Sonderpadagogik des Lernens (Handbuch Sonderpadagogik ; Band 2)
 3801717097, 9783801717094 [PDF]

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Zitiervorschau

Sonderpädagogik des Lernens

Handbuch Sonderpädagogik Band 2 Sonderpädagogik des Lernens hrsg. von Prof. Dr. M.A. Jürgen Walter und Prof. Dr. Franz B. Wember Herausgeber der Reihe:

Prof. Dr. Johann Borchert und Prof. Dr. Herbert Goetze

Sonderpädagogik des Lernens herausgegeben von

Jürgen Walter und Franz B. Wember

GÖTTINGEN · BERN · WIEN · PARIS · OXFORD · PRAG TORONTO · CAMBRIDGE, MA · AMSTERDAM · KOPENHAGEN

Prof. Dr. M.A. Jürgen Walter, geb. 1953. 1973-1979 Studium der Romanistik, Pädagogik und Psychologie in Bochum. 1982 Promotion. 1986 Habilitation an der Universität zu Köln. 19821984 Tätigkeit in der Erwachsenenalphabetisierung, seit 1982 an Förderschulen im Bereich der Supervision und der Förderung des Schriftspracherwerbs tätig. Seit 1987 Professor für Lernbehinderten- und Förderpädagogik an der Universität Kiel, seit 2006 an der Universität Flensburg. Forschungsschwerpunkte: Unterrichtsforschung, Lernschwierigkeiten in den Bereichen Schriftsprache und Mathematik, computerunterstützte Unterweisung. Prof. Dr. Franz B. Wember, geb. 1953. 1975-1980 Studium der Sonderpädagogik in Köln (erste und zweite Staatsprüfung für das Lehramt an Sonderschulen). 1977-1978 Studium des Fachs „Special Education“ in den USA. 1985 Promotion. Tätigkeit an verschiedenen Förderschulen, 1985-1991 Mitarbeit bei der Konzeption und Realisierung berufsbegleitender Studiengänge für Lehrerinnen und Lehrer an der FernUniversität Hagen. Seit 1992 Professor für Rehabilitation und Pädagogik bei Lernbehinderungen an der Universität Dortmund. Forschungsschwerpunkte: Qualität von Förderunterricht, Diagnose und Intervention bei Lernschwierigkeiten in den Bereichen Schriftsprache und Mathematik.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2007 Hogrefe Verlag GmbH & Co. KG Göttingen • Bern • Wien • Paris • Oxford • Prag Toronto • Cambridge, MA • Amsterdam • Kopenhagen Rohnsweg 25, 37085 Göttingen http://www.hogrefe.de Aktuelle Informationen • Weitere Titel zum Thema • Ergänzende Materialien Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Umschlaggrafik: Jochen Dauster, Bensheim Satz: Beate Hautsch, Göttingen Druck: AZ Druck und Datentechnik GmbH, Kempten Printed in Germany Auf säurefreiem Papier gedruckt ISBN 978-3-8017-1709-4

Inhaltsverzeichnis Vorwort der Reihenherausgeber Johann Borchert und Herbert Goetze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . XXI

Teil I Gegenstandsbereich

Einführung Jürgen Walter und Franz B. Wember . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3

1 1.1 1.2 1.2.1 1.2.2 1.2.3 1.2.4 1.2.5 1.3 1.4 1.5

Lernschwierigkeiten, Lernstörungen und Lernbehinderung . . . 4 Rudolf Kretschmann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4 Begrifflichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4 Prävalenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6 Wiederholer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6 Lernende mit sonderpädagogischem Förderbedarf . . . . . . . . . . . . . . 7 Lernende ohne Hauptschulabschluss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 Ergebnisse der PISA-Studien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8 Nachhilfe und außerschulische Förderung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 Manifestationen und Verläufe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 Bedingungen von Lernerfolg und Lernversagen . . . . . . . . . . . . . . 11 Prävention und Intervention bei Beeinträchtigungen der . Aneignungstätigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24 Systematisches Training zweckmäßiger Lernstrategien . . . . . . . . . . 26 Möglichkeiten und Grenzen des Selbstinstruktionstrainings . . . . . . . . 28 Unterrichtspraktische Vorschläge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 28 Prävention vor Intervention . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 30

1.5.1 1.5.2 1.5.3 1.6 2 2.1 2.2 2.3 2.3.1 2.3.2 2.4

Gegenstand und Aufgaben einer Pädagogik und Psychologie bei Beeinträchtigungen des Lernens Gustav O. Kanter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33 Pädagogik und Psychologie als Bezugswissenschaften bei . erzieherischer Einflussnahme und Lernprozessen . . . . . . . . . . . . . 33 Zum Verhältnis Pädagogik – Sonderpädagogik sowie Psychologie – . Sonderpädagogische bzw. Heilpädagogische Psychologie . . . . . . . . . 39 Neuere Konkretisierungen des Gegenstandes und der Aufgaben . . . . . . 40 Normative Aussagen zum Gegenstand und zu den Aufgaben . . . . . . . 41 Aussagen und Ergebnisse zu den Aufgabenstellungen auf deskriptiver . und präskriptiver Ebene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 48 Resümee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 55

VI

| Inhaltsverzeichnis

Teil II Theoretische Ansätze zur Erklärung von Lernschwierigkeiten, Lernstörungen und Lernbehinderung

Einführung Jürgen Walter und Franz B. Wember . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 63

3 3.1 3.2

Das medizinische Paradigma Markus Strobel und Andreas Warnke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Klassifikation von Lern- und Leistungsstörungen nach MAS . . . . . . . Ursachen von Lern- und Leistungsstörungen aus neuro- . psychologischer Sicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Lernbehinderung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Umschriebene Entwicklungsstörungen schulischer Fertigkeiten . . . . . . Lese- und Rechtschreibstörung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Rechenstörung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

3.3 3.4 3.4.1 3.4.2 3.5 4 4.1 4.2 4.3 4.4 4.4.1 4.4.2 4.4.3 4.4.4 4.5 5 5.1 5.2 5.2.1 5.2.2 5.2.3 5.3 5.4

Das interaktionstheoretische Paradigma Rainer Benkmann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Lernen und Beeinträchtigungen des Lernens in der Perspektive . des Symbolischen Interaktionismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Beeinträchtigungen des Lernens und soziale Interaktion: . Empirische Ergebnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Beeinträchtigungen des Lernens − Folge von Stigmatisierung? . . . . . . Fremd- und Selbstbild, Stigmamanagement und Ansätze zur . Veränderung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fremdbild . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Selbstbild . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Stigmamanagement . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ansätze zur Veränderung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das schulsystemische Paradigma Dagmar Orthmann Bless . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Funktionen und Strukturen des Schulsystems . . . . . . . . Entscheidungsprozesse im System Schule . . . . . . . . . . Entscheidungsstelle Einschulung . . . . . . . . . . . . . . . Entscheidungsstelle Umschulung in eine Sonderschule für . Lernbehinderte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zur Interaktion verschiedener Entscheidungen . . . . . . . . Empirische Befunde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zusammenfassung und Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

65 66 68 70 72 72 75 77 77 81 82 83 85 87 87 88 88 89 89 90

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93 93 94 94

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. 96 . 99 . 99 . 101 . 102

Inhaltsverzeichnis | VII



6 6.1 6.2 6.3 6.4

Soziokulturelle Benachteiligung Katja Koch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Problemaufriss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gegenwärtiger Forschungsstand . . . . . . . . . . . Empirische Daten zu soziokulturellen Bedingungen . Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

7 7.1 7.2 7.3 7.4 7.5 7.6 7.7 7.8

Das lern- und entwicklungstheoretische Paradigma Werner Nestle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117 Das entwicklungstheoretische Paradigma . . . . . . . . . . . . . . . . . 117 Inhaltsneutralität der Strukturen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 118 Statt linearer Entwicklungslogik: Entwicklung als Evolution . . . . . . . 118 Das lerntheoretische Paradigma . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121 Selbstreferenz (Autopoiesis) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 122 Viabilität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123 Offene Fragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125 Beispiele konstruktivistischer Lerntheorien . . . . . . . . . . . . . . . . 125 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 126

8 8.1 8.2

Das systemisch-konstruktivistische Paradigma Rolf Werning . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 128 Grundlagen der systemisch-konstruktivistischen Perspektive . . . . . . . 129 Systemisch-konstruktivistische Perspektiven in ihrer Bedeutung . für eine Pädagogik bei Beeinträchtigungen des Lernens . . . . . . . . . 134 Das Verständnis von Lernen und Lern-Behinderungen . . . . . . . . . . 135 Pädagogische Förderung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137 Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139

8.2.1 8.2.2 8.3

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. 104 . 104 . 105 . 108 . 114 . 114

Teil III Diagnostik

Einführung Jürgen Walter und Franz B. Wember . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145

9 9.1

Wegmarken der Entwicklung diagnostischer Konzepte Karl Dieter Schuck . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Diagnostik zwischen institutionellen Erfordernissen und . fachwissenschaftlichen Bezügen . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der institutionelle Kontext . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die fachwissenschaftlichen Bezüge: Menschenbildannahmen . . . Prominente Modelle diagnostischen Denkens . . . . . . . . . . . Das indirekte Modell diagnostischer Schlussweisen . . . . . . . . Lernziele als Bezugssysteme für die Beurteilung individueller . Leistungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

9.1.1 9.1.2 9.2 9.2.1 9.2.2

. . . . 147 . . . . .

. . . . .

. . . . .

. 148 . 148 . 150 . 151 . 151

. . . . 157

VIII

| Inhaltsverzeichnis 9.2.3 9.3 9.3.1 9.3.2

Der Entwicklungsbezug und das Modell der strukturorientierten . Diagnostik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Diagnostische Strategien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das lineare Modell einer einfachen Hypothesenprüfung . . . . . . Zyklische Modelle der Diagnostik . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

10

Diagnostik vom Standpunkt des Subjekts Joachim Schwohl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173

11

Die Kind-Umfeld-Analyse Wolfgang Lemke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 175 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 182

. . . . .

. . . . .

. . . . .

. 158 . 159 . 160 . 160 . 162

12 12.1 12.2 12.3 12.3.1

Gegenstandstheoretische Konzepte als diagnostische Basis Gabi Ricken und Annemarie Fritz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 184 „Bedingungslisten“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 185 Schulleistungen als komplexer Gegenstand . . . . . . . . . . . . . . . . 186 Intelligenz und Schulleistungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 188 Klassische Intelligenzmodelle: Erfassung kognitiver Strukturen und . Teilleistungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 189 12.3.2 Analyse der Intelligenz unter dem Aspekt der Informationsverarbeitung . . 190 12.3.3 Analyse metakognitiver Fähigkeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 191 12.3.4 Erfassung von Strukturen und Prozessen als Zugang zur Intelligenz . . . 192 12.4 Vorwissen und Wissen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 194 12.4.1 Erfassung mathematischer Kompetenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . 194 12.4.2 Erfassen schriftsprachlicher Kompetenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . 198 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 201 13

Förderbedarf, Förderkonzept und Förderplanung Karl Dieter Schuck, Wolfgang Lemke und Joachim Schwohl . . . . . . . . 207 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 214

Teil IV Prävention

Einführung Jürgen Walter und Franz B. Wember . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 219

14 14.1 14.2 14.3

Frühe Kindheit und Vorschulalter Gerhard Klein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 220 Das System Frühförderung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 220 Probleme der Früherkennung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 221 Ursachen von Lernbehinderungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 223

Inhaltsverzeichnis |



14.4 14.5 14.5.1 14.5.2 14.5.3 14.5.4 14.5.5 14.5.6 14.6 14.7 14.8 14.9 14.9.1 14.9.2 14.9.3 14.9.4 14.9.5

Umgestaltung der Früherkennung und Frühförderung . . . . . . . . . . . 224 Maßnahmen zur Frühförderung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 228 Orientierungspunkte und Rahmenbedingungen . . . . . . . . . . . . . . 228 Beispiele der Kooperation und Vernetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . 229 Möglichkeiten zur Frühförderung nach dem Kinder- und . Jugendhilfegesetz (SGB VIII) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 229 Kinderkrippen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 231 Das Prager-Eltern-Kind-Programm (PEKiP) . . . . . . . . . . . . . . . . 231 Kindergarten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 232 Frühförderung als Spielförderung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 232 Spezielle Programme und Methoden der Frühförderung . . . . . . . . . . 233 Förderung bei Störungen des Spracherwerbs . . . . . . . . . . . . . . . . 235 Elementarerziehung und Schulvorbereitung . . . . . . . . . . . . . . . . 237 Problemanalyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 237 Spezielle Fördermaßnahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 238 Ganzheitlichkeit und Eigenaktivität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 238 Ausbilden von Lernstrategien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 239 Übergang zur Schule . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 240 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 241

15 15.1 15.2 15.2.1 15.2.2 15.2.3 15.2.4 15.3 15.3.1 15.3.2 15.3.3 15.3.4 15.3.5 15.4

Schulalter Rudolf Kretschmann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 245 Systemische und entwicklungsökologische Ausgangsüberlegungen . . . . 245 Beispiele primärer Prävention . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 251 Prävention durch eine leistungsfähige Elementarerziehung . . . . . . . . 251 Die Erleichterung von Übergängen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 254 Prävention auf Unterrichtsebene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 257 Kooperation und Binnenklima . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 258 Maßnahmen sekundärer Prävention . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 259 Schulkindergärten und jahrgangsübergreifende Klassen . . . . . . . . . . 259 Integrative Regelklassen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 260 Schulen mit familienergänzenden Aufgaben . . . . . . . . . . . . . . . 261 Ganztagsunterricht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 262 Die Unterstützung von Eltern bei ihrer Erziehungsarbeit . . . . . . . . . 262 Schluss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 263 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 264

Teil V Interventionen

Einführung Jürgen Walter und Franz B. Wember . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 269

16 16.1

Förderung der Metakognition Ulrich Schröder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 271 Zum Begriff der Metakognition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 271

IX



| Inhaltsverzeichnis 16.2 16.3

Metakognition bei lernbehinderten Schülerinnen und Schülern . . . . . . 273 Zur Anbahnung und Steigerung metakognitiver Aktivitäten bei . Lernbehinderten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 274 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 278

17 17.1 17.2

Förderung von Lern- und Gedächtnisleistungen Gerhard Büttner und Marcus Hasselhorn . . . . . . . . . . . . . . . . . 281 Vorbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 281 Charakteristische Merkmale von Lernen und Gedächtnis bei . generalisierten Lernschwierigkeiten (Lernbehinderung und mentale . Retardierung) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 281 17.3 Verfahren zur Diagnostik gravierender Gedächtnisprobleme . . . . . . . 283 17.4 Interventionen zur Förderung von Lern- und Gedächtnisleistungen . . . . 284 17.4.1 Interventionen zur Optimierung von Wissenserwerb . . . . . . . . . . . . 284 17.4.2 Interventionen zur Förderung selbstregulierten Lern- und . Gedächtnisverhaltens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 286 17.5 Resümee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 288 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 289 18 18.1 18.1.1 18.1.2 18.1.3 18.2 18.3

Förderung des Lernens durch Förderung des Denkens Karl Josef Klauer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Theoretischer Hintergrund . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zur Theorie des induktiven Denkens . . . . . . . . . . . . . . . . Die Strategie des induktiven Denkens . . . . . . . . . . . . . . . Die Trainingsprogramme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ergebnisse der empirischen Erprobungen . . . . . . . . . . . . . Diskussion und Schlussfolgerungen . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

19 19.1 19.2 19.3 19.4 19.5 19.6 19.7

Förderung der Wahrnehmung Michaela Greisbach . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 304 Der Prozess der Wahrnehmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 304 Die Bedeutung der Wahrnehmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 305 Wahrnehmungsstörungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 305 Diagnostik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 306 Förderprogramme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 310 Evaluationsstudien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 311 Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 312 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 312

20 20.1 20.2

Psychomotorische Förderung Dietrich Eggert und Christina Reichenbach . . . . . . . . . . . . . . . . 315 Allgemeiner Überblick und historische Entwicklung . . . . . . . . . . . 315 Zielgruppen einer psychomotorischen Förderung . . . . . . . . . . . . . 316

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. . . . . . . .

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. 293 . 293 . 293 . 295 . 296 . 297 . 301 . 303

Inhaltsverzeichnis |



20.3 20.4 20.5 20.5.1

Wirkfaktoren psychomotorischer Förderung . . . . . . . . . . . . . . . . 316 Methoden einer psychomotorischen Förderung . . . . . . . . . . . . . . 318 Grundzüge einer ökosystemischen Psychomotorik . . . . . . . . . . . . 320 Ziele und Wege einer ökosystemischen psychomotorischen . Förderung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 321 20.5.2 Der psychomotorische Dialog als Prinzip psychomotorischer . Förderung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 324 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 326 21 21.1 21.2 21.3

Unterrichtsintegrierte Förderung von Aufmerksamkeit Kerstin Naumann und Gerhard Lauth . . . . . . . . . . . . . . . Aufmersamkeitsstörungen im schulischen Kontext . . . . . . . . Lernen und Aufmerksamkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Unterrichtsintegrierte Förderung . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

22 22.1 22.2 22.3 22.4 22.4.1 22.4.2

Motivationsförderung und Attributionstraining Johann Borchert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 338 Definitionen und Verlauf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 338 Einige bedeutsame Befunde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 341 Diagnostik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 341 Interventionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 343 Pädagogische Interventionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 343 Lerntherapeutische Interventionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 345 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 348

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. 328 . 328 . 329 . 332 . 335

Teil VI Schule und Unterricht

Überblick Jürgen Walter und Franz B. Wember . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 353

23

Konzepte und Methoden Einführung Jürgen Walter und Franz B. Wember . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 354

23.1 23.1.1 23.1.2 23.1.3 23.1.4

Didaktik des gemeinsamen Unterrichts Ulrich Heimlich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 357 Konzept und Praxis des gemeinsamen Unterrichts . . . . . . . . . . . . 358 Empirische Grundlagen des gemeinsamen Unterrichts . . . . . . . . . . 361 Theoretische Grundlagen des gemeinsamen Unterrichts . . . . . . . . . . 367 Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 372 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 372

XI

XII

| Inhaltsverzeichnis 23.2

Die Effekte von Sonderunterricht und gemeinsamem Unterricht . auf die Entwicklung von Kindern mit Lernbehinderungen Gérard Bless und Kathrin Mohr . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23.2.1 Auswirkungen des gemeinsamen Unterrichts auf die soziale Stellung . . 23.2.2 Auswirkungen des gemeinsamen Unterrichts auf die Lernfortschritte . . 23.2.3 Auswirkungen des gemeinsamen Unterrichts auf das Selbstkonzept . . 23.2.4 Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23.3 23.3.1 23.3.2 23.3.3 23.3.4

. 375 . 377 . 378 . 379 . 381 . 382

Bildung und Erziehung in Sonderschulen mit dem Förderschwerpunkt . Lernen Ulrich Schröder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 383 Historische Aspekte der Sonderschulerziehung . . . . . . . . . . . . . . 385 Die Stellung der Schule für Lernbehinderte im Bildungssystem . . . . . . 386 Besonderheiten des Unterrichts in der Schule für Lernbehinderte . . . . . 389 Öffnung der Schule für Lernbehinderte zur Allgemeinen Schule hin . . . 390 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 392

23.4 23.4.1

Differenzierung des Unterrichts Franz B. Wember . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 393 Von der klassischen Hilfsschulpädagogik zum modernen . Methodenmonismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 394 23.4.2 Formen und Ebenen der Differenzierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 395 23.4.3 Äußere Differenzierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 398 23.4.4 Innere Differenzierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 406 23.4.5 Zielerreichendes Lernen in flexibler Differenzierung bei . multivalenter Zielsetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 413 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 417 23.5 23.5.1 23.5.2 23.5.3 23.5.4

Formen offenen Unterrichts Bodo Hartke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 421 Unterricht nach Maria Montessori . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 423 Unterricht nach Célestin Freinet . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 426 Zeitlich begrenzte Formen des offenen Unterrichts . . . . . . . . . . . . 429 Forschungsstand und Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 432 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 435

23.6 23.6.1 23.6.2 23.6.3 23.6.4

Direkter Unterricht Franz B. Wember . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 437 Direkter Unterricht als Variante effektiven Lehrverhaltens . . . . . . . . 439 Direkter Unterricht als Vermittlung von Lernstrategien . . . . . . . . . . 442 Curriculare Programme direkten Unterrichts . . . . . . . . . . . . . . . . 445 Direkte Förderung in offenen Lernumwelten . . . . . . . . . . . . . . . 448 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 450

Inhaltsverzeichnis | XIII



23.7 23.7.1 23.7.2 23.7.3

Kooperatives Lernen Elmar Souvignier . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Was ist kooperatives Lernen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bedingungen produktiver Partner- und Gruppenarbeit . . . . . . Folgerungen für die Arbeit mit lernbehinderten Schülerinnen . und Schülern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23.7.4 Kooperative Unterrichtsmethoden . . . . . . . . . . . . . . . . 23.7.5 Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

. . . . . 452 . . . . . 453 . . . . . 455 . . . .

. . . .

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. 458 . 459 . 463 . 465

23.8 23.8.1 23.8.2 23.8.3 23.8.4

Computerunterstützter Unterricht Jürgen Walter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 466 Befunde von Metaanalysen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 467 Was macht die Wirksamkeit von CUU aus? . . . . . . . . . . . . . . . . 471 Wo und wann kann Multimedia Lernen fördern? . . . . . . . . . . . . . 473 Zusammenfassung und Schlussfolgerungen . . . . . . . . . . . . . . . . 475 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 475

24

Diagnose und Förderung im Lernbereich Schriftsprache Einführung Jürgen Walter und Franz B. Wember . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 478

24.1 24.1.1 24.1.2 24.1.3

Phonologische Bewusstheit Jürgen Walter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 479 Methode . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 482 Ergebnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 483 Jenseits der metaanalytischen Darstellung: Auswirkungen . entsprechender Fördermaßnahmen bei Risikokindern im . Kindergartenalter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 499 24.1.4 Zusammenfassendes Fazit aus den wichtigsten Befunden . . . . . . . . . 500 24.1.5 Diagnose- und Trainingsverfahren im deutschsprachigen Bereich . . . . . 501 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 502 24.2 24.2.1 24.2.2

Lesenlernen und Leseförderung Gero Tacke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Entwicklung des Schriftspracherwerbs . . . . . . . . . . Konzeptionen zum Lesenlernen und zur Leseförderung . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

24.3 24.3.1 24.3.2

Sinnverstehendes Lesen Jürgen Walter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 518 Sinnverstehendes Lesen und der Simple View of Reading-Ansatz . . . . . 519 Förderdiagnostische Konsequenzen vor dem Hintergrund des . Simple View of Reading-Ansatzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 524

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. 504 . 504 . 506 . 516

XIV

| Inhaltsverzeichnis 24.3.3 Sinnverstehendes Lesen und (meta-)kognitiv orientierte . Förderansätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 527 24.3.4 Bestimmte metakognitive Strategien und die Förderung . sinnverstehenden Lesens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 531 24.3.5 Konsequenzen für die Förderung vor dem Hintergrund des metakognitiv orientierten Ansatzes zur Verbesserung des sinnverstehenden Lesens . . . 535 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 537 24.4 24.4.1 24.4.2 24.4.3 24.4.4 24.4.5

Rechtschreiben Gerheid Scheerer-Neumann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 539 Der Lerngegenstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 539 Die Entwicklung der Rechtschreibkompetenz . . . . . . . . . . . . . . . 541 Diagnose im Bereich der Rechtschreibung . . . . . . . . . . . . . . . . . 548 Rechtschreibtests . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 552 Sind Förderschüler und Förderschülerinnen mit rechtschreibschwachen . Regelschülern vergleichbar? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 555 24.4.6 Fördern im Bereich der Rechtschreibung . . . . . . . . . . . . . . . . . 556 24.4.7 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 564 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 564 25

Diagnose und Förderung im Lernbereich Mathematik Einführung Jürgen Walter und Franz B. Wember . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 569

25.1 25.1.1 25.1.2 25.1.3 25.1.4 25.1.5

Entwicklung des Zahlbegriffs Birgit Werner . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 571 Das Wesen der Zahl und die Theorie des Zahlbegriffes . . . . . . . . . . 571 Kardinalzahl und Ordinalzahl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 574 Entwicklungssequenzen und Lernverläufe . . . . . . . . . . . . . . . . . 577 Zur Bedeutung des Zählens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 581 Diagnostik und Intervention . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 584 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 588

25.2 25.2.1 25.2.2 25.2.3 25.2.4 25.2.5

Elementare Rechenoperationen Petra Scherer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 590 Aktuelles Lern- und Lehrverständnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 590 Diagnostik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 591 Förderung des elementaren Rechnens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 592 Offene Aufgaben als Instrumente für Diagnose und Förderung . . . . . . 600 Anspruchsvoller Mathematikunterricht in Theorie und Empirie . . . . . . 602 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 604

Inhaltsverzeichnis | XV



25.3 25.3.1

Schriftliche Rechenverfahren Hans-Dieter Gerster . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 605 Zur aktuellen Diskussion der schriftlichen Rechenverfahren nach . TIMSS und PISA . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 605 25.3.2 Probleme des schriftlichen Rechnens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 606 25.3.3 Konsequenzen für die Behandlung schriftlicher Rechenverfahren . . . . . 609 25.3.4 Schriftliche Addition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 615 25.3.5 Schriftliche Subtraktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 617 25.3.6 Schriftliche Multiplikation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 622 25.3.7 Schriftliche Division . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 625 25.3.8 Wie lernen leistungsschwache Kinder Mathematik? . . . . . . . . . . . . 629 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 632 25.4 Geometrie Frank Hellmich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 634 25.4.1 Inhaltliche, aktivitätsbezogene und kontextuelle Aspekte des Lehrens . und Lernens von Geometrie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 635 25.4.2 Diagnose geometrischer Kompetenzen bei Schülerinnen und Schülern . mit dem Förderschwerpunkt Lernen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 641 25.4.3 Förderung geometrischer Kompetenzen im Mathematikunterricht . . . . 647 25.4.4 Zusammenfassung und Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 652 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 653 25.5 25.5.1 25.5.2 25.5.3 25.5.4 26

Sachrechnen Uta Häsel-Weide . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ziele und Funktionen des Sachrechnens . . . . . . . . Aufgabentypen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anforderungen beim Sachrechnen . . . . . . . . . . . Problemfelder des Sachrechnens und entsprechende . Fördermöglichkeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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. 657 . 658 . 662 . 665

. . . . . . . . . . 675 . . . . . . . . . . 682



Didaktische und methodische Fragen in ausgewählten Lernbereichen Einführung Jürgen Walter und Franz B. Wember . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 687

26.1 26.1.1 26.1.2 26.1.3

Sachunterricht Astrid Kaiser und Simone Seitz . . . . . . . . . . . . . . . . . Subjektorientierter Sachunterricht . . . . . . . . . . . . . . . Sachunterricht der Vielfalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zum Sachunterricht mit Kindern des Förderbereichs Lernen . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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. 689 . 691 . 693 . 695 . 699

XVI

| Inhaltsverzeichnis 26.2 Naturkunde und Biologie Marcus Schrenk . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 701 26.2.1 Lernbehindertenpädagogik und Biologie – ein problematisches . Verhältnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 702 26.2.2 Ergebnisse empirischer Forschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 703 26.2.3 Zur Bedeutung von Natur und Naturerfahrungen . . . . . . . . . . . . . 704 26.2.4 Pädagogische und therapeutische Aspekte der Tierhaltung . . . . . . . . 706 26.2.5 Von Naturerfahrungen zur Bildung für Nachhaltigkeit . . . . . . . . . . . 708 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 708 26.3 26.3.1 26.3.2 26.3.3 26.3.4 26.3.5

Technikunterricht Stephan Raimer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 710 Technikbegriff und Technikverständnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . 711 Technikunterricht: Historischer Rückblick . . . . . . . . . . . . . . . . . 713 Konzeptionen der Technikdidaktik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 714 Befunde zur Berufsvorbereitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 716 Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 721 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 721

26.4 26.4.1 26.4.2 26.4.3 26.4.4

Geschichte, Politik und Gesellschaftslehre Ditmar Schmetz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 722 Geschichtliches Lernen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 723 Politisches Lernen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 726 Historische und politische Handlungsfelder . . . . . . . . . . . . . . . . 731 Schülerzentrierte Gesellschaftslehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 732 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 733

26.5 26.5.1 26.5.2 26.5.3 26.5.4 26.5.5 26.5.6 26.5.7 26.5.8 26.5.9

Hauswirtschaftslehre Veronika Breucker . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 735 Bedeutung und Begründung der Hauswirtschaftslehre . . . . . . . . . . . 735 Ernährungslehre, Nahrungsaufnahme und angemessenes Essverhalten . . . 737 Nahrungszubereitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 740 Arbeitsplanung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 742 Hygiene, Sicherheit und Unfallschutz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 743 Konsumerziehung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 743 Wohnen und Wohnungspflege . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 744 Wäschepflege und Umweltschutz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 745 Zusammenfassung und Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 746 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 747

26.6 26.6.1

Sexualerziehung Ditmar Schmetz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 749 Sexuelles Verhalten im Kontext von körperlichen und . psychosozialen Problembereichen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 750



Inhaltsverzeichnis | XVII

26.6.2 26.6.3 26.6.4

Sexuelles Verhalten im Kontext von Einflüssen der Sozialisation . Intention, Inhalts- und Förderbereiche . . . . . . . . . . . . . . . Methodisch-mediale Aspekte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

26.7 26.7.1 26.7.2

Religion und Ethik in der Schule Reinhard Thoma und Franz Trautmann . . . . . . . . . . . . . . . . . . 760 Grundsätzliches . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 760 Religionsunterricht und Ethikunterricht bei Lernbehinderten: . ein Randphänomen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 760 Keine „Sonderkonzeption“ für Religions- und Ethikunterricht . . . . . . 762 Religionsunterricht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 762 Ethikunterricht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 766 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 770

26.7.3 26.7.4 26.7.5

Die Förderung von Bewegung, Wahrnehmung, Ausdruck und . Kommunikation mit Musik Franz Amrhein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26.8.1 Theoretische Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26.8.2 Die Praxis musikalischer Förderung – ein Lehrplan . . . . . . . 26.8.3 Die Rolle des Lehrers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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. 751 . 754 . 758 . 759

26.8

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. 771 . 772 . 778 . 779 . 780

26.9 26.9.1 26.9.2

Bewegungserziehung Gerd Hölter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 781 Vom Sportunterricht zur Bewegungserziehung . . . . . . . . . . . . . . . 782 Inklusion, Professionalisierung und motorische Leistungsfähigkeit . im Sportunterricht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 783 26.9.3 Entgrenzungen des Sportunterrichts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 785 26.9.4 Erziehung zum Sport – Erziehung durch Sport . . . . . . . . . . . . . . 787 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 788 26.10 26.10.1 26.10.2 26.10.3 26.10.4 26.10.5

Kunst Joachim Bröcher . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 790 Zur Bildnerei einer heterogenen Schülerschaft . . . . . . . . . . . . . . . 790 Historische Perspektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 792 Die Pädagogische Kunsttherapie H.-G. Richters . . . . . . . . . . . . . 794 Variationen und Weiterentwicklungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 800 Forschungsperspektiven . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 801 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 802

27

Berufsvorbereitung, Berufsausbildung, Berufseingliederung Einführung Jürgen Walter und Franz B. Wember . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 805

XVIII | Inhaltsverzeichnis

27.1 27.1.1 27.1.2 27.1.3 27.1.4

Prinzipien beruflicher Qualifizierung Horst Biermann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 806 Systemisches Modell . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 806 Paradigmenwandel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 808 Pädagogische Konzeptionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 811 Resümee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 818 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 820

27.2 27.2.1 27.2.2 27.2.3 27.2.4

Arbeitslehre Gerhard H. Duismann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 822 Arbeitslehre und Förderschulen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 824 Grundlagen der Arbeitslehre im Förderschwerpunkt Lernen . . . . . . . 825 Perspektiven der Arbeitslehre im Förderschwerpunkt Lernen . . . . . . . 827 Fazit und Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 830 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 831

27.3 27.3.1

Modulares Lernen Wolfgang Dings . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 834 Modularisierungsansätze im Einklang mit dem deutschen . Berufskonzept . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 836 27.3.2 Didaktische Überlegungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 839 27.3.3 Perspektiven modularen Lernens für behinderte junge Menschen . . . . . 841 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 842 27.4 27.4.1 27.4.2 27.4.3 27.4.4 27.4.5 27.4.6 27.5

Der Übergang Schule/Beruf Matthias Grünke und Tatjana Leidig . . . . . . . . . . . Zur allgemeinen Arbeitsmarktlage . . . . . . . . . . . . Zur besonderen Situation lernschwacher Jugendlicher . . Rechtliche Aspekte der beruflichen Rehabilitation . . . . Effektive Förderprinzipien . . . . . . . . . . . . . . . . Überblick über vorhandene Rehabilitationsmaßnahmen . Schlussfolgerungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

. . . . . . . .

. . . . . . . .

. . . . . . . .

. . . . . . . .

. . . . . . . .

. . . . . . . .

. . . . . . . .

. . . . . . . .

. 844 . 844 . 845 . 845 . 847 . 848 . 854 . 854

Organisationsentwicklung und Qualitätsmanagement in der . beruflichen Rehabilitation Rainer Wetzler . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 856 27.5.1 Hintergründe der Qualitätsmanagement-Diskussion . . . . . . . . . . . 857 27.5.2 Qualitätssicherung und Qualitätsentwicklung in Berufsbildungs- . werken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 859 27.5.3 Qualitätssicherung und Qualitätsentwicklung in Integrations- . fachdiensten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 863 27.5.4 Ableitungen und Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 865 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 866

Inhaltsverzeichnis | XIX



Teil VII Forschung 28 28.1 28.2 28.2.1 28.2.2 28.2.3 28.2.4 28.2.5 28.2.6 28.2.7 28.2.8 28.2.9 28.2.10 28.2.11 28.2.12 28.2.13 28.2.14 28.2.15 28.2.16 28.2.17 28.2.18 28.3 29 29.1 29.2

Einführung Jürgen Walter und Franz B. Wember . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 871 Meta- und Megaanalyse als Erkenntnismethoden zur Darstellung von Trainingseffekten bei Schülern mit sonderpädagogischem Förderbedarf Jürgen Walter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 873 Zum Verständnis der Metaanalyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 874 Ergebnisse von sonderpädagogisch relevanten Metaanalysen . . . . . . . 875 Auswirkungen spezifischer Trainings auf die Behaltens- und . Gedächtnisleistungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 877 Trainings zur Verbesserung des Leseverständnisses . . . . . . . . . . . . 878 Effekte verhaltensmodifikatorischer Techniken im Unterricht . . . . . . . 879 Förderung der phonologischen Bewusstheit . . . . . . . . . . . . . . . . 880 Effekte der „Direkten Förderung“ auf die Lernleistungen . . . . . . . . . 881 Die Wirkungsweise systematischer formativer Evaluation im . Unterricht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 881 Die Wirksamkeit von Frühförderprogrammen . . . . . . . . . . . . . . . 882 Wirkungen der Stimulantienbehandlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 882 Behinderte Schüler als Tutoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 883 Effekte computerunterstützter Unterweisung (CGU) . . . . . . . . . . . 884 Schulbasierte Interventionen speziell bei Kindern mit . Aufmerksamkeits-Hyperaktivitäts-Problemen . . . . . . . . . . . . . . . 885 Die Trainierbarkeit der Funktionen des Psycholinguistischen . Entwicklungstests . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 886 Auswirkungen der Klassengröße auf die Lernleistungen . . . . . . . . . 887 Trainings zur Verbesserung sozialer Fertigkeiten . . . . . . . . . . . . . 888 (Wahrnehmungs-)modalitätsspezifisches Unterrichten . . . . . . . . . . . 889 Meta-analytische Befunde zur Wirksamkeit der Feingold-Diät . . . . . . 890 Echter und trivialer Transfer bei psychomotorischen . Wahrnehmungstrainings . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 890 Effekte von Sonderbeschulung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 891 Schlussfolgerungen und Einschränkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . 893 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 894 Experimentelle Forschung: Was leistet sie für die Sonderpädagogik? Marcus Hasselhorn, Dietmar Grube, Claudia Mähler und Thorsten Roick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 897 Was versteht man unter experimenteller Forschung? . . . . . . . . . . . 897 Was leistet experimentelle Forschung für die Bestimmung von . Störungsursachen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 899

XX

| Inhaltsverzeichnis 29.3 29.4 29.5

Was leistet die experimentelle Forschung für die sonderpädagogische . Diagnostik? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Was leistet experimentelle Forschung für die Behandlung . sonderpädagogisch relevanter Störungen? . . . . . . . . . . . . . . . . Wo liegen die Grenzen des experimentellen Forschungsansatzes . in der Sonderpädagogik? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

. 902 . 906 . 908 . 909

Autorenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 911 Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 935

Vorwort der Reihenherausgeber Nachdem die Handbuchreihe mit dem Erscheinen des sonderpädagogischen Förderschwerpunkts „Sprache“ gestartet ist, freuen wir uns, den zweiten Band mit dem Förderschwerpunkt „Lernen“ vorstellen zu können; diese Reihe wird in den kommenden Monaten und Jahren fortgesetzt und ergänzt (z. B. um den Band „geistige Entwicklung“ sowie „soziale und emotionale Entwicklung“). Hauptziel dieser Handbuchreihe ist es, aus unterschiedlichen Disziplinen empirisch gewonnenes, aktuelles Wissen über die Pädagogik und Psychologie für Kinder und Jugendliche in besonderen Lebenslagen zu bündeln und nicht nur Studierenden der Sonderpädagogik, Lehrkräften in Förderschulen und -zentren sowie in allgemeinen Schulen zur Verfügung zu stellen, sondern auch den in sonderpädagogischen Arbeitsfeldern tätigen Psychologen, Ärzten, Therapeuten, Sozialarbeitern u.a. Insofern verfolgen die Herausgeber auch das Ziel, eine empirisch orientierte Sonderpädagogik weiter zu entwickeln und damit Basis vorbereiten zu helfen, die wenig Raum für Spekulationen offen lässt. Die Herausgeberinnen und Herausgeber der einzelnen Handbücher sind entsprechend gebeten worden, bei der inhaltlichen Gestaltung der Beiträge diese Gesichtspunkte zu berücksichtigen: – Bestimmung des Gegenstandsbereiches und damit Vermittlung eines Überblicks über die bearbeitete Thematik – Erklärungsansätze – Diagnostik – Prävention – Intervention – Unterricht – Forschungsaspekte (Methoden, Projekte, offene Fragen). Die Mitautoren und -autorinnen haben sich auch in diesem Einzelband darum bemüht, eine ausgewogene Darstellung von Theorien und empirischen Befunden vorzulegen. Da es sich jedoch nicht um Lehr-, sondern um Handbücher handelt, kam es nicht so sehr auf die innere Systematik der darzustellenden Inhalte an als vielmehr auf die aktuelle wissenschaftliche Orientierung. Deshalb haben die Autorinnen und Autoren versucht, ihre Argumentation an wissenschaftlich bewährten Theorien und an empirischen Untersuchungsergebnissen festzumachen. Falls derartige Theorien und Ergebnisse noch nicht ausreichend vorhanden sind, wurde zumindest versucht, auf fachwissenschaftliche Literaturergebnisse zurückzugreifen. Der vorliegende Band ist auf ein sonderpädagogisches Arbeitsfeld ausgerichtet, in dem es um die Vermittlung von Lernvorgängen geht, mit denen sowohl überdauernde Veränderungen gelingen können als auch Lernauffälligkeiten und -problemen begegnet werden kann. Die Notwendigkeit, sich mit dem Förderschwerpunkt Lernen sowohl in der Forschung als auch in der Praxis besonders intensiv auseinandersetzten zu müssen, ergibt sich allein aus der hohen Anzahl von Schülerinnen und Schülern mit unterschiedlichsten Lernproblemen. Nachdem im ersten Themenschwerpunkt des Bandes – unter Einbindung interdisziplinärer Forschungsbefunde – ein Überblick über den hier im Fokus stehenden Personen-

XXII

| Vorwort der Reihenherausgeber kreis vermittelt wird, werden anschließend wichtige Theorien vorgestellt, mit denen es gelingen kann, sowohl effiziente als auch ineffiziente Lernvorgänge beschreiben und erklären zu können. Dass eine gezielte Diagnostik hierbei zur Unterstützung herangezogen werden sollte, macht die Darstellung spezifischer (differential-)diagnostischer Ansätze, Methoden und Probleme deutlich. Aus gutem Grund werden in diesem Förderschwerpunkt präventive Maßnahmen sowie insbesondere spezielle schulische und außerschulische Interventionen ausführlich dargestellt. Differentielle Forschungsmethoden und -ansätze werden abschließend angesprochen. Als Ergebnis liegt nach unserer Auffassung ein Handbuch vor, das insbesondere hinsichtlich seiner inhaltlichen, aber auch seiner formalen und sprachlichen Qualität überzeugt. Den Kollegen Jürgen Walter und Franz Wember ist es gelungen, die besonders schwierige Thematik zum Förderschwerpunkt Lernen unter wissenschaftlichem Blickwinkel differenziert, sinnvoll und übersichtlich zu ordnen. Dafür sind wir dankbar, auch in dem Wissen, dass ein anspruchsvolles Handbuch ohne die kompetente Mitarbeit von Kollegen und Kolleginnen aus der Sonderpädagogik und ihren Nachbardisziplinen kaum noch vorstellbar ist. Den Kolleginnen und Kollegen gilt daher unser besonderer Dank. Die bei großen Publikationsprojekten nahezu unausweichlichen Erschwernisse und Verzögerungen bedingen zeitlich unterschiedliche Bearbeitungsstände, die überwiegend von den meisten Autorinnen und Autoren der einzelnen Kapitel nicht zu verantworten sind. Die Reihenherausgeber hoffen, dass auch dieses sonderpädagogische Handbuch die Leserinnen und Leser darin unterstützt, bei sich anbahnenden oder bereits vorliegenden Lernproblemen Anregungen und Hilfen zur kompetenten Förderung zu erhalten, dass somit Kinder und Jugendliche mittel- oder unmittelbar von diesem Handbuch profitieren. Inwieweit sich die o. g. Ansprüche Geltung verschaffen konnten, wird also letztendlich die Leserschaft zu entscheiden haben, die zu Rückmeldungen herzlich eingeladen ist. Kiel und Potsdam, im Sommer 2006

Johann Borchert . Herbert Goetze

Teil I

Gegenstandsbereich

Einführung Lernschwierigkeiten und Lernstörungen, schreibt Rudolf Kretschmann im ersten Kapitel dieses Handbuches, entstehen, wenn Lernende hinter ihren Möglichkeiten zurückbleiben oder wenn sie wichtige Bildungsziele nicht erreichen. Eine Lernbehinderung, so haben viele Fachleute bis vor kurzem argumentiert und so definieren noch heute die schulgesetzlichen Regelungen in einigen Bundesländern, liegt vor, wenn bei schulpflichtigen Kindern lang andauernde, schwerwiegende und umfängliche Leistungsausfälle zu beobachten sind. Kretschmann unterzieht diese in der Fachliteratur kontrovers diskutierten Begriffe einer dimensionalen Betrachtung und vergleicht sie mit dem vor einigen Jahren eingeführten Begriff des sonderpädagogischen Förderbedarfs. Ein solcher stellt sich im Bereich des schulischen Lernens multisymptomatisch dar und ist multifaktoriell bedingt. Kretschmann referiert Befunde zu Prävalenz und Inzidenz, diskutiert typische Manifestationen und Verläufe und entwickelt ein facettenreiches Modell der Bedingungen von Lernerfolg und Lernversagen, das förderliche und hemmende Faktoren personaler und situativer Art unterscheidet und neben den familiären und soziokulturellen Umfeldvariablen auch die Analyse der schulischen Lernbedingungen in den Blick nimmt. Folgerichtig lässt es der Autor nicht bei der Problemanalyse bewenden, sondern stellt Möglichkeiten des systematischen Trainings von Lernstrategien vor. Für Gustav Kanter stehen Bildung und Erziehung bei Beeinträchtigungen des Lernens im Spannungsfeld von Erziehungswissenschaft und Psychologie, die in Theorie und Praxis eng aufeinander zu beziehen sind, weil sie sich wechselseitig bereichern können. Modelle und Methoden aus diesen Bezugsdisziplinen sowie aus Nachbardisziplinen wie Medizin oder Sozialwissenschaft sind kritisch zu rezipieren, unter pädagogischen Gesichtspunkten zu revidieren und unter der leitenden Zielvorstellung einer differenzierten, auf individuelle Bedarfslagen und situative Erfordernisse abgestimmten Förderung zu adaptieren. Der Pädagogik und Psychologie bei Beeinträchtigungen des Lernens stellen sich folglich deskriptive, explanative, normative und präskriptive Aufgaben: Problemlagen sind sorgfältig zu beschreiben und nach Gesichtspunkten der pädagogischen Einflussnahme zu analysieren, Richtziele und Sollensinventare sind zu entwickeln und zu begründen, Handlungswissen ist zu erarbeiten und systematisch zu prüfen, damit die gezielte Förderung von Kindern und Jugendlichen auch unter erschwerten Bedingungen möglich ist, nämlich durch theoretisch-konzeptionell begründete und empirisch-praktisch bewährte Methoden und Maßnahmen von Bildung und Erziehung.

1 Lernschwierigkeiten, Lernstörungen und Lernbehinderung Rudolf Kretschmann

1.1

Begrifflichkeit

Unter „Lernschwierigkeiten“ versteht Zielinski (1996, S. 369) „Probleme der Informationsaneignung durch ein Individuum“. Im schulischen Kontext liegen Lernschwierigkeiten vor, wenn Lernende entweder hinter ihren eigenen Möglichkeiten oder den Zielen der In­ stitution zurückbleiben. Bei länger andauernden Formen des Zurückbleibens in einem oder mehreren Lernbereichen spricht man von „Lernstörungen“, wobei zwischen partiellen und generalisierten Lernstörungen unterschieden werden kann. Um eine partielle Lernstörung handelt es sich, wenn sich das Zurückbleiben auf nur einen Lernbereich bezieht (z. B. den Schriftspracherwerb). Als generalisierte Lernstörungen werden Formen des Zurückbleibens in mehreren Unterrichtsfächern bezeichnet. Können generalisierte Lernstörungen mit Mitteln der Regelschule nicht überwunden werden, wird meist ein schuladministratives Überprüfungsverfahren eingeleitet mit dem Ziel festzustellen, ob bei dem Schüler bzw. der Schülerin ein „sonderpädagogischer Förderbedarf“ vorliegt. Lernende mit generalisierten Lernstörungen und sonderpädagogischem Förderbedarf wurden bis vor kurzem als „lernbehindert“ bezeichnet. Die Kultusministerkonferenz von Deutschland (KMK) spricht in ihren Empfehlungen von 1999 von „Kindern und Jugendlichen mit Beeinträchtigungen des Lern- und Leistungsverhaltens, insbesondere des schulischen Lernens“ (Sekretariat der Ständigen Kultusministerkonferenz, 1999). Entsprechend den Vorgaben der Kultusministerkonferenz ist gegenwärtig die korrekte Bezeichnung „sonderpädagogisch förderbedürftig im Förderschwerpunkt Lernen“. Zur schnelleren Verständigung soll dafür in diesem Beitrag die Abkürzung „SPF-L-Schüler“ verwandt werden. Tabelle 1: Dimensionales Klassifikationskonzept von Beeinträchtigungen (Klauer & Lauth, 1996, S. 703) Dimension des Umfangs und der Breite

Zeitdimension

bereichsspezifisch

umfassendallgemein

eher überdauernd

Lese- und Rechtschreibschwäche

Lernbehinderung

eher vorübergehend

Motorische Unruhe

Spätentwicklung

Klauer und Lauth (1996, S. 702 ff.) beklagen einen „terminologischen Wirrwarr“ infolge einer „ ... Tendenz zu typologischer statt dimensionaler Begriffsbildung“. In ihrem Beitrag „Lernbehinderungen und Leistungsschwierigkeiten“ schlagen sie das in Tabelle 1 dargestellte zweidimensionale Klassifikationssystem vor: Der Begriff „Lernschwierigkeit“ kann als ein Oberbegriff für unterschiedliche Formen und Schweregrade beeinträch-



Kapitel 1: Lernschwierigkeiten, Lernstörungen und Lernbehinderung |

tigter Lernentwicklung angesehen werden. Bezeichnungen wie „Lernschwierigkeit“ oder „Lernstörung“ haben den Vorzug, ursachenneutral zu sein. Sie lassen offen, worauf die Schwierigkeiten zurückzuführen sind. Durch Bezeichnungen wie „Lernbehinderung“, „Lernschwäche“ oder „Teilleistungsschwäche“ erfolgt – nicht immer zu Recht – schon durch die Begriffswahl eine Lokalisation des Problems und eine Ursachenzuschreibung: Die Ursachen für Lernprobleme werden im Lernenden gesehen, wobei die Bezeichnung „Schwäche“ auf eine psychoorganische Beeinträchtigung verweist. Sofern psychoorganische Beeinträchtigungen nicht nachgewiesen sind, ist, um unzutreffenden oder zumindest einseitigen Ursachenzuschreibungen vorzubeugen, von der Bezeichnung „Schwäche“ abzuraten. Ausführungen zu weiteren Begriffsnuancen und ihren Verwendungen und zur Begriffsgeschichte finden sich bei Schröder (2000) sowie Kanter (2001). In der DSM-IV findet sich folgende klinisch-psychologische Definition: „Lernstörungen werden diagnostiziert, wenn die Leistungen einer Person im Lesen, Rechnen oder im schriftlichen Ausdruck bei individuell durchgeführten standardisierten Tests wesentlich unter den Leistungen liegen, die aufgrund der Altersstufe, der Schulbildung und des Intelligenzniveaus zu erwarten wären. Die Lernprobleme beeinträchtigen deutlich die schulischen Leistungen oder die Aktivitäten des täglichen Lebens, bei denen Lese-, Rechen- und Schreibfähigkeiten benötigt werden“ (Saß, Wittchen & Zaudig, 1996, S. 81 f.). Bei Lernenden mit sonderpädagogischem Förderbedarf im Förderschwerpunkt Lernen erkennt die KMK eine Multisymptomatik: „Die pädagogische Ausgangslage von Kindern und Jugendlichen mit Beeinträchtigungen des Lern- und Leistungsverhaltens, insbesondere des schulischen Lernens, stellt sich vielfach in Verbindung mit Beeinträchtigungen der motorischen, sensorischen, kognitiven, sprachlichen sowie sozialen und emotionalen Fähigkeiten dar. …. Sonderpädagogischer Förderbedarf ist bei Kindern und Jugendlichen gegeben, die in ihrer Lern- und Leistungsentwicklung so erheblichen Beeinträchtigungen unterliegen, dass sie auch mit zusätzlichen Lernhilfen der allgemeinen Schulen nicht ihren Möglichkeiten entsprechend gefördert werden können. Sie benötigen sonderpädagogische Unterstützung, um unter den gegebenen Voraussetzungen eine bestmögliche Förderung zu erfahren und eine entsprechende Bildung zu erwerben. Dabei können sozialpädagogische, psychologische und medizinisch-therapeutische Hilfen außerschulischer Maßnahmeträger notwendig sein, die einer sorgfältigen Abstimmung mit der sonderpädagogischen Förderung bedürfen“ (Sekretariat der Ständigen Kultusministerkonferenz, 2004, S. 3 f.). Der Multisymptomatik entspricht eine Multikausalität: Namentlich umfangreiche und lang andauernde Lernschwierigkeiten sind in der Regel Folgen eines Bündels von Einflussfaktoren (vgl. Kapitel 1.5, Prävention und Intervention bei Beeinträchtigungen der Aneignungstätigkeit). So, wie die Bezeichnungen für die Problematik variieren, haben auch die Förderschulen und Sonderschulen, in denen traditionell SPF-L-Schüler unterrichtet wurden und größtenteils werden, unterschiedliche Namensgebungen erfahren. Der im 19. Jahrhundert





| Teil I: Gegenstandsbereich geprägte Begriff „Hilfsschule“ hatte sich im Laufe der Zeit als diskriminierend und stigmatisierend erwiesen, daher wurde um 1960 die Bezeichnung „Schule bzw. Sonderschule für Lernbehinderte“ eingeführt. Auch diese Namensgebung erwies sich schon bald als nicht weniger problematisch. Darüber hinaus stellt sich die Frage, ob die Bezeichnung „Behinderung“ im Falle schulischer Lernschwierigkeiten angemessen ist, mögen diese noch so umfangreich sein. In Hamburg wurde bereits 1986 die Bezeichnung Förderschule eingeführt, eine Begrifflichkeit, die den Hilfegedanken betont. So finden Bezeichnungen wie Förderschule bzw. Schule für Lernhilfe eine zunehmende Verbreitung (vgl. Schröder, 2000). Auch diese Benennungen könnten bald Historie sein angesichts von Bestrebungen, Lernende mit den Förderschwerpunkten „Lernen“, „Sprache“ und „Emotionale und Soziale Entwicklung“ in multiprofessionellen Förderzentren zu unterrichten.

1.2

Prävalenz

Häufigkeit und Verbreitung schulischer Lernschwierigkeiten sind an unterschiedlichen Zahlen ablesbar: der Häufigkeit von Klassenwiederholungen, der Zahl der Schüler mit festgestelltem Förderbedarf im Förderscherpunkt Lernen, der Zahl der Hauptschüler ohne Schulabschluss, der Häufigkeit der Inanspruchnahme von Nachhilfe und aus Ergebnissen der PISA-Studien. 1.2.1 Wiederholer Nach Angaben des Statistischen Bundesamtes wiederholten im Schuljahr 2002/2003 in den allgemeinbildenden Schulen 2,6 % der Schülerinnen und Schüler ein Schuljahr. Da die gesamte Schulzeit sich über mindestens zehn Jahre, bei weiterführenden Bildungsrängen sogar über dreizehn Jahre erstreckt, ist die Wiederholerquote deutlich höher: Bei vorsichtiger Wiederholerquote im Schuljahr 2003/04 in % 6,0

5,5

5,0

4,4

4,5

4,0 2,7

3,0 2,0

1,5

1,2

1,0 0

n len ige ulen hrere häng fe tschu n it me tu lunab Haup en m gsgänge t r Schu tierungss la n Schu Bildu Orien

dsch

Grun

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Reals

n

nasie

Gym

Abbildung 1: Wiederholerquoten in allgemein bildenden Schulen (Statistisches Bundesamt, 2004)



Kapitel 1: Lernschwierigkeiten, Lernstörungen und Lernbehinderung |

Hochrechnung ergibt sich eine Quote von etwa 25 % von Schülerinnen und Schülern, die in ihrer Schullaufbahn wenigstens einmal eine Klasse wiederholen. Die Statistik berücksichtigt nicht die Schularten Integrierte Gesamtschule, Freie Waldorfschule und Sonderschule. Abbildung 1 zeigt mit diesen Einschränkungen die Verteilung der Wiederholerquoten auf verschiedene Schularten bzw. Schulstufen und macht deutlich, dass Lernschwierigkeiten in allen allgemein bildenden Schulformen auftreten (Statistisches Bundesamt, 2004). 1.2.2 Lernende mit sonderpädagogischem Förderbedarf 2002 wurden nach Angaben der Kultusministerkonferenz in Deutschland 495.244 Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf unterrichtet. Davon entfielen 53,0 % auf den Förderschwerpunkt Lernen und 47,0 % auf die sonstigen Förderschwerpunkte. Ca. 88 % der dem Förderschwerpunkt Lernen zugeordneten Schülerinnen und Schüler wurden in Sonderschulen unterrichtet, ca. 12 % an allgemeinen Schulen. Insgesamt betrug der Anteil der Lernenden mit sonderpädagogischem Förderbedarf 5,54 % des Jahrgangs, im Förderschwerpunkt Lernen 2,93 % (Sekretariat der Ständigen Kultusministerkonferenz, 2004). Trotz der in den zurückliegenden Jahren einsetzenden Bemühungen um eine verstärkte Prävention und Förderung in Regelschulen nahmen die Quoten der Lernenden mit sonderpädagogischem Förderbedarf im Allgemeinen und die der Förderbedürftigen im Schwerpunkt Lernen kontinuierlich zu (Sekretariat der Ständigen Kultusministerkonferenz KMK, 2004). Tabelle 2: Anzahl der Schülerinnen und Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf in den Jahren 1994 und 2002 1994

2002

Schülerinnen und Schüler mit Vollzeitschulpflicht

8.968.292

100

8.941.561

100

Davon Lernende mit sonderpädagogischem Förderbedarf

382.330

4,26

495.244

5,54

Davon Lernende mit sonderpädagogischem Förderbedarf, Förderschwerpunkt „Lernen“

217.646

2,43

262.389

2,93

Davon in allgemeinen Schulen unterrichtet

Noch keine Zählung

Noch keine Zählung

31.300

0,35

1.2.3 Lernende ohne Hauptschulabschluss Lernschwierigkeiten manifestieren sich auch in den Schulabschlüssen. Die Bildungsstatistiken weisen aus, dass im Schuljahr 2002/2003 etwa 9 % des Entlassjahrgangs keinen Hauptschulabschluss erhielten. Tabelle 2 zeigt, aus welchen Teilpopulationen sich diese Schülerinnen und Schüler zusammensetzen.





| Teil I: Gegenstandsbereich Tabelle 3: Lernende ohne Hauptschulabschluss – Zahlen und Teilpopulationen im Schuljahr 2002/2003 (Statistisches Bundesamt, 2004) Abs.

%

Jungen %

Ausländer %

Schulentlassene ohne Hauptschulabschluss

84.092

8,9

63,6

18,3

Davon aus Sonderschulen

38.733

4,0

63,8

15,9

Davon Förderschwerpunkt Lernen, Schule für Lernhilfe

24.893

2,6

63,3

15,9

Lernende, die hinter der schulischen Mindestanforderung des Hauptschulabschlusses zurückbleiben, rekrutieren sich bei weitem nicht nur aus dem Kreis der Sonderschülerinnen und Sonderschüler bzw. der Schule für Lernhilfe. Der weitaus größte Teil der schulisch erfolglosen Schülerinnen und Schüler wird ohne Abschluss aus der Hauptschule entlassen. Jungen sind dabei doppelt so häufig vertreten wie Mädchen. Die Zahlen spiegeln die hinlänglich bekannte Tatsache, dass Jungen mit den schulischen Angeboten weniger gut zurechtkommen als Mädchen. Gleiches gilt für Lernende ausländischer Herkunft. Bei einem Anteil an der Gesamtschülerschaft von etwa 10 % ist ihr Risiko, hinter den schulischen Mindestanforderungen zurückzubleiben, mit 18,3 % fast doppelt so hoch wie das deutscher Schüler (Statistisches Bundesamt, 2004). 1.2.4 Ergebnisse der PISA-Studien Zu noch höheren Zahlen kommen die in den Jahren 2001 und 2004 veröffentlichten PISA-Studien. Die erste PISA-Studie (Artelt, Stanat, Schneider & Schiefele, 2001) berichtet, dass in Deutschland 23 % aller Schülerinnen und Schüler hinsichtlich der Lesekompetenz nicht über die unterste der in der Untersuchung definierten Kompetenzstufen hinauskommen und 10 % nicht einmal diese bewältigen. Damit rangiert Deutschland im internationalen Vergleich auf dem Rangplatz 29 von insgesamt 33 an der Untersuchung beteiligten Ländern. Im Fach Mathematik fällt die Bilanz für Deutschland nicht so schlecht aus wie beim Lesen. Deutschland befindet sich im internationalen Vergleich im unteren Mittelfeld, aber auch hier gibt es Risikogruppen: Der Anteil der Schülerinnen und Schüler, deren mathematische Fähigkeiten „über das Rechnen auf Grundschulniveau“ nicht hinausreichen, ist mit fast 25 % ungewöhnlich hoch: „Ein Viertel der 15-Jährigen muss als Risikogruppe eingestuft werden, deren mathematische Grundbildung nur bedingt für die erfolgreiche Bewältigung einer Berufsausbildung ausreicht (unter und auf Kompetenzstufe I)“ (Artelt et al., 2001, S. 22). Die PISA-Studie von 2004 weist ähnliche Zahlen auf. In Bezug auf das Lesen und die mathematischen Kompetenzen der Fünfzehnjährigen konnten gegenüber der ersten Studie keine signifikanten Veränderungen festgestellt werden (vgl. Prenzel et al., 2004).

Kapitel 1: Lernschwierigkeiten, Lernstörungen und Lernbehinderung | 



1.2.5 Nachhilfe und außerschulische Förderung Ein Indikator potenzieller und manifester Lernschwierigkeiten ist u. a. auch die Wahrnehmung von elterlicher Hilfe, Nachhilfe und außerschulischer Förderung. Eine in Niedersachsen durchgeführte Fragebogenuntersuchung von Rudolph (2002) bei Schülern der Klassen 5-10 ergab, dass zu dem Untersuchungszeitpunkt – von Schuljahr zu Schuljahr unterschiedlich – 36.8 % bis 68,5 % aller Schülerinnen elterliche Hilfe bei der Bearbeitung der Hausaufgaben in Anspruch nahmen. Am höchsten war die Quote im 7. Schuljahr, wobei die Verfasserin der Studie vermutet, dass nach der damals noch bestehenden Orientierungsstufe mit der Elternunterstützung der Verbleib in der gewählten (und möglicherweise nicht durch die Schule empfohlenen) Schulform gesichert werden sollte. Bezahlte Nachhilfe nahmen 6,9 % bis 35,6 % der Schüler in Anspruch, wobei der Prozentsatz der Nachhilfeschüler in der Hauptschule am niedrigsten und im Gymnasium am höchsten lag. Maßgeblichen Einfluss auf Angebot und Nachfrage außerschulischer Förderung dürfte auch das Kinder- und Jugendhilfegesetz von 1990 haben, insbesondere § 35a, der bei Lernstörungen wie „Legasthenie“ – bei gleichzeitiger manifester oder drohender seelischer Behinderung – einen Rechtsanspruch auf außerschulische Förderung einräumt (Sozialgesetzbuch – Achtes Buch (VIII), 1990): SGB 8 § 35a Eingliederungshilfe für seelisch behinderte Kinder und Jugendliche (1) Kinder oder Jugendliche haben Anspruch auf Eingliederungshilfe, wenn 1. ihre seelische Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate von dem für ihr Lebensalter typischen Zustand abweicht, und 2. daher ihre Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt ist oder eine solche Beeinträchtigung zu erwarten ist. (2) Die Hilfe wird nach dem Bedarf im Einzelfall 1. in ambulanter Form, 2. in Tageseinrichtungen für Kinder oder in anderen teilstationären Einrichtungen, 3. durch geeignete Pflegepersonen und 4. in Einrichtungen über Tag und Nacht sowie sonstigen Wohnformen geleistet. Die rechtlichen Vorgaben ermöglichen es Eltern, unabhängig von ihrer sozialen Bedürftigkeit Leistungen für Kinder mit Lernproblemen in Anspruch zu nehmen. Derartige Fördermaßnahmen können als sinnvolle Ergänzung zu unzureichenden schulischen Angeboten angesehen werden. Kritisch ist jedoch zu werten, dass außerschulische Förderung häufig ohne Abstimmung mit der schulischen Förderung erfolgt.

1.3

Manifestationen und Verläufe

Menschen scheitern des Öfteren an Lerngegenständen: etwa an Versuchen, Ski fahren oder Gitarre spielen zu lernen. Eine Störung oder Behinderung liegt dennoch nicht vor, weil das Ski fahren bzw. Gitarre spielen keine zwingenden Voraussetzungen für die Enkulturation in unserer Gesellschaft sind. Anders verhält es sich mit den in Schule und Ausbildung zu erbringenden Lernleistungen. Lehrpläne und Prüfungsordnungen geben

10

| Teil I: Gegenstandsbereich vor, welche Mindestleistungen erwartet werden. Eine Störung oder Beeinträchtigung ist gegeben, wenn Lernende diese Mindestanforderungen nicht in der vorgegebenen Zeit erfüllen, mit daraus resultierenden Folgestörungen und Störungsfolgen unterschiedlichster Art: – Verunsicherung, Kontrollverlust und Beeinträchtigung des Selbstwertgefühls, – Irritation oder gar Gefühle narzisstischer Kränkung bei Lehrenden, denen erfolglose Schüler die Grenzen ihrer Kompetenz aufzeigen, – emotionale und soziale Ausgrenzung von Lernenden durch Lehrende infolge erlebter „Kränkung“, – Ausgrenzung der „Dummen“ durch Mitschüler, zumindest bei jüngeren Kindern, – Verunsicherung und Druck durch Eltern und nahe Bezugspersonen, – Stigmatisierung durch Sitzenbleiben oder Sonderschulüberweisung, – Verfehlen anspruchsvollerer Bildungs- und Ausbildungsziele und die Notwendigkeit, sich mit weniger angesehenen und schlechter bezahlten Beschäftigungen zufrieden geben zu müssen. Betz und Breuninger (1998/5) haben ein Modell entwickelt, welches Vorgänge in der Psyche des Individuums und zwischen seinen Bezugspersonen beschreibt und erklärt, welche Folgeprobleme sich aufgrund von Lernschwierigkeiten einstellen können. Diesem Modell zufolge sind für das Lernen drei Bereiche wichtig: – der Leistungsbereich, die schulischen Anforderungen und das Ausmaß, in dem ein Schüler sie bewältigt, – die Umwelt bzw. Umwelten, d. h., die Lehrpersonen, Mitschüler und Eltern sowie – das Selbstkonzept bzw. Selbstwertgefühl des Schülers aufgrund von vorhandenem Weltwissen, Lebenszielen, Motiven und emotionalen Befindlichkeiten. Zwischen diesen Bereichen entwickeln sich sog. Wirkungskreise: – ein pädagogischer Wirkungskreis, wozu die Methoden und Formen der pädagogischen Vermittlung ebenso gehören wie die Reaktionen v. a. der Lehrkräfte auf sich einstellende oder ausbleibende Lernfortschritte; – ein sozialer Wirkungskreis, wie die Reaktionen der Eltern auf die Lernentwicklung sowie die Interaktionen zwischen Eltern und Kind; – ein innerpsychischer Wirkungskreis, in dem die innerpsychischen Reaktionen der Lernenden auf ihre Lernentwicklung beschrieben werden. Ausbleibende Lernerfolge eines Kindes können dem Modell zufolge sog. „Lawineneffekte“ auslösen: Enttäuschung bei den Eltern (sozialer Wirkungskreis), sowie Negativerwartungen bei den Lehrkräften (pädagogischer Wirkungskreis), wobei anfängliches fürsorgliches Bemühen bei andauernden Misserfolgen umschlagen kann in Zurückweisung und Repression. Lernende, die nicht nur ihr eigenes Zurückbleiben registrieren, sondern auch die Ablehnung und Missbilligung von Personen ihres sozialen Umfeldes, können (innerpsychischer Wirkungskreis) Folgebeeinträchtigungen ausbilden wie z. B. fehlende Erfolgszuversicht, Schul- und Versagensangst oder schwerwiegende Beeinträchtigungen der Lernmotivation. Umfangreiche Lernschwierigkeiten können diesem Modell zufolge nicht allein durch lerngegenstandsbezogene Förderangebote behoben werden. Vielmehr bedarf es einer gleichzeitigen emotionalen Stabilisierung der Lernenden und einer Bearbeitung möglicherweise verhärteter Beziehungsstrukturen zwischen den Eltern, den Lehrkräften und dem Kind.



1.4

Kapitel 1: Lernschwierigkeiten, Lernstörungen und Lernbehinderung | 11

Bedingungen von Lernerfolg und Lernversagen

Lernerfolg und Lernversagen unterliegen nach Zielinski (1996) und anderen Autoren internen, im Lernenden liegenden Bedingungen und externen Bedingungen, die aus der Lernumgebung, z. B. aus der Schule, stammen. Einflüsse des häuslichen und sozialen Umfeldes bezeichnet Zielinski als moderierende Zusatzbedingungen. Bezugnehmend auf Carroll (1973) geht er davon aus, dass Lernerfolg bzw. -versagen abhängig sind „...von drei internen Bedingungen, (1) der Fähigkeit eines Schülers, Instruktionen zu verstehen, (2) der zur Bewältigung einer Aufgabe vom Schüler benötigten Lernzeit und (3) der von ihm konkret aufgewandten Lernzeit sowie zwei externen Bedingungen, ( 4) der ihm vom Lehrer zugestandenen Lernzeit und (5) der Qualität des Unterrichts ...“ (Zielinski, 1996, S. 371). Dieses Modell kann zu der irrigen Vorstellung führen, dass die Qualität schulischer Angebote allein vom Handeln der Lehrkräfte abhängig sei. De facto jedoch wird das Handeln der Lehrkräfte – bei hohem Handlungsspielraum – durch institutionelle Rahmenbedingungen und persönliche Ressourcen determiniert. In Anlehnung an Krumm et al. (1999) sollen die von Carroll und Zielinski benannten externen Bedingungen erweitert werden um die Dimensionen „Orientierung“ sowie „strukturelle Bedingungen und Ressourcen“. Die Bereiche (4) und (5) wären in diesem Modell unter dem Begriff „prozedurale Bedingungen“ subsumiert: – Unter Orientierung werden die Ziele und Einstellungen der handelnden Personen verstanden: im Bereich „Schule“ das pädagogische Selbstverständnis einer Institution, auf das ggf. neue in das Team berufene Mitglieder verpflichtet werden; im Bereich „Familie“ das Erziehungsklima und die Erwartungen der Erziehungspersonen an die Entwicklung der Kinder; bezogen auf die Lernenden die persönlichen Ziele, Werthaltungen und Ansprüche. – Unter strukturellen Bedingungen und Ressourcen sind Einflüsse eher beständiger Natur zu verstehen, etwa die Ressourcen einer Schule (Personalausstattung, zur Verfügung stehende Sachmittel), die wirtschaftlichen Verhältnisse einer Familie, oder, auf eine Person gewendet, Eigenschaften und Kompetenzen von längerem zeitlichen Bestand. – Prozedurale Bedingungen sind konkrete Aktivitäten und Handlungen, etwa das methodisch-didaktische Unterrichtshandeln der Lehrkräfte, die Erziehungspraktiken der Eltern oder die Mitarbeit eines Kindes in der Schule. Diese Bedingungen stehen miteinander in Wechselwirkung: Strukturelle Bedingungen setzen einen Rahmen, insbesondere auch Grenzen für konkrete Aktivitäten. Innerhalb dieser Grenzen ist das Verhalten der Individuen keineswegs determiniert. So ist zu beobachten, dass sich die Orientierung und die schulischen Aktivitäten bei gleichen Ressourcen von Schule zu Schule erheblich unterscheiden können, wie auch an ein und der selben Schule die Qualität pädagogischer Angebote zwischen den Lehrkräften streuen kann. Die Unterscheidung zwischen prozeduralen und strukturellen Bedingungen ist, bezogen auf den Bereich Schule, von Bedeutung für eventuelle Optimierungsvorhaben. Sofern der Schulerfolg von Lernenden durch strukturelle Bedingungen beeinträchtigt wird, sind schulorganisatorische oder bildungspolitische Veränderungen angezeigt. Schulinterne Organisationsentwicklung etwa oder eine bessere Ausstattung der Bildungssysteme mit per-

| Teil I: Gegenstandsbereich

rne B gun edingen

Inte rn Bed e in gun gen

Bedingungen des Lernerfolgs

Orie n (Lei tierung tbild er Eins tellu , Ziele, nge n) Stru ktur en (Eig e sou n s c h a ft rcen , Or e n , R e gan is a t s Pro io n ) ze Bed durale ingu nge n

sonellen und materiellen Ressourcen. Sind trotz angemessener struktureller Bedingungen die prozeduralen Bedingungen unbefriedigend, etwa die Qualität des Unterrichts oder die Kooperation der Lehrkräfte untereinander, müssen Maßnahmen zur Personal- oder der Teamentwicklung im Vordergrund stehen. Abbildung 2 gibt einen ersten Überblick über das Bedingungsgefüge.

