Struktur- und Kulturwandel international tätiger deutscher Unternehmen : das Beispiel des Bayer-Konzerns 9783835092426, 3835092421 [PDF]


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Struktur- und Kulturwandel international tätiger deutscher Unternehmen : das Beispiel des Bayer-Konzerns
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Zitiervorschau

Tina Guenther Struktur- und Kulturwandel international tätiger deutscher Unternehmen

WIRTSCHAFTSWISSENSCHAFT

Tina Guenther

Struktur- und Kulturwandel international tätiger deutscher Unternehmen Das Beispiel des Bayer-Konzerns

Mit einem Geleitwort von Prof. Dr. Richard Münch

Deutscher Universitäts-Verlag

Bibliografische Information Der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.

Dissertation Universität Bamberg, 2006

1. Auflage April 2007 Alle Rechte vorbehalten © Deutscher Universitäts-Verlag | GWV Fachverlage GmbH, Wiesbaden 2007 Lektorat: Brigitte Siegel / Dr. Tatjana Rollnik-Manke Der Deutsche Universitäts-Verlag ist ein Unternehmen von Springer Science+Business Media. www.duv.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Umschlaggestaltung: Regine Zimmer, Dipl.-Designerin, Frankfurt/Main Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in Germany ISBN 978-3-8350-0397-2

Geleitwort Tina Guenther hat sich in ihrer Dissertation zum Ziel gesetzt, den sich seit den 1990er Jahren vollziehenden strukturellen und kulturellen Wandel der deutschen Großunternehmen im organisationalen Feld der Deutschland AG zu beschreiben, theoretisch zu erklären und durch eine Fallstudie über die Bayer AG empirisch zu veranschaulichen. Diese Fragestellung wird in drei Teilen bearbeitet. Teil 1 erarbeitet die theoretischen Grundlagen, Teil 2 untersucht den strukturellen Wandel, Teil 3 den kulturellen Wandel des Unternehmens. Als theoretische Grundlage greift Guenther auf die Innovationstheorie von Joseph Schumpeter und auf den neoinstitutionalistischen Ansatz organisationaler Felder von DiMaggio/Powell und Fligstein zurück. Zur analytischen Strukturierung von interdependenten Funktionsbereichen der Unternehmensorganisation bedient sie sich des AGIL-Schemas von Talcott Parsons. Zu diesem Zweck wird die Leistungsorganisation mit der Funktion der Anpassung an Veränderungen im Marktumfeld des Unternehmens, die Unternehmensführung und –kontrolle mit der Funktion der Zielsetzung und Zielverwirklichung, die Unternehmensgemeinschaft mit der Funktion der sozialen Integration und die Unternehmenskultur mit der Funktion der Erhaltung latenter Strukturen unterschieden. Diese vier Funktionsbereiche werden so verstanden, dass sie in einer gegenläufigen Hierarchie von Bedingungen und Kontrollen angeordnet sind und in einer gegebenen Umwelt in fortlaufenden Anpassungsprozessen sich gegenseitig stabilisierende Strukturen herausbilden. Exogene Veränderungen außerhalb des Unternehmens (Märkte, gesetzliche Reformen, Solidaritätsbeziehungen und ihre verbandliche Repräsentation, Wissen und Wertorientierungen) lösen in Unternehmensorganisationen Veränderungen aus, die bei einem oder gleich mehreren Funktionsbereichen ansetzen und dann die Unternehmensorganisationen in einen Zustand der äußeren und inneren Instabilität führen, der Anpassungsprozesse auslöst. Ob und wie schnell wieder ein Zustand der äußeren und inneren Stabilität erreicht wird, ist eine offene Frage. Es kann nur gesagt werden, dass Anpassungsprozesse so lange ablaufen, bis ein solcher Zustand gefunden wird. De facto finden die Anpassungsprozesse permanent statt. Das ist vor allem dann der Fall, wenn exogen und endogen die Quellen des Wandels unaufhörlich sprudeln. Dann entsteht ein spiralförmiger Anpassungsprozess, bei dem auch die Anpassungsprozesse im Unternehmen selbst Auslöser für weitere Anpassungsprozesse werden. Dabei spielen insbesondere Spillover-Effekte zwischen den Funktionsbereichen eine wichtige Rolle. Tina Guenther geht davon aus, dass die Verschärfung der Wettbewerbssituation im Kontext der Globalisierung zur Beschleunigung von Veränderungen im Marktumfeld führen (neue Wettbewerber, neue Technologien), die unmittelbar zu einer Anpassung der Leistungsorganisation der Unternehmen zwingt (weg von hierarchischer Arbeitsteilung und hin zu flexiblen Netzwerken). Die Anpassungen veranlassen wiederum Anpassungen in den anderen Funktionsbereichen, um die auftretenden Strukturbrüche und entsprechenden Funktionsdefizite zu bewältigen. Das heißt, dass die flexible Netzwerkorganisation mit einer Unternehmensführung durch Experten nach fachlichen Kriterien, einer nach festen Statusdifferenzen geglieV

derten „Unternehmensfamilie“ und einer Unternehmenskultur, die einerseits fachliche Qualität, andererseits Statusgerechtigkeit in den Vordergrund stellen, nicht vereinbar ist. Dementsprechend nimmt die Verfasserin an, dass es einen funktionalen Druck der Anpassung dieser Funktionsbereiche an die mit sich rasch verändernden Märkten verkoppelte flexible Netzwerkorganisation gibt. Solange diese Anpassung nicht erreicht ist, leidet das Unternehmen unter erheblichen Strukturbrüchen und entsprechenden Reibungsverlusten. Die Richtung der Anpassung wird dabei durch die Struktur der flexiblen Netzwerkorganisation vorgegeben. Für die Unternehmensführung bedeutet das die Ablösung der Fachexperten und der Steuerung durch fachliche Kriterien (Entwicklung, Produktion, Marketing) durch Finanzmanagement und Controling. Dadurch wird die Reorganisation des Unternehmens nach der Marktperformanz jedes einzelnen Unternehmensbereichs zum Leitprinzip. Teilung in Profitcenter, eigenständige Teilunternehmen, Fusionen und Übernahmen werden nach dem Prinzip der Marktperformanz vorgenommen und werden zum Dauerzustand. Damit hängt unmittelbar die Orientierung am Shareholder-Value zusammen. Im Hinblick auf die Sozialintegration wirkt die Umstellung auf die flexible Netzwerkorganisation auf eine Abkehr von der Solidargemeinschaft von Statusgruppen und die Herausbildung einer individualisierten Leistungsgemeinschaft mit größeren Lohndifferenzen zwischen und innerhalb von Mitarbeitergruppen hin. In der Unternehmenskultur verlieren fachliche Kriterien von „best principles“ an Bedeutung, dagegen werden „best practices“ und „Marktperformanz“ bedeutsam. Ebenso verändern sich die Vorstellungen von Gerechtigkeit weg von Statusgerechtigkeit und hin zu Leistungsgerechtigkeit. In welcher Gestalt sich dieser durch funktionalen Anpassungsdruck ausgelöste Wandel vollzieht, wird durch die auf historischen, national differierenden Entwicklungspfaden herausgebildeten Institutionen im organisationalen Feld und im Unternehmen bestimmt. Die stattfindenden Anpassungsprozesse werden nicht unmittelbar funktional determiniert, sondern mittelbar durch isomorphische Prozesse (Zwang, Imitation, normativer Druck), durch die Konstellation der Akteure im organisationalen Feld (incumbents vs. challengers) und durch die sich in diesem Feld durchsetzenden Leitbilder gefiltert. Welche Gestalt der strukturelle und kulturelle Wandel annimmt, wird durch diese isomorphischen Prozesse und durch die Auseinandersetzungen der Akteure im organisationalen Feld mit dem Ziel der Sicherung von Marktmacht geformt. Der spezifische Entwicklungspfad der deutschen Großunternehmen ist durch das Verflechtungsmuster der Deutschland AG mit seinen Besonderheiten der Beschränkung des Marktwettbewerbs und der Zusammenarbeit von Staat, Banken, Unternehmen, Unternehmensverbänden und Gewerkschaften geprägt. Zu dieser institutionellen Gestalt des korporatistischen Kapitalismus in Deutschland gehört das Innovationsregime „inkrementaler“ Innovationen (Perfektionierung vorhandener Produkte) der „koordinierten“ Marktwirtschaft anstelle des Regimes der „radikalen“ Innovation (neue Produkte) der „liberalen“ Marktwirtschaft. Inkrementale Innovation setzt auf „diversifizierte“ Qualitätsproduktion. Die ökonomische Globalisierung hat die zu diesem Modell als Stabilitätsvoraussetzung gehörende Beschränkung der Konkurrenz sowohl auf den Finanzmärkten als auch auf den Produktmärkten erheblich verVI

ringert. Auf den Finanzmärkten lassen sich Anleger nur mit höheren Renditen gewinnen, auf den Produktmärkten wächst der Druck auf die Preise und damit auch der Druck zu schnelleren Innovationen. Außerdem reichen inkrementale Innovationen nicht mehr aus, um wettbewerbsfähig zu bleiben. Sowohl betriebswirtschaftlich als auch volkswirtschaftlich gewinnen radikale Innovationen an Bedeutung. Damit rückt die „schöpferische Zerstörung“ als Rolle des „Unternehmers“ nach Schumpeters Innovationstheorie ins Zentrum des Geschehens. Sie wird zum Leitbild der permanenten Restrukturierung der Unternehmen. Dementsprechend entfaltet sich die Dynamik einer von permanenter Innovation geprägten kapitalistischen Wirtschaft wesentlich durchschlagender als hinter dem Schutzschild der Deutschland AG. Tina Guenther erklärt dementsprechend den von ihr beobachteten und beschriebenen strukturellen und kulturellen Wandel der Unternehmensorganisation in den vier interdependenten Funktionsbereichen exogen durch die Tendenz der Auflösung der Deutschland AG. Es verschärft sich dadurch der Wettbewerb, der zur funktionalen Anpassung der Leistungsorganisation zwingt. Endogen werden durch die Veränderung der Leistungsorganisation Anpassungsprozesse in den Funktionsbereichen der Unternehmensführung, der Sozialintegration und der Unternehmenskommunikation und –kultur ausgelöst. Da es sich jedoch um isomorphische Anpassungsprozesse im organisationalen Feld handelt, wird die Gestaltung dieses Wandels einerseits durch die vorhandenen Institutionen, andererseits durch die Durchsetzung neuer Leitbilder (Shareholder Value, Marktsteuerung) und durch Machtverschiebungen in der Unternehmensführung (Finanzmanagement anstelle von Fachspezialisten) erhöht. Auf diese Weise wirken funktionaler Anpassungsdruck, pfadabhängige Gestaltung des Institutionenwandels und Machtverschiebungen im organisationalen Feld zusammen. Dabei übernehmen „first mover“ die Rolle von Leitfiguren, die weitere isomorphische Prozesse (Imitation) in Gang setzen. Tina Guenther hat eine beeindruckende Untersuchung des strukturellen und kulturellen Wandels deutscher Großunternehmen am Beispiel der Bayer AG vorgelegt. Die theoretische Rahmung ist überzeugend, das Fallbeispiel Bayer AG bietet die notwendige Bodenhaftung. Insgesamt 22 Interviews in der Konzernzentrale Leverkusen und am Produktionsstandort Dormagen haben der Verfasserin ermöglicht, den Wandlungsprozess des Unternehmens aus der Sicht unmittelbar Beteiligter zu erschließen. Die theoriegeleitete Auswertung von 8 Interviews hat für eine systematische empirische Untermauerung des beschriebenen Unternehmenswandels gesorgt. Aus den Interviews lässt sich auch die Wirksamkeit der wesentlichen Faktoren erschließen, die den beobachteten Wandel erklären, natürlich aus der Sicht der Akteure, die dabei als Agenten (Betroffene und Gestalter) des Wandels zu verstehen sind. Es wird deutlich, welche strukturellen Veränderungen im Unternehmen stattgefunden haben und dass diese Veränderungen im Zusammenhang mit Veränderungen im organisationalen Feld, Veränderungen von Leitbildern und Machtverschiebungen im Unternehmen zusammenhängen. Es ist klar, dass es sich dabei um die kausale Rekonstruktion eines Einzelfalls handelt, d.h. um die theoriegeleitete Erklärung eines historischen Wandels eines Unternehmens. Es geht dabei allerdings um einen Einzelfall, der nicht isoliert für sich steht, sondern exemplarische Bedeutung hat und einen Wandel von größerer Tragweite veranschaulicht. Dabei kann VII

sich die Verfasserin auf andere Untersuchungen stützen, insbesondere auf Untersuchungen, die am Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung in Köln durchgeführt wurden. Dadurch werden die Ergebnisse der Untersuchung abgesichert, wie die Untersuchung der Verfasserin selbst zur weiteren Absicherung der Kölner Ergebnisse beiträgt. Zwischen den theoretischen Bezugsrahmen und die Fallstudie hat die Verfasserin in den jeweiligen Abschnitten zum Strukturwandel von Leistungsorganisation, Unternehmensführung, Sozialintegration und Unternehmenskultur und zum Kulturwandel von organisationaler Rationalität und Gerechtigkeit jeweils eine Brücke eingebaut, die sich mit dem entsprechenden Wandel in theoretischer Hinsicht und mit dem Wandel im organisationalen Feld der Deutschland AG beschäftigt. Dadurch werden theoretische Fragestellung und empirische Analyse, organisationales Feld und Organisation durchgehend miteinander verknüpft. Das alles sind Vorzüge, die einen hohen Erkenntniswert der Dissertation erbringen. Die Dissertation leistet einen beachtlichen Beitrag zum Erkenntnisfortschritt im Feld der Forschung zum Wandel von Unternehmensorganisationen im Kontext der ökonomischen Globalisierung und zum Wandel der Deutschland AG.

Richard Münch

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Vorwort Während einer vierjährigen Beschäftigung als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Soziologie II der Otto-Friedrich-Universität Bamberg bei gleichzeitiger Teilnahme am Graduiertenkolleg „Märkte und Sozialräume in Europa“ (MSE) bekam ich einen Eindruck davon, welche fundamentale Bedeutung dem Institutionenwandel im Globalisierungsprozess für Märkte und Unternehmen zukommt. In meinem Dissertationsprojekt habe ich mir die Aufgabe gestellt, den Strukturwandel international tätiger deutscher Unternehmen mithilfe des Analyseschemas von Talcott Parsons in den analytischen Dimensionen von Leistungsorganisation, Unternehmenssteuerung und Führung, Sozialintegration und Unternehmenskultur nachzuzeichnen und im Kontext des Strukturwandels von aus Unternehmenssicht relevanten Märkten und Institutionen unter dem Stichwort „Finanzmarktkapitalismus“ zu verorten. Nachdem ich in einer Anfangsphase noch unter dem Eindruck meiner zuvor abgeschlossenen Diplomarbeit geplant hatte, die Dissertation als internationalen Vergleich des Strukturwandels international tätiger Unternehmen mit Hauptsitz in den Vereinigten Staaten, Japan und Deutschland mit jeweils einer Fallstudie für ein Unternehmen an seinem Hauptsitz durchzuführen, habe ich das Vorhaben sowohl aus methodischen als auch aus forschungspraktischen Gründen auf Unternehmensstrukturwandel international tätiger deutscher Unternehmen eingeschränkt. Ohnehin war für meine Fragestellung, in welche Richtung die Entwicklung der aus der koordinierten Marktwirtschaft Deutschlands hervorgegangenen international tätigen Unternehmen Deutschlands geht, wie sich dieser Wandel vollzieht, in welchem Verhältnis struktureller und kultureller Wandel zueinander stehen, und wie sich der Unternehmenswandel in den übergreifenden Strukturwandel der aus Unternehmenssicht relevanten Märkte und Institutionen einfügt, die empirische Fallstudienuntersuchung Bayer besonders bedeutsam. Eine Fallstudienuntersuchung Ford, die ich am Beginn meines Projektes in Dearborn (USA) durchgeführt habe, habe ich deshalb nicht in die Präsentation integriert, sondern lediglich für die Theorieentwicklung verwendet; ich möchte aber der Ford Motor Company vielmals für die Impulse für die Theoriebildung danken. Die jetzt vorliegende Studie, die ich unter dem Titel „Strukturwandel und Kulturwandel der Unternehmen im organisationalen Feld der Deutschland AG im Zeichen der Globalisierung am Beispiel des Bayer-Konzerns“ als Dissertation an der Otto-Friedrich-Universität Bamberg eingereicht habe, konzentriert sich auf Strukturwandel und Kulturwandel für Unternehmen, die aus dem organisationalen Feld der „Deutschland AG“ hervorgegangen sind; ihr Gedankengang wird am Beispiel Bayer entwickelt. Wichtige Impulse für die Theorieentwicklung habe ich aus neueren soziologischen Studien bezogen, die erst während oder nach 2001 erschienen sind: Zu den Studien aus dem Bereich der politischen Ökonomie, die den Gang dieser Untersuchung maßgeblich beeinflusst haben, zählen der Varieties-of-Capitalism-Ansatz von Peter Hall und David Soskice (2001), einige Studien aus dem Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung, besonders „Wer beherrscht die Unternehmen“ von Martin Höpner (2003) und „Pfadabhängigkeit“ von Jürgen Beyer IX

(2006). Ebenfalls haben Studien aus dem Bereich der neueren Wirtschaftssoziologie, besonders die einem feldtheoretischen Ansatz entstammende Untersuchung „The Architecture of markets“ von Neil Fligstein (2001) wichtige Bausteine geliefert. Richard Münch hat mich von der ersten Idee bis zur Fertigstellung der Studie durch das Projekt begleitet. Er hat mir umfangreiche Gelegenheit geboten, meine Kenntnisse der soziologischen Theorie, der Wirtschafts- und Organisationssoziologie einzusetzen. Die verwendeten Begriffe und das Forschungsdesign sind in gemeinsamen Diskussionen in der frühen Projektphase entstanden, die hier präsentierten Thesen in der späteren Phase. Ein Teil der Diskussionen erfolgte auch im Kontext der Seminare und Workshops des Graduiertenkollegs „Märkte und Sozialräume in Europa“. Besondere Freude hat mir die Zusammenarbeit mit Richard Münch für den gemeinsamen Beitrag im von Paul Windolf herausgegebenen Sonderband 45 „Finanzmarkt-Kapitalismus – Analysen zum Wandel von Produktionsregimen“ der Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie (KZfSS) gemacht. Für unseren gemeinsamen Beitrag „Der Markt in der Organisation – von der Hegemonie der Fachspezialisten zur Hegemonie des Finanzmanagements“ haben Richard Münch und ich ein Interview mit zwei Experten aus dem Corporate Center in der Konzernzentrale Leverkusen des Bayer-Konzerns geführt, die qualitative Datenauswertung durchgeführt, den Aufsatz gemeinsam ausgearbeitet und vorgetragen. Der Bayer-Konzern hat im Zuge des Engagements für diese Studie unter Beweis gestellt, dass ein global agierendes, international ausgerichtetes Unternehmen auch zu langfristigem Engagement fähig, an einer Analyse quer zu Hierarchiestufen und Abteilungen interessiert und offen für soziologische Analysen aus einer Außen-Perspektive ist. Eine Einladung zur Präsentation der Hauptaussagen am Beginn des Jahres 2005 habe ich gern angenommen. Der BayerKonzern hat sich am Diskurs mit dem Sozialforscher und am Wissensaustausch interessiert gezeigt. Ohne diese Haltung und die hohe Informationsbereitschaft wäre eine soziologische Studie wie diese nicht möglich gewesen. Deshalb gilt besonderer Dank dem Bayer-Konzern und allen Interviewpartnern. Insgesamt habe ich 22 Experteninterviews geführt, die meisten davon zum Jahreswechsel 2000/2001 im Werk Dormagen, vier zusätzliche Experteninterviews nach dem Strukturwandel vom integrierten chemisch-pharmazeutischen Unternehmen zur strategischen Holding (Jahresbeginn 2002) und dem Beschluss über die Ausgliederung der Chemiesparte unter dem Namen Lanxess (Ende 2003) zwischen Ende des Jahres 2003 und Mitte 2005. Das Interview zum Thema Investor Relations konnte leider nicht aufgezeichnet werden und stand deshalb auch für die Auswertung nicht zur Verfügung. Die für die Zwecke der vorliegenden Studie verbleibenden acht informativsten Interviews habe ich vollständig transkribiert und qualitativ mithilfe des Datenanalyseprogramms Atlas-ti ausgewertet. Das siebte der in der Datenauswertung berücksichtigten acht qualitativen Interviews haben Richard Münch und ich gemeinsam zur Vorbereitung des gemeinsamen Artikels im Sonderband der Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie mit zwei Experten aus dem Corporate Center des Bayer-Konzerns am Standort Leverkusen durchgeführt.

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Die Original-Zitate aus den Interviews, auf die im Text verwiesen wird, sind in einer als pdfDokument abrufbaren Hermeneutic Unit mit der Datenauswertung auf meiner Homepage unter http://sozlog.de im Abschnitt „Dissertation“ verfügbar und anhand der Nummerierung im Fließtext sowie anhand der den einzelnen Zitaten zugeordneten Codes identifizierbar. Die im Text präsentierten Textpassagen aus den Interviews habe ich zumeist in die indirekte Rede gesetzt. Die Transformation in die indirekte Rede erfolgte erstens mit dem Ziel, die Aussagen der Interviewpartner im Schriftbild nicht durch umgangssprachliche Formulierung „flapsig“ erscheinen zu lassen. Zweitens diente sie auch dazu, die Kernaussagen herauszuarbeiten, sie in den Textzusammenhang der Studie einzubauen, und sofern nötig, Kontextinformation aus dem Gesprächszusammenhang einfließen zu lassen, ohne die ein Zitat entweder unverständlich wäre oder sehr lang hätte sein müssen. Schließlich habe ich bei der Abfassung der Studie einige Bayer-Publikationen berücksichtigt, die mir die Interviewpartner mitgegeben oder auf E-Mail-Anfrage zugesandt haben oder die ich der Homepage habe entnehmen können. Richard Münch hat längere Textpassagen in Form von Working Papers sowie eine komplette frühere Version der Studie gelesen und mir Feedback darauf gegeben. Martin Heidenreich hat ein Working Paper für einen der Workshops des Graduiertenkollegs „Märkte und Sozialräume in Europa“ kommentiert. Martin Höpner am Max-Planck Institut für Gesellschaftsforschung hat den Strukturteil dieser Dissertation besprochen (Teil 2). Christel Lane am Centre of Business Research an der University of Cambridge hat das Working Paper über organisationale Rationalität und Innovation besprochen (Abschnitt 3.1). Den Kommentatoren, meinen Kollegen Christian Lahusen und Carsten Stark, meinen Weggefährten Jan Schmidt, Torge Lars Rosenburg, Sandra Green, Nina Tessa Zahner, Nina Baur und Detlev Lück sowie den Kollegiaten des GRK „Märkte und Sozialräume in Europa“ danke ich für fruchtbare Diskussionen und für unzählige Anregungen. Frau Cramer vom Recherchedienst der Frankfurter Allgemeinen Zeitung hat in meinem Auftrag eine Presserecherche in Bezug auf das organisationale Feld der Pharmaindustrie durchgeführt. Die verwendeten Artikel aus ihrer Recherche habe ich neben den Publikationen aus dem Bayer-Konzern im Anschluss an das Literaturverzeichnis aufgeführt. Jürgen Beyer am Max-Planck Institut für Gesellschaftsforschung hat für den Artikel im Sonderband der KZfSS einige Zahlen zur Verortung des Bayer-Konzerns im Kontext der vierzig größten deutschen Unternehmen aus dem Datensatz des Max-Planck-Instituts für Gesellschaftsforschung „Internationalisierung der Arbeitsbeziehungen in Deutschland“ zugesandt; seine Kommentare und Anregungen haben ebenfalls Eingang in diese Studie gefunden. Der Otto-Friedrich-Universität Bamberg bin ich zu Dank für ein zweijähriges Promotionsstipendium verpflichtet. Auf dem Weg zur Fertigstellung der Studie danke ich Gerhard Guenther für umfangreiche Korrekturlesearbeiten und Renate Guenther für die Hilfe bei der Umsetzung der Grafiken und für ihre Hilfe bei der Druckvorbereitung. Dr. Tatjana Rollnik-Manke vom Deutschen Universitäts-Verlag (DUV) gilt mein herzlicher Dank für ihre Leistungen zur Verbesserung von Orthografie, Lesbarkeit und Erscheinungsbild. Schließlich gilt mein

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Dank all jenen, die mich während der gesamten Zeit gefördert, unterstützt und ermutigt haben, ganz besonders meiner Familie, Gerhard, Renate und Milan Guenther. Leser können vom Tag des Erscheinens an die Auswertung der qualitativen Interviews zu dieser Studie in Form eines pdf-Dokuments auf meiner Homepage http://sozlog.de im Abschnitt „Dissertation“ abrufen; das Passwort zur Datei wird auf Anfrage mitgeteilt. Ebenso ist dort die qualitative Datenauswertung zum gemeinsamen Aufsatz von Richard Münch und mir in „Der Markt in der Organisation – von der Hegemonie der Fachspezialisten zur Hegemonie des Finanzmanagements“ in Sonderband 45 der Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie als passwortgeschützte Datei abrufbar, und das Passwort wird ebenfalls auf Anfrage mitgeteilt.

Tina Guenther

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Inhaltsverzeichnis Geleitwort................................................................................................................................. V Vorwort ...................................................................................................................................IX Inhaltsverzeichnis................................................................................................................XIII Einleitung: Die „Deutschland AG“ als organisationales Feld und ihr Strukturwandel unter finanzmarktgetriebenem Globalisierungsdruck ......................................................... 1 1. Strukturelle und kulturelle Dimensionen von Innovation unter besonderer Berücksichtigung des organisationalen Feldes der „Deutschland AG“ ........................... 19 1.1 Kreativität im Prozess der ökonomischen Innovation.................................................... 19 1.2 Radikale und inkrementelle Innovation aus struktureller Perspektive........................... 32 1.3 Radikale und inkrementelle Innovation aus kultureller Perspektive.............................. 40 1.4 Von inkrementeller zu radikaler Innovation?................................................................. 51 2. Strukturwandel der Unternehmen im organisationalen Feld der Deutschland AG: Von der formal-rationalisierten Expertenorganisation zur flexiblen Netzwerkorganisation? .......................................................................................................... 69 2.1 Leistungsorganisation: Von Hierarchie und Formalisierung zu Marktwettbewerb und Networking als Koordinationsmechanismen ................................... 69 2.1.1 Marktwettbewerb und Networking im Feld der „Deutschland AG“ und seine Umsetzung im Unternehmen ............................................ 82 2.1.2 Marktwettbewerb und Networking zur Leistungskoordination im Bayer-Konzern ............................................................................................................ 87 2.1.3 Marktwettbewerb und Networking: zur Leistungskoordination in den Bayer-Betrieben und Standorten (inzwischen Chemieparks) ............................... 99 2.2 Unternehmenssteuerung und Führung: Fokussierung auf Kernkompetenzen und Umsetzung mittels Accounting und Benchmarking. ................... 101 2.2.1 Die finanzgetriebene Unternehmenssteuerung mittels Accounting und Benchmarking...................................................................................... 101 2.2.2 Von der fachgetriebenen zur marktgetriebenen Führungsstruktur im Bayer-Konzern ............................................................................. 109 2.2.3. Wettbewerb und Networking statt Hierarchie und Formalisierung in den Bayer-Betrieben und Standorten (inzwischen Chemieparks) ............................. 115 2.3 Sozialintegration: Strukturelle Differenzierung und Performanzorientierung............. 118 2.3.1 Stukturelle Differenzierung und der Performanzimperativ für Unternehmen im organisationalen Feld der „Deutschland AG“ .............................. 118 2.3.2 Strukturelle Differenzierung und Performanzorientierung im Bayer-Konzern .... 128 2.3.3 Sozialintegration in den Bayer-Betrieben und Produktionstandorten (inzwischen Chemieparks) ............................................................................................. 132 XIII

2.4 Unternehmenskultur: Flexibilität, Konkurrenz, praktische Relevanz und wohlverstandener Eigennutz. ...................................................................................... 138 2.4.1 Flexibilität, Konkurrenzorientierung und wohlverstandener Eigennutz als neue Orientierungen im Feld der „Deutschland AG“ und seiner Unternehmen....... 138 2.4.2 Flexibilität, Konkurrenzorientierung und wohlverstandener Eigennutz als neue Orientierungen im Bayer-Konzern................................................................... 144 2.4.3 Unternehmenskultur auf der Ebene der Bayer-Betriebe und Standorte (inzwischen Chemieparks) ............................................................................................. 149 2.5 Fazit: Bayer als „Feld“ im organisationalen Feld der Deutschland AG und sein Strukturwandel von der formal-rationalisierten Expertenorganisation hin zur flexiblen Netzwerkorganisation......................................................................................................... 153 3. Kulturwandel der Unternehmen im organisationalen Feld der Deutschland AG .... 163 3.1 Organisationale Rationalität: Von Best Principles zu Best Practices?......................... 172 3.1.1. Best Principles zwischen bürokratischer Berechenbarkeit und professionellen Standards als Legitimationsgrundlage für inkrementelle Innovation ............................ 173 3.1.2 Best Practices der Konkurrenz, praktische Relevanz und Eigennutz als Legitimationsgrundlage für radikale Innovation............................................................ 187 3.1.3 Bayer: Von Best Principles zu Best Practices? ..................................................... 202 3.2. Organisationaler Universalismus: Neue Standards für Gleichheit und Gerechtigkeit?............................................................ 209 3.2.1 Gerechtigkeit nach Gleichbehandlungs- und Kollektivleistungsprinzip, Statusbildung ohne Markt .............................................................................................. 215 3.2.2 Chancengleichheit und Gerechtigkeit als Fairness und Statusbildung durch aktive Beteiligung und Wettbewerb..................................................................... 226 3.2.3 Bayer: Standards für Gleichheit und Gerechtigkeit im Umbruch? ....................... 237 Exkurs: Impulse für eine globale Konzernbetriebsverfassung für Bayer........................... 247 4. Schlussfolgerungen und Ausblick: Science for a better Life........................................ 255 Literaturverzeichnis............................................................................................................. 265

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Tabellenverzeichnis: Tabelle 1: Typisierung der Innovationsstrategien für Unternehmen in den Vereinigten Staaten und Deutschland ……………………………………….…….… 38 Tabelle 2: Typisierung der Innovationsaktivität und kulturelle Orientierungen für Unternehmen in den Vereinigten Staaten und Deutschland ……………………..……… 49 Tabelle 3: Pharma-Weltrangliste nach Handelsblatt 2004 …………………………….……. 90 Tabelle 4: Weltmarkt Chemie Rangliste 2005 ……………………………………………… 93 Tabelle 5: Tarifvertrag und Gerechtigkeitsprinzipien ……………………………………... 217 Tabelle 6: Analytisch geleiteter Entwurf für eine Unternehmenskonstitution…………...… 254

Abbildungsverzeichnis: Abbildung 1: Logik und Dynamik der wirtschaftlichen Entwicklung nach Schumpeter … 29 Abbildung 2: Hierarchie und Formalisierung, Wettbewerb und Networking als Regulierungsmechanismen des Handelns von Akteuren im Unternehmen .……………77 Abbildung 3: Das Unternehmen als Sozialsystem – die formal-rationalisierte Expertenorganisation …………………………………………………………………….… 80 Abbildung 4: Das Unternehmen als Sozialsystem – die flexible Netzwerkorganisation ..… 81 Abbildung 5: Organisationale Rationalität der formal-rationalisierten Expertenorganisation …………………………………………. 184 Abbildung 6: Organisationale Rationalität der flexiblen Netzwerkorganisation .…………………..................................................……198

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Einleitung: Die „Deutschland AG“ als organisationales Feld und ihr Strukturwandel unter finanzmarktgetriebenem Globalisierungsdruck Gegenstand der Studie ist die Frage, in welche Richtung der Strukturwandel der Wirtschaftsunternehmen im organisationalen Feld der „Deutschland AG“ geht, das seit der Nachkriegszeit entstanden ist und gegenwärtig unter finanzmarktgetriebenem Globalisierungsdruck eine enorme Veränderungsdynamik entfaltet. Konkret bedeutet dies: Das Wirtschaftsunternehmen wird mit Bezug auf den praxistheoretischen Ansatz von Habitus, Feld und Kapital von Pierre Bourdieu (1987; 1992) und Neil Fligstein (2001) als Feld im Kontext des übergeordneten organisationalen Feldes betrachtet. Es liegt die Annahme zugrunde, dass sich die Organisation selbst als auch das übergeordnete organisationale Feld in einem finanzmarktgetriebenen Strukturwandel befindet. Neben der Frage, wie sich der strukturelle Wandel der Organisation im Kontext relevanter Märkte und Institutionen vollzieht, ist ebenfalls zu untersuchen, in welchem Zusammenhang der Strukturwandel der Wirtschaftsunternehmen im organisationalen Feld der „Deutschland AG“ mit ihrem Kulturwandel steht und in welche Richtung der kulturelle Wandel geht. Am Beispiel des Bayer-Konzerns, einem der etablierten Großunternehmen im organisationalen Feld der „Deutschland AG“, wie es in der Nachkriegszeit entstanden ist, soll exemplarisch untersucht werden, in welche Richtung der Strukturwandel der Unternehmen unter finanzmarktgetriebenem Globalisierungsdruck geht. Konkret soll untersucht werden, wie sich der Strukturwandel innerhalb des Konzerns vollzieht, ob ausgehend vom strukturellen Wandel auch ein kultureller Wandel – gemeinsam geteilte Handlungsmuster und kognitive Kategorien betreffend – festzustellen ist. Außerdem soll die Studie aufzeigen, in welche Richtung dieser Kulturwandel geht und in welchem Verhältnis struktureller Wandel und kultureller Wandel zueinander stehen. Dabei wird Bayer insofern und insoweit als deutsches Unternehmen betrachtet, als das Unternehmen ursprünglich in Deutschland gegründet wurde, seine mehr als 140 jährige historische Entwicklung in Deutschland durchlaufen hat, und seit der Nachkriegszeit Teil des Institutionenarrangements des organisationalen Feldes der „Deutschland AG“ und als solches in das Verflechtungszentrum der deutschen Großunternehmen eingebunden war. Des Weiteren ist der Bayer-Konzern trotz seiner global ausgerichteten Geschäftstätigkeit und trotz seines international gestreuten Aktienkapitals – auf beides wird später noch zurückzukommen sein – insoweit ein deutsches Unternehmen, welches nicht nur seinen Hauptsitz in Leverkusen hält, sondern auch Produktionsstandorte in Leverkusen, Dormagen, Krefeld-Uerdingen, Brunsbüttel und Bitterfeld unterhält und mit mehr als 50.000 Beschäftigten knapp die Hälfte seiner Mitarbeiter in Deutschland beschäftigt (vgl. Verg 1986; Bayer 2005). Bevor jedoch die hier nur kurz umrissene Fragestellung näher erläutert und der Weg aufgezeigt wird, mit dem die Fragestellung in dieser Studie beantwortet wird, soll am Beginn der Einleitung zu dieser Studie ausgehend von Fligsteins institutionensoziologischen Ansatz der „Architecture of Markets“ erläutert werden, warum und inwiefern Märkte organisationale Felder darstellen, aus welchem Grund man vom koordinierten Kapitalismus in Deutschland (vgl. Streeck 1999: 13-40) als von einem Feld der „Deutschland AG“ (vgl. Streeck/Höpner 2003: 1

11-59) sprechen kann und welches die charakteristischen Strukturmerkmale dieses organisationalen Feldes sind. Neil Fligstein (2001) begreift in seinem feldtheoretischen und institutionensoziologischen Ansatz der „Architecture of Markets“ Märkte als organisationale Felder, deren Akteure – Unternehmen, unternehmensrelevante Institutionen sowie staatliche Agenturen – sich im Kampf um dominierende Positionen befinden. Im Hinblick auf Unternehmen als Marktakteuren unterscheidet Fligstein die etablierten Unternehmen, die „incumbents“, von den herausfordernden Unternehmen, den „challengers“. Incumbents sind dominierende Unternehmen mit gesicherter, zentraler Marktposition; in der koordinierten Marktwirtschaft Deutschlands handelt es sich um Unternehmen mit einer politisch unterstützten oligopolistischen Marktposition. Challengers dagegen sind Unternehmen in herausfordernder Position. Dazu gehören beispielsweise Neugründungen, die sich erst am Markt etablieren müssen, indem sie erfolgreich Innovation betreiben und indem sie den bisherigen incumbents entweder den Rang ablaufen oder sich durch ihre Innovationsleistung für die incumbents unentbehrlich machen. Letztendlich gibt die Struktur des Marktes vor, welches Ziel jedes Unternehmen verfolgen muss, um am Markt erfolgreich oder zumindest überlebensfähig zu sein. Genauer heißt das: Aus Perspektive der Unternehmen geht es darum, in der Auseinandersetzung mit Konkurrenten eine dominierende Position zu erzielen, also Marktmacht zu bekommen und diese gegen Herausforderer zu sichern. Unternehmen, die bereits die Position des incumbents im organisationalen Feld haben, müssen demnach bestrebt sein, ihre dominierende Marktposition aufrechtzuerhalten oder sogar auszubauen, sei es dadurch, dass sie in ihrer bisherigen Organisationsstruktur erfolgreich weiter wirtschaften, sei es dadurch, dass sie ihre eigene Struktur verändern. Eine solche Strukturveränderung könnte etwa im Vordringen von Unternehmen in neue Technologieklassen bestehen, mithilfe derer sie dann neue Produkte und Verfahrenstechniken schaffen, oder in einem veränderten Finanzierungsmodell, oder in einem Strategiewechsel, etwa im Wechsel von der Strategie des Mischkonzerns hin zu einem auf wenige Kernkompetenzen fokussierten Unternehmen oder in der Kombination der genannten Maßnahmen. Unternehmen, die sich in der Position des challengers befinden, müssen bestrebt sein, eine dominierende Marktposition zu erreichen, um nicht von incumbents an den Rand gedrängt oder von erfolgreicheren challengers überholt zu werden (vgl. Fligstein 2001: 18). Folgt man Fligsteins Ansatz, ereignet sich die Entstehung von Märkten als Felder sowie die Ordnungsbildung auf Märkten nicht automatisch und nicht ausschließlich durch den Ausgleich von Angebot und Nachfrage, bei denen das Marktgleichgewicht als dynamischer Durchgangspunkt zwischen Überangebot und Knappheit erzielt wird. Vielmehr lässt sich die Entstehung von Märkten und ihre Strukturbildung so begreifen, dass sich Märkte als kulturhistorisch singuläre Gebilde sozialer Beziehungen und Institutionen herausbilden.1 So weist 1 Keinesfalls soll damit ausgesagt sein, dass der Ausgleich von Angebot und Nachfrage für die Herausbildung von Märkten und für die Herausbildung der Strukturen auf Märkten irrelevant sind. Vielmehr soll damit ausgesagt sein, dass, wenn man Fligsteins Theorie der „Architecture of Markets“ (2001) und anderen, neueren Aufsätzen folgt, neben dem Ausgleich von Angebot und Nachfrage weitere Faktoren die Konstitution von Märkten und die Besonderheiten einzelner Märkte betreffend existieren, die für die Entstehung von Märkten, die auf Ordnungsbildung auf Märkten sowie für die spezifischen Marktordnungen (mit-)bestimmend sind, und die Faktoren

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Fligstein insbesondere auf die Bedeutung staatlicher Agentruen bei der Herausbildung und Ordnungsbildung von Märkten hin, wenn er schreibt: „Proposition 2.1. The entry of countries into capitalism pushes states to develop rules about property rights, governance structures, rules of exchange, and conceptions of control in order to stabilize markets.” (Fligstein 2001: 36) „Proposition 2.2. Initial formation of policy domains and the rules they create affecting property rights, governance structures, and rules of exchange shape the development of new markets because they produce cultural templates that determine how to organize in a given society. The initial configuration of institutions and the balance of power between government officials, capitalists and workers at the moment account for the persistence of and the differences between national capitalisms. ” (Fligstein 2001: 40)

Fligstein setzt mit seinen Basispropositionen einen Kontrapunkt zu ökonomischen Theorien, die – ausgehend von der klassischen ökonomischen Theorie und unter Einbeziehung der Informationsökonomie, dem Transaktionskostenansatz, dem Prinzipal-Agenten-Ansatz, der neuen historische Ökonomie sowie die Einbeziehung der der Annahme der begrenzten Rationalität in die ökonomische Analyse – von der Annahme geleitet sind, dass sofern man einmal die Gesetzmäßigkeiten eines Marktes kenne, den Schlüssel zum Verständnis der Funktionsweise des Marktes im allgemeinen gefunden habe und diesen auf Einzelfälle anwenden könne. Fligstein setzt dieser Annahme die Auffassung entgegen, dass es verschiedene Märkte mit jeweils spezifischen Spielregeln gebe, beispielsweise einen Automobilmarkt, einen Markt für Chemieprodukte, einen Markt für Pharmazeutika sowie für Gentechnik bzw. Biotechologie, einen Markt für Produktionsanlagen in der Großindustrie usw. usf. Konkrete Märkte sind unterschiedlich zugeschnitten, etwa als regionale Märkte, als nationale, supranationale oder global ausgerichtete Märkte. Sie unterscheiden sich durch unterschiedliche Eintrittsbarrieren für Anbieter und Nachfrager. Sie sind zu unterschiedlichen Graden in Segmente untergliedert und sie bieten Platz für eine bestimmte – oft eng begrenzte – Anzahl konkurrierender Unternehmen. Grade und Inhalte der Regulierung von Märkten durch staatliche Agenturen variieren erheblich. Märkte als organisationale Felder, wie sie Neil Fligstein begreift, sind keine statischen Gebilde, sondern entwickeln sich dynamisch, insbesondere in Abhängigkeit von den gegebenen Kräfteverhältnissen der Akteure und von der historischen Gesamtsituation: „These social structures, social relations and institutions have not been created automatically in market society. They have been long-run historical projects ongoing in all of the industrial societies that have worked through the waves of crisis (sometimes violent). Solutions that have been crafted required social experimentation during specific market crises and more general economic depressions werden in der vorliegenden Studie besonders hervorgehoben. Erwähnenswert sind hier z.B. die auch bei Fligstein selbst mehrfach zitierte ethnografische Studie „Making Markets – Opportunism and Restraint on Wallstreet“ von Mitchel Abolafia, der Beitrag von Karin Knorr-Cetina und Urs Brügger (2002; 2005) „Globale Mikrostrukturen der Weltgesellschaft. Die virtuellen Gesellschaften von Finanzmärkten“, das umfangreiche Forschungsprogramm über die sozialen Grundlagen von Märkten von Jens Beckert, besonders seine Monografie „Grenzen des Marktes – Die sozialen Grundlagen wirtschaftlicher Effizienz“ (1997) sowie weitere neue wirtschaftssoziologische Beiträge z.B. der von Michal Florian und Frank Hillebrandt (2006) herausgegebene Sammelband, in dem neuere wirtschaftssoziologische Beiträge in der Tradition des Ansatzes von Habitus, Feld und Kapital von Pierre Bourdieu versammelt sind.

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(not to mention during upheavals produced by war and conquest). These events have pushed people to think about the ways that they needed to organize in order to make and take advantage of market opportunities.” (Fligstein 2001: 4).

So können Märkte beispielsweise ihren Zuschnitt verändern, also größer oder kleiner werden, entlang veränderter geografischer Grenzen verlaufen, entlang neuer Produktgrenzen verlaufen oder veränderte institutionelle Grenzen definiert sein. Eine solche Veränderung Marktgrenzen ereignet sich beispielsweise, wenn Prozesse der Internationalisierung der Wertschöpfungsaktivitäten stattfinden, z.B. dadurch, dass Unternehmen einer Branche ihre Produktionskapazitäten oder ihre Forschungs- und Entwicklungsbereiche massenhaft ins Ausland verlagern, oder dadurch, dass sie auf dem Wege der Neuorganisation ihrer Finanzierungsgrundlage auch ihre Governance-Strukturen neu organisieren, beispielsweise durch eine breite und internationale Streuung ihres Aktienkapitals. Kommt es beispielsweise zur Öffnung von Absatzmärkten dadurch, dass Handelsschranken abgebaut werden, sind mehr Unternehmen auf ein und demselben Absatzmarkt vertreten. Der Wettbewerb wird insgesamt härter, weil es für jedes einzelne Unternehmen schwieriger wird, seine dominierende Position zu behaupten. Das gilt insbesondere dann, wenn sich der Absatz der infrage stehenden Produkte nicht unbegrenzt steigern lässt, weil die Kundennachfrage an Grenzen stößt. Sind die Wachstumspotenziale des Marktes limitiert oder kommt es sogar zu einer Nachfragekrise, intensiviert sich der Wettbewerb. Dann werden beispielsweise Preiskämpfe intensiviert, mit dem Effekt, dass nur noch die Unternehmen auf dem Feld vertreten sein werden, die ihre Produkte zu den verlangten Preisen auf den Markt bringen können. Einige der Anbieter werden nach bisher nicht entdeckten Marktnischen suchen, oder sie werden versuchen, neue Absatzmärkte zu erschließen, auf denen sie sich erneut fest etablieren; damit können sie vorübergehend die Vorteile des „First movers“ ausschöpfen können und eine monopolähnliche Position einnehmen. In diesem Fall spricht Fligstein von der Entstehung eines neuen Feldes. Andere Unternehmen werden andere Maßnahmen anstreben – etwa die Reorganisation ihrer Leistungsorganisation im Verbund mit anderen Wirtschaftsorganisationen, wenn dies der Steigerung ihrer eigenen Profitabilität dient, Zugang zu strategisch wichtigem Know-how oder Technologien eröffnet oder aus anderen Gründen strategisch bedeutsam erscheint. So produzieren die Akteure, die dem Wettbewerb ausgesetzt sind, neue sozial-organisatorische Antworten auf die Herausforderungen, die sich ihnen stellen: „… Firms try to find ways to control the worst aspects of competition in order to continue to exist. Much of the market making project is to find ways to stabilize and routinize competition. Much of the history of the largest corporations can be read as attempts to stabilize markets for these firms in the face of the ruinous competitions and economic downturns. They have searched for nonpredatory ways to compete. Firms can avoid direct competition by pursuing different market segments (i.e. high or low quality) and by diversifying product lines into related products. They can also use the social relationships, that is, networks, to co-opt suppliers and competitors and attain legitimacy with governments and the financial sector. …In order to take advantage of new technology, firms need to establish stable relationships to their suppliers, workers and principal competitors. The ability to establish these relationships is itself dependent on the production of stable societal institutions such as government and law.” (Fligstein 2001: 5).

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Entscheidend für den Wandel des Marktes als organisationales Feld ist ebenfalls eine Änderung des organisationalen Paradigmas bzw. der „conception of control“. Die conception of control ist ein Leitbild, das den gemeinsam geteilten Handlungsbezugsrahmen für die Aktuere definiert und daher Orientierung ermöglicht. Es handelt sich um ein Paradigma mit normativem Bezug. Als als solches hat die „conception of control“ verbindlichen Charakter für alle Beteiligten. Ein Beispiel, das Fligstein selbst anführt, ist das Paradigma des Managements mit Orientierung am Shareholder Value der 1990er Jahre bis zur Gegenwart im Gegensatz zum Paradigma der finanzgesteuerten Organisation der 1970er Jahre in den Vereinigten Staaten. Die „conception of control“ kann sich dadurch verändern, dass sich neue Unternehmen mit ihrem Paradigma von der Funktionsweise des Marktes als incumbents erfolgreich etablieren, indem sie bisherige incumbents aus ihrer dominierenden Marktposition verdrängen, und ihr Leitbild im organisationalen Feld zunehmend Verbreitung findet, bis konkurrierende Leitbilder vollständig verdrängt worden sind. „When successful, actors produce social relationships that have the effect of creating stable markets, that is, situations, where incumbent firms who take one another into account in their behavior, are able to reproduce themselves on a period-to-period basis. Markets produce local cultures that define who is an incumbent and who is a challenger and why (i.e. they define the social structure). They prescribe how competition will work in a given market. They also prescribe actors with competitive frames to interpret the actions of other organizations. I have called these local understandings conceptions of control.” (Fligstein 2001:18).

Folgt man Fligstein, sind Märkte organisierte Sozialgebilde, die einerseits interkulturell verschieden sind, sodass man sich Märkte als lokal begrenzte Sozialgebilde vorzustellen hat, die andererseits in ihren Binnenbeziehungen jedoch eine gewisse Kontinuität und Stabilität aufweisen, welche Berechenbarkeit schafft. Kennzeichnend für Märkte als Felder ist also, dass sie einerseits Grenzen nach außen haben und dass andererseits intern ein Mindestmaß an Marktstruktur, institutioneller Ordnung gegeben sein muss. Dafür ist es erforderlich, dass ein gemeinsam geteiltes Verständnis vom Wettbewerb existiert und dass es konkrete institutionelle Arrangements im Umfeld von Wirtschaftsunternehmen gibt, welche die Beziehungen der Teilnehmer im organisationalen Feld strukturieren. Daraus folgt, dass sich auf Märkten sehr viel mehr ereignet als lediglich Tauschgeschäfte, die auf das Marktgleichgewicht als Ausgleich zwischen Angebot und Nachfrage hinwirken. Beispielsweise müssen Strukturen der Governance von Märkten und von Firmen gegeben sein, welche die Wettbewerbs- und Kooperationsbeziehungen definieren und die festlegen, wie Firmen intern und in Relation zu anderen Wirtschaftsorganisationen strukturiert sein sollten. Diese Regeln definieren erstens Gesetze und zweitens die konkrete institutionelle Praxis, die eher informellen Regeln folgt. Gesetze beinhalten beispielsweise Regulierungen des Wettbewerbs, die auf gleichen Marktzugang für potenzielle Marktteilnehmer und auf Fairness im Wettbewerb hinwirken. Erweitert man den Begriff der formalen Regulierungen über Gesetze hinaus auf internationale Regulierungen und internationale Verträge, existieren über die nationale Ebene hinaus ebenfalls formale Regulierungen den grenzüberschreitenden Marktwettbewerb betreffend, die Stabilität auf Märkten schaffen. Entwickelte Marktgesellschaften haben außerdem eine Vielzahl von 5

institutionellen Arrangements jenseits der formalen Regulierungen, die als Routinen in den existierenden Wirtschaftsorganisationen eingebettet, daher für die Akteure in allen Wirtschaftsorganisationen verfügbar sind und somit Stabilität schaffen, z.B. professionelle Vereinigungen, Unternehmensberatungen – möglicherweise auch Finanzintermediäre – und schließlich der Austausch von Managementpersonal der höchsten Führungsebenen (Fligstein 2001: 34). Darüber hinaus existieren in den entwickelten Marktgesellschaften Regulierungen des Markttauschs, die definieren, wer mit wem handeln kann und unter welchen Bedingungen eine Wirtschaftstransaktion konkret stattzufinden hat. Damit auf Märkten Transaktionen stattfinden, muss es klare Regeln geben, etwa Gewichtung, Produktstandards, Transport, Verzollung, Versicherung, Geldtransfer (z.B. über Geschäftsbanken) und die Umsetzung von Verträgen betreffend. Immer wichtiger wird Produktstandardisierung, z.B. Qualität, Sicherheit, Umweltfreundlichkeit und Arbeitsbedingungen für Beschäftigte bei der Produktion (Fligstein 2001: 35). Bei Qualitäts-, Sicherheits- und Umweltstandards sind beispielsweise die ISO-Normen, die von den produzierenden Wirtschaftsunternehmen sukzessive umzusetzen sind, ein bedeutsamer Schritt in die Richtung von Vereinheitlichung auf internationalen Märkten.2 Analog sind bei den Arbeitsbedingungen die Arbeitsnormen der International Labour Organisation (ILO) hervorzuheben.3 Die existierenden Leitbilder auf Märkten schlagen sich ebenfalls auf der Ebene der Wirtschaftsorganisation nieder, deren interne Organisation auf die formellen und informellen Regulierungen auf der Ebene des organisationalen Feldes reflektiert und darauf abgestimmt ist: „Conceptions of control reflect market-specific arrangements between actors in firms on principles of internal organization (i.e. forms of hierarchy), tactics for competition and cooperation (i.e. strategies), and the hierarchy or status ordering of firms in a given market. A conception of control is a form of “local knowledge”. (…) Conceptions of control are historical and cultural products. They are historically specific to a certain industry in a certain society. A stable market is a field in which a conception of control defines the social relations between incumbent and challenger seller firms such that the incumbent firms reproduce those relations on a period-to-period basis.“ (Fligstein 2001: 35).

Wie sich Fligstein für die Stabilität von Märkten als organisierten Sozialgebilden interessiert, geht er auch der Frage nach, wie aus bestehenden Märkten neue Märkte hervorgehen, wie und unter welchen Voraussetzungen sich Märkte verändern. Ihn interessieren also ebenfalls die Dynamik der Marktentwicklung sowie die Herausbildung neuer Märkte aus bestehenden organisationalen Feldern. Der Schlüssel zur Erklärung der Marktdynamik ist für Fligstein erneut die „conception of control“, welche von den Marktteilnehmern in dynamischen Prozessen produziert und reproduziert wird. Sie kann ihrerseits Gegenstand des Wandels sein und damit einen Wandel des Marktes als organisiertes Sozialgebilde bewirken. „The production of market institutions is a cultural project in two ways. Property rights, governance structures, conception of control and rules of exchange define the social institutions necessary to make markets. These organizing technologies provide actors with tools to engage in market activity. Market worlds are social worlds; therefore, they operate according to principles like other social worlds. Actors engage in political actions vis-à-vis one another that reflect local cultures and define social

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Homepage der International Organization of Standardization: http://www.iso.org/iso/en/ISOOnline.frontpage. Homepage der International Labour Organisation (ILO): http://www.ilo.org/public/english/standards/index.htm

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relations, who is an actor and how actors can interpret another one’s behaviour.“ (Geertz 1983, rezitiert bei Fligstein 2001: 70).

Ich wähle Fligsteins Ansatz der „Architecture of Markets“, in welcher er den Us-amerikanischen Markt als hart umkämpftes Feld betrachtet, auf dem etablierte Unternehmen und herausfordernde Unternehmen agieren und um dominierende Positionen kämpfen, als Ausgangspunkt für eine Betrachtung der international tätigen deutschen Unternehmen im organisationalen Feld der „Deutschland AG“ und ihres Strukturwandels unter finanzmarktgetriebenem Globalisierungsdruck. Allerdings ist die Perspektive der Betrachtung dieses Marktes nicht die Betrachtung des Marktes als des organisationalen Feldes aus der Vogelperspektive, sondern vielmehr aus der Froschperspektive durch Betrachtung des Bayer-Konzerns als Fallstudie. Da, wie in den vorangegangenen Abschnitten gezeigt wurde, einerseits die Regulierungen des Marktes sich in der internen formellen und informellen Struktur der Wirtschaftsorganisation niederschlagen, andererseits jedoch die Wirtschaftsorganisationen als Akteure am Markt die Marktstruktur mit ihren Komponenten von Governance Strukturen, Paradigmen über die Funktionsweise des Marktes und Regeln für den Markttausch in Interaktion dynamisch produzieren und reproduzieren, ergibt sich eine Makro-Mikro-Makro-Verbindung, auf Grundlage derer die Untersuchung eine vertikale Struktur erhält, dergestalt, dass der Strukturwandel der Unternehmen im Feld der Deutschland AG in den Mittelpunkt gerückt und anhand des Fallbeispiels Bayer-Konzern untersucht wird, wobei das organisationale Feld der „Deutschland AG“, das sich seinerseits unter finanzmarktgetriebenem Globalisierungsdruck wandelt, als übergeordnete Ebene bei der Untersuchung mitgeführt wird. Das Feld des Marktes ebenso wie das Feld der Organisation, das anhand der Fallstudie Bayer exemplifiziert wird, enthält über seine vertikale Struktur der Makro-Mikro-Makro-Verbindung hinaus auch eine horizontale Struktur. Sie hat zum einen eine strukturelle Dimension, die die institutionellen Arrangements betrifft, also einerseits Stabilität, andererseits die Fähigkeit zum Wandel gewährleistet, zum anderen eine kulturelle Dimension, insofern als sie gemeinsam geteilte Handlungsmuster, kognitive Muster – z.B. Wissensgehalte und das dominierende Paradigma – innerhalb und zwischen Wirtschaftsorganisationen gewährleistet. Strukturelle Dimension und kulturelle Dimension stehen sowohl auf einer Ebene – Markt oder Organisation – als auch zwischen den Ebenen von Markt und Organisation in einem Ergänzungsverhältnis. Dieses Ergänzungsverhältnis beinhaltet, dass strukturelle Dimension des Wandels äußere Impulse in die innere Struktur der Organisation weitergibt, die dann mithilfe etablierter Routinen verarbeitet werden, die kulturelle Dimension des Wandels Impulse von der inneren Struktur nach außen weitergibt, aufgrund derer es dann zum Strukturwandel des organisationalen Feldes kommt. So kann der Strukturwandel eines Marktes hervorgerufen werden: Ausgehend von einer guten Geschäftsidee eines Unternehmens und ihrer erfolgreichen Umsetzung am Markt findet ein neues dominierendes Paradigma Verbreitung, weil das erfolgreiche Geschäftskonzept zahlreiche Nachahmer findet. Schließlich dominiert neue Paradigma so stark, dass es für jedes neu eintretende Unternehmen verbindlichen Charakter besitzt. Eine neue „conception of control“ im organistionalen Feld ruft einen Strukturwandel der Unternehmen hervor, die sich darin befinden. 7

Für das Feld der Deutschland AG ist charakteristisch, dass es sich um eine koordinierte Form des Kapitalismus handelt, die beispielsweise in Deutschland, Schweden und Japan durch die Gemeinsamkeit des hohen Grades der wechselseitigen horizontalen Verflechtung von Wirtschaftsunternehmen und Institutionen in ihrem Umfeld miteinander verbindet, wobei die Verflechtung für das organisationale Feld der „Deutschland AG“ einem anderen Strukturmuster folgt als das der japanischen Keiretsu. 4 Davon unterscheidet sich die liberale Ökonomie, die z.B. den USA, Kanadas und Großbritanniens anzutreffen ist. Bei der koordinierten Form des Kapitalismus, wie sie in Deutschland, Schweden und Japan anzutreffen ist, stehen die Bedürfnisse der Wirtschaftsunternehmen auf relativ stabilen Märkten mit hohem Koordinationsgrad der beteiligten Institutionen im Mittelpunkt. Bei der liberalen Form des Kapitalismus steht die Tatsache im Vordergrund, dass sich die Wirtschaftsorganisationen flexibel auf wechselnde Markterfordernisse dynamischer Märkte einzustellen haben (Hall/Soskice 2001: 21-27; 2733). Streeck charakterisiert den deutschen Kapitalismus, wie er sich in der Nachkriegszeit entwickelt hat und wie man ihn im allgemeinen als „Deutschland AG“ bezeichnet, als eine politische Ökonomie, in deren Mittelpunkt die Bedürfnisse der etablierten Großunternehmen nach relativ stabilen Marktverhältnissen im Sinne einer Reduzierung der Wettbewerbsintensitität zugunsten von Marktstabilität stehen, die Berechenbarkeit schafft; damit wird den Unternehmen als Marktteilnehmern ihre Selbsterhaltung erleichtert. Das dominierende Paradigma im organisationalen Feld der Deutschland AG beinhaltet eine zentrale Position des Staates als Machtzentrum des organisationalen Feldes sowie einen dichte Verflechtung zwischen den Wirtschaftsunternehmen, Geschäftsbanken und Versicherungen, Institutionen im Umfeld der Wirtschaftsunternehmen, u.a. professionellen Vereinigungen und Verbänden: „1. Märkte sind politisch eingerichtet und gesellschaftlich reguliert; sie gelten als Kreationen staatlicher Politik, die eingesetzt werden, um öffentlichen Zwecken zu dienen. Das Wettbewerbsregime der Nachkriegszeit ist streng und hat die wirtschaftliche Konzentration in den meisten Sektoren gering gehalten. Weite Bereiche des gesellschaftlichen Lebens, wie etwa Gesundheitsfürsorge, Bildung und Sozialversicherung, werden jedoch nicht nach marktwirtschaftlichen Grundsätzen geregelt, und einige Märkte, wie die für Arbeit und Kapital, weniger als andere. (…) 2. Unternehmen sind gesellschaftliche Institutionen, nicht nur Netzwerke privater Verträge oder Eigentum ihrer Anteilseigner. Ihre innere Ordnung ist Gegenstand des öffentlichen Interesses und unterliegt weitreichender sozialer Regulierung durch Gesetze und Tarifverträge. Manager großer deutscher Unternehmen sehen sich hoch organisierten Kapital- und Arbeitsmärkten gegenüber, die es Kapital- und Arbeitsmärkten ermöglichen, sich direkt an unternehmerischen Entscheidungen zu beteiligen. (…) 3. Der deutsche Nachkriegsstaat ist weder laissez-faire noch etatistisch. Er lässt sich am besten als ein ermöglichender Staat charakterisieren. Seine Möglichkeiten zu direkter Intervention in die Wirtschaft sind durch vertikal und horizontal fragmentierte Souveränität sowie durch strikte verfassungsrechtliche Grenzen diskretionären Handelns beschnitten. (…) 4. Weit verbreitete organisierte Zusammenarbeit unter Wettbewerbern sowie Verhandlungen zwischen organisierten Gruppen mit Hilfe von Verbänden, die mit öffentlichem Status beliehen sind, sind vermutlich das charakteristischste Merkmal der deutschen politischen Ökonomie. Lenkungsfunktionen werden entweder an einzelne Verbände oder an die Kollektivverhandlungen zwischen mehreren Verbänden delegiert, wobei der Staat den Ergebnissen häufig rechtlich verbindlichen Status verleiht. (…) 4 Im Mittelpunkt der Verflechtungsstruktur der japanischen Variante der koordinierten Marktwirtschaft stehen die sogenannten Keiretsu (vgl. Gerlach 1992).

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5. Die deutsche Wirtschaftskultur ist oft traditionalistisch. (…) Preiswettbewerb wird durch sozial etablierte Qualitätspräferenzen gemildert. Märkte als solche begründen kaum gesellschaftliche Wertschätzung; sozialer Status und Solidarität sind ebenfalls wichtig; Sicherheit wird als wünschenswert empfunden; Spekulation wird nicht geschätzt. (…) Fachkompetenz wird um ihrer selbst willen hoch geschätzt; deutsche Manager sind häufig Ingenieure, und Autorität am Arbeitsplatz stützt sich typisch auf überlegenes technisches Wissen.“ (Streeck 1999: 18-21).

Zahlreiche neuere Beiträge und Studien, die an Streecks These des koordinierten Kapitalismus anknüpfen und im weitesten Sinne den Wandel des organisationalen Feldes der „Deutschland AG“ unter der Bedingung von finanzmarktgetriebener Globalisierung untersuchen, werden die einzelnen Merkmale der koordinierten Ökonomie für das organisationale Feld der „Deutschland AG“ beschrieben und ihre Veränderung zum Untersuchungsgegenstand gemacht (z.B. Windolf 2002; 2005; Höpner 2003; Beyer 2003; 2005; 2006). Es gibt gute Argumente, wenn nicht für eine Auflösung des organisationalen Feldes der Deutschland AG zu plädieren, so doch für einen strukturellen Wandel der partiellen Angleichung an die liberale Ökonomie der Vereinigten Staaten: erstens die Internationalisierung der Produktions-, Arbeits- und Geschäftsprozesse, also der Wertschöpfungsprozesse im Unternehmen, zweitens die Internationalisierung der Kapitalstruktur deutscher Unternehmen, drittens die Abnahme der finanziellen Verflechtung durch wechselseitige Beteiligungen und der Rückzug der Geschäftsbanken aus finanziellen Beteiligungen an Großunternehmen, kleinen und mittelständischen Unternehmen, viertens die durch entstehende Märkte für Corporate Governance steigenden Chancen für feindliche Übernahmen, fünftens die schleichende Auflösung des Flächentarifvertrags bei gleichzeitiger Zunahme der Bedeutung von Haustarifverträgen. Die großen, börsennotierten Wirtschaftsunternehmen des Deutschen Aktienindex DAX sind dabei nicht nur Vorreiter, sondern sogar Zugpferde für das gesamte organisationale Feld, denn im Sog ihres ihrer strukturellen Angleichung an die Verhältnisse der liberalen Marktwirtschaften, mit der sie über die globale Finanzmarktlogik konfrontiert sind, erhöht sich ebenfalls der Angleichungsdruck auf die kleineren Unternehmen, mit denen die Großunternehmen im Feld der „Deutschland AG“ in Abnehmer-Zuliefer-Netzwerken oder in Forschungs- und Entwicklungsnetzwerken verflochten sind (vgl. Münch/Guenther 2005). Höpner (2001; 2003) betont den abnehmenden Verflechtungsgrad über wechselseitige finanzielle Beteiligungen und der personellen Verflechtung über die Mandate in den Kontrollgremien der Unternehmen der koordinierten Marktwirtschaft Deutschlands, wie sie in der Nachkriegszeit entstanden ist, und erklärt dies insbesondere mit der wachsenden Orientierung des Managements am Shareholder Value, die sich unter anderem in veränderten Karrieremustern der Top-Führungskräfte in deutschen Großunternehmen zeigt, sowohl die berufliche Qualifikation der Nachwuchsführungskräfte die Finanzexpertise im Unterschied zur naturwissenschaftlichen und technischen Fachexpertise betreffend, aber auch neuer Karrierewege durch externe Rekrutierung des Top-Management-Personals (vgl. Höpner 2003: 121-149). Höpner/ Jackson heben hervor, dass mit der abnehmenden Kapitalverflechtung die Chancen wachsen, feindliche Übernahmen zu realisieren. Traditionell ist die koordinierte deutsche Marktwirtschaft insgesamt durch eine sehr niedrige M&A-Aktivität gekennzeichnet. Während der 1970er Jahre wurden dem deutschen Kartellamt durchschnittlich 373 Zusammenschlüsse pro 9

Jahr gemeldet, während der 1980er Jahre 827, und zwischen 1990 und 1998 durchschnittlich 1653 pro Jahr. Dabei handelte es sich fast ausschließlich um freundliche Übernahmen (Jackson/Höpner 2001: 14 f.). Bis zum Jahr 2000, als der Mobilfunkanbieter Mannesmann durch den britischen Mobilfunkanbieter Vodafone feindlich übernommen wurde, galt als sicher, dass die enge Personen- und Kapitalverflechtung der „Deutschland-AG“ dazu geeignet sei, für stabile Eigentumsverhältnisse zu sorgen, also feindliche Übernahmen zu verhindern. Managern und Verbands-Funktionären im Zentrum der dichten Interaktionsnetzwerke zwischen Wirtschaftsunternehmen und ihren Hausbanken wurde erheblicher industriepolitischer Einfluss zugeschrieben. Das strategische Interesse am Erhalt des „koordinierten Kapitalismus“ wird häufig mit Wettbewerbsvorteilen begründet, die aus der vermeintlichen Stabilität der Eigentumsverhältnisse resultieren. Diese Stabilität wird der Kapitalkonzentration ebenso zugeschrieben wie Einfluss von Geschäftsbanken, Verbänden und Konzernbetriebsräten im Aufsichtsrat. Doch mit der Übernahme der Mannesmann-AG durch Vodafone erhielt der Glaube daran einen deutlichen Dämpfer, denn die von Mannesmann angewandten Defensivstrategien funktionierten nicht. Mannesmann publizierte sowohl seine Geschäftssituation als auch seine Geschäftsprognosen und Wettbewerbsstrategien. Allerdings hat Konzern-Chef Esser zu keinem Zeitpunkt der Auseinandersetzung mit Vodafone die Rechtmäßigkeit feindlicher Übernahmen prinzipiell hinterfragt (Heinze 2001; Jackson/Höpner 2001). Die Beziehungen zum Geldgeber Deutsche Bank waren nicht stark und stabil genug, dass dieser für Mannesmann eingesprungen wäre, obgleich sein Vorstandsmitglied Joseph Ackermann im Aufsichtsrat vertreten war. Auch die Institution der betrieblichen Mitbestimmung, die den Konzernbetriebsräten zumindest formal in Stimmenanteilen eine starke Position im Aufsichtsrat zusichert, hat Mannesmann nicht gegen die feindliche Übernahme durch Vodafone geholfen, zumal die Betriebsräte der Bereiche Stahl und Telekommunikation nicht an einem Strang zogen. Ob der führende Vertreter der IG-Metall, Zwickel, die Interessen der Mannesmann-AG gegen Vodafone glaubhaft vertreten hat, erscheint ebenfallszweifelhaft: Einerseits haben Gewerkschaften und Betriebsräte kooperiert, um Arbeitsplätze zu sichern. Zwickel selbst hat mehrfach hervorgehoben, dass Mannesmann ein gesundes Wirtschaftsunternehmen mit glänzenden Geschäftsaussichten und einer überlegenen Wettbewerbsstrategie sei. Andererseits sind extreme Arbeitskonflikte und Großdemonstrationen wie im Jahr 1997 bei dem Übernahmeversuch von Thyssen durch Krupp ausgeblieben. Wirkungslos blieb schließlich auch die sensationelle Bekanntgabe durch den damaligen Präsidenten des amerikanischen Gewerkschaftsdachverbands AFL-CIO, John Sweeney, wonach 13 Prozent des Mannesmann-Aktienkapitals in den Händen von Gewerkschaften lag, obwohl die Organisation AFL-CIO selbst nur über ein bis zwei Prozent verfügte (Heinze 2001; Jackson/Höpner 2001). Heute gibt es gute Argumente für die These, dass sich wie in den USA auch in Deutschland Märkte für Corporate Control etablieren: Märkte, im Sinne von Tauschhandel und Wettbewerb, sind zunehmend in soziale Institutionen eingebettet, als Produkt- und Dienstleistungsmärkte, als Arbeitsmärkte, als Märkte für Spezialisten-Expertise oder als Märkte für Unternehmenskontrolle (vgl. Heinze 2001; Jackson/ Höpner 2003; Granovetter 1985). Dies führt dazu, dass in den Unternehmenskontrollgremien der Aktiengesellschaften im organisationalen Feld der „Deutschland AG“ verschiedene Interessensgruppen der Stakeholdergemeinschaft von Unter10

nehmen einerseits und externe Kapitalgeber andererseits im Wettbewerb um die Macht im Unternehmen stehen. Zusammenfassend kann gesagt werden, dass Märkte fürUnternehmenskontrolle, die Kapitalanlegern von außen Zugang zu den Kontrollgremien der Wirtschaftsunternehmen gewähren, Übernahmeversuchen von außen erleichtern. Beyer betont ergänzend, dass Geschäftsbanken und Versicherungen, die bisher das Verflechtungszentrum der Finanzierungsbeziehungen im organisationalen Feld der „Deutschland AG“ dargestellt haben, sich aus ihrer zentralen Position zurückgezogen haben, indem sie sich weitgehend von ihrer traditionellen Hausbankstrategie abgewendet haben. Heute agieren sie fast ausschließlich als Finanzintermediäre. Aus Perspektive der Geschäftsbanken wie der Deutschen Bank war die Strategie der engen Finanzverflechtung mit Unternehmen, die sich in der Position von Kreditnehmern befanden, profitabel, solange es keinen entwickelten Kapitalmarkt gab. Unter diesen Umständen war das Hausbankprinzip insofern eine Lösung unter dem Aspekt des Kreditvergaberisikos, als es hinreichende Risikostreuung erlaubte. Die Unternehmensfinanzierung, die auf Kreditvergabe setzte und den Unternehmen langfristig stabile Finanzierungsbeziehungen gewährte, musste aus Sicht der Geschäftsbanken und Versicherer als Geldgeber durch Mandatsbeziehungen in den Aufsichtsgremien ergänzt werden, auch um Insider-Kontrolle ausüben zu können. Das System der Insider-Kontrolle ermöglicht es der Bank, Einsicht in die aktuelle Geschäftssituation des Kreditnehmers zu nehmen und gegebenenfalls einzugreifen, bevor Insolvenz drohte. Seit den 1990er Jahren, als der Kapitalmarkt entwickelt war, haben sich die Geschäftsbanken wie z.B. die Deutsche Bank jedoch auf die Position des Finanzintermediärs zurückgezogen und konzentrieren ihre Geschäftstätigkeit seitdem zunehmend auf das Investment-Geschäft. Damit ist das Risiko der Geldanlage von den Geschäftsbanken zu den Shareholdern, oder allgemeiner gesagt, zu den Finanzmärkten, verlagert worden (vgl. Beyer 2003: 123-132, ebd.: 132-139; Höpner 2003: 1-21). Betrachtet man konkreter den Strukturwandel der Unternehmen im organisationalen Feld der Deutschland AG beispielhaft anhand der drei großen Chemie- und Pharmakonzerne, die durch Zerschlagung der IG-Farben seitens der Alliierten nach dem zweiten Weltkrieg entstanden sind – BASF, Bayer und Hoechst/Aventis (inzwischen im französischen Konzern Sanofi aufgegangen) – ist zu beobachten, dass BASF, Bayer und Hoechst bis in die 1990er Jahre zu „incumbent“-Unternehmen herangewachsen sind und eine dominierende Marktposition innehatten, dann jeweils einen Strukturwandel mit Orientierung am Shareholder Value durchlaufen haben, sodass sich ihre Innovations- und Geschäftsfelder unter dem Gesichtspunkt der Ausbildung eines spezifischen Leistungsprofils zugunsten einer geeigneten Positionierung auf dem Weltmarkt ausdifferenziert haben. Bis Mitte der 1990er Jahre, als BASF, Bayer und Hoechst mit der umfassenden und tiefgreifenden Neuorganisation ihrer Konzernstruktur unter strategischen Gesichtspunkten begonnen haben, die neue Unternehmensstrategie und dementsprechend auch die Reorganisation der Konzernstrategie beinhaltete, hatte der Pharma-bereich bei BASF, Bayer und Hoechst einen relativ geringen Umsatzanteil. Bis Mitte der 1990er Jahre war die Mischkonzernstruktur mit einem relativ geringen Umsatzanteil der Pharmasparte unproblematisch: 11

„Infolge ihrer Strategie, die auf hochwertige Produkte und den Einsatz führender Technologien in einem stetig wachsenden Wirtschaftszweig zielt, waren die Großen Drei in der Lage, Wissenschaftler und Techniker dauerhaft an sich zu binden. Die Banken profitierten von moderaten, aber stetig steigenden Dividenden und einer abnehmenden, aber immer noch bedeutsamen Nachfrage nach Krediten. Die Arbeitnehmer erhielten ein hohes Maß an Beschäftigungssicherheit sowie Sozialleistungen, die langfristige Bindungen an das Unternehmen stärker belohnten als die kurzfristige Leistungserbringung.“ (Vitols 2003: 203)

Nach Mitte der 1990er Jahre, als sich die Innovations- und Produktumwelt änderte, haben die „Großen Drei“ ihre Geschäftsstrategie mit Blick auf die Entwicklung und Vermarktung sogenannter Blockbuster-Produkte verändert: „Im Mittelpunkt dieser Strategie steht die Entwicklung verschreibungspflichtiger Medikamente mit einem Marktpotenzial von mindestens 500 Millionen Dollar. Aufgrund der hohen Forschungs- und Entwicklungskosten für Blockbuster, die vor allem beim Zulassungsverfahren entstehen, strebten die Unternehmen über ihre traditionellen nationalen Strategien hinaus, ihre Gewinnmargen durch globales Marketing zu erhöhen. Die deutschen Pharmaunternehmen hatten dabei in doppelter Hinsicht das Nachsehen. Zum einen hatten sie nach dem zweiten Weltkrieg versäumt, ihre verloren gegangenen Marktanteile in den USA, dem weltgrößten und dynamischsten Pharmamarkt zurückzuerobern. Gleichzeitig gewann die angloamerikanische Konkurrenz Marktanteile in Kontinentaleuropa.“ (Vitols 2003: 204)

Die Blockbuster-Strategie bleibt für die Unternehmen im organisationalen Feld der Deutschland AG insofern nicht folgenlos, als die Unternehmen aufgrund der hohen Kosten und des enormen Entwicklungsaufwands für Forschung und Entwicklung der Blockbuster-Medikamente eine bestimmte Mindestgröße benötigen. Das führte zu Konzentrationsprozessen in dem organisationalen Feld der Anbieter für Pharma-Produkte Deutschland AG. Nicht für jeden Anbieter ist Platz, wenn der Markt insgesamt härter umkämpft ist und wenn die einzelnen Produkte aufgrund ihrer Entwicklungsvoraussetzungen einen größeren Kundenkreis brauchen. Ein Beispiel ist Glaxo Wellcome. Dieses Unternehmen erwirtschaftete etwa 30 Prozent seines Umsatzes mit einem einzigen Medikament: Zantac. Der Patentschutz für Zantac lief Ende der 1970er Jahre aus. Glaxo war gezwungen, seinen Pharmabereich zu veräußern (Vitols 2003: 206). Hoechst hat sich bereits 1990 die Struktur einer Holding gegeben, unter deren Dach sich Teilkonzerne als unternehmerisch selbständig handelnde Einheiten etablieren sollten. Im Jahr 1994 begann Hoechst unter der Leitung seines damaligen Vorstandsvorsitzenden, Jürgen Dormann, mit einer umfassenden Restrukturierung, darunter dem Kauf des us-amerikanischen Pharmaherstellers Marion Merell im Jahr 1995 und dem Gang an die New Yorker Börse (NYSE) im Jahr 1997. Im Jahr 1999 folgte die Fusion mit dem französischen Pharmaunternehmen Rhone-Poulenc zu Aventis. Eckert zufolge wurde Hoechst auch deshalb zu einem attraktiven Partner für einen Merger bzw. für Übernahmeversuche von außen, als der Aktienkurs des Unternehmens relativ gering war, weil man sich erst ziemlich spät – nämlich erst mit Jürgen Dormann als Vorstandsvorsitzendem – dazu entschlossen hat, das Unternehmen mit Blick auf den Shareholder Value zu führen. Bis dahin hatte das Management Produktionswachstum und Gewinne in den Mittelpunkt seiner strategischen Überlegungen gestellt – nicht den Shareholder Value. Die Tatsache, dass sich Hoechst im Wettbewerb neu aufgestellt hatte, sich gleichzeitig aber die Hoechst-Aktie auf einem niedrigen Stand befand, machte Hoechst als Partner für einen Merger oder als Gegenstand für eine feindliche Über12

nahme erst attraktiv. Im Jahr 2004 ging Hoechst als Teil des durch den Merger entstandenen Unternehmens Aventis in das neue Unternehmen Sanofi-Aventis ein, wobei sich der französische Konkurrent Sanofi, selbst deutlich kleiner als Aventis, konnte sich mit einer Übernahme durchsetzen. Hoechst ist also durch mehrere Finanztransaktionen – einem Merger und einer Übernahme von außen – Teil eines Pharmaanbieters geworden, dessen Teile in Frankreich und Deutschland historisch gewachsen sind (vgl. Eckert 2003; Vitols 2003: 207-210). Auch BASF hat einen Strukturwandel durchlaufen, allerdings mit anderer Schwerpunktsetzung als Hoechst. BASF setzte auf Verbundstrategie und vertikale Integration mit hoher Fertigungstiefe im Chemiebereich und entwickelte sich zum größten diversifizierten Chemieunternehmen weltweit. Durch Konzentration auf einen einzigen Standort – Ludwigshafen – erreicht BASF seine Position als Kostenführer dadurch, dass Transaktionskosten durch weite Transportwege und durch entfernungsbedingte Kosten vermieden werden (vgl. Vitols 2003: 213-215). Damit unterscheidet sich BASF eindeutig von Bayer, das seine Wertschöpfungsprozesse global ausrichtet und anstrebt, die Produktion für seine vier Produktgruppen – seit Beginn 2005 drei– Produktgruppen jeweils in der Wirtschaftsregionanzusiedeln, in der sich auch der Absatzmarkt befindet. Bayer hat, wie später ausführlich gezeigt werden wird, einen breit angelegten und tiefgreifenden Strukturwandel in Richtung des Idealtyps der „flexiblen Netzwerkorganisation“ durchlaufen, um sich den Gegebenheiten der globalen Finanzmärkte anzupassen. Dieser Strukturwandel ist, wie anhand schon anhand weniger Eckdaten gezeigt wird, höchstens bis zum Jahr 2000/2001 mit einem Festhalten am Rheinischen Modell gleichzusetzen, nämlich nur solange, wie Bayer seinem eigenen Selbstverständnis nach ein integriertes chemisch-pharmazeutisches Unternehmen war. „Bei Bayer begann die Veränderung hin zu einer stärker finanzorientierten Strategie schon ein paar Jahre früher als bei Hoechst, und zwar 1992 mit der Ernennung Manfred Schneiders zum Vorstandsvorsitzenden. Wie Dormann bei Hoechst, so kam Manfred Schneider aus dem Finanzmilieu und hatte keinen naturwissenschaftlichen und technischen Hintergrund. In scharfem Gegensatz zu Dormann hat sich Schneider jedoch stets öffentlich zu einem Modell der Unternehmensführung bekannt, das in der Tradition des „Rheinischen Kapitalismus“ steht. Dazu gehörte, dass wichtige Entscheidungen mit den Stakeholdern getroffen und Veränderungen schrittweise angegangen wurden. „Wir halten an unserer Strategie fest und machen nicht jeden Modetrend mit“, hielt Schneider Shareholder-Value-Aktivisten entgegen. “ (vgl. Vitols 2003: 211).

Allerdings beinhaltet die Strategie von Bayer keinesfalls eine einfache Imitation der Strategie von Hoechst – ganz im Gegenteil: Bayer beschreitet den Weg des schrittweisen Strukturwandels, wobei, wie sich seit dem Jahr 2000 immer deutlicher zeigt, die Strukturangleichung an das Modell der „flexiblen Netzwerkorganisation“ im Mittelpunkt steht. Als Eckpunkte des Strukturwandels von Bayer sind der Gang an die New Yorker Börse im Jahr 2001, die Transformation vom integrierten chemisch-pharmazeutischen Unternehmen mit den vier Säulen Chemie (Spezialchemikalien), Polymere, Landwirtschaft und Gesundheit (mit den Bereichen Pharma, Diagnostika und Animal Health) hin zu der neuen Struktur der strategischen Holding im Jahr 2002 und schließlich die strategische Ausgliederung des traditionellen Chemie-Ge-

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schäfts und Teilen des Polymergeschäfts unter dem Namen „Lanxess“, die zu Beginn des Jahres 2005 wirksam wurde, zu erwähnen. Wie bereits am Beginn der Einleitung angedeutet, sind Wirtschaftsunternehmen, die in Deutschland in der institutionellen Konstitution der Nachkriegszeit gegründet oder wie Bayer neu gegründet wurden wurden und zu dominierenden Institutionen herangewachsen sind, ihrerseits als Felder zu betrachten, die sich in den Strukturzusammenhang des übergeordneten organisationalen Feldes der „Deutschland AG“ einfügen. Ändert sich die Konstellation des gesamten organisationalen Feldes, sind auch sie zu Strukturänderungen gezwungen, z.B. indem sie den Schwerpunkt ihrer Tätigkeit vom Kreditgeschäft zum Investmentgeschäft verlagern wie die Deutsche Bank, indem sie ihre gesamte Produktion auf das Chemiegeschäft fokussieren und an einem einzigen Standort bündeln wie BASF, oder indem sie den Fokus ihrer Unternehmensaktivität vom Chemiegeschäft hin zu Pharmazie, Biotechnologie und Material Science verlagern und sich ganz vom Chemiegeschäft trennen wie Bayer. Innerhalb eines Wirtschaftsunternehmens, aber auch innerhalb eines organisationalen Feldes existiert ein Machtpol. Die Organisationseinheiten innerhalb eines Wirtschaftsunternehmens, analog dazu die Wirtschaftsunternehmen als korporative Akteure innerhalb des organisationalen Feldes der Deutschland AG, befinden sich in unterschiedlicher Nähe oder Entfernung zum Machtpol (Bourdieu 1987: 355-403; Fligstein 2001: 80-85).

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Für das organisationale Feld der „Deutschland AG“ ist zu sagen, dass es spätestens seit Mitte der 1990er Jahre mindestens in Bewegung geraten, wenn nicht sogar globalisierungsbedingt in seiner Auflösung begriffen ist: Die Veränderung betrifft erstens die Zusammensetzung und relative Position der im organisationalen Feld vertretenen Akteure in Bezug auf den Machtpol: Mit vermehrten Zugängen und Abgängen in Relation zur Anzahl der im Feld vertretenen Akteure zeichnet sich eine wachsende Dynamik ab. Zweitens ist eine steigende Wettbewerbsintensität und Wettbewerbsdynamik im organisationalen Feld der „Deutschland AG“ festzustellen. Überlebensfähigkeit und Markterfolg sind zunehmend an die „kritische Masse“, – die erforderliche Mindestgröße und Finanzkraft für die Entwicklung und Vermarktung von Blockbuster-Medikamenten – geknüpft. Fehlt die kritische Masse, ist die Überlebensfähigkeit des Unternehmens und seiner Teilbereiche zu hinterfragen. Drittens betrifft die Veränderung auch das dominierende Paradigma in Bezug auf die Strukturierung des Feldes – sei es das organisationale Feld, sei es das Feld des Unternehmens. Gemeint ist die „conception of control“, sowohl auf der Ebene des organisationalen Feldes als auch auf der Ebene des einzelnen Unternehmens. Neben Entflechtung, Veränderung der Konzernführungsstrategie, Wettbewerbsstrategie und Produktionsmodell, wie sie verschiedentlich in der Fachliteratur behandelt worden sind, möchte ich mit der vorliegenden Studie folgenden Aspekten des Wandels der conception of control Nachdruck verleihen:



Paradigma der Leistungsorganisation: Wettbewerb und Networking als Mechanismen der Leistungskoordination anstelle von Hierarchie und Formalisierung.







