das Werk MüllerHagedorns in insgesamt 29 Beiträgen zur Handelsforschung wider. Müller-Hagedorn hat sich einerseits sehr intensiv mit grundsätzlichen Fragen zum Handel auseinandergesetzt, beispielsweise mit Erklärungsansätzen zur Existenz des Handels oder auch mit Trends und Entwicklungen im Handel und in der Handelsforschung. Der Handel als Erkenntnisobjekt der Wissenschaft ist entsprechend das Thema der Beiträge im ersten Abschnitt dieses Buches. Von ebenso grundlegender Bedeutung ist für Müller-Hagedorn die Kundenperspektive. Verhaltenswissenschaftliche Aspekte und Konstrukte wie z.B. die Kundenbindung stehen daher im Fokus des zweiten Teils dieser Schrift. Ein bedeutender Forschungsschwerpunkt von Müller-Hagedorn ist das Management von Handelsbetrieben. Im Mittelpunkt seines Interesses stehen die Unternehmensziele des Handels und die jeweiligen Handlungsoptionen. Strategische Entscheidungen des Handels sind Gegenstand des dritten Abschnitts dieses Buches, wobei die Betriebsformen und die Standortpolitik angesprochen werden. Nicht nur wegen der schon erwähnten Monographie stellt das Handelsmarketing vielleicht den bedeutendsten Forschungsbereich Müller-Hagedorns dar. Der vierte und umfassendste Teil der Festschrift beleuchtet daher aus unterschiedlichen Perspektiven einzelne absatzpolitische Instrumente des Handels: die Sortimentspolitik, die Warenplatzierung, die Markenpolitik, die Handelswerbung und die Preispolitik. Müller-Hagedorn hat sich allerdings nie alleine auf den institutionellen Handel konzentrieren wollen. Da der Handel in eine Wertschöpfungskette eingebettet ist, die auch Hersteller und Dienstleistungsunternehmen umfasst, dehnt er die Betrachtung auf den gesamten Distributionskanal aus. Lange bevor Schlagwörter wie Efficient Consumer Response oder Supply Chain Management diesen Gedanken populär gemacht haben, hat Müller-Hagedorn dies durch die Benennung seines Lehrstuhls in „Handel und Distribution“ zum Ausdruck gebracht. Die Distribution steht folglich im Zentrum der Beiträge des fünften Abschnitts dieser Festschrift. Handel ist Wandel, mit dieser Sentenz wird zum Ausdruck gebracht, dass der Handel sich ständig verändert, dass neue Angebotsformen entstehen und andere vom Markt verdrängt werden. Nieschlag hat diese Beobachtung in seinem Gesetz von der Dynamik der Betriebsformen insbesondere mit Trading-upProzessen erklärt. In jüngerer Zeit sind vor allem neue Technologien der Motor für Veränderungen im Handel. Müller-Hagedorn hat Innovationen im Handel immer mit großem Interesse verfolgt und analysiert. Als Direktor des Instituts für Handelsforschung hat er die Gründung des E-Commerce-Center Handel
XV (ECC) gefördert. Neue Technologien und ihre Bedeutung für den Handel werden im sechsten Teil dieser Festschrift behandelt. Theoretische Basis Ungeachtet der verschiedenen handelsbezogenen Forschungsfelder, mit denen sich Lothar Müller-Hagedorn auseinandergesetzt hat, war ihm die theoretische Fundierung immer besonders wichtig. Sowohl in der Lehre als auch in der Forschung hatten für ihn theoretische Erklärungsansätze und Modelle einen hohen Stellenwert. Dabei waren zwei Ansätze besonders prägend – die Entscheidungstheorie und verhaltenswissenschaftliche Theorien. In der entscheidungstheoretischen Ausrichtung kommt die Managementperspektive in Müller-Hagedorns Wirken zum Ausdruck – die betriebswirtschaftliche Forschung soll nach seiner Vorstellung Entscheidungshilfen für die betriebliche Praxis liefern. Die starke Betonung des Konsumentenverhaltens liegt in der tiefen Verwurzelung im Marketing begründet, die in der Überzeugung mündet, dass es in der Regel ein Erfolg versprechender Weg ist, sich an den eigenen Kunden zu orientieren. So sind viele seiner Forschungsarbeiten durch verhaltenswissenschaftliche Modelle geprägt, zur Preisbeurteilung, zur Standortwahl, zur Kundenzufriedenheit oder zu Emotionen, um nur