Exte

12

Ressourcen, Eigenschaften, Verhaltensweisen, Kompetenzen der Schülerin/des Schülers

Häusliches, auFamilie, ßerschulisches Gleichaltrige, Umfeld Wohngegend Schule

Lebensraum Schule, Unterricht, Schulisches Umfeld

Abbildung 2: Bedingungen des Lernerfolgs

Die pädagogische und psychologische Forschung hat sich über viele Jahrzehnte nur mit den Risiken beschäftigt, welche die schulische oder die außerschulische Entwicklung von Kindern und Jugendlichen behindern. Erst in den letzten Jahren wurde die Fachwelt darauf aufmerksam, dass sowohl schützende Eigenschaften der Individuen als auch förderliche Umfeldbedingungen vorhandene Risiken kompensieren und ausbalancieren können (vgl. Opp, Fingerle & Freytag, 1999). Bei einer Diagnose von Lernschwierigkeiten interessiert dann nicht nur, was einen Schüler an einer gedeihlichen Entwicklung hindert, sondern (vgl. Klemenz, 2003) in gleichem Maße, über welche personalen Ressourcen er verfügt bzw. welche Umfeldressourcen vorhanden sind. Die Tabellen 4a bis 4d zeigen, welche Bedingungen erwiesenermaßen oder mutmaßlich zum Erfolg und Versagen beim schulischen Lernen beitragen können, indem sie zwischen Risiken und Schutzfaktoren unterscheiden. Nicht alle Bedingungen sind gleich wichtig: Unter den personalen Bedingungen erhöht vor allem das lernbereichsspezifische Vorwissen die Lernchancen eines Kindes, z. B. bei Schulanfängern das Vorwissen, das sie schon vor Schuleintritt in Bezug auf das Lesen, Schreiben und Rechnen erworben haben (vgl. Helmke, 1997). Unter den schulischen Bedingungen sind es Variablen wie die zugestandene und effizient genutzte Lernzeit. Brophy und Evertson (1980) z. B. fanden,

Orientierung

Überdauernde Merkmale und Eigenschaften

Emotionale und soziale Voraussetzungen – Das Kind ist in der Lerngruppe sozial integriert – Das Kind ist sozial zuversichtlich

Emotionale und soziale Voraussetzungen – Das Kind ist in der Lerngruppe ausgegrenzt bzw. isoliert – Das Kind ist sozial ängstlich

– Der Schüler/die Schülerin zeigt hohes Interesse an dem Lerngegenstand – Der Schüler/die Schülerin verfügt über ein hohes Gütebewusstsein und erledigt die Aufgaben sorgfältig – Der Schüler/die Schülerin ist zuver­sichtlich, die schulischen Anforderungen bewältigen zu können – Der Schüler/die Schülerin ist vielseitig interessiert

Kognitive Voraussetzungen – Hohes intellektuelles Potenzial – Differenzierte Sprachkompetenz – Bei Migration und mehrsprachiger Erziehung: sichere Beherrschung der deutschen und/oder der Herkunftssprache – Altersadäquate Entwicklung der sprachlichen Funktionen – Das Kind verfügt über umfangreiches Weltwissen – Das Kind verfügt über die Kompetenz, ausdauernd und planvoll zu arbeiten – Das Kind hat im Fach Deutsch die relevanten Lernschritte zureichend und altersadäquat vollzogen – Das Kind hat im Fach Mathematik die relevanten Lernschritte zureichend und altersadäquat vollzogen

Kognitive Voraussetzungen – Geringes intellektuelles Potenzial – Eingeschränkte Sprachkompetenz infolge sozialer Deprivation – Eingeschränkte Sprachkompetenz infolge v. Migration – Sprachstörungen (Dysgrammatismus, gestörte Artikulation) – Geringes Weltwissen – Das Kind verfügt nicht über die Kompetenz, ausdauernd und planvoll zu arbeiten – Das Kind hat im Fach Deutsch relevante Lernschritte nicht oder nicht adäquat vollzogen – Das Kind hat im Fach Mathematik relevante Lernschritte nicht oder nicht adäquat vollzogen

– Der Schüler/die Schülerin zeigt wenig Interesse an dem Lerngegenstand – Der Schüler/die Schülerin verfügt über ein geringes Gütebewusstsein und erledigt die Aufgaben wenig sorgfältig – Das Kind hat Angst, in Leistungssituationen zu versagen – Der Schüler/die Schülerin hat ein eingeschränktes Interessenspek­trum

Organische Merkmale – Das Kind ist körperlich fit und altersadäquat entwickelt

Allgemeine, lernbereichsüber­greifende Schutzfaktoren und Ressourcen

Organische Merkmale – Schwerwiegende Beeinträchtigungen des Sehens oder Hörens – Schwerwiegende Beeinträchtigungen der Motorik – Organische nachweisbare neurologische Beeinträchtigungen – Anfälligkeit gegenüber Infektionskrankheiten

Allgemeine, lernbereichs­übergreifende Risiken

Tabelle 4a: Lernhemmende und lernförderliche Bedingungen – interne, personale Bedingungen

Kapitel 1: Lernschwierigkeiten, Lernstörungen und Lernbehinderung | 13

– Widerwillige bzw. innerlich unbeteiligte Bearbeitung schulischer Anforderungen – Vermeidungsverhalten in der Lernsituation – Planloses Vorgehen n. Versuch und Irrtum – Das Kind ist leicht ablenkbar – Hoher Energieaufwand (Anspannung und Verkrampfung), u. U. infolge fehlender Automatisierung vorangegangener Lernschritte – Der Schüler/die Schülerin fühlt sich in der Lernsituation ängstlich und unbehaglich – Unzureichende Bearbeitung außerschulischer Anforderungen (Hausaufgaben etc.) – Im Allgemeinen erfolglose Aufgabenbewältigung – Motorisch unruhiges Verhalten – Verbales u. anderes Störverhalten – Hyperaktives bzw. hypermotorisches Verhalten – Das Kind neigt zu unkontrollierten Gefühlsausbrüchen – Unterrichts- bzw. Schulvermeidung – Delinquentes Verhalten

– Das Kind ist unter materiell ungünstigen Bedingungen herangewachsen – Das Kind hat in der Vergangenheit keine sichere Bindung erfahren – Das Kind ist in einem anregungsarmen und bildungsfernen Milieu herangewachsen – Das Kind hat keine Vorschuleinrichtung besucht – Das Kind hat nicht an vorschulischen Förderangeboten teilgenommen – Das Kind wurde durch traumatische psychische Ereignisse stark belastet (z. B. Krieg, Trennung, Unfall, Missbrauch) – Das Kind musste sich wegen angeborener oder erworbener Schädigungen häufig oder langandauernd ambulan­ ter oder stationärer medizinischer Behandlung unterziehen

Prozedurale Bedingungen

Lern- und Lebens­ geschichte

Tabelle 4a (Fortsetzung)

– Das Kind ist unter materiell günstigen Bedingungen herangewachsen – Das Kind hat in der Vergangenheit eine sichere Bindung erfahren – Das Kind ist in einem anregungsreichen, bildungsnahen und liberalen Milieu herangewachsen – Das Kind hat den Kindergarten besucht – Das Kind hat an vorschulischen Förderangeboten teilgenommen (Bewegungserziehung, musikalische Früherziehung)

– Bereitwillige und interessierte Bearbeitung schulischer Anforderungen – Aktive Mitarbeit – Planvolle und systematische Aufgabenbearbeitung – Konzentrierte Mitarbeit – Zügige und gelöste Aufgabenbearbeitung infolge von Automatisierung vorangegangener Lernschritte – Der Schüler/die Schülerin fühlt sich in der Lernsituation kompetent und selbstwirksam – Zureichende Bearbeitung außerschulischer Anforderungen (Hausaufgaben etc.) – Im Allgemeinen erfolgreiche Aufgabenbewältigung

14

| Teil I: Gegenstandsbereich

Ressourcen und strukturelle Bedingungen

Familie – Vollständige Familie – Materielle Sicherheit, regelmäßiges und hinreichendes Arbeitseinkommen – Angesehener Sozialstatus der Erziehungspersonen bzw. der Familie – Berufstätigkeit bei ausreichender zeitlicher Betreuung der Kinder – Ausreichender Wohnraum – Hohes Bildungsniveau der Erziehungspersonen – Anregungsreiches und literales häusliches Milieu, Bücher, Kinderbücher, regelmäßiges Vorlesen – Gute soziale Integriertheit der Familie – Psychisch stabile Erziehungspersonen

Gleichaltrigengruppe – Das Kind ist eingebunden in einen bildungsbewussten und sozial wie intellektuell kompetenten Freundeskreis Wohngegend, weiteres Lebensumfeld – Erreichbare kulturelle Angebote (Bibliotheken, Museen, Sportstätten, Freizeitheime) – Ungefährliche und anregende außerhäusliche Bewegungsräume (Natur, Spielplätze)

Gleichaltrigengruppe – Das Kind hat wenig Kontakte zu Gleichaltrigen – Zugehörigkeit zu Cliquen gefährdeter und wenig bildungsinteressierter Gleichaltriger

Wohngegend, weiteres Lebensumfeld – Kulturelle Angebote sind für das Kind nicht erreichbar – Ungefährliche Bewegungsräume sind für das Kind nicht erreichbar

Allgemeine, lernbereichs­übergreifende Schutzfaktoren und Ressourcen

Familie – Belastung durch Trennung der Erziehungspersonen – Unvollständige Familie – Materielle Unsicherheit – Hohe Kinderzahl bei materieller Unsicherheit – Soziale Randständigkeit der Erziehungspersonen bzw. der Familie – Arbeitslosigkeit der Erziehungspersonen – Hohe zeitliche Belastung der Erziehungspersonen durch Berufstätigkeit – Beengte Wohnverhältnisse – Geringes Bildungsniveau der Erziehungspersonen – Anregungsarmes häusliches Milieu – Soziale Isolierung der Familie – Migrationshintergrund in Verbindung mit bildungsfernem Milieu – Psychische Instabilität von Familienmitgliedern (Sucht, Abhängigkeit, psychische Erkrankungen) – Schwere chronische Erkrankungen von Familienmitgliedern

Allgemeine, lernbereichs­übergreifende Risiken

Tabelle 4b: Lernhemmende und lernförderliche Bedingungen – außerschulische, häusliche Sozialisationsbedingungen

Kapitel 1: Lernschwierigkeiten, Lernstörungen und Lernbehinderung | 15

– Geringe Interaktionsdichte zwischen den Familienmitgliedern – Geringe sprachliche Kommunikation zwischen Eltern und Kindern – Überforderung oder Unterforderung – Fehlende Unterstützung des Kindes bei der Bewältigung schulischer Anforderungen – Fehlende emotionale Unterstützung des Kindes bei Schwierigkeiten – Fehlende Kooperation der Erziehungspersonen mit der Schule

Prozedurale Bedingungen

Pathogene Erziehungseinflüsse wie z. B. – Überbehütung – Vernachlässigung und Verwahrlosung – Ablehnung und Zurückweisung – Strafende Erziehung – Inkonsistente Erziehung – Symbiotische Bindung der Kinder – Gewaltanwendung – Missbrauch

– Geringes Bewusstsein der Erziehungspersonen für soziale Werte – Desinteresse der Erziehungspersonen an den eigenen Kindern – Entmutigendes bzw. gleichgültiges Erziehungsklima – Geringes Bildungsinteresse der Erziehungspersonen – Die Erziehungspersonen haben überhöhte Ansprüche an das Kind

Orientierung

Tabelle 4b (Fortsetzung)

– Hohe Interaktionsdichte zwischen den Familienmitgliedern (Spiele, gemeinsame Unternehmungen) – Intensive sprachliche Kommunikation zwischen Eltern und Kindern – gelungene Balance aus Fördern und Fordern – aktive Unterstützung des Kindes bei der Bewältigung schulischer Anforderungen – emotionale Unterstützung des Kindes bei Schwierigkeiten – aktive Kooperation der Erziehungspersonen mit der Schule – Unterstützung des Kindes durch bezahlte Nachhilfe – Die Eltern ermöglichen und ermutigen zur Pflege differenzierter Interessen (Musik, Sport)

– Hohes Bewusstsein der Erziehungspersonen für soziale Werte – Hohes Interesse der Erziehungspersonen an einer gedeihlichen Entwicklung der Kinder – Ermutigendes Erziehungsklima – Respektvolle und liebevolle Grundeinstellung – Hohes Bildungsinteresse der Erziehungspersonen

16

| Teil I: Gegenstandsbereich

Strukturellorganisatorische Bedingungen

Bau, Gelände und Ausstattung – Freundliche bauliche Gestaltung der Einrichtung – Zweckmäßiges Raumangebot – Ausreichende und funktionelle Außenanlagen – Guter baulicher Erhaltungszustand – Ansprechende und gut erhaltene Einrichtung und Raumausstattung – Ausstattung mit zeitgemäßen pädagogischen Arbeitsmitteln (Spiele, Werkstoffe, didaktische Materialien) Personelle Ressourcen – Ausreichende Zahl besetzter Stellen – Überschaubare Gruppengrößen – Für die pädagogischen Aufgaben hinreichend qualifiziertes Personal – Kontinuierliche Personalentwicklung – Vorhandensein und Inanspruchnahme außerinstitutioneller Unterstützungssysteme Pädagogische Angebote, Arbeits- und Organisationsstrukturen – Kindgerechte und entwicklungsförderliche pädagogische Konzepte und Angebote – Curricula mit Lebensweltbezug und Selbstwirksamkeitserleben – Feststehende Präventions- und Förderangebote für entwicklungsgefährdete Kinder (z. B. Sprachförderung, Förderung von Sozialkompetenz) – Familienergänzende Angebote (Mahlzeiten, Körperpflege) – Ganztagsbetreuung

Personelle Ressourcen – Personelle Unterversorgung – Hohe Gruppenfrequenzen – Für die pädagogischen Aufgaben nicht hinreichend qualifiziertes Personal (z. B. fachfremder Unterricht)

Pädagogische Angebote, Arbeits- und Organisations­ strukturen – Unzeitgemäße und wenig kindgerechte pädagogische Konzepte und Angebote – Unzureichende Abstimmung und Kooperation – Fehlender pädagogischer Konsens – Fehlende bzw. unzulängliche Präventions- und Förderangebote für entwicklungsgefährdete Kinder

Schutzfaktoren und Ressourcen

Bau, Gelände und Ausstattung – Unfreundliche bauliche Gestaltung der Einrichtung – Nichtfunktionelles Raumangebot – Unzureichende Außenanlagen – Schlechter Erhaltungszustand, Spuren v. Wandalismus – Verbrauchte bzw. dürftige Einrichtung und Raumausstattung – Unzureichende bzw. veraltete Ausstattung mit pädagogischen Arbeitsmitteln

Entwicklungsrisiken

Tabelle 4c: Lernhemmende und lernförderliche institutionelle Bedingungen – Elementarbereich

Kapitel 1: Lernschwierigkeiten, Lernstörungen und Lernbehinderung | 17

Gemeinschaftsleben – Kooperatives und konstruktives Beziehungsverhältnis der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter – Entwickeln und kontinuierliches Weiterentwickeln pädagogischer Konzepte – Aktives Zugehen auf Eltern, intensive Elternarbeit – Öffnung der Einrichtung zum Stadtteil, Austausch mit Bibliotheken, Kultureinrichtungen etc. – Personalentwicklung, Fortbildung der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter – Organisationsentwicklung zur planvollen Realisierung von Konzepten – regelmäßige Abstimmung und Kooperation – Bemühen um einen pädagogischen Konsens Pädagogische Ebene – Geplante, anregende, intellektuell wie emotional/sozial förderliche pädagogische Angebote – relevante und lebensnahe Themen und Inhalte – Kindgerechte Anbahnung von Welt- und Kulturwissen

Gemeinschaftsleben – Angespanntes und wenig konstruktives Beziehungsverhältnis der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter

Pädagogische Ebene – Inhaltliche Beliebigkeit und Zufälligkeit der pädagogischen Angebote

Prozedurale Bedingungen

– Positive Erwartungen bezüglich der Entwicklungschancen der Lernenden – Bemühen um Balance aus Fordern und Fördern – Bemühen um Gestaltung der Institution als Lebensraum und Lernumgebung – Respektierende Grundhaltung gegenüber Kindern und Eltern

– Negativerwartungen des Personals bezüglich der Entwicklungschancen der Lernenden – Geringe Wertschätzung der Kinder und ihrer Familien

Kinder – Wiederkehrend motivierte und interessierte Kinder

Orientierung

Kinder – Wiederkehrend hoher Anteil von Kindern aus belasteten Familien – Hoher Anteil von Kindern mit Migrationshintergrund bei gleichzeitiger Bildungsferne – Hoher Anteil von Kindern aus bildungsfernen Familien

Tabelle 4c (Fortsetzung)

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| Teil I: Gegenstandsbereich

Strukturellorganisatorische Bedingungen

Curricula, Arbeits- und Organisationsstrukturen – Wenig kind- und altersgerechte pädagogische Angebote – Unterrichtliche Formalangebote mit wenig Lebensweltbezug – Einseitig kognitiv ausgerichtete Unterrichtsangebote – Fehlende Binnendifferenzierung – Unzureichende Abstimmung und Kooperation – Fehlender pädagogischer Konsens – Fehlende bzw. unzulängliche Präventions- und Förderangebote für entwicklungsgefährdete Lernende

Allgemeine, lernbereichsübergreifende Risiken

Curricula, Arbeits- und Organisationsstrukturen – Kindgerechte und entwicklungsförderliche pädagogische Konzepte und Angebote – Curricula mit Lebensweltbezug und Selbstwirksamkeitserleben – Training von Lifeskills, Sozialverhalten und Kommunikationskompetenz – Binnendifferenzierender Unterricht, Bemühen um größtmögliche Passung der Angebote – Anforderungsfreie Begegnungsmöglichkeiten (Arbeitsgemeinschaften, Freizeiten) – Ganztagsunterricht – Regelmäßige Abstimmung und Kooperation – Bemühen um einen pädagogischen Konsens – Präventions- und Förderangebote für lern- und entwicklungsgefährdete Kinder

Allgemeine, lernbereichsübergreifende Schutzfaktoren und Ressourcen

Interinstitutionelle Kooperation – Enge Kooperation mit Jugendhilfe, Beratungsdiensten, Stadtteilinitiativen, Kulturvereinen etc. – Initiieren von bzw. Zusammenarbeit mit Initiativen zur Stärkung elterlicher Bildungs- und Erziehungskompetenz, z. B. „family-literacy“-Programmen, HIPPY oder OPSTAPJE – Enge Kooperation mit den aufnehmenden Grundschulen, Harmonisieren der pädagogischen Konzepte, Realisieren von Projekten zum Erleichtern des Übergangs

– Präliterale und pränumerische Angebote, „Lesepaten“ – Training von Lifeskills und Sozialverhalten – Gezielte Förderung von Kindern mit Entwicklungsrückständen (z. B. Sprachförderung)

Tabelle 4d: Lernhemmende und lernförderliche institutionelle Bedingungen – Schule

Interinstitutionelle Kooperation

Tabelle 4c (Fortsetzung)

Kapitel 1: Lernschwierigkeiten, Lernstörungen und Lernbehinderung | 19

Orientierung

Personelle Ressourcen und Unterrichtsversorgung – Hinreichend umfangreiche Stundentafel – Ausreichende Zahl von Planstellen – Ausreichende Zahl besetzter Stellen – Krankheits- und Vertretungsreserven – Doppelbesetzung in schwierigen Lerngruppen – Überschaubare Klassenfrequenzen – Für die Unterrichtsaufgaben hinreichend qualifiziertes Personal – Kontinuierliche Personalentwicklung – Nichtunterrichtendes pädagogisches Personal (z. B. Schulsozialarbeiter) Kinder – Wiederkehrend motivierte und bildungsinteressierte Schülerschaft

Bau, Gelände und Ausstattung – Freundliche bauliche Gestaltung der Schule – Zweckmäßiges Raumangebot – Ausreichendes und funktionelles Pausengelände – Guter baulicher Erhaltungszustand – Ansprechende und gut erhaltene Einrichtung und Raumausstattung – Ausstattung mit zeitgemäßen pädagogischen Arbeitsmitteln (Bibliothek, PC, Werkstoffe, didaktische Materialien) – Heterogenitätsorientierung – Kinder eines Jahrgangs unterscheiden sich und sollen daher unterschiedliche Angebote erhalten; Vielfalt wird als Ressource angesehen. – Positive Erwartungen bezüglich der Entwicklungschancen der Lernenden

Personelle Ressourcen und Unterrichtsversorgung – Die Stundentafel ist für die zu vermittelnden Inhalte zu knapp bemessen – Personelle Unterversorgung – Häufiger Unterrichtsausfall – Hohe Klassenfrequenzen – Für die Unterrichtsaufgaben nicht hinreichend qualifiziertes Personal (z. B. fachfremder Unterricht)

Kinder – Wiederkehrend hoher Anteil von Lernenden aus belasteten Familien – Schülerinnen und Schüler aus verfeindeten ethnischen Gruppen – Wiederkehrend demotivierte und bildungsferne Schülerschaft

Bau, Gelände und Ausstattung – Unfreundliche bauliche Gestaltung der Schule – Nichtfunktionelles Raumangebot – Unzureichendes Pausengelände – Schlechter Erhaltungszustand, Spuren v. Wandalismus – Verbrauchte bzw. dürftige Einrichtung und Raumausstattung – Unzureichende bzw. veraltete Ausstattung mit pädagogischen Arbeitsmitteln

– Homogenitätsorientierung – alle Schüler eines Jahrgangs sollen gleiche Lernvoraussetzungen haben, was ggf. durch Zurückstellung oder Ausschluss herzustellen ist. Vielfalt wird als Störfaktor erlebt – Negativerwartungen bezüglich der Entwicklungschancen von Lernenden

Tabelle 4d (Fortsetzung)

20

| Teil I: Gegenstandsbereich

Prozedurale Bedingungen

Unterrichtliche Ebene – Binnendifferenzierender Unterricht, Berücksichtigung individuell unterschiedlicher Lernvoraussetzungen – Anregungsreicher Unterricht, relevante und lebensnahe Themen und Inhalte – Prozessbegleitende Diagnosen der Lernentwicklung und Passung der schulischen Anforderungen an die individuellen Lernvoraussetzungen – Individuelle Entwicklungspläne für lernende mit besonderen Bedarfen – Gründliche Automatisierung und Verfestigung des Lernstoffs – Emotional und fachlich unterstützendes Lehrerverhalten – Kooperativer Umgang der Lernenden miteinander – Regelung der Arbeitsbeziehungen mit Schülern durch Zielvereinbarung – Transparente und faire Leistungsbewertung, z. B. durch Portfolios

Unterrichtliche Ebene – Gleichschrittiges Lernen, fehlende Binnendifferenzierung – Inhaltlich wenig ansprechender Unterricht – Methodisch wenig ansprechender Unterricht – Unzureichende Automatisierung und Verfestigung des Lernstoffs – Ablehnendes und demütigendes Lehrerverhalten, gestörte Schüler- Lehrer- Beziehung – Hohes Maß an Spannungen und Rivalität zwischen den Schülern – Mobbing und Ausgrenzung Einzelner – Intransparente und u. U. unfaire Leistungsbewertung

– Förderorientierung, kein Kind soll zurückgelassen werden – Bemühen um Balance aus Fordern und Fördern – Bemühen um Gestaltung von Schule als Lebensraum und Lernumgebung – Respektierende Grundhaltung gegenüber Schülern und Eltern – Ermutigungskultur Schulleben – Entwickeln und kontinuierliches Weiterentwickeln eines Schulprofils – Aktives Zugehen auf Eltern, intensive Elternarbeit – Schützende Begleitung der Schüler, z. B. durch Pausenangebote, Anti-Gewalt-Programme – Öffnung der Schule zum Stadtteil

Starke Selektionsorientierung Hoher Leistungsdruck Geringe Wertschätzung der Lernenden Demütigungskultur

Schulleben

– – – –

Tabelle 4d (Fortsetzung)

Kapitel 1: Lernschwierigkeiten, Lernstörungen und Lernbehinderung | 21

22

| Teil I: Gegenstandsbereich dass die Schüler dann die größten Lernerfolge aufwiesen, wenn ein maximaler Anteil der Unterrichtsstunde für die Unterrichtung genutzt wurde. In Kapitel 15 in diesem Band werden, bezugnehmend auf die Untersuchung von Rutter u. a. (1980), weitere schulische Bedingungen von Lernerfolg und Lernschwierigkeiten beschrieben. Kennzeichnend für die Lebensbedingungen von SPF-L-Schülern sind (vgl. Begemann, 1970; Klein, 1985; Thimm und Funke, 1977; zusammenfassend auch Schröder, 2000) folgende Bedingungen: geringes Familieneinkommen, Leben von Sozialhilfe, geringer Bildungsstandard der Eltern, hohe Kinderzahl, unvollständige Familiensituation, sowie ein Migrationshintergrund, wobei nicht selten mehrere Risiken gemeinsam auftreten. Empirische Untersuchungen zu den Lebensbedingungen der Lernenden sind größtenteils älteren Datums, weil die Möglichkeiten der Erhebung personbezogener Daten durch die geltenden Datenschutzbestimmungen erheblich eingeschränkt sind. Allerdings haben (s.u.) in jüngster Zeit v.a. die PISA-Studien (Deutsches PISA-Konsortium, 2001; PISAKonsortium Deutschland, 2004) erneut auf die im deutschen Bildungssystem bestehenden hohen Zusammenhänge zwischen dem Bildungserfolg und der sozialen Herkunft der Lernenden aufmerksam gemacht. Lernerfolg und Lernversagen sind mit dem sozialen Status hoch korreliert. So finden sich die Kinder, die nicht über die erste Lesestufe hinauskommen, vorwiegend in den untersten sozialen Statusgruppen „III-Routinedienstleistungen“, „V-VI-Facharbeiter“ und „VIII-An- und ungelernte Arbeiter“ (Artelt et al., 2001, S. 37). Migrationshintergründe sind ein weiterer Prädiktor für ungünstige, durch schulische Mittel bisher nicht kompensierbare Lernverläufe: Von 10–14 % der 15-Jährigen, welche in der PISA-Studie die erste Kompetenzstufe der Lesekopmpetenz nicht erreichen, haben fast die Hälfte der Kinder einen Migrationshintergrund. Die Hälfte von ihnen ist in Deutschland geboren und hier wenigstens sieben Jahre zur Schule gegangen (Baumert & Schümer, 2001, S. 323 f.). Bedeutsam ist in dem Zusammenhang, dass es den Bildungssystemen anderer Länder offenbar besser als dem deutschen gelingt, sozialisations- oder Obere Dienstklasse (I) Untere Dienstklasse (II) Routinedienstleistungen (III) Selbstständige (IV) Facharbeiter (V, VI) Un- und angelernte Arbeiter (VII) 200

300

Kompetenzstufe

400 I

II

500 III

600 IV

700

800

V

Perzentile 5 %10 % 25 %

75 %

90 % 95 %

Mittelwert und Konfidenzintervall (± 2 SE)

Abbildung 3: Verteilung der Lesekompetenz innerhalb der Sozialschichten (Baumert & Schümer, 2002, S. 362)



Kapitel 1: Lernschwierigkeiten, Lernstörungen und Lernbehinderung | 23

migrationsbedingte Nachteile auszugleichen, d. h. den Lernenden zu einer erfolgreichen schulischen Lernentwicklung zu verhelfen. Darüber hinaus weisen die Autoren darauf hin, dass ein Migrationshintergrund erst dann zum Entwicklungsrisiko wird, wenn die Migration einher geht mit Armut und Bildungsferne. Erfolgreiche Lernentwicklungen sind (vgl. Bronfenbrenner, 1974, 1977, 1981) in der Regel Folgen eines Bündels günstiger Bedingungen; Negativentwicklungen sind in der Regel Auswirkungen eines Bündels ungünstiger Einflüsse und Voraussetzungen. Störungen sind zu erwarten, wenn Menge und Gewicht von Risiken die Menge und das Gewicht der Ressourcen bzw. Unterstützungspotenziale übersteigen. Eine Verringerung von Störungen ist zu erwarten, wenn es gelingt, Kompetenzen und Ressourcen der Person zu stärken, Risiken im Umfeld zu minimieren und Schutzfaktoren im Umfeld zu maximieren. Ergänzend sei erwähnt, dass bei der Suche nach den Bedingungen von Schulerfolg und Schulversagen eine Betrachtung zu kurz greift, die sich ausschließlich auf das Schulalter der Lernenden beschränkt. In der European Child Care and Education Study (Krumm et al., 1999) wurde für Deutschland, Österreich und Spanien die Entwicklung von Kindern vom vierten bis zum achten Lebensjahr untersucht. Die Ergebnisse zeigen, wie sich die individuellen Merkmale der Kinder sowie die Umfeldbedingungen im Alter von vier Jahren auf die Schulleistungen im achten Lebensjahr auswirken. Darüber hinaus wurden die Qualität des Unterrichts und die häuslichen Lebensbedingungen der Kinder untersucht. Etwa die Hälfte der Leistungsunterschiede am Ende der zweiten (in Deutschland und Österreich) bzw. der dritten Klasse (in Spanien) konnten durch die Untersuchungsvariablen aufgeklärt werden. Bezogen auf die aufgeklärte Varianz konnten drei Viertel der Leistungsunterschiede durch die Erhebungen im vierten Lebensjahr vorhergesagt werden. Lediglich ein Viertel der aufgeklärten Varianz war auf Indikatoren zur Qualität der schulischen Angebote bzw. der häusliche Lebensbedingungen im Alter von acht Jahren zurückzuführen. Für das Vorschul- wie für das Schulalter gilt, dass die häuslichen Lebensbedingungen etwa doppelt so großen Einfluss auf die kindliche Entwicklung haben wie die Qualität der institutionellen (vor)schulischen Angebote. Den Einfluss der vorschulischen Entwicklung auf die schulische Leistungsentwicklung und damit auch potenzielles Schulversagen belegen u. a. auch die von Mitarbeitern des Max-Planck-Instituts für psychologische Forschung durchgeführten Studien LOGIK und SCHOLASTIK (Weinert & Helmke, 1997). In diesen Untersuchungen wurde die Entwicklung von ca. 220 Kindern vom Ende der Kindergartenzeit bis zur fünften Klasse verfolgt. Demnach bleiben die Leistungsunterschiede der Lernenden über alle Schuljahre nahezu konstant: Bei einem Teil der anfänglichen Spitzenschüler sinken die Leistungen zwar auf ein niedrigeres Niveau, es liegt jedoch weiterhin über dem Durchschnitt. Bei einem Teil der anfänglich durchschnittlichen Lernenden steigen die Leistungen auf ein leicht überdurchschnittliches Niveau an. Schülerinnen und Schüler mit niedrigen Leistungen zu Beginn der Grundschulzeit hingegen behalten diese relative Position bis zum Ende der Grundschulzeit bei; Schwächeren gelingt es offenbar nicht, ihre Leistungsdefizite während der Grundschulzeit zu kompensieren (vgl. Helmke, 1997). Eine Übersicht über lernförderliche und lernhemmende institutionelle Bedingungen im Elementarbereich gibt Tabelle 4c.

24

| Teil I: Gegenstandsbereich

1.5

Prävention und Intervention bei Beeinträchtigungen der Aneignungstätigkeit

Unter Lernen ist im Sinne der Aneignungstheorie (vgl. Galperin, 1974; Leont’ev, 1977; Lompscher et al., 1972; 1985) eine Tätigkeit zu verstehen, die geeignet ist, die geistigen Modelle zu verändern, die eine Person von sich selbst und ihrer Umwelt hat und die Veränderungen in der Umwelt herbeiführen. Lernen ist damit kein auf das Individuum beschränktes Ereignis, sondern ein transaktionaler Prozess. Lernen ist darüber hinaus ein Vorgang mit einer zeitlichen Dimension. Von der Annäherung an eine Aufgabe bis zu ihrer Beendigung lassen sich – bezugnehmend auf Autoren wie Meichenbaum (1979), Lauth (1983) und die o. a. Vertreter der Aneignungstheorie – mehrere Teiloperationen des Lernens beschreiben. Der gesamte Lernerfolg leidet, wenn wichtige Teiloperationen ausgelassen oder unzweckmäßig ausgeführt werden. Tabelle 5 beschreibt die wichtigsten Teiloperationen und Störungen des Lernprozesses, wobei grundsätzlich vorausgesetzt werden muss, dass die Aufgabe oder Anforderung der Lernausgangslage eines Kindes angepasst ist. Lerntätigkeiten haben offene und verdeckte Anteile. Der offene Anteil beim Lösen einer Rechenaufgabe besteht z. B. darin, dass das Kind Zahlen auf Papier schreibt; der verdeckte Anteil besteht in der gedanklichen Lösungsoperation: „43 und 12 – was muss ich tun? Ich addiere zuerst die Zehner, 40 und 10 ergibt 50. Jetzt addiere ich die Einer: 3 und 2 ergibt 5. 50 und 5 ergibt 55.“ Der verdeckte Anteil – die gedankliche Steuerung der Lösungsoperation – ist der entscheidende. Es sind zwei Arten gedanklicher Selbststeuerung zu unterscheiden: eine problemlösende Steuerung, wenn etwa bei einer Physikaufgabe der Tabelle 5: Teilhandlungen und Störungen des Lernablaufs Teilhandlungen der Aneignungstätigkeit

Störungen, unzweckmäßige Teilhandlungen

Sich interessieren für die Aufgabe: Das Kind entwickelt für sich ein (mehr oder weniger starkes) Bedürfnis, sich mit der Aufgabe zu beschäftigen, sei es aus Interesse oder sekundärer Motivation (z. B. aus Hoffnung auf Anerkennung oder um Missbilligung zu entgehen).

Desinteresse und fehlende Sekundärmotivation: Wenn ein Kind an dem Lerngegenstand kein Interesse zeigt und ihm auch Sanktionen (Anerkennung, Missbilligung) gleichgültig sind, nimmt es die Lernaktivität vermutlich gar nicht erst auf.

Kompetenzeinschätzung: Das Kind schätzt ab, ob es die Aufgabe bewältigen kann. Es wird tätig, wenn es glaubt, die Aufgabe bewältigen zu können.

Unrealistische Erfolgserwartung: Das Kind schätzt seine Leistungsfähigkeit zu hoch oder zu niedrig ein; – zu hoch: Es glaubt, die Aufgaben zu bewältigen ohne sich anstrengen zu müssen, verwendet nicht genügend Energie und versagt. – zu niedrig: Das Kind schätzt seine Fertigkeiten geringer ein als sie in Wirklichkeit sind. Es entwickelt Versagensängste; es verweigert die Ausführung („Ich kann das nicht“) oder reagiert hilflos.



Kapitel 1: Lernschwierigkeiten, Lernstörungen und Lernbehinderung | 25

Tabelle 5 (Fortsetzung) Erhöhen der Aufmerksamkeit, Aktivierung: Das Kind focussiert seine Aufmerksamkeit auf den Gegenstand seiner Tätigkeit. Es schottet sich von anderen Reizen ab. Es können auch physiologische Aktivierungsprozesse eintreten. Günstig für das Lernen ist ein „mittleres Maß“ an körperlich-geistiger Erregung, ein Zustand der Wachheit und der Leistungsbereitschaft.

Apathie und Übererregung: Zu hohe und zu niedrige Erregung können den Lernerfolg gefährden: – Müdigkeit und Überbeanspruchung können zu einem Absinken der Leistungsbereitschaft unter das für das Lernen notwendige Niveau führen; – Übererregung kann zu Angstzuständen und Lernblockaden führen, insbesondere dann, wenn ein Kind das Lernziel erreichen will (oder glaubt, es erreichen zu müssen), aber daran zweifelt, das Ziel auch erreichen zu können.

Orientierung auf den Lerngegenstand: Suche und Kenntnisnahme von Informationen, die für die Lösung einer Aufgabe notwendig und hilfreich sind.

Fehlende oder unzulängliche Orientierung: Das Kind achtet nur flüchtig auf die Arbeitsanweisungen, setzt sich mit Materialien, Arbeitsblättern usw. nur oberflächlich auseinander. Es übersieht oder missachtet wichtige Informationen und scheitert deshalb bei der Bewältigung der Aufgabe.

Planung des Lernhandelns: gedankliche Strukturierung der Lernaufgabe, Zeiteinteilung, vorwegnehmendes Durchspielen von Lösungsmöglichkeiten.

Fehlende Planung, unsystematisches Vorgehen: Statt über Lösungswege nachzudenken, verfährt das Kind nach dem Prinzip „Versuch und Irrtum“ und gelangt gar nicht oder oft nur auf sehr umständliche Art zu einer Lösung.

Ausführung: Erledigung der Anforderungen bis zur Beendigung der Aufgabe (ggf. unter mentaler Speicherung von Zwischenergebnissen).

Unangemessene Unterbrechungen, vorzeitiger Abbruch: Das Kind ist ablenkbar, es wendet sich während der Aufgabenbearbeitung anderen Aktivitäten zu oder es gibt auf, sobald sich Schwierigkeiten einstellen.

Verlaufs- und Erfolgskontrolle: Überprüfung, ob Lösungsansätze bzw. die Lösungen richtig sind.

Fehlende oder unkritische Verlaufs- und Endkontrolle, unzureichende Auseinandersetzung mit dem eigenen Arbeitsergebnis: Das Kind handelt, ohne sich zu vergewissern, ob sein Lösungsweg richtig ist; es korrigiert falsche Strategien nicht bzw. überprüft das Arbeitsergebnis nicht.

Abschließende Bewertung und Deutung des Ausmaßes und der Ursachen von Erfolg und Misserfolg.

Unrealistische Ergebnisbewertung (­ Attribuierung): Das Kind deutet das Ausmaß und die Ursachen für Erfolg und Versagen unrealistisch, wobei besonders bedenklich ist, wenn ein Kind mit seinen Leistungen ewig unzufrieden ist, Misserfolge auf seine eigene Unzulänglichkeit zurückführt („ich bin eben doof“) oder – wegen eines Misserfolgs – bei einer Aufgabe glaubt, mit dem Problem überhaupt nicht zurechtzukommen, oder womöglich „gar nichts“ zu können. Derartige Bewertungsmechanismen hemmen Kinder in künftigen Lernsituationen.

26

| Teil I: Gegenstandsbereich Lösungsweg gesucht wird, und eine gefühls- und verhaltensregulierende Selbststeuerung, wenn in kritischen Situationen günstige Selbstgespräche das Handeln begleiten. Erworben werden derartige Prozesse über das Medium Sprache. Das Kleinkind spricht zunächst zu sich selbst. Dieses äußere Sprechen geht zunächst in inneres Sprechen und von dem inneren Sprechen in einen fast automatisiert und unbewusst ablaufenden Prozess über, der in der Regel nur selten bemerkt wird. In kritischen Situationen kann es vorkommen, dass auch Erwachsene laut mit sich selbst sprechen wie „Ruhe bewahren“, „Genau hinsehen“, „Jetzt keinen Fehler machen“. Affektives Verhalten oder auch Konzentration kann durch verbale Selbstkommunikationen, durch gefühls- und verhaltensregulierende Selbstinstruktionen gesteuert werden.

1.5.1

Systematisches Training zweckmäßiger Lernstrategien

Auf Meichenbaum und Goodman (1969), Wagner (1976), Lauth (1983) sowie ­Lauth und Schlottke (1993) gehen Vorschläge zurück, kognitiv impulsive Kinder durch Selbstin­ struktionstraining bzw. durch kognitives Modellieren zu veranlassen, bedächtig und systematisch zu arbeiten. Eine Modellperson löst vor den Augen eines Kindes eine Aufgabe, instruiert sich dabei laufend selbst durch Äußerungen wie „Ich lasse mir Zeit“, „Ich sehe mir alles genau an“. Schulische Lernarrangements sind oft geeignet, den eher ungünstigen impulsiven als den günstigen reflexiven Arbeitsstil zu fördern: durch Lernbedingungen wie Wettbewerbssituationen, Zeitdruck, vorschnelles Fortschreiten im Lernprozess oder fragend-erarbeitender Unterricht bei unzureichender Wissensbasis werden insbesondere kognitiv impulsive Kinder verunsichert. Derartige Unterrichtssituationen verleiten dazu, überhastet zu operieren, mit Ergebnissen „herauszuplatzen“, zu raten – denn welches Kind will immer das letzte sein, wenn Ergebnisse abgefragt werden. Selbstinstruktionstraining und kognitives Modellieren basieren auf mehreren Prämissen: – Ein großer Teil unseres Verhaltensrepertoires wird durch Beobachtungslernen (Lernen am Modell) erworben. Verhalten hat sichtbare und verdeckte Anteile: Die verdeckten Anteile sind die gedanklichen Steuerungsprozesse, die zunächst in Form inneren Sprechens, später immer mehr automatisiert ablaufen. – Dem Beobachter sind beim Beobachtungslernen nur die äußeren, sichtbaren Komponenten des Verhaltens zugänglich. Daher bedient man sich beim Kognitiven Modellieren eines Kunstgriffs, indem laut formuliert wird, was sonst nur im Bewusstsein verborgen abläuft: Kognitionen, Denkprozesse und Vorgänge inneren Sprechens, die sichtbares Handeln steuern. Eine weitere Möglichkeit des kognitiven Modellierens besteht darin, dass in die Demonstration des Lösungsweges zusätzlich zu den problemlösenden Selbstinstruktionen verhaltensregulierende Selbstinstruktionen eingefügt werden können. Während die Modellperson die Aufgabe ausführt und durch „lautes Denken“ begleitet, gibt sie sich gleichzeitig verhaltenssteuernde Anweisungen (s. Tab. 5). An dieser Stelle lässt sich u. a.



Kapitel 1: Lernschwierigkeiten, Lernstörungen und Lernbehinderung | 27

zeigen, inwiefern sich bloße Nachhilfe von einer reflektierten Förderung unterscheiden kann: Bei einer Nachhilfe werden ausschließlich Lösungswege demonstriert. Förderlehrer dagegen sollten in der Lage sein, auch das Orientierungshandeln, die emotionale Steuerung, das planmäßige Vorgehen zu schulen. Wenn Kinder unkonzentriert oder entmutigt sind, kann es erforderlich sein, das kognitive Modellieren in mehreren Schritten zu organisieren (vgl. Kretschmann & Dobrindt, 2003): 1. Die Modellperson demonstriert den Lösungsweg einer Aufgabe. Die üblicherweise verdeckt als Denken ablaufenden kognitiven Prozesse werden beobachtbar gemacht, indem die Modellperson ihre Denkoperation bei der Aufgabenlösung laut ausspricht. Gleichzeitig gibt sie sich verhaltensregulierende Selbstinstruktionen, sich Zeit zu lassen, genau hinzusehen, ruhig zu bleiben. 2. Auf der zweiten Stufe führt das Kind die Handlung aus; es folgt dabei den sprachlichen Anweisungen des Trainers. 3. Im dritten Schritt führt das Kind die Handlung aus und gibt sich selbst die verbalen Instruktionen. 4. Im vierten Schritt führt das Kind die Handlung aus und gibt sich die Anweisung flüsternd, bis es 5. sich nur noch verdeckte Anweisungen gibt, d. h., sein Verhalten durch Denken steuert. Ergänzend sei bemerkt, dass es sich um eine idealtypische Beschreibung des Vorgehens handelt. In der Praxis kann es erforderlich sein, die Schrittfolge abzuwandeln. So können z. B. gelegentlich Teilschritte ausgelassen oder übersprungen werden. Wichtig ist, dass der Modellierungsprozess als ein lebendiger Dialog zwischen der Lehrerin und dem Kind gestaltet wird und nicht als ein starres Ritual. Tabelle 6: Schritte und Intentionen beim Kognitiven Modellieren Schritte bei der Modellierung (diese Schritte führt erst die Modellperson aus, dann das Kind.)

Intention

„Was muss ich tun?“

Präzisierung der Aufgabenstellung

„Ich muss feststellen, welche von beiden Mengen größer ist.“

Orientierung auf die Aufgabe

„Ich bin ganz ruhig. Ich sehe mir alles genau an.“

Emotionale Steuerung, Gefühlsregulierung und Polung der Aufmerksamkeit

„Ich verbinde immer Elemente mit Strichen und sehe nach, bei welcher Menge Elemente übrig bleiben.“

Demonstration des Lösungswegs

„Ich sehe nach, ob ich alles richtig gemacht habe.“

Kontrollhandeln

„Das habe ich geschafft, weil ich mir Zeit gelassen habe.“

Anleitung zu angemessener Attribuierung bzw. Selbstverstärkung

28

| Teil I: Gegenstandsbereich 1.5.2

Möglichkeiten und Grenzen des Selbstinstruktionstrainings

Bei Kindern, die – etwa bei mathematischen Aufgaben aufgrund mangelnder mathematischer Grundfertigkeiten – nicht über geeignete Lösungswege verfügen, sind die auf genaues Hinsehen und bedächtiges Arbeiten abzielenden Selbstinstruktionstrainings nicht ausreichend: Die gestellten Anforderungen sind an die Lernausgangslagen der Kinder anzupassen und fehlende Lösungsstrategien sind durch zu vermittelnde Lösungswege zu ersetzen. Es kann darüber hinaus erforderlich sein, diese Schüler durch faszinierende, gebrauchs- und erlebnisorientierte Angebote für den Lerngegenstand zu motivieren. Selbstinstruktionstrainings müssen schulische Lerninhalte enthalten, um die gewünschten Erfolge sichern zu können, wie z. B. eine Untersuchung von Scheerer-Neumann (1979, S. 75) zeigt: „In einer unveröffentlichten Untersuchung haben Studenten meiner Forschungsgruppe ... den Transfer eines Reflexivitätstrainings auf die Rechtschreibleistung von Legasthenikern zu Beginn des dritten Schuljahrs untersucht: nach einem sechswöchigen (12 Sitzungen) Training, in dem an Hand von Aufgaben, die analog zu den Untertests des BT 2-3 konzipiert waren, Lösungsstrategien mit Hilfe der verbalen Selbstinstruktion vermittelt und geübt wurden, war im DRT 2 noch nicht einmal tendenziell ein Leistungsanstieg festzustellen: die nicht-trainierte Kontrollgruppe erreichte im DRT-2-Nachtest sogar einen minimal höheren Wert. Nach einem sich anschließenden neunwöchigen spezifischen Rechtschreibtraining (18 Sitzungen), in dem ebenfalls mit der Methode der verbalen Selbstinstruktion ... gearbeitet wurde, erzielte die Experimentalgruppe im DRT 2 dagegen signifikant bessere Werte als die untrainierte Kontrollgruppe.“ Auf geringe Transferwirkungen weist auch Döpfner (1995) nach einer Sichtung einschlägiger empirischer Untersuchungen hin. In der Regel verbessern sich bei den Kindern nur die trainierten Fertigkeiten. Die Effektivität eines Selbstinstruktionstrainings ist von bestimmten Bedingungen abhängig (vgl. Meichenbaum, 1979): Die Methode ist vor allem bei jüngeren Kindern wirksam, bei älteren kann sie störend wirken. Es ist wichtig, dass die Kinder selbst verbalisieren, zumindest in der Anfangsphase. Selbstinstruktion hilft nur bei innerer Beteiligung; mechanisches Dahersagen bleibt wirkungslos, und die Steuerungswirkung ist umso größer, je aufgabenspezifischer die Selbstinstruktionen ausgerichtet sind. Ein Aufmerksamkeitstraining führt erst dann zu einer Verbesserung, wenn ein Kind über ausreichende Fertigkeiten auf dem Gebiet verfügt. Unumgänglich ist bei allen Versuchen einer systematischen Schulung der Aneignungstätigkeit eine sorgfältige Passung der Angebote und Anforderungen an die Lernausgangslage der Kinder, denn es wäre äußerst kontraproduktiv, wenn die Lernenden sich auch bei den Modellierungsangeboten kognitiv überfordert fühlen müssten. 1.5.3

Unterrichtspraktische Vorschläge

Neben gezielten Förder- und Trainingsangeboten sind informelle Maßnahmen im Unterricht v.a. bei aufmerksamkeitsgestörten Kindern geeignet, Lernstörungen vorzubeugen:

Kapitel 1: Lernschwierigkeiten, Lernstörungen und Lernbehinderung | 29

– – –

– – –



häufigen Blickkontakt herstellen; freundliche und behutsame Extraaufforderungen vorab erteilen: „Denis, hör bitte jetzt gut zu!“; sich nach erfolgter Instruktion zu vergewissern, ob die Information auch bei dem Kind angekommen ist: „Denis, kannst du bitte noch einmal wiederholen, was du machen sollst?“; im Vorbeigehen an den Auftrag erinnern; sich den aktuellen Arbeitsstand (bei der Frei- oder Stillarbeit) berichten lassen; Erleichterung anbieten, wenn das Kind nicht mehr sitzen kann (einmal um den Schulhof laufen), eine andere Aktivität anbieten, wenn das Kind mit der gegenwärtigen überfordert ist; ermutigen, wenn das Kind resigniert.

Zu den unterstützenden Maßnahmen gehört auch, die Kinder vor ablenkenden Reizen zu behüten, etwa durch – Wegsetzen von ablenkenden Kindern (ggf. einzeln setzen); – abgeschirmte Arbeitsplätze anbieten, in die die Kinder sich bei Bedarf zurückziehen können; – transparente und verbindliche „Drankommensregeln“ einführen: Die Kinder heften Namenklammern an einen nummerierten Pappstreifen, wenn sie Hilfe benötigen. Die Lehrerin arbeitet diese Aufforderungen in der gegebenen Reihenfolge ab. Es muss dann kein Kind drängeln oder heftig auf sich aufmerksam machen, aus Sorge übersehen zu werden; – geräuscharm operieren: Instruktionen, Tätigkeitswechsel werden mit Signalkarten angekündigt; – bei Einzelaufforderungen zu Kindern hingehen und sich leise mit ihnen unterhalten; quer über die Klasse gerufene Aufforderungen lenken alle die Kinder ab, die nicht betroffen sind. Darüber hinaus kann die Aufnahmebereitschaft der Kinder gefördert werden durch Sammlungs-, Aktivierungs- und Entspannungsübungen je nachdem, ob die Lerngruppe überaktiviert ist oder nach langen Stillarbeitsphasen eines anregenden Impulses bedarf.

1.6

Prävention vor Intervention

Es wäre alles andere als konsequent, sich die Risiken bzw. Schutzfaktoren schulischer Lernentwicklung zu vergegenwärtigen und am Ende doch eine ausschließlich person­ bezogene Diagnostik und Förderung zu betreiben. Natürlich muss bei manifesten Lernstörungen das betroffene Individuum Hilfestellungen und Unterstützungsangebote erhalten. Überzeugender ist es jedoch, Präventionsangebote bereit zu halten und strukturelle Bedingungen, Orientierung und pädagogisch-didaktische Angebote so zu verändern, dass es gar nicht erst zu Lernstörungen kommt. Entsprechende Vorschläge finden sich bei Kretschmann (2003b) und in Kapitel 15 in diesem Band.

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| Teil I: Gegenstandsbereich

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Kapitel 1: Lernschwierigkeiten, Lernstörungen und Lernbehinderung | 31

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| Teil I: Gegenstandsbereich Sozialgesetzbuch – Achtes Buch (VIII) – Kinder- und Jugendhilfe (Artikel 1 des Gesetzes v. 26. Juni 1990, BGBl. I S. 1163). Statistisches Bundesamt DESTATIS (2004). Bildung und Kultur, Allgemeinbildende Schulen. Fachserie 11/Reihe 1. Thimm, W. & Funke, E. H. (1977). Soziologische Aspekte der Lernbehinderung. In G. O. Kanter & O. Speck (Hrsg.), Pädagogik der Lernbehinderten. Handbuch der Sonderpädagogik, Bd. 4 (S. 581-611). Berlin: Marhold. Wagner, I. (1976). Aufmerksamkeitstraining mit impulsiven Kindern. Stuttgart: Klett. Weiner, B. (1975). Die Wirkung von Erfolg und Mißerfolg auf die Leistung. Stuttgart: Huber. Weiner, B. (1984). Motivationspsychologie. Weinheim: Beltz. Weinert, F. E. & Helmke, A. (Hrsg.) (1997). Entwicklung im Grundschulalter. Weinheim: Beltz. Zielinski, W. (1996). Lernschwierigkeiten. In F. E. Weinert (Hrsg.), Psychologie des Lernens und der Instruktion (Enzyklopädie der Psychologie, Themenbereich D, Serie I, Bd. 2, S. 369-402). Göttingen: Hogrefe.

2 Gegenstand und Aufgaben einer Pädagogik und Psychologie bei Beeinträchtigungen des Lernens Gustav O. Kanter

2.1

Pädagogik und Psychologie als Bezugswissenschaften bei erzieherischer Einflussnahme und Lernprozessen

Erziehen als eine Grundfunktion des sozial-gesellschaftlichen Handelns richtet sich im Sinne der Einflussnahme unmittelbar auf das Lernen; und Lernen selbst zählt zu den menschlichen Lebensgrundfunktionen. Pädagogik und Psychologie sind dabei die beiden zugeordneten Wissenschafts- und Praxisbereiche. Wegen der vielgestaltigen und bis heute unklaren Begriffslage auf diesem Gebiet sind zunächst (auch die Fachgeschichte beachtend) einige Aspekte des diesem Beitrag zu Grunde liegenden Theorierahmens und Begriffsinstrumentariums kurz anzusprechen. Unter Beeinträchtigungen des Lernens als Oberbegriff wird hier ein zweidimensionales Quasi-Kontinuum von Beeinträchtigungen des Lern- und Leistungsverhaltens verstanden, wie von Klauer und Lauth (1997, S. 701-705) beschrieben. Die Autoren kategorisieren Lern- und Leistungsschwierigkeiten einmal nach der Dimension Zeit (überdauernd vs. vorübergehend) und zum anderen nach der Dimension Umfang bzw. Breite (partiell, bereichsspezifisch vs. generell, umfassend-allgemein). Lernschwierigkeiten wären im Sinne von Zielinski (1996) alle „Probleme der Informationsaneignung durch ein Individuum“ (S. 369), angefangen von Reiz-Reaktionsverbindungen bis hin zur Begriffsbildung. Sichtbar werden diese durch ein deutliches Missverhältnis zwischen (Lern-)Leistungen und Leistungserwartungen. Zielinski selbst benutzt den Begriff der Lernschwierigkeiten als Oberbegriff für alle Formen und Grade des Lern- und Leistungsversagens. Hier, in diesem Beitrag, werden erhebliche Lernschwierigkeiten dagegen als Lernstörungen bezeichnet, wie von Kretschmann in Kapitel 1 ausführlich dargelegt, und Lernbehinderung ist im Sinne des Ordnungsschemas von Klauer und Lauth (1997) eine relativ überdauernde und generelle Beeinträchtigung des Lernens. – Es sei hier nur angemerkt, dass die o. g. zweidimensionale Kategorisierung der Beeinträchtigungen im Sinne von Klauer und Lauth den Aspekt des Schweregrades von Lern- und Leistungsbeeinträchtigungen (leicht vs. schwer) nicht immer in wünschenswerter Weise abdeckt. Eine Lese-Rechtschreibschwäche z. B. ist sicherlich eine partielle, bereichsspezifische Beeinträchtigung und i. d. R. relativ überdauernd, kann aber sehr wohl mehr oder weniger schwer(wiegend) sein. Wie weit es aber zweckmäßig wäre, das Modell Klauers und Lauths um die Dimension des Schweregrades zu erweitern, sei dahingestellt. Die verschiedenen kategorialen oder typologisierenden Zuordnungen haben alle ihre Vor- und Nachteile (vgl. hierzu Schröder, 2000, S. 74-84). Pädagogik wird in diesem Beitrag verstanden als Praxis und Theorie der Erziehung; und als „Erziehung werden“ nach Brezinka (1974, S. 95) „Handlungen bezeichnet, durch die Menschen versuchen, die Persönlichkeit anderer Menschen in irgendeiner Hinsicht zu fördern“ [im Original kursiv]. Kant hält diesen Vorgang für so wichtig, dass er sagt: „Der

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| Teil I: Gegenstandsbereich Mensch kann nur Mensch werden durch Erziehung. Er ist nichts, als was die Erziehung aus ihm macht“ (1803, S. 459). Kant fasst den Erziehungsbegriff hier allerdings sehr viel weiter als Brezinka, indem bei ihm mit Erziehung alle äußeren Einflüsse auf den heranwachsenden Menschen gemeint sind (Geschehensbegriff der Erziehung bzw. „funktionale Erziehung“), während Brezinka mit Erziehung nur beabsichtigte Handlungen bezeichnen möchte (Handlungsbegriff der Erziehung bzw. „intentionale Erziehung“). In der Enzyklopädie der Sonderpädagogik, der Heilpädagogik und ihrer Nachbargebiete wird Erziehung u. a. in weitestem Sinne auch verstanden als „Interaktion des sich entwickelnden, im Werden begriffenen Menschen mit seinen eigenen Handlungen, mit den ihn umgebenden sinnhaften Objekten, mit anderen Menschen und deren Lebens- und Handlungsweisen“ (Roth, 1992, S. 187). Indem pädagogische Einflussnahme, ob intentional oder funktional, unmittelbar auf Lernprozesse, einen Forschungsgegenstand der Psychologie, zielt, sind Pädagogik und Psychologie über weite Strecken eng aufeinander bezogen und haben sich wechselseitig nachhaltig in ihrer Forschungsmethodik und ihren Wissenschaftsergebnissen befruchtet. Schon 1835 hat Herbart im Umriß pädagogischer Vorlesungen auf die enge Bindung der Pädagogik an die Psychologie bezüglich der konkreten Möglichkeiten des Erziehungshandelns verwiesen und meinte, „Pädagogik als Wissenschaft hängt ab von der praktischen Philosophie und Psychologie. Jene zeigt das Ziel der Bildung, diese den Weg, die Mittel und die Hindernisse“ (1835, § 2). In derart enger Abhängigkeit von gewissermaßen übergeordneten Fundierungswissenschaften wird Pädagogik – und mit ihr die Sonderpädagogik – seit geraumer Zeit nicht mehr gesehen. Wohl aber ist Pädagogik im Sinne einer Kooperationswissenschaft und Integrationswissenschaft darauf angewiesen, Erkenntnisbestände und Forschungsmethoden aus Philosophie und Psychologie unter dem eigenen Fragehorizont zu analysieren, zu Teilen in den eigenen Arbeitsbereich einzugliedern sowie eigenständig weiterzuentwickeln – und dies gilt vice versa. Es sind auch nicht nur Philosophie und Psychologie, mit denen zu kooperieren ist. Human- und sozialwissenschaftliche Fragestellungen sind vielmehr Gegenstand einer Reihe weiterer Wissenschaftsdisziplinen. Folglich werden mancherorts pädagogische Fragestellungen überhaupt nicht in einer eigenständigen wissenschaftlichen Disziplin „Pädagogik“, sondern von mehreren Wissenschaften behandelt, etwa im angloamerikanischen Sprachgebrauch, wie Brezinka (1978, S. 3) schon vor 30 Jahren vermerkte; „von der Psychologie im Teilgebiet ‚Pädagogische Psychologie‘, von der Soziologie im Teilgebiet ‚Soziologie der Erziehung‘, von der Wirtschaftswissenschaft im Teilgebiet ‚Ökonomie der Erziehung‘, von der Geschichtswissenschaft im Teilgebiet ‚Historiographie der Erziehung‘ und von der Philosophie im Teilgebiet ‚Philosophie der Erziehung‘“. Auch gegenwärtig sind diese Tendenzen noch anzutreffen. Was die Sonderpädagogik anlangt, so steht sie traditionell zu Teilen in enger Wechselbeziehung sowohl zur Medizin als auch zur Psychologie. Sie orientiert sich in ihren Zielsetzungen an Weltanschauungssystemen philosophischer, theologischer und säkular-ideologischer Art und hat in den letzten Jahrzehnten auch nicht wenige Erkenntnisse aus der Soziologie rezipiert (vgl. Cloerkes, 2001). Zwischenzeitlich haben sich die beiden Disziplinen Pädagogik und Psychologie bei uns allerdings fest als eigenständige Wissenschaften etabliert, erheblich ausdifferenziert und spezialisiert. Bezüglich erfahrungswissenschaftlicher Erkenntnisse haben die Schnittmengen zwischen Pädagogik, Pädagogischer Psychologie,



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Entwicklungspsychologie sowie in jüngerer Zeit empirischer Soziologie in den letzten Jahrzehnten deutlich zugenommen. Pädagogik, wie sie sich heute darstellt, folgt verschiedenen Differenzierungsaspekten. Zunächst einmal ist zu unterscheiden zwischen der pädagogischen Praxis (Praktische Pädagogik) und theoretischen, d. h. wissenschaftlich begründeten Aussagen über diese (Erziehungs-)Praxis (Erziehungswissenschaft). Spricht man von Erziehungspraxis oder Erziehungswirklichkeit, so sind „alle Situationen, die etwas mit Erziehung, Bildung oder Training zu tun haben“, gemeint (König & Zedler, 2002, S. 13). Das Wissen, das hier zusammengetragen und systematisiert in Form von (vorwissenschaftlichen) Erziehungslehren vorgelegt wurde, betrifft überwiegend zum einen Zielsetzungen des pädagogischen Handelns, zum anderen Mittel, Wege und Organisationsformen sowie zum dritten Vorstellungen über den zu erziehenden/zu unterrichtenden Personenkreis. Pädagogik als Erziehungswissenschaft hat prinzipiell denselben Forschungsgegenstand, geht in ihrer Methodik und ihren Zielsetzungen jedoch weiter. Sie ist darauf ausgerichtet, Erkenntnisse darüber zu gewinnen, wie weit das jeweilige (praktische) Erziehungshandeln oder Erziehungsgeschehen nach wissenschaftlichen Kriterien zu begründen, im Einzelnen zu erklären und zu einem System von Gründen und Folgen zu verbinden ist (Theorien mittlerer Reichweite). Nachdem es recht verschiedene, teils widersprüchliche erziehungswissenschaftliche Konzepte zur Erklärung und Begründung von Erziehungsabläufen gibt, muss sodann auf einer nächsten Stufe (auf metatheoretischer Ebene) untersucht und geklärt werden, wie weit die jeweiligen Theorien ihrem Eigenanspruch und der wissenschaftlichen Kritik genügen (Wissenschaftstheorie). Als fachgeschichtlich wichtige theoretische Konzeptionen nennen König und Zedler (2002) Erziehungswissenschaft als normative Disziplin, als empirische Verhaltenswissenschaft, als hermeneutische Disziplin und als Wissenschaft auf Basis der Systemtheorie. Schließlich verstehen sie sie im Sinne des Konstruktivismus „als ein ‚Werkzeug‘ ..., das auf der Basis des jeweiligen Begriffsystems Diagnose- und Interventionsmethoden generiert“ (S. 243). Der historische Anspruch, ein System von generellen Gesetzesaussagen, welche die Erziehungswirklichkeit abbilden, erstellen zu wollen, wird im letzteren Falle natürlich gegenstandslos. Benner (2001) legt eine vergleichbare Gliederung der Hauptströmungen der Erziehungswissenschaft vor, allerdings mit anderen Gewichtungen und Benennungen: Traditionelle Pädagogik, Empirische Pädagogik, Geisteswissenschaftliche Pädagogik, zwischen Empirie und Hermeneutik vermittelnde Ansätze und Emanzipatorische Pädagogik. Seine Präferenz gilt „einer auf experimentelle Praxis bezogene Handlungswissenschaft“ (S. 330), die er mehr als Forderung an die Zukunft der Pädagogik skizziert, denn als Realität erkennen kann. Eine für sonder- bzw. heilpädagogische Problemstellungen wichtige Differenzierung findet in der Pädagogik unter den Stichworten „deskriptive“ und „normative Erziehungswissenschaft“ statt. Zum einen geht es um wissenschaftliche Aussagen über den Ist-Zustand bzw. darüber, was als Faktum angesehen wird, zum anderen geht es darum, was sein „soll“, also um Normsetzungen – das klassische Spannungsverhältnis zwischen Sein und Sollen. Beispiele: Die Aufnahmezahlen im Sonderschulbereich sind in den letzten Jahren gestiegen (deskriptiv); wir sollten nicht so viele Schüler aus den Regelschulen ausgliedern, sondern sie verstärkt integrativ fördern (normativ). Das eine ist Fakt, das andere erwünschte Zielsetzung. Die Unterscheidung zwischen beiden Aussagen, die

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| Teil I: Gegenstandsbereich ihrem Inhalt nach beide durchaus im wissenschaftlichen Sinne begründet sein können, ist für die Erkenntnisgewinnung im Erziehungsgeschäft von großer Bedeutung, und zwar deshalb, weil hier nicht selten die Aussagekategorien unbedacht oder gelegentlich mit Absicht vermengt werden und damit die Zuverlässigkeit der Aussagen für die pädagogische Praxis verloren geht. Beispiel: Gemeinsamer Unterricht (Integration) ist unabdingbare Voraussetzung für ein demokratisches Erziehungssystem – eine Aussage aus dem bildungspolitischen Raum, für die bislang nirgends ein wissenschaftlicher Beleg erbracht wurde, sich möglicherweise in dieser generellen Form gar nicht erbringen lässt. Hier wird eine Behauptung (ist unabdingbare Voraussetzung für ...) gewissermaßen als Faktum ausgegeben, und es ist zu fragen, ob in naiver Gläubigkeit oder bewusster Meinungsmache. Um hier jedoch nicht missverstanden zu werden: Es ist weder unzulässig noch unnütz, Zielprojektionen wie etwa alle Schüler im „Lebens- und Lernraum Schule“ gemeinsam erziehen und unterrichten zu wollen, zu entwickeln, oder um Gruppenkonsens bemüht zu sein, um für derartige Zielsetzungen Unterstützung zu finden. Vielmehr sind Zielsetzungen und Visionen wünschenswerte und notwendige Elemente im Findungsprozess der Zukunftsgestaltung. Sie dürfen nur nicht als Wahrheitsdoktrin ausgegeben werden. Zur Erkenntnisgewinnung in der Pädagogik hat Klauer weiterführende Unterscheidungen vorgenommen, die speziell für sonderpädagogische Überlegungen zweckmäßig sein dürften. Er unterscheidet zwischen „deskriptiver, präskriptiver und normativer Pädagogik“ (1977, S. 77) und erläutert: Zum entscheidenden Einteilungsgesichtspunkt wird die unterschiedliche Rolle, die Lehrziele in den verschiedensten Fragestellungen einnehmen. Die deskriptive („beschreibende“) Pädagogik versucht, die vorfindbare Erziehungswirklichkeit mit all ihren Abhängigkeitsbeziehungen und Effekten zu erforschen, wobei auch festgestellt wird, welche Ziele unter welchen Bedingungen angestrebt werden, wie sich unterschiedliche Ziele auswirken und dergleichen mehr. In der präskriptiven („vorschreibenden“) Forschung geht es nicht darum, Kenntnisse über einen Bereich der Wirklichkeit zu gewinnen, sondern Handlungsanweisungen – Vorschriften – für den Lehrer zu erzeugen, aber auch Produkte, die hilfreich sind, um bestimmte Lehrziele zu erreichen. Hier erscheinen die Lehrziele als vorgegebene Aufgaben, und es kommt darauf an, die pädagogischen Mittel zu bestimmen, die das Erreichen der Ziele gewährleisten. Es geht also um Änderungswissen oder – in einem bestimmten Sinne – um technologisches Wissen, das heißt um Kenntnisse, die geeignet sind, Probleme der Lehrpraxis zu lösen. Die normative („normsetzende“) Pädagogik versucht schließlich zu klären, welche Ziele überhaupt angestrebt werden sollen, und zur Klärung dieser Frage trägt die Klärung der Vorfrage erheblich bei, wie man denn überprüfbar zu Lehrzielen gelangen kann. In normativer Sicht interessiert demnach nicht, ob bestimmte Lehrziele faktisch eine Rolle spielen oder wie man sie verwirklichen kann; hier interessiert ihr Geltungsanspruch, nämlich ob sie angestrebt werden sollen oder nicht. (Klauer, 1977, S. 77 f.) Wenn also in einem ersten Zugriff nach Aufgaben einer Pädagogik bei Beeinträchtigungen des Lernens gefragt wird, so wäre vorläufig und kurzgefasst zu antworten: Es geht, vergleichbar mit den Aufgabenstellungen in der Pädagogik allgemein:



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1. um die Erstellung, Begründung und Reflexion von Sollensinventarien, welche die Richtung der Erziehungsbemühungen in diesem Sektor und konkrete Zielangaben ausweisen (Normation), 2. um die Erfassung und wissenschaftliche Durchdringung eines spezifischen Sektors der Erziehungswirklichkeit mit seiner Bedingungsstruktur, d. h. darum, wie ausgewählte Ziele unter gegebenen „inneren“ Bedingungen wie Entwicklungsstand, Vorwissen, Vorbildung, Personstruktur etc. und „äußeren“ Bedingungen, also dem Lebensumfeld des jeweiligen Kindes oder Jugendlichen, erreicht werden können (Deskription) und 3. um gesicherte Handlungstheorien und Handlungsvorschläge, aus denen ersichtlich wird, auf welchem Weg und mit welchen Mitteln die erstrebten Ziele erreicht werden können, mit anderen Worten, welche Empfehlungen und Anweisungen für das Erziehungshandeln oder die Gestaltung der Erziehungsumwelt gegeben werden können (Präskription). Aufgabenstellungen aus den Bereichen Deskription und Präskription erfahren hier allerdings eine Gewichtung durch die Auswahl des spezifischen Erziehungsbereichs mit seiner speziellen Personengruppe und seinen besonderen situativen Gegebenheiten. Bei der Aufzählung dieser Teilaufgaben wird deutlich, dass zur Lösung der anfallenden Probleme Erkenntnisse und Methoden von Nachbarwissenschaften der Pädagogik, hier insbesondere der Psychologie, herangezogen werden müssen. Zwar ist kein direktes Abhängigkeitsverhältnis der Pädagogik von der Psychologie gegeben, wie von Herbart (1835) vermerkt, aber Pädagogik wird sinnvoller- und notwendigerweise in den Bereichen von Deskription und Präskription auf Erkenntnisse und Methoden der Psychologie zurückgreifen, insbesondere, wenn es um Probleme des sich Bildens (von Bracken) bzw. Probleme der Persongenese (Kanter, 1977, S. 8) geht. In der Psychologie, der Wissenschaft vom (menschlichen) Erleben und Verhalten, geht es um die Erfassung, Beschreibung, Erklärung und die systematische Ordnung psychischer Prozesse, Theoriebildung und Praxisanwendung eingeschlossen. Lernen und sein Bedingungsgefüge gehören hier zu den zentralen Forschungsgegenständen der Disziplin. Psychologie, so wie sie sich heute darstellt, ist ebenso wie die Pädagogik zwar ein stark ausdifferenziertes und spezialisiertes Wissenschafts- und Praxisgebiet – bei Häcker und Stapf (1998, S. 679) sind über 20 Hauptgebiete der Psychologie ausgewiesen – sie hat aber im Gegensatz zur Pädagogik klar erkennbar über fast alle Bereiche hinweg heute den Charakter einer Erfahrungswissenschaft, überwiegend sogar in streng naturwissenschaftlicher Form. Ihre Aussagen müssen demnach unter wissenschaftlichen Kriterien nachprüfbar und replizierbar sein. Sie gliedert sich traditionell in Grundlagenfächer wie Allgemeine Psychologie, Entwicklungspsychologie, Differentielle Psychologie, Sozialpsychologie usw. sowie in Anwendungsfächer wie Pädagogische Psychologie, Klinische Psychologie, Arbeits-, Berufs- und Wirtschaftspsychologie, Forensische Psychologie usw. Die Gebiete überschneiden sich allerdings oft, und die Einteilungen erweisen sich unter heutigen Forschungsgesichtspunkten zu Teilen nicht mehr als zweckmäßig. In den für die Pädagogik relevanten Gebieten, der Pädagogischen Psychologie, der Entwicklungspsychologie, der Sozialpsychologie, der Lern- und Denkpsychologie sowie der Motivationspsychologie, liegen mittlerweile umfängliche und bedeutsame

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| Teil I: Gegenstandsbereich Ergebnisse vor, die transformiert teilweise schon seit Jahrzehnten quasi wie Eigenbestände der praktischen Pädagogik in das Erziehungsrepertoire eingegangen sind („vom Kinde aus“, „den Schüler motivieren“, „Übung macht den Meister“ usw.). In neuerer Zeit ist es vor allem die Pädagogische Psychologie, die gewissermaßen federführend die Forschung für pädagogische Fragestellungen vorantreibt und die Ergebnisaufarbeitung korrespondierender Teildisziplinen wie Entwicklungspsychologie, Lernpsychologie, Motivationspsychologie, Differenzielle Psychologie, Sozialpsychologie usw. besorgt. In der Enzyklopädie der Psychologie werden in vier Bänden Gegenstand und Aufgaben einer Pädagogischen Psychologie expliziert und lassen auf diese Weise gut den großen Rahmen erkennen, innerhalb dessen Erziehungshandeln und Erziehungsgeschehen zu bedenken und zu untersuchen sind: Der Band Psychologie der Erziehung und Sozialisation zeigt Determinanten von Erziehungs- und Sozialisationsprozessen wie Entwicklungsgenetik, Kultur- und Sozialeinflüsse, geschlechtsspezifische Variablen, familiäre Einwirkungen, erziehungsinstitutionelle Wirkmechanismen, Peer-Gruppen Einflüsse, Einwirkungen der medialen Umwelt usw. auf (Schneewind, 1994, S. VII f.), während es im Band Psychologie des Lernens und der Instruktion um Gesetzmäßigkeiten des Lernens, um fördernde wie hemmende Bedingungen, um Fragen von Optimierungsstrategien durch Instruktion, um Diagnose und Überwindung von Lernschwierigkeiten und um das Auffinden und die Nutzung von Lernstärken geht (Weinert, 1996, S. VII). Bedingungen, Prozesse und Wirkungen des Unterrichts werden in ihrer Vielfalt sowohl schulfachübergreifend (Schülermerkmale, Lehrerverhalten, Unterrichtsmanagement usw.) als auch inhaltsspezifisch, d. h. auf die einzelnen Schulfächer bezogen (Lesenlernen, Rechtschreibung, Mathematik usw.), in der Psychologie des Unterrichts und der Schule (Weinert, 1997, S. IX) thematisiert. Hinzu kommen Fragen der Beratung sowie Probleme bei Lernschwierigkeiten im Kontext Schule. Die Psychologie der Erwachsenenbildung (Weinert & Mandl, 1997) bietet schließlich einen Überblick über „Gesetzmäßigkeiten und Optimierungsmöglichkeiten des Kompetenz-, Wissens-, Fertigkeits- und Einstellungserwerbs bei erwachsenen und alten Menschen“ (S. VII f.). Gegenüber den Theoriekonzepten der Pädagogik, die vom Gegenstand und den Aufgaben her mehrheitlich das Erziehungshandeln („intentionale Erziehung“) betreffen, richtet sich das psychologische Interesse in gleichem Maße auch auf das so genannte Erziehungsgeschehen („funktionale Erziehung“). Gerade für die Aufklärung von Beeinträchtigungen des Lernens spielt dieser Aspekt eine gewichtige Rolle (vgl. Kanter, 1977, S. 7 f.). Der Erforschung von fördernden und hemmenden Bedingungen für Lernprozesse kommt dabei ein hoher Stellenwert zu, denn ungestörte Lernabläufe in anregender Lernumwelt und gesichertem Raum für Eigeninitiative und Eigenentfaltung des heranwachsenden Menschen sind für die menschliche Entwicklung bedeutend. Von wenigen angeborenen Verhaltensstrukturen abgesehen, so konstatieren Hoffmann und Kintsch (1996, S. VII) nach umfänglicher Auswertung der einschlägigen Literatur, „…ist es unstrittig, daß, angefangen von einfachsten Handlungen, über den Erwerb der Sprache bis hin zum Beherrschen von Regeln des logischen Denkens, daß also fast ausnahmslos alle Formen der Auseinandersetzung eines Menschen mit seiner gegenständlichen und sozialen Umwelt Resultate von Lernprozessen sind“. Persongenese bzw. Persönlichkeitsentwicklung hängt somit entscheidend von den jeweiligen Lernabläufen und dem individuellen Lernaufbau ab. Unter sonderpädagogischem Aspekt interessiert deshalb



Kapitel 2: Gegenstand und Aufgaben | 39

vor allem, wie Beeinträchtigungen des Lernens und der Entwicklung entstehen können und wie ihnen pädagogisch-rehabilitativ begegnet werden kann. Vorläufig und kurz gefasst gehört es demnach zu den Aufgaben einer Psychologie der Sonderpädagogik, in unserem Falle bei Beeinträchtigungen des Lernens, 1. eine Erklärung hinsichtlich der Ursachen vorliegender Erziehungsprobleme zu geben und 2. Hinweise über Änderungsmöglichkeiten bezüglich einer Reduzierung des problematischen Charakters der Erziehungssituation zu formulieren (van der Kooij, 2000, S. 1). Erziehungsprobleme versteht van der Kooij als Folge von Lern- und Entwicklungsstörungen. Zu Recht macht er darauf aufmerksam, dass sich die Arbeitsbereiche der SonderPädagogik und der sonderpädagogischen Psychologie hinsichtlich der zweitgenannten Aufgabenstellung nicht unterscheiden, und er nennt neben Merkmalen, die in der Person des Kindes liegen, gleich zwei weitere, seiner Auffassung nach maßgebliche Komponenten möglicher problematischer Erziehungssituationen, die Interaktion zwischen Kind und Erzieher sowie die Situation. Darunter versteht er „sowohl Familiensituationen als auch Schul- und Freizeitsituationen mit ihren eigenen Merkmalen, Organisationsformen und spezifischen Eigenschaften“ (2000, S. 1).

2.2

Zum Verhältnis Pädagogik – Sonderpädagogik sowie Psychologie – Sonderpädagogische bzw. Heilpädagogische Psychologie

Heilpädagogik, Sonderpädagogik, Behindertenpädagogik, Rehabilitationspädagogik, Förderpädagogik – die Begriffe werden hier zunächst als parallele Varianten für die Bezeichnung eines mehr oder weniger gleichen Arbeitsgebiets gesehen – wurde schon in frühen Fundierungsschriften und wird noch heute weitgehend als Teildisziplin der Pädagogik zugeordnet. Zwar hat es zeitweise Tendenzen gegeben, Heilpädagogik überhaupt nicht als eine Teildisziplin der wissenschaftlichen Pädagogik zu betrachten, sondern sie „am Grenzrain von Pädagogik, Psychologie und Medizin“ anzusiedeln, und zwar deshalb, weil das „in irgendeiner Weise ‚abwegige Kind‘ ... eine Sonderbehandlung erheischt“ (Derbolav, 1956, S. 63) und Heilpädagogik erst die Vorbedingungen zu schaffen habe, durch die Erziehung und Bildung im eigentlichen Sinne und vollem Umfange möglich werde (Kastantowicz, 1966, S. 155). Doch hat sich diese Position nicht aufrechterhalten lassen. Die nähere Gegenstandsbestimmung des Fachs Sonderpädagogik/Heilpädagogik allerdings hat im Laufe der Zeit sehr viele und vielfältige Modellvarianten erbracht. Trotz der grundsätzlichen Akzeptanz als pädagogisches Aufgabenfeld wurde das Gebiet historisch gesehen lange Jahre stark durch medizinische Denkkategorien, bei Lernbehinderungen vornehmlich psychopathologischer Betrachtungsweise, bestimmt. Nach Heller (1925, S. 4) z. B. erstreckt sich das Arbeitsgebiet der Heilpädagogik „auf alle jene im Kindesalter vorkommenden ... Abnormitäten, bei denen durch Herstellung günstiger Entwicklungsbedingungen, die jedem einzelnen Fall angepaßt sein müssen, eine Reglung der gestörten

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| Teil I: Gegenstandsbereich psychischen Funktionen erwartet werden kann“ [im Original gesp. gedruckt]. Noch 1952 hat der Pädiater Asperger eine bedeutsame Schrift mit dem Titel Heilpädagogik. Einführung in die Psychopathologie des Kindes für Ärzte, Lehrer und Psychologen, Richter und Fürsorgerinnen verfasst , in der Heilpädagogik als jene Wissenschaft definiert wird, „welche, auf biologisch fundierter Kenntnis abnormer kindlicher Persönlichkeiten aufbauend, vornehmlich pädagogische Wege zur Behandlung intellektueller und Sinnesdefekte, nervöser und seelischer Störungen des Kindes- und Jugendalters sucht“ (Asperger, 1952, S. 1). Verkürzt ausgedrückt wäre dies eine Pädagogik im Sinne angewandter Kinder- und Jugendpsychiatrie. Dass Heilpädagogik grundsätzlich u. a. auch die Aufgabe zukommt, „heilend“ oder „pädagogisch-therapeutisch“ wirksam zu sein, hat in der Diskussion über ihren Arbeitsbereich Jahrzehnte lang eine gewichtige Rolle gespielt und ist zuletzt in vermittelnde Positionen eingemündet: „Heilerziehung … enthält Elemente des Heilens und des Erziehens“ (Meinertz, 1968, S. 15 / neubearbeitet und erweitert von Kausen). Für eine Heil- oder Sonderpädagogik nach heutigem Verständnis greifen stärker medizinisch gewichtete Ansätze jedoch zu kurz, wobei die Darlegungen der Autoren der Sache nach gleichwohl zu jenen Bestandteilen sonderpädagogischer Reflexion zu rechnen sind, wie sie oben als konstituierend für eine Kooperations- und Integrationswissenschaft skizziert wurden. Was die verschiedenen Gegenstandsbestimmungen der Heil- und Sonderpädagogik seit ihrer Begründung Ende des 19. Jahrhunderts (Georgens & Deinhardt, 1861) anlangt, so lassen sich breit gestreute Konstruktionen ausmachen. Die Vorschläge reichen im Einzelnen von Modellen, die von symptomatologisch orientierten Gruppierungen bei Lern- und Erziehungsschwierigkeiten („Kinderfehlern“) ausgehen (z. B. von Strümpell, 1890), über systematische Aufarbeitungen unter Leitbegriffen wie „Entwicklungshemmung“ (Hanselmann, 1930), „Haltschwäche“ (Moor, 1951) oder „Wertsinnsminderung“ (Bopp, 1930) bis hin zur ausdrücklichen Proklamation der erziehungswissenschaftlichen Fundierung der Heilpädagogik (z. B. Rössel, 1925) anhand der Analyse des Wirklichkeitsbereichs der heilpädagogischen Arbeit und damit der Frage der Bildsamkeit des Zöglings (ausführlich zu dieser Thematik Bleidick, 1978, S. 113-258). In jedem Falle wird heute die Aussage eines Altmeisters der Heilpädagogik allgemein anerkannt, der feststellte: „Heilpädagogik ist Pädagogik und nichts anderes. Als Lehre von der Erziehung mindersinniger, geistesschwacher, schwererziehbarer Kinder steht sie aber vor einer erschwerten Erziehungsaufgabe“ (Moor, 1967, S. 7). Wie aus dem Zitat ersichtlich, schlägt jedoch selbst in derart klarer pädagogischer Positionierung das medizinische Kategorienschema der verschiedenen zu Grunde liegenden Schädigungsformen durch.