Paradigma der Unternehmenssteuerung und Führung: Von der fachgetriebenen Organisation hin zur finanzmarktgetriebenen Organisation. Paradigma der organisationalen Rationalität: Von Best Principles im Spannungsfeld zwischen formaler Rationalität der guten Amtsführung nach formalen, gesatzten Regeln und der materialen Rationalität von konkreten produkt- und verfahrensbezogenen (meist professionellen) Standards zu Best Practices mit Konkurrenzorientierung, pragmatischer Nutzenorientierung und wohlverstandenem Eigennutz. Paradigma der organisationalen Gerechtigkeit: Von Ergebnisgleichheit und Resultatsgerechtigkeit innerhalb einer Unternehmensgemeinschaft, die sich als Statusgemeinschaft und Unternehmensfamilie begreift, hin zu Chancengleichheit und Gerechtigkeit als Fairness im Wettbewerb innerhalb einer Unternehmensgemeinschaft, die ihrem eigenen Selbstverständnis nach Leistungsgemeinschaft ist.

Diese Studie ist wie folgt aufgebaut: Gegenstand des ersten Hauptabschnitts (Kapitel 1) ist die Veränderung des organisationalen Feldes sowie der inneren Struktur und Arbeitsteilung der Unternehmen auf einer analytischen Ebene. Zuerst wird auf Grundlage der Theorie von Schumpeter (1911/64) erläutert, was Innovation als kreativen Prozess kennzeichnet, welche Schritte von der Erfindung als technisch fertiger Idee zu ihrer Umsetzung im wirtschaftlichen Prozess zu gehen sind und warum Innovation für die wirtschaftliche Entwicklung unentbehrlich ist (Abschnitt 1.1). Die folgenden Abschnitte erweitern und vertiefen die Analyse über Innovation im Hinblick auf die strukturelle und kulturelle Perspektive. Auf Basis der Unterscheidung zwischen radikaler und inkrementeller Innovation im Kontext der liberalen und der koordinierten Ökonomie des Varieties-of-Capitalism-Ansatzes bei Hall/Soskice (2001) wird diskutiert, welches Institutionenarrangement eher radikale Innovation befördert und inkrementelle Innovation erschwert oder verhindert, welches Institutionenarrangement umgekehrt eher inkrementelle Innovation befördert und radikale Innovation erschwert oder behindert, und warum trotzdem ein Strukturwandel der Innovationstätigkeit möglich, evtl. sogar erforderlich ist (Abschnitt 1.2). Über Hall/Soskice hinausgreifend werden danach auch die kulturellen Prämissen, nämlich die materiell-inhaltlichen Orientierungen und Zielsetzungen von radikaler und inkrementaler Innovation untersucht (Abschnitt 1.3). Schließlich wird der Strukturwandel der Innovationstätigkeit und Wettbewerbsstrategie der Wirtschaftsunternehmen im organisationalen Feld der Deutschland AG, der in wichtigen Aspekten eine Abwendung von der inkrementalen Innovation und eine Hinwendung zur radikalen Innovation beinhaltet, anhand der Unterscheidung von erzwungener, mimetischer und normativer Isomorphie bei DiMaggio/Powell (1983) untersucht (Abschnitt 1.4). Gegenstand des zweiten Hauptabschnitts dieser Studie ist der Strukturwandel der Wirtschaftsunternehmen im organisationalen Feld der Deutschland AG vom Idealtyp der formal-rationalisierten Expertenorganisation hin zur flexiblen Netzwerkorganisation am Beispiel Bayer, das bezüglich der vier analytischen Funktionsbereiche von Leistungsorganisation, Unternehmenssteuerung und Führung, Sozialintegration und Unternehmenskultur ausgeführt wird. Der Funktionsbereich der Leistungsorganisation bezieht sich auf all diejenigen Aktivitäten, wel15

che das Wirtschaftsunternehmen – mithilfe des generalisierten Interaktionsmediums Geld – betreibt, um knappe Ressourcen in Bezug auf Kostensenkung und Nutzenmaximierung effizient zu koordinieren und damit die eigene Profitabilität zu steigern (Abschnitt 2.1). Die Unternehmenssteuerung und Führungsstruktur bezieht sich auf all diejenigen Aktivitäten, die das Wirtschaftsunternehmen – mithilfe des generalisierten Interaktionsmediums Macht – betreibt, um legitime Entscheidungen zu treffen und diese Entscheidungen effektiv umzusetzen (Abschnitt 2.2). Die Sozialintegration beinhaltet Interaktionsnetzwerke und Solidaritätsbeziehungen insoweit, als sie geeignet sind, – mithilfe des generalisierten Interaktionsmediums Einfluss – allgemein verbindlichen Konsens und Commitment der Akteure für das Wirtschaftsunternehmen zu produzieren und zu reproduzieren (Abschnitt 2.3). Die Unternehmenskultur beinhaltet schließlich die gemeinsam geteilten Denk- und Handlungsmuster insofern als sie – mithilfe des generalisierten Interaktionsmediums Wertcommitments – einen kohärenten und für alle Organisationsmitglieder gültigen Handlungsbezugsrahmen produzieren, aufrechterhalten und erneuern (Abschnitt 2.4). Die Analyse wird zunächst allgemein für die Unternehmen im organisationalen Feld der Deutschland AG entwickelt und anschließend für den Bayer-Konzern konkretisiert. Der zweite Hauptabschnitt schließt mit einer Analyse des Bayer-Konzerns als „Feld“ und seiner Neupositionierung innerhalb des organisationalen Feldes der Deutschland AG und einer Kurzzusammenfassung seines Strukturwandels unter Globalisierungsdruck (Abschnitt 2.5). Im dritten Hauptabschnitt geht der Fokus hin zu speziellen Fragen des Kulturwandels. Dabei gehe ich davon aus, dass infolge des im zweiten Abschnitt untersuchten und ausführlich dargestellten Strukturwandels vom Idealtyp der formal-rationalisierten Expertenorganisation hin zur flexiblen Netzwerkorganisation auftreten können: erstens die Problematik des Wandels der organisationalen Rationalität als kognitiver und legitimatorischer Grundlage für Innovation, zweitens die Problematik gemeinsam geteilter Standards von sozialer Gleichheit und sozialer Gerechtigkeit als Grundlage für die gemeinsam geteilte Unternehmensverfassung oder Konzernbetriebsverfassung, die im Lichte neuer Unternehmensstrukturen Grundlage für das Gelingen des Strukturwandels des Unternehmens sind. So werden in dieser Abhandlung (Abschnitt 3.1) die organisationale Rationalität von „Best Practices“, wie sie historisch im amerikanischen Kulturmuster historisch entstanden und gewachsen ist und als legitimatorische Grundlage von radikaler Innovation gelten kann, einerseits, und die organisationale Rationalität von „Best Principles“, wie sie im deutschen Kulturmuster historisch entstanden und gewachsen ist und als Legitimationsgrundlage von inkrementaler Innovation gelten kann, andererseits, gegenübergestellt. Die Relevanz der organisationalen Rationalität von Best Practices und Best Principles ergibt sich nicht nur daraus, dass beide Rationalitätstypen auf unterschiedliche Milieus als Trägergruppierungen rekurrieren, sondern auch aus der Tatsache, dass sie die wichtigste Legitimationsgrundlage für radikale bzw. inkrementelle Innovation als gewählte Innovationsstrategie des Wirtschaftsunternehmens darstellt. Der Strukturwandel des Wirtschaftsunternehmens im organisationalen Feld der Deutschland AG unter finanzmarktgetriebenem Globalisierungsdruck kann nur gelingen, wenn er seitens der Mitgliedschaft mitgetragen wird. Fehlt jedoch ein gemeinsam geteiltes Grundverständnis von Rationalität, ist es 16

möglich, dass die Organisation keinen kohärenten Handlungsbezugsrahmen (Leitbild) mehr aufweist. Oder es führt dazu, dass mehrere konfligierende Handlungsbezugsrahmen parallel existieren. Beides würde zu Legitimationsproblemen für Entscheidungen und somit zu Spannungen führen. Verlagert ein Wirtschaftsunternehmen im organisationalen Feld der Deutschland AG den Fokus seiner Innovationstätigkeit von inkrementaler Innovation zu radikaler Innovation, benötigt es gemeinsam geteilte Vorstellungen davon, was im Sinne der Organisation rational ist, wobei dort sowohl Elemente von Best Principles als auch Elemente von Best Practices einfließen. Die Analyse wird wieder allgemein für die Unternehmen im organisationalen Feld der Deutschland AG entwickelt und anschließend im Hinblick auf Folgen für die Innovationstätigkeit am Beispiel Bayer konkretisiert. Der letzte Abhandlung (Abschnitt 3.2) ist der Problematik von Standards von sozialer Gleichheit und Gerechtigkeit unter den Bedingungen des Strukturwandels des Wirtschaftsunternehmens gewidmet, der weg vom Idealtyp der formal-rationalisierten Expertenorganisation und hin zum Idealtyp der flexiblen Netzwerkorganisation geht. Je mehr das Wirtschaftsunternehmen seinem eigenen Selbstverständnis nach nicht mehr „Unternehmensfamilie“ bzw. Statusgemeinschaft mit Wohlfahrtsaspekt ist, sondern vielmehr differenzierte „Leistungsgemeinschaft“, desto weniger erscheinen standardisierte Laufbahnmuster in Verbindung mit fein abgestuften Statusgruppen und Wohlfahrtsgedanken als legitim, und desto stärker wird der Druck der Anpassung der Standards von sozialer Gleichheit und Gerechtigkeit an eine Unternehmenskultur, in deren Mittelpunkt Performanzorientierung steht. Die Tendenz geht von Resultatsgleichheit der Lebensstandards innerhalb von Statusgruppen und Ergebnisgerechtigkeit als Verteilungsgerechtigkeit hin zu Gleichheit der Ausgangschancen für alle Akteure und Gerechtigkeit als Fairness im Wettbewerb (vgl. Rawls 1993; 2003). Dies findet seine Umsetzung im Individualleistungsprinzip der Leistungsbemessung und -bewertung für alle Akteure, vom Teilkonzern bis hin zum einzelnen Mitarbeiter, Manager oder Shareholder. Für die Beschäftigten Managementbereich, etwas allgemeiner gefasst: für die akademischen und leitenden Angestellten, ist das nicht neu. Neuerdings wird jedoch das Individualleistungsprinzip bis hinab in den Tarifbereich umgesetzt. Auch angelernte Kräfte, Facharbeiter, Techniker und Meister sind damit konfrontiert (vgl. Lengfeld 2004). Die Analyse wird erneut zunächst für die Unternehmen im organisationalen Feld der Deutschland AG entwickelt und anschließend am Beispiel des Bayer-Konzerns konkretisiert. Zielsetzung dieses auf Grundlage eines Ansatzes der korporativen Gerechtigkeit für Bayer einen Entwurf für eine Konzernbetriebsverfassung zu unterbreiten, der Performanzorientierung in den Mittelpunkt stellt und als gemeinsam geteilte Vorstellungen von Gleichheit und Gerechtigkeit als universelle Werte formuliert, mit denen sich die verschiedenen Interessensgruppen – Management (leitende Angestellte), Beschäftigte im Tarifbereich, vertreten durch Betriebsräte und Gewerkschaften, und schließlich die Shareholder – identifizieren können. Als unternehmensinterne „conception of control“, also als Leitbild, welches die offizielle, von Seiten des Konzernvorstands und der höchsten Führungskreise vertretene Unternehmenskultur vermittelt, hat sich der Bayer-Konzern nach seiner Restrukturierung vom integrierten che17

misch-pharmazeutischen Unternehmen zur strategischen Managementholding von seinem bisherigen Leitbild „Kompetenz und Verantwortung“ abgewendet und ist auf dem Umweg über „Performance through People“ zu seinem aktuellen Leitbild von „Science for a better Life“ gekommen; ausgehend von der Botschaft, welche das Leitbild „Science for a better Life“ in Abgrenzung zu den beiden älteren Leitbildern vermittelt, werden die Schlussfolgerungen dieser Studie präsentiert.

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1. Strukturelle und kulturelle Dimensionen von Innovation unter besonderer Berücksichtigung des organisationalen Feldes der „Deutschland AG“ In diesem ersten Hauptabschnitt werde ich ausgehend von der Unternehmensperspektive konstitutive Elemente und Ablauf des Innovationsprozesses untersuchen. Ausgangspunkt meines Gedankengangs ist Schumpeters Theorie der wirtschaftlichen Entwicklung (Abschnitt 1.1). Die folgenden Abschnitte erweitern und vertiefen die Analyse über Innovation als Prozess über Schumpeter hinausgreifend erstens im Hinblick die Frage, wie Institutionenarrangements im Unternehmensumfeld als Strukturbedingungen für Innovation wirksam sind, durch welche speziellen Arrangements der Institutionen im Umfeld der Wirtschaftsunternehmen radikale oder inkrementelle Innovation als Innovationsstrategien spezifisch befördert, erschwert oder verhindert werden (Abschnitt 1.2), und zweitens bezüglich der kulturellen Orientierungen für radikale und inkrementelleInnovation (Abschnitt 1.3). Der Analyse der kulturellen Bedingungen von Innovation werden zwei idealtypische Varianten von organisationaler Rationalität vorangestellt, die auch im weiteren Verlauf der Arbeit bestimmend sein werden: „Best Practices“ als lebensweltlich begründete Rationalität des Alltagsverstandes, der Konkurrenzorientierung und des wohlverstandenen Eigennutzes für die flexible Netzwerkorganisation, die im Kontext des nordamerikanischen Kulturraums historisch gewachsen ist, „Best Principles“ im Spannungsfeld zwischen formaler Rationalität der Organisation einerseits und substanziell-materialen Wertorientierungen des guten und richtigen Handelns andererseits für die formal-rationalisierte Expertenorganisation deutschen Typs, die im kulturellen Kontext des deutschen Kulturraums historisch gewachsen ist, die also relevant ist für die Unternehmen im organisationalen Feld der „Deutschland AG“. Das erste Hauptkapitel schließt mit einer Diskussion möglicher Entwicklungspfade – namentlich Konvergenzthese und Divergenzthese. In ihrem Bestreben, Innovation zu realisieren, durchlaufen die Unternehmen im Feld der Deutschland AG einen Strukturwandel. Folgt man den Annahmen des institutionentheoretischen Ansatzes von DiMaggio und Powell (1983), werden sich Unternehmen in einem organisationalen Feld sukzessive ähnlicher, wenngleich sie bestrebt sind, sich durch ihre Innovationstätigkeit stärker voneinander zu unterscheiden. Ob der Strukturwandel der Unternehmen im Feld der Deutschland AG in die Richtung einer Strukturangleichung an US-amerikanische Unternehmen geht oder ob sich ein eigenständigen Entwicklungspfades, bei dem traditionelle Stärken weiter aus der koordinierten Ökonomie Deutschlands entwickelt werden, ist Gegenstand des Schlussabschnitts (Abschnitt 1.4).

1.1 Kreativität im Prozess der ökonomischen Innovation Innovation ist immer ein schöpferischer Akt, der eine Assoziation auch zur göttlichen Schöpfung hervorruft: Innovation ist ein kreativer Prozess, bei dem eine creatio ex nihilo stattfindet, bei der also aus dem Nichts etwas Neues entsteht, ein Objekt ins Leere und ins Undefinierte hineingestellt wird. Obgleich Innovation, wie ein Sprichwort sagt, zu 99 Prozent aus Transpi19

ration besteht, bleibt immer noch das eine Prozent Inspiration. Ohne Eingebung, Geistesblitz oder Licht, das aufgehen muss, bis hin zum Brainstorming, bei dem ebenfalls der Geist der Kreativität weht, ist Innovation nicht vorstellbar. Gleichzeitig steckt im neu geschaffenen Objekt stets auch das alte drin. Wer das Bekannte im Neuen nachweisen will, wird entdecken, was er sucht. Umgekehrt wird jeder, der das Neue im Alten nachweisen will, ebenfalls fündig werden (vgl. Bröckling 2004: 139). Folgt man Schumpeter, setzt wirtschaftliche Entwicklung Innovation als schöpferischen Akt zwingend voraus. Ohne kreatives Handeln gibt es keine Innovation und die Wirtschaft bleibt statisch. Damit wird Kreativität zum Imperativ: Will man in dem auf Kreativitätsimperativ beruhenden wirtschaftlichen Prozess überleben, muss man seine Waren oder Dienste in besserer Qualität, zu günstigerem Preis, in kürzerer Zeit anbieten als Konkurrenten. Weil die wirtschaftliche Entwicklung innovationsgetrieben ist, muss jeder am Wirtschaftsprozess beteiligte Akteur permanent schöpferische Anstrengung betreiben. Was heute ein erfolgreiches Produkt oder morgen eine gute „Business-Lösung“ ist, ist übermorgen passé. Eine abseitige Idee von heute kann morgen als bahnbrechende Entdeckung reüssieren (ebd.). Obgleich Innovation als schöpferische Zerstörung stets das Risiko des Scheiterns beinhaltet, bleibt trotzdem keine Alternative zum Bemühen um Kreativität, allein oder im Team, als Unternehmer, als Organisation oder als interorganisationales Netzwerk. Nicht nur der Erfindergeist jedes Einzelnen ist damit angesprochen, sondern es kann eben auch das Miteinander, die Interaktion sein, aus der etwas Neues hervorgeht. Wie Joas in der Theorie des kreativen Handelns (1992) ausführt, sind es sechs unterschiedliche Metaphern für das kreative Handeln zu unterscheiden, die alle mit Innovation assoziiert werden können: Die erste Metapher für das kreative Handeln ist „Ausdruck“. Damit ist gesagt, dass etwas „Inneres“ nach „außen“ gebracht wird, so z.B. ein Sachverhalt, den man mit sprachlichen Mitteln ausdrücken kann, eine Befindlichkeit, die man musikalisch oder künstlerisch zum Ausdruck bringt. Dabei gibt es durchaus ein Zweck-Mittel-Schema dahingehend, dass man Dinge besser oder schlechter, nur „ungefähr“ oder sehr präzise ausdrücken kann und dass die Menschen kontinuierlich auf der Suche nach geeigneteren Mitteln des Ausdrucks sind. So gesehen kann man die gesamte moderne Lebensführung – alle Handlungen von allen Menschen – als Ausdruck deuten. Es ist vorstellbar, dass man sie zum Gegenstand von Rationalisierung macht (vgl. Joas 1992: 113 ff.). Die zweite Metapher ist die der „Produktion“. Allgemein formuliert geht es um das Hervorbringen von etwas Neuem in der Welt. Konkret bedeutet Produktion, dass sich der Mensch in seiner Arbeit und durch seine Arbeit – genauer: in den durch seine Arbeit geschaffenen Artefakten – vergegenständlicht und verwirklicht. Die Arbeitsgesellschafthat den normativen Gehalt der freien Selbstverwirklichung der Menschen durch Arbeit. Bedingt durch Arbeitsteilung und den Prozess der Trennung zwischen der tatsächlichen Arbeit und den Produktionsverhältnissen – genauer den Verkehrsformen und Strukturbedingungen, unter welchen diese Arbeit zu verrichten ist, tritt Entfremdung als unvermeidliches Moment ein (ebd.: 128 ff.). Davon abzusetzen ist drittens Kreativität als problemlösendes Handeln; Kreativität ist in diesem Sinne einer konkreten Situation zuzuordnen.Sie antwortet auf Herausforderungen, die zugleich adäquate und neue Lösungen verlan20

gen (Joas 1992, zitiert bei Bröckling 2004: 139 f.). Die vierte Metapher für Kreativität ist die der „Revolution“. Im Zentrum steht die Herbeiführung neuer gesellschaftlicher Zustände durch das freie Handeln der Gesellschaftsmitglieder. Schöpferisches Handeln fällt dabei mit Befreiung – mit Emanzipation – und mit der Neuerfindung oder Neuorganisation des Sozialen zusammen. Der Mensch tritt als „schöpferischer Zerstörer“ auf und überschreitet die Grenzen der etablierten Verhältnisse. Fünftens ruft Kreativität die Assoziation von „Leben“ hervor. Bei dieser Metapher unterscheidet Joas drei Schichten. Die erste Schicht besagt, dass Leben per se gegen das Tote, das Erstarrte, gegen die leergewordene Form steht. Die zweite Schicht enthält die Bedeutung, dass eine Philosophie des Lebens eben nicht nur eine Philosophie der Philosophen sein soll, damit Relevanz für konkrete Lebensform des Akteurs beansprucht. Die dritte Bedeutungsschicht ist die des biologischen Lebens, bei dem aus dem bisherigen Leben neues Leben hervortritt. Damit stehen Analogien zum Zeugungsakt, zur Geburt und zur biologischen Evolution im Vordergrund (vgl. Joas 1992: 174 ff.). Ganz allgemein geht es um Phänomene der Emergenz. In diesem Zusammenhang erscheint Kreativität als Manifestation von Vitalenergien, durch die Neues aus Altem hervorgeht. Joas betont, dass die Lebensmetapher, wenngleich in unbefriedigender Form, den Gedanken einer vorreflexiven Grundlage des Schaffens und der individuellen Sinngebung über den kollektiv akzeptierten Sinn hinaus enthält (ebd.: 186). Die aus dem Alltagswissen vertrauteste Metapher für Kreativität ist das Spiel, bei dem das schöpferische mit dem zweckfreien Handeln gleichzusetzen ist. Der Mensch handelt nicht instrumentell, sodass sein konkretes Handeln einer bestimmten Zwecksetzung untergeordnet ist. Vielmehr probiert er einfach mal etwas Neues aus, geht einer Tätigkeit um ihrer selbst willen nach (Joas 1992, zitiert bei Bröckling 2004: 139 f.). Ich deute kreatives Handeln, bei dem das Motiv des Akteurs im Zentrum steht, der nach neuen, adäquateren Ausdrucksformen sucht, sich in seiner Arbeit vergegenständlicht und verwirklicht, der Probleme bearbeitet und löst, sich durch Revolution aus den bisherigen Gegebenheiten und Zwängen befreit, der „lebt“ und „spielt“ – als kulturelle Dimension von Innovation, als Leistung im kognitiven Bereich, ohne die Innovation nicht vorstellbar ist. So gesehen deute ich Kreativität in einer oder mehrerer der von Joas (1992) aufgezeigten Varianten Voraussetzung für Innovation. Eine Gesellschaft, die auf Wachstum und ökonomische Entwicklung programmiert ist, kommt ohne diese Kreativität nicht aus. Ohne die Kreativität in einer oder mehrerer dieser Varianten ist Innovation nicht vorstellbar, die Ökonomie damit zu Stagnation verurteilt. Allerdings ist Kreativität allein noch nicht ausreichend, damit Innovation von Produkten, von Verfahren oder die Durchführung einer Neuorganisation zustande kommt, weil es, wie Schumpeter ausführt, über die Idee hinaus auf die Umsetzung im ökonomischen Prozess ankommt (vgl. Schumpeter 1911/64: 1-87; 88-139). Weil jedoch die wirtschaftliche Entwicklung ohne Innovation nicht auskommt, die Gesellschaft auf diese Art der Kreativität angewiesen ist, kann man sagen, dass Innovation in der Gegenwartsökonomie quasi-religiöse Züge zeigt. Kreativität ist insofern Ersatzreligion einer säkularisierten Gesellschaft, als Kreativität als Wert um ihrer selbst willen betrachtet wird und es im Wirtschaftsleben Rituale gibt, bei denen Kreativität in den Mittelpunkt gestellt wird. Dazu gehören beispielswiese Brainstorming-Meetings in Unternehmen, Kreativitätsseminare für Führungskräfte oder Rekruiting-Veranstaltungen für Nachwuchsführungskräfte, sogenannte „High Poten21

tials“. Die zentrale Figur in der Theorie der wirtschaftlichen Entwicklung bei Schumpeter ist der „Unternehmer“. Fasst man Schumpeters Unternehmer-Konzept nicht wörtlich auf, sondern schließt auch den „Intrapreneur“ im Unternehmen ein, der Veränderungen in seiner Organisation initiiert, schließt man darüber hinaus Unternehmen und andere Organisationen im wirtschaftlichen Feld als kollektive Akteure ein, die Innovation zu leisten bestrebt sind, dann ist mit der Kategorie des Unternehmers generell das kreativ handelnde Subjekt gemeint, das sich konsequent von jeder Homogenität, von Identitätszwängen, von Normierungen und von Repetition abwendet und das kontinuierlich nach dem Neuen sucht, und zwar nicht nur als theoretische Kategorie, sondern auch in Bezug auf seine Umsetzung in die Wirklichkeit (vgl. Bröckling 2004: 141-143). 5 Der kreative Prozess der Innovation ereignet sich jedoch nicht unter Abwesenheit von oder indifferent gegenüber den institutionellen Gegebenheiten, sondern steht vielmehr im Kontext bestimmter struktureller Verhältnisse, etwa denen der liberalen Marktwirtschaft, wie man sie in den Vereinigten Staaten findet, oder denen der koordinierten Marktwirtschaft, wie man sie in Deutschland oder auch in Japan findet. Wie Hall und Soskice mit ihrem Varieties-ofCapitalism-Ansatz gezeigt haben, wirken die Institutionen im Umfeld des Wirtschaftsunternehmens so zusammen, dass sie bestimmte Innovationsstrategien erleichtern und befördern, andere jedoch erschweren oder ganz verhindern (Hall/Soskice 2001: 1-68).6 Hinzu kommt, dass Innovation als Weg von der Erfindung zu ihrer ökonomischen Umsetzung innerhalb und zwischen Wirtschaftsunternehmen einen Prozess mit fester Abfolge der Ereignisse darstellt, und dass auch die Wirkungsweise von wirtschaftlich relevanten Erfindungen bestimmten zeitlichen Gegebenheiten folgt. Der Prozesscharakter von Innovation, bei der kreatives Handeln am Beginn eines Innovationsprozesses steht, bei dem eine Erfindung in ein Patent, ein marktfähiges Produkt, eine neue Organisationsform usw. umgesetzt wird, wird bei Schumpeter im Hinblick auf die wirtschaftliche Entwicklung besonders hervorgehoben (vgl. Schumpeter 1911/64: 1-87; 88-139). Entsprechend beginnt Schumpeter mit der Unterscheidung zwischen statischer und dynamischer Volkswirtschaft. Eine statische Volkswirtschaft ist eine Verkehrswirtschaft mit privatem Eigentum und Geldwirtschaft, in der alle Wirtschaftssubjekte wechselseitig voneinander abhängig sind und jedes Produkt aufgrund der Erfahrung des Herstellers seinen Käufer findet. Dagegen ist eine dynamische Volkswirtschaft dadurch gekennzeichnet, dass der gewohnte Kreislauf der Wirtschaft verändert wird, indem Ressourcen 5

Die Idee, dass der Kapitalismus als Ersatzreligion der modernen, säkularisierten Gesellschaft interpretierbar ist, ist weder neu, noch stammt sie von mir. Schon in seiner berühmt gewordenen Studie über „Protestantische Ethik und den Geist des Kapitalismus“ (1905/2002) erkennt Weber die Akkumulation von wirtschaftlichem Wohlstand um ihrer selbst willen als Anzeichen dafür, dass sich die kapitalistische Wirtschaftsform von ihrem religiösen Fundament entkoppelt hat; von dieser Feststellung ist es nicht weit bis zu der Idee, dass für bestimmte Menschen ihrerseits religiösen Charakter hat, beispielsweise eben für den Fachmenschen ohne Verstand und den Genussmenschen ohne Herz. Deutlicher wird Benjamin in seinem Textfragment über Kapitalismus als Religion. Dort schreibt Benjamin: „Im Kapitalismus ist eine Religion zu erblicken, d.h. der Kapitalismus dient essentiell der Befriedigung derselben Sorgen, Qualen, Unruhen, auf die ehemals die so genannten Religionen Antwort gaben. Der Nachweis dieser religiösen Struktur des Kapitalismus, nicht nur, wie Weber meint, als eines religiös bedingten Gebildes, sondern als einer essentiell religiösen Erscheinung, würde heute noch auf den Abweg einer maßlosen Universalpolemik führen. Wir können das Netz, in dem wir stehen, nicht, zuziehn. Später wird dies jedoch überblickt werden.“ (Benjamin um 1921, herausgegeben von Dirk Baecker 2004:15). 6 Vgl. dazu Abschnitte 1.2 und 1.3.

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aus bisherigen Verwendungszwecken abgezogen und für neue Verwendungen eingesetzt werden. Die Kreislaufwirtschaft bezeichnet Schumpeter als statisch, weil dort eindeutig bestimmt ist, welche Güter und Dienstleistungen zu produzieren sind, welche Ressourcen dazu auf spezifische Weise zu kombinieren sind und über welchen Absatzkanal ein Produkt vertrieben wird. Erstens ist der Bedarf an Gütern und Dienstleistungen bekannt, denn er bleibt abgesehen von saisonalen Schwankungen langfristig konstant. Beispielsweise lässt sich der Bedarf an Nahrungsmitteln pro Kopf errechnen, wenn die Ernährungsgewohnheiten der Bevölkerung eines über die Jahreszeiten hinweg konstant bleiben. Dann weiß jeder Landwirt, welche Menge von welchem Getreide je nach Saison benötigt wird. Zweitens ist bekannt, nach welchem Muster und für welche konkreten Verwendungszwecke Güter und Dienstleistungen herzustellen sind, welche spezifischen Kombinationen von Ressourcen – Geld, Maschinen und Werkzeuge sowie Produktionstechniken generell, Energie, Arbeitskraft7, Kompetenz8, Boden9 – erforderlich sind. In der Kreislaufwirtschaft ist die Produktion von Waren und Dienstleistungen reine Routine. Sie erfolgt immer nach demselben Schema. Jedesmal erfordert sie dieselbe Kombination vorhandener Ressourcen. Drittens finden die Güter und Dienstleistungen immer auf demselben Weg zum Kunden. Weder müssen sich Kunden neue Bezugsquellen für ihre Güter und Dienste suchen, noch stehen Unternehmen vor der Notwendigkeit, sich neue Vertriebswege zu erschließen oder neue Absatzmärkte zu schaffen. Diese Volkswirtschaft wird zwar über den Marktmechanismus von Angebot und Nachfrage reguliert – so gibt es beispielsweise Kooperation und Konkurrenz zwischen den Anbietern gleichartiger Produkte – aber die Mengen der konsumierten Güter und Dienstleistungen bleiben immer dieselben. Der statische Charakter der Kreislaufwirtschaft zeigt sich darin, dass die Produktion in jeder Wirtschaftsperiode routinemäßig mit denselben Produktionsmitteln, Produktionsprozessen, Arbeitsschritten, Energiemengen und Bodenvorräten und denselben Verwendungszwecken und Kundenkreisen zugeführt wird, wobei in jeder Wirtschaftsperiode dieselben Bezugsquellen und Vertriebswege genutzt werden. Volkswirtschaftlich betrachtet existiert kein Wirtschaftswachstum, sondern nur die Variation des immer Gleichen (vgl. Schumpeter 1911/ 64: 1-87). Mit Einführung des Geldes als Tauschmittel lässt sich das Bild der Kreislaufwirtschaft präzisieren: Indem man die Geldwirtschaft einführt, ordnet man jeder Verwendungsmöglichkeit von Ressourcen für Güter und Dienste einen numerischen Wert zu, und die Relationen zwischen den Werten sind bekannt. Begreift man den Nutzgewinn als Wertausdruck der realisierten Verwendungen und die Kosten als Wertausdruck für die nicht-realisierten Verwendungen, 7

Gemeint ist menschliche Arbeitskraft im Sinne der physischen Arbeitkraft oder von Routinearbeiten, die manuell oder als geistige Routinearbeit erledigt werden (vgl. Reich 1996). Kompetenz ist ein wesentlich komplexerer Begriff als Arbeitskraft, weil er nicht auf die physischen Arbeitsfähigkeiten beschränkt ist, sondern auch kognitive Fähigkeiten erfasst, also Intelligenzen und Kompetenzen von Akteuren im Unternehmen. Gemeint sind insbesondere spezialisierte Kenntnisse, Arbeitsfähigkeiten und Problemlösungskompetenzen von Personen und Gruppen. 9 Grundstücke, Fabrikgebäude, Produktionsanlagen – insgesamt die materielle Ausstattung, die für Wertschöpfungsprozesse eingesetzt werden kann und die Akteure disponieren können. 8

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so kommen Nutzgewinn und Kosten in der Kreislaufwirtschaft zum Ausgleich. Daraus folgt, dass die letzte Teilmenge jedes einzelnen Produkts ohne Nutzgewinn über die Kosten hergestellt wird. Im Verlauf des Produktionsprozesses tritt keine Werterhöhung ein, sondern es bleibt lediglich bei einer Transformation bestehender Werte in einen anderen physischen Zustand. Wie werden aber solche Werte gemessen? Jeder Ware oder Dienstleistung ist ein bestimmter Preis zugeordnet, der in Abhängigkeit von Angebot und Nachfrage zustande kommt und auf individuellen Wertschätzungen beruht. Zwar können sich bei jedem Wirtschaftssubjekt die persönlichen Wertschätzungen verändern, oder in einer Bevölkerung könnte beispielsweise Nahrung im Verhältnis zu Mobilität wichtiger werden, aber dann handelt es sich lediglich um eine Schwerpunktverlagerung. Die „allgemeine Kaufkraft“ bleibt dieselbe (ebd.: 66). Die Leistung einer Organisation in einer solchen statischen Verkehrswirtschaft besteht darin, vorhandene Ressourcen, der Erfahrung und den gewachsenen Routine folgend, für den Bedarf einer Bevölkerung zu einer Ware oder Dienstleistung zu kombinieren, zu vertreiben und die Erträge unter den Organisationsmitgliedern zu verteilen. Dabei werden zwei Differenzierungen bedeutsam: zum einen zwischen den Eigentümern der unterschiedlichen Produktionsmittel Boden und Kapital und den abhängig Beschäftigten, die lediglich über ihre Arbeitskraft verfügen, zum anderen zwischen den Konsumgütern und den Produktivgütern (ebd.: 58). Bis hierher ist die Ökonomie statisch, weil sämtliche Werte und Preise, Wertsysteme und Preissysteme konstant sind. Das Wirtschaftsgeschehen strebt über den Marktmechanismus von Angebot und Nachfrage mit saisonalen Abweichungen dem Gleichgewichtszustand zu. Dabei ist der Gleichgewichtszustand nichts anderes als ein dynamischer Durchgangspunkt von Überangebot und Knappheit. Weil der Wirtschaftskreislauf der Volkswirtschaft jedoch jahrein jahraus in derselben Weise verläuft, bezeichnet Schumpeter sie als statisch (ebd.: 78; 94). Eine dynamische Wirtschaftsentwicklung lässt sich nicht allein mit dem Tatbestand erklären, dass sich die äußeren Daten der Volkswirtschaft verändern, etwa durch Bevölkerungswachstum oder Ernteausfälle. Um ein Beispiel aus der Gegenwart zu wählen, bewirkt eine Veränderung der Rohölfördemenge durch die Organisation erdölexportierender Länder allein keine wirtschaftliche Entwicklung, sondern stellt lediglich einen externen Faktor dar. Wirtschaftswachstum, das auch bei konstanten äußeren Bedingungen möglich ist, wird durch ökonomisch relevante Erfindungen ausgelöst, d.h. durch Innovationen, die produktive Revolutionen auslösen: „Und unsere Entwicklungstheorie ist – was nicht schon beschlossen ist in der Erkenntnis des Vorliegens einer besonderen Erscheinung – eine besondere und auf ihre Folgeerscheinungen und Probleme abgestellte Betrachtungsweise, eine Theorie der so abgrenzbaren Veränderungen der Bahn des Kreislaufs, eine Theorie des Übergangs der Volkswirtschaft von dem jeweils gegebenen Gravitationszentrum zu einem andern („Dynamik“) im Gegensatz zu einer Theorie des Kreislaufs selbst, zur Theorie der steten Anpassung der Wirtschaft an wechselnde Gleichgewichtszentren und ipso facto auch der Wirkungen dieses Wechsels.“ (Schumpeter 1911/64: 99)

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Innovation10 beinhaltet Schumpeter zufolge die Durchsetzung neuer Kombinationen ökonomisch relevanter Ressourcen wie Geld, Arbeitskraft, Energie und Boden zur Herstellung von Gütern und Diensten innerhalb einer Wirtschaftsorganisation oder im Verbund mehrerer Organisationen. Dies schließt eine Neukombination vorhandener Ressourcen gegen Widerstände, die überall dort erwartbar sind, wo Ressourcen aus ihren bisherigen Verwendungsen abgezogen werden, ausdrücklich ein. Eine Innovation muss es sich nicht notwendig eine Mehrleistung im rein quantitativen Sinne der Erhöhung der Leistungen unter Beibehaltung von Routinen beinhalten. Vielmehr kann Innovation auch darin bestehen, dass eine andere Art von Leistung erbracht wird als bisher. Erst durch den Innovationsprozess11, bei dem Ressourcen anders eingesetzt werden und bei dem gegebenenfalls Banken oder andere Kapitalgeber involviert sind, lassen sich neue Werte schaffen. „Produzieren heißt in diesem Sinne die vorhandenen Dinge und Kräfte kombinieren. (...) Anderes oder anders produzieren heißt die Dinge und Kräfte anders kombinieren. Soweit die neue Kombination von der alten aus mit der Zeit durch kleine Schritte, kontinuierlich anpassend, erreicht werden kann, liegt gewiß Veränderung, eventuell Wachstum vor, aber weder ein neues der Gleichgewichtsbetrachtung entrücktes Phänomen, noch Entwicklung in unserem Sinn. (...) Aus Gründen darstelleri10

Ähnlich, ohne jedoch explizit Rekurs auf Schumpeter (1911/64) zu nehmen, unterscheidet Robert Reich in seiner Zeitdiagnose „Die neue Weltwirtschaft“ (1996) zwischen Routinearbeitskräften, die weitgehend repetitiv und weisungsbezogen manuelle Arbeit und geistige Routinearbeit verrichten, und Know-How-Arbeitskräften oder „Symbolanalytikern“, deren Arbeit in der Suche nach Innovationsleistung, also konkret in „schöpferischer Zerstörung“ von Routinen besteht. Im Hinblick auf das Entstehen einer globalen, informatorischen Ökonomie vertritt Reich die These, dass vor allem die Routinearbeitskräfte in den hochentwickelten Industrieländern, deren Sozial- und Bildungskapital gering ist und die lokal oder regional gebunden sind, die Hauptverlierer der Globalisierung sind. Denn ihre Arbeitsplätze unter sind Kosten- und Wettbewerbsdruck gefährdet, weil sie leicht in die Schwellenländer verlagert werden können, zumal sie – in den USA – schlechter gegen die Risiken von Alter und Krankheit abgesichert sind als in den europäischen Wohlfahrtsstaaten. Die Arbeitsplätze der kreativen KnowHow-Arbeitskräfte, der Symbolanalytiker, sind zwar auch nicht lokal oder regional gebunden. Allerdings haben diese ein höheres Bildungs- und Sozialkapital, sind deswegen also weniger leicht ersetzbar. Außerdem können sie leichter zwischen den Wirtschaftsregionen pendeln. Know-How-Arbeitskräfte profitieren sowohl im Hinblick auf ihre Verdienstmöglichkeiten als auch bezüglich ihres Status und ihre soziale Sicherheit von der Globalisierung oder können zumindest ihre Lebenslagen stabil halten, weil sie sich auf privater Basis besser gegen die Risiken von Alter und Krankheit absichern können als viele der Routinearbeitskräfte. Reich verbindet die Frage nach den Gewinnern und Verlierern also direkt mit der Frage, ob sich die Menschen ausreichend finanzielles, soziales Kapital und Bildungskapital ansammeln können, um im Erwerbsleben eine kreative Aufgabe übernehmen, Innovation als „schöpferische Zerstörung“ bestehender Routinen betreiben zu können, oder nicht. 11 In der vorliegenden Studie verwende ich den Begriff der „Innovation“ ökonomisch, also mit Bezug auf seine wirtschaftliche Relevanz und mithin auch für seine Relevanz in Bezug auf die soziale Entwicklung einer Gesellschaft. Andere Autoren verwenden den Begriff statt dessen mit Bezug auf wissenschaftliche Erkenntnisse, für wissenschaftliche Auszeichnungen (z.B. Copley Medaille, Nobelpreis) vergeben werden, sowie mit Bezug auf Erfindungen als „technisch fertige Ideen“, die patentiert werden können, z.B. Hollingsworth (2003). Hollingsworth untersucht, welche organisationalen Bedingungen Basisinnovationen befördert – allerdings in Bezug auf das Wissenschaftssystem, nicht in Bezug auf Wirtschaftsunternehmen. Bei der Definition größerer Durchbrüche in der Wissenschaft – also von Basisinnovationen im Unterschied zu kleinen, inkrementalen Innovationen – bezieht sich Hollingsworth explizit auf Kuhns (1962) Theorie der wissenschaftlichen Revolutionen, bei der Wissenschaftler radikal neue Ideen oder Methoden entwickeln, mithilfe derer sich bisher unlösbare Probleme bewältigen lassen. Mit Bezug auf die Unterschiedlichkeit der Verwendung des Begriffs „Innovation“ möchte der Leser die nachschauende Grafik beachten. Sie veranschaulicht, dass ich Innovation in dieser Arbeit stets mit Rekurs auf Schumpeters „Theorie der wirtschaftlichen Entwicklung“ (1911/1964) im Hinblick auf seine ökonomische Relevanz begreife, wobei mir die Analogie zu Kuhns Theorie der wissenschaftlichen Revolutionen insofern geeignet erscheint, um zu begreifen, dass Innovationsprozesse ein Element von Schaffung von etwas Neuem durch Zerstörung der etablierten Routinen und Strukturen enthalten, wissenschaftliche Neuerungen also ebenso wie Innovation im ökonomischen Bereich, ein revolutionäres Element beinhalten – nur dass dieses in der Wissenschaft in einem Paradigmenwechsel Ausdruck findet (vgl. Grafik 1).

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scher Zweckmäßigkeit meinen wir fortan nur diesen Fall, wenn wir von neuen Kombinationen von Produktionsmitteln sprechen.“ (Schumpeter 1911/64: 100)

Wie sieht der Prozess der Neuschaffung von Werten aber konkret aus, und welche Rolle spielen dabei Wirtschaftsunternehmen (Produktion) und Kreditgeber (Kaufkraft)? „1. Herstellung eines neuen, d.h. dem Konsumentenkreise noch nicht vertrauten Gutes oder einer neuen Qualität eines Gutes. 2. Einführung einer neuen, d.h. dem betreffenden Industriezweig noch nicht praktisch bekannten Produktionsmethode, die keineswegs auf einer wissenschaftlich neuen Erfindung zu beruhen braucht und auch in einer neuartigen Weise bestehen kann mit einer Ware kommerziell zu verfahren. 3. Erschließung eines neuen Absatzmarktes, d.h. eines Marktes, auf dem der betreffende Industriezweig des betreffenden Landes bisher noch nicht eingeführt war, mag dieser Markt schon vorher existiert haben oder nicht. 4. Eroberung einer neuen Bezugsquelle von Rohstoffen oder Halbfabrikaten, wiederum: gleichgültig, ob diese Bezugsquelle schon vorher existierte (...) oder ob sie erst geschaffen werden muss. 5. Durchführung einer Neuorganisation, wie Schaffung einer Monopolstellung (z.B. durch Vertrustung) oder Durchbrechen eines Monopols“ (Schumpeter 1911/64: 100 f.).

Über Schumpeter hinausgreifend, aber dennoch den Prozesscharakter von Innovation hervorhebend kann man Innovationsprozesse zyklisch im Mehrebenensystem von Unternehmen, wirtschaftlichem Feld und der Zwischenebene der interorganisationalen Kooperation, also der als Innovation im Netzwerk begreifen. 12 Ausgangspunkt der Überlegung sind dann die Mikroebene des Unternehmens sowie die Zwischenebene der interorganisationalen Kooperation. Am Beginn des Innovationsprozesses steht eine Erfindung mit wirtschaftlichem Potenzial oder eine Idee, die ähnlich wie eine Erfindung wirtschaftlich genutzt werden kann. Ausschlaggebend ist die Realisierung einer Erfindung bei der Herstellung neuartiger Güter oder Dienste im Unternehmen. Erst die Produktion neuer Güter bzw. die Realisierung neuer Produktionsverfahren, welche auf die Erfindung folgt, impliziert, dass Ressourcen – Geld, Maschinen und Werkzeuge, Energie, Arbeitskraft, Kompetenz, Boden – aus ihren bisherigen Verwendungsquellen abgezogen werden. Schumpeter unterscheidet fünf Typen der Neuverwendung von Ressourcen, die zunächst auf das Unternehmen bezogen ist, aber auch auf interorganisationale Kooperation und auf das organisationale Feld als Ganzes übertragen werden kann. Erstens die Einführung neuer Produkte oder Produktangebote, zweitens die Einführung oder Verbesserung von Produktionsmethoden (Prozessinnovation), drittens die Erschließung neuer Absatzmärkte (Vertriebswege), viertens die Eroberung neuer Bezugsquellen (Reorganisation der Kunden-Lieferanten-Beziehungen) und fünftens die Durchführung einer 12

Es gibt eine Reihe neuerer soziologischer Studien, die Innovation als zyklische Prozesse konzipieren, unter anderem Nonaka und Takeuchi (1995: 68-108; 141-180), denen Zufolge Innovation im Wirtschaftsunternehmen als sich spiralförmig selbstverstärkender Prozess von neuen Verbindungen expliziter Wissensgehalte, Learning by doing, Feldaufbau und Dialog durch Externalisierung, Kombination, Internalisierung und Sozialisation organisiert ist. Die Autoren belegen anhand der Entwicklung des Brotbackautomaten in einem japanischen Unternehmen während der 1980er Jahre, wie Unternehmen mithilfe dieser Wissensspirale Produktinnovation erfolgreich betrieben haben. Ebenso konzipiert Hans-Jürgen Aretz (1999) organisationales Lernen als zyklischen Prozess, indem er Loops in den Mittelpunkt seiner Betrachtung stellt. Innovation als zyklischer Prozess, wie ich sie mithilfe von Schumpeters „Theorie der wirtschaftlichen Entwicklung“ (1911/1964) darstelle, impliziert die Dimensionen von Zeitlichkeit, wie sie in Innovationsprozessen, z.B. in Wissens- und Technologietransfers von Universitäts- und Forschungsinstituten in Unternehmen angelegt ist, ebenso wie die Dimension von Räumlichkeit, wie sie in der Mikro-Makroverbindung von Betrieb, Abnehmer-Zuliefer-Netzwerk oder von Unternehmen und deutschem oder amerikanischem Marktregime zum Ausdruck (vgl. Hall/Soskice 2001: 1-70) kommt.

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Neuorganisation, d.h. die Einführung neuer Organisationsstrukturen. Das Unternehmen kann als Keimzelle der wirtschaftlichen Entwicklung betrachtet werden, weil Innovationsprozesse von dort ausgehen. Ressourcenknappheit im Unternehmen bewirkt, dass Routinen aufgebrochen und durch neuartige Handlungsweisen ersetzt werden, damit zusätzliche Mittel frei werden. Das Unternehmen ändert seine Handlungsroutinen und bringt ein neues, andersartiges oder verbessertes Produkt auf den Markt, setzt dieses ab und erzielt im Erfolgsfall einen Unternehmensgewinn, d.h. realisiert eine Wertschöpfung. Das aus dem Wertschöpfungsprozess, bei dem auch eine Kreditvergabe stattfindet, resultierende Kapital, der Unternehmergewinn, kann erneut in andere Innovationsprojekte investiert werden. Dies macht den zyklischen Charakter des Innovationsprozesses auf Unternehmensebene aus (ebd.: 88-139). Bezogen auf die Gegenwartsökonomie ist Schumpeters Theorie der wirtschaftlichen Entwicklung um einen weiteren Aspekt zu ergänzen: Innovation als Neukombination vorahndener Ressourcen wird nicht von einzelnen Unternehmern und Unternehmen betrieben, sondern schließt Kooperation in interorganisationalen Netzwerken ein; auch der Markttausch auf Güter- und Finanzmärkten kann proaktiv zur Initiierung von Innovationsprozessen genutzt werden. Damit haben Unternehmen die strategische Option, ob eine konkrete Innovation innerhalb ihrer eigenen institutionellen und rechtlichen Grenzen stattfindet oder ob sie in den interorganisationalen Beziehungen von Abnehmer-Zuliefer-Netzwerk, dem Joint Venture oder dem Netzwerk von Forschung und Entwicklung stattfinden. Auf der Ebene der Märkte und organisationalen Felder setzt sich der zyklische Charakter der wirtschaftlichen Entwicklung fort. Diese rückt ins Blickfeld, sobald ein Unternehmen zum Zweck der Realisierung einer Erfindung einen Kredit bei einer Bank oder einem anderen Kapitalgeber aufnimmt oder am Finanzmarkt Kapital für die Realisierung seines Vorhabens akquiriert. Sowohl die Bankkredite als auch das am Kapitalmarkt akquirierte Venture Kapital sind aus Sicht der Theorie der wirtschaftlichen Entwicklung nichtproduzierte Produktionsmittel in Form von Geld, die in eine neue Kombination von Mitteln umgesetzt werden können: „Um überhaupt produzieren, seine neuen Kombinationen durchführen zu können, braucht der Unternehmer Kaufkraft. Und diese Kaufkraft wird ihm nicht (...) automatisch im Erlös der Produkte aus der vorangegangenen Periode dargeboten. Wenn er sie nicht zufälligerweise sonst besitzt (...), muss er sie sich „ausleihen“. Gelingt ihm das nicht, so kann er offenbar nicht Unternehmer werden. Darin liegt nichts Fiktives, sondern lediglich die Präzisierung allgemein bekannter Tatsachen. Er kann nur Unternehmer werden, indem er vorher Schuldner wird. Er wird zum Schuldner infolge einer innern Notwendigkeit des Vorgangs der Entwicklung, sein Schuldnerwerden gehört zum Wesen der Sache und ist nicht etwas Abnormales, ein durch akzidentelle Umstände misserklärliches Ereignis.“ (Schumpeter 1911/64: 148) „Die Sache dürfte klar sein: Der Vorgang läuft auf eine Komprimierung der vorhandenen Kaufkraft, des Inhalts der vorhandenen „Anteilsscheine“ und „Leistungsbescheinigungen“ hinaus. In einem Sinne entsprechen der neu geschaffenen Kaufkraft keine Güter und sicher keine neuen Güter. Aber es wird Raum für sie herausgedrückt auf Kosten der bisherigen Kaufkraft. (...) Die Kreditgewährung bewirkt eine neue Verwendungsweise der vorhandenen produktiven Leistungen vermittels einer vorhergehenden Verschiebung der Kaufkraft innerhalb der Volkswirtschaft.“ (ebd.: 156)

Hat ein Unternehmen nach dem erfolgreichen Abschluss des Innovationsprojektes, d.h. nach dem Verkauf der daraus entstandenen Güter oder Dienste, einen Gewinn erzielt, kann es den 27

Investitionskredit zurückzahlen. Ein Gläubiger, eine Geschäftsbank oder ein institutioneller Anleger ist eine Institution, die ihr Einkommen daraus bezieht, dass sie Zahlungsversprechen ausleiht (ebd.: 144). Aus Sicht der Geschäftsbank sowie anderer Investoren kommt es darauf an, Innovationsprojekte mit konkreten Aussichten auf Markterfolg zu finden. Nur damit kann neues Kapital geschaffen werden. Der Kapitalzins, der bei der bei der Kreditaufnahme anfällt, ist eine Risikoprämie für die Bank, den Gläubiger oder Investor. Ist der Abschluss des Innovationsprojektes erfolgreich, steht ihm zusätzliches Kapital in Höhe des Zinssatzes zur Investition zur Verfügung. Aus Unternehmenssicht beinhaltet der Investitionskredit, dass ein Unternehmen Ressourcen aus denkbaren zukünftigen Verwendungsen abzieht und sie in der Gegenwart einsetzt. Der Unternehmensgewinn kann als Einkommen aus Innovationsprojekten definiert werden (ebd.: 148). 13 Ein Innovationsprojekt erwirtschaftet im Erfolgsfall einen einmaligen Gewinn, der erneut in andere Innovationsprojekte investiert werden kann. Das unterscheidet den Unternehmensgewinn von anderen Einkommensformen, die regelmäßig beim Wirtschaftssubjekt eingehen, beispielsweise Renten. Der Unternehmergewinn macht den Unterschied zwischen der statischen und der dynamischen Volkswirtschaft aus; nur mit Unternehmergewinn ist wirtschaftliche Dynamik möglich. Ohne Unternehmergewinn existiert ausschließlich eine Kreislaufwirtschaft, in der es also keine Möglichkeit der wirksameren Verwendung vorhandener Mittel gibt, weil die vorhandenen Mittel traditionsgemäß in derselben Weise verwendet werden. Erst durch den Unternehmensgewinn wird genuin neue Kaufkraft geschaffen, die ein Wachstum der Volkswirtschaft aus sich selbst heraus gestattet. Dies gilt umso stärker, je mehr von der neu geschaffenen Kaufkraft erneut investiert und je weniger dem Konsum zufließt (ebd.: 207-293).

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Aus Gründen der Relevanz für die wirtschaftliche Entwicklung konzentriert sich Schumpeter nur auf den Investitionskredit und verzichtet auf eine Besprechugn des Konsumkredits.

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Realisierung eines Profits

Quelle: eigene Grafik

Realisierung eines Profits

Rückzahlung des Kredits an Banken oder Investor (zzgl. Zinsen)

U nt erneh m en

Kreditvergabe durch Bank/ Engagement von Investoren

Zinssatz

Kapitalbedarf oder Bedarf an Einsparung von Ressourcen

Abzug von Ressourcen aus bisherigen Verwendungen

Ressourcenbedarf

Ebene des Marktes/des organisationalen Feldes

Realisierung der Erfindung mithilfe der neuartigen Ressourcenverwendung

Technische Erfindung (Produkt/Verfahren) Wirtschaftliche Erfindung (Wertschöpfung) Soziale Erfindung (Durchführung einer Neuorganisation)

Vertrieb des neuartigen Produkts bzw. Anwendungen des neuen Verfahrens bzw. der Neuorganisation -> Wertschöpfung

Investition in neue Projekte

Abbildung 1: Logik und Dynamik der wirtschaftlichen Entwicklung nach Schumpeter

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Im Fortgang der Theorie der wirtschaftlichen Entwicklung widmet Schumpeter dem Tatbestand besondere Aufmerksamkeit, dass die wirtschaftliche Entwicklung zyklisch mit Boomphasen und Rezessionen verläuft, also phasenweise durch Fortschritt und Wachstum und durh Stagnation und Schrumpftums gekennzeichnet ist. Schumpeter grenzt sich kritisch von Erklärungsansätzen ab, die wechselnde äußere Faktoren für die fehlende Regelmäßigkeit der ökonomischen Entwicklung verantwortlich machen: Bevölkerungsentwicklung, Ernteausfälle, das Regierungshandeln, Kriegsängste. Von theoretischer Relevanz ist für ihn jedoch die innovationsgetriebene, durch Basisinnovationen hervorgerufene wirtschaftliche Entwicklung. Beispiele für solche langfristigen Zyklen der wirtschaftlichen Entwicklung sind die Erfindung der Eisenbahn, der Glühlampe, der Techniken der Stahlbearbeitung und Stahlhärtung, des Phonographen, des bewegten Bildes, der drahtlosen Kommunikation, der Luftfahrt oder – um sein Modell auf die Gegenwart zu beziehen – der Mikrochip. Charakteristisch für Basiserfindungen der Gegenwart ist, dass sie stark auf Spezialwissen der Mathematik, der Informatik, den Natur- und Ingenieurwissenschaften rekurrieren, sich ihr Anwendungsbezug häufig selbst dem Erfinder nicht unmittelbar erschließt, sondern sich erst sukzessive über Variationen und technischen Weiterentwicklungen an vorhandenen Produkten und Produktgruppen. Aber nicht von technischen Erfindungen als technisch fertigen Ideen, nicht von erteilten Patenten und wissenschaftlichen Publikationen allein geht die Schubkraft für die wirtschaftliche Entwicklung aus, denn diese „Vorleistungen“ sind notwendige, aber nicht hinreichende Bedingung für Innovation. Es braucht das komplexe Zusammenspiel zwischen wirtschaftlich relevanter Erfindung und ihrer institutionellen Umsetzung, innerhalb eines Unternehmens ebenso wie im Rahmen netzwerkförmiger interorganisationaler Kooperation: „Technology, thus, when absorbed into economic theory, is seen as an abstract homogeneous entity (li ke a black box) whose effects are measured through high productivity. But economic theory does not consider the different kinds of technology and the institutional settings in which they appear. At the other end of the scale, so to speak, engineers and businessmen think of technology as things, such as computers or telecommunications or CAD-CAM systems, and are little concerned with the underlying elements which account for their innovations and interconnections. “ (Bell 1994: 492)

Die Dynamik der ökonomischen Entwicklung entsteht mit anderen Worten durch die Transformation der Erfindung ausgehend von der technisch fertigen Idee in neue Kombinationen von ökonomischen Ressourcen. Das impliziert auch die Transformation von Wissen in neue Kombinationen von Mitteln (vgl. Bell 1994: 491 ff.; Schumpeter 1911/ 64: 318-369). Umgekehrt kann man Phasen der der Stagnation und Rezession mit ausbleibender Umsetzung technischer Erfindungen in neue Ressourcenkombinationen erklären. Wirtschaftskrisen infolge von fehlender Innovation sind klar zu unterscheiden von Krisen infolge von äußeren Störungen wie z.B. Naturkatastrophen – Ökonomen würden diese Faktoren unter „ceteris paribus“ abhandeln. Folgt man Schumpeter, sind Krisen infolge von äußeren Störungen nichts anderes als Reduzierungen oder Erhöhungen des Umsatzes, denn an der Struktur des Wirtschaftskreislaufs ändert sich ja nichts. „Echte“ wirtschaftliche Entwicklung beinhaltet Innovationen als Umsetzung technischer Ideen, wobei knappe Ressourcen aus ihren bisherigen Verwendungen

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abgezogen und anderweitig eingesetzt werden, womit sich der Wirtschaftskreislauf seiner Struktur nach ändert. 14 Eine besondere Form äußerer Störungen, die sich mittel- bis langfristig auf Unternehmensorganisationen auswirken können, ist die Veränderung der Institutionen im Umfeld von Wirtschaftsorganisationen, die bestimmte Innovationsstrategien erleichtern und ihren wirtschaftlichen Erfolg befördern, andere Innovationsstrategien erschweren oder unmöglich machen. Solche externen Veränderungen können beispielsweise durch die Veränderung der Geld-, Finanzund Wirtschaftspolitik politischer Regime auf nationaler Ebene oder durch die Errichtung supranationaler Regulierung, etwa auf europäischer und internationaler Ebene, induziert sein: Neue Gesetze, neue internationale Abkommen usw. können Auswirkungen darauf haben, welche Innovationsstrategien aus Sicht von Wirtschaftsunternehmen geeignet erscheinen und welche nicht. Die Institutionen von Finanzmarkt, Corporate Governance, industriellen Beziehungen, Berufsbildung und Weiterqualifikation, Arbeitsmärkten und Systemen der sozialen Sicherung verändern sich. Durch die Verflechtung der genannten Institutionen im Spannungsfeld von Wirtschaftssystem und politischem System, die ihrerseits in die Zivilgesellschaft eingebettet sind, entsteht ein Veränderungsdruck, der in eine bestimmte Richtung wirkt, sodass von isomorphischen Prozessen für ein organisationales Feld zu sprechen ist: von erzwungener, mimetischer und normativer Isomorphie. Sowohl die Wirtschaftsunternehmen als auch die Institutionen in ihrem Umfeld durchlaufen einen Strukturwandel in eine Richtung. Daraus geht hervor, dass die einzelne Wirtschaftsorganisation nicht autonom über die Richtung ihres eigenen Strukturwandels entscheiden kann, also nicht die Entwicklungsrichtung ihres eigenen Strukturwandels durch neue Entscheidungen, die an bisherige Entscheidungen anknüpfen, bestimmen kann, weil die genannten Institutionen in ihrem Zusammenwirken aus Perspektive des Wirtschaftsunternehmens Gegebenheiten mit äußerlichem, dinghaftem, zwingendem, nicht ad-hoc veränderbarem Charakter haben (vgl. Durkheim 1995: 115-141; DiMaggio/Powell 1983: 154-158; Hall/Soskice 2001: 1-68; Luhmann 2000: 39-79). Wie im folgenden Abschnitt zu zeigen sein wird, erfolgt der Strukturwandel von Unternehmen, in dessen Mittelpunkt die zuvor skizzierte Innovationstätigkeit steht, im Kontext eines übergreifenden, wesentlich durch Institutionen konstituierten strukturellen Kontextes, der bestimmte Strategien der Innovationstätigkeit besonders begünstigt, andere erschwert oder verhindert. Finanzmarktgetriebener Globalisierungsdruck und der Wandel wirtschaftlich relevanter Institutionen bewirken für die aus der Verflechtungssituation der „Deutschland AG“ inner-

14 Dies gilt, obgleich sich im Tagesgeschäft der Unternehmen und der Finanzmärkte dem Anschein nach beide Einflüsse vermischen und dann eine neue Eigenlogik und Eigendynamik entfalten, die sich psychologisch oder sozial-morphologisch, aber nicht volkswirtschaftlich begreifbar ist: „Hausse-Stimmung“, „Gründungsfieber“, Panik, Pessimismus oder Richtungslosigkeit an den Güter- und Finanzmärkten. Diese kurzfristigen Schwankungen sind Stimmungsschwankungen, die sich nicht auf die Innovationstätigkeit von Wirtschaftsunternehmen zurückführen lassen, sondern eher auf Spekulationen der Anleger auf der Basis von Börsennachrichten oder Gerüchten. Börsennachrichten, die keine bleibenden Effekte für die Unternehmen haben, sind aus Sicht dieser Studie nicht mehr als eine Randerscheinung. Theoretisch relevant ist daher nicht das Auf und Ab im Tagesgeschäft der Güter- und Finanzmärkte, sondern vielmehr die langfristige Entwicklung im Verlauf mehrerer Konjunkturzyklen (vgl. Schumpeter 1911/64: 318-369; Schmölders 1955: 39-43; 43-51; 51-63).

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halb der durch das deutsche Institutionenset bestimmten koordinierten Marktwirtschaft Unternehmen eine Veränderung der Strukturbedingungen, unter denen sie Innovation betreiben können. Diese gilt es im folgenden Abschnitt soziologisch zu betrachten.

1.2 Radikale und inkrementelle Innovation aus struktureller Perspektive In seiner Studie „The Competitive Advantage of Nations“ (1990/1998: 95 f.) hebt Porter hervor, dass die Innovationstätigkeit von Unternehmen strukturell stark durch Merkmale des heimischen Binnenmarktes determiniert ist. In einer idealtypischen Gegenüberstellung für nationale Volkswirtschaften führt Porter folgende, wechselseitig unterstützend wirkende Bestimmungsfaktoren nationaler Wettbewerbsvorteile ein: erstens Faktorbedingungen, zweitens Nachfragebedingungen, drittens Unternehmensstrategie, Stuktur und Konkurrenz, und viertens verwandte und unterstützende Branchen. Mit „Faktorbedingungen“ bezeichnet Porter die Position eines Landes bei den Produktionsfaktoren, die für den Wettbewerb in einer bestimmten Branche erforderlich sind, z.B. Vorhandensein von Facharbeitern, Verkehrsinfrastruktur. Mit „Nachfragebedingungen“ bezeichnet er Spezifika der Inlandsnachfrage nach Produkten und Diensten einer bestimmten Branche. Mit „Unternehmensstrategie, Struktur und Konkurrenz“ bezieht sich Porter auf landesspezifische Strukturbedingungen, etwa Gründung, Führung und innere Struktur von Unternehmen betreffend, ebenso wie inländische Konkurrenz. Der Begriff „verwandte und unterstützende Branchen“ bezieht sich schließlich auf das Vorhandensein oder Fehlen von Zulieferbranchen und verwandter Branchen vor Ort, auf die das Kriterium internationaler Wettbewerbsfähigkeit zutrifft. Verwendet man dieses Schema für eine Beschreibung charakteristischer Merkmale der Volkswirtschaften der Vereinigten Staaten und Deutschlands, sticht für die Vereinigten Staaten zuerst das Bild eines – nicht erst durch die Entwicklung der vergangen Jahrzehnte wie in der Europäischen Union – großen Wirtschaftsraumes mit einem sehr großen, autonomen, kaum auf Importe angewiesenen Konsumentenkreis, der die Orientierung der Unternehmen auf Massenmärkte befördert. Die Größe, die strukturelle Differenzierung und der daraus resultierende Grad der Autonomie des nordamerikanischen Absatzmarktes hat es den Wirtschaftsunternehmen bereits vor einigen Jahrzehnten gestattet, Produkte zur Marktreife zu entwickeln und ihren Markterfolg am heimischen Binnenmarkt zu erproben, bevor sie andere Märkte erschließen, deren Kunden ein anderes Kaufverhalten zeigen. Betrachtet man die Besonderheiten der Nachfragestruktur in den Vereinigten Staaten, zeigt sich, dass Kunden Kunden jedoch sehr auf Produktdifferenzierung für ihre spezifischen Anwendungen, auf Anpassung an wechselnde Kundenbedürfnisse, auf Produktspezifizierung auch für sehr unterschiedliche ökonomischen Verhältnisse achten, die aus den erheblichen sozialen Ungleichheiten innerhalb ihrer Bevölkerung resultieren. Der Tendenz nach sind die amerikanischen Kunden neuen Produkten gegenüber sehr aufgeschlossen. Sie gelten nicht als produkt- und markenkonservativ. Allerdings stellen sie hohe Ansprüche an Nutzen, Komfort und Design, unmittelbare Verfügbarkeit, guten und schnellen Service, und ein gutes Preis32

Leistungsverhältnis ist häufig das wichtigste Verkaufsargument (vgl. Porter 1998). Darüber hinaus zeigen sich Kunden markenbewusst und sind dem „Branding“ aufgeschlossen. Das heißt, amerikanische Kunden sind bereit, die eigene Identität durch spezifische Konsummuster mitzukonstituieren, wobei die Wahl einer Marke mit nur loser Verbindung zum Produkt und und den Produktmerkmalen zustande kommt, dafür mit starker Anbindung an ein Image. Über die Marke wird Vertrauen in Produkte entwickelt, die neu sind und die man deswegen nicht kennt. Durch die Marke wird ein bestimmter Lifestyle transportiert, der seinerseits einen Beitrag zu Identitätsbildung leistet und– neben vielen anderen Faktoren – zur Zugehörigkeit zu sozialen Gruppen beiträgt (vgl. Bourdieu 1987; Häusler/Fach 2004: 30-36). Keineswegs soll damit behauptet werden, dass die Kunden auf den Absatzmärkten der Unternehmen im Feld der „Deutschland AG“ gegen das Branding immun sind, doch erstens unterscheiden sich ihre Konsummuster im Hinblick auf Präferenzen in Bezug auf Qualität, Design und Preis dahingehend von denen Nordamerikas, dass die Akzente eher auf technische Aspekte von Produkt und Verfahren gesetzt werden. Zweitens sind die Konsumenten auf dem deutschen Markt Teil eines europäischen Marktes, der sich deutlich von dem Markt Nordamerikas unterscheidet, sodass man zu einem Zeitpunkt von unterschiedlichen Konsummustern und Moden in Nordamerika und Deutschland als Teil des Europäischen Marktes sprechen kann. Drittens schließlich folgen die Europäer dem amerikanischen Trend zum Branding mit einiger zeitlicher Verzögerung und zeigen in manchen Fällen andere Prioritäten. Konsumenten am deutschen Markt sind deutlich mehr technischen Daten der Produkte interessiert; sie würdigen eine herausragende Produktqualität sind bereit, und dafür mehr als einen Mindestpreis zu zahlen. Sind sie einmal von den Produkten eines Herstellers überzeugt sind, weisen sie eine bemerkenswerte Markentreue auf, während sie fremde Firmen und Marken häufig zunächst kritisch distanziert aufnehmen (vgl. Porter 1998). Charakteristisch für Unternehmen im organisationalen Feld der „Deutschland AG“ ist traditionell eine multiple Nischenstrategie der Entwicklung, Variation und technischen Optimierung vorhandener Produkte und Verfahrenstechniken. Dabei folgt die Innovation einer ausgeprägten naturwissenschaftlichen und technischen Orientierung. Produkte und Verfahrenstechniken sollen sehr hohen qualitativen Standards genügen oder sogar neue Standards setzen, beispielsweise im Hinblick auf Sicherheit, Umweltfreundlichkeit und Nachhaltigkeit. Traditionell haben die Unternehmen eine ausgeprägte Exportorientierung, die ebenfalls mit den Eigenschaften des Binnenmarktes erklärt werden kann. Denn vor Etablierung des Europäischen Binnenmarktes fehlte die kritische Absatzmarktgröße, die es den Unternehmen im organisationalen Feld der „Deutschland AG“ ab einer bestimmten Größe die Ausrichtung auf den heimischen Markt gestattete. Daraus erklärt sich neben der ausgeprägten Exportorientierung auch die verbreitete Wettbewerbsstrategie der Konzentration auf technisch anspruchsvolle Produkte in diversen Marktnischen, in denen Unternehmen im Feld der „Deutschland AG“ mit Spezialprodukten eine marktbeherrschende Positionin spezialsierten Nischen erreichten. Beispielsweise konstruiert und errichtet Siemens komplexe technische Systeme und Anlagen z.B. für Informations- und Kommunikationsnetzwerke, Automations- und Antriebssysteme, Industrieanlagen, Kraftwerke, medizinisch-technische Anlagen usw. Bayer – bis vor wenigen Jahren noch integriertes chemisch-pharmazeutisches Unternehmen – pflegte vier am 33

operativen Geschäft beteiligte Produktbereiche: Chemie (Spezialchemikalien), Polymere (Schäume), Gesundheit (insbesondere Pharmazeutika und Diagnostika) sowie Landwirtschaft (Fungizide, Herbizide und Pestizide). Mischkonzernstrategien wie die des Bayer-Konzerns bis Ende der 1990er Jahre haben den Vorteil, dass Synergien sowohl im Bereich der Abnehmer-Zuliefer-Beziehungen als auch im Hinblick auf Forschung und Entwicklung zwischen den verschiedenen Produktgruppen, Verfahrenstechniken und Geschäftsfelderngenutzt werden können. Unternehmen der chemisch-pharmazeutischen Industrie wie BASF, Bayer und Hoechst (inzwischen Teil von Sanofi-Aventis) benötigen für ihre eigene Produktion und zum Aufbewahren der produzierten Chemikalien unter anderem Reaktoren aus Stahl, Pumpen und Sicherheitssysteme, die von anderen Unternehmen im Feld der „Deutschland AG“ hergestellt werden können. Es bilden sich charakteristische Wertschöpfungsketten heraus, welche die für die industriellen Cluster Deutschlands konstitutiven Abnehmer-Zuliefer-Beziehungen, langfristig stabile, eher kooperative als kompetitive Netzwerke der Forschung und Entwicklung hervorbringen und somit auch das spezifische Leistungsprofil einzelner Regionen mitkonstituieren, wie beispielsweise das Cluster der metallverarbeitenden Industrie und des Maschinenbaus in Baden-Württemberg und das erst in den vergangenen zehn Jahren entstandene Biotechnologie-Cluster in Nordrhein-Westfalen (Heidenreich/Kraus 2003; Hilbert et al. 2003). Regionale Cluster bilden sich im Umfeld weniger dominierender Unternehmen heraus. Das geschieht dadurch, dass sich zum einen kleine und mittelständische Unternehmen ansiedeln, die nach geeigneten Marktnischen im Produktions- und Dienstleistungsbereich suchen, um sich für die dominierenden Unternehmen im Feld unentbehrlich zu machen, zum anderen herausfordernde Unternehmen etablieren, die ebenfalls eine dominierende Marktposition innerhalb des organisationalen Feldes anstreben. Der Öffnungs- oder Schließungsgrad des Marktes hängt stark vom historischen Alter der Branche abhängig. Ein eben erst durch das Vordringen in neue Technologieklassen geschaffenes Feld wie etwa in der Biotechnologie, in der Softwarebranche oder in den neuen Kommunikationstechnologien kann andere Innovationspotenziale vorweisen als historisch deutlich ältere Branchen wie z.B. der Automobilbau. Im ersteren Fall sind Offenheit und Unsicherheit für die beteiligten Akteure sehr viel höher einzuschätzen als im letzteren Fall. Der Strategie des Mischkonzerns im Fall der Großunternehmen von BASF, Bayer und Hoechst, wie sie in der Nachkriegszeit aus der IG Farben hervorgegangen und bis in die 1990er Jahre gewachsen sind, lag die Wettbewerbsstrategie, die dominierende Marktposition in den gewachsenen Industrien zu halten und dort Geld zu verdienen, solange es möglich ist, gleichzeitig aber die Entwicklungen in den entstehenden organisationalen Feldern nicht zu verpassen. Damit korrespondierte eine Innovationsstrategie, die auf die Nutzung von Synergien zwischen alten und neuen Produktgruppen und Verfahrenstechniken ausgerichtet war. Mit der Mischkonzernstrategie waren auch große Anreize verbunden, Forschung und Entwicklung im eigenen Haus als breit angelegte Forschungs- und Entwicklungstechnologien quer zu den bestehenden Produktgruppen zu koordinieren und sich gegebenenfalls mit anderen Firmen in langfristig stabilen, kooperativen, durch Vertrauen geprägten Forschungs- und Entwicklungsnetzwerken zusammen zu finden und kooperative, durch Vertrauen geprägte Kooperationen etablieren. Für Unternehmen der im organisationalen Feld der „Deutschland AG“ ist Konzentration auf ein hochspezialisiertes, technisch an34

spruchsvolles Produktangebot kennzeichnend, wobei sie ihre Größe und Marktposition durch die Vielzahl und Diversifizierung von Spezialprodukten aufrechterhalten. Damit ist eine enge Zusammenarbeit mit den Kunden erfordert, die häufig ebenfalls Wirtschaftsorganisationen sind. Viele der Unternehmen im organisationalen Feld der „Deutschland AG“ haben traditionell primär vermittelt mit dem Konsumenten als Kunden zu tun gehabt. Das erklärt zumindest partiell, warum die Unternehmen im Feld der „Deutschland AG“ ihren Kunden anders gegenüber stehen als die Unternehmen auf dem nordamerikanischen Binnenmarkt. Zwischen den Unternehmen bestehen enge vertikale und horizontale Verflechtungen, nicht nur im Hinblick auf Produkt und Verfahren in Produktion und Forschung und Entwicklung, sondern ebenfalls bezüglich der Kapitalverflechtung im Hinblick auf die Finanzierungsbeziehungen und die Personalverflechtung in Bezug auf die höchsten Führungs- und Kontrollgremien. Mit den divergierenden Wettbewerbsstrategien gehen bei amerikanischen und deutschen Unternehmen auch unterschiedliche strategische Ausrichtungen bezüglich der Innovation einher: In ihrem Buch Varieties of Capitalism führen Hall und Soskice (2001: 1-70) die Unterscheidung zwischen radikaler Innovation, die im strukturellen Kontext der Liberal Market Economies (LMEs) entstanden ist, und der inkrementalen Innovation ein, die sie den Coordinated Market Economies (CMEs) zuordnen. Die Autoren verleihen ihrer These Nachdruck, indem sie einen Branchenvergleich von Patentanmeldungen am Beispiel der Vereinigten Staaten von Amerika und Deutschlands vornehmen. Radikale Innovation beinhaltet Hall und Soskice zufolge fundamentale Umwälzungen des Produktangebots und der Verfahrensweisen wie z.B. das Vordringen in neue Technologien, verbunden mit dem Anspruch, neue Technologien marktfähig zu machen oder neue Märkte zu erschließen. Demgegenüber beinhaltet inkrementelle Innovation Variation und Optimierung des vorhandenen Produktangebots in einem kontinuierlichen Verbesserungsprozess sowie der Perfektionierung von Verfahrensweisen. Inkrementelle Innovation ist stark an technischer Perfektion orientiert. Der Branchenvergleich bezüglich der Patentanmeldungen zeigt, dass die USA bei Elektronik, Energiegewinnung, Baugewerbe, Halbleiterindustrie, Biotechnologie, Software und bei komplexen systembasierten Produkten wie Telekommunikation, Verteidigung und Raumfahrt führend sind. Dagegen ist Deutschland bei Spezialchemikalien, Polymeren, technischen Messgeräten und im Anlagenbau führend und bei Metallverarbeitung, Transportequipment, Druckmaschinen, Maschinenbau, Arzneimitteln, synthetischen Fasern, Industriegütern sowie Hochpreiskonsumgütern gut mit Patenten vertreten (ebd.: 44 f.). Die Begriffe von radikaler und inkrementaler Innovation von Hall und Soskice sind für eine tiefgreifende Untersuchung der Rolle von Wirtschaftsunternehmen bei Innovationsprozessen jedoch nicht überzeugend gewählt worden, zumal die Autoren sie dichotom verwenden: Erstens erfassen die Autoren mit ihren Begriffen nur die Pole eines Kontinuums möglicher Innovationsaktivität von Wirtschaftsunternehmen. Zweitens meinen sie mit radikaler Innovation lediglich fundamentale Innovation, d.h. das Vordringen von Unternehmen in neue Branchen und Technologieklassen. Mit inkrementeller Innovation bezeichnen sie - Verbesserung und Variation vorhandener Produkte und Verfahrenstechniken Step-by-Step. Damit decken sie 35

jedoch nur einen geringen Teil des Spektrums von tatsächlicher Innovationstätigkeit ab, denn wichtige Unterscheidungen wie die von interner und externer Koordinierung von Innovation, der Koordinierung über marktliche oder über stabile, kooperative, durch Vertrauen bestimmte Sozialbeziehungen fehlen. Ebenso nicht beachtet wird die fachlich-inhaltliche Ausrichtung, auf die im folgenden Abschnitt (Abschnitt 1.3) näher einzugehen sein wird. Drittens schließen sie die Kombination von radikaler (fundamentaler) und inkrementaler (schrittweiser) Innovation im konkreten Einzelfall des Unternehmens aus. Für die Zwecke der Untersuchung der Innovationstätigkeit von Wirtschaftsunternehmen als Entwicklungsstrategie für das Wirtschaftsunternehmen, das sich in einem organisationalen Feld zu positionieren hat, bietet sich daher eine Systematik an, welche das Kriterium von interner und externer Innovationstätigkeit sowie die Restrukturierung von Produktangebot, Verfahrensweisen und Arbeitsorganisation mitberücksichtigt. Außerdem sollte eine Systematik der Innovationsaktivität grundsätzlich beachten, dass die Organisation je nach wirtschaftlichen Erfordernissen, inhaltlichen Bereichen und fachlichem Zugang radikale (fundamentale) und inkrementelle (schrittweise) Innovation im Hinblick auf den Prozess der der Reorganisation von Produkt, Prozess und Organisationsstruktur kombinieren kann (vgl. Schumpeter 1911/64: 100 f.). Mithilfe dieser Dimensionen von „Koordinationsweise“ (marktlich versus nicht-marktlich, über kooperative Netzwerke oder über Hierarchien), „inhaltliche Orientierung“ (naturwissenschaftlich-technisch versus durch Management und Finanzexpertise bestimmt) und „Neuheitsgrad“ (fundamentale Innovation des Vordringens in neue Produktgruppen oder Technologieklassen versus schrittweise technische Optimierung vorhandener Produkte und Verfahrenstechniken) kann die Unterscheidung zwischen radikaler und inkrementeller Innovation verfeinert werden. Zwischenstufen können berücksichtigt werden. Mithilfe dieses erweiterten Schemas können Innovationsprofile der Unternehmensorganisation innerhalb einer Branche und über verschiedene Branchen hinweg auch genauer beschrieben und ihre Veränderung im Zeitablauf berücksichtigt werden. So kann man klarer herausarbeiten, dass es neben der im Varieties-of Capitalismus-Ansatz bei Hall und Soskice (2001) dargestellten Dichotomie von radikaler und inkrementeller Innovation als Idealtypen auch mittlere Strategien gibt, die sowohl Komponenten von radikaler als auch von inkrementaler Innovation enthalten. Ob es im konkreten Einzelfall opportun ist, eine bestimmte Innovationsstrategie zu wählen, hängt nicht nur von der Branche ab, sondern auch davon, ob sich ein Unternehmen in dem Institutionenarrangement der liberalen Ökonomie (LME) oder der koordinierten Marktökonomie (CME) befindet. Grund dafür sind die institutionellen Komplementaritäten: „The presence of institutional complementaries reinforces the differences between liberal and coordinated market economies. The concept of ‚complementary goods’ is a familiar one: two goods, such as bread and butter, are described as a complementary if an increase in the price of one decreases the demand for the other. However, complementaries may also exist among the operations of a firm: marketing arrangements that offer customized products, for instance, they may offer higher returns when coupled to the use of flexible machine tools on the shop-floor.“(Hall/Soskice 2001:17)

Die Institutionen der liberalen Marktwirtschaft begünstigen in ihrem Zusammenwirken Innovationsstrategien, die auf eine Annäherung an die radikale Innovation hinauslaufen. Dafür erschweren bzw. verhindern sie Innovationsstrategien, welche auf Annäherung an die inkre36

mentelle Innovation hinauslaufen. Die Institutionen der koordinierten Marktwirtschaft begünstigen in ihrem Zusammenwirken Innovationsstrategien, die auf eine Annäherung an den Extrempol der inkrementalen Innovation hinauslaufen. Dafür erschweren oder verhindern sie Innovationsstrategien, welche auf radikale Innovation hinauslaufen. Für die liberalen Marktwirtschaften istein Institutionenarrangement von Finanzmarktordnung, Corporate Governance und Finanzierung, industriellen Beziehungen, Arbeitsmärkten, interorganisationalen Beziehungen im F&E-Bereich und sozialen Sicherungssystem kennzeichnend, das Innovations- und Wettbewerbsstrategien von Unternehmen fördert bei denen flexible Anpassung an sich ständig ändernde Markterfordernisse im Mittelpunkt stehen. Die radikale Innovation des Vordringens in neue Technologieklassen und die Schaffung neuer Absatzmärkte wird besonders gefördert. Inkrementelle Innovation der sukzessiven Verbesserung und Variation vorhandener Produkte und Verfahrenstechniken mit naturwissenschaftlicher und technischer Orientierung wird dagegen erschwert, weil darin kein ökonomischer Nutzen gesehen wird (vgl. Hall/ Soskice 2001: 28-31; Grafik S. 32). Analog ist für die koordinierten Marktwirtschaften wie z.B. für das organisationale Feld der „Deutschland AG“ zu sagen, dass ein Institutionenarrangement von Finanzmarktordnung, Corporate Governance und Finanzierungsbeziehungen, industriellen Beziehungen, Arbeitsmärkten und sozialen Sicherungssystem vorliegt, bei Unternehmen gefördert werden, die eine marktbeherrschende Stellung innehaben und daran interessiert sind, das Marktumfeld möglichst stabil zu halten und wirksam zu kontrollieren. Die Institutionen im Umfeld der Wirtschaftsorganisation sind auf diese Bedürfnisse dieser incumbents abgestellt. Daher wird die inkrementelleInnovation der Verbesserung und Variation vorhandener Produkte und Verfahrenstechniken und der Erschließung neuer Anwendungstechniken strukturell gefördert, wohingegen die radikale Innovation des Vordringens in neue Technologieklassen und der Schaffung neuer Märkte erschwert oder ganz verhindert wird (vgl. Hall/Soskice 2001: 21-27; Grafik S. 28). Die folgende Tabelle enthält die daraus resultierende Typisierung der Innovationsstrategien:

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Tabelle 1: Typisierung der Innovationsstrategien für Unternehmen in den Vereinigten Staaten und Deutschland

Innovationsstrategie

Implementierungsstrategie

Liberale Marktwirtschaften (LMEs): Koordinierte Marktwirtschaften (CMEs): Deutschland Vereinigte Staaten ƒ Entwicklung neuer Produkte ƒ Technische Konstruktion von und Verfahrenstechniken, Produkt und ProduktionsanlaEntwicklung von Produkge steht im Vordergrund. tions-, Arbeits- und Geƒ Kontinuierliche, an Details schäftsprozessen orientierte Optimierung und ƒ Hervorbringen neuer ProVariation von Produkt und duktgruppen, Absatzmärkte Verfahrenstechniken und Technologien ƒ Erschließung neuer Anwenƒ Marktanalyse initiiert und dungsfelder für vorhandene steuert Innovationsprojekte Produkte und Verfahren ¾ Innovation initiiert und ¾ Produktion initiiert und steuert steuert die Produktion die Innovationsprozesse Marktwettbewerb und Networking. (Aufbau und Weiterentwicklung von Nicht-marktlich koordinierte, koopeSozialkapital und kulturellem Kapi- rative Beziehungen in relativ stabilen, tal auf individueller und kollektiver auf Dauer angelegten Netzwerken der Ebene durch projektbezogene PartiForschung und Entwicklung zipation an Innovationsnetzwerken)

Kennzeichnend für die Innovationstätigkeit der Unternehmen in den liberalen Marktwirtschaften ist eine Innovationsstrategie, bei der die Innovationstätigkeit die Produktionstätigkeit initiiert und steuert. Radikale Innovation betreibt man dadurch, dass man fundamental neue Produkte entwickelt, indem man ausgehend von den entwickelten Technologien in neue Technologieklassen vordringt, indem man sich über den Finanzmarkt im Zuge eines Joint Ventures, eines Mergers oder einer Akquisition Zugang zu dem Unternehmen eröffnet, indem man sich man neue Absatzmärkte erschließt oder neue Absatzmärkte schafft, oder schließlich, indem man eine Kombination dieser Maßnahmen anstrebt. Im konkreten Einzelfall geht dem Innovationsprojekt eine umfassende Analyse und Berechnung des Marktpotenzials in Relation zu dem erwartbaren finanziellen, technischen und personellen Aufwand voraus. Für die radikale Innovation ist also zu sagen, dass die Produktion ihrer Struktur nach der Innovation folgt – nicht umgekehrt. Damit korrespondiert die offensive, gezielte Nutzung des Marktes als Methode der Leistungskoordinierung sowohl innerhalb der institutionellen Grenzen des Unternehmens als auch über den Tausch am freien Markt. Gleichzeitig werden über den Tausch am Markt auch Interaktionsnetzwerke der Forschung und Entwicklung etabliert, auf welche die Akteure immer wieder rekurrieren können, und es werden soziale Kapitalien (Kontakte) und kulturelle Kapitalien (Know-How, Technologien) sowohl auf Seiten des Innovationsnetzwerks als Kollektiv als auch auf Seiten der daran beteiligten Akteure etabliert, die bestrebt sein müssen, sich im organisationalen Feld mit einer dominierenden Position fest zu etablieren. Gerade in marktlich koordinierten, durch Networking bestimmten Netzwerken, bei denen voluntaristisches, meist tausch- und interessengeleitetes Zusammentreffen der 38

Akteure aus verschiedenen Feldern im Vordergrund konstitutiv ist, wird eine hinreichende Dynamik befördert, um finanzielle Mittel als ökonomisches Kapital, Kontakte als soziales Kapital, Technologie und Know-How als kulturelles Kapital aus verschiedenen sachlichen Bereichen ad-hoc für ein Projekt miteinander zu kombinieren – und zwar anders als bei allen bisherigen Wirtschaftsprozessen, somit also aus bekanntem Wissen neues Wissen zu generieren (Bourdieu 1987; Burt 2001). Allerdings ist dies, wie bereits gezeigt wurde, nicht unabhängig von den Institutionen im Umfeld des Unternehmens, die im Zuge ihres Zusammenwirkens bestimmte Innovationsprofile spezifisch befördern, andere erschweren oder ganz verhindern (vgl. Hall/Soskice 2001). Kennzeichnend für koordinierte Marktwirtschaften (CMEs) ist im Gegensatz dazu, dass die Institutionen im Umfeld der Wirtschaftsunternehmen dahingehend zusammenwirken, dass sich für Wirtschaftsunternehmen Innovationsstrategien anbieten, die weitgehend dem Idealtyp der inkrementalen Innovation entsprechen. Das heißt, dass Unternehmen Anreize haben, Innovationsstrategien zu wählen, bei denen technische Entwicklung, Optimierung und Variation vorhandener Produkte und Verfahren im Vordergrund stehen – nicht Marktanalyse, Management- und Finanzexpertise. Ausgangspunkt für diese am Idealtyp der inkrementalen Innovation orientierten Prozesse der Neukombination vorhandener Ressourcen ist die Produktion, die im Hinblick auf Profitabilität und Effizienz verbessert werden soll, oder die für differenzierte Anwendungen eingestellt werden sollen – nicht fundamental neue Produkte und Verfahren, mithilfe derer das Unternehmen in neue Technologieklassen vordringt. Deshalb kann man davon sprechen, dass die Produktion der Innovation vorausgeht, und sogar davon, dass Innovation durch die Produktion gesteuert ist, weil die Initiative für Innovation von der naturwissenschaftlich-technischen Expertise der Experten für Produkt und Verfahren ausgeht. 15 15 Da der Fokus der Betrachtung in diesem Abschnitt auf der ökonomischen Perspektive – der Perspektive der Bedeutung von Innovation für wirtschaftliche Entwicklung – liegt, stehen in diesem Abschnitt Institutionenarrangements im Vordergrund, die in ihrem Zusammenwirken entweder radikale oder inkrementelle Innovation befördern, Innovationsaktivitäten im jeweils anderen Typ hingegen erschweren oder ganz verhindern. Bender (2005) begreift die Technologieentwicklung als Funktion von sozialen Arrangements. Er geht der Frage nach, wie soziale Arrangements die Technologieentwicklung beeinflussen. Da Bender die Technologie im Spannungsfeld zwischen den gesellschaftlichen Sphären von Ökonomie, Wissenschaft, Politik usw. verortet, entfällt für ihn, anders als für Heinze (2005) das Argument von einer„systemischen Eigenlogik“ (Heinze erklärt das Phänomen mit dem Argument der strukturellen Kopplung zwischen Ökonomie und Wissenschaft). Bender wählt vielmehr den Zugang eines akteurszentrierten Institutionalismus, um die Voraussetzungen für Innovation genauer zu fassen, Technologieentwicklung differenzierter als sozialen Prozess darstellen zu können. Werle (2005) merkt an, dass Innovationen, die physische Artefakte sowie technisches Know-how umfassen, nicht hinreichend differenziert analysiert werden. Teilweise, so Werle, würden lediglich Input-Faktoren für Innovation wie öffentliche und private Forschung und Entwicklung analysiert. Auf der Outputseite werde versucht zu messen, wie häufig oder selten Neues entsteht. So werden beispielsweise Patente gezählt, ohne dass die tatsächliche Anzahl von Innovationen gestiegen oder gesunken sei. Die Technik selbst werde zumeist lediglich in summarischen Kategorien erfasst. Dieses „Black-Boxing“ für technische Innovationen kann es, so Werle weiter, erleichtern, verallgemeinerbare Zusammenhänge zwischen institutionellen Konstellationen und technischen Innovationen aufzuzeigen. Außerdem verweist Werle auf die Problematik, dass ein institutioneller Determinismus insofern in eine Sackgasse führt, weil er ratlos bleibt, wenn es darum geht zu erklären, weshalb sich mit institutionellen Arrangements zunächst inkompatible technische Innovationen doch durchsetzen (ebd: 328). Der Autor unterbreitet den Lösungsvorschlag, technische Innovation nicht mehr grundsätzlich als abhängige Variable zu betrachten, sondern die Wechselwirkungen zwischen der institutionellen Entwicklung einerseits und der technischen Entwicklungen andererseits zu analysieren. Dadurch entstünde der heilsame Zwang, Kategorien und Mechanismen des technischen Wandels systematisch auf einander zu beziehen. Diese Wechselwirkung systematisch und allgemein zu untersuchen, würde den Rahmen dieser Untersuchung sprengen.