einige Beispiele zu nennen. Wenngleich den beiden genannten theoretischen Ausrichtungen eine besondere Bedeutung im Schaffen von Müller-Hagedorn zukommt, hat er sich in Forschung und Lehre auch anderen theoretischen Ansätzen zugewandt, seien es klassische und bewährte Theorien, beispielsweise Modelle der Preistheorie, oder aber jüngere Entwicklungen, wie die der Neuen Institutionenökonomik. Praxisbezogene Forschung Die Theorien und Modelle waren in Müller-Hagedorns Wirken nie Selbstzweck. Immer ging es ihm darum, den Bezug zur Praxis herzustellen. So wurden theoretische Modelle genutzt, um Problemlösungen für die Praxis zu entwickeln. Das Standortmodell von Huff wurde beispielsweise herangezogen, um den Erfolg neuer Einzelhandelsstandorte zu prognostizieren, das Zufriedenheitsmodell von Kano kam bei der Entwicklung neuer Serviceangebote für den Einzelhandel zum Einsatz. Die Anwendung der theoretischen Modelle in der Praxis und für die Praxis ist insofern bemerkenswert, als man sich damit bis zu einem gewissen Grad angreifbar macht, nämlich genau dann, wenn sich die aus den Modellen abgeleiteten Prognosen und Erwartungen nicht erfüllen. Derartige Überlegungen oder Bedenken entsprechen aber nicht dem Wissenschaftsverständnis von MüllerHagedorn und konnten nie seinen Forscherdrang bremsen. Was nützen theoretische Modelle, wenn sie der Unternehmenspraxis nichts nützen? Dieser Maximalforderung an die Wissenschaft hat sich Müller-Hagedorn stets gestellt, auch
XVI in dem Bewusstsein, dass selbst negative Befunde in der Forschung einen Erkenntnisfortschritt darstellen. Eine Immunisierung theoretischer Ansätze gegen eine empirische Überprüfung ist mit den Überzeugungen von Müller-Hagedorn daher unvereinbar. Auch hat er es stets bedauert, dass die empirische Forschung allzu oft nicht die benötigten Daten aus der Praxis erhält, um die anhand theoretischer Modelle getroffenen Aussagen zu bestätigen oder zu widerlegen. Wenn es nach Müller-Hagedorn ginge, würden Wissenschaft und Praxis sicherlich viel enger zusammenarbeiten. So hat er sich stets eingesetzt, den Dialog zwischen Wissenschaft und Praxis selbst zu forcieren, als Direktor des Instituts für Handelsforschung ebenso wie in zahlreichen Ausschüssen und Gremien, wie z.B. als Mitglied des Beirats der Schmalenbach-Gesellschaft, des Beirats der Akademischen Partnerschaft ECR Deutschland, oder auch als Aufsichtsratsmitglied der Sinn-Leffers AG, um nur einige Beispiele zu nennen. Vor allem war es aber seine Persönlichkeit, waren es die persönlichen Kontakte mit Vertretern von Handelsunternehmen und -verbänden, die seine Beziehungen zur Unternehmenspraxis gekennzeichnet und ihn zu einem angesehenen und geschätzten Partner des Handels gemacht haben. Die Kunst der Wissenschaft Abschließend soll nicht unerwähnt bleiben, dass das Interesse von MüllerHagedorn nicht allein der Wissenschaft und der Handelpraxis galt und gilt, sondern auch und insbesondere den schönen Künsten. Es war ihm als Hochschullehrer stets ein Anliegen und eine Freude, gemeinsam mit seinen Mitarbeitern, Studenten und Schülern Kunst und Kultur zu erleben und zu erfahren. Seine Freunde und Wegbegleiter werden sich gerne an Rezitationen von mittelalterlichen Versen und deutschen Klassikern erinnern, an gemeinsame Besuche von Konzerten, Museen oder Kirchen, aber auch an die lebhaften Berichte, mit denen er seine individuellen Erlebnisse und Eindrücke von seinen persönlichen Begegnungen mit der Kunst mitzuteilen versteht. Letztlich fand die Kunst immer wieder auch Eingang in seine Tätigkeiten als Hochschullehrer, beispielsweise in Form eines Studienbriefes Kulturmarketing oder als Thema für Diplomarbeiten und Dissertationen. Zuletzt präsentierte er einem interessierten Publikum im Rahmen der Veranstaltung „Universität im Museum“ Kunstwerke im Kölner Museum Ludwig. Deshalb soll zum Abschluss dieser Würdigung das Gedicht „Der römische Brunnen“ von Conrad Ferdinand Meyer zitiert werden, mit dem MüllerHagedorn selbst in einem Vortrag sein Verständnis vom Verhältnis zwischen Wissenschaft und Praxis beschrieben hat und das mithin seinen wissenschaftlichen Standpunkt vortrefflich zum Ausdruck bringt:
XVII Aufsteigt der Strahl, und fallend gießt Er voll der Marmorschale Rund, Die, sich verschleiernd, überfließt In einer zweiten Schale Grund; Die zweite gibt, sie wird zu reich, Der dritten wallend ihre Flut, Und jede nimmt und gibt zugleich Und strömt und ruht. Er sieht die Wissenschaft nicht isoliert von der Unternehmenspraxis in einem Elfenbeinturm, sondern als Teil eines mit der Praxis verbundenen Systems, in dem die Erkenntnisse der Wissenschaft wie das Wasser in dem römischen Brunnen von Schale zu Schale fließen, und dabei nicht nur von Wissenschaftlern, sondern auch und insbesondere von den Studierenden und von der Praxis aufgenommen und genutzt werden. Und wie die Schale im Brunnen hat auch Lothar Müller-Hagedorn seinen Platz in der Handelswelt gefunden, bereitwillig und mit einer positiven Neugier Eindrücke aufnehmend, analysierend, reflektierend, um dann seine Erkenntnisse an andere weiterzugeben, um neue Impulse zu setzen. Wir gratulieren Prof. Dr. Lothar Müller-Hagedorn an dieser Stelle stellvertretend für alle seine Weggefährten, Kollegen und Mitarbeiter ganz herzlich zu seinem 65. Geburtstag. Wir wünschen uns und sind diesbezüglich äußerst zuversichtlich, dass er auch nach dem Ende seiner aktiven Laufbahn als Hochschullehrer weiterhin eine sprudelnde Quelle in der Handelslandschaft bleiben wird. Brühl und Göttingen, im Dezember 2006 Marcus Schuckel und Waldemar Toporowski
Inhaltsverzeichnis
Vorwort.............................................................................................................. VII Grußwort .............................................................................................................IX Prof. Dr. Lothar Müller-Hagedorn – den Handel im Fokus ............................. XIII Inhaltsverzeichnis.............................................................................................XIX
Teil 1: Der Handel als Erkenntnisobjekt der Wissenschaft Ist der Ausbeutungsverdacht im Handel heute noch existent? ..............................5 Herbert Woratschek, Frank Hannich, Reinhard Kunz und Maike Sanktjohanser Entwicklungslinien und Zukunft der Distributions- und Handelswissenschaft..............................................................................................................23 Waldemar Toporowski und Stephan Zielke
Teil 2: Die Kundenperspektive Kundenbindung im Einzelhandel........................................................................53 Hermann Diller und Hanno-Götz Deyle Kundenbindung im Bekleidungshandel – Konzeptualisierung und Prüfung eines Wirkungsmodells .........................................................................71 Manfred Bruhn und Karsten Hadwich Consumer Confusion im stationären Handel ......................................................89 Hans-Peter Liebmann und Elke Gruber Mystery Shopping – Ziele, Prozess und Qualität eines Verfahrens zum Controlling der Dienstleistungsqualität.............................................................103 Thomas Dobbelstein und Daniel Windbacher
XX Teil 3: Strategische Entscheidungsfelder Betriebsformen des Einzelhandels: ein Wechsel von der Anbieter- zur Konsumentenperspektive ..................................................................................127 Guido Purper und Peter Weinberg Zum Einfluss von Verkaufsfläche und Standort auf die Einkaufswahrscheinlichkeit ...................................................................................................143 Rainer P. Lademann