2.3

Neuere Konkretisierungen des Gegenstandes und der Aufgaben

Neuere Inhaltsbestimmungen des Fachs gehen im Vergleich zu den o. g. Positionen von einer veränderten Perspektive aus, menschliches Behindertsein zu verstehen, zu analysieren und ihm zu begegnen. Dabei steht nicht mehr primär die Bestimmung von persongebundenen Behinderungsmerkmalen, möglichen Folgewirkungen und entsprechenden Behandlungsempfehlungen im Vordergrund, sondern die pädagogische Aufgabe liegt darin, „die



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Behinderung von Bildung und Erziehung zu erkennen und ihr erfolgreich zu begegnen“ (Bleidick, 1999, S. 9). Das heißt, ausgehend von der grundsätzlichen Akzeptanz menschlichen Behindertseins, wird über eine sorgfältige Analyse der behindernden Bedingungen zwar versucht, mögliche Veränderung im Sinne erwünschter Zielsetzungen zu erreichen, aber immer auch dem Anspruch auf Selbstbestimmung sowie dem Eigenleben des jeweiligen Individuums Raum zu geben. Zentraler Gegenstand ist demnach die „Behinderung der Erziehbarkeit und Bildsamkeit“ (Heese, Jussen & Solarová, 1976, S. 426). Personmerkmalen kommt hier nur die Rolle von „intervenierenden Variablen“ (Bleidick) zu, die aber stets mit anderen Wirkmomenten vergesellschaftet sind. Vergleichbar wird bei Speck „Heilpädagogik ... als Pädagogik unter dem Aspekt spezieller Erziehungserfordernisse beim Vorliegen von Lern- und Erziehungshindernissen (Behinderungen und sozialen Benachteiligungen) gesehen“, wobei es um das „Aufzeigen von Zusammenhängen, innerhalb derer Leben sinnvoll gemeistert werden kann, wenn eine angemessene Erziehung Hilfe leistet“, geht (2003, S. 20). Jantzen (1987, S. 12) schließlich strebt an, „eine allgemeine Wissenschaft von der Möglichkeit, humanes Leben und Lernen für alle zu realisieren“, in der die heutigen separierenden Grenzziehungen aufgehoben sind. 2.3.1 Normative Aussagen zum Gegenstand und zu den Aufgaben Verständlicher Weise ist es schwierig, bei so komplexen und vielschichtigen Arbeitsgebieten wie der Pädagogik und der Psychologie bei Beeinträchtigung des Lernens, Gegenstand und Aufgaben der Teildisziplinen einvernehmlich festzulegen, nachdem es bislang nicht einmal gelungen ist, für das Gesamtgebiet einheitliche und allseits anerkannte Bezeichnungen zu finden (Heilpädagogik, Sonderpädagogik, Orthopädagogik, Behindertenpädagogik, Defektologie, Rehabilitationspädagogik, Förderpädagogik – Sonderpädagogische Psychologie, Heilpädagogische Psychologie). In einer neueren Studie konnte Hoyningen-Süess (1998) über eine Expertenbefragung in deutschsprachigen Ländern allerdings eine allseits dem Grunde nach akzeptierte Beschreibung des Gegenstands bzw. der Aufgaben der Gesamtdisziplin Sonderpädagogik gewinnen. Die Autorin griff dabei auf eine Kernaussage des Inhabers der ersten Professur für Heilpädagogik in Europa, Heinrich Hanselmann (Zürich 1931-1950) zum Auftrag der Sonderpädagogik zurück, die mehrheitlich Zustimmung fand: Die Sonderpädagogik muss Erziehungs- und Bildungsmöglichkeiten für diejenigen Menschen erforschen und realisieren, deren Entwicklung aus verschiedenen Gründen behindert verläuft, voraussichtlich behindert verlaufen wird oder von Behinderung bedroht ist. (a. a. O., Kap. III.7, S. 214) Analysiert man diese und weitere Aussagen zu den Aufgaben der Sonderpädagogik, dann sind es drei Bestimmungsstücke, die für eine Pädagogik bei Beeinträchtigungen des Lernens, Hanselmann sprach von der „Sondererziehung“ allgemein, ausschlaggebend sind (vgl. Hanselmann, 1930, 1941): 1. geht es grundsätzlich um Erziehungs- und Bildungsprozesse, 2. geht es um beeinträchtigende Faktoren in diesem Prozess („Entwicklungshemmung“ bei Hanselmann, um „Behinderung als intervenierende Variable“ bei Bleidick, um

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| Teil I: Gegenstandsbereich „physisch-psychische Schädigungen“ bei Becker (1979) usw.) sowie deren Aufklärung, und 3. geht es um die Erforschung und die Realisierung von Erziehungs- und Bildungsmöglichkeiten angesichts jeweiliger Beeinträchtigungen, pädagogisch-therapeutische/pädagogisch-rehabilitative Maßnahmen eingeschlossen. Die Diskussion um die nähere Bestimmung und um die konkrete Umsetzung der drei genannten Teilaufgaben hat zu den verschiedenen Konzepten geführt, welche die Theorie und Praxis des Arbeitsgebietes heute ausmachen: Sonderpädagogik ist die Theorie und Praxis der gesamten erzieherischen Förderung von Menschen mit Beeinträchtigungen aller Altersstufen. Das Besondere der Sonderpädagogik besteht darin, dass sie es mit unregelhaften und in diesem Sinne erschwerenden Gegebenheiten zu tun hat, für die sie ein über das Übliche Hinausgehendes an Konzepten und Kompetenzen anbietet. (Bach, 1999, S. 4, im Orig. kursiv) Als behindert im pädagogischen Sinne gelten Kinder, Jugendliche und Erwachsene, deren Lernen und deren soziale Eingliederung erschwert sind. Gegenstand der Behindertenpädagogik ist das Lernen und die soziale Eingliederung angesichts erschwerten Lernens und erschwerter sozialer Eingliederung. (Bleidick & Hagemeister, 1992, S. 29) Heilpädagogik wird ... als Pädagogik unter dem Aspekt spezieller Erziehungsbedürfnisse beim Vorliegen von Lern- und Erziehungshindernissen (Behinderungen und soziale Benachteiligungen) gesehen. (Speck, 2003, S. 20) Specks systemisch-ökologische Betrachtung der Heilpädagogik ist dadurch charakterisiert, dass „im Vordergrund der Erklärungsversuche ... nicht ‚die Behinderung‘ schlechthin, sondern der Mensch mit speziellen Erziehungserfordernissen in unserer Lebenswelt“ (2003, S. 20) steht. Dabei geht es, wie schon oben erwähnt, in systemtheoretischer Perspektive um das Erkennen und Verdeutlichen von Zusammenhängen, innerhalb derer Leben sinnvoll gestaltet werden kann, wenn Hilfestellungen durch eine angemessene Erziehung zur Verfügung stehen. Ein derartiger Ansatz hat erhebliche Auswirkungen auf alle pädagogisch-praktischen Umsetzungen und verlangt auch Antworten auf die Frage, wie und womit Hilfe im Sinne einer angemessenen Erziehung gegeben werden kann. Der Begriff des sonderpädagogischen Helfens durch und mit Erziehung gewinnt hier einen neuen Stellenwert. Einen wichtigen präzisierenden Aspekt zum Gegenstand und den Aufgaben der Heilpädagogik hat in Anlehnung an Oevermann (1997) Lindmeier (2000) in die Erörterungen eingebracht: Danach ist die Ausdifferenzierung der Heilpädagogik als Teildisziplin der Pädagogik und der damit verbundenen spezifischen Aufgaben weniger mit dem Vorhandensein von Behinderungen und den zugehörigen Erziehungserschwernissen zu begründen, sondern ihr Entstehen ist die strukturnotwendige Folge des „Misslingens der ‚Normalpädagogik‘“ in der ihr zukommenden professionalisierungstheoretischen Bestimmung pädagogischen Handelns. Oevermann (1997, S. 151) schreibt dazu: „Weil … das Selbstverständnis der Normalpädagogik sich auf die Funktion der Wissens- und Normenvermittlung beschränkt und die therapeutische Dimension ihrer Praxis ausblendet,



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kommt es zur … Differenzierung von Normal- und Sonderpädagogik. An letztere werden alle jene Fälle delegiert, die als auffällige oder manifeste Abweichung bzw. Störung aus der Normalpädagogik herausfallen.“ Das heißt, Heilpädagogik/Sonderpädagogik entstand im Sinne erforderlicher zusätzlicher Hilfe in pädagogischen Notfällen auf Grund von Vernachlässigungen genuiner Aufgaben (normal)pädagogischen Handelns. Überlegungen in ähnlicher Richtung veranlassten Möckel (1988, S. 239 ff.) im Zusammenhang mit der so genannten Integrationsdiskussion daran zu erinnern, dass sich heilpädagogische Aufgaben in jeglicher Pädagogik stellen, nicht nur in der Sonderpädagogik. So wie Moor formuliert hat: „Heilpädagogik ist Pädagogik und nichts anderes“ (1965, S. 273), lässt sich die Sentenz umkehren zur Aussage: Pädagogik beinhaltet immer auch Heilpädagogik (sollte sie zumindest, wenn man Oevermann oder Möckel folgt). Dass auch in Konzeptionen heutiger Lehrerbildung diese Zusammenhänge hinreichend bedacht werden müssen, ist für Willand (1998) selbstverständliche Forderung. Bei Hoyningen-Süess (1998, Kap III 8.3 u. 4, S. 248-264) wird folgerichtig (sonderpädagogisches) „Helfen“ als Grundbegriff und übergreifende Aufgabenstellung für alle Sonderpädagogik in den Mittelpunkt ihrer Schlussfolgerungen zur Zukunft der Sonderpädagogik gerückt. Mit Helfen sind hier allerdings im Sinne Hanselmanns konkret die besonderen Erziehungs- und Bildungsmaßnahmen gemeint, die benötigt werden, um das angestrebte Erziehungs- und Bildungsziel angesichts von (Entwicklungs-)Behinderungen zu erreichen. Die therapeutische Funktion der Erziehung, die Oevermann vor Augen hat und die mehr die Interaktionspraxis Schüler-Lehrer betrifft, ist dabei wohl mitbedacht, steht aber nicht im Vordergrund. Nach kritischer Auseinandersetzung mit den verschiedenen gegenwärtigen Strömungen der Sonderpädagogik und ihren unterschiedlichen Leitvorstellungen meint Hoyninge-Süess provokativ: Der Auftrag der Sonderpädagogik orientiert sich hier [in einer Pädagogik des Helfens] weder am Prinzip der ‚gesellschaftlichen Teilhabe‘ (z. B. Bleidick), noch am ‚Prinzip der Integration‘ (z. B. Eberwein, Feuser), sondern an einem gesellschaftlich zugesicherten Recht auf Akzeptanz und sozialer Sicherheit und am Recht auf Inanspruchnahme von Selbstbestimmung und Eigenständigkeit, letztlich also am Begriff der Lebensqualität für Menschen mit Behinderungen. (Hoyningen-Süess, 1998, S. 60) Die Sonderpädagogik [tut] gut daran, ihren Auftrag in Zukunft primär an der Qualität menschlichen Lebens auszurichten, anstatt sich in moralphilosophischen Grundsatzdebatten zu verlieren. Denn die Lebensqualität behinderter Menschen hängt nicht von Beschwörungsformeln für eine bessere Gesellschaft ab, sondern von der Erforschung besonderer Interventionsformen für behinderte oder von Behinderung bedrohter Menschen, die den berechtigten Anspruch behinderter Menschen auf ein selbstbestimmtes und eigenständiges Leben verwirklichen helfen und deren Evaluation. (HoyningenSüess, 1998, S. 263) Mit diesen Überlegungen wäre überzuleiten zur Frage nach den Leitvorstellungen und Richtzielen einer Pädagogik bei Beeinträchtigungen des Lernens. Spezifische Erziehungs- und Bildungskonzeptionen lassen sich geschichtlich gesehen zumindest für den Bereich der schulischen Sozialisation, speziell für die Hilfsschulpädagogik, ausmachen. Worin lag das Spezifische, das besondere schulische Maßnahmen und Einrichtungen für

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| Teil I: Gegenstandsbereich Schüler mit langdauernden, generellen Beeinträchtigungen des Lernens (Lernbehinderungen) begründete? Klauer (1975) hat vor Jahren versucht, die Hauptströmungen mit ihren dominanten Leitvorstellungen und Bildungskonzeptionen in idealtypischer Form zusammenzustellen. Er beschrieb fünf solcher Erziehungs- und Bildungskonzeptionen (vgl. S. 64-85): Allgemeinbildung unter erschwerten Bedingungen: Hier wurde versucht „die allseitig-harmonische Entfaltung aller Kräfte, die selbstzweckliche Allgemeinbildung in den Mittelpunkt der pädagogischen Bemühungen“ (Klauer, 1975, S. 64) zu stellen. Das allgemeine Bildungsziel, das für alle gültige Ziel, muss grundsätzlich auch im Unterricht der Hilfsschule verfolgt werden. Der allgemeine Bildungskanon bleibt so oberstes Richtziel, auch wenn klar ist, dass dieses Ziel im konkreten Falle schwerlich erreichbar ist. Die vorrangige Erziehung zur Brauchbarkeit und Nützlichkeit für die Gesellschaft, wie im 19. Jahrhundert vielfach angestrebt, wurde abgelehnt. Die konkrete Umsetzung dieser Konzeption war für die Lehrplangestaltung in den Schulen jedoch unausweichlich mit einer Absenkung des Anforderungsniveaus verbunden. Die Schüler der Hilfsschule konnten am Ende ihrer Schullaufbahn i. d. R. nur das Abschlussniveau der Mittelstufe der Volksschule erreichen und waren vom Bildungsangebot der Oberstufe praktisch ausgeschlossen. Klauer sprach deshalb in diesem Zusammenhang zu Recht von einem „dekapitierten Volksschulplan“ (1975, S. 66, im Orig. kursiv). Die hilfsschulspezifische Methodik: Hier wird auf die Elaborierung, die „Präzisionsmethodik“ (Bleidick) des Hilfsschulunterrichts gesetzt, um dem lern- und leistungsbehinderten Kind eine bestmögliche Förderung zuteil werden zu lassen. Viele der auch heute noch gebräuchlichen didaktischen Prinzipien haben hier ihren Ursprung: anschaulicher Unterricht, Ganzheit, Bewegung, Handbetätigung, Wiederholung, Kleinschrittmethodik, Differenzierung, Motivation, Stoffbeschränkung, Heimatprinzip, Lebensnähe (vgl. z. B. Bleidick & Heckel, 1968; Lesemann, 1963). Wieweit derartige Prinzipien, die übrigens mehr oder weniger für jeglichen Unterricht gelten, tatsächlich wirksam sind, war bereits Gegenstand mehrerer empirischer Untersuchungen, wobei sich ein durchaus differenziertes Bild ergab (vgl. Weinert, 1996 sowie verschiedene Didaktikkapitel in diesem Band). Hilfsschulpädagogik als Heilpädagogik: In dieser Konzeption wird die Hilfsschule vornehmlich als eine „Heilpädagogische Anstalt“ (Bartsch, zitiert nach Klauer, 1975, S. 70) oder „pädagogische Heilstätte“ (Wolf, zitiert nach Klauer, 1975, S.70) gesehen, in der es um Harmonisierung eines disharmonischen Geistes- und Seelenlebens geht sowie um die Besserung von krankhaften Zuständen. Gewiss haben heilpädagogische Aufgabenstellungen im Sinne psychotherapeutischer, verhaltentherapeutischer, gruppentherapeutischer, gesprächstherapeutischer, spieltherapeutischer usw. Einflussnahmen ihren Ort auch im engeren pädagogischen Arbeitsbereich (z. B. Borchert, 1996). Aber diese müssen in ihrer Umsetzung an hohe Kompetenz und Verantwortlichkeit gebunden werden. Die Hilfsschule als Erziehungsschule: Wie Klauer (1975, S. 72 f.) ausführt, gehört dieses Konzept zu den ältesten der Hilfsschulpädagogik und wird über die Zeit hin immer wieder von schulpraktischer, schulamtlicher wie wissenschaftlicher Seite bekräftigt. „Es ist daran festzuhalten, daß die eigentliche Erziehung, die Anleitung des Kindes zum Guten, die Anregung und Pflege seines Gemüts, die Gewöhnung an gute Sitte und Ordnung die Hauptaufgabe der Hilfsschule sein muß, gegen welche die Aneignung von Kenntnis-



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sen zurückzutreten hat“ (Frenzel, zitiert nach Klauer, 1975, S. 72 f.). Die Problematik einer solchen Zielperspektive liegt auf der Hand. Erziehung kann hier missverstanden und missgedeutet werden als Akt von Dressur unter Nützlichkeitsaspekten und als Vernachlässigung von Bildungsaufgaben. Es kann und darf jedoch nicht zu einer Haltung kommen, die angesichts von Lern- und Leistungsschwierigkeiten Bildungsziele aufgibt und nur noch auf Erziehung im Sinne von Abrichtung abgestellt wird. Die Hilfsschule als Leistungsschule setzt in ihrer idealtypischen Konzeption auf ein hierzu entgegengesetztes Richtziel. Als Schule der „Leistung und Gesittung“ (Lesemann, 1963) sollte sie im Zuge des „Strukturwandels“ (Hofmann, 1961) konzipiert werden. Für Hofmann waren die leitenden Unterrichtsprinzipien in der Hilfsschule keine anderen als die in der Normalschule. Die Gefahr der Überspitzung einer derartigen Konzeption deutet sich auch hier an, wenn in die Hilfsschule angesichts der Lern- und Entwicklungshemmungen ihrer Schüler an die Stelle von Erziehung Leistungsdrill Einzug halten würde. Bei Hofmann selbst war diese Gefahr nicht gegeben, das Konzept an sich schließt solchen Missbrauch jedoch nicht aus. Klauer (1975) hat damals eine eigene Konzeption entwickelt, die „Pädagogik der Vorsorge“. Sein Bemühen zielt im Sinne Beschels (1960) darauf, „den Schülern das höchstmögliche Maß an pädagogischer Hilfe zu gewähren, mit dem Ziel, das Kind trotz des Schadens zur Lebensmeisterung fähig zu machen“ (S. 75). Dabei kann es nicht einfach darum gehen, Kindern und Jugendlichen im Sinne der formalen Kräftebildung angemessene Erziehung zuteil werden zu lassen und für einen guten Unterricht Sorge zu tragen; vielmehr muss dasjenige geboten werden, was das „bildungsbehinderte Kind“ für seine spätere Lebenstüchtigkeit benötigt. „Insofern ist die Pädagogik der Vorsorge eine bedürfnisorientierte Pädagogik (Klauer, 1975, S. 76), bedürfnisorientiert hinsichtlich der späteren Lebenserfordernisse. Klauer wurde vorgehalten, mit diesem Konzept eines speziellen Bildungsbedürfnisses, das von ihm im Einzelnen pädagogisch gut begründet wurde, gegebenenfalls zur Festschreibung einer Behinderung beizutragen. Bei genauerer Analyse des Modells, in dem das Erziehungs- und Bildungsangebot stufenweise nach oben hin offen gehalten und auf die Förderung der Stärken des Kindes ausgerichtet ist, dürften diese Befürchtungen allerdings gegenstandlos sein. Klauer hat in den sechziger Jahren übrigens als erster Untersuchungen in die Wege geleitet, verschiedene Bestimmungsstücke seiner Konzeption auch einer empirischen Überprüfung zu unterziehen. Die Diskussion um die „richtigen“ Lehr- und Lernziele und insbesondere um wirksame Maßnahmen und Methoden hat sich, was die empirische Seite anlangt, mittlerweile stärker versachlicht und kann allmählich auch auf einen größeren Bestand an gesicherten Ergebnissen zurückgreifen (z. B. Borchert, 2000; Emmer, Hofmann & Matthes, 2002; Gehrmann & Hüwe, 2003; Goetze, 2002; Greisbach, Kullik & Souvignier, 1998; Ingenkamp, Jäger & Petillon, 1997; Klauer, 2001; Klauer & Lauth, 1997; Lauth, Brack & Linderkamp, 2001; Masendorf, 1997; Zielinski, 1996), auf die teilweise noch eingegangen wird. Gleichwohl ist der Bestand quantitativ und qualitativ noch nicht so weit verdichtet und strukturiert, als dass bislang eine erfahrungswissenschaftlich hinreichend begründete Theorie einer Pädagogik und/oder Psychologie bei Beeinträchtigungen des Lernens (Lernschwierigkeiten, Lernstörungen, Lernbehinderung) hätte vorgelegt werden können. Hierbei fragt sich übrigens, ob es beim Stand der Dinge und von der Wissenschaftslogik her überhaupt sinnvoll ist, solche übergreifenden Theorien, wie sie etwa auch Jantzen

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| Teil I: Gegenstandsbereich (1987), vorschweben, anzustreben, oder ob man es zweckmäßiger Weise nicht zunächst bei einer Weiterentwicklung der Partialtheorien belässt. Bezüglich der normativ begründenden Konzeptionen haben sich die Modellvorstellungen in den letzten Jahren in ihren Schwerpunkten allerdings deutlich verschoben. Dies gilt bis zu einem gewissen Grad auch für empirisch fundierte Beiträge und Sammelwerke (Begemann, 1992; Eberwein, 1996; Emmer, Hofmann & Matthes, 2002; Empfehlungen der Kultusministerkonferenz, 1994, 2000; Gehrmann & Hüwe, 2003; Greisbach, Kullik & Souvignier, 1998; Gröschke, 1997; Haeberlin, 1996; Heimlich, 1997, 1999; Masendorf, 1997; Schröder, 2000; Theis-Scholz, 2002; Theunissen, 2002; Wachtel & Wittrock, 2001; Wember, 2001; Werning & Lütje-Klose, 2003). Im Einzelnen lässt sich hier feststellen: – Das (abstrakte) Recht auf Erziehung und angemessene pädagogische Förderung für behinderte und von Behinderung bedrohte Kinder und Jugendliche wurde endlich amtlich festgeschrieben (z. B. Empfehlungen der Kultusministerkonferenz, 1994, 2000) und im Jahr 1994 durch das grundgesetzlich verbriefte Recht auf Gleichbehandlung (Grundgesetz Art. 3 Abs. 3 Satz 2) gewissermaßen weiter gesichert. – Auf Fachebene wird Behindertenpädagogik wieder ausdrücklich als „angewandte Ethik“ proklamiert (z. B. Antor & Bleidick, 2000; Blickenstorfer, Dohrenbusch & Klein, 1988; Haeberlin, 1996; Speck, 1996), nachdem sich in der öffentlichen wie teils auch in der fachlichen und politischen Diskussion Gegenströmungen im Sinne von mehr utilitaristischen Wertungen von „behindertem Leben“ positioniert hatten. Diese Diskussion ist jedoch noch voll im Gange. – Qualität, Qualitätssicherung und Ökonomisierung in der Behindertenarbeit sind zu aktuellen Streitthemen in der öffentlichen, fachlichen und politischen Diskussion geworden, nicht selten verbunden mit Zeichen einer verdeckten „Behindertenfeindlichkeit“ (vgl. z. B. Speck, 1999). – Die Zielrichtung (sonder-)pädagogischer Interventionen hat sich geändert. Im Mittelpunkt heutiger pädagogischer Bemühungen steht die individuelle Problemlage des jeweiligen Menschen mit allen seinen inneren wie auch allen von außen kommenden Beeinträchtigungen, wobei die Hilfe zweckmäßiger Weise an den persönlichen Stärken des jeweiligen Menschen ansetzt und seine Selbstentfaltungskräfte stützt. Die Problemlage eines Menschen in den Blick nehmen, heißt dabei immer auch, die Person in ihrem Umfeld zu orten und in ihren personalen Interaktionen wahrzunehmen. Diagnose, Analyse und Korrektion/Kompensation von Schädigungen sind in diesem Zusammenhang nur Elemente des pädagogisch-rehabilitativen Prozessablaufs. – Im Zusammenhang mit der geänderten Zielrichtung der pädagogischen Interventionen haben sich auch ihre Formen und Instrumentarien schwerpunktmäßig verschoben. Maßnahmen der Außensteuerung treten zurück gegenüber dem Bemühen um die Gestaltung eines Lern- und Lebensraumes, in dem die Kräfte der Selbstentfaltung und Selbstbestimmung des heranwachsenden Menschen im Austausch mit den Personen und Sachgegebenheiten seiner Umwelt bestmöglich gefördert werden. – International und neuerdings auch national treten vermehrt Bestrebungen hervor, unter der Bezeichnung „Inklusion“ strukturelle sowie institutionelle Veränderungen herbeizuführen, welche es gesellschaftlich wie bildungsorganisatorisch zulassen, innerhalb eines gemeinsamen Ganzen den Individualbedürfnissen jedes Menschen



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angemessen Rechnung zu tragen (vgl. hierzu z. B. Themenheft „Von der Integration zur Inklusion“ Sonderpädagogische Förderung, Heft 4/2003). Vorstellungen und Wünsche über Änderungen im Erziehungshandeln und im Erziehungsgeschehen betreffen sowohl konkrete Handlungsentwürfe als auch übergreifende Prinzipien wie – Erziehung zur personalen und sozialen Integration, zu Selbstbestimmung und Authentizität sowie zur Befähigung zu soziokultureller Teilhabe (Speck, 2003, S. 364), Erziehung gemäß den individuellen Erziehungserfordernissen (dem individuellen Förderbedarf), nicht ausgerichtet nach typisierenden Behinderungskategorien (Empfehlungen der Kultusministerkonferenz, 1994, 2000; Speck, 2003), – Erstellen individueller Erziehungspläne für jedes Kind, jeden Jugendlichen (Empfehlungen der Kultusministerkonferenz, 1994, 2000), vorrangig nach dem Prinzip des adaptiven Unterrichts (Wember, 2001), – Sonderpädagogische Hilfe als „Lebens- und Lernbegleitung“ (Begemann, 1997, 2002), „pädagogische Entwicklungsförderung“ (Wachtel & Wittrock, 2001) und im Sinne von „Empowerment“ (Theunissen, 2002), – Risiken in der kindlichen Entwicklung zunächst als Entwicklungsgefährdungen ­se­hen, sie nicht vorschnell als Defizite einordnen, sondern darum bemüht sein, die dem Menschen gegebenen Schutzfaktoren und Widerstandskräfte (Resilienz) zu aktivieren und zu stärken (Opp, Fingerle & Freytag, 1999), – lernortoffene pädagogische Förderung je nach Gegebenheiten und örtlichen Möglichkeiten mit der Präferenz der gemeinsamen Erziehung von behinderten und nichtbehinderten Kindern und Jugendlichen (Empfehlungen der Kultusministerkonferenz, 1994, 2000) sowie – Förder- und Hilfsangebote über die gesamte Lebensspanne hinweg sicherstellen (Frühförderung, schulische und außerschulische Förderung, berufliche Förderung, Lebens- und Berufsberatung). Man darf bei dieser Auflistung von Aufgabenstellungen nicht vergessen, dass es sich dabei vorwiegend um Ableitungen aus normativen Setzungen handelt und weniger um hinreichend wissenschaftlich gesicherte Aussagen auf deskriptiver Ebene. Entscheidend für die pädagogische Praxis ist jedoch immer, wie die genannten globalen Zielsetzungen in tragfähige theoretische Konzepte im Einzelnen und in zuverlässige Empfehlungen für das Erziehungshandeln umgesetzt werden können. Dies erweist sich, sofern überhaupt möglich, häufig als recht aufwendig. Am Beispiel des neuerdings favorisierten Empowerment-Konzepts wird dieses Problem gut sichtbar. So etwa hat Theunissen kürzlich für die Umsetzung des Empowermentansatzes in der Heilpädagogik acht „Assistenzformen“ in der Arbeit mit geistig- und lernbehinderten Menschen herausgearbeitet. Sie bilden recht gut den pädagogischen Aufgabenrahmen ab, innerhalb dessen Hilfestellung stattfinden soll bzw. kann – wohlgemerkt im Sinne von „Assistenz“, nicht in Form außenlenkender Erziehungsmaßnahmen: 1. Lebenspraktische Assistenz (pragmatische Hilfen zur Alltagsbewältigung) 2. Dialogische Assistenz (Herstellung und Fundierung einer vertrauensvollen Beziehungsgestaltung und kommunikativen Situation)

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| Teil I: Gegenstandsbereich 3. Konsultative Assistenz (gemeinsame Beratung in Bezug auf psychosoziale Probleme, Lebenspläne, Lebensziele, Zukunft) 4. Advokatorische Assistenz (Anwaltschaft, Fürsprecherfunktion, Stellvertreterschaft, Dolmetscher) 5. Facilitatorische Assistenz (wegbereitende, i. S. e. subjektzentrierten Förderung auf der Basis ‚offener Curricula‘) 6. Lernzielorientierte Assistenz (Hilfen zur Selbsthilfe durch strukturierte Lernangebote) 7. Sozialintegrierende Assistenz (soziale und gesellschaftliche Integrationshilfe) und 8. Intervenierende Assistenz (z. B. Halt gebende, stützende Hilfen im Falle von Verhaltensauffälligkeiten) (Theunissen, 2002, S. 181). „Diese Aufgaben“, so Theunissen, „signalisieren den Wandel vom herkömmlichen Betreuungsmodell und Paternalismus in der Heilpädagogik und Behindertenhilfe hin zu einer Helferkultur, die die Rechte, Bedürfnisse, Potentiale und Perspektiven behinderter Menschen ernst nimmt und respektiert“ (2002, S. 181). Aus praktisch-pädagogischer Sicht kann es keine Frage sein, dass hier ein recht überzeugender Katalog von Reformvorschlägen für angemessenes heilpädagogisches Erziehungshandeln vorgelegt wird, das vom Autor an anderer Stelle auch weiter expliziert ist (Theunissen & Plaute, 2002). Die Vorschläge dürften in dieser allgemeinen Form auch allseits Unterstützung erfahren, zumal nicht wenige davon, zumindest teilweise, längst praktische Umsetzungen erfahren haben. Dennoch ist das Konzept selbst dem Status nach bislang nichts anderes als eine neuere Erziehungslehre. Sie kann sich zwar auf hinreichend positive praktische Erfahrungen stützen, bedarf aber sicherlich weiterer wissenschaftlicher Bearbeitung. Dies betrifft weniger den Gesamtentwurf. Der wird hinsichtlich seiner Sollensinventarien ohnehin nur normativ zu begründen sein. An Gewicht nach wissenschaftlichen Kriterien wird er aber umso mehr gewinnen, je stärker seine deskriptiven Thesen zur Erziehungswirklichkeit sowie entsprechende Handlungsanweisungen empirisch abgesichert sind. Der vorhandene mittlerweile reiche Bestand an pädagogisch-praktischem Erfahrungswissen bietet in diesem Falle eine vorzügliche Basis, um notwendige evaluative Prozesse in Gang zu setzen. 2.3.2 Aussagen und Ergebnisse zu den Aufgabenstellungen auf deskriptiver und präskriptiver Ebene Was bislang zum Gegenstand und den Aufgaben einer Pädagogik bei Beeinträchtigungen des Lernens referiert und diskutiert wurde, beinhaltet neben theoretischen Erörterungen vor allem Vorstellungen und Forderungen zu Zielen und Prinzipien der Erziehung; das beträfe Punkt 1 des eingangs genannten Aufgabenkatalogs (Erstellung, Begründung und Reflexion von Sollensinventarien, welche die Richtung der Erziehungsbemühungen in diesem Sektor und konkrete Zielangaben ausweisen – Normation). Die jeweilig genannten Zielsetzungen selbst entstammen dabei zum einen philosophisch-anthropologischen, ethischen und bildungspolitischen Erwägungen. Sie beruhen zum anderen aber auch auf langjährig gewachsenen und verdichteten Erziehungs- und Unterrichtserfahrungen im



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Umgang mit schulversagenden Kindern. Didaktik und Unterrichtsmethodik waren hier die Kristallisationspunkte. Zur Begründung der verschiedenen Zielsetzungen wurde häufig auf Ableitungen aus medizinischen, psychologischen und in jüngerer Zeit auch soziologischen Wissensbeständen zurückgegriffen. So stellt sich die deutsche Behindertenpädagogik, folgt man der einschlägigen Fachliteratur, insgesamt stärker als eine Disziplin dar, die ihre Zielsetzungen und Aufgabenstellungen vornehmlich normativ und anhand praktischen Erfahrungswissens begründet und sehr viel weniger mit empirisch-analytisch gewonnenen Erkenntnissen. Dies ist insofern bemerkenswert, als das Arbeitsgebiet der Behindertenpädagogik selbst vor allem mit real-anthropologischen Gegebenheiten befasst ist und nicht so sehr mit erziehungsphilosophischen. Bei der Begründung und schulorganisatorischen Etablierung der Heilpädagogik vor über 100 Jahren ging es darum – und dies gilt auch für die Gegenwart – konkrete Hilfe in pädagogischen Notfällen zu leisten und Kinder mit Lern- und Entwicklungsbeeinträchtigungen im Prozess ihrer personalen und sozialen Integration (vgl. Speck, 1977, S. 98) zu begleiten und zu unterstützen. Für diese Aufgaben aber bedarf es vornehmlich der empirischen Analyse der Bedingungsstrukturen sowie eines gesicherten Veränderungs- und Handlungswissens. Nun sollen hier nicht die unterschiedlichen pädagogischen Aufgabenstellungen gegeneinander aufgewogen werden. Erziehungshandeln ohne Reflexion ist ebenso wenig vertretbar, wie sich Nachdenken über Erziehung ohne Bezug auf die Erziehungswirklichkeit in fruchtlosen Spekulationen ergeht. Das Erstellen von Erziehungszielen geht, auch wenn dies implizit erfolgt, immer dem Erziehungshandeln voraus. Das Überprüfen des Erfolgs erzieherischen/unterrichtlichen Handelns ist jedoch notwendiges Element der Selbstvergewisserung des Handelnden und Voraussetzung für weiteres Vorgehen. Anders gewendet: Behindertenpädagogik/Sonderpädagogik/Heilpädagogik hat das „Orientierungswissen“ für ihren Bereich zu erarbeiten und bereitzustellen. Sie muss aber ebenso Sorge tragen für wissenschaftlich zulängliches „Handlungs- und Veränderungswissen“, das unumgänglich ist, um jeweilige Zielsetzungen zu erreichen. Nur dann kann Sonderpädagogik/Behindertenpädagogik ihrer genuinen Aufgabe gerecht werden, Menschen in erschwerten Lernsituationen wirksame Hilfe zu leisten Das erforderliche Handlungs- und Veränderungswissen wurde traditionell, wie oben schon gesagt, in der Behindertenpädagogik überwiegend dem eigenen pädagogischpraktischen Erfahrungsbestand entnommen, ergänzt durch Ergebnisse und Methoden aus Nachbarwissenschaften wie Medizin, Psychologie und Soziologie. In den letzten Jahren haben sich jedoch die Aktivitäten verstärkt, Eigenuntersuchungen zur Analyse des Arbeitsfeldes und seiner Bedingungsstrukturen durchzuführen und vor allem effiziente Förderprogramme zu entwickeln. Arbeiten aus der empirischen Sonderpädagogik (z. B. Greisbach, Kullik & Souvignier, 1998; Kretschmann, 2003), speziell der experimentellen Sonderpädagogik (Masendorf, 1997) und der Heilpädagogischen/Sonderpädagogischen Psychologie (Borchert, 2000; Bundschuh, 2002; Fengler & Jansen, 1999), kommt dabei eine Vorreiterrolle zu. Außerdem war die derzeit laufende systematische Aufarbeitung der Psychologie als Wissenschaft Anlass, auch Randgebiete wie Lernschwierigkeiten (Zielinski, 1996), Lesen und Leseschwierigkeiten (Scheerer-Neumann, 1997), Lernbehinderungen und Leistungsschwierigkeiten bei Schülern (Klauer & Lauth, 1997) usw. aufzuarbeiten und damit unmittelbar behindertenpädagogische Problemstellungen anzugehen.

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| Teil I: Gegenstandsbereich Bundschuh (2002) charakterisiert in diesem Zusammenhang Heilpädagogische Psychologie als einen Wissenschaftsbereich, „der Erkenntnisse der Psychologie (Entwicklungs-, Lern-, Sozialpsychologie, Diagnostik, Klinische Psychologie/Therapiebereich) auf das Arbeitsfeld der Sonder- und Heilpädagogik transferiert, um bessere Aussagen über Ursachen (Ätiologie), Erscheinungsweisen (Phänomene), Diagnose und Möglichkeiten der Förderung (Lernen/Therapien) bei vorliegenden erschwerten Erziehungs- und Lernprozessen zu ermöglichen, als dies auf der Basis einer rein pädagogisch-sonderpädagogischen Fragestellung möglich wäre“ (S. 85). Zu den von ihm genannten fünf Bereichen referiert er den für die Heilpädagogik relevanten Sachstand und erörtert jeweils aktuelle Problemlagen. Fengler und Jansen haben bereits in den 80er Jahren eine Bestandsaufnahme der Ergebnisse zur Psychologie behinderter Menschen vorgelegt und wiederholt aktualisiert. In ihrem Handbuch der Heilpädagogischen Psychologie (1999) sind von Kornmann zum Theoriekonzept der Lernbehindertenpädagogik und der sich daraus ergebenden Aufgabenstellungen sehr bedenkenswerte forschungsmethodische und erkenntnistheoretische Einwände vorgetragen worden. „Die Population der ‚Lernbehinderten‘“, so seine Argumentation, „lässt sich nicht unabhängig von der schulischen Zuordnungsentscheidung definieren“ (S. 99). Nachdem diese jedoch stark situations- und weniger personabhängig erfolge, fehle es für die nähere Bestimmung Lernbehinderter an allgemein anerkannten Kriterien, die eindeutig und sinnvoll zugleich seien. Lernbehinderungen werden in der Ergebnisdarstellung bei Kornmann folgerichtig „nicht nur differentialpsychologisch, also im Sinne bestimmter Merkmale von Personen, sondern auch allgemeinpsychologisch, also im Sinne bestimmter Merkmale von Lernprozessen, interpretiert“ (S. 122). Dies entspricht neueren Auffassungen zum Phänomen „Lernbehinderung“, wie sie auch andernorts vertreten werden (z. B. Borchert, 2000; Hallahan & Kauffman, 1997; Helmke, 1992; Kanter, 1998; Masendorf, 1997) und auch die Position im vorliegenden Handbuch bestimmen. In Kapitel 1 finden sich differenzierte tabellarische Übersichten über Bedingungen von Lernerfolg und Lernversagen allgemein (nicht eingeengt auf die Gruppe lernbehinderter Kinder in Schulen) nebst ausführlichen Erläuterungen. Dabei sind die Ergebnisse der einschlägigen Untersuchungen problembezogen zusammengestellt, so dass Umsetzungsmöglichkeiten für das pädagogische Handeln unmittelbar einsichtig werden. Auf das derzeitige Standardwerk für dieses Gebiet, das Handbuch der Sonderpädagogischen Psychologie (Borchert, 2000), wird wegen seiner übergreifenden Bedeutung für das Aufgabenspektrum der Disziplin nachfolgend etwas näher eingegangen. Anhand der in diesem Werk gesammelten Beiträge lassen sich Umfang, Differenziertheit und Komplexität der Aufgabenstellungen einer Psychologie bei Beeinträchtigungen menschlichen Lernens und einzelmenschlicher Entwicklung gut abschätzen; und es dürfte dabei deutlich werden, dass für erforderliche pädagogisch-psychologische Maßnahmen Einfachrezepte nicht ausreichen. Vielmehr bedarf es bei erheblichen Lernstörungen in aller Regel professioneller Hilfestellung. Im genannten Handbuch ist der Herausgeber bemüht, hierzu das vorhandene, jedoch weit verstreute „psychologische Wissen über Menschen mit Behinderungen zu bündeln und auf aktuellem Stand zur Verfügung zu stellen“ (Borchert, 2000, S. VI). Dies geschieht zum einen nach behinderungsübergreifenden und zum anderen nach behinderungsspezifischen Gesichtspunkten. Die Ergebnisse sind nach fünf inhaltlichen Schwerpunkten geordnet:



Kapitel 2: Gegenstand und Aufgaben | 51

1. Fragen zu den klassischen Behinderungsformen (Lernbehinderungen, Verhaltensstörungen, Sprachbehinderungen, geistige Behinderungen, Körperbehinderungen usw.), 2. Konstruktionen und Perspektiven auf der Basis von Theoriemodellen (tiefenpsychologische, verhaltenstheoretische, humanistisch-psychologische, dialektisch-materialistische, medizinische, interaktionstheoretische, systemtheoretische, soziologischethnologische Ansätze), 3. arbeitsfeldbezogene Fragestellungen (Diagnostik, Prävention, Unterricht, schulische und außerschulische Integration, Probleme in nachschulischen Lebenswelten), 4. spezifische Interventionen, und zwar zum einen im Erziehungsbereich (Elternarbeit, Beratung, Supervision usw.) und zum anderen in Form von speziellen Trainings-, Förder-, Korrektions- sowie Kompensationsmaßnahmen (Wahrnehmungs- und Bewegungsförderung, Entspannungsverfahren, Spielförderung, Fördern des Denkens, der Metakognition, der Sprache und der Motivation, Interventionen bei Aufmerksamkeits- und Konzentrationsstörungen, bei Impulsivität, Hyperaktivität, Aggressivität, Angst, bei Kommunikationsausfällen in Form unterstützter Kommunikation usw.) und 5. Forschungsfragen und Forschungsperspektiven. Was hier an psychologischem Kenntnisbestand und Verfahrenswissen zusammengetragen wurde, bezieht sich auf die gesamte Breite möglicher Formen menschlichen Behindertseins, nicht nur auf den Teilbereich „Beeinträchtigungen des Lernens“. Für Aufgabenstellungen aus letzterem Sektor wären Informationen und geeignete Handlungsempfehlungen jeweils fallbezogen auszuwählen, aufzubereiten und in Form individueller Förderpläne umzusetzen. Diese Art sukzessiven und individualisierenden Vorgehens im Prozessablauf (sonder-)pädagogischer Förderung ist kennzeichnend für heutige Maßnahmenkonzepte, nachdem sich gezeigt hat, dass bei Schülern mit Lern- und Leistungsausfällen gezielte Fördermaßnahmen größere Erfolgswahrscheinlichkeit haben als ungerichtete methodisch-didaktische Prinzipien allgemeiner Art (z. B. Böhm, 2002; Helmke & Weinert, 1997, S. 140 ff.; Weinert, 1996, S. 30 ff.; Wember, 1999). Im Einzelnen sind es drei Aspekte, die beachtet werden müssen: 1. Hohe Fachkompetenz (Handlungs- und Veränderungswissen) seitens der pädagogisch-psychologischen Helfer ist Basisvoraussetzung für alles Erziehungshandeln und effektives pädagogisch-rehabilitatives Fördern. 2. Dem Erziehungshandeln muss die fallbezogene Abklärung der jeweiligen erschwerten Lernsituation vorausgehen (Eingangsdiagnose) bevor Begleitdiagnostik im weiteren Verlauf sodann die Maßnahmenauswahl und -modifikation steuert. 3. Angesichts der zunehmenden Diversifikation von pädagogisch-rehabilitativen Maßnahmen nach Art und Ort (externe/interne Einzelförderung, Gruppenförderung, unterrichtsintegrierte Förderung usw.) ist das Erstellen und Fortschreiben eines individuellen Förder- und Erziehungsplans für jedes Kind und jeden Jugendlichen unerlässlich. Daraus ergibt sich insgesamt eine wesentliche Veränderung der Aufgabenstellungen für die Praxis der pädagogisch-psychologischen Förderung: An die Stelle allgemeiner Prin-

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| Teil I: Gegenstandsbereich zipien in der Praxis der Lern- und Entwicklungsförderung bei Beeinträchtigungen des Lernens muss, soweit möglich, eine konzeptgebundene Lernförderung treten, und zwar bezogen auf die jeweilige Situation bzw. den jeweiligen Fall. Dies bedeutet nun aber nicht, die in der Unterrichtspraxis bewährten allgemeinen didaktischen Prinzipien samt und sonders zu verwerfen. Vielmehr geht es darum, sie fall- und situationsbezogen auszuwählen und zielgerichtet einzusetzen. Die bekannte „Kleinstschritttechnik“ bei der Erarbeitung von Unterrichtsgegenständen z. B. mag für den einen Schüler förderlich und notwendig sein, damit er für ihn unüberschaubare Lehrangebote Schritt für Schritt aufnehmen und verarbeiten kann. Für einen anderen kann dasselbe Verfahren dagegen höchst „geisttötend“ und demotivierend wirken, weil sein Lernproblem nicht in der erschwerten Aufnahme und Strukturierung von Lerninhalten liegt, sondern in einer zu kurzen und schwankenden Aufmerksamkeitsspanne. Das heißt, bei gegebenenfalls äußerlich gleichen Leistungsrückständen können völlig unterschiedliche Förderhilfen angezeigt sein. Über eben diese, der jeweiligen Situation angemessenen Interventionen nebst zulänglicher Begründung müssen individuelle Förderpläne Auskunft geben. Wie van der Kooij (2000) vermerkte, haben Sonder-Pädagogik wie Sonderpädagogische Psychologie gleichermaßen die Aufgabe, Hinweise (Handlungs- und Veränderungswissen) zu erarbeiten, wie problematischen Erziehungssituationen begegnet werden kann. So ergeben sich denn auch bezüglich der Aufgabenstellungen und Handlungsempfehlungen einer „Experimentellen Sonderpädagogik“, wie von Masendorf (1997) vertreten, zahlreiche Parallelen zu denen der Sonderpädagogischen Psychologie. Zunächst ist hier festzuhalten, dass sich in jüngerer Zeit in der Pädagogik allgemein wie auch in der Sonderpädagogik wieder stärker die Einsicht der Notwendigkeit durchsetzt, vermehrt empirisch zu arbeiten und speziell auch experimentelle Forschung zu betreiben, wobei es insbesondere um die Optimierung der Erziehungsund Unterrichtspraxis sowie um die Entwicklung spezifischer Förderprogramme geht. Dazu bedarf es unter pädagogisch-rehabilitativen Aspekten, wie die vorliegenden Arbeiten ausweisen, vor allem der besseren Aufklärung des Bedingungsgefüges von erschwerten Lernsituationen sowie der Erforschung der differentiellen Wirkungen verschiedener Formen des Erziehungs- und Unterrichtshandelns. Dabei kann z. B. das Wissen um allgemeine Gesetze des Lernens als erster Orientierungsrahmen für das Handeln dienen, die allgemeinen Gesetzmäßigkeiten bedürfen aber modifizierender Konkretisierungen entsprechend den je spezifischen Aufgabenstellungen; und wie diese vorzunehmen sind, lässt sich nur über empirische Forschung erfahren. Das exakt kennzeichnet die heutige Bedarfslage im pädagogisch-psychologischen Arbeitsfeld. An selbstgewissen Meinungen, was gute und richtige Erziehung ist, fehlt es hier nicht. Doch gründet die Zuverlässigkeit dieser Aussagen oft auf blankem Heurismus, und die jeweiligen Handlungsempfehlungen sind zudem nicht selten widersprüchlich. Fazit: Umfang und Vielfalt erfahrungswissenschaftlich anzugehender Fragestellungen sind gerade bei Beeinträchtigungen des Lernens in hohem Maße gegeben. Der derzeitige Kenntnisstand zur Sache ist jedoch relativ gering, und die Forschungsaktivitäten halten sich bei allem Interesse in Grenzen. Reden über Erziehung lässt sich eben sehr viel leichter als begründet und wirksam zu handeln.

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2.4

Resümee

Die Darlegungen zu Gegenstand und Aufgaben einer Pädagogik und Psychologie bei Beeinträchtigungen des Lernens lassen sich in fünf Kernaussagen zusammenfassen: 1. Mit der Bezeichnung Pädagogik und Psychologie bei Beeinträchtigungen des Lernens (Lernschwierigkeiten, Lernstörungen, Lernbehinderung) ist ein Arbeits- und Forschungsgebiet umschrieben, das zwar eine Schwerpunktsetzung sowohl innerhalb der Pädagogik als auch innerhalb der Psychologie erlaubt und zweckmäßig erscheinen lässt, dessen sinnvolle definitorische Abgrenzung als eigenständige Disziplin sich aber dennoch nicht anbietet. Pädagogik und Psychologie bei Behinderten (Sonderpädagogik, Behindertenpädagogik, Rehabilitationspädagogik bzw. Heilpädagogische/ Sonderpädagogische Psychologie usw.) sind nichts anderes als Pädagogik bzw. Psychologie und sollten es auch bleiben – allerdings fokussiert auf Aufgabenstellungen, die sich aus erschwerten Erziehungs- und Lernsituationen ergeben. Das bedeutet zum einen, dass alle Erkenntnisse und Methoden der Stammdisziplinen grundsätzlich auch für die jeweiligen Teilgebiete Gültigkeit haben, zum anderen aber, dass die genannten spezifischen Fragestellungen in Forschung, Lehre und Praxis bevorzugt angegangen und aufgearbeitet werden müssen, und zwar lernort- und erziehungsbereichübergreifend. 2. Soweit von Lernbehindertenpädagogik, Förderpädagogik usw., bezogen auf Schule oder außerschulische Arbeitsgebiete, gesprochen wird, sind mit diesen Bezeichnungen immer nur organisationssoziologische Ausdifferenzierungen im Sinne von Aufgabenteilung im gegenwärtigen öffentlichen Erziehungs- und Bildungswesen gemeint – Ausdifferenzierungen als „strukturnotwendige“ Folge der unzulänglichen Wahrnehmung genuiner Aufgaben der „Normalpädagogik“ (vgl. Lindmeier, 2000; Oevermann, 1997). Die zugehörigen Arbeitsgebiete haben sich in einer über 100-jährigen Entwicklung herausgebildet und decken in der heutigen Pädagogik notwendige Aufgaben und Funktionsbereiche jeglichen Erziehungshandelns ab, also sowohl innerhalb des Regelschulwesens als auch – wenn dieses dazu nicht in der Lage ist – in eigenständigen Organisationseinheiten. Solange es daher nicht gelingt, diese heilpädagogischen Aufgaben im Rahmen der Normalpädagogik binnendifferenzierend in angemessenem Umfange und hinreichend professionell wahrzunehmen, werden Formen der äußeren Differenzierung im Interesse aller Beteiligten unvermeidlich bleiben. Denn wie zu Zeiten der Hilfsschulgründungen im 19. Jahrhundert sind die Regelschulen auch heute vielerorts noch nicht in der Lage, den Anforderungen spezifischer Lern- und Erziehungshilfe zu entsprechen; und Kinder und Jugendliche, die den Regelanforderungen der allgemeinen Schule ohne besondere pädagogische Hilfe nicht gewachsen sind, wird es immer geben. – In der Diskussion über Aufgaben einer Pädagogik und Psychologie bei Beeinträchtigungen des Lernens muss folglich zwischen Erfordernissen unterschieden werden, die sich aus internen und umfeldbezogenen Lernerschwernissen des Kindes und Jugendlichen selbst ergeben, und solchen, die aus strukturellen Vorgaben des Bildungs- und Erziehungswesens resultieren. 3. Zur Aufgabe der Pädagogik, Richtziele sowie Sollensinventarien für das Erziehungshandeln bei Beeinträchtigungen des Lernens zu erstellen, zu begründen und zu reflek-

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| Teil I: Gegenstandsbereich tieren, liegen verschiedene Konzeptionen vor, die teilweise miteinander konkurrieren. Sie stimmen in ihrem Grundtenor jedoch mit Richtzielen überein, wie sie von der Kultusministerkonferenz in ihren Empfehlungen zur sonderpädagogischen Förderung in den Schulen der Bundesrepublik Deutschland 1994 formuliert wurden: Sonderpädagogische Förderung soll das Recht der behinderten und von Behinderung bedrohten Kinder und Jugendlichen auf eine ihren persönlichen Möglichkeiten entsprechende schulische Bildung und Erziehung verwirklichen. Sie unterstützt und begleitet diese Kinder und Jugendlichen durch individuelle Hilfen, um für diese ein möglichst hohes Maß an schulischer und beruflicher Eingliederung, gesellschaftlicher Teilhabe und selbständiger Lebensgestaltung zu erlangen. (Empfehlungen der Kultusministerkonferenz, 1994, II.1.)

Vor diesem gemeinsamen Hintergrund werden in der Bildungsöffentlichkeit gegenwärtig jedoch verschiedene Deutungspräferenzen diskutiert. Dabei geht es hauptsächlich um ethische Aspekte gegenüber mehr utilitaristischer Erwägungen und im Zusammenhang damit um gesellschaftliche Wertschätzungen ideeller, aber nicht selten auch rein ökonomischer Art. 4. Die o. g. Richtzielformulierung der Kultusministerkonferenz zur sonderpädagogischen Förderung beinhaltet zwei Basisaufgaben: Erstens soll das Recht auf Erziehung verwirklicht werden, zweitens die gesellschaftliche Eingliederung und Teilhabe sowie eine selbständige Lebensgestaltung für behinderte und von Behinderung bedrohte Kinder und Jugendliche erreicht werden. Nun bedarf es, um Erziehungsund Bildungsaufgaben nach den vorgegebenen Zielsetzungen sach- und fachgerecht wahrnehmen zu können, eines zuverlässigen Veränderungs- und Handlungswissens. Derartiges Wissen hat sich zum einen in langjähriger, von kritischer Reflexion begleiteter Praxis angesammelt und seinen Niederschlag in traditionellen Erziehungslehren gefunden. So gewonnene Erziehungs- und Unterrichtsprinzipien genügen Kriterien empirisch-wissenschaftlicher Forschung jedoch nicht. Sie sind als Ergebnis vorwiegend geisteswissenschaftlicher Erkenntnisgewinnung auch nicht darauf angelegt. Von Beschreibungen und Analysen der Erziehungswirklichkeit nach empirischanalytischem Wissenschaftsverständnis wird dagegen verlangt, dass sie mittels anerkannter sozialwissenschaftlicher Instrumentarien gewonnen werden. Aussagen zum Erziehungshandeln sowie zu Interventionen im Erziehungsumfeld müssen empirischen Gütekriterien genügen. Der Prozess derartiger erfahrungswissenschaftlicher Absicherung von pädagogisch-psychologischer Deskription und Präskription hat zwar in den letzten Jahrzehnten in der Pädagogik zugenommen, kommt aber nicht zuletzt wegen des hohen Arbeits- und Forschungsaufwandes nur langsam voran. 5. Qualität und Effektivität von Erziehen und Unterrichten hängen zwar fraglos zu gro­ ßen Teilen vom Maß an wissenschaftlich zuverlässigem und gültigem pädagogischpraktischem Handeln ab, es wäre aber unrealistisch zu glauben, alles Erziehungshandeln ließe sich je im Sinne empirisch-analytischen Wissenschaftsverständnisses absichern. Ohne den reichen Fundus an verdichteter und reflektierter Praxiserfahrung und pädagogischer Handlungstradition wären Erziehung und Unterricht auch in heutiger Zeit nicht möglich. Seit dem Bemühen um wissenschaftlich begründete Päd-

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agogik, d. h. um theoretisch geleitetes Erziehungshandeln, ist ein ständiger Prozess im Gange, die tradierten Erziehungs- und Unterrichtsprinzipien auf ihre Gültigkeit hin zu überprüfen. Auch die bisher vornehmlich geisteswissenschaftlich begründeten Erziehungsprinzipien basieren ja in beachtlichem Umfange auf Erfahrungswissen. Was daher heute gefordert wird, ist vor allem die strengere wissenschaftliche Absicherung der Aussagen, nicht jedoch eine Verabsolutierung von Erziehungstechnologie. Außerdem bleibt da noch das Problem der „pädagogischen Differenz“, wie das Benner (2001, S. 323) genannt hat. Unmittelbare Ableitungen des Handelns aus der Theorie und umgekehrt sind im Bereich der Pädagogik grundsätzlich nicht möglich. Pädagogik kann immer nur Orientierungswissen bieten und gemeinsam mit der Psychologie Handlungsempfehlungen erarbeiten, nie „Gebrauchsanweisungen“ für Erziehung liefern. Aufgabe einer Pädagogik und Psychologie bei Beeinträchtigungen des Lernens ist es, so wäre in Anlehnung an Hanselmann abschließend und kurzgefasst zu formulieren, Erziehungs- und Bildungsmöglichkeiten für diejenigen Menschen zu erforschen und vor allem dann auch zu realisieren, deren Entwicklung im Bereich des Lernens aus verschiedenen Gründen behindert verläuft, voraussichtlich behindert verlaufen wird oder von Behinderung bedroht ist.

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Teil II

Theoretische Ansätze zur Erklärung von Lernschwierigkeiten, Lernstörungen und Lernbehinderung

Einführung Markus Strobel und Andreas Warnke bringen in ihrem Beitrag aus der Perspektive des medizinischen Paradigmas dem Leser das vielfältige Spektrum der Lern- und Leistungsstörungen näher. Neben grundsätzlichen Überlegungen zur ätiologischen Gliederung und Klassifikation kommen prä-, peri- und postnatale Einflussfaktoren unter neuropsychologischen Gesichtspunkten zur Darstellung. Aufgrund vergleichsweise hoher Prävalenzraten werden Lernbehinderungen im Sinne eines allgemein erniedrigten intellektuellen Leistungsvermögens sowie umschriebene Entwicklungsstörungen schulischer Fertigkeiten eingehend erläutert. Da das interaktionstheoretische Paradigma in der sonderpädagogischen Rezeption manchmal zu sehr auf den Etikettierungsansatz reduziert oder bruchstückhaft zur Kenntnis genommen wird, gibt Rainer Benkmann zunächst Hinweise auf seine theoretisch grundlegende Bedeutung für die Erklärung von Lernbeeinträchtigungen. Relevant in diesem Zusammenhang ist auch die Darstellung einiger Vorstellungen des sozialen Konstruktivismus, einer Weiterentwicklung des Symbolischen Interaktionismus. Auf diesem Hintergrund wird der Stigmatisierungsansatz erörtert. Dagmar Orthmann Bless erklärt im Rahmen des schulsystemischen Paradigmas Lernschwierigkeiten und Lernbehinderungen als systembedingte Devianz von Schulkarrieren. Im Unterschied zur systemischen Sichtweise insgesamt richtet die schulsystemische Betrachtungsweise ihren Fokus dabei in spezieller Weise auf die Funktionen und Strukturen des Anforderungssystems selbst. Lernbehinderung wird aus dieser Perspektive als systembedingtes Schulleistungsversagen erklärt, das seinen Ursprung in der formal bestimmbaren Zweckstruktur des Systems hat. Die Auseinandersetzung mit Funktionen und Strukturen des aktuellen Schulsystems bietet den Rahmen für eine Erläuterung der Spezifik von schulsystemischen Entscheidungsprozessen auf verschiedenen Ebenen, die in ihrer Konsequenz zur Konstituierung der Personengruppe der Lernbehinderten führen. Dabei wird die Argumentation mit Bezug auf Theorien zum Organisationshandeln und in Auswertung der vorliegenden empirischen Befunde geführt. Katja Koch verdeutlicht in ihren Ausführungen sowie durch die von ihr herangezogenen empirischen Befunde, dass es sich bei lernbehinderten Schülern um eine Gruppe handelt, die zum Großteil unter sehr prekären sozioökonomischen Lebensbedingungen aufwächst. Im Zusammenwirken mit weiteren Faktoren können sich aus der Stellung der Familie innerhalb der Sozialstruktur Sozialisationsbedingungen ergeben, die zu soziokulturellen Benachteiligungen in der Institution Schule und mithin zu einer Gefährdung des Schulerfolgs führen, bei ungünstigem Verlauf und Wirken weiterer Faktoren bis hin zu Lernbeeinträchtigungen bzw. Lernbehinderung mit der Folge einer besonderen Beschulung. Für Werner Nestle kann die Betrachtung von Lernen und Lernbehinderung unter der Perspektive der Lern- und Entwicklungstheorien für Unterrichts- und Förderkonzepte sehr produktiv sein. Lern- und Entwicklungstheorien sind auch wichtige Inhalte der

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| Teil II: Theoretische Ansätze Lehreraus- und Lehrerfortbildung. Um zu verhindern, dass diese Inhalte dogmatisch gelehrt und in der Praxis unreflektiert angewandt werden, sind deren erkenntnistheoretische Grundlagen und deren Wirkungen zu reflektieren. In diesem Beitrag wird an Piagets Theorie der kognitiven Entwicklung und an der Lerntheorie des Konstruktivismus beispielhaft diskutiert, ob die Ansprüche von Theorien einer subjekt- und sachorientierten Lernkultur entsprechen. Nach Rolf Werning können Lernbeeinträchtigungen aus systemisch-konstruktivistischer Perspektive als Ergebnis einer wenig hilfreichen strukturellen Koppelung zwischen dem Sozialsystem Schule und dem psychischen System des Schülers verstanden werden. Statt der Diagnose individueller Schwierigkeiten oder Defizite geht es somit um eine Beziehungsdiagnose, wobei die Ansätze einer pädagogischen Förderung an den vorhandenen Wirklichkeitskonstruktionen der Schüler ansetzen müssen. Aus einer systemisch-konstruktivistischen Perspektive können aber nicht direkt pädagogische Handlungsorientierungen abgeleitet werden. So werden weder spezifische Objekttheorien wie zum Beispiel zum Schriftspracherwerb oder zur Entwicklung mathematischer Einsichten überflüssig, noch verwirft der systemisch-konstruktivistische Ansatz eine erfahrungsorientierte Erforschung von (konstruierter) Wirklichkeit. Das systemisch-konstruktivistische Paradigma stellt sich vielmehr als ein integrativer Ansatz dar, der sich der Komplexität von Lernbeeinträchtigungen stellt und sich gegen eine Trivialisierung und Sozialtechnologisierung auch im Verständnis von und im Umgang mit Lernschwierigkeiten richtet.

3 Das medizinische Paradigma Markus Strobel und Andreas Warnke Lernen wird als aktiver, konstruktiver und zielgerichteter Vorgang verstanden, der den Aufbau und den Erwerb von Fähigkeiten auf der Grundlage des verfügbaren Vorwissens zum Ziel hat (Glaser, 1991). Lernen stellt einen Teilaspekt intelligenten Verhaltens dar, welcher die Auseinandersetzung des Individuums mit Umwelt und Entwicklungsaufgaben und somit die Aneignung von kognitiven, sprachlichen, motorischen oder sozialen Fertigkeiten und Kulturtechniken ermöglicht. Für den normalen Lernvorgang sind intakte Sinnesorgane (Auge, Ohr, Tast- und Gleichgewichtsorgane) und ungestörte Hirnfunktionen (Erfassungs- und Verarbeitungssysteme) ebenso erforderlich wie funktionierende Wiedergabe- und Erfolgsorgane (Sprache, Mimik und Motorik). Essentielle Bedeutung kommt im Weiteren emotionalen und motivationalen Bedingungen sowie einer altersgerechten Anregung und Förderung zu. Unter einer Lernstörung verstehen wir die Beeinträchtigung normalen menschlichen Vermögens, durch Erfahrung, Beobachtung, Übung und Einsicht Fähigkeiten neu zu erwerben oder zu verändern. Lernstörungen werden an mangelhafter Leistung sichtbar. Leistungsstörungen erkennen wir an dem Unvermögen des Kindes und Jugendlichen, normalerweise beherrschbare Fähigkeiten auf gewöhnlich zu erwartendem Niveau auszubilden. Primäre Lern- und Leistungsstörungen liegen vor, wenn die für eine Handlung notwendige Fähigkeit nicht entwickelt ist. Bei sekundären Lern- und Leistungsstörungen ist das Lern- und Leistungsvermögen zwar veranlagt oder erworben, die Fähigkeit dazu aber gehemmt. Bestehende Beeinträchtigungen der Lernfähigkeiten eines Kindes zeichnen sich mitunter bereits im Vorschulalter ab, sind jedoch in ihrer Ausprägung zu diesem Zeitpunkt nicht selten noch vergleichsweise unspezifisch, werden vernachlässigt oder im Sinne einer Entwicklungsverzögerung interpretiert. Mit Beginn der Schulzeit werden Kinder jedoch mit neuen spezifischen Entwicklungsaufgaben und Lerninhalten konfrontiert, setzen sich zunehmend mit eigenen Leistungsressourcen auseinander und suchen Vergleich und Orientierung innerhalb der Gruppe der Gleichaltrigen. Nicht selten werden in ihren Lernfähigkeiten beeinträchtigte Kinder angesichts schnell steigender schulischer Leistungsanforderungen, denen sie zunehmend nicht mehr gewachsen sind, nun erstmals auffällig. Andererseits können verschiedenste körperlich-neurologische Erkrankungen, psychische Störungen oder ungünstige Umfeldbedingungen sekundäre Lern- und Leistungsstörungen nach sich ziehen. Schulversagen und sozio-emotionale Verhaltensauffälligkeiten infolge von Lern- und Leistungsstörungen sind häufige Gründe einer Vorstellung von Kindern bei Schulpsychologen, Beratungsstellen oder Kinder- und Jugendpsychiatern. Zielsetzung der Autoren ist es, dem Leser in folgendem Beitrag das vielfältige Spektrum der Lern- und Leistungsstörungen aus medizinischer Sicht näher zu bringen. Neben grundsätzlichen Überlegungen zur ätiologischen Gliederung und Klassifikation kommen prä-, peri- und postnatale Einflussfaktoren unter neuropsychologischen Gesichtspunkten zur Darstellung. Aufgrund vergleichsweise hoher Prävalenzraten sollen im Weiteren die Lernbehinderung im Sinne eines allgemein erniedrigten intellektuellen Leistungs-

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| Teil II: Theoretische Ansätze vermögens sowie die umschriebenen Entwicklungsstörungen schulischer Fertigkeiten eingehend erläutert werden.

3.1 Klassifikation von Lern- und Leistungsstörungen nach MAS Ein wichtiger Fortschritt in der Entwicklung operationalisierter Klassifikationssysteme war die Etablierung eines multiaxialen Vorgehens. Das Konzept der multiaxialen Diagnostik hat in der Psychiatrie zwar lange Tradition, wurde aber erstmalig durch das Multiaxiale Klassifikationsschema (MAS) in der Kinder- und Jugendpsychiatrie umgesetzt (Remschmidt & Schmidt, 1977; Remschmidt, Schmidt & Poustka, 2001). Grundgedanke der multiaxialen Diagnostik ist die Erfahrung, dass man mit einer einzigen Diagnose, aber auch mit mehreren Diagnosen der Komplexität klinischer Bedingungen von Patienten nicht gerecht wird. Deshalb wird an Hand von klinisch als bedeutsam angesehenen Merkmalen, Merkmalsbereichen oder Betrachtungsebenen („Achsen“) zusätzlich zu der kinder- und jugendpsychiatrischen Hauptdiagnose relevantes Informationsmaterial kodiert (Herpertz-Dahlmann, Resch, Schulte-Markwort & Warnke, 2003). Hinter dem Phänomen von Lern- und Leistungsstörungen verbirgt sich eine Vielzahl von Ursachen, Defiziten und Störungen. Eine Anlehnung an das Multiaxiale Klassifikationsschema ermöglicht eine übersichtliche ätiologische Gliederung von Lern- und Leistungsstörungen unter Einbeziehung von Entwicklungsstörungen, Intelligenzminderung, psychiatrisch und körperlich neurologischen Erkrankungen sowie psychosozialen Umfeldfaktoren. Tabelle 1: Klassifikation von Lern- und Leistungsstörungen nach MAS Erklärung von Lern- und Leistungsstörungen durch: Achse I

Klinisch psychiatrische Erkrankung z. B. Anpassungsstörungen, Schulangst und Schulphobie, Schizophrenie, affektive Störungen, tiefgreifende Entwicklungsstörungen, hyperkinetische Störungen

Achse II

Umschriebene Entwicklungsstörung z. B. Lese- und Rechtschreibstörung, Rechenstörung

Achse III

Intelligenzminderung

Achse IV

Körperlich neurologische Erkrankung oder Behinderung z. B. Blindheit, Hörstörungen, Zerebralparese, Epilepsie, Stoffwechselerkrankungen

Achse V

Abnorme psychosoziale Umstände z. B. Deprivation, mangelnde Förderung, ungünstige ökonomische Verhältnisse, psychische Erkrankung eines Elternteils

Achse I: Klinisch psychiatrische Erkrankung. Psychische Störungen können sich bei Kindern und Jugendlichen zu unterschiedlichen Entwicklungszeitpunkten manifestieren und die Lern- und Leistungsfähigkeit der Betroffenen nachhaltig beeinträchtigen. Anpas-



Kapitel 3: Das medizinische Paradigma | 67

sungsstörungen sind vorübergehende, meist ängstlich-depressiv, mitunter jedoch auch dissozial geprägte und nicht selten mit Lern- und Leistungsschwierigkeiten verknüpfte Störungen. Sie stehen in unmittelbarem Zusammenhang mit psychisch überfordernden Erlebnissen wie zum Beispiel Elternverlust durch Scheidung oder Tod, Wohnortwechsel oder schwere Krankheit. Auch die beiden psychiatrischen Kategorien der Schulangst und Schulphobie sind ganz wesentlich durch eine Beeinträchtigung der Leistungsfähigkeit gekennzeichnet. Die Schulangst ist in negativen Erfahrungen im Schulbereich wie zum Beispiel Hänseleien durch Mitschüler, Lehrerkritik oder schlechten Schulnoten begründet. Die Schulphobie hingegen ist keine auf die Schule gerichtete Angst, sondern im Kern eine Trennungsangst, etwa weil das Kind die depressiv erkrankte Mutter nicht alleine zu Hause zurücklassen möchte. Anpassungsstörungen, Schulangst und Schulphobie sind demnach eher als Lern- und Leistungshemmungen zu charakterisieren und betreffen vor allem die Lern- und Leistungsmotivation als eine der zentralen Voraussetzungen schulischer und alltagsbezogener Lernprozesse. Affektive oder schizophrene Psychosen wiederum können einen erheblichen und manchmal persistierenden Leistungsabbau nach sich ziehen. Unter Psychosen werden krankhafte geistige und seelische Störungen verstanden, die akut oder schleichend einsetzen und mit schweren Veränderungen des Sinn- und Bedeutungserlebens der Umwelt einhergehen, die für andere nicht mehr einfühlbar sind. Sie gehen oft mit einem „Entwicklungsknick“ einher, der sich häufig zuerst im Leistungs- und Kommunikationsraum der Schule manifestiert. Ausgeprägte Lern- und Leistungsstörungen finden sich im Weiteren nahezu regelhaft bei Zwangs- und Angsterkrankungen oder tiefgreifenden Entwicklungsstörungen wie dem Asperger-Syndrom. Nicht zuletzt aufgrund der hohen Prävalenzraten sind auch die hyperkinetischen Störungen anzuführen, welche nicht selten eine gravierende Beeinträchtigung der im schulischen Kontext essentiellen Aufmerksamkeitsleistungen und sozialen Integrationsfähigkeit bedingen. Achse II: Umschriebene Entwicklungsstörungen. „Umschriebene Entwicklungsstörungen“ kennzeichnen gemäß der international verbindlichen Klassifikation der Weltgesundheitsorganisation ICD-10 (Dilling, Mombour & Schmidt, 1999) Leistungsdefizite in spezifischen Entwicklungsbereichen, welche nicht direkt neurologischen Veränderungen, sensorischen Beeinträchtigungen, einer Intelligenzminderung oder Umweltfaktoren zugeordnet werden können. Der Beginn liegt ausnahmslos im Kleinkindalter oder in der Kindheit, der Verlauf ist stetig und nicht durch Remissionen und Rezidive charakterisiert. Der im deutschsprachigen Raum gebräuchliche Begriff der Teilleistungsstörungen betont diese isolierten Leistungsschwächen, findet jedoch in keinem internationalen Klassifikationssystem Verwendung. Neben den umschriebenen Entwicklungsstörungen der motorischen Funktionen und des Sprechens definiert die ICD-10 als Untergruppe die umschriebenen Entwicklungsstörungen schulischer Fertigkeiten. Klassifiziert werden Entwicklungsstörungen des Rechnens sowie Lesens und Rechtschreibens. Als ursächlich werden derzeit neben anlagebedingten Faktoren und biologischen Einflüssen psychosoziale und soziokulturelle kausale Effekte diskutiert. Achse III: Intelligenzminderung. Lernbehinderung lässt sich in Anlehnung an die Kriterien der Intelligenzminderung als ein in Beziehung zum Altersdurchschnitt allgemein erniedrigtes Leistungsvermögen im Sinne eines Kapazitätsdefizits oder einer allgemeinen Minderbegabung beschreiben. Der normative Bezug kommt in der Definition zum

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| Teil II: Theoretische Ansätze Ausdruck, dass die Lernbehinderung auf der IQ-Rangskala zwischen dem Durchschnittsbereich (IQ 85-114) und dem Bereich der leichten geistigen Behinderung (IQ 50-70) anzusiedeln ist. Ähnlich den umschriebenen Entwicklungsstörungen werden im Sinne einer multifaktoriellen Genese anlagebedingte Faktoren, biologische, psychosoziale und soziokulturelle Einflüsse angenommen. Achse IV: Körperlich neurologische Erkrankung oder Behinderung. Lern- und Leistungsstörungen können im Rahmen unterschiedlichster körperlich neurologischer Erkrankungen und Behinderungen vorliegen. Exemplarisch sind angeborene oder erworbene Hör- und Sehstörungen, neurologische Systemerkrankungen wie die Multiple Sklerose, Fehlbildungen des ZNS, Epilepsien, Stoffwechselerkrankungen wie die Phenylketonurie oder Infektionen des ZNS anzuführen. Achse V: Abnorme psychosoziale Umstände. Für die Entwicklung der Lernfähigkeiten eines Kindes kommt u. a. dem Familienklima und Erziehungsverhalten, äußeren Voraussetzungen wie der ökonomischen und räumlichen Situation oder auch adäquaten Lernanreizen eine wichtige Rolle zu. Abnorme psychosoziale Umstände können im Sinne hemmender Störfaktoren die Ausformung von Lernstrategien oder die Nutzung vorhandener Lernfähigkeiten nachhaltig beeinträchtigen. So können Eltern, die an einer schweren psychischen oder körperlichen Erkrankung leiden, ihren Kindern möglicherweise keine ausreichende emotionale Zuwendung, Ruhe und Geborgenheit und kein harmonisches Lern- und Arbeitsklima bieten. Bezugspersonen in Schule und heimischem Umfeld, die die Leistungsbemühungen und Erfolge der Kinder nicht anerkennen oder loben, üben einen ungünstigen Einfluss auf die Lern- und Leistungsmotivation aus. Bei verwahrlosten und deprivierten Kindern ziehen fehlende Lernprozesse infolge chronischer emotionaler, intellektueller und körperlicher Unterforderung nicht selten Retardierung, Sozialisations-, Spiel- und Lernstörungen nach sich.