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Bezugnehmend auf Schumpeters Theorie der wirtschaftlichen Entwicklung (1911/1964) kann gesagt werden, dass das Erfolgskriterium der Markterfolg bleibt. Entscheidend ist die Umsetzung von der Realisierung einer Erfindung über die Umsetzung im Unternehmen bis hin zum erfolgreichen Absatz am Markt, wobei es sich sowohl um eine technische Erfindung, z.B. ein neues Produkt oder eine neue Verfahrenstechnik, als auch um eine wirtschaftliche Erfindung, beispielsweise z.B. die Reorganisation der Wertschöpfungskette innerhalb einer Fabrikationshalle, oder schließlich eine soziale Erfindung, etwa die Durchführung einer Neuorganisation, z.B. die Umwandlung einer Firma in eine neue Rechtsform oder die Durchsetzung eines neuen Modus der Arbeitsteilung, handeln kann. Schumpeters Theorie der wirtschaftlichen Entwicklung betrifft sowohl die inkrementelle Innovation der kontinuierlichen Verbesserung, Variation und Erschließung neuer Anwendungsmöglichkeiten ausgehend von den existierenden Produkten und Verfahrensweisen in kleinen, inkrementellen Schritten, als auch die radikale Innovation des Vordringens in neue Technologieklassen und des Erwerbs von KnowHow und Technologie über den freien Markt. Mit Schumpeter (1911/64) kann gezeigt werden, dass der Markterfolg als Erfolgskriterium für Innovation unverrückbar bestehen bleibt und dass etwa die erfolgreiche Patentierung einer Erfindung nur insoweit relevant ist als sie notwendige, aber nicht hinreichende Bedingung für den Markterfolg ist. Weiter ist mit Schumpeter festzustellen, dass eine Innovation, selbst wenn sie von der technischen und organisationalen Durchführung vollständig inhouse stattfindet, insofern doch über die institutionellen Grenzen des Unternehmens hinausreicht, als das Unternehmen, sobald es einen Investitionskredit aufnimmt, interorganisationale Beziehungen etabliert (oder bestehende interorganisationale Beziehungen erneuert), die den Rahmen darstellen, in dem die Innovation stattfindet (ebd.: 140-239).

1.3 Radikale und inkrementelle Innovation aus kultureller Perspektive In diesem Abschnitt ist näher auf das zuvor bereits angesprochene Moment von Kreativität im Prozess der Innovation (vgl. Abschnitt 1.1) und sowie auf kulturelle Faktoren als Bezugsrahmen einzugehen. Wo immer neue Produkte oder Verfahrenstechniken entworfen oder weiterentwickelt werden, wo immer eine Neuorganisation in Form einer Restrukturierung stattfindet, wo immer neue Bezugsquellen oder Vertriebswege erschlossen werden, kann man davon sprechen, dass Kreativität als Triebkraft für Innovation wirksam ist (vgl. Schumpeter 1911/64; Joas 1992). Damit ist bereits auf die kulturelle Perspektive verwiesen, die jeder Innovationsprozess beinhaltet, unabhängig vom Inhalt einer Innovationsleistung. Das trifft auch auf den Gegenstandsbereich der Chemie und Pharmazie zu, in welchem der Bayer-Konzern tätig ist. Damit stellt sich die Frage, warum und inwiefern im Bereich Chemie (und Pharma) eine kreative Leistung ist. Man könnte ja denken, die Chemie sei eine Wissenschaft, die keinen eigenständigen Beitrag zum Wirtschaftsprozess erbringen könne. Hier lässt sich jedoch einwenden, dass Kreativität in der Chemie breiten Raum einnimmt, weil diese Wissenschaft das Potenzial bietet, Materialien im Hinblick auf ihre Bausteine anders zusammenzusetzen als bisher und ganz neue Materialien zu hervorzubringen. Barry betont, dass Forschung 40

und Entwicklung in der Chemie über Entdeckungen hinaus Erfindungen beinhaltet. Zum Moment von Kreativität im Innovationsprozess in der Chemie schreibt er: „In one view, chemical R&D is driven by social and economic forces. It is a service science, after all. In this way, the products of chemical innovation (such as molecules) become shaped by a social and economic dynamic which was external to them. In Tarde’s terms, this form of socio-economic analysis operates with an excessively restricted conception of society. In effect, the activity of chemical substances is simply rendered inert, excluded from the active realm of society. In a second view, the chemist works to discover new materials. Indeed, the idea, that new molecules are discovered is implied by pharmaceutical chemists themselves who write research and development as a process of drug ‘discovery’. (…) Inevitably, the chemist, in discovering a new molecule, invents a new composite element. Invention leads to the actualization of the virtual, rather than the realization of the possible”. (Barry 2005: 54 f.)

Die kreative Leistung, die in den Forschungs- und Entwicklungsaktivitäten im Bereich der Chemie erbracht wird, erschließt sich erst im sozialen Kontext, wenn man Chemie als Wissensgehalte dekodiert, das von bestimmter sozialer und ökonomischer Relevanz ist. Zum Beispiel kann man ein neues Produkt im Pharmabereich, in dessen Entwicklung auch Wissen aus der Chemie einfließt, als Erfindung deuten, etwa in Verbindung mit der Behandlung schwerer, lebensbedrohlicher Krankheiten. „The molecules produced in the contemporary R&D take specific historical forms. The moledules produced in the contemporary pharmaceutical industry certainly are more or less purified as chemicals, but they are also enriched in new ways. They are part of increasingly dense, spatially enriched and changing informational and material environments formed not only just through laboratory synthesis and tests, but also through virtual libraries, computational models and databases. The notion of ‘informed materials’ (…) describes such novel entities very well.“ (Barry 2005: 64)

Obgleich Forschung und Entwicklung im Chemie- und Pharmabereich grundsätzlich überall möglich ist und auch zunehmend global koordiniert wird, ergibt sich bei einer Betrachtung dieser Branche dasselbe Bild wie bei einer allgemeineren Betrachtung über die verschiedenen Wirtschaftsbranchen hinweg, dass nämlich die am Prozess der Innovation beteiligten Akteure je nach kulturellem Hintergrund andere Schwerpunkte der Innovationsaktivität setzen. Dies kann man, wie im zweiten Abschnitt „Radikale und inkrementelle Innovation aus struktureller Perspektive“ (Abschnitt 1.2) kausal erklären, indem man das institutionelle Umfeld des Unternehmens als unabhängige Variable heranzieht. Dann kann man erklären, wie Finanzbeziehungen, Corporate Governance, industriellen Beziehungen, Anbietern von Berufsbildung und Weiterqualifikation, Arbeitsmärkten und Wohlfahrtssystemen aus dem Zusammenwirken radikale Innovation befördern und inkrementelle Innovation behindern oder umgekehrt. Darüber hinaus kann man aber vor dem Hintergrund des kulturellen Musters nach gemeinsam geteilten Denk- und Handlungsmustern suchen, die radikale oder inkrementelle Innovation legitimieren oder delegitimieren. Die zum Einsatz kommenden Innovationsaktivitäten und Strategien in einem Wirtschaftsunternehmen sind immer auch dadurch geprägt, welche Milieus und Berufsgruppen in einem Unternehmen, das seinerseits ja ein Feld mit einem Machtpol bildet, eine dominierende Stellung innehaben, also mit ihrem ökonomischen, sozialen und kulturellen Kapital in der Lage sind, in die höchsten Führungsgremien vorzudringen. Das Unternehmen seinerseits befindet 41

sich im strukturellen Kontext eines organisationalen Feldes mit einer „conception of control“, die das Vordringen der Vertreter einiger dominierender Professionen in die höchsten Führungsebenen der Unternehmen befördert und das Vordringen der Vertreter anderer Professionen erschwert oder verhindert. Diejenigen, die sich dort in der Position des incumbents befinden, haben es verhältnismäßig leicht, sich mit ihrem Paradigma durchzusetzen. Diejenigen, deren Sachverstand also noch nicht unhinterfragt zum gemeinsam geteilten Wissensvorrat der Organisation gehört, weil sie beispielsweise einer der zahlreichen neueren Berufsgruppen zugehören, befinden sich in der Rolle der „invaders“ (Eindringlinge). Auch sie sind bestrebt, sich mit ihrem Paradigma durchzusetzen, zunächst jedoch unter erschwerten Bedingungen, weil sie dafür in die Auseinandersetzung mit den Vertretern der etablierten Professionen eintreten und dort bestehen müssen. Für radikale Innovation, die im institutionellen Kontext der Vereinigten Staaten und Kanadas und im Unternehmenstyp der flexiblen Netzwerkorganisation (NWO) verbreitet ist, steht flexible Anpassung an wechselnde Bedingungen auf dynamischen, hart umkämpften Märkten im Mittelpunkt. Innovation ist durch den Anspruch der Innovateure bestimmt, neue Produktgruppen zu kreieren, in neue Technologieklassen vorzudringen oder neue Absatzmärkte zu erschließen. Explizit verfolgen die Innovatoren auch die Zielsetzung, eine fundamentale Neuorganisation etwa der Wertschöpfungskette für ein Produkt durchzuführen, eine tief greifende Reorganisation der Arbeits- und Geschäftsprozesse zu realisieren, die Organisationsstruktur und Finanzierungsbeziehungen an variierende Marktbedingungen anzupassen. Wie anhand der Patentierungsmuster gezeigt werden kann, lässt sich als Besonderheit amerikanischer Innovateure auf Gesellschaftsebene das Vordringen in neue Technologieklassen feststellen, das durch Neukombination verschiedener Wissensgebiete zustande kommt und oftmals von Startups getragen wird. Am deutlichsten zeigt sich dies seit Ende der 1990er Jahre bis zur Gegenwart für die Technologiefelder der Mikroelektronik und der Biotechnologie (vgl. Anhang, Abbildung 1; Quelle Frietsch 2003). Zweitens wird Innovation in offenen, dynamischen, weitgespannten und nach Wissensgehalten heterogen zusammengesetzten Netzwerken koordiniert, in denen die Akteure zumeist indirekt über Dritte interagieren und Experten aus verschiedenen Disziplinen für ein spezifisches Innovationsprojekt herangezogen werden, sodass interdisziplinäre projektbezogene Zusammenarbeit weit verbreitet ist. Ein Innovationsnetzwerk bezieht seinen spezifischen Wert gegenüber Innovation innerhalb eines Unternehmens aus der Schaffung von neuem Sozialkapital und kulturellem Kapital, das schließlich auch in die Schaffung neuen ökonomischen Kapitals münden soll, denn das entscheidende Kriterium für Erfolg oder Misserfolg am Ende eines Innovationsprojekts ist der Markterfolg. Innovationsnetzwerke beziehen ihren Mehrwert für die beteiligten Innovateure dadurch, dass die Netzwerkteilnehmer nur mit einem geringen Teil der anderen Netzwerkteilnehmer in direktem Kontakt stehen und Konkurrenz normal empfundenist. Erst dadurch, dass sie nicht alle anderen Teilnehmer persönlich kennen, besteht die Möglichkeit, Informationsasymmetrien aus der Kreuzung sozialer Kreise in einem spezifischen organisationalen Feld produktiv zu nutzen. Dies wiederum macht den spezifischen Anreiz für die Unternehmen aus, sich an diesen Innovationsnetzwerken zu beteiligen (Simmel 1992: 456-511; Granovetter 1982; DiMaggio/ Powell 1983; Burt 1992: 8-49; Burt 1992; Burt 2001; Lin 2001). 42

Eine wichtige Trägergruppierung dieser Innovationsnetzwerke sind kleine Startup-Unternehmen, deren Gründer und Geschäftsführer häufig junge Absolventen der führenden Hochschulen sind, also aus den Professional Schools, aus Ph.D-Programmen oder aus drittmittelfinanzierten Projekten kommen. Diese Gruppierung ist allerdings sehr stark auf finanzkräftige Anleger angewiesen, die sich ihren Erfindungen gegenüber aufgeschlossen zeigen, den zukünftigen ökonomischen Wert ihres Know-Hows und ihrer Technologien hoch bewerten und sich nicht risikoavers verhalten16 In diesem Innovationsumfeld gilt die Konkurrenz am freien Markt als wichtiges Werkzeug, um Innovationsprozesse zu koordinieren – dies bezieht sich sowohl auf Gütermärkte, die Abnehmer-Zuliefer-Beziehungen zwischen Lieferanten und Kunden konstituieren, als auch auf Finanzmärkte, über die Fusionen, Akquisitionen und Joint Ventures, also Kooperationsbeziehungen mit sachlich begrenztem Charakter wie etwa für Forschung und Entwicklung, zustande kommen. Grant und Baden-Fuller (2004) heben hervor, dass die Betrachtung des Wirtschaftsunternehmens als Wissensorganisation dazu geeignet ist, Fusionen und Joint Ventures unter einem neuen Blickwinkel zu betrachten, nämlich insofern, als Unternehmen auf der Suche nach Partnern mit strategisch bedeutsamem KnowHow und Technologie sind, die sich in das Wissen ihrer eigenen Organisation gut einfügen. So sprechen Grant und Baden-Fuller von accessing knowledge anstelle von aquiring knowledge. Damit ist gemeint, dass Fusionen, Akquisitionen und Joint Ventures nicht nur dazu geeignet sind, einmal entwickeltes Wissen zur Anwendung zu bringen, sondern auch dazu, neues Wissen zu entwickeln, indem Know-How und Technologie der beteiligten Partner anders als bisher miteinander kombiniert werden können (vgl. Simmel 1983: 61-78; Hayek 1969; Grant/Baden-Fuller 2004). Das enthebt ein Großunternehmen, das Zugang zu strategisch wichtigem Know-how sucht, aber keinesfalls von der Make-or-Buy-Entscheidung, vor Beginn eines Innovationsprozesses zu überlegen, ob es strategisch wichtiges Know-how oder neue Technologien in mehrjähriger Forschungsarbeit mit erheblichem Personal- und Kostenaufwand selbst entwickelt, oder ob es auf die Möglichkeit von Fusionen, Übernahmen, Joint Ventures oder Franchising zurückgreift. 17 Umgekehrt werden sich die Entscheidungsträger

16 Diese Startups sind finden in den liberalen Marktwirtschaften ein finanzkräftiges Umfeld vor, das neuen Ideen und Projekten gegenüber aufgeschlossen und bereit ist, das zur Realisierung der Ideen erforderliche Wagniskapital zur Verfügung zu stellen. Ein Beispiel für „radikale Innovation“ auf dem Feld der Software-Programmierung ist der Internetsuchdienst „Google“, gegründet im Jahr 1998 durch die Stanford-Doktoranden Larry Page und Sergey Brin. Grundlage ist das Verfahren „Page-Rank“, das die umfangreiche Linkstruktur des World-WideWeb als Grundlage für ein Ranking-System von Internetseiten nach Wichtigkeit verwendet. Bereits 1999 konnte das Unternehmen bekannt geben, dass es Eigenkapitalinvestitionen in Höhe von 25 Milliarden US Dollar akquiriert hatte. Heute ist „Google“ mit mehr als 3 Milliarden erfassten Webseiten der größte Internetsuchdienst der Welt und verarbeitet täglich über 200 Millionen Suchanfragen in 35 Sprachen, beschäftigt ca. 1000 Mitarbeiter. Seit 2003 führt „Google“ eine strategische Allianz mit Lycos Europe. Im Jahr 2004 hat Google den Gang an die New Yorker Börse vollzogen (Quelle: http://www.google.de/intl/profile.html) 17 Leifer und Kollegen haben in ihrer Studie über radikale Innovation während der zweiten Hälfte der 1990er Jahre beobachtet, dass die etablierten Großunternehmen auf dem Gebiet der radikalen Innovation häufig von Start-Ups in den Schatten gestellt werden; die Forscher erklären sich das Phänomen mit der Schwierigkeit von etablierten Großunternehmen, ihr technologisches Wissen schnell zu mobilisieren, Ressourcen aus bestimmten Bereichen abzuziehen und woanders einzusetzen (Leifer et al. 2000). Eine alternative Erklärung könnte lauten, dass radikale Innovation bei den Großunternehmen mit langjähriger Unternehmenshistorie mit erheblich größeren finanziellen, personellen und zeitlichen Aufwendungen verbunden ist als bei neu gegründeten Unternehmen, die häufig aus jungen Teams von Hochschulabsolventen projektbezogen zusammengesetzt sind und sich ebenso schnell wieder auflösen wie sie entstanden sind. Denn je nachdem, wieweit ein Unternehmen einem bestimmten

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eines Startup-Unternehmen etwa im Bereich der Software-Programmierung oder auf dem Feld der Biotechnologie, Gedanken machen, wann ein geeigneter Zeitpunkt gekommen ist, um mit dem selbst entwickelten Know-How Geld zu verdienen, indem man Nutzungslizenzen für Produkte oder Verfahrenstechniken, Joint Ventures mit Großunternehmen etabliert oder sogar auf externe Übernahmeangebote eingeht (vgl. Kühl 2005).18 Schließlich ist die Innovation drittens durch den amerikanischen Typ von organisationaler Rationalität geprägt, der Konkurrenzorientierung, gesunden Menschenverstand auf Grundlage des Alltagswissens und der lebensweltlichen Erfahrung beinhaltet und dessen weitere Säule der wohlverstandene Eigennutz ist – die Orientierung am eigenen Nutzen, Vorteil und Glück (vgl. Münch 1986, Bd. 1.: 282-368). Bevor man also mit Innovation beginnt, überprüft man, ob eine Idee patentierungsfähig, ob ein Produkt marktfähig oder ein Verfahren profitabel ist. Mithilfe der aufgezählten Merkmale lässt sich das Innovationsmuster der Vereinigten Staaten idealtypisch als „radikale“ Innovation bezeichnen. Keineswegs ist damit jedoch gesagt, dass es in amerikanischen Unternehmen keine „inkrementelleInnovation“ gibt. Hervorzuheben ist besonders, dass Innovation in liberalen Marktökonomien wie den Vereinigten Staaten und Kanadas in offenen Arenen des Wettkampfs um Kapitalien stattfindet. Die Innovationsnetzwerke sind dadurch entstanden und gewachsen, dass sich konkurrierende Akteure an zentraler Stelle im Netzwerk zu positionieren versuchen und in sich der Auseinandersetzung um Erfindungen und deren Umsetzung in Patente, Publikationen, Absatzmärkte oder Finanzkapital gegen andere Akteure durchzusetzen versuchen (vgl. Bourdieu 1981: 195-209; 1992: 132148; Castells 1996: 469-478). Die Innovationsnetzwerke sind offen, dynamisch, weitgespannt und sehr heterogen zusammengesetzt. Entsprechend hoch ist ihre Fähigkeit einzuschätzen, dynamische Veränderung infolge von Überschneidung mit anderen Netzwerken zu bewältigen, d.h. Interaktionsnetzwerken innerhalb und zwischen des Wirtschaftsunternehmen oder Innovationsnetzwerken und zwischen Hochschulen und Forschungsinstituten (vgl. Simmel 1992: 456-511; Granovetter 1982; Burt 2001). Die am Innovationsprozess beteiligten Akteure, die mit ihrem ökonomischen Kapital, ihrem Sozialkapital und ihrem kulturellen Kapital – insbesondere ihrem Wissen – in ein Innovationsnetzwerk eintreten, können im Zuge ihrer Tätigkeit, die mehr oder weniger kooperativ erfolgt, zusätzliche Finanzmittel, Kontakte, Kompetenzen und Problemlösungsfähigkeiten erwerben. Allerdings können sie ebenso das inveEntwicklungspfad in der Old Economy gefolgt ist, ist die Erschließung neuer Technologieklassen und Märkten extrem kostspielig und mit erheblichem Aufwand für Forschung und Entwicklung verbunden, außerdem sind die Projekte an feste, zuvor definierte Budgets gebunden; hinzu kommt schließlich, dass Großunternehmen Berichtspflichten haben, die weit über die von Neugründungen hinausreichen. Das gilt jenseits davon, ob es sich um deutsche oder um amerikanische Unternehmen handelt. 18 Als herausragendes Merkmal des globalen Finanzmarktkapitalismus hebt Stefan Kühl (2005) hervor, dass Startups der Mikroelektronik, der Software-Branche und der Biotechnologie bereits von Investoren aufgekauft werden, bevor sie aus eigener Kraft Gewinne erwirtschaften können. Allerdings bedeutet das nicht automatisch, dass der Voice-Kapitalismus durch den Exit-Kapitalismus abgelöst wird, sodass es nicht mehr auf Gewinne ankommt, sondern lediglich auf erfolgreiche Darstellung der Innovateure, die bestrebt sind, sich frühzeitig abzusetzen. Vielmehr kann es bedeuten, dass Großunternehmen stärker als noch in den 1990er Jahren bemüht sind, Innovation über den Finanzmarkt zu betreiben, indem sie Start-Ups aufkaufen und das benötigte Know-how erwerben, wenn es noch im Entstehen begriffen ist. Die Beschleunigung des Marktgeschehens ist Ursache dafür, dass sich Großunternehmen nicht mehr leisten können, bis neue Technologien sich am Markt etabliert haben, sondern müssen bereits zum Zeitpunkt der Markterschließung dabei sein, um nicht den Anschluss an die Technologieführer zu verlieren.

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stierte Geld, Sozialkapital und kulturelle Kapital verlieren. Der Anreiz für Unternehmen, Hochschulen und Forschungsinstitute, sich an Innovationsprozessen in offenen, dynamischen, weitgespannten und heterogen zusammengesetzten Netzwerken zu beteiligen, besteht selbstverständlich darin, vom Austausch mit externen Partnern zu profitieren. Nichtsdestotrotz ist das Risiko des Scheiterns immer gegeben (Parsons 1990: 51-154 Bourdieu 1981: 195-209; 1992: 132-148; Yount et al. 2004). Für Startup-Unternehmen besteht der Anreiz der Innovationsnetzwerke darin, potenzielle Geldgeber von ihren Ideen zu überzeugen und Wagniskapital zu akquirieren, Zugang zu den Interaktionsnetzwerken und Wissensbeständen der etablierten Großunternehmen in dem für sie relevanten organisationalen Feld zu bekommen. Für die etablierten Großunternehmen besteht der Anreiz darin, Know-How und Technologie der challengers kennen zu lernen, um die gegenwärtigen Entwicklungen nicht zu verpassen, eventuell auch gut qualifizierten Führungsnachwuch anzuwerben. Im organisationalen Feld der „Deutschland AG“ dominiert traditionell ein anderer Unternehmenstyp, nämlich die formal-rationalisierte Expertenorganisation, die in Bezug auf ihr Leitbild Kompetenz und Verantwortung in den Mittelpunkt stellt, Flexibilität bei der Anpassung der eigenen Strukturen an wechselnde Marktbedingungen und den Shareholder Value eher als nachrangig erachtet. Charakteristisch für die formal-rationalisierte Expertenorganisation ist die Strategie der inkrementellen Innovation. Im Mittelpunkt steht die technische Konstruktion von Produkt und Produktionsanlagen. Die Innovation von Produkt und Prozess orientiert sich an der technischen Zusammensetzung, Bau- und Funktionsweise von Produkt und Anlagen. Daher wird die Innovationstätigkeit primär durch den Anspruch der Innovateure vorangetrieben, existierende Produkte, Verfahrenstechniken und Organisationsweisen zu variieren, technisch zu perfektionieren und neue Anwendungsfelder zu erschließen. Da Unternehmen mit dem Fokus auf inkrementelle anstelle von radikaler Innovation seit der Nachkriegszeit entwickelt und sich mit ihrem Geschäftsmodell erfolgreich positioniert haben, ist es ihnen gelungen, das Marktumfeld so mitzugestalten, dass es ihrem Bedürfnis nach Stabilität entgegenkam. Das organisationale Feld der „Deutschland AG“ war gekennzeichnet durch politisch eingerichtete Märkte, durch Institutionencharakter des Unternehmens in Verbindung mit der Institution der Mitbestimmung, durch einen ermöglichenden Staat, durch Sozialpartnerschaft mit erheblichem Einfluss von Wirtschaftsverbänden, Gewerkschaften und professionellen Vereinigungen, eine traditionalistisch geprägte Wirtschaftskultur mit hoher Sparrate, sowie schließlich durch anspruchsvolle technische Standards abgefederten Wettbewerb (vgl. Streeck 1999: 14-22). Voraussetzung für Marktstabilisierung ist Erfüllung dreier Bedingungen für qualitätskompetitive Märkte: „1. Die weltweiten Produktmärkte für qualitätskompetitive Märkte müssen groß genug sein, um Vollbeschäftigung in einer Volkswirtschaft zu ermöglichen, die sich selbst von der Belieferung preiskompetitiver Märkte ausgeschlossen hat. (...). 2. Produktinnovationen müssen schnell genug stattfinden, um der Wirtschaft einen dauerhaften Vorsprung auf den qualitätskompetitiven Märkten zu sichern, in denen sie konkurriert. (...) 3. Das Arbeitskräfteangebot muss zu Umfang und Charakter der Nachfrage in qualitätskompetitiven Märkten passen. Es muß insbesondere in ausreichendem Maße jene Qualifikationen bereitstellen, die notwendig sind, solche Märkte zu bedienen; nur so ist das erforderliche Niveau an sozial akzeptabler Beschäftigung zu (...)“ (Streeck 1999: 25f.)

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Sind diese Bedingungen nicht länger erfüllt, weil sich in der Zwischenzeit ein Globalisie-

rungsschub auf den Absatzmärkten ereignet hat, Unternehmen sich einem intensivierten Preiswettbewerb ausgesetzt sehen und sich zunehmend schwer damit tun, die Kunden mit bahnbrechenden Erfindungen im Bereich der Produkt- und Verfahrensentwicklung zu überzeugen, gerät das organisationale Feld insgesamt unter Veränderungsdruck: Sie müssen sich auf den Preiswettbewerb einstellen. Das betrifft nicht nur challenger-Unternehmen, sondern auch und vor allem solche Unternehmen, die jahrzehntelang fest etabliert und als incumbents positioniert waren. Mithin sind die Innovationen, die ja zum Markterfolg führen sollen, extrem aufwendig und teuer. Je weiter die technologische Entwicklung in einer Wirtschaftsbranche bereits vorangeschritten ist, desto mehr gilt, dass Innovationen extrem kapitalintensiv und mit erheblichem Forschungs- und Entwicklungsaufwand verbunden sein müssen, und dass die Schaffung weniger Arbeitsplätze an hohe Investitionen geknüpft ist. So verhält es sich beispielsweise im Anlagenbau in der chemischen Industrie, wo Milliarden-Euro-Beträge investiert werden müssen, um eine zweistellige Zahl von Arbeitsplätzen in der Produktion zu schaffen. Deshalb wird für Unternehmen, die bisher eine marktbeherrschende Position innehaben, schwierig, sich neu am Markt zu positionieren, indem sie in neue Produktfelder und Technologieklassen vordringen. Traditionell jedoch sind deutsche Innovateure mit solchen Erfindungen erfolgreich, die den Technologiefeldern von Maschinenbau, Automobilproduktion, Chemie und Pharmazie entnommen sind, also Technologiefeldern, in denen das Leitbild von „Kompetenz und Verantwortung“ in Verbindung mit einer ausgeprägten technischen Orientierung und einer Kultur des Fachwissens dominiert. Dies kann man beispielsweise anhand der Triade-Patente zeigen, also anhand von Patenten, die zusätzlich zum Inland in den jeweils verbleibenden Auslandsmärkten der Triaderegion USA-Europa-Japan angemeldet werden. Triade-Patente repräsentieren in der Regel Erfindungen mit hoher technischer und wirtschaftlicher Bedeutung und spiegeln gleichzeitig die internationale Ausrichtung der anmeldenden Unternehmen wider (Frietsch 2004: 1). Vergleicht man die deutsche Position mit der Japans und der USA in absoluten Zahlen, so zeigt sich, dass die Japaner etwa doppelt so viele Patente in Europa anmelden wie deutsche Unternehmen in Japan; und dass die USA nochmals 50 Prozent mehr Triade-Patente vorweisen können (ebd.: 4). Darüber hinaus ist die Selektivität der Triadepatente auffallend. Deutsche Unternehmen treten nur mit einem Teil ihrer Technologien und Produkte auch am japanischen Markt auf, wobei sicherlich die unterschiedliche Attraktivität der Absatzmärkte für die Produkte zu berücksichtigen ist (ebd.: 9). Ein Vergleich der Innovationsprofile nach Technologiebereichen führt zu folgendem Ergebnis: Im Bereich der Elektronik weisen japanische Unternehmen die höchste Spezialisierung auf. Die Kategorie Instrumente enthält neben Mess- und Prüftechnik auch die Feinmechanik.Obgleich die USA und Großbritannien leichte Vorteile haben, hat Deutschland im Zeitraum zwischen dem Jahr 1991 und 2001 aufgeschlossen. Im Bereich der Chemie konnte Frankreich zum Ende der 1990er Jahre seine Führungsposition fester etablieren. Deutschland befindet sich in einer mittleren Position. Beider Prozesssteuerung ist Deutschland jedoch besonders gut mit Triade-Patenten positioniert. Der Maschinenbau ist eine traditionelle Stärke Deutschlands, nicht nur im Inlandsgeschäft, sondern auch im Hinblick auf den Export. Der Vergleich der Triadepatente 46

zeigt, dass Deutschlands Spitzenposition nicht nur auf einzelne Absatzmärkte beschränkt ist, sondern man von weltweiter Technologieführerschaft ausgehen kann. Seine Spitzenposition im Bereich Maschinenbau konnte Deutschland während der zweiten Hälfte der 1990er Jahre noch ausbauen. Allerdings sind die Japaner Deutschland am dichtesten auf den Fersen (ebd.: 7). Konsumgüter eignen sich insgesamt betrachtet schlechter für Exporte, denn hier nehmen überwiegend inländische Anbieter eine starke Position ein, weil in diesem Bereich kulturelle Besonderheiten eine große Rolle spielen. Deutschland befindet sich hier in einer mittleren Position. Auffallend im Bereich der Konsumgüter sind die unterdurchschnittliche Spezialisierung der Vereinigten Staaten und die besonders niedrige Spezialisierung Japans im Verhältnis zur durchschnittlichen Spezialisierung (ebd.: 8). Der japanische Markt ist und bleibt für Deutschland ein schwieriges Pflaster. Es sind erhebliche Eintrittsbarrieren wirksam, japanische Firmen also die Technologiefelder besetzen, in denen traditionell die deutschen Stärken liegen. Zwar war im Zeitraum zwischen 1991 und 2001 das Wachstum der TriadePatente für Deutschland höher als für alle anderen Industrienationen, doch bleiben die USA und Japan die Hauptkonkurrenten (ebd.: 9). Des Weiteren ist bei der inkrementalen Innovation, wie sie die Unternehmen im organisationalen Feld der „Deutschland-AG“ verbreitet ist, die interorganisationale Leistungskoordination traditionell eher kooperativ als kompetitiv. Man kann sagen, dass Innovation tendenziell mehr in langfristig stabilen Netzwerken mit zeitlicher Stabilität und hoher Interaktionsdichte stattfindet, in denen Experten auf einem oder auf mehreren benachbarten Sachgebieten miteinander kooperieren, als in kurzfristig angelegten, marktlich koordinierten Arrangements. Arbeitsgrundlage für erfolgreiche Projekte der Forschung und Entwicklung, die im Erfolgsfall zu Patentierung und Markterfolg führen, ist ein umfassender Wissensaustausch zwischen den Experten, damit auch eine Vertrauensbeziehung, die erst im Zuge langfristiger, kooperativer Beziehungen entsteht. Dieses Vertrauen wäre in einem primär marktlich koordinierten Arrangement nicht so einfach gegeben. Dort ist zu erwarten, dass immer wieder Positionskämpfe um dominierende Positionen im Netzwerk ausbrechen und die Akteure im Hinblick auf den Wissensaustausch eher zurückhaltend bleiben werden. Dasbewirkt, dass inkrementelle Innovation in und von deutschen Unternehmen großteils von kooperativen, statischen und homogen zusammengesetzten, weil durch geschlossene Zirkel bestimmten Wissenskartellen betrieben wird, bei denen also die Professionals weniger dominierender Berufsgruppen zusammen arbeiten. Innovationsnetzwerke mit der Struktur von Wissenskartellen sind umso stärker etabliert, je länger und fester sich ein Feld als Technologie, als akademische Disziplin oder als Profession etabliert hat. Häufig gibt es sachliche und soziale Überschneidungszonen, welche das Networking und die Herausbildung von Sozialkapital im Schnittpunkt einander kreuzender sozialer Kreise durch Nutzung von Informationsasymmetrien entweder unmöglich oder einfach uninteressant machen. Innovationsnetzwerke in Deutschland sind sehr viel stärker als Innovationsnetzwerke in den USA durch einzelne Professionen determiniert, die Definitionsmacht darüber beanspruchen, was in ihrem Feld als Innovation gilt und was nicht. Im Fall der Chemie und Biotechnologie wie dem Bayer-Konzern sind die etablierten Professionen die Chemiker und Ingenieure, gefolgt von Physikern, Medizinern, Pharmazeuten. Davon unterscheidet sich das Kompetenzprofil beispielsweise der Betriebswirte, Informatiker, Juri47

sten und Soziologen, die weitgehend branchenunabhängig auf dem Arbeitsmarkt einsetzbar sind, denen zugleich aber das in der Branche ebenfalls notwendige Spezialistenwissen fehlt. Neue Eliten können sich innerhalb und außerhalb des Unternehmens positionieren, innerhalb des Unternehmens, indem sie Führungspositionen mit Entscheidungskompetenzen besetzen, die bisher zumeist den Experten der etablierten Professionen vorbehalten waren. Außerhalb des Unternehmens positionieren sich neue Eliten vermittelt über Finanzierungs- und Beratungsbeziehungen, über welche sie Kontakt zu den incumbent-Unternehmen im organisationalen Feld etablieren. Von den Experten der neueren, z.T. im Prozess der Professionalisierung befindlichen Berufsgruppen gehen wichtige Impulse für die Innovationstätigkeit der Unternehmen im Feld der „Deutschland AG“ aus, weil sie neue Akzente setzen: weg von der Semantik der Fachspezialisten, hin zur Kultur des Allgemeinwissens und des Pragmatismus. Dementsprechend sind ihre inhaltlichen Orientierungen und Wertorientierungen, also die in diesen Berufsgruppen gemeinsam geteilten Leitbilder von „guter Arbeit“, von „rationaler Organisation“ oder von „sozialer Gerechtigkeit“, die legitimatorische Basis für die Etablierung und Verbreitung von radikaler Innovation anstelle von inkrementaler Innovation. Neben der kulturellen Orientierung und der Art und Weise der Leistungskoordination im Innovationsnetzwerk gibt es aber noch einen dritten Faktor, der die Ausrichtung der Innovationsaktivität traditionell eher in die Richtung der inkrementalen als in Richtung der radikalen Innovation beeinflusst. Dies sind all jene Institutionen, welche die mit dem Innovationsmuster assoziierten kulturellen Orientierungen „Kompetenz und Verantwortung“ repräsentieren und somit ihren Beitrag zur Produktion und Reproduktion der legitimatorischen Grundlage der inkrementalen Innovation erbringen. Damit stellt sich also die Frage, welche Organisationen und Institutionen in der koordinierten Marktwirtschaft Deutschlands als Trägergruppierungen für das für Deutschland charakteristische Innovationsmuster fungieren. Dies sind zunächst die Großunternehmen in dominierender Marktposition, die sowohl finanziell als auch personell mit anderen Unternehmen der „Deutschland AG“ verflochten sind und in enger Beziehung zu Verbandsorganisationen und professionellen Vereinigungen stehen, in zweiter Linie aber auch die bankenfinanzierten kleinen und mittlerständischen Unternehmen, die durch eine ausgeprägte Orientierung an Qualität, technischer Variation und Perfektion auffallen. International tätige Großunternehmen und kleine und mittelständische Unternehmen erzeugen ein Klima, das inkrementelle Innovation mit ausgeprägter technischer Orientierung fördert und sich auf die Rationalität von Best Principles anstelle von Best Practices stützt (vgl. Münch 1986, Bd. 2.: 719-772; Streeck/ Höpner: 11-59; Höpner 2003; Beyer 2003; Frietsch 2003).

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Tabelle 2: Typisierung der Innovationsaktivität nach kulturellen Orientierungen für Unternehmen in den Vereinigten Staaten und Deutschland Liberale Marktwirtschaften (LMEs): Radikale Innovation

Organisationstyp

Flexible Netzwerkorganisation

Innovation mit inhaltlicher Orientierung an Marketing, Controlling und Finanzexpertise:

Kulturelle Orientierung:

Ziel der Innovationsaktivität:

¾ Innovation wird vorangetrieben durch Managementexpertise unter Berücksichtigung der ShareholderInteressen. ¾ Extensive Marktanalyse und Kundenbefragungen gehen dem Innovationsproess voraus. Patente tragen zur Schaffung neuer Märkte bei und sichern Marktpositionen.

Koordinierte Marktwirtschaften (CMEs): Inkrementale Innovation Formal-rationalisierte Expertenorganisation

Innovation mit inhaltlicher Orientierung an: ¾ Innovationsprozesse warden durch kreative Prozesse sowie durch Produkt- und Verfahrensexpertise der Ingeneure und Naturwissenschaftler vorangetrieben. ¾ Wissenschaftliches Wissen und technologische Expertise gehen Innovation voraus. Patente tragen zur wirtschaftlichen Absicherung existierender Technologien und zu ihrem Schutz vor dem Markt bei.

Kulturtypisch für die flexible Netzwerkorganisation ist also eine Innovationsorientierung, bei der die Orientierung an Marketing, Controlling und Finanzexpertise im Mittelpunkt steht und bei der die Innovationsaktivität mit sehr direktem Bezug auf den erwartbaren oder erhofften Markterfolg zu bewerten ist. Innovation wird vorangetrieben durch eine Analyse des Marktes und des Unternehmenswertes. Ausgehend davon wird die Innovation – häufig unter Zuhilfenahme des Marktmechanismus – realisiert. Patente haben hier in erster Linie die Funktion, neue Märkte zu erschließen und Marktpositionen zu sichern. Kulturtypisch für die formal-rationalisierte Expertenorganisation ist eine Innovationsorientierung, bei der die fachlich-inhaltliche Expertise der naturwissenschaftlichen und technischen Fachleute im Vordergrund steht. Ausgehend von den Produkten und Verfahren, die man bereits hat, werden technische Optimierungen und Variationen realisiert oder neue Anwendungsfelder erschlossen. Man kann also davon ausgehen, dass die technische Expertise der Innovation Pate steht. Dementsprechend verfolgen Unternehmen mit Patentierungen häufig 49

ein anderes Ziel, nämlich ihre Technologien – ihre Produkte und Verfahren, mit denen sie noch Geld verdienen wollen oder in Reaktion vor dem gleichen Handeln durch ihre Konkurrenz. Zielsetzung ist dann, die eigenen Technologien vor dem Markt zu schützen und zu vermeiden, dass man auch für kleine Optimierungen und Variationen von Produkt und Verfahrenstechniken Lizenzgebühren zahlen muss. Beide Idealtypen sind nur als Ausgangspunkt einer Entwicklung zu verstehen, die beinhaltet, dass Unternehmen vom Typus der „flexiblen Netzwerkorganisation“ auch Elemente der inkrementellen Innovation, also der schrittweisen, an naturwissenschaftlichen Erkenntnissen und technischen Gegebenheiten orientierten Weiterentwicklung, Verbesserung und Variation von Produkten und Verfahrenstechniken ausgehend von existierenden Produkten und Verfahrenstechniken übernehmen. Umgekehrt beinhaltet die Entwicklung, dass Unternehmen vom Typus der „formal-rationalisierten Expertenorganisation“ auch Elemente der radikalen Innovation des offensiven Vordringens in neue Technologiebereiche, der radikalen Restrukturierung mit Orientierung an Marketing-, Finanz- und Kostengesichtspunkten übernehmen. Welche Mechanismen den Prozess der strukturellen Angleichung vorantreiben, ob den Unternehmen, die aus dem organisationalen Feld der „Deutschland AG“ aus den 1990er Jahren hervorgegangen sind, noch irgendwelche Gestaltungsoptionen bleiben, oder ob sie einem Sachzwang der Angleichung an die „flexible Netzwerkorganisation“ ausgesetzt sind, werde ich folgenden Abschnitt „Von inkrementeller zu radikaler Innovation?“ (Abschnitt 1.4) besprechen. In Bezug auf die kulturelle Perspektive der Innovation, die im dritten Hauptabschnitt dieser Untersuchung für die Thematik von organisationaler Rationalität in ihrer Beziehung zu Innovation sowie auf die Thematik Gleichheit und sozialer Gerechtigkeit erweitert vertieft wird, bleibt anzumerken, dass Innovation bedingt durch den damit verknüpften Weltveränderungsanspruch ein spezifisches Kulturphänomen der Moderne ist (vgl. Münch 1986: 257-281). Das von Schumpeter in seiner Theorie der wirtschaftlichen Entwicklung (1911/1965) herausgearbeitete revolutionäre Element der Innovation, das voraussetzt, dass der Akteur der Welt mit der Haltung des instrumentellen Aktivismus gegenübertritt und nach permanenter Erneuerung strebt, ist in der gegenwärtigen Kapitalismusdiskussion, in der besonders Folgen in Bezug auf den Wohlfahrtsstaat betrachtet und in der Kapitalismuskritik geäußert wird, wenig Würdigung zu finden, obgleichSchumpeter sowohl die strukturellen als auch die kulturellen Komponenten der Innovation untersucht hat. Beispielsweise grenzt sich Sloterdijk in seinem neuen Buch „Im Weltinnenraum des Kapitals“ (2005) von Schumpeter ab. Etwas abfällig identifiziert er als Hauptmoment des Ansatzes von Schumpeter einen naiven Fortschrittsglauben, weil Schumpeter schreibt, dass es im wirtschaftlichen Leben – funktional gesehen – nur Neuerer und Nachahmer gebe (ebd.: 120). Dabei sind gerade in „Die Theorie der wirtschaftlichen Entwicklung“ gute Fundamente für eine kulturwissenschaftliche Analyse der Analyse von Innovation gelegt, wie Sloterdijk eigentlich zugestehen müsste. Denn Sloterdijk, der die Analogie des Entdeckens und Veränderns durch Weltrumsegler für seine Erzählung der Entstehung des modernen Kapitalismus wählt, greift vielfach auf den Imperativ des instrumentellen Aktivis-

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mus zurück, ohne das Stichwort jemals explizit zu nennen. Jedoch identifiziert Sloterdijk selbst den instrumentellen Aktivismus als wichtigen Aspekt des Projekts Moderne: 19 „Der Mensch, der sich selbst im Humanismus als Täter neuer Taten, als Bildner und Erfinder seiner selbst beschreibt und sich im Idealismus als Subjekt aller seiner Vorstellungen bestimmt, ist in einem Ausmaß, das frühere Epochen nicht gekannt haben, ein Täter neuer Taten, ein Urheber neuer Wirkungen, ein Träger neuer Vorstellungen.“ (Sloterdijk 2005: 108).

Selbstverständlich grenzen sich Unternehmen als Träger und treibende Kraft gesellschaftlicher Modernisierung von Abandonisten, Modernisierungs-Ablehnern und Aussteigern jeder Art ab. Andernfalls würden sie sich selbst ad absurdum führen. Wenn das in dieser Studie als Fallbeispiel betrachtete Unternehmen, der Bayer-Konzern, das Leitbild „Science for a better life“ wählt, ist dies mehr als nur ein Schlagwort: Es beinhaltet den instrumentellen Aktivismus, das gezielte Eingreifen in die Welt, das Streben nach kontinuierlicher Erneuerung als Kulturprogramm, insofern als forschungsgeleitete Innovation in den Bereichen von Gesundheit, Ernährung und neuen Materialien im Mittelpunkt des unternehmerischen Handelns steht. Das Unternehmen will Geld damit verdienen, dass es zum Wohl der Kunden, der Mitarbeiter, der Aktionäre und der Öffentlichkeit das Streben nach wissenschaftlicher Erkenntnis und nach wirtschaftlichem Nutzen miteinander verbindet, also damit, dass es nach ethischen Grundsätzen handelt. Es kann nicht das Bestreben des Untenehmens sein, ausschließlich auf die Optimierung seiner Gewinnsituation zu setzen und Wirtschaftsethik abzulehnen.

1.4 Von inkrementeller zu radikaler Innovation? In diesem Abschnitt ist zu diskutieren, ob für die Wirtschaftsunternehmen im organisationalen Feld der Deutschland AG eine strukturelle Angleichung an den Idealtypus der marktgetriebenen, flexiblen Netzwerkorganisation, wie er in liberalen Ökonomien verbreitet, ist, zwingend zu erwarten ist ist, oder ob auch alternative Entwicklungspfade vorstellbar sind. Besteht für die Wirtschaftsunternehmen im organisationalen Feld der Deutschland AG die Wahl zwischen struktureller Angleichung und alternativen Entwicklungspfaden, oder muss man von einem Automatismus der Strukturangleichung ausgehen? Zur Beantwortung dieser Frage ziehe ich neben Fligsteins Ansatz der „Architecture of Markets“ (2001) auch den Aufsatz „The Iron Cage revisited“ (1983) von DiMaggio und Powell heran, wobei die Autoren vom organisationalen Feld als übergeordnetem Strukturkontext sprechen, in welchem das einzelne Wirtschaftsunternehmen operiert, und indem sie die analytische Unterscheidung zwischen er19 Keineswegs ist Sloterdijks Erzählung der Emergenz des globalen Kapitalismus frei von einem Bias. Der Autor versucht immerhin eine Gratwanderung im Hinblick auf die Kapitalismus-Kritik, dahingehend dass er den Kapitalismus als alternativloses ökonomisches System betrachtet, gleichzeitig die Visionsenergie der Projektemacher und Unternehmer-Scharlatane (als ob Unternehmer per se Scharlatane wären!) belächelt, und lediglich die fundamentale Kapitalismus-Kritik der Abandonisten zurückweist, welche entweder die Moderne für beendet erklären oder den Ausstieg aus dem Projekt Moderne propagieren: „Ihre Parole ist, latent oder manifest, jenes Stoppt die Geschichte!, das Apokalyptiker, Tragiker, Defaitisten und Rentenbezieher zu Verbündeten macht. “ (Sloterdijk 2005: 132)

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zwungener, mimetischer und normativer Isomorphie einführen. Im konkreten Einzelfall können die drei Typen der Isomorphie nämlich konvergieren. Vorab ist hervorzuheben, dass es nicht Gegenstand dieser Studie ist, nachzuweisen, dass wirtschaftliche Globalisierung stattfindet, oder zu diskutieren, ob wirtschaftliche Globalisierung einen Mythos darstellt.20 Von ökonomischer Globalisierung spreche ich fortan, wenn im Hinblick auf die soziale Arbeitsteilung und die Entwicklung von Märkten mindestens eines der folgenden vier Merkmale zutrifft: Erstens liegt eine Intensivierung und Beschleunigung des internationalen Marktwettbewerbs vor, welche durch grenzüberschreitenden Handel infolge des Wegfalls von Handelsbarrieren forciert wird. Zweitens ist eine Differenzierung von Kundenkreisen bei gleichzeitiger Ausbildung globaler Kundenmilieus zu beobachten. Drittens ist die konjunkturelle Entwicklung in den Wirtschaftsräumen der Welt immer mehr durch kürzere Konjunkturzyklen und extremere Konjunkturschwankungen bestimmt, bis hin zu Krisenfällen wie in Südostasien am Ende der 1990er Jahre, die sich bedingt durch die wachsende internationale Verflechtung sowohl der Wertschöpfungsaktivitäten als auch der Kapitalstruktur der Unternehmen und Märkte unmittelbar global auswirken. Viertens ist generell eine steigende Interdependenz von Unternehmen, Industrien, Wirtschaftsregionen, Produkt- und Kapitalmärkten zu beobachten. Wirtschaftliche Globalisierung wird auch durch den Ausbau des Transport- und Verkehrswesens forciert, besonders jedoch durch die Verbreitung analoger und digitaler Datenübertragungstechnologien, speziell des Internet als globaler Informations-, Kommunikations- und Transaktionsplattform, die eine globale Koordination von Wertschöpfungsprozessen ermöglicht (Münch 1991; 1995; Castells 1996; Soros 1998; Berking 1998; Heidenreich 1999; Weber 1894; Münch 1991; 1995; Castells 1996: 469-477; 2001: 64-115; Köhler 2004). Es gilt also die Frage zu beantworten, ob globalisierungsbedingt Strukturangleichung des Wirtschaftens innerhalb der institutionellen Grenzen von Unternehmen und im Zusammenwirken für das organiationale Feld bestimmenden Institutionen zwingend ist oder ob alternative Entwicklungen vorstellbar und möglich sind. Hierzu haben DiMaggio und Powell in ihrer Untersuchung „The Iron Cage revisited“ (1983) die Beobachtung gemacht, dass Struktur20 Im Übrigen gibt auch Arbeiten, die Globalisierung als „Mythos“ im Titel führen, ohne abzustreiten, dass eine ökonomische Globalisierung im Sinne zunehmender grenzüberschreitender Arbeitsteilung stattfindet In seinem Aufsatz „Globalisierung – Mythos und Wirklichkeit“ hebt Streeck (2005) hervor, dass Globalisierung entgegen der verbreiteten Mythologien aus dem politischen Bereich keinesfalls ein Phänomen der vergangenen zwanzig Jahre ist, welches die Nationalstaaten der Gegenwart obsolet macht. Vielmehr, so Streeck, ist Globalisierung ein Phänomen, das historisch älteren Datums ist als die heutigen Nationalstaaten, das bestimmt ist durch die wachsende Größe und globale Reichweite von Märkten und das die Bewältigung der durch Märkte hervorgebrachte Unsicherheit und Komplexität zum Ziel hat. Streeck bestreitet also keineswegs die Tatsache einer globalen Arbeitsteilung, wenn er schreibt: „In jedem Fall löst sich (…) die wirtschaftliche Arbeitsteilung aus ihrer Einbindung in parallele nationalstaatliche Koordinierungsregime und entwickelt sich tendenziell zu einer weltweiten Arbeitsteilung weiter, deren funktionale Untereinheiten sich in unterschiedlichen nationalstaatlich organisierten Territorien konzentrieren“ (ebd.: 361). Die Wortwahl vom „Mythos“ bezieht sich also hier nicht auf die Tatsache wirtschaftlicher Globalisierung, sondern vielmehr auf den Aspekt möglicher Konsequenzen für den Nationalstaat als Organisationsprinzip moderner Gesellschaften. Streeck deutet bereits die Entstehung der Nationalstaaten als Reaktion der arbeitsteiligen, durch sektorale Spezialisierung bestimmten Gesellschaften auf die Globalisierung von Märkten. Im Zeitalter der Globalisierung ist seiner Ansicht nach nicht von einer Erosion von Staatlichkeit zu sprechen, sondern vielmehr von einer neuen Qualität dieser Staatlichkeit.

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angleichungsprozesse der Wirtschaftsakteure innerhalb eines organisationalen Feldes stattfinden, obgleich jeder Wirtschaftsakteur als ökonomisch rational handelndes Subjekt bestrebt sein muss, ein eigenständiges, von den anderen Akteuren unterscheidbares Leistungsportfolio auszudifferenzieren, eine spezifische, einzigartige innere Struktur und Arbeitsteilung herauszubilden: „Once a set of organizations emerges as a field, a paradox arises: rational actions make their organizations increasingly similar as they try to change them. “ (Di Maggio/Powell 1983:147)

Als „erzwungene Isomorphie“ bezeichnen DiMaggio/Powell eine Strukturangleichung der Organisationen in einem bestimmten Feld, die durch wirtschaftliche Globalisierung oder durch technologische Umwälzungen erzwungen wird, welche externe Bedingungen darstellen, insofern aus Sicht des Unternehmens einen äußeren, dinghaften und zwingenden Charakter haben (vgl. Durkheim 1895/1995: 105 ff.). „Coercive Isomorphism results from both formal and informal pressures exerted on both organizations by other organizations on which they are dependent and by cultural expectations in the society, in which organizations function. Such pressures may be felt as force, as persuation, as invitations to joint in collusion. (Di Maggio/Powell 1983: 150)

Wirtschaftliche Globalisierung und technologische Umwälzungen gehen insofern Hand in Hand, als die Verbreitung neuer Koordinationsformen einerseits und die Durchsetzung einer neuen Technologie, welche die Umsetzung in neuen Produkten, Verfahrenstechniken und Organisationsformen findet, eine Strukturangleichung der Wirtschaftsunternehmen in einem organisationalen Feld erzwingen. Weil ökonomische Ressourcen – Arbeit, Kapital, Boden, Wissen, Technologien, Energie – aus ihren bisherigen Verwendungszwecken abgezogen werden, entsteht an der entsprechenden Stelle eine Ressourcenknappheit, und der Wirtschaftsakteur wird sich überlegen, ob die Aufrechterhaltung und Weiterfinanzierung von Orchideenexistenzen, also der bisherigen Ressourcenkombinationen in seinem Interesse liegt, weil möglicherweise notwendige Ressourcen fehlen, um die neuartigen Ressourcenkombinationen zum Erfolg zu führen. Wann immer es zu einem aus Perspektive der Unternehmen in einem organisationalen Feld wirtschaftlich relevanten technologischen Entwicklungsschub kommt, wird ein isomorphischer Wandel innerhalb eines organisationalen Feldes verursacht: Zunächt gibt es ein paar Protagonisten, die die Umsetzung einer Erfindung in neue Ressourcenkombinationen erproben und hohe Gewinne damit erzielen. Dies erregt die Aufmerksamkeit von Nachahmern, die gern aufden bereits fahrenden Zug aufspringen. Schließlich können einige der bisherigen Ressourcenkombinationen nicht mehr fortfinanziert werden, weil sie unprofitabel geworden sind (vgl. Schumpeter 1911/64: 24-41; 100 f.; DiMaggio/Powell 1983: 150-152). Der Zwangscharakter von wirtschaftlicher Globalisierung und technologischen Umwälzungen für den Strukturwandel von Unternehmen manifestiert sich darin, dass sich alle Unternehmen im organisationalen Feld auf die neuen Möglichkeiten der Gestaltung der Wertschöpfungsprozesse einstellen müssen. Sobald geeignete technische Plattformen für globale, informatorische Leistungskoordination existieren, stehen Unternehmen vor der Herausforderung, ihre Produktions-, Arbeits- und Geschäftsprozesse global und annähernd in Echtzeit zu koordinieren. Mithilfe der neuen technologischen Möglichkeiten müssen sie ihre Wertschöpfung nach Maß53

gabe von Profitabilität und Effizienz reorganisieren. Lassen Wirtschaftsunternehmen die Chance zu globaler Leistungskoordinierung und Reorganisation ihrer Wertschöpfung ungenutzt, sind sie in ihrem Bestand gefährdet, weil sich der Wettbewerb beschleunigt. Händler an den internationalen Finanzmärkten können die erweiterten Informations-, Kommunikationsund Transaktionsmöglichkeiten ebenfalls nutzen. Allerdings sind sie durch den Finanzmarktwettbewerb auch dazu gezwungen. Nur durch effektive Nutzung kurzzeitiger Informationsvorsprünge können sie Gewinne realisieren. Da Investitionen der Finanzmärkte Innovationsprojekte von Unternehmen ermöglichen oder verhindern, hängt der Unternehmenserfolg davon ab, wie überzeugend ein Unternehmen Börsenanlegern die Erfolgsaussichten seiner Innovationsprojekte vermittelt. Gelingt die Vermittlung nicht, bleiben notwendige Investitionen aus. Sofern das Unternehmen nicht durch Insider abgesichert ist, ist seine Liquidität gefährdet. Die Gleichförmigkeit des Wirtschaftens im organisationalen Feld ergibt sich als Resultat von erzwungener Isomorphie – schon deshalb ist wirtschaftliche Globalisierung mehr als nur Managementideologie. Ökonomische Globalisierung ist vielmehr eine soziale Tatsache, die Strukturanpassungen erzwingt, weil sie Handlungsspielräume erweitert und Möglichkeitshorizonte nicht nur für das einzelne Unternehmen, sondern auch für seine Konkurrenten im Marktwettbewerb öffnet (DiMaggio/ Powell 1983; Castells 1996: 469-477; 2001: 64-115; Beyer 2003; Sorge 2005). Wollen Unternehmen trotz ökonomischer Globalisierung und bei erheblichen technologischen Umwälzungen erfolgreich am Markt bestehen, müssen sie sich auf die folgenden vier Herausforderungen einrichten: Erstens müssen Unternehmen im Hinblick auf die Erhöhung seiner situationsübergreifenden Problemlösungskapazität durch schnelle und kluge Mobilisierung knapper Ressourcen reagieren. Zweitens sind sie gefordert, kontinuierlich ihre Problemlösungskapazität bezüglich der Definition und Umsetzung eines komplexen Sets interdependenter Ziele zu erhöhen und Entscheidungen effektiv umzusetzen. Drittens sind sie mit der Herausforderung konfrontiert, bei zunehmender Heterogenität die Problemlösungsfähigkeiten von Personen, Gruppen und Organisationseinheiten zu integrieren und in Bezug auf wesentliche Punkte Verbindlichkeit zu gewährleisten. Eine vierte Herausforderung besteht darin, trotz permanenter Neuformierung der Interaktionsnetzwerke konsistente Handlungs- und Deutungsmuster herzustellen, d.h. einen Bezugsrahmen für ein zunehmend weites Spektrum von Handlungen und Deutungen zu gewährleisten, der widerspruchsfrei und glaubwürdig ist (vgl. Castells 1996; Parsons 1945/ 1965: 19-33; 238-274; 1972/ 1996: 12-42). Folgt man der Theorie der wirtschaftlichen Entwicklung von Schumpeter (1911/64) und ihrer Erweiterung durch Bell (1994) haben Unternehmen keine Alternative, auf äußeren Druck durch wirtschaftliche Globalisierung zu reagieren, außer durch Innovation, mit der sie ihre Profitabilität und Effizienz steigern. Es bleibt dahingestellt, ob sie die Innovation innerhalb ihrer eigenen institutionellen und rechtlichen Grenzen betreiben, ob sie sie als netzwerkförmige interorganisationale Kooperation realisieren, oder ob Wirtschaftsunternehmen bewusst die Mechanismen der Finanzmärkte nutzen, um Innovation zu realisieren. Innovation muss nicht nur auf einzelne Schritte und Phasen des Wertschöpfungsprozesses beschränkt bleiben, sondern kann ebenfalls das Zusammenwirken der Komponenten innerhalb eines Wertschöpfungsprozesses betreffen 54

(Simmel 1983: 61-78; Schumpeter 1911/64: 1-87; 88-139; DiMaggio/ Powell 1983; Altmann et al. 1986; Bell 1994; Schumann et al. 1994; Kern/ Sabel 1994). Mimetische Isomorphie beinhaltet die Nachahmung von Problemlösungen, Geschäftsmodellen und internen Strukturmustern, die andere Unternehmen bereits realisiert haben und die sich tatsächlich oder aus Perspektive der Nachahmer als erfolgreich erwiesen haben. Von Innovation auf Basis von Nachahmung kann gesprochen werden, wenn es gelingt, durch die Imitation der Lösungen von Konkurrenten oder von dominierenden Unternehmen innerhalb eines organisationalen Feldes Vorteile zu ziehen. „Not all institutional isomorphism, however, derives from coercive authority. Uncertainty is also a powerful force that encourages imitation.“ (Di Maggio/Powell 1983: 151)

Realisiert ein Unternehmen durch Nachahmung erfolgreich eine Lösung für ein spezifisches Problem innerhalb seiner eigenen institutionellen Grenzen, oder gelingt einem Unternehmen durch Nachahmung der Lösungen anderer Unternehmen die Eroberung oder Behauptung einer dominierenden Marktposition, dann kann insofern von Innovation gesprochen werden, als die Nachahmung zu einer Steigerung von Effizienz und Profitabilität geführt hat (DiMaggio/Powell 1983). Innovation durch Nachahmung steht also in einem funktionalen Ergänzungsverhältnis zu einer „conception of control“ bei Fligstein (2001), als Imitation für die Wirtschaftsunternehmen in einem organisationalen Feld Unsicherheit reduziert und somit die Unsicherheit des Marktes auf ein handhabbares Maß zurückstuft: „When organizational technologies are poorly understood, when goals are ambiguous or when the environment creates symbolic uncertainty, organizations may model themselves on other organizations. The advantages of mimetic behavior are considerable; when an organization faces a problem with ambiguous causes or unclear solutions, problematic search may yield a viable solution with little expense.“ (Di Maggio/Powell 1983: 151)

Wie Kühl hervorhebt, kann Innovation auch die Imitation bestimmter Lösungen nach Maßgabe von Leitbildern des „guten Managements“ oder von „rationaler Organisation“ beinhalten, sodass von einer Konvergenz von erzwungenem und mimetischem Strukturwandel gesprochen werden kann. Mithilfe dieser Konvergenz kann erklärt werden, wie es zu der wachsenden Ähnlichkeit der Organisationen innerhalb eines Feldes kommt. Wenn Leitbilder für „gutes Management“ oder für „rationale Organisation“ einmal einen bestimmten Verbreitungsgrad erreicht haben, entheben sie den Manager, der ihnen folgt, von Begründungszwängen für Entscheidungen. Auf diese Weise minimieren sie sein Risiko, allein für falsche Entscheidungen verantwortlich gemacht zu werden. Entscheidet sich umgekehrt ein Management in Zeiten, in denen dezentrale Organisationsstrukturen und partizipatorische Arbeitseinsatzkonzepte en vogue sind, für stark arbeitsteilige, tayloristische Produktionsmodelle und für Arbeitseinsatzkonzepte, bei denen Subjektivität kaum eine Rolle spielt, hat er einen Erklärungsbedarf (Kühl 2002: 158). Leitbilder für ein gutes Management, die von den dominierenden Unternehmen, den incumbents, innerhalb eines organisationalen Feldes erfolgreich worden sind, können aus Sicht der challengers nicht völlig verkehrt sein. Wer eine Erfindung zur

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wirtschaftlichen Umsetzung bringt, muss sich damit erst einmal bewähren. Dies ist die Logik einer Argumentation, die zunächst einmal für die Strategie des Abwartens spricht. Normative isomorphische Anpassung beinhaltet die Realisierung von institutionellem Wandel nach Maßgabe bestimmter normativer Standards bzw. substanziell-materialen Werten, die Verbreitung innerhalb des organisationalen Feldes finden, sei es, weil sich die Entscheidungsträger der Unternehmen aus eigenem Interesse oder Einsicht dazu bekennen, sei es, weil diese Standards von außen an sie herangetragen werden. „A third source of isomorphic organizational chance is normative and stems primarily from professionalization. Following Larson (1977) und Collins (1979), we interpret professionalization as the collective struggle of members of an occupation to define the conditions and methods of their work, to control the “production of producers” and to establish a cognitive base and legitimation for their occupational autonomy.” (DiMaggio/Powell 1983: 152).

Normativer Wandel ist besonders häufig durch die professionellen Standards weniger dominierender Professionen induziert. Der Grund dafür ist für DiMaggio/Powell klar: „Professions are subject to the same coercive and mimetic pressures as are organizations. Moreover, while various kinds of professionals within an organization may differ from one another, they exhibit much similarity to their professional counterparts in other organizations. In addition, in many cases, professional power is as much assigned by the state as it is created by the activities of the professions.” (DiMaggio/Powell 1983: 152).

Angewandt auf das organisationale Feld der Deutschland AG, wie es sich in der Nachkriegszeit als politische Ökonomie bzw. als koordinierte Marktwirtschaft herausgebildet hat, kann man sagen, dass das organisationale Paradigma durch die Fachexperten weniger dominierender Professionen bestimmt ist, was sich innerhalb der Struktur jedes einzelnen Wirtschaftsunternehmens innerhalb dieses organisationalen Feldes niederschlägt. Wenige Professionen, insbesondere die naturwissenschaftlichen und technischen Professionen, sind also in der Lage, an der Setzung von Standards mitzuwirken. Darüber hinaus werden normative Standards auch von außen durch die Institutionen des organisationalen Feldes der „Deutschland AG“ an die Wirtschaftsunternehmen herangetragen, so z.B. durch den Staat, der Produkt-, Sicherheitsund Umweltstandards definiert, durch Analysten, die eine bestimmte Innovationsstrategie einfordern, von Unternehmensberatungs- und Wirtschaftsprüfungsgesellschaften, die Transparenz im Hinblick auf Leistungen und Fehlleistungen des Unternehmens in seinen Geschäftsfeldern entsprechend der Interessenlage der Shareholder einfordern. Die These der strukturellen Angleichung der Unternehmen im Feld der „Deutschland AG“ kann dahingehend reformuliert werden: Erzwungener und normativer Wandel konvergieren an dem Punkt, an dem die etablierten professionellen Standards, z.B. Standards für ein hochwertiges Produkt, dass Standards für Verfahrenssicherheit und Umweltfreundlichkeit definiert werden, innerhalb des organisationalen Feldes hinreichend Verbreitung finden und für alle Akteure am Markt Verbindlichkeit erlangen. Bezogen auf das organisationale Feld der Deutschland AG bedeutet dies, dass das dominierende Paradigma der Dominanz der Fachexperten der naturwissenschaftlichen Disziplinen und der ingenieurwissenschaftlichen Diszipli56

nen erfolgreich durch das Paradigma der Management-, Finanz- und Beratungsexperten herausgefordert wird, die jüngeren Datums sind und sich erst gegenwärtig professionell organisieren, indem sie Standards für ihre professionelle Leistung festlegen, um neben den historisch länger etablierten Professionen, den incumbents, ebenfalls einen festen Platz im organisationalen Feld einzunehmen. Gelingt es den neueren Professionen, sich mittel- bis langfristig neben den historisch etablierten Professionen fest im organisationalen Feld der „Deutschland AG“ zu etablieren, verschieben sich auch die Machtverhältnisse bezogen auf die relative Nähe zum Machtpol,insbesondere dann, wenn es den Herausforderern gelingt, sich mit ihrer eigenen „conception of control“ erfolgreich zu positionieren. Dies ist beispielsweise der Fall, wenn etwa neue Standards für gute Geschäftsführung, neue Rechnungslegungs-, oder Qualitätsstandards Verbindlichkeit erlangen, weil Unternehmen sie für unverzichtbar halten. Gelingt es den Akteuren historisch neuerer Professionen, eigene professionelle Standards zu definieren und diese auf dem Wege über Organisationen – z.B. Unternehmensberatungen und Finanzintermediäre – so weit zu durchzusetzen, dass sich ihnen die Wirtschaftsunternehmen nicht mehr entziehen können, haben sowohl erzwungene und mimetische als auch normative Isomorphie stattgefunden. Darin zeigt sich die Parallele von professionellem Feld und organisationalem Feld: Sowohl im professionellen Feld als auch im organisationalen Feld können erzwungene, mimetische und normative Isomorphie konvergieren.Der Wandel im Feld der Professionen treibt seinerseits den Wandel des organisationalen Feldes voran, weil sich neue Professionen mit ihren Wissensvorräten und Wertvorstellungen gegen die Vertreter der etablierten Professionen durchsetzen (vgl. DiMaggio/Powell 1983: 150-152). Beispielsweise untersucht Groß (2003) in ihrem Artikel „Unternehmensberatung – auf dem Weg zur Profession?“ die Bemühungen im Feld der Anbieter von Unternehmensberatung, zu einheitlichen professionellen Leistungsstandards und zu organisationalen Strukturen zu kommen, wie es für historisch ältere Professionen – z.B. Ingenieure, Chemiker, Mediziner – längst selbstverständlich ist. Die Berufsgruppen der Chemiker, Mediziner und Ingenieure, um nur einige Beispiele anzuführen, verfügen über sehr viel genauer bestimmte Leistungsprofile und über sehr viel ältere, weil historisch gewachsene Verbandsstrukturen. Die Unternehmensberatungsbranche ist erst gegenwärtig dabei, sich solche Strukturen zu geben. 21

21 Der Gedanke ist keineswegs neu, insofern als Durkheim in „Über soziale Arbeitsteilung“ (1893/1992) herausgearbeitet hat, dass zunehmende Konkurrenz unter sonst gleichen Bedingungen wachsende Spezialisierung der Menschen nach sich zieht, die sich auf bestimmte Marktnischen spezialisieren, in denen sie besondere Leistungen erbringen können, und dass gleichzeitig eine gemeinsame Moral – die nichtvertraglichen Grundlagen des Vertrags – erforderlich ist, damit alle korporativen und individuellen Akteure, die am Wirtschaftsleben teilhaben, wirksam integriert sind und die Funktionen, die sie erbringen, optimal zueinander in Ergänzung gebracht werden können – in einer modernen Aufbau und Führungsorganisation würde man davon sprechen, dass alle Funktionen der Primär- und Sekundärorganisation sauber aufgesetzt sind. In seiner Berufssoziologie arbeitet Durkheim heraus, dass es durchaus viele verschiedene Berufsethiken gibt, diese aber zueinander in Ergänzung gebracht werden können dass verschiedene professionelle Ethiken ebenfalls gleiche Strukturmuster gekennzeichnet sind. In verschiedenen Berufsgruppen unterschiedlichen Datums trifft man auf konkrete sanktionsbewährte Verhaltensregeln, deren Struktur, Funktion und historische Entstehungsweise Gegenstand soziologischer Untersuchung ist (Durkheim 1991: 9-63).

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Die Angleichungsthese besagt also zusammengefasst, dass Globalisierungsdruck eine Auflösung des historisch gewachsenen organisationalen Feld der „Deutschland-AG“ bewirkt oder zumindest befördert. Zu beobachten ist ein Rückgang der vormals engen Verflechtungsstrukturen ausgehend von Finanzierung durch Kreditgeber hin zu einer finanzmarktgetragenen Finanzierung über breite, internationale Aktienstreuung, abnehmende Bedeutung der Insiderherrschaft; zugleich sind marktliche Struktren für Corporate Governance entstanden, ebenso ein Umfeld, das Joint Ventures, Fusionen und sowohl freundliche als auch feindliche Übernahmen erleichtert. Das führt auf Seiten der Unternehmen dazu, dass sie sich von ihren bisherigen Wettbewerbs- und Innovationsstrategien abwenden, neue Wettbewerbs- und Innovationsstrategien erproben. Insbesondere geht bei den Unternehmen die Entwicklung dahin, dass inkrementelle Innovation an Bedeutung verliert und radikale Innovation an Bedeutung gewinnt. Die Institutionen im organisationalen Feld, welche ja das Umfeld des Unternehmens konstituieren, befördern diese Entwicklung (Streeck 1999; Hall/Soskice 2001: 1-68; Streeck/Höpner 2003: 11-59; Beyer 2003; Heinze 2003; 2004; Lütz 2003).22 Die hier aufgezählten Änderungen im organisationalen Feld manifestieren sich zunächst in der inneren Struktur der Wirtschaftsorganisationen, wobei sich ausgehend von einer neuen Handlungspraxis, bei der Entscheidungsträgern veränderten Leitbildern folgen, die innere Struktur des Wirtschaftunternehmens verändert. Sukzessive findet ausgehend von der veränderten Wirtschaftspraxis – dem tatsächlichen Handeln der Unternehmen auch eine neue „conception of control“ Verbreitung, die in einer Legitimationsbeziehung zum erfolgten Strukturwandel steht. Ausgehend davon entfalten Wirtschaftsunternehmen erneut eine Wirkung auf die 22 Einen Überblick über das bankenfinanzierte System der Unternehmensfinanzierung mit Fokus auf die Entstehung der modernen Universalbank, wie es charakteristisch für die koordinierte Ökonomie Deutschlands ist, gibt Ziegler im historischen Rückblick bezogen auf den Zeitraum von 1848-1957 (2005). Den Restrukturierungsprozess des Finanzwesens seit Beginn der 1990er Jahre ausgehend von beschränktem Wettbewerb innerhalb des Bankensektors, stabilen Verflechtungsstrukturen der Unternehmen und aktiver Rolle des Staates bei der Unternehmensfinanzierung untersucht Lütz (2005). Ihr Fokus richtet sich auf die Frage nach einem möglichen Wandel des Finanzsystems von einer Infrastruktur zum Markt. Den Rollen- und Funktionswechsel speziell der der Bank- und Versicherungsunternehmen im organisationalen Feld der „Deutschland AG“ im Lichte der strategischen Optionen dieser Unternehmen, die sich im Verflechtungszentrum befinden, untersucht Beyer (2003). Eine weitere empirische Untersuchung zu den Strukturmustern der personellen Verflechtung im organisationalen Feld der „Deutschland AG“ und ihrer Veränderung liefert Heinze im Zeitraum 1989 bis 2001 auf Grundlage der Daten von Hoppenstedt und der Monopolkommission (2003; 2004). Heinze folgt der der Fragestellung, ob es berechtigt ist, von einem Pfadwechsel der Corporate Governance von Insiderkontrolle über personelle Verflechtungen in den Leitungs- und Kontrollgremien hin zu einer Outsiderkontrolle über die Finanzmärkte zu sprechen, und ob man demzufolge von entstehenden Märkten der Unternehmenskontrolle sprechen kann. In seiner Argumentation berücksichtigt Heinze fünf Gruppen von Faktoren: die Organisation der Finanzmärkte, die Struktur und Konzentration der Equity, die Rechtsposition der Shareholder, die rechtlichen Regulierungen für Übernahmen. Heinze kommt zu dem Ergebnis, dass das Netzwerk der personellen Verflechtung über Führungsgremien im Zeitraum von 1989 bis 2001 deutlich zurückgegangen ist. Parallel dazu hat sich die finanzielle Verflechtung entwickelt. Es ist von einer Entflechtung zu sprechen, das Aktienkapital der Unternehmen im organisationalen Feld der Deutschland AG ist zunehmend breit gestreut. Im Jahr 2000 sind alle zehn Unternehmen mit dem am stärksten gestreuten Aktienkapital im deutschen Aktienindex DAX vertreten: Continental, Siemens, Deutsche Lufthansa, Bayer, Vodafone (Gruppe), Deutsche Bank, Commerzbank, K + S AG, DaimlerChrysler, Volkswagen. Darunter sind einige der Unternehmen, die im Mittelpunkt der personellen Verflechtungsstrukturen im organisationalen Feld der „Deutschland AG“ stehen. Heinze stimmt also der These der Entflechtung zu, macht allerdings die Einschränkung, dass die Veränderung des Institutionenarrangements, das die Corporate Governance Strukturen ausmacht, eher quantitativer als qualitativer Art ist. „Neither has network governance undergone such a structural erosion, as it was surmised elsewhere, nor has market governance gained such depth and scope as to challenge the proper function of network governance.” (ebd.: 232; Hervorhebungen im Original).

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Institutionen in ihrem Umfeld dahingehend, dass diese Institutionen ihre innere Struktur und ihre „conception of control“ ebenfalls anpassen müssen (Fligstein 2001: 67-98; Rosamond 2000; Sorge 2005). Mittelfristig werden vermutlich nur solche Wirtschaftsunternehmen überleben, denen es gelingt, innerhalb relativ kurzer Zeithorizonte auf die Herausforderungen des Absatzmarktes und der Shareholder zu reagieren und die im durch Internationalisierung dynamischeren und härter umkämpften organisationalen Feld vorherrschende „conception of control“ in ihrer inneren Struktur und ihrem Leitbild umsetzen. Wie im zweiten Teil dieser Studie gezeigt werden wird, erweist es sich als geeignete Strategie, sich zu einem gewissen Grade den Markt ins eigene Haus zu holen, indem man Wettbewerb und Networking zu Regulierungsmechanismen des Verhaltens der Akteure innerhalb der eigenen institutionellen Grenzen macht. Wie weiter im dritten Teil der vorliegenden Studie gezeigt werden wird, korrespondiert mit dem Strukturwandel im Unternehmen in Richtung von mehr Marktwettbewerb, mehr Networking auch ein kultureller Wandel, zum einen in die Richtung einer anderen, pragmatischeren Variante von organisationaler Rationalität (Abschnitt 3.1) sowie einer Unternehmensverfassung, die auf universalistischere Standards, für alle Mitglieder eines international operierenden Unternehmens gleichen Gleichheits- und Gerechtigkeitsstandards (Abschnitt 3.2). Folgt man stattdessen der Diversifizierungsthese, wird man davon ausgehen, dass die Unternehmen im organisationalen Feld der „Deutschland AG“ sich auf einem eigenständigen, historisch gewachsenen, durch das institutionelle Setting der das Unternehmen umgebenden Institutionen beförderten Entwicklungspfad befinden und deshalb nicht vor dem Erfordernis stehen, ihre Innovationstätigkeit, Geschäftsstrategie und innere Struktur fundamental zu verändern oder ihnen eine Abweichung von diesem Entwicklungspfad versperrt ist. Jörg Sydow, Georg Schreyögg und Jochen Koch (2005) beschreiben Pfadformation als einen durch das Moment der „increasing returns“ sowie sogenannte „small events“ oder „critical junctures“ bestimmten Prozess, in deren Folge es sich für Organisationen lohnt, einen bestimmten Entwicklungspfad in Bezug auf Innovationstätigkeit, Geschäftsstrategie und innere Struktur einzuschlagen und diesem Pfad zu folgen. Als Ergebnis einer solchen Pfadformation kann sich eine Lock-in-Situation einstellen, also eine Situation, in der es aus Perspektive der einzelnen Organisation lohnend erscheint, an einem einmel eingeschlagenen Pfad festzuhalten oder – noch extremer – eine Situation, in der für einzelne Organisation der Ausstieg aus dem zuvor gewählten und eingeschlagenen Entwicklungspfad tatsächlich oder vermeintlich ruinös wäre, sodass die Organisation auch dann am eingeschlagenen Entwicklungspfad festhält, wenn sie diesen Pfad für ineffizient erachtet. In diesem Fall sprechen Sydow, Schreyögg und Koch von Pfadabhängigkeit.23 Für eine Pfadabhängigkeit spricht das, was Windolf als Lock23 Pfadabhängigkeit ist ein in der Technik-, Organisations- und Wirtschaftssoziologie häufig verwendetes Konzept, das sowohl für die Technologieentwicklung als auch für die Entwicklung von Organisationen und Institutionen sowie von Settings von Organisationen und Institutionen herangezogen wird. Eines der bekanntesten Beispiele für Pfadabhängigkeit stammt aus dem Technik-Bereich und bezieht sich auf die Querty-Tastatur, die bis heute als Standard für Tastaturen verbreitet ist, obgleich sich mit der Transformation zur elektrischen Schreibmaschine und zum Computer das Gerät hinter der Tastatur fundamental verändert hat, also keinerlei technische Notwendigkeit zur Beibehaltung der Tastenanordnung gegeben ist. Steigende Skalenerträge, Lerneffekte bei der Benutzung der Technologie und ihre Übereinstimmung mit anderen Technologien sowie die die QuasiIrreversibilität der Investition sind drei Momente, die Jürgen Beyer mit Bezug auf Arthur zur Erklärung anführt (Beyer 2006: 14 ff.). Im weiteren Verlauf der Studie konzentriere ich mich auf Pfadabhängigkeit insofern als

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in-Effekte bezeichnet. Gäbe es einen globalen Institutionenwettbewerb im Sinne eines übergreifenden Marktwettbewerbs (Meta-Markt), wären ineffiziente Organisationen dem Untergang geweiht. Die Tatsache, dass ineffiziente Organisationen trotzdem überleben, beantwortet Windolf mit Bezug auf North mit dem Hinweis auf Transaktionskosten. Der Institutionswandel an sich verursacht Transaktionskosten, und aus der Perspektive der einzelnen Organisation können diese Kosten sehr hoch – möglicherweise zu hoch – sein. Je höher die Transaktionskosten sind, desto unwahrscheinlicher wird also der Institutionenwandel. Windolf zufolge überleben auch ineffiziente Organisationsformen, wenn die Transaktionskosten des Wandels zu hoch sind oder sie den Gesellschaftsmitgliedern zu hoch erscheinen (Windolf 2002: 416). Beyer bekräftigt Windolfs These in Bezug auf die Pfadabhängigkeit der institutionellen Entwicklung und argumentiert, dass es ganz verschiedene Mechanismen gibt, mit denen sowohl unterschiedliche Funktionsweisen der Kontinuitätssicherung und als auch verschiedene Destablisierungsoptionen verknüpft sind. Hintergrund der Pfadabhängigkeit der institutionellen Entwicklung können Nutzenerwägungen (bzw. Kostenminimierung) der Akteure ebenso sein wie die bestehenden Machtverhältnisse oder legitimatorische Gründe. Als Beispiel für Pfadabhängigkeiten, die auf „increasing returns“ beruhen, nennt Beyer den relativen Markterfolg der Computer-Marke Apple, deren Geräte, obgleich Betriebssystem und Dateiformate nicht mit den gängigen PC-Formaten kompatibel sind, bis heute bei einigen Berufsgruppen weit verbreitet sind. Ausdrücklich weist Beyer darauf hin, dass dieser Effekt nur bei selbsttragenden Institutionen wirksam ist und der Effekt aufgehoben wird, sobald Akteure aus der Nonkonformität Vorteile ziehen können. Wenn der erwartete Vorteil des Pfadwechsels hinreichende groß ist, die Transaktionskosten klein erscheinen, dann ist ein Pfadwechsel mit hoher Wahrscheinlichkeit zu erwarten (Beyer 2005: 14 ff.). Im Fall der „institutionellen Komplementarität“ ist davon auszugehen, dass die Vorteile aus der Verknüpfung verschiedener, zusammenwirkender Institutionen hinreichend groß sind, dass ein Interaktionseffekt in Richtung Pfadabhängigkeit resultiert. Geraten jedoch alle zusammenwirkenden Institutionen in gleicher Weise unter Anpassungsdruck, sind „Domino-Effekte“ zu erwarten. Das System der wechselseitigen Verstärkung in Richtung eines Festhaltens am bisherigen Entwicklungspfad bricht zusammen, und ein Pfadwechsel zeichnet sich ab (ebd.: 16). Als Beispiel dafür kann das Zusammenwirken von Finanzsystem, Corporate Governance, industriellen Beziehungen, Arbeitsmärkten, Berufsausbildung und Weiterqualifizierung sowie der daraus entstandenen Netzwerke von Forschung und Entwicklung innerhalb der „koordinierten Marktwirtschaft“ Deutschlands genannt werden, wie es bei Hall/Soskice (2001) beschrieben wird. Von „machtbasierter Pfadabhängigkeit“ spricht Beyer, wenn die Pfadabhängigkeit auf der Dominanz einer Machtelite beruht. Aber auch dieser Effekt kann aufgeweicht werden. Vorstellbar ist etwa der Mechanismus des „institutional layering“, der vorliegt, wenn Akteursgruppen zu wenig Macht besitzen, um einen Institutionenwandel effektiv herbeizuführen, aber stark genug sind, um neue Institutionen ergänzend einzuführen; kommt es infolge einer neuen Zusammensetzung alter und neuer Machteliten zur „institutional conversion“ Ändert sich die Institution, ohne dass ihr Sinn und ihre Funktion prinzipiell infrage gestellt werden damit Entwicklungspfade aus dem Zusammenwirken von Unternehmen und den sie umgebenden Institutionen angesprochen sind, namentlich die von Jürgen Beyer (2006) ausführlich diskutierte Thematik der Unternehmenskontrolle.