Teil 4: Handelsmarketing Sortiment Konsumentenreaktionen auf eine Sortimentsreduktion ....................................169 Thomas Rudolph und Alexander Kotouc Sortimentsdiversifikation aus Konsumentensicht: Ein Erklärungsansatz zur Nutzungsabsicht neuer Angebotsbündel und empirische Befunde zu einem Pressesortiment bei Lebensmittel-Discountern ......................193 Gertrud Schmitz Ansätze zur Warenkorbanalyse im Handel .......................................................217 Lutz Hildebrandt und Yasemin Boztu÷ Agentenbasierte Modellierung im Marketing – Eine Illustration am Beispiel der Diffusion von Produktinnovationen mit direkten Netzeffekten..............................................................................................................235 Jost Adler und Taymaz Khatami Warenplatzierung Die Messung der Wahrnehmung von Warenplatzierungen mit Hilfe der Videobeobachtung und der Blickaufzeichnung – dargestellt am Beispiel der Warengruppe Wasch-, Putz- und Reinigungsmittel.......................257 Hendrik Schröder, Nina Möller und Gregor Zimmermann
XXI Markenpolitik Die Bedeutung von Premiummarken für das Markenmanagement im Einzelhandel......................................................................................................283 Dirk Möhlenbruch und Annett Wolf Kundenbegeisterungsstrategien als Basis der Store-BrandEntwicklung ......................................................................................................301 Wilfried Leven Handelswerbung Effekte unterschiedlicher Darstellungsweisen von Preisreduktionen in der Einzelhandelswerbung ................................................................................321 Julia Jedrowiak, Sina Kohnen, Klaus Helnerus und Wolfgang Kierdorf Zur Wirkung unterschiedlicher Produktabbildungen in der Handelswerbung.............................................................................................................345 Katia Allexi, Robert Franz und Klaus Helnerus Preis Die unverbindliche Preisempfehlung des Herstellers .......................................371 Markus Preißner, Sven Spork und Ralf Wierich Referenzpreiseffekte bei der Preisbeurteilung ..................................................397 Marcus Schuckel und Ralf Wierich Koordinierter Einsatz der Marketing-Instrumente Fast Moving Consumer Goods und Durables im Einzelhandelsmarketing ....................................................................................................................419 Bernhard Heidel
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Teil 5: Distribution Kooperation Zur Problematik der Erfolgsforschung in kooperativen Unternehmensnetzwerken des Handels ...........................................................................443 Dieter Ahlert und Martin Ahlert Vertrauen im Vertikalen Marketing ...................................................................467 Roland Mattmüller und Ralph Tunder Handelskonzentration, Handelsmarken und Wettbewerb in der Konsumgüterdistribution – Warum das Verbot der vertikalen Preisbindung abgeschafft gehört .............................................................................................485 Rainer Olbrich und Carl-Christian Buhr Großhandel Disintermediation in Wertschöpfungsketten – eine transaktionskostentheoretische Analyse der Ausschaltungsgefahr für den Großhandel ................507 Joachim Zentes und Dirk Morschett Logistik als Schlüsselfaktor im Großhandel – dargestellt am Autoteilehandel .............................................................................................................529 Andreas Kaapke
Teil 6: Neue Technologien und E-Commerce E-Commerce Die Bedeutung von Online-Shops in Multi-Channel-Unternehmen – eine Analyse aus Konsumentensicht .................................................................555 Kai Hudetz und Sebastian van Baal Oszillationen bei der Diffusion von elektronischen Marktplätzen – Implikationen für den Wettbewerb jenseits der kritischen Masse ....................577 Tobias Kollmann und Christoph Stöckmann