3.2 Ursachen von Lern- und Leistungsstörungen aus neuropsychologischer Sicht Aus neuropsychologischer Sicht bilden die im Rahmen prä- und postnataler Reifungsprozesse erworbenen neuronalen Vernetzungen und Verschaltungen die biologische Matrix der Kindesentwicklung und stellen eine notwendige Voraussetzung zur Ausbildung von Lernprozessen, Verhaltens- und Gedächtnisstrukturen sowie Wahrnehmungs- und Denkvorgängen dar. Genetische und nicht genetische biologische Einflüsse sowie psychosoziale Faktoren sind in der Lage, diese Reifungsprozesse günstig und ungünstig zu beeinflussen. Von besonderem Interesse ist die Tatsache, dass Phasen einer außergewöhnlich raschen neuronalen Entwicklung (Entwicklungsspurts) mit bekannten Etappen der kognitiven Entwicklung zu korrelieren scheinen. Diese zu verschiedenen Zeitpunkten beobachtbaren Entwicklungsspurts deuten darauf hin, dass es für die Wirksamkeit spezifischer Umwelteinflüsse und -erfahrungen sensible oder kritische Phasen gibt, in denen die Ansprechbarkeit des Zentralen Nervensystems auf bestimmte Reize erhöht ist. Abhängig von Entstehungszeitpunkt, Art sowie Ausdehnung und Lokalisation einer Störung findet man Funktionsausfälle auf verschiedenen Ebenen der Intelligenz, Lern- und Leistungsfähigkeit, Motorik, Sprache, Perzeption oder Informationsverarbeitung. Neben



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primären Funktionsausfällen infolge gestörter Reifung und Entwicklung sind sekundäre Beeinträchtigungen im Sinne eines Verlusts bereits erworbener Fertigkeiten anzuführen (Heubrock & Petermann, 2000). Die Ursachen von Hirnfunktionsstörungen bei Kindern und Jugendlichen lassen sich demzufolge nach Art (angeboren oder erworben) und Zeitpunkt (prä-, peri- oder postnatal) des Einwirkens entwicklungshemmender bzw. schädigender Faktoren gliedern. Pränatale Ursachen. Als angeborene Ursachen von Hirnfunktionsstörungen sind neben numerischen und strukturellen Chromosomenanomalien (z. B. Trisomie 21, TurnerSyndrom, fragiles X-Syndrom) Veränderungen zu nennen, welche einzelne oder mehrere Gene (z. B. Morbus Wilson, Phenylketonurie, Neuralrohrdefekte) betreffen. Pränatale Schädigungen können des Weiteren auf exogenen Faktoren wie toxischen Einwirkungen und Infektionen im Schwangerschaftsverlauf (z. B. Alkohol- oder Medikamentenabusus der Mutter, Cytomegalie-, Rötelnvirusinfektion), Gestosen, Blutungen oder Stoffwechselerkrankungen der Kindesmutter beruhen. Perinatale Ursachen. Die Perinatalperiode bezeichnet den Zeitraum zwischen der 24. Schwangerschaftswoche und ersten Woche nach der Geburt. Als wesentliche Risikofaktoren sind neben Infektionen, toxischen und anderen potentiell schädigenden Einwirkungen im späten Schwangerschaftsverlauf insbesondere Geburtstraumen und Frühgeburtlichkeit anzuführen. Das gemeinsame Problem von Frühgeburten unterschiedlicher Ursache besteht in der Unreife des kindlichen Organismus. Diese Unreife ist u. a. mit einer reduzierten Immunabwehr, unzureichenden Blutgerinnungsfähigkeit und eingeschränkten Funktionsfähigkeit des bronchopulmonalen Systems verbunden. Häufigere damit in Zusammenhang stehende neonatale Komplikationen sind Atemnotsyndrome, Hirnblutungen, Krampfanfälle oder septische Infektionsverläufe. Postnatale Ursachen. Zu den postnatalen, also nach der ersten Lebenswoche relevanten Einflussgrößen zählen entzündliche Erkrankungen des Zentralen Nervensystems, ausgelöst durch Infektionen mit Viren, Bakterien, Pilzen oder anderen Erregern. Häufig sind nur die Hirnhäute betroffen (Meningitis), der Prozess kann jedoch auf das Gehirn übergreifen (Meningoencephalitis) oder dieses primär erfassen (Encephalitis). Als weitere postnatale Ursachen sind Impfschäden, Intoxikationen, Hirntumore, Mangelernährung, Stoffwechselerkrankungen oder cerebrale Anfallsleiden zu nennen. Auch Schädel-HirnTraumen sind bei Kindern relativ häufig und haben nicht selten bleibende Folgen. Die Tragweite einer Noxeneinwirkung ist von unterschiedlichen Faktoren abhängig. Dies lässt sich am Beispiel der Alkoholembryopathie verdeutlichen. Das Ausmaß der im Embryo resultierenden Hirnschädigungen hängt, neben dem Alter der Mutter und dem Zeitpunkt des Alkoholkonsums während der Schwangerschaft, vor allem unmittelbar mit der Menge des konsumierten Alkohols zusammen. Chronischer Alkoholmissbrauch der Mutter kann zum Vollbild der Alkoholembryopathie mit prä- und postnatalen Wachstumsstörungen des Kindes, Fehlbildungen und multiplen neuronalen Reifungsstörungen führen (Overholser, 1990; Russell, Czarnecki, Cowan & Mc Pherson, 1991; Korkman, Autti-Ramö, Koivulehto & Granström, 1998). Biochemisch lassen sich die gravierenden Auswirkungen von chronischem Alkoholabusus auf die embryonale Hirnentwicklung dadurch erklären, dass eine konstante Alkoholzufuhr die Durchlässigkeit der lipidreichen Nervenzellmembranen steigert, Oberflächeneigenschaften der Membranen und Enzymaktivitäten verändert und letztlich den Stoffwechsel beeinträchtigt (Hunt, 1985, zitiert

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| Teil II: Theoretische Ansätze nach Burns & Arnold, 1990). Spektrum und Ausmaß der neuropsychologischen Beeinträchtigungen können sich bei der Alkoholembryopathie außerordentlich variabel darstellen. Untersuchungen von Abel (1990) sowie Mattson, Gramling, Delis, Jones und Riley (1996) zeigten eine erhebliche Streuung der Intelligenztestwerte mit einer Bandbreite von 20 bis 100 bzw. 40 bis 103 IQ-Punkten. Weitere Studien ergaben bei den betroffenen Kindern in unterschiedlichem Ausmaß sprachbezogene, räumlich-konstruktive und feinmotorische Funktionsstörungen sowie Aufmerksamkeits- und Konzentrationsstörungen (Conry, 1990; Janzen, Nanson & Block, 1995; Phelps, 1995). Zahlreiche Längsschnittstudien belegen die Bedeutung der genannten prä-, peri- und postnatalen Risikofaktoren. So wiesen sehr kleine Frühgeborene in Untersuchungen von Breslau (1995) und Wolke (1991) im Vergleich zu einer Kontrollgruppe Reifgeborener einen signifikant niedrigeren IQ auf. Hinsichtlich einzelner Funktionsbereiche ergaben sich Zusammenhänge mit Verzögerungen der Sprachentwicklung (Largo, Mollinari, Comenale, Weber & Duc, 1986) sowie mit Schwächen visuell-räumlicher und visuomotorischer Fähigkeiten (Breslau, 1995; Riegel, Ohrt, Wolke & Österlund, 1995). Laucht, Schmidt und Esser (2002) berücksichtigten im Rahmen der Mannheimer Risikokinderstudie nicht nur frühkindliche organische, sondern auch psychosoziale Risikofaktoren. Während prä- und perinatale Komplikationen vor allem die motorische und kognitive Entwicklung zu beeinträchtigen schienen, konzentrierten sich die Auswirkungen familiärer Belastungen im Bereich kognitiver und sozio-emotionaler Funktionen. Bis ins Schulalter hinein ließ sich ein kumulativer Einfluss der beiden Risikobereiche im Sinne einer Addition negativer Einzeleffekte nachweisen, so dass multipel belastete Kinder die größten Entwicklungsbeeinträchtigungen zeigten. Schienen die Ergebnisse älterer Untersuchungen zu belegen, dass frühe Entwicklungsrückstände von Risikokindern im Entwicklungsverlauf weitgehend kompensiert werden können (Rauh, 1984), so mehren sich in neueren Studien jedoch die Hinweise, dass die Folgen früher Belastungen bis in die Adoleszenz und in das junge Erwachsenenalter fortbestehen können (Botting, Powls & Cooke, 1997).

3.3 Lernbehinderung Die Bedeutung der Lernbehinderung liegt in ihrer Häufigkeit. Während Schätzungen zufolge 0,53 % der Kinder im Schulalter dem Personenkreis der geistig behinderten Menschen zuzuordnen sind und entsprechende Förderschulen besuchen, stellen die Schüler der Lernbehindertenschulen mit einem relativen Anteil von 2,5 % den größten Anteil an allen Sonderschulen (Thimm, 1999). Lernbehinderung lässt sich als ein in Beziehung zum Altersdurchschnitt allgemein erniedrigtes Leistungsvermögen im Sinne eines Kapazitätsdefizits beschreiben. Der normative Bezug kommt in der Definition zum Ausdruck, dass die Lernbehinderung im IQ-Bereich zwischen 70 und 84 anzusiedeln ist (Steinhausen, 1996). Die Frage, inwieweit Intelligenzstörungen primär hirnorganisch oder durch Lerneinflüsse begründet sind, wird nach wie vor kontrovers diskutiert. Zwillings- und Adoptionsstudien lassen den Schluss zu, dass die Erblichkeit von Intelligenz zwischen 0,45 und 0,80 anzunehmen ist. Eine Erblichkeit von 0,45 würde bedeuten, dass die Intelligenz zu

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55 % umweltbestimmt ist, ein Wert von 0,80, dass sie nur zu 20 % auf Umwelteinflüsse zurückzuführen ist. Ohne Zweifel ist die Intelligenzentwicklung multifaktoriell begründet. Störungen der Intelligenzentwicklung ergeben sich im Wesentlichen aus hereditären Faktoren, nicht hereditären hirnorganischen Ursachen, als Normvariante der multifaktoriellen Intelligenzveranlagung und schließlich auch durch schwere anhaltende frühkindliche Deprivation (vgl. die Übersicht bei Shaffer (1999) und Warnke (2003a,b)). Genetische und nicht genetische biologische Faktoren. Während bei mittel- und schwergradigen geistigen Behinderungen (IQ unter 50) häufig pränatale Ursachen im Sinne von Chromosomenanomalien oder gravierenden exogenen Einwirkungen nachweisbar sind (von Gontard, 1999), scheint sich die Ätiologie bei leichteren Formen der geistigen Behinderung und Lernbehinderung zunehmend in Richtung anlagebedingter und psychosozialer Faktoren zu verlagern. So fand sich bereits in der klassischen Arbeit von Roberts (1952) unter den Geschwistern von schwer geistig Behinderten eine der Allgemeinbevölkerung entsprechende IQ-Verteilung. Bei leichter geistiger Behinderung hingegen wurden zwischen den Geschwistern signifikante IQ-Korrelationen gefunden (Johnson, Ahern & Johnson, 1976). Häufiger als bei schwergradig geistig Behinderten waren ungünstige sozioökonomische Einflüsse festzustellen (Broman, Nichols, Shaughnessy & Kennedy, 1987; Drews, Yeargin-Allsopp, Decoufle & Murphy, 1995). Wenngleich bei der Lernbehinderung identifizierbare biologische Ursachen eine eher untergeordnete Rolle einnehmen, so sind doch verschiedene chromosomale Anomalien, Stoffwechselerkrankungen oder exogen verursachte Störungen bekannt, die mit einer Lernbehinderung einhergehen können. Während Chromosomenanomalien wie das Down- oder das Katzenschrei-Syndrom in der Regel mit unterschiedlichen Schweregraden geistiger Behinderung assoziiert sind, liegen beim Turner- oder KlinefelterSyndrom nicht selten durchschnittliche oder leicht unterdurchschnittliche intellektuelle Fähigkeiten der Betroffenen vor. Stoffwechselerkrankungen wie die Phenylketonurie ziehen bei frühzeitiger therapeutischer Intervention mitunter nur leichte kognitive Leistungseinbußen nach sich. Nach mütterlichem Alkoholkonsum in der Schwangerschaft

Genetische Faktoren

Nicht genetische biologische Faktoren

Psychosoziale Faktoren und Umfeldbedingungen

Abbildung 1: Die multifaktorielle Ätiologie der Lernbehinderung

Lernbehinderung

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| Teil II: Theoretische Ansätze können sich Spektrum und Ausmaß der neuropsychologischen Beeinträchtigungen eines Kindes außerordentlich variabel darstellen. So zeigten Untersuchungen von Abel (1990) und Mattson et al. (1996) eine erhebliche Streuung der Intelligenztestwerte mit einer Bandbreite von 20 bis 100 bzw. 40 bis 103 IQ-Punkten. Psychosoziale Faktoren. Wie bereits erwähnt, scheint sich die Ätiologie bei leichteren Formen der geistigen Behinderung und Lernbehinderung zunehmend in Richtung anlagebedingter und psychosozialer Faktoren zu verlagern. So fanden sich bei 4-jährigen Kindern mit einer IQ-Minderung von 8 bis 20 Punkten unter anderem folgende Lebensverhältnisse: Kind ist Angehöriger einer Minderheitengruppe, Haushaltsvorstand ist arbeitslos oder ungelernter Arbeiter, Familie mit mehr als 4 Kindern, Abwesenheit des Vaters, viele familiäre Stresserlebnisse, schlechte Gesundheit der Mutter (Shaffer, 1999). Zweifelsohne wird die Intelligenzentwicklung erheblich von Umweltanregungen beeinflusst. Verschiedene Längsschnittstudien aus dem deutschsprachigen Raum befassten sich unter anderem mit der Fragestellung, ob Umwelteinflüsse eine klinisch relevante Intelligenzminderung bedingen können oder ob eine primäre Intelligenzminderung durch optimale Förderung kompensiert werden kann. Die Bayerische Entwicklungsstudie (Wolke & Meyer, 1999) untersuchte die Entwicklung von Kindern, die innerhalb der ersten 10 Lebenstage wegen organischer Komplikationen in eine Kinderklinik aufgenommen wurden, während der ersten 9 Lebensjahre. Sehr Frühgeborene (< 32 Tragzeitwochen) hatten mehr als zehnmal häufiger kognitive Defizite als reifgeborene Kontrollkinder und besondere Probleme bei der ganzheitlichen Informationsverarbeitung. Oft waren mehrere Funktionsbereiche gleichzeitig betroffen (IQ, Lesen, Schreiben, Rechnen, Sprache). Auch die größeren Risikokinder (> 31 Tragzeitwochen) hatten häufiger kognitive Probleme. Diese wurden ab dem 3. Lebensjahr allerdings besser durch soziale als durch biologische Faktoren erklärt. Die größeren Frühgeborenen profitierten in der Intelligenzentwicklung auch signifikant von psycho-pädagogischen Maßnahmen in der frühen Kindheit. Auch die Rostocker Längsschnittstudie (Meyer-Probst & Reis, 1999) und die Mannheimer Risikokinderstudie (Laucht et al., 2002) belegen den Einfluss psychosozialer Umfeldfaktoren auf die kindliche Intelligenzentwicklung. Festzuhalten ist allerdings auch, dass die kognitiven Schwächen und damit verbundenen Besonderheiten eines Kindes sich auf Erziehungsverhalten und Umfeldbedingungen auswirken und somit enge wechselseitige Interaktionen bestehen.

3.4

Umschriebene Entwicklungsstörungen schulischer Fertigkeiten

3.4.1 Lese- und Rechtschreibstörung Legasthenie, Lese- und Rechtschreibstörung, Lese- und Rechtschreibschwäche oder Lese-Rechtschreibschwierigkeiten sind Bezeichnungen, die immer wieder im Zusammenhang mit Problemen beim Erlernen des Lesens und Rechtschreibens verwandt werden (vgl. Tacke bzw. Scheerer-Neumann in diesem Band). Teilweise werden diese Bezeichnungen als inhaltlich gleichsinnig gebraucht, teilweise verbergen sich hinter den verschiedenen Bezeichnungen Begriffsunterschiede. Um Missverständnissen vor-



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zubeugen ist es zweckmäßig, von einem international anerkannten Begriffsverständnis auszugehen. Gemäß ICD-10 (Dilling et al., 1999) handelt es sich bei der Lese- und Rechtschreibstörung um eine umschriebene Entwicklungsstörung schulischer Fertigkeiten, welche im Zusammenhang mit einer biologischen Fehlfunktion der kognitiven Informationsverarbeitung zu verstehen ist. Sie ist nicht einfach Folge eines Mangels an Gelegenheit zu lernen und nicht durch eine erworbene Hirnschädigung oder Krankheit verursacht. Auch ist sie nicht allein auf eine Intelligenzminderung, Beeinträchtigung des Seh- oder Hörvermögens oder auf äußere Faktoren zurückzuführen. Die Störung besteht von Anfang an und wurde nicht später in der Schullaufbahn erworben. Mit Beginn des Lese-Lernprozesses kann sich die Lesestörung in Schwierigkeiten äußern, das Alphabet aufzusagen, Buchstaben korrekt zu benennen, trotz normaler Hörfähigkeit Laute akustisch zu unterscheiden oder den entsprechenden Buchstabenzeichen zuzuordnen. Im späteren Leselernstadium kommt es unter anderem zu Auslassungen, Vertauschungen, Verdrehungen oder Hinzufügungen von Worten und Wortteilen. Des Weiteren sind Startschwierigkeiten beim Vorlesen, Zögern oder Verlieren der Zeile im Text sowie Defizite im Leseverständnis (vgl. Walter in diesem Band) zu beobachten. Merkmale der Rechtschreibstörung sind abhängig vom schulischen Entwicklungsstand und hinsichtlich charakteristischer Fehlleistungen von hoher Variabilität. Neben Buchstabenverdrehungen, Auslassungen und Einfügungen sind nicht selten Regel- und Dehnungsfehler zu verzeichnen (Dilling et al., 1999; Warnke & Roth, 2000). Im Schulalter sind mindestens 4 % der Schüler von einer Lese- und Rechtschreibstörung betroffen, wobei eine deutliche Knabenwendigkeit beschrieben wird (Warnke, Hemminger, Roth & Schneck, 2002). Die eigentliche Ursache der Lese- und Rechtschreibstörung ist bis heute noch unklar. Neben prä-, peri- und postnatalen biologischen Einflüssen werden insbesondere anlagebedingte Faktoren als kausal angenommen. Hinweise auf eine genetische Beteiligung ergaben sich schon früh durch Beobachtungen einer familiären Häufung und Befunde, welche eine Konkordanz von 71 % bei monozygoten und von 49 % bei dizygoten Zwillingen aufzeigen konnten (Olson, Wise, Conners, Rack & Fulker, 1989; Schulte-Körne, Nöthen & Remschmidt, 1998). Das festgestellte Wiederholungsrisiko bei Geschwistern, die nicht Zwillinge sind, lag mit 50 bis 60 % ebenfalls recht hoch (Schulte-Körne, Remschmidt & Hebebrand, 1993). Molekulargenetische Befunde wiederum legen nahe, dass auf Chromosom 6 Hirnfunktionen veranlagt sind, die für das lautsprachliche Lernen benötigt werden, während auf Chromosom 15 schriftsprachrelevante Fertigkeiten, welche auch die visuelle Informationsverarbeitung einschließen, codiert sind (Smith, Kimberling, Pennington & Lubs, 1983; Cardon et al., 1994). Auch psychosoziale und soziokulturelle kausale Effekte werden diskutiert, sind jedoch als alleinige Begründung per definitionem ausgeschlossen. Nach aktuellem Wissensstand ist am ehesten von einer multifaktoriellen Ätiologie auszugehen, wobei von Genen gesteuerte Entwicklungsprozesse des Gehirns in einem noch unbekannten Zusammenwirken mit biologischen und psychosozialen Einflüssen Besonderheiten der Informationsverarbeitung im Zentralen Nervensystem begründen. Ein wichtiger Erklärungsansatz geht davon aus, dass die Informationsverarbeitungsprozesse zwischen den verschiedenen sprachlichen Regionen (z. B. Wernicke- und Broca-Region) bei Menschen mit einer Lese- und Rechtschreibstörung in einer Weise verändert sind,

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| Teil II: Theoretische Ansätze dass schriftsprachliches Lernen erschwert ist. Ein anderer wichtiger Erklärungsansatz nimmt an, dass Besonderheiten der visuellen Informationsverarbeitung innerhalb des visuellen Systems zwischen Auge und Sehrinde für die Entstehung ausschlaggebend sind. Ein dritter Erklärungsansatz geht davon aus, dass der „Übersetzungsvorgang“ zwischen visuellem und akustisch-sprachlichem System, wie er sich im Lese-Rechtschreibzentrum (Area 39) vollzieht, bei Menschen mit einer Lese- und Rechtschreibstörung nicht gelingt. Für die Annahme funktioneller Besonderheiten der akustisch-sprachlichen und visuellen Informationsverarbeitung sprechen zahlreiche entwicklungsbezogene Hinweise und neuropsychologische Befunde, die von Warnke et al. (2002) zusammengefasst wurden. So fällt in der Vorgeschichte bei mehr als der Hälfte der betroffenen Kinder eine verzögerte Sprachentwicklung im Sinn eines verzögerten Sprachbeginns, geringen Wortschatzes oder Dysgrammatismus auf (Warnke, 1990; Klipcera & Gasteiger-Klicpera, 1993). Des Weiteren sind Schwächen in der „phonologischen Bewusstheit“ als spezifisches und regelhaftes Defizit festzustellen. Der Begriff der „phonologischen Bewusstheit“ (vgl. Walter in diesem Band) kennzeichnet die Fähigkeit, Wörter, Silben oder Reime in der gesprochenen Sprache zu erkennen und mit Lauten (Phonemen) umzugehen. Im Stadium des Leselernprozesses erschwert diese Schwäche den betroffenen Kindern die Analyse der Lautstruktur, so dass sie beim Lesen keine Verbindung zwischen den visuell vorgegebenen Buchstaben (Graphem) und deren akustischem Klang (Phonem) herstellen können. Untersuchungen zur akustischen und sprachlichen Informationsverarbeitung ergaben, dass viele Menschen mit einer Lese- und Rechtschreibstörung sprachliche Laute akustisch nicht so rasch und fehlerlos unterscheiden können wie Personen ohne Schriftsprachstörung. Bildgebende Verfahren, mit denen sich Blutfluss oder Stoffwechselaktivität im Gehirn bei kognitiven (gedanklichen) Vorgängen beobachten lassen (Protonenemissionstomogramm oder funktionelle Magnetresonanztomographie) wiesen darauf hin, dass z. B. bei Reimaufgaben die Aktivierungsmuster von Hirnregionen, welche für die sprachliche Informationsverarbeitung von Bedeutung sind, verändert sind. Anatomische und histologische Veränderungen fanden sich bei Personen mit einer Lese- und Rechtschreibstörung häufiger als bei Menschen mit normaler Schriftsprachentwicklung. Veränderungen von Symmetrien oder Zellstrukturen zeigten sich in Kernen der Hörbahn und in Hirnregionen, die für die Verarbeitung von akustischen, sprachlichen und sprachlich-visuellen Informationen wichtig sind (u. a. Planum temporale, Nucleus geniculatus mediale, Gyrus angularis, Area 39). Bei 5 bis 10 % der Kinder mit einer Lese- und Rechtschreibstörung sind visuell-räumliche Wahrnehmungsschwierigkeiten feststellbar, wobei sowohl Defizite bei der Analyse als auch Kodierung visueller Informationen angenommen werden (Klipcera, 1985; Prior, 1996). Beim Lesen werden die Buchstabenfolgen eines Wortes von der Netzhaut des Auges über Sehnerv und Sehkern schließlich in die Sehrinde des Gehirns geleitet. Hirnelektrische Verfahren (Elektroenzephalographie, visuell evozierte Potentiale) zeigten, dass die Weiterleitung gelesener Buchstaben oder Worte in das Gehirn bei manchen Personen mit einer Schriftsprachstörung verlangsamt erfolgt. Dies kommt umso deutlicher zum Vorschein, je mehr die visuell vorgegebenen Aufgaben sprachlichen Charakters sind. Untersuchungen mit bildgebenden Verfahren zu Stoffwechselvorgängen im Gehirn führten



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zu der Annahme, dass im Bereich der Sehrinde, welche für die Bewegungswahrnehmung relevant ist, Veränderungen vorliegen (magnozelluläres visuelles Subsystem Regio V5/MT in Area 19). Auch histologische Befunde könnten auf eine verlangsamte oder veränderte visuelle Wahrnehmung hindeuten. So fanden sich in dem Sehkern (lateraler Nucleus geniculatus im Thalamus), von welchem die Bilder der Netzhaut des Auges in die Sehrinde weitergeleitet werden, Besonderheiten in den Zellstrukturen, die für das Bewegungssehen – und das lesende Auge ist immer in Bewegung – notwendig sind. Weiterführend ist zur Lese- und Rechtschreibstörung auch auf die aktuelle Übersicht von Warnke (2003a,b) zu verweisen. 3.4.2 Rechenstörung Verglichen mit den Lese- und Rechtschreibstörungen haben Entwicklungsstörungen der Zahlenverarbeitung und des Rechnens (vgl. Werner bzw. Scherer in diesem Band) trotz ihrer Häufigkeit bislang sehr viel weniger wissenschaftliches Interesse erfahren. Insofern liegen zu Epidemiologie, Ätiologie und funktionellen Modellvorstellungen weit weniger Erkenntnisse vor. Nach Definition der Weltgesundheitsorganisation (Dilling et al., 1999) wird auch die Rechenstörung als eine umschriebene Entwicklungsstörung schulischer Fertigkeiten verstanden, welche in ursächlichem Zusammenhang mit Besonderheiten zentralnervöser Reifungsprozesse und kognitiver Informationsverarbeitung zu bewerten ist. Die diagnostischen Kriterien, die für eine Diagnosestellung erfüllt sein müssen, gelten somit analog denen der Lese- und Rechtschreibstörung. Im Vorfeld der Einschulung fallen bei den betroffenen Kindern nicht selten Schwächen in der Raumorientierung oder beim Erkennen von Richtungen sowie Schwierigkeiten beim Erfassen von Mengen und Größen auf. Im Verlauf der Schulzeit wird ein mangelndes Verständnis für arithmetische Prozeduren und grundlegende Rechenoperationen wie Addition, Subtraktion, Division oder Multiplikation deutlich, wobei verschiedene Funktionsbereiche unabhängig voneinander betroffen sein können. Es fällt solchen Kindern schwer, die Größe einer Menge zu quantifizieren (erfassen) und zu der Größe einer anderen Menge in Beziehung zu setzen (vergleichen). Häufig verfügen sie nicht über eine altersgemäß entwickelte Zahlenstrahl- oder Zahlenraumvorstellung und scheitern beim Schätzen von Rechenergebnissen. Auch werden sprachliche Zahlwortsequenz und Zählprinzipien nicht ausreichend erworben und automatisiert, so dass Abzählstrategien beim Addieren und Subtrahieren sehr viel fehleranfälliger sind (Esser, 2002; von Aster, 2003). Die Prävalenzangaben für den deutschsprachigen Raum schwanken zwischen 4,4 % und 6,7 %. Im Unterschied zur Lese- und Rechtschreibstörung waren in den meisten Untersuchungen Mädchen ähnlich häufig oder häufiger betroffen (Klauer, 1992; Hein, Bzufka & Neumärker, 2000; Shalev, Auerbach, Manor & Gross-Tsur, 2000). Als Ursache für umschriebene Rechenstörungen werden neben anlagebedingten und psychosozialen Faktoren frühkindliche Hirnreifungs- und -funktionsstörungen infolge biologischer Einflüsse diskutiert. Hinweise auf genetische Komponenten fanden u. a. Gross-Tsur, Shalev, Manor und Amir (1995), die bei 42 % der rechenschwachen Kinder

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| Teil II: Theoretische Ansätze ihrer Stichprobe erstgradige Familienangehörige mit entsprechenden Lernstörungen feststellen konnten. In Analogie zur umschriebenen Lese- und Rechtschreibstörung wird auch bei der Rechenstörung derzeit eine multifaktorielle Genese angenommen. Demnach setzt die Reifung jener Hirnfunktionen, welche wir in unserem Kulturkreis zur Lösung mathematischer Probleme oder zur Durchführung von Rechenprozeduren benötigen, gesunde Anlagen und Organsysteme ebenso voraus wie ein geeignetes schulisches und soziales Umfeld. Der in der Neuropsychologie für umschriebene Rechenstörungen gebräuchliche Begriff „Dyskalkulie“ lehnt sich an erworbene Störungen im Umgang mit Zahlen nach Hirnschädigungen bei Erwachsenen an, die nach Henschen (1919) „Akalkulie“ genannt werden (zit. nach Claros Salinas & von Cramon, 1987). Die Untersuchungen von Patienten mit Hirnschädigungen und daraus resultierenden Verlusten umschriebener numerischer Fähigkeiten haben wesentlich dazu beigetragen, sich den neurokognitiven Mechanismen der Zahlenverarbeitung und ihren hirnlokalen Verankerungen anzunähern. Auf diesen Erkenntnissen basierende neuropsychologische Modelle wie das sogenannte „Triple Code Model“ (Dehaene, 1992) postulieren eine kategorie- und kodierungsspezifische Verarbeitung numerischer Inhalte innerhalb eines modular gegliederten neuronalen Netzwerkes. Das „Triple Code Model“ geht von drei Funktionseinheiten (Module) aus, in denen Zahlen in ihren unterschiedlichen Kodierungen repräsentiert sind. Das „Abstrakt-analoge Modul“ ermöglicht das Erkennen der relativen Größe, also der Bedeutung (Semantik) einer Zahl und dient u. a. dem Schätzen von Mengengrößen, dem Überschlagen von Rechenergebnissen oder dem Vergleich von Zahlen. Dem „Arabischen Modul“ wird die Steuerung des Umgangs und Operierens mit mehrstelligen Zahlen zugeschrieben. Die „Linguistische Zahlwort-Repräsentation“ wiederum gebrauchen wir bei Zählprozeduren, exaktem Rechnen oder dem Speichern von numerischem Faktenwissen wie dem Einmaleins. In ihrer 1995 erschienenen Arbeit haben Dehaene und Cohen den Versuch unternommen, die drei Module des „Triple Code Models“ anatomisch zu lokalisieren. Die semantische, abstrakt-analoge Repräsentation postulierten die Autoren bilateral im parietalen Cortex, das visuell-arabische Modul im Bereich des occipito-temporalen Cortex und die linguistisch-auditive Zahlwort-Repräsentation schließlich in der linksseitigen perisylvischen Sprachregion. Tatsächlich konnten Dehaene, Spelke, Pinel, Stanescu und Tsivkin (1999) in einer Studie mit funktioneller Magnetresonanztomographie zeigen, dass sich bei erwachsenen Versuchspersonen in Abhängigkeit von der Art der gestellten Aufgabe unterschiedliche Aktivitätsmuster im Gehirn ergaben. So waren bei Schätzaufgaben Aktivitätsmaxima im Bereich der inferioren parietalen Regionen beider Hirnhälften zu verzeichnen. Die Bedeutung parietaler Rindenabschnitte für semantische Verarbeitungsprozesse wurde in weiteren Studien mit bildgebenden Verfahren untermauert (Menon, Rivera, White, Glover & Reiss, 2001; Pinel, Dehaene, Riviere & LeBihan, 2001). Temple und Posner (1998), die ereigniskorrelierte Hirnstromaktivitäten beim Durchführen einfacher Vergleichsaufgaben untersuchten, konnten auch bei Kindern im Vorschulalter die Verarbeitung quantitativer Bedeutungen dem Parietalhirn zuordnen. Zunehmend liefern Studien somit Hinweise auf die funktionelle Bedeutung unterschiedlicher Hirnregionen und ermöglichen somit nicht nur ein verbessertes Verständnis der mit Rechenfertigkeiten verknüpften Wahrnehmungs- und Verarbeitungsprozesse,

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sondern auch ihrer möglichen Funktionsstörungen. Interessanterweise zeigten erste Einzelfallanalysen im Rahmen hirnelektrischer und bildgebender Untersuchungen bei Kindern mit umschriebenen Rechenstörungen im Vergleich zu normal entwickelten Kindern bereits deutlich abweichende Aktivierungsmuster mit insgesamt mehr Aktivität und diffuserer Verteilung (von Aster, 2003). Zur umschriebenen Rechenstörung ist weiterführend auf die aktuelle Übersicht von von Aster (2003) zu verweisen.

3.5

Ausblick

Hinter den Lern- und Leistungsschwierigkeiten eines Kindes können sich vielfältige Ursachen, Defizite und Störungen verbergen. Lernbehinderung im Sinne eines allgemein erniedrigten Leistungsvermögens und spezifische Lernstörungen wie die Rechen- oder Lese-Rechtschreibstörung stellen nur einen Teilaspekt des breitgefächerten Spektrums dar. Wenngleich psychogene Lern- und Leistungsstörungen im Rahmen von emotionalen Störungen, Schulangst oder Anpassungsstörungen in keinem der gängigen Klassifikationssysteme eigens berücksichtigt werden, so ist ihre Bedeutung in Familie, Schule und klinischer Praxis doch zweifelsohne hoch. Zu verweisen ist allerdings auch auf eine Reihe vergleichsweise seltener Ursachen schulischer Leistungsschwierigkeiten wie affektive und schizophrene Psychosen oder neurologische Systemerkrankungen, die teils erhebliche kognitive Abbauprozesse nach sich ziehen können. Unabhängig davon, ob der Lernund Leistungsstörung eine allgemeine Beeinträchtigung der Intelligenzentwicklung, eine umschriebene Entwicklungsstörung oder psychische Störung zu Grunde liegt, so sind die sekundären sozialen und emotionalen Folgen für den Betroffenen und sein Umfeld nicht selten gravierend. Die hohe Rate begleitender internalisierender und externalisierender Verhaltensauffälligkeiten bei Kindern mit umschriebenen Entwicklungsstörungen kann als ein Beleg hierfür gelten. Insofern muss es Zielsetzung der interdisziplinären Zusammenarbeit zwischen pädagogischen, psychologischen und medizinischen Fachrichtungen sein, entwicklungspsychopathologische und neuropsychologische Ursachen zu verstehen, Früherkennung zu ermöglichen und nicht zuletzt spezifische Förderung, Therapie und Rehabilitation zu verbessern.

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4 Das interaktionstheoretische Paradigma Rainer Benkmann Der interaktionstheoretische Ansatz fand besondere Beachtung in der bundesrepublikanischen Sonderpädagogik der siebziger Jahre des letzten Jahrhunderts (z. B. Grohnfeldt, 1976; Homfeldt, 1974; Thimm, 1975). Ein entscheidender Impuls ging von der Studie des amerikanischen Soziologen Erving Goffman (1967) „Stigma. Über Techniken der Bewältigung beschädigter Identität“ aus. Goffman macht deutlich, dass wir bei einer Begegnung mit einem behinderten Menschen irritiert sind, weil dieser anders ist als wir es von einem „normalen“ Interaktionspartner erwarten. Das Anderssein weicht von unseren normativen Vorstellungen ab. Wir neigen dazu, ihm das Stigma Behinderung zuzuschreiben. Bei dauerhafter Stigmatisierung droht die Gefahr, dass die behinderte Person die Zuschreibungen der anderen übernimmt. Ihre Identität wird beschädigt. Solche Überlegungen dienten auch der Erklärung abweichenden Verhaltens und der Erläuterung der Stigmatisierung gesellschaftlicher Randgruppen (z. B. Antor, 1976; Brusten & Hurrelmann, 1973). Die Sichtweise wird Etikettierungs- (labeling approach) bzw. Stigmatisierungsansatz genannt. Von Etikettierung bzw. Stigmatisierung wird gesprochen, wenn Merkmale eines Individuums bei anderen Interaktionsteilnehmern negative Vorstellungen hervorrufen, die in ihrem Verhalten wirksam werden (Cloerkes, 2001, S. 135). Negative Einstellungen bzw. Vorurteile − Etikett, Stigma und Stereotyp werden häufig als Synonyme verwendet (Markowetz, 1999) − lassen sich nur schwer beeinflussen. Dieser Ansatz versteht Lernschwierigkeiten, Lernstörungen und Lernbehinderung in der Schule als Ergebnis eines Interaktionsprozesses, in dem der Lerner die gestellten normativen und sachlichen Anforderungen schlecht oder gar nicht bewältigt. Lehrpersonen als signifikante Erwachsene definieren entsprechendes Lernverhalten des Schülers als normabweichend und sachlich unangemessen. Schüler mit Lernbehinderungen werden meist als dumm und unangepasst etikettiert. Warum diese Sichtweise die aktive Rolle der Betroffenen verkennt, lässt sich auf Goffmans Stigma-Studie nicht zurückführen. Gerade sie zeigt, wie behinderte Menschen und andere, denen Diskreditierung droht, ihr Auftreten mit großer Umsicht entwerfen. Goffmans feinsinnige Beobachtungen an Patienten in Psychiatrien etwa verweisen auf deren stets neue Versuche, Stigmatisierungen nicht einfach hinzunehmen, sondern das Gesicht zu wahren, und sei es, indem „bedeutungslose“ Dinge gesammelt werden. In solchen aktiven Versuchen zur Wahrung der Identität sehen die anderen dann oft eine Bestätigung ihrer Etikettierungen. Der verhängnisvolle Zuschreibungszirkel setzt sich fort. Der Stigmatisierungsansatz stammt aus der soziologischen Theorie des Symbolischen Interaktionismus, der seine philosophischen Grundlagen im amerikanischen Pragmatismus hat (Peirce, James, Mead, Dewey), eine Hauptströmung der Philosophie in den USA. Die symbolisch-interaktionistische Perspektive verdankt ihren Ursprung dem von George Herbert Mead begründeten Sozialbehaviorismus und hatte im Folgenden großen Einfluss auf die Konzeptbildung in verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen − etwa innerhalb der Philosophie, Sprachwissenschaft und Erziehungswissenschaft − und brachte unterschiedliche theoretische Perspektiven hervor, zum Beispiel zur gesellschaftlichen Konstruktion der Wirklichkeit (Berger & Luckmann, 1969) und zur Identitätstheorie

82

| Teil II: Theoretische Ansätze (Habermas, 1968, Krappmann, 1969). Der Symbolische Interaktionismus stellt den Kern des interaktionstheoretischen Paradigmas dar. Da dieser Ansatz in deutschsprachigen Beiträgen manchmal zu sehr auf den Etikettierungsansatz reduziert wird, werden hier zunächst Hinweise auf seine theoretisch grundlegende Bedeutung für die Erklärung von Lernbeeinträchtigungen gegeben. Auch halten wir die Darstellung einiger Vorstellungen des sozialen Konstruktivismus, eine der Weiterentwicklungen des Symbolischen Interaktionismus, für angebracht. Erst auf diesem Hintergrund erörtern wir den Stigmatisierungsansatz.

4.1

Lernen und Beeinträchtigungen des Lernens in der Perspektive des Symbolischen Interaktionismus

Im Mittelpunkt der Betrachtung dieser Perspektive steht die Wechselbeziehung (Reziprozität) zwischen Individuen. Ausgangspunkt ist das Handeln des Organismus und dessen Beziehung zur Umwelt, vor allem zu seinen Artgenossen (Mead, 1973). Handlungskoordination sichert das Überleben der Organismen. Im Unterschied zum Tier lernt das Kind, Handlungen durch vokale Gesten in Interaktionsprozessen mit anderen Menschen zu koordinieren. Der Austausch vokaler Gesten führt zum Austausch signifikanter Symbole, zur sprachlichen Verständigung, wenn die signifikanten Symbole zu Reizen werden, denen das Kind vergleichbare Bedeutungen wie der Erwachsene zuschreibt. Dadurch lernen die Kinder im weiteren Verlauf immer besser, die Perspektive des anderen zu übernehmen und aus dessen Sicht zu sich selbst Stellung zu nehmen. Perspektivenübernahme ist die Grundlage menschlicher Handlungskoordination. Das Kind erwirbt zunächst die Fähigkeit, konkrete Perspektiven in der Interaktion mit engen erwachsenen Bezugspersonen, den signifikanten Anderen, zu übernehmen. Mead bezeichnet diesen Interaktionstyp play (Rollenspiel). Auf dieser Basis erlernt es später in symbolvermittelter Interaktion, allgemeine gesellschaftliche Haltungen zu übernehmen und die Regeln aufeinander bezogener Handlungserwartungen zu verstehen, von Mead game (Regelspiel) genannt. In diesem Interaktionstyp lernt das Kind, die Perspektive eines generalisierten Anderen nachzuvollziehen. Rollenspiel und Regelspiel bilden die Grundlage für den Erwerb gesellschaftlichen Wissens, sozialer Regeln und normativer Orientierungen, den Erwerb von „Geist, Identität und Gesellschaft“ (Mead, 1973). Dieser Bildungsprozess vollzieht sich immer unabhängiger von konkreten Personen und Erwartungsmustern und führt letztlich zu einer verallgemeinerten Haltung, die die universellen Belange des einzelnen und aller Menschen einbezieht. Denken und Identität werden als Resultat der Hereinnahme des gesellschaftlichen Prozesses in das Individuum verstanden (Mead, 1973, S. 230 ff.). Lernen und seine Beeinträchtigungen gründen demzufolge in sozialen Interaktionen und Beziehungen (Mead, 1987, S. 311). Interaktionen sind Aushandlungsprozesse, in denen die Beteiligten Anforderungen sozialen Austauschs auf Grund ihrer bisherigen Erfahrung interpretieren. Dabei werden Sinn und Regeln immer wieder erzeugt und verändert. Das Kind bemüht sich, die in den sozialen Interaktionen auftretenden Erwartungen mit den eigenen zu koordinieren. Im Laufe der Lernentwicklung trägt dies zum Aufbau habitualisierten Verhaltens, zu Strategien und Mustern bei (Schmetz, 1986).



Kapitel 4: Das interaktionstheoretische Paradigma | 83

Dass dabei nicht nur die Interaktion zwischen Erwachsenem und Kind, sondern auch die Interaktion zwischen Kindern, insbesondere zwischen Gleichaltrigen, lern- und entwicklungsfördernde Effekte hat, ist durch umfangreiche Forschung gesichert (vgl. Benkmann, 1998). Neben diesen grundsätzlichen Überlegungen berücksichtigt die interaktionistische Auffassung von Lernbeeinträchtigung Vorbahnungen durch vererbte Anlagen und andere biologische Einflüsse, zum Beispiel durch erworbene Schädigungen. Gleichwohl betont sie, dass die wesentlichen Beeinträchtigungen für Lernen im sozialen Konstruktionsprozess, auch Ko-Konstruktion genannt, enthalten sind. Die traditionelle Unterscheidung in der Lernbehindertenpädagogik zwischen einer genetisch und organisch verursachten Lernbehinderung und einer sozial bedingten Lernstörung wird für obsolet gehalten: „Als ob im Falle von organischer Störung günstige oder ungünstige Umwelten nicht wirksam seien und als ob im Kontext ungünstiger Umwelten sich nicht auch Hirnfunktionen wesentlich veränderten“ (Jantzen, 2002, S. 330). Eine weitere auch in systemisch-konstruktivistischer (Lern-)Behindertenpädagogik (Kanter, 1996, Speck, 2003) betonte Idee verweist darauf, dass das Lernen ein vom Kind aktiv vollzogener Konstruktionsprozess ist. Das Kind organisiert sein Wissen und seine Umwelt selbst in Prozessen der Ko-Konstruktion mit anderen. Übertragen auf das generelle Verständnis von Lernen, heißt das: Das Kind ist „... seiner Sozialisation nicht ausgeliefert, sondern nimmt an ihr teil. Nicht die Eltern sozialisieren das Kind, sondern Eltern bilden mit ihren Kindern ein Interaktionssystem voller Sinnstrukturen und Regeln, das auf das Kind gerade deswegen sozialisierend wirkt, weil es das Kind als Partner der Interaktion einbezieht“ (Krappmann, 1985, S. 159). Die Vorstellungen vom Kind als ko-konstruierender Akteur seiner Entwicklung betont der soziale Konstruktivismus. Danach liegt die primäre Lernvoraussetzung beim Kind, und Lernen in deprivierten Lebenslagen ist auch die Folge davon, wie es mit den dortigen Angeboten umgeht. Dies zeigt das Phänomen der Resilienz von Kindern, die sich trotz extrem belastender Lebensbedingungen zu handlungskompetenten und autonomen Erwachsenen entwickeln (vgl. Überblick bei Julius & Goetze, 2000).

4.2

Beeinträchtigungen des Lernens und soziale Interaktion: Empirische Ergebnisse

Forschungen zu Auswirkungen von Armutslagen und deprivierten Lebensverhältnissen belegen für die frühe Kindheit bei vielen lernbeeinträchtigten Kindern, dass schlechte Wohnverhältnisse, eheliche Disharmonie, psychische Störungen der Eltern, insbesondere der Mutter, Arbeitslosigkeit und soziale Isolation Risikofaktoren darstellen (Laucht, Esser & Schmidt, 2000). Kindliche Grundbedürfnisse werden nicht befriedigt. Die besondere Tragweite der Auswirkungen wird deutlich, wenn man an den wechselseitigen Zusammenhang zwischen der Entwicklung organischer Strukturen und der Umwelt denkt. Durch solche Risikokonstellationen in der frühen Kindheit sind langfristige Lern- und Entwicklungsbeeinträchtigungen vorherzusagen (Grünke, 2003). Andere Studien weisen auf Zusammenhänge zwischen der Arbeitslosigkeit der Eltern und Auffälligkeiten ihrer Kinder wie motorische Unruhe, Konzentrationsschwächen und

84

| Teil II: Theoretische Ansätze Rückzug aus sozialen Beziehungen hin (Weiß, 2000). Die Auffälligkeiten scheinen um so ausgeprägter zu sein, je geringer die berufliche Qualifikation der arbeitslosen Eltern ist. Arbeitslose, aber auch Alleinerziehende mit geringem Einkommen konnten ihren Kindern die Teilnahme an gemeinsamen Aktivitäten (z. B. Klassenfahrt) und Ereignissen (z. B. Kindergeburtstag) kaum noch bezahlen. Darunter litten soziale Kontakte mit Gleichaltrigen. Eine aus den USA stammende, auf breiter Datenbasis durchgeführte Längsschnittstudie zeigt: „Die häusliche Umwelt- und Erziehungssituation, d. h. dem Kind verfügbare Materialien und Aktivitäten, Disziplinierungsmethoden, emotionale Unterstützung und kognitive Anregung, ist für ein Drittel bis zur Hälfte der Entwicklungsnachteile in chronischer Armut lebender Kinder verantwortlich“ (Weiß, 1996, S. 157). Solche Beschreibungen der häuslichen Umwelt- und Erziehungssituation sind für die sozial-konstruktivistische Sichtweise der Ausgangspunkt, um das vorliegende Interesse an der Ko-Konstruktion von Lernen bei Kindern mit Beeinträchtigungen zu verfolgen. Die empirische Feststellung von geringem Materialangebot oder restriktiven Disziplinierungsmethoden in der Familie ist unbestritten wichtig. Unsere Perspektive nimmt allerdings mehr die Frage in den Blick, welche Lern- und Entwicklungsimpulse der soziale Umgang in den verschiedenen Lebenswelten der Kinder trotz wenig förderlicher elterlicher Disziplinierungsmethoden und eingeschränkter Objektwelt hat. Lehrer-Schüler- und Schüler-Schüler-Interaktion sind ebenfalls Ko-Konstruktionsprozesse. In diesen Prozessen verständigen sich die Beteiligten über den Sinn- und Bedeutungsgehalt schulischen Lernens. Sie stellen eine Definition der schulischen Lernsituation her, die nicht statisch ist, sondern immer wieder konstruiert und redefiniert werden muss (Martin, 1976). Hierbei kann es zu Problemen und Störungen einer gemeinsamen Situationsdefinition kommen, vor allem, wenn Lehrende und Schüler aus unterschiedlichen sozialen Milieus stammen, wie es in den Schularten Sonder- und Hauptschule häufig der Fall ist, und nicht in der Lage sind, die Differenzen subkultureller Erfahrungen zu überbrücken. Zwangsläufig entstehen Konflikte im sozialen Umgang miteinander. Führt die Konfliktaustragung zwischen Erwachsenen und Schülern sowie zwischen den Kindern nicht zu Lösungen, kennzeichnen Machtausübung und Abwehr, Widerstand und Ignoranz ihre soziale Interaktion. Lern- und Entwicklungsfortschritt werden behindert. Zum interaktionistischen Verständnis der schulischen Lernsituation gehört ferner die Betrachtung der Identität des Kindes sowie seiner sozialen Beziehungen zum Lehrer und zu anderen Kindern. Lernen und Identitätsentwicklung sind untrennbar in soziale Prozesse eingelagert. Gerade im Grundschulalter bilden Sach- und Beziehungsgesichtspunkte noch weitgehend eine Einheit. Es gibt keine gespaltene Aufmerksamkeit. Erst in der weiteren Entwicklung der Heranwachsenden gewinnt die Sache nach und nach an Gewicht, bis sie später „als rein physikalische Natur ausdifferenziert“ wird (Mead, 1987, S. 231). Interaktionstheoretische Folgerungen für das Lernen in der Schule sind bisher zu wenig eingelöst. Soziale Erfahrungen von ökonomisch und sozial benachteiligten Kindern werden nicht genügend zum Gegenstand der Interpretation durch Lehrende gemacht. Ohne auf die kindlichen Vorerfahrungen einzugehen, ist das schulische Lernen vom Kind abgespalten. Es lernt, ohne betroffen zu sein, ohne sich zu bilden. Insofern sind Beeinträchtigungen des Lernens auch „Formen des gestörten Unterrichts“ (Möckel zit. nach Eberwein, 1996, S. 70).

Kapitel 4: Das interaktionstheoretische Paradigma | 85



4.3 Beeinträchtigungen des Lernens − Folge von Stigmatisierung? Abbildung 1, dem Beitrag von Thimm (1975) zu den „Stufen der Stigmatisierung“ bei Lernbehinderung entnommen, macht zum einen deutlich, auf welche Weise Kinder und Jugendliche bis ins Erwachsenenalter durch institutionelle Identifizierung stigmatisiert werden. Sie zeigt, dass die „Karriere“ vieler Lernbehinderter lange vor der Schulzeit auf Grund ihrer Zugehörigkeit zu benachteiligten Milieus beginnt. Die Abbildung lässt ferner die Kernthese der Stigmatheorie erkennen: Das Kind ist durch die institutionelle Identifizierung als „Lernbehinderter“ das Opfer sozialer Zuschreibungsprozesse, denen es passiv ausgeliefert ist. Auch im weiteren Leben kann es der Stigmatisierung nicht entrinnen. Die „Reproduktion der Ausgangslage“ als Ergebnis des Stigmatisierungsprozesses erinnert an den intergenerationalen Deprivationszirkel, der durch die aktuelle Armutsforschung belegt wird (Benkmann, 2003). Vorschulzeit Soziale Deprivation des Elternhauses „unerwünschte soziale Merkmale“

Folgen der Stigmatisierung



Grundschule

Leistungsversager Verhaltensgestörter Intelligenzgeminderter

Institutionelle Identifizierung

Schulunreife, Zurückstellung, schlechte Noten, Sitzenbleiben, Intelligenztest, offizielle Einweisung

Sonderschule

Stigmatisiert für andere Schüler („dumm, faul, unangepasst …“), Isolierung

Öffentliches Ansehen der Sonderschule (z. B. Lage baulicher Zustand)

Berufseinmündung niedriges Berufsniveau

Abschlusszeugnis der Sonderschule, Jungarbeiter, Hilfsarbeiter

Erwachsenenalter

Rollenverlust beschädigte Identität

Randgruppen (z. B. Obdachlose, Nichtsesshafte), Kriminelle

Reproduktion der Ausgangslage

Abbildung 1: Stufen der Stigmatisierung Lernbehinderter (Thimm, 1975, S. 135)

86

| Teil II: Theoretische Ansätze Zum anderen zeigt die Abbildung die entscheidende Schwäche der Stigmatheorie: Das Kind wird eben nur als Opfer von Stigmatisierungsprozessen gesehen. Es übernimmt die angesonnene Erwartung der anderen und kann sich nicht anders als im Sinne der self-fulfilling prophecy verhalten. Dies ist jedoch so nicht haltbar, wenn das Kind selber der Konstrukteur seiner Entwicklung ist (vgl. 4.1, Lernen und Beeinträchtigung des Lernens in der Perspektive des Symbolischen Interaktionismus). Das Kind kann aktiv Stigmatisierungen abwehren, fremde Erwartungen strategisch unterlaufen oder anderweitig neutralisieren (Stigmamanagement). Das Selbstbild muss nicht mit dem Fremdbild übereinstimmen, wie empirische Ergebnisse zeigen (vgl. 4.4, Fremd- und Selbstbild, Stigmamanagement und Ansätze zur Veränderung). Gleichwohl kann dieser Tatbestand nicht bedeuten, den Stigmaansatz vollständig zurückzuweisen. Erkenntnisse zum Fremdbild vom Lernbehinderten, die in früheren Arbeiten von von Bracken (1967), Höhn (1967) und Kaufmann (1970) in verschiedenen Bevölkerungs- und Schülergruppen empirisch ermittelt wurden und sicherlich auch heute noch zutreffen, zeigen, dass lernbehinderte Kinder und Jugendliche für dumm, verdorben und asozial gehalten werden. Solche Etikettierungen haben Folgen für die Identitätsentwicklung. Obwohl Stigmata ganz überwiegend Ausdruck von unkritischen, ungeprüften und irrationalen Urteilen sind, schließen sie Bezüge zu realen Erfahrungen nicht aus. Kinder und Jugendliche mit Lernbeeinträchtigungen entsprechen nicht den normativen Anforderungen der Schule. Sie sind teils „verwahrlost“ und zeigen abweichendes Verhalten. Das Defizitäre dieser individuumsbezogenen Betrachtungsweise besteht darin, dass der soziale Hintergrund verdeckt bleibt. Die eigentliche Ursache für Etikettierung liegt nicht in den Individuen selbst, sondern in ihren sozialen Herkunftsverhältnissen. Die Zuschreibung von Dummheit und Verwahrlosung ist der Versuch definitionsmächtiger Gruppen der Gesellschaft, sozialstrukturelle Bedingungen umzudeuten, um dem Individuum das Versagen anzulasten und selektive Maßnahmen bildungspolitisch zu legitimieren. So kann „Lernbehinderung“ individualisiert und als medizinisch-psychologisches Phänomen behandelt werden. Durch die Testung der Intelligenzminderung und der Schulleistung im Rahmen der Feststellung des sonderpädagogischen Förderbedarfs erhält Lernbehinderung zusätzlich wissenschaftliche Legitimation. Gründe für die Individualisierung und Pathologisierung sozialer Tatbestände liegen nicht in „bösen“ Absichten der Nichtstigmatisierten, sondern in funktionalen Bedürfnissen gesellschaftlicher Interessengruppen, ein Problem zu erklären und entsprechende Maßnahmen begründet einzuleiten. So ist es vergleichsweise einfacher, dem Individuum ein klinisch-psychologisches Etikett zuzuweisen, um Lernbeeinträchtigung zu erklären, als das Problem in eine soziologische Perspektive zu stellen. Vor allem würden sich die Empfehlungen unterscheiden. Müsste Psychologie vorschlagen, durch interventive Maßnahmen das Individuum zu verändern, hielte Soziologie die Veränderung gesellschaftlicher Verhältnisse für notwendig. Zudem bemühen sich Nichtbehinderte um Distinktion gegenüber Lernbehinderten. Distinktion bedeutet nach Bourdieu (1999) die Unterscheidung des Lebensstils einer gesellschaftlichen Klasse von einer anderen. Mit Distinktion signalisieren sich die Subjekte wechselseitig, zu welcher sozialen Klasse sie nicht gehören und von welchen anderen Klassen sie sich abgrenzen möchten. Übertragen auf das Bedürfnis der Gesellschaft der Nichtbehinderten nach Distinktion gegenüber Lernbehinderten heißt das: ‚Wir sind



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nicht dumm, langsam und faul, sondern intelligent, schnell und fleißig. Wir gehören zu den Normalen, zum Mainstream der Gesellschaft. Lernbehinderte sind anders als wir, irgendwie nichtnormal, wenig leistungsfähig und ineffizient. Daher tun wir gut daran, sie in getrennten Einrichtungen zu fördern, um sie vor der ständigen Erfahrung mit ihrer eigenen Unfähigkeit zu bewahren.‘ Solche Überlegungen spiegeln die unilaterale Perspektive einer Gesellschaft wider, die Leistung und Effizienz zu normativen Götzen erhebt. Abbildung 1 macht schließlich ein weiteres Problem des Stigmaansatzes deutlich, nämlich die Annahme eines Automatismus von institutioneller Identifizierung, Stigmatisierung und deren Folgen: Behinderungen führen zu Stigmatisierungen, die zu Identitätsstörungen bzw. Identitätsveränderungen beitragen. Dies beinhaltet die sogenannte Stigma-Identitäts-These, die in der Sonderpädagogik im Zusammenhang mit den Identitätskonzepten von Goffman (1967) und Krappmann (1969) erörtert wurde. Ein Überblick dazu und ein Versuch zur Weiterentwicklung finden sich bei Cloerkes (2001), der auf widersprüchliche Befunde hinweist, die auch zeigen, dass Menschen mit Lernbehinderungen dem Stigmatisierungsdruck begegnen können (S. 138 ff.).

4.4 Fremd- und Selbstbild, Stigmamanagement und Ansätze zur Veränderung Trotz berechtigter Einwände gegenüber dem Etikettierungsansatz gibt es am Tatbestand der Stigmatisierung keinen Zweifel. Menschen mit Behinderungen und Mitglieder anderer Minderheiten machen ständig entsprechende Erfahrungen. Lernbehinderte sind ein Musterbeispiel für schulische Stigmatisierung. Wenn es um die Folgen und Verarbeitung von solchen Erfahrungen geht, ergibt sich ein recht uneinheitliches Bild. Ansätze zur Veränderung von schädigenden Stigmatisierungsprozessen sind angebracht. 4.4.1 Fremdbild Lernbehinderte werden von Schülern und Lehrern anderer Schularten negativ gesehen. Ältere Untersuchungen von von Bracken (1967), Höhn (1967) und Kaufmann (1970) kommen zum Ergebnis, dass Schulversager aus der Sicht von Volks-, Mittel- und Gymnasialschülern für faul, dumm, langsam usw. gehalten wurden. Lehrkräfte der allgemeinen Schule hielten sie für faul und dumm (Höhn, 1967). Weiter wurden Hilfsschüler von anderen Schülern als verdorben, böse, anders usw. beurteilt. Sie wurden abgelehnt und gemieden (Kaufmann zit. nach Thimm, 1975, S. 131). Irritierend ist übrigens, dass diese Stigmata auch bei wissenschaftlichen Experten und professionellen Helfern anzutreffen waren (Cloerkes, 2001, S. 144). Solche etikettierenden Vorstellungen bestehen bis heute. Zum Beispiel stellt die aktuelle Forschung zur sozialen Stellung von Lernbehinderten in Integrationsklassen fest, dass sie von ihren Mitschülern schlecht akzeptiert, abgelehnt und isoliert wurden. Sie waren meist unbeliebt, weil sie zu Streitereien und Aggressivität neigten und für unintelligent gehalten wurden (vgl. Überblick bei Bless, 1995). Beeinträchtigungen des Lernenden sind gesellschaftlich nicht akzeptiert, vielmehr verpönt, unabhängig von der Frage, ob die Kinder integrativ oder getrennt beschult werden.

88

| Teil II: Theoretische Ansätze 4.4.2 Selbstbild Stigmatisierende Erfahrungen wirken sich auf das Selbstbild von Schülern und Schülerinnen aus. Zum Selbstbild bei Lernbehinderung liegen, wie erwähnt, widersprüchliche Ergebnisse vor; zum Begabungskonzept ist so viel klar: Integrierte Lernbehinderte hatten ein bedeutend niedrigeres Begabungskonzept als separierte Lernbehinderte (Bless, 1995). Wahrscheinlich hat die Organisation der Beschulung motivationale und kausalattribuierende Folgen für die Einschätzung der eigenen Leistungsfähigkeit und das Selbstwertgefühl, denn die beiden letztgenannten Faktoren waren für die bedeutsamen Unterschiede der Selbstkonzepte von integrierten Hilfsschülern und Regelschülern wie auch für die Unterschiede zwischen separierten Hilfsschülern und Regelschülern verantwortlich (Moser, 1986, S. 158). So wird das Selbstkonzept von Lernbehinderten in einem Teil von Untersuchungen für prinzipiell schlechter gehalten als das von Nichtbehinderten. Dagegen findet Wocken (1983) ein positives Selbstbild. In einer Untersuchung zur sozialen Distanz hielten sich die Jugendlichen der neunten Klassenstufe an Schulen für Lernbehinderte für normal, akzeptierten sich und waren davon überzeugt, Fähigkeiten zu besitzen. Stigmatisierungserfahrungen schlugen sich nicht in einem negativen Selbstbild nieder. Wocken stellt fest, dass von einer beschädigten oder zerstörten Identität Lernbehinderter als Folge von Stigmatisierung nicht die Rede sein könne. Um die Qualität des jeweiligen Selbstbildes von Lernbehinderten zu erklären, werden bezugsgruppen- oder stigmatheoretische Vorstellungen herangezogen. Letztlich ist aber die Frage, ob die Kinder und Jugendlichen ein positives oder negatives Selbstbild haben, bisher unbeantwortet. Fest steht: Der Besuch der Lernbehindertenschule ist gesellschaftlich nicht anerkannt und zwingt ihre Schüler und Schülerinnen zum Einsatz von Strategien, Stigmatisierung zu managen. 4.4.3 Stigmamanagement Heranwachsende mit Lernbeeinträchtigungen entwickeln eine Reihe von argumentativen und Identitätsstrategien, um mit dem Stigma Dummheit fertig zu werden: Ammann und Peters (1981) stellten in Interviews ganz überwiegend defensive statt offensive Bewältigungsargumentationen fest. Die Sonderschüler sahen Fehler bei den Lehrpersonen der Grundschule oder in soziokulturellen Benachteiligungen, aber auch bei sich selbst, in mangelndem Fleiß und problematischem Verhalten. Selten wurden Intelligenzmängel als Grund für die Überweisung an die Sonderschule angeführt. Dönhoff-Kracht (1980) zeigte in einer anderen Untersuchung, dass die wesentliche Identitätsstrategie lernbehinderter Jugendlicher darin bestand, Leistungsausfälle zu verbergen (S. 82). Ergebnisse Nichtbehinderter erscheinen hier erwähnenswert, um eine ungefähre Vorstellung über das Ausmaß der Identitätsbedrohung durch das Etikett „Lernbehinderung“ und den Besuch der Lernbehindertenschule zu vermitteln. Allein, dass Kinder auf Grund von Leistungs- und Verhaltensproblemen zur schulpsychologischen Beratung angemeldet wurden, erzeugte Strategien des Stigmamanagements, um das in der Interaktion potenziell auftretende Etikett „psychisch/geistige Nichtnormalität“ zu neutralisieren. Die

Kapitel 4: Das interaktionstheoretische Paradigma | 89



Anmeldung aktivierte bei noch nicht stigmatisierten Heranwachsenden die Annahme, „nicht ganz richtig im Kopf zu sein“. Um sich davor zu schützen, setzten Schüler und Schülerinnen der vierten bis sechsten Klassenstufe Techniken ein wie „So-tun-als-obnichts-wäre“, „Entschuldigungen“, „Rechtfertigungen“, „Verurteilung der Verurteiler“ und schließlich „Tabuisierungen“ (Vetter, 1989, S. 287 ff.). Tabuisierung im Sinne von Ablenken und Ausweichen lag quer zu den anderen Techniken und wurde immer dann angewandt, wenn man sich im Gespräch dem fraglichen Stigma näherte. Parallelen zu Strategien in Untersuchungen an Schülern und Schülerinnen mit Lernbehinderung sind unverkennbar. 4.4.4 Ansätze zur Veränderung Mehrere Strategien zur Veränderung von schädigenden Stigmatisierungsprozessen wurden erprobt, um negative Einstellungen von Menschen mit Behinderungen abzubauen (Cloerkes, 2001, S. 106 ff.). Zu den bekannteren zählen aufklärende Informationsprogramme, das Herstellen von Kontakt (Kontakthypothese), die Übernahme der Behindertenrolle durch Nichtbehinderte und ein kombinierter Einsatz dieser Strategien. Zusätzlich verspricht man sich durch gesetzgebende Maßnahmen, durch Integration und Veränderung gesellschaftlicher Normen einen Beitrag zur Überwindung von Vorurteilen. Ziel ist es, das Fremdbild nichtbehinderter Bezugsgruppen positiv zu beeinflussen. Damit sollte so früh wie möglich in gesellschaftlichen Institutionen, zum Beispiel dem Kindergarten, begonnen werden. Bei der empirischen Überprüfung einzelner Strategieansätze zeigen sich allerdings unterschiedliche Effekte. So wird die Bedeutung von Informationsprogrammen vielfach überschätzt, da sie die affektiv verankerte Dimension von Vorurteilen nicht erreichten und Änderungen ausblieben, oder gar Vorurteile verstärkten. Die Kontakthypothese konnte nur dann positiv bestätigt werden, wenn über die einfache Kontaktaufnahme hinaus wichtige andere Bedingungen erfüllt waren. Die Kombination verschiedener Strategien schien sich noch am ehesten zu empfehlen. Neben diesen Strategien zur Veränderung des Fremdbildes sind Programme nötig, deren Einsatz das negative Selbstbild von Behinderten beeinflusst. Pädagogisch begleitete Integration enthält dazu ein bisher noch kaum genutztes Potenzial. Auch werden bei der Gruppe von lernbehinderten Kindern wichtige Veränderungen durch den Einsatz von Selbstinstruktions- und Attributionstrainings erreicht (Lauth u. a. 2004).

4.5

Fazit

Sonderpädagogik kann zu neuen Erkenntnissen gelangen, wenn sie das interaktionstheoretische Paradigma nicht auf den Etikettierungs- bzw. Stigmatisierungsansatz reduziert, sondern dessen ganzes Potenzial nutzt. Dies wurde im ersten Teil der Ausführungen aufgezeigt. Wichtige empirische Anliegen wären die minuziöse Beobachtung von KoKonstruktionsprozessen und die Ermittlung subjektiver Sichtweisen der Beteiligten in sonderpädagogischen und integrativen Handlungsfeldern. Das Wissen um das Stig-

90

| Teil II: Theoretische Ansätze mamanagement von Minderheiten könnte erweitert werden. Mit Hilfe des Aufzeigens differenzierter und subtiler Neutralisierungsstrategien gegenüber Stigmatisierung wird zum Nachdenken über ungeprüfte, irrationale Urteile über Personen, Gruppen und besondere Wohn- und Lebensverhältnisse beigetragen. Ferner tragen Ansätze zur Veränderung der sozialen Reaktion gegenüber Behinderten zum Abbau von Vorurteilen bei Nichtbehinderten bei. Bewährte Programme zur Förderung positiver Selbstbildtendenzen bei Behinderten sind zu ergänzen.

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Kapitel 4: Das interaktionstheoretische Paradigma | 91

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5 Das schulsystemische Paradigma Dagmar Orthmann Bless Das schulsystemische Paradigma erklärt Lernschwierigkeiten und Lernbehinderungen als systembedingte Devianz von Schulkarrieren. Es kann insofern als Teilmenge der systemischen Sicht aufgefasst werden, als hier ebenfalls von einer grundsätzlichen Nicht-Passung zwischen individuellen Möglichkeiten eines Individuums oder einer Personengruppe und den Anforderungen eines Systems ausgegangen wird. Im Unterschied zur systemischen Sichtweise insgesamt richtet die schulsystemische Betrachtungsweise ihren Fokus dabei aber in spezieller Weise auf die Funktionen und Strukturen des Anforderungssystems selbst. Lernbehinderung wird aus dieser Perspektive als systembedingtes Schulleistungsversagen erklärt, das seinen Ursprung in der formal bestimmbaren Zweckstruktur des Systems hat. Im Folgenden bildet die Auseinandersetzung mit Funktionen und Strukturen des aktuellen Schulsystems den Rahmen für eine Erläuterung der Spezifik von schulsystemischen Entscheidungsprozessen auf verschiedenen Ebenen, die in ihrer Konsequenz zur Konstituierung der Personengruppe der Lernbehinderten führen. Dabei wird die Argumentation mit Bezug auf Theorien zum Organisationshandeln und in Auswertung der vorliegenden empirischen Befunde geführt.

5.1

Funktionen und Strukturen des Schulsystems

Die Schule ist von der Gesellschaft mit der Qualifizierung und Sozialisierung, aber auch mit der Selektion von Kindern und Jugendlichen beauftragt und dementsprechend gegliedert. Um die gleichzeitige Erfüllung der verschiedenen Aufgaben unter prinzipiell begrenzten Ressourcen zu gewährleisten, ist sie bestrebt, Komplexität zu reduzieren bzw. ein gewisses Maß an Homogenität zur Aufrechterhaltung der eigenen Handlungs- bzw. Funktionsfähigkeit herzustellen. Deshalb knüpft sie bestimmte Voraussetzungen an die Mitgliedschaft, richtet an die Schüler normierte Erwartungen, in denen sich u. a. gesellschaftliche Standards und schulische Traditionen widerspiegeln, und kontrolliert auf verschiedenen Ebenen die Einhaltung der von ihr festgelegten Kriterien. Erwartungen an Schüler sind an durchschnittlichen Lernniveaus und Lernprozessen und an gesellschaftlich definierten Mindestqualifikationen ausgerichtet. Vor diesem Raster interpretiert das System bestimmte Entwicklungsausprägungen von Personen als Abweichungen vom durchschnittlich zu Erwartenden. Aus individuellen Verschiedenheiten werden so positive oder negative Varianten des Normalen. Negative Abweichungen bedrohen durch zu erwartenden erhöhten Aufwand das System und werden deshalb als Nicht-Erfüllung von Gefordertem den betreffenden Personen als Versagen zugeschrieben. In einem weiteren Schritt erfolgt dann eine Dichotomisierung der Abweichungen in solche, die unter bestehenden Systembedingungen entweder noch oder nicht mehr tolerabel sind. Mit diesen Mitteln begrenzt die Schule ihre Zuständigkeiten, um als System funktionsfähig zu bleiben. Als Resultat von Entscheidungsprozessen auf verschiedenen Ebenen, bestimmt durch bildungspolitische Interessenlagen und Erwägungen der Praktikabilität, wird so einigen

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| Teil II: Theoretische Ansätze Personen, in diesem Falle Schülern mit erheblichen Lernschwierigkeiten, die Mitgliedschaft im System aufgekündigt. „Effizienzüberlegungen führen ... dazu, möglichst viele Fälle derselben Art in spezialisierten Institutionen zu sammeln und von spezialisierten Berufen betreuen zu lassen“ (Mayer & Müller, 1989, S. 52). Dabei geht man davon aus, dass die Konstituierung der Personengruppe der Lernbehinderten und ihre Zuweisung zu einem Subsystem, also die segmentierte Bearbeitung von Lebensbedürfnissen und Lebensrisiken, das System entlastet und stabilisiert. Das Wesen dieser systemerhaltenden, segregierenden Entscheidungsprozesse soll nun genauer analysiert werden.