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(ebd.: 17). Anders verhält es sich bei legitimationsbasierter Pfadabhängigkeit, deren Grundlage der Glaube an die bisherige Verfassung bzw. an gemeinsam geteilte Werte und Normen ist. Auch dieser Effekt kann sich totlaufen, wenn sich ein Generationswechsel der „Trägerschicht“ vollzieht, indem etwa nachrückende Führungskräfte oder Eliten Sinn und Zweck der bestehenden institutionellen Praxis hinterfragen und es ihnen gelingt, eine neue Praxis zu etablieren. Der stärkste stabilisierende wirksame Effekt wird der funktionsbasierten Pfadabhängigkeit zugeschrieben, dahingehend, dass Zweckbestimmungen und systemische Erfordernisse einen Pfadwechsel nicht zulassen. Zeichnet sich jedoch eine Änderung der Funktionserfordernisse durch wechselnde Umweltbedingungen ab – z.B. durch dynamischere, härter umkämpfte, Märkte, einen internationalen Zuschnitt des organisationalen Feldes –, treten erhebliche Nebenwirkungen ein oder gelingt es anderen Anbietern, die von einer Institution bisher erfüllte Funktion zu übernehmen, bricht auch dieser Effekt zusammen (ebd.: 18). Als Anhänger einer These von Pfadabhängigkeit warnt Heidenreich beispielsweise in seinem Beitrag „Gibt es einen europäischen Weg in die Wissensgesellschaft?“, unvorsichtig von einer Konvergenz der Entwicklungspfade der Produktions- und Innovationsregime in Europa und Nordamerika auszugehen und führt Belege dafür an, dass der von ihm postulierte europäische Entwicklungspfad tatsächlich eine reale Entsprechung hat.24 Heidenreich stützt seine Argumentation insbesondere auf das Argument, dass der hohe gesellschaftliche Stellenwert der Klassenparteien und die ausgeprägte wohlfahrtsstaatliche Absicherung für den europäischen Weg bestimmend sind. Dies wendet Heidenreich nicht nur als legitimatorisches, sondern auch als funktionales Argument gegen einen Pfadwechsel der ökonomischen Entwicklung Europas. Hinsichtlich der wachsenden Finanzorientierung der Geschäftsprozesse und der Ausrichtung operativer und strategischer Entscheidungen des Managements mit Orientierug am Shareholder-Value, damit auch an den Erwartungen der Analysten, Broker und Anleger, für die deutschen Automobilindustrie, sehen Kädtler und Sperling (2002) zunehmende Distanz und wachsendes Konfliktpotenzial zwischen Management und Mitarbeitern, die neue Konflikte in den Arbeitsbeziehungen und den industriellen Beziehungen hervorrufen können. Ihrer Argumentation nach stiften die auf Konsens bedachten Arbeitsbeziehungen sozialen Frieden und tragen somit auch zur Gewährleistung des Unternehmenserfolgs bei. Kommt es zu Veränderungen durch Etablierung einer marktgetriebenen Profitcenter-Struktur und Wettbewerb als Mechanismus zur Leistungskoordination, stehen die konsensualen Arbeitsbeziehungen zur Disposition, ist somit auch der soziale Friede im Hinblick auf die industriellen Beziehungen infrage gestellt und – so die Befürchtung – auch die Leistungsfähigkeit der Unternehmen beeinträchtigt. Ähnlich argumentieren Jürgens et al. (2000). Sie heben hervor, dass Unternehmensführung mit Orientierung an der Steigerung des Unternehmenswertes, gemessen am 24 Folgt man Heidenreich, kann man nicht wie Giddens aufgrund der raumzeitlichen Abstandsvergrößerung die Entbettung des ökonomischen Handelns aus den historisch gewachsenen Institutionen sowie generell von der Entbettung sozialer Beziehungen aus ortsgebundenen Interaktionskontexten annehmen, sondern muss vielmehr von der strukturellen Einbettung des ökonomischen Handelns im Unternehmen in gewachsene, kulturhistorisch singuläre Institutionen ausgehen (vgl. Granovetter 1985). Heidenreich orientiert sich bei seiner Argumentation weitgehend an der Organisationstheorie von Niklas Luhmann (1971/1994; 2000), der von systemischer Produktion und Reproduktion der Organisationen durch Entscheidungen ausgeht und die totale Eigenhistorizität der organisationalen Entwicklung annimmt.

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Shareholder Value, die bei den Unternehmen im Feld der „Deutschland-AG“ auf ein feindlich gesinntes Umfeld stößt, weil Mitwirkung und Mitbestimmung in Deutschland historisch bedingt stark ausgeprägt sind und einen hohen Stellenwert haben. Damit wird jedoch impliziert, dass betriebliche Mitwirkung und Mitbestimmung auch unter den Bedingungen der Intensivierung des Marktwettbewerbs, des finanzmarktgetriebenen Globalisierungsdrucks und der technologischen Umwälzungen der Gegenwart formal und inhaltlich unverändert bestehen bleiben. Neuere Studien zeigen jedoch, dass Betriebsräte und Konzernbetriebsräte unter veränderten Bedingungen durchaus bereit sind, andere Strategien zu verfolgen als bisher, also die Einführung posttayloristischer, subjektorientierter Arbeitseinsatzkonzepte begleiten, wobei sie sich dem Management gegenüber kooperativ verhalten und gleichzeitig eigene Schwerpunkte setzen (vgl. Piorr/Wehling 2002; Weitbrecht et al.2002). In ihrer neueren Studie (2002) über die Bedeutung des Shareholder Value in der Automobilindustrie Europas bestätigen Jürgens et al. ihre Einschätzung in Bezug auf die schlechten strukturellen Rahmenbedingungen eines Management mit Orientierung am Shareholder Value, indem sie vier große, teils im Familienbesitz befindliche Automobilkonzerne betrachten, Fiat, PSA, Renault und Volkswagen. Sie kommen zu einer kritischen Einschätzung bezüglich der Frage, ob zunehmende finanzielle Orientierung zu größeren Gewinnmargen und höherem Unternehmenskapital führt als die Suche nach Synergien unter dem Einheitsprinzip (vgl. Simmel 1983: 61-78; 173-193). Die Autoren bezweifeln also die leistungssteigernden, integrativen Potenziale des Marktwettbewerbs. Stattdessen präferieren sie monokratisch-hierarchische Strukturen und die Formalisierung organisationaler Abläufe. Die Diskussionsbeiträge um erzwungene, mimetische oder normative Isomorphie oder Pfadabhängigkeit werden dem Leser zunächst als unvereinbare Gegensätze erscheinen. Bei näherer Betrachtung zeigen sich aber auch Gemeinsamkeiten. Beispielsweise besteht Einigkeit in dem Punkt, dass bezweifelt wird, ob die Strukturen der Unternehmen in der liberalen Marktwirtschaft der Vereinigten Staaten ohne weiteres und ad-hoc auf die Unternehmen im organisationalen Feld der „Deutschland AG“ übertragbar sind. Gemeinsam ist also den Vertretern beider Richtungen, dass sie zur Vorsicht mahnen und dass sie eine sozialtechnologische Herangehensweise ablehnen. Insofern erscheint es mir sinnvoll, diese Beiträge nicht als konträr, sondern vielmehr als komplementär aufzufassen: Danach beinhaltet die Angleichungsthese den durch die globale Finanzmarktlogik bedingten strukturellen Homologiedruck, der erst langfristig wirksam wird, während die Diversifizierungsthese auf die durch Einbettung in die sozialen Institutionen der koordinierten Marktwirtschaft mit korporatistisch, durch starke Verbände geprägten industriellen Beziehungen bedingten Beharrungstendenzen verweist, die kurzfristig stärker wirksam sind (vgl. DiMaggio und Powell 1983). Deutsche Unternehmen sind einerseits der systemischen Eigenlogik des globalen Finanzkapitalismus ausgesetzt. Die Börse belohnt Leistungen des Managements unmittelbar – oft sogar im Voraus für erwarteten, aber ungewissen Markterfolg – bestraft jedoch Fehlleistungen ebenfalls sofort. Dabei erwarten Anleger und Analysten von den Unternehmen, dass sie regelmäßige, umfassende Information über Leistungen und Finanzverhältnisse des Unternehmens und seiner Organisationseinheiten publizieren. Kommen Unternehmen den Publizitätspflichten nur unzureichend nach, hat dies nicht nur sinkende Aktienkurse und fehlende Liquidität zufolge, sondern zieht auch 62

rechtliche Konsequenzen nach sich. Mit dem als Reaktion auf den Enron-Skandal verabschiedeten Sarbanes-Oxley-Gesetz wird Shareholdern die Möglichkeit der Klage gegen Manager eröffnet, wenn Unternehmen ihren Publikationspflichten nicht ausreichend nachkommen (vgl. Castells 1996; Höpner 2003; One Hundred Seventh Congress of the United States of America 2002: H.R. 3763). Andererseits sind Unternehmen bei der Realisierung ihrer Ziele auf Intelligenz, professionelle Handlungsfähigkeit und glaubwürdiges Commitment ihrer Belegschaften angewiesen, die im Zuge der Produktions-, Arbeits- und Geschäftsprozesse erworben, aber auch ausgegeben werden können. Um diese subjektbezogenen Ressourcen effektiv zu nutzen, also Konflikte, Desintegration und Rückzug – etwa durch innere Kündigung – zu vermeiden, sind Unternehmen bestrebt, Konflikte zwischen Anleger- und Mitarbeiterinteressen nicht entstehen oder zumindest nicht in manifeste Konflikte ausarten zu lassen (vgl. Parsons 1990: 51-142; Behr 1995: 395 ff.). Trotz partieller Strukturangleichung, so die These dieser Studie, bei der letztlich das Konvergenzargument überwiegt, bleiben mittelfristig „typische“ Strukturmerkmale der „formal-rationalisierten Expertenorganisation“, wie er vom Institutionenarrangement der koordinierten Marktwirtschaft gestützt wird, erhalten. Der Strukturwandel aller Wirtschaftsunternehmen im organisationalen Feld der Deutschland AG hin zum Idealtyp „flexiblen Netzwerkorganisation“ vollzieht sich schrittweise und mit sehr unterschiedlichem Tempo je nach Wirtschaftsbranche und je nachdem, ob sich Unternehmen in der Position des incumbents oder des challengers befinden, mit unterschiedlich hohem Veränderungsdruck. Langfristig üben die Intensivierung des Marktwettbewerbs, die finanzmarktgetriebene Globalisierung und die technologischen Entwicklungen einen zunehmend starken Homologiedruck auf diese Unternehmen aus, sodass ein Strukturwandel unausweichlich wird. Damit kommt es auch zu einer deutlichen Aufwertung der Regulierungsmechanismen von „Wettbewerb“ und „Networking“ im Verhältnis zu „Hierarchie“ und „Formalisierung“ als Mechanismen der Leistungskoordination innerhalb der Wirtschaftsorganisation. Zwar verfolgen deutsche Unternehmen entsprechend ihrer Strukturmerkmale auf die Sicht von wenigen Jahren Wettbewerbsstrategien, die eher auf eine technische Optimierung, Produktdifferenzierung für diverse Anwendungsfelder, auf Entwicklung von hochdifferenzierten Produktionsverfahren sowie auf die Besetzung von Nischen in Hochpreissegmenten hinauslaufen, aber sie vernachlässigen tendenziell das Vordringen in neue Technologieklassen, die Eroberung neuer Absatzmärkte und die Ausrichtung ihrer Führungsstruktur am Leitbild des Shareholder Value. Traditionell sehen deutsche Unternehmen ihre Stärken eher bei Variation, Differenzierung und Perfektionierung vorhandener Produkte und Verfahren mit naturwissenschaftlich-technischer Orientierung als bei finanzmarktgetriebener Innovation über Fusionen und Übernahmen, Joint Ventures und Kostensenkung durch Controlling oder bei Innovation mit Orientierung an den Funktionen von Marketing und Design. Die Institutionen der „koordinierten Marktwirtschaft“ befördern die für deutsche Unternehmen kulturtypische Wettbewerbsstrategie der Positionierung in Marktnischen für hochgradig differenzierte, technisch aufwendige Produkte und Verfahren und die Nutzung entstehender Synergien zwischen verschiedenen Aktivitätsfeldern auf der Basis der

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naturwissenschaftlichen und technischen Expertise (vgl. Porter 1998; Streeck 1999; Jackson 2001; Vitols 2001; Manow 2001; Thelen/Kume 2001; Hall/Soskice 2001). 25 Der Finanzmarkt als wandlungsoffenste und dynamischste Institution im Umfeld der Unternehmen im Feld der „Deutschland-AG“ erzeugt einen Anpassungsdruck in Richtung der Angleichung an den Idealtyp der marktgetriebenen, flexiblen Netzwerkorganisation. Die übrigen Institutionen – Corporate Governance, industrielle Beziehungen, Anbieter von Berufsbildung und Weiterqualifikation, Arbeitsmärkte und soziale Sicherungssysteme – ändern ihre Strukturen und Prozesse nur reaktiv, mit erheblicher Verzögerung und nach Überwindung von Widerständen. Weil die Akteure dieser Institutionen im Umfeld dieser Wirtschaftsorganisationen zunächst an den bisherigen Handlungs- und Deutungsmustern festhalten, Befindlichkeiten und Ängste der Beschäftigten artikulieren und dadurch erst ins Zentrum des kollektiven Bewusstseins der Belegschaften rücken, verstärken diese Institutionen zunächst eher die Beharrungstendenzen statt zu ihrer Überwindung beizutragen. Folgt man jedoch der neofunktionalistischen Theorie, insbesondere dem Haas-Lindberg-Modell, üben die Wirtschaftsunternehmen im Feld der Deutschland-AG über den Spill-Over-Effekt auch auf die Institutionen im Umfeld des Wirtschaftsunternehmens Einfluss aus, bewirken also Veränderung bei Finanzsystemen und Strukturen der Corporate Governance, bei den industriellen Beziehungen, bei der Berufsausbildung und Weiterqualifizierung, bei den Arbeitsmärkten und Wohlfahrtssystemen. Weil diese Institutionen auf die „company needs“, die Bedürfnisse des Unternehmens, abgestellt sind, erzwingt der Strukturwandel des Wirtschaftsunternehmens auch Anpassungsleistungen von ihrer Seite.26 Wenn beispielsweise die Wirtschaftsunternehmen, die ihre historische Entstehung und Entwicklung im organisationalen Feld der „Deutschland-AG“ hatten und sich in der Position von incumbents befinden, einen Strukturwandel dahingehend durchlaufen, dass sie sich hin zum Idealtyp der marktgetriebenen, „flexiblen Netzwerkorganisation“ entwickeln, wobei sie sich insbesondere an den netzwerkförmigen Unternehmen aus dem Feld der New Economy in Nordamerika orientieren, dann verändern sich sukzessive auch ihre interorganisationalen Beziehungen: die Finanzierungsbeziehungen, die Abnehmer-ZulieferNetzwerke sowie die Netzwerke von Forschung und Entwicklung. Die genannten Institutionen im Umfeld der Wirtschaftsunternehmen, die bisher auf die „company needs“, somit auf eine Marktstabilisierung hingearbeitet haben, müssen nun feststellen, dass die Unternehmen 25 Wie in der Einleitung zu dieser Studie bereits herausgestellt, gibt Streeck eine Beschreibung des Institutionenarrangements für das organisationale Feld der „Deutschland AG“, von dem die anderen hier genannten Aufsätze und Artikel nicht abweichen. Zu den Besonderheiten des Institutionenarrangements der koordinierten Marktwirtschaft in Deutschland und Japan in Abgrenzung zur liberalen Marktwirtschaft, wie sie von den USA und Kanada vorherrscht, sowie zu den historischen Entstehungsbedingungen haben Streeck und Yamamura (2001) den Sammelband „The Origins of Nonliberal Capitalism“ herausgegeben. Trotz erheblicher kultureller Unterschiede weisen die koordinierten Marktwirtschaften Deutschlands und Japans zahlreiche Gemeinsamkeiten auf, aufgrund derer sie sich von der liberalen Ökonomie abgrenzen lässt. Einige Institutionen der koordinierten Marktwirtschaft, spezifisch die Strukturen von Corporate Governance (Jackson 2001), der Unternehmensfinanzierung (Vitols 2001), der sozialen Sicherung (Manow 2001), das Bildungs- und Ausbildungswesen (Thelen/ Kume 2001) sind auf ihre kulturtypischen Besonderheiten und historische Entstehungsweise untersucht worden. 26 Ursprünglich für die Thematik der europäischen Integration für die Regionen, die ja auch Wirtschaftsstandorte sind, entwickelt, besagt dieses Theoriekonzept, dass die Schaffung und Vertiefung europäischer Integration in einem bestimmten Wirtschaftssektor einen Druck dahingehend ausübt, dass weitergehende ökonomische Integration über diesen Sektor hinaus stattfindet, und dass sich eine weiter reichende politische autoritative Kraft auf der europäischen Ebene herauskristallisiert (vgl. Rosamond 2000: 60).

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ihre Präferenzen verändert haben, also auf Flexibilität in hart umkämpften, sich dynamisch verändernden Märkten setzen. Wenn die incumbents im organisationalen Feld der „Deutschland AG“ beispielsweise ihre Finanzierungsbeziehungen, ihre interne Machtstruktur, ihre interne Arbeitsteilung und auch ihre Unternehmenskultur so tiefgreifend verändert haben, erweisen sich ihre Leistungen für die Unternehmen möglicherweise als unzureichend. Dann steht ihre gesellschaftliche Funktion zur Disposition, nicht weil sich die Institutionen im Hinblick auf ihre Strukturen und Funktionsweise verändert haben, sondern vielmehr deshalb, weil sich mit Veränderung der Präferenzstruktur der Wirtschaftsunternehmen auch die interorganisationale und gesellschaftliche Arbeitsteilung so weitreichend und nachhaltig verändert hat, dass sie nur dann überlebensfähig sind, wenn sie dem Strukturwandel der Wirtschaftsunternehmen mit incumbent-position folgen. Ansonsten müsste man von funktionsloser Arbeitsteilung sprechen, und diese Institutionen im Umfeld des Wirtschaftsunternehmens würden ihren Niedergang erleben (vgl. Durkheim 1893/1992: 421-465).27 Die These dieser Studie läuft darauf hinaus, dass erzwungene, mimetische und normative Isomorphie in der Weise zusammen wirken, dass man ihre Effekte empirisch nicht auseinander halten kann. Legt man Wert darauf, die Unterscheidung aufrechtzuerhalten, muss man sich vergegenwärtigen, dass es sich lediglich um eine analytische Unterscheidung handelt. Man kann aber sagen, dass man der Konvergenzthese folgend von einer Grundströmung Strukturanpassung und Strukturangleichung ausgehen kann, der sich weder die Unternehmen noch die 27 Die funktionslose Arbeitsteilung ist eine der drei Formen pathologischer Arbeitsteilung. Ein erster Fall der pathologischen Arbeitsteilung ist die anomische Arbeitsteilung, bei der es, zumindest temporär, zu einem Zusammenbruch der organischen Solidarität kommt, mit der Konsequenz, dass es zu Regellosigkeit im Wirtschaftsleben kommt; die am Markt vertretenen Akteure befinden sich in einer Situation der Unsicherheit über die geltenden Regeln des wirtschaftlichen Austauschs. Im Fall der Anomie kann Arbeitsteilung nicht das Maß an sozialer Integration hervorbringen, das erforderlich ist, damit Verträge zustande kommen (Durkheim 1893/1992: 422; 433). Eine zweite, noch auffälligere Form der pathologischen Arbeitsteilung erkennt Durkheim in der Feindschaft zwischen Arbeit und Kapital als Resultat der erzwungenen Arbeitsteilung, bei der aufgrund von äußeren Restriktionen nicht jeder Marktteilnehmer die gleichen Möglichkeiten hat, den Platz im Wirtschaftsleben einzunehmen, der seinen Kenntnissen und Fähigkeiten entspricht (ebd.: 422; 443 ff.). Als dritte Form der pathologischen Arbeitsteilung bezeichnet Durkheim die Fehlkoordination der Funktionen, nicht nur unter Gesichtspunkten der Effizienz und Profitabilität, sondern auch unter dem Aspekt der Integration. Durkheim hatte bereits eine klare Vorstellung davon, dass sich diese beiden Aspekte komplementär zueinander verhalten. „In der Tat weiß man, dass in einer Verwaltung, in der ein Angestellter nicht genügend beschäftigt ist, die Bewegungen schlecht zusammenpassen, die Operationen nicht gut zusammenpassen, mit einem Wort, sich die Solidarität lockert, Zusammenhangslosigkeit und Unordnung auftauchen.“ (ebd. 459). Dieses Phänomen erklärt Durkheim mit der Analogie höherer Gesellschaften zu evolutionär höher entwickelten biologischen Organismen damit, dass eine Erhöhung der Anforderung an die Wirtschaftsakteure bis hin zu dem Punkt vollständiger Auslastung die Leistungsfähigkeit jedes einzelnen Wirtschaftsakteurs fordern, damit das Zusammenwirken der Kräfte im wirtschaftlichen Austausch aktivieren und letztlich Solidarität dadurch erzeugen, dass die Teile einander wechselseitig aktivieren, sich gegenseitig mitreißen (ebd.: 461 f.). „Genau dies geschieht in Unternehmen, in denen die Aufgaben derart geteilt sind, dass die Tätigkeit jedes Mitarbeiters unter das Niveau sinkt, die sie normalerweise haben müsste. Die verschiedenen Funktionen sind entsprechend viel zu unzusammenhängend, als dass sie sich genau aufeinander einspielen und im Gleichschritt verlaufen könnten. Daraus resultiert ihre unübersehbare Zusammenhangslosigkeit“ (ebd.: 463). Bezogen auf die Thematik des Strukturwandels der Wirtschaftsunternehmen und der Strukturen im Umfeld unter Globalisierungsdruck bedeutet dies, dass ein höheres Anforderungsniveau an die am Marktwettbewerb beteiligten Institutionen nicht nur das Potenzial birgt, die einzelnen Wirtschaftsunternehmen und die Institutionen in ihrem Umfeld in ihrer Entwicklung voranzubringen, sondern auch die Chance besteht, dass Solidarität erhöht wird und nicht im Zerfall begriffen ist, wie dies heutzutage üblicherweise vertreten wird. Die Solidarität im organisationalen Feld kann durchaus zunehmen, wenn ihre Funktionen und ihr Zusammenwirken globalisierungsbedingt stärker gefordert werden.

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Institutionen in ihrem Umfeld werden entziehen können. Die Aussage kann man dahingehend präzisieren, dass Spill-Over-Effekt ausgehend vom Wirtschaftsunternehmen im organisationalen Feld der „Deutschland AG“ auf die Institutionen im Umfeld wirksam ist. Daher ist zu erwarten, dass sie sich mit einiger zeitlicher Verzögerung und mit geringerem Entwicklungstempo an die Wirtschaftsinstitutionen im Modell der „liberalen Marktwirtschaft“ angleichen werden, wie sie für Nordamerika, insbesondere für die Vereinigten Staaten zu beobachten ist. Tatsächlich ist das für einige der Institutionen zu beobachten, wobei das Tempo des Strukturwandels sehr verschieden ist. Einige Strukturen im Umfeld der Wirtschaftsunternehmen haben sich sehr zügig an das Modell der liberalen Marktwirtschaft angeglichen, üben sogar Angleichungsdruck aus und treiben den Strukturwandel der Unternehmen im organisationalen Feld der „Deutschland AG“ voran. Andere tragende Säulen der koordinierten Marktwirtschaft Deutschlands weisen so starke Beharrungstendenzen auf, dass der Angleichungsprozess verlangsamt und temporär aufgehalten wird. Wichtigste Triebkraft der Strukturangleichung ist die Operationsweise der globalen Finanzmärkte.28 Windolf (2005 a; 2005 b) stellt heraus, dass der global operierende Finanzmarktkapitalismus als neues Produktionsregime das bisherige Produktionsregime abgelöst hat. Die tragenden Institutionen des globalen Finanzmarktkapitalismus sind die Aktienmärkte, die Investment-Fonds, die Analysten und Rating-Agenturen (boundary roles) sowie schließlich neuartige Transfer-Mechanismen (z.B. feindliche Übernahmen). Das Steuerungszentrum des Finanzmarkt-Kapitalismus bilden die Aktienmärkte auf denen, so Windolf, fiktives Kapital gehandelt wird. Da Aktienmärkte Unsicherheit nur fiktiv in Risiko transformieren können, bieten sie eine besonders günstige Gelegenheitsstruktur für opportunistisches Verhalten. Die Investment-Fonds bilden die ‚neuen’ Eigentümer.Durch ihr Anlageverhalten bewirken sie, dass Unternehmen keine andere Option bleibt als auf kurzfristige Profitmaximierung zu achten. Analysten und Rating-Agenturen besetzen in diesem System wichtige „boundary roles“, die Unsicherheit in Risiko transformieren sollen. Schließlich haben sich neue Transfermechanismen etabliert í bzw. andere als im organisationalen Feld der Deutschland-AG üblich í so z.B. der Transfermechanismus der „feindlichen Übernahme“. Somit sind die genannten Institutionen Protagonisten der Verbreitung einer neuen Regelhaftigkeit von Märkten: Die Kontrolle von Märkten wird entpersonalisiert, sie ist abstrakt, anonym und sachlich. 29 Ein Beispiel für langsame Angleichung sind Mitwirkung und 28

Im Zusammenhang mit der Frage nach den Ursachen für den Niedergang des neuen Marktes gibt Blomert (2005) liefert ein soziologisch fundiertes Verständnis für Struktur und Funktion der Börse. Deren institutionelle Normen und Regelsysteme haben sich ausgehend vom US-amerikanischen Finanzmarkt her verändert; sie haben neue Akteure auf den Plan gerufen, bisherige Akteure haben verschwinden lassen. Insbesondere hat sich das Regelsystem für den ökonomischen Austausch auf den Finanzmärkten verändert. Blomert erklärt den Niedergang des neuen Marktes mit einer neokonservativen Wende an den Finanzmärkten. Deregulierungsmaßnahmen, insbesondere die Reduzierung von Kontrollen, die Abschaffung von arbiträren Berufen mit Schnittstellenfunktion, die Übertragung von Kontrollmacht an Verbände, beruhten auf einer am Modell des Homo Oecnomicus orientierten Utopie, wonach der individuelle Marktegoismus automatisch zu einer Steigerung des Gemeinwohls führt. 29 Für den globalen Finanzmarkt-Kapitalismus heben Dörre und Brinkmann (2005) hervor, dass sich im Zuge einer langen Phase der Marktöffnung Elemente eines flexiblen Produktionsmodells ausgebildet haben, in dessen Folge immer größere gesellschaftliche Bereiche zum Gegenstand von marktförmigen Steuerungslogiken und Finanzkalkulationen gemacht werden. Allgemein zeichnet sich eine marktförmige Restrukturierung der Arbeitsgesellschaft ab. Allerdings ist das neue flexible Produktionsmodell, das sich infolge der Auseinandersetzungen in den sozialen Arenen des organisationalen Feldes herausbildet, hochgradig instabil und krisenanfällig. Kühl (2005) betont den Aspekt einer fundamentalen Bedeutungsverschiebung des Gewinns im Zuge der Verbreitung

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Mitbestimmung, die sich in der zweiten Hälfte 1990er Jahren noch als Beharrungstendenzen für den Strukturwandel der Arbeitsteilung in den produzierenden Unternehmen in die Richtung eines globalen Finanzmarkt-Kapitalismus dargestellt haben, sich aber spätestens seit dem Jahr 2000 an die veränderten Anforderungen angeglichen haben und zwar dahingehend, dass sie einen Funktionswandel durchlaufen haben, der verhindern kann, dass sie entbehrlich werden. Die Strukturangleichung auch in diesem Bereih ist damit zu erklären, dass Betriebsräte und Gewerkschaften ein Interesse daran haben müssen, sich für ihre Klientel unentbehrlich zu machen und deshalb neue Funktionen und Rollen übernehmen.30 Bleibt aber der zu erwartende Spill-Over-Effekt der Strukturveränderung in Richtung von Wettbewerb und Networking von Unternehmen auf die Institutionen der „koordinierten Marktwirtschaft aus, fehlt auch die Öffnung und Erweiterung von Handlungsspielräumen und Möglichkeitshorizonten für die Akteure. Kommt es sogar zum Spill-Back oder zum Encapsulate, hat dies sogar mehr Schließung und engere Begrenzung von Handlungsspielräumen und Möglichkeitshorizonten der Akteure zur Folge. Allerdings ist damit die Überlebensfähigkeit sowohl der Wirtschaftsunternehmen als auch der Institutionen in ihrem Umfeld gefährdet, weil das Handlungsdes Finanzmarkt-Kapitalismus. Charakteristisch für die moderne Organisationsforschung ist, dass sie Profitabilität nicht wie in großen Teilen der Betriebswirtschaftslehre und marxistischen Organisationsanalysen zum Ausgangspunkt ihrer Untersuchungen bzw. Problemanalyse macht, sondern lediglich als Mittel zur Gewährleistung von Liquidität macht. Kühl untersucht das Gewinnmotiv risikokapitalfinanzierter Unternehmen, die – so der konzeptionelle Rahmen – durch die Logik eines „Exit-Kapitalismus“ anstelle eines „Voice-Kapitalismus“ bestimmt sind. Das hervorstechende Merkmal dieses „Exit-Kapitalismus“ besteht darin, das Investoren, Gründer, Führungskräfte und Mitarbeiter ihr Engagement im Unternehmen aus der Perspektive der Planung eines möglichst profitablen Ausstiegs planen. Kühl zufolge wird sowohl in Boom-Phasen als auch beim Einbruch der Börsenkurse Profit als Mythos genutzt, um weitere Finanzierungen am Kapitalmarkt zu erhalten. Knorr-Cetina und Brügger (2002 b; 2005) untersuchen Interaktionsmuster globaler Finanzmärkte (Devisenhandel) ausgehend von Daten, die auf den Handelsetagen des Interbank-Welthandels globaler Banken erhoben wurden. Dafür führen die Autoren den Begriff der „globalen Mikrostrukturen“ ein. Trotz der globalen Reichweite der Interaktionsbeziehungen handelt es sich bei den Interaktionen auf den Transaktionsplattformen globaler Finanzmärkte um Mikrostrukturen. Die These lautet, dass die Interaktionsformen auf Märkten, die eine Regelhaftigkeit für Märkte konstituieren, konstitutiv für globale soziale Formen allgemein werden. Märkte, so die Autoren, sind durch globale Konversationen gekennzeichnet, die ihre soziale Liquidität gewährleisten und durch die Marktzusammenbrüche und Lücken überbrückt werden. Um dies nachzuweisen, nutzen sie Schütz’ Konzept zeitlicher Koordination. Der Artikel zeigt einerseits, welche Formen der Sozialität den Märkten zu eigen sein können, andererseits, wie globale soziale Formen auf der Grundlage von Interaktionszusammenhängen produziert, aufrechterhalten und erneuert werden können. 30 Zum Strukturwandel der Institutionen der „koordinierten Marktwirtschaften“, die sich im Umfeld von Wirtschaftsunternehmen befinden, siehe die Studie von Piorr/Wehling (2002) sowie von Weitbrecht et al. (2002) über die neue Rolle von Betriebsräten im Zuge der Einführung posttayloristischer, subjektbezogener Arbeitseinsatzkonzepte. Darin führen die Autoren den Nachweis, dass sich Betriebsräte von ihrer bis ca. Mitte der 1990er Jahre praktizierten Strategie der Blockade der Gruppenarbeit im Sinne einer konfliktorientierten Politik der Verteidigung und Aufrechterhaltung etablierter Besitzstände abgewendet haben und stattdessen darum bemüht sind, aktiv ihren Beitrag bei der Implementation von Gruppenarbeit in den Betrieben zu leisten, den Strukturwandel der Arbeitsorganisation aus einer Arbeitnehmerperspektive zu begleiten und im in Kooperation mit betroffenen Mitarbeitern, Führungskräften und Prozessverantwortlichen eine neue organisationale Wirklichkeit mitzugestalten. Betriebsräte haben also ihre Aufgabe und Rolle im Unternehmen neu definiert. Interessant ist, dass sich die Betriebsräte dabei auch ein neues Selbstverständnis aneignen, weil sie nicht mehr das Festhalten an der bisher praktizierten Arbeitsorganisation als Erfolgskriterium definieren, sondern die Autonomie – die Handlungsfähigkeit – der Arbeitsgruppe. Der nächste logische Schritt besteht m.E. darin, in Kooperation mit dem Unternehmen die Leistungsfähigkeit in den Mittelpunkt zu stellen und an der Ausarbeitung geeigneter Methoden mitzuwirken. Folgt man dabei dem Ansatz des neuen Institutionalismus und anderen soziologischen Ansätzen, dann entsteht Leistungsfähigkeit im Sinne von Effizienz und Profitabilität nicht als allgemeine Größe unabhängig vom Insitutionenarrangement, sondern vielmehr dadurch, dass die Zusammenarbeit im Unternehmen in die übergreifende institutionelle Struktur eingebettet ist (vgl. Granovetter 1985; Fligstein 2005 a; 2005 b).

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spektrum, das der Organisation zur Anpassung an wechselnde Marktbedingungen zur Verfügung steht, deutlich eingeschränkt wird. Vollziehen die Institutionen der koordinierten Marktwirtschaft den Strukturwandel der Wirtschaftsorganisation nach, indem sie ihre eigenen Strukturen und Prozesse entsprechend verändern, können temporär Anomie, Desintegration und offene Konflikte auftreten. Diese Begleiterscheinungen des Strukturwandels sowohl der Wirtschaftsunternehmen als auch des übergreifenden organisationalen Feldes werden umso virulenter, je schneller und je fundamentaler der Strukturwandel der Unternehmen verläuft, und je weiter sich das Unternehmen damit von den Institutionen in seinem Umfeld entfernt (vgl. Rosamond 2000: 71; Behr 1995; Heidenreich 1997, Durkheim 1893/1992: 421-465).

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2. Strukturwandel der Unternehmen im organisationalen Feld der Deutschland AG: Von der formal-rationalisierten Expertenorganisation zur flexiblen Netzwerkorganisation?

2.1 Leistungsorganisation: Von Hierarchie und Formalisierung zu Marktwettbewerb und Networking als Koordinationsmechanismen Folgt man dem Mainstream der Arbeits- und Industriesoziologie, verhalten sich Wettbewerb und Networking konträr zum Prinzip von „Organisation“. Das Prinzip „Organisation“ ist durch hierarchische Über- und Unterordnung, konkrete Machtverhältnisse und damit verbundene Entscheidungsspielräume gekennzeichnet, besonders jedoch durch Formalisierung der bestandsrelevanten Funktionen und Abläufe (vgl. Weber 1922/ 1972: 20 f.; 124-130; 551579; Luhmann 1971/1994; 2000; vgl. Sydow 1992; Powell 1990).31 Dieser weit verbreiteten Auffassung liegt die Annahme zugrunde, dass „Organisation“ als Prinzip mit hierarchischer Über- und Unterordnung sowie mit der Formalisierung organisationaler Abläufe identisch ist, während der Wettbewerb weitgehend der Sphäre des freien Marktes außerhalb der institutionellen Grenzen des Wirtschaftsunternehmen verbleibt wirdund das Networking der zivilgesellschaftlichen Sphäre, also der gesellschaftlichen Gemeinschaft als Integrationskern der mo31 Zunächst stehen sich folgende Konzepte des Networking gegenüber: Networking als intermediäre Form zwischen Hierarchie einerseits und Markt andererseits, wie Sydow (1992) sie auffasst, oder aber Networking als dritte Form der Leistungskoordination jenseits von Markt und Hierarchie, wie Walter W. Powell (1991) sie auffasst. Powell zufolge entspricht also das Networking weder dem Marktmechanismus, wie man ihn am freien Markt antrifft, noch entspricht es in seiner Funktionsweise der Hierarchie, die innerhalb des Unternehmens dominiert; vielmehr ist das Networking eine eigenständige Form der Leistungskoordination, die ohne ein bestimmtes Quantum an Vertrauen nicht funktioniert (Powell 1991). Ein anderes Netzwerkkonzept geht auf Granovetter (1982) zurück. Granovetter führt die Unterscheidung zwischen starken und schwachen Bindungen ein, wobei starke Bindungen durch direkte Kontakte, große Häufigkeit und hohe Dichte der Interaktion gekennzeichnet sind, hingegen schwache Bindungen vermittelt über andere Personen und Instanzen zustande kommen. Starke Bindungen haben den Vorteil der Schaffung von Berechenbarkeit; zugleich haben den Nachteil des fehlenden Zugangs zu Information von außen aufgrund der sozialen Schließung, die mit starken Bindungen einhergeht. Schwache Bindungen haben den Vorteil deutlich größerer Offenheit und Dynamik. Sie öffnen den Akteuren Zugang zu Informationen außerhalb der Hauptbezugsgruppe.Zugleich haben sie den Nachteil geringerer Berechenbarkeit für die Akteure. Das Sozialkapital eines Akteurs, sowohl eines Unternehmens als auch eines Akteurs, z.B. einer Person, setzt sich aus starken und schwachen Bindungen zusammen. Aus Sicht des Akteurs ist das Sozialkapital optimal, wenn es gelingt, ein geeignetes Gleichgewicht zwischen starken und schwachen Bindungen herzustellen, sodass sowohl Verlässlichkeit und Vertrauen gewährleistet sind als auch der Zugang zu Informationen von außen nicht verschlossen ist. In Ergänzung zu Granovetter führt Burt (2001) den Begriff der „strukturellen Löcher“ ein, also Brokerage-Funktionen zwischen verschiedenen, im übrigen getrennten sozialen Gruppierungen, die dem Akteur einen Informationsvorsprung sichern und mithin sein Sozialkapital – seinen Wert für alle Referenzgruppen im Verhältnis zu anderen – steigern. Das Netzwerkkonzept von Granovetter (1982) und Burt (2001) ist eng an Simmels Studie über die „Kreuzung sozialer Kreise“ angelehnt (1992: 456511). In dieser Studie werde ich Hierarchie und Formalisierung als zusammengehöriges Set von Mechanismen der Leistungskoordination und Wettbewerb und Networking als zweites Set von Mechanismen der Leistungskoordination einander gegenüberstellen; das Konzept ist Parsons’ Dilemmata der Handlungstheorie entnommen (vgl. Münch 1988: 233-238). Analog dazu wird hier ausgeführt, dass Unternehmen, die näher am Idealtyp der formal-rationalisierten Expertenorganisation stehen, die Lösungen für Probleme der Leistungskoordination irgendwo auf dem Kontinuum zwischen Hierarchie und Formalisierung suchen werden, Unternehmen, die näher am Idealtyp der flexiblen Netzwerkorganisation stehen, Lösungen für Probleme der Leistungskoordination irgendwo auf dem Kontinuum zwischen Wettbewerb und Networking, wie es bei Granovetter (1982) und Burt (2001) dargestellt wird, suchen.

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dernen, westlich geprägten Gesellschaft und deshalb auch nicht genuiner Teil der modernen rationalen Organisation ist (vgl. Parsons 1972/1996: 12-42; Sennett 1998: 57-80; Münch 2002). Umso größer sind die Herausforderungen, welche durch die wachsende Umstellung auf flache Hierarchien, Profitcenterstruktur und interdisziplinäre Teamorganisation an das in Deutschland etablierte, auf Hierarchie und Formalisierung fokussierte Organisationsverständnis gestellt werden, weil sich diese Organisationsform Wettbewerb und Networking als Mechanismen zur Leistungskoordination zunutze macht. Damit kann z.B. Commitment der Mitarbeiter für Zielsetzungen und Leitbilder ihrer Unternehmen erzeugt werden, weil sich eine klare Grenze zwischen Organisation und Markt nicht mehr aufrechterhalten lässt, sondern der Markt integrativer Teil der Organisation ist (vgl. Koike 1994; Kern/ Sabel 1994; Voß 1994; Behr 1995; Münch/Guenther 2005). Spätestens seit dem Ende der 1990er Jahre geht der Blick der Entscheidungsträger von Unternehmen im organisationalen Feld der „Deutschland-AG“ besonders in Richtung der Vereinigten Staaten, wo die Ökonomie unter dem Eindruck des New Economy-Booms und des Aufstiegs flexibler, aus marktlich koordinierten Einheiten bestehenden Firmen und Netzwerke einen außergewöhnlich langen Boom erlebte, der bis heute nachwirkt, obgleich er inzwischen vorüber ist (vgl. Castells 1996: 151200; 2001; Kühl 2002). Entscheidungsträger orientieren sich zunehmend am Modell von flacher Hierarchien, Profitcenterstruktur, Teamorganisation und flexiblen Netzwerken der Forschung und Entwicklung wie in der liberalen Ökonomie der Vereinigten Staaten im Gegensatz zu der langfristig angelegten, kooperativen, durch gewachsenes Vertrauen geprägten Netzwerken der Forschung und Entwicklung in der koordinierten Marktwirtschaft Deutschlands. Wie die Verfasserin dieser Studie zunächst allgemein, dann am Beispiel des BayerKonzerns zeigen wird, wirkt sich dies von der Unternehmensspitze bis hin zur Konzernbasis aus, betrifft also nicht nur Management und Governance-Strukturen an der die Konzernspitze, sondern ebenfalls die Kooperationsbeziehungen in den Betrieben und an den Produktionsstandorten. Über die kybernetische Bedingungs-Steuerungs-Hierarchie wirkt sich ein Strukturwandel des Unternehmens unter Globalisierungsdruck, der zunächst unmittelbar die Leistungskoordination, z.B. die Optimierung der Produktions-, Arbeits- und Geschäftsprozesse unter Kosten-Nutzen-Aspekten zum Gegenstand hat, auch auf die Ebene der Unternehmenssteuerung und Führung und mittelbar sogar auf Sozialintegration und Unternehmenskultur aus. Mit neofunktionalistischen Ansätzen wird argumentiert, dass – falls es nicht gelingt, ein bestimmtes Mindestmaß an gegenseitiger Achtung, sozialem Zusammenhalt und „Wir-Gefühl“ aufrechtzuerhalten, Uneinigkeit darüber besteht, welche Akteure und Gruppierungen zur Unternehmensgemeinschaft gehören und welche nicht, dann fehlt es an gemeinsam geteilten Vorstellungen davon, was Gleichheit und soziale Gerechtigkeit beinhalten, sich dies für das Unternehmen insgesamt negativ aus wirkt. Die Konsequenz besteht in einer Beeinträchtigung der Leistungsfähigkeit, zumindest, wenn dieser Zustand nicht nur eine temporäre, durch schnellen Wandel bedingte Erscheinung ist. Intermediäre Organisationsformen – gemeint ist hiermit eine Leistungskoordination zwischen von Personen, Gruppen und Organisationseinheiten, die zwischen Marktwettbewerb und Networking einerseits, Hierarchie und Formalisierung andererseits, steht – werden in der Fachliteratur häufig kritisch distanziert aufgenommen. Zahlreiche Autoren heben Wider70

sprüche in Bezug auf die Funktionsweise der intermediär mit dem Markt verflochtenen Unternehmen hervor: Hirsch-Kreinsen (1995) geht davon aus, dass Dezentralisierung der Leistungskoordination und Marktwettbewerb als interner Regulierungsmechanismus im Widerspruch zum auf Hierarchie und Formalisierung beruhenden Prinzip von Organisation stehen, weil Hierarchie Eintritte neuer Akteure und Austritte bisheriger Akteure verhindert und damit Stabilität gewährleistet. Mit der Einführung des Marktwettbewerbs als Mechanismus der Leistungskoordination ist diese Stabilität nicht länger gewährleistet, sodass die Gefahr von anomischer Arbeitsteilung sowie von Desintegration besteht (vgl. Durkheim 1893/1992: 421 ff.). Dabei knüpft Hirsch-Kreinsen implizit an das Konzept der anomischen Arbeitsteilung bei Durkheim an. Durkheim zufolge ist zu erwarten, dass sich die Funktionen nicht mehr ineinander fügen, sondern nebeneinander stehen bleiben, die Zuständigkeiten und Entscheidungsbefugnisse, die mit bestimmten Positionen verknüpft sind, ungeklärt sind. Wenn also die Mitglieder der Organisation nicht darüber informiert sind, wer für welche Aufgabe zuständig ist, wo die Entscheidungsbefugnisse in bestimmten Fragen liegen, sind Reibungsverluste, Umwege und doppelte Arbeit unvermeidlich. Gelingt es der Organisation nicht, Redundanzen wie diese zu beseitigen oder wenigstens in Grenzen zu halten, ist nicht nur die ökonomische Leistungsfähigkeit der Organisation beeinträchtigt, sondern es liegt auch eine Form der Arbeitsteilung vor, die keine Solidarität mehr erzeugt, sodass auch der soziale Zusammenhalt gefährdet ist (ebd.). In einem neueren Artikel (2002) schwächt Hirsch-Kreinsen seine These dahingehend ab, dass die Herausbildung der Netzwerkform mit komplex-reziproken, eher kooperativen als komparativen und stabilen Interaktionsbeziehungen und die Hybridform des Unternehmens zwischen Hierarchie und Markt Koordinationsprobleme nach sich zieht, die den Aufbau von Vertrauen, von Komplexität und von struktureller Anpassungsfähigkeit beeinträchtigen (Hirsch-Kreinsen 2002, Sydow 1992: 98 ff.). Wolf (1997) stimmt Hirsch-Kreinsen in dem Punkt zu, dass Wettbewerb für die Auseinandersetzung zwischen verschiedenen Organisationen auf dem offenen Feld des Marktes kennzeichnend ist, während „Hierarchie“ und „Formalisierung“ Organisation konstituieren. Er beurteilt Dezentralisierung und Marktmechanismus innerhalb von Organisationen ebenfalls skeptisch (vgl. Sydow 1992: 98-104; Powell 1990). Wolf zufolge können sich innerhalb des Prinzips von formal-hierarchischer Organisation lediglich „Pseudo-Märkte“ etablieren. Diese geraten dann in Konflikt mit den Prinzipien von „Hierarchie“ und „Formalisierung“. Ein Beispiel für solche „Pseudo-Märkte“, die anomische Arbeitsteilung hervorrufen, ist auf der Betriebsebene und der Ebene der Produktionsstandorte die Überführung von Service-Abteilungen, wie z.B. Schlosser- und Elektrikerabteilungen, in unternehmerisch eigenverantwortliche Profitcenter mit eigenem Budget, mit der sich Service-Abteilungen als Zuliefereinheiten für die Produktionsmannschaften auf dem Shop-Floor etablieren sollen. Analog werden Service-Betriebe als Profitcenter auf der Ebene der Produktionsstätten (Chemieparks) installiert. Maßnahmen wie diese erfolgen unter der Prämisse, dass operative Geschäftsbereiche als zentrale und Servicebereiche in der Peripherie separat geführt werden sollen, um die Konzentration auf die Kernkompetenzen zu gewährleisten (vgl. Kern/Sabel 1994; Schumann et al. 1994). Müssten sich die Serviceeinheiten unter den Bedingungen eines „echten“ Marktes positionieren, würden sie ihre Position im Netzwerk 71

der Organisation verbessern, wenn sie profitabel arbeiten, aber auch verschlechtern, wenn sie ineffizient wirtschaften. Erfolgt die Überführung der Serviceeinheiten in Profitcenter jedoch innerhalb des „Pseudo-Marktes“ im Handlungsbezugsrahmen von „Hierarchie“ und „Formalisierung“ mit Restriktionen bezüglich des Verantwortungsbereichs, der Entscheidungsbefugnisse, des Kundenkreises und des Budgets, erübrigt sich ebenfalls die Anreizfunktion des Marktes für die zum Unternehmen gehörenden Serviceeinheiten. Sie können sich zwar konsolidieren, aber nicht wachsen. Sie können Kompetenzen abgeben, aber keine hinzugewinnen. Dies lässt einerseits die Empfehlung einer Reduzierung des Marktwettbewerbs als Mechanismus der Leistungskoordination – also den Ruf nach Rezentralisierung – zu, wie ihn HirschKreinsen formuliert, legitimiert jedoch andererseits ebenso die Forderung, „Wettbewerb“ und „Networking“ konsequenter als bisher als Mechanismen zur Leistungskoordination innerhalb der Organisation zu etablieren, um die Effizienz der Arbeitsteilung zu erhöhen, sodass die Funktionen reibungsloser ineinander greifen, also Redundanzen vermieden werden können. Übertreibungen des Einsatzes von Hierarchie und Formalisierung können die Leistungsfähigkeit der Organisation ebenfalls beeinträchtigen. Dies ist der Fall, wenn im Unternehmen die Überzeugung weit verbreitet ist, dass sämtliche Probleme der Leistungskoordination allein mithilfe von Formalisierung und Hierarchie zu bewältigen sind. Wie Durkheim ebenfalls gezeigt hat, bewirkt eine zu hohe Regulierungsdichte, die entsteht, wenn man immer neue Regelungen hinzufügt, ohne überflüssige, veraltete Regulierungen zu streichen, zu einer solch hohen Regulierungsdichte, dass die Mitglieder den Überblick verlieren, und zu einer Vielzahl von Positionen, denen sich keine konkrete Funktion mehr zuordnen lässt. Um funktionslose Arbeitsteilung zu vermeiden, ist es erforderlich, dass mit jeder Position auch Funktionen verknüpft sind, die tatsächlich eine Anpassung an wechselnde Markterfordernisse erbringen, oder die effektiv einen Beitrag zum internen Zusammenhalt der Organisation leisten. Kommt es also zu dieser funktionslosen Arbeitsteilung, ist die ökonomische Leistungsfähigkeit der Organisation insgesamt beeinträchtigt. Dies führt erneut zu einer Beeinträchtigung der Solidarität im Unternehmen, weil die Arbeitsteilung sich als nicht mehr geeignet erweist, Solidarität zu erzeugen (vgl. Durkheim 1893/ 1992: 421-464; 1895/1995: 141-165). Jens Beckert wendet sich gegen Positionen, die von einem Automatismus des Marktmechanismus als Regulierungsmechanismus zwischen Akteuren ausgehen, ohne jedoch eine normative Position gegen im Unterschied zu auf Hierarchie oder Vergemeinschaftung beruhenden Formen der Leistungskoordination zu beziehen. In seinem Buch „Grenzen des Marktes“ (1997) setzt er mit einer soziologischen Kritik am ökonomischen Rationalitätsmodell des Homo Oeconomicus erstens vor dem Hintergrund der Kooperation, zweitens vor dem Hintergrund des Problems der Unsicherheit der am Markt beteiligten Akteure, zweitens der Innovation und des Lernens. Mit Bezug auf soziologische Studien von Emile Durkheim, Max Weber, Talcott Parsons, Niklas Luhmann und Anthony Giddens hebt Beckert hervor, dass das Zustandekommen des Markttauschs sehr voraussetzungsvoll ist, also die Bereitschaft der Akteure in den Austausch von Gütern und Diensten einzutreten zu tauschen, sozial voraussetzungsvoll und ohne das Vorhandensein relevanter Institutionen nicht vorstellbar ist. Das Potenzial des Marktes als soziales Koordinierungs- und Organisationsprinzip – innerhalb oder außerhalb des Kontextes von Organisation – erschließt sich über die Auseinandersetzung mit 72

den Grenzen des Marktes, damit auch derGrenzen der in der Ökonomie verbreiteten Vorstellungen von Rationalität. Damit ist die Frage, in welchen Bereichen Märkte zustande kommen, obgleich ihr Zustandekommen nach Maßgabe des ökonomischen Modells der Rationalität nicht oder schwer erwartbar wäre, sowie im umgekehrten Fall ein wichtiger Schlüssel zur Lösung des Problems, wo die mit dem Markt verbundenen Chancen zur Steigerung sozialer Effizienz liegen. Als Grenzen des Marktes identifiziert Beckert erstens Normen und Institutionen in Bezug auf Erwartungen und Berechenbarkeit, zweitens gewachsene Traditionen, Gewohnheiten und Routinen im Hinblick auf die Reduktion von Ungewissheit bei den am Markttausch betreiligten Akteuren, drittens soziale Strukturmuster als Bedingungen für Entscheidungen, beispielsweise Netzwerke, organisationale Strukturen, Pfadabhängigkeiten, viertens gegebene Machtverhältnisse, die für Marktpositionierung der Akteure, für das am Markt vorherrschende kulturell bestimmtes Leitbild sowie für Regulierungsfragen bedeutsam sind (Beckert 1997: 403-415). Ebenfalls Nutzen von Marktwettbewerb und Networking als Mechanismen zur Leistungskoordination äußert sich Stefan Kühl. Im Gegensatz zu Beckert bezieht sich Kühl auf den Marktmechanismus zur Leistungskoordinatiion im Unternehmenskontext. In einem Beitrag über das erfolgreiche Scheitern von Gruppenarbeitsprojekten (2001) beginnt Kühl mit der Feststellung, dass teilautonome Gruppenarbeit als Indiz für die Abwendung der Unternehmen von tayloristischen, stark am fordistischen Produktionsmodell ausgerichteten Arbeitseinsatzkonzepten gedeutet wird. Anhand von Fallbeispielen wird die Rücknahme von Gruppenarbeitsprojekten untersucht, die erfolgte, obgleich teilautonome Gruppenarbeit seit den späten 1990er Jahren als wirtschaftliche Erfolgsgeschichte galt. In seiner Untersuchung vertritt Kühl die These, dass teilautonome Gruppenarbeit ein äußerst fragiles, weder von Machtaspekten noch von der Subjektivität des Personals freies Konstrukt ist, sodass die Einführung von Gruppenarbeit, die Bedeutung des Personals nicht habe zurückgehen, sondern im Gegenteil sogar steigen lassen (ebd.: 213; 214-218). Kühl wehrt sich gegen die Auffassung, dass die von ihm untersuchten Gruppenarbeitsprojekte im einzelnen gescheitert sind, obwohl dort faktisch keine Autonomie mehr über Auftragssteuerung, Auftragsplanung, Instandhaltung, Logistik und Personalplanung mehr gegeben ist, und vertritt die Position, man solle Gruppenarbeitsprojekte als erfolgreich gescheiterte Reorganisationsprojekte begreifen. Der Erfolg oder Misserfolg von Gruppenarbeit hängt Kühl zufolge davon ab, wie gut es Unternehmen gelinge, die widersprüchlichen Anforderungen der Umwelt intern abzubilden und die Unterstützung der wichtigsten Interessensgruppen zu mobilisieren. Gelingt dies einem Unternehmen, ist die Legitimität für seine Reorganisation gegeben, sodass man von einer erfolgreich scheiternden Organisation sprechen kann. Der Erfolg zeigt sich darin, dass die Organisation bestehen bleibt, obwohl Effizienz bei der Mobilisierung knapper Ressourcen und Effektivität bei der Umsetzung von Entscheidungen nicht gegeben sind. Ohnehin stelle das Streben nach Gewinn für Organisationen ein „constraint“ – nicht ein „objective“ – dar, schreibt Kühl (ebd.: 218 f.). In einem neueren Beitrag mit einer Untersuchung über netzwerkförmige, marktlich koordinierte Unternehmen aus der New Economy, zu deren Merkmalen flache Hierarchien und dezidiert partizipative Arbeitseinsatzkonzepte gehören, die den Mitarbeitern ein hohes Maß an Commitment abverlangen, stellt Kühl fest, dass Wettbewerb und Networking nicht unbedingt 73

die am besten geeignete Antwort auf lange Entscheidungswege, ungenügende Kooperation zwischen Einheiten der Funktionalorganisation und Motivationsdefizite bei Mitarbeitern sein müssen. Am Beispiel einer Untersuchung über deutsche New-Economy-Unternehmen im Internetsektor zeigt Kühl, dass die Unternehmen der New Economy anfänglich die Nachteile von Hierarchie und Formalisierung erfolgreich umgangen haben, indem sie die Funktionsweise einer als gruppenförmig strukturierte Face-to-Face-Organisationen aneigneten und ihre Arbeitsteilung je nach Markterfordernissen immer wieder ad hoc anders gestalten konnten. Für eine kurze Phase am Ende der 1990er Jahre hatten die Dotcoms aufgrund ihrer Flexibilität Vorbildcharakter für die etablierten Unternehmen der Old-Economy. Wettbewerb und Networking wurden groß geschrieben, Hierarchie und Formalisierung waren praktisch bedeutungslos. Im Cluetrain-Manifest, dem thesenartig abgefassten Glaubensbekenntnis von Gründern, Managern und Mitarbeitern des Internetsektors aus den späten 1990er Jahren heißt es: „Die Hyperlinks untergraben Hierarchien“. Allerdings, so Kühl, funktioniert die gruppenförmig organisierte Face-to-Face-Organisation nur solange ohne Hierarchie und Formalisierung, wie alle Mitglieder an einem Konferenztisch Platz finden. Sobald die Organisation eine kritische Größe überschreitet und mehr als ein bestimmtes Maß an Umweltkomplexität zu verarbeiten hat, ist es für sie unvermeidlich, Hierarchie und Formalisierung auszudifferenzieren (Kühl 2002: 191 ff.). Wird eine bestimmte Organisationsgröße überschritten, kann die Arbeitsteilung jedoch nicht länger ad-hoc reorganisiert werden. Die Organisation kommt nicht mehr ohne detaillierte Stellenbeschreibungen aus. Sind Entscheidungen zu treffen und zu implementieren, benötigt die Organisation formalisierte und standardisierte Prozesse, welche Verbindlichkeit von Vereinbarungen und Legitimität getroffener Entscheidungen sichern und damit Berechenbarkeit schaffen. Ebenso benötigt sie formal definierte Positionen, mithilfe derer sie Umsetzung von Entscheidungen gewährleistet – unabhängig von der Person, welche eine bestimmte Position momentan besetzt (ebd.: 199 f.) Für die New-EconomyUnternehmen im Internetsektor kam es in dem Moment zu einer kritischen Phase, als sie das benötigte Venture Capital nicht unabhängig von Projekterfolgen akquirieren konnten, sondern Anleger und Analysten dezidierte Anforderungen an die Unternehmen stellten, z.B. feste Ansprechpartner für die Investor Relations haben wollten, Strukturen und Prozesse einforderten, die Berechenbarkeit sichern (ebd.: 198-202). Kühls Argumentation kann als Sachzwangargument entlarvt werden: Um mehr Umweltkomplexität bewältigen zu können als bisher, muss das Sozialsystem Organisation „Hierarchie“ und „Formalisierung“ als Mechanismen der Leistungsorganisation ausdifferenzieren. Es muss z.B. formale Kriterien für Einschluss und Ausschluss entwickeln. Im Sozialsystem Organisation müssen eine funktionale Differenzierung und Mitgliedschaftsrollen ausdifferenziert werden. Die moderne Organisation benötigt formale Strukturen und Programme, um Umweltkomplexität innerhalb eines bestimmten gesellschaftlichen Funktionssystems nach Maßgabe eines bestimmten Codes verarbeiten zu können, so z.B. innerhalb des Funktionssystems Wirtschaft nach dem Code von Zahlen und Nichtzahlen. Um ihren Bestand zu sichern, muss sich die Organisation sinnhaft von ihrer Umwelt abgrenzen. Auch muss sie sich von der Subjektivität ihrer Mitglieder abgrenzen, die für sie ebenfalls Umwelt bedeutet (vgl. Luhmann 1994; 2000: 379-301). Bereits Max Weber hat in „Wirtschaft und Gesellschaft“ betont, dass Organisationen einerseits monokratische Herr74

schaftsstrukturen, feste Dienstwege, Aktenbestände für alle relevanten Vorgänge, gleichgültig ob in Schriftsätzen oder in Datenbeständen, und schließlich die systematische Fachschulung des Personal brauchen, um die an sie gestellten Anforderungen schnell, effizient, eindeutig, aktenkundig und kontinuierlich zu bewältigen und vor allem Berechenbarkeit zu sichern. Eine bürokratische Organisation benötigt, um formal rational agieren zu können, die Haltung der bürokratischen Gleichgültigkeit gegenüber allen Anfragen, Ansprüchen und Forderungen, die von außen – auch von ihren Mitgliedern – an sie herangetragen werden. Erst diese bürokratische Gleichbehandlung ermöglicht formal rationales Handeln (vgl. Weber 1922/1972: 551579). Andererseits hat Weber ebenfalls hervorgehoben, dass Organisationen zwar mit bestimmten Motiven und zur Erreichung spezifischer materialer Ziele gegründet werden, dann jedoch bei steigender Eigenkomplexität eine Eigenlogik und Eigendynamik entfalten, die unabhängig von den ursprünglichen Zwecksetzungen ist. Das stahlharte Gehäuse der Hörigkeit äußert sich dann darin, dass sich die Organisation von jedem Anspruch verabschiedet hat, die Welt nach Maßgabe bestimmter Werte zum Besseren zu gestalten und nur noch auf die Einhaltung ihrer formalen Regeln bedacht ist (ebd.: 833-837). Kühl liefert zahlreiche Belege für die quasi-automatische Entwicklung hin zu mehr Hierarchie und Formalisierung der Organisation. Einer davon bezieht sich auf die zunehmende Tendenz zur Schriftlichkeit durch massive Vermehrung des E-Mail-Verkehrs in New-Economy-Unternehmen im Internetsektor, obgleich Hierarchie und Formalisierung eigentlich vermieden werden sollten, wie im Leitbild der „Hyperlinked Organization“ vorgesehen. Mit den so genannten „Cover-your-Ass“ EMails beabsichtigten die Verfasser, Verbindlichkeit für Vereinbarungen und Legitimität für Entscheidungen herzustellen, sich also gegenüber möglichen Ansprüchen und Forderungen abzusichern (vgl. Kühl 2002: 207). Interessant erscheint mir, dass Kühl den Artikel mit dem Hinweis auf den Crash am Finanzmarkt aufgrund einer Äußerung des damaligen amerikanischen Präsidenten Clinton und des britischen Premierministers Blair in Bezug auf das menschliche Genom schließt, also einer Nachricht, die primär den Biotech-Sektor, nicht jedoch den Internetsektor betrifft. Dieser externe Schock hat Kühl zufolge also bewirkt, dass sich Hierarchie und Formalisierung als Mechanismen der Leistungskoordination durchgesetzt haben. Meines Ermessens ist damit ein deutlicher Hinweis auf den spekulativen Charakter des Finanzmarktes, also auf das Umfeld der Organisation gegeben, aber es ist noch nichts über die Funktionsweise der Organisation selbst gesagt. Die Frage, ob äußere Gegebenheiten durch finanzmarktgetriebenen Globalisierungsdruck und technologische Umwälzungen oder Nachahmung oder Business-Ideologien dazu geführt haben, dass sich Hierarchie und Formalisierung als Mechanismen der Leistungskoordination in den New-Economy-Unternehmen im Internetsektor durchsetzen konnten, wird in Kühls Artikel nicht befriedigend beantwortet. Mit den genannten und hier kurz dargestellten Artikeln, insbesondere von Kühl, ist die Frage noch nicht beantwortet, aus welchem Grund die Organisation mit „Wettbewerb“ und „Networking“ als Mechanismen zur Leistungskoordination nicht dieselben oder sogar bessere Effekte im Hinblick auf die Steigerung ihrer Fähigkeit zur Verarbeitung von Komplexität aus ihrer Umwelt erzielen kann als dadurch, dass sie „Wettbewerb“ und „Networking“ außen vor hält und ausschließlich auf Hierarchie und Formalisierung setzt (vgl. DiMaggio/Powell 1983; Luhmann 2000). 75

Mir erscheint eine Denkweise, wonach sich die Koordinationsmechanismen „Marktwettbewerb“ und „Networking“ einerseits, „Hierarchie“ und „Formalisierung“ andererseits konträr zueinander verhalten, ebemfalls widersprüchlich zu sein. Wenn Konkurrenz ein geeignetes Instrument ist, um Leistung effizient zu koordinieren und „rationale Ergebnisse“ zu erzielen, wie Simmel in „Differenzierung und Kraftersparnis“ (1983: 61-78) und v. Hayek in „Wettbewerb als Entdeckungsverfahren“ (1969: 249-265) in Bezug auf offene Märkte schreiben, warum sollte Wettbewerb innerhalb der Organisation nicht ebenso ein geeignetes Instrument sein, um bestmögliche Performanz und rationale Ergebnisse von Personen, Gruppen und Organisationseinheiten zu erreichen? 32 Weshalb sollte ein Unternehmen nicht verschiedene Akteure gegeneinander antreten lassen, um den besten aus unterschiedlichen Vorschlägen zur Lösung eines bestimmten Problems auszuwählen? Aus welchem Grund sollte ein Unternehmen Arbeitsgebiete bzw. Teilkonzerne, Abteilungen, Standorte oder Betriebe aufrechterhalten, wenn diese dauerhaft Verluste erwirtschaften, oder wenn ihre Leistungen über den freien Markt zu besseren Konditionen erbracht werden können? Würde das Unternehmen dies tun, entspräche es, um mit Durkheim zu sprechen, dem Tatbestand der funktionslosen Arbeitsteilung. Gerade die Eignung des Wettbewerbs als Mechanismus zur Leistungskoordination innerhalb kann also Grund für die Etablierung interdisziplinär zusammengesetzter Teams und für die Umwidmung von Service-Abteilungen in unternehmerisch selbständig agierende Profitcenter mit eigenem Budget in deutschen Betrieben sein. Wie Richard Münch und ich für das Thema des Strukturwandels von der Hegemonie der Fachspezialisten zur Hegemonie der Finanzspezialisten ebenfalls am Beispiel des Bayer-Konzerns dargelegt haben, sind die Überlegungen zum Verhältnis von Marktwettbewerb, Networking, Hierarchie und Formalisierung als Regulierungsmechanismen, die einer möglichst effizienten und profitablen Mobilisierung knapper Ressourcen dienen sollen, ebenfalls Grund für die Reorganisation von bisher als Mischkonzernen geführten Großunternehmen zur strategischen Managementholding und Finanzholding (vgl. Sydow 1992; Schumann et al. 1994; Kern/Sabel 1994; Behr 1995; Guenther 1997; Münch/Guenther 2005). Die folgende Grafik stützt sich auf das Frühwerk von Talcott Parsons, namentlich seine Studie „The Structure of Social Action“ (1937: 3-86), um zu veranschaulichen, dass Hierarchie und Formalisierung sowie Wettbewerb und Networking jeweils komplementäre , für das Unternehmen in geeigneter Form nutzbare, Regulierungsmuster darstellen, um den Handlungsbezugsrahmen für die Akteure zu definieren und somit Berechenbarkeit zu schaffen:

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Die Leistungsorganisation eines Unternehmens bezieht sich normalerweise auf die Kriterien von Funktion, Produkt(-gruppe) und Wirtschaftsregion. Organisationseinheiten können Teams einer Fertigungsinsel und Serviceabteilungen im Betrieb ebenso sein wie Abteilungen, Betriebe, Produktionsstätten, ganze Geschäftsbereiche oder Stäbe, deren Aufgabenfeld quer zur funktional differenzierten Arbeitsorganisation liegt. Organisationseinheiten als „formale“, in der Organisationsstruktur abgebildete, Einheiten sind analytisch zu unterscheiden zwischen „informellen“, in der Organisationsstruktur nicht abgebildeten Gruppen, die sich je nach Kontext temporär zusammenfinden und sich gegebenenfalls wieder auflösen, wenngleich sie sich empirisch stark überschneiden.

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Abbildung 2: Hierarchie und Formalisierung, Wettbewerb und Networking als Regulierungsmechanismen des Handelns von Akteuren im Unternehmen

Ziel

Norm Quelle: eigene Grafik

Hierarchie

Konformität

Kausales Erklären/ Positivismus/ Utilitaristisches Handlungsdilemma

Markttausch Wettbewerb

Formalisierung

Situation

Autonomie

Sinnhaftes Verstehen/ Idealismus/ Idelstisches Dilemma

Zufall

Sinn

Networking

Determinismus

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Erläuterung: In seiner Studie „The Structure of Social Action“ (1937), Band I, führt Parsons einen allgemeinen Bezugsrahmen des Handelns ein. Er besteht aus Grundelementen, an denen sich jedes Handeln orientiert. Parsons zufolge ist jedes Handeln erstens auf Ziele gerichtet bzw. an der Erreichung von Zielen orientiert, zweitens findet jedes Handeln in einer Situation statt, die durch das Vorhandensein bestimmter Gegebenheiten sowie durch verfügbare Mittel bestimmt ist. Darüber hinaus ist jedes Handeln durch bestimmte Normen und kognitive Standards charakterisiert. Parsons unterscheidet ein positives Dilemma, bei dem das Handeln der Akteure zwischen dem Extrempol des Zufalls (totale Zufälligkeit des Handelns) und der totalen Determination (vollständige Bestimmtheit des Handelns durch äußere Faktoren) variiert, vom idealistischen Dilemma, bei dem totaler Konformität und vollständiger Autonomie variiert. Dieses Grundschema habe ich auf den Kontext der Organisation übertragen. Ich stelle mir die Organisation als Handlungsraum vor, in dem die Akteure – z.B. Personen, Organisationseinheiten, Interessensgruppen – handeln. Selbstverständlich hat die Organisation das Bestreben, das Handeln ihrer Akteure in irgendeiner Art und Weise zu steuern, ansonsten herrscht Chaos. Schränkt sie die Akteure zu stark ein, sind die Akteure handlungsunfähig. Orientiert man sich an Parsons’ Modell, bieten zur Bewältigung dieser Problematik zwei Ansätze an: erstens die am positivistischen Handlungsdilemma orientierten Mechanismen von Markttausch und Wettbewerb und Networking mit den Bezugspunkten von Zufall und Determination als Extrempunkten, zwischen denen das tatsächliche Handeln variiert, zweitens die am idealistischen Handlungsdilemma orientierten Mechanismus von Hierarchie und Formalisierung mit den Bezugspunkten von Konformität und Autonomie als Extrempunkten. Bewegen sich die Akteure auf einem Markt, dann streben sie Tauschgeschäfte mit anderen Akteuren an. Sie müssen offen sein für neue Tauschbeziehungen, sich ständig den Marktgegebenheiten anpassen. Es ist ihnen klar, dass sie sich im Wettbewerb zueinander befinden. Adaptation an die Situation steht im Vordergrund. Bewegen sich die Akteure in einer Gemeinschaft, dann streben sie Bindungen an. Strukturiertheit steht im Vordergrund. Stellt eine Organisation Wettbewerb und Networking als Regulierungsmechanismen für das Verhalten ihrer Akteure in den Vordergrund, dann oszilliert das Handeln der Akteure zwischen Markttausch (Offenheit) und Vergemeinschaftung (Geschlossenheit). Dies ist die Zugangsweise der flexiblen Netzwerkorganisation: Sie stellt eine Infrastruktur zur Herausbildung von Märkten und sozialen Netzwerken bereit und steuert das Handeln der Akteure nur zu einem geringen Grad. Bewegen sich die Akteure in einer formalen Organisation (vgl. Luhmann 1971/1994), ist die Organisation selbst tonangebend, insofern als das Handeln der Akteure zu einem hohen Grad durch die Organisation gesteuert ist: Es ist eine feste Hierarchieform vorgegeben, und es sind formale Kriterien vorgegeben, die definieren, welche Ereignisse relevant sind und welche nicht. Die Organisation gibt den Akteuren zwei Orientierungspunkte vor, an denen sie sich ausrichten können: Konformität (mit Normen) und Autonomie (Orientierung am Sinngehalt). Die Akteure haben sich an den Handlungsbezugspunkten zu orientieren, welche ihnen von Seiten der Organisation vorgegeben sind. Einige Mitglieder werden für diese Vorgaben ein Verständnis entwickeln – diese Akteure werden durch die Organisation als geeignet für höhere Hierarchiestufen beurteilt – andere Akteure nicht – diese Akteure werden von Seiten der Organisation als ungeeignet für höhere Hierarchiestufen beurteilt. Den Mitgliedern, die höher eingestuft sind, gesteht die Organisation mehr Autonomie zu, das Handeln der übrigen Mitglieder ist stärker durch normativ reguliert. Auf diese Weise steuert die Organisation das Handeln ihrer Mitglieder zu einem höheren Grad. Dies ist die Zugangsweise der formal-rationalisierten Expertenorganisation zu der eingangs dargestellten Steuerungsproblematik.

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In den nachfolgenden Textabschnitten werde ich anhand des AGIL-Schemas von Talcott Parsons der Strukturwandel der Unternehmen im organisationalen Feld der Deutschland AG nach den vier analytischen Aspekten von Leistungsorganisation, Unternehmenssteuerung und Führung, Sozialintegration und Unternehmenskultur nachzeichnen. Dabei werde ich die Betrachtung für jeden dieser vier Funktionsbereiche zuerst allgemein für die Unternehmen im organisationalen Feld der Deutschland AG und im Anschluss daran am Beispiel des BayerKonzerns ausführen. Dies geschieht in den nachfolgenden vier Abschnitten erstens auf der Konzernebene allgemein, danach auf der Ebene der Betriebe und Produktionsstandorte, die inzwischen die Struktur von Chemieparks haben. Die These lautet, dass der Strukturwandel der Unternehmen im Feld der Deutschland AG ausgehend vom Idealtyp der formal-rationalisierten Expertenorganisation, in der die Fachexperten eine besonders starke Position haben, hin zum Idealtyp der flexiblen Netzwerkorganisation geht, in der Management- und Finanzexperten an dominierender Stelle positioniert sind. In Bezug auf die Leistungsorganisation ist die formal-rationalisierte Expertenorganisation durch die hierarchisch gegliederte Funktionalorganisation und durch Arbeitsteilung nach dem Berufsprinzip anstelle von profitgetriebener Teamorganisation bestimmt, die flexible Aufgabenintegration und marktgetriebene Profitcenterstruktur beinhaltet. Hinsichtlich der Unternehmensführung ist die formal-rationalisierte Expertenorganisation durch Führung durch Fachkompetenz gekennzeichnet, d.h. durch Risikovermeidung und Herrschaft kraft fachlicher Expertise, im Gegensatz zu Führung durch Management, also durch ausgeprägte Marktorientierung und durch das Management von Unsicherheit. Bezüglich der Sozialintegration ist die formal-rationalisierte Expertenorganisation durch fein abgestufte Differenzierung nach Statusgruppen ausgehend von formalen Positionen, beruflichen Bildungsabschlüssen und akademischen Titeln gekennzeichnet, wobei die strukturelle Differenzierung gering ausgeprägt ist und stattdessen eine organische – überspitzt als „Unternehmensfamilie“ zu bezeichnende – Solidargemeinschaft zu beobachten ist. Im Gegensatz dazu steht eine hochgradig differenzierte Unternehmensgemeinschaft, die Performanzorientierung in den Mittelpunkt rückt, in der flexiblen Netzwerkorganisation. In Bezug auf die Unternehmenskultur ist die formal-rationalisierte Expertenorganisation schließlich durch eine bürokratische Kultur der korrekten Amtsführung nach formalen, gesatzten Regeln und einer Fachkultur geprägt, die durch Elitendiskurse und eine professionelle Kultur bestimmt.

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Hohe Symbolkomplexität

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Niedrige Symbolkomplexität

Quelle: eigene Grafik

I

G

Reduzierte Handlungskontingenz

Soziale Integration: Hierarchisch nach Statusgruppen gegliederte Solidargemeinschaft mit hohen Ansprüchen an Fürsorgeleistungen des Unternehmens

Unternehmenssteuerung und Führung: Dominanz der Experten aus den naturwissenschaftlichen und technischen Disziplinen

Erweiterte Handlungskontingenz

Unternehmenskommunikation: Fachdiskurs in relativ geschlossenen Zirkeln und Prägung des Unternehmensdiskurses durch Fachdiskurse innerhalb weniger dominierender Professionen Unternehmenskultur: Semantik des Fachwissens

Leistungsorganisation: Hierarchisch nach Fachkompetenzen und Bildungszertifikaten gegliederte Arbeitsteilung bei fester Zuschreibung von Kompetenzen und Arbeitsaufgaben: Paradigma der Qualitätsproduktion

L

A

Abbildung 3: Das Unternehmen als Sozialsystem – die formal-rationalisierte Expertenorganisation

Hohe Symbolkomplexität

Niedrige Symbolkomplexität

Quelle: eigene Grafik

I

G

Reduzierte Handlungskontingenz

Soziale Integration: Nach Marktperformanz differenzierte Leistungsgesellschaft mit geringen Ansprüchen an Fürsorgeleistungen des Unternehmens

Unternehmenssteuerung und Führung: Dominanz der Controller, Finanzexperten und anderer marktnaher Professionen

Erweiterte Handlungskontingenz

Unternehmenskommunikation: Fachgrenzen überlagernder Diskurs und der Marktperformanz Unternehmenskultur: Semantik des Accounting und Benchmarking

Leistungsorganisation: Dezentrale, marktgetriebene Profitcenterstruktur unter dem Dach der finanzmarktlich orientierten Unternehmensführung: dominierendes Paradigma ist die flexible Anpassung an wechselnde Markterfordernisse

L

A

Abbildung 4: Das Unternehmen als Sozialsystem – die flexible Netzwerkorganisation

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2.1.1 Marktwettbewerb und Networking im Feld der „Deutschland AG“ und seine Umsetzung im Unternehmen Betrachtet man den Strukturwandel von Unternehmen im organisationalen Feld der Deutschland AG, wie er sich etwa seit dem Jahr 1995 bis zur Gegenwart vollzogen hat, so zeigt sich, dass sich die Unternehmen eine interne Struktur und Arbeitsteilung geben, bei der es zunehmend auf Wettbewerb und Networking als Mechanismen der Leistungskoordination ankommt, während Hierarchie und Formalisierung als Organisationsprinzipien immer weiter in den Hintergrund treten. Dabei geht die Entwicklung der internen Struktur und Arbeitsteilung der Wirtschaftsunternehmen allgemein in die Richtung, dass man sich vom Idealtyp der formal-rationalisierten Expertenorganisation mit hohem Hierarchisierungs- und Formalisierungsgrad entfernt und sich stattdessen dem Idealtyp der flexiblen Netzwerkorganisation annähert, in der Wettbewerb und Networking stärkeres Gewicht haben. Weil sich das Unternehmen, wie im ersten Teil dieser Studie ausführlich gezeigt wurde, nicht in einem Vakuum befindet, sondern Teil des organisationalen Feldes ist, stellt sich die Frage, ob der Wandel der inneren Struktur und Arbeitsteilung der Unternehmen das organisationale Feld verändert, oder ob er umgekehrt durch den Wandel des organisationalen Feldes bewirkt wird. Folgt man also Fligstein (2001), so ist anzunehmen, dass der Strukturwandel der Organisation dem Strukturwandel des organisationalen Feldes folgt, sich also zuerst der Markt wandelt und die an diesem Markt beteiligten Organisationen diesem Wandel folgen. Ist, wie im letzten Kapitel der „Architecture of Markets“ (2001: 191-237) anhand verschiedener Indikatoren diskutiert wird – grenzüberschreitender Handel mit Gütern und Dienstleistungen, Internationalisierung der Wertschöpfungsprozesse von Unternehmen – eine Internationalisierung des Marktes zu beobachten, dann ist davon auszugehen, dass die Unternehmen, die in einem sich global formierenden organisationalen Feld befinden, sich entsprechend anpassen müssen, indem sie ihre innere Struktur und Arbeitsteilung restrukturieren. Denn mit der Globalisierung von Märkten geht auch eine Neuformierung der im Markt enthaltenen Produktsegmente einher. D.h. auf dem Markt zeichnen sich neue Differenzierungsmuster ab, und die Unternehmen sind mit diesen Differenzierungsmustern auf dem Markt konfrontiert und suchen nach einer internen Struktur und Arbeitsteilung, um die Veränderung am Markt zu verarbeiten, wobei sich im Zuge isomorphischer Prozesse wenige dominierende Muster der internen Leistungsorganisation durchsetzen, andere immer seltener werden und schließlich ganz verschwinden. Wie kommt es jedoch zu diesen neuen Differenzierungsmustern für die Marktsegmente? Das Feld formiert sich entlang neuer Differenzierungsmuster dann, wenn sich aus Sicht der Unternehmen die Gelegenheit ergibt, durch erfolgreichen Konkurrenzkampf die eigene Marktposition zu verbessern, entweder indem man als incumbent Konkurrenten abdrängt, oder indem man vom challenger in die Position eines der dominierenden Unternehmen vorrückt. Letztlich sind alle am Markt beteiligten Wirtschaftsunternehmen bestrebt, ein Stück weiter zum Machtpol des organisationalen Feldes vorzurücken oder die eigene Position gegenüber Konkurrenten zu behaupten, um sich nicht aus dem Feld abdrängen zu lassen. Deshalb kommt es zu härteren Konkurrenzkämpfen, wenn sich der Zuschnitt des organisationalen Feldes verändert. Dies ist messbar anhand der Anzahl der im Markt vertretenen Unternehmen, 82

etwa anhand von Konzentrationsprozessen, wie z.B. im Pharmamarkt, auf dem Bayer mit seinem Teilbereich Gesundheit vertreten ist. Man muss sich vor Augen führen, dass der Markt, in dem sich Bayer bewegt, keinesfalls ein statisches Gebilde ist, sondern vielmehr ein Setting mehrerer dynamischer sich vor dem Hintergrunde von Marktkrisen seit Mitte der 1990er Jahre neu formierender organisationaler Felder – relevant sind hier der globale Finanzmarkt, das Feld der Chemie und der Pharmazie, mit ihren jeweils eigenen Marktdynamiken. Fligstein spricht von Marktkrisen, wenn die bewährten Strategien und Konzepte versagen oder nur noch eingeschränkt zum Erfolg führen, sei es, deshalb, weil die Institutionen Staat, Geschäftsbanken, Berufsbildungsinstitutionen, Professionen, Gewerkschaften, Betriebsräte, die in ihrem Zusammenwirken das Umfeld des Wirtschaftsunternehmens ausmachen, sich aus ihren bisherigen sich aus ihrer bisherigen Funktionen zurückziehen oder diese anders wahrnehmen als bisher, sei es deshalb, weil sich das organisationale Feld als solches verändert hat. Grundsätzlich eröffnet eine Marktkrise die Chance zu einer fundamentalen Neuordnung des Marktes. 33 Mit einer Marktkrise ändert sich nicht nur der Zuschnitt des Marktes nach Weltregionen, die Anzahl, Größe, innere Struktur und Arbeitsteilung der am Markt vertretenen Unternehmen, der Differenzierungsgrad und die technische Struktur des Produktsortiments, das auf diesen Märkten gehandelt und vertrieben wird, sondern ebenfalls die Funktion und Bedeutung der am Markt beteiligten staatlichen und nichtstaatlichen Institutionen. Infolgedessen verändert sich auch das gesamte Netzwerk der interorganisationalen Beziehungen zwischen den im Feld vertretenen Unternehmen sowie zwischen den Unternehmen und anderen Institutionen im Umfeld der Unternehmen. Einige Institutionen gewinnen an Bedeutung wie z.B. Investment-Banken, Wirtschaftsprüfergesellschaften und Ratingagenturen. Andere Institutionen ziehen sich entweder aus eigenen Strategieüberlegungen aus ihren bisherigen Aufgaben zurück, wie z.B. Geschäftsbanken im Hinblick auf die mittel- und langfristige Finanzierung und Unternehmenskontrolle, oder werden an den Rand gedrängt. Wie die folgenden zwei Textstellen aus Fligsteins Buch „The Architecture of Markets“ zeigen, besteht eine besondere Variante der Krise und Neuformierung in Konzentrationsprozessen inforge von Fusionen und Übernahmen: „Merger Movements involve a reorganization of corporate assets across the largest firms in the economy. As such, they signal a crisis of the old conception of control for the largest firms and the rise of a new one. (…). “ (Fligstein 2001: 147) „To understand an organizational change like the change in a dominant conception of control, it is necessary to consider the role of culture in framing the possibility for strategic action. For actors to undertake new forms of action, they must decide to rethink their interests, develop a plan to operationalize those interests, and have the power to enforce that view. Culture comes into play to

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So tragisch eine Marktkrise für all diejenigen Unternehmen ist, die von Konkurrenten übernommen werden oder die Insolvenz anmelden müssen, so tragisch eine Marktkrise für all die Beschäftigten ist, die im Zuge von Insolvenzen, von Fusionen und Übernahmen oder der ganz normalen Restrukturierung ihren Arbeitsplatz verlieren, so notwendig ist der durch die Marktkrise hervorgerufene Wandel sowohl des organisationalen Feldes als auch der im Feld vertretenen Unternehmen.