XXIII Neue Technologien Akzeptanz von RFID bei Shoppern im Lebensmitteleinzelhandel ...................595 Karen Gedenk, Alexander Rühle und Michael Knaf Der Pro-Veränderungsbias in der Akzeptanzforschung technologischer Innovationen – eine Erklärungsgröße für Fehlprognosen .......................617 Andrea Gröppel-Klein und Jörg Königstorfer
Curriculum Vitae...............................................................................................643
Schriftenverzeichnis..........................................................................................645
Autorenverzeichnis ...........................................................................................657
Ist der Ausbeutungsverdacht im Handel heute noch existent? Herbert Woratschek, Frank Hannich, Reinhard Kunz und Maike Sanktjohanser
1 Problemstellung ...............................................................................................7 2 Existenzberechtigung und Einkommenslegitimation von Händlern................8 3 Ausbeutungsverdacht im Handel.....................................................................8 4 Empirische Untersuchung des Ausbeutungsverdachts durch Gümbel ............9 5 Indikatoren des rollenbedingten Ausbeutungsverdachts ...............................10 5.1 Handelsspannen-Syndrom ......................................................................10 5.2 Arbeitsethische Legitimation von Händlereinkommen ..........................11 5.3 Nutzensteigerung allein durch Güterumverteilung .................................11 5.4 Dominanz nicht direkt beobachtbarer Variabler.....................................12 5.5 Economies of Scale.................................................................................12 5.6 Lighthouse-Effekt ...................................................................................12 5.7 Übersetzung und Doppelspurigkeit ........................................................13 6 Ausschaltungshypothese................................................................................13 6.1 Ausschaltungsversuche von Seiten der Kunden .....................................14 6.2 Ausschaltungsversuche von Seiten der Produzenten..............................14 6.3 Ausschaltungsversuche von Seiten anderer Händler ..............................15 7 Ergebnisse der empirischen Untersuchung zum Ausbeutungsverdacht ........16 8 Literatur .........................................................................................................21
Ist der Ausbeutungsverdacht im Handel heute noch existent? Herbert Woratschek, Frank Hannich, Reinhard Kunz und Maike Sanktjohanser
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Problemstellung
Vor kurzem haben wir über Prof. Lothar Müller-Hagedorn gelesen, dass er der Doyen der Handelsbetriebslehre in Deutschland ist. In der akademischen Welt werden angesehene, ältere Wissenschaftler als Doyens ihres Faches bezeichnet, wenn ihr Lebenswerk die allgemeine Denkschule ihrer Disziplin in herausragender Weise geprägt hat. Damit setzt er die Tradition seines akademischen Lehrers Prof. Dr. Dr. h.c. Rudolf Gümbel fort, von dem man seinerzeit dasselbe behauptet hat. Daher haben wir uns entschlossen, für diese Festschrift ein Thema aufzugreifen, das Gümbel und seine Schüler über Jahre hinweg beschäftigt und auch geprägt hat. In seinem Buch „Handel, Markt und Ökonomik“ begegnete Gümbel (1985) dem Verdacht der Unproduktivität zu einer Zeit konkurrierender Wirtschaftssysteme, als die Produktivität des freien Handels weder von allen gesehen noch anerkannt wurde. Er begründete seine Thesen mit einer Vielzahl unterschiedlicher ökonomischer Ansätze, die in ihrer Gesamtheit überzeugend die Effizienz selbständiger Handelsunternehmen belegen. Getrieben wurden die Effizienzbelege von dem latenten Ausbeutungsverdacht, dem