5.2 Entscheidungsprozesse im System Schule Entscheidungen im System Schule resultieren aus dem Zusammenspiel von vier verschiedenen Elementen, nämlich Problemen, Lösungen, Teilnehmern und Entscheidungsgelegenheiten, die in einem spezifischen Kontext simultan zusammentreffen (Cohen, March & Olsen, 1990). – Probleme können entweder im System selbst entstehen, z. B. durch das Vorhandensein von Kindern mit Lernschwierigkeiten, oder von außen an die Schule herangetragen werden, z. B. als bildungspolitische Forderung nach Chancengleichheit. – Lösungen sind Möglichkeiten oder Angebote innerhalb oder im Umfeld des Systems, wie z. B. Förderstundenkontingente, Schulkindergärten oder Sonderschulen. Sie können als Reaktion auf bestehende Probleme konstituiert oder nutzbar gemacht werden, aber auch bereits vor dem Auftreten von Problemen vorhanden sein und sodann nach Nutzung und Nachfrage suchen. – Als Teilnehmer fungieren Personen, die in Abhängigkeit von Fluktuation und Zeit für Entscheidungen verfügbar sind, etwa Lehrpersonen, Schulleiter, Eltern, Schulpsychologen, Mitarbeiter von Schulbehörden u. a. – Entscheidungsgelegenheiten sind regelmäßig wiederkehrende Anlässe für Entscheidungen, z. B. Einschulungstermine, Versetzungen und Fristen zur Prüfung des sonderpädagogischen Förderbedarfs. Entscheidungen bedürfen zwingend aller vier Elemente, fehlt eines, so können sie nicht getroffen werden. Zentral ist außerdem die Annahme, dass Entscheidungsprozesse im Zusammenwirken dieser vier Elemente zwar nicht völlig wahllos, aber auf Grund der Vielzahl von Kombinationsmöglichkeiten auch nicht vorhersehbar sind oder zwingend so und nicht anders verlaufen (Cohen, March & Olsen, 1990). Von den für die Entstehung abweichender Schulkarrieren relevanten Entscheidungsstellen Einschulung, Versetzung und Umschulung in eine Sonderschule sollen nun exemplarisch zwei, nämlich die Einschulung und die Zuweisung zu einer Sonderschule, genauer betrachtet werden. 5.2.1 Entscheidungsstelle Einschulung Aus Sicht der Schule wird eine Homogenisierung ihres Anfangs besonders angestrebt, um auf dieser Grundlage systemeigene Differenzierungen aufbauen zu können. Zentral



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ist dabei die tradierte Prämisse, dass die Grundschule zur Vermittlung bestimmter Basiskompetenzen nicht in der Lage und vor allem dafür auch nicht zuständig sei. So wird vom System erwartet, dass Schulanfänger z. B. die Zuwendung der Lehrperson mit vielen anderen teilen können, Anweisungen in der Unterrichtssprache aufnehmen, behalten und ausführen können, Arbeitsergebnisse mit angestrebten Zielen vergleichen und ggf. korrigieren können, Frustrationen ertragen und Bedürfnisse aufschieben können, Arbeitsmittel bereithalten und sachgerecht verwenden können u. v. m. (z. B. Kretschmann, Dobrindt & Behring, 1999). Auf z. B. sozialisationsbedingte Einschränkungen bei der Bewältigung dieser Entwicklungsaufgaben wird von Seiten der Schule innerhalb der Curricula keine Rücksicht genommen. Entscheidungen am Schulanfang sind durch schulrechtliche Rahmenbedingungen institutionell vorstrukturiert. Dazu gehören Vorgaben zur altersabhängigen Schulpflicht und entsprechende Einschulungszeitpunkte. Zumeist ist der Schulanfang außerdem als Selektionsverfahren angelegt, in dessen Verlauf zunächst über die Schulfähigkeit eines Kindes entschieden werden soll. Entsprechende Selektionskriterien weisen eine bundeslandspezifische Varianz auf (eine aktuelle Übersicht bei Rossbach, 2001). So kann beispielsweise die Aufforderung gegeben werden, über Schulfähigkeit ausschließlich anhand von Persönlichkeitsmerkmalen des Kindes oder aber auch unter Berücksichtigung der schulorganisatorischen und personellen Bedingungen, also nach Maßgabe vorhandener Kapazitäten des Systems, zu entscheiden (Rossbach, 2001). Gemeinsam ist den aktuellen Regelungen, dass schulpflichtige Kinder in allen Bundesländern vom Schulbesuch zurückgestellt werden können. Präzisen Vorgaben zum Beginn der Schulpflicht und zu Entscheidungsträgern für die Aufnahme ins Schulsystem stehen dabei meist fehlende oder variabel auslegbare Kriterien (Kann- oder Sollregeln) für eine Schuleingangsdiagnostik, für die Rückstellung vom Schulbesuch sowie für pädagogische Ersatzmaßnahmen gegenüber. Des Weiteren existieren am Schulanfang bestimmte strukturelle Lösungen zur Reduzierung von Heterogenität. Dazu gehören insbesondere eine Rückstellung vom Schulbesuch, entweder ohne pädagogische Ersatzmaßnahmen oder mit der Empfehlung zum (weiteren) Besuch eines regulären oder eines Förderkindergartens sowie, wiederum regional spezifisch, der Besuch eines Schulkindergartens, Vorlaufklassen für bestimmte Schülergruppen, z. B. Migrantenkinder etc., außerdem die Aufnahme in eine Förderschule bzw. Sonderschule. Als Akteure (Entscheider) innerhalb dieses Rahmens fungieren Schulleiter, Schulärzte, Eltern, ferner auch Kindergärtnerinnen, Schulpsychologen, Mitarbeiter von Schulämtern u. a. Deren persönlicher Ermessungsspielraum ist einerseits durch die schulrechtlichen Rahmenbestimmungen und die zeitlich und regional schwankenden organisatorischen Gegebenheiten, wie z. B. vorgeschriebene Klassengrößen oder angestrebte Erhaltung einer bestimmten Schule, beschränkt. Andererseits ermöglicht die vage Formulierung der schulrechtlichen Rahmenbestimmungen eine in Grenzen variable, individuelle Auslegung der Entscheidungskriterien. Dabei spielen Handlungswissen und Deutungsbestände der Teilnehmer, die sich aus fachwissenschaftlichen Diskursen, etwa zum Schulanfang, zur Schulreife, zur Genese von Behinderungen usw. rekrutieren, eine Rolle, ebenso wie damit im Zusammenhang stehende individuelle Variablen, etwa persönliche Belastbarkeit und Toleranzgrenzen. Vor diesem Hintergrund können nun Probleme, wie z. B. prognostizierte Schulschwierigkeiten bestimmter Personen, definiert

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| Teil II: Theoretische Ansätze und strukturell gelöst werden. Oberstes Ziel der Schule ist dabei die Erhaltung ihrer Funktionsfähigkeit durch Herstellung von größtmöglicher Homogenität in den Lernvoraussetzungen der Individuen. Eine Bewertung individueller, v. a. sensorischer, motorischer, kognitiver, metakognitiver, sprachlicher, emotionaler, motivationaler und sozialer Verhaltensaspekte von Schülern, lediglich vor dem Hintergrund schulisch (gesellschaftlich) am meisten verbreiteter Normen und losgelöst vom Kontext ihres Erwerbs, verkennt die jeweils milieuspezifische Funktionalität von Handlungskompetenzen. Letzteres ist vom System allerdings nicht intendiert, weil es dessen Funktionsfähigkeit erschwert. Mittels der Nutzung von Selektionsmöglichkeiten am Schulanfang, während der Versetzung und durch Überweisungen in Sonderschulen (siehe unten) gelingt es der Grundschule dann auch, unter üblichen Treatmentbedingungen das noch bestehende Ausmaß an Leistungsunterschieden zwischen den im System regulär verbleibenden Individuen etwa konstant zu halten. So verweist zum Beispiel die Scholastik-Studie darauf, dass sich die zu Schulbeginn bestehenden interindividuellen Leistungsunterschiede und Rangpositionen stabilisieren und das Ausmaß der Distanz zwischen verschieden leistungsstarken Schülergruppen erhalten bleibt (Weinert & Helmke, 1997). Der fehlende Schereneffekt wird als pädagogischer Erfolg stolz vermerkt (z. B. Weinert, 2001). Seit ca. 10 Jahren werden in 14 Bundesländern neue Schuleingangsstufen, zumeist in Form von Schulversuchen, erprobt (eine aktuelle Übersicht bei Faust-Siehl, 2001). Diese sollen durch die Einschulung aller schulpflichtigen Kinder ohne vorherige Feststellung der Schulfähigkeit, flexible Verweildauer von bis zu drei Jahren in den Schuljahren 1 und 2 sowie den Einbezug von Unterstützungsmaßnahmen in die reguläre Arbeit die Forderungen nach einer integrativen, individuell fördernden Grundschulpädagogik einlösen. Das System reagiert hier allerdings lediglich mit einer weiteren strukturellen, nicht jedoch mit einer pädagogisch-didaktischen Differenzierung auf die Verschiedenheit der Individuen. Das Kreieren von zusätzlichen Einschulungszeitpunkten (z. T. zweimal jährlich) beispielsweise verkompliziert das System, schürt Unsicherheit bei allen Beteiligten und ist vor allem eine an Systeminteressen ausgerichtete Möglichkeit, Homogenität bei den Lernvoraussetzungen der Schulanfänger zu schaffen. Durch die Nutzung eines nun bestehenden Zeitkorridors für die „reguläre“ Einschulung sowie die flexible Verweildauer in der Eingangsstufe kann der Kritik an hohen Rückstellungs- und Repetentenquoten begegnet werden. Allerdings sind diese nur per Definitionem verschwunden. Klassenwiederholung heißt jetzt flexibles Verweilen, für Kinder mit ungünstigeren Lernvoraussetzungen kommt es nach wie vor häufig zu einer Schulzeitverlängerung am Anfang. Ein Paradigmenwechsel, etwa Heterogenität als Auftrag der Grundschule zu verstehen und keine Laufbahnentscheidungen am Schulanfang zu treffen, findet nicht statt. 5.2.2 Entscheidungsstelle Umschulung in eine Sonderschule für Lernbehinderte Die Einweisung in eine Sonderschule für Lernbehinderte ist der entscheidende Schritt, aus Kindern mit Lernschwierigkeiten die schulorganisatorisch definierte Gruppe der Lernbehinderten zu bilden. Administrative Verlautbarungen geben zunächst einen institutionellen Rahmen für die Bestimmung der Personengruppe, die Aufgaben und Ziele



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der Sonderschule sowie Kriterien der Zuweisung zu diesem schulischen Subsystem vor. In den aktuellen „Empfehlungen zum Förderschwerpunkt Lernen“ (Kultusministerkonferenz [KMK], 2000) scheint zunächst eine systemische Sichtweise vertreten zu werden. „Bei Schülerinnen und Schülern mit Beeinträchtigungen des Lernens ist die Beziehung zwischen Individuum und Umwelt dauerhaft bzw. zeitweilig so erschwert, dass sie die Ziele und Inhalte der Lehrpläne der allgemeinen Schule nicht oder nur ansatzweise erreichen können“ (Drave, Rumpler & Wachtel, 2000, S. 300). Sodann erfolgt allerdings eine dezidierte, defizitorientierte Beschreibung mangelhafter Lernausgangslagen auf Seiten der Schüler, wohingegen Systembedingungen und deren Auswirkungen auf den Lernerfolg keiner kritischen Analyse unterzogen werden. Vielmehr bekommt die Bestimmung von Lernbehinderung, nunmehr als sonderpädagogischer Förderbedarf deklariert, eine systementlastende Funktion. Zwar wird die Förderung beeinträchtigter Kinder ausdrücklich als Aufgabe der allgemeinen Schule expliziert und die Sonderschule als nachrangiger Förderort ausgewiesen. Doch die allgemeine Schule kann sich ganz legitim schwieriger, d. h. erhöhten pädagogischen Aufwand erfordernder, Schüler entledigen, denn unter Beachtung der jeweils gegebenen bzw. bereitstellbaren personellen, sächlichen und räumlichen Bedingungen entscheiden Schule und Schulaufsicht, ob die Schülerin oder der Schüler in eine allgemeine Schule aufgenommen wird, dort verbleibt oder Unterricht und Förderung in einer Sonderschule ... erhält. .... Wenn die sonderpädagogische Förderung in der allgemeinen Schule nicht gewährleistet werden kann, werden diese Kinder und Jugendlichen in der Schule für Lernbehinderte unterrichtet. (Drave, Rumpler & Wachtel, 2000, S. 304 ff.) Damit ist der Weg frei für die Reduktion unerwünschter Heterogenität nach Maßgabe der Schule. Das System wird nicht in die Pflicht genommen, tatsächlich alle Schüler entsprechend ihrer Bedürfnisse im gemeinsamen Unterricht zu fördern. Mit Verweis auf fehlende personelle Kompetenz, zu hohe Klassenmesszahlen u. ä. Argumente können Schüler aus der allgemeinen Schule ausgegliedert werden. Umsetzungsanweisungen für die KMK-Empfehlungen finden sich dann in den Schulgesetzen der Länder. Bei aller Variabilität sind folgende Gemeinsamkeiten festzustellen. Die einzelnen Schulgesetze regeln bestimmte Aspekte in präziser Weise, dazu gehören z. B. Zeiträume und Fristen für die Prüfung des sonderpädagogischen Förderbedarfs. Diese terminlich festgelegten Entscheidungsgelegenheiten haben einen hochgradig auffordernden Charakter, auch tatsächlich Entscheidungen zu treffen, also Lernbehinderte hervor zu bringen. Die Kriterien, nach denen das Verfahren zur Feststellung des sonderpädagogischen Förderbedarfs eröffnet werden kann und an denen sonderpädagogischer Förderbedarf im Sinne einer Lernbehinderung festgemacht werden soll sowie die dazu durchzuführende Verfahrensweise, etwa die Verwendung bestimmter Diagnoseinstrumente und Informationsquellen, sind nur vage bestimmt, denn es fehlen operationalisierte Kriterien. Auf diese Weise wird Handlungsspielraum für das System und seine Teilnehmer geschaffen, eine Ausrichtung an Systeminteressen ist möglich. Gemeinsam ist den länderspezifischen Schulordnungen auch die Aufforderung an beteiligte Entscheider, hier vor allem an die Grundschullehrpersonen, bisherige pädagogische Bemühungen offen zu legen. Solange entsprechende Kontrollinstanzen fehlen, wird jedoch die Quantität und Qualität pädagogischen Handelns kaum systematisch geprüft. Dies betrifft beispielsweise die sozialen,

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| Teil II: Theoretische Ansätze didaktischen und diagnostischen Kompetenzen von Lehrpersonen. So ist bekannt, dass bei Fehlen von lernbegleitenden, regelmäßigen Lernkontrollen Lernprobleme Einzelner nicht frühzeitig erkannt werden und Lernstörungen bzw. Lernrückstände sich ausweiten. Dies ist insofern von enormer Bedeutung, als in neueren Längsschnittstudien das fachspezifische, sichere und anwendbare Vorwissen als herausragender Prädiktor für die weitere Leistungsentwicklung identifiziert wurde (z. B. Weinert & Helmke, 1997). Erwiesen ist auch, dass der Erziehungsstil der Lehrperson das Klassenklima, damit über die soziale Integration des Einzelnen in die Schulklasse auch den Schulerfolg, beeinflusst. Die Lehrer-Schüler-Beziehung ist dabei sowohl von der Leistung des Kindes, als auch von seinem sozialen Hintergrund abhängig. Untersuchungen zu sozialen Beziehungen im Grundschulbereich zeigen, dass schwache Schüler von der Lehrperson kaum die notwendige Zuwendung erhalten (z. B. Petillon, 1993). Dies steht in engem Zusammenhang zu Lehrereinstellungen und Erwartungseffekten. Es kommt beispielsweise zum sog. Matthäus-Effekt. Für diese und weitere, den Schulerfolg beeinflussende Interaktionsvariablen (vgl. auch Benkmann in diesem Band) fehlt eine entsprechende Effektkontrolle im System. An der Entscheidungsstelle Umschulung in eine Sonderschule für Lernbehinderte müssen neben den Interessen der allgemeinen Schule auch die Interessen des Subsystems Sonderschule betrachtet werden. Dessen Streben nach Aufrechterhaltung seiner Strukturen, nach Sicherung des berufsständischen Status und Erhaltung seiner Funktionsfähigkeit sind hier wirksam. Nach gegenwärtig gültigen rechtlichen Grundlagen sind zumeist Sonderschullehrpersonen von ihrer Schulleitung mit der Erstellung von Gutachten beauftragt, auf deren Grundlage Schulämter über die Platzierung von Kindern im System entscheiden. Vor dem Hintergrund weitgehend unscharfer Kriterien ist eine Platzierungsentscheidung von der Person des Entscheiders mit abhängig. Von Bedeutung ist insbesondere deren fachspezifisches, förderdiagnostisches Handlungswissen. Dazu gehören beispielsweise die Handhabung pädagogisch-psychologischer Diagnostik, Kenntnisse über mögliche Entstehungsbedingungen von Lernschwierigkeiten, Annahmen über das Wesen von Behinderungen u. v. a., die wiederum mit bestimmten Toleranzgrenzen etc. im Zusammenhang stehen. Der Einfluss der Person des Entscheiders ist allerdings stark von dessen Zugehörigkeit zum Schulsystem determiniert. Auch an dieser Stelle sind Teilnehmer systembedingt dazu angehalten, ihre Entscheidungen nicht nur bzw. nicht vorrangig am tatsächlichen Förderbedarf des Kindes, sondern ebenso an Systeminteressen zu orientieren. So wird die Sonderschule beispielsweise bei demografisch bedingt sinkender Nachfrage ihrer Entlastungsfunktion für ihren Erhalt sorgen, z. B. mit besonderen Angeboten die Nachfrage ihrer Leistungen ankurbeln, Problemdefinitionen ihrer Kapazität anpassen usw. Es finden Aushandlungsprozesse zwischen Haupt- und Subsystem statt, die auf beider Erhaltung ausgerichtet sind. Dabei wird die gleichbleibende Menge aller Bildungschancen nach systemeigenen Distributionsmechanismen variabel verteilt, unabhängig von Personmerkmalen Einzelner. Bedürfnisse von Kindern werden zum Spielball des Systems. Dies wird durch eine ungünstige Personalunion vereinfacht, in der dieselben Personen als (potentielle) Förderer, Entscheider und Mitglieder eines (Sub)Systems mit Eigeninteressen fungieren. Ferner fehlen im System auch Kontrollmöglichkeiten zur Prüfung der Rechtmäßigkeit, der Sinnhaftigkeit, der Wirkungen und insbesondere der Nebenwirkungen einmal



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getroffener Entscheidungen. Weder für die abgebende allgemeine Schule noch für die aufnehmende Sonderschule bestehen Interesse und Notwendigkeit der pädagogischen Qualitätskontrolle, solange sie nur die gesellschaftlich definierte Aufgabe der selektiven Qualifizierung (gemeinsam) erfüllen. Dies ist ein wesentlicher Grund dafür, dass die Untersuchungen zur Effizienz der Sonderbeschulung im Vergleich zur integrativen Beschulung, die nahezu ausnahmslos belegen, dass die Existenzberechtigung von Sonderschulen, zumindest bezüglich ihrer Qualifizierungsfunktion, deutlich in Frage zu stellen ist, so wenig zur Kenntnis genommen werden (vgl. auch Bless in diesem Band). 5.2.3 Zur Interaktion verschiedener Entscheidungen Entscheidungen an den vorab explizierten Stellen stehen in bestimmten Zusammenhängen. So können beispielsweise schulzeitverlängernde Förderstrategien, wie etwa die Rückstellung vom Schulbesuch oder das Repetieren, zu einem späteren Zeitpunkt zu einem Argument für weitere separierende Maßnahmen, vor allem für die Zuweisung zu einer Sonderschule für Lernbehinderte, werden. Die vom System selbst geschaffene Heterogenität, hier bezüglich des Alters der Kinder, ehemals zu Entlastungszwecken hergestellt bzw. billigend in Kauf genommen, erfährt eine diagnostische Reinterpretation. Vorangegangene Maßnahmen werden nun als Hinweis für Umfänglichkeit und Langfristigkeit von Lernproblemen Einzelner herangezogen, ebenso als Argument für das Ausschöpfen aller systemimmanenten Hilfemöglichkeiten verwendet. Da das in der Grundschule dominante Strukturprinzip der Jahrgangshomogenität nicht (weiter) verletzt werden soll, wird die Aktenkundigkeit gegen das Kind verwendet. Es ist nun zu alt, das Fortschreiten im allgemeinen Schulsystem in der Gemeinschaft deutlich jüngerer Kinder kann, etwa unter Zuhilfenahme des Konstruktes Kindeswohl, angeblich nicht mehr verantwortet werden.

5.3 Empirische Befunde Auf den Einfluss schulsystemischer Gesetzmäßigkeiten auf die Entstehung von Lernbehinderung bzw. auf die systembedingte Devianz von Schulkarrieren kann derzeit eher aus bestimmten Resultaten von Entscheidungsprozessen geschlossen werden. Die Entscheidungsprozesse selbst sind bisher wenig empirisch untersucht. Zunächst fallen die großen Unterschiede zwischen einzelnen Bundesländern bezüglich der Quoten fristgemäßer bzw. verspäteter Einschulungen auf. So variierten die Rückstellungsquoten im Schuljahr 1999/2000 bundesweit zwischen 3,9 % (Bayern) und 14,7 % (Mecklenburg-Vorpommern) bzw. die Anteile fristgemäßer Einschulungen zwischen 74,1 % (Bremen) und 93,6 % (Baden-Württemberg) (Rossbach, 2001). Ein wesentliches Indiz für den Einfluss systemimmanenter Variablen auf die Bestimmung von Lernbehinderung sind auch die zeitlich und regional extrem schwankenden Zuweisungsraten zur Schule für Lernbehinderte. So betrug beispielsweise im Jahre 1999 der Anteil der Lernbehinderten an der Gesamtschülerschaft der Primar- und Sekundarstufe in Berlin ca. 1,99 %, in Sachsen-Anhalt hingegen 4,73 % (Kornmann, 2002). Diese zeitlichen und

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| Teil II: Theoretische Ansätze regionalen Unterschiede sind weder mit Besonderheiten in den Lebensbedingungen noch mit Persönlichkeitsmerkmalen der betroffenen Personen (allein) zu erklären. Sie weisen vielmehr auf die Anpassung des Schulsystems an ökonomische und bevölkerungsstrukturelle Veränderungen, auf die Wirksamkeit zeitlich und regional unterschiedlicher schulpolitischer Bestrebungen, wie z. B. (beabsichtigte) Integration, auf den unterschiedlichen Ausbau regionaler Schulstrukturen, einschließlich bestimmter Modellversuche, etwa Diagnose- und Förderklassen u. ä., hin. In Auswertung schulstatistischer Daten wurden ebenfalls Hinweise zum Einfluss der Eigenrationalität von Bildungssystemen auf den Verlauf von Bildungskarrieren gefunden. Mader, Rossbach und Tietze (1991) zeigen für das Land Nordrhein-Westfalen, dass weder verbesserte Input-Bedingungen, wie z. B. höhere Quoten des Kindergartenbesuches oder intensivere Kooperation zwischen Kindergarten und Grundschule, noch verbesserte Prozessbedingungen, wie z. B. geringere Klassenfrequenzen und Ausbau systemimmanenter Fördermaßnahmen, die Selektivität der Grundschule, gemessen an Rückstellungs- und Repetentenquoten sowie Sonderschulüberweisungen, verringern. Sie beobachten vielmehr einen Sogeffekt von neu ausgebauten Entlastungsstrukturen, wie Schulkindergärten und Vorklassen, die Klienten suchen. Das System distribuiere nach bestehenden Kapazitäten. Bless (2002) zeigt für Teile des Schweizer Schulsystems, dass in den letzten Jahren zusätzliche, die Schule flankierende Ressourcen, wie z. B. schulpsychologische, logopädische und psychomotorische Hilfen, immer stärker ausgebaut und immer umfassender in Anspruch genommen wurden. Gleichzeitig blieb die Aussonderungsquote auf gleichbleibend hohem Niveau bzw. stieg für bestimmte Schülergruppen sogar systematisch an. Daraus leitet Bless die These ab, dass der Ausbau und damit einher gehend die vermehrte Inanspruchnahme von Entlastungsstrukturen durch die allgemeine Schule zu einem Kompetenzverlust der allgemeinen Schule führen. Die Heterogenitätstoleranz des Hauptsystems sinkt immer mehr. „In der Konsequenz wird die Norm immer enger und immer weniger Kinder können ihr entsprechen“ (Bless, 2002, S. 72). Eine einschlägige Untersuchung zur systembedingten Devianz von Schulkarrieren, hier am Beispiel von Migrantenkindern, legen Gomolla und Radtke (2002) vor. Mittels Argumentationsanalysen werden organisationsinterne Entscheidungsmechanismen zur Herstellung von Ungleichheit in der Schule rekonstruiert, institutionelle Wissenshaushalte bezüglich der Wahrnehmung von Problemen und der Begründung entsprechender Lösungen ebenso wie die Einbettung von Entscheidungspraktiken in den spezifischen institutionellen Handlungskontext beschrieben. Gomolla und Radtke weisen nach, dass bei allen Problembeschreibungen und Entscheidungen während der Einschulung und im Rahmen der Umschulungsverfahren die Eigenrationalität des Systems dominiert. Sowohl fachspezifische Wissenshaushalte, z. B. über soziokulturelle Benachteiligung, als auch Kontextbedingungen, wie z. B. Aufnahmekriterien für Einrichtungen, werden variabel aus- bzw. umgedeutet, um systemdienliche Entscheidungen im Nachhinein darstellbar zu machen. So nehmen beispielsweise weiterführende Schulen verstärkt Migrantenkinder auf, wenn sie in ihrem Bestand gefährdet sind, geben Grundschulen ihre Vorbereitungsklassen auf und schulen Kinder mit erschwerter Lernausgangslage direkt ein, wenn ihre Mehrzügigkeit bedroht ist usw., jeweils ungeachtet gleichbleibender Voraussetzungen und Bedürfnisse auf Seiten der Individuen selbst.



Kapitel 5: Das schulsystemische Paradigma | 101

5.4 Zusammenfassung und Ausblick Aus schulsystemischer Sicht trägt Entscheidungshandeln im Interesse des Systems Schule zur Entstehung und Aufrechterhaltung von Lernstörungen bzw. Lernbehinderungen bei. Innerhalb schulischer Entscheidungsprozesse fassen Entscheider individuelle Merkmalsausprägungen von Kindern als Probleme auf und verknüpfen diese mit organisatorischen Ressourcen (Optionen), unter aktuellen rechtlichen Rahmenbedingungen und vor dem Hintergrund individueller und gesellschaftlich präsenter pädagogischer Überzeugungen zu einer systemkompatiblen Lösung, die nach innen und außen darstellbar und begründbar ist. Die Konstitution der Personengruppe der Lernbehinderten und die Delegation der Zuständigkeit dafür an ein Subsystem dient der Reduktion von Heterogenität, damit der Entlastung des Hauptsystems. Zentrale zukünftige Aufgabe ist es zu hinterfragen, wie der Anspruch aller Kinder auf eine jeweils optimale Bildung, Erziehung und Förderung mit der gesellschaftlich von der Schule geforderten Verteilung von Privilegien zu vereinbaren ist. Dabei ist davon auszugehen, dass zwischen Qualifizierungs- und Selektionsfunktion der Schule ein systemimmanenter Widerspruch besteht. Individualität ist ein Wesensmerkmal des Menschen, Vielfalt kann und darf nicht negiert werden. Die bisherigen Bemühungen des Schulsystems, vor allem durch strukturelle Maßnahmen Homogenität von Lernvoraussetzungen herzustellen, sind gescheitert. Die bestmögliche Qualifizierung aller Kinder und Jugendlichen ist nicht notwendigerweise an die Reduktion von Heterogenität gebunden. Internationale Vergleichsstudien zeigen, dass integrative Bildungsmodelle mit heterogenen Lerngruppen überdurchschnittlich erfolgreich sein können (z. B. Deutsches PISA-Konsortium, 2001). Innerhalb des Schulsystems ist ein Strategiewechsel notwendig. Nicht die Strukturen sollten weiter differenziert werden, sondern die strukturelle Komplexität des Systems ist zu reduzieren. Die Schule muss sich der vorhandenen, unauflösbaren Heterogenität ihrer Schülerschaft stellen, mit pädagogischen Mitteln, vor allem mittels didaktisch-methodischer Differenzierung der Vielfalt begegnen. Ersichtlich kann es unter den normativ festgeschriebenen Freiheits- und Gleichheitsmaximen moderner Demokratien nicht darum gehen, die Merkmale, die Menschen diskriminierbar machen, durch Assimilation zum Verschwinden zu bringen. Eher wohl darum, die Kontexte zu beschränken und die Gelegenheiten zu vermindern, in denen (unverlierbare) Merkmale sozial bedeutsam, Diskriminierung ermöglicht und Überund Unterordnung begründet werden. (Gomolla & Radtke, 2002, S. 12) Dazu kann beitragen, potentiell diskriminierende Selektionsoptionen bzw. Entscheidungsgelegenheiten, die stets auch auffordernden Charakter tragen, zu reduzieren. Diese sind durch pädagogisches Handeln zu ersetzen, das tatsächlich den Bedürfnissen des Kindes entspricht. So sollte z. B. eine kindnahe, dialogische Förderdiagnostik, die prozessimmanent die aktuelle Lernausgangslage und davon ausgehend die Förderbedürfnisse des Individuums bestimmt, an die Stelle von punktueller, auf Heterogenitätsreduktion zielender Statusfeststellung treten. Optionen des Systems, die Zuständigkeit für einzelne Personen oder Personengruppen nach Eigeninteressen zu kündigen, sind kritisch zu hinterfragen. Insofern, als das Vorhandensein von (strukturellen) Lösungen auf die Problemwahrnehmung ausstrahlt, müssen auch die in die Schulorganisation eingeschriebenen

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| Teil II: Theoretische Ansätze Möglichkeiten und Angebote differenziert betrachtet werden. Segregierende Strukturen und Subsysteme, wie z. B. Schulkindergärten, Vorlaufklassen und Sonderschulen, die, sind sie einmal etabliert, aus Selbsterhaltungsgründen nach Problemen und Adressaten suchen, sind schrittweise in integrative Hilfestrukturen umzuwandeln. Kinder mit schwierigen Lernausgangslagen benötigen zusätzliche Hilfen, notwendige Ressourcen dürfen deshalb keinesfalls abgebaut, sollten aber umstrukturiert werden. Sie müssen im System generell vorhanden und ohne vorherige diskreditierende Zuschreibungen variabel nutzbar sein. Diskriminierungen können auch durch eine wirksame Effektkontrolle pädagogischer Maßnahmen reduziert werden. Es sind Instanzen der Selbst- und Fremdkontrolle zu etablieren, um die Angemessenheit von Interventionen zu prüfen und Verantwortlichkeit für Wirkungen und Nebenwirkungen von Entscheidungen einzufordern. Kriterien müssen das Wohlergehen und die optimale Entwicklung des Individuums, nicht aber die Eigeninteressen des Systems sein. Die genauere Untersuchung von Entscheidungsprozessen in der Schule kann dazu beitragen, die in der Organisation selbst befindlichen Ursachen der Benachteiligung von Personengruppen aufzuklären. Lernbehinderung muss deutlicher als bisher auch als Strukturproblem moderner, funktional differenzierter Gesellschaften wahrgenommen werden. Der Fokus fachwissenschaftlicher Diskussionen und pädagogischen Handelns darf nicht länger auf der Problematisierung und Stigmatisierung von Individuen oder sozialen Gruppen liegen, sondern muss sich auch auf die notwendige Veränderung schulorganisatorischer Strukturen beziehen. Daran anschließend lassen sich Interventionsstrategien zur Behebung von Chancenungleichheit überdenken. Insofern wie Diskriminierung sowohl aus Formen der Gleichbehandlung Ungleicher als auch der Ungleichbehandlung Gleicher resultieren kann, bildet die Auseinandersetzung mit der „Paradoxie der bildungspolitischen Forderung nach Chancengleichheit“ (Heid, 1988, S. 1) einen diesbezüglichen Ansatzpunkt. Entsprechende pädagogische Konzepte der Heterogenität wurden beispielsweise von Hinz (1993) und Prengel (1995) formuliert. Sie beruhen auf der Forderung nach Anerkennung von Unterschieden, ohne diese mit sozialen Rangordnungen zu verknüpfen. Die Dialektik von Gleichheit und Verschiedenheit findet Ausdruck in einem allgemeinpädagogischen, auf strukturelle Homogenisierung verzichtenden Ansatz, welcher soziale Integration aller und gleichzeitig individuelle Ansprüche auf besondere Unterstützungsmaßnahmen miteinander verbindet.

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6 Soziokulturelle Benachteiligung Katja Koch

6.1

Problemaufriss

Obgleich es von Beginn der „Hilfsschulpädagogik“ Hinweise auf soziale Bedingungshintergründe für Lernbehinderung gab (Stötzner, 1864, 1963, S. 7; vgl. auch Gehrecke, 1958), basierten die pädagogisch-didaktischen Konzeptionen lange auf der Prämisse eines individuellen (angeborenen, mehr oder minder korrigierbaren) Intelligenzdefizits (z. B. Fuchs, 1922; Klauer, 1961; Bach, 1973). Erst in den frühen 70er Jahren, als unter dem Postulat der Chancengleichheit eine gesamtgesellschaftliche Diskussion über schichtenspezifische Benachteiligungen einsetzte, begann auch die Sonderpädagogik, soziale Verursachungsfaktoren für die Genese und Ätiologie von Lernbeeinträchtigungen zu thematisieren. In einer Vielzahl von empirischen Studien wurden die möglichen sozialen Hintergründe der Lernbehinderungen fokussiert (z. B. die Studien von Gehrecke, 1958, 1966 und Klein, 1973). Erstmals durch Begemann (1970) werden Lernbehinderungen explizit als gesellschaftsbezogenes Produkt beschrieben. Thesenartig lässt sich seine Kernaussage wie folgt zusammenfassen: Aufgrund seines Aufwachsens -und damit seiner Sozialisation- innerhalb einer bestimmten Schicht können einem Kind entscheidende Nachteile erwachsen, die möglicherweise zu einer Lernbeeinträchtigung führen. Mit eingeschlossen werden hierbei deutliche Interdependenzen zwischen benachteiligenden familiären Verhältnissen und möglichen organischen und psychischen Auswirkungen. Damit kommt den Lebensbedingungen, mithin also der sozialen Lage erstmals eine Schlüsselrolle für die Qualität des Sozialisationsprozesses zu (ausführlich hierzu Koch, 2003) und dieserart Benachteiligungen werden nunmehr als die pädagogisch wesentliche Bestimmung Lernbehinderter (Schröder, 2000, S. 149) herausgestellt. Theoretische Basis der o. g. These sind die aus der Soziologie rezipierte Sozialstrukturanalyse sowie die schichtenspezifische Sozialisationsforschung. Das Konstrukt Sozialschicht dient dabei der Beschreibung des Phänomens „soziale Ungleichheit“, also aller „gesellschaftlich hervorgebrachten und relativ dauerhaften Handlungsbedingungen, die bestimmten Gesellschaftsmitgliedern die Befriedigung allgemein akzeptierter Lebensziele besser als anderen erlauben“ (Hradil, 1987, S. 144). Die bedeutendste Dimensionen in den klassischen Schichtenmodellen (z. B. Bolte, Kappe und Neidhardt, 1967, S. 316; Dahrendorf, 1965, S. 105; Bolte, 1990, S. 46) sind das Einkommen (materieller Wohlstand), das Ausmaß an Handlungsfreiheit (sozial begründete Macht), der formale Bildungsabschluss und das Prestige eines Gesellschaftsmitgliedes. Aus der Kombination dieser Dimensionen entsteht ein Gefüge vertikal geordneter, geschichteter Gruppierungen, welche innerhalb einer oder mehrerer Ungleichheitsdimensionen einen ähnlich hohen bzw. niedrigen Status besitzen (vgl. hierzu auch Hradil, 1987). Der Status kennzeichnet die Position eines Menschen innerhalb des Sozialgefüges somit nicht nur als verschiedenartig, sondern im Sinne von besser- und schlechter gestellt. Mehrere Studien dieser Zeit belegen, dass 90 % der Schüler von Lernbehindertenschulen der „Unterschicht“ angehören (z. B. Begemann, 1970; Klein, 1973; Ferdinand & Uhr, 1973). Die Merkmale dieser Unterschicht-Zugehörigkeit sind zunächst rein objektiven



Kapitel 6: Soziokulturelle Benachteiligung | 105

Charakters, es handelt sich um sozio-ökonomische Merkmale: geringe Bildungsabschlüsse der Eltern, niedrige berufliche Position der Väter und, mit beidem zusammenhängend, geringes Einkommen. Weiterhin werden eine überdurchschnittliche Kinderzahl sowie beengte Wohnverhältnisse genannt (Gehrecke, 1958, 1966; Klein, 1973). In der schichtenspezifischen Sozialisationsforschung allerdings sowie in der sonderpädagogischen Rezeption dieser resultiert aus der „unteren“ Stellung der Familien (als oberster Sozialisationsinstanz) im Sozialgefüge eine spezifische Sozialisation, die zu defizitären Entwicklungsbedingungen führt. Nach den Prämissen dieses Forschungsparadigmas vollzieht sich Entwicklung also „schichtenspezifisch“ (z. B. Rolff, 1967), wobei es zur Prägung von so genannten Sozialcharakteren kommt, die aus diesen Sozialisationserfahrungen resultieren. Die Familie als sozialer Mikro-Raum der Gesellschaft gibt der nachwachsenden Generation ihre Grundwerte weiter. Durch die Weitergabe dieses Sozialcharakters wird soziale Ungleichheit gleichsam sozial vererbt: Spezifische Sozialisationsklimata konstituieren unterschiedliche Lernumwelten für Kinder, die sich auf unterschiedliche Schultypen und Bildungswege beziehen. Wenn auf diese Weise sozialisierte „Unterschichtkinder“ in der Schule auf ein mittelschichtorientiertes System stoßen, scheitern sie an eben diesem und können daraufhin wieder nur „niedere“ Berufspositionen einnehmen (vgl. z. B. Thimm, 1984). Auf diese Art und Weise kommt es zur Reproduktion eines sozialen Status, zur Reproduktion sozialer Ungleichheit und mithin zur Reproduktion von Lebenschancen. Somit sind Sozialisationsbedingungen nicht nur spezifisch, sondern benachteiligend: Aus der Zugehörigkeit zur Unterschicht ergeben sich spezifische sozioökonomische und in der Folge (gegenüber „höheren Schichten“) defizitäre soziokulturelle Bedingungen (z. B. Rolff, 1967, 1980; Begemann, 1970). Besondere Aufmerksamkeit erfahren dabei in der sonderpädagogischen Rezeption Forschungsergebnisse zu schichtenspezifischen Sprachcodes (Bernstein, 1972; Oevermann, 1972): Unterschichtkinder verfügen über so genannte „restringierte“ Sprachcodes, die sich, im Unterschied zu den „elaborierten Codes“ der „Mittelschichtkinder“, durch starre syntaktische und lexikalische Merkmale, durch die Kontextabhängigkeit des Sprachgebrauchs sowie durch niedrige Komplexität auszeichnen (Bernstein, 1972). Der Kommunikationscode(stil) wird im familiären Rollensystem, seiner spezifischen Interaktions- und Kommunikationsstruktur konstituiert. Diese Struktur wiederum wird durch die objektive Stellung im Produktionsprozess bestimmt – die ökonomische Sphäre, vermittelt über den Arbeitsplatz, prägt das Verhalten der Eltern und somit die Sozialbeziehungen in der Familie und somit die Sozialisation des Kindes (Oevermann, 1972). Neben der defizitären Sprache werden lernbehinderte Schüler durch weitere Merkmale charakterisiert, z. B. geringere Motivation, subkulturelle Verhaltensmuster, geringe Anpassung, Aggressivität, geringe Lern- und Leistungsmotivation (Probst, 1976; Schröder, 2000).

6.2 Gegenwärtiger Forschungsstand Mehrere Umstände jedoch scheinen diesen linearen Zusammenhang oder gar eine Kausalbeziehung im Sinne von „aus Unterschichtzugehörigkeit (mithin also aus spezifischen objektiven ökonomischen Lebensbedingungen) resultieren defizitäre Sozialisationsbedingungen, die zu Lernbeeinträchtigungen führen“ gegenwärtig in Frage stellen.

106

| Teil II: Theoretische Ansätze Zum einen muss bezweifelt werden, dass Schichtenmodelle noch in der Lage sind, die wesentlichsten Determinanten sozialer Ungleichheit zu erfassen. Unsere Gesellschaft hat sich in den letzten Jahrzehnten vom Industrie- zum modernen Wohlfahrtsstaat entwickelt. Als wichtigste Tendenzen des damit einhergehenden sozialen Wandels gelten in erster Linie die Bildungsexpansion und Höherqualifizierung der Bevölkerung, die Wohlstandsexplosion, der Ausbau des Sozial- und Wohlfahrtsstaates und der relative Bedeutungsverlust der Sphäre bezahlter Erwerbsarbeit zugunsten des Freizeit- und Konsumsektors (vgl. Geißler, 1994, S. 14). So wird in den letzten zwei Jahrzehnten diskutiert, dass wohlfahrtsstaatliche Leistungen, veränderte Arbeitsbedingungen und Kriterien wie Region, Alter, Familienverhältnisse etc. erstens schichtübergreifend wirken und zweitens die Lebenschancen in der modernen Gesellschaft nicht mehr selbstverständlich „von oben nach unten“ abnehmen, bzw. umgekehrt zunehmen. Damit sind die erarbeiteten „berufsbedingten“ Dimensionen der Schichtenmodelle allein offensichtlich kaum noch in der Lage, die wesentlichen Determinanten sozialer Ungleichheit im Leben eines Menschen zu erfassen, denn die soziale Position ergibt sich nicht mehr aus den klassischen Dimensionen (Einkommen, Bildung, Prestige, Berufsposition), sondern vielmehr aus einem mehrdimensionalen Bedingungsgefüge. Dieses muss wohlfahrtsstaatliche Leistungen (und die sich daraus ergebenden Veränderungen hinsichtlich der Arbeits- und Freizeitbedingungen sowie der Wohn- und Umweltbedingungen) wie auch personale Merkmale (Alter, Generation, Nationalität, Familienverhältnisse, Region, Geschlecht) mit berücksichtigen (vgl. Hradil 1987, 2001; für die Sonderpädagogik Sasse, 1999 und Ellinger & Koch, 2001). Werden diese Kriterien einbezogen, erhöhen sich die Kombinationsmöglichkeiten der verschiedenen Dimensionen beträchtlich und es entsteht ein typischer Kontext von Handlungsbedingungen, welche vergleichsweise gute oder schlechte Chancen für die Befriedigung allgemein anerkannter Bedürfnisse gewähren. Diese spezifischen Kontexte werden als Lebenslage bezeichnet und beinhalten ebenso Vorteile als auch Nachteile mitsamt ihren wechselseitigen Substitutions- und Kompensationsmöglichkeiten, die sich aus ihnen ergeben (vgl. Bertram & Dannebeck, 1990). Solcherart konstituierte „Lagemodelle“ erlauben ein wesentlich differenzierteres Abbild der Sozialstruktur, als dies noch durch Schichtenmodelle möglich war. Zum anderen muss hinterfragt werden, inwieweit die objektiven Lebensbedingungen die Lebensweise einer sozialen Gruppe, ihre subjektiven Werte und Einstellungen gegenwärtig noch determinieren. Die Differenzierung sozialer Lagen in modernen Gesellschaften hat zu einer Vielzahl von Lebensstilen und Milieus geführt. Die zunehmende Individualisierung von Lebensverläufen deutet auf die Auflösung von Klassen- und Schichtenbindungen – die Pluralisierung von Lebensstilen geht mit der Abkoppelung von äußeren Lebensbedingungen einher. Schichtenmodelle jedoch gehen davon aus, „dass die jeweils hervorgehobenen Gruppierungen nicht nur ‚objektive‘ Lebensbedingungen, sondern auch bestimmte ‚subjektive‘ Verhaltensweisen gemeinsam haben“ (Hradil, 2001, S. 366). Das heißt, die Gruppen ähneln sich dort nicht nur in den sozialstrukturellen, berufsbedingten Dimensionen, sondern sie haben ebenso gemeinsame spezifische Werteorientierungen und Lebensprioritäten, aus denen sich spezifische Sozialisationsbedingungen (wie Bildungsaspiration, Erziehungsziele, Erziehungsstile etc.) konstituieren. In dieser Logik determinieren die objektiven Lebensbedingungen das Denken und Verhalten der Menschen. Daraus resultiert in diesem Zusammenhang, dass die Kinder durch die spezifische Stellung ihrer



Kapitel 6: Soziokulturelle Benachteiligung | 107

Familien (als oberster Sozialisationsinstanz) im Sozialgefüge Sozialisationsbedingungen ausgesetzt sind, die sich in ihrer Entwicklung als defizitär erweisen. Dies allerdings wird, angesichts der Feststellung, dass zwar 90 % der Schüler von Lernbehindertenschulen der „Unterschicht“ angehören (Begemann, 1968, 1970; Ferdinand & Uhr, 1973), andererseits aber nur 10 % der Kinder aus der Unterschicht eine solche Schule besuchen (Probst, 1976; Thimm & Funke, 1977), zweifelhaft und läßt, wie Thimm und Funke (1977, S. 601) konstatieren, die Unterschichttheorie ihren „Erklärungswert“ verlieren. Sie vermuten dagegen, dass die Herkunftsfamilien Lernbehinderter „überwiegend einer Teilkategorie der Unterschicht [angehören], die sich hinsichtlich bestimmter sozialer Merkmale von der Gesamtkategorie Unterschicht unterscheidet“ (Thimm & Funke, 1977, S. 600 f.). Das heißt mit anderen Worten, die Vorstellung, dass die Mitglieder einzelner Schichten ihre objektiven Lebensbedingungen (d. h. die gegebenen Handlungsspielräume) in gleicher Weise einschätzen und ähnlich mit ihnen umgehen, ist angesichts der Tatsache, dass nicht alle Unterschichtkinder trotz ähnlicher objektiver Bedingungen die Lernbehindertenschule besuchen (s. o.), so nicht haltbar. So artikuliert ebenfalls Sasse (1999) ein „wahrnehmbares Unbehagen an der normativen Verknüpfung von Sozialstatus und Sprach- und Erziehungsverhalten“ (S. 421) und zieht in Zweifel, „ob der Begriff ‚Unterschicht‘ weiterhin als die sozialwissenschaftliche Kategorie zur Klärung von gravierenden Lernschwierigkeiten herangezogen werden kann“ (S. 422). Der Gedanke eines linearen Zusammenhangs zwischen Schichtzugehörigkeit und Lernbehinderungen, dass also Kinder aus Unterschichtfamilien immer einem solchen Maß an benachteiligenden Sozialisationsbedingungen ausgesetzt sind, aus denen zwangsläufig Entwicklungsverzögerungen bzw. später Lernbehinderungen resultieren, ist inzwischen obsolet geworden (vgl. Schröder, 2000). Dennoch ist anzunehmen, „dass mit der Zugehörigkeit zur unteren Unterschicht offenbar Bedingungen verbunden sind ... die den Schulerfolg der Kinder stark gefährden, bei ungünstigem Verlauf und Zusammenwirken mit anderen Faktoren bis hin zum Ausmaß der Lernbehinderung“ (Schröder, 2000, S. 144). Aber erst ein bestimmter Ausprägungsgrad benachteiligender Bedingungen führt zu defizitären Sozialisationsbedingungen mit nachfolgendem Schulleistungsversagen. In den neueren Untersuchungen zu sozialen Lebensbedingungen lernbehinderter Schüler wird die breite Kritik an Schichtenmodellen und schichtenspezifischer Sozialisationsforschung berücksichtigt, indem neben den klassischen schichtenspezifischen (berufsbedingten) weitere Dimensionen sozialer Ungleichheit als unabhängige Variablen zur Erklärung von Sozialisationsunterschieden einbezogen werden. In Anlehnung sowohl an Weiterentwicklungen der Sozialstrukturanalyse (Modelle der sozialen Lage, vgl. Hradil, 1987, 2001) als auch an die sozialökologische Sozialisationsforschung (z. B. Bronfenbrenner, 1976) werden nunmehr wohlfahrtsstaatliche Dimensionen wie Wohn-, Umwelt- und Freizeitbedingungen sowie personale Merkmale wie Geschlecht, Alter, Familienverhältnisse, Nationalität (vgl. Hradil, 1987, S. 28 ff.) mit berücksichtigt. Insgesamt allerdings ist eine Stagnation der sonderpädagogischen Forschung zu konstatieren, die empirische Forschungslage zum sozialen Hintergrund lernbehinderter Schüler ist derzeit als außerordentlich mangelhaft einzuschätzen. So hält es Wocken (2000) für ein „aus lernbehindertenpädagogischer Sicht [...] schwerwiegendes Desiderat“ (S. 493), dass

108

| Teil II: Theoretische Ansätze Tabelle 1: Stand der sonderpädagogischen Forschung – Übersicht Untersuchung und Hauptergebnisse Gerda Siepmann, Universität Potsdam 1996/97

Belastungsfaktoren lernbehinderter Schüler/innen im Land Brandenburg N = 1.382 Schüler, 1.344 Eltern, 175 Lehrer (Brandenburg) – niedriger beruflicher Status der Eltern – hohe Arbeitslosenquote der Eltern ( 24,3 %, 47,7 %) – Hinweise auf erschwerte Sozialisationsbedingungen  ein Großteil der lernbehinderten Schüler ist mit erschwerten Lebens- und Lernbedingungen konfrontiert

Gerhard Klein PH Ludwigsburg 1997 (in Anlehnung an eine Untersuchung aus dem Jahre 1969)

Sozialer Hintergrund und Schullaufbahn lernbehinderter Schüler N =1.104 Schüler/innen (Baden-Württemberg) – drastische Erhöhung der Anzahl von ausländischen Schülern (Anteil ggw. 48,5 %) – im Vergleich zu dt. Mitschülern deutlich schlechtere soziale Lage – hohe Arbeitslosenquote der Eltern (dt. und nichtdt. 16,3 %)  allgemeine Entwicklungsrückstände und Lernprobleme erscheinen als Folgen und Symptome deprivierender Lebensbedingungen

Hans Wocken Universität Hamburg 1999 (im Vergleich zu Hauptschülern-HS)

Leistung, Intelligenz und Soziallage von Schülern mit Lernbehinderungen N = 513 Schüler/innen (Hamburg) – hohe Arbeitslosenquote der Eltern ( 23 %, 33 %) – niedrigerer Schul- und Ausbildungsstatus (i. Vergl. zu HS-Eltern)  durchgängige soziale Differenz zu HS (Sozialstatus, Individuallage, kultureller Status)  LB weitaus eher ein soziales, denn ein kognitives Defizit











seit den 70er Jahren die sozialen, sozioökonomischen und soziokulturellen Lebensbedingungen von Schülern der Förderschule nicht mehr wissenschaftlich erhoben worden sind. In der Tat gibt es nur wenige empirische Analysen, die explizit die soziale Lage und mithin sozioökonomische und soziokulturelle Benachteiligungen lernbehinderter Schüler untersuchen (Tabelle 1). In diesen Studien fließen, wie aus der Zusammenfassung der Hauptergebnisse in Tabelle 1 ersichtlich wird, sozioökonomisch und soziokulturell benachteiligende Faktoren zusammen, ohne dass ihr Verhältnis bzw. die Art ihrer Verknüpfung, explizit thematisiert wird.

6.3

Empirische Daten zu soziokulturellen Bedingungen

Nachfolgend werden die ersten Ergebnisse einer aktuellen Untersuchung referiert, die an der Universität Würzburg durchgeführt wurde und sich derzeit in der Auswertungsphase befindet. Es handelt sich dabei um eine bundesweite Fragebogenstudie, welche die soziale Lage von Familien lernbehinderter Kinder untersucht. Im Weiteren verfolgt diese Studie das Ziel, den Zusammenhang zwischen sozioökonomischen und soziokulturellen Bedingungen zu untersuchen. Auf diese Art und Weise sollen Mechanismen der sozialen Reproduktion von Lernbehinderungen aufgedeckt werden.

Kapitel 6: Soziokulturelle Benachteiligung | 109



Im Ergebnis dieser Studie unterscheidet sich die soziale Lage der untersuchten Personengruppe hinsichtlich der sozialen Indikatoren Bildungsstand, Ausbildungsstand, Einkommen, Familienverhältnisse und Wohnsituation deutlich von der sozialen Lage der Gesamtbevölkerung. Obgleich die Lage sich, wie Vergleiche mit älteren Studien (Gehrecke, 1958, 1966; Klein, 1973) zeigen, im Zuge der allgemeinen Wohlstandsentwicklung deutlich positiv verändert hat, ist sie wesentlich ungünstiger und auch unter derzeitigen gesellschaftlichen Bedingungen unbedingt als benachteiligend einzuschätzen. Am Beispiel der Einkommensarmut sei dies hier veranschaulicht. Um das Einkommen verschiedener Haushaltstypen vergleichen zu können, wurde das sog. Nettoäquivalenzeinkommen verwendet. Das zum Vergleich dienende Äquivalenzeinkommen der Gesamtbevölkerung wurde dem Datenreport (2002) entnommen, daher liegt für die Gewichtung die dort genutzte alte OECD-Skala zugrunde. Im Bereich der EU gilt als relative Einkommensgrenze die 50%-Schwelle. Das heißt, Haushalte, die lediglich über 50 % des durchschnittlich gewichteten Haushaltsnettoeinkommens des jeweiligen Landes verfügen, gelten als arm. Als strenge Armut gelten 40 %, als prekärer Wohlstand 75 % (vgl. Statistisches Bundesamt, 2002, S. 585). Das Konzept der relativen Einkommensarmut bietet den Vorteil, dass es immer im Bezug zur allgemeinen Wohlstandsentwicklung bleibt: Steigt der gesellschaftliche Reichtum, bewegt sich auch die Armutsgrenze nach oben (vgl. AWO, 2000). Zum Vergleich wurden die durchschnittlichen monatlichen Äquivalenzeinkommen (nominal) der privaten Haushalte in Deutschland herangezogen, die im Datenreport (Statistisches Bundesamt, 2002, S. 582, für das Jahr 2000) für Gesamtdeutschland mit 1.109 e, für die alten Bundesländer mit 1.149 e und für die neuen Bundesländer mit 939 e angegeben werden. Das Ausmaß von Armut stellt sich in der Untersuchungsgruppe folgendermaßen dar (Tabelle 2): Tabelle 2: Einkommensarmut in der Untersuchungsgruppe (UG) im Vergleich (Statistisches Bundesamt 2002, 582 ff.) Deutschland gesamt

Alte Bundesländer

Neue Bundesländer

MZ

UG

MZ

UG

MZ

UG

0–50 % – Relat. Armut

  9,1

70,7

9,7

71,9

 5,8

69,7

50–75 % – Prek. Wohlst.

25,1

19,2

25,8

18,5

21,6

19,8

75–125 % – Mittl. Eink.

43,6

9,8

41,4

9,3

51,6

10,2

> 125 % – Wohlstand

22,2

  0,3

23,2

0,2

21,0

  0,3

Die Verteilung der Armutsquoten zeigt, dass mehr als zwei Drittel (70,7 %) der Haushalte dieser Untersuchungsgruppe weniger als die Hälfte des durchschnittlichen Nettoeinkommens zur Verfügung steht. Weitere 19,2 % leben unter der 75%-Grenze. Das heißt, fast 90 % der Familien dieser Gruppe leben im Niedrigeinkommensbereich. Im Vergleich zur Gesamtbevölkerung (Mikrozensus – MZ) zeigt sich für Gesamtdeutschland auch unter Berücksichtigung der Ost-West-Problematik deutlich, dass die

110

| Teil II: Theoretische Ansätze Untersuchungsgruppe sehr viel stärker von Armut und Niedrigeinkommen betroffen ist als die Gesamtbevölkerung (siehe dazu auch Koch, 2004). Dies bekräftigt die Ergebnisse der in Tabelle 1 referierten Untersuchungen. Neben den belegten sozioökonomischen Benachteiligungen gibt es ebenfalls Hinweise auf erschwerte Sozialisationsbedingungen. Der Zugang zu Bildungseinrichtungen sowie der Erfolg, mit dem sie absolviert werden, hängen eng mit der Teilhabe der Heranwachsenden an der herrschenden Kultur zusammen. Mittels des kulturellen Kapitals der Eltern (in Form von Humankapital und kultureller Praxis) werden dem Heranwachsenden im Prozess der Sozialisation Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsschemata, mithin also Werteorientierungen und Einstellungen, vermittelt (Bourdieu, 1982). Die durch die Kapitalausstattung des Elternhauses festgelegten Ressourcen und Restriktionen, inkorporiert das Individuum und überträgt sie nun – gleichsam als ein modellhaft angeeignetes Muster – auf die unterschiedlichen Bereiche. Das System von Regeln, das zur Ausbildung spezifischer Denk-, Wahrnehmungs- und Bewertungsmuster der Menschen führt, bezeichnet Bourdieu als Habitus. Auf der Prämisse der Bourdieuschen Habitustheorie ist soziokulturell benachteiligt, wer wenig kulturelles Kapital vermittelt bekommt. Die Schule als Institution verlangt, soll sie erfolgreich absolviert werden, einen spezifischen Habitus. Beispielhaft hier ist das Interesse am Lesen, welches Kindern die Aneignung weiterer Kulturgüter ermöglicht und damit eine Schlüsselstellung in der Vermittlung kulturellen Kapitals einnimmt (Baumert & Schümer, 2001, S. 330). Dieses wird z. B. im Rahmen gemeinsamer Aktivitäten sowie durch das elterliche Vorbild vermittelt. Gelingt es den Eltern nicht, dieses Interesse innerhalb des Prozesses der Sozialisation zu vermitteln, ist das Kind in der Schule soziokulturell benachteiligt. Es ist also die „kulturelle Praxis“ in

0

10

20

30

40

50

60

70

80

90

fernsehen N = 1850 Bücher lesen N = 1793 Ausflüge N = 1803 Computer spielen N = 1729 Sport treiben N = 1739 Musik machen N = 1733 Bücherei N = 1733 Kino N = 1787 ins Theater gehen N = 1701

mehr als 1x im Monat

mehrmals im Jahr

Abbildung 1: Maß und Qualität der Eltern-Kind-Aktivitäten

nie

in % 100

Kapitel 6: Soziokulturelle Benachteiligung | 111



der Familie, die bestimmte Habitusformen hervorbringt, welche wiederum dafür sorgen, dass der Heranwachsende an der herrschenden Kultur mehr oder weniger teilhaben kann. Zu dieser kulturellen Praxis gehört, neben dem Besitz an Kulturgütern (z. B. Büchern), die Teilhabe an (sozial hoch bewerteten) Formen der Kultur (z. B. Theaterbesuche). In Abbildung 1 wird ersichtlich, in welchem Maß die untersuchte Personengruppe bestimmte Aktivitäten mit ihren Kindern durchführt. Dabei wird deutlich, dass es genau die gesellschaftlich höher bewerteten Formen der Kultur sind (z. B. Musik machen, ins Theater gehen), an denen die lernbehinderten Schüler in ihren Elternhäusern eher selten oder in vielen Fällen nie teilhaben können. Hingewiesen sei an dieser Stelle auf die Problematik der „bildungsbürgerlichen“ Norm, wie sie sich in der Höherbewertung von (etwa) Theaterbesuch im Gegensatz zu gemeinsamem Fernsehen ausdrückt. Sie sollte bei den Betrachtungen mit reflektiert werden (vgl. Schröder, 2000). In dieser Untersuchung zeigt sich allerdings gleichzeitig deutlich, dass es sich in der Hauptsache um außerhäusliche Aktivitäten handelt, die seltener unternommen werden, was auf einen insgesamt kleineren Aktions- und Interaktionsradius dieser Familien hindeutet. Ein wesentlicher Faktor für den Schulerfolg ist weiterhin das Bildungsklima im Elternhaus. Es wird hier durch Teilhabe der Eltern am schulischen Leben der Kinder (Bildungsaspiration) und die Anzahl der Bücher (als für die Kinder frei verfügbare Kultur- und Bildungsträger) im Haushalt charakterisiert. Beinahe ein Fünftel aller Eltern sprechen nicht regelmäßig mit den Lehrern und/oder nehmen nicht regelmäßig an Elternabenden teil – in diesen Elternhäusern herrscht offenbar ein relativ geringes Interesse an den schulischen Belangen des Kindes. Auch die insgesamt relativ und in immerhin 37 % der Familien sehr geringe Anzahl von Büchern (bis 20) weist auf ein ungünstiges Bildungsklima hin. Wie oben herausgestellt, erweisen sich im Sozialisationsprozess elterliche Wertevorstellungen als besonders folgenreich. Aufgrund ihrer Bedeutung für die Strukturierung der Grundpersönlichkeit des gesellschaftlichen Nachwuchses ist die Analyse der dem familiären Sozialisationsgeschehen zugrunde liegenden Werte und Normen von zentraler Relevanz. Aus der soziologischen Perspektive sind Erziehungsziele die im Bewusstsein repräsentierten Konzeptionen des Erstrebenswerten. In jedem Erziehungsziel manifestieren sich bestimmte Lebensgrundeinstellungen und Werteüberzeugungen. Erziehungsziel ist ein meist verbal geäußertes präskriptives Urteil hinsichtlich des eigenen Verhaltens in

regelmäßig mit dem Lehrer sprechen

regelmäßig an Elternabenden teilnehmen 15,95

19,46 trifft (eher) zu trifft (eher) nicht zu 80,54

Abbildung 2: Teilhabe der Eltern am schulischen Leben der Kinder

84,05

112

| Teil II: Theoretische Ansätze in % 0

10

20

30

40

50

keine 1–5 5–10 10–20 20–50 mehr

Abbildung 3: Anzahl der Bücher im Elternhaus

Bezug auf Verhaltensweisen eines bestimmten Kindes (vgl. Filipp & Schneewind, 1974). Im Unterschied dazu sind Erziehungsstile alle Handlungen der Eltern, mit denen sie ihre Verhaltenserwartungen den Kindern gegenüber verbindlich zu machen versuchen. Bei diesen Erziehungspraktiken handelt es sich um auf das Kind bezogenen Verhaltensweisen oder -tendenzen von Eltern in erziehungsrelevanten Situationen (Weber, 1986, S. 33). Erziehungsziele und -stile der untersuchten Personengruppe werden in den Abbildungen 4 und 5 sichtbar. Diese Ergebnisse zeugen davon, dass sich der in der Gesamtbevölkerung dokumentierte „Wertewandel“ (Peez, 2001, S. 68) auch in dieser Personengruppe, wenn auch weniger deutlich, vollzogen hat: Während die älteren Untersuchungen noch von Pflichtund Akzeptanzwerten (wie z. B. Fleiß, gute Umgangsformen) und stark autoritären Praktiken (z. B. Verbote, Bestrafungen) berichten, stellen sich die o. g.. Resultate eher stark gemischt dar: So sind die am häufigsten genannten Ziele (Abb. 4) Ehrlichkeit, Verantwortungsbewusstsein und Selbstvertrauen, aber beinahe ebenso oft werden wieder konventionelle Ziele wie Höflichkeit und Fleiß genannt. Ähnlich gemischt zeigen sich die Stile der Erziehung von demokratisch (Diskussion) bis autoritär (schimpfen, Verbote, Hausarrest). Dabei unterscheiden sich die Erziehungsstile stark nach dem Bildungsniveau der Eltern: mit steigender Schulbildung werden die Praktiken weniger autoritär. Bei den Erziehungszielen kann dies nicht nachgewiesen werden. Diese bisher referierten Ergebnisse erweisen sich insbesondere folgenreich im Hinblick auf die in diesem Kapitel genannten Postulate bezüglich einer differenzierteren Betrachtung der Sozialisationsbedingungen und ihrer Zusammenhänge mit den objektiven, d. h. berufsbedingten Voraussetzungen der Elternhäuser. Wenn die berufsbedingten Dimensionen in einem engen Zusammenhang mit den Werten und Einstellungen, mithin der soziokulturellen Dimension stehen würden, müssten

Kapitel 6: Soziokulturelle Benachteiligung | 113



in % 0

10

20

30

40

50

60

70

80

ehrlich Selbstvertrauen Verantwortungsbewusstein höflich selbstständig Schulleistungen Durchsetzungsfähigkeit Fleiß Verständnis Kritikfähigkeit wichtig

nicht wichtig

Abbildung 4: Erziehungsziele der Eltern

0

10

20

30

40

50

60

Diskussion Unzufriedenheit zeigen schimpfen überreden Verbote Hausarrest abwarten (eher) oft

Abbildung 5: Erziehungsstile der Eltern

(eher) nie

70

80

90

in % 100

114

| Teil II: Theoretische Ansätze sich die sozialstrukturellen Gruppierungen hinsichtlich ihrer kulturellen Orientierung sichtbar voneinander diskriminieren. In einer ersten Analyse wurde daher untersucht, ob sich die aus ökonomischen Dimensionen gebildeten Gruppierungen hinsichtlich der oben referierten Sozialisationskomponenten unterscheiden. Nach einem Schichtenmodell von Helmert (Mielck, 2000), welches aus einem additiven Indexwert aus Bildung, Stellung im Beruf und Einkommen gebildet wird, stellt sich die Schichtenzugehörigkeit der Untersuchungsgruppe folgendermaßen dar: Untere Schicht 46,3 %; Untere Mittelschicht 24,8 %; Mittlere Mittelschicht 16,4 %; Obere Mittelschicht 9,7 %; Obere Schicht 2,8 %. Sie unterscheiden sich weder hinsichtlich der gemeinsamen Aktivitäten, noch hinsichtlich des Bildungsklimas und der Erziehungsvariablen signifikant voneinander. Als Alternative zu den Schichten wurden nun Cluster gebildet, in die (in Anlehnung an Schwenck, 1999) nicht nur Bildung und Einkommen, sondern auch Wohnbedingungen, materielle Ausstattung des Haushaltes und Arbeitszufriedenheit mit eingingen. Durch die Clusteranalyse entstanden 5 klar voneinander unterscheidbare soziale Lagen mit eindeutig vorteilhaften bzw. nachteiligen Lebensbedingungen. In einer weiteren Analyse zeigte sich, dass diese sozialen Lagen sich in allen untersuchten Sozialisationsvariablen signifikant voneinander unterscheiden! An diesem Ergebnis ändert sich auch durch eine Reduktion der Erziehungsvariablen per Faktorenanalyse nichts.

6.4 Zusammenfassung Zusammenfassend verdeutlichen die Ausführungen sowie die referierten Ergebnisse, dass es sich bei der lernbehinderten Schülen um eine Gruppe handelt, die zum Großteil unter sehr prekären sozioökonomischen Lebensbedingungen aufwächst. Im Zusammenwirken mit weiteren Faktoren können sich aus der Stellung der Familie innerhalb der Sozialstruktur Sozialisationsbedingungen ergeben, die zu soziokulturellen Benachteiligungen in der Institution Schule und mithin zu einer Gefährdung des Schulerfolgs und – bei ungünstigem Verlauf und Wirken weiterer Faktoren – bis hin zu Lernbeeinträchtigungen (bzw. einer Lernbehinderung i. S. der Schulzugehörigkeit) führen. Festzuhalten bleibt ferner, dass die hinsichtlich der Reproduktion von Lernbehinderung aufgezeigten Forschungsdesiderate hinsichtlich objektiver Belege für die Lebenssituation dieser Personengruppe sowie deren (systematische) Benachteiligung Thema für das Fachgebiet bleiben müssen.

Literatur Bach, H. (1973). Unterrichtslehre L. Allgemeine Unterrichtslehre der Sonderschule für Lernbehinderte. Berlin: Mahrhold. Baumert, J. & Schümer, G. (2001): Familiäre Lebensverhältnisse, Bildungsbeteiligung und Kompetenzerwerb. In Deutsches PISA-Konsortium (Hrsg.), PISA 2000. Basiskompetenzen von Schülerinnen und Schülern im internationalen Vergleich (S. 323-410). Opladen: Leske und Budrich. Begemann, E. (1968). Die Bildungsfähigkeit der Hilfsschüler. Berlin-Charlottenburg: Marhold. Begemann, E. (1970). Die Erziehung der soziokulturell benachteiligten Schüler. Berlin: Schroedel.



Kapitel 6: Soziokulturelle Benachteiligung | 115

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7 Das lern- und entwicklungstheoretische Paradigma Werner Nestle Lernen und Lernbehinderung unter der Perspektive der Lern- und Entwicklungstheorien zu betrachten, kann für Unterrichts- und Förderkonzepte sehr produktiv sein (vgl. dazu z. B. Kautter, Klein, Laupheimer & Wiegand, 1988; Wember, 1986, 1988; Scherer, 1995). Lernund Entwicklungstheorien sind auch wichtige Inhalte der Lehreraus- und Lehrerfortbildung. Um zu verhindern, dass diese Inhalte dogmatisch gelehrt und in der Praxis unreflektiert angewandt werden, sind deren erkenntnistheoretische Grundlagen und deren Wirkungen zu reflektieren. In diesem Beitrag wird an Piagets Theorie der kognitiven Entwicklung und an der Lerntheorie des Konstruktivismus beispielhaft diskutiert, ob die Ansprüche von Theorien einer subjekt- und sachorientierten Lernkultur entsprechen. Aus Platzgründen können keine weiteren Lern- und Entwicklungstheorien berücksichtigt werden. Die Lerntheorie des Konstruktivismus wird auch von der Allgemeinen Pädagogik und von der Sonderpädagogik rezipiert. In dieser Lerntheorie werden Anliegen vertreten, die schon von Reformpädagogen vorgebracht wurden. Aber in der radikalen Ausprägung scheint der Konstruktivismus als Lerntheorie nicht geeignet zu sein, vor allem, weil das lernende Subjekt darin eliminiert wird. Der Konstruktivismus (vgl. Werning in diesem Band) hat auch Wurzeln in Piagets Theorie der kognitiven Entwicklung. In diesem Beitrag wird auf einige Gemeinsamkeiten dieser Theorien und auf Konsequenzen für das lernende Subjekt aufmerksam gemacht.

7.1 Das entwicklungstheoretische Paradigma Nach Piaget wird die kognitive Entwicklung vom Subjekt selbst gesteuert und eigenständig konstruiert. Die Entwicklung verläuft nach Piaget für alle Menschen nach denselben Phasen ab. Piaget konstruiert die geistige Entwicklung als Abfolge von Stadien (Piaget, 2003, S. 63-71; Montada, 2002, S. 418 ff.). – Stadium der sensorischen Entwicklung (0–2 Jahre), – Stadium des voroperatorischen, anschaulichen Denkens (2–7 Jahre), – Stadium der konkret operatorischen Strukturen (7–12 Jahre), – Stadium des formal-operatorischen Denkens (ab 12 Jahren). Diese Stadien betrachtet Piaget als notwenige Schritte in der geistigen Entwicklung, weil in den höheren Stadien die Elemente der vorausgegangenen Stadien enthalten sind. Durch explizite Lernprozesse kann der Durchlauf durch diese Stadien nach Piaget kaum beschleunigt werden, auch nicht durch Training der Konstanzbegriffe, der Messoperationen, der Proportionalitäten und anderer geistiger Operationen (Piaget, 2003, S. 75-83). Die geistige Entwicklung vom Stadium der sensorischen Entwicklung zum Stadium des formal-operativen Denkens ist nach Piaget nicht möglich durch empirisches Lernen (Wahrnehmung, Reiz-Reaktion). Geistige Entwicklung ist an konstruktivistisches Handeln gebunden, das von einer inneren „Entfaltungslogik“ (Montada, 2002, S. 440) geprägt

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| Teil II: Theoretische Ansätze ist. Weshalb Kinder in ihrer geistigen Entwicklung die verschiedenen Stadien durchlaufen, erklärt Piaget mit dem Konzept der „Äquilibration“: Ein Kind kann z. B. beim Umfüllen von Flüssigkeiten aus einem breiten Glas in ein schmales Glas Widersprüche erfahren: Ist jetzt mehr Wasser im schmalen Glas, weil der Wasserstand höher liegt oder ist weniger Wasser im Glas, weil das Glas schmaler ist? Das Kind sucht eine Lösung des Widerspruchs und baut dabei seine Denkstrukturen weiter aus, um ein „Gleichgewicht“ zu finden. Durch explizite, zielorientierte Lernprozesse können die geistigen Operationen aber nicht ausgebildet werden.

7.2 Inhaltsneutralität der Strukturen Piaget bemerkte, dass Kinder nicht immer stadientypische Operationen auf andere Inhalte übertragen können. Wenn Kinder z. B. die Proportionalität bei den Größen Gewicht und Geldwert erkennen, gelingt es ihnen trotzdem nicht, diese Struktur auf die Größen Zeit und Weg zu transferieren. Der horizontale Transfer der kognitiven Operation gelingt den Kindern nicht immer. Piaget untersuchte diese „Verschiebungen“ aber nicht weiter (Montada, 2002, S. 441). Auf den Unterricht bezogen bedeuten diese Verschiebungen, dass z. B. das Konzept der Proportionalität bei jeder mathematischen Größe gelernt werden muss. Daraus kann abgeleitet werden, dass ein spezifisches Training zu Proportionalität und anderen Denkstrukturen nicht automatisch auf andere Größen transferiert werden kann. „Will man auch den horizontalen Lerntransfer optimieren, das heißt, will man die Nutzung des Gelernten in neuen Anwendungs-, Lern- und Problemsituationen gewährleisten, so bedarf es ergänzend der situierten Verankerung des Lernens durch Einbettung in lebensnahe komplexe Lerngelegenheiten“ (Weinert, 2001, S. 127). Auch beim Schriftspracherwerb ist das operatorische Niveau „jeweils spezifisch für jeden Lerngegenstand zu ermitteln“ (Valtin, 1996, S. 175). Das inhaltsneutrale Training kognitiver Strukturen ist ohne große Wirkung: „Die Hoffnungen auf generelle Wirksamkeit psychologischer Programme zur Intelligenz- und Denkförderung, zur Gedächtnisschulung, zum Lernen des Lernens und zur Motivationssteigerung haben sich nicht erfüllt ...“ (Weinert, 2001, S. 130). Ein neuer Schwerpunkt in der Entwicklungspsychologie ist die Erforschung des kindlichen Wissens über elementare biologische und physikalische Inhaltsbereiche. Auch Sodian (2002) macht darauf aufmerksam, dass sich „die wichtigsten traditionellen Annahmen über bereichs-übergreifende, globale Veränderungen im kindlichen Denken“ als nicht haltbar erwiesen haben (S. 448). Deshalb wird jetzt auch über das begriffliche Wissen zu elementaren Inhaltsbereichen der Biologie und der Physik geforscht. Dieses Wissen wird als mögliche Ursache kognitiver Veränderung und Entwicklung beim Kinde gesehen.

7.3 Statt linearer Entwicklungslogik: Entwicklung als Evolution Theorien über die Entwicklung der Kinder beinhalten immer auch anthropologische Vorstellungen über Kinder. Werden diese Vorstellungen nicht als Konstrukte gesehen



Kapitel 7: Das lern- und entwicklungstheoretische Paradigma | 119

und deshalb nicht relativiert, können sie eine alternative Wahrnehmung der Kinder und Jugendlichen erschweren bzw. verhindern. In linearen Entwicklungstheorien, die Einzelfunktionen isolieren, wird nicht beachtet, dass Kinder und Jugendliche im Alltag nicht nach funktionalen Spezialisierungen handeln. Kinder und Jugendliche befinden sich immer schon in einer bedeutungsvollen Welt und handeln als Subjekte, die ihre Denkmuster, Gefühle und körperlichen Aktivitäten je nach situativen Herausforderungen aufeinander abstimmen und zueinander in Beziehung setzen (Schäfer, 1997, S. 377-394). Dieses Zusammenspiel wird in funktionalen Entwicklungsmodellen der linearen Entfaltungslogik nicht beachtet. Die Wahrnehmung der kindlichen Handlungsmöglichkeiten wird dadurch beeinträchtigt. „Deshalb erscheint es sinnvoll, Entwicklung nicht als einen linearen Prozeß von funktionalen Entwicklungen aus einfachen Anfängen zu mehr oder weniger ausgearbeiteten Einzelzuständen zu betrachten“ (Schäfer, 1999, S. 194). Entwicklung ist vielmehr als Prozess zu verstehen, „durch den aus gegebenen einfachen Gesamtstrukturen des Psychischen in der Interaktion mit mehr oder weniger komplexen Umweltstrukturen individuell neue Strukturen entstehen“ (Schäfer, 1999, S. 194). Nach diesem Verständnis evolviert und verzweigt sich z. B. das Zahl-, Zeit- und Raumverständnis bei Kindern und Jugendlichen in den komplexen Situationen alltäglicher Beanspruchung und zeigt sich in unterschiedlichen Perspektiven: die Zahl nicht nur als Ordinal- und Kardinalzahl, sondern auch als Zahl eines Größenbereichs, die Zeit nicht nur als physikalische Zeit, sondern auch als zyklische und erlebte Zeit, der Raum nicht nur als geometrischer Raum, sondern auch als subjektiver Raum mit spezifischen Handlungsmöglichkeiten. Beim Verständnis der Entwicklung als Prozess, der evolutionär und situativ bestimmt ist, bekommt die Umwelt eine konstitutive Rolle: Aus dem Unterricht und aus der Umwelt des Kindes und des Jugendlichen kommen Denk-, Sprach- und Handlungsimpulse, Beispiele und Anregungen, um noch wenig differenzierte Vorstellungen zu spezifizieren. Die Kinder entwickeln Zahl-, Zeit- und Raumbegriffe und verknüpfen diese Begriffe zu Netzwerken. Die neu gebildeten Begriffe müssen sich in Schule und Alltag als tragfähig erweisen. Sie werden bestätigt oder verworfen, entwickeln sich aber in jedem Fall weiter. Diese Erfahrungen und Kenntnisse können Basis des Unterrichts sein. Erst wenn diese Voraussetzungen beim Lernen beachtet werden, lassen sich Aussagen machen über die Entwicklungs- und Lernmöglichkeiten eines Kindes. Entwicklungsmodelle nach dem Konzept isolierter und normierter Funktionsbereiche verführen eher dazu, Defizite und Grenzen in der Entwicklung festzustellen. Bei der evolutionären Sicht der Entwicklung kommen nach Schäfer (1997) auch soziale Rahmenbedingungen zum Vorschein: Einer Ökologie von Umwelten korrespondiert dabei eine Ökologie subjektiver Innenwelten. Verbunden werden Innen und Außen dabei durch eine Grammatik, die eher der Flexibilität von Spielprozessen entspricht als linearen Konstellationen. Regelhaftigkeit in diesen Abläufen kommt dadurch zustande, dass es eine Vielzahl von Mustern gibt, denen viele Menschen gemeinsam ausgesetzt sind. Doch da sie durch die Individuen in jeweils unterschiedlicher Weise aufgenommen und weiterverarbeitet werden, ergeben sich allenfalls vergleichbare Muster, die in einer geringeren oder größeren Breite voneinander variieren. Das Wesentliche an dieser Vorstellung von Entwicklung sind daher nicht nur Regelmäßigkeiten, sondern ebenso sehr Offenheit und individuelle

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| Teil II: Theoretische Ansätze Varianzen. Letztere können nun nicht mehr einfach als Abweichungen von einer Normallinie gedacht, sondern müssen als produktive Lösungsmöglichkeiten in diesem komplexen Spiel von Mustern erkannt werden (S. 386 f.). Die allgemeinen Grundstrukturen der Entwicklung z. B. des Raum- und Zeitbewusstseins und der Zahlbegriffsbildung werden von den Kindern in Abhängigkeit von deren soziokulturellem Umfeld inhaltlich anders geprägt, weil sie zunächst die familien- und schichtspezifischen Gebrauchsformen z. B. des Geldes, der Zeitmessung, der Verkehrsmittel und anderer alltäglicher Handlungen lernen und ebenso spezifische Erlebnisweisen der Zeit und der Lebensräume realisieren (Nestle, 2002, S. 32-35). Daraus folgt, die Lernprozesse der Kinder an die Alltagserfahrungen zu knüpfen. Im Rahmen eines Unterrichts über Zeit und Zeitmessung äußerten sich Kinder folgendermaßen über die Zeit: „Mit der Uhr, Sekundenuhr, Stoppuhr kann man abmessen, wie lange man braucht.“ „Mit der Zeit kommt Neues, Altes geht.“ „Es gibt viel Zeit, aber auch wenig Zeit.“ „Die Zeit ist ein Geschenk.“ „Jede Sekunde, jede Minute ist kostbar für uns“ (Nestle, 2000, S. 54, 56). Die Kinder zeigten in ihren Äußerungen einen pragmatischen Umgang mit der Zeit und deuteten die Zeit auch existentiell. Schon aus diesen wenigen Aussagen kann geschlossen werden, dass sich bei Kindern ein breites Spektrum von Zeitperspektiven und Zeitvorstellungen entwickelt. Dieser Vielfalt kindlicher Zeitvorstellungen stehen lineare Entwicklungstheorien gegenüber, die bei Kindern nur die Entwicklung des homogenen, metrischen Zeitschemas erforschen. Es handelt sich um das physikalische Zeitverständnis Newtons, das Piaget bei Kindern untersuchte. Bei Piaget ist Zeit im physikalischen wie im psychischen Bereich lediglich „die Koordination der Bewegungen“, bei der eine Synthese aus der operativen Reihenbildung und der Klasseninklusion vorausgesetzt wird (Piaget, 1955, S. 14, 160, 346, 361, 389). Piaget deutet die Entwicklung der Begriffe vom Endstadium aus rückwärts. Wahrgenommen wird dabei nur, was z. B. bei der Zeit in das vorgegebene Schema des physikalischen Zeitbegriffs passt. Die Vielfalt kindlicher Denkfiguren, Zeitperspektiven, Erfahrungen und Fragen wird nicht beachtet. Deshalb sollten Kinder nicht nur nach inhaltsneutralen Entwicklungstheorien beurteilt werden, nach denen vor allem lernbehinderte Kinder eher als defizitär beschrieben werden. Dagegen werden im sozialwissenschaftlichen Diskurs Kinder und Jugendliche als kompetente Interpreten ihrer Lebensverhältnisse betrachtet; sie werden in die Forschung einbezogen und berichten über ihre Erfahrungen und Gefühle und über das Leben in ihrer Kinder- und Jugendkultur. Entwicklungsprozesse werden in Bezug auf die Auseinandersetzung des Kindes und des Jugendlichen mit seiner Lebenswelt erforscht, um seine Ontogenese zu rekonstruieren (Honig, Lange & Leu, 1999, S. 9-32). Dieses Forschungsdesign weicht stark ab von traditionellen entwicklungspsychologischen Ansätzen, in denen die Denkweise der Erwachsenen in die Kindheit zurückverfolgt wird, um dort die Anfänge des arithmetischen, räumlichen und physikalischen Denkens aufzuspüren. Kinder sollten mit Hilfe offener Interpretationsmuster verstanden werden, statt sie an der fertigen und feststellenden Erwachsenenlogik zu messen. Angesichts der pluralen Eigenwelten der Kinder ist die Anwendung universaler Werkzeuge (kognitiver Strukturen) zur Entwicklungsforschung nicht mehr plausibel. Die Konsequenz aus der Pluralisierung der Lebenswelten sind Forschungen, welche die sozialen



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und individuellen Eigenheiten der kindlichen Erfahrungswelten berücksichtigen. Vor allem im Interesse lernbehinderter Kinder und Jugendlicher sollten die individuellen Entwicklungen mehr beachtet werden. Die einheitliche kognitive Entwicklung ist lediglich ein Konstrukt und sollte als solches relativiert werden. Kann auf Piagets Theorie der kognitiven Entwicklung nicht auch Bourdieus Begriff des „Habitus“ angewandt werden? Dieser Begriff meint, dass normative und kognitive Muster einer Kultur funktionieren, weil sich die Kultur einerseits selbst ständig reproduziert und andererseits die Menschen in dieser Kultur so erzogen werden, dass sie in die vorgegebenen kulturellen Muster passen. Ergebnis dieses Wechselwirkungsprozesses ist der Habitus. „Der Habitus ist also etwas wie eine Schleife: die Kultur ist Kultur, weil sie von dem Habitus aus gesehen, erlebt wird, den sie andererseits selbst herstellt“ (Waltz, 2003, S. 345). Könnte es sein, dass Piagets kognitive Strukturen, die als universell betrachtet werden, nichts Anderes sind als der kognitive Extrakt sozialer Handlungspraktiken und Denkmuster, die ständig tradiert werden?