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provide actors with a cognitive frame that offers solutions to the problem of strategic action.“ (ebd.: 148)

Damit ergibt sich die These, dass die in einem organisationalen Feld vertretenen Wirtschaftsunternehmen, so auch Bayer im Hinblick auf ihre Leistungsorganisation der Entwicklung des Marktes folgen, die Entwicklung des Marktes also für ihre interne Struktur und Arbeitsteilung umsetzen. Zeichnen sich beispielsweise am Markt eine Internationalisierung oder eine neue Struktur der Produktdifferenzierung ab, dann werden die an diesem Markt dominierenden Unternehmen bestrebt sein, diese Entwicklung auch für ihre Leistungsorganisation umzusetzen, um als „first mover“ von der Entwicklung zu profitieren oder wenigstens als Nachzügler dem Modell der erfolgreichen Unternehmen zu folgen und die Entwicklung nicht zu verpassen. Folglich gerät der ganze Markt in Bewegung, weil alle im organisationalen Feld vertretenen Unternehmen Unternehmen ihre interne Struktur und Arbeitsteilung sukzesive angleichen werden Bleiben dagegen die führenden Unternehmen z.B. durch stabil hohe Qualitätspräferenzen und reduzierten Preiswettbewerb, in einer gesicherten Position als incumbent innerhalb des organisationalen Feldes, besteht für sie überhaupt keine Veranlassung, ihre Leistungsorganisation zu verändern. Im organisationalen Feld der „Deutschland AG“, wie es sich seit der Nachkriegszeit herausgebildet hat, haben sich große, gut vor dem freien Wettbewerb geschützte Sphären herausgebildet. Daher bestand aus Sicht der dominierenden Unternehmen bis Mitte der 1990er Jahre keine Veranlassung, stärker auf Wettbewerb und Networking zu setzen. Im Gegenteil: Mit ihren ausgeprägten Hierarchie- und Formalstrukturen waren sie gut an die Gegebenheiten des Marktes angepasst. Mit dem veränderten Zuschnitt des organisationalen Feldes – Stichworte sind hier: Internationalisierung, Produktdifferenzierung, härter umkämpfte Absatzmärkte und kaum mehr Platz für „schwache“ Marktteilnehmer – sind die Hersteller unter Druck geraten, ihre interne Struktur und Arbeitsteilung an die neuen Gegebenheiten am Markt anzupassen. Ob und inwiefern die historisch gewachsenen Institutionen im Umfeld der Wirtschaftsunternehmen der Deutschland AG dabei hilfreich oder Hindernisse darstellen, wird sich daran zeigen, wie viele Unternehmen sich erfolgreich auf den für sie relevanten Märkten positionieren können, wie viele mehr schlecht als recht überleben und wie viele von ihnen ihren Niedergang erleben. In einem Markt, der international ausgerichtet ist, auf dem im Verhältnis zum Umsatzpotenzial viele Anbieter vertreten sind, der entsprechend hart umkämpft ist, auf dem der Wettbewerb über den Preis ausgefochten wird und in dem keine (oder kaum) vor dem Marktwettbewerb geschützten Sphären existieren, wie in der liberalen Ökonomie der Vereinigten, haben diejenigen Unternehmen die besten Erfolgsaussichten, die sich flexible Strukturen geben. Unter diesen Bedingungen sind Wettbewerb und Networking besser geeignet als Hierarchie und Formalisierung, weil Effizienz und Profitabilität stärker im Vordergrund stehen als die effektive Umsetzung von Entscheidungen mit Macht. Damit ist der Wandel von der formal-rationalisierten Expertenorganisation zur flexiblen Netzwerkorganisation vorgezeichnet. Im Hinblick auf die Leistungsorganisation dominieren traditionell strenge Differenzierung von Tätigkeitsfeldern nach Funktionen, Fachgebieten, Produkten, Verfahren und Wirtschaftsregionen dem Versuch folgend, eine Matrixorganisation zu verwirklichen. Die Arbeitspro84

zesse sind nach Berufsprinzip, Fachspezialisierung und formaler Qualifikation gemessen an Bildungsabschlüssen und akademischen Titel zugeteilt (vgl. Kern/Sabel 1994). 34 Überschneidungen von Zuständigkeitsbereichen werden weitestgehend vermieden, um Reibungsverluste, Ressourcenvergeudung und überflüssige Arbeit auszuschließen. 35 Das funktional arbeitsteilige Modell der Leistungsorganisation war bis in die 1990er Jahre sowohl auf dem ShopFloor als auch im Management weit verbreitet. In der deutschen Variante ist es traditionell durch die Berufsgruppen von Verwaltungsfachleuten und Fachexperten dominiert, z.B. Elektrikermeister oder Schlossermeister im gewerblichen Bereich oder aus den Natur- und Ingenieurwissenschaften im akademischen Bereich. Der Umbruch während der ersten Hälfte der 1990er Jahre mit Bezug auf das erfolgreiche Toyota-Produktionssystem, in der zweiten Hälfte der 1990er Jahre mit Bezug auf die flexible Netzwerkorganisation – hat ein neues Verständnis der Leistungskoordination hervorgebracht, das wirtschaftliches Handeln von Personen, Gruppen und Organisationseinheiten, „Wettbewerb“ und “Networking“ im Verhältnis zu „Hierarchie“ und „Formalisierung“ als Mechanismen der Leistungskoordination aufwertet. Das Ziel der Neuorganisation besteht darin, systemische Interdependenzen als Ressourcen zu entdecken und Synergien besser zu nutzen. Mit Beginn der 1980er Jahre wurde das fordistische Produktionssystem aufgebrochen. Kernbestandteile der Restrukturierung sind seitdem die Systemrationalisierung von Produkt, Prozess und Arbeitsorganisation und die Einführung posttayloristischer, an interdisziplinäre Teams gebundene partizipative Arbeitseinsatzkonzepte. Die technischen Gegebenheiten variieren allerdings je nach Aufgabenzuschnitt der Wirtschaftsbranche. Während die Montage in der Automobilindustrie nur begrenzt Potenziale für systemregulierende und planend-dispositive Aufgaben bietet, weil viel Arbeit an Produkt und Anlage anfällt, verhält es sich in der chemischen Industrie umgekehrt, weil die Messwartentechnologie große Potenziale für Systemsteuerung eröffnet hat und das Zentrum des Betriebs in der chemischen Produktion bildet. Daher ist die Arbeit in der Chemiebranche deutlich stärker durch das Zusammenwirken des fachlich geschulten Personals im Team bestimmt als etwa die Fahrzeugmontage in der Automobilindustrie (vgl. Altmann et al. 1986; Schumann et al. 1994; Kern/Sabel 1994). Die Messwarte stellt im Chemiebetrieb analog zum „Labor“ in der naturwissenschaftlichen Grundlagenforschung und der angewandten Forschung in Physik, Chemie, Biologie, Medizin und Pharmazie (vgl. Knorr-Cetina 2002: 45-73) auch das Zentrum dar, in dem inkrementelle Innovation von Produkt und Verfahren stattfindet. Dort überwachen Systemregulierer den Routinebetrieb, diagnostizieren und beheben 34 Die Arbeitsteilung nach dem Berufsprinzip im deutschen Unternehmen lässt sich abgrenzen von der Arbeitsteilung nach dem Organisationsprinzip im japanischen Betrieb, in dem Aufgabenbereiche räumlich nach Produktionsabschnitten definiert sind und ein Senioritätssystem Incentives dafür bieten, dass die Mitarbeiter ihre Handlungsspielräume kontinuierlich durch Erwerb neuer Problemlösungskompetenzen erweitern und somit sukzessive auch im Ranking-System des japanischen Betriebs aufsteigen – lebenslange Berufsqualifikation und qualifikationsbezogene Incentives gehen also dort Hand in Hand (Kern/Sabel; Koike 1994). Ein anderer Modus der Arbeitsteilung besteht in der Errichtung von Profitcentern, die unternehmerisch autonom handeln und sich unter Effizienz- und Kostengesichtspunkten optimieren sollen. Im konkreten Einzelfall kann betriebliche Arbeitsteilung sowohl berufsbasierte oder organisationsbasierte Arbeitsteilung als auch die Errichtung von Kostenstellen umfassen. 35 Dies steht im Widerspruch zur Idee der Matrixorganisation, gezielt nach Synergieeffekte von Kompetenzüberschneidungen zu suchen und diese produktiv zu nutzen, es sei denn, dass sich die Matrixorganisation nur auf wenige inhaltliche Felder (z.B. Forschung & Entwicklung) bezieht und auf einzelne „Projektbereiche“ beschränkt bleibt.

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Faktoren, die zu Störungen führen könnten, unterbreiten Verbesserungsvorschläge. Um die Erfahrungen der Produktionsexperten aus der Messwarte bei neuen Anlageinvestitionen angemessen berücksichtigen zu können, sind Chemiker, Ingenieure, Physiker und Informatiker auf ihre praktischen Erfahrungen und ihr daraus resultierendes Verständnis von Produkt und Prozess zu profitieren. Interdisziplinäre Teamintegration, betriebliches Vorschlagswesen und kontinuierliche hierarchieübergreifende Kooperation mit Industriemeistern, Technikern und Naturwissenschaftlern ermöglichen die schrittweise Variation und Optimierung von Produkten und Verfahren sowie die Suche nach Synergien in Bezug auf Qualität, Produktdifferenzierung, Verfahrenssicherheit und Umweltfreundlichkeit.36 Zusammenfassend: Der Druck zur isomorphischen Strukturangleichung bezogen auf das organisationale Feld der „Deutschland AG“ kann anschaulich anhand des in der Einleitung präsentierten Beispiels der Reorganisation der drei größten Unternehmen der chemisch-pharmazeutischen Industrie seit Mitte der 1990er Jahre illustriert werden: Hoechst, BASF und Bayer. Alle drei Unternehmen sahen sich seit Mitte der 1990er Jahre mit einer Dynamisierung des Marktumfeldes und mit einer Intensivierung des Marktwettbewerbs konfrontiert und haben nicht nur mit entsprechenden Bemühungen begonnen, ihren Tätigkeitsbereich auf internationale Märkte auszurichten, sondern auch die Veränderung ihrer eigenen „conception of control“ vorgenommen, nämlich als sich die Unternehmen von Stakeholder-Orientierung zu Shareholder-Orientierung gewendet haben und sich damit das Paradigma angeeignet haben, das für die Vereinigten Staaten seit Mitte der 1980er Jahre dominiert (vgl. Becker 2003; Eckert 2003: Vitols 2003: 203 ff.; Fligstein 2001: 147-190; Fligstein/Shin 2005 b). Hoechst und Bayer haben sich für eine andere Innovations- und Wettbewerbsstrategie entschieden als BASF, das sich auf den Chemiebereich konzentriert hat Hoechst und Bayer sehen wesentliche Teile ihrer Kernkompetenzen bei den Themen von Gesundheit und Ernähung. Die beiden letztgenannten Unternehmen haben einen wesentlichen Teil ihrer Innovationsaktivität auf die Entwicklung und Vermarktung der so genannten Blockbuster-Medikamente ausgerichtet. Im Hinblick auf die Blockbuster-Strategie konvergieren erzwungene, mimetische und normative Isomorphie hier also an dem Punkt, an dem die Hersteller auf dem Pharmamarkt erkennen oder zu der Einschätzung kommen, dass aufgrund der hohen Forschungs- und Entwicklungskosten auf dem nationalen Absatzmarkt für die einzelnen Produkte nur noch Platz für weniger Hersteller ist, weil die Produkte an mehr Kunden verkauft werden müssen, sodass sich jeder einzelne Hersteller global orientieren muss, um nicht von der Position des incumbent in die Position des challengers abzurutschen. Mit dem neuen Zuschnitt des Aktienmarktes verändern sich auch der Zuschnitt des organisationalen Feldes und die Kräfteverhältnisse der beteiligten Akteure dahingehend, dass aus dem nationalen Feld ein internationales Feld wird und dass eine Position als incumbent bekommt, wer hinreichend viele Blockbuster-Medikamente zur Patentierung und zur erfolgreichen Positionierung am Markt bringt. 36

In „flexiblen Netzwerkorganisation“, die im Zuge des Strukturwandels der Unternehmen im Feld der Deutschland AG entsteht, wird der Schwerpunkt der Reorganisation der Leistungsorganisation deutlich stärker auf die Funktionen von Marketing, Design und Kostensenkung gesetzt. Dies bedeutet keinesfalls, dass Produktqualität, Verfahrenssicherheit, Umweltfreundlichkeit und nachhaltige Entwicklung bedeutungslos geworden sind, dass es auf fachliche Funktionen nicht mehr ankommt. Allerdings braucht man die Bedeutung dieser Strukturen und Funktionen nicht extra hervorzuheben, weil ihre Wichtigkeit selbstverständlich vorausgesetzt wird.

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Wem das nicht gelingt, der findet sich entweder in deutlich größerer Entfernung zum Machtpol wieder, oder er wird in Zukunft gar nicht mehr im organisationalen Feld vertreten sein. Dabei wirken Intensivierung des Marktwettbewerbs, Nachahmung der von einigen VorreiterUnternehmen erfolgreich praktizierten Blockbuster-Strategie und Beratung durch Unternehmensberatungsgesellschaften als einander wechselseitig verstärkende Effekte zusammen. Um Prozesse der Strukturangleichung der Wirtschaftsunternehmen im organisationalen Feld in der beschriebenen Richtung zu initiieren, genügt der Glaube der Entscheidungsträger, dass der Markt eine entsprechende Strukturanpassung von ihrem Unternehmen verlangt und dass die Blockbuster-Strategie eine geeignete Maßnahme zur Realisierung dieser Anpassung ist.

2.1.2 Marktwettbewerb und Networking zur Leistungskoordination im Bayer-Konzern Bayer ist gegenwärtig dabei, sich in einem extrem schwierigen organisationalen Feld neu zu positionieren, nämlich dem Chemie- und Pharmamarkt. Zunehmende Internationalisierung und Dynamisierung sowie härterer Wettbewerb im Kampf um Kunden und Umsatzanteile haben nicht nur das organisationale Feld von Chemie- und Pharmazie verändert, so dass sich Chemie und Pharmazie heute als weitgehend eigenständige organisationale Felder mit spezifischen Markteigenschaften präsentieren. Auch die an diesem organisationalen Feld vertretenen Wirtschaftsunternehmen sehen sich dazu gezwungen, der Entwicklungsrichtung des organisationalen Feldes zu folgen und die wesentlichen Veränderungen in Bezug auf die Eigenschaften des Marktes in Bezug auf ihre interne Struktur umzusetzen. Das gilt auch für den Bayer-Konzern, der sich seit dem Jahr 2000 vom sogenannten integrierten chemischpharmazeutischen Unternehmen zur strategischen Managementholding gewandelt hat, den Gang an die New York Stock Exchange (NYSE) erfolgreich vollzogen und seine ChemieSparte unter dem Namen Lanxess ausgegliedert hat. Die Schritte auf dem Weg vom integrierten chemisch-pharmazeutischen Unternehmen sind am besten nachzuvollziehen, wenn man den Strukturwandel des Bayer-Konzerns konkret im Kontext des Strukturwandels des Pharmamarktes betrachtet, in dem sich der Bayer-Konzern unter anderem bewegt, denn – so die These – Bayer setzt die Entwicklungsrichtung des organisationalen Feldes auch für seine innere Struktur und Arbeitsteilung um. Die Mechanismen von Wettbewerb und Networking erscheinen dabei als geeignete Instrumente, um dies zu realisieren, den Strukturwandel in der gewünschten Richtung voranzutreiben. Zunächst sollen ein paar Eckpunkte in Bezug auf das organisationale Feld genannt werden, in dem sich der Bayer-Konzern bewegt. Dieses organisationale Feld hat sich während der vergangenen zehn Jahre fundamental verändert. Erstens ist in Bezug auf seinen geografischen Zuschnitt eine Internationalisierung zu beobachten. Sowohl die Wertschöpfungsprozesse als auch die Eigentumsverhältnisse sowie auch die relevanten Absatzmärkte haben Prozesse der Internationalisierung durchlaufen. Zweitens ist im Hinblick auf die Produktstruktur eine Differenzierung festzustellen, dahingehend, dass es praktisch unmöglich geworden ist, die Märkte der Großchemie, der neuen Materialien, der Ernährung und Gesundheit gleicherma87

ßen gut mit Produkten zu bedienen, weil die Schaffung von Produkten mit Marktpotenzial wissensintensiver, damit auch aufwendiger und teurer geworden ist. Der Chemiemarkt und die Märkte für Ernährung und Gesundheit haben sich weitgehend voneinander entkoppelt. Sie weisen jeweils eine ausgeprägte Produktdifferenzierung und einen internationalen Zuschnitt auf. Schließlich hat sich das organisationale Feld drittens auch im Hinblick auf die beteiligten Wirtschaftsunternehmen – incumbents und challengers – verändert, dahingehend, dass nicht mehr für große und kleine Unternehmen gleichermaßen Platz ist. Als Unternehmen braucht man auf jedem der genannten Produktmärkte eine hinreichende Mindestgröße, um als zukunftsfähig zu gelten. Diese ist nur zu erreichen, wenn man sich auf einem oder wenigen relevanten Produktmärkten international aufstellt und sich konsequent von unprofitablen oder wenig zukunftsfähigen Konzernteilen trennt. Das führt zu einer isomorphischen Entwicklung dahingehend, dass alle auf einem Markt vertretenen Unternehmen ähnliche Strukturmuster ausbilden, indem sie eine strategische Neuausrichtung des Produktportfolios im Hinblick auf wenige Kernbereiche realisieren (vgl. DiMaggio/Powell 1983). Bezogen auf die drei führenden Unternehmen im Feld der Chemie und Pharmazie im organisationalen Feld der „Deutschland AG“ hat sich der Markt fundamental verändert. Bis in die 1990er Jahre hinein war es möglich und auch sinnvoll, den Markt für Chemie und Pharmazie gleichermaßen zu bedienen, also ein relativ breit ausgerichtetes Leistungsspektrum aufrechtzuerhalten, Chancen und Risiken breit zu streuen. Während die drei führenden Unternehmen im Feld der Chemie und Pharmazie vor mehr als zehn Jahren hauptsächlich den Markt für Chemikalien und Polymere bedienten und die Pharmazie nur eine unter mehreren Säulen war, haben zwei der drei großen Hersteller, nämlich Hoechst-Aventis und Bayer, ihren Pharmabereich gestärkt und andere Geschäftsfelder abgebaut oder ausgegliedert. Komplementär dazu hat sich BASF auf den Chemiesektor konzentriert (vgl. Vitols 2003). Inzwischen hat der Bayer-Konzern darüber hinaus auch Bereich Landwirtschaft von Hoechst-Aventis übernommen und sich von der Großchemie getrennt, sodass als drei Säulen des Bayer-Konzerns für die Zukunft die Produktbereiche von Gesundheit, Ernährung und Hochwertigen Materialien übrig geblieben sind (vgl. Bayer 2005). Als „conception of control“ bei den beteiligten Wirtschaftsunternehmen und den anderen Akteuren in ihrem organisationalen Feld der Pharmazie, in dem Bayer damit vertreten ist (z.B. Shareholdern, Marktbeobachtern) hat sich sukzessive durchgesetzt, dass die Marktteilnehmer eine kritische Mindestgröße überschreiten müssen, um auf Dauer überlebensfähig zu sein und nicht als Übernahmekandidat zu gelten. Die Strategie der Entwicklung und dem Vertrieb von Blockbuster-Medikamenten, also von umsatzstarken verschreibungspflichtigen Medikamenten mit einem Marktpotenzial von mindestens einer halbe Milliarde Dollar – noch besser: eine Milliarde Dollar – wird als eine geeignete Strategie betrachtet, um sich erfolgreich am Markt zu etablieren. „Die Analysten waren zunehmend davon überzeugt, dass Pharmakonzerne eine „kritische Masse“ im Sinne einer Mindestgröße erreichen müssen, um die steigenden Kosten für Forschung und Entwicklung bewältigen zu können und um genügend potenzielle Blockbuster-Medikamente in der Entwicklung zu haben..” (Vitols 2003: 206).

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Die Kehrseite der Blockbuster-Strategie ist ein enorm gestiegener Innovationsdruck, da diese Blockbuster mit hohem Aufwand für Forschung und Entwicklung verbunden sind und der Konkurrenzdruck enorm hoch ist, weil sich zahlreiche Anbieter auf wenige Krankheitsbilder konzentrieren, die besonders viele Menschen betreffen; besonders häufig handelt es sich um die weit verbreiteten Krankheitsbilder der Bevölkerung in den hochentwickelten Industrieländern. Nur wenige Anbieter konzentrieren sich zur Zeit auf extrem spezialisierte oder seltene Krankheitsbilder wie z.B. auf Tropenkrankheiten. Die meisten Anbieter im Pharmabereich sind bestrebt, ihre Marktanteile bei den häufiger auftretenden Krankheiten zu sichern. Folgerichtig ergibt eine Betrachtung des Pharmamarktes in Bezug auf die umsatzstärksten Medikamente eine hohe Konzentration vieler Konkurrenten auf wenige Krankheitsbilder: So steht das Herz-Kreislauf-Medikament Lipitor des Herstellers Pfizer mit einem Umsatz von 9,23 Milliarden US-Dollar im Jahr 2003 an erster an erster Stelle. Das Patent für Lipitor läuft im März 2010 aus. An zweiter Stelle steht Zocor, ebenfalls ein Herz-Kreislauf-Medikament. Hersteller dieses Produkts ist Merck (USA), mit 5,08 Milliarden US-Dollar. Das Patent für Zocor läuft im Dezember 2005 aus. An dritter Stelle folgt Norvasc, ein Blutdrucksenker des Herstellers Pfizer, mit 4,43 Milliarden US-Dollar. Der Patentschutz für Norvasc besteht bis September 2007. An vierter Stelle steht Zyprexa, ein Medikament zur Behandlung von Schizophrenie des Herstellers Eili Lilli, mit 4,28 Milliarden US-Dollar. Das Patent für Zyprexa läuft im Juni 2011 aus. Schließlich folgt an fünfter Stelle das Medikament Nexium gegen Sodbrennen des Herstellers Astra Zeneca mit einem Umsatz von 3,30 Milliarden US-Dollar. Der Patentschutz für Nexium besteht bis Juli 2007.37 Betrachtet man den Pharmamarkt nach den führenden Herstellern gemessen am Umsatz, so zeigt sich, dass Pfizer (Hauptsitz USA) mit insgesamt acht Medikamenten, deren Umsatz 2 Milliarden US-Dollar übersteigt, eindeutig der Branchenprimus ist. An zweiter Stelle folgt Johnson & Johnson (Hauptsitz USA), an dritter Stelle Novartis (Hauptsitz Schweiz), an vierter Stelle Roche (Hauptsitz Schweiz). Da die Hersteller den Patentschutz nur für begrenzte Zeit geltend machen können, stehen sie permanent unter dem Druck, neue Blockbuster-Medikamentezur Marktfähigkeit zu entwickeln und zu verkaufen. Gleichzeitig handelt es sich bei dem Blockbuster-Markt um einen solide wachsenden Markt, denn trotz des intensivierten Marktwettbewerbs auf globaler Ebene für das Jahr 2003 konnten viele Unternehmen verbesserte Gewinne erzielen:

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Quelle: Artikel - Die fünf weltweit meistverkauften Medikamente, recherchiert von FAZ Recherchedienst. Eine andere Quelle zeigt für die 10 meistverkauften Blockbuster-Medikamente im Pharmabereich weltweit folgendes Ranking: An erster Stelle steht Lipitor mit einem Umsatz von 10,3 Milliarden US-Dollar und 14 Prozent Jahreswachstum. An zweiter Stelle folgt Zocor mit 6,1 Milliarden US-Dollar und einem Jahresrückgang von 4 Prozent. An dritter Stelle steht Zyprexa mit 4,8 Milliarden US-Dollar und 13 Prozent Jahreswachstum. An vierter Stelle steht Norvarsc mit 4,5 Milliarden US-Dollar und 7 Prozent Jahreswachstum. An fünfter Stelle steht Erypo (Eprex/Procrit) mit 4,0 Milliarden US-Dollar Jahresumsatz und 13 Prozent Wachstum. An sechster Stelle steht Ogastro/Prevacid mit 4,0 Milliarden US-Dollar Jahresumsatz – unverändert wie im Jahr 2002. An siebter Stelle folgt Nexium mit 3.8 Milliarden US-Dollar Jahresumsatz und 62 Prozent Wachstum im Vergleich zum Vorjahr. An achter Stelle steht Plavix mit 3.7 Prozent Jahresumsatz und 40 Prozent Wachstum. An neunter Stelle steht Seretide/Advair mit 3,7 Milliarden US-Dollar Jahresumsatz und 40 Prozent Wachstum. An zehnter Stelle folgt Zoloft mit 3,4 Milliarden US-Dollar Jahresumsatz und 11 Prozent Wachstum im Vergleich zum Jahr 2002. Die Blockbuster-Medikamente von Bayer sind also in diesem Top-10-Ranking nicht vertreten. (Quelle IMS: www.open.ismhealth.com/webshop2/IMSinclude/i_article_20040317.asp vom 01.02.05).

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„Clearly, Lipitor, Zyprexa, Nexium and others all managed significant growth despite the more intensive competition in their respective classes; (…) it is also significant that the number of blockbusters continues to grow, with 64 products having over $ 1 billion in sales in 2003, and 23 of those over $ 2 billion.” (Aussage von IMS Präsident Graham Lewis; IMS Dienst vom 01.02.05).

Die Pharma-Weltrangliste, die das Handelsblatt ausweist, ergibt folgendes Kräfteverhältnis der führenden Hersteller: Tabelle 3: Pharma-Weltrangliste nach Handelsblatt 2004 Unternehmen 1. Pfizer 2. Aventis/Sanofi 3. Glaxo Smithkline 4. Merck & Co 5. Bristol-Myers Squibb 6. Johnson&Johnson 7. Astra Zeneca 8. Roche 9. Novartis 15. Boehringer 17. Schering 18. Bayer 19. Merck KgaA (Quelle: Handelsblatt 2004)

Hauptsitz USA Frankreich GB USA USA USA GB CH CH D D D D

Pharmaumsatz (Mrd. US $) 27,2 20,7 17,5 16,9 15,1 14,4 14,0 11,7 11,6 5,6 4,0 4,0 2,8

Börsenwert (Mrd. US $) 265 85 134 102 59 153 80 90 114 10 23 7

Ein anderes Kräfteverhältnis – zum Vorteil für den Bayer-Konzern – ergibt sich, wenn man die Top-Ten-Anbieter von verschreibungsfreien Medikamenten betrachtet: Hier wird Johnson & Johnson mit einem weltweiten Marktanteil von 4,3 Prozent an erster Stelle geführt, Glaxo Smithkline mit einem Marktanteil von ebenfalls 4,3 Prozent an zweiter Stelle, Pfizer mit einem Marktanteil von 4,2 Prozent, an vierter Stelle steht Wyeth mit 3,3 Prozent, und an fünfter Stelle folgt Bayer mit 3,0 Prozent. Da Bayer nun die Konsumsparte des Konkurrenten Roche übernommen hat, der an neunter Stelle mit 2,1 Prozent Marktanteil weltweit geführt wird, überholt Bayer die bisherigen Spitzenreiter Johnson&Johnson und Glaxo Smithkline, rückt somit also selbst auf den Spitzenplatz vor. Der Markt für verschreibungsfreie Medikamente, also für die Hausapotheke der Verbraucher, bezieht sich hauptsächlich auf Produkte wie Erkältungs- und Allergiemittel, Schmerzmittel, Medikamente für den Magen-Darm-Bereich, Medikamente für die Haut, Vitamine und Ernährungszusatzstoffe (Capital, Artikel „Das Beste erhalten – in diesem will Bayer-Chef Werner Wenning an die Weltspitze. Die Übernahme von Roche Consumer Health ist nur der erste Schritt“, vom 05.08. 2004 S. 52). Insgesamt präsentiert sich der Pharmamarkt als ein sich global formierendes organisationales Feld, das für das Jahr 2003 einen Gesamtumsatz von 466 Mrd. US-Dollar aufzuweisen hatte. Dieser Markt hat in Aussicht, in Kürze die 500-Mrd.-Dollar-Umsatz-Marke zu durchbrechen. Im Hinblick auf die Frage der Verteilung auf die größten Wirtschaftsregionen für den Phar90

mamarkt steht Nordamerika mit den USA und Kanada mit 229,5 Mrd. US-Dollar an erster Stelle. Das entspricht 49 Prozent des Umsatzes für den Pharmamarkt. An zweiter Stelle folgt die Europäische Union (EU 15) mit 115,4 Mrd. US-Dollar. Das entspricht 25 Prozent des Pharmamarktes. An dritter Stelle folgt Japan mit 52,4 Milliarden US-Dollar, was 11 Prozent des Umsatzes weltweit entspricht. An vierter Stelle folgt der Großraum Asien, Australien und Afrika mit einem Marktpotenzial von 37,3 Milliarden US-Dollar, was 8 Prozent des Umsatzes entspricht. Die beiden umsatzschwächsten Regionen für Pharmaprodukte sind Lateinamerika mit 17,4 Milliarden US-Dollar, was 4 Prozent entspricht, und der Rest Europas mit 3 Prozent des weltweiten Pharmaumsatzes. Gemessen an der Tatsache, dass ihr Umsatzwachstum vom Jahr 2002 zum Jahr 2003 immerhin 9 Prozent betrug, sind Lateinamerika und der Rest Europas als umsatzschwächste Regionen mit 14 und 12 Prozent zugleich die wachstumsstärksten Regionen. Dann folgt aber bereits Nordamerika mit 11 Prozent Wachstum und die Europäische Union mit 8 Prozent Wachstum (IMS Health-Service 2003). Die Tatsache, dass der Pharmamarkt, auf dem sich Bayer also zunehmend bewegt, heute deutlich härter umkämpft ist alsbis Mitte der 1990er Jahre, wird zusätzlich dadurch verschärft, dass sich zum einen die Hersteller von Biotech-Produkten immer besser auf diesem Markt positionieren können, zum anderen aber Generikahersteller immer größere Marktanteileerobern. Mit Fligsteins politisch-kulturellem Ansatz der „Architecture of Markets“ (2001) bietet es sich an, den Pharmamarkt als hart umkämpftes organisationales Feld zu deuten, bei dem die etablierten Pharmahersteller mit zwei oder mehr Blockbuster-Medikamenten zu einem Zeitpunkteine marktbeherrschende Stellung innehaben, während sich die Anbieter von Biotech-Produkten und von Generika in herausfordernder Position befinden. Die incumbents auf dem sich weltweit formierenden Pharmamarkt stehen unter einem wachsenden Druck, innovativ zu sein und neue Blockbuster-Medikamente zu entwickeln und erfolgreich zu vermarkten. Dabei müssen sie sich nicht nur mit den Biotech-Anbietern messen, die von Börsen und Marktbeobachtern als besonders innovativ eingeschätzt werden, sondern auch mit den Herstellern von Generika (Nachahmer-Medikamenten), die ihnen die Umsätze auf die älteren, also nicht mehr durch Patente für ihren Neuheitsgrad geschützten Medikamente, stützen, wie z.B. Sandoz, Stada, Hexal, Ratiopharm oder Merck (KG aA) , um nur einige der deutschen Hersteller zu erwähnen. 38 38 Eine Marktanalyse der Financial Times Deutschland präsentiert den sich weltweit formierenden Pharmamarkt ebenfalls als wachsenden, lukrativen, gleichzeitig hart umkämpften und phasenweise durch Skandale überschatteten Markt. So schreibt Peter Kuchenbuch in seinem Artikel „Pharmakonzerne kämpfen um Vertrauen“ vom 06.01.2005: „Zuerst die gute Nachricht: Im weltweit größten und lukrativsten Pharmamarkt USA wurden im vergangenen Jahr 31 Medikamente mit neuen Wirkstoffen zugelassen. Das sind zehn Genehmigungen mehr als 2003. Zuletzt hatte der Wert 1999 mit 35 Zulassungen höher gelegen. Das ist ein wichtiger Erfolgsparameter für die innovationsgetriebene Industrie. Die schlechte Nachricht: Diese Marke könnte auf lange Sicht ein statistischer Ausreißer bleiben. Denn 2005 stehen die Zeichen auf Sturm, vor allem in den USA. Dort hat sich durch die Ereignisse der zweiten Jahreshälfte 2004 das Vertrauensverhältnis zwischen der Industrie und der US-Gesundheitsbehörde FDA deutlich verschlechtert. Es ist damit zu rechnen, dass dies Auswirkungen auf die Risikobereitschaft auf beiden Seiten haben wird. Angeschlagen sind vor allem Merck & Co und Pfizer infolge des Fiaskos im Markt für Schmerz- und Rheumamittel. Merck hatte Ende September Vioxx wegen eines erhöhten Herzinfarkt- und Schlaganfall-Risikos weltweit vom Markt genommen. Mittlerweile müssen mehrere Hersteller fürchten, dass die gesamte Produktgruppe der so genannten Cox-2-Hemmer eine sehr viel größeres Gesundheitsrisiko für Patienten darstellt als bisher angenommen.“ Im Verhältnis dazu sieht derselbe Autor über die Biotech-Branche in seinem Artikel „Biotechbranche auf dem Weg der Besserung“ vom 02.01.2004 Anzeichen dafür, dass dem Biotech-Bereich die Zukunft gehört. So

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Um die Veränderung der Marktpositionierung des Bayer-Konzerns in dem organisationalen Feld, in dem er sich bewegt, nachvollziehen zu können, muss man in Ergänzung zur Betrachtung der Pharmawelt auch die Welt der Chemie kurz betrachten. In diesem Feld sind dieselben Trends zu erkennen wie beim Pharmamarkt: Internationalisierung, Spezialisierung und Konzentrationsprozesse. Ohnehin ist die Unternehmensstruktur im Feld der chemischen Industrie in Deutschland schon durch wenige große Konzerne gekennzeichnet, die große Teile des Kuchens unter sich aufgeteilt haben. Im Jahr 2003 haben die sechs größten Konzerne, BASF, Bayer, Henkel, Degussa, Beiersdorf und Celanese 38 Prozent des weltweiten Gesamtumsatzes von knapp 200 Mrd. Euro erbracht. Diese Rechnung bezieht sich nur auf das Chemiegeschäft ohne das Pharmageschäft (vgl Rammer/Heneric/Legler 2005: 47 f.). Ein solch hohes Maß an Konzentration findet man in der deutschen Wirtschaft sonst nur im Automobilbau, einer ebenfalls sehr stark internationalisierten und auf wenige Anbieter konzentrierten Branche. Die Autoren des Forschungsberichts „Innovationsmotor Chemie 2005“ identifizieren drei große Bewegungen in Bezug auf die Chemiebranche im Zeitraum von 1986 bis zum Jahr 2003. Als ersten Trend betonen sie die Entflechtung der großen, integrierten Chemiekonzerne, die bisher von der Grundstoffchemie über die Spezialchemikalien bis hin zur Konsumproduktion und Pharmazeutika das gesamte Spektrum an Chemiewaren abdeckten, z.T. durch den Verkauf von Randaktivitäten (Beispiel BASF), z.T. durch Gründung selbständiger, nach Sparten getrennten Unternehmen (Beispiel Bayer), z.T. durch Fusionen und Restrukturierungen (Beispiel Hoechst-Aventis, Ciba-Geigy und Sandoz). Als zweiten Trend stellen die Autoren den Einstieg zahlreicher großer Mineralölkonzerne in das Chemiegeschäft fest, insbesondere auf im Bereich der Grundstoff- und Spezialchemikalienproduktion. 39 Da die großen Mineralölkonzerne erhebliche Finanzkraft haben, tragen zu einer schreibt Kuchenbuch über den Biotech-Sektor: „Amerikanische Biotech-Konzerne wie Amgen und Genetech hängen etablierte Pharmakonzerne bei wichtigen Kennzahlen wie Gewinnwachstum, Rendite und Innovationspotenzial um Längen ab. Die Börse honoriert diese Entwicklung. Während der Amex-Pharmaceutical-Index vergangenes Jahr 11 Prozent zulegte, erreichte der NASDAQ-Biotech-Index ein Plus von 43 Prozent. (...). Die Aussichten der Branche sind weiter sonnig. (...) Noch erreichen die Umsätze der 130 bereits zugelassenen Wirkstoffe einen Marktanteil von lediglich sechs Prozent am gesamten Medikamentenspektrum. Doch mittlerweile ist das weltweit meistverkaufte Medikament eine Biotech-Erfindung: Das Blutbindungshormon Epoetin hat 2003 den chemisch synthetisierten Cholesterinsenker Lipitor (...) von der Weltspitze verdrängt. Und weitere 350 Biotech-Präparate durchlaufen gerade klinische Prüfungen oder den Zulassungsprozess. “ Die Hersteller der generischen Medikamente sind ihrerseits auch nicht untätig. So berichtet das Handelsblatt in einem Artikel über den zur Firmengruppe Adolph Merckle gehörenden Anbieter Ratiopharm vom 14.10.2004, dass dieses Unternehmen aufgrund rückläufiger Umsätze in seinen etablierten Geschäftsbereichen in neue Geschäftsfelder und Marktnischen vordrängt, namentlich Frauengesundheit, Krebsbehandlung und Biogenerika. So schreibt der Handelsblatt-Autor Siegfried Hofmann im Artikel „Ratiopharm besetzt neue Nischen“: „Im Geschäftsfeld Frauengesundheit will Albrecht bis 2006 eine Außendienstlinie zur Produktvermarktung bei Gynäkologen aufbauen. Im Bereich Krebstherapie soll die 2003 erworbene Firma Ribospharm als Basis für eine europaweite Expansion dienen. Für den Einstieg in das Geschäft mit Biogenerika errichtet Ratiopharm derzeit eine Wirkstoff-Produktion in Ulm. Die mehr als 40 Mill. Euro teure Anlage gilt als die größte Investition in der 30jährigen Firmengeschichte. Sie soll 2007 in Betrieb gehen. Biogenerika sind Kopien von biotechnisch hergestellten Originalmedikamenten. Anders als bei herkömmlichen Generika sind hier relativ umfangreiche klinische Studien erforderlich. Die Entwicklungskosten nehmen damit deutlich zu.“ 39 Die von Rammer, Heneric und Legler dargestellten Veränderungen für das Feld der Chemie werden, weil Erdöl bzw. Mineralöl der wichtigste Rohstoff für die Chemieproduzenten ist, maßgeblich durch das Geschehen auf diesem Markt determiniert, namentlich durch die Veränderung des Erdölpreises. Eine soziologische Untersuchung über die Strukturzusammenhänge und Integrationsmechanismen auf diesem wichtigen Weltmarkt, der für

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weiteren Intensivierung des Preiswettbewerbs im Chemiegeschäft bei. Als dritten Trend heben die Autoren schließlich die Verlagerung von Teilen der Produktionskapazität der chemischen Industrie nach Asien hervor. Im Jahr 2003 befand sich mit Mitsubishi Chemicals bereits ein asiatisches Unternehmen unter den Top-Ten der größten Unternehmen aus Asien kommen. In den kommenden 10 Jahren, so die Erwartung der Autoren, dürften China Petroleum & Chemical, SABIC (Saudi Basic Industries Corporation) oder Formosa Plastics (Taiwan) und einige weitere Unternehmen in diese erste Liga vorstoßen. Ihr jährliches Umsatzwachstum von 20 Prozent und mehr deutet bereits jetzt darauf hin (Rammer/Heneric/ Legler 2005: 48). Wie die folgende Tabelle zeigt, die nur die reine Chemieproduktion ohne Pharma, Pflege- und Reinigungsmittel beinhaltet, ist es seit dem Jahr 1986 zu erheblichen Verschiebungen der Kräfteverhältnisse gekommen. Man erkennt deutlich die Veränderung der Kräfteverhältnisse auf dem Chemiemarkt zugunsten der Mineralölkonzerne. Tabelle 4: Weltmarkt Chemie Rangliste 2005 1986 1990 1995 2000 2003 1 BASF Hoechst Hoechst BASF Dow Chemical 2 Bayer Bayer BASF Du Pont BASF 3 Hoechst BASF Bayer Dow Chemical Du Pont 4 Du Pont ICI Du Pont Exxon/Mobil Bayer 5 ICI Du Pont Dow Chemical Bayer Total 6 Dow Chemical P&G Ciba-Geigy TotalFinaElf Exxon/Mobil 7 Ciba Geigy Dow Chemical MitsubishiChem. Degussa BP Chemicals 8 Montedisson EastmanKodak Rhône-Poulenc Shell Chem. Shell Chem. 9 Shell Chem. Unilever Merck&Co ICI MitsubishiChem. 10 Rhône-Poulenc Rhône-Poulenc ICI BP Chemicals Degussa (Quelle: Rammer/Heneric/Legler 2005: 47). Damit wird plausibel, dass es aus Sicht des Bayer-Konzerns durchaus naheliegend ist, sich andere Märkte zu erschließen als spezifisch den Chemiemarkt. Auf Grundlage der bisherigen Ausführungen über die Entwicklung in den organisationalen Feldern von Pharma und Chemie wird deutlich, dass die chemisch-pharmazeutischen Unternehmen im organisationalen Feld der „Deutschland AG“ nicht bei ihrer Mischkonzernstruktur bleiben konnten, sondern unter dem Druck standen, ein differenziertes und auf wenige Säulen fokussiertes Produkt- und Leistungsportfolio auszubilden. Seit Mitte der 1990er Jahre hat der Pharmamarkt für Bayer enorm an strategischer Bedeutung gewonnen. Aber wie die vorangegangenen Ausführungen über den Strukturwandel des Pharmamarktes bereits gezeigt haben, ist eine Positionierung in diesem Feld aufgrund der Dominanz der Blockbuster-Strategie auch nicht einfach. Bayer muss sich hier seine Position erst erkämpfen. Zwar verfügt Bayer aktuell durchaus über Blockbuster-Medikamente, ist mit ein bis zwei Produkten in dieser Liga aber deutlich von Branchenprimus Pfizer mit seinen acht Blockbuster-Medikamenten entfernt, befindet sich dementsprechend, was Blockbuster-Produkte betrifft, in deutlichem Abstand vom Machtpol des organisationalen Feldes der Pharmazie entfernt, wenn man den internationalen Pharmadie Konjunkturentwicklung allgemein von enormer Wichtigkeit ist, hat Zündorf (2002) auf Grundlage von Wallersteins Weltsystemtheorie vorgelegt.

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markt zugrunde legt. Zwar erfolgt diese Aussage unter der Voraussetzung, dass man Blockbuster als alleinigen Maßstab für den Unternehmenserfolg wählt, doch kann diese Produktgruppe zurzeit als besonders wichtige Produktgruppe innerhalb des Pharmamarktes gelten. Die Neuaufstellung des Bayer-Konzerns vom Jahr 2001 an bis zur Gegenwart mit einer geeigneten Kombination von Blockbuster-Medikamenten und verschreibungsfreien Medikamenten kann jedoch insgesamt als Erfolg bezeichnet werden. Ausgehend vom Tiefpunkt mit dem Lipobay-Skandal im Jahr 2001 hat sich Bayer gut rehabilitiert und sich mit neueren Produkten erfolgreich positioniert. Lipobay war en Medikament zur Cholesterin-Senkung, ein Blockbuster, von dem sich der Bayer-Konzern mehr als eine Milliarde Dollar Jahresumsatz versprochen hatte. Bayer musste Lipobay vom Markt nehmen, weil es im Verdacht stand, als Nebenwirkung Muskelschwäche mit tödlichem Ausgang zu verursachen. Infolge des Lipobay-Skandals im August 2001 stürzte der Bayer-Konzern in eine tiefe Krise, von der sich das Unternehmen mühsam erholte. Lipobay war ein Konkurrenzprodukt zum derzeit weltweit umsatzstärksten Medikament Lipitor, einem Blutfettsenker des amerikanischen Herstellers Pfizer, und zu Zocor, ebenfalls einem Blutfettsenker des zweitgrößten amerikanischen Herstellers Merck & Co (Financial Times Deutschland, Artikel „Blutdrucksenker treibt Pfizers Umsatz hoch“, vom 22.07.04). Bayer ist aber noch mit einem anderen Blockbuster-Medikament auf dem Pharmamarkt vertreten, und zwar mit Ciprobay, einem Antiinfektivum. Allerdings ist der Patentschutz für Ciprobay zum Ende des Jahres 2004 ausgelaufen, so dass für Bayer zu erwarten ist, dass die Generika-Anbieter in kurzer Zeit mit günstigeren Nachahmerprodukten angreifen. Der Innovationsdruck ist und bleibt für Bayer also hoch. Gegenwärtig verfügt Bayer über ein weiteres Blockbuster-Produkt, nämlich über Levitra, ein Potenzmittel. Erst im Januar 2005 hat Bayer die alleinige Vermarktungslizenz für Levitra außerhalb der USA vom britischen Partner Glaxo Smithkline erworben. Bayer hält mit Levitra in Deutschland einen Umsatzanteil von 18 Prozent, gemessen an 50 Prozent des Marktführers Viagra des Herstellers Pfizer und 32 Prozent Marktanteil des Konkurrenzprodukts Cialis eines weiteren großen Pharmaherstellers, Eili Lilly. Levitra ist ein neueres Produkt und erst seit dem Jahr 2003 am deutschen Pharmamarkt vertreten. Ob das Produkt die erhoffte Umsatzmarke von einer Milliarde Euro erreicht, muss sich allerdings noch zeigen. Bisher liegt der Umsatz in der Größenordnung von ca. 200 Millionen Euro (Financial Times Deutschland, Artikel „Bayer übernimmt Vertrieb der Potenzpille Levitra“ vom 11.01.05; Bayer 2005: 16). Ein anderes Medikament mit Blockbuster-Potenzial ist Avalox, ein Atemwegsantibiotikum. Mit diesem Medikament konnte Bayer seinen Umsatz auf mehr als 300 Millionen Euro steigern. Zugleich hat Bayer ein weiteres Pharmaprodukte mit Blockbuster-Potenzial in der Entwicklungsphase, Bay 43-9006, ein Produkt zur Bekämpfung des fortgeschrittenen Nierenzellkarzinoms (Krebserkrankung). Andererseits zieht sich Bayer aus zwei weiteren Forschungsfeldern zurück: Die Forschung und Entwicklungsperspektive für die Therapiegebiete Urologie und Antiinfektiva wird wegen der hohen Forschungs- und Entwicklungskosten im Pharmabereich allgemein bis auf weiteres aufgegeben. (Börsenzeitung, Artikel „Bayer streicht Forschungsbudget zusammen“, Ausgabe 235 vom 03.12.04). Interessant im Hinblick auf den Bayer-Pharmabereich ist hingegen das Feld der biologischen Produkte. Hervorzuheben ist dort insbesondere das Medikament Kogenate, das wachsende Absatzzahlen erzielt. Ein anderer, weniger schnelllebiger, 94

dafür sehr solider Wachstumsmarkt eröffnet sich für den Bayer-Konzern jenseits der Blockbuster-Medikamente und der Biotechnologie: Auf dem Markt für verschreibungsfreie Medikamente ist Bayer ebenfalls mit einer Reihe starker Marken vertreten: Aspirin (Schmerzmittel), Canesten (Fußpilzmittel), Talcid und Lefax (beides Magen-Darm-Medikamente), sowie die Produkte Supradyn, Redoxon, Bepanthen und Rennie des Herstellers Roche, um nur ein paar der wichtigen Produkte zu aufzuzählen (Pressemitteilung des Bayer-Konzerns „Neuer Consumer Care Bereich startet am ersten Januar“ vom 01.01.05) Obgleich der Patentschutz des bereits im Jahr 1899 eingeführten Produkts Aspirin längst ausgelaufen ist und es eine Reihe identisch zusammengesetzter Nachahmerprodukte mit dem Wirkstoff der Acetylsalicylsäure gibt, bringt Aspirin dem Bayer-Konzern jährlich mehr als eine halbe Milliarde Euro Umsatz ein, darf vom Marktwert her immer noch als Blockbusterbezeichnet werden. Zusammenfassend ist also zu festzustellen, dass sich Bayer mit dem sich neu formierenden und vor allem international ausgerichteten Pharmageschäft positioniert und dort eine von drei Säulen seines zukünftigen Geschäfts sieht – neben Crop Science (Landwirtschaft) und Material Science (neue Materialien). Das weniger lukrative Geschäft der Großchemie und Teile des Polymergeschäfts, für die im Chemiemarkt analog zum Pharmamarkt das Kriterium der kritischen Mindestgröße gilt, um als überlebensfähig zu gelten, hat Bayer zum Beginn des Jahres 2005 unter dem Namen Lanxess ausgegliedert. Betrachtet man den Wandel der inneren Struktur und Arbeitsteilung des Bayer-Konzerns ausgehend vom Jahr 1995 bis zum Beginn des Jahres 2005, so ist festzustellen, dass Bayer einen tiefgreifenden Wandel der Leistungskoordination auf allen Ebenen durchlaufen hat, wobei die allgemeine Entwicklungsrichtung die einer Stärkung von Wettbewerb und Networking bei gleichzeitigem Abbau von Hierarchie und Formalisierung als dominierenden Mechanismen der Leistungsorganisation war. Bayer hatte bis zum Jahr 2001 an seiner damaligen Struktur des integrierten chemisch-pharmazeutischen Unternehmens mit vier großen Arbeitsgebieten Chemie (Spezialchemikalien), Polymere (darunter Polyurethane), Gesundheit (mit den Produktbereichen Pharma, Diagnostika und Tiergesundheit) sowie schließlich Landwirtschaft (mit Fungizide, Herbizide, Pestizide) festgehalten. Sehr wohl haben Restrukturierungsmaßnahmen auf der Ebene von strategischen Zukäufen und Ausgliederungen stattgefunden; auch gab es Restrukturierungsmaßnahmen, die Arbeitsteilung an den Produktionsstandorten und an den Produktionsanlagen betreffend (vgl. Abschnitt 2.1.3), aber an den Fundamenten der Konzernstruktur wurde bis zu diesem Zeitpunkt nicht gerüttelt (vgl. Vitols 2001: 211 f.). Bis zum Jahr 2001 entsprach die Arbeitsteilung des Bayer-Konzerns – wie bei allen Großunternehmen im Feld der Deutschland AG, die sich die Struktur des Mischkonzerns gegeben hatten – dem Konzept einer Matrixorganisation, also einer Kombination von Arbeitsteilung nach Produktgruppen, nach Fachgebieten und Funktionen sowie nach Regionen, die einerseits Landesgesellschaften des Bayer-Konzerns im Inland (Bayer AG) und im Ausland (z.B. Bayer Corp. für die USA) und Absatzmärkten. Diese innere Struktur und Arbeitsteilung ist durch die Kombination verschiedener Aufgaben bei den damals sieben Konzernvorständen umgesetzt worden. Strukturtypisch für die Unternehmen im organisationalen Feld der Deutschland AG hatte Bayer ein hochdifferenziertes Produktportfolio, das sich aus der Nutzung von Synergieeffekten zwischen seinen vier großen Arbeitsgebieten ergab und das Präsenz sowohl auf dem 95

Markt für Chemie- und Polymerprodukte als auch für Gesundheit und Landwirtschaft voraussetzte. Durchaus war der Pharmabereich von Bedeutung als eine der vier strategisch bedeutsamen Säulen des Bayer-Konzerns, hatte jedoch keine herausragende Bedeutung für den Bayer-Konzern wie in der Gegenwart. Während dieser Zeit, als sich Bayer in einem vergleichsweise stabilen Marktumfeld befand, galt die Präsenz sowohl auf dem Markt für Chemie und Polymerprodukte als auch für Gesundheit als unproblematisch. Bayer sah im Konzept des Mischkonzerns und in der Nutzung von Synergien zwischen seinen vier Arbeitsgebieten sogar die komparativen Wettbewerbsvorteile und baute bis zum Jahr 2001 bewusst auf dieses Konzept. Mit der Internationalisierung der Märkte, auf denen sich Bayer bewegt, und mit der Verschärfung des Wettbewerbs hat sich das geändert. Der Bayer-Konzern hat erkannt, dass für die Marktteilnehmer in einem hart umkämpften organisationalen Feld eine bestimmte Mindestgröße erforderlich ist, um sich gegen konkurrierende Anbieter behaupten zu können, und fokussiert folglich seine Geschäftsaktivitäten zunehmend auf wenige Felder, die von herausragender strategischer Bedeutung sind. Das bedeutet: Bayer bündelt seine Ressourcen. Seit dem Jahr 2002, dem Jahr der Transformation vom integrierten chemisch-pharmazeutischen Unternehmen zur strategischen Managementholding, hat sich Bayer eine neue innere Struktur und Arbeitsteilung gegeben: Unter dem Dach der Holding, die sich am Hauptsitz am Standort Leverkusen befindet, sind vier – nach der Ausgliederung der Chemiesparte unter dem Namen Lanxess drei – Teilkonzerne zusammen gefasst: Health Care (Gesundheit), Crop Science (Landwirtschaft) und Material Science (hochwertige Materialien). 40 Zu Bayer Health Care zählen die Produktfelder Animal Health, Biologische Produkte, Consumer Care (verschreibungsfreie Medikamente und Vitamine), Diagnostics (Medizinische Tests), Diabetes Care (Blutzucker-Messsysteme) und der Bereich Pharma (Infektionskrankheiten, Herz-Kreislauf-Bereich, Urologie, Krebs). Zu Bayer Crop Science gehört zunächst der Bereich Crop Protection (Insektizide, Herbizide, Fungizide, Saatgutbehandlung), der Bereich Environmental Science und Bioscience (Agricultural Crops, New Business Ventures und Vegetables). 41 40 Ich beziehe mich mit der Beschreibung der Arbeitsteilung im Bayer-Konzern auf den Stand vom 31. Januar 2005. Die Abspaltung von Lanxess wurde mit der Eintragung in das Handelsregister am 28.01.05 rechtswirksam. Zu Lanxess gehört der gesamte Chemiebereich sowie ein Drittel des Polymerbereichs von Bayer. Lanxess hatte im Jahr 2003 ein Umsatzvolumen von 6,3 Milliarden Euro und beschäftigte auf dem Stand von September 2004 knapp 20.000 Mitarbeiter. 41 Die umsatzstärksten Produkte im Bereich Health Care sind: Ciprobay (Antiinfektivum), Adalat (blutdrucksendendes Medikament), Ascensia (Diagnostika für Blutzuckermessung), Aspirin (Schmerzmittel), Kogenat (Medikament zur Behandlung der Bluterkrankheit), Advia Centauer (Großlabors/Diagnostika im Bereich HerzKreislauf-Erkrankungen, Infektionen, Stoffwechselstörungen), Gamimune (Behandlung von Antikörper-Mangelzuständen sowie von gestörter Immunregulation), Avalox (Antiinfektivum für Atemwegsbereich), Glucobay (Medikament zur Behandlung der Zuckerkrankheit), Advantage (Antiparasitum für Haustiere). Die umsatzstärksten Produkte im Bereich Crop Science sind: Confidor, Gaucho, Admire und Merit (Insektizide), Folicur/Raxil (Mittel gegen Pilzkrankheiten), Puma/Basta/Liberty (Unkrautvernichter), Decis/K-Orthrine (Mittel gegen Insekten), Betanal/Fenikan (Mittel gegen Unkräuter), Temik (Mittel gegen Insekten), Aliette (Mittel gegen Pilzkrankheiten). Die umsatzstärksten Produkte im Bereich Material Science sind schließlich: Makrolon (Polycarbonat), Baydur (PUR-Integralschaum), Bayflex Footwear (Polyurethan-Systeme und Rohstoffe für Schuhindustrie), Desdomur (Lackrohstoffe für Automobil- und Industrieanwendungen, Korrosionsschutz, Bodenbeschichtung), Desdoman (thermoplastische Polyurethane für High-Tech-Anwendungen), Baytron (Polymerdispersion für leitfähige und antistatische Beschichtungen), Walcocel (Cellulose-Derivate für Anwendungen in Baustoffen, Pharma-Präparaten und in der Papierherstellung).

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Deutlich ist derzeit das Markt- und Umsatzwachstum für die dritte Säule des Bayer-Konzerns, Bayer Material Science, die all jene Produktbereiche umfasst, die nach der Veräußerung des Teilkonzerns Lanxess im Produktbereich Chemie und Polymere übrig geblieben sind, also die spezifischen Produktgruppen, die Bayer aufgrund ihres Zukunftspotenzials behalten hat. Dazu gehören die Produktfelder Coatings, Adhesives und Sealants (z.B. Klebstoffe), Polycarbonate, Polyurethane, thermoplastische Polyurethane, inorganische Chemikalien sowie die während der letzten Jahre zugekauften kleineren Firmen Wolff Walsrode (Cellulose-Chemie) und H.C. Starck (Produkte für Elektro- und Medizintechnik) (vgl. Bayer 2005: 20-22). Alle nicht zum operativen Geschäft gehörenden Tätigkeitsgebiete sind seit dem Jahr 2002 in drei Servicegesellschaften zusammengefasst: Bayer Business Services, Bayer Industry Services und Bayer Technology Services. Bezogen auf den vierköpfigen Vorstand, der an der Spitze der strategischen Holding oberhalb der Teilkonzerne und Servicegesellschaften steht, hat Bayer die die folgende Arbeitsteilung etabliert: Vorstandsvorsitzender ist Werner Wenning. Der Bereich Strategie und Personal befindet sich in den Händen von Dr. Richard Pott, der gleichzeitig Arbeitsdirektor ist. Die Konzernfinanzen liegen in den Händen von Klaus Kühn, und für den Bereich Innovation, Technik und Umwelt ist Dr. Udo Oehls verantwortlich. Aussagekräftig ist damit die Verteilung des Expertenwissens im Vorstand des Bayer-Konzerns: Nur der Vorstandsvorsitzende, Werner Wenning, hat den Ausbildungsweg einer kaufmännische Ausbildung absolviert, im Übrigen bei Bayer. Dr. Klaus Kühn, Leiter des Konzernbereichs Finanzen, studierte Mathematik und Physik an der Technischen Universität Berlin. Dr. Richard Pott, verantwortlich für „Strategie und Personal“, studierte Physik an der Universität Köln. Seine erste Station bei Bayer war die zentrale Forschung. Dr. Udo Oehls studierte Chemie an der Technischen Universität Hannover. Seine erste Station bei Bayer war eine Stellung als Forschungschemiker. Die Zusammensetzung des Bayer-Vorstands ist nicht außergewöhntlich und zeigt den für die chemische und pharmazeutische Industrie charakteristischen hohen Akademisierungsgrad der Beschäftigung, wobei Experten mit naturwissenschaftlicher und technischer Ausbildung das Gros der Beschäftigten im Bereich von Forschung und Entwicklung darstellen, wobei dieser Bereich „typischer“ Ausgangspunkt für Karrieren von Führungskräften ist, wie die Interviews bestätigt haben. Von daher passt es durchaus zum Paradigma der formal-rationalisierten Expertenorganisaion, dass bei Bayer Experten mit mathematisch–naturwissenschaftlicher Ausrichtung im Vorstand eindeutig dominieren.42 Über diese funktional differenzierte Primärorganisation hinaus existiert innerhalb des Bayer-Vorstands auch eine regionale Arbeitsteilung im Hinblick auf die großen Wirtschaftsregionen, welche die Landesgesellschaften des BayerKonzerns repräsentieren, die wiederum sich dort befinden, wo auch die wichtigsten Absatzmärkte sind. Jedes der vier Vorstandsmitglieder ist also nicht nur für einen Funktionsbereich zuständig, sondern betreut eine der großen Wirtschaftsregionen. Dr. Klaus Kühn ist neben sei42 Die Studie „Innovationsmotor Chemie“ macht darauf aufmerksam, dass sich der Akademisierungsgrad in den Forschungs- und Entwicklungsbereichen der Industie weiter erhöht, so auch in der Chemie. Dort sind ein Viertel des F&E-Personals Akademiker. Das ist relativ wenig im Vergleich zur verarbeitenden Industrie, wo fast die Hälfte des F&E-Personals ein Studium als Naturwissenschaftler oder Ingenieur absolviert hat. Chemiker und Chemie-Ingenieure bilden mit einem (konstanten) Anteil von 46 Prozent die stärkste Gruppe unter den Naturwissenschaftlern und Ingenieuren (Rammer/Heneric 2005: 25).

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ner Zuständigkeit für die Funktion Finanzen auch für die Wirtschaftsregionen Europa, Afrika und Nahost verantwortlich. Dr. Richard Pott ist nicht nur Personalvorstand und Arbeitsdirektor für die Bayer-AG, sondern betreut ebenfalls die Regionen Nord-, Mittel- und Südamerika. Dr. Udo Oehls ist als Vorstandsmitglied zusätzlich zu „Innovation, Technologie und Umwelt“ für die Region Asien verantwortlich. Unterstützt wird der Konzernvorstand durch die Corporate-Center-Bereiche, zu deren Aufgaben Strategie und zentrale Funktionen gehören, die als teilkonzernübergreifend angesehen werden. Der Vorstand des Bayer-Konzerns ist in Personalunion auch der Vorstand der Bayer-AG (deutsche Landesgesellschaft). Darüber hinaus sind die einzelnen Vorstände auch verantwortlich für die Landesgesellschaften des Bayer-Konzerns im Ausland. Diese funktionale und regionale Arbeitsteilung befindet sich im Bayer-Headquarter oberhalb der Teilkonzerne, deren Arbeitsteilung, wie bereits weiter vorn in diesem Textabschnitt erörtert wurde, an den Produktgruppen des operativen Geschäfts orientiert ist, und der Service-Gesellschaften, deren Funktion darin besteht, die am operativen Geschäft beteiligten Teilkonzerne zu unterstützen (vgl. Interview VI; 6:2; 6:3). Damit reflektiert die Arbeitsteilung im Konzernvorstand auch die Arbeitsteilung im Konzern. Auch als strategische Managementholding behält Bayer sowohl seinen programmatischen Kern als auch sein Verwaltungszentrum in Europa, wo sich auch der historische Ursprung und der Heimatmarkt des Unternehmens befinden. Als international operierendes Unternehmen ist Bayer jedoch durch eine global ausgerichtete Arbeitsteilung gekennzeichnet: Zunächst ist Bayer mit ca. 350 Gesellschaften auf den fünf Kontinenten vertreten. Von den ca. 93.000 Mitarbeitern arbeiten ca. 52.900 in Europa, davon erneut 37.900 in Deutschland, 16.400 in Nordamerika, 12.900 in Südostasien/Ozeanien, 11.100 in Lateinamerika, Afrika und Nahost (vgl. Bayer 2005 Namen_Zahlen_Fakten 2005/2006). Man kann sogar sagen, dass Bayer in bewusster Abgrenzung zu Hoechst-Aventis die Zerschlagung des Unternehmens vermieden hat und stattdessen auf ein differenziertes Leistungsportfolio mit verschiedenen Produktgruppen setzt, die sich jeweils einem eigenen Absatzmarkt bewähren müssen (vgl. Interview VI). Gleichzeitig kann man auch sagen, dass Bayer soviel Marktwettbewerb und Networking implementiert, wie es zum Zweck der Verbesserung der eigenen Marktposition funktional erscheint, insbesondere dahingehend, dass Bayer Bereiche ausgliedert, die unter Bedingungen dynamischer Märkte Ballast darstellen, um alle Ressourcen auf wenige Kernbereiche zu konzentrieren. Der Prozess der Konzentration auf wenige Kernkompetenzen mit besonders großem Marktpotenzial vollzieht sich sowohl auf der Konzernebene – Stichwort ist hier die strategische Ausgliederung der gesamten Chemie-Sparte und von Teilen des Polymergeschäfts unter dem neuen Firmennamen Lanxess – als auch innerhalb einzelner Aktivitätsfelder des Bayer-Konzerns, so z.B. innerhalb der Forschung und Entwicklung für Pharmaprodukte. So hat Bayer zum Jahresbeginn 2005 bekannt gegeben, dass es die Forschung und Entwicklung in den Produktfeldern Urologie und Antiinfektiva aufgibt und sich stärker auf andere Medikamentengruppen konzentriert. Darüber hinaus wird die Arbeitsteilung der Pharmaforschung insgesamt restrukturiert. Dazu heißt es in einer Pressemeldung aus dem Jahr 2003:

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„Die bisher weltumspannenden Funktionen des Pharmageschäfts werden künftig von Wuppertal aus gesteuert. Das heißt, dass Teile der Sparte, die bisher in Leverkusen sitzen (etwa Global Operations, Marketing, Geschäftsleitung) nach Wuppertal umziehen werden. Weitere Details zur Verlagerung von Verwaltungsfunktionen aus dem Ausland sind unbekannt. Sicher ist hingegen, dass Bayer nicht das schon bestehende Produktportfolio, sondern seine Forschung konzentrieren will. Wenning hat für die Krebsforschung (Onkologie) in den Vereinigten Staaten eine Bestandsgarantie gegeben. (...) Im kalifornischen Berkeley wird an Biotechpräparaten geforscht. In West Haven an der amerikanischen Ostküste geht es einerseits um Onkologie, aber auch um Stoffwechselkrankheiten wie Fettsucht und Diabetes und damit ebenfalls um Kernkompetenzen. (...) In Wuppertal ist die Herz-Kreislauf- und Antiinfektiva-Forschung konzentriert, Fettsucht/Diabetes könnte hinzukommen. (...) Den Bayer-Forschern steht künftig aber weniger Geld für ihre Arbeit zur Verfügung.“ (F.A.Z., Artikel „Wuppertal wird Zentrum der kleinen Bayer-Pharmawelt“, vom 21.11.2003).

Zusammenfassend ist zu sagen, dass der Bayer-Konzern mit dem Strukturwandel in Richtung der Stärkung des Marktwettbewerbs und des Networking der Entwicklung des organisationalen Feldes folgt, in dem es sich bewegt. An die Stelle des ursprünglichen organisationalen Feldes „Chemie und Pharma“ sind zwei Felder „Chemie“ und „Pharma“ getreten, die beide durch einen hohen Internationalisierungsgrad und durch eine enorme Entwicklungsdynamik gekennzeichnet sind. Beide Felder, „Chemie“ und „Pharma“ – sind nach verschiedenen Produktgruppen differenziert, die sehr wissensintensiv sind und enorme Kapitalinvestitionen voraussetzen. Deshalb ist über beide organisationalen Felder „Chemie“ und „Pharma“ zu sagen, dass sienur wenigen potenten Marktteilnehmern Platz bieten. Die innere Struktur und Arbeitsteilung des Bayer-Konzerns wird sich an diesen Gegebenheiten ausrichten müssen.

2.1.3 Marktwettbewerb und Networking: zur Leistungskoordination in den Bayer-Betrieben und Standorten (inzwischen Chemieparks) Bezogen auf die Leistungsorganisation in den Bayer-Betrieben und an den Bayer-Standorten setzt Bayer bereits seit Ende der 1990er Jahre zwei wesentliche Schwerpunkte: erstens die Trennung der am operativen Geschäft beteiligten Organisationseinheiten von den Serviceeinheiten durch Ausgliederung sämtlicher Servicebereiche im Rahmen des Chemiepark-Konzepts, zweitens die interdisziplinäre Zusammenarbeit im Bayer-Profiteam. Beide Schwerpunkte ergänzen einander. Die Leistungsorganisation an den Bayer-Standorten ist bestimmt durch die Konzentration auf das Kerngeschäft. Nur die unmittelbar zum Kerngeschäft gehörenden Organisationseinheiten sind den Teilkonzernen Bayer Lanxess (Chemie), Bayer Polymers, Bayer Health Care und Bayer Crop-Science zugeordnet, alle nicht am operativen Geschäftsbereich beteiligten Organisationseinheiten sind entweder den Servicegesellschaften Bayer Business-Services, Bayer Technology-Services oder Bayer Industry-Services zugeordnet oder strategisch ausgegliedert worden. Damit befinden sich die Organisationseinheiten an den Produktionsstandorten, die sich bisher keiner internen Konkurrenz zu stellen hatten, damit vollständig vom Markt abgeschottet waren, in einer für sie neuen Wettbewerbssituation, insofern als sie den Auftrag haben, sich auf Basis ihres Geschäftserfolges innerhalb des Unternehmens zu positionieren (vgl. Interview I). Die Produktionsstandorte sehen sich im Standortwettbewerb mit anderen Produktionsstätten des Bayer-Konzerns weltweit. Voraussetzung für Erhaltung oder Neuschaffung der Arbeitsplätze in der Produktion sind Anlageinve99

stitionen. Diese wiederum sind an den Fortbestand und die ausreichende Größe von Absatzmärkten, Technologie, Know-how und eine geeignete Service-Infrastruktur an den Produktionsstandorten geknüpft (vgl. Interview III). Der zweite Aspekt der Leistungsorganisation in den Betrieben und an den Bayer-Standorten betrifft die Teamorganisation in der Produktion selbst sowie im Umfeld der Produktion. Das schließt Serviceeinheiten an den Produktionsstandorten explizit ein. Hier setzt Bayer auf das Konzept des interdisziplinär zusammengesetzten Profiteams. Das Bayer-Profiteam ist nicht nur der Wortbedeutung nach etwas anderes als ein Profitcenter der flexiblen Netzwerkorganisation. Inhaltlich knüpft das Konzept vom Profiteam nicht an Profitabilität und Budgetverantwortung von Kostenstellen, an unternehmerisches Entscheiden der Mitarbeiter oder an strategische Positionierung im Bayer-Netzwerk an, denn diese Dinge sind durch strategische Entscheidungen auf Unternehmensebene bereits vorgegeben. Vielmehr beinhaltet das Profiteam das Management der operativen Produktions- und Arbeitsprozesse nach dem Berufsprinzip von flexibler Arbeitsorganisation im interdisziplinär zusammengesetzten Team von Facharbeitern, Technikern und angelernten Kräften. Bedingt durch die technischen Gegebenheiten der Produktion von Chemie- und Polymerprodukten beschränkt sich manuelle Arbeit auf wenige handwerkliche Tätigkeiten an der Produktionsanlage, insbesondere auf das Reinigen eines Reaktors oder das Ausbauen und Reparieren einer Pumpe. Die Zentrale der Produktion ist die Messwarte, von der aus die Produktion mithilfe computergestützter Prozessleitsysteme überwacht und innerhalb bestimmter Vorgaben gesteuert wird. Wenn es z.B. unter dem Einfluss vor- bzw. nachgelagerter Apparaturen Veränderungen im Produktionsprozess selbst gibt, an einer bestimmten Stelle vom Normalbereichabweicht, löst das System ein Signal aus, aufgrund dessen der Messwartenfahrer in den laufenden Produktionsprozess eingreift. Ein Messwartenfahrer sollte mindestens ein, besser zwei oder drei chemische Verfahren beherrschen, um auch in Betrieben, die in zwei oder drei Verfahrensabschnitte untergliedert sind, das gesamte Tätigkeitsspektrum zu beherrschen. Daher beschäftigt Bayer in der Produktion fast ausschließlich Chemikanten und Techniker, und nicht alle sind dem Aufgabenprofil der Messwarte uneingeschränkt gewachsen (Interview II; III). Die Produktionsarbeit im Profiteam ist aber nicht nur aufgrund der Anforderungen der Prozesssteuerung selbst anspruchsvoll, sondern auch deshalb, weil Innovation von Produkt und Verfahren in diesem Arrangement kompliziert ist, z.B. wenn die Entstehung von Nebenprodukten in bestimmten Kreisläufen zum Problem wird, wenn die Anlage unter Sicherheitsaspekten optimiert werden soll, oder wenn es um die Frage nach Energiesparpotenzialen geht (Interview III). Das Profiteam soll sich nicht nur mit umfangreicher Expertise für Produkt und Verfahrenstechniken etablieren und den Expertensystemen Anregungen und Verbesserungsvorschläge nicht nur für bestehenden Anlagen unterbreiten, sondern auch Vorschläge machen, die bei Anlageinvestitionen zu berücksichtigen sind Chemiker, Ingenieure, Informatiker und andere akademische Professionals können sich auf die Expertise des Profiteams stützen (Interviews III; IV). Die ausgeprägte naturwissenschaftlich-technische Orientierung der Bayer- Leistungsorganisation setzt sich bei den akademischen Berufen fort: Chemiker, Ingenieure, Physiker, Mediziner und Biologen gelten traditionell als kompetent für die Innovation, weil Bayer den Schwerpunkt seiner Innovationstätigkeit auf Produkt und Verfahren setzt. Beispielsweise ist die Programmierung der 100

Prozessleitsysteme für die Produktionsanlagen so umfangreich und komplex, dass die Expertise dieser Verfahrensexperten ebenso gefordert ist wie die von Informatikern. Technische Entwicklung und ökonomische Rahmenbedingungen erfordern jedoch heute eine stärkere Performanzorientierung in Bezug auf Profitabilität und Effizienz jeder Anlage, folglich auch entsprechende Anpassungsleistungen. Diese beinhalten die Erweiterung des Spektrums möglicher Innovationsaktivitäten um die Reorganisation der Arbeit und der Geschäftsprozesse in den Betrieben vor Ort ebenso wie im Konzern insgesamt. Die Zwischenebene von interorganisationaler, netzwerkförmiger Zusammenarbeit ist hierbei eingeschlossen. Somit wird das Spektrum der für die Innovationstätigkeit benötigten Kompetenzen erweitert, z.B. organisatorische und juristische Expertise – vor allem aber Finanzexpertise.

2.2 Unternehmenssteuerung und Führung: Fokussierung auf Kernkompetenzen und Umsetzung mittels Accounting und Benchmarking. 2.2.1 Die finanzgetriebene Unternehmenssteuerung mittels Accounting und Benchmarking. Die Entwicklungsrichtung des Strukturwandels der Leistungsorganisation – mehr Markt, mehr Networking, Abbau von Hierarchiestufen, Reduzierung von formal definierten Regeln – funktioniert nur, wenn die Führungsstrukturin derselben Richtung verändert wird. Der Strukturwandel kann nur gelingen, wenn Leistungsorganisation und Führungsstruktur komplementär zueinander operieren. Würden sich die Akteure mit Arbeitsteilung einerseits und Führungsstrukturen andererseits im Weg stehen, beispielsweise wenn trotz eines anders praktizierten Modus der Arbeitsteilung innerhalb und zwischen den Geschäftseinheiten die bisherige Formalstruktur mit zahlreichen fein abgestuften Hierarchiestufen erhalten bliebe, wenn alle Vorgänge aktenkundig gemacht werden und offiziell über Dienstwege kommuniziert werden müssten, wären dysfunktionale Folgen für das Wirtschaftsunternehmen zu erwarten. Grund genug, in diesem Abschnitt die analytische Funktion der Steuerung und Führung zu untersuchen – zunächst allgemein für die Unternehmen im organisationalen Feld der „Deutschland AG“, danach konkret für das Fallbeispiel des Bayer-Konzerns. Somit stellt sich die Frage, welche Akteure – intern und extern – die Unternehmen im organisationalen Feld der Deutschland AG beherrschen, welche Akteure mit dem Strukturwandel des Unternehmens unter Globalisierungsdruck näher zum Machtpol vorrücken oder weiter vom Machtpol abgedrängt werden, sich also in der Peripherie wiederfinden. Dabei ist von einer Institutionenkomplementarität im organisationalen Feld und im Wirtschaftsunternehmen auszugehen. Die Institutionen im Umfeld des Wirtschaftsunternehmens wirken so zusammen, dass Unternehmen, die eine bestimmte „conception of control“ angeeignet haben, in ihrer Entwicklung befördert werden und gute Chancen haben, weiter zum Machtpol des organisationalen Feldes vorzurücken während andere Unternehmen in ihrer Entwicklung benachteiligt und möglicherweise ganz aus dem organisationalen Feld verdrängt werden. Aber das Unterneh101

men ist nicht nur Akteur innerhalb des übergreifenden organisationalen Feldes. Vielmehr stellt es seinerseits ein Feld mit einem Machtpol dar, in dem verschiedene Akteure mit ihren ökonomischen, sozialen und kulturellen Kapitalien um eine besonders vorteilhafte Positionierung konkurrieren. Wie im organisationalen Feld die Wirtschaftsunternehmen die Akteure sind, welche um eine marktbeherrschende Stellung konkurrieren, sind dies im Unternehmen Personen, Gruppen, Geschäftsbereiche und Produktionsstandorte. Wer sich in der Nähe des Machtpols befindet, ist in einer vorteilhaften Ausgangsposition, um sich mit seiner „conception of control“ durchzusetzen, also das eigene Leitbild zu dem des Unternehmens zu machen, konkurrierende Leitbilder an den Rand zu drängen und eventuell sogar ganz zum Verschwinden zu bringen. Das bedeutet aber nicht, dass „invaders“ keine Chance haben, von außen in das Unternehmen einzudringen, sich mit einer neuen „conception of control“ in der Nähe des Machtpols des Unternehmens zu positionieren und die bisherige Führungselite abzudrängen. Charakteristisch für die Corporate Governance auf der Ebene des organisationalen Feldes der „Deutschland AG“, wie sie seit der Nachkriegszeit entstanden und gewachsen ist, sind eine enge finanzielle und personelle Verflechtung in den Führungs- und Kontrollgremien. Die eine Säule der Unternehmensverflechtung bilden wechselseitige Beteiligungen und bankengestützte Finanzierung über langfristige Kredite. Die andere Säule bildet die personelle Verflechtung über Beteiligungen und Mandate in den Kontrollgremien anderer Unternehmen sowie bankengestützte Finanzierung durch Kredite, die mithin eine Insiderherrschaft der deutschen Unternehmen begründeten und legitimierten (Beyer 2003; Höpner 2003; Heinze 2003; 2004). Komplementär dazu bestand auf der Ebene der formal-rationalisierten Expertenorganisation im organisationalen Feld der „Deutschland AG“ eine stabile, gut abgesicherte Herrschaft der Fachexperten aus den naturwissenschaftlichen und technischen Disziplinen mit akademischer Ausbildung, z.B. Diplom oder Fachhochschulabschluss oder noch besser mit einer Promotion. Das von Streeck (1999) für das organisationale Feld der Deutschland AG beschriebene dominierende Paradigma – politisch eingerichtete Märkte, Institutionencharakter von Unternehmen, ermöglichender Staat, Verbandswesen, traditionalistische Orientierungen – fand auf der Ebene des Wirtschaftsunternehmens seine Entsprechung in der Herrschaft der Fachexperten, die sich der Semantik der Naturwissenschaften und des Ingenieurwesens bedienten und die bedingt durch ihre berufliche Sozialisation eine stark ausgeprägte Orientierung an Produktqualität, Verfahrenssicherheit und Umweltfreundlichkeit hatten (vgl. Münch/Guenther 2005). Oftmals waren diese Orientierungen mit stark ausgeprägtem Hierarchiedenken und Ordnungsbewusstsein verknüpft. Das Schlagwort von „Kompetenz und Verantwortung“ eignet sich in diesem Umfeld als Paradigma. Es drückt aus, woran man sich zu orientieren hat. Das gilt nicht nur für den Bayer-Konzern, sondern für die Unternehmen im organisationalen Feld der „Deutschland AG“, in dem sich Bayer und vergleichbare andere Unternehmen bis Mitte der 1990er Jahre bewegten. Unter der Bedingung eines stabilen Marktumfeldes erschien aus Perspektive der Unternehmen mit incumbent-Position eine ausgeprägte Hierarchisierung und Formalisierung der Strukturen und Abläufe als sinnvoll. Demzufolge ist die Führungsstruktur formal-rationalisierten Exper102

tenorganisation neben der Herrschaft der Fachexperten auch durch eine formal-bürokratische Ordnung der Kompetenzen, durch Konzentration von Entscheidungsbefugnissen, durch Amtshierarchie, Instanzenzug mit fester monokratischer Über- und Unterordnung, Aktenmäßigkeit, Fachschulung, regelgebundene Amtsführung gekennzeichnet (vgl. Weber 1972: 124-130; 551 f.; Bosetzky 1994: 99 ff.; Pongratz 2002).43 Traditionell hat die Führungskraft einen festen, klar umrissenen Verantwortungsbereich. Sie bekleidet eine „formale“ Position und hat damit einen gut abgesicherten, mit hohem Ansehen verbundenen Status. 44 Im Unterschied zu angelernten Arbeitskräften kann sich die Führungskraft in ihrer Eigenschaft als Fachexperte einer der wenigen dominierenden akademischen Disziplinen in den in dieser Fachsprache geführten Diskursen artikulieren, und hat somit gute Möglichkeiten, in Bezug auf den eigenen Kompetenzbereich Einfluss auf organisationale Entscheidungen zu nehmen. In der formal-rationalisierten Expertenorganisation sind Entscheidungsbefugnisse, die eine bestimmte Tragweite haben, eng an professionelles Wissen geknüpft, das durch Berufsbildungsabschlüsse und akademische Titel erworben wird, und an professionelle Autonomie, die durch Zugehörigkeit zu Professionen bestätigt wird. Traditionell finden Absolventen naturwissenschaftlich-technischer Ausbildungs- und Studiengänge im Chemie- und Pharmazieunternehmen standardisierte Karrierewege vor. Im Bayer-Konzern gilt das z.B. für Chemikanten, Industriemeister oder Techniker an der. Analog dazu gilt es für Chemiker, Ingenieure, Physiker, Biologen, Mediziner oder Pharmazeuten in den akademischen Berufen. Für die zweite Gruppe sind insbesondere Laufbahnen in Forschung und Entwicklung vorgezeichnet. Die formal-rationalisierte Ex43 Weber hat bereits auf die inhärenten Widersprüche von „Bürokratie“ und „Profession“, von formaler Rationalität der regelgerechten Amtsführung und Abwesenheit von Willkür und Pfründen einerseits und materialer Rationalität z.B. von Produktqualität, Produktdifferenzierung, Produkt- und Verfahrenssicherheit, Umweltfreundlichkeit, welche sich mithilfe von professionellen Standards realisieren und überprüfen lässt, andererseits, sowie auf die Verselbständigung der Eigenlogiken organisationaler Entscheidungsprozesse von den Zwecken, für welche die Organisation ursprünglich geschaffen wurde, hingewiesen (vgl. Weber 1920/1972: 124-130; 551-579; 833-835). Die formal-rationalisierte Expertenorganisation ist eine rational-legale Expertenherrschaft, bei welcher sich dieselben Widersprüche zeigen wie in Webers Bürokratiemodell. Trotz Bürokratieabbau durch Abbau von Hierarchieebenen und trotz egalitärer Umgangsformen bleibt dieses Denken bis heute im alltäglichen Umgang zwischen Vorgesetzten und Mitarbeitern relevant. 44 Wie Pongratz (2002) hervorhebt, beginnt es schon mit der Entscheidung, was Gegenstand von Verfügung und was Gegenstand von Aushandlung ist; diese Entscheidung wird bei Aram beschrieben als „dilemma of control and initiative“ (Aram 1976, zitiert bei Pongratz 2002). Der hierarchische Verfügungsanspruch sichert die Ausführung, eigenverantwortliche Initiativen seitens der Mitarbeiter trügen zur Arbeitsflexibilität bei (ebd.). Damit stellt sich die Frage, wie Vorgesetzte und ihre Mitarbeiter auch in Aushandlungsprozessen einander kommunizieren können, dass sie den Verfügungsrahmen in bürokratischen Führungsbeziehungen respektieren. Erstens, so Pongratz, gibt es das Schema von „Befehl und Gehorsam“, das allgemein die asymmetrische Interaktionsstruktur von Herrschaftsbeziehungen kennzeichnet (Pongratz 2002: 262). Zweitens ist von einer generalisierten Handlungssequenz zwischen Vorgesetzten und ihren Mitarbeitern auszugehen. Auf der einen Seite steht die Anordnung oder Anweisung, auf der anderen Seite steht die Erledigung bzw. die sachgemäße Ausführung einer Aufgabe. Die Handlungssequenz verweist auf die gesatzte Ordnung. Diese wiederum gewährt auf der einen Seite die Möglichkeit der Ausübung bestimmter Kontrollmaßnahmen, durch Kontrollausübung werden auf der anderen Seite Strategien der Selbstbehauptung provoziert (ebd.: 263). Drittens macht das Alternationsschema von Anordnung und Erledigung das Verhältnis der Überordnung und Subordination sichtbar. So schreibt Pongratz: „Auch wenn es nur ein strukturierendes Merkmal neben anderen (z.B. sachlich oder persönlich begründeten Einflüssen) darstellt, so ist dieses Alternationsschema ein entscheidendes Charakteristikum von Personalführung in Abgrenzung zu anderen asymmetrischen Beziehungsmustern.“ (Pongratz 2002:264). Man sollte diese Überlegungen nicht vergessen, wenn in diesem Abschnitt die die Veränderung der Führungsstruktur hingewiesen wird. Das Alternationsschema von Anordnung und Erledigung wird durch Subjektivierung der Arbeitsgestaltung und steigende Anforderungen an individuelle Arbeitsleistung relativiert, bleibt jedoch ein Strukturmerkmal für die Beziehung zwischen Vorgesetzten und Mitarbeitern.