der Handel unterliegt, und der persönlichen Verbundenheit Gümbels „als Sohn einer Händlerfamilie, die seit rund 180 Jahren erfolgreich den Konkurs vermeiden konnte“ (Gümbel 1985, S. 5). Gümbels Effizienzthesen sind u.a. aus dem Blickwinkel der Transaktionskostentheorie entwickelt worden. Transaktionskosten entziehen sich häufig der unmittelbaren Wahrnehmung durch die Konsumenten. Nur so ist es zu begründen, dass die Konsumenten die Umsatzrenditen im Handel in einer empirischen Untersuchung von Gümbel um ein Vielfaches überschätzten. Dies hat er als Ausbeutungsverdacht im Handel bezeichnet. In der Boom-Zeit des Internethandels wurde der stationäre Handel von vielen zum Auslaufmodell erklärt. Müller-Hagedorn hat einige Erfolgsfaktoren für den Internethandel gesehen, so hat z.B. der Versandhandel „über Jahrzehnte hinweg ein Know-how zur Gestaltung von Katalogen aufgebaut“ (MüllerHagedorn, Kaapke 1999, S. 203). Kritische Erfolgsfaktoren des Geschäftsmodells von Versand- und Online-Händlern sah er z.B. in den Retouren und der Bonität der Konsumenten (Müller-Hagedorn, Kaapke 1999). Müller-Hagedorn begleitete als Schüler Gümbels den Handel in die Zeit des E-Commerce, die den „neuen“ Vertriebskanal inzwischen längst integriert hat. Daher stellt sich hier
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Herbert Woratschek, Frank Hannich, Reinhard Kunz und Maike Sanktjohanser
die Frage, ob der Ausbeutungsverdacht auch in dieser Zeit angesichts der nahezu unbeschränkten Informationsmöglichkeiten noch existiert und ob damit die Theorien zur Effizienz des Handels immer noch des Lesens und Kennens wert sind. Die Zielsetzung des hier präsentierten Forschungsprojekts ist dementsprechend in einer eigenen empirischen Untersuchung zu prüfen, ob der Ausbeutungsverdacht im Handel nach wie vor existent ist, und einen Vergleich zur Einschätzung des Internethandels zu ziehen. 2
Existenzberechtigung und Einkommenslegitimation von Händlern
Gümbels Untersuchung fand vor dem Hintergrund des so genannten Produktivitätsstreits im Handel statt. Dabei wurde die Notwendigkeit und Produktivität des Handels angezweifelt und damit letztlich auch seine Einkommensberechtigung. Der Nutzen des Handels in Form eingesparter Kosten und Wertsteigerungen für die Gesellschaft konnte jedoch aus verschiedenen Blickwinkeln nachgewiesen werden. Die Aufstellung von Katalogen von Handelsfunktionen versucht die Handelsleistung auf deskriptive Art zu erfassen. Dieses Vorgehen geht auf Oberparleiter (1955, S. 6-89) zurück. Es werden vornehmlich räumliche, zeitliche, quantitative, qualitative, Kredit- und Werbefunktion des Handels aufgeführt (Schenk 1991, S. 62, Woratschek 1992, S. 14f., Müller-Hagedorn 1998, S. 107ff.). Einen weiteren Anhaltspunkt für die Handelsleistung lieferte die Anwendung des Transaktionskostenansatzes (Coase 1937) auf den Handel (Picot 1986). Eine Form der Transaktionskosten stellen die Kontaktkosten dar. Wie der Handel Kontaktkosten reduziert, kann durch den Baligh-Richartz-Effekt gezeigt werden (Toporowski 1999, S. 81). Griebel (1982) wies zudem die Vermeidung von Einigungskosten durch selbständige Händler spieltheoretisch nach. Mit dem Nutzen des Handels beschäftigen sich auch die Theorie der komparativen Kostenvorteile von Ricardo (1923, S. 119-144) und die Theorie der komparativen Nutzenvorteile von Edgeworth/Weber (Gümbel 1985, S. 87-93). 3
Ausbeutungsverdacht im Handel
Das Einkommen der Händler ergibt sich aus der „Differenz zwischen dem Geldbetrag der verkauften Güter und dem zu ihrem Verkauf notwendigen Gütereinsatz“ (Gümbel 1985, S. 18f.). Setzt man Gewinn und Umsatz des Händlers ins Verhältnis, so erhält man die Umsatzrendite.1
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Die Umsatzrendite wird in der Literatur auch als Umsatzgewinnrate, Gewinnspanne oder Handelsgewinn bezeichnet. Die Begriffe werden im Folgenden synonym verwendet.