7.4 Das lerntheoretische Paradigma Der Konstruktivismus kann als eine Neuakzentuierung der kognitivistischen Lerntheorien betrachtet werden. Als gemeinsame Grundlage sieht von Glasersfeld Piagets Modell der Akkomodation und Assimilation (von Glasersfeld, 1997, S. 98-131). Ein Unterschied besteht darin, dass im Kognitivismus davon ausgegangen wird, Probleme seien objektiv gegeben und könnten gegenständlich, bildhaft und symbolisch repräsentiert werden. Probleme müssen demnach nur noch gelöst werden. Aber nach dem konstruktivistischen Lernkonzept müssen Probleme zuerst erfunden bzw. konstruiert werden, um sie dann zu lösen. Ein Argument der Kritik am Kognitivismus aus konstruktivistischer Perspektive ist, dass im Verzicht auf Problemgenerierung das idealistische Konzept des Subjekt-ObjektDualismus zum Ausdruck kommt, wonach sich Subjekt und Objekt gegenseitig erschließen. Die im Subjekt angelegten Bildungskräfte würden sich in der Auseinandersetzung mit der vorstrukturierten Wirklichkeit entfalten. Die Vertreter des Radikalen Konstruktivismus wollen dieses Paradigma überwinden. Sie sehen keine Möglichkeit, die Realität „objektiv“ zu beschreiben und sie im Sinne einer Abbildtheorie zu repräsentieren. „Realität“ ist vielmehr ein Konstrukt des Menschen. Sprache, Bilder, Theorien und Begriffe repräsentieren nicht „die Welt der Dinge,“ sondern menschliches Handeln und Denken. Jeder Lernprozess baut auf früheren Lernprozessen auf. Vorwissen ist die Voraussetzung für neues Wissen; dieses wird in bereits vorhandene Strukturen integriert (Siebert, 1999, S. 16). Dieser Vorgang wird neurobiologisch begründet: „Neurowissenschaftlich lassen sich erlernte Wissensbestände als neuronale Netzwerke beschreiben. Lernen stärkt die Synapsen, Verlernen schwächt die Verbindungen zwischen den Nervenzellen“ (Siebert, 1999, S. 17). Strukturveränderung bedeutet: Veränderung der Wahrnehmungs- und Deutungsmuster, der Wirklichkeitskonstruktion und der Problemlösestrategien. Auf den schulischen Lernprozess bezogen heißt das: Durch Lernarrangements (z. B. Gespräche, Medien und Materialien) können die Schülerinnen und Schüler angeregt

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| Teil II: Theoretische Ansätze werden, ihre Vorstellungen und Wissensbestände umzustrukturieren, um ihre Handlungsmöglichkeiten zu erweitern. Dies kann gelingen durch Wahrnehmung von Differenzen im Lernarrangement: neue Perspektiven, andere Fragen und Beobachtungen, Kommunikation mit anderen Menschen. Durch diese Differenzerfahrungen wird das Lernen in Gang gesetzt. Dieser Vorgang wird als „Perturbation“ bezeichnet (Siebert, 1999, S. 200). Aber durch Perturbation im Lernarrangement werden lernende Subjekte nicht zu eindeutigen Reaktionen veranlasst. Es kann im Lernarrangement nicht gelingen, durch bestimmte Reize beabsichtigte Reaktionen hervorzubringen oder durch Probleme erwartete Lösungen zu veranlassen. „Lernende Systeme können von der Umwelt nicht determiniert, wohl aber perturbiert werden“ (Siebert, 1999, S. 38), das heißt, sie können zu Reaktionen und Problemlösungen nur angeregt werden. Diese Anregungen und Beobachtungen treffen auf das Nervensystem. Es ist „selbstreferentiell“, das heißt, es beobachtet und registriert nur die Zustände des eigenen Systems. Was neu, wichtig oder interessant ist, gilt immer nur für den betreffenden Menschen im Verhältnis zu seinem eigenen Wissen. Nur was in die bereits vorhandenen emotionalen und kognitiven Strukturen passt, wird assimiliert. Dieser Vorgang wird auch als „Strukturdeterminiertheit“ diskutiert (Siebert, 1999, S. 201). „Als strukturdeterminierte Wesen hören wir, was wir hören – nicht, was andere sagen“ (Maturana, 1996, S. 236). Das strukturdeterminierte Nervensystem wird als „Autopoiesis“ gedacht, als ein sich selbst entwickelndes und sich selbst erhaltendes System. Der Begriff „Autopoiesis“ wurde von Maturana und Varela (1987) im Kontext biologischer Systeme verwendet und bezieht sich dort auf die Überlebenschancen von Lebewesen. Von Glasersfeld übertrug den Begriff auf psychische und kognitive Systeme. Auch dort gilt, dass sich Systeme selbst erzeugen, erhalten und organisieren. Diese Systeme sind autonom, das heißt sie sind befähigt, eigene Gesetzmäßigkeiten des Aufbaus und der Funktion zu entwickeln. Mit dem Begriff „Viabilität“ wird im Radikalen Konstruktivismus die Brauchbarkeit und Nützlichkeit des assimilierten Wissens bezeichnet. Das lernende Subjekt entscheidet, ob und in wie fern das Gelernte „lebensdienlich“ (passend, brauchbar, funktional) für ihn selbst ist. „Handlungen, Begriffe und begriffliche Operationen sind dann viabel, wenn sie zu den Zwecken oder Beschreibungen passen, für die wir sie benutzen. Nach konstruktivistischer Denkweise ersetzt der Begriff der Viabilität im Bereich der Erfahrung den traditionellen Wahrheitsbegriff, der eine ‚korrekte‘ Abbildung der Realität bestimmt“ (von Glasersfeld, 1997, S. 43). Aus den Postulaten des Radikalen Konstruktivismus lassen sich die im Folgenden dargestellten kritischen Anmerkungen ableiten.

7.5 Selbstreferenz (Autopoiesis) Einerseits steht im Radikalen Konstruktivismus das Subjekt im Mittelpunkt: Das Lernen soll sich am einzelnen Subjekt orientieren. Aber das Subjekt wird nicht näher bestimmt. Die Frage lautet, wer konstruiert das Wissen? Im Radikalen Konstruktivismus ist es das Gehirn und nicht das Subjekt, dem konstruktive Tätigkeit zugeschrieben wird: „Es gibt kein Ich, das die Welt konstruiert . . . sondern es existieren nur Konstrukte von Gehirnen. Wir selbst sind Konstrukte“ (Roth, persönl. Mitteilung, in Pörksen, 2001, S. 146). Mit

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dieser Aussage wird deutlich, „dass damit jegliche Selbstbestimmung dahinfällt. Wenn nicht ich als erfahrendes Subjekt der Konstrukteur bin, sondern mein Gehirn, bleibt höchstens dieses reale Gehirn dort irgendwo in der unzugänglichen Welt-an-sich als Verantwortliches für meine Wirklichkeit übrig, und auf dieses müsste absurderweise das Verantwortlichkeitspostulat angewendet werden“ (Diesbergen, 2000, S. 255). Wenn die Selbstbestimmung aber auf das Gehirn übertragen wird, entfällt auch die Möglichkeit der Selbstverantwortung. Wenn davon ausgegangen wird, dass das Gehirn ein geschlossenes System ist, das nur die eigenen Empfindungen wahrnehmen und beschreiben kann und nicht auch die äußere Realität, wird dem lernenden Subjekt die Möglichkeit genommen, bewusst und kritisch eigene Irrtümer zu suchen und durch Erfahrung und Erkenntnis diese Irrtümer zu beseitigen. Diesbergen (2000, S. 193) macht darauf aufmerksam, dass auch autopoietisches Konstruieren Voraussetzungen braucht: Konstruktionsmaterial, einen bewusst arbeitenden Konstrukteur, Regeln zum Konstruieren und Konstruktionspläne. Nach Diesbergen (2000, S. 194) lässt sich die These der Geschlossenheit des menschlichen Gehirns nicht halten, weil diese Voraussetzungen zur Selbstkonstruktion im Lernkonzept des Radikalen Konstruktivismus fehlen. Außerdem zeigen wissenschaftliche Forschungen, dass das Nervensystem nicht in sich geschlossen ist. Das Nervensystem wird von radikalen Konstruktivisten nur so interpretiert (Diesbergen, 2000, S. 219). Kritische Anmerkungen aus pädagogischer Perspektive sind: „Diese Subjektlosigkeit ... ist das Kernproblem des konstruktivistischen Lernkonzepts. Das Problem, die Entstehung von Deutungen erklären zu müssen, wird im Konstruktivismus als ontologische Setzung von Autopoiesis gelöst ... Für den Bereich begründeter menschlicher Handlungen mit seinen prinzipiell diskursfähigen Bedürfnissen und Interessen ist dieser erkenntnistheoretische Zugang wenig erhellend“ (Ludwig, 1999, S. 671). Das Lernen ohne Subjekt widerspricht den grundlegenden pädagogischen Zielsetzungen der Aufklärung, Mündigkeit und Emanzipation.

7.6 Viabilität Das Kriterium, das ich vorschlage, ist die Brauchbarkeit bzw. Viabilität. Den Begriff der Viabilität, der zu jenem der Anpassung in einer engeren Beziehung steht, habe ich aus der Evaluationstheorie übernommen; er dient dazu, im Bereich der Erfahrungswelt den klassischen philosophischen Wahrheitsbegriff zu ersetzen, der eine exakte Abbildung der Realität annimmt. Ein Organismus ist dann, so möchte ich definieren, viabel, wenn es ihm gelingt, unter den gegebenen Beschränkungen und den gegenwärtigen Umständen zu überleben. Und brauchbar oder viabel nenne ich Handlungsund Denkweisen, die an allen Hindernissen vorbei zum gewünschten Ziel führen. Allerdings ist die Feststellung, ob eine Konstruktion viabel ist, von den eigenen Werten abhängig. Sie enthält ein subjektives Moment und verlangt ein persönliches Urteil. Die Wahl der Werte, die Ethik, lässt sich nicht durch den Konstruktivismus begründen. Es handelt sich um Setzungen (von Glasersfeld, persönl. Mitteilung, in Pörksen, 2001, S. 52 f.).

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| Teil II: Theoretische Ansätze Die vom Gehirn konstruierten Denk- und Handlungskonzepte können an der Erfahrung scheitern. Das Gütekriterium für Lernkonzepte ist demnach funktional. Intersubjektiv gültige Wahrheiten innerhalb eines Handlungs- und Wissenssystems sind nicht möglich. Diese normativen Implikationen des Radikalen Konstruktivismus werden aus verschiedenen Perspektiven kritisiert. Vom radikal-konstruktivistischen Standpunkt aus machen Emanzipation und Aufklärung als Bildungsziele keinen Sinn mehr, denn wovon soll sich ein strukturdeterminiertes, selbstreferentielles System noch emanzipieren und was kann Aufklärung noch heißen, wenn sich jeder eine eigene Welt erfindet?“ (Diesbergen, 2000, S. 257). Siebert sieht diese Mängel und fordert, über das Konzept der Viabilität hinauszugehen und die Zwecke und Ziele zu verhandeln. Kriterien dafür sind Vernunft und Verantwortung. Siebert schlägt vor, folgende Begriffe „als pädagogische Leitideen komplementär zu verwenden: – den konstruktivistischen Begriff Viabilität, – den ökologischen Begriff der Nachhaltigkeit, – den aufklärerischen Begriff der Vernunft“ (Siebert, 1999, S. 49). Damit will Siebert an einem Bildungsbegriff festhalten, der kritisch und aufgeklärt ist, auch im Hinblick auf die Risiken und Widersprüche des Lebens, in dem „die modernen Vorgaben die Selbstorganisation und Selbstthematisierung der Biographie geradezu erzwingen“ (Beck, 1996, S. 42). Terhart (1999) stellt in einer kritischen Bewertung fest, dass die konstruktivistische Didaktik keine wirklich radikal neuen Formen für die Praxis des Unterrichtens anzubieten hat, sondern sich an solchen (bekannten) methodischen (!) Formen orientiert, die selbständiges Lernen, entdeckendes Lernen, praktisches Lernen, kooperatives Lernen in Gruppen sowie erfahrungs- und handlungsorientiertes Lernen fördern wollen. Die neue konstruktivistische Didaktik – eine alte Methodik? Die Inhaltlichkeit, der Sachanspruch selbst – und damit der weitere Horizont einer bildungstheoretisch zu begründenden Auswahl und Anordnung der Inhalte – kann letztlich im Rahmen auch nur halbwegs radikalen konstruktivistisch-didaktischen Denkens gar kein gravierendes Problem mehr sein, da Substanzfragen konsequent entmaterialisiert und prozessualisiert worden sind (S. 645). Das heißt, die alte Frage nach den Inhalten, den unterschiedlichen Lernformen und den Bildungszielen wird im Radikalen Konstruktivismus nicht einmal gestellt. Außerdem entfällt jede Art von intersubjektiver Bewertung von Lernergebnissen, weil es in konstruktivistischer Sicht kein intersubjektiv gültiges Wissen gibt und die Brauchbarkeit des Gelernten von der Viabilität abhängt, über die aber nur der Einzelne entscheidet. Korrekturen des eigenen Verhaltens und Denkens sind oft mit Verunsicherung, Unlust und Kränkungen verknüpft. Deshalb bleibt ungewiss, ob lernende Subjekte tiefgreifende Veränderungen und Korrekturen durchführen, wenn sie bemerken, dass ihr Wissen und Können nicht viabel ist.

7.7

Offene Fragen

Lernen nach dem Konstruktivismus kann für Kinder und Jugendliche schwieriger werden, weil sie selbst verantwortlich sind für ihr Lernen. Wie reagieren Lehrerinnen und



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Lehrer darauf? Konzentrieren sie sich auf ein optimales Lernarrangement und auf eine qualifizierte Lernbegleitung der Schüler oder bilanzieren sie Misserfolge der Schüler als deren persönliches Versagen? Was ist zu tun, wenn sich Schüler gefährden mit den selbst gelernten, aber „falschen“ Kenntnissen und Fertigkeiten? Radikalkonstruktivistische Kernideen werden popularisierend und unkritisch in vielen pädagogischen und psychologischen Beiträgen referiert. Setzt sich das Konstrukt durch, dass das Gehirn des Lerners selbstreferent sei und nur über die Viabilität Rückkoppelungen zum Lerner möglich seien, wird sich Unterricht möglicherweise radikal verändern und die Bildungschancen werden noch weiter auseinander klaffen: Lehrer werden direkte Einwirkungen auf Schüler vermeiden und möglicherweise auf Lernberatung und Überprüfung von Lernprozessen verzichten, um dem radikalen Postulat der Selbstbildung zu entsprechen. Davon profitieren in erster Linie Kinder und Jugendliche, die bereits über eine hohe Lern- und Selbstkompetenz verfügen. Aber dazu gehören Förderschüler in der Regel nicht. Die Frage, wie lernbehinderte Kinder und Jugendliche im Lernkonzept des Radikalen Konstruktivismus zur Lebenstauglichkeit erzogen werden können, bleibt offen. Bei der Forderung nach Selbstkonstruktion im schulischen Lernen wird übersehen, dass sich im Leben der Kinder und Jugendlichen folgende Polarität herausbildet: Für das schulische Lernen wird aus lernpsychologischen und reformpädagogischen Gründen immer stärker für selbstbestimmtes Lernen argumentiert. Zugleich wird aber übersehen, was sich außerschulisch entwickelt: Medien, Instanzen des Marktes und des Konsums tendieren zu eher indirekten, aber umso wirksameren Beeinflussungen und Manipulationen. Eine Schule, die sich nicht mehr bewusst als Instanz versteht, durch Aufklärung und Emanzipation den manipulierenden außerschulischen Instanzen entgegenzuwirken, gibt ihren Bildungsauftrag ab. Weinert verweist auf eine Gemeinsamkeit zwischen kognitiven Entwicklungstheorien, konstruktivistischen Lerntheorien und reformpädagogischen Konzepten: Die Ablehnung einer lehrerdominanten Instruktion, die „ein zielgerichtetes, systematisches, kumulatives Lernen gewährleisten soll ...“ (Weinert, 1996, S. 3). Er überprüft diese Forderungen anhand psychologischer Forschungsergebnisse und fragt, ob durch eine Entschulung des Lernens „die notwendige Systematik kumulativen Lernens, die sachlogische Ordnung des allgemeinen Kenntniserwerbs und die erforderliche Automatisierung vieler Routinefertigkeiten gewährleistet werden kann“ (Weinert, 1996, S. 5). Weinerts Fazit ist, dass gerade bei Lernschwierigkeiten und Störungen im Lernprozess eine kompetente Lernhilfe besonders wichtig ist (Weinert, 1996, S. 7). Lernhilfen sind oft personale Hilfen. Aber solche direkte Einflussnahme ist im konstruktivistischen Lernkonzept nicht vorgesehen.

7.8 Beispiele konstruktivistischer Lerntheorien Reich (2002) legt eine „Konstruktivistische Didaktik“ vor, in der Lernen und Lehren ohne die Postulate „Autopoiesie“ und „Viabilität“ beschrieben und begründet werden. Das Buch enthält aber keine entwicklungs- und lerntheoretische Auseinandersetzung mit den Inhalten und Medien der Bildung und Erziehung. Ein konstruktivistisches Lernkonzept enthält auch der Mehrperspektivische Unterricht (Giel, 1974; Hiller & Popp, 1994; Nestle, 1979). Ein Postulat dieses Konzepts ist, dass es

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| Teil II: Theoretische Ansätze angesichts pluraler und sich permanent verändernder gesellschaftlicher Verhältnisse keinen Sinn mehr macht, sich Lernen als kognitiv begrenzt und einer allgemeinen kognitiven Struktur folgend vorzustellen. Lernen wird in dieser konstruktivistischen Perspektive als Praxis verstanden, unter Bezug auf alltägliche Handlungen und Erfahrungen eigene Wissens- und Bedeutungsmuster zu konstruieren und mit anderen sozialen Gruppen auszuhandeln. Für dieses konstruktivistische Lernen wurden Materialien entwickelt, die von einer ontologischen Präsentation der Inhalte absehen und stattdessen die Sachen perspektivisch als durchschaubare Konstrukte präsentieren, die für unterrichtliche „Spielfelder“ zur Verfügung stehen. Verschiedene didaktische Spieltypen ermöglichen den Schülern, die Materialien in eigene Konstruktionen zu transferieren. Eine lineare, auf einzelne Fähigkeitsbereiche beschränkte Entwicklungstheorie wird für konstruktivistische Lernprozesse dysfunktional. Gefragt sind Entwicklungstheorien, die zeigen, wie sich Kinder und Jugendliche bei der Aneignung ihrer Lebenswelt entwickeln und welche sozialen Situationen sie für ihre Selbstentwicklung bevorzugen.

Literatur Beck, U. (1996). Das „eigene Leben“ in die Hand nehmen. Pädagogik, 48, 4-47. Diesbergen, C. (2000). Radikal-konstruktivistische Pädagogik als problematische Konstruktion. Eine Studie zum Radikalen Konstruktivismus und seiner Anwendung in der Pädagogik (2. Aufl.). Frankfurt a. M.: Lang. Giel, K. (1974). Perspektiven des Sachunterrichts. In K. Giel & G. Hiller (Hrsg.), Stücke zu einem mehrperspektivischen Unterricht. Aufsätze zur Konzeption 1. (S. 34-66). Stuttgart: Klett. Glasersfeld, E. von (1997). Radikaler Konstruktivismus. Ideen, Ergebnisse, Probleme. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Hiller, G. G. & Popp, W. (1994). Unterricht als produktive Irritation – oder: Zur Aktualität des Mehrperspektivischen Unterrichts. In L. Duncker & W. Popp (Hrsg.), Kind und Sache. Zur pädagogischen Grundlegung des Sachunterrichts (S. 93-115 ). München: Juventa. Honig, M.-S., Lange, A. & Leu, H. R. (1999). Eigenart und Fremdheit und das Problem der Differenz von Kindern und Erwachsenen. In M.-S. Honig, A. Lange & H. R. Leu (Hrsg.), Aus der Perspektive von Kindern? (S. 9-32 ). München: Juventa. Kautter, H., Klein, G., Laupheimer, W. & Wiegand, H.-S. (1988). Das Kind als Akteur seiner Entwicklung. Heidelberg: Schindele. Ludwig, J. (1999). Subjektperspektiven in neueren Lernbegriffen. Zeitschrift für Pädagogik, 42, 667-682. Maturana, H. R. (1996). Was ist erkennen? München: Pieper. Maturana, H. R. & Varela, F. J. (1987). Der Baum der Erkenntnis. Die biologischen Wurzeln des menschlichen Erkennens. München: Scherz. Montada, L. (2002). Die geistige Entwicklung aus der Sicht Jean Piagets. In R. Oerter & L. Montada (Hrsg.), Entwicklungspsychologie (5. Aufl., S. 418-442). Weinheim: Beltz. Nestle, W. (1979). Das Prinzip der Mehrperspektivität. In K. H. Wöhler (Hrsg.), Didaktische Prinzipien. Begründung und praktische Bedeutung (S. 85-110). München: Ehrenwirth. Nestle, W. (2000). Schwierigkeiten im Mathematikunterricht. Bericht über ein Forschungsprojekt. Reutlingen: Selbstverlag.



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8 Das systemisch-konstruktivistische Paradigma Rolf Werning Das systemisch-konstruktivistische Paradigma hat seit den 1990er Jahren verstärkt im erziehungswissenschaftlichen Bereich an Einfluss gewonnen. Dabei handelt es sich keineswegs um eine völlig neue Perspektive. Systemische und konstruktivistische Ansätze, die durchaus eine getrennte Entwicklung hatten, gibt es schon seit längerem. Die Anfänge systemischen Denkens liegen in den Arbeiten des Biologen von Bertalanffy und des Mathematikers Rapoport, die Mitte des 20. Jahrhunderts eine Gesellschaft für allgemeine Systemforschung gründeten. Aus einer interdisziplinären Orientierung heraus war es das Ziel, Strukturähnlichkeiten von Ganzheiten in unterschiedlichen Wissenschaftsdisziplinen darzustellen, um zu übergreifenden Konzepten zu gelangen (vgl. Bertalanffy & Rapoport, 1956). Eine weitere Wurzel systemischer Ansätze liegt in der in den 1940er Jahren entwickelten Kybernetik. Dabei handelt es sich um ein wissenschaftliches Programm zur Beschreibung der Regelung und Steuerung komplexerer Systeme, die die Eigenschaft besitzen, durch Rückkopplungen spezifische Gleichgewichtszustände gegenüber äußeren Einflüssen aufrecht zu erhalten. Die Anfänge der Systemtheorie und Kybernetik waren dabei noch keineswegs konstruktivistisch geprägt. Man wollte vielmehr beschreiben, wie Systeme wirklich sind, welche Eigenschaften sie haben, wie man sie kontrollieren und steuern kann (zur Entwicklung systemischer Ansätze vgl. ausführlicher Balgo, 2002, S. 75 ff.). Im psychiatrisch/psychotherapeutischen Bereich finden sich erste systemische Ansätze in den Studien der Palo Alto Gruppe über Paradoxien der Abstraktion in der Kommunikation. Besondere Beachtung fanden hier die double-bind Theorie zur Schizophrenie (vgl. Bateson, 1985, S. 353 ff.) und der Entwurf einer pragmatischen Kommunikationstheorie durch Watzlawick, Beavin und Jackson (1967). In den frühen systemischen Ansätzen stand vor allem die Frage der Konstanz von Systemen (ihre Homöostase), die Aufrechterhaltung der Systemparameter unter wechselnden Umweltbedingungen, im Mittelpunkt. In den Naturwissenschaften gab es aber interessante Forschungsergebnisse, die zeigten, dass komplexe und dynamische Systeme durchaus nicht nur homöostatische Tendenzen aufweisen, sondern unter spezifischen Bedingungen spontan neue Ordnungen entwickeln, ohne dass hierzu eine ordnende Kraft von außen eingreift (vgl. z. B. Prigogine & Stengers, 1981; Haken, 1981). Prozesse der Selbststeuerung sowie der Entwicklung von Ordnung aus Chaos wurden bei systemischen Konzepten auch in humanwissenschaftlichen Bereichen zunehmend interessanter (vgl. ausführlich Kritz, 1999). Seit den 1980er Jahren ist zudem eine konstruktivistische Wende erkennbar. Der Konstruktivismus ist eine Erkenntnis- oder Wissenstheorie, die psychologische, neurobiologische und anthropologische Bereiche umschließt. Der Grundgedanke – den von Glasersfeld (1996) bis zu den Vorsokratikern im 4. Jahrhundert vor Christus zurückführt – besteht darin, dass wir als erkennende Subjekte keinen Zugang zu einer von uns unabhängigen Wirklichkeit haben. Die Wirklichkeit, in der wir leben, ist vielmehr Prozess und Ergebnis unseres Zusammenlebens, unserer Kommunikationen und Interaktionen. Damit ist die Erfahrungs- und Lebenswelt, die abhängig ist von unseren Erfahrungs- und Erkenntnismöglichkeiten, die einzige uns zugängliche Wirklichkeit. Konstruktivistische



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Aspekte konnte man auch bisher schon in verschiedenen theoretischen Konzepten finden, die gerade in der Pädagogik bei Lernbeeinträchtigungen bis heute relevant sind. Dazu gehören u. a. der Symbolische Interaktionismus (Mead, 1973; Blumer, 1973), die damit eng verbundenen Stigma- und Labelingtheorien (vgl. Goffmann, 1967; Homfeldt, 1974; Brusten & Hurrelmann, 1973) sowie die genetische Entwicklungstheorie von Piaget. In neuerer Zeit wurden entscheidende Impulse für die Weiterentwicklung des systemisch-konstruktivistischen Paradigmas durch die Theorie der Autopoiese der Neurobiologen Maturana und Varela (vgl. Maturana, 1982; Maturana & Varela, 1987) sowie durch die Systemtheorie des Soziologen Luhmann (1993, 2002) gegeben. In Anbetracht der unterschiedlichen Facetten dieses Ansatzes kann man nicht von einer systemisch-konstruktivistischen Perspektive sprechen. Dennoch gibt es einige zentrale theoretische Grundlagen, auf denen dieses Konzept in seinen unterschiedlichen Spielarten basiert. In dem folgenden Abschnitt sollen diese Grundlagen skizziert werden, um anschließend daraus abgeleitete Überlegungen für eine Pädagogik bei Beeinträchtigungen des Lernens vorzustellen.

8.1 Grundlagen der systemisch-konstruktivistischen Perspektive Ein entscheidender Zugang zu komplexen und dynamischen Systemen ist die in den 1970er Jahren von Maturana und Varela entwickelte Theorie der Autopoiese zur Beschreibung lebender Systeme. Diese sind dadurch gekennzeichnet, dass sie operational geschlossen sind und durch ihr Operieren fortwährend ihre eigene Organisation erzeugen und erhalten: „Dennoch ist den Lebewesen eigentümlich, dass das einzige Produkt ihrer Organisation sie selbst sind, das heißt, es gibt keine Trennung zwischen Erzeuger und Erzeugnis. Das Sein und das Tun einer autopoietischen Einheit sind untrennbar, und dies bildet ihre spezifische Organisation“ (Maturana & Varela, 1987, S. 56). Lebende Systeme reproduzieren die Elemente, aus denen sie bestehen, mit Hilfe jener Elemente, aus denen sie bestehen. Alle Lebewesen besitzen demnach die gleiche autopoietische Organisation, die sie aber mit Hilfe ganz unterschiedlicher Strukturen (z. B. als Pflanzen, als Einzeller, als Fische, Vögel, Reptilien oder Säugetiere etc.) realisieren. „Während der Begriff der Organisation auf die Einheit des zirkulären Produktionsprozesses der Systemkomponenten abstellt, meint der Begriff der Struktur die konkreten Relationen zwischen den Bestandteilen. Diese Struktur, das heißt die jeweilige Abfolge und Verkettung der Bestandteile im fortlaufenden Prozess der Produktion, ist somit auch änderbar. Autopoietische Systeme sind, zumindest solange sie am Leben bleiben, organisationsinvariante und zugleich strukturveränderbare Systeme“ (Kneer & Nassehi, 1994, S. 49 f., Kursivdruck im Original). Autopoietische Systeme können folgendermaßen beschrieben werden: – Sie sind strukturdeterminiert, das bedeutet, die jeweils aktuelle interne Struktur bestimmt, wie und in welchen Grenzen sich ein Lebewesen verändern kann, ohne seine autopoietische Organisation zu gefährden, also zu sterben. – Ihre Aufgabe besteht darin, sich selbst zu reproduzieren. Alle anderen Aussagen über ihren Sinn werden durch Beobachter über sie gemacht.

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| Teil II: Theoretische Ansätze – Sie sind operational geschlossen und können nur mit ihren Eigenzuständen operieren. Sie sind somit von außen (durch die Umwelt) nicht instruierbar bzw. formbar. Dabei sind sie aber durchaus umweltsensibel. Sie können Informationen aufnehmen und verarbeiten. Die Art und Weise der Aufnahme von Umweltinformationen wird aber durch die interne Struktur definiert und nicht durch die Umwelt (Strukturdeterminiertheit). „Die Außenwelt wird nur soweit zur relevanten Umwelt (und von dort kommende Informationen werden nur soweit zu relevanten Informationen), wie sie im System Eigenzustände anzustoßen, zu ‚verstören‘ vermag“ (Schlippe & Schweitzer, 1999, S. 68). Umweltkontakte können ein autopoietisches System immer nur zu Selbstkontakten anregen. Luhmann übertrug das Autopoiese-Konzept auch auf psychische Systeme (Bewusstsein) und soziale Systeme (Kommunikation). Autopoietische Systeme sind für ihn dadurch gekennzeichnet, dass sie die Elemente, aus denen sie bestehen, „durch ein Netzwerk eben dieser Elemente reproduzieren und sich dadurch von der Umwelt abgrenzen“ (Luhmann, 1986, S. 266). Die Erzeugung einer Unterscheidung von Innen (System) und Außen (Umwelt), also die Konstruktion einer Grenze, ist somit – als Resultat der Autopoiese – der zentrale systemkonstruierende Prozess. Dabei ist zu beachten, dass die Operationen des Systems immer selbstrückbezüglich (rekursiv) gestaltet sind. Das heißt, autopoietische Systeme verwenden in einem fortlaufenden Prozess die Produkte bzw. Ergebnisse ihrer Operationen als Ausgangspunkt für weitere Operationen. In psychischen Systemen knüpfen Gedanken an Gedanken an, die wiederum an Gedanken anknüpfen. In sozialen Systemen erzeugt Kommunikation Kommunikation, die wiederum Kommunikation erzeugt. Autopoietische Systeme werden deshalb als operational geschlossene und strukturdeterminierte Systeme beschrieben. Operationale Schließung bedeutet, dass autopoietische Systeme immer nur mit ihren eigenen Zuständen operieren. Weder kann Kommunikation in ein psychisches System eindringen, noch kann ein Gedanke oder ein Gefühl in ein soziales System gelangen. Ebenso wenig ist es möglich, dass ein Gedanke oder ein Gefühl von einem psychischen System in ein anderes übertragen wird. Eine direkte Beeinflussung autopoietischer Systeme ist somit von außen nicht möglich. Dies bedeutet aber nicht, dass solche Systeme völlig autark sind. Sie können durch Anregungen von außen vielmehr zu Selbstkontakten, das heißt zu eigenen Operationen, angeregt werden. So können z. B. soziale Systeme durch kognitive Systeme (und umgekehrt natürlich auch) perturbiert bzw. angeregt werden. Zwischen diesen beiden Systemarten existiert zudem eine besondere Beziehung. Diese ergibt sich aus dem gemeinsamen Medium, in dem sie operieren: Sinn. Soziale und psychische Systeme sind sinnkonstituierende und sinnkonstituierte Gebilde. „Sie erzeugen kontinuierlich systemspezifischen Sinn und werden doch selbst erst durch Ausbildung bestimmter Sinnstrukturen in Existenz gebracht“ (Willke, 1982, S. 35). Sinn ist dabei eine Form des Umgangs mit Komplexität. Kommunikation in sozialen Systemen ist immer sinnbezogen. Spezifische soziale Systeme, wie z. B. eine Schulklasse, eine Familie, eine Freundesgruppe, selektieren spezifische – sinnvolle – Formen von Kommunikation und schließen andere aus. Auch Bewusstsein ist immer Bewusstsein von etwas. „Zu jedem Gedanken gehört ein bestimmter Gehalt, ein Gedankeninhalt; Bewusstsein ist, anders formuliert, also immer Bewusstsein von etwas“ (Kneer & Nassehi,



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1994, S. 76). Und dieses Etwas ist eine spezifische Auswahl aus der unbegrenzten Menge von Möglichkeiten, auf die sich unser Bewusstsein richten könnte. Sinn reduziert damit Komplexität und Sinn erzeugt Grenzen, so dass ein selektiver Zugriff, eine momentane Auswahl möglich wird. Dieses gemeinsame sinnhafte Operieren psychischer wie sozialer Systeme bedeutet aber keineswegs, dass sie sich doch an bestimmten Stellen überschneiden. Wie die Kommunikation (z. B. im Rahmen von Unterricht) von einem psychischen System (z. B. eines Schülers) verarbeitet wird, hängt nicht von der Kommunikation, sondern von der Struktur des psychischen Systems ab. Wäre das nicht so, gäbe es die Möglichkeit instruierender Interaktionen. Das heißt, über Kommunikation könnten z. B. die Operationen eines psychischen Systems von außen festgelegt werden. Auch wenn sich dies manche Lehrkräfte, aber auch Verkäufer, Therapeuten oder Prediger wünschen, zeigt doch auch unser Alltagsverständnis, dass die „Gedanken frei sind“. Um dies zu verdeutlichen, sei auf die von Heinz von Förster (1987) vorgenommene Unterscheidung zwischen nicht-trivialen und trivialen Systemen hingewiesen. Triviale Systeme – oder allopoietische Systeme – sind durch lineare Input-Output-Verknüpfungen gekennzeichnet. Jedes Mal wenn ich einen bestimmten Input X gebe, gibt es den gleichen Output Y. Drücke ich bei meinem Staubsauger auf den Einschaltknopf, erwarte ich, dass er anfängt zu saugen. Schon bei solch trivialen Systemen entscheidet übrigens nicht mein Drücken (also der Input), was das Gerät tut. Vielmehr legt die Struktur des Staubsaugers (als triviales System) fest, wie mein Druck verarbeitet wird. Drücke ich z. B. die Einschalttaste meines Toasters, fängt dieser (hoffentlich) nicht an zu saugen. Ergo: Nicht der Input bestimmt den Output. Der Input trifft vielmehr auf eine spezifische Struktur, die einen bestimmten Output erzeugt. Dies bezeichnet man als Strukturdeterminierung von Systemen. Bei trivialen Systemen ist nun diese Beziehung zwischen Input und Output invariant. Bei nicht-trivialen Systemen ist dies nicht so. Sie sind durch eine dynamische, flexible Struktur gekennzeichnet. Jede interne Operation kann die Strukturen so verändern, dass der gleiche Input zu unterschiedlichen Zeiten völlig unterschiedliche Outputs anregen kann. Nicht-triviale Systeme (wie z. B. die kognitiven Systeme von LehrerInnen wie von SchülerInnen) erhalten dadurch die Fähigkeit, spontan, kreativ und innovativ zu agieren, sie können sich entwickeln und sind lernfähig. Nicht-triviale Systeme sind also in der Lage, ihre Strukturen durch Selbst- oder Umweltkontakte zu verändern, so dass neue Wahrnehmungs-, Fühl- und Denkoperationen entstehen können. Lernen ist aus dieser Perspektive die Konstruktion von Wirklichkeiten, die die eigene Handlungsfähigkeit schützen, erhalten und/oder erweitern können. Entscheidend für ein systemisch-konstruktivistisches Lernverständnis bleibt aber, dass psychische Systeme nicht von außen determinierbar sind. Diese Orientierung wird auch durch neurobiologische Forschungsergebnisse untermauert. So konstatiert Roth (1999, S. 21): „Das Gehirn kann zwar über seine Sinnesorgane durch die Umwelt erregt werden, diese Erregungen enthalten jedoch keine bedeutungshaften und verlässlichen Informationen über die Umwelt. Vielmehr muss das Gehirn über den Vergleich und die Kombination von sensorischen Elementarereignissen Bedeutungen erzeugen und diese Bedeutungen anhand interner Kriterien und des Vorwissens überprüfen.“ An anderer Stelle führt er weiter aus: „Gehirne ... können die Welt grundsätzlich nicht abbilden; sie müssen konstruktiv sein, und zwar sowohl von ihrer funktionalen Organisation als auch von ihrer Aufgabe her, nämlich ein Verhalten zu erzeugen, mit dem der Organismus in

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| Teil II: Theoretische Ansätze seiner Umwelt überleben kann. Dies Letztere garantiert, dass die vom Gehirn erzeugten Konstrukte nicht willkürlich sind, auch wenn sie die Welt nicht abbilden (können)“ (Roth, 1999, S. 23, Kursivdruck im Original). Dies entspricht dem Prinzip der Viabilität, das von Glasersfeld (1985, 1996) aus konstruktivistisch-erkenntnistheoretischer Perspektive formuliert hat. Viabilität soll ausdrücken, dass unsere Erkenntnis die Welt, in der wir leben, nicht mehr oder minder genau abbildet, sondern an diese so angepasst ist, dass die Erkennenden in dieser Welt überleben können. Ob die Erkenntnis dabei etwas von der Welt erfasst, ist unbekannt. Es ist auch unnötig: Der Maßstab der Güte der Erkenntnis liegt im Überleben der Erkennenden, nicht im Erkannten. Trotz dieser Eigenschaft der Strukturdeterminierung erleben wir in unseren sozialen Beziehungen auch Kooperation, Verlässlichkeit und Vorhersagbarkeit. Wäre dies nicht so, könnte man sich das Zusammenleben kaum vorstellen. Desgleichen erleben wir, dass spezifische Interaktionen (z. B. im Unterricht) effektiver und sinnvoller sind als andere. Solche Formen der In-Beziehung-Setzung zwischen autopoietischen Systemen werden als strukturelle Koppelungen bezeichnet. Maturana und Varela (1987, S. 85) verstehen darunter: „Dass sich zwei (oder mehr) autopoietische Einheiten in ihrer Ontogenese gekoppelt haben, sagen wir, wenn ihre Interaktionen einen rekursiven oder sehr stabilen Charakter erlangt haben“. Das heißt, die autopoietischen Systeme haben einen Bereich wechselseitig kompatibler Interaktionen herausgebildet. Rekursiv bedeutet dabei: Die gegenseitigen Perturbationen passen so zueinander, dass sie wechselseitig in anschlussfähiger Weise verarbeitet werden können. Man spricht in solchen Fällen von einem gemeinsamen „driften“. Dies geschieht auch im sozialen Bereich. Auf der Grundlage der Herausbildung rekursiver – also sich wechselseitig anregender – Interaktionsmuster entwickeln sich zwischen Personen strukturelle Kopplungen. Hieraus entstehen im zwischenmenschlichen Bereich Koordinationen von Handlungen. So wird im sozialen Miteinander ein konsensueller Bereich entwickelt, der die Grundlage aller weiterführenden Konsensbildung höherer Ordnung bildet, wie sie letztlich durch sprachliche Kommunikation erreicht wird (vgl. Schmidt, 1986). Ein weiteres zentrales Konzept der systemisch-konstruktivistischen Perspektive liegt in dem Verständnis der Beobachterabhängigkeit der Wirklichkeit, in der wir leben: Alles was wir wahrnehmen, alles was wir denken und alles was gesagt wird, wird von einem Beobachter (einem beobachtenden System) wahrgenommen, gedacht oder gesagt. Im systemisch-konstruktivistischen Kontext wird dabei unter Beobachtung nach Spencer-Brown (1969) das Treffen einer Unterscheidung verstanden. Man kann z. B. zwischen lernbehindert/nicht lernbehindert, zwischen begabt/nicht begabt, zwischen Junge/Mädchen oder deutsch/nicht deutsch unterscheiden, wobei bei der Unterscheidung eine der beiden Seiten bezeichnet wird. Diese Bezeichnung einer Seite anhand einer Unterscheidung, also z. B. lernbehindert oder begabt oder Mädchen oder nicht deutsch macht eine Beobachtung aus (vgl. Kneer & Nassehi, 1994, S. 96 ff.). Beobachtungen setzen die Fähigkeit eines Systems voraus zu diskriminieren, indem es Differenzen oder Unterscheidungen setzen und bezeichnen kann. Bezeichnend ist dabei, dass die Beobachtungen in erster Linie etwas über die Logik des Systems, Unterscheidungen zu treffen, aussagt, und nicht über das Phänomen, das beobachtet wird. Beobachtungen öffnen das System gegenüber Differenzen, die es als sinnvoll definiert (vgl. Willke, 1994,



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S. 15). Beobachtungen sind deshalb immer systeminterne Operationen und stellen keine Abbildungen einer ontischen Umwelt, sondern Konstruktionen des Systems über die Umwelt oder über sich selbst dar. Welche Beobachtungen möglich oder nicht möglich sind, hängt ferner vom Möglichkeitsraum der Beobachtung ab. Dieser ist definiert durch die Instrumente des Beobachtens. Dies sind zum einen technische Instrumente wie z. B. Ferngläser oder Intelligenztests und zum anderen kognitive Strukturen, Begriffe, Theorien und Weltsichten (vgl. Willke, 1994, S. 23). Das Treffen einer Unterscheidung und die Bezeichnung einer Seite wird dabei als Beobachtung I. Ordnung definiert. Bei der Beobachtung I. Ordnung geht der Beobachter davon aus, dass er von ihm unterschiedene Objekte (also andere Menschen, Gegenstände, Tiere oder abstrakte Konstrukte – wie z. B. Intelligenz oder Hyperaktivität oder Lernbehinderung) in der Außenwelt beobachten kann. Es handelt sich hierbei also um einen nicht-konstruktivistischen Standpunkt. Der Beobachter ist vielmehr bemüht, zwischen sich als Beobachter und dem Beobachteten streng zu unterscheiden – also möglichst objektiv zu sein. Der Beobachter erkennt dabei nur das, was mit Hilfe der getroffenen Unterscheidung erkannt werden kann. Er erkennt nicht, was er mit dieser Differenzsetzung nicht sehen kann. Es gibt jedoch auch die Beobachtung II. Ordnung, die die Unterscheidung beobachtet, die der Beobachtung I. Ordnung zugrunde liegt. Bei der Beobachtung II. Ordnung versteht sich der Beobachter als Teil dessen, was er beobachtet. Er stellt nicht mehr allein die Frage „Was beobachte ich“, sondern „Wie beobachte ich“. Hiermit kann er die Wahl seiner Unterscheidung beobachten, die die Beobachtung erzeugt (Warum beobachte ich so und nicht anders?). Die Relevanz bestimmter Unterscheidungen kann so in Frage gestellt werden, um zu überlegen, ob andere Differenzsetzungen sinnvoller bzw. hilfreicher sein könnten. Damit gibt es immer mehrere Unterscheidungsmöglichkeiten, die unterschiedliche Beobachtungen und damit unterschiedliche Wirklichkeitskonstruktionen ermöglichen. Im Umgang mit Schülerinnen und Schülern mit Lernbeeinträchtigungen kann z. B. statt einer Unterscheidung „lernbehindert/nicht-lernbehindert“ auch die Unterscheidung zwischen „bisher erfolgreiche Förderung/bisher nicht erfolgreiche Förderung“ gewählt werden. Die Beobachtungen, die dadurch erzeugt werden, richten sich nicht auf Selektion, sondern auf Reflexion bezüglich der bisherigen Fördermaßnamen (vgl. Werning, 2003). Aus dieser Haltung wird deutlich, dass die Art und Weise, wie beobachtet wird, das Was der Beobachtung definiert (vgl. auch Balgo, 2003). Aus einer systemisch-konstruktivistischen Perspektive wird deshalb jede Form von Objektivität, also die Möglichkeit einer vom Beobachter unabhängigen, wahren oder richtigen Beobachtung, in Frage gestellt. „Objektivität ist die Selbsttäuschung des Subjekts, Beobachtung sei ohne ihn möglich. Die Anrufung der Objektivität ist gleichbedeutend mit der Abschaffung der Verantwortlichkeit; darin liegt ihre Popularität begründet” (von Förster, zit. nach Schmidt, 1986, S. 2). Keeney (1987) formuliert, „dass das, was man sieht, immer eine Folge dessen ist, wie man handelt ... So gesehen enthüllen Beschreibungen von Beobachtern immer die Handlung des Beobachters“ (S. 13). Aus systemisch-konstruktivistischer Sicht ist es von zentraler Bedeutung, dass die Welt nicht objektiv abbildbar ist, sondern vielmehr im Prozess der Beobachtung konstruiert wird. Das heißt, dass wir als Personen für die Konstruktionen, die unsere Wirklichkeit ausmachen, Verantwortung übernehmen müssen. Wir müssen unsere Entscheidung

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| Teil II: Theoretische Ansätze bezüglich der Präferenz für Konstruktionen begründen. Dies führt dazu, dass nach der Verantwortbarkeit, nach der Sinnhaftigkeit der jeweils getroffenen Unterscheidungen, die die Beobachtungen I. Ordnung qualifizieren, zu fragen ist. Die Auswirkungen dieser Perspektive auf diagnostische Prozesse sind an anderer Stelle ausführlicher dargestellt (vgl. Werning, 2002b). Kommen wir nun zu den Überlegungen, welche Bedeutung eine systemisch-konstruktivistische Perspektive für eine Pädagogik bei Beeinträchtigungen des Lernens hat.

8.2 Systemisch-konstruktivistische Perspektiven in ihrer Bedeutung für eine Pädagogik bei Beeinträchtigungen des Lernens Im humanwissenschaftlichen Bereich hat sich der systemisch-konstruktivistische Ansatz besonders in Beratungs- und Therapiekontexten etabliert (vgl. Schlippe & Schweitzer, 1999; Schiepek, 1999). In diesem Bereich liegt eine Vielzahl von Prozess- und Evaluationsstudien vor, die die Effektivität dieser Beratungs- bzw. Therapierichtung nachweisen können (vgl. dazu die ausführliche Zusammenstellung bei Schiepek, 1999). Das systemisch-konstruktivistische Paradigma hat sich aber auch in unterschiedlichen pädagogischen Diskussionszusammenhängen etabliert. Dies gilt u. a. für die Schulpädagogik (vgl. z. B. Huschke-Rhein, 1994; Voss, 2002; Duffy, Lowyck & Jonassen, 1993), für die Didaktik (vgl. z. B. Kösel, 1993; Reich, 1996; Ruf & Gallin, 1998), für die Erwachsenenbildung (vgl. z. B. Arnold & Siebert, 1995; Siebert, 2003), für den Schriftspracherwerb (vgl. z. B. Brügelmann & Brinkmann, 1998), für die Physikdidaktik (vgl. z. B. von Aufschnaiter, Fischer & Schwedes, 1992), für die Didaktik der Mathematik (vgl. z. B. Wittmann, 2002; Schifter, 1995), für die Fremdsprachendidaktik (vgl. z. B. Bach & Viebrock, 2002) für die Didaktik der Biologie (vgl. Fisher & Kibby, 1996), für den Sachunterricht (vgl. z. B. Klein & Oettinger, 2000; Soostmeyer, 2002), für die Medienpädagogik (vgl. z. B. Schwetz, Zeyringer & Reiter, 2001), für die Sportdidaktik (vgl. Vollmuth, 2002), für die Schulentwicklung (vgl. z. B. Fried, 2002) und für die Sonderpädagogik (vgl. z. B. in der Frühförderung: Jetter, 1994; in der Blindenpädagogik: Walthes, 1995; in der Psychomorik: Balgo, 1998; in der Beratung: Palmowski, 1995; Spiess, 1998; in der Pädagogik bei Lern- und Verhaltensbeeinträchtigungen: Werning, 1996; 2002a; Balgo & Werning, 2003; Werning & Reiser, 2002; vgl. weiterhin Lindemann & Vossler, 1999). In den genannten Bereichen finden sich vielfältige Konzeptionen, pädagogische Erfahrungsberichte sowie kontrollierte Beobachtungen zur Umsetzung systemisch-konstruktivistischer Perspektiven in pädagogischen Kontexten. An dieser Stelle sollen nun die dargestellten Grundannahmen der systemisch-konstruktivistischen Perspektive in ihren Auswirkungen auf pädagogisches Denken und Handeln untersucht werden. Die Annahme, dass psychische Systeme (und damit das Denken und Fühlen von Personen) und soziale Systeme (wie z. B. der Unterricht) jeweils autopoietische und damit operational geschlossene Systeme darstellen, führt zu einer radikalen Infragestellung eines Lehr-Lern-Kurzschlusses, wie ihn Holzkamp (1993, S. 391 ff.) in „schuloffiziellen“ Kontexten wie zum Beispiel in Rahmenplanungen aufzeigt und kritisiert.



Kapitel 8: Das systemisch-konstruktivistische Paradigma | 135

Im Folgenden sollen das Verständnis von Lernen und Lern-Behinderungen sowie von Förderung aus einer systemisch-konstruktivistischen Perspektive skizziert werden. 8.2.1 Das Verständnis von Lernen und Lern-Behinderungen Lehr-/Lernprozesse sind aus der systemisch-konstruktivistischen Perspektive keine linearen, instruktiven Vorgänge, bei denen von der Lehrkraft vorgegebene(s) Wissen, Informationen, Kenntnisse oder Kompetenzen vom Schüler bzw. von der Schülerin aufgenommen und verarbeitet werden. Modellvorstellungen wie Sender und Empfänger, Input und Output, Aufnahme und Speicherung für Lernprozesse werden als reduktionistisch abgelehnt. Lernen ist vielmehr ein Prozess der Konstruktion von Wirklichkeit im psychischen System. Und solche Lernprozesse können nicht determiniert werden. Unterrichten (als Kommunikation) ist somit der Versuch, autonome psychische Systeme, die nach ihrer eigenen Logik operieren, anzuregen, neue strukturelle Kopplungen aufzubauen, sich weiter zu differenzieren, um damit neue oder erweiterte Handlungsoptionen zu entwickeln. Die exakte Vorgabe von Lernzielen, die man durch Lehrprozesse beim Lernenden erreichen möchte, ist somit aus dieser Perspektive eine Illusion. „Auch dann, wenn nach einem Unterrichtsvorgang die Schüler die gewünschte Mathematikaufgabe lösen können, wenn sie ein gewünschtes Gedicht auswendig aufsagen oder die Vokabeln der letzten Englischstunde wiedergeben, ist es eine Selbsttäuschung zu glauben, dass alle Schüler das gleiche Lernziel erreicht hätten. Sie reproduzieren – unter dem Druck der Verhältnisse – vielmehr bestimmte Erwartungen. Das, was das Gelernte für sie bedeutet, ist indessen völlig unterschiedlich“ (Lenzen, 2002, S. 156). Schülerinnen und Schüler werden jedoch im schulischen Kontext sehr schnell als triviale Systeme gesehen, die auf einen gleichen Input mit immer demselben Output reagieren sollen. Schulische Homogenisierungsversuche, z. B. durch die verschiedenen Formen der äußeren Leistungsdifferenzierung in unterschiedliche Schultypen oder durch Kurs- bzw. Fördersysteme, untermauern und reproduzieren solche Trivialisierungsbemühungen: Es wird davon ausgegangen, dass eine möglichst leistungsähnliche Lerngruppe – quasi im Gleichtakt – die von Lehrkräften präsentierten Lerninhalte in konvergenter Form aufnehmen kann. Abweichungen werden sowohl bei besonderen (z. B. so genannten Hochbegabungen) wie bei eingeschränkten Lernleistungen (so genannten Lernbeeinträchtigungen) als Störungen wahrgenommen. Aus der systemisch-konstruktivistischen Perspektive des Lernens ergeben sich damit aber Dysfunktionalitäten, denn Lernprozesse können durch die Trivialisierung von Lehrprozessen behindert werden. Lernen ist aus konstruktivistischer Perspektive immer „Selbstlernen“ (Begemann, 1996). Die Lernprozesse der Schülerinnen und Schüler sind durch ihre je subjektiven Regeln und Erfahrungsbereiche (vgl. von Bauersfeld, 1983), ihre Vorerfahrungen und ihre individuellen Verständniszugänge – sprich aus den kontextuellen Verschachtelungen ihrer bisherigen Wirklichkeitskonstruktionen – heraus bestimmt, was auch im Rahmen verschiedener Studien bestätigt werden konnte (vgl. dazu ausführlich Begemann, 1996; Werning, 2002a; Werning & Lütje-Klose, 2003).

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| Teil II: Theoretische Ansätze Aus einer systemisch-konstruktivistischen Perspektive ist Lernbehinderung somit kein individueller Defekt. Lernbehinderung ist vielmehr Kennzeichen einer nicht erfolgreichen strukturellen Koppelung zwischen dem (psychischen System des) Schüler(s) und dem sozialen System Schule. Die Faktoren, die hierbei eine Rolle spielen, können sehr unterschiedlich sein. Helmke und Weinert (1997, S. 73) kommen nach der Analyse einer Vielzahl von Wirkungsstudien von Lern- und Leistungsbedingungen zu dem Urteil, dass keine eindeutigen und stabilen Ergebnisse vorliegen, die klare Zusammenhänge zwischen einzelnen Schülern, Unterrichts- und Kontextvariablen auf der einen und Indikatoren für die Schulleistung auf der anderen Seite aufzeigen können. Hieraus ergibt sich die Einsicht, dass Lernen und auch die Behinderung des Lernens in einem komplexen Netzwerk sich gegenseitig bedingender, miteinander interagierender sowie zirkulär und damit auf sich selbst zurückwirkender Faktoren stattfindet. Bestimmte Faktoren können andere kompensieren, negativ oder positiv beeinflussen, verstärken oder vermindern. So kann z. B. ein besonders guter Unterricht und intensive Fürsorge und Förderung eines Schülers durch die Lehrkraft geringe kognitive Fähigkeiten und/oder soziale Benachteiligungen ausgleichen. Ebenso kann aber auch abwertendes und stigmatisierendes Lehrerverhalten und/oder ein schlechter Unterricht die Lernschwierigkeiten eines Schülers verstärken bzw. chronifizieren. Die sehr hohe Zahl von sozial benachteiligten Schülerinnen und Schülern sowie die deutliche Überrepräsentation von Kindern und Jugendlichen nichtdeutscher Herkunft an Schulen für Lernhilfe (Kornmann, 1998; Kornmann & Kornmann, 2003) verweist jedoch auf ein prinzipielles Problem: Es gelingt der allgemeinbildenden Schule gerade bei diesen Schülerinnen und Schülern nicht, an die mitgebrachten Wirklichkeitskonstruktionen anzuknüpfen. Dabei zeigen vielfältige Untersuchungen, dass in besonderem Maße das Vorwissen der Schüler (also deren bisherige Konstruktionen über die Lerngegenstände) einen entscheidenden Einfluss auf den Lernerfolg haben (vgl. ausführlicher Werning & Lütje-Klose, 2003, S. 52). Wenn man berücksichtigt, dass das Vorwissen von Grundschülern in hohem Maße von der familiären Sozialisation abhängt, so lässt sich die Überlegung nicht von der Hand weisen, dass Schüler aus benachteiligten sozialen Milieus geringere Chancen zum Aufbau einer erfolgreichen strukturellen Koppelung mit dem Sozialsystem Schule haben. Hier spielt sicherlich auch die Verknüpfung von kognitiven und emotionalen Dimensionen (vgl. Ciompi, 1997; Piaget, 1995) eine bedeutende Rolle. Im psychischen System liegt eine enge Verflechtung zwischen kognitiven und emotionalen Anteilen vor. Es gibt weder eine Kognition ohne Emotion, noch eine Emotion ohne Kognition. Dass Lernen durch Emotionen positiv oder negativ beeinflusst werden kann, ist ja auch eine Binsenweisheit. Wenn Schüler die Schule als Institution, den Lehrer oder Unterrichtsinhalte als bedrohlich und fremd erleben, wenn sie sich selbst als dumm oder unbegabt ansehen, wenn auf ihre Lebensgeschichte und auf ihre in ihrer Lebenswelt erworbenen Lernerfahrungen sowie auf ihre Bedeutungskonstruktionen wenig oder gar nicht eingegangen wird, ist mit der Behinderung von Lernen zu rechnen. Zu beachten ist ferner, dass gerade bei Schülern aus sozial randständigem Milieu von einer verstärkten emotionalen Belastung auszugehen ist. Erfahrungen von Armut, sozialer Unsicherheit, Zukunftsängsten etc. können Emotionen hervorrufen, die die Konzentrationsfähigkeit, die Gedächtnisleistung sowie die Lernmotivation und damit die schulische Leistungsfähigkeit deutlich negativ beeinflussen.



Kapitel 8: Das systemisch-konstruktivistische Paradigma | 137

Auf einen knappen Nenner gebracht können Lernbeeinträchtigungen somit als wenig hilfreiche strukturelle Koppelung zwischen dem Sozialsystem Schule und dem psychischen System des Schülers verstanden werden. Statt der Diagnose individueller Schwierigkeiten oder Defizite geht es somit um eine Beziehungsdiagnose, wobei die Ansätze einer pädagogischen Förderung an den vorhandenen Wirklichkeitskonstruktionen der Schüler ansetzen müssen (vgl. Werning, Balgo, Palmowski & Sassenroth, 2002; Werning & Lütje-Klose, 2003). 8.2.2 Pädagogische Förderung Aus einer systemisch-konstruktivistischen Perspektive dürfen Förderkonzepte nicht hinter die dargestellte Komplexität des systemisch-konstruktivistischen Ansatzes zurückfallen. Förderung kann nicht die linear-kausale Beeinflussung spezifischer Bereiche (Wahrnehmung, Motorik, Kognition etc.) intendieren. Vielmehr ist jede Förderung in ein komplexes Interaktionsnetzwerk eingewoben. Ein Grundsatz der systemisch-konstruktivistischen Perspektive lautet deshalb, dass es nicht um isolierte Phänomene (z. B. die Lese-Rechtschreib-Schwäche oder die Rechenschwäche), sondern um Wechselwirkungen in sozialen Kontexten geht. Eine pädagogische Beobachtung, die sich dieser Sichtweise verpflichtet fühlt, kann nicht mehr die isolierte Betrachtung von Defiziten bzw. Auffälligkeiten als Ausgangspunkt von Förderung zum Gegenstand haben. Insbesondere bei der Auseinandersetzung mit Schwierigkeiten im Lern- und Leistungsbereich müssen als Grundlage für die Entwicklung pädagogischer Förderansätze die verschiedenen Integrationsniveaus der Person im Kontext der Lebenswelt in ihrer wechselseitigen Verbundenheit beachtet werden. Physiologische Aspekte (z. B. Wahrnehmung und Motorik), psychologische Komponenten (z. B. Motivationsstruktur, Misserfolgsorientierung, Selbstkonzept, Lernstrategien, vorhandene Konstruktionen über den Lerngegenstand), schulische Komponenten (Vermittlungsstil des Lehrers, Unterrichtsinhalte, Lernkultur, Schulklima, schulische Normen etc.) und familiäre Bedingungen (Wohnraum, Erziehungsverhalten der Eltern, Distanz zur Schule etc.) sind hier zu nennen. Eine so ausgerichtete pädagogische Förderung lässt sich damit auf die Auseinandersetzung mit komplexen sozialen Systemen ein. Hieraus leiten sich spezifische Anforderungen ab, die zum Abschluss vorgestellt werden sollen: Pädagogische Förderung ist hypothesengeleitet. Die Auseinandersetzung mit einer pädagogischen Problemsituation ist aus systemisch-konstruktivistischer Sicht als ein Prozess des hypothesengeleiteten Suchens zu verstehen. Eine Hypothese ist dabei immer eine vorläufige, im weiteren Handlungsprozess zu überprüfende Annahme über die Bedingungsfaktoren der Problemsituation. Schlippe und Schweitzer (1999, S. 117) differenzieren zwischen der Ordnungs- und der Anregungsfunktion von Hypothesen. Die Ordnungsfunktion umfasst die notwendige Reduktion von Komplexität. Vielfältige Informationen aus unterschiedlichen diagnostischen Zugängen werden so zu Hypothesen verdichtet. Für die praktische Umsetzung sei auf das Konzept der Kooperativen Lernbegleitung (vgl. Werning & Lütje-Klose, 2003, S. 144 ff.) verwiesen. Die Anregungsfunktion von Hypothesen ergibt sich aus ihrem Potenzial, neue pädagogische Handlungs- und Fördermöglichkeiten zu entwickeln. Die Anregungsfunktion kann dabei immer erst

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| Teil II: Theoretische Ansätze festgestellt werden, wenn daraus konkrete pädagogische Förderansätze abgeleitet werden, deren Wirksamkeit im pädagogischen Alltag von den beteiligten Personen zu überprüfen ist. Die Erlebenswelt der interagierenden Personen (SchülerInnen, LehrerInnen, Eltern) bildet den Prüfstein, ob die entwickelten Förderorientierungen hilfreich, nützlich bzw. sinnvoll sind oder nicht. Sie werden an der Praxis validiert. Pädagogische Beobachtung und pädagogische Förderung sind direkt miteinander verknüpft. Die Erstellung einer Diagnose, das einmalige Feststellen eines Förderbedarfs oder das Festschreiben eines Förderplans ist aus der hier vorgestellten Perspektive nicht sinnvoll. Notwendig ist vielmehr das prozessbegleitende Zusammenspiel von verschiedenen Aktivitäten. Dazu gehört die sensible Beobachtung und die Reflexion der Beobachtungen (möglichst im kollegialen Austausch). Daraus ergeben sich Ansatzpunkte zur Bildung von Hypothesen über Entwicklungsmöglichkeiten, die dann in einer Planung und Realisierung pädagogischer Fördermöglichkeiten konkret umgesetzt werden können. Die Auswirkungen dieser Arbeit müssen wiederum beobachtet und reflektiert werden, um die Fortführung, Veränderung oder völlige Neukonzipierung der Fördermaßnahmen zu gewährleisten. Pädagogische Beobachtung, Hypothesenbildung und pädagogische Förderung stehen somit in einem zirkulären Verhältnis zueinander. Bei der pädagogischen Beobachtung ist ferner die Einbindung in einen Kontext der Selbstbeobachtung zu berücksichtigen. Die Beschreibungen von Lernschwierigkeiten sind Konstruktionen, die im interaktiven Prozess (strukturelle Kopplung) zwischen Beobachter und Kind gebildet werden. Diese Beobachtungen sind abhängig von den Normen, Regeln, den Vorerfahrungen und Verständniszugängen, den theoretischen Zugängen sowie den Untersuchungsmethoden und -instrumenten des Beobachters. Die Suche nach objektiven Beobachtungen bzw. Diagnosen weicht der Auffassung, dass die jeweiligen Beobachtungen und Erkenntnisse von den gewählten Herangehensweisen abhängen. Deshalb gibt es keine unbeteiligten, „objektiven“ Beobachter, Diagnostiker oder Lernförderer, sondern immer nur aktive Interaktionspartner. Daraus ergibt sich die Notwendigkeit zur Selbstbeobachtung des Beobachters. Stärken- und Ressourcenorientierung. Eine systemisch-konstruktivistisch fundierte pädagogische Förderung darf sich nicht allein auf die Störung, die Defizite und Unzulänglichkeiten beschränken. Eine solche Defektorientierung behindert den Blick auf ein umfassendes Bild von dem Kind in seinem lebensweltlichen Kontext (vgl. Milani-Comparetti & Roser, 1982). Sie führt zu einer Reparaturdienstorientierung, bei der versucht wird, direkt ein Symptom, eine Störung zu beeinflussen. Dieses Vorgehen hat schon Dörner (1976) in seinen interessanten Experimenten zur Intervention in komplexe sozial-ökologische Systeme als einen zentralen Fehler herausgestellt. Auch die effektive Förderung von Kindern und Jugendlichen mit besonderen Bedürfnissen muss neben der Erfassung der Problembereiche ein besonderes Augenmerk auf vorhandene Potentiale, Fähigkeiten und Ressourcen der Personen in ihren Lebenswelten legen (vgl. dazu z. B. Betz & Breuninger, 1993; Werner, 2003; Daum, 2003; Reinhard, 2003). Zugespitzt kann man formulieren: Jede erfolgreiche Förderung baut auf den Kompetenzen und Fähigkeiten des Subjekts auf.



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8.3 Ausblick Systemisch-konstruktivistische Perspektiven erfinden die Pädagogik – auch bei Lernbeeinträchtigungen – nicht neu. Sie lassen sich vielmehr mit einigen bestehenden Paradigmen besser (z. B. mit humanistischen oder interaktionistischen), mit anderen schlechter oder gar nicht (z. B. mit normativen oder individuumzentrierten) verknüpfen. Dabei beansprucht die systemisch-konstruktivistische Perspektive auch nicht, die einzig richtige oder wahre zu sein – sonst würde sie sich ja selbst ad absurdum führen. Aus systemischkonstruktivistischer Sicht stellt sich selbstreflexiv vielmehr die Frage nach der Viabilität (vgl. von Glasersfeld, 1985), das heißt nach der Nützlichkeit, der Sinnhaftigkeit und Lebensdienlichkeit dieses Ansatzes. Aus einer systemisch-konstruktivistischen Perspektive können auch nicht direkt pädagogische Handlungsorientierungen abgeleitet werden. Vielmehr wirkt sich eine systemisch-konstruktivistische Haltung auf die Beobachtungen und auf die Handlungen von Pädagoginnen und Pädagogen aus. So werden weder spezifische Objekttheorien wie zum Beispiel zum Schriftspracherwerb oder zur Entwicklung mathematischer Einsichten oder zur Leistungsmotivation etc. überflüssig, noch verwirft der systemisch-konstruktivistische Ansatz eine erfahrungsorientierte Erforschung von (konstruierter) Wirklichkeit. Vielmehr werden die theoretischen wie empirischen Aussagen als Hypothesen über die Wirklichkeit verstanden. In der Praxis ist dann zu überprüfen, ob sich hieraus hilfreiche, lebensdienliche Handlungsoptionen entwickeln lassen. Das systemisch-konstruktivistische Paradigma stellt sich so als ein integrativer Ansatz dar, der sich der Komplexität von Wirklichkeit und der Autonomie lebender, psychischer wie sozialer Systeme stellt und sich gegen eine Trivialisierung und Sozialtechnologisierung auch im Verständnis von und im Umgang mit Lernschwierigkeiten richtet.

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Teil III

Diagnostik

Einführung Die vorangegangenen Kapitel haben verdeutlicht, dass unterschiedliche Erklärungen von Lernschwierigkeiten, Lernstörungen und Lernbehinderung zu unterschiedlichen Konsequenzen für den Gebrauch diagnostischer Mittel und zu unterschiedlichen Konzepten einer der Diagnostik folgenden Förderung führen. Es ist nun an Karl Dieter Schuck, in Form von Wegmarkierungen zu klären, in welcher Weise sich die Diagnostik unterschiedlicher Persönlichkeitsmodelle, Methoden und Strategien bedient, um ihren „Gegenstand“ zu bearbeiten. Der „diagnostische Gegenstand“ sind unterschiedliche Formen der Nichterfüllung von Leistungsanforderungen im schulischen Kontext und den dortigen Erziehungs- und Bildungsbemühungen. Dabei ist zu bedenken, dass Diagnostik in schulstrukturelle Kontexte, institutionelle Bedingungen und Verwertungszusammenhänge eingebunden ist und ihre Wirkungen nur je nach Maßgabe der jeweils wirksamen Vorstellungen über Bildung, Erziehung, Lernen und Förderung entfalten kann. Für Joachim Schwohl finden bei der Identifikation von Lernschwierigkeiten und so genannten Lernstörungen zunehmend subjektorientierte Theorien Berücksichtigung. Genannt seien Ansätze wie etwa der von Schlee, bei dem es um die Feststellung subjektiver Theorien und deren planvolle Veränderung geht, oder der von Kautter, der es zum Ziel des diagnostischen Prozesses erhebt, Zugang zu der inneren Realität des Subjekts zu finden. In Abgrenzung dazu bezieht sich der Autor auf eine Position, die vom subjektwissenschaftlichen Verständnis der Kritischen Psychologie ausgeht und die nicht nur den Subjektstandpunkt würdigt, sondern genauso die ‚Weltseite‘ berücksichtigt und dabei den individuellen Lebensprozess im Zusammenhang mit dem gesellschaftlichen Prozess rekonstruiert. Diese doppelseitige Betrachtung ist angezeigt, da das Subjekt die Welt und die Erscheinungen dieser Welt nur so erleben kann, wie sie ihm begegnen. Wolfgang Lemke behandelt im Duktus der Darstellung diagnostischer Strategien die „Kind-Umfeld-Analyse“ bzw. „Kind-Umfeld-Diagnose“ sowohl in der Fassung von Hildeschmidt und Sander als auch in der Form, wie sie in den Empfehlungen des Sekretariats der Ständigen Konferenz der Kultusminister der Länder in der Bundesrepublik Deutschland konzipiert ist. Diese diagnostische Strategie verdient eine separate Erörterung, weil die Kind-Umfeld-Analyse im Gefolge der jüngsten KMK-Empfehlungen in mehreren Bundesländern Eingang in die schulrechtlichen Verordnungen und Vorschriften zur Feststellung von Sonderpädagogischem Förderbedarf gefunden hat. Aber auch der Umstand, dass die Kind-Umfeld-Analyse sowohl in der Fassung von Hildeschmidt und Sander als auch in der in den KMK-Empfehlungen realisierten Auffassung durchaus kritisch zu bewerten ist, muss an dieser Stelle entsprechend gewürdigt werden. Gabi Ricken und Annemarie Fritz betrachten gegenstandstheoretische Konzepte als eine wichtige diagnostische Basis. Anhand ausgewählter Beispiele wird dargestellt, dass diagnostisches Arbeiten außer der Kenntnis methodologischer und methodischer Prinzipien besonders auch Theorien über pädagogisch relevante Konzepte (Intelligenz, Schriftspracherwerb, Zahlbegriffsentwicklung, Denkentwicklung etc.) erfordert. Jede diagnostische Strategie muss nach Meinung der Autorinnen in einer Theorie der Entstehung

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| Teil III: Diagnostik von Entwicklungsproblemen verankert sein. Dieses Postulat wurde in der Vergangenheit zwar immer wieder erhoben, jedoch keineswegs durchgängig umgesetzt. Karl Dieter Schuck, Wolfgang Lemke und Joachim Schwohl beleuchten anschließend aus diagnostischer Sicht die unterschiedlichen Facetten und Definitionen von Förderbedarf, Förderkonzept und Förderplanung. Im Rahmen der Förderplanung sind die Aufgaben einer lernprozessbegleitenden Diagnostik wie folgt definiert: Es gilt (1.) Begründungsmuster für Lernhandlungen bzw. für widerständiges Lernen gemeinsam mit dem Schüler zu reflektieren bzw. Hypothesen darüber zu erstellen. Es sind (2.) die externen Bedingungen zu beschreiben, die die individuellen Aktivitäten zur Veränderung innerer Repräsentationen in Gang brachten bzw. verhinderten. Es handelt sich um die materiellen und personalen Gegebenheiten des Lernumfeldes, insbesondere die Aktivitäten der Kooperationspartner zur Anregung und Begleitung der Lernhandlungen. Und schließlich ist (3.) der operative Aspekt zu erfassen, d. h. das zu unterschiedlichen Zeitpunkten erreichte gegenstandsspezifische Repräsentationsniveaus der erreichten Fertigkeiten und Kompetenzen.

9 Wegmarken der Entwicklung diagnostischer Konzepte Karl Dieter Schuck Die vorangegangenen Kapitel haben verdeutlicht, dass unterschiedliche Erklärungen von Lernschwierigkeiten, Lernstörungen und Lernbehinderung zu unterschiedlichen Konsequenzen für den Gebrauch diagnostischer Mittel und Konzepte der Diagnostik und der folgenden Förderung führen. Es ist nun zu klären, in welcher Weise sich die Diagnostik unterschiedlicher Persönlichkeitsmodelle, Methoden und Strategien bedient, um ihren „Gegenstand“ zu bearbeiten. Der „diagnostische Gegenstand“ sind unterschiedliche Formen der Nichterfüllung von Leistungsanforderungen im schulischen Kontext und den dortigen Erziehungs- und Bildungsbemühungen. Dabei ist zu bedenken, dass Diagnostik in schulstrukturelle Kontexte, institutionelle Bedingungen und Verwertungszusammenhänge eingebunden ist und ihre Wirkungen nur je nach Maßgabe der jeweils wirksamen Vorstellungen über Bildung, Erziehung, Lernen und Förderung entfalten kann. Die Entwicklung diagnostischen Denkens befindet sich derzeit in einer Übergangssituation. Einerseits kann sie in Anlehnung an Fisseni (1990, S. 2) als eine Disziplin gesehen werden, die mit der Bereitstellung von diagnostischen Methoden und Verfahren psychologisches Wissen in einem Praxisfeld anwendet. Entsprechend wird bis heute noch immer der Begriff der „Psychodiagnostik“ in der Behindertenpädagogik benutzt und darunter eine Disziplin verstanden, die auf der Grundlage von Persönlichkeitsmodellen inter- und intraindividuelle Unterschiede beschreibt, dieses Wissen zur Identifikation und Klassifikation menschlicher Variabilität heranzieht und es für Entwicklungsprognosen, Fördervorschläge und Schullaufbahnempfehlungen nutzt. Andererseits schickt sich die klassische Psychodiagnostik seit geraumer Zeit an, zu einer pädagogischen Diagnostik zu werden, deren Ziel die Anregung und Begleitung von Prozessen der Erziehung und Bildung in institutionellen und außerinstitutionellen Kontexten unter unterschiedlichen individuellen und systemischen Bedingungen ist. Eine solche Diagnostik definiert ihre Ziele und Verfahrensweisen auf dem Boden erziehungswissenschaftlicher und bildungstheoretischer Konzepte, bedient sich aber gleichwohl des psychologischen Wissens um Lernen und Entwicklung sowie erkenntnistheoretischer und methodischer Grundlagen empirischer Forschung. Im Kern ist jede Diagnostik eine systematische Erkenntnistätigkeit. Aufgrund der Heterogenität des fachlichen Diskurses heute und in der Vergangenheit bedient sich die Diagnostik unterschiedlicher Menschenbilder, unterschiedlicher Konzepte der Förderung, unterschiedlich elaborierter Methoden und Strategien der Erkenntnisgewinnung, und sie nimmt in unterschiedlicher Weise Bezug auf die je aktuellen gesellschaftlichen und institutionellen Verwertungszusammenhänge. Die Art und Weise der Verwendung und Koordination der Bezugskonzepte gilt es nunmehr darzustellen und zu bewerten.