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pertenorganisation differenziert eindeutig zwischen den Anteilseignern und den durch sie eingesetzten Fachexperten, deren Privateigentum streng von den sachlichen Betriebsmitteln getrennt ist, und die ihr Amt als „Beruf“ ausüben. Unter Bedingungen wie diesen gelten Hierarchie und Formalisierung als die in der Organisation am besten geeigneten Mechanismen zur Problembewältigung, weil sich man innerhalb der Führungskreise mithilfe der etablierten Fachsprache leicht verständigen kann, schnell zu Entscheidungen findet, diese über feste Dienstwege schnell kommunizieren kann und somit Berechenbarkeit für alle Akteureherstellt. Zu dieser These passt der Befund, dass die Vorstände deutscher Großunternehmen anders als Top-Führungskräfte in Großbritannien und Nordamerika traditionell nicht über externe Arbeitsmärkte rekrutiert werden, sondern aus den eigenen Belegschaften kommen. Bei deutschen Unternehmensvorständen war bis vor zehn Jahren langjährige Unternehmenszugehörigkeit üblich. Während die finanzwissenschaftliche Expertise in den höchsten Führungskreisen deutscher Unternehmen vergleichsweise schwach entwickelt war, galt naturwissenschaftliches und technisches Fachwissen als karrierefördernd. Als gemeinsame sprachliche Basis erleichterte dieses Fachwissen außerdem die Kommunikation zwischen gewerblichen Mitarbeitern und akademischen Angestellten. Daher wirkte das gemeinsam geteilte Fachwissen leistungsfördernd und integrierend. Die Techniklastigkeit der deutschen Managementausbildung beförderte zudem Leitbilder, bei denen der Glaube an die Expertise der Fachkräfte, der Einsatz moderner Technik und Wachstumserfolge im Vordergrund stehen, während finanzielle Performanz und Orientierung am Shareholder Value als nachrangig galten (Stehr 1992; Sorge 1999: 25, zitiert bei Streeck/Höpner 2003: 24; Höpner 2004). Seit Mitte der 1990er Jahre ist jedoch eine Pluralisierung von Laufbahnmustern und Rekrutierungsweisen auch für die höchsten Führungskräfte der deutschen Großunternehmen erkennbar. 45 In den vergangenen zehn Jahren sind Arbeitsmärkte für Führungskräfte sowohl innerhalb von Unternehmen als auch zwischen Unternehmen im organisationalen Feld der „Deutschland AG“ entstanden. Gleichzeitig tendiert ohne höhere berufliche Bildung die Chance, Vorstandsvorsitzender eines dieser Großunternehmen zu werden, gegen Null. So können sich Experten aus nicht zu den bisher dominierenden natur- und ingenieurwissenschaftlichen Disziplinen gehörenden Berufen, insbesondere Controlling, Marketing und Informationstechnologie, besser im Unternehmensnetzwerk positionieren und stärker an Entscheidungen mitwirken. Zwischen 1990 und 1999 ist in 40 deutschen Großunternehmen der Anteil der Vorstandsvorsitzenden mit Finanzexper45

Im hier reportierten Artikel, in welchem Daten über die vierzig größten Unternehmen nach Angaben der Monopolkommission zugrunde gelegt sind, hat sich Höpner das Problem gestellt, weshalb sich die Führungskräfte deutscher Großunternehmen seit den späten 1990er Jahren verstärkt an den Finanzinteressen der Aktionäre orientieren. Hierzu formulieren Agency-Theoretiker, dass die Interessen von Aktionären (Prinzipalen) und leitendem Management (Agenten) verschieden sind, und dass über das Vertragsverhältnis hinaus reichende Instrumente erforderlich sind, um die Führungskräfte auf die Verfolgung der Eigentümerinteressen zu verpflichten. Empirische Studien, welche diesem Paradigma folgen, können einen Großteil der Varianz aufklären: „Deutsche Unternehmen verhalten sich umso aktienorientierter, je größer der Akienanteil ist, der sich im Besitz zu den Privataktionären handlungsfähigeren institutionellen Anlegern befindet; je mehr die Eigentümerstrukturen der Unternehmen eine feindliche Übernahme ermöglichen und je mehr der Absatz der Unternehmen der internationalen Konkurrenz ausgesetzt ist.“ (Achleitner/Bassen 2000, Eckert 2004; Höpner 2003; Januszewski et al. 1999, zitiert bei Höpner 2004). Nicht erklärbar mit dem ökonomischen Paradigma ist der Sachverhalt, dass ein an den Shareholderinteressen orientiertes Management beim leitenden Management nicht wie erwartet Ablehnung hervorruft, zumal es die Handlungsspielräume des Managements einschränkt, sondern ganz im Gegenteil zunehmend hohes Ansehen genießt.

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tise von 25 Prozent auf 30 Prozent gestiegen, wobei der Anteil im Jahr 1996 mit 35 Prozent am höchsten war. Der Anteil der aus dem Ausland rekrutierten Vorstandsvorsitzenden ist im gleichen Zeitraum von 17 auf 35 Prozent gestiegen. Der Anteil der Vorstandsvorsitzenden, die das deutsche Berufsbildungssystem absolviert haben, ist von 25 auf 16 Prozent gesunken. Der Anteil der Vorstandsvorsitzenden ohne höhere berufliche Ausbildung ist von 1990 bis 1998 von 14 auf Null Prozent gesunken (Höpner 2001: 49). In deutschen Großunternehmen verfügt ein großer Anteil der Vorstandsvorsitzenden über ein Hochschulstudium mit Promotion. Die Wirtschaftswissenschaftler sind mit einem Anteil von 39 Prozent die stärkste Gruppe, gefolgt von Juristen (24 Prozent) sowie von Absolventen naturwissenschaftlicher und technischer Studiengänge (32 Prozent). Nur ein kleiner Teil der Vorstandsvorsitzenden hat eine Berufsausbildung absolviert (23 Prozent).Die allerwenigsten Vorstandsvorsitzenden haben eine Ausbildung in einem der gewerblichen Berufe gemacht. In den 1960er und 1970er Jahren hatte ein beträchtlicher Anteil der Vorstandsvorsitzenden eine Lehre absolviert und war über interne Laufbahnmuster an die Unternehmensspitze vorgerückt (vgl. Hartmann 1995, zitiert bei Höpner 2004). Die Herrschaft von Experten aus den Bereichen Management und Controlling mit ausgeprägter Performanzorientierung gegenüber Fachleuten aus den Natur- und Ingenieurwissenschaften mit ausgeprägter technischer Orientierung in den deutschen Großunternehmen ist ein Phänomen der letzten Jahre, welches mit wachsender Orientierung des Managements am Shareholder Value zu assoziieren ist (vgl. Münch/ Guenther 2005; vgl. Fligstein/Shin 2005 b). Sicherlich ist man in Deutschland nach wie vor deutlich von den Beschäftigungsverhältnissen der Vereinigten Staaten entfernt, wo es üblich ist, dass man etwa alle zwei oder drei Jahre sowohl innerhalb des eigenen Unternehmens als auch durch Unternehmenswechsel Position und Tätigkeitsfeld wechselt, um die Karriereleiter emporzusteigen. In deutschen Unternehmen setzt man nach wie vor auf Beschäftigungskontinuität – nicht zuletzt, um bereits getätigte Investitionen in Kompetenzen der Mitarbeiter zu nutzen, und demnach nicht befürchten zu müssen, dass Mitarbeiter mit unternehmensspezifischem Wissen zur Konkurrenz abwandern.46 Anders als den Vereinigten Staaten, Großbritannien und Frankreich gibt es in Deutschland bisher keine Eliteausbildung an speziell dafür geschaffenen Elitehochschulen, wo Studierende in die Landeselite integriert werden, sich den Habitus der dort dominierenden Milieus aneignen, Fähigkeiten wie Kommunikations- und Entscheidungsfähigkeit erlernen, sich hohe Belastbarkeit und ein ausgeprägtes Elitebewusstsein aneignen (vgl. Bourdieu 1989: 21-90; 91-152).47 Im deutschen Berufsbildungssystem 46

Der Extremfall der längsten Hauskarriere in Höpners Sample war ein Bayer-Manager: Joseph Strenger, der mehr als ein halbes Jahrhundert im Bayer-Konzern verbrachte. Strenger trat im Jahr 1949 mit Aufnahme einer kaufmännischen Lehre in das Unternehmen ein. Im Jahr 1983 wurde er zum Vorstandsvorsitzenden, und im Anschluss an seinen Vorstandsvorsitz wechselte Strenger in den Aufsichtsrat. Die längste Verweildauer in einem der Unternehmensvorstände selbst hat Georg W. Clausen bei Beiersdorf inne, dessen Amtszeit 25 Jahre dauerte (Höpner 2004: 268). Seit dem Jahr 1979 ist ein Trend zu steigenden Fluktuationsraten in den Unternehmensvorständen zu erkennen: Während in den 1960er und 1970er Jahren um die 13 Jahre üblich waren, ist die durchschnittliche Verweildauer der Vorstandsvorsitzenden in ihren bis zum Jahr 1997 auf sieben Jahre zurückgegangen. Höpner erklärt den Wandel mit einer Steigerung des Wettbewerbs und der kompetitiven Orientierung der Vorstände (ebd.: 269). 47 Mit dem Fehlen von Elitehochschulen geht Deutschland traditionell einen anderen Weg als beispielsweise Frankreich, Großbritannien und die Vereinigten Staaten. Das Bildungs- und Erwerbssystem Deutschlands setzt viel stärker als Frankreich auf die fachliche Ausbildung an den Universitäten, sodass Hochschulabsolventen mit dem Diplom-Grad oder der Promotion zum Unternehmen wechseln und dort Management-Karrieren anstreben

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wird der Fokus nach wie vor auf die fachliche Expertise gesetzt, nicht auf Managementkompetenz und Finanzexpertise oder auf spezielle Führungskompetenzen wie in den Vereinigten Staaten oder auf die enorme soziale Homogentät einer Führungskräfteelite nach Herkunftsmerkmalen, in Verknüpfung mit der Exklusivität des Habitus und biografischer Merkmale wie in Frankreich. Höpner erklärt die zunehmende Orientierung am Shareholder Value mit abnehmendem internen Monitoring infolge der personellen und finanziellen Entflechtung der Unternehmen im organisationalen Feld der „Deutschland AG“. Bis in die 1990er Jahre hinein hatten sich die Unternehmen durch ihre Einbindung in die enge Kapitalverflechtung sowie die dichte personelle Verflechtung über die Unternehmenskontrollgremien erfolgreich von einer Kontrolle durch Outsider – Kapitalmarktteilnehmer –abgeschottet. Die Öffnung gegenüber den Kapitalmärkten diente zunächst nicht dem Zweck, externen Akteuren Einblick in die konkreten Tätigkeiten in einzelnen Geschäftsbereichen zu gewähren, ganz im Gegenteil, denn daran bestand kein Interesse (vgl. Höpner 2004). Über Profitcenterstrukturen wurde ein internes Monitoring etabliert. Mit Recht war nach wie vor von einer Managerherrschaft und von der Kontrolle des Unternehmens durch Insider zu sprechen (vgl. Windolf 2002; Beyer 2003; Heinze 2003; 2004). Die Idee, Leistungen und Fehlleistungen sämtlicher Produktgruppen, Betriebe und Geschäftsbereiche, aber auch von Projektgruppen und Stäben mithilfe der Profitcenterstruktur zu messen, ihre Entwicklung mithilfe einer finanzorientierten Führungsstruktur zu steuern und zu kontrollieren, die am operativen Geschäft beteiligten Geschäftseinheiten von denjenigen Organisationseinheiten zu trennen, die lediglich Servicefunktionen erbringen, diente im Kontext des organisationalen Feldes der „Deutschland AG“ – anders als in den USA und Großbritannien – zunächst nur dem internen Monitoring. Inzwischen sind die Shareholder aber eine so starke Interessensgruppe geworden, und ihre Kauf- und Verkaufsentscheidungen entfalten durch Bündelung über an den internationalen Marktplätzen agierenden institutionellen Anleger derart unmittelbare Effekte für die Unternehmen, dass die Leistungsbemessung und –kontrolle nicht mehr beim internen Monitoring stehen bleibt, sondern auch der Herstellung von Leistungstransparenz im Hinblick auf die Investor Relations dient. Mit zunehmender Finanzmarktorientierung der Unternehmen sind die Shareholder zu einer Interessensgruppe herangewachsen, die nicht länger unberücksichtigt bleiben oder marginalisiert werden kann. Höpner erklärt die Tatsache, dass die Vorstände ein steigendes Interesse an Kapitalmarktorientierung zeigen, insbesondere damit, dass im Zuge der Entflechtung das inkönnen. Das gilt zumindest für das bisherige deutsche Hochschulsystem mit Diplom und Magister als berufsqualifizierenden Abschlüssen. Allerdings wird mit der Einführung der Bachelor-, Master- und Ph.D.-Studiengänge, auf welches Hochschulen und Fachhochschulen nach dem Bologna-Prozess verpflichtet sind, auch in Deutschland ein dreistufiges System der Hochschulbildung eingeführt werden, das mehr Raum für Prozesse der Elitenselektion bietet. Wie Bourdieu (1989: 21-90; 91-152; 317-412) für das französische Bildungssystem darlegt, vollzieht sich der Zugang zum Feld der Macht dort in allen Bereichen – Staat und Politik, Wirtschaft, Recht, Wissenschaft – über die Elitehochschulen „Grandes Ecoles“. Der Zugang ist durch den Concours, die als Wettbewerb der Besten gestaltete Eingangsprüfung, sehr stark beschränkt. Die Anwärter bereiten sich mittels der Vorbereitungsklassen – häufig in Internaten – vor, sodass beginnend mit der frühesten Jugend an Wettbewerb und scharfe Selektion mit jeder neuen Bildungsstufe gewöhnt sind. Die „Normaliens“ sind durch eine enorme soziale Homogenität gekennzeichnet, von sozialen Herkunftsmerkmalen (Wohngebiet, Schichtzugehörigkeit, Beruf der Eltern, der Großeltern usw.) über die Laufbahnmuster bis hin zum gemeinsam geteilten Wissensvorrat, zum Habitus, zum Humor und zur körperlichen Hexis.

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terne Monitoring reduziert wird, an seine Stelle bisher jedoch kein wirksameres externes Monitoring durch die Finanzmärkte getreten ist, und die leitenden Manager mit einer erheblichen Steigerung ihrer Jahresgehälter von der Entwicklung profitieren (Höpner 2004: 270275). Hier ist einzuwenden, dass der Rückgang der Wirksamkeit des internen Monitoring bei bisher ausbleibender Funktionsübernahme der externen Kontrolle über die Finanzmärkte ein sehr temporärer Zustand sein könnte. Die wachsende Kapitalmarktorientierung als Finanzierungsbeziehung erzwingt eine steigende Profitabilitätsorientierung, echte Leistungsorientierung, und vor allem Transparenz nach außen, wie vom deutschen Corporate Governance-Index und sehr viel konsequenter das im Jahr 2002 in Kraft getretene amerikanische SarbanesOxley-Gesetz gefordert. Hinzu kommt, dass die Shareholder und ihre Interessenvertreter ihren Informations- und Mitspracherechten mehr als zuvor Nachdruck verleihen. Damit stehen die Unternehmen im organisationalen Feld der „Deutschland AG“ deutlich mehr als bisher unter Leistungsdruck. Als Konsequenz dieser Entwicklung verschieben sich die Kräfteverhältnisse zum Vorteil der Shareholder und zum Nachteil der Beschäftigten und ihrer Repräsentanten in den Aufsichtsgremien (vgl. Höpner 2005: 27 ff.). Im zweiten Hauptkapitel seines Buches „Pfadabhängigkeit – über institutionelle Kontinuität, anfällige Stabilität und fundamentalen Wandel“ (2006: 41-144) zeichnet Jürgen Beyer auf Grundlage der am Max Planck Institut für Gesellschaftsforschung durchgeführten empirischen Studie den Strukturwandel der Unternehmenskontrolle für die Unternehmen im organisationalen Feld der Deutschland AG nach. Traditionell gilt Deutschland als Paradebeispiel für den Managerkapitalismus und die Managerherrschaft als stabilisierender Faktor der für Deutschland charakteristischen regulierten Wettbewerbsverhältnisse. Beyer hat die von Vertretern der These der Managerherrschaft formulierte These kritisch überprüft, dass in Deutschland auf die Entstehung eines internationalisierten Marktes für Unternehmenskontrolle, der nationale Corporate-Governance-Systeme unter Anpassungsdruck setzen könne, mit der Abschottung vor den internationalen Finanzmärkten durch Ring- und Überkreuzverflechtungen reagiert wurde. Beyer zeigt, dass vieles gegen eine herausragende Bedeutung der Managerherrschaft als Stabilitätsgarant spricht. Erstens setzt die These der Managerherrschaft einen bestimmten historischen Ablauf voraus, demzufolge es die Entwicklung eines Marktes für Unternehmenskontrolle ist, der Manager zur Änderung von Eigentumsstrukturen motiviert. Ein aktiver Markt für Unternehmenskontrolle habe sich in den Vereinigten Staaten jedoch erst seit den späten 1960er Jahren entwickelt, und in Deutschland sind jene feindliche Übernahmen, denen eine Kontrollwirkung zugeschrieben wird, bis heute eine Seltenheit. Die Entwicklung vom Eigentümerunternehmen zum managerkontrollierten Streubesitzunternehmen, wie sie Fligstein (2001) für die USA beschrieben hat, lässt sich für Deutschland nicht nachzeichnen. Gegen die Interpretation der Managerherrschaft als Stabilitätsgarant spricht zweitens die geringe Anzahl an Ring- und Überkreuzverflechtungen, also den Verflechtungsformen, denen eine wechselseitige Abschottung zum Schutz gegen externe Kontrollzugriffe zugeschrieben wird. Prägnanter für die Mehrzahl der deutschen Unternehmen, so Beyer, sind hingegen sternund pyramidenförmige Verflechtungsstrukturen, die keine wechselseitige Abschottung gestatten. Drittens zeigen sich im Vergleich auch keine negativen Effekte der in Ring- und Überkreuzverflechtungen eingebundenen Unternehmen bezüglich der Performanz. Unternehmen, 107

die in Ring- und Überkreuzverflechtungen eingebunden sind, zeigen sogar bessere Performanzwerte. Diese Resultate widersprechen eindeutig der Erwartung an ein der externen Kontrolle enthobenen Unternehmens. Grund für die bemerkenswerte Pfadtreue der Unternehmen im organisationalen Feld der „Deutschland AG“ müssten daher andere Faktoren gewesen sein. Vielmehr sind die Herrschaftschancen in ungleicher Weise über das Netzwerk verteilt sein, und Managerherrschaft beruht auf den herausgehobenen Positionen in einem hierarchisch strukturierten Verflechtungsnetzwerk. Im weiteren Verlauf des Kapitels zeigt Bayer zunächst anhand der Fallbeispiele Deutsche Bank und Allianz den Anfang vom Ende der „Deutschland AG“ sowie die sich bis heute fortsetzende Erosion der Unternehmensverflechtung. Ungeachtet der komparativen Vorteile, die man der koordinierten Ökonomie zuschreibt, haben Unternehmen wie die Allianz und Deutsche Bank ihre Geschäftsstrategie verändert und sich der scheinbar gefestigten Unternehmenstradition zum Trotz aus dem Verflechtungszentrum zurückgezogen. Das Personen- und Kapitalverflechtungsnetzwerk der „Deutschland AG“ beruhte auf einer durchaus anfälligen Stabilität als sich ein lock in im Sinne eines nicht veränderbaren Zustands nicht eingestellt, den Unternehmenskontrollgremien also die Möglichkeit eines Strategiewechsels stets offen gestanden habe; ursächlich für Kontinuität sei deshalb vor allem die stark ausgeprägte institutionelle Komplementarität der unternehmensrelevanten Institutionen gewesen. Im weiteren Verlauf des Kapitels gehe ich von zunehmender Kapitalmarktorientierung und Dominanz der Finanzexpertise im Bereich der Unternehmenssteuerung und Führung aus. Als Begleiterscheinung des Strukturwandels Unterehmenssteuerung und Führung gehe ich Auftreten neuer Spannungen und offener Konflikten aus, da die naturwissenschaftlich-technischen Experten den Strukturwandel blockieren könnten, wenn sie einen Großteil ihres Aufgaben- und Verantwortungsbereichs delegieren oder Hilfe zur Aufgabenbewältigung in Feldern in Anspruch nehmen müssen, in denen sie bisher die alleinige Entscheidungsbefugnis hatten, und deshalb ihren Status infrage gestellt sehen. Dieser Effekt zeigt sich umso stärker, je breiter und tiefer die Logik der Finanzmärkte für die Unternehmenssteuerung und Führung übernommen wird, und je offensiver und umfassender das Accounting und Benchmarking als Evaluationstechniken und das Auditing als Instrument der Herrschaftsausübung in der Praxis der Produktions-, Arbeits- und Geschäftsprozesse zum Einsatz kommen.48 48

Wie ich im Teil „Kulturwandel der Unternehmen im organisationalen Feld der Deutschland AG“ (Teil 3) zeigen werde, korrespondiert mit der Hegemonie der Finanzexperten in der flexiblen Netzwerkorganisation im Gegensatz zu der Hegemonie der Fachexperten in der formal-rationalisierten Expertenorganisation eine Vorstellung von organisationaler Rationalität, die auf Best Practices anstelle von Best Principles hinausläuft. Zugrunde liegt die im amerikanischen Kulturraum verbreitete pragmatische Rationalität, der zufolge es stärker auf Konkurrenzorientierung, auf praktische Erfordernisse und auf den wohlverstandenen Eigennutz ankommt; im Gegensatz dazu steht die organisationale Rationalität der formal-rationalisierten Expertenorganisation im Spannungsfeld zwischen der formalen Rationalität regelgebundener Amtsführung (Verwaltungslogik) und der materialen Rationalität, die hauptsächlich durch Professionals der Natur- und Ingenieurwissenschaften getragen ist und mit Inhalt gefüllt wird. Zur Rationalität der Finanzexperten, die sich an den Erfordernissen sowohl der Absatzmärkte als auch der Finanzmärkte orientiert, sind in den letzten Jahren einige wirtschaftssoziologische Beiträge erschienen, welche die programmatischen und kognitiven Grundannahmen des Accounting und Benchmarking untersuchen und kritisch Position dazu beziehen. Kalthoff (2004) zufolge ist die Finanzkalkulation einer Wirtschaftsorganisation nichts anderes als eine Objektivation der (erwarteten oder erbrachten) Leistungen und Fehlleistungen der Organisationseinheiten im sozialkonstruktivistischen Sinn, die ökonomische Wissenspraktiken

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2.2.2 Von der fachgetriebenen zur marktgetriebenen Führungsstruktur im BayerKonzern Der Bayer-Konzern kann als einer der „first-mover“ im organisationalen Feld der Deutschland AG weg von der fachgetriebenen, an naturwissenschaftlicher und technischer Expertise orientierten Führungsstruktur, hin zu einer marktgetriebenen, an den Funktionen von Marketing und Controlling und den Investor-Relations orientierten Führungsstruktur betrachtet werden. Bereits im Jahr 1996 ist der Bayer-Konzern sowohl in Bezug auf Internationalisierung seiner Wertschöpfungsaktivitäten als auch hinsichtlich der kapitalwirtschaftliche Internationalisierung einer der Top Fünf der 100 größten deutschen Aktiengesellschaften (vgl. Streeck et al. 2001: 20). Man kann sagen, dass das Aktienkapital des Bayer-Konzerns schon 1996 im Vergleich mit anderen Unternehmen im organisationalen Feld der Deutschland AG breit und international gestreut war, und dies ist aufgrund weiterer Maßnahmen bis zur Gegenwart fortzuschreiben. Seit dem Jahr 2002 hat Bayer mit der Reorganisation seiner Konzernstruktur vom integrierten chemisch-pharmazeutischen Unternehmen zur strategischen Managementholding, der Übernahme der Crop-Science-Sparte von Hoechst-Aventis und der Ausgliederung seines Chemiebereichs und Teilen seiner Polymersparte unter dem Namen Lanxess zu Beginn des Jahres 2005 weitere große Schritte in Richtung einer marktgetriebenen Struktur der Unternehmensführung unternommen. Nicht zu vernachlässigen ist außerdem der Gang des Bayer-Konzerns an die New Yorker Börse (NYSE) im Jahr 2002. Damit hat Bayer nicht nur seine ohnehin bereits stark ausgeprägte Orientierung am Shareholder Value unterstrichen, sondern hat auch die Grundlage für eine breitere und internationalere Streuung seines Aktienkapitals gelegt. Für die Gegenwart kann man sagen, dass kein Aktionär mehr als 5 Prozent am Aktienvermögen des Bayer-Konzerns hält, denn Aktienanteile über 5 Prozent müssten ja bei der Wertpapieraufsicht gemeldet werden und wären deshalb in der Datenbank BAFIN abrufbar. Für Bayer Aktienanteile über 5 Prozent nicht gemeldet. 49 Infolge der genannten Schritte steigt die Bedeutung des Shareholder Value im Verhältnis zum Umsatzwachstum. Weil sich Aktienanleger vor einer Anlageinvestition idealerweise die Leistungsfähigkeit der Unternehmen überprüfen, die zur Auswahl stehen, bietet die Ausrichtung am Shareholder Value in Bezug auf die Geschäftsführung jedes einzelnen Unternehmens Anrahmt, indem sie zur Grundlage strategischer und operativer Entscheidungen gemacht wird. Vormbusch (2004) hebt hervor, dass die mit der Finanzkalkulation eng verknüpften Methoden des Accounting und Benchmarking, für die es bisher keine einheitlichen Standards gibt. Die Berufsbezeichnung des Accountant kann der Innenrevisor einer Bausparkasse ebenso auf seiner Visitenkarte einfügen wie ein vereidigter Buchprüfer oder ein auf Fusionen spezialisierter Rechtsanwalt – ihre Qualifikationsprofile und Tätigkeiten sind sehr verschieden. Trotzdem bildet das Accounting eines der Herrschaftsinstrumente des finanzmarktgetriebenen Kapitalismus, das Umsetzung auch innerhalb der im organisationalen Feld vertretenen Wirtschaftsorganisationen findet. Hendrik Vollmer (2004) postuliert, dass es sich beim Accounting um eingelebte Formen des organisierten Rechnens, des Umgangs mit Zahlen geht, der verschiedene Erscheinungsformen hat: Buchführung, Kostenrechnung, Controlling, Bilanzierung, Budgetierung und Evaluation. Vollmer geht davon aus, dass das auf dem organisationalen Rechnen beruhende Paradigma der Finanzexperten zum allgemeinen Leitbild geworden ist. Selbst im Falle spektakulären Versagens wie bei Enron oder Parmalat ist nur der Ruf nach verbesserten Standards des organisierten Rechnens laut geworden. Es hat keinen Ruf nach veränderten Managementpraktiken oder einem neuen professionellen Selbstverständnis des Managements gegeben, so Vollmer. 49 Datenbank Bafin: http://www.bafin.de/database/stimmrechte.htm; Zugriff am 07.06.05

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reize, Leistungstransparenz auch für die einzelnen Organisationseinheiten herzustellen, also beispielsweise für die Geschäftsbereiche und für die Produktionsstandorte. Bayer richtet sich an der Maßgabe der Leistungstransparenz aus und schafft entsprechende interne Strukturen, die Outsidern – also einer Öffentlichkeit – Einblick in die Leistungsfähigkeit der großen, am operativen Geschäft beteiligten Geschäftsbereiche gewähren. Mit Orientierung an der Gruppe der Shareholder rückt Bayer also ein Stück weit von seiner bisherigen Politik als integriertes chemisch-pharmazeutisches Unternehmen ab, wonach sich die Geschäftseinheiten mit ihren Leistungen gegenseitig stützen und nur die Gesamtleistung des Unternehmens durch das Zusammenwirken der am operativen Geschäft beteiligten Einheiten als auch der Serviceeinheiten zählt. Die Maßgabe der Gegenwart ist eine marktgetriebene Unternehmensführung, die auf zwei Säulen ruht: erstens die Präsenz in den strategisch wichtigen Absatzmärkten im Hinblick auf das operative Geschäft, zweitens die Präsenz auf den strategisch bedeutsamen Finanzmarktplätzen in Europa und Nordamerika. Damit findet ein neuer Führungsstil Verbreitung im Bayer-Konzern, dahingehend, dass Gewinn-Verlust-Ausgleiche zwischen leistungsfähigeren und weniger leistungsfähigen Organisationseinheiten nicht mehr automatisch umgesetzt, sondern kritisch auf ihren Funktionsbeitrag für das Unternehmen hinterfragt werden, zunehmend ihre Legitimität unter Beweis stellen müssen. Von jedem der am operativen Geschäft beteiligten Teilkonzerne, ebenso wie von ihren Untereinheiten, wird erwartet, dass er seine Zukunftsfähigkeit nachweiset, profitabel wirtschaftet und die vereinbarten Ziele erreicht, andernfalls ist sein Leistungsbeitrag grundsätzlich infrage gestellt, und man wird über Ausgliederungen oder Schließungen nachdenken. Der Markterfolg im Vergleich mit den Hauptkonkurrenten wird mittels der Methoden von Accounting und Benchmarking kontinuierlich beobachtet, regelmäßig berichtet und neben anderen Faktoren als Entscheidungsgrundlage für die für die Positionierung der Organisationseinheit im Feld des Unternehmens herangezogen. Ein Interviewpartner hebt die gewachsene Bedeutung der Marktanalyse und der Kontrolle von Erfolg und Misserfolg der Geschäftseinheiten durch die Konzernzentrale anhand von Schlüsselkategorien hervor (vgl. Interview VII; 7:1). Zu diesem Zweck beobachtet und überwacht Bayer die Marktperformanz der Teilkonzerne und Servicegesellschaften sehr viel genauer als bisher im Hinblick auf ihre Leistung, wobei mit Leistung nicht die Arbeitsleistung, sondern der Geschäftserfolg gemeint ist. Seit dem Jahr 2003 wird die Kontrolle der Marktperformanz der einzelnen Geschäftseinheiten mit detaillierten, zielgenauen und kontinuierlichen Planungs- und Kontrollverfahren durchgeführt (Interview VII, 7:2). Die Führungsstruktur der strategischen Managementholding, die an die Stelle des integrierten chemisch-pharmazeutischen Unternehmens getreten ist, macht eine zentrale Steuerung des Bayer-Konzerns ausgehend vom Vorstand in Leverkusen keineswegs obsolet. Es wäre völlig unzutreffend, von einer Auflösung des Unternehmens zu sprechen. Vielmehr bleibt es bei einem starken Konzernvorstand, der programmatische Vorgaben macht, die Vorgänge in den Teilkonzernen ab einer gewissen Tragweite für die übergeordnete Ebene des Bayer-Konzerns bündelt, für den Gesamtkonzern die strategischen Entscheidungen trifft und ihre Umsetzung auf der Ebene der Teilkonzerne veranlasst. Der Vorstand definiert Leitlinien und Zielvorgaben und greift, falls erforderlich, steuernd in das Geschehen der Teilkonzerne, Service- und Landesgesellschaften ein (vgl. Interview VII; 7:3). Ebenso hat die Tatsache, dass Entschei110

dungen als wesentliches Produkt von Unternehmenssteuerung und Führung im Bayer-Konzern bedingt durch die historisch gewachsene Unternehmensstruktur auf ein hohes Maß an Konsens angewiesen sind, nicht an Bedeutung verloren. Auch in der neuen Konzernstruktur als strategische Managementholding hält Bayer an seinem konsensgestützen Modell der Entscheidungsfindung fest. Der Zweck besteht darin, die konzerninterne Arbeitsteilung möglichst redundanz- und reibungsfrei zu gestalten. Dies ist jedoch sehr schwierig, weil die Komplexität der Produktions-, Arbeits- und Geschäftsprozesse so hoch ist, dass Redundanzen praktisch unumgänglich sind (vgl. Interview VI; 6:8). Ein wichtiges Instrument, das dazu dient, eine Führungsstruktur oberhalb der Teilkonzerne, Servicegesellschaften und der Bayer-Landesgesellschaften quer zur funktions- und produktbezogenen Arbeitsteilung zu etablieren, sieht Bayer in der Etablierung seiner Community-Counsils. Communities sind grenzüberschreitend und teilkonzernübergreifend angelegte Netzwerke oder Foren, die zu einem bestimmten Thema gebildet werden, die nach fachlichen Kriterien zusammengesetzt sind und die Entscheidungen auf Konzernebene begleiten. Communities bündeln die fachliche Expertise zu bestimmten Themen, identifizieren Probleme, erarbeiten Lösungen für Herausforderungen und unterbreiten sie den Entscheidungsträgern sowohl der Ebene der Konzernzentrale als auch der Teilkonzerne. Insofern ist die Fachorganisation nicht abgeschafft worden, aber sie wird nicht mehrextra hervorgehoben. In der Konzernstruktur und im öffentlichen Erscheinungsbild ist die fachliche Führung gegenüber der funktions- und produktbezogenen Arbeitsteilung in eine nachgeordnete Stellung gerückt. Zum Entscheidungsverfahren in den Community-Counsils ist zu sagen, dass trotz der Suche nach einer Entscheidung und einer gemeinsamen Linie für den Bayer-Konzern den Teilkonzernen und den Service-Gesellschaften die Möglichkeit eingeräumt wird, im Konsens bei konkreten Entscheidungen von der Linie des Bayer-Konzerns abzuweichen, wenn die Verantwortlichen dies für geboten halten. Ein Interviewpartner mit Expertise in der Aufbau- und Führungsorganisation führt dies für Communities zum Thema Bonussysteme für den Managementbereich aus. Dort ist beispielsweise angedacht, ein einheitliches, global anwendbares Bonussystem einzuführen, um für Manager der Teilkonzerne, Servicegesellschaften und Landesgesellschaften dieselben Leistungsanreize zu setzen. Dazu finden sich Fachexperten aus den verschiedenen Konzernbereichen, Landesgesellschaften und Standorten zusammen und erörtern, wie ein globales Bonussystem für Führungskräfte gestaltet sein könnte (Interview VI; 6:9). Dem Wandel der Konzernstruktur vom integrierten chemisch-pharmazeutischen Unternehmen zur strategischen Holding folgend hat sich auch die Unternehmenssteuerung und Führung gewandelt – nicht nur im Hinblick auf die Finanzierungsbeziehungen und die Strukturen der Corporate Governance, also die Kräfteverhältnisse zwischen Management, leitenden und akademischen Angestellten (Führungskräfte), der Gruppe der tariflich Beschäftigten und den Shareholdern – sondern auch im Hinblick auf die Grundsätze und Leitbilder der Führung im Bayer-Konzern, die in der Konzernbetriebsverfassung niedergeschrieben sind und ihre Umsetzung in allen Konzernteilen finden. Dies beginnt mit den Zielsetzungen und Grundsätzen des Bayer-Konzerns, wie sie im Dokument „Führungsgrundsätze der Bayer-AG“ aus dem Jahr 1979 und dem Dokument „Werte und Führungsprinzipien – Leitlinien für die Führung 111

bei Bayer“ aus dem Jahr 2003 fixiert sind. Nicht, dass für die Gegenwart (2003) nicht mehr gilt, was früher (1979) Grundsatz war; jedoch haben sich die Schwerpunkte verschoben. In den Führungsprinzipien und Leitlinien werden heute andere Aspekte guter Unternehmensführung betont als während der 1970er Jahre. Im älteren Dokument (1979) heißt es zu Beginn: „(1. Allgemeine Grundsätze) Wirtschaftlicher Erfolg ist die Basis für den Bestand unseres Unternehmens. Zur Verwirklichung dieses Zieles ist die Zusammenarbeit im Unternehmen auf einen Ausgleich zwischen den Interessen von Anteilseignern, Kunden, Mitarbeitern, Staat und Gesellschaft auszurichten . ... (1.1. Verpflichtung gegenüber den Anteilseignern) Es ist vornehmlich unsere Aufgabe, einen angemessenen Ertrag zu erwirtschaften. Dies ist eine notwendige Voraussetzung für den Bestand unseres Unternehmens, für Investitionen und damit für die Sicherung der Arbeitsplätze. “ (Führungsgrundsätze der Bayer-AG, 1979, S. 3).

In den aktuell geltenden Führungsprinzipien des Bayer-Konzerns (2003) werden zu Beginn Werte als Leitprinzipien für das Handeln in komplexen Situationen gegeben: erstens „engagierter Einsatz“, zweitens „Integrität, Offenheit und Ehrlichkeit“, drittens „Respekt gegenüber Mensch und Natur“, viertens „Nachhaltigkeit unseres Handelns“. Nachgeordnet sind sieben Führungsprinzipien: erstens „Kundenbedürfnisse voranstellen“, zweitens „Ergebnisse liefern“, drittens „Komplexität bewältigen“, viertens „strategisch denken“, fünftens „Partnerschaft leben“, sechstens „Mitarbeiter führen“, siebtens „sich und andere entwickeln“ (Werte und Führungsprinzipien, 2003). Den Leitlinien und Führungsprinzipien ist ein allgemein gehaltener Hinweis auf das neue Selbstverständnis des Bayer-Konzerns und die Anforderungen an die Unternehmensmitglieder in dynamischen, hart umkämpften Märkten vorangestellt: „Bayer ist ein Unternehmen mit Kernkompetenzen in den Bereichen Gesundheit, Ernährung und hochwertige Materialien. Die operativen Teilkonzerne werden von Servicegesellschaften unterstützt. Geführt wird das globale Unternehmen von einer strategischen Holding. Gemeinsame Werte sind von entscheidender Bedeutung für eine gemeinsame Identität – gerade angesichts der Vielfalt der Märkte und Kulturen, in denen wir uns bewegen. Viele Details lassen sich nicht festlegen, viele Dinge sind ständig im Fluss – gemeinsame Werte jedoch sind von Dauer und bieten eine Leitlinie für das Handeln in den verschiedensten Situationen. Ihre Bedeutung ist umfassend; sie stehen für den Geist und das Credo unseres Unternehmens. Ein gemeinsames Verständnis und das Leben unserer Werte im beruflichen Alltag sind eine Voraussetzung für den gemeinsamen Erfolg.“ (Werte und Führungsprinzipien, 2003, S. 4/5).

Im Vergleich zum älteren Dokument aus dem Jahr 1979 ist für die „Werte und Führungsprinzipien“ des Bayer-Konzerns aus dem Jahr 2003 festzustellen, dass die Anzahl und die Detailgenauigkeit der regulierenden Normen deutlich reduziert worden ist, der Allgemeinheitsgrad der Gehalte der Leitlinien durch ihre Formulierung als allgemeine Werte hingegen gestiegen ist. Während Normen Handlungsspielräume und Möglichkeitshorizonte der Akteure begrenzen, gilt für Werte, dass sie Handlungsspielräume der Akteure erweitern, in dem sie einen allgemeinen, gemeinsam geteilten Bezugsrahmen bereitstellen, Orientierungvermitteln, zu einer Erleichterung der Verständigung beitragen. Leitlinien sollen die Führungskräfte in den Stand setzen, Veränderung zu initiieren, Verantwortung zu übernehmen und Entscheidungen zu treffen. Die Führungskraft soll Vorbild für die Mitarbeiter sein und die Werte repräsentieren, für die Bayer steht. Aufgrund der enormen Komplexität der Anforderungen an die Führungskräfte können Verhaltensregeln nicht allgemein formuliert sein, ohne im Einzelfall irrefüh112

rend zu sein, weil verschiedene Märkte und Kulturen unterschiedliches, bisweilen gegensätzliches Handeln verlangen, sodass ein der Verantwortungsethik verpflichteter Manager in einer Situation so und in einer anderen Situation ganz anders agieren muss. Hinzu kommt, dass konkret ausformulierte Normen, die dem Akteur sagen, was wahr, richtig und angemessen ist, in Anbetracht der Vielfalt und Komplexität strategischer und operativer Entscheidungen zu unhandlich sind, den Einzelnen in einer komplexen Situation eher belasten würden als ihm behilflich zu sein (vgl. Weber 1919/2002: 512-556; Habermas 1981: 45Die Details sollen im Ermessenspielraum der Führungskräftebleiben. Die Leitlinien dienen nicht dazualle Vorgänge im Einzelnen zu regeln. An Führungskräfte und diejenigen, die es werden wollen, werden sehr hohe Ansprüche gestellt, was die selbständige Problemerkennung und Problembewältigung betrifft. Es gibt keine übergeordnete Instanz, die den Führungskräften für jeden Einzelfall konkret sagt, was wahr, richtig und angemessen ist. Einen erfolgreichen Manager zeichnet aber aus, dass er auch in komplexen, mit Risiken und Unsicherheiten behafteten Situationen entscheidungsfähig bleibt. Erwartet wird von den Führungskräften also ein hohes Maß Handlungsautonomie, die man sich im Zuge der beruflichen Sozialisation über diverse Inhalte, Aufgaben und soziale Kontexte erwirbt. Die berufliche Ausbildung, die man im deutschen Bildungsund Hochschulwesen absolviert, bereitet auf diese Anforderungen nicht vor, weildie fachliche Expertise im Mittelpunkt steht. Ein Experte für Controlling fasst zusammen, dass eine Stelle als Berufseinsteiger im Managementbereich im wesentlichen ein Gehalt, einen Schreibtisch und den Arbeitsauftrag beinhaltet, sich unentbehrlich zu machen. Die Übertragung konkreter Aufgaben und Arbeitsinhalte auf eine Nachwuchsführungskraft hängen davon ab, ob und inwieweit sie Führungsverantwortung anstrebt und immer wieder aktiv einfordert (vgl. Interview I). Befragt zu seinen Erwartungen an Nachwuchsführungskräfte hebt ein leitender Angestellter unabhängig von der fachlichen Qualifikation, die er voraussetzt, die persönliche Handlungsautonomie, Ich-Stärke und Konfliktfähigkeit, zugleich aber auch die Fähigkeit und den Willen hervor, eine konsensuell erzielte Lösung mitzutragen. Der Interviewpartner betont, dass dies aus Sicht des Einzelnen schwierig ist, wenn er persönlich eine andere Meinung vertreten würde oder die durch Vorgesetzte getroffene Entscheidung nicht in allen Details und in allen Konsequenzen nachvollziehen kann. Ein Beispiel könnte etwa sein, dass der Vorgesetzte eine Entscheidung getroffen hat, die den Bereich überschreitet, den der Einzelne auf seinem Kenntnisstand überblicken kann (Interview III; 3:15). In den Bayer-Interviews sind eine Reihe weiterer Äußerungen mit der Tendenz enthalten, dass die Persönlichkeitsentwicklung im Sinne der Ausbildung und Weiterentwicklung von Entscheidungsfähigkeit, verknüpft mit der Fähigkeit, Initiative zu ergreifen, Verantwortung zu übernehmen und Fehler einzugestehen, immer weiter an Bedeutung gewinnt. Keinesfalls ist damit gesagt, dass alle Führungskräfte auf den verschiedenen Ebenen des Bayer-Konzerns – in den Betrieben, Produktionsstandorten, Teilkonzernen oder Servicegesellschaften sowie in den Bayer-Landesgesellschaften – den durch den Interviewpartner formulierten Verhaltenserwartungen auf demselben Niveau entsprechen können und müssen. Von einer Führungskraft, die auf Vorstandsebene oder für einen der am operativen Geschäft beteiligten Teilkonzerne die Funktion des Personalchefs und Arbeitsdirektors übernimmt, werden die genannten Führungsqualitäten auf 113

höheren Niveau verlangt als von einem Industriemeister, der mehrere Teams im Drei-Schichtsystem an einer Produktionsanlage zu integrieren hat. Sowohl der Vorstand als auchder Schichtmeister sind mit der Herausforderung konfrontiert, dass sie im Zuge ihrer beruflichen Ausbildung auf die genannten Anforderungen an ihre Persönlichkeitsentwicklung nur unzureichend vorbereitet worden sind, weil im deutschen Bildungssystem der Fokus auf die fachliche Expertise gelegt, die Entwicklung von Führungsqualitäten hingegen vernachlässigt wird. Deshalb ist bisher die Sozialisation im Erwerbsleben mitentscheidend dafür, zu welchem Grade sich Führungsqualitäten bei den Nachwuchskräften entwickeln, und auf welchem Niveau sie abrufbar sind. Unterschiedlich ist jedoch der Grad an Komplexität, der vom Vorstand oder vom Schichtmeister zu bewältigen ist, und in Verbindung damit das Gefühl von Unsicherheit, mit der man zurechtkommen muss. Ganz klar: Im ersten Fall muss man mit sehr viel mehr Komplexität und Unsicherheit zurechtkommen als im zweiten Fall. Übereinstimmend äußern sich die Interviewpartner kritisch zu einem System des Accounting und Benchmarking, das einem mechanistischen Verständnis der Unternehmensorganisation folgt und außer Acht lässt, dass verschiedene Produktbereiche, Funktionen, Hierarchieebenen, Fachkompetenzen und Finanzkompetenzen ineinander greifen. Gleichzeitig äußern sie Verständnis dafür, dass der Bayer-Konzern den Forderungen der Finanzmärkte nach Leistungstransparenz entspricht, demnach auch ein System der Definition von Zielvorgaben, der Leistungsbemessung und Bewertung intern umsetzt. So äußert beispielsweise ein Interviewpartner bereits zum Jahresübergang von 2000 zu 2001, als Bayer sich selbst als integriertes chemisch-pharmazeutisches Unternehmen begreift, dahingehend, dass die Finanzmärkte einen zunehmend starken Druck auf den Konzern ausüben, Geld abzuwerfen, falls nicht über den Aktienkurs selbst, dann wenigstens über die Umsatzrendite (vgl. Interview III; 3:10). Beim Jahresübergang von 2003 zu 2004, als Bayer den Strukturwandel vom integrierten chemischpharmazeutischen Unternehmen bereits vollzogen hatte, aber noch vor der Ausgliederung der Großchemie und Teilen der Polymersparte unter dem Namen Lanxess stand, ist bedingt durch die Aufwertung der Investor Relations, die mit der Shareholder-orientierten Unternehmensführung einhergeht, die strukturelle Verknüpfung zwischen den Forderungen der Finanzmärkte einerseits und der Definition von Zielvorgaben, der Leistungsbemessung, -bewertung und -kontrolle für die Geschäftseinheiten des Bayer-Konzerns im Hinblick auf Arbeitsergebnisse und Geschäftserfolge deutlich enger geworden. Demzufolge steht Bayer unter den Bedingungen dynamischer, hart umkämpfter Märkte wie am Beispiel des Pharmamarktes beschrieben, unter einem deutlich höheren Druck als bisher, kurzfristige und langfristige Zielsetzungen auszubalancieren. Damit ist gemeint, dass strategische Ziele der langfristigen Entwicklung nicht vernachlässigt, langfristige Forschungsprogramme geplant und konsequent konsequent umgesetzt, zugleich die kurzfristigen Interessen der Börsenanleger und Analysten nicht vernachlässigt werden sollen (vgl. Interview VII; 7:6). Wettbewerb und Networking anstelle von Hierarchie und Formalisierung sind als Instrumente der Steuerung und Führung sehr viel mehr für den Alltag der Bayer-Mitarbeiter bestimmend als vor der Transformation zur strategischen Managementholding. Wettbewerb und Networking werden von den Mitarbeitern nicht pauschal abgelehnt, aber durchaus kritisch im Hinblick darauf hinterfragt, ob die intendierten Ziele damit erreicht werden, ob die programmatischen Vorgaben widerspruchs114

frei sind und ob auch die technische Umsetzung den Zielsetzungen adäquat ist, oder ob Messfehler vorliegen, etwa indem erbrachte Arbeitsleistungen, Qualifikationen oder persönliche Merkmale der Mitarbeiter vermischt werden (vgl. Interview II; 2:4; 2:5; 7:16). Grenzen von Wettbewerb und Networking als Führungsprinzipien werden an der Stelle gesehen, dass man Wettbewerb nicht absolut setzt, dass man Leistungswettbewerb nicht auf die Spitze treibt. Es soll versucht werden, im positiven Sinne Leistungsanreize zu setzen. Aus diesem Grunde ist Bayer sehr darum bemüht, gute Arbeitsergebnisse und positive Geschäftserfolge zu belohnen, Nachwuchsführungskräfte mit besonderem Potenzial zu entdecken und zu fördern. Das Unternehmen geht aber nicht soweit zu sagen, dass etwa die schlechtesten zehn Prozent der Mitarbeiter gezielt ausfindig gemacht und entlassen werden sollen (vgl. Interview VI; 6:14). Insofern erscheint eine Aufwertung von Wettbewerb und Networking bei gleichzeitiger Reduzierung von Hierarchie und Formalisierung als wünschenswert, wird aber nicht in absoluten Kategorien beurteilt und ins Negative gewendet, insofern dass ein Gefühl der Angst verbreitet wird, das die Menschen daran hindert, kreativ und produktiv ihre Arbeit zu verrichten.

2.2.3. Wettbewerb und Networking statt Hierarchie und Formalisierung in den Bayer-Betrieben und Standorten (inzwischen Chemieparks) In Bezug auf die Führung auf der Ebene der Bayer-Betriebe und Standorte stellt die Reduzierung von Hierarchie und Formalisierung zugunsten von mehr Wettbewerb und Networking ein zweischneidiges Schwert dar. Einerseits eröffnen Wettbewerb und Networking größere Handlungsspielräume für Führungskräfte auch auf der Ebene der Standorte und für die einzelnen Produktionsbetriebe, in denen Führung bis hinab in die Profiteams zu implementieren ist, andererseits sind die Führungskräfte mit vielfältigen neuen Anforderungen konfrontiert, auf die sie im Rahmen ihrer fachlichen Ausbildung nicht vorbereitet worden sind. Insofern stellen Wettbewerb und Networking bei gleichzeitigem Abbau von Hierarchie und Formalisierung für das Gros der Beschäftigten eine Steigerung von Unsicherheit dar, besonders im Hinblick auf die subjektive Wahrnehmung. Beginnt man die Betrachtung mit der Errichtung des Profiteams und der interdisziplinären Aufgabenintegration in der Messwarte und den Betrieben, die nur ein erster Schritt in der genannten Richtung sind und zeitlich vor der Restrukturierung des Bayer-Konzerns stehen, dann stellt bereits dieser erste Schritt ein zweischneidiges Schwert für die Menschen dar. Damit soll weder gesagt sein, dass der Schritt überhaupt nicht notwendig, noch, dass Richtung des Wandels zum Nachteil für Bayer sei. Im Gegenteil: Jeder Schritt der Restrukturierung, der die Handlungsautonomie der Beschäftigten erhöht, Führungsverantwortung nach unten delegiert, ist notwendig und sinnvoll, unter der Prämisse, dass die Beschäftigten der Entwicklung folgen können. Nach Einführung des Profiteams im Jahr 2000/01 stellt sich die Situation wie folgt dar: Auftragsgemäß sollen Systemregulierer, Industriemeister, Techniker, Abteilungsund Betriebsleiter ihr Handlungsspektrum erweitern und in neue Aufgabenbereiche vordringen. Damit sind sie auch an Entscheidungen beteiligt, die bisher außerhalb ihres Kompetenz115

bereichs lagen (vgl. Kern/Sabel 1994). So führt z.B. ein Systemregulierer Instandhaltungsund kleinere Reparaturarbeiten durch, für die man bisher Mechaniker, Schlosser oder Elektriker gebraucht hat. Durchaus werden die Mitarbeiter dadurch in den Stand versetzt, an der Anlage vergleichbar zu handeln wie in ihrem lebensweltlichen Umfeld. Um eine Glühbirne auszuwechseln, benötigt man keinen Elektriker. Dennoch befördert dies bei Mechanikern, Schlossern und Elektrikern am Standort die Befürchtung, möglicherweise bald nicht mehr gebraucht zu werden, weil die Profiteams Funktionsäquivalente darstellen (Interview II; 2:1). Einerseits bringen die Mitarbeiter auf dem Shop-Floor bedingt durch ihre mehrjährige Berufsausbildung als Chemikanten oder Techniker gute Voraussetzungen mit, ihr Tätigkeitsspektrum zu erweitern, mehr Verantwortung zu übernehmen – ihre Kollegen in den Produktionsstätten der Vereinigten Staaten haben keine Lehre absolviert, sondern sind in einem sechswöchigen Intensivkurs auf die Arbeit im Betrieb vorbereitet worden. Sie sind in höherem Maße sie auf Learning by Doing und das Erfahrungswissen ihrer Kollegen angewiesen (vgl. Interview IV; 4:7). Folglich ist anzunehmen, dass die Mitarbeiter des Profiteams in der Lage sind, Tätigkeiten auch in den Bereichen zu übernehmen, die zuvor Industriemeistern, Abteilungsleitern und Fachspezialisten vorbehalten waren, etwa die Abfassung von Betriebsanweisungen. Andererseits tun sich die beruflich hochqualifizierten Mitarbeiter des deutschen Profiteams, aber auch die Meister, Techniker und Abteilungsleiter, mit der veränderten Situation schwer. Sie sind nicht dafür ausgebildet und emotional nicht darauf vorbereitet, Entscheidungen im Kompetenzbereich ihres Vorgesetzten zu treffen, eigene Aufgaben und Entscheidungsbefugnisse zu delegieren (vgl. Interview IV; 4:2). In Bezug auf die gesteigerten Handlungsoptionen bei gleichzeitigem Anwachsen des Gefühls von Unsicherheit geht es dem Industriemeister, dem Techniker, dem Abteilungsleiter und dem Betriebsleiter nicht anders als dem Systemregulierer in der Messwarte. Ein Schichtmeister musste bisher nie selbst die Produktion planen, denn dies gehörte in den Verantwortungsbereich des Abteilungsleiters. Mit der Einführung des Bayer-Profiteams liegt jedoch nicht nur nicht nur die Durchführung der Planungsaufgabe bei ihm, sondern er muss selbst Verantwortung für die Umsetzung übernehmen. Er ist seinem Selbstverständnis nach entweder bürokratisch geschulter Verwalter oder fachlich geschulter Experte, aber Entscheidungen zu treffen und zu verantworten, die man selbst nicht in allen Konsequenzen überblickt, ist bisher nicht sein Metier gewesen. (Interview II; 2:5). Entsprechend reagiert er mit Überforderung Ein Betriebsleiter hebt hervor, dass die Mitarbeiter bei der Einführung des Profiteams durchaus danach streben, ihre beruflichen Kompetenzen zur Anwendung zu bringen, also ihr Handlungsspektrum zu erweitern und mehr Verantwortung zu übernehmen. Doch zunächst hat das Profiteam für die Mitarbeiter lediglich Projektcharakter. Dass getroffene Maßnahmen verbindlich sind, mehr Verantwortungsbereitschaft auf Dauer gefordert ist, Entscheidungsbefugnisse nicht kurz nach der Coaching-Phase des Profiteams wieder zurück an Vorgesetzte verlagert werden können, erfordert Lernprozesse. Zudem bemerkt der Interviewpartner eine zögerliche Bereitschaft seitens der Betriebsleitung, Verantwortung in die Produktion zu delegieren. Das hat zur Folge, dass die Mitarbeiter dort ihrerseits kaum bereit sind, Entscheidungen zu treffen und stattdessen bestrebt sind, sich über die Hierarchie abzusichern (Interview IV; 4:6). Offenbar erwarteten Mitarbeiter bei Beginn der Einführung des Profiteams, es werde ihnen in 116

der Coaching-Phase erklärt werden, wie Teamarbeit funktioniert. Die Teamfähigkeit jedoch zu entwickeln, also die für Teamarbeit erforderliche Lernkultur und Streitkultur zu entwickeln, ist ein Aspekt der Einführung des Bayer-Profiteams, der zeitlich sehr weit über die Coaching-Phase hinausreicht. Das Führungspersonal der Bayer-Betriebe und Bayer-Standorte, zumeist akademisch gebildete Chemiker, Ingenieure, Physiker, Mediziner, oder Akademiker, die aus verwandten Disziplinen kommen, die verantwortlich sind für die Innovation von Produkt und Verfahren sowie für Planung und Errichtung neuer Produktionsanlagen, befinden sich in einer ähnlichen Situation wie die Mitarbeiter an der Produktionsanlage. Bedingt durch den im Zuge der Globalisierung erhöhten Wettbewerbsdruck werden im Bayer-Konzern strategischen Planung, des Marketing und des Controlling im Verhältnis zu den Fachfunktionen immer wichtiger. Das heißt nicht, dass es auf fachliche Kompetenz, auf technische Optimierung und Variation von Produkt und Verfahren nicht mehr ankommt. Vielmehr bedeutet es, dass diese Art der inkrementellen Innovation als selbstverständlich vorausgesetzt und nur noch am Rande erwähnt wird. Grundlage für die Entscheidung für oder gegen eine neue Produktionsanlage sind betriebswirtschaftliche Aspekte. Die Kosten für eine neue Produktionsanlage liegen im Milliarden-Euro Bereich. Es kommt also längst nicht mehr nur auf eine hervorragende Produktqualität, auf Verfahrenssicherheit, auf Umweltfreundlichkeit der Produktionsanlage an – hier sind die akademisch gebildeten Fachspezialisten in Zusammenarbeit mit den Belegschaften vor Ort am sachkundigsten – sondern vor allem darauf, dass sie in den Regionen der Weltwirtschaft platziert wird, wo sich auch ihr Absatzmarkt befindet. Bayer strebt die geografische Nähe zu seinen Absatzmärkten an, um Transportkosten zu reduzieren. Ein weiterer Gesichtspunkt ist die Kapazität der Anlage, die ausreichend groß bemessen sein muss, um Wachstum der Absatzmärkte zu verarbeiten (Interviews III; 3:8). Daher müssen die Experten aus den naturwissenschaftlichen und technischen Professionen die Hilfe der Experten aus Marketing und Controlling in Anspruch nehmen und hier selbst kompetent werden. Um das so erweiterte Aufgabenprofil abzudecken, müssen sie Teile ihres bisherigen Aufgabenbereiche und Entscheidungsbefugnisse abgeben. Unter dem Eindruck des Strukturwandels bei Bayer in die Richtung von mehr „Wettbewerb“ sehen viele Experten aus den naturwissenschaftlich-technischen Disziplinen sowohl in den gewerblichen Berufen als auch im akademischen Bereich einen Teil ihres Aufgaben- und Verantwortungsbereichs verloren gehen und bemerken gleichzeitig, dass sie zunehmend die Finanzkompetenz der Manager in Anspruch nehmen müssen, um eigene Aufgaben nach Vorgabe der Konzernziele zu bewältigen. Damit besteht die Gefahr, dass die naturwissenschaftlichen und technischen Experten den Wandel der Unternehmensführung blockieren. Der Strukturwandel des Bayer-Konzerns wird durch Ängste der naturwissenschaftlich-technisch gebildeten Experten begleitet. Sie sehen ihren sozialer Status bei Bayer infrage gestellt und befürchten und ein Downgrading. Als Downgrading betrachten sie die strategische Ausgliederung ihrer Abteilungen und Arbeitsbereiche an andere Firmen. Zwar kann eine strategische Ausgliederung in eine der Bayer-Service-Gesellschaften für die Fachspezialisten de facto einen Verantwortungsgewinn bedeuten, besonders im Hinblick auf unternehmerisches und autonomes professionelles Handeln. Dennoch ist der gefühlte Statusverlust nach der alten Sozialordnung, in der Status über Bildungsabschlüsse, formale Position und akademische Titel definiert wurde, nicht zu unter117

schätzen. Prekär wird die Situation der Fachspezialisten aus den naturwissenschaftlichen und technischen Professionen jedoch erst, wenn es Vertretern anderer Professionen und Interessensgruppen, speziell Experten der Management- und Finanzberufe, Fachleuten der Informationstechnologie und des Beratungsgeschäfts gelingt, Zuständigkeiten und Entscheidungsbefugnisse auf Kosten der Fachexperten der naturwissenschaftlichen und technischen Professionen erweitern und die Shareholder an Einfluss gewinnen. Dann fürchten sie um Positionen und Karrierechancen (Interview VII; 7:10). Das Negativszenario misslingender Integration ist ein Kampf um Beteiligung und Status zwischen den Management- und Finanzexperten einerseits und den Fachexperten aus den naturwissenschaftlichen und technischen Disziplinen andererseits, zwischen den Shareholdern (bzw. denen, die für die Anteilseigner sprechen), Bayer Vorstand und Belegschaften in den Betrieben und Produktionsstandorten vor Ort als Interessensgruppen. Diese Auseinandersetzung kann, wenn sie nicht innerhalb kurzer Frist bewältigt wird, die Leistungsfähigkeit des Unternehmens beeinträchtigen (vgl. Dörre 2002).

2.3 Sozialintegration: Strukturelle Differenzierung und Performanzorientierung 2.3.1 Stukturelle Differenzierung und der Performanzimperativ für Unternehmen im organisationalen Feld der „Deutschland AG“ Bezüglich der Sozialintegration – gemeint sind die Interaktionsnetzwerke und Solidaritätsbeziehungen innerhalb der Unternehmen, die im organisationalen Feld der Deutschland AG historisch entstanden und gewachsen sind – ist für die formal-rationalisierte Expertenorganisation kennzeichnend, dass trotz der ausgeprägten Formalisierung der Interaktionsbeziehungen eine stark ausgeprägte positive Solidarität im Sinne eines Wir-Gefühls der an der Organisation beteiligten Akteure existiert. Die Formalisierung äußert sich in drei Aspekten: erstens in der Sie-Anrede als äußerem Zeichen der Distanz innerhalb der Interaktionsbeziehung, zweitens in der Erwähnung des Titels oder der (gelegentlichen bzw. seltenen) Erwähnung der formalen Funktion in der Anrede als äußerem Zeichen für den formalen Charakter der Interaktionsbeziehung, sowie strikte Trennung von beruflicher Sphäre, dem aus Sicht der Organisation relevanten Geschehen und der privaten Sphäre bzw. Umwelt als äußerem Zeichen der Indifferenz von Organisation und Individuum. Alle drei Aspekte werden durch Interaktion bei der Verrichtung der alltäglichen Produktions-, Arbeits- und Geschäftsprozesse produziert und reproduziert. Formalisierte Beziehungen und informelle Beziehungen unter Kollegen, Nachbarn und Freunden haben getrennt voneinander Bestand. Sie werden separat gehandhabt. Damit bestehen vergesellschaftende Sozialbeziehungen, deren Grundlage Interessensaustausch und Vertrag sind, und vergemeinschaftende Sozialbeziehungen, deren Grundlage ein subjektiv gefühltes Zusammengehörigkeitsgefühl ist, weitgehend separat voneinander, insofern als es formal bestimmte Aspekte der Zusammenarbeit und informelle Aspekte der Zusammenarbeit gibt (vgl. Weber 1922/1980: 21 f.; Luhmann 1971/1994: 39-53). Im Gegensatz zum Interaktionsnetzwerk in der formal-rationalisierten Expertenorganisation steht das Interaktionsnetzwerk der flexiblen Netzwerkorganisation. Dabei handelt es sich um eine Morpho118

logie weit gespannter, lose gekoppelter Sozialbeziehungen mit stark ausgeprägter horizontaler und vertikaler Differenzierung. Damit entsteht ein Netzwerk, das nach außen transparent ist, das offen für Eintritte neuer Akteure ist, das sich durch eine Vielzahl von Zugängen und Austritten permanent in Veränderung befindet. Die Parallelität von Kooperation und Konkurrenz innerhalb ein und desselben sachlichen, sozialen oder zeitlichen Kontextes ist nichts Außergewöhnliches und stellt deshalb auch kein soziales Problem für den Fortbestand der Sozialbeziehungen oder für das kollegiale Miteinander in der Organisation dar. Darin unterscheidet sich die flexible Netzwerkorganisation, wie sie im amerikanischen Kulturmuster verankert ist, grundlegend von der formal-rationalisierten Expertenorganisation, wie sie im deutschen Kulturmuster verankert ist. Kulturtypisch für die Strukturmuster der Sozialbeziehungen in der formal-rationalisierten Expertenorganisation ist darüber hinaus, dass es Sozialbeziehungen auf Grundlage von Austausch und Vertrag gibt, auf Grundlage derer längerfristig stabile familiäre, vergemeinschaftende Sozialbeziehungen auf der Basis von subjektiv gefühlter Zusammengehörigkeit etabliert werden können. Diese werden in ihrem Bestand umso stärker gefestigt, je höher die Dichte dieser Interaktionsbeziehung ist, weil im deutschen Kulturmuster, in welchem die formal-rationale Expertenorganisation verankert ist, das Gefühl von Zusammengehörigkeit gerade durch die Regelmäßigkeit und hohe Dichte der Interaktionen gestärkt wird (vgl. Weber 1972: 20 ff.; Simmel 1992: 456-511; vgl. Münch 1986, Bd. 2: 804815). 50 Darüber hinaus ist für die formal-rationalisierte Expertenorganisation durcheine organische, hierarchisch nach Statusgruppen abgestufte organische Solidarität im Gegensatz zur Leistungssolidarität in der flexiblen Netzwerkorganisation bestimmt. Der Form nach ist das kollegiale Miteinander innerhalb der Organisation primär durch geschlossene, stabile, homogene Interaktionsnetzwerke von Freunden und Kollegen charakterisiert. Dies bewirkt, dass auf Ebene der Organisation Menschen aufeinander treffen, deren Sozialstatus sowohl innerhalb des Unternehmens als auch in der Gesellschaft relativ homogen ist. Im Hinblick auf ihr Lebensalter, Bildungsstandard, Profession und sozialen Hintergrund unterscheiden sie sich nicht wesentlich voneinander. Häufig sind Kollegenkreise homogen zusammengesetzt. Die 50 Legt man neuen Institutionalismus und Netzwerkansätze zugrunde, ist davon auszugehen, dass die charakteristischen Strukturmuster der Sozialbeziehungen der formal-rationalisierten Expertenorganisation in die zivilgesellschaftlichen Strukturmuster von Interaktion und Sozialbeziehungen eingebettet und im historisch gewachsenen kulturellen Muster verankert sind (vgl. Granovetter 1985). Münch (1986) hebt für die Strukturmuster der Interaktions- und Sozialbeziehungen im deutschen Kulturmuster Geschlossenheit, Sicherheit, Stabilität und Treue hervor, die aus dem scharfen Gegensatz von Gemeinschaft und Gesellschaft herrührt:„Die Deutschen machen weit weniger Gebrauch von dem Recht der freien Assoziation als die Amerikaner. Man bewegt sich viel lieber und viel sicherer im vertrauten Kreis. Die Tatsache, dass die Familie weit oben in der Prioritätenskala der Deutschen rangiert, ist auch Ausdruck für eine relativ geringe Fähigkeit, sich mit anderen außerhalb der Familie zu verbinden. Das Handeln außerhalb der Familie wird als reines Zweckmäßigkeits- und Rollenhandeln gedeutet (…).“ (ebd.: Bd. 2: 807 f.). Und weiter: „Zur deutschen Freundschaft gehört die Treue (…). In der Treue kommt die Tiefe und Unveränderlichkeit dieser Beziehung zum Ausdruck, damit aber auch eine klare Beschränkung der Freiheit, diese Beziehung zu verändern und darüber hinaus noch andere freundschaftliche Beziehungen einzugehen. (…) So gesehen gewinnt die absolute Treue in der deutschen Freundschaft eine unsoziale Eigenschaft.“ (ebd.: 809 f.). Nach einigen Relativierungen in Verbindung mit der Beobachtung, dass sich die Sozialbeziehung der Deutschen an die der Amerikaner annähern, fasst Münch seine Aussage wie folgt zusammen: „Der Deutsche sucht die enge Gemeinschaft, wo der Amerikaner die frei gebildete und auch wieder auflösbare Assoziation bevorzugt. (…) Die persönliche Beziehung stützt sich auf das Vertrauen in den anderen, die Vertragsbeziehung auf positive Gesetze, deren Geltung vom Staat garantiert wird“ (ebd.: 814 f.).

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Homogenität wird zusätzlich dadurch gestärkt, dass die Kollegen regelmäßig interagieren und stark wirksamen soziale Bindungen entwickeln. Strukturelle Löcher, die geschlossen werden können, indem neue Verbindungen hergestellt werden und damit zur Erweiterung des sozialen Kapitals der in die Netzwerke involvierten Akteure beitragen könnten, fehlen weitgehend. (vgl. Burt 1992; 2001; 2005; Lin 2001 a; 2001 b). Dagegen bestehen oftmals wenige oder gar keine Kontakte zwischen Personen, deren Lebensalter, Bildungsniveau und Status innerhalb der Organisation deutlich verschieden ist, weil diese Personen mit hoher Wahrscheinlichkeit niemals wirklich aufeinander treffen. Man bleibt unter sich. Weil man unter sich bleibt, sind auch die Chancen minimal, neue Kontakte außerhalb des vertrauten Kreises zu knüpfen. Die Sozialbeziehungen sind streng nach Maßgabe von Hierarchie und Formalisierung organisiert, beispielsweise durch eindeutige Trennung von Du- und Sie-Beziehungen. Innerhalb der sozialen Arrangements der Organisation wächst Vertrauen auf Basis der Stabilität der Mitgliedschaft und aufgrund der hohen Interaktionsdichte. Dieses Strukturmuster der Sozialbeziehungen ist Grundlage für den Solidaritätstypus der formal-rationalisierten Expertenorganisation: Die Unternehmensgemeinschaft ist einerseits sehr familiär, weil die Mitglieder bedingt durch die Dauer ihrer Mitgliedschaft im sozialen Netzwerk und durch die hohe Dichte der Interaktionsbeziehungen ein Gefühl der Zugehörigkeit zur Organisation entwickeln. Die Stabilität der Interaktionsbeziehungen befördert das ie das Gefühl, Teil eines Ganzen zu sein, ohne durch individuell zurechenbare Leistung ihre Zugehörigkeit immer wieder neu unter Beweis stellen zu müssen. Somit ist die Unternehmensgemeinschaft der formal-rationalisierten Expertenorganisation eine nach Statusgruppen fein abgestufte organische Solidargemeinschaft. Sie weist jedem Mitglied eine bestimmtes Spektrum an Positionen zu, die erreichbar sind oder eben nicht, eine bestimmte Gruppe von Personen, die „ihresgleichen“ sind – oder eben nicht. Das System der Über- und Unterordnung der Statusgruppen, die formale Bestimmung der damit verknüpften Aufgabenzuschnitte und Kompetenzbereiche durch die formal-rationalisierte Expertenorganisation sowie die Ordnung der Statusgruppen untereinander ist durch eine hohe Stabilität gekennzeichnet. Man wird immer wieder dieselben Konstellationen von Zahlenverhältnissen, räumlichen Verhältnissen und zeitlichen Verhältnissen in den sozialen Beziehungen auffinden: Kleinzahlige soziale Beziehungen ohne oder mit gering ausgeprägter Suprastruktur, unmittelbare Nähe, Vertrautheit und Gefahr der Trivialität (Zahl-Dimension). Räumliche Fixierung von Akteuren und Objekten vermittelt den Eindruck von Einzigartigkeit, Bedeutsamkeit und Erfahrbarkeit der Gruppeneinheit, die wiederum durch Ausschluss anderer Akteure gestärkt wird (Raum-Dimension). Ein dritter Faktor ist die erlebte und antizipierte Dauer der Beziehung, die sich in Gewöhnung, gemeinsamen Erfahrungen, Nähe, Zugehörigkeit, Stabilität, Erwartungssicherheit bei gleichzeitiger Gefahr der Anpassung, der resignativen Nachgiebigkeit („Hängenlassen“) und der Banalität niederschlägt (Zeit-Dimension) (vgl. Hollstein 2004). Das dominierende Strukturmerkmal der Sozialbeziehungen in der formal-rationalisierten Expertenorganisation ist „Hierarchie“. Damit ist gemeint, dass Ordnung der Sozialbeziehungen primär nach hierarchischer Über- und Unterordnung erfolgt, erst sekundär durch „Formalisierung“ als eindeutige Differenzierung zwischen formellen und informellen Sozialbeziehungen. Nähe oder Distanz der an Interaktionsnetzwerken beteiligten Akteure bildet im Verhält120

nis dazu ein nachrangiges Strukturprinzip für Sozialbeziehungen. Informationsasymmetrien zwischen Akteuren nach Maßgabe von Hierarchie und Formalisierung sind bestimmend dafür, welche Akteure an der Verbreitung von Informationen partizipieren und diese kontrollieren können. Je höher die formale Position, die ein Akteur in der Hierarchie der Wirtschaftsorganisation einnimmt, desto besser ist er in der Lage, die Struktur der Sozialbeziehungen zu überblicken. Nutzt der Akteur die dadurch gegebenen Partizipations- und Kontrollmöglichkeiten effektiv, wirkt sich dies erneut positiv auf seinen Sozialstatus aus. Folglich produzieren Hierarchie und Formalisierung über die Interaktionsmechanismen sozialer Netzwerke erneut Hierarchie und Formalisierung. Persönliche Freundschaft und Vertragsverhältnis werden als widersprüchlich wahrgenommen, bis hin zu dem Punkt, dass Beschäftigte die Freundschaft mit Kollegen am Arbeitsplatz als unvereinbar mit den Regeln guter Amtsführung empfinden. Allerdings ist hier einzuwenden, dass gerade am Arbeitsplatz Freundschaften und interpersonale Netzwerke besonders wichtig sind. So zeigt die Betrachtung der Beziehungsnetzwerke in Us-amerikanischen Unternehmen am Beispiel der Ford Motor Company (Rouge Plant, Dearborn/ Michigan), dass Mitarbeiter Freundschaften und Bekanntschaften am Arbeitsplatz etablieren und trotz hoher Job-Mobilität erheblichen Aufwand in ihre Sozialbeziehungen, explizit auch in ihre Netzwerke, investieren. Damit tragen sie nicht nur zum Aufbau des Sozialkapitals ihres Unternehmens bei, sondern bauen auch ein eigenes Sozialkapital auf, das einen bedeutsamen Karrierefaktordarstellt. Dies entspricht dem Modell der flexiblen Netzwerkorganisation (vgl. Simmel 1983: 61-78; Weber 1922/1972: 19-21; 551-579; Lin 2001; 2001 b; Brandeins Wirtschaftsmagazin 2003).51 In der „formal-rationalisierten Expertenorganisation“, wie sie im Kulturmuster Deutschlands verankert und historisch gewachsen ist, wird sozialer Status nicht wie im japanischen Clan-Modell der Organisation nach Maßgabe von Seniorität und festen, hierarchisch strukturierten Loyalitätsbeziehungen zugeschrieben, sondern vielmehr durch Bildungstitel, Position und Arbeitsleistung erworben. Natürlich sind gute Arbeitsleistungen in einem Job auch dann möglich, wenn ein Mitarbeiter langjährige Erfahrung in seinem Arbeitsumfeld hat sammeln können, selbst wann ihm das entsprechende Bildungszertifikat fehlt. Zugleich ist eine gute Arbeitsleistung allein längst noch kein Garant für Profitabilität, weil der Markterfolg ja davon abhängig ist, wie gut oder schlecht der Erfolg im Zusammenwirken mit den Kunden ist. Doch erfolgt der Statuserwerb in der formalrationalisierten Expertenorganisation primär nach Berufsgruppe, formaler Position, Arbeitsinhalt und Verantwortungsbereich, nur sekundär über Markterfolge als messbare Resultate. Doch bewirkt der Strukturwandel der Leistungsorganisation in die Richtung von Profitcenterstruktur, flexibler Arbeitsorganisation und Teamintegration auch eine Pluralisierung und Differenzierung der Sozialbeziehungen. Es kommt zu einer Abschwächung der Bedeutung von Hierarchieunterschieden und „formalen“ Kriterien als Entscheidungsgrundlage sowie mittelbis langfristig auch zur Ablösung der Statuszuschreibung aufgrund von Bildungstiteln durch Performanz im Job. Bezüglich der Sozialintegration lässt sich ein Wandel dahingehend beobachten, dass sozialer Status in Abhängigkeit von Bildungstiteln und formaler Position an Bedeutung verliert, während aktiver durch Arbeitsleistungen und individuell zurechenbaren Ar51 Die Verfasserin dieser Studie hat die Fallstudie Ford am Standort Rouge Plant (Dearborn/Michigan) im Jahr 2001 durchgeführt; sie ist als Hintergrundmaterial mit in die vorliegende Arbeit eingegangen.

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beitsergebnissen an Bedeutung gewinnt, dass bisher selbstverständliche, statussichernde Mechanismen abgeschwächt oder unterlaufen werden.52 Mit der Errichtung posttayloristischer, subjektorientierter Arbeitseinsatzkonzepte auf breiter Basis sowie mit der Stärkung des Wettbewerbsprinzips durch die Profitcenterstruktur etablieren sich zwar neue, auf Networking basierende Formen der Partizipation. Allerdings geschieht dies bisher nur in der Form von als lose Interaktionsbeziehungen mit informellem Charakter ohne eine feste Verankerung dieser Art von Partizipation im Arbeitsrecht und in der Konzernbetriebsverfassung mit formalem Charakter (vgl. Mückenberger 1997). Damit kontrastiert das Strukturmuster der Sozialbeziehungen in der flexiblen Netzwerkorganisation, wie es der für die amerikanische Zivilgesellschaft charakterisitischen voluntaristischen Assoziation entspricht und im Kulturmuster Nordamerikas verankert ist. Es dominiert das Netzwerkmodell als Geflecht offener, weitgespannter, dynamischer und heterogen zusammengesetzter Interaktionsnetzwerke von engen Freunden, über entfernte Bekannten bis hin zu Personen, die lediglich über Dritte miteinander verbunden sind. Die ausgeprägte Heterogenität der Zusammensetzung und die starke horizontale und vertikale Differenzierung der Interaktionsbeziehungen befördert das Entstehen zahlreicher struktureller Löcher. Strukturelle Löcher erhöhen das Sozialkapital sowohl des Unternehmenskollektivs insgesamt als auch ihrer Personen, Gruppierungen und Organisationseinheiten über seine Brokerage-Funktionen, also der Herstellung neuer Verbindungen zwischen vormals separaten Personen, Gruppen und Organisationseinheiten. Ein Akteur, beispielsweise ein Unternehmen im organisationalen Feld oder eine Führungskraft im Unternehmen, die auf eine Vielzahl weitgehend überschneidungsfreier sozialer Zirkel rekurrieren kann, also über eine Vielzahl struktureller Löcher in seinen sozialen Netzwerken verfügt, hat demgemäß auch Zugang zu Informationen aus diesen verschiedenen Kreisen. Selbstverständlich kann er seinen Informationsvorsprung anderen Akteuren gegenüber zum eigenen Nutzen und Vorteil einsetzen und erlangt dadurch erneut Zugang zu Ressourcen.53 Burt weist nach, dass eine hohe Geschlossenheit und Dichte sozialer Netzwerke von Akteuren negativ mit der Wahrscheinlichkeit korreliert, dass diese Personen in ihrem Job als leistungsfähiger beurteilt werden, schneller Karriere machen und ein höhes Ein52 Ein Beispiel ist die sich verändernde Rolle des Betriebsrats bei der Neuorganisation in Betrieben, AbnehmerZuliefer-Netzwerken und im global agierenden Unternehmen: Während Betriebsräte zu Beginn der 1990er Jahre den posttayloristischen, subjektorientierten Produktions- und Arbeitseinsatzkonzepten sehr kritisch gegenüber standen und die Tendenz hatten, den Wandel blockieren, haben sich die Betriebsräte vieler Unternehmen inzwischen den durch finanzmarktgetriebenen Globalisierungsdruck geschaffenen neuen Verhältnissen insofern angepasst, dass sie Co-Management betreiben und auch daran interessiert sind, stärker die Interessen der Belegschaften gegenüber denen der Shareholder zu vertreten (Kern/Sabel 1994; Piorr/Wehling 2002; Weitbrecht et al. 2002). Die Strategie des Co-Managements erklärt ebenfalls, warum die Konfliktlinien zwischen Management und Betriebsräten bzw. Gesamt- und Konzernbetriebsräten im Innovationswettbewerb heute nicht mehr so klar verlaufen wie noch zu Beginn der 1990er Jahre: Betriebsräte nehmen zunehmend die Chance wahr, sich für ihre Klientel unentbehrlich zu machen, indem sie neue Produktionskonzepte aktiv mitgestalten und die Interessen der Beschäftigten im Rahmen der Standortsicherungsvereinbarungen vertreten (vgl. Kern/Sabel 1994; Rehder 2003). 53 Welche konkreten Wettbewerbsvorteile ein Plus an Sozialkapitals von Organisationen für Unternehmen bedeutet, schreibt Burt:„Organizations with management and collaboration networks that bridge structural holes in their markets seem to learn faster and be more productively creative. Sutton and Hargadon (1996) describe processes by which a firm, IDEO, used brainstorming to create product designs. (…) The firm has clients in diverse industries. In the brainstorming sessions, technological solutions from one industry are used to solve client issues in other industries where the solutions are rare or unknown. The firm profited, in other words, from bridge relations through which employees brokered technology flow between industries.“ (Burt 2005: 357 f.)

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kommen erzielen. Personen mit strukturell differenzierten, weit gespannten Interaktionsnetzwerken sind diesbezüglich klar im Vorteil. (Burt 2005: 369-376). Dies überträgt sich auch auf Informationen und Wissensgehalte. Die Beurteilung von in Problemlösungsprozessen eingebrachten Ideen durch Führungskräfte variiert damit, ob Entscheider in diesen Ideen eine Brokerage-Funktion sehen oder nicht. Eine solche Brokerage-Funktion liegt erstens vor, wenn diese Ideen von außen in das Unternehmen hinein kommen, und zweitens, wenn sich die Ideen möglichst trennscharf von den Ideen abheben, die in der Organisation bereits verbreitet sind (ebd.: 376-386).54 Die formalen Konstellationen von Zahlenverhältnissen, räumlichen Verhältnissen und zeitlichen Verhältnissen finden, die für das Miteinander bestimmend sind, schaffen andere Strukturbedingungen für die Kooperationsbeziehungen im Unternehmen: Man findet eine ausgewogenere Mischung von kleinzahligen und größeren sozialen Beziehungen, eine ausgeprägtere Suprastruktur, die Vermittlung zwischen den Gruppen und eine ausgeprägtere Arbeitsteilung zwischen den Gruppen (Zahl-Dimension). Daneben besteht eine größere Unabhängigkeit von räumlicher Nähe mit der Konsequenz eines stärkeren Erfordernisses zur Abstraktion, medienvermittelter Interaktion, der Möglichkeit der Idealisierung (Raum-Dimension) sowie schließlich häufigere Neubildung von Gruppen oder Neukonfiguration der Gruppenkonstellationen und der Antizipierbarkeit der Kürze der Sozialbeziehungen in der Zeit. Diese Strukturbedingungen bewirken, dass die Akteure ihre Identität immer wieder neu entwerfen müssen, dass in sozialer Interaktion stets eine hohe Intensität und Emotionalität des Augenblicks erfahrbar ist. Jede Beziehung ist ständig durch den inneren Abschied seitens der beteiligten Akteure begleitet und deshalb auf die Gegenwart fokussiert (vgl. Simmel 1992: 456-511; 791-862; Hollstein 2004). Es bleibt festzuhalten, dass das Fehlen von engen Interaktionsnetzwerken ganz klar Vorteile über die Offenheit und Dynamik der voluntaristischen Assoziation hinaus hat. Allerdings hat das Fehlen dichter sozialer Netzwerke wie in Deutschland auch Schattenseiten. In amerikanischen Unternehmen bleibt es oftmalsbei einer sehr formalen, abstrakten und damit schwachen Bindung der Akteure an das Unternehmen sowie bei sehr schwachen, abstrakten Solidaritätsbeziehungen zwischen Kollegen. Man sagt zwar, man könne jederzeit einen bestimmten Kontakt aktivieren: Doch die Lockerheit der Kontakte bewirkt auch, dass auch Normen der Reziprozität unverbindlich bleiben. Es würde eben nicht jeder alles für jeden anderen tun, schon allein deshalb, weil man miteinander bekannt oder locker miteinander befreundet ist (Simmel 1992: 456-511: 791-873; Durkheim 1893/1992; Granovetter 1982; Jansen 2002; Burt 2001; 2005; Münch 1986: Bd. 1: 383-389). 55 54 Ebenfalls dem Netzwerkansatz folgend, ist Castilla (2005) der Frage nach einer optimalen Zusammensetzung von Empfehlungen und Bewerbung bei der Besetzung von Stellen im Sinne der Maximierung der Produktivität nachgegangen, indem er eine empirische Analyse in einem Call-Center durchgeführt hat. Castilla erkennt den Vorteil einer Stellenbesetzung über die persönliche Empfehlung darin, dass die Beschäftigten besonders daran interessiert sind, einer guten Empfehlung gerecht zu werden, indem sie dementsprechend gute Arbeitsleistungen abliefern, und indem sie darüber hinaus ein entsprechendes Verantwortungsgefühl und Commitment entwickeln (ebd.: 1272 ff.). Dementsprechend scheinen neben den üblichen Bewerbungsverfahren Empfehlungsprogramme, bei denen das Herstellen neuer Kontakte ebenso wie das Aktivieren bestehender Kontakte im Mittelpunkt steht, geeignete Rekruiting-Verfahren zu sein. 55 Wie im die Strukturmuster der Interaktions- und Sozialbeziehungen der formal-rationalisierten Expertenorganisation im deutschen Kulturmuster verankert sind, stehen die der flexiblen Netzwerkorganisation im Kontext

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Der Strukturwandel der Unternehmen im organisationalen Feld der „Deutschland AG“ von der formal-rationalisierten Expertenorganisation hin zur flexiblen Netzwerkorganisation vollzieht sich von der nach Statusgruppen differenzierten organischen Solidargemeinschaft hin zur Leistungsgemeinschaft. Wie in den folgenden Abschnitten anhand der Fallstudie Bayer gezeigt wird, ist nicht nur die Richtung des Strukturwandels bedeutsam, sondern auch das Tempo, mit dem der Strukturwandel vorangetrieben wird. Bedingt durch den finanzmarktgetriebenen Globalisierungsdruck ist es plausibel anzunehmen, dass der Antrieb zum Wandel von der Konzernspitze ausgeht und hier mit Bezug auf die Gegebenheiten im organisationalen Feld und seinen Wandel die wesentlichen Wandlungsimpulse gesetzt werden. Ebenfalls ist erwartbar, dass der Strukturwandel an der Konzernspitze gerade am Beginn der Entwicklung und in jeder neuen Phase des Strukturwandels in der Konzernspitze am schnellsten vorankommt, während derselbe Wandel in den Betrieben und Produktionsstandorten mit zeitlicher Verzögerung, mit geringerem Tempo und gegen stärkere Widerstände erfolgt. Die Gründe dafür sind einfach: Erstens bringt das an der Spitze des Konzerns dominierende Milieu – Manager und Finanzexperten mehr noch als Naturwissenschafter und Ingenieure – bildungsund sozialisationsbedingt ein fundamentales Verständnis von der Funktionsweise des Globalisierungsdrucks mit und ist deshalb besser auf globalisierungsbedingte Veränderung eingestellt. Zweitens zeigt dieses Milieu mehr Verständnis über die Mechanismen von Wettbewerb und Networking und versteht dies in soziales Kapital umzusetzen, hat also weniger Grund, Befürchtungen zu hegen, sondern sieht sich selbst eher als Gewinner denn als Verlierer des Strukturwandels. Drittens ist dieses Milieu näher am Pluspol der Macht im Unternehmen positioniert. Damit sind für das bisher dominierende Milieu ideale Bedingungen und Voraussetzungen geschaffen, um den Strukturwandel des Unternehmens aktiv und gezielt nach den eigenen Vorstellungen voranzutreiben, sich also mit seiner eigenen „conception of control“ durchzusetzen und andere, gegensätzliche Leitbilder aus der bisherigen Unternehmenskultur zu verdrängen. Beispielsweise muss ein Verständnis für die Gegebenheiten der Absatzmärkte und der Finanzmärkte im Management an der Konzernspitze viel weiter verbreitet und inhaltlich viel profunder sein als in den Betrieben – auf der anderen Seite braucht das Unternehmen

des kulturellen Musters der Vereinigten Staaten. Im amerikanischen Kulturmuster fehlt die klare Trennung von Gemeinschaft mit starkem Zugehörigkeitsgefühl und ausgeprägtem emotionalen Engagement im Gegensatz zur Gesellschaft, die rein äußerlich bleibt. An ihrer Stelle steht die Freiheit der Vereinigung, die nach eigenen Interessen frei gewählte Assoziation der Bürger. „Zur Freiheit der Vereinigung gehört die freie vertragliche Bindung als Grundelement der freien Wahl sozialer Beziehungen. Mit der Freiheit, Verträge einzugehen, ist die Bindung an die einmal geschlossenen Verträge unmittelbar verknüpft. (…). In Amerika werden viele Angelegenheiten, die in Europa einer autoritativen Behörde unterliegen, durch freie Vertragsvereinbarungen geregelt.“ (ebd., Bd. 1.: 385 f.) In Amerika dominiert der institutionelle Individualismus, die Steigerung der Handlungsautonomie und Authentizität des Einzelnen durch die Einbindung in die gesellschaftlichen Institutionen über den Mechanismus der aktiven, voluntaristischen Partizipation. Selbst wenn das Vertrauen der Amerikaner durch die Terroranschläge vom 11. September 2001 erschüttert worden ist und sich das Land danach verändert hat, kann man sagen, dass die assoziative Beteiligung der Menschen an öffentlichen Angelegenheiten, von der Bürgerwehr über den Betrieb eines gemeinsamen Swimming-Pools bis hin zum Nachbarschaftsfest einen gewichtigen Anteil am gegenseitigen Vertrauen und an dem in die Gesellschaft hat. Bei der Beteiligung am öffentlichen Leben spielt auch die aktive Einbindung der „einfachen“ Bürger in Gerichtsverfahren eine maßgebliche Rolle (ebd.: 387 f.). Wie in den Verfahren gegen O.J. Simpson und gegen Michael Jackson ist für das amerikanische Rechtswesen bezeichnend, dass der amerikanische Staat soviel Vertrauen in das Rechtsempfinden, die Gewissenhaftigkeit und das Verantwortungsgefühl seiner Bürger setzt, dass er ihnen den Urteilsspruch auch in Verfahren zutraut, die von erheblicher Bedeutung sind.