Ist der Ausbeutungsverdacht im Handel heute noch existent?
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Von „Ausbeutung“ bzw. „Ausbeutungsverdacht“ wird in diesem Zusammenhang gesprochen, wenn der Händler sich innerhalb der geltenden Rechtsordnung zulässig auf Kosten seiner Umwelt bereichert (Gümbel 1985, S. 1923). Dabei unterscheidet Gümbel zwischen dem rollenbedingten Ausbeutungsverdacht (RAV) und dem strukturbedingten Ausbeutungsverdacht. Während es sich beim rollenbedingten um einen Ausbeutungsverdacht aufgrund von Wahrnehmungsverzerrungen handelt, beruht der strukturbedingte „auf einer Ausnutzung von Eigenschaften unkontrollierter bzw. kontrollierter Variablen im Entscheidungsfeld“ (Gümbel 1985, S. 21). Anhand des strukturbedingten Ausbeutungsverdachts lassen sich illegaler schwarzer bzw. nicht eindeutig legaler grauer Handel vom eindeutig legalen weißen Handel abgrenzen. Für die vorliegende Untersuchung ist letztlich lediglich der rollenbedingte Ausbeutungsverdacht relevant, da nur dieser die Wahrnehmung der Umsatzrendite von Seiten der Kunden berücksichtigt. Zur Operationalisierung des rollenbedingten Ausbeutungsverdachts wird die vermutete Umsatzrendite zur effektiven Umsatzrendite ins Verhältnis gesetzt: RAV =
Vermutete Umsatzrendite Effektive Umsatzrendite
Ist der Wert größer als eins, d.h. ist die vom Kunden vermutete Umsatzrendite größer als die tatsächlich vom Händler erwirtschaftete (effektive) Umsatzrendite, liegt ein Ausbeutungsverdacht vor (Gümbel 1985, S. 20). Die dahinter stehende Logik ist auf die Struktur der kausalorientierten Kostenzuordnungsvorschriften zurückzuführen. Demnach ist es nicht möglich, einer verkauften Mengeneinheit den anteiligen Faktorverzehr zuzuordnen (Engelhardt 1960, S. 75). Zudem bezieht ein Händler sein Einkommen aus einer Aneinanderreihung von Kaufakten, wodurch es dem Kunden unmöglich wird, nachzuvollziehen, wie und in welcher Höhe dieses zustande kommt (Gümbel 1985, S. 20). Infolge dieser Wahrnehmungsverzerrungen überschätzen befragte Konsumenten tendenziell die Gewinnspanne der Händler wie die im nächsten Abschnitt dargestellte Untersuchung von Gümbel (1985) zeigt. 4
Empirische Untersuchung des Ausbeutungsverdachts durch Gümbel
Gümbel führte im Juni 1983 eine Telefonbefragung durch, um die Existenz des rollenbedingten Ausbeutungsverdachts in unterschiedlichen Bereichen des Handels zu überprüfen. Tabelle 1 zeigt die Ergebnisse. 4,7% der Befragten nahmen also beispielsweise an, dass Verbrauchermärkte eine Umsatzrendite (r) zwischen 3 und 7% erzielten, und 13,9% der Befragten taxierten die Umsatzrendite von Warenhauskonzernen zwischen 25 und 35%. Gümbel stellte diesen Ergebnissen die Umsatzrendite einiger prominenter Einzelhandelsunternehmen aus dem Jahr 1982 gegenüber, die sämtlich zwischen 0
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Herbert Woratschek, Frank Hannich, Reinhard Kunz und Maike Sanktjohanser
und 3,5% lagen (Gümbel 1985, S. 21), sodass die oben genannte RAV-Maßzahl in praktisch allen Einzelfällen Werte über eins annimmt. Die von den Befragten vermutete Umsatzrendite von durchschnittlich 28,35% ist schlicht völlig unrealistisch.
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