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| Teil III: Diagnostik

9.1 Diagnostik zwischen institutionellen Erfordernissen und fachwissenschaftlichen Bezügen Die aktuell vorfindbaren diagnostischen Methoden und Strategien in pädagogischen Handlungsfeldern sind mit Schuck (2000, S. 233 ff.) in einem zweidimensionalen Raum einer institutionellen und individuellen Dimension lokalisierbar. Sie sind einerseits Teil eines Verwaltungsaktes im Rahmen anstehender schuladministrativer Entscheidungen und andererseits das Ergebnis fachwissenschaftlicher Operatonalisierungsversuche unterschiedlicher Konzepte über Menschen, Schule und Gesellschaft sowie Erziehung und Bildung. 9.1.1 Der institutionelle Kontext Die verwaltungstechnische Seite wird darin deutlich, dass diagnostisches Handeln in unseren Schulen von Staatsbeamten als staatlicher Verwaltungsakt auf der Grundlage entsprechender Verordnungen und Erlasse in Auftrag gegeben und durchgeführt wird. Die Ständige Konferenz der Kultusminister der Länder (KMK) wirkt mit ihren Empfehlungen, die wiederum durch den jeweiligen fachwissenschaftlichen Geist der Zeit geprägt sind, in die diesbezügliche Gesetzgebung der Länder hinein und formt damit die realisierte Praxis. Die KMK-Empfehlungen „zur Sonderpädagogischen Förderung in den Schulen der Bundesrepublik Deutschland“ von 1994 (Sekretariat der Ständigen Konferenz der Kultusminister der Länder in der Bundesrepublik Deutschland, 1994; im Folgenden abgekürzt mit KMK) haben dabei in der Überwindung der KMK-Empfehlung von 1972 „zur Ordnung des Sonderschulwesens“ (Ständige Konferenz der Kultusminister der Länder in der Bundesrepublik Deutschland, 1972) und deren Eigenschaftsorientierung neue Akzente gesetzt und Räume geöffnet für eine auf den individuellen Bildungs-, Entwicklungs- und Lernprozess von Menschen bezogene Pädagogik und Diagnostik. Die historisch wichtigen Auseinandersetzungen zur „Selektions-“ und „Förderdiagnostik“ (z. B. Schlee, 1985a, b) könnte unter den Perspektiven der KMK-Empfehlungen von 1994 Geschichte sein, wenngleich die KMK-Empfehlung von 1972 in ihrer Betonung des dreigliedrigen Schulsystems und der darin notwendigen Selektionsorientierung diagnostisches und pädagogisches Handeln, schulstrukturelle Entwicklungen und Ausbildungsstrukturen an den Universitäten noch immer bestimmt. Die KMK-Empfehlung von 1972 wird von der Idee getragen, dass unterschiedlich klassifizierbare Kinder ihren Behinderungen entsprechend unterschiedliche Schulformen vorfinden müssen. In diesem Denken bestimmen die Ätiologie der jeweils operationalisierten Behinderung und die darauf bezogenen und für notwendig gehaltenen pädagogischen Aktivitäten die Wahl der Schulform unter der prinzipiellen Annahme, dass eine optimale Entwicklungsförderung in homogenisierten Lerngruppen am besten zu realisieren sei (vgl. Schuck, 2000, S. 235). Diese Idee führte im klassischen Überweisungsverfahren zu der mit diagnostischen Mitteln zu beantwortenden klassifikatorischen Frage nach der grundlegenden Behinderung und den daraus ableitbaren Entscheidungen für die Zuweisung zu spezifischen Schulformen. Das gegliederte Schulsystem fordert von der Diagnostik dabei eine prospektive, auf langfristige Entwicklungen bezogene



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Aussage darüber, in welcher Schulform sich gewünschte Entwicklungs-, Lern- und Bildungserfolge am ehesten einstellen werden. Intelligenztests avancierten, beginnend mit dem ersten Intelligenztest von Binet zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts, zum zentralen Klassifikations- und Prognosekriterium. Sie gelten vielfach bis heute als die Operationalisierung der als grundlegend gedachten kognitiven, den aktuellen und den zukünftigen Schulerfolg bestimmenden Eigenschaft. Dieser Verwertungszusammenhang diagnostischer Methoden wurde intensiv diskutiert, dabei die der Diagnostik zugeschriebene Selektions- und Alibifunktion herausgestellt und die begrenzten Möglichkeiten dieses Ansatzes sowohl nach testtheoretisch-internen Gesichtspunkten als auch unter der Idee einer wünschenswerten Einheit von Diagnose und Förderung gezeigt (Schuck & Eggert, 1982). In allen neuen Schulgesetzen wird unter Beibehaltung des gegliederten Schulsystems den KMK-Empfehlungen von 1994 gefolgt und vorbehaltlich bereitstellbarer Ressourcen die allgemeine Schule zum primären Ort der Förderung behinderter und von Behinderung bedrohter Kinder erhoben und die Subsidiarität des Sonderschulwesens betont. Diese Entwicklung zeigt sich in schulgesetzlichen Formulierungen, die bestimmen, dass die allgemeinen Schulen und Sonderschulen in enger Zusammenarbeit auf eine Integration von Schülerinnen und Schülern mit sonderpädagogischem Förderbedarf in den Unterricht der allgemeinen Schule hinein zu wirken haben. In dieser schulgesetzlichen Neuorientierung wird ein konzeptioneller Wandel von der institutionellen zur personalen Orientierung des Schulsystems und eine Zentrierung auf eine personenbezogene, individualisierende und schulformunabhängige Förderung gesehen (Bleidick, Rath & Schuck, 1995). Tatsächlich könnte sich die Diagnostik unter diesen Bedingungen vom Makel der „Selektion“ befreien (Schuck, 1993, S. 73) und sich am gegebenen Lernort auf jene „fördernden und behindernden individuellen und vor allem außerindividuellen Bedingungen schulischer und außerschulischer Lern- und Interaktionsfelder“ konzentrieren, „die den aktuellen Entwicklungs- und Lernstand eines Kindes entstehen ließen“, „die zur Förderung der weiteren schulischen Entwicklung des Kindes veränderbar sind“ und „deren Veränderung geplant, durchgeführt und kontrolliert werden kann“ (Ahrbeck, Lommatzsch & Schuck, 1984, S. 50). Der Begriff der Förderung und der des Förderbedarfs wurden in der Folge der KMK-Empfehlungen von 1994 zu neuen Leitbegriffen, die schillernde und divergente Definitionen erfuhren. Schuck (2001, S. 63 f.) definiert wie folgt: „Der Begriff der pädagogischen Förderung bezeichnet pädagogische Handlungen bzw. Qualitäten, die gemäß eines impliziten oder expliziten Förderkonzepts auf die Anregung und Begleitung einer an Bildungszielen orientierten, für wertvoll gehaltenen Veränderung individueller Handlungsmöglichkeiten von Menschen in ihren Lebensgemeinschaften und an den sozialen Folgen von Benachteiligungen und Behinderungen ausgerichtet sind. Pädagogischer Förderbedarf ist dabei das, was ein Individuum in seinen Lern- und Lebensgemeinschaften an Unterstützung benötigt, um die intendierten Ziele zu erreichen. Sonderpädagogische Förderung und Sonderpädagogischer Förderbedarf sind nichts anderes. Denn alle heranwachsenden Menschen, auch behinderte und benachteiligte, bedürfen einer pädagogischen, institutionell übergreifenden Förderung bzw. Anregung und Begleitung ihrer Entwicklung (Bleidick, 1999), gegebenenfalls unter erschwerten Bedingungen und unter einer notwendig werdenden Nutzung problemspezifisch unterschiedlicher

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| Teil III: Diagnostik Qualifikationen auf der Seite der Pädagoginnen und Pädagogen und unterschiedlicher institutioneller bzw. organisatorischer Arrangements. Jede Form der Förderung hat sich damit ihrer Ziele, ihrer Wege und ihrer institutionellen Verankerung zu vergewissern. Bildungstheorien, Erziehungstheorien und Theorien der Institutionen geben hierzu die erziehungswissenschaftlichen, Entwicklungs- und Lerntheorien die psychologischen Bezugspunkte ab, die in ihrer Interpretation unter ein pädagogisches Konzept zu stellen sind.“ Diese Definition beinhaltet die Begriffe, über die eine weitere Verständigung auch unter diagnostischer Perspektive geboten erscheint. Immerhin deutet sich in dieser Definition ein neuer Arbeitsauftrag an die Diagnostik an: Gefragt ist im Falle von nicht anforderungsgemäßen Leistungen und erwartungswidrigem Verhalten nicht mehr Klassifikation und Prognose, sondern die bildungszielorientierte Entwicklung und Evaluation eines Förderkonzepts zur Anregung, Begleitung und Unterstützung gewünschter Veränderungen der Handlungsmöglichkeiten von Menschen in ihren Lebensgemeinschaften unter Nutzung diagnostischer und pädagogischer Mittel. Unter diesen Prämissen sollte sich die prospektive, institutionell orientierte Diagnostik zu einer auf bestmögliche Förderung gerichteten, personorientierten und evaluativen Diagnostik entwickeln, wie es seit Mitte der 80er Jahre des letzten Jahrhunderts immer wieder gefordert worden ist (Schlee, 1985a, S. 99; Kolt & Rother, 1984, S. 345). 9.1.2 Die fachwissenschaftlichen Bezüge: Menschenbildannahmen Unterschiedliche Positionen der Wissenschaften vom Menschen haben Theorien darüber entwickelt, wie der Mensch als Abstraktum ‚funktioniert‘, welches die treibenden Kräfte seiner Entwicklung sind, aufgrund welcher Bedingungen es zu Unterschieden zwischen den Menschen kommt und warum Kontinuität und Wandel in individuellen Biographien entstehen. Die leitenden Entwicklungsvorstellungen als Gegenstandsverständnis vom Menschen stellen dementsprechend für Schuck (2000, S. 234, 236) die zweite Dimension im zweidimensionalen Raum der Lokalisation diagnostischer Methoden dar. Schuck bezeichnet es als Problem der verwendeten diagnostischen Konzepte, dass sie vorwiegend unter einem deterministischen Menschenbild entstanden seien und damit dem Anspruch der Psychologie als Wissenschaft vom Subjekt allenfalls näherungsweise genügen könnten. Den meisten diagnostischen Konzepten liegen, einem Ordnungsversuch entwicklungspsychologischer Schulen durch Montada (2002, S. 5 ff.) folgend, entweder endogenistische oder exogenistische Entwicklungstheorien zugrunde, die den Menschen als passiven Erdulder der Entfaltung genetischer Bedingungen oder von außen einwirkender Einflüsse im behavioristischen Modell konzipieren. Ihnen sei das Passivitätspostulat gemeinsam. Stabilität und Veränderung werden in diesen Modellen gedeutet als Auswirkungen innerer und äußerer Bedingungen, die scheinbar ungebrochen menschliches Verhalten bestimmen. Im Zuge der kognitiven Wende der späten sechziger Jahre habe sich, so Schuck (2000, S. 237), ein neues Verständnis vom Menschen, ein neues Subjektmodell (Groeben & Scheele, 1977; Schlee, 1998) entwickelt, welches sich in diversen Handlungstheorien entäußere (vgl. Franke & Greif, 1984) und die Aktivitätsannahme zur Grundlage habe. Montada unterscheidet unter der Aktivitätsannahme eher



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konstruktivistische Positionen, die sich auf die Konstruktionsprozesse beim Individuum zentrieren, von solchen, die die Welterschließung als unterschiedlich gefasste, transaktionale Austauschprozesse zwischen Menschen von Lebensgemeinschaften konzipieren und Entwicklung als die Verschränkung von Person- und Umweltveränderungen begreifen (vgl. z. B. Lazarus, 1981; Jantzen, 1998, S. 343). Die Konsequenzen dieses Menschenbildes beträfen alle Bereiche der Pädagogik und Psychologie, die Weiterentwicklung von Lerntheorien (vgl. Holzkamp, 1995), von Behinderungsbegriffen (vgl. Schönberger, 1987) und Forschungsmethoden. Einige diagnostische Konzeptionen folgten mit unterschiedlicher Schwerpunktsetzung und verschiedenen Zugriffsweisen diesem Paradigma. Sie müssten allerdings in einer Bildungstheorie aufgehoben sein, die die Unterstützung der konstruierenden Aktivitäten von Individuen in Lern- und Lebensgemeinschaften als eines der Zielkriterien versteht (Schuck, 1987; Schuck, 1992; Ahrbeck, Schuck & Welling, 1992; Schönberger, 1987; Jetter, Schmidt & Schönberger, 1983).

9.2

Prominente Modelle diagnostischen Denkens

Modelle diagnostischen Denkens unterscheiden sich darin, in welcher Weise sie unterschiedliche Bezugssysteme zur Beurteilung individueller Leistungsunterschiede benutzen und auf welchen Abstraktionsebenen die diagnostischen Schlussfolgerungen vollzogen werden. In der Geschichte der Diagnostik können unter Bezugnahme auf den von Schuck (2000) konzipierten zweidimensionalen Raum zur Lokalisation diagnostischer Methoden drei Modelle prototypisch beschrieben werden: Das normorientierte, das lernzielorientierte und das entwicklungsorientierte Modell. Gemeinsam ist diesen Modellen die Notwendigkeit, von diagnostischen Situationen – als eine Variante des Beobachtbaren – auf nicht direkt Beobachtbares der Konstruktebene und auf prinzipiell Beobachtbares, jedoch in der diagnostischen Situation nicht selbst Abgebildetes, zu schließen. 9.2.1 Das indirekte Modell diagnostischer Schlussweisen Das indirekte Modell diagnostischer Schlussweisen wurde in den siebziger Jahren des letzten Jahrhunderts auf dem Hintergrund der klassischen sonderpädagogischen Fragestellung im Sonderschulüberweisungsverfahren – nämlich: der Zuordnung von Schülern zu Schulformen – intensiv diskutiert und dabei auch die Frage der pädagogischen Wirksamkeit des dem Modell eigenen Normbezugs beleuchtet. Schulpraktisch relevanter Hintergrund war die KMK-Empfehlung von 1972, in der als Orte der Förderung behinderter Kinder spezifische Sonderschulen konzipiert sind und zugleich die Klientel der neun verschiedenen Sonderschulformen beschrieben ist. Wenn schließlich Intelligenztestergebnisse in der sonderpädagogischen Diagnostik als maßgebliche Entscheidungskriterien bei der Zuweisung zu Sonderschultypen benutzt wurden, so zeigen sich darin diagnostische Abgrenzungsbemühungen der Definition und Operationalisierung differenter Leistungsund Verhaltensformen im schulischen Kontext. Maßgeblich hat das Gutachten von Kanter (1974) über „Lernbehinderungen, Lernbehinderte, deren Erziehung und Rehabilitation“ bis in die Erlasse und Verwaltungsvorschriften der Bundesländer hinein gewirkt. Seit-

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| Teil III: Diagnostik dem gelten solche Kinder als lernbehindert im engeren Sinne, die „1. in einem validen Intelligenzmeßverfahren einen Gesamt-IQ von 75 nicht überschreiten (Untergrenze zur geistigen Behinderung IQ 55), 2. bezogen auf die Altersnorm im Primarbereich einen schulischen Leistungsrückstand von 2 oder mehr Jahren aufweisen bzw. erwarten lassen und 3. ein retardiertes Sozialverhalten (z. B. nach der Vineland Mental Maturity Scale) aufweisen, ohne dass diese Beeinträchtigungen primär auf Sinnesschäden, Körperbehinderungen, Sprachschädigungen, Verhaltensstörungen (Schwererziehbarkeit), schwere geistige Behinderung oder bestimmte Krankheitszustände rückführbar wären“ (Kanter, 1974, S. 165). Demgegenüber beschreibt Kanter die Kinder und Jugendlichen mit Lernstörungen, -schwächen und -irregularitäten bzw. mit Verhaltensauffälligkeiten und mit Milieuschädigungen operationalisierend wie folgt: „Als lerngestört in diesem Sinne gelten Kinder und Jugendliche mit deutlichen Leistungsminderungen und diskrepanten Leistungs- und Verhaltensformen, ohne einen insgesamt herabgesetzten Intelligenzmeßwert (IQ unter 80/75) aufzuweisen oder primär durch Sinnesschäden, Körperbehinderungen oder Sprachschädigungen beeinträchtigt zu sein“ (Kanter, 1974, S. 167). Kanters Definitionsvorschläge wurden nicht, wie von ihm vorgeschlagen, für die Organisation unterschiedlicher Stütz- und Fördermaßnahmen in einem Gesamtschulsystem, sondern für die Zuweisung von Kindern und Jugendlichen zu Kategorien eines expandierenden Sonderschulwesens verwendet. Danach galt es, „Lernbehinderte im engeren Sinne“ per (Intelligenz-)Diagnostik zu definieren und für sie eine Beschulung in einer Sonderschule für Lernbehinderte vorzusehen sowie Kinder mit Lernstörungen gegebenenfalls an der Grundschule zu belassen. Wenn sich das diagnostische Problem bei auftretenden Lernstörungen in der Allgemeinen Schule in dieser Weise stellt, nämlich Lernbehinderte im engeren Sinne von Lernstörungen zu unterscheiden, so ist die erkenntnistheoretische Frage die, ob die gebräuchlichen diagnostischen Verfahren mit ihrem jeweiligen entwicklungs- und testtheoretischen Hintergrund diesem Anforderungsprofil entsprechen bzw. prinzipiell entsprechen können. Diese Frage hat in der Auseinandersetzung mit dem Umschulungsverfahren in die Sonderschule zunächst zu einer jahrelangen Kontroverse um die testtheoretische Qualität der Binet- und Wechsler-Verfahren sowie der Tauglichkeit der unterschiedlichen Operationalisierungen von Entwicklungsniveaus – Äquivalenzintelligenzquotienten bei Binet und Abweichungsintelligenzquotienten bei Wechsler – geführt. Testtheoretisch betrachtet können dem Abweichungsintelligenzquotienten durchaus messtechnische Vorteile zugesprochen werden, da die Intelligenzquotienten für unterschiedliche Altersgruppen quantitativ in Prozenträngen ausgedrückt die gleiche Bedeutung bezogen auf die relative Distanz zum Durchschnittswert der Normstichprobe haben. Die entwicklungstheoretische Verankerung der unterschiedlichen Aufgabentypen in den Binet- und WechslerTests und die dortigen Vorteile der Binet-Tests wurden in der testtheoretisch dominierten Diskussion jedoch häufig nicht gewürdigt (vgl. hierzu auch Kautter & Munz, 1974). Mit Erscheinen des HAWIK-R (Tewes, 1983) im Jahre 1983 flammte die Auseinandersetzung um den Sinn und Unsinn der Intelligenzdiagnostik mit teilweise anderen Schwerpunkten und unter besonderer Betrachtung der Verwertungszusammenhänge wieder auf (vgl. u. a. Eggert, Schuck & Tewes, 1984; Schuck & Ahrbeck, 1986). Alle Wechsler-Intelligenztests vom Vorschul- bis zum Erwachsenenalter (für das Vorschulalter: Schuck und Eggert (1976); für das Kindesalter: Tewes (1983) sowie Tewes,



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Rossmann und Schallberger (2002); für das Erwachsenenalter: Tewes (1991) bzw. Tewes, Neubauer und von Aster (in Vorbereitung)) gehen auf das Intelligenzkonzept Wechslers zurück, welches erstmals 1939 mit dem ersten Wechsler-Intelligenztest für Erwachsene in Amerika veröffentlicht wurde. Wechsler verstand dabei Intelligenz als „die zusammengesetzte oder globale Fähigkeit des Individuums, zweckvoll zu handeln, vernünftig zu denken und sich mit seiner Umgebung wirkungsvoll auseinanderzusetzen“ (Wechsler, 1964, S. 13). Alle Versionen der Wechsler-Tests bestehen aus bis zu 11 Untertests, die zunächst altersspezifisch ausgewertet und zu einem Verbal-IQ, einem Handlungs-IQ und einem Gesamt-IQ verrechnet werden. Die Wertpunkte für die Untertests sowie die IQ-Werte für den Verbal- und Handlungsteil bzw. für den Gesamttest sind relative Positionsbestimmungen und drücken aus, wie gut z. B. ein getestetes Kind die Aufgaben des Tests im Vergleich zu den Kindern der Normstichprobe lösen konnte. Sodann wird dieses Ergebnis im Sinne der Logik des Modells indirekter Schlussweisen als Ausmaß des Vorhandenseins der hypothetischen Eigenschaft, der Intelligenz, interpretiert. Insofern zählen die Wechsler-Tests zu den eigenschafts- und normorientierten Verfahren. Untersucht wird das hypothetische Konstrukt – verstanden als Eigenschaft – und interpretiert wird die individuelle Ausprägung dieser Eigenschaft auf der Grundlage der mutmaßlichen, durch empirische Normen erschlossenen Verteilung dieser Eigenschaft in der Population und der weiteren Annahmen zum Konstrukt. Charakteristisch für normorientierte Tests ist das zugrunde liegende Modell indirekter diagnostischer Schlussweisen (Goldfried & Kent, 1974). Über mehrere Schlussfolgerungsebenen hinweg (vgl. Abbildung 1) wird in diesem Modell unter Verwendung der klassischen Testtheorie von der Beobachtung in einer Testsituation auf die Ausprägung der in den Testaufgaben operationalisierten Eigenschaft geschlossen. Diese Merkmalsausprägung ist sodann die Grundlage für die Erklärung beobachtbaren oder die Prognose zukünftigen Verhaltens. Die Gütekriterien der klassischen Testtheorie lassen sich den einzelnen Beobachtungs- und Schlussfolgerungsebenen des Modells zuordnen. Ausgangs- und Zielpunkt diagnostischer Schlussweisen sind im indirekten Modell (vgl. Goldfried & Kent, 1974, S. 15) unterschiedliche Kategorien beobachtbarer Situationen: die systematisch herbeigeführten, in der Regel standardisierten ‚Test‘-Situationen einerseits sowie die ‚Kriteriums‘-Situationen andererseits. Beide Situationen, die Test- und Kriteriumssituation, sind über eine Reihe gedanklicher Konstruktionen der Induktion und Deduktion sowie durch das übergeordnete Persönlichkeitskonstrukt miteinander verbunden. Die unabdingbare messtheoretische Grundlage dieses Konzepts diagnostischen Denkens ist die klassische Testtheorie mit den Gütekriterien der Objektivität, Reliabilität und Validität und mit dem Nebengütekriterium der Normierung. Zentrales Bewährungskriterium für die Güte einer solchen konstruktgeleiteten, indirekten Diagnostik ist die Validität: der Zusammenhang zwischen Test- und Kriteriumssituation. Soll eine diagnostische Situation – die ‚Test‘-Situation – von praktischer Bedeutung für die zu erklärende bzw. vorherzusagende ‚Kriteriums‘-Situation sein, so muss ein hoher Zusammenhang zwischen den Ergebnissen in beiden Situationen existieren, der in repräsentativen Stichproben nachgewiesen wird. Die quantitative Ausprägung des Zusammenhangs wird als Korrelation zwischen ‚Test‘ und ‚Kriterium‘ als Validitätskoeffizient ausgedrückt, wofür es anerkannte Anforderungen an die Höhe dieser Koeffizienten für unterschiedliche diagnostische Fragestellungen gibt. Für die

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| Teil III: Diagnostik Schlussfolgerungsebenen: Dritte Ebene: Annahmen zum Zusammenhang von Konstrukt und den Operationalisierungsversuchen Zweite Ebene: Annahmen zum Verhältnis individueller und Populationsleistungen (Normen)

Erste Ebene: Annahmen zur Präzision der Beobachtung (Reliabilität)

Das Persönlichkeitskonstrukt

‚Population‘ möglicher Antworten

‚Population‘ des möglichen Kriteriumsverhaltens

‚Wahre‘ Testantworten

‚Wahres‘ Kriteriumsverhalten

Erschlossenes Beobachtbares

Beobachtungen (Objektivität)

Beobachtungen in der ‚Test‘situation

Der induktive Schluss von der Beobachtung zum Konstrukt (Test-Schlüsse)

Beobachtungen in der ‚Kriteriums‘situation

Die Deduktion vom Konstruk zum Kriteriumsverhalten (Validierungs-Schlüsse)

Abbildung 1: Das indirekte Modell diagnostischer Schlussweisen, modifiziert nach Goldfried und Kent (1974)

Individualdiagnostik sollten Validitätskoeffizienten von mindestens r = .70 vorliegen (vgl. z. B. Lienert, 1969, S. 310), die im Anwendungsfall der Erklärung bzw. Vorhersage von Schulleistungen aus Intelligenztestergebnissen als einfache Validitätskoeffizienten jedoch nicht erreicht werden. So konnten Schuck und Ahrbeck (1986) für den HAWIK-R eine mittlere Korrelation des HAWIK-Gesamtergebnisses mit den Schulnoten von Grundschülern von r = .55 ermitteln. Damit weisen Schulnoten und Intelligenztestergebnisse etwa 30 % an gemeinsamer Varianz auf. Dieser niedrige Anteil gemeinsamer Varianz spricht für eine allenfalls dürftige Erklärbarkeit der Varianz der Schulnoten durch Intelligenztestergeb-



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nisse. Es wurde herausgearbeitet, dass eine derartige – zwar theoretisch relevante, aber praktisch bedeutungslose – Korrelation nicht geeignet sein kann, verantwortbare Zuordnungsentscheidungen für Schultypen und die damit verbundenen unterschiedlichen Lebenschancen zu treffen. Intelligenztests gelten vielfach als Methode der Erfassung des hypothetisch angenommenen, schulisch relevanten, umweltunabhängig gedachten Intelligenzpotenzials eines Kindes. Unter anderem vor diesem Hintergrund wurde bei allen Versionen des HAWIK bemängelt, dass besonders die Aufgaben des Verbalteils die Wertmaßstäbe und Normvorstellungen der sozialen Mittelschicht einer „westlich“ orientierten Gesellschaft repräsentieren würden, wodurch Kinder der sozialen Unterschicht allein durch das Aufgabenmaterial gehindert würden, ihre tatsächlichen Leistungsmöglichkeiten zu zeigen. Für eine Stichprobe von Kindern aus Hamburg konnten Schuck und Ahrbeck (1986) z. B. zeigen, dass für Grundschüler signifikante Korrelationen zwischen den HAWIK-Ergebnissen und Schulnoten zwischen .47 für den Handlungsteil, .61 für den Verbalteil und .55 für den Gesamt-IQ bestehen. Bei Auspartialisierung des Sozialstatus sanken ehemals signifikante Zusammenhänge unter die Signifikanzgrenze. Schuck und Ahrbeck (1986, S. 15 f.) sahen in diesen Ergebnissen „einen Beleg für die Annahme, dass sich in den ­HAWIK-R-Ergebnissen, wie auch in den Schulnoten, die soziale Schichtenzugehörigkeit mit allen damit verbundenen Effekten auf die Persönlichkeitsentwicklung ausdrückt. Diese Effekte werden im schulischen Selektionsprozess und auch im HAWIK-R-Ergebnis als positiv oder negativ bewertet; sie sind Ausdruck jener spezifischen Anregungsdefizite, Sozialisationserfahrungen und vielfältiger Benachteiligungen, die bei der Mehrzahl der Kinder aus Sonderschulen für Lernbehinderte im Vergleich zu ‚normalen‘ Grundschülern besonders verstärkt auftreten und charakteristisch für den unteren Leistungsbereich in unseren Schulen sind.“ Mit dem HAWIK-R und allen anderen Intelligenztests wird damit keineswegs das kognitive Leistungsvermögen, sondern es werden unterschiedliche, schichtenspezifische und schulrelevante Anregungsbedingungen und Wirkungen der Lebenswelten der Kinder erfasst. Der HAWIK-R kann damit keine Begründung für Schulversagen im Sinne einer umweltunabhängig gedachten Intelligenz liefern; er doppelt allenfalls die Informationen, die die Schule schon längst im Umgang mit einem Kind gewonnen hat, wenn es nicht die erwarteten Anforderungen einer mittelschichtorientierten Leistungsgesellschaft erfüllt. Diese Nichterfüllung von in der Regel nicht in Frage gestellten schulischen Anforderungen, die eine unterschiedliche Nähe zu den Lebenswelten der je verschiedenen Kinder haben, wird einmal ausgedrückt im „Schulversagen“ und dann in der scheinbar individuellen Begründungskategorie des „Intelligenzmangels“. Mit diesem Ergebnis und seinen Interpretationen werden viele Analyseergebnisse der siebziger Jahre repliziert, die neuerdings in großen internationalen Leistungsvergleichen wieder in Erscheinung treten: Werden Intelligenzleistungen von Kindern im Vergleich mit Intelligenztestleistungen „repräsentativer Stichproben“ bestimmt, so werden sich in den Ergebnissen – vermittelt durch die spezifischen Aufgaben und durch das Konstrukt der „repräsentativen Stichprobe“ – gesellschaftliche Differenzen widerspiegeln. Gesellschaftlich determinierte Chancenungleichheiten werden als individuelle Unzulänglichkeiten interpretiert und zum Alibi für schulische Selektionsentscheidungen herangezogen. „Die entscheidenden Bedingungen für das Versagen eines Schülers werden in ihm selbst gesucht und sein schulisches Versagen, das in sehr differenzierter Weise durch schulische

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| Teil III: Diagnostik und gesellschaftliche Interaktionsprozesse und ein Versagen der Schulstruktur zustande gekommen ist, wird als individuelles Problem deklariert. Schulorganisatorisch wird darauf mit einer Umschulung reagiert“ (Schuck & Ahrbeck, 1986, S. 20 f.). Die Intelligenzdiagnostik, so wie sie in schulischen Kontexten gerne verwendet wird, erweist sich damit als Zirkelschluss, der nicht nur aus diesem Grunde diagnostisch, vor allem aber pädagogisch bedeutungslos und ethisch fragwürdig ist. Zu erwähnen bleibt, dass im diagnostischen Konzept Wechslers sein Intelligentest eine andere Bedeutung hat als die, die ihm in der pädagogischen Diagnostik zugerechnet wird. Es ist im Ursprung ein klinisches Verfahren und dient dort der Testung von Hypothesen über das Ausmaß kognitiver Beeinträchtigungen bei bekannten, vorwiegend exogenen Schädigungen des zentralen Nervensystems. Darauf wird andauernd verwiesen, ohne dass sich die Anwendungsgewohnheiten in der Schule verändert hätten (vgl. u. a. Eggert, Schuck und Tewes (1984) sowie alle Handbücher zu unterschiedlichen Formen des HAWIK und HAWIE). Die gängige Praxis sonderpädagogischer Diagnostik ist damit aufgrund testtheoretischer Erwägungen und der sozialen Determiniertheit sowohl von Testergebnissen als auch des Erreichens von Erfolgskriterien in der Schule mehr als fraglich. Hinzu kommt ein weiteres, auf die schulstrukturellen Zusammenhänge bezogenes erkenntnistheoretisches Argument: Wird aufgrund diagnostischer Informationen eine Neubestimmung des Lernortes vorgenommen, kann sich diese Entscheidung unter den gegebenen Bedingungen unseres Schulsystems fast nicht mehr als falsch erweisen. Allein die Beschulung in einer Sonderschule führt zu einer weiteren Öffnung der Leistungsschere zwischen den Schülerinnen und Schülern der allgemeinen Schule und der Sonderschule. Tatsächlich finden im bundesrepublikanischen Gesamtzusammenhang weniger als ein Prozent von Schülerinnen und Schülern der Schule für Lernbehinderte den Weg zurück in die allgemeine Schule, obwohl unter alternativen pädagogischen Konzepten Schülerinnen und Schüler der Schule für Lernbehinderte Hauptschulabschlüsse erreichen können (vgl. Wilkens & Schuck, 1986). Im historischen Prozess der Auseinandersetzung um diagnostische Methoden und Strategien gab es eine Phase ‚systemimmanenter Kritik‘ (vgl. Schuck & Eggert, 1982), in der man sich mit dem Anspruch auseinandersetzte, aufgrund diagnostischer Daten punktuelle Schullaufbahnentscheidungen hoher Gültigkeit treffen zu wollen, für die vor allem die eigenschaftsorientierten Verfahren wie geschaffen schienen. Frühes Ergebnis dieser Diskussionen ist die Erkenntnis, dass ein diagnostisches Instrumentarium so reliabel und valide wie nur denkbar sein kann, ohne dass die für eine ‚fehlerfreie‘ und verantwortbare Zuordnung zu den relativ undurchlässigen Kategorien des Schulsystems notwendige Präzision je erreicht werden könnte. Bei der Einschulungsdiagnostik wurde dieses Dilemma in besonderer Weise herausgearbeitet (Krapp & Mandl, 1977) und gefolgert, dass dem selektiven und damit prospektiven Anspruch an die Diagnostik ein evaluativer, die Förderung konzipierender und begleitender Anspruch entgegenzusetzen sei. Doch taugen die Beurteilungsperspektiven norm- und kriteriumsorientierter Verfahren für eine solche Verflechtung von Diagnostik und Förderung? Bei einer normorientierten wie auch bei einer kriteriumsorientierten Leistungsbeurteilung erfährt der Diagnostiker bei einem eventuellen Abstand zum imaginären Durchschnitt oder dem lehrplanorientiert definierten Kriterium nur, dass eine besondere Förderung notwendig ist, wenn man eine Angleichung der Schülerinnen und Schüler an wie auch immer definierte Erwartungs-



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werte aus dem verwendeten Bildungsbegriff heraus überhaupt verfolgen will. Das kann eine sinnvolle Information sein, sie hilft aber in der Regel nicht bei der inhaltlichen Gestaltung einer Förderung. „Denn werden die Leistungen eines Individuums an den Leistungen einer Gruppe gemessen und seine ‚Fähigkeiten‘ im Spiegel der Leistungen anderer bestimmt, so ist das Ergebnis dieses Bestimmungsvorganges fast vollständig abhängig von den Leistungen anderer und keineswegs ein Faktum, was ganz allein dem Individuum zuzurechnen wäre. Die Individualität eines diagnostizierten Subjektes wird damit im Spiegel des als allgemein gedachten Konstrukts einer an sich vorhandenen Fähigkeit verobjektiviert, ohne dass durch die relative Positionsbestimmung erkennbar werden könnte, welche Förderung angezeigt ist“ (Schuck, 2000, S. 240). 9.2.2 Lernziele als Bezugssysteme für die Beurteilung individueller Leistungen Als Konsequenz der Kritik am indirekten Modell diagnostischer Schlussweisen schlagen Goldfried und Kent (1974, S. 3 ff.) die verhaltensorientierte Diagnostik vor. Dort erfolgt die Vorhersage des Kriteriumsverhaltens direkt und ohne Rückgriff auf ein Merkmalskonstrukt auf der Grundlage der in der Testsituation erhobenen Verhaltensstichprobe. Die Autoren beschreiben den Unterschied zwischen der eigenschafts- und verhaltensorientierten Diagnostik wie folgt: „Im Gegensatz zur psychodynamischen Orientierung, die ihr Augenmerk auf die Charakteristika richtet, die ein Individuum ‚hat‘, betont der behavioristische Ansatz mehr, was eine Person in verschiedenen Situationen ‚tut‘“ (S. 8). Es wird somit nicht mehr versucht, in der Testsituation eine hypothetische ‚Eigenschaft‘ zu operationalisieren, sondern es gilt, in den Testsituationen das Kriteriumsverhalten repräsentativ abzubilden. Goldfried und Kent sehen damit den diagnostischen Schlusskreis um eine Schlussfolgerungsebene verkürzt und die Präzision der Vorhersage erhöht. Geblieben ist die Passivitätsannahme, die nun zwar nicht mehr von der Wirkung eines Persönlichkeitsmerkmals ausgeht, sondern im behavioristischen Sinne von der determinierenden Kraft der Umwelteinflüsse. Die so genannte lernzielorientierte bzw. kriteriumsorientierte Diagnostik bedient sich einer in dieser Weise direkteren Diagnostik. Die Aufgaben lernzielorientierter Tests sind von der Konzeption her repräsentative Aufgabensammlungen des Konstrukts. Das Konstrukt sind die gesetzten Normen dessen, was zu einem bestimmten Zeitpunkt gekonnt werden soll. So ist die Orientierung der Leistungsmessung in der Schule an extern gesetzten Lernzielen eine konstituierende Bedingung. Im Gegensatz zur normorientierten Messung wird in der lernziel- bzw. kriteriumsorientierten Diagnostik konzeptionell eine individuelle Leistung im Hinblick auf einen definierten Leistungsstandard hin interpretiert. Die individuelle Leistung wird auf dem Hintergrund der Folie der in Standards ausgedrückten erwarteten Leistungen interpretiert und dabei festgestellt, ob und in welchem Ausmaß gesetzte Lernziele erreicht wurden. Die Ergebnisse jedes Schulleistungstests können dabei sowohl norm- als auch lernzielorientiert interpretiert werden. In unserem Schulsystem dominiert aufgrund der vorherrschenden Selektions- und Vorhersagefragen jedoch die normbezogene Interpretation. Ob normoder kriterienbezogen gemessen und interpretiert wird, hängt damit von der Funktion ab, die ein diagnostisches Datum im Rahmen einer pädagogischen Entscheidung haben

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| Teil III: Diagnostik soll. So ist im britischen Schulsystem die lernzielorientierte Perspektive allgegenwärtig. Gefragt wird nicht, wie gut oder schlecht ein Kind im Vergleich zu anderen ist, sondern im Mittelpunkt des Interesses steht, was ein Kind zu einem gegebenen Zeitpunkt bezogen auf hierarchisierte Curricula bereits kann und welche Aspekte des Lerngegenstandes auf der extern gesetzten Curriculumsleiter nunmehr in Sicht kommen. Die lernzielorientierte Diagnostik darf im Hinblick auf die Frage der Nutzbarkeit diagnostischer Informationen für die anschließende Förderung durchaus als Fortschritt gesehen werden. Die gegenwärtige individuelle Leistung erhält ihre Bedeutung nicht durch die Leistungen anderer, sondern allein die Differenz zum extern gesetzten Standard ist in der lernzielorientierten Diagnostik die konzeptionelle Beurteilungsfolie. 9.2.3 Der Entwicklungsbezug und das Modell der strukturorientierten Diagnostik Norm- wie lernzielorientierte Messungen beziehen sich durchweg auf außerindividuelle Bezugspunkte, die nach teststatistischen Kriterien operationalisiert werden. Die Logik des Gegenstandes und die Perspektive des Subjekts sind bei einer solchen Messtechnik allenfalls indirekt angesprochen. Das Modell einer strukturorientierten Diagnostik (Probst, 1982; vgl. z. B. auch Waniek, 1999) konzipiert Diagnose und Förderung unter einem theoretischen Dach und geht zudem auf Basis der Aktivitätsannahme von der Idee aus, dass es jedem Individuum aufgegeben ist, die Logik der Welt bzw. der Lerngegenstände durch eigene geistige Aktivitäten zu rekonstruieren (vgl. Schuck, 2000, S. 240 ff.). Das Modell unterscheidet zwei Konstrukte: (1) die Strukturen, d. h. die ‚Entwicklungslogik‘ des Gegenstandes, und (2) auf der Seite des Individuums das bereits erreichte Niveau der Aneignung des Gegenstandes. Das individuelle Aneignungsniveau ist die diagnostische Kategorie, mit der in Kenntnis einer personunabhängigen Logik des Gegenstandes danach gefragt wird, welche Strukturen des Gegenstandes das Individuum bereits in eigene, innere Strukturen transformiert hat und welchen nächsten Entwicklungsschritt das Kind bezogen auf die qualitativen und standardisiert erfassbaren Strukturen des Gegenstandes ansteuern kann. Diagnose und Schlussfolgerungen für den nächsten Entwicklungsschritt sowie die Schaffung förderlicher Anforderungen für die Anregung des weiteren Rekonstruktionsund Konstruktionsprozesses des Kindes werden aus einem entwicklungspsychologisch begründeten Bezugssystem heraus gewonnen, so dass die Einheit zwischen Diagnose und Förderung hergestellt wird (vgl. Probst, 1983, S. 79). Die Einheit von Diagnose und Förderung wird damit nicht über extern gesetzte Lernziele hergestellt, sondern durch die Verallgemeinerung entwicklungspsychologischen Wissens. Was mit dieser in einigen diagnostischen und didaktischen Materialien umgesetzten Programmatik verfolgt wird, ist Teil vieler impliziter und expliziter didaktischer Konzeptionen. So hat jede Pädagogin und jeder Pädagoge für sich Vorstellungen darüber entwickelt, wie ein ‚Lerngegenstand‘, z. B. die Schriftsprache oder das Rechnen, ‚aufgebaut‘ ist und wie sich Kinder ihn am besten aneignen. Dementsprechend gestalten Lehrkräfte ihren Unterricht und führen Lernkontrollen durch, mit denen sie prüfen, ob ein Schüler bereits in den Stoff (in wünschenswerter oder vergleichbarer Weise) eingedrungen ist.



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Entsprechendes Material wird entweder ausgewählt oder hergestellt. Es wird, wie es im Modell der strukturorientierten Diagnostik geschieht, die Lerntätigkeit des Kindes und das Niveau seiner aktuellen Leistungen mit dem eigenen Vergleichswissen über kindliche Lerntätigkeit und den Strukturen des Lerngegenstandes konfrontiert, um aus diesem Ergebnis Schlussfolgerungen für die nachfolgende Förderung ziehen zu können. Diese Denkfigur wird im Modell der strukturorientierten Diagnostik aufgenommen und in Forschungen zur Entwicklungslogik sowie zur materialen Repräsentation der gedachten Entwicklungsstufen von Lerngegenständen überführt. Hier sieht Probst den Schnittpunkt, in dem sich Einsichten über die Struktur und Didaktik von Lerngegenständen der Pädagogen mit der messtechnischen Phantasie von Psychologen zur Entwicklung qualitativer, lernprozessorientierter, auf die Struktur des Lerngegenstandes bezogener Materialien treffen müssen (vgl. Probst, 1992, S. 170, 176 f., 1994). Anders als Modelle normorientierter und lernzielorientierter Diagnostik, die die inneren Vorgänge der Aneignung eines Gegenstandes nicht zum Thema machen, können im Modell der strukturorientierten Diagnostik aus der relativen Positionsbestimmung eines Individuums im Hinblick auf den Gegenstand gegenstandsbezogene Anforderungen für ein Förderkonzept abgeleitet werden, die eine Lerntätigkeit in der ‚Zone der nächsten Entwicklung‘ ermöglichen. Die relative Positionsbestimmung ist nicht mehr ein quantitativer Vergleich, sondern ein Vergleich der Handlungsmöglichkeiten des Individuums mit den qualitativen Stufen des Lerngegenstandes. Derzeit sind bereits zentrale Entwicklungsbereiche so weit bekannt und durchgearbeitet, dass strukturbezogene Materialien zur Gestaltung der diagnostischen Tätigkeit und des pädagogischen Handelns verfügbar sind. Hierzu zählen die Entwicklung von Oberbegriffen (Probst, 1981), die Entwicklung des Zahlbegriffs (Kutzer & Probst, o. J.) und neuere Arbeiten zur Entwicklung der Schriftsprache (Probst, 1996). Aufs Ganze gesehen sind die unter dem Etikett der strukturorientierten Diagnostik beschriebenen Ansätze schon jetzt praktisch äußerst hilfreiche Konzeptionen, wenn ihre Anwendung mit allen Konsequenzen für die Förderung in einem passenden Schulkonzept aufgehoben ist, z. B. in einem struktur-niveauorientierten Unterricht nach Kutzer (1982, 1999). Die Idee der strukturorientierten Diagnostik wird allerdings sofort ad absurdum geführt, wenn der Lehrer sein Wissen um das erreichte Aneignungsniveau beim Kind am Ende einer Unterrichtsphase nur in eine Note, d. h. in einer an den Leistungen anderer Kinder orientierten relativen Positionsbestimmung, umwandelt und dem Kind keine seinem Aneignungsniveau entsprechende Unterstützung gewährt, ihm keine Zeit gibt und keine Chance lässt oder lassen kann, das gewünschte und mögliche Aneignungsniveau zu erreichen.

9.3

Diagnostische Strategien

Die Qualität diagnostischen Handelns wird nicht nur bestimmt durch die Qualität und den theoretischen Hintergrund der verwendeten Methoden, sondern vor allem durch die Güte einer Strategie der Informationssammlung, der Interpretation der Information und deren Verwertung. Die strategische Frage wird neuerdings durch die allgemein betonte Notwendigkeit der Entwicklung von Förderplänen und deren Evaluation neu aufgeworfen (vgl. dazu Kapitel 13, Schuck, Lemke & Schwohl in diesem Band).

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| Teil III: Diagnostik 9.3.1 Das lineare Modell einer einfachen Hypothesenprüfung Im klassischen Überweisungsverfahren zur Sonderschule für Lernbehinderte wurde traditionell eine einfache, schulsystemkonforme diagnostische Strategie und Hypothesenprüfung verwendet. Leitend war dabei das Gutachten Kanters (1974) und die daraus abgeleitete Operationalisierung, dass eine Lernbehinderung dann angenommen werden könne, wenn die Intelligenzleistung im Bereich zwischen der negativen ersten und dritten Standardabweichung eines validen standardisierten Intelligenzmessverfahrens liege und wenn zugleich ein erhebliches Schulversagen gegeben oder zu erwarten sei (Deutscher Bildungsrat, 1973, S. 38). Auf dem Boden dieser Definition, die in viele Erlasse und Verordnungen der Bundesländer übernommen wurde, sind jahrzehntelang sonderpädagogische Gutachten nach einer einfachen, linearen diagnostischen Strategie verfasst worden. Zumeist wurde das von der meldenden Schule attestierte Schulversagen nicht einmal geprüft, sondern als gegeben hingenommen und nur noch eine Überprüfung der Intelligenz vorgenommen, um mit Bezug auf kritische Intelligenztestwerte oder -bereiche eine Entscheidung über die „Sonderschulbedürftigkeit“ zu treffen. In einer ersten Stufe der Qualitätsverbesserung sonderpädagogischer Gutachten wurde wenigstens mit dem S-L-S (Reinartz, 1974), dem Schulleistungstest für lernbehinderte Schüler, aufgrund der festgestellten Schulleistungen eine Einstufungsentscheidung innerhalb der Sonderschule vorgenommen (vgl. Schuck & Eggert, 1982). 9.3.2 Zyklische Modelle der Diagnostik Ein qualitativer Sprung wurde durch die Veröffentlichung von Kautter und Munz (1974) eingeleitet, die viele Vorschläge für komplexe Datenerhebungsstrategien (z. B. Kornmann, 1983; Kleber, 1978; Kautter, Munz, Sautter & Schoor, 1985; Schuck, zuletzt 2003) zur Folge hatte. Es sind nach heutiger Terminologie in der Regel ökosystemische Ansätze (vgl. Hildeschmidt & Sander, 1988), die das Schulversagen als multidimensional bedingt ansehen, es nicht mehr allein durch Personvariablen erklären und Bedingungen des gesamten schulischen (vor allem unterrichtlichen) und familiären Sozialisationshintergrundes in eine hypothesengenerierende und -prüfende Strategie der Diagnostik und der darauf bezogenen, nachfolgenden Förderung einbeziehen. Diagnostik wird nicht mehr als punktuelles Ereignis verstanden, sondern als mehrphasiger Prozess konzipiert. Der umfassende Vorschlag von Kautter und Munz (1974) zur Gestaltung der sonderpädagogischen Diagnostik geht auf ein entsprechendes handlungstheoretisch inspiriertes Modell Kaminskis (1970) für die klinische Psychologie zurück. Zentral ist dabei die Frage des Zusammenhangs von Diagnose und Förderung sowie der Wunsch, mit komplexen diagnostischen Strategien Prozesse des Lernens, der Entwicklung und der Förderung zu planen, anzuregen und zu begleiten, wobei umfassend alle individuellen und ökosystemischen Bedingungen zu berücksichtigen sind, die mit eben jenen Prozessen in Verbindung stehen könnten. Immanent werden in den vorliegenden Handlungsmodellen zur Diagnostik die zentralen Gesichtpunkte des TOTE-Modells von Miller, Galanter und Pribram (1973) zur Beschreibung kleinster Handlungseinheiten aufgenommen, auf das schon Kaminski (1970) zurückgegriffen hat. Es geht nach diesem Modell bei allen



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Formen der Handlungsregulation um IST-SOLL-Diskrepanzen und deren Ausgleich. Gewissermaßen in einem ersten diagnostischen Schritt wird nach diesem Modell zunächst ein IST-SOLL-Vergleich durchgeführt, sodann werden in einem zweiten Schritt Aktivitäten zur Auflösung möglicher Differenzen eingeleitet und schließlich im dritten Schritt mit einem weiteren diagnostischen Zugriff überprüft, ob die IST-SOLL-Diskrepanzen wirklich nicht mehr existieren und das System sich damit im Gleichgewicht befindet. Gewendet auf schulische Zusammenhänge wäre mit einer entsprechend inspirierten pädagogischen Strategie nach eventuellen Diskrepanzen zwischen pädagogischen Zielen, Anforderungen und Erwartungen einerseits und den Leistungen, dem Verhalten, dem Entwicklungsniveau auf der Seite der Schülerinnen und Schülern andererseits zu fragen. Dem hätten Aktivitäten zur Verringerung der eventuell gefundenen Diskrepanzen zu folgen, und schließlich müsste in einer weiteren diagnostischen Phase geprüft werden, ob die ehemals gefundenen Diskrepanzen zwischen IST- und SOLL-Zuständen nicht mehr bestehen. Konsequent konzipieren Kautter und Munz (1974, S. 329 f.) diagnostisches und damit pädagogisches Handeln als einen zweistufigen Prozess: Zunächst werden in einer diagnostischen Phase (1) Hypothesen über den gegenwärtigen Zustand und seinen Bedingungshintergrund, (2) Hypothesen über den zu erreichenden Zielzustand und (3) über die Änderungsumstände entwickelt. Die diagnostische Phase ist beendet, sobald dem Diagnostiker die Hypothesen für den Einstieg in die Planung und Durchführung der praktischen Phase ausreichen. Nach geraumer Zeit der Realisierung der praktischen Phase wird entweder lernprozessbegleitend oder punktuell unter Einsatz diagnostischer Mittel gefragt, ob die beobachteten Entwicklungen sich in Übereinstimmung mit den Eingangshypothesen befinden. Wenn das so ist, sind die Ziele der Handlungssequenz erreicht. Wenn nicht, wäre nach Kautter und Munz entweder die praktische Phase zu modifizieren oder durch eine neuerliche große Diagnostik das Hypothesengebäude über die IST- und SOLL- sowie die Änderungsumstände, d. h. über die auf diesem neuen Hintergrund notwendigen pädagogischen Maßnahmen, zu erweitern. Der Kerngedanke dieses und der vielen Folgemodelle liegt in der Auffassung, dass verantwortbare Diagnostik in eine gewissermaßen experimentelle Strategie auf kritischrationalistischem Hintergrund eingebunden ist, die systematisch Hypothesen vor allem zur notwendigen Förderung generiert und sie in einer praktischen Phase überprüft. Die kritisch-rationalistische Grundidee dieser Modelle weist den jeweiligen Diagnoseergebnissen nur einen vorläufigen, hypothetischen Charakter zu und akzeptiert Hypothesen nur so lange als wahr, wie sie im nachfolgenden Prozess der Förderung nicht falsifiziert werden konnten. Diagnostische Schlussfolgerungen müssen sich erst im pädagogischen Prozess bewähren, um vorläufig und weiterhin handlungsleitend sein zu können (vgl. Schuck, 1990, S. 109 ff.). Ein solches Denken verlangt flexible schulische Strukturen, unter denen sich diagnostische Hypothesen als falsch bzw. als erweiterungsbedürftig herausstellen können. Diese Bedingung ist im gegliederten Schulsystem eher nicht gegeben. Denn die Ergebnisse in den ersten diagnostischen Phasen führen, so lange es Sonderschulen gibt, zu einer Neubestimmung des Lernortes. Die dort verwirklichte Pädagogik führt jedoch regelhaft zu individuellen Entwicklungen im Leistungsbereich, die eine neuerliche Neubestimmung des Lernortes als eher unwahrscheinlich erscheinen lassen. Immerhin wären auf dem Hintergrund der KMK-Empfehlungen von 1994 jene Schulstrukturen zu schaffen, die ein solches experimentelles Verfahren der Diagnose und Förderung ermöglichen könnten.

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| Teil III: Diagnostik Kautter und Munz (1974) sind wie viele Autoren ihrer Zeit einem kritisch-rationalistischen Denken verpflichtet, welches die Verifikation nicht kennt und im experimentellen Design alle Anstrengungen unternimmt, um die handlungsleitenden Hypothesen zu falsifizieren und hernach zu modifizieren. Die ‚Wahrheit‘ an sich gibt es in diesem Denken nicht, sondern nur die vorläufige Beibehaltung nicht falsifizierter Hypothesen. Oder anders gewendet: Hypothesen werden so lange nicht modifiziert, wie sie sich unter den nachfolgenden pädagogischen Aktivitäten bewähren. Zum Wahrheitskriterium wird die nach akzeptierten Regeln der sozialwissenschaftlichen Forschung ablaufende Überprüfung von Hypothesen, was an sich schon ein Fortschritt war, aber im Modell eines reflexiven Subjekts (Groeben & Scheele, 1977) eine Revision fand. Die Aktions- bzw. Handlungsforschung (vgl. Moser, 1977) hat dort einen alternativen ‚Wahrheitsbegriff‘ entwickelt, dem in pädagogischen und Therapiesituationen verstärkt Geltung verschafft werden sollte. Wenn schon ein Bild gebraucht wird, in dem sich der Mensch selbstreflexiv, eigenaktiv, autonom und in eigener Verantwortlichkeit entwickelt, so ist der ‚Proband‘ in der klassischen Terminologie in neuer Weise in den Prozess der Diagnose und Förderung als gleichberechtigter Partner einzubinden. Die Handlungsmaximen und Handlungsstrukturen der Partner sollten in diesem Modell in einem diskursiven Prozess rekonstruiert und weiter entwickelt werden. ‚Objektivität‘ im klassisch-testtheoretischen Sinne als die Grundlage für eine ‚Wahrheitsfindung‘ wird in Konzepten der Handlungsforschung abgelöst durch die ‚Wahrheit im Diskurs‘, durch die immer währende Überprüfung gemeinsamer Erkenntnisse der Partner in Förder- bzw. Therapiesituationen und der immer währenden, kooperativen Fortentwicklung von Handlungsorientierungen für die nächsten Schritte in der Verwirklichung eines pädagogischen Konzepts (vgl. Schuck 1987, S. 81 f., 1990, S. 119 f.).

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Kapitel 9: Wegmarken der Entwicklung diagnostischer Konzepte | 165

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| Teil III: Diagnostik Tewes, U., Neubauer, A. & von Aster, M. (Hrsg.). (in Vorbereitung). HAWIE-III. Hamburg-Wechsler-Intelligenztest für Erwachsene – Dritte Auflage. Manual. Übersetzung und Adaption der WAIS-III von David Wechsler. Bern: Huber. Tewes, U., Rossmann, P. & Schallberger, U. (Hrsg.). (2002). HAWIK-III. Hamburg-Wechsler-Intelligenztest für Kinder III – Dritte Auflage. Manual. Übersetzung und Adaption der WISC-III Wechsler Intelligence Scale for Children – Third Edition von David Wechsler (3. neu bearbeitete Aufl.). Bern: Huber. Waniek, D. (1999). Überlegungen zum Konzept einer lernstrukturorientierten Diagnostik und Didaktik und zu dessen Bedeutung im elementaren Mathematikunterricht. In H. Probst (Hrsg.), Mit Behinderungen muss gerechnet werden. Der Marburger Beitrag zur lernprozessorientierten Diagnostik, Beratung und Förderung (S. 70-104). Solms-Oberbiel: Jarick Oberbiel. Wechsler, D. (1964). Die Messung der Intelligenz Erwachsener. Textband zum Hamburg-WechslerIntelligenztest für Erwachsene [HAWIE] (3. Aufl.). Bern: Huber (Original erschienen 1939: The measurement of adult intelligence). Wilkens, K. & Schuck, K. D. (1986). Sonderschule und was dann? Zeitschrift für Heilpädagogik, 37 (5), 312-321.

10 Diagnostik vom Standpunkt des Subjekts Joachim Schwohl Bei der Identifikation von Lernschwierigkeiten und so genannten Lernstörungen finden zunehmend subjektorientierte Theorien Berücksichtigung; seien es Ansätze wie etwa der von Schlee (1998, 2000), bei dem es um die Feststellung subjektiver Theorien und deren planvolle Veränderung geht, oder der von Kautter (1998), der es zum Ziel des diagnostischen Prozesses erhebt, Zugang zu der inneren Realität des Subjekts zu finden. Im Folgenden wird sich in Abgrenzung dazu auf eine Position bezogen, die vom subjektwissenschaftlichen Verständnis der Kritischen Psychologie (Holzkamp, 1985) ausgeht und die nicht nur den Subjektstandpunkt würdigt, sondern genauso die ‚Weltseite‘ berücksichtigt (vgl. Holzkamp, 1985, S. 539) und dabei den individuellen Lebensprozess im Zusammenhang mit dem gesellschaftlichen Prozess rekonstruiert. Diese doppelseitige Betrachtung ist angezeigt, da das Subjekt einerseits die Welt und die Erscheinungen dieser Welt nur so erleben kann, wie sie ihm begegnen. Andererseits hat die Welt eine objektive Bedeutung: auf Grund der in ihr durch gesellschaftliche Arbeit produzierten allgemeinen Gebrauchszwecke („Verallgemeinertes-Gemachtsein-Zu“ von Gegenstandsbedeutungen (Holzkamp, 1995, S. 282)) sowie durch die sozialen Verhältnisse, die sich wiederum aus der Art und Weise der Produktion der Gebrauchszwecke ergeben (vgl. Holzkamp, 1985, S. 291 ff., 1995, S. 22). Die ontogenetische Entwicklungsaufgabe des Subjekts besteht unter dieser Perspektive darin, die gesellschaftlich gewordenen, objektiven Bedeutungen der Welt für sich durch Lernen als eine spezifische Form menschlichen Handelns zu erschließen. Im diagnostischen Prozedere zur Analyse der Lernaktivitäten eines Heranwachsenden muss deshalb zunächst eine Vorstellung davon entwickelt werden, wie Lernen als Zugang zu den sachlich-sozialen Bedeutungszusammenhängen zu verstehen ist und welche Gründe Schüler und Schülerinnen für ihr Lernen in der Schule haben. Obwohl mittlerweile im wissenschaftlichen Diskurs weitgehend die Aktivitätsannahme (vgl. 9.1.2, Schuck in diesem Band) favorisiert wird und somit davon ausgegangen wird, dass Lernen ein aktiver und selbstgesteuerter Prozess des Lernenden ist, wird Lernen in der schulischen Praxis nach wie vor mit reglementiertem Lernen gleichgesetzt (vgl. Holzkamp, 1995, S. 13). In der schulischen Praxis dominiert noch immer das Verständnis, dass es im Unterrichtsprozess nur ein Subjekt gäbe, nämlich den Lehrer oder die Lehrerin. Holzkamp (1995) hat dieses Verständnis in den Begriffen „Lehrlernen“ (S. 391) bzw. „Lehrlernkurzschluss“ (S. 395) gefasst. Der Lernende wird nur als abhängige Größe, als Objekt in einem von der Lehrkraft bereitgestellten ‚Lernarrangement‘ verstanden. Dieses „Lehrlernen“ spiegelt im Prinzip die Struktur variablenpsychologischer Experimente wider. Wie der Versuchsleiter, so stellt auch die Lehrkraft Bedingungen für die Schüler und Schülerinnen her und untersucht, wie sie auf diese reagieren (vgl. Kruse, 1996, S. 53). In seiner Auseinandersetzung mit verschiedenen Lerntheorien weist Holzkamp (1995) nach, dass nicht die (Versuchs-) Bedingungen an sich zu bestimmten Handlungen führen, sondern, dass diese Bedingungen Begründungen implizieren, die ein bestimmtes Handeln nahe legen. So lassen sich z. B. „die Wirkungen ‚positiver‘ Verstärkung beim instrumentellen bzw. operanten Konditionieren mühelos als BGM [Begründungsmuster; Anm. d. Verf.] formulieren: Wenn jemand für eine bestimmte Handlung mehrfach eine

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Belohnung erhalten hat, dann führt er (bei Abwesenheit anderer Begründungsprämissen) vernünftigerweise diese Handlung zum Zwecke der neuerlichen Herbeiführung des belohnenden Ereignisses wieder aus“ (Holzkamp, 1991, S. 10). Daraus schlussfolgert Holzkamp (1995, S. 24): „‚Äußere‘ Ereignisse [gehen] zwar auch in Handlungsbegründungen ein, ebenso können dabei kausale Zusammenhänge berücksichtigt werden, aber nicht unter dem Aspekt ihrer direkten Ein- bzw. Auswirkungen, sondern (in der Art, wie ich sie erfahre) als ‚Prämissen‘ für die Begründungen meiner Handlungsvorsätze: Derartige Prämissen sind nicht eindeutig von außen determiniert, sondern vom Subjekt im Kontext seiner Handlungen aktiv selegiert bzw. hergestellt, mithin sowohl Voraussetzung wie Resultat des Handlungsverlaufs.“ Oder verallgemeinert: Die gesellschaftlichen Reproduktionsnotwendigkeiten determinieren nicht direkt das jeweilige Handeln der Individuen, sondern diese Bedingungen enthalten für das Subjekt immer auch die Möglichkeit, sich zu diesen Bedingungen zu verhalten. „Demzufolge sind die individuellen Handlungen nicht durch die gesellschaftlichen Verhältnisse bedingt, sondern – wie immer vermittelt – in diesen ‚begründet‘, wobei die jeweils erfahrenen Lebensbedingungen in ihrem Verhältnis zu den Lebensinteressen des Individuums die wesentlichen ‚Prämissen‘ für derartige Handlungsgründe sind“ (Holzkamp, 1997a, S. 35). Menschliches Handeln und damit auch Lernen ist daher nicht mit so genannten ‚Wenn-dann-Hypothesen‘ zu konzeptionalisieren. Aus diesem Grund kann die Analyse von Lernprozessen nicht im „Bedingtheitsdiskurs“, sondern muss im „Begründungsdiskurs“ geführt werden (vgl. Holzkamp, 1995, S. 30 ff. – Hervorhebungen v. Verf.). Lernen liegt im genuinen Interesse des Menschen, weil es nicht nur dazu beiträgt, die Einschränkung der Lebensverhältnisse schrittweise zu reduzieren, sondern auch hilft, die Verfügung über die für das Subjekt jeweils relevanten Lebensbedingungen zu erweitern (vgl. Holzkamp, 1995, S. 190). Lernen findet dann statt, wenn eine Handlungsproblematik nicht mit dem Handlungsrepertoire zu bewältigen ist, welches bis dahin angeeignet wurde. Zwar gibt es vielfältige Widersprüche bzw. Problematiken, die nicht erst durch Lernen zu bewältigen sind, sondern durch unmittelbares Handeln. „Diese werden zu ‚Lernproblematiken‘ erst dann, wenn das Subjekt einerseits eine bestimmte Handlungsproblematik nicht direkt überwinden kann, aber andererseits antizipiert, dass durch das Dazwischenschieben einer Lernphase eine solche Überwindung der Handlungsproblematik möglich sein wird“ (Holzkamp, 1997b, S. 223). Das heißt, Lernen kommt nicht ‚einfach so‘ in Gang und auch nicht dadurch, dass von dritter Seite entsprechende Lernanforderungen an das Subjekt gestellt werden. Lernanforderungen werden eben nur dann zu einer Lernproblematik, wenn das Subjekt sie ‚bewusst‘ als solche übernimmt, was aber die Einsicht voraussetzt, dass es hier etwas für sich zu lernen gibt. Für die Förderdiagnostik und bei der anschließenden Benennung etwaiger Förderziele ergibt sich hieraus die Notwendigkeit, den Standpunkt des bzw. der Lernenden entsprechend zu berücksichtigen. Andernfalls sind die Förderziele nichts anderes als von außen herangetragene Lernanforderungen, die nicht zwingend eine Handlungs- bzw. eine Lernproblematik für das Subjekt darstellen müssen, auf die dann mit Lernen ‚reagiert‘ wird. Hilfreich bei der Analyse des Handelns von Schülerinnen und Schülern in der Schule ist Holzkamps Untergliederung von Lernprozessen in expansives und defensives Lernen. Mit Hilfe dieser Unterscheidung kann aufgezeigt werden, wie Lernarrangements das Lernen behindern können. Holzkamp (1995, S. 190) spricht vom expansiven Lernen,



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wenn der Lernende den „Zusammenhang zwischen lernendem Weltaufschluß, Verfügungserweiterung und erhöhter Lebensqualität“ herstellen bzw. antizipieren kann. Die Anstrengungen und Risiken des Lernens werden in solchem Fall vom Lernenden unter der Prämisse übernommen, dass sie seine Handlungsmöglichkeiten erweitern. „Expansiv begründetes Lernen bedeutet ... nicht Lernen um ‚seiner selbst‘, sondern Lernen um der mit dem Eindringen in einen Gegenstand erreichbaren Erweiterung der Verfügung/Lebensqualität willen“ (Holzkamp, 1995, S. 191). Anders liegt der Fall beim defensiven Lernen, bei dem die Gründe des Subjekts für die Realisierung von Lernhandlungen in der Abwehr einer Einschränkung seiner „Weltverfügung/Lebensqualität“ liegen. Das Subjekt sieht sich „begründetermaßen gezwungen zu lernen, obwohl die Möglichkeit der motivationalen Lernhandlung“ für das Subjekt nicht besteht, da es nicht die Alternative hat, sich der Lernanforderung zu entziehen (Holzkamp, 1995, S. 191). Nach Holzkamp geht es beim defensiven Lernen nicht um die Bewältigung einer Lernproblematik, sondern lediglich um die Bewältigung einer Handlungsproblematik (Holzkamp, 1995, S. 191). Wenn sich aber bewusst gemacht wird, welches die eigenen Gründe des Lernens sind, und dabei realisiert wird, dass es sich um defensive Lerngründe handelt, dann eröffnet sich dem Subjekt die Alternative der Lernverweigerung oder die der Gewinnung eines umfassenderen Zugangs zum Lerngegenstand. Während sich das Subjekt beim defensiven Lernen von den von außen herangetragenen Anforderungen und der damit verbundenen Abwehr von Bedrohungspotenzialen leiten lässt, sind seine Lernaktivitäten beim expansiven Lernen durch die sachlichen Notwendigkeiten bestimmt, die sich aus dem Prozess des Eindringens in den für das Subjekt problematischen Lerngegenstand ergeben. In der Regel lernen die Schülerinnen und Schüler in der Schule nicht, weil sie die dargebotenen Lerngegenstände als relevant für die Erweiterung ihrer Handlungsmöglichkeiten erachten, sondern ihnen geht es um die Situationsbewältigung mittels Lernens. „Dabei sind Ausmaß und Art des Lernens nicht primär am Lerngegenstand orientiert, sondern werden letztlich daran bemessen, wieweit sie für die Vermeidung der antizipierten Nachteile und Bedrohungen taugen“ (Holzkamp, 1997c, S. 199). Zweifellos gibt es für die Schülerinnen und Schüler in der Schule eine Menge Nützliches und Wissenswertes zu lernen. Allerdings werden ihre subjektiven Lerngründe nur unzureichend zur Kenntnis genommen, wenn nicht gar negiert. Damit werden die in der Schule gegebenen Lernmöglichkeiten in spezifischer Weise eingeschränkt. Für den Schüler erscheint es so, als ob das Lernen nicht etwas ist, was in seinem Lebensinteresse liegt und bei dem er lediglich Unterstützung benötigt, sondern etwas, zu dem er von der Schulorganisation gezwungen werden muss. „Man geht hier offenbar davon aus, daß ich aus freien Stücken – also ohne die konzentrisch ... angeordneten schulischen ‚Maßnahmen‘ (Schulpflicht, Ordnungsmaßnahmen, Aufsicht, Anwesenheits- und Aufmerksamkeitspflicht, Bewertung/Abwertung etc.) – mich dem ‚Unterricht‘ als schulischer Lernbedingung nicht aussetzen würde“ (Holzkamp, 1995, S. 446). Dies legt den Schülerinnen und Schülern letztlich nahe, ihre Lernproblematik nicht im dargebotenen Lerngegenstand zu suchen, sondern ihr eigentlicher Lerngegenstand ist: „Die Institution Schule und die Möglichkeit, in ihr zu überleben“ (Hackl, 1993, S. 46). Als Beispiele hierfür lassen sich das Täuschen bei Klassenarbeiten oder das Abschreiben von Hausaufgaben anführen. Aber ebenso Unterrichtsstörungen oder auch die Verweigerung der Mitarbeit im Unterricht lassen sich durch diesen Umstand erklären. Die in der Schule dargebotenen Lerngegenstände

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werden nicht als Potenzen gesehen, die der Erweiterung der eigenen Handlungsmöglichkeiten dienen, sondern treten den Schülerinnen und Schülern als Lernzwang gegenüber. Deswegen muss es Ziel einer subjektwissenschaftlich orientierten Diagnostik sein, gemeinsam mit dem/der Betroffenen die Begründungsstrukturen für defensives Lernen herauszuarbeiten. Dies ist sogleich die Voraussetzung, um Möglichkeiten für expansives Lernen zu eröffnen. Obwohl schon Freire (1973, S. 57 ff.) die Kritik am wissenakkumulierenden Lernen/ Lehren im Vergleich der Lernenden mit einem Container, der von den Lehrkräften zu füllen ist, zugespitzt hat, legen es die schulischen Rahmenbedingungen bis heute den Lehrkräften nahe, die Vermittlung von Wissen in den Vordergrund des Unterrichts zu rücken. Unbeachtet bleibt, dass durch die Vermittlung von Wissen auch Lernwiderstände erzeugt werden können, wenn den Schülerinnen und Schülern der Sinn ihres Lernens verborgen bleibt, z. B. deshalb, weil sich die Lernanforderung subjektiv gegen ihre momentanen Interessen richtet. Solche „Lernwiderständigkeiten“ sind nach Holzkamp (1987, S. 7) „Enteigentlichung, Zurückgenommenheit, Unengagiertheit, Halbherzigkeit“ bei der Aneignung des jeweiligen Lerngegenstandes. Widerständiges Lernen wird jedoch in traditionellen Lerntheorien nicht bearbeitet und ist mit ihren Kategorien nicht abbildbar. Damit können Lernprobleme von Kindern und Jugendlichen im Denkrahmen traditioneller Lerntheorien nur ungenügend diagnostiziert werden, mit der Folge, dass die Lösung von Lernproblemen an Symptomen orientiert ist, die die eigentliche Lernproblematik nicht berühren (vgl. Holzkamp, 1987, S. 9 ff.). Für einen Schüler kann es subjektiv funktional sein, sich dem Lernen zu verweigern, selbst wenn er damit – aus Sicht des Außenbeobachters – gegen seine eigenen Interessen handelt. Dies wäre ein Fall von Selbstbehinderung (vgl. Holzkamp, 1987, S. 25). Ein Beispiel hierfür: Ein Schüler möchte sich Informationen über ein Tier aus einem Buch aneignen, legt aber das Buch auf Grund seiner Leseschwierigkeiten von vornherein beiseite. Der Schüler kann zugleich „die Erweiterung und die Zurückdrängung seiner Selbstverfügung, die Ausdehnung und Einschränkung seiner Handlungsmöglichkeiten antizipieren. Die notwendige Widersprüchlichkeit seiner Erwartungen spiegelt sich in der Folge in einer strukturell typischen ambivalenten Motivationslage wider: Er ‚will und will zugleich nicht‘ ...“ (Hackl, 1993, S. 44; vgl. auch Holzkamp, 1987, S. 25). Vor diesem Hintergrund kann sich die pädagogische Diagnostik nicht allein mit dem Kind an sich beschäftigen. Thema muss vielmehr das Kind in der Situation und in Abhängigkeit vom Unterstützungsrahmen sein. Denn hieraus ergeben sich die Begründungen für das Handeln der Subjekte. Nur wenn es im diagnostischen Prozess gelingt, Begründungsmuster offen zu legen, die einen Schüler bisher in seinem Lernen behindert haben, kann die Diagnostik einen Beitrag zur Erweiterung der Handlungsfähigkeit der Kinder und Jugendlichen leisten. Es geht dabei gerade nicht darum, Lebenslagen, Haltungen, Einstellungen aus der Sicht des Subjekts als Außenbeobachter zu deuten. Auch können die oben eingeführten Kategorien nicht für die Klassifizierung von Lernverhalten als ‚defensiv‘ und ‚widerständig‘ verwendet werden. Die Kategorien dienen vielmehr der Selbstklärung, denn „Forschung vom Standpunkt des Subjekts heißt ..., dass das Subjekt Forscher seiner selbst wird, und dass es aus der je eigenen Perspektive das je eigene Handeln darauf überprüft, inwieweit es dazu dient, die eigene Handlungsfähigkeit zu erweitern oder es dazu beiträgt, Konflikte zu vermeiden und sich mit den gegebenen



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Verhältnissen zu arrangieren“ (Koch, Schwohl, Schuck & Kornmann, 2000, S. 241). Methodologisch bedeutet dies, die Trennung zwischen den forschenden Experten einerseits – also in diesem Fall den Diagnostizierenden – und den beforschten Schülerinnen und Schülern andererseits, die im traditionellen Forschungsverständnis Objekt der Diagnostik sind, aufzuheben. Damit hebt sich ein in dieser Weise begründeter Ansatz von einer bloßen Subjektorientierung ab, denn letzterer unterscheidet sich von einer Wissenschaft vom Außenstandpunkt im Wesentlichen nur dadurch, dass es zwar „nicht um die Erfassung ‚objektiver‘, direkt beobachtbarer Merkmale und Verhaltensweisen, sondern persönlicher Erfahrungsdaten geht, die allein mit Hilfe der ‚beforschten‘ Subjekte zu erheben sind“ (Osterkamp & Huck, 2003, S. 24), wobei diese dann letztlich nach wie vor „bloße Objekte der Forschung“ bleiben, weil sie sowohl von der Problemstellung als auch von der Interpretation und Theoretisierung der erhobenen Daten ausgeschlossen bleiben (Osterkamp & Huck, 2003, S. 24). Eine Diagnostik, die den Standpunkt des Subjekts wirklich berücksichtigt, steht im unmittelbaren Zusammenhang mit dem Begründungsdiskurs. Dieser ist zwar nur vom je eigenen Standpunkt aus zu führen, da aber die Gründe im Diskurs offen gelegt werden, ist er auch einer intersubjektiven Analyse zugänglich. „Sofern meine Handlungen für mich tatsächlich aus meinen Bedürfnissen und Lebensinteressen ‚begründet‘ sind, müssen diese Gründe prinzipiell auch ‚für Andere‘ einsehbar, also intersubjektiv ‚verständlich‘ sein“ (Holzkamp, 1985, S. 350). Falls sie dem Diagnostizierenden nicht verständlich sein sollten, bedeutet dies keinesfalls, dass die Gründe des anderen irrational sind, sondern dann sind ihm lediglich die Prämissen, aus denen sich die Verständlichkeit, Begründetheit bzw. die subjektive Funktionalität der Handlung ergibt, noch nicht ausreichend deutlich geworden. Über die Orientierung am Begründungsdiskurs hinaus kommt eine subjektwissenschaftliche Diagnostik nicht umhin, Lernstände, Teilfertigkeiten oder Kompetenzen zu untersuchen. Dabei ist jedoch die Frage zu klären, wie das Subjekt zu seinen Teilfertigkeiten steht. Hierbei ist die begriffliche Unterscheidung von thematischem und operativem Lernaspekt (Holzkamp, 1995, S. 187 ff., S. 248 ff.) hilfreich. Der thematische Lernaspekt ist an der Bezugshandlung orientiert, während sich der operative Lernaspekt auf die Ebene der individuellen Antizipation und Regulation von Lernzielen bzw. Lernhandlungen bezieht. Im diagnostischen Prozess wird in der Regel bei der Feststellung von Teilfertigkeiten lediglich auf den operativen Lernaspekt abgehoben. An einem von Kruse (2003, S. 298 ff.) dargestellten Beispiel lässt sich dies verdeutlichen: Kinder einer dritten Klasse sollen ein Rätsel entwickeln, indem sie einen Gegenstand beschreiben, ohne diesen beim Namen zu nennen. Der thematische Lernaspekt liegt dabei in der genauen Beschreibung eines Gegenstandes, damit die anderen erraten können, um welchen Gegenstand es sich handelt. Hierbei ist es hilfreich, wenn das Beherrschen orthographischer Normen zur besseren Lesbarkeit des produzierten Textes führt. Das Beherrschen orthographischer Normen stellt bei dieser Aufgabenstellung jedoch nur den operativen Aspekt dar. Lehrpersonen nutzen diese Aufgabenstellung häufig jedoch als Schreibanlass, um die Schreibprodukte – besonders die der rechtschreibschwachen Kinder – hinsichtlich der Verwendung von Rechtschreibstrategien zu analysieren. Somit wird der operative Lernaspekt in den Vordergrund gerückt und daraus werden Fördermaßnahmen abgeleitet. Der thematische Lernaspekt, verbunden mit den Absichten,

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Vorhaben und Intentionen des Kindes gerät damit aus dem Blick. Für das Kind bleibt es so unersichtlich, wie die abgeleiteten Fördermaßnahmen mit dem Lerngegenstand, ein Rätsel für andere zu erstellen, in Verbindung stehen. Es weiß also nicht, welche Handlungsmöglichkeiten durch das Lernen erschlossen werden können. Aufgabe einer subjektwissenschaftlichen Diagnostik muss es deshalb sein, die von den Schülern und Schülerinnen wahrgenommenen Beziehungen zwischen den operativen und thematischen Lernaspekten bzw. die Rolle zu untersuchen, die die Operationen in der Entwicklung der je individuellen Handlungsfähigkeit einnehmen. Eine subjektwissenschaftliche Diagnostik sollte der Selbstverständigung der Subjekte über eigene Interessen, Motive und Gründe dienen, um das eigene Handeln analysieren und die daraus folgenden Konsequenzen beurteilen zu können. Wie dargestellt, geht es dabei zum einen um Begründungsmuster auf Seiten der Lernenden, die die Lernprozesse im Sinne expansiven Lernens behindern. Zum anderen müssen aber auch die Diagnostizierenden ihre Interessen, Motive und Gründe analysieren. Auch Lehrende bzw. Diagnostiker sind den Bedeutungsstrukturen der Schule unterworfen, wodurch ihre Handlungsfähigkeit in Bezug auf die Förderung von Heranwachsenden ebenfalls beeinträchtigt ist (vgl. Schwohl, 2000, S. 107 ff.). Dabei ergibt sich die Frage, inwieweit die Lehrpersonen oder Diagnostizierenden beispielsweise mit ihrem Verhalten die Schwierigkeiten, die sie nicht lösen können, selber mit erzeugen und welche Funktion dieses Verhalten für sie in ihrer täglichen Lebensbewältigung haben könnten. Damit wird die eigene pädagogische bzw. diagnostische Praxis zum Gegenstand der Verständigung respektive der Selbstverständigung und somit ebenfalls zu einem Forschungsgegenstand, verbunden mit der Notwendigkeit, sich mit anderen über das eigene Handeln zu verständigen und die eigenen Prämissen hinterfragen zu lassen. „In einer Wissenschaft vom Subjektstandpunkt geht es ... um Klärung der eigenen Einbezogenheit in bestehende Machtverhältnisse“ (Osterkamp & Huck, 2003, S. 24 f.). Subjektwissenschaftliche Diagnostik stößt dann an ihre Grenzen, wenn sie zum Ziel hat, Fördervorschläge für Kinder zu entwickeln, die ‚ihre Problematik‘ in der Schule als nicht handlungsbestimmend erleben. Weil vom Standpunkt ihrer Lebens- und Lerninteressen häufig keinerlei subjektive Notwendigkeit besteht, in Kooperation mit den Beteiligten auf die Erweiterung der Verfügung über die für sie jeweils relevanten Lebensbedingungen hinzuwirken, erscheinen die dargestellten Prinzipien einer subjektwissenschaftlichen Diagnostik als nicht umsetzbar. Dies legitimiert dennoch nicht die Klassifizierung und Etikettierung von Kindern und deren Problemlagen, da der Diagnostizierende über mögliche Begründungen für das Handeln der betroffenen Subjekte in dieser Situation nur spekulieren kann. Nicht das Kind hat ein Problem an sich, welches etwa ontologisiert – d. h. in das Kind hineinverlagert – werden könnte, sondern vielmehr hat der Diagnostizierende als jemand, der die Lernprozesse des Kindes analysieren möchte und muss, ein Problem, insbesondere dann, wenn das diagnostische Handeln darauf ausgerichtet ist, Unterstützungstätigkeiten, das heißt Förderung, zu entwickeln. Falls das Kind sich nicht in kooperativer Weise an der Offenlegung seines Begründungsdiskurses beteiligt, dann ist der Diagnostiker darauf verwiesen, Hypothesen über mögliche Handlungsgründe zu entwickeln, sie im Unterstützungsprozess zu prüfen und den Unterstützungsprozess insgesamt darauf abzustimmen, dass Schülerinnen und Schüler die Prämissen ihrer Handlungsbegründungen verändern können.