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auch den erfolgreichen Strukturwandel seiner in lokale Kontexte eingebetten Teile, damit die neue „conception of control“ in der Unternehmensgemeinschaft auf breiter Basis mitgetragen wird. Nur dann hat der Strukturwandel ein gutes legitimatorisches Fundament (vgl. Bourdieu 1989; Fligstein 2001: 27-44; 147-169). An dieser Stelle erscheint es wichtig, sich ins Gedächtnis zu rufen, dass Fligstein in seinem Buch „The Architecture of Markets“ (2001) den Strukturwandel innerhalb der Unternehmen als marktgetrieben, also als durch die Veränderung des organisationalen Feldes induziert ansieht. Fligstein geht davon aus, dass eine Krise des Marktes eine Veränderung des organisationalen Feldes zur Folge hat, somit auch die Veränderung des Machtgefüges zwischen Unternehmen, Staat und anderen Institutionen bewirkt. Eine durch Marktkrise verursachte Veränderung des organisationalen Feldes findet auch Niederschlag im Unternehmen, wobei sich die „conception of control“ aus dem organisationalen Feld unverändert oder modifiziert in der Organisation übernommen wird. Den Zusammenhang zwischen Markt und Organisation arbeitet Fligstein in seinen Propositionen 4.1 und 4.2 eindeutig heraus. „Proposition 4.1. At the beginning of a new market, the largest firms are the most likely to be able to create a conception of control and a political coalition to control competition.“ (Fligstein 2001: 77). „Proposition 4.2. Power struggles are over who can solve the problem of how to best organize the firm to deal with competition. The winners of the struggle impose their organizational culture and design on the firm” (ebd.)

Weiter schreibt Fligstein: „Proposition 4.5. New markets borrow conceptions of control from nearby markets, particularly when firms from other markets choose to enter the new market. “ (ebd.: 78). „Proposition 4.12. When firms begin to fail, the intraorganizational power struggle heats up, leading to further turnover of top personnel and greater activism by boards of directors and nonmanagement shareholders. New sets of organizational actors attempt to reconstruct the firm along the lines of the invaders “ (ebd.: 78). „Conceptions of control are used by actors in incumbent firms to ward off market crises. The power struggle internal to the firm becomes intense as market crises become more pronounced and the reigning conception of control proves inadequate to the crisis.“ (Fligstein 2001: 84)

Entsprechend seines Paradigmas der Märkte als organisationaler Felder hebt er für die Bedeutung der „conception of control“ den Machtaspekt hervor. Dabei tritt der Legitimationseffekt des organisationalen Leitbilds in den Hintergrund. Allerdings wird damit meines Erachtens der Machtaspekt überbetont und der Legitimationsaspekt nicht ausreichend gewürdigt. Die Auseinandersetzung um die Macht im Unternehmen zwischen der etablierten Führungselite und „Eindringlingen“ (invaders), welche die bisherigen Führungseliten herausfordern, steht im Vordergrund. Die Funktion der „conception of control“, die ein Leitbild für das Handeln der Akteure in der intraorganisationalen Auseinandersetzung und für die Auseinandersetzung mit anderen Marktteilnehmern beinhaltet, liegt jedoch stärker in dem Legitimationsaspekt. Ein Unternehmen muss die Strategie, die es wählt, mit Bezug auf Werte begründen, zu denen ein Commitment als selbstverständlicher, nicht hinterfragter Teil der Alltagswirklichkeit besteht. Nur dann werden Richtung des Strukturwandels, Wettbewerbsstrategien und Innova125

tionsaktivitäten auf breiter Basis mitgetragen. Darüber hinaus vermittelt das Leitbild einen gemeinsam geteilten Handlungsbezugsrahmen für alle Akteure. Das ist bei der Bewältigung von Komplexität sowohl in der intraorganisationalen Auseinandersetzung als auch in der Auseinandersetzung mit anderen Marktteilnehmern behilflich. In Anbetracht der Komplexität der Vorgänge im übergreifenden organisationalen Feld ist es für eine Konzernführung unmöglich, alle Vorgänge mittels eines formal gehaltenen Reglements genau festzulegen. Es werden sich immer neue Herausforderungen stellen, in denen sich diese Regeln für Situationsdiagnose und Problembewältigung als nutzlos erweisen. Damit hat ein Unternehmensleitbild eine enorme Bedeutung für den kognitiven und emotionalen Hintergrund einer Organisation dahingehend, dass es einen gemeinsamen Handlungsbezugsrahmen für alle Akteure bereitstellt, somit Orientierung vermittelt. Es soll die Akteure in den Stand versetzen, auch in sehr komplexen Situationen handlungsfähig zu bleiben. Unternehmen im organisationalen Feld der Deutschland AG treiben den Strukturwandel vom Idealtyp der formal-rationalisierten Expertenorganisation in Richtung des Idealtyp der flexiblen Netzwerkorganisation mit unterschiedlichem Tempo voran: An der Konzernspitze kommt der Wandel wesentlich schneller voran als in den Betrieben und Produktionsstandorten, mit der Konsequenz, dass zu einem bestimmten Zeitpunkt Entwicklungsdifferenzen bis zu mehreren Jahren nicht ungewöhnlich sind.56 Entscheidend für Erfolg oder Misserfolg des Strukturwandels ist, dass es gelingt, alle Kräfte für eine gemeinsame Idee zu mobilisieren und sie in eine Richtung zu koordinieren. Am Beginn eines Strukturwandels ist hierzu der größte Energieaufwand erforderlich, weil Beharrungstendenzen am stärksten wirksam sind. Hat der Strukturwandel jedoch einmal Fahrt aufgenommen, ist weniger Energieaufwand erforderlich. Dafür gewinnt die Steuerungsfunktion seitens der Konzernführung an Bedeutung.57 Allerdings ist als problematischer Fall die Entkoppelung des Strukturwandels von Konzernspitze und Konzernbasis vorstellbar, insofern, dasssich die Konzernführung ganz einseitig an der Entwicklung der Absatzmärkte und der Finanzmärkte orientiert, ausschließlich den systemi56 Diese Aussage kann man mit Fligsteins Theorie der Märkte als organisationale Felder dahingehend erweitern und präzisieren, dass es durchaus darauf ankommt, in welcher Marktposition sich ein Unternehmen befindet. Unternehmen, die als incumbents auf dem Markt positioniert sind – wie z.B. Bayer – orientieren sich im Hinblick auf ihre Wettbewerbsstrategie und Konzernentwicklung an den anderen Unternehmen mit incumbent-Position; Unternehmen in der Position als challenger – auf dem Pharmamarkt beispielsweise die Hersteller von Generika – orientieren sich am der Wettbewerbsstrategie und Konzernentwicklung der incumbents (vgl. Fligstein 2001: 81). Darüber hinaus ist die Aussage dahingehend zu präzisieren, dass es darauf ankommt, wie stabil oder dynamisch das Marktumfeld ist, denn Firmen, die sich in einem stabilen Marktumfeld befinden, werden weiterhin ihre bisherige „conception of control“ als Leitbild verwenden, sogar dann, wenn Eindringlinge von außen in das Unternehmen hinein kommen und die Konzernführung herausfordern oder wenn eine allgemeine wirtschaftliche Krise (Konjunkturkrise) eintritt (ebd.:81). 57 Ich stelle den Strukturwandel eines Unternehmens im Zusammenwirken von Konzernspitze und Konzernbasis analog zum Modell eines Zuges vor: Steht der Zug still, muss die Lokomotive ihre maximale Energieleistung aufbringen, um ein Minimum an Bewegung zu erzeugen, weil der Zug insgesamt so schwer und die Widerstandskräfte entsprechend groß sind. Hat der Zug jedoch einmal Fahrt aufgenommen und eine hohe Geschwindigkeit erreicht, ist sehr viel weniger Energieleistung seitens der Lokomotive erforderlich, um das Tempo aufrechtzuerhalten. Dementsprechend muss die Konzernspitze am Beginn maximale Energie aufwenden, damit nachhaltiger Wandel in Gang gesetzt wird; ist ein bestimmtes – zufriedenstellendes – Tempo des Strukturwandels einmal erreicht, genügen einzelne Antriebsimpulse (- Bremsvorgänge erfordern wiederum viel Energie); im übrigen reduziert sich die Leistung der Lok auf weitgehend auf Steuerungsfunktionen und Kommunikationsvorgänge.

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schen Mechanismen des Marktgeschehens folgend handelt, ohne darauf zu achten, ob der an der Marktentwicklung orientierte Strukturwandel auf breiter Basis mitgetragen wird. Dies könnte sich zum Beispiel darin zeigen, dass den Beschäftigten in den Produktionsstandorten und Betrieben das Verständnis für das Erfordernis, den Ablauf und das Ziel des Strukturwandels ihres Unternehmens fehlt, zumal ihnen die Betrachtung des Unternehmens im Kontext des Marktes, in dem es sich bewegt, zumindest in einer Anfangsphase des Wandels verschlossen ist. Fehlt jedoch die legitimatorische Basis oder ist sie infrage gestellt, kann es zu Pathologien kommen, d.h. zu anomischen Verhältnissen, Desintegration und zu massiven Konflikten, welche die Unternehmensleistung erheblich beeinträchtigen. Um Pathologien wie diese zu vermeiden, ist es wichtig, die Kluft zwischen dem Entwicklungsstand der Konzernspitze und dem der Betriebe und Produktionsstandorte nicht allzu groß werden zu lassen. Aus der Perspektive einer Unternehmensleitung, die den Strukturwandel initiiert und vorantreibt, kommt es darauf an, die Menschen sehr frühzeitig zu involvieren, sowohl kognitiv als auch emotional, sodass sie in den Stand versetzt werden, den Wandel zu verarbeiten und motiviert werden, diesen Wandel mitzutragen. Aus diesem Grund ist das Gefühl von Zugehörigkeit seitens der Mitarbeiter mitentscheidend für den Unternehmenserfolg. Allgemein ist eine Erhöhung der strukturellen Differenzierung dahingehend zu erwarten, dass sowohl innerhalb der Organisation als auch in der interorganisationalen Auseinandersetzung mehr Akteure mit weit entfernten Akteuren in Kontakt kommen (vgl. Granovetter 1982; vgl. Burt 2001; Lin 2001). Ferner ist zu erwarten, dass die Heterogenität der Unternehmensgemeinschaft zunimmt, weil Menschen mit Expertenwissen aus einer wachsenden Anzahl verschiedener Berufsgruppen im Unternehmen vertreten sind, nicht nur Experten aus den natur- und ingenieurwissenschaftlichen Disziplinen, sondern auch Fachleute mit Expertise im Bereich Management und Finanzwesen zunehmend die Möglichkeit haben und auch wahrnehmen, an die Unternehmensspitze vorzudringen. Damit ist zunächst die Heterogenität der Unternehmensgemeinschaft im engeren Sinne angesprochen, die man im amerikanischen Kontext als „Manufacturing Community“ bezeichnet. Darüber hinaus ist wachsende Heterogenität innerhalb der „Stakeholder Community“ zu beobachten, insofern als diese erweiterte Unternehmensgemeinschaft ja auch die „Shareholder“ umfasst und die Streuung des Aktienbesitzes der Unternehmen der allgemeinen Tendenz nach zunimmt (vgl. Höpner 2003; Münch/ Guenther 2005). Demzufolge wird die Inklusion in die Unternehmensgemeinschaft allgemeiner und abstrakter. Hinzu kommt schließlich drittens: In der formal-rationalisierten Expertenorganisation wird Zugehörigkeit zur Organisation primär über die formale Mitgliedschaft definiert, darüber hinaus auch über konkrete Zuständigkeiten (vgl. Luhmann 1971/1994). Hinzu kommt eine relativ starke Inklusion innerhalb der nach Statusgruppen differenzierten organischen Solidargemeinschaft. Kennzeichnend für die flexible Netzwerkorganisation ist im Gegensatz dazu, dass die formale Mitgliedschaft durchaus ebenfalls existiert, dies aber weniger stark betont wird, die Organisation somit im sozialen Sinn durchlässiger ist, was sich erneut in höherer Personalfluktuation niederschlägt. Vor allem ist für die flexible Netzwerkorganisation kennzeichnend, dass sie sich selbst als Leistungsgemeinschaft, nicht als organische Solidargemeinschaft, definiert. Soziale Inklusion wird schwächer und abstrakter. Anstelle der

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Wohlfahrts- und Fürsorgefunktion des Unternehmens wird stärker die Leistung der Akteure für das Unternehmen als wichtig erachtet.

2.3.2 Strukturelle Differenzierung und Performanzorientierung im Bayer-Konzern Betrachtet man die Historie des Bayer-Konzerns ausgehend von seiner Gründung im Jahr 1863 in Wuppertal-Elberfeld, von der die Zeit als integraler Bestandteil der IG Farben („IG Farbenindustrie AG“) seit 1925 bis nach dem zweiten Weltkrieg, insbesondere aber seit der zweiten Bayer-Gründung als „Farbenfabriken Bayer Aktiengesellschaft“ im Jahr 1951, wird deutlich, dass Bayer seinem eigenen Selbstverständnis nach Erfinder-Unternehmen mit sozialer Verantwortung und ausgeprägtem Sozialprogramm ist. Bedingt durch die mehr als 140jährige Unternehmenshistorie dominiert im Bayer-Konzern traditionell die gemeinsam geteilte Vorstellung der Zusammengehörigkeit in der Bayer-Familie, doch bricht diese Vorstellung im Zuge des Strukturwandels auf.58 In den Betrieben und Produktionsstandorten ist der soziale Aspekt – zumindest als Teilkultur der Bayer-Kultur – bis zur Gegenwart erhalten geblieben. Das traditionale Bayer-Bild entspricht dem Ideal einer starken Gemeinschaft mit dem Leitgedanken der sozialen Verantwortung, der Umsetzung in einem hochentwickelten Sozialprogramm findet. Die Beschäftigten wissen sich im Schutz der Bayer-Familie und brauchen sich deshalb nicht vor den Risiken von Arbeitslosigkeit, Alter und Krankheit zu fürchten. Im Licht dieser Bayer-Tradition muss aus der Perspektive der Mitglieder mit langer Unternehmenszugehörigkeit der sich abzeichnende und an der Konzernspitze bereits vollzogene Strukturwandel von der organischen, nach Statusgruppen gegliederten Solidargemeinschaft zu einer Leistungsgemeinschaft mit Orientierung an Wettbewerb und Networking drastisch erscheinen. Während man davon sprechen kann, dass Bayer an der Konzernspitze eine Leistungsgemeinschaft erfolgreich etabliert hat, muss man in Bezug auf die Konzernbasis erkennen, dass die Beschäftigten in den Betrieben und Produktionsstandorten bedingt durch das Tempo des von der Konzernspitze ausgehenden Strukturwandels erst mit einer Verzögerung von mehreren Jahren werden folgen können, sodass temporär die üblichen, durch Strukturwandel bedingten Spannungen und Konflikte auftreten. Ausgehend von seiner früheren Konzernbetriebsverfassung als integriertes chemisch-pharmazeutisches Unternehmen ist Bayer durch eine organische, fein nach Statusgruppen differenzierte Unternehmensgemeinschaft bestimmt – und zwar bis heute. Der durch die Interview58 Bereits um das Jahr 1905 führte Carl Duisberg, der Bayer als Patriarch mit sozialem Programm führte, für die damalige Zeit sozial verträgliche Arbeitszeitregelungen ein und gründete eine Reihe von Wohlfahrtseinrichtungen wie den Konsumverein für Einkaufsmöglichkeiten (1985), die Bücherei (1902), ein Wöchnerinnenheim und eine Haushaltsschule sowie einen Kindergarten. Besonders wichtig erschienen Carl Duisberg die Wohnverhältnisse der Arbeiterfamilien. Bis zum Jahr 1913 versorgte Bayer ein Fünftel der Belegschaft am Standort Leverkusen mit Werkswohnungen. Bayer erhöhte den Tageslohn zwischen 1875 und 1907 von 26,5 auf 40,2 Pfennige. Um zu gewährleisten, dass das Verhältnis von Löhnen und Preisen konstant blieb, beauftragte Bayer 50 ausgewählte Familien mit einer detaillierten Haushaltsführung. Die Anzahl der Urlaubstage, auf die die Mitarbeiter Anspruch hatten, stieg mit der Dauer der Betriebszugehörigkeit alle fünf Jahre der Anspruch auf bezahlten Urlaub um einen Tag. Außerdem wurde den Mitarbeiter die Möglichkeit gewährleistet, während der Erntezeit bis zu sechs Wochen unbezahlten Urlaub zu nehmen (vgl. Verg 1986: 166 f.).

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partner selbst verwendete Begriff der Unternehmensfamilie deutet an, dass das zuvor beschriebene Leitbild der organischen, vertikal nach Statusgruppen gegliederten Unternehmensgemeinschaft in den Köpfen der Menschen präsent ist. Dass Bayer bis heute Elemente einer organischen, nach Statusgruppen differenzierten Solidargemeinschaft – der „Unternehmensfamilie“ – hat, zeigt sich nicht nur an der hohen Beschäftigungsstabilität, die stark wirksame Solidaritätsbeziehungen entstehen lässt, sondern auch die Zusammensetzung der Belegschaft nach Fachrichtungen, die relativ homogene Milieus entstehen lässt. Die Vielzahl von Beschäftigten mit mehr als 25 oder 40 Dienstjahren bis hin zum goldenen Dienstjubiläum dokumentiert eine hohe Beschäftigungsstabilität, nicht nur in den deutschen Produktionsstandorten, sondern auch in den ausländischen Produktionsstandorten, namentlich in den Vereinigten Staaten, wo die Beschäftigungsstabilität der Bayer-Belegschaften für Us-amerikanische Verhältnisse außergewöhnlich hoch ist. Beispielsweise berichtet ein Anlagenkonstrukteur davon, dass er sehr häufig in den Betrieben, die er besucht, Schilder antrifft, die auf Dienstjubiläen der Mitarbeiter bei Bayer aufmerksam machen (vgl. Interview III). Ein Betriebsingenieur mit Herkunft in den Vereinigten Staaten hebt das außergewöhnlich stark entwickelte Gefühl von Zusammengehörigkeit und Solidarität auch bei der Us-amerikanischen Bayer-Landesgesellschaft Bayer Corp. hervor, das er bei anderen Unternehmen in den Vereinigten Staaten nicht angetroffen hat. Er selbst hatte zum Zeitpunkt des Interviews bereits 16 Jahre Unternehmenszugehörigkeit bei Bayer, hatte also den Großteil seines Berufslebens bei Bayer in den Vereinigten Staaten und Deutschland verbracht (vgl. Interview IV). Nichtsdestotrotz ist der Bedeutungswandel des Begriffs„Unternehmensgemeinschaft“ für die Menschen, die jahrzehntelang an einer Produktionsanlage am Standort Leverkusen gearbeitet haben, drastisch. Die Arbeit, die sie verrichten, ist nach wie vor dieselbe, aber das soziale Arrangement, in der sie diese Arbeit tun, hat sich erheblich verändert. Die Internationalisierung, Differenzierung und dynamische Entwicklung des Marktumfelds ist dem Arbeitsumfeld und der Tätigkeit selbst nicht anzumerken. Entsprechend groß ist die Verunsicherung der Beschäftigten an der Produktionsanlage. Aus Sicht eines Produktionsarbeiters vor mehr als 30 Jahren war es üblich, vom Unternehmen neben Arbeitsplatzsicherheit, Krankheits- und Altersvorsorge auch zu erwarten, dass das Unternehmen dem Einzelnen mitteilt, wie er sich weiterqualifizieren soll, ihm eine Beschäftigung oder Alterssicherung vermittelt, falls seine Beschäftigung nicht aufrecht erhalten werden kann. Daneben hat das Unternehmen Sportanlagen, Bibliotheken bereitgestellt und in jedem Jahr zu Weihnachten einen Christstollen an alle verteilt. Heute kann das Unternehmen nicht einmal mehr dauerhafte Beschäftigungssicherheit gewähren. Der Aufbau eines eigenen Vermögens sowie die Gesundheits- und Altersvorsorge liegen nicht mehr ganz in den Händen von Bayer, sondern erfordern Aktivität und Beteiligung von Seiten des Einzelnen. Das Unternehmen erwartet von seinen Beschäftigten, dass sie selbständig ihren Weiterqualifizierungsbedarf erkennenund entsprechende Weiterbildungsmaßnahmen wahrnehmen. Wenn Sportanlagen auf dem Betriebsgelände betrieben werden – z.B. ganzjährig beheizte Freibäder –muss Bayer nicht länger der Betreiber dieser Sportanlagen sein. Der Weihnachtsstollen wird nicht mehr an alle Mitarbeiter an den Produktionsstandorten verschenkt, sondern es gibt ihn zu einem bestimmten Preis zu kaufen. Dies führte zu aufgeregten Diskussionen um das soziale Commitment des Unternehmens, wie ein Interviewpartner mit 129

Verantwortung für den Tarifbereich berichtete (vgl. Interview IIX). In der Gegenwart hat das Wort „Unternehmensgemeinschaft“ eine andere Bedeutung erhalten, nämlich die der Leistungsgemeinschaft. Im Vordergrund steht die gemeinsame Wertschöpfung und die Frage, was jeder Einzelne dazu beisteuern kann, der eigene Beitrag für den Markterfolg des Unternehmens und für die Reputation des Unternehmens auf den Aktienmärkten sowie für das Image in der Öffentlichkeit. Jeder Beschäftigte ist aufgefordert, im Rahmen seiner Möglichkeiten dazu beizutragen, fasst der Experte für den Tarifbereich die Vorstellungen des Unternehmens die Sozialintegration betreffend zusammen (vgl. Interview IIX). Bezüglich der Zusammensetzung der Bayer-Belegschaften nach Fachrichtungen ist zu sagen, dass Bayer bis in die 1960er Jahre strukturbedingt durch den damaligen Arbeitskräftemangel viele Berufswechsler in seinen Betrieben und Produktionsstandorten eingestellt hat, aber während der 1990er Jahre und bis heute im gewerblichen Bereich nur noch Fachkräfte – Chemikannten, Mechaniker, Schlosser – gefolgt von Kaufleuten beschäftigt. Angelernte Arbeitskräfte haben praktisch keine Chance auf Beschäftigung bei Bayer mehr. Auch im Bereich der akademischen Berufe ist die fachliche Expertise unverzichtbar. Nach wie vor wirkt sich der formalen Bildungsabschlüsse ganz erheblich auf den Karriereverlauf aus, wenngleich der Aspekt der formalen Berufsqualifikation weniger stark betont wird als in der Zeit, als Bayer integriertes, chemisch-pharmazeutisches Unternehmen war. Obgleich Bayer sich den Aussagen der Interviewpartner zufolge von dem Modell der formal-rationalisierten Expertenorganisation verabschiedet hat und stattdessen das Modell der flexiblen Netzwerkorganisation anstrebt, haben die formalen Bildungsqualifikationen im Hinblick auf Karrierechancen nicht an Bedeutung verloren, sondern sind lediglich in den Hintergrund gerückt. Betrachtet man Beschäftigung bei Bayer rein quantitativ, dominieren bis heute naturwissenschaftlich-technischen Professionen, auch nicht die kaufmännischen Berufe oder die formalen Disziplinen wie Mathematik und Informatik. Die drei höchsten Führungskreisen des Bayer-Konzerns sind zu zwei Dritteln mit Fachleuten aus den naturwissenschaftlichen und technischen Disziplinen besetzt, nur zu einem Drittel mit Experten aus den anderen Disziplinen, z.B. mit Kaufleuten oder mit Experten aus den formalen Disziplinen. Auf einem anderen Blatt steht allerdings der wachsende Einfluss, den Experten aus den letzteren Disziplinen auf Entscheidungen nehmen. (vgl. Interview VII; 7:12; Interview VI; 6:14). Die Bayer-AG, die deutsche Landesgesellschaft des Bayer-Konzerns, stellt jährlich ca. 1200 Hochschulabsolventen mit Diplom (oder einem dem Diplom vergleichbarem Zertifikat) oder Promotion aus den Natur- und Ingenieurwissenschaften ein. Den Hauptanteil der Neueinstellungen stellen Chemiker und Ingenieure, gefolgt von Biologen und Physikern. Darüber hinaus bildet Bayer jährlich mehr als 800 Auszubildende an seinen Produktionsstandorten in Deutschland aus, wobei nach Abschluss der Berufsbildung Arbeitsplätze für etwa 300 zur Verfügung stehen (vgl. Interview IIX). Die genannten Indikatoren verleihen der These Nachdruck, dass das Paradigma der organischen, nach Statusgruppen gegliederten Solidargemeinschaft („Unternehmensfamilie“) bis heute wirksam ist, dass Bildungstitel zur Erlangung und Absicherung eines sozialen Status ihre Bedeutung keineswegs eingebüßt, sondern sogar an Bedeutung gewonnen haben, weil die Tendenz zu beruflicher Mehrfachqualifikation geht 130

(vgl. Hillmert/Jacob 2003). Leistungsgemeinschaft ist nicht mit einem Bedeutungsverlustder Fachkompetenz gleichzusetzen: Da sich Bayer zunehmend für die wissensintensiven Produkte und Themenfelder interessiert, gewinnt Bildung als Differenzierungsmerkmal bei Bayer sogar stärker an Bedeutung. Jedoch wird dies für das öffentliche Image nicht extra hervorgehoben. Die genannten Indikatoren lassen die These zu, dass Bayer bis zur Gegenwart Elemente der organischen, nach Statusgruppen differenzierten Solidargemeinschaft beibehalten hat. Übereinstimmend berichten die Interviewpartner jedoch auch davon, dass sich die organische Solidargemeinschaft bei Bayer seit Mitte der 1990er Jahre, also vor der Restrukturierung vom integrierten chemisch-pharmazeutischen Unternehmen zur strategischen Holding, deutlich abgeschwächt hat. An ihre Stelle tritt sukzessive eine vertikal und horizontal differenzierte Leistungsgemeinschaft, in der Wettbewerb und Networking zur ganz normalen Arbeitswirklichkeit gehören. Seit dem Jahr 2002 mit Etablierung der Konzernstruktur der strategischen Holding hat Bayer den Strukturwandel von der organischen, nach Statusgruppen differenzierten Solidargemeinschaft zur Leistungsgemeinschaft weiter vorangetrieben. Damit hat die Idee der Leistungsorganisation weitere Verbreitung im Bayer-Konzern gefunden. Das bedeutet, dass Mitgliedschaft, Berufsbildungsabschluss, akademische Titel und sozialer Status an Wert und Stabilität verloren haben, während Performanz im Job als statusdifferenzierendes Strukturmerkmal wichtiger wird (Interview VI). Gehört man zu einer Geschäftseinheit, deren Arbeitsleistung und – noch besser – Marktperformanz sehr gut ist und die als Leistungsträger des Bayer-Konzerns gilt, dann wird man als Statusgewinner aus dem konzerninternen Wettbewerb hervorgehen. Im umgekehrten Fall wird man Statusverlierer sein und ein Stück weit an den Rand gedrängt werden bis hin zur möglichen Ausgliederung oder Schließung der betreffenden Geschäftseinheit. Während Performanzorientierung und konzerninterner Leistungswettbewerb Teil der selbstverständlichen Arbeitswirklichkeit der Führungskräfte des Bayer-Konzerns ab einer gewissen Ebene ist, demnach ein auf den Führungsprinzipien beruhendes 360-Grad-Feedback, in dem Führungskräfte Rückmeldungen über ihr Führungsverhalten z.B. von Mitarbeitern, Kollegen, Vorgesetzten, Kunden erhalten, mit Bezug auf die „Werte und Führungsprinzipien“ nur folgerichtig erscheint, zumal die berufliche Sozialisation der Entscheidungsträger in den höchsten drei Führungskreisen mit Leistungsprinzipien mindestens kompatibel sein wird, sind diese Kriterien für die breite Masse der Mitarbeiter eine Herausforderung. Dementsprechend sind sie auch dazu geeignet, Ängste zu verursachen: z.B. die Angst davor, Statusverlierer zu sein, die Angst davor, nicht mehr Teil der Bayer-Unternehmensgemeinschaft zu sein. Deshalb ist es im Tarifbereich schwieriger als in den obersten drei Führungskreisen, Performanzorientierung zum selbstverständlichen Teil der Arbeitswirklichkeit zu machen, Wettbewerb und Networking als Organisationsprinzipien für die Sozialbeziehungen zu etablieren, unabhängig davon, ob für den Bayer-Konzern notwendig und sinnvoll ist, auch in der Breite der Beschäftigten eine stärkere Performanzorientierung zu haben. Bisher gilt für die Beschäftigten der Bayer-AG (Deutschland) der Tarifvertrag der chemischen Industrie. Auch auf dieser Ebene hat trotz aller Persistenz der Entgeltgruppen mit der Einführung eines Entgeltkorridors, einer Tariföffnungsklausel, welche nach Ertragslage die Möglichkeit einer befristeten Senkung des 131

Entgelts um bis zu 10 Prozent unter den Regelsatz ermöglicht. Daneben ermöglicht der geltende Tarifvertrag der chemischen Industrie die Beteiligung der Beschäftigten am Unternehmenserfolg (IG BCE 2002: 46-54). Schließlich hat Bayer durch Ausgliederung der nicht zum operativen Geschäft gehörenden Organisationseinheiten in seinen Chemieparks die Beschäftigten seiner Servicebereiche aus dem Chemietarif herausgenommen, sodass ihre Arbeitsleistungen nicht in Angleichung an die branchenübliche Bezahlung vergütet werden (vgl. Interview IIX). Im Managementbereich wird eine ertrags- und leistungsabhängige Bezahlung auf Basis performanzorientierter Bonussysteme schon seit längerem praktiziert. Ich interpretiere die Änderungen des Entlohnungsverfahrens als einen wichtigen Schritt von Inklusion nach Statuszugehörigkeit hin zu Inklusion nach Performanz. Dass der Strukturwandel der Sozialintegration an der Konzernspitze auch im Hinblick auf das Networking deutlich weiter vorangekommen ist als an der Konzernbasis, ist auch der Errichtung der fachgesteuerten Communities zu verdanken, also der Etablierung von Gremienstrukturen jenseits der Grenzen der am operativen Geschäft beteiligten Teilkonzerne und der Service-Gesellschaften. Sie tragen zur Etablierung neuer Verbindungen quer zu Funktionsbereichen und Produktgruppen bei, sie sind Nachwuchsführungskräften dabei behilflich, über ihre Sozialbeziehungen am jeweiligen Standort hinaus neue Kontakte aufzubauen, sich über die Möglichkeiten vor Ort hinaus weiter zu entwickeln. Aus Sicht des Bayer-Konzerns sind sie nicht nur Gremienstrukturen, die temporär und themenbezogen gebildet werden, sondern sie tragen auch in erheblichem Umfang zur strukturellen Differenzierung, also zur Ausbildung eines komplexen Geflechts von vertikalen und horizontalen Netzwerken und zur Ausbildung von sozialem Kapital, sowohl auf der Seite des Bayer-Konzerns als auch auf der Seite der Mitarbeiter. Ausdrücklich sind die Communities auch mit der Zielsetzung geschaffen worden, Führungskräfte zu identifizieren, ihre Potenziale einzuschätzen, systematisch zu entwickeln und ihre Karrieren zu gestalten (Interview VI; 6:6; 6:11). So betrachtet dienen die Community-Counsils wesentlich auch dazu, soziales und kulturelles Kapital für bestimmte Fragestellungen zu aktivieren, Nachwuchsführungskräfte mit ausgeprägtem sozialen und kulturellen Kapital zu entdecken, diese Kapitalien zu entwickeln und damit die Nachwuchsführungskräfte nicht nur auf zukünftige Aufgaben vorzubereiten, sondern sie auch in die entsprechenden Posten zu vermitteln (vgl. Bourdieu 1992).

2.3.3 Sozialintegration in den Bayer-Betrieben und Produktionstandorten (inzwischen Chemieparks) Obgleich der Bayer-Konzern aufgrund seines Strukturwandels vom integrierten chemischpharmazeutischen Unternehmen zur strategischen Managementholding einer der „first mover“ in Richtung der flexiblen Netzwerkorganisation ist und sein Strukturwandel von Leistungsorganisation, Unternehmenssteuerung und Führung an der Konzernspitze auch so wahrgenommen wird, ist Bayer in den Betrieben und an den Produktionsstandorten in der Unternehmenstradition verhaftet. Dort ist die Sozialintegration durch das Leitbild der Unternehmensfamilie geprägt. Zwar ist Bayer niemals eine Unternehmensfamilie vergleichbar dem japanischen 132

Clan-Modell gewesen, in welchem sozialer Status vor allem nach dem Senioritätsprinzip zugeschrieben und nicht erworben wird, weil es feste Über- und Unterordnungsbeziehungen zwischen ranghöheren und rangniedrigeren Organisationsmitgliedern nach dem Senioritätsprinzip sowie von Kooperations- und Konkurrenzbeziehungen zwischen gleichrangigen Personen gibt (Deutschmann 1987; 1989; Nakane 1985; Behr 1995). Wettbewerb und Networking werden top-down ausgehend von der Konzernspitze in die Bayer-Betriebe und Produktionsstandorte hinein getragen. Es ist zu erwarten, dass es mehrere Jahre dauert, bis sich die Arbeitswirklichkeit, Interaktions- und Solidaritätsbeziehungen in den Betrieben und Produktionsstandorten den veränderten Verhältnissen angepasst haben. Gleichzeitig ist es unerlässlich, dass der Strukturwandel an der Konzernspitze auch in den Produktionsstandorten implementiert wird, denn andernfalls kommt es zum Bruch zwischen Konzernspitze und Konzernbasis. Dies hätte zur Konsequenz, dass der Bayer-Konzern aus Perspektive der Menschen in den Produktionsstandorten Leverkusen, Dormagen, Krefeld-Uerdingen, Brunsbüttel und Bitterfeld vorübergehend sehr weit entfernt erscheint, strategische Entscheidungen des Konzernvorstands schwer nachvollziehbar erscheinen und es deshalb zu erheblichen Friktionen kommt, welche die Leistungsfähigkeit der Teilkonzerne und Servicegesellschaften beeinträchtigen. Als ich den Standort Dormagen des Bayer-Konzerns Ende des Jahres 2000 und Anfang des Jahres 2001 erstmals besucht habe, erschien die traditionelle Bayer-Welt noch sehr präsent, insofern als der Markt verbreitet für eine abstrakte Kategorie gehalten wurde. Aus Sicht der Menschen erschien der Marktmechanismus als ein nicht zur Unternehmensorganisation gehöriger Mechanismus, mit anderen Worten: als Bedrohung. Konkret richteten die Menschen die Erwartung an den Bayer-Konzern, sie vor dem Marktmechanismus und seinen sozialen Auswirkungen zu schützen. Es dominierte die Vorstellung, dass die Betriebe und Produktionsstandorte in ihrem Fortbestand und in ihrer Zugehörigkeit zu Bayer gesichert sein sollten, unabhängig davon, ob sie profitabel oder unprofitabel wirtschafteten, worin ihr Leistungsbeitrag für den Bayer-Konzern bestand. Mit der Transformation vom integrierten chemischpharmazeutischen Unternehmen sind alle Organisationseinheiten, die nicht am operativen Geschäft beteiligt sind und lediglich Dienstleistungsfunktionen erbringen, in die Service-GmbHs Bayer Business Services, Bayer Technology Services und Bayer Industry Services GmbHs unter dem Dach der Holding überführt worden. Beispielsweise ist ein Service-Betrieb am Standort Dormagen Teil der Bayer Technology Services und gehört zum Chemiepark Dormagen. Die Umwandlung der Bayer Produktionsstandorte zu Chemieparks, die ja auch Ausgliederungen und gegebenenfalls Schließungen beinhaltet, erfüllt die Funktion der Standortsicherung und ist ein wesentlicher Baustein des Strukturwandels bei Bayer. In der Gegenwart ist an den Produktionsstandorten nicht nur Bayer vertreten, sondern viele kleinere Firmen, die jeweils einen funktionalen Beitrag für den Standort erbringen, aber über Marktbeziehungen miteinander verbunden sind. Zeitlich ging die Restrukturierung der Produktionsstandorte zu

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Chemieparks der Neuaufstellung des Bayer-Konzerns mit der Umwandlung zur strategischen Managementholding ein Stück voraus. 59 Mit der Einführung von mehr Wettbewerb als internem Regulierungsmechanismus ist das Zugehörigkeitsgefühl der Menschen zum Bayer-Konzern zurückgegangen. In der Anfangsphase der Restrukturierungs- und Kosteneinsparungsmaßnahmen war dieser Effekt besonders deutlich spürbar, weil Wettbewerb ungewohnt war und deshalb mit sozialer Kälte assoziiert wurde. So hebt eine Betriebsrätin im Werk Dormagen hervor: „Wir haben früher immer gesagt: Wir bei Bayer. Dieses Wir-Gefühl ist in den letzten Jahren sehr stark verloren gegangen. Zum einen verursacht durch die Arbeitsdichte. Alle Bereiche haben Personal abgebaut. Es gab dieses Wir-Gefühl nicht mehr. Man konnte gar nicht mehr irgendein persönliches Gespräch mal pflegen. Wir haben einiges an sozialen Einrichtungen.“ (Interview 5:3, im Jahr 2000)

Ein Ausbildungsexperte im Werk Dormagen mit mehr als 30 Jahren Betriebszugehörigkeit berichtet zurückblickend, dass als er in das Werk Bayer Dormagen kam, das Gefühl der Zugehörigkeit zu den Bayer-Farbwerken dominierte. Seine Nachbarn, die nicht bei Bayer beschäftigt waren, sagten: „Ach so, Sie sind bei der IG (Farben).“ (Interview 2:7, aus dem Jahr 2000)

Den Rückgang des Wir-Gefühls in der Unternehmensgemeinschaft im Zusammenhang mit der Restrukturierung des Unternehmens beurteilt er jedoch sehr differenziert. Er beurteilt ihn nicht einseitig als Verschlechterung: „Wenn jemand fragte: Wo bist Du beschäftigt? Dann sagte der: Ich bin beim Bayer. Nicht bei der Bayer AG. Das verschwindet so allmählich. Da gibt es Ängste, die die Leute haben, ganz reale Ängste, zum Beispiel vor Ausgliederungen. Nun muss eine Ausgliederung nicht unbedingt eine Schlechterstellung sein, es kann ja auch eine Verbesserung sein.“ (Interview 2:8, im Jahr 2000)

Drastischer formuliert den Rückgang des Wir-Gefühls um das Jahr 2000 ein ControllingExperte mit etwas mehr als zwölf Jahren Zugehörigkeit in der Konzernzentrale Leverkusen, der dem Vorstand des Bayer-Konzerns zuarbeitet und aktiv in die von der Konzernspitze ausgehenden Restrukturierungs- und Kosteneinsparungsmaßnahmen involviert ist. Befragt nach Sozialintegration im Unternehmensagt er:

59 Generell sind Standortsicherungsvereinbarungen im organisationalen Feld der Deutschland-AG keine Seltenheit.Vielmehr ist seit Beginn der 1990er Jahre eine rasche Zunahme der Standortsicherungsvereinbarungen zu verzeichnen, flankiert durch die Tarifverträge, die Rahmenabkommen für ‚maßgeschneiderte’ Vereinbarungen zwischen den Tarifparteien enthalten. Etwa in der Hälfte der 120 größten deutschen Unternehmen sind Standortsicherungsvereinbarungen in Kraft getreten (Höpner 2005: 32). Rehder (2003) unterscheidet vier Typen von Standortsicherungsvereinbarungen: erstens lohnsenkende Investitionsvereinbarungen, bei denen Einkommenszugeständnisse gegen Investitionszusagen getauscht werden; zweitens lohnsenkende Vereinbarungen, bei denen Beschäftigungsgarantien gewährt werden, drittens produktivitätsfördernde Investitionsvereinbarungen, bei denen die Beschäftigten Zugeständnisse im Hinblick auf ihre Arbeitsbedingungen machen – z.B. eine Zusage über teils unbezahlte Mehrarbeit geben, Arbeitszeitflexibilisierung und leistungsorientierte Vergütung akzeptieren, viertens arbeitsumverteilende Beschäftigungsmaßnahmen. Mit der Überführung von Produktionsstandorten in Chemieparks hat Bayer seine Zielsetzung erreicht, dass nicht mehr alle Beschäftigten auf dem Bayer-Betriebsgelände auch nach dem mit der IG BCE ausgehandelten Chemie-Tarif bezahlt werden, insbesondere wenn ihre Arbeitsinhalte nicht chemiespezfisch sind.

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„Es gibt sie nicht. Ich denke mir, es gab sie früher mal, aber es gibt sie heute nicht mehr. Bevor ich zum Unternehmen kam, war bei Bayer noch der Familiengedanke sehr stark – ich denke, es gibt sie heutzutage einfach nicht mehr. Es gibt durchaus noch in einzelnen Einheiten, dass man versucht, ein gutes Team zu sein, aber eine Bindung an das Unternehmen, eine Bindung über die soziale Integration, die, glaube ich, gibt es nicht. Es gibt nur eine ganz simple Bindung.“ (Interview 1:4, im Jahr 2000)

Aber gerade das, was der Interviewpartner als „simple Bindung“ bezeichnet, lässt die Schlussfolgerung zu, dass die Sozialintegration in den Betrieben und Produktionsstandorten bei Bayer sehr wohl im Umbruch, nicht jedoch in Auflösung begriffen ist. Keinesfalls soll damit abgestritten werden, dass die Beschäftigten mit dem Wandel nicht auch Ängste um ihre Zukunft verbinden. Aber anstelle von Auflösung ist eher von einer Abschwächung und Abstraktion des Kollektivbewussteins zu sprechen. Ich deute dies als Wandel der Sozialintegration in der beabsichtigten Richtung einer Leistungssolidarität anstelle der historisch gewachsenen organischen Solidarität innerhalb einer nach Statusgruppen differenzierten BayerUnternehmensgemeinschaft. Für Abschwächung und Abstraktion der Sozialintegration spricht auch, dass die lokale Bindung in das städtische Leben an den Bayer-Standorten zurückgegangen ist, so z.B. in Dormagen. War der Bayer-Konzern im städtischen Leben 30 Jahre zuvor allgegenwärtig, existieren zwar immer noch diverse Vereinigungen vom Kegelklub über den Schachklub bis hin zum Schützenverein, jedoch kann man nicht davon sprechen, dass Bayer im Stadtleben seiner Produktionsstandorte dieselbe Bedeutung hat. Für ein Unternehmen, das sich selbst als Leistungsgemeinschaft definiert, kann dies durchaus als Entwicklung im positiven Sinn gedeutet werden. Entsprechend seinem Selbstverständnis als Leistungsgemeinschaft hat sich Bayer ein neues Leitbild gegeben, das eine ausgeprägte Leistungsorientierung erkennen lässt und hohe Anforderungen nicht nur an die Führungskompetenz, sondern vor allem an die Bindungsfähigkeit stellt. Damit meine ich, dass das Bayer-Leitbild „Werte und Führungsprinzipien – unsere Werte leben“ aus dem Jahr 2004 ein hohes Niveau der Individualisierung einerseits und Kollektivbindung andererseits als Teil der Persönlichkeitsentwicklung voraussetzt, das ein Commitment zum ganzen Unternehmen und seinen Zielen erzeugt, mit dem das Commitment zum unmittelbaren Nahbereich ein Stück weit relativiert wird – beispielsweise wenn Opfer zu bringen sind. Die in dem neuen Unternehmensleitbild niedergelegten Werte sind aus der Perspektive der Konzernführung – mit gutem Grund – formuliert worden, erscheinen aber aus Perspektive der Beschäftigten in den Betrieben und Produktionsstandorten sehr weit entfernt. Sie müssen also erst Umsetzung in die Arbeitswirklichkeit finden. Sicherlich wird sich jeder sich leicht und bereitwillig zu Werten wie Erfolgsorientierung, Engagement, Integrität, Respekt gegenüber Mensch und Natur und Nachhaltigkeit bekennen, solange diese Werte allgemein und abstraktbleiben. In der konkreten Anwendung auf den Handlungskontext im Bayer-Konzern und bei Berücksichtigung der dynamischen Entwicklung der Märkte, auf denen sich Bayer bewegt stellen diese Werte jedoch hohe Anforderungen an Führungskräfte und diejenigen, die nachrücken wollen. Als Komponenten des neuen Bayer-Leitbilds sind sie mit der Zielsetzung geschaffen worden, dass die Akteure gezwungen sind, neue Wege zu gehen, Abstand von etablierten Gewohnheiten und liebgewonnenen Besitzständen zu nehmen, – jen135

seits von der fachlichen Qualifikation, die ebenfalls gegeben sein muss. Unter dem Stichwort „Kundenbedürfnisse voranstellen“ ist man gefordert, sich den Kunden nicht länger als Abstraktum vorzustellen, sondern sich vielmehr ein konkretes, differenziertes Bild vom Kunden zu machen, erkennen, die Bedürfnisse des Kunden in den Mittelpunkt der Arbeits- und Geschäftsprozesse stellen, Verlässlichkeit zu schaffen und Vertrauen aufzubauen (Bayer AG „Werte und Führungsprinzipien – Unsere Werte leben“, 2004; S. 7). Mit dem Stichwort „Ergebnisse liefern“ ist der Imperativ verknüpft, anspruchsvolle, aber realistische Ziele zu formulieren, diese mit Initiative und Entschlossenheit zu verfolgen, den Fortgang der Umsetzung zu verfolgen, Zwischenergebnisse aus unterschiedlichen Perspektiven zu bewerten, Hindernisse im Voraus zu erkennen und rechtzeitig zu handeln. Vor allem soll ein Entscheidungsträger in der Lage sein zu erkennen, wann der Zeitpunkt für eine Entscheidung gekommen ist, diese Entscheidung treffen und sie konsequent – d.h. auch gegen Widerstände – umsetzen (ebd.: 8). Mit dem Stichwort „Komplexität bewältigen“ ist die Aufforderung verknüpft, sich ein systemisches Denken anzueignen, mit dessen Hilfe man Produktions-, Arbeits- und Geschäftsprozesse in ihrer Komplexität überblicken, verstehen und zum Vorteil des Unternehmens gestalten kann. Dazu gehört es beispielsweise, Aktivitäten, die keinen Mehrwert schaffen, zu identifizieren und abzuschaffen. Anspruchsvoll ist ebenfalls die Erwartung, dass dem Einzelnen den Ausgleich zwischen dem Wert der Kontrolle einerseits und dem Erfordernis nach Schnelligkeit andererseits gelingt. Darüber hinaus wird erwartet, dass man in der Lage ist, Verantwortung zu delegieren, um Entscheidungen mit Bezug zu den Kundenerwartungen zu gestalten. Zusammen ergeben diese Maßstäbe eine sehr hohe Leistungsanforderung an die Führungskraft, weil sie bezogen auf eine konkrete Aufgabenstellung durchaus miteinander in Konflikt geraten können. Unter dem Stichwort „strategisch denken“ sind charakteristische Verhaltensweisen aufgelistet, die besonders wichtig, aber ebenfalls durchaus anspruchsvoll sind. So wird erwartet, dass Führungskräfte die derzeitige Geschäftsstrategie in die betriebliche Praxis vor Ort umsetzen, dass sie ein klares Bekenntnis zum vom Unternehmen eingeschlagenen Kurs demonstrieren und zum Vertrauen der Mitarbeiter in diesen Kurs beitragen, dass sie externe Faktoren mit Relevanz für den Geschäftserfolg erkennen und berücksichtigen, bei konkreten operativen Entscheidungen die übergeordnete Wettbewerbsstrategie im Auge behalten, und schließlich, dass sie auf der Grundlage plausibler Annahmen bezüglich zukünftiger Entwicklungen handeln (ebd.: 9). Schließlich findet sich im Bayer-Leitbild ein Hinweis auf das 360-Grad-Feedback, das für eine Führungskraft im Corporate Center mit Expertise im Management- und Finanzbereich nicht neu ist, weil man davon ausgehen kann, dass sie im Zuge der beruflichen Sozialisation vielfach damit konfrontiert worden ist, aber für einen Fachexperten aus Natur- und Ingenieurwissenschaften und ohnehin für einen Meister auf dem Shop-Floor eine erhebliche Herausforderung darstellt: „Dieses auf den Führungsprinzipien beruhende Feedback-Instrument wird von Führungskräften genutzt, um von verschiedenen Seiten (z.B. Mitarbeitern, Kollegen, Vorgesetzten) Rückmeldung über das eigene Führungsverhalten zu erhalten und Verbesserungsmöglichkeiten zu identifizieren.“ (ebd.: 11)

Bezogen auf die Bayer-Welt der Betriebe und Produktionsstandorte stellen die genannten Werte und Führungsprinzipien eine sehr hohe Anforderung, wenn nicht sogar eine Überfor136

derung dar. Die Thematik der Leistungsbeurteilung durch Schichtmeister und Arbeitskollegen ist ein gutes Beispiel, das die Schwierigkeiten der Menschen illustriert, ihre Bindung an die Menschen im unmittelbaren Nah-Bereich zu relativieren und die Leistung ihrer Arbeitskollegen affektiv neutral zu beurteilen. Wie das nachstehende Zitat zeigt, haben manche Mitarbeiter erhebliche emotionale Schwierigkeiten mit dieser Aufgabe: „Früher hingen von Beurteilungen Leistungsstufen ab. Eine Leistungsstufe waren 25 Mark. Mehr als zwei oder drei konnte man nicht vergeben. 50 Mark heißt netto 25 Mark, der Vorgesetzte hat also das Nettoeinkommen seines Mitarbeiters um plus minus 25 Mark beeinflusst. Heute sind es Tausende. Gut, letztendlich ist der Personalverantwortliche Vorgesetzter, derjenige, der seine Unterschrift gibt. Der Betriebsleiter kennt ja seine Leute nicht, das heißt, er ist ja bis zur Schichtmeisterebene auf die angewiesen. Damit muss der Schichtarbeiter, der nachts mit den Kollegen Kaffeepause macht, über das Entgelt seiner Kollegen mitentscheiden. Wenn ich sage, die neuen Strukturen annehmen, also eigenständig auch planen, gleichzeitig aber von alten Strukturen Abschied nehmen, aber das machen die nicht.“ (Interview 2:6, im Jahr 2000)

Allerdings erscheint es plausibel, dass die Entwicklung einer allgemeineren und abstrakteren Bindung an das Unternehmen ein Lernprozess ist. die Regelmäßigkeit, mit der man Leistungen von Arbeitskollegen zu bewerten hat und das Bewusstsein, dass man damit eine zusätzliche Verantwortung übernimmt, die Persönlichkeitsentwicklung voranbringen kann trägt zu einer allgemeineren, abstrakteren Identifikation mit dem Unternehmen bei. Dies ist ganz im Sinn eines Strukturwandels der Sozialintegration bei Bayer zu verstehen, der von der positiven Solidarität eines stark ausgeprägten „Wir-Gefühls“ in der organischen, nach Statusgruppen gegliederten Solidargemeinschaft hin zu einer etwas abgeschwächten, abstrakteren Sozialintegration in der Leistungsgemeinschaft geht. So ist allgemein formuliert eine positive Entwicklung erkennbar: Sukzessive finden Wettbewerb und Networking Eingang in die betriebliche Alltagswirklichkeit. Trotzdem kann man nicht sagen, dass das Wettbewerbsprinzip nirgendwo Störungen und Reibungen verursacht. Das Wettbewerbsprinzip kann dort desintegrierende Wirkung entfalten, wo für Organisationseinheiten unterschiedliche, im Extremfall konfligierende Erfolgsmaßstäbe gelten, je nachdem, welchen Funktionsbeitrag die Einheiten für das Unternehmen zu erbringen haben. Sowohl von den am operativen Geschäft beteiligten Organisationseinheiten als auch von den Einheiten mit Servicefunktion können Profitabilität und Effizienz erwartet werden. Für die am operativen Geschäft beteiligten Einheiten besteht die Chance einer Vergrößerung des Aufgabengebiets und der Verantwortung (vgl. Interview II). Anders stellt sich die Situation bei den Servicebetrieben und Service-Gesellschaften dar. Für sie gilt ebenfalls das Erfolgsprinzip von Effizienz und Profitabilität, jedoch fehlt ihnen die Möglichkeit, Leistungen an externe Kunden zu verkaufen. Daher sind ihre Möglichkeiten eingeschränkt, die Produktionskapazität zu erhöhen, um am Wachstum des Bayer-Konzerns teilzuhaben oder zumindest auf gleich bleibendem Niveau zu halten, wenn das Wachstum gering bleibt. Hinzu kommt die strategische Option der am operativen Geschäft beteiligten Organisationseinheiten an den Bayer-Standorten, Serviceleistungen von anderswo zu zu beziehen, wenn dies mit besseren Konditionen verbunden ist (Interview I). Somit wird die Zugehörigkeit zu den am operativen Geschäft beteiligten Teilkonzernen zum statusdifferenzierenden Merkmal. Keinesfalls ist die Beschäfti137

gung in den Servicebereichen inhaltlich weniger anspruchsvoll ist oder beinhaltet weniger Verantwortung. Nicht selten erfordert sie sogar mehr Arbeit, umfasst größere Aufgabenfelder, fordert den Einzelnen sowohl im Hinblick auf professionelles Handeln als auch auf unternehmerische Verantwortung, allerdings nicht selten bei schlechterer Bezahlung und bei reduzierter sozialer Absicherung. Wenn sich größere Teile der leitenden akademischen Angestellten aus Chemie, Physik Ingenieurwesen, Medizin und Pharmazie, die eine wichtige Trägergruppierung der Bayer-Kultur darstellen, als Statusverlierer wahrnehmen, droht zumindest vorübergehend ein Bruch in der Unternehmensgemeinschaft mit der Konsequenz von erheblichen Auseinandersetzungen.

2.4 Unternehmenskultur: Flexibilität, Konkurrenz, praktische Relevanz und wohlverstandener Eigennutz. 2.4.1 Flexibilität, Konkurrenzorientierung und wohlverstandener Eigennutz als neue Orientierungen im Feld der „Deutschland AG“ und seiner Unternehmen Die formal-rationalisierte Expertenorganisation folgt einem Selbstverständnis, das zum einen durch Webers Bürokratiemodell geprägt ist, in zweiter Linie durch die Fachkulturen einiger dominierender Professionen aus dem naturwissenschaftlich-technischen Bereich. Ich habe den Begriff der formal-rationalisierten Expertenorganisation in Abgrenzung zum Begriff der flexiblen Netzwerkorganisation gewählt, um hervorzuheben, dass es zwei Komponenten gibt, die nicht notwendig miteinander harmonisieren müssen, sondern ganz im Gegenteil häufig miteinander in Konflikt geraten und zur Widersprüchlichkeit der Organisation beitragen. Auf der einen Seite steht die Fachkultur, auf der anderen Seite steht die formal-bürokratische Kultur. Die Organisationskultur der Unternehmen, die im organisationalen Feld der „Deutschland-AG“ historisch entstanden und gewachsen sind, steht im Spannungsfeld zwischen diesen beiden Komponenten. Die Widersprüche zwischen bürokratischer Kultur und Fachkultur müssen für die Organisation nicht unbedingt negativ in ihren Auswirkungen sein. Ausgehend von den kulturellen Widersprüchen erhält die Organisation immer wieder Impulse, die zu ihrer Entwicklung beitragen, weil dadurch neue Kommunikationen initiiert werden. Dass es die Dominanz einer Fachkultur gibt, zeigt sich anhand des Fallbeispiels Bayer ganz deutlich: Selbst innerhalb der naturwissenschaftlich-technischen Berufe, die eine deutliche Dominanz gegenüber den Kaufleuten und Juristen und erst recht gegenüber den sozial- und geisteswissenschaftlichen Berufen haben, hat die quantitative Dominanz der Chemiker Bestand, gefolgt von den Ingenieuren und Physikern. In der Produktion ergibt sich das Bild analog mit den Berufen des Chemikanten und des Schlossers. Die drei höchsten Führungskreise des Bayer-Konzerns sind zu zwei Dritteln mit Experten aus den naturwissenschaftlichen und technischen Professionen besetzt – nur zu einem Drittel mit Kaufleuten. Allerdings gehen die Möglichkeiten, Einfluss auf Entscheidungen zu nehmen, für die erste Gruppe zurück und nehmen für die zweite Gruppe zu. Dass es ebenfalls eine Dominanz der bürokratischen Kultur 138

gibt, zeigt sich aber in der relative Wichtigkeit der formalen Strukturen und in der Regelhaftigkeit organisationaler Abläufe innerhalb der formal-rationalisierten Expertenorganisation, also all derjenigen Vorgänge, die zu Entscheidungen führen und Entscheidungen betreffen. Ein Akteur ist dieser Logik zufolge nur dann und insoweit relevant für die Organisation, als er Mitglied ist oder sein Handeln von Relevanz für die Mitgliedschaft in der Organisation ist. Ein Ereignis gilt nach dieser Logik nur unter der Bedingung als relevant, dass es einen Bezug zu Entscheidungen als den für die Organisation konstitutiven Operationen aufweist. Das Prinzip der Schriftlichkeit und Aktenkundigkeit ist hier das wesentliche Medium, denn erst durch die Transformation in ein Dokument (Akten, E-Mails, Briefe etc.) wird ein Ereignis zum relevanten Ereignis (Luhmann 1971/ 1994: 35-38; 39-53; 2000: 39-79; 80-122; 123151). Sowohl die Fachkultur als auch die formal-bürokratische Kultur sind im kulturellen Muster Deutschlands verankert; sie sind im kulturellen Muster Deutschlands entstanden und historisch gewachsen (vgl. Münch 1986). Widersprüche und Konflikte zwischen den substanziellinhaltlichen Standards und den formal-bürokratischen Standards sind also angelegt. Auf der einen Seite befinden sich professionelle Standards, Gleichheits- und Gerechtigkeitsstandards, Sicherheits- und Umweltstandards des Unternehmens, auf der anderen Seite besteht die bürokratisch-monokratische Herrschaftsordnung. Trotzdem beanspruchen beide Komponenten, dass ihnen Rechnung getragen wird. Demzufolge werden Ereignisse sowohl in Relation zur Fachkultur als auch mit Bezug auf die formal-bürokratische Kultur beurteilt. Aus Sicht einer an Profitabilität und Effizienz ausgerichteten Organisation besteht die Herausforderung darin, beide Kultur-Komponenten so zueinander in Ergänzung zu bringen, dass sie einander nicht im Wege sind, sondern sich wechselseitig befruchten, sodass ihre Potenziale voll ausgeschöpft werden können. In seinem Buch „Organisation und Entscheidung“ betont Luhmann den grundsätzlich formalen Charakter der Organisation dahingehend, dass die Entscheidung die für Organisationen konstitutive Operation darstellt, mithilfe derer die Organisation ihre Grenze gegenüber der Umwelt produziert und reproduziert. Weiter stellt Luhmann die enorme Bedeutung des organisationalen Gedächtnisses heraus, welches sowohl das Erinnern als auch das Vergessen organisiert, bei Bedarf frühere Ereignisse reaktualisiert, den Sinnhorizont der Organisation definiert und das kognitive Repertoire zur Ereignisverarbeitung bereitstellt – sodass bei zukünftigen Entscheidungen immer Bezug auf gegenwärtige Entscheidungen gegeben sein muss, wie sie bei gegenwärtigen auf vergangene Entscheidungen rekurriert. Dabei ist erneut jede Entscheidung eine differenzerzeugende Operation, eröffnet also den Horizont für diverse Folgeentscheidungen (vgl. Luhmann 2000: 152-171). Entscheidungsprogramme haben auf der Leitungsebene die Form von Kriterien zur Beurteilung komplexer Projekte – somit haben sie Prinzipiencharakter – sie stellen Prinzipien bereit, welche Orientierung vermitteln und die Entscheidungsfreiheit erhöhen. Ausgangspunkt dieser Prinzipien sind die „Aufgaben“ der Organisation, die Orientierung über Relevanz oder Nicht-Relevanz von Ereignissen für Entscheidungen vermitteln (ebd.: 256 ff.). An dieser Stelle kommt jedoch das Moment der Kultur als weiteres Kriterium ins Spiel dahingehend, dass die Art und Weise, wie die Organisa139

tion zu ihren Entscheidungsprogrammen findet, nicht allein durch die Aufgaben oder Tätigkeitsbereiche definiert sind, sondern im Zuge der Kommunikation zur Bewältigung von Arbeitsaufgaben – Projekten, wie Luhmann sagt – produziert und reproduziert werden. Damit muss man Kultur und menschliches Handeln mit in die Theoriebildung einbeziehen und kann sie nicht zur irrelevanten Kategorie erklären. Charakteristische Denkstrukturen und Handlungsmuster, die im Zuge der Interaktion immer wieder Anwendung finden und die definieren, was wichtig und was unwichtig ist, schaffen den Sinnhorizont der Organisation, vermitteln Orientierung; jedoch sehen diese Denkstrukturen und Handlungsmuster in unterschiedlichen Kulturkreisen sehr verschieden aus. Die Verankerung der formal-rationalisierten Expertenorganisation im kulturellen Muster Deutschlands definiert den Sinnhorizont der Organisation anders und legt damit andere Voreinstellungen für Entscheidungen fest als die kulturelle Verankerung der flexiblen Netzwerkorganisation im kulturellen Muster der Vereinigten Staaten von Amerika (vgl. Münch 1986: Bd.1: 255-460; Bd. 2: 683-846). Mit der einseitigen Fokussierung auf die Prozedur von Entscheidungen verschließt sich Luhmann jedoch den Blick auf Diskurse, die den Entscheidungen vorangehen, Entscheidungen begründen und legitimieren und ebenfalls von Bedeutung für den Fortbestand von Organisationen sind, weil die Glaubwürdigkeit dadurch tangiert ist. Selbstverständlich haben Unternehmensorganisationen die Aufgabe und den Zweck der Schaffung und Verwaltung eines Vermögens. Folgerichtig können Diskurse weder frei von dieser Vorgabe noch ohne irgendein Zeitlimit geführt werden. Sie müssen an einem bestimmten Punkt zu Entscheidungen geführt werden, die dann Gültigkeit haben. Bei zukünftigen Entscheidungen rekurriert die Organisation sowohl auf die gewählten Alternativen als auch auf die nicht gewählten, als unmarked space mitgeführten Alternativen, welche den Möglichkeitshorizont der Organisation erweitern. Trotz der Einschränkung der Notwendigkeit von Entscheidungen für den Fortbestand der Organisation sind Diskurse für das Unternehmen enorm wichtig, weil über die allgemeinen Aufgaben von Unternehmen hinaus und über allgemeine Diskursregeln hinaus sowohl die Diskursregeln als auch auf die Werte, auf die sich die Teilnehmer beziehen, um Konsens in Bezug auf eine Entscheidung zu erzielen, nach Kulturkreisen unterschiedlich sind. Schließlich muss man sich auf gemeinsam geteilte Werte beziehen, damit eine Verständigung möglich ist. Ein Mindestmaß an Wertkonsens ist damit unverzichtbar! Kommt es zum Wertantagonismus, werden Entscheidungen delegitimiert. Damit macht sich die Organisation entscheidungs- und handlungsunfähig. Deshalb ist es sinnvoll, den Wertekatalog des Unternehmens so allgemein, formal und abstrakt zu formulieren, dass unabhängig von der Zugehörigkeit zu Interessensgruppen jedes Mitglied der erweiterten Unternehmensgemeinschaft ein Commitment dazu entfalten kann. Diskurse finden sowohl innerhalb der Organisation, also nichtöffentlich, als auch über die institutionellen Grenzen der Organisationen hinaus, also öffentlich, statt. Die verhältnismäßig neuen Kodizes der Corporate Governance, die von Seiten der Öffentlichkeit der Finanzmärkte vom der Unternehmen ein Mindestmaß an Transparenz einfordern, machen Unternehmensorganisationen ein Stück weit zu öffentlichen Gebilden, verleihen ihnen öffentlichen Charakter insofern als jeder Geldanleger – der Idee nach – Einsicht in die Tätigkeitsfelder und die Finanzverhältnisse nehmen kann. Dasselbe tun Codizes für Corporate Citizenship und Corpo140

rate Social Responsibility sowie Codizes für Nachhaltigkeit – sie machen das unternehmerische Handeln – Entscheidungen – einer gesellschaftlichen Öffentlichkeit zugänglich und verlangen vom Unternehmen, dass es Rechenschaft ablegt. Jedes unternehmerische Handeln wird, wenn es einmal den Charakter von Entscheidungen angenommen hat, öffentlich. Darüber hinaus und analog dazu hat ein Unternehmen intern ebenfalls eine Öffentlichkeit, in der ein gewisser Raum für Diskurse besteht, zumindest insofern und insoweit als die im Diskurs besprochenen Themen relevant für die Aufgaben bzw. den Tätigkeitsbereich des Unternehmens sind. Diskurse können solange geführt werden, bis eine Entscheidung getroffen ist. Der Idee nach hat jeder Teilnehmer die Möglichkeit der Äußerung. Mit jeder Äußerung – jedem Sprechakt, wie Habermas schreibt – kann der Sprecher vier verschiedene Geltungs- und Rationalitätsansprüche erheben. Im kognitiven Modus besteht der Geltungsanspruch in der Wahrheit der getroffenen Aussagen. Jede Aussage, die mit dem Geltungsanspruch der Wahrheit gemacht wird, dient der Darstellung von Sachverhalten. Im interaktiven Kommunikationsmodus besteht der Geltungsanspruch in der Richtigkeit und Angemessenheit einer Aussage. Die Aussage dient der Herstellung von interpersonalen Beziehungen. Im expressiven Kommunikationsmodus ist der thematische Geltungsanspruch die Wahrhaftigkeit. Die Aussage dient dem Ausdruck von subjektiven Erlebnissen oder Erfahrungen. Im kommunikativen Modus macht der Sprecher seine Aussage mit dem thematischen Ausdruck der Verständlichkeit. Er führt mit seinem Gegenüber den Diskurs über die drei übrigen Kommunikationsmodi und Geltungsansprüche (Habermas 1981, Bd.1: 385-409). Der Diskurs ist ein kommunikatives Verfahren mit bestimmten Regeln, das der Überprüfung der Geltungsansprüche von Sprechakten dient. Der Diskurs besteht konkret darin, dass die Teilnehmer mit der Zielsetzung des gegenseitigen Verstehens und der Suche nach dem gemeinsamen Einverständnis – dem Konsens – miteinander kommunizieren. Der Diskurs ist der Versuch der kooperativen Wahrheitssuche aller Beteiligten. Die ideale Sprechsituation – Machtfreiheit und vollständige Abwesenheit externer Zwänge auf die Teilnehmer, vollständige Abwesenheit von zeitlichem oder sozialem Druck – mit der ein Diskurs Habermas zufolge geführt werden soll, ist aber im Unternehmen kaum realisierbar. Eine vollständige Autonomie des Diskurses ist nicht vorstellbar, sehr wohl ist aber das Bestreben der Teilnehmer wichtig, sich der Autonomie des Diskurses anzunähern, wenn sie den Diskurs führen. Obgleich die ideale Sprechsituation in einem Unternehmen wohl nie erreicht wird, finden Diskurse trotzdem statt. Diskurse in der Unternehmensorganisation sind wünschenswert und gelegentlich sogar notwendig, um zu klären, wohin die Entwicklung der Organisation gehen soll und wohin nicht, und welchen Strategien folgend sie am besten dorthin gelangt. Das Ergebnis, das dann der Begründung und Legitimierung von Entscheidungen dient, sollte so gewählt sein, dass innerhalb der begrenzten Öffentlichkeit der Organisation jeder zustimmen müsste, wenn er zum Besten der Organisation entscheiden will. Zum Besten der Organisation entscheidet er dann, wenn das Ergebnis mit den Wertvorstellungen übereinstimmt, die alle Organisationsmitglieder gemeinsam teilen und die alle Mitglieder als wichtig betrachten. Der Diskurs endet, sobald eine Entscheidung getroffen ist, weil die Wahrheits- und Konsensfindung damit abgeschlossen ist, weitere Sprechakte also keinen Beitrag mehr erbringen können. 60 60

Anders als in einer religiösen Glaubensgemeinschaft kann ein Diskurs im Unternehmen schon deshalb nicht

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Im Diskurs der formal-rationalisierten Expertenorganisation zählen andere Argumente als im Diskurs der flexiblen Netzwerkorganisation, weil die Argumente unterschiedliche Wertbezüge aufweisen. Während man in der formal-rationalisierten Expertenorganisation mit dem Wertbezug von „Kompetenz und Verantwortung“ Konsens herstellen und Glaubwürdigkeit gewährleisten kann, zählen in der flexiblen Netzwerkorganisation Konkurrenzorientierung im Hinblick auf die Marktgegebenheiten, Pragmatismus in Bezug auf den Nutzen von Produkten und Verfahren und wohlverstandener Eigennutz. Je stärker die Unternehmen im organisationalen Feld der „Deutschland-AG“ ihren Strukturwandel der Leistungsorganisation, Governance und Führungsstruktur vom Idealtyp der formal-rationalisierten Expertenorganisation hin zum Idealtyp der flexiblen Netzwerkorganisation vollzogen haben, desto stärker ändert sich auch der Wertbezug der Argumente, mit denen man im Diskurs überzeugt. Wenngleich identitätsstiftende Leitbilder in der Unternehmensorganisation nicht nur als Ergebnis von Diskursen, sondern auch und vor allem durch Satzung zustande kommen, wobei der Satzung erneut ein Diskurs vorausgeht, stellen sie den gemeinsam geteilten Handlungsbezugsrahmen dar, der den Mitgliedern Orientierung vermittelt. Dementsprechend gibt das Leitbild – bei Bayer: Leitlinien für die strategische Ausrichtung – Auskunft darüber, wie das Unternehmen seinen Tätigkeitsbereich definiert, welche Aufstellung im globalen Marktwettbewerb es anstrebt, welche Werte von hoher und welche von geringerer Priorität sind. Folglich gibt das Leitbild indirekt ebenfalls Auskunft darüber, welche Semantik dazu geeignet ist, sich in Diskursen verständlich zu machen, mit Argumenten zu überzeugen, Konsens herzustellen. In der formalrationalisierten Expertenorganisation fallen Diskurse traditionell in den Bereich der Kommunikation unter Fachexperten, weil sie in der Semantik der Fachexperten geführt werden. Man kann sich Diskussionspartnern nur dann verständlich mitteilen, wenn man eine der dominierenden Fachsprachen beherrscht. Aus diesem Grund sind Diskurse den weitgehend geschlossenen Kreisen weniger dominierender Professionen vorbehalten. In den Unternehmen der chemisch-pharmazeutischen Industrie sind dies traditionell Chemiker und Ingenieure, gefolgt von Physikern, Medizinern und Pharmazeuten – nicht jedoch Manager, Finanzexperten sowie Experten der formalen Disziplinen und Generalisten, die ihre Perspektiven und Vorstellungen von guter Unternehmensführung artikulieren. Betrachtet man den Unternehmensdiskurs als Impulsgeber für die Identität des Unternehmens, dann sind Impulse für die Entwicklung der Unternehmenskultur von zwei Entwicklungen zu erwarten, erstens davon, dass neue Gruppen in das Unternehmen hineinkommen und Zugang zu den Diskursen finden, zweitens davon, dass sich die Unternehmensdiskurse von sich aus für breitere Gruppierungen öffnen, z.B. dadurch, dass man die Teilnahmebedingungen lockert, dass man Positionen von Betroffenen zum jeweiligen Thema einholt, dass man internetbasierter Plattformen innerhalb des Unternehmensintranets etabliert, dass man die Frage aufwirft, welche Akteure und Interessensgruppierungen zu einer erweiterten Unternehmensgemeinschaft gehören ihre Positionen zu wichtigen Fragen in den Unternehmensdiskurs einunendlich fortgesetzt werden, weil ein Unternehmen eine Zweckgemeinschaft zur Herstellung, Verwaltung und Vermehrung eines wirtschaftlichen Vermögens darstellt und keine „Selbstfindungs“-Gemeinschaft, deren primärer Sinn und dominierende Zielsetzung in der Herausbildung einer gemeinsamen Identität besteht. Nichtsdestotrotz ist das Vorhandensein einer gemeinsamen Identität von funktionaler Bedeutung.

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bezieht. Vorausgesetzt, dass jedes Organisationsmitglied der Idee nach die Möglichkeit der Artikulation im Diskurs hat, ist die Unternehmensorganisation gut beraten, das Spektrum ihrer Diskurse mithilfe solcher technischer Plattformen erheblich zu erweitern – nicht zuletzt, um die in den Diskursen als wahr, wahrhaftig oder richtig anerkannten Aussagen als Impulse für die eigene Entwicklung aufzugreifen und als Legitimationsgrundlage in ihre Entscheidungen einfließen zu lassen, Diskursteilnehmer, die sich im Diskurs innerhalb bestimmter Sachgebiete zu spezifischen Fragestellungen hervorgetan haben, zu identifizieren, ihre Impulse für die Unternehmensentwicklung besonders zu würdigen, sie erneut an anderer Stelle in den Diskurs einzubinden, wo ihr Beitrag besonders wertvoll sein könnte. Unter der Prämisse, dass Diskurse möglichst geeignete Impulse für die Konzernentwicklung – z.B. im Hinblick auf Innovation – liefern sollen, sollten Aussagen gemacht werden, die den Kriterien der Wahrheit, Wahrhaftigkeit, Richtigkeit und Angemessenheit in besonderer Weise entsprechen. Demzufolge stellt sich die Frage, wie das Unternehmen den Diskurs am besten etablieren kann, um diese Zielsetzung zu erreichen. Der Endpunkt der Entwicklung des Unternehmensdiskurses besteht darin, den Diskurs als Many-to-Many-Kommunikation zu etablieren, dergestalt, dass es über das Interesse am Gegenstand und die kognitive Diskursfähigkeit hinaus keinerlei Zugangsbarrieren gibt. Darüber hinaus muss das Ziel der Unternehmensorganisation darin bestehen, in dem Bewusstsein über die Notwendigkeit der Entscheidungsfähigkeit für die Dauer des Diskurses die ideale Sprechsituation anzustreben, sodass nicht die Position des Sprechers in Relation zu den anderen Diskussionsteilnehmern zählt, sondern ausschließlich das Argument, das der Wirklichkeit am besten Rechnung trägt. In Bezug auf die gemeinsam geteilten Werte dominiert traditionell die Orientierung an „Best Principles“ anstelle von „Best Practices“.61 Best Principles sind gemeinsam geteilte Werte mit Prinzipiencharakter, die allgemein Geltung beanspruchen und für alle Organisationsmitglieder verbindliche Standards setzen (vgl. Weber 1922/1972: 14-19; Münch 1986, Bd. 2: 719-773). Best Principles beziehen sich auf substanziell-inhaltliche Vorstellungen von „guter Arbeit“ – so z.B. Produktqualität, Umweltfreundlichkeit, Verfahrenssicherheit, Nachhaltigkeit – oder von „sozialer Gerechtigkeit“. Ein solches Prinzip ist beispielsweise „gleicher Lohn für gleiche Arbeit“, womit die gleiche Art der Arbeit gemeint ist, ohne, dass eine individuelle Leistungsdifferenzierung in Bezug auf die Arbeitsleistung unabhängig vom höchsten berufsqualifizierenden Bildungsabschluss stattfindet. Im Fall der Chemie- und Pharmaindustrie erscheint es zwingend, dass Qualitäts- und Sicherheitsstandards, Umweltstandards für „gute Arbeit“ maßgeblich sind und auch unter der Bedingung des Strukturwandels unter Globalisierungsdruck maßgeblich bleiben, wenngleich sie in der Gegenwart nicht mehr explizit betont werden müssen. Ebenso ist naheliegend, dass sich Professionals der gut etablierten Berufsgruppen, vertreten durch ihre professionelle Vereinigungen, vorbehalten, zu definieren, was professionelle Leistung beinhaltet und wie hoch ihr Marktwert ist (vgl. Dröge 2003, 61 Best Practices beinhalten im Gegensatz zu Best Principles Routinen der Problembewältigung, die infolge der Bewährung in einzelnen Produktions-, Arbeits- und Geschäftsfeldern generalisiert und verbreitet angewendet werden; Best Practices beruhen auf Konkurrenzorientierung, Alltagsverstand aufgrund von lebensweltlicher Erfahrung sowie auf wohlverstandenem Eigennutz, wie im Kulturmuster der Vereinigten Staaten verbreitet (vgl. Münch 1986, Bd. 1; Münch/Guenther 2005).

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Borchert 2003). Solange wie Unternehmen den Funktionsbeitrag dieser Professionen nicht grundsätzlich hinterfragt, haben sie diesbezüglich auch Definitionsmacht. Charakteristisch für die formal-rationalisierte Expertenorganisation im Gegensatz zur flexiblen Netzwerkorganisation ist eine stark ausgeprägte technische Orientierung dahingehend, dass sie Standards anstrebt, welche die ISO-Normen deutlich übertreffen, somit nicht nur zur globalen Verbreitung der bisherigen technischen Standards beiträgt, sondern ebenfalls zur Definition zukünftiger Qualitäts-, Sicherheits- und Umweltstandards.62 Bezüglich der Standards für Gleichheit und Gerechtigkeit ist die formal-rationalisierte Expertenorganisation im organisationalen Feld der „Deutschland AG“ in das korporatistische Marktmodell eingebunden, in dem die Konfliktparteien Standards aushandelten, die bisher im Rahmen des Flächentarifvertrags nach dem Gleichbehandlungsprinzip breite Umsetzung gefunden haben, deshalb Legitimität und Folgebereitschaft gewährleistet haben. Je mehr jedoch der Flächentarif bröckelt, weil Unternehmen aus dem Entgelttarifvertrag aussteigen und sich lediglich auf den Rahmentarif verpflichten, desto stärker gewinnt das Prinzip der „dezentralen Marktgerechtigkeit“ an Bedeutung. 63

2.4.2 Flexibilität, Konkurrenzorientierung und wohlverstandener Eigennutz als neue Orientierungen im Bayer-Konzern Die Bayer-Kultur, wie sie in der Nachkriegszeit entstanden und historisch gewachsen ist, beinhaltet eine ausgeprägte Orientierung an technischer Optimierung, Qualität, Sicherheit und nachhaltiger Entwicklung von Produkt und Verfahrenstechniken. Dies manifestiert sich unter anderem im Unternehmensleitbild von „Kompetenz und Verantwortung“. Dieses drückt aus, dass sich Bayer als Erfinder-Unternehmen begreift, dass Fachkompetenz und Verantwortung die Maßstäbe sind, nach denen Entscheidungen beurteilt werden. „Hierarchie“ und „Formalisierung“ werden als Mechanismen der Leistungskoordination legitimiert. Das Leitbild von 62

Vgl. Homepage der International Organization for Standardization: www.iso.org vom10.08.04 Als wichtigste Formen des Ausstiegs aus dem Entgelttarifvertrag sind abnehmender Verpflichtungsgrad, betriebliche Abkommen, Öffnungsklauseln und Ertragsabhängigkeit der Lohnzahlung zu nennen (Streeck/Rehder 2003; Lengfeld 2004). Darüber hinaus das Outsourcing sämtlicher nicht am operativen Geschäft beteiligter Serviceeinheiten eröffnet den Großunternehmen die Möglichkeit der Umgehung des Flächentarifs. Bisher wurde dieses Prinzip lediglich bei der Zahlung überbetrieblicher Zulagen angewendet, bezog sich jedoch nicht auf den Kern des tariflich vereinbarten Lohn-Leistungs-Gefüges. Mit dem Schritt vom Entgelttarifvertrag, der auf Gleichbehandlung und Kollektivleistungsprinzip beruht, zum Entgeltrahmentarifvertrag, dessen Basis ebenfalls das Gleichbehandlungsprinzip ist, das aber unterschiedliche Entlohnung innerhalb einer Entgeltgruppe nach dem Individualleistungsprinzip zulässt, haben Leistungsprinzip und Verfahrensgerechtigkeit an Bedeutung gewonnen (vgl. Streeck/ Rehder 2003; Lengfeld 2004 a). Zu Akzeptanz bzw. Ablehnung haben Liebig/Lengfeld (2002) und Lengfeld (2004a) das Grid-Group-Paradigma der Gerechtigkeit in Unternehmen entwickelt.Die Autoren weisen nach, dass das Gerechtigkeitsempfinden der Beschäftigten im Hinblick auf Bezahlung nach individueller Leistung mit den Variablen Grid (Handlungsautonomie; negative hierarchische Kontrolle) und Group (sozialer Integration) variiert. Sie unterscheiden vier Milieus im Unternehmen: Fatalisten (high Grid, low Group), Korporatisten (high Grid, high Group), Individualisten (low Grid, low Group) und Kollektivisten (low Grid, high Group), deren Präferenzen sie antizipieren und anhand ihrer Studie „Veränderungsprozesse und Gerechtigkeit in Organisationen “ (VGIO) bestätigen für Unternehmen aus der Metallindustrie aus dem Jahr 1999 nachweisen. Leider fehlt den Autoren die Möglichkeit des Vergleichs mit den USA. Unserer These zufolge liegt es nahe, dass die Akzeptanz von Leistungsprinzip und Verfahrensgerechtigkeit in den USA kulturbedingt höher ist als in Deutschland. 63

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„Kompetenz und Verantwortung“ ist Begründung und Legitimation für die Dominanz der Fachexperten im Bayer-Konzern. Mit dem Leitbild „Kompetenz und Verantwortung“ ist ebenfalls gewährleistet, dass man eine der dominierenden Fachsprachen beherrschen muss, um sich im Unternehmensdiskurs verständlich zu artikulieren und mit Argumenten zu überzeugen. Die Semantik der Fachkultur zeigt sich auch deutlich im Wortlaut des Unternehmensleitbildes: „Bayer ist forschungsorientiert und setzt bei seinen Kernaktivitäten auf die Technologieführerschaft. Dabei ist es unser Ziel, den Unternehmenswert nachhaltig zu steigern und im Interesse der Aktionäre, der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter und der gesamten Gesellschaft (...) eine hohe Wertschöpfung zu erwirtschaften. Die technische und wirtschaftliche Kompetenz ist für uns mit der Verantwortung verbunden, zum Nutzen der Menschen zu arbeiten und unseren Beitrag für eine dauerhafte und umweltgerechte Entwicklung zu leisten. “ (Bayer 1996)

Seit dem Jahr 2000 ist das Unternehmensleitbild des Bayer-Konzerns zweimal durch neuere Unternehmensleitbilder abgelöst worden, zunächst durch „Performance through People“, das im Gegensatz zu den Werten und Leitideen der 1990er Jahre bereits klar auf Performanzorientierung setzt, den Markterfolg in den Vordergrund stellt und besonders hervorhebt, dass die Mitarbeiter Leistungsträger und als solche zentrale Ressource des Unternehmens sind. Jedoch ein tiefer liegendes kulturelles Programm, welches den Mitarbeitern eine gemeinsam geteilte Vorstellung von Aktivismus und Rationalismus vermittelt, dahingehend dass die Programmatik „Kompetenz und Verantwortung“ grundsätzlich hinterfragt wurde, hat Bayer bisher noch nicht damit verbunden, weil Bayer bisher eine fachgesteuerte – nicht finanzgesteuerte – Organisation war. Mit dem neuen Leitbild von „Science for a better life“ ist ein neue Programmatik verbunden, die sowohl einen Bezug zum organisationalen Rationalismus hat, als auch – wie am Ende dieser Studie ausführlicher erläutert werden wird – zum Aktivismus des gezielten Eingreifens in die Welt mit Bezug auf moralische Maßstäbe. Die zweifelsfrei bestehende Gewinnabsicht des Unternehmens soll mit der Zielsetzung verknüpft werden, in den Bereichen Gesundheit, Ernährung und neue Materialien Lebensqualität zu produzieren und zu einer Verbesserung der Lebensqualitätbeizutragen. Wie das nachfolgende Zitat belegt, beginnt „Science for a better life“ beim Umbau der Konzernstruktur und auf das Selbstverständnis des Unternehmens: „Wir sind angetreten, ein neues Bayer zu schaffen – fokussiert auf seine Kunden, seine Stärken, seine Potenziale und auf die Märkte der Zukunft: ein internationales Spitzenunternehmen, das durch seine Produkte überzeugt, durch hoch qualifizierte Mitarbeiter, Top-Leistung und Innovationskraft beeindruckt und sich der Steigerung des Unternehmenswertes sowie langfristigem Wachstum verschrieben hat. Die Marke „Bayer“ steht weltweit für diese Orientierung. “ (Bayer 2003)

Der Mehrwert eines Sets von Werten und Unternehmensleitbildern für das Unternehmen resultiert ja aus der Tatsache, dass man im Diskurs Argumente mit Wertbezug zu den Wertideen vortragen kann, die Leitbildcharakter haben. Das Unternehmen ist in einem funktionalen Sinn auf die Legitimität der Entscheidungen von gewisser Tragweite angewiesen, weil bei fehlender Legitimität Konsens und Glaubwürdigkeit infrage gestellt sind, die in einem funktionalen Bezug zu Profitabilität und Effizienz stehen. Je kohärenter das Set der gemeinsam geteilten Werte im Unternehmen ist, desto besser sind die Voraussetzungen, dass es gelingt, 145

dass alle Mitglieder diese Werte freiwillig und bereitwillig mittragen und man sich im Diskurs darauf beruft.. Erreicht das Unternehmen durch Formulierung eines geeigneten Leitbilds und dessen Verbreitung in der Organisation tatsächlich, dass sich die Mitglieder zu den dort niedergelegten Zielsetzungen und Wertmaßstäben, erfüllt das Leitbild außerdem die Funktion, einen für alle Organisationsmitglieder einheitlichen kohärenten Bezugsrahmen bereitzustellen, der den Personen, Gruppen und Organisationseinheiten Sinn und Orientierung vermittelt – nur die gemeinsam geteilten Werte müssen auch mit dem Gewinnstreben und dem Interesse an einer Erhöhung des Unternehmenswertes kompatibel sein. In der Praxis kommt es häufig zu Friktionen zwischen der Konzernspitze, welches ein am Gewinnstreben und dem Interesse an einer Steigerung des Unternehmenswertes orientiertes Leitbild formuliert hat, um Veränderung gezielt voranzutreiben, und den Mitarbeitern in den Betrieben und Produktionsstandorten, die vor dem Hintergrund ihres eigenen, auf das betriebliche Arbeitsumfeld fokussierten Erfahrungshorizonts wenig oder gar nicht auf das Leitbild ansprechen und die keinen Zugang zur Interessenlage der Shareholder finden, selbst dann, wenn sie selbst direkt oder indirekt über eine betriebliche Altersversorgung am Aktienvermögen ihres Unternehmens teilhaben. Mit dieser Problematik ist auch der Bayer-Konzern konfrontiert. Die im Leitbild formulierten finden schnell Eingang in Diskurse auf der Konzernebene, erreichen jedoch erst mit zeitlicher Verzögerung die Menschen in den Betriebe und Standorte, und dass es darüber hinaus nochmals Jahre in Anspruch nimmt, bis die Menschen es verarbeitet haben. Mittel- und langfristig kann ein gutes Leitbild sein Potenzial besonders gut entfalten, wenn es damit gelingt, die Beschäftigten wirksam in den Strukturwandel einzubeziehen und ihnen ein Verständnis für den Strukturwandel zu vermitteln. Die Anforderungen an ein geeignetes Unternehmensleitbild stellen sich vor dem Hintergrund der spezifischen Merkmale und der dynamischen Entwicklung des organisationalen Feldes, in dem sich das Unternehmen bewegt, sowie vor dem Hintergrund der Finanzmarktakteure, die ihre Erwartungen an die Performanz des Unternehmens richten. Das Leitbild soll Personen, Gruppen und Organisationseinheiten befähigen, mit der Komplexität organisationaler Entscheidungen klar zu kommen und in Fragen von Interessenskonflikten den eigenen Standpunkt, die spezifische Interessenlage, in einem übergeordneten Kontext in Relation zu den Interessenlagen anderer Interessensgruppen als auch zu der übergeordneten Zielsetzung des Unternehmens wahrzunehmen. Daher ist es von Vorteil, wenn die im Unternehmensleitbild formulierten Werte so allgemein und abstrakt gehalten sind, dass sich sowohl die Beschäftigten, das mittlere Management, der Vorstand als auch die Shareholder damit identifizieren können, und sich Experten aus verschiedenen Berufsrichtungen darin wieder finden. Nachteilig sind dagegen Leitbilder, mit denen sich nur einzelne Interessensgruppen oder Berufsgruppen identifizieren können. Diskurse, bei denen das neue Leitbild „Science for a better life“ zum Tragen kommt, finden sich bei Bayer auf der Ebene oberhalb der am operativen Geschäft beteiligten Teilkonzerne und der Servicegesellschaften, die sich gemeinsam unter dem Dach der Holding befinden, in den Community-Counsils, die Netzwerkstrukturen darstellen. Die Funktion und Aufgabe dieser Gremienstrukturen besteht darin, die Koordination der Fachfunktionen sicherzustellen, 146

fachlich zu führen. Die Community-Counsils werden themenbezogen gebildet, weisen nach Fachzugehörigkeit, Teilkonzernzugehörigkeit und Hierarchiestufe eine erhebliche Heterogenität auf. Es sind Fachexperten unterschiedlicher Richtungen in den Community-Counsils vertreten und an den Diskursen beteiligt. Diskurse deshalb, weil die Struktur des Gesprächs so ist, dass es auf Hierarchiestufen wenig ankommt, weil man im Interesse einvernehmlicher Lösungen für bestehende Probleme darauf achtet, dass sich das beste Argument durchsetzen kann. Wie sehr das Erreichen eines Konsens, der zu Entscheidungen für den gesamten BayerKonzern führen soll, Maßstab für den Erfolg oder Misserfolg eines Diskurses ist, zeigt die Äußerung eines Experten der Aufbau- und Führungsorganisation: „Um noch mal auf die Community zurückzukommen: Wir haben hier eine relativ stark auf Konsens angewiesene Organisation. Natürlich gibt es bestimmte Hierarchien, z.B. einen Vorgesetzten und Unterstrukturen, sofern es erforderlich ist. Hierarchien, also Abstufungen, haben sich aber aufgrund der Arbeit ergeben, d.h. sie sind nicht top-down aufgestellt worden, z.B. Bonussysteme im Bereich HR. Man wird auf Interessen stoßen, die noch stär- ker sind als dies früher der Fall war. Trotzdem hat man die Notwendigkeit zu koordinieren, es soll ein weltweites, globales Bonussystem etabliert werden (Incentives). Wenn man das macht, wird man keinen Erfolg haben, wenn man alles top-down regelt. Man wird nicht in der Lage sein, das per Order de Mufti in die Organisation zu tragen. Das funktioniert natürlich nicht. Statt dessen wird man die Betroffenen zusammenholen, identifizieren, wer die größte Expertise hat und welche Modelle man implementieren könnte, ob es vielleicht BestPractice-Ansätze gibt. Man wird vielleicht Arbeitsgruppen bilden, die sich auch über Teilkonzern- und Regionengrenzen hinaus koordinieren - Europa, Amerika, Asien. Hat man ein Konzept, das konsensfähig ist, das von allen mitgetragen wird? (...).“ (Interview 6:8).

Liegt für eine bestimmte Problematik wie für das global einheitliche Bonussystem für Führungskräfte kein Lösungsvorschlag vor, der global und teilkonzernübergreifend konsensfähig ist, dann wird man nicht – wie Habermas’ Theorie des kommunikativen Handelns suggeriert – den Austausch von Argumenten und Gegenargumenten ohne sachliche, soziale und zeitliche Einschränkungen fortsetzen, bis man eine global konsensfähige Lösung erzielt hat, sondern man wird stattdessen kleinere Lösungen anstreben. Das Unternehmen wird also akzeptieren, dass die Teilkonzerne spezifische Lösungen ausarbeiten und umsetzen (vgl. Interview 6:8). Dann orientiert man sich eher an der Maßgabe des Pragmatismus, der Marktnähe und des wohlverstandenen Eigennutzes. Dazu passt ebenfalls die Tatsache, dass der Bayer-Konzern im Gegensatz zu vielen Unternehmen mit Ursprung in den Vereinigten Staaten nicht ausgehend von seinem Hauptsitz in Leverkusen die globalen Wertschöpfungsprozesse steuert, sondern vielmehr in seinen Landesgesellschaften eigenständige Führungsmannschaften etabliert, die zwar ihre Ergebnisse an die Bayer Holding reportieren, aber grundsätzlich eigenständig arbeiten, die Landessprache sprechen, mit dem Kulturkreis vertraut sind und die relevanten Absatzmärkte kennen. Bayer begreift sich selbst nicht als globales Unternehmen mit zentralistisch-hierarchischer Führung, sondern als multinationales Unternehmen dahingehend, das mit seinen Produktionsstätten die Nähe zum den Absatzmärkten sucht, seine kulturelle Vielfalt pflegt und bewusst ausbaut (vgl. Interview IIX). Aufschlussreich für die Beschreibung der Konzernkommunikation ist neben der internen Kommunikation in den Community-Counsils hinaus beispielhaft die Konzernkommunikation zu konkreten Entscheidungen anhand der von Konzernseite für die Investoren-Öffentlichkeit 147

publizierten Dokumente. Daran wird erkennbar, dass sich Bayer bereits vor der Schaffung seines aktuellen Leitbilds „Science for a better life“ an Flexibilität, Konkurrenzorientierung und wohlverstandenem Eigennutz orientiert hat und dass sich dass Unternehmen auf dem Weg zu seinem gegenwärtigen Leitbild befand. Das bedeutet: Jede Entscheidung ab einer gewissen Tragweite sollte in der Weise begründet sein, dass sie sich in Übereinstimmung zum aktuell gültigen Leitbild des Bayer-Konzerns befindet, für die Gegenwart „Science for a better life“. Man kann aber sagen, dass der Wertekanon, welcher das Unternehmensleitbild „Science for a better life“ ausmacht, in den höchsten Führungskreisen des Bayer-Konzerns schon eine gewisse Zeit lang existiert hat, bevor er die Form des neuen Unternehmensleitbilds bekommen hat. Diese Form dient ja auch dem Zweck, dass der Wertekanon Verbreitung im gesamten Konzern findet. In der Begründung der Entscheidung über die Restrukturierung vom integrierten chemisch-pharmazeutischen Unternehmen hin zur strategischen Managementholding im Jahr 2001, die zum Jahresbeginn 2002 vollzogen wurde, führt Bayer eine Reihe von Argumenten an, die einen klaren Wertbezug zu Flexibilität, Konkurrenzorientierung und wohlverstandenem Eigennutz aufweisen. Damit begründet Bayer eine neue Vorstellung von organisationaler Rationalität, die jenseits von „Kompetenz und Verantwortung“ der alten fachgesteuerten Organisation steht und eindeutig dem Modell der marktgesteuerten Organisation entspricht: „a) Fokussierung auf Kernkompetenzen, Wachstum und Performance (...) b) Erhöhte Flexibilität und Wettbewerbsfähigkeit (...), c) Stärkung der unternehmerischen Eigenverantwortung (...), d) Erleichterte Integration nach Akquisitionen (...), e) Erweiterung strategischer Optionen (...) und f) erhöhte Transparenz (...) “ (Bayer 2001: 8 f.)

Die Begründung für die Restrukturierung vom integrierten chemisch-pharmazeutischen Unternehmen zur strategischen Managementholding lautet, dass die Aufteilung in operativ selbständige Teilkonzerne unter dem Dach der Management-Holding eine stärkere Fokussierung auf wenige Kernkompetenzen ermöglicht, sodass Bayer seine Technologie-, Markt- und Portfolioentwicklung gezielter vorantreiben kann, dass die Neuordnung zu einer Steigerung der Flexibilität und Wettbewerbsfähigkeit der Organisationseinheiten beiträgt, dass die operative Ergebnisverantwortung der Organisationseinheiten eine direktere markt- und wettbewerbsorientierte Führung auch innerhalb der Teilkonzerne ermöglicht, dass die neue Konzernstruktur eine wirksame Integration neuer Geschäftseinheiten erleichtert und beschleunigt und schließlich, dass durch Erweiterung der strategischen Optionen im Hinblick auf Kooperationen, Joint Ventures und strategische Allianzen die Realisierung Projekten, die dem Modell der radikalen Innovation nach Hall/Soskice (2001) zuzuordnen sind, im Gegensatz zu inkrementaler Innovation ebenfalls erleichtern. Die bisher ausgeprägte technologische Orientierung und Fachsteuerung durch wenige dominierende Professionen aus dem naturwissenschaftlichtechnischen Bereich soll also ein Stück abgebaut werden. Gleichzeitig hat Bayer die Etablierung der Managementholding im Gegensatz zu einer reinen Finanzholding mit der Absicht verknüpft, die Vorteile einer Konzernstruktur als flexible Netzwerkorganisation zu haben, gleichzeitig aber ihre bisherigen Vorteile der Konzernstruktur als formal-rationalisierte Expertenorganisation nicht zu verlieren. Dementsprechend begründet Bayer die starke Rolle der strategischen Holding oberhalb der in das operative Geschäft involvierten Teilkonzerne mit 148

dem Bestreben, dass die Nutzung von Synergien nicht auf die einzelnen Teilkonzerne oder sogar auf kleinere Organisationseinheiten beschränkt bleibt, sondern auch zwischen den Teilkonzernen erfolgt, sodass sie dem Gesamtkonzern zugute kommt (ebd.: 9). Zusammenfassend ist festzuhalten, dass Bayer auf Konzernebene seinen Strukturwandel erfolgreich vollzogen hat, ausgehend vom Funktionsbereich der Leistungsorganisation über die Funktionsbereiche von Unternehmenssteuerung und Führung und Sozialintegration auch die Ebene der Werte und Leitideen erreicht hat. Schritte auf diesem Weg waren die Etablierung der strategischen Managementholding (2001/2002), der Gang an die New York Stock Exchange (2002), die Übernahme der Crop-Science-Sparte von Hoechst-Aventis (2003), die Ausgliederung der eigenen Chemie-Sparte unter neuem Firmennamen Lanxess zum Beginn des Jahres 2005. Das neue Leitbild „Science for a better life“ – die Manifestation der entstandenen neuen Unternehmenskultur als objektives Wissen – kann als vorerst letzter Schritt eines Strukturwandels gedeutet werden, mit dem das Unternehmen sowohl nach innen als auch nach außen kommuniziert, dass es am Ziel angekommen ist, seinen Strukturwandel zu einem vorläufigen Abschluss geführt hat.

2.4.3 Unternehmenskultur auf der Ebene der Bayer-Betriebe und Standorte (inzwischen Chemieparks) Der erfolgreiche Strukturwandel auf Konzernebene bedeutet nicht automatisch, dass der Strukturwandel auf der Ebene der Produktionsstandorte und Betriebe angekommen ist und dort bereits ebenfalls Erfolge zeitigt. Vielmehr ist zu erwarten, dass der Strukturwandel auf der Betriebs- und Standortebene mit zeitlicher Verzögerung mindestens drei Jahren erfolgt und der Erfolg nicht unmittelbar eintritt. Dementsprechend ist Bayer auf der Betriebs- und Standortebene bisher der historisch gewachsenen Unternehmenskultur dem dazugehörigen Leitbild von „Kompetenz und Verantwortung“ verhaftet. Erwartungsgemäß gehen Beharrungstendenzen und Widerstände von der Ebene der Betriebe- und Standorte aus, womit sich die Herausforderung an die Konzernleitung stellt, auf dem Wege der Konzernkommunikation die Menschen tatsächlich zu erreichen, Commitments für das aktuelle Leitbild „Science for a better life“ und die darunter zusammengefassten Werte zu erzeugen. Die traditionelle Bayer-Kultur, die in den Betrieben und Standorten noch besonders präsent ist, beinhaltet die ausgeprägte Orientierung an technischer Optimierung, an Produktqualität, technischer Sicherheit von Produkt und Verfahren, nachhaltiger Entwicklung im Hinblick auf Umweltstandards. Gute Arbeit beinhaltet demzufolge die Erfindung und Realisierung des besten Produkts oder Verfahrens unter technischen Aspekten, nicht so sehr unter den Anforderungen des Marktes. Unter diesen Voraussetzungen erscheint es naheliegend, dass in den Diskursen die Semantik der Chemiker, Physiker, Ingenieure, Mediziner, Pharmazeuten und ähnlicher Professionen dominiert, während Management- und Finanzexpertise als nachrangig gelten – einfach deshalb, weil Marktwettbewerb und Kundenwünsche weit entfernte, abstrakte

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Kategorien sind. Den Mitarbeitern in den Produktionsstätten fehlt zumeist der unmittelbare Bezug dazu. Bedingt durch die aufwendige Berufsausbildung im dualen System bezogen auf die Produktion sowie die akademisch geprägte Ausbildung in den naturwissenschaftlichen und technischen Professionen an Fachhochschulen und Hochschule wird ein bestimmter Wissenskanon als bekannt vorausgesetzt, ein bestimmter Wertekanon, der mit „Kompetenz und Verantwortung“ umschrieben ist, gilt als so fundamental und selbstverständlich, dass sich jeder, der eine Äußerung macht, darauf beziehen wird, wenn es ihm darauf ankommt, mit Argumenten zu überzeugen. Man geht selbstverständlich davon aus, dass Führungspersonal in den Bayer-Betrieben und an den Bayer-Standorten in der Lage ist, sich in der Semantik der Fachexperten Gehör zu verschaffen, mit guten Argumenten zu überzeugen, die mit Fachwissen aus Naturund Ingenieurwissenschaften untermauert sind und die einen Wertbezug zum Leitbild von „Kompetenz und Verantwortung“ haben. Weiter ist anzunehmen, dass die Führungskräfte auch der mittleren Ebene Entscheidungen von einer gewissen Tragweite an selbst treffen können und wollen. Auf der Seite der Profiteams hat ein starker Chef, der gewohnt ist, umfassend über alle Vorgänge informiert zu sein, Entscheidungen selbst zu treffen, den Mitarbeitern Anweisungen zu erteilen, die Konsequenz, dass die Teamentwicklung beeinträchtigt ist, weil ein selbständiges Arbeiten nicht erlernt wird. Wo kein selbständiges Arbeiten erlernt worden ist, kann bei Entscheidungen auch keine Handlungsautonomie eingefordert werden. Die Teams sind nicht in der Lage, Probleme zu erkennen und bewältigen, in kritischen Situationen souverän zu reagieren. Die Konsequenz ist, dass die Profiteams von ihren Vorgesetzten genaue Arbeitsanweisungen einfordern, bis hin zum Verhalten im Brandfall. Ein Betriebsleiter – Ingenieur Us-amerikanischer Nationalität – berichtete davon, dass Mitarbeiter der Profiteams anlässlich eines Probealarms genaue Verhaltensanweisungen einforderten und irritiert reagierten, als er sie fragte, wie sie selbst im Brandfall handeln würden (vgl. Interview IV). Insbesondere betonte er, dass in den Betrieben am Standort Dormagen stärker als im amerikanischen Werk Baytown, das er aufgrund seiner eigenen Berufserfahrung als Vergleichsmaßstab heranzog, das Berufsbild des „starken Meisters“ als Führungsfigur dominierte. Ein starker Meister hat umfangreiche fachliche Expertise, ist stets aktuell informiert und gibt konkrete Arbeitsanweisungen. Dafür sind am Standort Dormagen die Teams schwächer besetzt. Während in Baytown ein „schwacher Meister“ Verantwortung an seiner Mitarbeiter überträgt und aufgrund ihrer Expertise bessere Arbeit macht, gibt der „starke Meister“ am Standort Dormagen seine Verantwortung nur ungern aus der Hand. Daher bringt er in Zusammenarbeit mit seinen Profiteams etwas geringere Leistung (Interview IV). Der Grundsatz von Gleichheit und sozialer Gerechtigkeit beinhaltet in Bezug auf die historisch gewachsene Bayer-Kultur, dass die Bayer-Beschäftigten in den Betrieben und Produktionsstandorten Leverkusen, Dormagen, Krefeld-Uerdingen, Brunsbüttel und Bitterfeld ihre Arbeit nach dem Gleichheitsgrundsatz von „gleicher Lohn für gleiche Arbeit“ verrichten und lediglich nach Kollektivleistungsprinzip beurteilt werden. Der soziale Status des Einzelnen ist zunächst durch befristete oder unbefristete Beschäftigung und Position im Stellengefüge der Organisation bestimmt, ebenso an seinem höchsten berufsbildenden Abschluss oder akade150

mischem Titel; die Bildungszertifikate sind formale Eingangsvoraussetzung für konkrete Jobs. Die Beziehung zwischen dem Unternehmen und dem Mitarbeiter ist kollektivrechtlich nach Maßgabe des Tarifvertrags geregelt. Die Beurteilung der individuellen Leistung durch Vorgesetzte wirkt sich nur marginal in Form von Bonuszahlungen auf die Entlohnung aus. Beispielsweise hat ein Mitarbeiter, der den Beruf des Chemikanten erlernt, eine Zusatzausbildung zum Meister oder Techniker absolviert hat und die Messwarte einer HDI-Produktion im Werk Leverkusen beherrscht, bedingt durch seinen höchsten Berufsabschluss, seine Position als Meister im Betrieb und die Dauer seiner Unternehmenszugehörigkeit einen bestimmten Status, der ihm sicher ist, solang er sich keine groben Vergehen zuschulden kommen lässt. Dabei ist ist nachrangig, wie zufrieden oder unzufrieden sein Vorgesetzter, seine Kollegen, seine Kunden und Lieferanten mit seiner Arbeitsleistung sind, in welchem Umfang er Probleme erkennt und bewältigt, wie hoch seine sozialen Kompetenzen entwickelt sind, wenn es beispielsweise darum geht, Verantwortung zu delegieren, Arbeitsteilung zu organisieren, Konflikte zu bewältigen, Commitment für das Team und Identifikation mit dem Unternehmen zu erzeugen. Eine Leistungsbeurteilung nach dem Kollektivleistungsprinzip berücksichtigt lediglich die Gesamtleistungsfähigkeit des Unternehmens, nicht jedoch die konkrete Arbeitsleistung jedes einzelnen Mitarbeiters, und erst recht nicht den von ihm erbrachten Beitrag zur Leistungsfähigkeit des Unternehmens, der sowohl ein Handeln als auch ein Unterlassen von Arbeitsleistung beinhalten kann. Von einer Entlohnung der Mitarbeiter nach dem Leistungsprinzip als zugrundeliegendem Gerechtigkeitsstandard kann man mit Bezug auf die historisch gewachsene Bayer-Kultur also nur mit starken Einschränkungen sprechen, insofern als der Tarifbereich und der Managementbereich mit Ausnahme der Top-Executive-Ebene angesprochen ist. Der Grundsatz der Leistungsbeurteilung nach dem Kollektivleistungsprinzip wird allerdings in der Gegenwart durch zwei Faktoren herausgefordert, erstens durch die Intensivierung und Beschleunigung des globalen Marktwettbewerbs, durch welche die Leistungsfähigkeit jedes Unternehmens und seine Positionierung im organisationalen Feld als incumbent oder challenger stärker in den Vordergrund rückt, zweitens durch die steigenden Ansprüche an international gültige Sozialstandards. Von der ersten Entwicklung gehen Impulse aus, das Prinzip der Leistungsfähigkeit des Unternehmens stärker zu berücksichtigen, von der zweiten Entwicklung gehen Impulse aus, ein universell gültiges Modell der Gleichheit und Gerechtigkeit für das multinationale Unternehmen zu implementieren, sodass eine Balance zwischen der Erhaltung der Sozialstandards in den Hochlohnländern und den Sozialstandards für die Mitarbeiter in den weniger entwickelten Ländern herzustellen ist. Dementsprechend besteht ein erheblicher Druck im Hinblick auf die Einführung von Leistungskomponenten nach dem Individualleistungsprinzip auch und gerade für den Tarifbereich in Deutschland. Der derzeit gültige Tarifvertrag zwischen dem Arbeitgeberverband der chemischen Industrie und der IG BCE knüpft immerhin sechs Prozent eines Jahreseinkommens an die individuelle Leistung. An die Stelle des Prinzips „Gleicher Lohn für gleiche Arbeit“ für das gesamte Tarifgebiet tritt somit der Bindung an den Markterfolg des Unternehmens. Über die tariflich festgesetzten Mindeststandards hinaus – der gültige Tarifvertrag in der chemischen Industrie gestattet eine Abweichung des Entgelts um bis zu zehn Prozent nach unten, um Krisen zu überwinden, Produk151

tionsstandorte zu sichern und die Leistungsfähigkeit einzelner Unternehmen zu steigern ebenso die Einführung der 40-Stunden-Arbeitswoche bei günstiger Auftragslage – ist die Höhe des zu verteilenden Budgets durch gemeinsamen Erfolg am Markt bestimmt, aber die Verteilung erfolgt je nach Unternehmen unterschiedlich nach Leistungsgesichtspunkten in Bezug auf die individuelle Arbeitsleistung (vgl. IG BCE 2002; Interview IIX). Die tariflich beschäftigten Mitarbeiter fallen unter die Flächentarifvereinbarung von Chemischer Industrie und der Gewerkschaft IG BCE. Im Tarifbereich (West) gibt es Entgeltgruppen, die von E1 bis E 13 für kaufmännische Mitarbeiter, technische Mitarbeiter und Meister reichen, deren Arbeitsverträge an Bildungsabschlüssen, formaler Position und Dauer der Unternehmenszugehörigkeit orientiert sind. Die Entgeltvereinbarungen für die außertariflich Beschäftigten obliegen der Chemischen Industrie in Absprache mit dem Verband leitender und akademischer Angestellter der Chemischen Industrie (VAA). Dort gibt es zwar keine Entgeltgruppen wie im Tarifbereich, weil sich die Entlohnung am Prinzip der Individualleistung orientiert. Gleichwohl werden Mindesteinstiegsgehälter für diplomierte und promovierte Mitarbeiter vereinbart (vgl. Interview III). Außerdem gibt es Umfragen bei Führungskräften der Branche, die für Verbandsmitglieder publiziert werden, die jedem Beschäftigten eine Einordnung seines Gehalts nach formalem Bildungsabschluss, Position und Dauer der Unternehmenszugehörigkeit gestatten und die außerdem ein Bild über die Zufriedenheit oder Unzufriedenheit der Mitarbeiter mit ihrer Arbeitssituation und Vergütung vermitteln. In den Bayer-Betrieben und an den Bayer-Standorten ist besonders bei den tariflich Beschäftigten traditionell das Bewusstsein ausgeprägt, festen Statusgruppen zuzugehören, die sich an der formalen Position und den Entgeltgruppen orientieren. Das ist unproblematisch, solange sich performanzgetriebene Kriterien bei der Entlohnung kaum bemerkbar machen. Wird die Leistung von Personen, Gruppen und Organisationseinheiten zum virulenten Kriterium, weil performanzgetriebene Kriterien bei der Entgeltfindung aufgewertet werden, verursacht dies bei vielen Mitarbeitern erhebliche emotionale Schwierigkeiten. Da jedoch die Interaktionsbeziehungen mit Kollegen mit vergleichbarem Status für die Mitarbeiter aber von besonderer Wichtigkeit sind und einen wichtigen funktionalen Beitrag zur betrieblichen Sozialintegration darstellt, haben die Mitarbeiter des Bayer-Profiteams emotionale Schwierigkeiten bei der Leistungsevaluierung ihrer Kollegen, mit denen sie im Schichtsystem zusammenarbeiten. Für sie ist es ungewohnt, darüber mitzuentscheiden, welchen ihrer Kollegen Leistungsprämien gezahlt werden und welche Abzüge hinzunehmen haben (Interviews II und V). Wie in Abschnitt 3.2 ausführlich diskutiert werden wird, bedarf es, um eine performanzgetriebene Leistungsevaluation für Personen, Gruppen und Organisationseinheiten in einem multinationalen Unternehmen wie dem BayerKonzern durchzusetzen und bis hinab in die Betriebe und Produktionsstandorte zu legitimieren, Richtlinien von Gleichheit und Gerechtigkeit, die sich an Chancengleichheit und Fairness im Wettbewerb und an Leistungsgerechtigkeit orientieren (vgl. Rawls 2003; Lengfeld 2004 b). Auch „gute Arbeit“ ist ein Grundsatz, dem sich in der traditionellen Bayer-Welt, die man als formal-rationalisierte Expertenorganisation bezeichnen kann und die in den Betrieben und Produktionsstandorten noch besonders präsent ist, alle Organisationsmitglieder zu verpflichten haben. Die Ansprüche an gute Arbeit sind sehr stark substanziell-inhaltlich definiert. Ein 152

gutes Produkt oder Verfahren definiert sich über den technischen Standard, nicht unbedingt über den Markterfolg oder über den Preis. Der Orientierungsmaßstab ist technische Perfektion, nicht praktischer Nutzen und auch nicht Kundennähe. Damit ist genauer zu bestimmen, was mit „Kompetenz“ als Teil des Leitbilds „Kompetenz und Verantwortung“ in diesem Bereich assoziiert wird: Fachkompetenz im naturwissenschaftichen Bereich, technische Kompetenz im ingenieurwissenschaftlichen Bereich, die höchstmögliche Produktqualität, das effizienteste Produktionsverfahren, die sicherste Verfahrenstechnik, die umweltschonendste Produktionsmethode. Die Trägergruppierungen, welche diesem Leitbild zur Durchsetzung und langjährigen Dominanz verholfen haben, sind genau die Berufsgruppierungen, die in den Betrieben und Standorten am stärksten vertreten sind: Naturwissenschaftler und Ingenieure mit Fachhochschul-, Hochschulausbildung und Promotion, Chemikanten, Schlosser, Meister und Techniker innerhalb der Betriebe. Sie alle bringen ausbildungsbedingt einen gemeinsamen Wissensbestand mit und sind nur auf dieser Basis in der Lage, produktiv miteinander zu arbeiten. Kommen Nicht-Fachleute bzw. anders ausgebildete Experten beispielsweise aus der Ökonomie, den Sozial- und Geisteswissenschaften oder aus den formalen Disziplinen wie beispielsweise der Informatik und der Mathematik hinzu, ist eine Zusammenarbeit allein auf Basis des bisher geltenden Wissenskanons nur noch eingeschränkt möglich. Es stellt sich die Herausforderung, die Wissensgehalte und Wertcommitments, die man vorher für fundamental und selbstverständlich gehalten hat, in einen übergeordneten Bezugsrahmen zu stellen.

2.5 Fazit: Bayer als „Feld“ im organisationalen Feld der Deutschland AG und sein Strukturwandel von der formal-rationalisierten Expertenorganisation hin zur flexiblen Netzwerkorganisation. Gegenstand des zweiten Teils der vorliegenden Dissertation war es, den Strukturwandel der Unternehmen im organisationalen Feld der „Deutschland AG“ unter Bezugnahme auf das Fallbeispiel Bayer soziologisch zu erklären und deutend zu verstehen. Allerdings ist der Strukturwandel auf Unternehmensebene in den vier analytischen Dimensionen von Leistungsorganisation, Unternehmenssteuerung und Führung, Sozialintegration sowie von Unternehmenskommunikation und –kultur einer soziologischen Analyse nicht zugänglich, ohne die Veränderungen in den aus Unternehmenssicht relevanten Märkten in seine Analyse einzubeziehen, da diese für die Entscheidungsspielräume des Unternehmens maßgeblich sind und Unternehmen ihre strategischen Entscheidungen und ihre Innovationstätigkeit sinnhaft daran orientieren. Studien zum Unternehmensstrukturwandel, die sich in einer Fallstudie und blind für die Strukturveränderungen von aus Unternehmenssicht relevanter Märkte sind, bleiben insofern inhaltsleer, als sie keinen Aufschluss über das „Warum“ des Strukturwandels geben können. Deshalb erscheint mir gerade die Verbindung der Ebenen von Märkten und Unternehmen erscheint mir besonders bedeutsam. Aus diesem Grunde habe ich den politischkulturellen Ansatz der Theorie der organisationalen Felder von Neil Fligstein sowie den strukturfunktionalistischen Ansatz von Talcott Parsons in seiner Weiterentwicklung durch Richard Münch als theoretischen Rahmen für die vorliegende Studie gewählt. Hätte ich in der 153

vorliegenden Studie auf Fligsteins Ansatz verzichtet, hätte ich zwar belegen können, dass Bayer einen Strukturwandel der Reduzierung von Hierarchie und Formalisierung als Regulierungsmechanismus bei gleichzeitigem Ausbau von Marktwettbewerb und Networking für das Verhalten von Personen, Gruppen und Organisationseinheiten vollzieht, denn die Kontextinformation über den Strukturwandel der aus Sicht von Bayer relevanten Märkte hätte gefehlt. Man könnte dann in keiner Weise nachvollziehen, weshalb sich Bayer oder andere Unternehmen in demselben organisationalen Feld in diese – und nicht in eine andere – Richtung entwickelt haben, und die Entscheidung jedes einzelnen Unternehmens hätte den Eindruck von Zufälligkeit bzw. von Beliebigkeit vermittelt. Mit der in der vorliegenden Studie vollzogenen Eindordnung des Bayer-Konzerns in die relevanten organisationalen Felder Chemie und Phama in Relation zu anderen aus demselben Feld hervorgegangenen Unternehmen wie Hoechst und BASF meine ich gezeigt zu haben, dass der Strukturwandel des BayerKonzerns keineswegs akzidentell war – weder dem Zeitpunkt noch der Richtung des Strukturwandels nach, denn die Logik des übergreifenden organisationalen Feldes wirkt in das Unternehmen hinein und findet dort ihre logische Fortsetzung. Mit der Theorie der Märkte als organisationale Felder von Fligstein (2001), die auch Aussagen über Kontinuität und Wandel der inneren Struktur des Unternehmens enthält, ist der Strukturwandel des Bayer-Konzerns im Kontext des übergreifenden organisationalen Feldes unter finanzmarktgetriebenem Globalisierungsdruck damit zu verstehen und zu erklären, dass Bayer als Unternehmen einerseits ein Feld mit einem Pluspol und einem Minuspol der Macht darstellt, andererseits zugleich als Akteur im übergeordneten organisationalen Feld handelt. Ein Wandel des organisationalen Feldes schlägt sich demzufolge auch in einem Wandel der inneren Struktur des Unternehmens nieder, schon deshalb, weil das Unternehmen bei äußerem Druck von Seiten der Finanzmärkte und der Absatzmärkte um strategische Entscheidungen nicht herumkommt, auf die es in der Zukunft ein für alle mal festgelegt sein wird und die ursächlich für seinen Markterfolg oder Niedergang sein werden – diese Entscheidungen stehen selbstverständlich nicht im luftleeren Raum, sondern sie sind abhängig davon, ob das Unternehmen als incumbent oder als challenger im organisationalen Feld positioniert ist, welche Strategien die anderen Unternehmen in diesem Feld wählen werden oder bereits eingeschlagen haben, welche Strategien in Abhängigkeit von der eigenen Größe, Struktur und Historie überhaupt machbar erscheinen und legitimierbar sind. Die Verfasserin sieht den Sinn dieser Studie nicht darin, ein allgemeines Kausalmodell zu postulieren und dieses für die Unternehmen im Allgemeinen zu entwickeln, sondern vielmehr darin, auf Grundlage von Fligsteins Theorie der „Architecture of Markets“ (2001) den Strukturwandel des Unternehmens im organisationalen Feld der Deutschland-AG exemplarisch anhand des Bayer-Konzerns nachzuzeichnen, wobei die Richtung des Strukturwandels bestimmt und die Logik des Ablaufs nachgezeichnet werden soll. Die Verwendung idealtypischer Begriffe gibt an, ausgehend von welchem Punkt sich das Unternehmen in welche Richtung entwickelt hat. Darüber hinaus dient die Verwendung von Idealtypen auch dazu, den Strukturwandel insgesamt mithilfe des analytischen Schemas in den Funktionsbereichen von Leistungsorganisation, Unternehmenssteuerung und Führung, Sozialintegration, Unternehmenskommunikation und Unternehmenskultur begrifflich zu fassen und die dynamisierenden und steuernden Beziehun154

gen zwischen den vier Funktionsbereichen mit in die Analyse einzubeziehen. Für das Fallbeispiel Bayer ergibt sich daraus das Bild, dass der Bayer-Konzern einerseits ein Organisationsfeld mit einem Pluspol und einem Minuspol der Macht darstellt – bestimmte Personen, Gruppen und Organisationseinheiten befinden sich sehr nahe dem Machtpol, andere stehen in größerer Entfernung davon –, der Bayer-Konzern andererseits ein Akteur innerhalb des übergeordneten organisationalen Feldes ist und mit anderen Unternehmen um eine möglichst vorteilhafte Positionierung konkurriert. Das übergeordnete organisationale Feld ist determiniert durch die Absatzmärkte und Finanzmärkte, auf denen sich das Unternehmen bewegt, sowie durch die institutionellen Rahmenbedingungen, zu denen sowohl der Staat als auch nichtstaatliche Institutionen beitragen, sodass bestimmte Wettbewerbs- und Innovationsstrategien im Zusammenwirken der Institutionen befördert, andere erschwert oder ganz verhindert werden. Für die Unternehmen mit dominierender Position im organisationalen Feld der „Deutschland AG“ ist festzuhalten, dass sich ihr Umfeld spätestens Mitte der 1990er Jahre verändert hat: Erstens hat sich der Zuschnitt des Feldes in Richtung einer Internationalisierung und Differenzierung nach Produktgruppen verändert. Zweitens haben sich die Zusammensetzung und die interorganisationalen Beziehungen verändert – insbesondere in die Richtung einer abnehmenden finanziellen und personellen Verflechtung im Hinblick auf die Unternehmenskontrollgremien (vgl. Streeck/ Höpner 2003). Drittens schließlich hat sich das Feld auch den dominierenden Leitbildern – der „conception of control“ – nach deutlich verändert, dahingehend, dass der Preis stärker in den Vordergrund getreten ist, sich die Aufmerksamkeit der Anbieter mehr als bisher auf Kundenbedürfnisse und die Positionierung auf Absatzmärkten richtet, dass der Shareholder Value und die Einstufung durch Rating-Agenturen zu bedeutsamen Größen werden, sich Geschäftsbanken sowohl aus der langfristigen Kreditfinanzierung als auch aus ihrer Insider-Position in den Unternehmenskontrollgremien zurückziehen, sich schließlich auch der Staat aus seiner für die 1990er Jahre noch typischen Interventionspolitik im Fall von Krisen zurückzieht. Dementsprechend haben sich auch incumbent-Unternehmen an den veränderten Gegebenheiten des organisationalen Feldes auszurichten. Der erste unmittelbare Veränderungsbedarf aus einer Managementperspektive besteht darin, dass man die Innovationsaktivitäten und Wettbewerbsstrategien nach Maßgabe der veränderten Bedingungen auf den Absatzmärkten verändert. Ausgehend von einer Revision der Innovationsaktivitäten und Wettbewerbsstrategien erfolgt dann eine fundamentale Neuorganisation des Unternehmens im Hinblick auf seine eigene Struktur und Arbeitsteilung, wobei der Funktionsbereich der Leistungsorganisation der Ausgangspunkt der Entwicklung ist, der Strukturwandel in diesem analytischen Funktionsbereich determiniert, was in den Funktionsbereichen von Führungsstruktur, Sozialintegration und Unternehmenskultur folgt. Das Feld der Chemie und Pharmazie, in dem sich Bayer bewegt hat, ist durch eine erhebliche Dynamik gekennzeichnet: Die erste Entwicklung besteht in einer Differenzierung nach Produktgruppen und Technologiebereichen, mit der Folge der Emergenz sowohl eines organisationalen Feldes „Chemie“ als auch eines organisationalen Feldes „Pharma“, die beide hochgradig nach Produktgruppen differenziert, international ausgerichtet und durch eine dynami155

sche Entwicklung gekennzeichnet sind. Aus einer Managementperspektive erwächst das Erfordernis einer Restrukturierung der Leistungsorganisation schon deshalb, weil es für ein Unternehmen von der Größe des Bayer-Konzerns in Ermangelung sowohl der finanziellen als auch der personellen Kapazitäten ausgeschlossen ist, sowohl den Chemiemarkt mit Grundstoff- und Spezialchemialien auf demselben Niveau zu bedienen wie BASF oder die Mineralölkonzerne, die inzwischen ebenfalls mit ihrer Finanzkraft auf den Chemiemarkt drängen und dort den Preiswettbewerb anheizen, als auch auf dem Pharmamarkt mit mehreren Blockbuster-Medikamenten gleichzeitig präsent zu sein, wie dies für die beiden größten US-amerikanischen Hersteller Pfizer und Merck (USA) der Fall ist. Aus Perspektive von Bayer – ebenso wie aus Perspektive der anderen aus der IG Farben erwachsenen Unternehmen – bietet es sich an, die Ressourcen zu bündeln und neu zu kombinieren, um auf wenigen Gebieten stark zu sein oder zu werden, und ausgehend vom Funktionsbereich der Leistungsorganisation eine tiefgreifende Neuorganisation durchzuführen, die das eigene Unternehmen trotz seiner relativ geringen Größe im Vergleich zu den größten Akteuren sowohl auf dem Chemiemarkt als auch auf dem Pharmamarkt zu einer schlagkräftigen Mannschaft macht. Wie im zweiten Teil dieser Studie gezeigt worden ist, ist dies genau der Weg, der im Fall Bayer beschritten worden ist. Mithilfe der Theorie der Märkte als organisationalen Felder von Fligstein kann man ebenfalls gut nachvollziehen, weshalb die Unternehmen im organisationalen Feld der „Deutschland AG“ bis zur Mitte der 1990er Jahre keinen oder nur minimalen Veränderungsbedarf gesehen haben, jedoch seit Ende der 1990er Jahre und mit erhöhtem Tempo etwa seit Beginn der 2000er Jahre ihren Strukturwandel in den Funktionsbereichen von Leistungsorganisation, Unternehmenssteuerung und Führung, Sozialintegration und Unternehmenskultur mit Energie vorantreiben. Denn solange sich ein Unternehmen in der incumbent-Position eines gut überschaubaren und stabilen Marktes befindet, wird es bestrebt sein, seine dominierende Position aufrechtzuerhalten, die eigene Dominanz wirksam gegen alle Versuche konkurrierender Unternehmen, diese Position für sich zu erobern, zu festigen. Der Versuch, dabei an der bisherigen „conception of control“ festzuhalten, erfüllt im wesentlichen die Funktion, einen tiefgreifenden, somit auch kräfteraubenden Strukturwandel abzuwenden, indem man am bisherigen Leitbild festhält und konkurrierende Unternehmen, die andere – möglicherweise bessere – Leitbilder haben, zu bekämpfen. Im organisationalen Feld der „Deutschland AG“ bezieht sich dies beispielsweise auf die Frage nach inkrementaler Innovation anstelle von radikaler Innovation als Innovationsstrategie als Innovationsparadigma, auf die Frage von Hierarchie und Formalisierung anstelle von Wettbewerb und Networking als Paradigma der Leistungsorganisation, auf die Frage von fachgetriebener oder finanzmarktgetriebener Organisation als Paradigma der Unternehmenssteuerung und Führung, die auch Governance-Strukturen und Finanzierungsbeziehungen. Gelingt es dem incumbent-Unternehmen, sich mit seiner bisherigen „conception of control“ gegen Unternehmen in herausfordernder Position zu behaupten, hat es den Strukturwandel vorläufig vermieden. Deshalb wird es solange an dieser Strategie festhalten, bis es durch die Veränderung im organisationalen Feld dazu veranlasst wird. Befindet sich das Unternehmen dagegen in einer challenger-Position, wird es bestrebt sein, aus eigener Kraft in eine marktbeherrschende Position vorzudringen oder andere Unternehmen aus ihrer dominierenden Position zu verdrängen. Als challenger steht die Organisation selbst unter 156

erheblichen Anpassungsdruck, um nicht aus dem Markt verdrängt zu werden. Dementsprechend forciert es entweder die Anpassung der eigenen Struktur und Arbeitsteilung an die bestehende „conception of control“ im organisationalen Feld oder versucht, sich mit einem alternativen Leitbild durchzusetzen. Welche Strategie dabei opportun ist, hängt davon ab, ob aktuell von einem funktionierenden Markt oder von einer Marktkrise auszugehen ist. Das Auftreten einer Marktkrise ist äußerer Anlass zu einer neuen Formation oder fundamentalen Neuordnung des organisationalen Feldes und zwingt die am Markt beteiligten Akteure – namentlich die Unternehmen – zu tiefgreifendem Strukturwandel, lässt bisher erfolgreiche Innovationstätigkeit, Unternehmensstrategien und Unternehmensstrukturen in völlig anderem Licht erscheinen als zuvor. Infolgedessen verändert sich auch das gesamte Netzwerk der interorganisationalen Beziehungen zwischen den im Feld vertretenen Unternehmen sowie zwischen den Unternehmen und anderen Institutionen im Umfeld der Unternehmen. Einige Institutionen gewinnen an Bedeutung wie z.B. Investment-Banken, Wirtschaftsprüfergesellschaften und Ratingagenturen. Andere Institutionen ziehen sich entweder aus eigenen Strategieüberlegungen aus ihren bisherigen Aufgaben zurück, wie z.B. Geschäftsbanken im Hinblick auf die mittel- und langfristige Finanzierung und Unternehmenskontrolle, oder werden an den Rand gedrängt wie z.B. bisher dominierende professionelle Vereinigungen im Hinblick auf ihren Einfluss bei der Vergabe der Top-Executive-Positionen in den incumbentUnternehmen, die Gewerkschaften im Hinblick auf Arbeitsvereinbarungen bedingt durch die Öffnung und Flexibilisierung der Tarifverträge und die zunehmende Fokussierung auf das Individualleistungsprinzip. Bei den Betriebsräten kann man aufgrund ihrer erfolgreich eingesetzten Strategie des Co-Managements eher von einem Funktionswandel sprechen als von einem Rückzug bzw. einer Verdrängung aus ihrer bisherigen Tätigkeit. Diese Einsicht wird allerdings ein Stück weit relativiert, weil die Unternehmen durch die Möglichkeit der Standortverlagerung mehr Handlungsoptionen haben, den Arbeitnehmer und ihren Vertretungen jedoch weniger Handlungsoptionen zur Verfügung stehen. Eine Neuordnung des Marktes beinhaltet grundsätzlich auch, dass im organisationalen Feld verfügbaren die Ressourcen neu verteilt werden, die Kräfteverhältnisse der Marktteilnehmer neu bestimmt werden. Der Strukturwandel des Bayer-Konzerns folgt also dem Strukturwandel des übergreifenden organisationalen Feldes von Chemie und Pharmazie. Das Feld der Chemie hat einen globalen Zuschnitt bekommen und wesentliche Konzentrationsprozesse durchlaufen, bedingt durch die Tatsache, dass die Produktion für chemische Prozesse an die Größe der Anlage gekoppelt ist, dass man die Produktion global koordinieren und für die meisten Produkte an jedem Punkt der Welt durchführen kann; gerade in der chemischen Industrie ist seit Mitte der 1990er Jahre ein Großteil der Produktionskapazität nach Asien verlagert worden (vgl. Rammer/Heneric/ Legler 2005: 48). Zweitens ist das organisationale Feld im Zuge der Produktdiversifizierung fundamental neu geordnet worden. Aus dem bis dahin integrierten organisationalen Feld der chemisch-pharmazeutischen Industrie sind zwei eindeutig getrennte organisationale Felder „Chemie“ und „Pharma“ hervorgegangen, die wiederum intern eine differenzierte Produktstruktur mit älteren und neueren Marktsegmenten aufweisen. Gerade innerhalb des Pharmasektors sind ausgehend von der Blockbuster-Strategie als dominierender „conception of control“ im Pharmamarkt und dem OTC-Markt, dem eher eine nachrangige Position zugeschrie157

ben wurde, neue Felder wie Gentechnik/Biotechnik, Generika entstanden, die sich sukzessive verselbständigen und ihren eigenen Regeln folgen. Drittens ist es sowohl innerhalb des organisationalen Feldes der Chemie als auch innerhalb des organisationalen Feldes zu Konzentrationsprozessen gekommen – in der Chemieindustrie bedingt dadurch, dass die Mineralölkonzerne auf den Markt gedrängt sind und auch über die erforderliche Finanzkraft verfügen, um zu einer Intensivierung des Preiswettbewerbs beizutragen, in der Pharmabranche deshalb, weil sich während der vergangenen zehn Jahre die Strategie der innovativen, forschungsintensiven Blockbuster-Medikamente durchgesetzt hat, bei der Markterfolg Überlebensbedingung ist, Biotechnologie und OTC-Medikamente die Blockbuster-Strategie flankieren, Risiken ausgleichen. Der letzte Trend, der zugleich Aspekt des Strukturwandels der Unternehmen im organisationalen Feld ist und für das Fallbeispiel Bayer ausführlich thematisiert wurde, wird in der Studie des Zentrums für Europäische Wirtschaftsforschung (ZEW) und des niedersächsischen Instituts für Wirtschaftsforschung (NIW) im Auftrag des Verbands der chemischen Industrie und der Gewerkschaft IG BCE fälschlicherweise als Anfang statt als Ende der Entwicklung des organisationalen Feldes gedeutet. „Einige große, integrierte Chemiekonzerne, die von der Grundstoffchemie über die Spezialchemie bis hin zur Konsumproduktion und Pharmazeutika die gesamte Palette an Chemiewaren abdeckten, wurden mit dem Ziel der Fokussierung zusehends „entflochten““ (Rammer/Heneric/Legler 2005: 48).

Um die Entwicklungsrichtung der strukturellen und kulturellen Veränderung der Unternehmen im organisationalen Feld der „Deutschland AG“ nachzeichnen zu können, erklären und verstehen zu können, habe ich die Idealtypen von formal-rationalisierter Expertenorganisation und flexibler Netzwerkorganisation eingeführt. Unternehmen, welche traditionell dem Idealtyp der formal-rationalisierten Expertenorganisation entsprechen oder nahe kommen, sind durch eine ausgeprägte Verankerung im kulturellen Muster gekennzeichnet. Unternehmen, welche traditionell dem Idealtyp der flexiblen Netzwerkorganisation entsprechen, weisen eine besonders stark ausgeprägte Affinität zum US-amerikanischen Kulturmuster auf. Um die strukturellen Merkmale untersuchen und ihre Veränderung erklären zu können, habe ich auf das AGIL-Schema im strukturfunktionalistischen Ansatz bei Talcott Parsons zurückgegriffen. Danach sind vier analytische Funktionsbereiche zu unterscheiden: Leistungsorganisation (Adaptation), Unternehmenssteuerung und Führungsstruktur (Zielerreichung), Sozialintegration (Integration) sowie schließlich Unternehmenskommunikation und Kultur (Erhaltung latenter Strukturen). Die formal-rationalisierte Expertenorganisation ist durch folgendes Strukturmuster gekennzeichnet: Im Hinblick auf die Leistungsorganisation dominieren streng funktionale Arbeitsteilung, eindeutige, überschneidungsfreie Definition der Zuständigkeiten und Kompetenzen. Ein besonderes Augenmerk ist auf die nach Fachkompetenz gegliederte Arbeitsteilung gerichtet. Bezüglich der Unternehmenssteuerung und Führung ist die formal-rationalisierte Expertenorganisation durch die Herrschaft der Fachexperten auf den naturwissenschaftlichen und technischen Professionen gerichtet. Was die Sozialintegration betrifft, existiert eine organische, hierarchisch nach Statusgruppen abgestufte Solidargemeinschaft. Hinsichtlich der Unternehmenskommunikation und Kultur dominiert die Semantik des Fachwissens in den naturwissenschaftlichen und technischen Disziplinen. All dies ist Grundlage von Hierarchie und Formalisierung als Regulierungsmechanismen für das Verhalten der Akteure 158

und der Hegemonie der Fachexperten als organisationalem Paradigma. Die flexible Netzwerkorganisation ist dagegen durch folgende Merkmale gekennzeichnet: Im Hinblick auf die Leistungsorganisation dominiert eine dezentrale, marktgetriebene Profitcenterstruktur. Bezüglich der Steuerung und Führung trifft man die Herrschaft der Finanzexperten und Manager an. Die Sozialintegration im Unternehmen ist durch eine nach netzwerkförmige, vertikal und horizontal differenzierte, an Performanz ausgerichtete Leistungsgemeinschaft bestimmt. Die Unternehmenskommunikation und Unternehmenskultur ist durch die Semantik des Accounting und Benchmarking und der Marktperformanz bestimmt. All dies ist Grundlage von Wettbewerb und Networking als Regulierungsmechanismen für das Verhalten der Akteure und der Hegemonie der Finanzexperten als organisationalem Paradigma. Vor diesem Hintergrund kann man die Bayer-Story so zusammenfassen, dass der Konzern die Entwicklung des organisationalen Feldes von „Chemie“ und „Pharmazie“ in Bezug auf die Internationalisierung, Differenzierung und Dynamisierung des organisationalen Feldes nachvollzogen, Konzentrationsprozesse antizipiert und im Bewusstsein um die Richtung des Strukturwandels des organisationalen Feldes auch das auf seine innere Struktur und Arbeitsteilung umgesetzt hat. Der Ausgangspunkt des Strukturwandels besteht in der Restrukturierung der Leistungsorganisation, beginnend mit der Frage wie sich das Unternehmen in einem sich global neu formierenden organisationalen Feld aufstellen will. Wie gezeigt wurde, ergibt sich für ein Unternehmen der Größe und Finanzkraft von Bayer zwingend die Notwendigkeit einer Fokussierung seiner finanziellen, personellen und zeitlichen Kapazitäten auf wenige, dafür Erfolg versprechende Bereiche der Forschung und Entwicklung. Zugleich ergibt sich die Notwendigkeit der Trennung von all denjenigen Bereichen, in denen aus Sicht des Unternehmens nicht länger die Zukunft liegt. Bei Bayer wird die Zukunft in den Bereichen von Gesundheit, Ernährung und hochwertigen Materialien (u.a. Nanotechnologie) gesehen, im Gegensatz zur traditionellen Großchemie und Teilen des Polymergeschäfts, von denen sich das Unternehmen im Zuge der Ausgliederung von Lanxess als eigenständigem, ebenfalls börsennotiertem Unternehmen getrennt hat. Vorbereitend und parallel zur Restrukturierung der Leistungsorganisation auf Konzernebene, deren Kernstück die Transformation vom integrierten chemisch-pharmazeutischen Unternehmen zur strategischen Holding war, hat Bayer auf der Betriebs- und Standortebene neben der Einführung des Profiteams als teambasierter, partizipatorischer Arbeitsorganisation in den Betrieben und Produktionsstandorten eine umfassende Reorganisation der Produktionsstandorte dahingehend durchgeführt, dass in alle nicht zum Kerngeschäft gehörenden Organisationseinheiten in den Servicebereichen in eigenständige Gesellschaften umgewandelt, teils geschlossen, teils verkauft und teils in das Chemieparkkonzept im Rahmen des Chemiepark-Konzepts integriert wurden. Darüber hinaus hat Bayer all diejenigen Organisationseinheiten aus den Service-Bereichen, an deren Fortbestand Bayer interessiert war, in die Gesellschaften Bayer Technology Services, Bayer Industry Services und Bayer Business Services integriert. Das Leitprinzip, an dem sich der Strukturwandel der Leistungsorganisation des Bayer-Konzerns orientiert hat und das bei der Umsetzung auf der Betriebs- und Standortebene weiterhin maßgeblich ist, besteht darin, dass Hierarchie und Formalisierung als Mechanismen der Leistungskoordination durch Wettbewerb und Networking weitgehend abgelöst worden sind, sie sind heute nur noch von nachran159

giger Bedeutung. Ich deute dies als ersten Schritt auf dem Weg von der formal-rationalisierten Expertenorganisation hin zur flexiblen Netzwerkorganisation. Die Restrukturierung der Leistungsorganisation würde nicht funktionieren, wenn sie nicht mit einem ebenso fundamentalen Strukturwandel der Unternehmenssteuerung und Führungsstruktur verknüpft wäre. Im Bayer-Konzern sind zwei wesentliche Leitlinien verfolgt worden: erstens der Abbau von Hierarchie und Formalisierung als Fundamente der bürokratischen Herrschaft z.B. dadurch, dass einfach Hierarchieebenen abgebaut worden sind, dass die am operativen Geschäft beteiligten Teilkonzerne Gesundheit, Ernährung und Hochwertige Materialien sowie die Servicegesellschaften Bayer Technology Services, Bayer Industry Services und Bayer Business Services sehr viel genauer als bisher auf Zielvorgaben festgelegt, im Hinblick auf erbrachte Arbeitsleistungen und Markterfolge überprüft und außerdem nach außen für die Beurteilung durch die internationalen Finanzmärkte transparent gestaltet werden, zweitens durch die Ablösung der fachgetriebenen Organisation durch die markt- bzw. finanzgetriebene Organisation. Die drei höchsten Führungskreise werden nicht mehr allein aus Vertretern der naturwissenschaftlichen und technischen Disziplinen rekrutiert, sondern ebenfalls in wachsendem Umfang aus den Reihen der Management-/Organisations- und Finanzexperten sowie aus formalen Disziplinen wie Mathematik und Informatik. Die Experten aus den erstgenannten Disziplinen verlieren an Einfluss, während sich die Experten aus dem Management-, Organisations- und Finanzbereich sowie aus den formalen Disziplinen sich in der Position der „invaders“ befinden: Sie haben zunehmend das Sagen, können Entscheidungen in ihrem Ablauf und ihren Ergebnissen mitbestimmen. Im Hintergrund der Hinwendung zum Shareholder Value Prinzip der Unternehmenssteuerung steht das Interesse des Bayer-Konzerns an einer breiten und internationalen Streuung des Aktienkapitals, um nicht von wenigen finanzkräftigen Akteuren abhängig zu sein, in sich in der Position befinden, Insiderherrschaft ausüben zu können – Überlegungen wie diese haben letztlich auch zum Gang an die New York Stock Exchance (NYSE) geführt, mit dem Resultat, dass die Streuung des Aktienkapitals nochmals breiter und internationaler geworden ist. Die Kehrseite einer am Shareholder Value orientierten Unternehmensführung besteht darin, dass sich auch die Zielsetzungen und Maßstäbe zur Beurteilung der Leistung des Managements geführt haben – von der Orientierung am Umsatz hin zu einer differenzierten Leistungsbeurteilung auch unter Berücksichtigung der Zahlungsfähigkeit, der Gewinnsituation insgesamt und der Gewinnausschüttung für die Aktionäre. Für den gelingenden Strukturwandel eines Unternehmens unter Globalisierungsdruck, das mit einem internationalisierten, nach Produktgruppen differenzierten und auf wenige Akteure konzentrierten organisationalen Feld wieder findet, dessen Wettbewerb sich beschleunigt hat und insgesamt schärfer geworden ist, sind die sogenannten „weichen“ Funktionsbereiche Sozialintegration, Unternehmenskommunikation und Unternehmenskultur nicht randständig. Der Strukturwandel der Leistungsorganisation funktioniert nicht ohne eine zunehmende horizontale und vertikale Differenzierung der Unternehmensgemeinschaft dadurch, dass beispielsweise im Zuge der Verbreitung von Community-Counsils bisher separate Wissensgehalte miteinander verknüpft werden. Er funktioniert auch nicht ohne die Zunahme der Performanz160

orientierung nicht nur an der Konzernspitze, sondern ebenfalls in den Betrieben und Produktionsstandorten, ohne ein wesentlich breiteres Inklusionsmodell, das neben der „Manufacturing Community“ auch die Shareholder als zum Unternehmen gehörig anerkennt. Die Vorstellungen von Gleichheit und sozialer Gerechtigkeit, zu denen ein Commitment gefordert werden kann und soll, müssten so allgemein und abstrakt formuliert sein, dass sich sowohl Mitarbeiter und Management als auch die Aktionäre dazu bekennen. Aufgrund dieser Überlegungen muss der Kerngedanke in der vom Markt geforderten Performanzorientierung bestehen, weil nur ein leistungsfähiges Unternehmen auch ein soziales Unternehmen sein kann, und nur ein Unternehmen, dessen Teile leistungsfähig sind und Markterfolge für sich verbuchen können, eine schlagkräftige Mannschaft darstellt. In Bezug auf Bayer ist zu sagen, dass eine nach Berufsbildung, nach formalen Bildungszertifikaten und akademischen Titeln in hierarchisch in Statusgruppen abgestufte organische Solidargemeinschaft wie in der Phase des Bayer-Konzerns als integriertes chemisch pharmazeutisches Unternehmen keine Zukunft hat, dass in der Holding-Struktur der Gegenwart Wettbewerb und Networking als Mechanismen der Leistungsorganisation dadurch getragen werden, dass eine Performanzorientierung insbesondere mit Bezug zum Markterfolg in der Breite der Unternehmensgemeinschaft existiert. Dies verschafft erneut den „invaders“ mit Expertise in den Bereichen von Management bzw. Organisation und Finanzen und den formalen Disziplinen Auftrieb. Die bisher dominierenden Professionen sind insofern Verlierer der Entwicklung, als ihr Status nicht mehr allein über Professionszugehörigkeit, den höchsten Berufsbildungsabschluss, akademische Titel und die formale Position gesichert ist. Sie können trotzdem Verlierer der Entwicklung sein, weil Entscheidungen viel direkter als bisher ökonomischen Maßstäben, nicht professionellen Vorstellungen von „guter Arbeit“ getroffen werden. Dennoch ist die Verbreitung der Orientierung am Markterfolg bis hinein in die Betriebe und Standorte Voraussetzung dafür, dass man von einer Annäherung an das Modell der flexiblen Netzwerkorganisation sprechen kann. Funktional komplementär zum Strukturwandel der Unternehmensführung verhält sich der Wandel der Unternehmenskommunikation und Unternehmenskultur, denn ohne diesen ist eine Legitimation der veränderten Herrschaftsverhältnisse nicht denkbar, offene Konflikte und Brüche in der Unternehmenskultur sind damit vorprogrammiert, die Entscheidungsfähigkeit und das Potenzial der Organisation, Entscheidungen wirksam umzusetzen, sind beeinträchtigt. Die Organisationskultur des Bayer-Konzerns schließlich hat sich von dem Leitbild der Fachkultur und dem Glauben daran, dass man mit Hierarchie und Formalisierung alle wesentlichen Probleme lösen kann, ein gutes Stück weit entfernt. Es ist eine performanzgetriebenen Kultur im Entstehen begriffen, in der Innovationsfähigkeit, Flexibilität und Markterfolg im Mittelpunkt stehen, nicht länger mehr alle Fragen im Konsens entschieden werden müssen, eine Streitkultur zulässig ist, die bisher tabu war. Vor allem aber findet der Glaube zunehmend Verbreitung, dass man die meisten Dinge nicht allgemein und abstrakt umfassenden formalen Regelwerken folgend bis ins Detail regeln muss, dass man nicht alle Dinge nach Maßgabe von bürokratischer Gleichbehandlung für alle Mitglieder gleich regulieren kann und sollte. Die meisten Angelegenheiten kann man dem Wettbewerb und dem Networking überlassen. Diese Reduzierung von Hierarchie und Forma161

lisierung kann sogar ein Mehr an ökonomischer Performanzfähigkeit bedeuten, weil sich die Mitglieder aus eigener Initiative und aus eigenem Interesse um Innovationsfähigkeit, Flexibilität und Markterfolg kümmern, einen Beitrag dazu erbringen müssen. Das als „conception of control“ bezeichnete Leitbild vermittelt eine gemeinsam geteilte Vorstellung davon, wie die Strukturen und Prozesse der Organisation sind, wonach zu entscheiden ist, was als gut, wahr, richtig und angemessen anzuerkennen ist. Bezogen auf das Fallbeispiel des Bayer-Konzerns ist das Leitbild von „Kompetenz und Verantwortung“ Ausdruck des alten Geistes, der charakteristisch für die formal-rationalisierten Expertenorganisation war. Dieses Leitbild ist zunächst durch „Performance through People“ abgelöst worden, das Performanzorientierung und Markterfolg hervorhebt. Das neue Leitbild „Science for a better life“ repräsentiert einen neuen Geist: eine pragmatische Orientierung an Konkurrenz und Marktwettbewerb. Darüber hinaus ist es mit dem Anspruch verbunden, durch Verbindung von angewandter Forschung, Wirtschaften und Ethik einen Beitrag zu einer Erhöhung der Lebensqualität für die Menschen zu erbringen. Für den Erfolg des Bayer-Konzerns ist mitentscheidend, dass das neue Leitbild schnell und umfassend Verbreitung findet, damit strategische und operative Entscheidungen von den Menschen mitgetragen werden, auch dann, wenn diesen das letzte Verständnis für Richtigkeit von Entscheidungen im konkreten Einzelfall nicht unbedingt vorausgesetzt werden kann.

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3. Kulturwandel der Unternehmen im organisationalen Feld der Deutschland AG Gegenstand der vorliegenden Studie ist nicht nur der strukturelle Wandel, sondern auch der kulturelle Wandel der Unternehmen im organisationalen Feld der „Deutschland AG“ im Zeichen der Globalisierung. Wie die Untersuchung des Strukturwandels der Unternehmen im organisationalen Feld der „Deutschland AG“ wird auch die Untersuchung des Kulturwandels der Unternehmen anhand der Fallstudie Bayer ausgeführt und veranschaulicht. Mit dem Begriff „Kulturwandel“ bezeichne ich die Veränderung charakteristischer, kulturtypischer Denk- und Handlungsmuster der individuellen und korporativen Akteure innerhalb der Unternehmensorganisation – Personen, Gruppen, Organisationseinheiten – sowie die Veränderung der kulturtypischen Denk- und Handlungsmuster, wie sie im deutschen und amerikanischen Kulturmuster historisch entstanden und gewachsen sind. Kultur ändert sich viel langsamer als Struktur insofern als sie lebensweltlichen Charakter hat, das Alltagsleben in allen Bereichen prägt und tagtäglich in Interaktion produziert, aufrechterhalten und erneuert wird. Kultur beinhaltet Denk- und Handlungsmustern, welche in Diskursen thematisiert, zum Gegenstand rationaler Diskurse des Austauschs von Argument und Gegenargument mit dem Ziel der Konsensfindung systematisch entwickelt werden, und lebensweltlichen Denk- und Handlungsmustern, die bei den Akteuren als selbstverständlich gelten, unhinterfragt akzeptiert und deshalb gar nicht erst in Diskursen thematisiert werden, aber nichtsdestotrotz Aspekt der von den Mitgliedern geteilten Wirklichkeit sind (vgl. Habermas 1981 Bd. 1: 369-454; Bd. 2: 173-289; Schütz/Luckmann 1979/2003: 147-328). 64 Im dritten Teil dieser Studie, dem Kulturteil, setze ich den Fokus auf zwei Aspekte der Kultur von Organisationen: erstens auf organisationale Rationalität, zu der ich Wissensgehalte, Handlungsroutinen, Typisierungen und Relevanzstrukturen zähle, zweitens auf gemeinsam geteilte Wertvorstellungen bei den Mitgliedern.65 Dazu gehören die gemeinsam geteilten Vor64

Mit Orientierung am phänomenologischen Ansatz von Schütz, Berger und Luckmann und der Theorie des kommunikativen Handelns von Habermas unterscheide ich zwischen organisationaler Wirklichkeit, die entweder durch die Leitungsgremien gesatzt und dann im gesamten Unternehmen verbreitet wird (z.B. in Unternehmenspublikationen für die Öffentlichkeit, für die Shareholder, in Leitbildern), die in Diskursen mithilfe von verständigungsorientierter Kommunikation ermittelt wird – dann sind Sprechakte konstitutiv, die nach den Kriterien von Wahrheit, Wahrhaftigkeit, Richtigkeit und Angemessenheit zu beurteilen sind – oder die wirklich lebensweltlich begründet werden, dahingehend, dass sie Teil der nicht hinterfragten, selbstverständlichen Wirklichkeit ist, welche entweder alle Organisationsmitglieder oder die Mitglieder bestimmter Organisationssegmente miteinander verbindet und die dabei behilflich ist, gewöhnliche Probleme mit Bezug auf Erfahrung zu bewältigen. Lebensweltlich fundierte organisationale Wirklichkeit wird von den Mitgliedern durch die alltägliche Interaktion im Zuge der alltäglichen Produktions-, Arbeits- und Geschäftsprozesse produziert und reproduziert. Die Prozesse, welche für die Produktion und Reproduktion intersubjektiver lebensweltlicher Wirklichkeit verantwortlich sind, sind Institutionalisierung mit den drei Komponenten von Habitualisierung, Sedimentation und Tradition, sowie die Prozesse von Sozialisation und Legitimierung. Diese Prozesse bilden die Verbindung zwischen objektiver Realität, die unabhängig vom konkreten Standpunkt verschiedener Subjekte Gültigkeit beansprucht, und subjektiver, an die individuellen biografischen Verhältnisse und Erfahrungshorizonte gebundener Wirklichkeit (vgl. Berger/Luckmann 1966/1995: 49-98; 98-138; Münch 2004: 212 ff; 395). 65 Organisationen produzieren sich wandelnde Vorstellungen von ihrer Mitgliedschaft, den Mitgliedschaftsrollen und den damit verknüpften Relevanzstrukturen bezogen auf Erwartungen und Erwartungserwartungen. Außerdem produzieren Organisationen sich wandelnde Vorstellungen ihrer Beziehung zu Gesellschaft allgemein und

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stellungen von sozialer Gleichheit und Gerechtigkeit. Entsprechend dieser Fokussierung des Kulturbegriffs auf organisationale Rationalität und gemeinsam geteilte Vorstellungen von Gleichheit und Gerechtigkeit behandle ich in Abschnitt 3.1. den Kulturwandel der Unternehmen im organisationalen Feld der „Deutschland AG“ im Hinblick auf die organisationale Rationalität im Verhältnis zu Innovation, in Abschnitt 3.2 die Thematik des Kulturwandels im Hinblick auf den der zugrunde liegenden Vorstellungen von sozialer Gleichheit und Gerechtigkeit. Da ich in diesem dritten Hauptteil der Studie Kultur in der Bedeutung von Kognitionen behandle, welche die Denk- und Handlungsmuster der Organisationsmitglieder prägen, erscheint mir im Hinblick auf strukturelle und funktionale Aspekte die Analogie von Kultur und Wissen als legitim. Im praktischen Syllogismus, wie er in der Tradition Max Webers formuliert worden ist, wird versucht, das Handeln von Akteuren – dies können individuelle Akteure ebenso sein wie korporative Akteure – ausgehend von ihren Handlungsmotiven (Wollenskomponente) zu erklären und ausgehend von dem tatsächlichen oder vermeintlichen Wissen (Wissenskomponente) deutend zu verstehen (vgl. Schulze 1999: 35 f.).66 Das konkrete Handeln, das sich im Ergebnis zeigt, ist demnach als Ergebnis der motivationalen Komponente und der Wissenskomponente erklärbar und verstehbar. So wie ich Kultur in diesem dritten Teil der Studie behandle, fließt Kultur als Wissenskomponente in den praktischen Syllogismus mit ein. Dies nehme ich zum Anlass, um die Analogie von Kultur und Wissen zu skizzieren. Sowohl mit Kultur als auch mit Wissen werden Kognitionen bezeichnet, auf die folgende Merkmale zutreffen: Sie sind akteursgebunden, sie erweitern das Handlungsspektrum und den Möglichkeitshorizont der Akteure. Sie vermitteln Orientierung. Im Gegensatz zu Information, die dank der technischen Möglichkeiten von Buchdruck, Printmedien, elektronischen Medien, Datenbanken und Internet grenzenlos und in unbegrenzter Menge verfügbar gehalten wird, ohne technische Hindernisse und zu minimalen Kosten global von der damit verknüpften sozialen Verantwortung. Gerade die Internationalisierung der Wertschöpfungsaktivitäten und der Kapitalstruktur gibt Impulse für den Strukturwandel der gemeinsam geteilten Vorstellungen von Gleichheit und Gerechtigkeit dahingehend, dass die bisher dominierenden Gleichheits- und Gerechtigkeitsvorstellungen als inkonsistent und nicht länger wirklichkeitsadäquat empfunden werden, damit ergibt sich die Notwendigkeit neuer, universeller Vorstellungen von Gleichheit und Gerechtigkeit, denen vernünftigerweise (weltweit und ungeachtet der Position im Machtfeld der Organisation) jeder zustimmen würde. 66 Wie bereits Durkheim in seiner Religionsstudie ausgeführt hat, ist es hinsichtlich der Funktion für den Fortbestand von Kollektiven, der Solidarität der an den Kollektiven beteiligten Akteure und des Handlungsbezugsrahmens gleichgültig, ob bestimmte Wissensgehalte tatsächliches oder vermeintliches Wissen darstellen. Das eindrucksvollste Beispiel gibt Durkheim selbst. So schreibt er in Bezug auf die Funktion von Religion, die er mithilfe ethnografischer Literatur am Beispiel von primitiven Religionen in Australien, Nordamerika und Asien untersucht, über Religion: „Ihr Hauptziel ist nicht, dem Menschen eine Darstellung der physischen Welt zu geben. Denn wenn das der Fall wäre dann könnte man nicht verstehen, wie sie sich hat erhalten können, da sie in dieser Beziehung nicht mehr als ein Netz von Irrtümern ist. Sie ist vor allem ein Begriffssystem, mit dessen Hilfe sich die Menschen die Gesellschaft vorstellen, deren Mitglieder sie sind, und die dunklen aber engen Beziehungen, die sie mit ihr haben.“ (Durkheim: 1912/1994: Umschlagtext). Für den Bestand der Religion als Kultursystem und als kognitives Fundament für Kollektive ist es egal, ob das Wissen wahr oder falsch ist. Entscheidend ist vielmehr, dass es von allen Gesellschaftsmitgliedern gemeinsam geteilt wird, somit verbindliche, nichthinterfragte Wirklichkeit ist, dass dieses Wissen regelmäßig in Interaktion produziert und reproduziert wird. Analog verhält es sich mit dem Wissen: Wissen muss nicht wahr sein, um die Handlungsspielräume und Möglichkeitshorizonte der Menschen in einem Kollektiv zu definieren, sondern es muss hinreichend verbreitet sein, um Verbindlichkeit beanspruchen zu können; es muss ein nicht-hinterfragtes, aber an die subjektiven Erfahrung anschlussfähiges Wissen sein.

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einem Ort zum anderen transferiert werden kann, ist Wissen akteursgebunden. Wissen setzt aktives Lernen und Aneignen voraus. Wissen setzt voraus, dass Akteure vorhandenes Wissen erwerben oder selbst produzieren. Im Gegensatz zu Information eröffnet Wissen dem Akteur neue Handlungsspielräume und erweitert seinen Möglichkeitshorizont. Folgt man der Definition von Stehr, dann bezeichnet Wissen die Fähigkeit zum sozialen Handeln. Gemeint ist Wissen als Vermögen, etwas „in Gang zu setzen“ (Stehr 2003: 31).67 In Analogie zum Wissen ist auch Kultur, abbildbar in Symbolen, an Akteure gebunden. Kultur setzt den Erwerb durch Akteure im Sinne einer aktiven Aneignung durch Lernprozesse oder die eigene Produktion durch die Schaffung neuer Bedeutungskosmen voraus. Wie Wissen enthält Kultur sowohl eine subjektive als auch eine objektive Seite. Subjektive Kultur existiert in Analogie zum subjektiven Wissen als Teilaspekt der Persönlichkeit des Einzelnen. Sie ist Ausgangspunkt von und Antriebskraft für kreative Prozesse. Objektive Kultur, welche als Ergebnis kreativer Prozesse existiert, hat in Analogie zum objektiven Wissen Bestand in kulturellen Artefakten. Objektive Kultur entfaltet ein Eigenleben in Gestalt von Sprache, Schrift, Dokumenten, Technologie, Gegenständen, ästhetischen Schemata. Hat Kultur einmal eine objektive Form angenommen, führt sie eine Existenz unabhängig von den Akteuren, welche die Organisation ursprünglich gegründet haben, von den subjektiven Impulsen und Antrieben, mit welchen Akteure sie ins Leben gerufen haben. Objektive Kultur überdauert jeden einzelnen Akteur, der sich Kultur aneignet oder Kultur selbst produziert. Die Dynamik der kulturellen Entwicklung geht folglich von Akteuren aus, welche sich ausgehend von ihrem jeweiligen Standpunkt Kultur aktiv aneignen und Kultur selbst produzieren, nicht von Sprache, Schrift, Dokumenten, Technologie, Gegenständen, ästhetischen Schemata, die ja für sich genommen inhaltsleer sind, insofern als sie sich der Subjektivität, also den ursprünglichen Motiven und Emotionen der Akteure, die sie produziert haben, entledigt haben.68 Wenn Kultur mit Leben, mit Inhalt 67

Wissen als Handlungskompetenz – bezogen auf zusätzliches, neues Wissen – ist Stehr zufolge direkt mit Macht zu assoziieren, da es die Handlungsspielräume der Akteure erweitert und ihre Möglichkeitshorizonte öffnet, neue Optionen schafft, zugleich aber auch neue Risiken und Unsicherheiten hervorbringt. „Wissen ist ein Modell für die Wirklichkeit. Wissen illuminiert. Wissen ist Entdecken. Erkenntnisse sind nicht nur passives Wissen. Wissen als erster Schritt zum Handeln ist in der Lage, die Realität zu verändern. Wissen bereichert menschliches Können. (…) Wissen ist Macht. Bacon behauptet, dass sich der besondere Nutzen des Wissens von seiner Fähigkeit ableitet, etwas in Gang zu setzen.“ (Stehr 2003: 31). Stehr zufolge impliziert nicht jedes Wissen Macht, sondern lediglich neues, zusätzliches Wissen. Dies kann wissenschaftliches oder technologisches Wissen sein, es kann sich aber auch Wissen mit besonderem ökonomischen Potenzial handeln, oder um Wissen, das sich aufgrund seines Inhalts, aufgrund seiner Exklusivität oder aufgrund der Kombination von beidem als Herrschaftswissen eignet, nicht jedoch um Wissen, das jeder Akteur hat, um lebensweltliches, erfahrungsbasiertes Wissen aus dem Alltag, oder um Wissen mit hohem Verbreitungsgrad wie z.B. das Abiturwissen. 68 Simmel charakterisiert das Verhältnis zwischen subjektiver und objektiver Kultur als fundamentales Spannungsverhältnis zwischen dem Subjekt, das Kunst, Recht, Religion, Technik, Wissenschaft und Sitte produziert, und der objektiven Kultur, welche mit ihrer eigentümlichen Selbständigkeit Bestand hat (Simmel 1914: 195). Die Triebkraft des Kulturprozesses ist die rastlose Kreativität der menschlichen Seele. Ihr steht ein festes, ideell unverrückbares Produkt gegenüber „mit der unheimlichen Rückwirkung, jene Lebendigkeit festzulegen, ja erstarren zu lassen“ (ebd.: 199). Die menschliche Seele hat sich in objektiven Geist, in kulturelle Artefakte entäußert und verdinglicht. Die kulturellen Objekte haben Bestand jenseits von der ursprünglichen Bedeutung, dem Sinn und der Wichtigkeit, welche das Subjekt ihnen im kreativen Prozess beigemessen hat, zumal das Subjekt heute nur noch marginale Beiträge zum Bestand an objektiver Kultur machen kann. Die Konsequenz ist zum einen die Entfremdung des Subjekts von der durch ihn geschaffenen objektiven Kultur, zum anderen die Verselbständigung der objektiven Kultur als sinnentleerte äußere Gegenstände entsprechend einer eigenen Logik. Kultur hat eben heute keinen Produzenten mehr. Deshalb fehlt ihr der unmittelbare Bezug zur menschlichen Seele. Mit ihrer Masse belastet und erdrückt sie den Menschen, würgt Kreativität ab (ebd.: 211 ff.). Dieser Gedankengang

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gefüllt sein soll, bedarf sie einer dynamischen Entwicklung. Dafür bedarf Kultur Impulse durch Akteure, die anhand der existierenden Kulturgegenstände in die aktive Auseinandersetzung mit der objektiven Kultur eintreten. Das heißt, dass sie die gegebenen Verhältnisse infrage stellen, sich an den gegebenen Verhältnissen abarbeiten, Kritik üben eigene Standpunkte formulieren, Legitimationsansprüche stellen. Kultur bedarf kreativer Prozesse, und kreative Prozesse sind immer an Akteure gebunden. Zu einer lebendigen Kultur gehört unter anderem auch, dass es Akteure gibt, welche die Logik des instrumentellen und teleologischen und strategischen Handelns in Bezug auf konkrete Sachverhalte problematisieren und ihr die Logik des verständigungsorientierten Handelns entgegensetzen, indem sie mit Orientierung am Guten, Wahren, Richtigen und Angemessenen in die Auseinandersetzung um die Sache eintreten.69 Nur unter dieser Voraussetzung kann Kultur lebendig, nicht tote Kultur oder „geronnener Geist“ sein (vgl. Simmel 1914/1998: 195-218; Weber 1922/1972: 833-835; Joas 1992; Schütz/Luckmann 2003: 329-443). Der Funktionsbeitrag von Kultur für Kollektive – eine dynamische Kulturentwicklung vorausgesetzt – besteht allgemein gesprochen darin, den Akteuren einen gemeinsam geteilten Handlungsbezugsrahmen bereit zu stellen, gleichsam Deutungsschemata zu offerieren, auf die sich jeder beziehen kann. Kollektive benötigen eine lebhafte, dynamische Kultur, um über einen gemeinsamen, kohärenten Bedeutungskosmos zu verfügen. Nur durch eine lebhafte, dynamische Kultur wird Verständigung ermöglicht, Orientierung vermittelt, die Akteure handlungsfähig gemacht. Fehlt eine lebendige, dynamische Kultur in diesem Sinne, besteht die Gefahr, dass Werte ihre Geltung verlieren, Regeln ihre Verbindlichkeit verlieren, es den Akteuren an Orientierung mangelt und deshalb auch im Hinblick auf die Persönlichkeitsentwicklung des wird im phänomenologischen Ansatz in Bezug auf Wissensgehalte fortentwickelt, indem die Autoren den subjektiven und den objektiven Wissensgehalt einander gegenüber stellen und im Hinblick auf die wechselseitige Bedingtheit untersuchen (vgl. Schütz/Luckmann 1979/2003: 331-354; 355-409). 69 Habermas unterscheidet in seiner Theorie des kommunikativen Handelns Typen des Handelns und der Kommunikation im Hinblick auf ihre Rationalität. Zunächst bildet Habermas Kategorien des sozialen und des nichtsozialen Handelns, für die unterschiedliche Rationalitätstypen konstitutiv sind: instrumentelle und kommunikative Rationalität. Das teleologische Handeln bezieht seine Rationalität aus dem Bestreben des Akteurs, Ziele unter der Bedingung der Verfügbarkeit bestimmter Mittel zu erreichen. Der zweite Typ ist das ökonomisch kalkulierte Handeln, das auf die Realisierung eines Höchstmaßes von Zielen aus einer Vielzahl verschiedener Ziele ausgerichtet ist. Innerhalb des sozialen Handelns, das seiner Motivation und seinem Sinn nach auf andere Akteure bezogen ist, unterscheidet Habermas das strategische Handeln vom kommunikativen Handeln. Das strategische Handeln ist eine spezielle Form des teleologischen Handelns dahingehend, dass der Akteur das Repertoire der Kommunikation, um seine eigenen Ziele zu erreichen. Habermas unterscheidet zwischen dem verdeckt strategischen Handeln – der bewussten oder unbewussten Täuschung – und dem offen strategischen Handeln, die beide vom kommunikativen, an Verständigung orientierten Handeln zu unterscheiden sind (Habermas 1981, Bd 1: 446). Kommunikation ist insofern rational, als Akteure ihre Aussagen aus verschiedenen Gründen rechtfertigen können. Einfache Kommunikation ist rational insofern, als die Akteure auf der Grundlage von gegenseitigem Vertrauen und stillschweigendem Einverständnis nach Maßgabe von Konformität miteinander kommunizieren. Die gegebenen Verhältnisse haben unhinterfragt Bestand. Sie werden hingenommen, weil sie schon immer so waren. Davon unterscheidet sich der rationale Diskurs, in dem die Akteure die gegebenen Verhältnisse nicht länger unhinterfragt hinnehmen, sondern zum Gegenstand von Kommunikation machen; die einzelnen Äußerungen, die Akteure dabei machen, können nach Wahrheit, Wahrhaftigkeit, Richtigkeit und Angemessenheit kritisiert werden (Habermas 1981, Bd. 1: 25-71). So schreibt Habermas: „Von >Diskursen< will ich nur dann sprechen, wenn der Sinn des problematisierten Geltungsanspruchs die Teilnehmer konzeptuell zu der Untersuchung nötigt, dass grundsätzlich ein rational motiviertes Einverständnis erzielt werden könnte, wobei >>grundsätzlich>individualistischen