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11 Die Kind-Umfeld-Analyse Wolfgang Lemke Im Duktus der Darstellung diagnostischer Strategien (vgl. 9.3, Schuck in diesem Band) kann die „Kind-Umfeld-Analyse“ bzw. „Kind-Umfeld-Diagnose“ (Sander, 1998) sowohl in der Fassung von Hildeschmidt und Sander (z. B. 1993, 2002) als auch in der Form, wie sie in den Empfehlungen des Sekretariats der Ständigen Konferenz der Kultusminister der Länder in der Bundesrepublik Deutschland (im Folgenden immer mit KMK abgekürzt; KMK, 1994 ff.) konzipiert ist, als Ansatz gelten, dem ein zyklisches Diagnosemodell zu Grunde liegt. Nicht nur, weil die Kind-Umfeld-Analyse im Gefolge der jüngsten KMKEmpfehlungen in mehreren Bundesländern Eingang in die schulrechtlichen Verordnungen und Vorschriften zur Feststellung von Sonderpädagogischem Förderbedarf gefunden hat (Sander, 1998, S. 6), verdient sie eine separate Erörterung. Auch der Umstand, dass die Kind-Umfeld-Analyse sowohl in der Fassung von Hildeschmidt und Sander als auch in der in den KMK-Empfehlungen realisierten Auffassung durchaus kritisch zu bewerten ist, muss an dieser Stelle entsprechend gewürdigt werden. Der ökosystemische Ansatz der Kind-Umfeld-Diagnose von Hildeschmidt und Sander blickt auf eine mehr als fünfzehnjährige Geschichte zurück (vgl. Hildeschmidt & Sander, 1988). Ursprung und Zielsetzung der Kind-Umfeld-Analyse liegen in der Frage nach der gemeinsamen Unterrichtung von behinderten und nichtbehinderten Kindern und Jugendlichen in Allgemeinen Schulen begründet, also in einer Frage, die ab dem Beginn der 70er Jahre des letzten Jahrhunderts in der Sonderpädagogik verstärkt thematisiert wurde, nachdem die Gesamtschuldebatte „von der Sonderpädagogik aufgenommen worden war und die Forderung nach Nicht-Aussonderung Behinderter aus der allgemeinen Schule aufgeworfen hatte“ (Eberwein, 1996, S. 10). Entsprechend ist das Ziel der „Kind-UmfeldDiagnose [...] nicht primär die Plazierung eines Kindes in eine Schullaufbahn, sondern handlungsleitende Informationen für die adäquate Unterrichtung eines Kindes zu ermitteln – Förderdiagnostik, nicht Plazierungsdiagnostik“ (Hildeschmidt & Sander, 1993, S. 6). Dieses Ziel wird auch auf den Kindergartenbereich ausgeweitet (Hildeschmidt & Sander, 2002, S. 304). Dabei soll die Kind-Umfeld-Analyse unter der beschriebenen Zielperspektive der Nichtaussonderung sowohl bei der Eingangsdiagnostik zum Einsatz kommen als auch Grundlage für die begleitende Beratung bzw. Förderplanung sein, wobei ein flexibler, den jeweiligen Erfordernissen angepasster Einsatz der ökosystemischen Beratung nötig sei (vgl. Hildeschmidt & Sander, 2002, S. 304 ff.). Prinzipiell sei jedoch eine Kind-Umfeld-Analyse auch in den Fällen nützlich, in denen eine integrative Förderung eines Kindes in Schule oder Kindergarten auf Grund verwaltungsrechtlicher oder ressourcenbedingter Einschränkungen (noch) nicht möglich sei, „denn auch in Förderoder Sonderschulen geht es um die unter den dort gegebenen Bedingungen bestmögliche Förderung jedes einzelnen Kindes“ (Sander, 1998, S. 7). Das namensgebende Charakteristikum des Verfahrens liegt im Unterschied zu einer rein kindzentrierten Diagnose darin, dass auch das Lebensumfeld des Kindes, z. B. das Elternhaus, der konkrete Unterricht der jeweiligen Schule, die das Kind besucht oder künftig besuchen wird, oder seine Freizeitkontakte einbezogen würden (Carle, 1997, S. 711). Inhaltlich bedeutet eine kind- und umfeldbezogene Diagnose für Hildeschmidt

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und Sander (2002, S. 306), die „Fähigkeiten und Needs des Schülers“ – Letzteres im Sinne von Bedürfnissen (Hildeschmidt & Sander, 2002, S. 305) – „vor dem Hintergrund der beteiligten Systeme (Familie, Schule) zu beraten“. Die Zielperspektive der Ermöglichung gemeinsamer Unterrichtung rücke das System Schule dabei stärker in den Blickpunkt als andere Bezugssysteme (Hildeschmidt & Sander, 2002, S. 306). Das Kind-Umfeld-System bestehe jedoch auch über die Mikrosystem-Ebene hinaus, nämlich als Meso-, Exo- und Makrosystem, wobei die Autoren auf Bronfenbrenner (1981) rekurrieren. Auf der Grundlage der nachfolgenden Definitionen dieser Kategorien, mit denen Bronfenbrenner (1981, S. 38) die „Umwelt aus ökologischer Perspektive topologisch als eine ineinandergeschachtelte Anordnung konzentrischer, jeweils von der nächsten Struktur umschlossener Strukturen“ beschreibt, ist der Verweis von Hildeschmidt und Sander (2002, S. 309) auf die „Lebensbedingungen größerer Reichweite (z. B. in Stadtviertel, Gemeinde, Bundesland, Kulturkreis, Gesellschaft)“ zu sehen, die auch eine Rolle spielten: I. „Ein Mikrosystem ist ein Muster von Tätigkeiten und Aktivitäten, Rollen und zwischenmenschlichen Beziehungen, die die in Entwicklung begriffene Person in einem gegebenen Lebensbereich mit den ihm eigentümlichen physischen und materiellen Merkmalen erlebt“ (Bronfenbrenner, 1981, S. 38 – Hervorhebungen v. Verf.). II. „Ein Mesosystem umfasst die Wechselbeziehungen zwischen den Lebensbereichen, an denen die sich entwickelnde Person aktiv beteiligt ist (für ein Kind etwa die Beziehungen zwischen Elternhaus, Schule und Kameradengruppe in der Nachbarschaft; für einen Erwachsenen die zwischen Familie, Arbeit und Bekanntenkreis)“ (Bronfenbrenner, 1981, S. 41 – Hervorhebungen v. Verf.). III. „Unter einem Exosystem verstehen wir einen Lebensbereich oder mehrere Lebensbereiche, an denen die sich entwickelnde Person nicht selber beteiligt ist, in denen aber Ereignisse stattfinden, die beeinflussen, was in ihrem Lebensbereich geschieht, oder die davon beeinflusst werden“ (Bronfenbrenner, 1981, S. 42 – Hervorhebungen v. Verf.); z. B. für ein kleines Kind: „der Arbeitsplatz der Eltern, die Schulklassen älterer Geschwister oder der Bekanntenkreis der Eltern“ (Bronfenbrenner, 1981, S. 42). IV. „Der Begriff des Makrosystems bezieht sich auf die grundsätzliche formale und inhaltliche Ähnlichkeit der Systeme niedrigerer Ordnung (Mikro-, Meso- und Exo-), die in der Subkultur oder der ganzen Kultur bestehen oder bestehen könnten, einschließlich der ihnen zugrunde liegenden Weltanschauungen und Ideologien“ (Bronfenbrenner, 1981, S. 42 – Hervorhebungen v. Verf.). Carle (1997, S. 712 f.) weist daraufhin, dass sich der Systembegriff Bronfenbrenners deutlich von dem neuerer Systemtheorien (z. B. Maturana & Varela, 1987; von Förster, 1993) unterscheide, und verwendet in Bezug auf Bronfenbrenners Ansatz den Begriff „sozialökologisch“. Konsequenz aus der sozialökologischen Sichtweise sei zudem ein aktiver Lernbegriff, der jedes Kind als Akteur seiner Entwicklung ansehen müsse. Hildeschmidt (1998, S. 182) umreißt die der Kind-Umfeld-Analyse zu Grunde liegende Entwicklungsvorstellung im Gegensatz zu Carles Differenzierung als eine, „die das Individuum in Interaktion mit sich selbst und mit den unterschiedlichen Anforderungen der Umfelder als selbstorganisierendes System seiner Entwicklung“ ansehe, ohne jedoch die Selbstorganisationsthese genauer zu erläutern. In Sanders (1996, S. 55) Fassung des ökosystemischen Entwicklungsbegriffs wird entsprechend eher auf das sozialökologische



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Modell Bronfenbrenners abgehoben als auf die neueren Systemtheorien: Die Entwicklung jedes Kindes sei zu begreifen „als fortwährendes, komplexes Zusammenspiel zwischen Kind und den vielen Komponenten seines näheren und ferneren Umfeldes“. Das Kind werde von seinem sozialen und materialen Umfeld beeinflusst, und es beeinflusse „gleichzeitig sein Umfeld; Kind und Umfeld bilden ein zusammenhängendes, veränderliches, sich entwickelndes System“ (Sander, 1998, S. 7). Eine Kind-Umfeld-Analyse müsse demnach „möglichst alle relevanten personellen und materiellen Gegebenheiten im Umfeld eines Kindes“ erfassen, um sie auf „hemmende und förderliche Bedingungen in der Schule und in den schulrelevanten personellen und materiellen Umfeldern“ hin zu analysieren und „erforderlichenfalls auf notwendige Umfeldveränderungen“ hinweisen (Sander, 1998, S. 7). Der mit der Kind-Umfeld-Analyse verbundene ökosystemische Behinderungsbegriff lässt sich wie folgt skizzieren: „Behinderung liegt vor, wenn ein Mensch mit Schädigung oder Leistungsminderung ungenügend in sein Mensch-Umfeld-System integriert ist. Das soziale und materiale Umfeld eines Menschen mit Schädigung oder Leistungsminderung entscheidet weitgehend darüber, wieweit dieser Mensch partizipieren kann, wieweit er sich angenommen und dazugehörig fühlt bzw. wieweit er sich als behindert erlebt“ (Hildeschmidt & Sander, 2002, S. 304). „Gestörte oder ungenügende Integration“ sei im ökosystemischen Begriffsverständnis „nicht eine Folge von Behinderung und auch nicht ein Aspekt von Behinderung, sondern sie ist die Behinderung selbst. Die Behinderung besteht in ungenügender Integration“ (Sander, 2002, S. 106). Folglich sei in ökosystemischer Sicht Behinderung „auch dadurch beeinflussbar, dass an den konkreten Umfeldbedingungen integrationsorientiert gearbeitet wird“ (Sander, 2002, S. 107). Das daraus resultierende diagnostische Vorgehen lässt sich mit Sander (1998, S. 14) bzw. Hildeschmidt und Sander (1993, S. 10) wie folgt zusammenfassen: I. Gegenstand der Diagnose kann nicht das Kind allein sein, sondern das konkrete Kind-Umfeld-System. II. Weil es um den Schulbesuch gehe, müssten neben den „schulrelevanten Fähigkeiten des Kindes“ auch die „kindrelevanten Gegebenheiten“ der Schule untersucht werden, deren Besuch für das Kind angestrebt werde. III. Eine reine Erfassung der schulischen Gegebenheiten sei nicht das Ziel der Diagnose. Vielmehr müssten im Einzelfall die notwendigen schulischen Veränderungen herausgearbeitet werden. IV. Die Kind-Umfeld-Analyse müsse im Team durchgeführt werden. V. Eine Wiederholung der Kind-Umfeld-Analyse in bestimmten Zeitabständen sowie bei Veränderungen des Kind-Umfeld-Systems sei zwingend. VI. Die subjektiven Sichtweisen der Beteiligten müssten in die diagnostische Urteilsbildung einbezogen werden und diese reflektieren. VII. Im Schulleistungsbereich müssten bei der Kind-Umfeld-Analyse verschiedene Maßstäbe berücksichtigt werden: neben dem klassenbezogenen und dem lehrplanbezogenen auch der individuelle Bewertungsmaßstab. Als Arbeitshilfen zur Durchführung einer Kind-Umfeld-Analyse sind im Laufe der Jahre verschiedene Fassungen eines „Leitfadens“ entstanden (vgl. z. B. Hildeschmidt & Sander, 1993, S. 18 ff.; 2002, S. 310 ff.; Sander, 1998, S. 21 ff.). Während frühere Fassungen spe-

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ziell auf Integrationsanträge hin konzipiert gewesen wären, könnten neuere Fassungen sowohl bei der Integration in die Allgemeine Schule als auch bei der Aufnahme in die Förderschule verwendet werden. Sander (1998, S. 14) betont, dass diese Leitfäden jedoch keinen sukzessiv abzuarbeitenden Fragebogen darstellten, weil sonst die Gefahr einer schematischen Betrachtung bestehe, die dem Einzelfall nicht mehr gerecht werde. Mit einem spezifischem Fokus hat Hiller (2004) jüngst einen auf Lehrkräfte „zielenden [Fragenkatalog] einer ökosystemischen Förderdiagnostik“ (Hiller, 2004, S. 108) sowie einen „Entwurf zu einem Leitfaden für ein schuldiagnostisches Interview mit der Leitung einer Einzelschule“ (Hiller, 2004, S. 110 – Hervorhebungen v. Verf. entfernt) vorgelegt (vgl. Hiller, 2004, S. 108 ff.). Die Notwendigkeit für Ersteren bestehe darin, dass es auch unter den Lehrkräften „,Lernbehinderte‘ und ,Verhaltensgestörte‘ gibt“, die so manchen Schülerinnen und Schülern „zum Verhängnis werden“ (Hiller, 2004, S. 108). Letzterer sei darin begründet, dass es anders kaum auszumachen sei, wo in einzelnen Schulen und Schullandschaften einer Region welche konzeptionellen, personellen und sächlichen Ressourcen bereits tatsächlich vorhanden seien, um sowohl auf die Probleme einzelner Schülerinnen und Schüler als auch auf die spezieller schulischer Risikogruppen insgesamt (z. B. von Mädchen aus Familien von Arbeitsmigranten, von Jungen und jungen Männern aus Aussiedlerfamilien, von Flüchtlings- und Asylbewerberkindern, von Grundschülern aus Milieus unterhalb der Respektabilität usw.) „mit schulischem Sachverstand“ angemessen reagieren zu können (Hiller, 2004, S. 108). Zweifelsohne geht von Hillers Überlegungen schon in Teilen der hier zitierten Passagen eine Provokation aus, wenn nun nicht mehr Schülerinnen und Schüler in den diagnostischen Fokus geraten sollen, sondern Lehrkräfte und Schulen. Aus dem Anspruch einer ökosystemischen Diagnostik geht Hillers schulkritische Blickerweiterung, die die „selbstgefälligen Ideologien (sonder-)pädagogischer Institutionen und damit auch [...] den emotionalen Habitus ihrer professionellen Protagonisten [...] entlarven“ (Hiller, 2004, S. 115) will, jedoch nur folgerichtig hervor, wenngleich damit viele der Probleme bei der Realisierung einer solchen Diagnostik wiederkehren, von denen nachfolgend noch die Rede sein wird. Die Kind-Umfeld-Analyse ist in der Vergangenheit hinsichtlich ihrer theoretischen Konzeption und ihrer Umsetzung in die Praxis kritisiert worden: Obwohl der Kind-Umfeld-Analyse ein interaktionistischer Entwicklungsbegriff zu Grunde liegt (s. o.) und sie sich damit der Aktivitätsannahme (vgl. 9.1.2, Schuck in diesem Band) als leitender Entwicklungsvorstellung subsummieren lässt, wurde in der Vergangenheit die Offenheit der Kind-Umfeld-Analyse für unterschiedliche Verursachungs- und Veränderungstheorien bemängelt (Schuck, 1990, S. 114; Ahrbeck, 1993, S. 171). Verdeutlichen lässt sich dies an der punktuellen Undifferenziertheit in den Ausführungen von Hildeschmidt und Sander: Neben dem als fortschrittlich zu bewertenden diagnostischen Blick auf das Umfeld des Kindes steht auch das Kind weiterhin im Fokus, wobei die diagnostische Befassung mit den „ ‚objektivierbaren‘ Fähigkeiten bzw. Defizite[n] einer Person“ (Hildeschmidt, 1998, S. 187; vgl. auch Hildeschmidt & Sander, 1993, S. 5) einer eher traditionellen diagnostischen Herangehensweise Anknüpfungspunkte bietet. Ganz im Sinne dieser Kritik bleibt auch Sanders (1998, S. 7) Auffassung, die Kind-Umfeld-Analyse stelle nicht das Kind mit seinen Verhaltensmerkmalen isoliert in den Mittelpunkt, sondern erweiterte den Blick auf das Zusammenspiel von Personen und materialen Bedingungen im ‚System‘,



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dem unspezifischen Bedingtheitsdiskurs sensu Holzkamp (1991, S. 6) partiell verhaftet (vgl. auch Wember, 1992, S. 262). Sanders Terminologie eignet sich weder dazu, nach dem von Schwohl (vgl. Kap. 10 in diesem Band) auf Grundlage der Kritischen Psychologie skizzierten Zusammenhang zwischen äußeren Bedingungen und Handlungsbegründungen des Subjekts zu fragen, noch, um „den Kern der mehrperspektivischen Diagnose“ (Hildeschmidt, 1998, S. 190) vollends zur Geltung zu bringen: die „Sichtweise der Betroffenen“ (Hildeschmidt, 1998, S. 190), die nicht zuletzt auch für den ökosystemischen Behinderungsbegriff konstitutiv ist. Wie gezeigt (s. o.) speist sich dieser u. a. aus dem subjektiven Erleben von Angenommensein bzw. aus dem subjektiven Erleben von Behindertsein (vgl. Hildeschmidt & Sander, 2002, S. 304). Diesbezüglich bleibt festzuhalten, dass ein solcher Behinderungsbegriff eigentlich keiner weiteren Legitimation im Rekurs auf die Begriffe „Schädigung“ oder/und „Leistungsminderung“ (Hildeschmidt & Sander, 2002, S. 304) bedarf, jedenfalls dann nicht, wenn pädagogische Förderung so definiert wird, wie durch Schuck (2001, S. 63 f.; vgl. auch 9.1.1, Schuck in diesem Band) geschehen: Alle heranwachsenden Menschen bedürften einer pädagogischen, institutionell übergreifenden Förderung bzw. Anregung und Begleitung ihrer Entwicklung. In den „subjektiven Wirklichkeitskonstruktionen des zum Entscheidungsprozess anstehenden Kind-Umfeld-Systems“ (Hildeschmidt, 1998, S. 182) können – schon allein auf Grund der Einbettung in institutionelle Zusammenhänge – Schädigungen oder/und Leistungsminderungen natürlich eine Rolle spielen, aber für das Zustandekommen einer Situation, in der eine pädagogische Entscheidung ansteht, sind sie keinesfalls konstitutiv. Nicht zuletzt hat Sander (1996, S. 61) selbst darauf hingewiesen, dass „Dekategorisierung“ und „Deklassifikation von Kindern“ eine wichtige Voraussetzung ökosystemisch orientierter Pädagogik sei. Zudem sei die Kind-Umfeld-Analyse eben nicht auf das „im engeren Sinne sonderpädagogische Arbeitsfeld“ beschränkt, sondern könne in „fast allen pädagogischen Problemfeldern sinnvolle Anwendung“ finden (Sander, 1998, S. 17). Die KMK-Empfehlungen (1994 ff.), in denen auf die „Kind-Umfeld-Analyse“ Bezug genommen wird, können als prominentes Beispiel angesehen werden, wie sich die kritisierten Unzulänglichkeiten des ökosystemischen Ansatzes reproduzieren: Die von der KMK (1994, S. 2) präferierte „eher personenbezogene, individualisierende und nicht mehr vorrangig institutionenbezogene Sichtweise sonderpädagogischer Förderung“ kann zwar mit Sander (1996, S. 59) als „Öffnung für ökosystemisch orientiertes Denken“ angesehen werden, „denn eine personenbezogene, individualisierende Sichtweise führt fast notwendig zur Analyse des konkreten Kind-Umfeld-Systems“ (Sander, 1996, S. 59). Folgerichtig kann der Empfehlungstext unter ökosystemischer Fragestellung daraufhin untersucht werden, ob und inwieweit darin auf die notwendige Veränderbarkeit der schulischen Gegebenheiten abgehoben wird, wie es Sander (1996) tut. Jedoch: Gerade unter der Prämisse, dass aus der ökosystemischen Sicht ein interaktionistischer Entwicklungsbegriff folgt und damit auch ein Lernbegriff, der sich entsprechend der Aktivitätsannahme subsummieren lässt (s. o.), sind die Begrifflichkeiten der KMK zu kritisieren, die Sander (1996, S. 60) hingegen lediglich lapidar als die „herkömmlichen personenbezogenen ‚psychologischen‘ Diagnosebereiche“ bezeichnet. Die Analyse der theoretischen Bezugspunkte der KMK-Empfehlungen durch Lemke und Schuck (2002) zeigt nämlich, dass die KMK in den „Empfehlungen zum Förderschwerpunkt Lernen“ (KMK, 1999) sowohl auf endogenistische Reifungsvorstellungen und Fähigkeitskonzepte als auch mit

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erheblichen Verkürzungen auf interaktionistische Entwicklungsvorstellungen abhebt (vgl. KMK, 1999, S. 2). In diesem Gemenge divergenter theoretischer Versatzstücke kristallisiert sich letzen Endes ein passiver Lernbegriff heraus: Lernen mit allen Sinnen (Lemke & Schuck, 2002, S. 92 ff.). Zudem bietet die Propagierung von „elementaren Bereiche[n] der Entwicklung wie Motorik, Wahrnehmung, Kognition, Motivation, sprachliche Kommunikation, Interaktion, Emotionalität und Kreativität“, deren „Voraussetzungen und Perspektiven [...] in eine Kind-Umfeld-Analyse einzubeziehen“ seien (KMK, 1994, S. 6), Anknüpfungspunkte für gängige Fassungen des Teilleistungskonzepts. Schulminderleistungen werden hier erklärend entweder auf schwache psychische Grundfunktionen zurückgeführt oder darüber hinaus im Sinne eines ätiologisch-explanativen Konstruktes als Symptom einer Hirnfunktionsstörung begriffen (vgl. Wember, 1997, S. 391). Vor dem Hintergrund der das Teilleistungskonzept kennzeichnenden statischen Entwicklungsvorstellungen sowie des passiven und mechanistischen Lernbegriffs (Zwack-Stier & Börner, 1998, S. 225; vgl. auch Naggl, 1994, S. 7) scheint das vielfach von der KMK (1998a, S. 4, 11 f.; 1998b, S. 11 f.; 1999, S. 12; 2000, S. 17) als Wahrnehmungsförderung propagierte Lernen mit allen Sinnen folgerichtig aus dem Teilleistungskonzept hergeleitet, was auch für seine Konzeptualisierung im Rahmen des Informationsverarbeitungsansatzes gelte (vgl. Lemke & Schuck, 2002, S. 94 f.). Weil die damit eingenommene Orientierung der KMK an hierarchischen Entwicklungsmodellen mit „kausal-interpretativen Argumentationsfiguren“ auf eine Kontinuität einer am medizinischen Modell ausgerichteten Betrachtungsweise kindlicher Lern- und Entwicklungsprobleme schließen lasse (Lemke & Schuck, 2002, S. 90 f.) – und damit auf eine längst überwunden geglaubte Sichtweise (vgl. auch Rödler, 1999; Schlee, 1993, S. 235) –, bezeichnen Lemke und Schuck (2002) diese diagnostische Gegenstandsbestimmung in Anlehnung an Kornmann (1995) als „Defizitorientierung“. Als zweiten, divergenten Pol der theoretischen Bezugspunkte der KMK-Empfehlungen arbeiten die Autoren eine „Entwicklungsorientierung“ als konzeptionelle Grundlage diagnostischen Handelns heraus. Diese könne jedoch nur mit dem theoretischen Bezugspunkt der Aktivitätsannahme und dem ihr inhärenten Subjektbezug ein „pädagogisches Förderkonzept“ (z. B. KMK, 1998a, S. 5) überhaupt nach sich ziehen bzw. im Bildungsbegriff verankert werden (vgl. Lemke & Schuck, 2003, S. 549 f.) und auf diese Weise das von der KMK (1994, S. 5) gesteckte Ziel der Erweiterung der Handlungsmöglichkeiten von Schülerinnen und Schülern gegenstandsadäquat realisieren helfen. Der von Lemke und Schuck (2002) aufgezeigte „Widerspruch zwischen Entwicklungs- und Defizitorientierung“ konterkariert diese eigentliche Programmatik der KMK-Empfehlungen (1994 ff.) und spiegelt nicht nur ein wissenschaftstheoretisches Defizit der KMK. Vielmehr sei dies einem mangelnden Problembewusstsein weiter Teile der Sonderpädagogik in Theorie und Praxis geschuldet (Lemke & Schuck, 2002, S. 95 f.; vgl. auch Kornmann, 1995), von dem auch die Kind-Umfeld-Analyse sensu Hildeschmidt und Sander nicht freizusprechen ist, wie hier anhand verschiedener Veröffentlichungen der Autoren gezeigt wurde. Im Rahmen ihrer mehrperspektivischen Betrachtung gehen die Autoren eben auch ausgesprochen ‚herkömmlich‘ und nicht nur ökosystemisch vor: Rekonstruiert werden sollen auch hier „einzelne Entwicklungsbereiche und nächste Entwicklungsaufgaben“, u. a. „motorische Entwicklung“ und „Wahrnehmungsdifferenzierung“ (Hildeschmidt & Sander, 2002, S. 311). So droht auch in diesem Ansatz letzten Endes die „Pathologisierung kindlicher Subjektivität“ (Lemke & Schuck, 2002, S. 98)



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durch den für das Teilleistungskonzept konstitutiven Modus der „operative[n] Verkürzung des Begreifens menschlicher (Lern-) Handlungen“ (Koch, Schwohl, Schuck & Kornmann, 2000, S. 249). Eine ökosystemischen Sichtweise müsste sich genau dagegen verwehren, denn schon Bronfenbrenner (1981, S. 268) hat ausdrücklich dafür plädiert, das Defizitmodell zu verwerfen. Auch im Hinblick auf die Ebene der praktischen Umsetzung der Kind-Umfeld-Analyse sind Verbesserungen anzumahnen: Sander (1998, S. 17) beklagt ein Missverhältnis zwischen der Effektivität von Kind-Umfeld-Analysen am Beginn der Schullaufbahn in Bezug auf grundlegende Entscheidungen für die Förderung eines Kindes und dem vielfachen Fehlen „detaillierter Empfehlungen für die schulische Förderung in den einzelnen Entwicklungsbereichen und Unterrichtsfächern“. Die notwendige Differenzierung bzw. Ergänzung des Verfahrens durch andere „diagnostische Methoden“ (Sander, 1998, S. 17) kann allerdings nur durch die Auswahl geeigneter diagnostischer Methoden gelingen (vgl. auch Hofmann, 2000, S. 115). Vergleichbares gilt bezüglich des Sachverstandes des diagnostischen Teams, der die Qualität einer Kind-Umfeld-Analyse maßgeblich bestimme (Sander, 1998, S. 16). Die „höhere Gültigkeit“, die Sander (1998, S. 12) Teamdiagnosen aus Förderausschüssen gegenüber Diagnosen von einer einzelnen Person „in der Regel“ beimisst, wird sich danach keineswegs automatisch durch die Beteiligung mehrer Personen einstellen (Lemke & Schuck, 2002, S. 96). Des Weiteren ist anzumerken, dass sich der wünschenswerte Einbezug der Schülerinnen und Schüler in offiziellen Diagnose-Gremien noch nicht durchgesetzt habe (Hildeschmidt, 1998, S. 190; vgl. auch Sander, 1998, S. 16). Carle (1997, S. 725) vermutet einerseits unter Verweis auf Holzkamps (1995) Analysen, dass ein Grund dafür in der „traditionell mangelnden Subjektorientierung“ praktizierter sonderpädagogischer Diagnostik und Pädagogik liegen könne (vgl. dazu auch Kap. 10, Schwohl in diesem Band). Denkbar sei andererseits auch die Vermeidungsabsicht von Überforderung des (behinderten) Kindes bei weit reichenden Diskussionen im Diagnoseteam über schulische Fördermöglichkeiten. Diese könnten sich ergeben, „weil Erwachsene sich nicht in der Lage sehen, ihren Diskussionsprozess in eine für das Kind nachvollziehbare Sprache zu übersetzen“ (Carle, 1997, S. 725). Da jedoch für eine wirksame Förderung diese Transformation ebenfalls gelingen müsse, schlägt Carle vor, die Konzeption der Kind-UmfeldAnalyse nur auf einer sehr allgemeinen Ebene zur Feststellung des sonderpädagogischen Förderbedarfs einzusetzen, „um deren Ausgestaltung bewußt für die Beteiligung des Kindes in seinem alltäglichen Lebensfeld offenzulassen“ (Carle, 1997, S. 725). Ob die Beratungen im Förderausschuss nun mit oder ohne Beteiligung des Kindes stattfindet: Die Teamarbeit dürfe keinesfalls „von einer Hierarchie des Expertentums“ bestimmt werden, sondern müsse von partnerschaftlicher, kooperativer Haltung getragen werden (Sander, 1998, S. 16). Nicht nur die subjektwissenschaftliche Herangehensweise der Kritischen Psychologie (vgl. Kap. 10, Schwohl in diesem Band) vermag schulsystemimmanente Grenzen aufzuzeigen, die genau diesem Prozess entgegenstehen. Auch Sander (1994, S. 67) verweist mit Blick auf die gegenwärtige Verfasstheit des Bildungssystems darauf, dass Schulversagen politisch keineswegs ungewollt sei. „Wer den Leistungswettbewerb will, der will auch die Leistungsversager. Schulversagen ist deshalb die notwendige Kehrseite unseres leistungsorientierten Schulwesens“ (Sander, 1994, S. 67). Die Problematik des Schulversagens sei aus ökosystemischer Sicht nur durch die Ände-

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rung der „auf der Makroebene definierten Strukturen der Schule“ zu lösen, d. h. durch die Individualisierung der Lehrplanziele, die Akzeptanz interindividueller Unterschiede und die Intendierung von Heterogenität der Schülerinnen und Schüler. Der individuelle Schulerfolg eines jeden Kindes müsse öffentliche Aufgabe sein (Sander, 1994, S. 71). Dieser Forderung ist – aktueller denn je – vollends zuzustimmen.

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12 Gegenstandstheoretische Konzepte als diagnostische Basis Gabi Ricken und Annemarie Fritz Anhand ausgewählter Beispiele soll im Folgenden dargestellt werden, dass diagnostisches Arbeiten außer der Kenntnis methodologischer und methodischer Prinzipien Theorien über pädagogisch relevante Konzepte erfordert. Jede diagnostische Strategie muss in einer Theorie der Entstehung von Entwicklungsproblemen verankert sein; dies wurde zwar immer wieder angemahnt, geschieht jedoch keineswegs durchgängig.

12.1 „Bedingungslisten“ Erklärungsansätze für allgemeine Lernbeeinträchtigungen (Schröder, 2000) und für Probleme in der Schriftsprachaneignung (Valtin, 2003) und im Rechnen (Fritz, Ricken & Schlottke, i. D.) nehmen verschiedene Faktoren als Ursachen und Bedingungen an. Diese wurden in einer Reihe von Leitfäden zusammengetragen und stehen als Checklisten zur Verfügung (z. B. Sander, 1998; Heuer, 2003; Kretschmann & Arnold, 1999). Unterschiede bestehen im Umfang und der Differenziertheit der Berücksichtigung schulischer, familiärer oder individueller Merkmale und ihrer erkennbaren theoretischen Verankerung. Kretschmann (2003) z. B. publizierte einen Leitfaden für die Erfassung der Bedingungen von Rechenschwächen, in dem soziale und individuelle Bedingungen als unterstützende oder gefährdende bewertet werden. Des Weiteren unterscheidet er jeweils spezifisch und unspezifisch wirkende Faktoren. Zu den gefährdenden Bedingungen gehören z. B. unzweckmäßige Aneignungsstrategien der Kinder, während die materielle Sicherheit der Familie und die mathematische Vorbildung der Eltern zu den mittelbar unterstützend wirkenden Bedingungen des Umfeldes gezählt werden. Einige Bewertungen der Bedingungen erscheinen intuitiv gut nachvollziehbar, während andere als mehrdeutig interpretiert werden können. So wirken „wissende Eltern“ nicht immer unterstützend. Dennoch sind Leitfäden dieser Art als Beobachtungs- und Reflexionshilfen für die Analyse von Lernschwierigkeiten in Lern- und Lebenssituationen brauchbar. Diagnostische Daten lassen sich mit ihrer Hilfe systematisieren und zusammenfassen. Zwei Probleme der Leitfäden müssen jedoch bei ihrer Verwendung berücksichtigt werden: Erstens bauen sie auf Ergebnissen korrelativer Studien aus bedingungsanalytischer Perspektive auf und legen Kausalitäten nahe, die im Einzelfall gerade so nicht charakteristisch für den vom Subjekt verantworteten Entwicklungsprozess sind. Zweitens handelt es sich ausschließlich um additive Listen, in denen Bedingungen aufgeführt werden, deren Bedeutung für Schulleistungen entweder auf Alltagserfahrungen oder einzelnen empirischen Daten oder theoretischen Ableitungen basiert. Zum Teil entstehen so umfangreiche Listen, die den Eindruck einer allumfassenden, gründlichen Datenbasis erzeugen. Kretschmann (2003, S. 181) weist darauf hin, dass „Typologien transaktionaler Beziehungen von personalen und Umfeldvariablen“ fehlen. Entsprechend fehlen Gewichtungen der einzelnen Bedingungen im Kontext der jeweils anderen, so dass diese ungenügende Forschungslage der

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Beliebigkeit in der Auswahl und Bewertung individueller Entwicklungsdaten Vorschub leistet. Eine Begründung der Datenerhebungsplanung ist für die Transparenz, Nachvollziehbarkeit und Wiederholbarkeit des diagnostischen Prozesses deshalb unerlässlich und erfordert die Beantwortung der Frage, welche und wie viele Bedingungen und welche Bedingungsgefüge im Einzelfall zu beachten und wie diese im Hinblick auf die Fragestellung zu untersuchen und zu bewerten sind.

12.2 Schulleistungen als komplexer Gegenstand Für Schulleistungsschwierigkeiten existieren keine allseits befriedigenden Theorien. Zunächst muss deshalb auf Ansätze empirischer Bildungsstudien zur Entwicklung von Schulleistungen insgesamt zurückgegriffen werden. In den aktuellen Studien (SCHOLASTIK [Weinert & Helmke, 1997] oder auch MARKUS [Helmke & Jäger, 2002]) werden folgende Bedingungen untersucht: 1. vielfältigste schulische Bedingungen wie Unterrichtsquantität, Klassenzusammensetzung, Unterrichtsqualität, Lehrermerkmale, Lehr- und Lernmaterial; 2. familiäre Bedingungen wie Bildungsnähe und Erwartungen der Eltern, Schulabschlüsse der Eltern, Buchbestand sowie 3. individuelle Bedingungen wie Freizeitverhalten, Motivation, Intelligenz, Konzentration, Arbeitsweisen u. a. All diese Bedingungen sind in großen Stichproben korrelativ mit schulischen Leistungen der Schülerinnen und Schüler verbunden. So korrelieren die Mathematikleistungen bei Achtklässlern jeweils mit leistungsbezogenem Selbstvertrauen, Lernmotivation, Selbständigkeit, Belastbarkeit und Lernmanagement ebenso wie die einzelnen Kriterien paarweise untereinander (Helmke, Hosenfeld & Schrader, 2002). Andere, zunächst auch plausible Variablen wie die „Zeit für die Hausaufgaben“ stehen in keinem Zusammenhang mit den Leistungen in Mathematik. Vergleichbar zu diesem Beispiel findet man unterschiedliche Ergebnisse zur Bedeutung der einzelnen Faktoren. Dies ist mit dem unterschiedlichen Alter der Kinder oder der Differenziertheit der benutzen Parameter zu begründen. In jedem Fall ist aber davon auszugehen, dass Korrelationen nur die gemeinsame Variation zweier Merkmale beschreiben, d. h. einzelne Bedingungen für sich gesehen stehen mit dem Lernergebnis im Zusammenhang, ohne zu wissen, in welcher Weise dritte Bedingungen den jeweils untersuchten Zusammenhang nur scheinbar hervorgebracht haben. Somit ist z. B. der Schluss, die „Zeit für Hausaufgaben“ aufgrund fehlender Korrelationen nicht zu erheben, als vorschnell zu bewerten, solange nicht die komplexen Bedingungsgefüge bekannt und verstanden sind, zu denen die Variable „Zeit für Hausaufgaben“ gehört. Selbst Pfadanalysen, mit denen aus Korrelationen vieler Variablen Bedingungshierarchien dargestellt werden können, verbleiben in ihrem Aussagewert eben auf einer korrelativen Ebene. Ergebnisse müssen auch für diese komplexen Betrachtungen stichprobenspezifisch und je nach Beachtung unterschiedlicher Bedingungen unterschiedlich ausfallen. Während beispielsweise van Aken, Helmke und Schneider (1997) für Leistungen in Mathematik nachweisen, dass erworbene Leistungen das fachspezifische



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Selbstkonzept in der folgenden Klassenstufe vorhersagen (von 2. zu 3. Klasse und von 3. zu 4. Klasse), dagegen das Selbstkonzept mit späterer Leistungen nicht korreliert, nehmen Rauer und Schuck (2003) aufgrund ihrer Ergebnisse zur emotional-sozialen Selbsteinschätzung von Schülerinnen und Schülern erster bis vierter Grundschulklassen an, dass gerade die Erfassung des Selbstkonzepts wesentlich sei, um individuelle Entwicklungsbedingungen und -ergebnisse aus der Perspektive der Schüler in Erfahrung zu bringen und Entwicklungen verstehen zu können. Damit ist die Frage nicht zu beantworten, ob das Selbstkonzept im Rahmen von Schulleistungsanalysen zu erfassen ist oder nicht. Diese kann erst anhand von Interventionsstudien erfolgen. Wie sehen Schulleistungsstudien bei Kindern mit Schul- und Leistungsschwierigkeiten aus? Empirische Aussagen zu Lernschwierigkeiten basieren hier vorerst auf kleinen Stichproben und beziehen sich in der Regel auf einzelne Faktoren. So werden kognitive und metakognitive (z. B. Lauth, 2000; Fritz & Funke, 2003), soziale Bedingungen (Benkmann, 2003) oder auch Kombinationen beider Bereiche (Kurth & Streibhardt, 1998) bei lernschwächeren Kindern beschrieben. Werden leistungsstarke und -schwache Kinder hinsichtlich der Faktoren, die als entwicklungshemmend gelten, miteinander verglichen, zeigt sich für lernschwache Kinder eine größere Belastung durch eine Kumulation von individuellen und sozial ungünstigen Bedingungen. Je mehr ungünstige Faktoren für ein Kind gefunden werden, um so mehr muss mit gravierenden Lernbeeinträchtigungen gerechnet werden. Welche konkreten Bedingungen zu betrachten sind, kann jedoch immer nur vorläufig bestimmt werden. Beispielsweise galt bei der Untersuchung von Schwierigkeiten im Schriftspracherwerb noch vor einigen Jahren die visuelle Wahrnehmung als eine wichtige Komponente. Aktuelle Befunde sprechen dagegen für Störungen der sprachlich-phonologischen Verarbeitung oder des Arbeitsgedächtnisses (Walter, 2000; Hasselhorn, Tiffin-Richards, Woerner, Banaschewski & Rothenberger, 2000). Die Erfassung sozialer Bedingungen der Kinder scheint auf den ersten Blick klarer zu sein. Soziale Bedingungen und Schulleistungen korrelieren in heterogenen Schülergruppen durchweg signifikant. Leistungsschwächste Kinder stammen eher aus untersten sozialen Schichten (u. a. Probst, 1973; Benkmann, 2003). Werden jedoch Schüler eines Bildungsganges analysiert, finden sich kaum mehr bedeutsame Korrelationen (Helmke et al. 2002). Das ist ein vorhersagbares empirisches Ergebnis im Kontext deutscher Auslesetechnologie, die im Ergebnis die Kinder nach ihrem familiären Hintergrund in Schulformen homogenisiert. Damit können Zusammenhänge zwischen Leistungen und sozialer Lage innerhalb der homogenisierten Gruppen durch die Varianzeinschränkung der sozialen Lage der Kinder korrelationstechnisch nicht dargestellt werden. Keinesfalls ist dieser Befund so zu interpretieren, dass die familiären Bedingungen bedeutungslos für die Schulleistungen seien. Anhand differenzierter Untersuchungen lässt sich zeigen, dass Häufungen vieler ungünstiger Bedingungen in den frühen Lebensphasen das Risiko ungünstiger Leistungsentwicklung erhöhen. Dennoch ist das Ausmaß der Folgen sozialstrukturell deprivierter Lebenssituationen schwer vorherzusagen, da die Handlungskompetenzen der Betroffenen oder auch die Qualität der Interaktionen als abfedernde Bedingung wirken (Benkmann, 2003). Die Schwierigkeit der Bestimmung einer Wirkungsrichtung von Bedingungen trifft in gleicher Weise für Ressourcen zu, die mutmaßlich für die weitere Entwicklung genutzt werden können. Risiko- und Resilienzfaktoren existieren nicht an sich. Sie wirken auf

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der Basis der bisherigen Entwicklung und der individuellen und sozialen Lebensbedingungen des Kindes (Vulnerabilität und Resilienz) zusammen. Scheithauer, Niebank und Petermann (2000) verweisen auf Befunde der Risiko- und Resilienzforschung für die Entwicklung von Kindern. Aussagen zu Risikofaktoren sind Wahrscheinlichkeitsaussagen und keinesfalls kausal zu interpretieren. Anzunehmen sind Vernetzungen und hierarchische Strukturen von Entwicklungsfaktoren, die jedoch derzeit weitgehend unbekannt sind (Reichert, 2003). Vermutlich existieren derartige Strukturen nicht an sich, sondern werden durch verschiedene andere Bedingungen wie betrachtete Zeitpunkte modifiziert. So wirkt z. B. das Engagement der Eltern für Hausaufgaben bei schwachen Leistungen der Kinder unterstützend, bei starken Leistungen störend (Helmke et al., 2002). Für jedes diagnostische Vorgehen folgt daraus, dass Annahmen über das Zusammenwirken von Bedingungen, vor allem über die Wirkrichtung der Bedingungen (gefährdend oder unterstützend) ausgesprochen sorgfältig entwickelt werden müssen. Weinert und Stefanek (1997) halten gerade aufgrund der Ergebnisse der SCHOLASTIK-Studie weitere mikrogenetische Studien für erforderlich, um die Entstehung von Schulleistungen aufklären zu können. „Aus den einschlägigen Metaanalysen [...] könnte man den Eindruck gewinnen, daß vieles für die Schulleistung irgendwie bedeutsam ist, daß aber gleichzeitig auch alles irgendwie unwichtig erscheint. [...] Vermutlich sind es eben nicht molekulare Elemente (wie z. B. induktive Lehrstrategien für leistungsschwache Schüler), sondern molare Konstellationen (z. B. effektive, aber durchaus variable Nutzung der Lernzeit für akademische Ziele) des Unterrichts, die sich auf das Verhalten, das Lernen und die Leistungen verschiedener Schüler in unterschiedlicher Weise auswirken“ (S. 425). Diese Zurückhaltung in der Verknüpfung von Lernbedingungen sollte unseres Erachtens auch für die Beschreibung von Lernschwierigkeiten gelten. Vereinfachende Kausalitätsannahmen sind falsch, anstelle derer müssen individuelle Rekonstruktionen der Bedingungen vorgenommen werden (Jantzen, 2003). Komplexe systemische Modelle, die die Basis für eine fundierte Kind-Umfeld-Analyse bilden können, sind zurzeit nur hypothetisch zu beschreiben und stehen vor einer notwendigen Bewährung in der pädagogischen Arbeit. Im Folgenden soll dargestellt werden, welche theoretischen Annahmen für Konstrukte existieren, die auf der Seite des Kindes zur Entstehung der Schulleistungen beizutragen scheinen. Dabei wird aufgezeigt, dass mit der Wahl der Konzepte zugleich die Erkenntnismöglichkeiten bestimmt werden.

12.3 Intelligenz und Schulleistungen Ungeachtet der seit den 70er Jahren in der Sonderpädagogik heftig und kontrovers geführten Diskussion zur Berechtigung der Intelligenzdiagnostik im Rahmen der Schulleistungsdiagnostik hat diese ihren zentralen Stellenwert bis heute bewahrt. In unterschiedlichen Pfadanalysen zur Determination von Schulleistungen erwies sich der Faktor Intelligenz, operationalisiert mit Intelligenztests, tatsächlich stets als hochbedeutsam. Er gilt als einer der besten Prädiktoren zur Vorhersage schulischer Leistungsfähigkeit im Grundschulalter (z. B. Helmke, 1997), und zwar ungeachtet dessen, dass verschiedene Tests unterschiedliche Fähigkeiten abbilden, die wiederum in unterschiedlich engem Zusammenhang zu



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Schulleistungen stehen (Schuck & Eggert, 1982). Die quantitative Ausprägung der Intelligenz hängt dabei ihrerseits ab von sozioökonomischen und familiären Umfeldbedingungen, wie der Schichtzugehörigkeit, dem Bildungsstand und den Bildungsansprüchen sowie dem Leistungsdruck und dem Sanktionsverhalten der Eltern. Diese korrelativen Befunde gelten für beide Ausprägungen der Intelligenzskala: Während hochbegabte Kinder eher aus Oberschicht-Elternhäusern mit hohen Bildungsansprüchen stammen (Rost, 2000), finden sich Kinder mit geringem Leistungsvermögen vermehrt in sozioökonomisch schwachen Familien (Probst, 1973). Damit sind individuelle Entwicklungen intelligenter Fähigkeiten keinesfalls festgelegt. Studien zur kognitiven Förderung haben gezeigt, dass systematisch organisierte Lernbedingungen sowohl zur Steigerung der Intelligenz der Kinder als auch deren Schulleistungen führen (Klauer, 1997). Nicht zuletzt aus diesem Grund wird die differenzierte Betrachtung kognitiver Strukturen und Prozesse zur Planung gezielter Fördermaßnahmen bedeutungsvoll. 12.3.1 Klassische Intelligenzmodelle: Erfassung kognitiver Strukturen und Teilleistungen Um „zurückgebliebene“ Kinder zu erkennen und für sie eine besondere Förderung zu erreichen, entwickelte Binet (Binet & Simon, 1907) den ersten Intelligenztest und führte damit die psychometrische Diagnostik in die Schulleistungsdiagnostik ein. Die Messung der Intelligenz sollte dabei nach Binet und Simon standardisierten schulischen Aufgaben zur Erfassung der schulischen Kenntnisse nachgeordnet werden, denen sie Priorität in Zusammenhang mit Schullaufbahnentscheidungen zumaßen. Binet und Simon verstanden Intelligenz als ganzheitliche homogene Fähigkeit. Ihr eindimensionaler Test hatte das Ziel, das Intelligenzalter des Kindes zu erfassen. Auf der Basis von Lösungshäufigkeiten wurden so genannte alterstypische Aufgaben bestimmt. Durch den Vergleich der gelösten Aufgaben mit den Aufgaben der Altersgruppe konnte dann das Intelligenzalter des Kindes festgestellt werden. Nachfolgende Intelligenztestkonzeptionen gehen entweder ebenfalls von einer EinFaktor-Konzeption aus und definieren Intelligenz als ganzheitliche, homogene Fähigkeit, nämlich der „allgemeinen Fähigkeit eines Individuums, sein Denken bewusst auf neue Forderungen einzustellen; sie ist die allgemeine geistige Anpassungsfähigkeit an neue Aufgaben und Bedingungen des Lebens“ (Stern, 1912). Andere Autoren betrachten Intelligenz als das Zusammenwirken mehrerer, voneinander unabhängiger Faktoren: „Intelligenz ist die Fähigkeit des Individuums, anschaulich oder abstrakt in sprachlichen, numerischen oder raum-zeitlichen Beziehungen zu denken [...]“ (Groffmann, 1983, S. 53). Die unterschiedlichen Modellvorstellungen fanden ihren Niederschlag in entsprechenden Testkonstruktionen: Die Definition von Intelligenz als globaler Fähigkeit erfordert Messverfahren, in deren Zentrum Anforderungen zum schlussfolgernden Denken stehen, die auf einer eindimensionalen Skala abgebildet sind. Ein Beispiel sind die Progressiven Matrizen von Raven (1938), bei denen ein Muster korrekt zu ergänzen ist. Nach Rost (2000) gelten Tests zur Erfassung der generellen Intelligenz (g-Faktor) als die „besten singulären Prädiktoren für den überhaupt aufklärbaren [...] Varianzanteil vielfältiger Leistungskriterien in unserer Gesellschaft [...]“ (S. 24). Sie liefern allerdings

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nur einen Wert für die Leistungsfähigkeit insgesamt, aber keine Aussagen über die Zusammensetzung der kognitiven Funktionen. Mehr über das „kognitive Funktionieren“ zu erfahren, ist Ziel derjenigen Modelle, in denen Intelligenz als zusammengesetzt aus einer Vielfalt unabhängiger Einzelfaktoren betrachtet wird. Die größte Bedeutung in der Erfassung einer zusammengesetzten, allgemeinen geistigen Leistungsfähigkeit hat das Konzept von Wechsler (1964) erlangt (vgl. auch 9.2.1, Schuck in diesem Band). Grundlage des HAWIK-III (Tewes, Rossmann & Schallberger, 2002) z. B. sind elf Skalen, deren Zusammenstellung unter dem Aspekt erfolgte, eine möglichst große Bandbreite unterschiedlicher geistiger Fähigkeiten im Sinne von Teilleistungen und Teilfertigkeiten des Gesamtkonstrukts zu erfassen. Der Anspruch derartiger Testbatterien besteht darin, mittels einer Profilanalyse eine differenzierte Beschreibung der Leistungsfähigkeit der einzelnen Person zu erhalten. Im Falle der Wechsler-Tests gilt dies zunächst für die beiden Testteile – Verbal- und Handlungsteil –, die sich in Faktorenanalysen in Zweifaktorenlösungen immer wieder bestätigen ließen. Darüber hinaus haben weitere Faktorenanalysen vier (je nach Altersgruppe drei bis fünf) deutlich abgrenzbare Faktoren ergeben: sprachliches Verständnis, Wahrnehmungsorganisation, Unablenkbarkeit und Arbeitsgeschwindigkeit, ohne dass deren Bedeutung für die Vorbereitung und Begleitung von Förderung in einem Forschungskontext geklärt worden wäre. Die Aufgaben des HAWIK-III erfassen einerseits kulturabhängiges Wissen (z. B. Allgemeines Wissen, Allgemeines Verständnis, Rechnerisches Denken), andererseits aber auch kognitive Funktionen und Teilleistungen (Mosaik-Test, Figurenlegen, Zahlennachsprechen). Diese unterschiedlichen Testanforderungen werden auf der Basis der Faktorenlösungen zu Skalen zusammengefasst. Lässt sich jedoch die Beziehung zwischen den Subtests genau genug benennen? Welche gemeinsamen kognitiven Prozesse laufen beim Lösen so verschiedener Anforderungen ab? Die Bedeutung derartiger Subtest- und Profildaten ist trotz durchaus plausibler und klassischer Interpretationsgewohnheiten allenfalls für die Leistungshöhe pro Faktor, nicht aber für die Prozessmerkmale intelligenter Leistungen geklärt. 12.3.2 Analyse der Intelligenz unter dem Aspekt der Informationsverarbeitung Die K-ABC (Kaufman-Assessment Battery for Children) (Kaufman & Kaufman, 1983; Melchers & Preuß, 1994) gehört zu den Ansätzen, mit denen zugrunde liegende Prozesse der Informationsverarbeitung operationalisiert sind. Kaufman und Kaufman (1983) nehmen an, dass Aufgaben eher sequentiell oder simultan bearbeitet werden. Sie entwickelten eine Testbatterie „zur Messung dieser zwei Arten mentaler Funktionen“, mit einer „Skala einzelheitlichen Denkens“, die Aufgaben enthält, die durch folgerichtiges oder serielles Denken gelöst werden müssen (z. B. Zahlen nachsprechen, Wiederholen einer Folge von Handbewegungen oder Wörtern). Die zweite „Skala ganzheitlichen Denkens“ enthält Aufgaben, die räumlich-gestalthaft vorgegeben sind und durch gleichzeitige Bearbeitung und Integration der Reize oder durch Analogieschlüsse verarbeitet werden (z. B. räumlich angeordnete Reize erinnern, eine unvollständig gemalte Zeichnung erkennen,



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ein abstraktes Muster mit einer Anzahl gleicher Dreiecke nachlegen). Daneben prüft die „Fertigkeitenskala“ Faktenwissen und Fertigkeiten, die durch schulischen Unterricht und „durch Aufgeschlossenheit gegenüber der Umwelt erworben werden“ (Melchers & Preuß, 1994). In einer Vielzahl kognitionspsychologischer, neuropsychologischer und faktorenanalytischer Studien fanden Kaufman und Kaufman (1983) ihre Annahme einer grundlegenden Dichotomie der Verarbeitung bestätigt. Dabei ist davon auszugehen, dass die Bewältigung komplexer kognitiver Anforderungen letztlich die Integration einzelheitlichen und ganzheitlichen Denkens erfordert, so dass die Testbatterie Aufgaben enthält, die lediglich vorrangig den einen oder anderen Verarbeitungsstil verlangen. Signifikante Diskrepanzen zwischen den Werten der Skalen des einzelheitlichen und des ganzheitlichen Denkens deuten allgemein auf die Überlegenheit eines Informationsverarbeitungsstils gegenüber dem anderen hin. Damit werden Stärken und Schwächen im kognitiven Stil der Verarbeitung erfasst, jedoch keine Erkenntnisse über den Prozess im Sinne des Zustandekommens der einzelnen Leistungen gewonnen. Auch kann letztlich nicht bestimmt werden, was diese Stärken und Schwächen im Einzelnen bedeuten, da z. B. auch entwicklungstheoretische Konzepte zur Entwicklung der Dichotomie fehlen. Es können folglich keine Aussagen darüber gemacht werden, welche Stufen der Entwicklung das Kind erreicht hat oder welche Bedeutung diese Prozesse für den Fertigkeitenerwerb haben. Kaufman und Kaufman (1983) ihrerseits schlagen eine Differenzierung der Profilinterpretationen vor, indem Untertests hinsichtlich gemeinsamer Merkmale zusammengefasst werden (z. B. Verständnis der Beziehung Teil/Ganzes; schlussfolgerndes Denken). Diesen hypothesengeleiteten Prozess, in dem es um die Gemeinsamkeiten zwischen Leistungen in den Untertests geht, bezeichnen Kaufman und Kaufman (S. 175) als flexible und einsichtsvolle „Detektivarbeit“, in der die 15 Untertests „nach verschiedensten Möglichkeiten kombiniert, neu geordnet und neu kombiniert werden müssen, ohne zu berücksichtigen, welcher Skala sie im einzelnen zugeordnet sind“. Im Ergebnis dieser Aufgabengruppierung entsteht ein individuelles Muster von Stärken und Schwächen. So plausibel diese Zusammenfassung auch sein mag, sie wurde empirisch nicht nachgewiesen und enthält eher Aussagen über gemeinsame Merkmale der Aufgaben als über Prozesse, die bei der Lösung der Aufgaben ablaufen. Somit erhält man auch mit diesem Test nur quantitative Daten, auf deren Grundlage auf die Informationsverarbeitungsstile geschlossen und empfohlen wird, für die Förderung von dem besser entwickelten Stil auszugehen. In dem Modell der zentralen Verarbeitungstheorie von Luria (1966), auf das sich Kaufman und Kaufman (1983) beziehen, wird neben den zwei Verarbeitungsprozessen eine dritte, übergeordnete Komponente der Planung und Entscheidung konzipiert. Möglicherweise sind es gerade diese – metakognitiven – Prozesse der Planung und Steuerung des Handelns, die einen höheren Erklärungswert haben. 12.3.3 Analyse metakognitiver Fähigkeiten Naglieri und Das (1990), die gestützt auf die zentrale Verarbeitungstheorie von Luria (1966) Intelligenz und Planungsleistungen untersuchten, fanden einen bedeutsamen

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Zusammenhang zwischen Planungsleistungen und den Gesamtleistungen der Kinder in der Schule, der über die Schuljahre hinweg (2. bis 10. Schuljahr) immer enger wurde. Sternberg (1985) schließt in seinem Modell der triarchischen Intelligenz derartige metakognitive Fähigkeiten mit ein. Die Informationsverarbeitung umfasst in diesem Modell drei Arten kognitiver Komponenten: Meta-, Performanz- und Wissenserwerbskomponenten. Metakomponenten sind exekutive Prozesse der Planung, Steuerung und Kontrolle von Handlungen. Die Performanzkomponenten sind den Metakomponenten untergeordnet und führen die Pläne und Strategien aus (vgl. auch Kap. 16, Schröder in diesem Band). Sie beinhalten Basisoperationen wie Kodieren und Dekodieren von Reizen, Kombinieren und Vergleichen, Verknüpfen neuer Informationen mit altem Wissen, Regelerkennen und Regelfinden (induktives Denken) und entsprechen den kognitiven Prozessen, die in „klassischen Theorien“ im Zentrum stehen. Aufgabe der Wissenserwerbskomponenten ist es, die für die Problemlösung relevanten Informationen auszuwählen, neue Informationen und vorhandenes Wissen miteinander zu vergleichen und zusammenzufügen sowie die neuen Erkenntnisse in das vorhandene Wissen zu integrieren. Eine Umsetzung dieses Modells zu einem Intelligenztest ist – möglicherweise gerade wegen seines umfassenden Anspruchs – nicht erfolgt. Sowohl Wissenserwerbs- als auch Metakomponenten haben bisher keine Aufnahme in Intelligenztests gefunden. Dies, obwohl ein enger Zusammenhang zwischen metakognitiven Prozessen der Planung und Steuerung von Handlungen und schulischen Lernleistungen zu bestehen scheint. Für einen Teilbereich metakognitiver Fähigkeiten – die Planungsfähigkeit – wurde von Fritz und Hussy (2000) ein Verfahren publiziert, aus dem sich Aussagen zu Planungsprozessen ableiten lassen, die in Prozessen der Planrealisierung zusammenspielen. Als Aufgabe wurde im Zoo-Spiel ein handelnd zu bewältigendes Organisationsproblem verwendet: Sechs Tiere, die sich in unterschiedlichen Gehegen befinden, sollen auf dem kürzesten Weg zur gemeinsamen Futterstelle gebracht werden. Zwei Tiere haben auf dem Wagen Platz, nicht jedes Tier kann mit jedem fahren. Vor Antritt der Fahrt ist zu planen, wie die Tiere zu kombinieren sind. Über drei Klassenstufen (1.-3. Klasse) hinweg ergab sich für die Stichprobe (n = 1092) ein deutlicher Anstieg: Das effizientere Planungsverhalten zeigte sich besonders darin, dass zwei Dimensionen gleichzeitig beachtet werden können (Transport- und Umwegregel). Da sich entwicklungspsychologische Untersuchungen zur Entwicklung von Prozessen der Planung, Steuerung und Kontrolle von Handlungen bisher eher auf die Erfassung von Überwachungsprozessen (monitoring) beschränken, stehen hier noch weitere Untersuchungen zu den Komponenten der Planung und Kontrolle aus. Für die Gruppe der Kinder mit Lernschwierigkeiten ist dies besonders bedeutsam, da ihre Probleme, ihr Handeln zu planen und zu steuern, vielfach als zentral für ihre Problematik beschrieben wurden (Campione, Brown & Ferrara, 1982; Wong, 1987; Schröder, 2000). 12.3.4 Erfassung von Strukturen und Prozessen als Zugang zur Intelligenz Die Betrachtung hat gezeigt, dass auf der Basis klassischer Intelligenztests letztlich wenig über Strukturen und Prozesse kognitiver Leistungen ausgesagt werden kann.



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Nur wenige Ansätze haben in diesem Sinne experimentelle Befunde zu diagnostisch nutzbaren Verfahren umgesetzt. Ein Ansatz, mit dem die hinter den Quantitäten von Leistungen stehenden Entwicklungsprozesse deutlich gemacht werden können, ist die von Schuck (vgl. 9.2.3 in diesem Band) skizzierte strukturorientierte Diagnostik von Probst (1982). Bei der Analyse von Oberbegriffsbildungen wird nach den Merkmalen gesucht, die Kinder verwenden, um Klassen von Objekten zu bilden. In Anlehnung an z. B. Olver und Hornsby (1971) geht Probst (1981, S. 36) davon aus, dass die Begriffsbildung im individuellen Entwicklungsverlauf auf unterschiedlichen Niveaus erfolgt. Zu unterscheiden sind: I. egozentrische Kategorisierung: Entscheidend für die Klassifikation ist die subjektive Beziehung zum Gegenstand; II. perzeptive Kategorisierung: Klassifikation erfolgt aufgrund des äußeren Aussehens; III. funktionale Kategorisierung: Klassifikation erfolgt aufgrund des Verwendungszwecks; IV. nominale kategoriale oder formale Kategorisierung: Klassifikation erfolgt anhand kategorialer Oberbegriffe. Für die Klassifikationsaufgabe werden Objekte zusammengestellt, die nach den verschiedenen Merkmalen zu einem vorgegebenen passen (Was passt zu Apfelsine? Stecker [egozentrisch], Ball [perzeptiv] oder Scheibe Brot [funktional]?) (Probst, 1981, S. 37). Anhand einer Serie solcher Aufgaben wird analysiert, ob Kinder Objekte einer Merkmalsart bevorzugen. Gibt es solche Häufungen über alle Aufgaben, wird auf das Begriffsbildungsniveau des Kindes geschlossen. Einerseits ist diese systematische Analyse nachvollziehbar. Andererseits ist die Interpretation von Begriffsbildungsniveaus nicht immer eindeutig. Die Phasen sind nicht stringent bestimmten Altersgruppen zuzuordnen, Kinder verwenden gleichzeitig verschiedene Klassifikationsprinzipien. Aktuelle Befunde lassen darauf schließen, dass bei höheren geistigen Leistungen ein Wechseln zwischen verschiedenen Repräsentationsformen und eben hier den Begriffsbildungsniveaus möglich ist (van der Meer, 1998). Werden in der strukturorientierten Diagnostik Prozesse auf der Basis der Systematik der Lösungsvarianten interpretiert, so werden in der Lerntestkonzeption von Guthke (vgl. auch Guthke, Wolschke, Willmes & Huber, 2002) Prozessanalysen durch die Variation von Prozessbedingungen möglich. Je nach Lösungsverhalten des Kindes werden während der Bearbeitung von Aufgaben standardisierte Hilfen (beginnend mit der Wiederholung von Aufgaben, Hinweise auf Fehler, Demonstrationen) gegeben. Aus dem Vergleich von Prä- und Posttestwerten wird geschlossen, ob die definierten Unterstützungen den Lösungsprozess leistungssteigernd beeinflusst haben. Mit diesem Vorgehen kann der Wissenserwerb in einzelnen Schulfächern insbesondere bei leistungsschwächeren Kindern besser vorhergesagt werden als über die Intelligenzhöhe (Guthke et al., 2002; Klauer, 2003). Dass in diesem Sinne Analysen für einige gut beschriebene Prozesse wie das Analoge Schließen möglich sind, haben Schaarschmidt, Ricken, Kieschke und Preuß (2004) mit dem kürzlich publizierten Verfahren BIVA gezeigt.

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12.4 Vorwissen und Wissen Neben der Intelligenz kommt damit dem Wissen (Vorwissen) eine bedeutende Rolle für das schulische Lernen zu: Was der Lernende bereits weiß, wird immer bedeutsamer für den weiteren Lernerfolg (Helmke, 1997). Betrachtet man den Verlauf schulischer Erwerbsprozesse, dann zeigt sich z. B., dass der Zusammenhang zwischen der Intelligenzleistung und der Mathematikleistung abnimmt, wohingegen der Einfluss der Vorkenntnisse auf die schulische Leistung stärker wird (Stern, 1997). Vorwissen wird damit zu einem ausgezeichneten Prädiktor für späteren Schulerfolg. Entscheidend für die Anwendbarkeit und effektive Nutzung des domänenspezifischen Wissens ist die Strukturiertheit und Vernetzung des Wissens. Bei Anforderungen wie dem Lösen von Textaufgaben, die mathematische Kenntnisse und eine Verarbeitung der im Text gegebenen Situation erfordern (vgl. Weinert & Stefanek, 1997), spielt die Intelligenz wiederum eine größere Rolle (Stern, 1997). Dass auch Vorwissen theoriebezogen mittels Prozess- und Voraussetzungsanalysen untersucht werden kann, soll im Folgenden aufgezeigt werden. 12.4.1 Erfassung mathematischer Kompetenzen Bemühungen, den Fertigkeitserwerb des Rechnens entwicklungspsychologisch zu betrachten, haben sich bislang als problematisch erwiesen. Für die Entwicklung des Rechnens liegen keine allgemein akzeptierten Entwicklungsmodelle vor. Welche fertigkeitsspezifischen Voraussetzungen für das Rechnenlernen von Bedeutung sind, ist insgesamt bekannt, nicht aber, wie sich die Verknüpfung dieser „Teilleistungen“ untereinander vollzieht und welche Bedeutung ihnen jeweils zukommt (vgl. jeweils 25.1, Werner; 25.2, Scherer; 25.3, Gerster; 25.5 Häsel-Weide in diesem Band). Welchen spezifischen Teilleistungen (Invarianz, Teil-Ganzes-Relationen usw.) dabei die Bedeutung eines frühen Indikators für die Schwierigkeiten im Erwerbsprozess zukommt, ist bisher nicht geklärt. Fraglich ist auch, inwieweit über die fertigkeitsspezifischen Inhalte hinaus kognitive Teilleistungen (Wahrnehmung, sprachliche Leistungen) zu berücksichtigen sind (Dornheim & Lorenz, i. Vorb.). Auf diesem Stand der Theorieentwicklung (vgl. auch Fritz, Ricken & Schmidt, 2003) ist eine Diagnostik in zweierlei Weise möglich: erstens durch Verfahren, die auf Lehrplänen basieren, und zweitens durch Verfahren, die fertigkeitsspezifische, entwicklungsrelevante Aufgaben enthalten. 12.4.1.1 Curriculumorientierte Verfahren Curriculumorientierte Verfahren werden auf der Basis der Lehrpläne der verschiedenen Bundesländer zusammengestellt. Durch den Vergleich der Leistungen in den Untertests können Stärken und Schwächen eines Kindes in Bezug zu den Aufgabentypen, d. h. bezogen auf curriculare Anforderungen, quantitativ ausgewiesen werden. Eine qualitative Analyse der spezifischen Leistungen ist jedoch in der Regel nicht möglich, da die



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Aufgaben nach testtheoretischen und nicht nach gegenstandsbezogenen Kennwerten ausgewählt wurden (vgl. Ricken, 2003). Mit dem DEMAT 1+ (Krajewski, Küspert & Schneider, 2002) wurde ein Verfahren vorgelegt, mit dem der Stand des Kindes in diesem Sinne bezüglich der Anforderungen der ersten Klassen zu bestimmen ist. Geprüft werden die Aufgabentypen: Addition, Subtraktion, Zerlegen in Mengen, Ungleichungen lösen, Sachaufgaben, Zahlraumkenntnis und Mengen verändern/vergleichen. Obwohl vorgeschlagen, ist von einer Profilauswertung abzuraten, da auf der Basis von 3-4 Items pro Untertest geringe Reliabilitäten (.38 bis .84) erreicht werden. Somit reduziert sich das Ergebnis auf einen Gesamtwert, der den Abstand zum Lernziel der Klassenstufe ausdrückt. 12.4.1.2 Entwicklungsorientierte Verfahren Für die zweite Gruppe der Verfahren, die auf Annahmen über den Fertigkeitenerwerb aufbauen, kann noch einmal unterschieden werden, ob eher Prozessverläufe oder Voraussetzungen untersucht werden. Während es bei der Voraussetzungsanalyse um Teilfertigkeiten geht, die im Zusammenhang mit weiteren Entwicklungsschritten stehen, sind bei den Prozessanalysen Fragen danach von Interesse, auf welcher Ebene Prozesse ablaufen und ob Vorgehensweisen rekonstruierbar sind. Beide Prinzipien, die nur bedingt trennbar sind, sollen an Beispielen vorgestellt werden (Ricken, 2003). Prozessanalysen Die Prozessdiagnostik mathematischer Kompetenzen von Behring, Kretschmann und Dobrindt (1999) nutzt beide Prinzipien. Außerdem werden Lehrplanbezüge hergestellt, indem eine Zuordnung der Anforderungen zu Etappen (Schuljahresabschnitte: Halbjahre Klasse 1 und 2) erfolgt. So sollten Schüler am Ende des ersten Halbjahres von Klasse 1 u. a. Zahlenlesen, das Zusammensetzen von Mengen und additives Ergänzen beherrschen. Diese Zuordnung erscheint weitestgehend plausibel, ist jedoch nicht anhand von Daten belegt. Bei der Interpretation ist in jedem Fall zu bedenken, dass eine Kompatibilität zum Unterricht, den das betreffende Kind erlebt hat, gegeben sein muss. Neben einer Beschreibung der Leistungen eines Kindes mit diesem Lehrplanbezug liegt das Besondere dieses Ansatzes darin, dass die qualitative Kompetenzveränderung sowohl in der jeweils aktuellen Auseinandersetzung mit den Aufgaben als auch im Schuljahresverlauf im Mittelpunkt steht. Prozessbeschreibungen erhält man mit dem Ansatz von Behring et al. (1999), indem das Kind beim Lösen der Aufgaben beobachtet wird und indem Aufgaben systematisch variiert werden. Diagnostiziert werden das aufgabenbezogene Lösungsverhalten und die Wirkung der Variation der Aufgabenbedingungen auf die Lösungsprozesse. Die Grundlage für dieses Vorgehen sind Annahmen von z. B. Bruner (1966) oder den Autoren der kulturhistorischen Schule über Stufenfolgen in der kognitiven Entwicklung. Grundlage der Entwicklung ist die praktisch-gegenständliche Handlung, die allmählich „verinnerlicht“ wird. Dabei werden folgende Stufen durchlaufen: I. Ebene des konkreten Handelns mit gegenständlichem Material. II. Ebene der bild- oder modellhaften Veranschaulichung. Objekte liegen lediglich in

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einer von den Objekten abstrahierten Form vor (Bild, Skizze, Modell), die gegenüber der ursprünglichen Form Symbolfunktion hat. III. Ebene der Verkürzung und Abstraktion der Rechenhandlung, auf der mit Ziffern umgegangen wird. Im Stufenmodell der kulturhistorischen Schule folgt auf die Ebene der materialisierten Handlung die Übertragung auf die Ebene der Sprachhandlung, die durch eine allmähliche Verkürzung zur reinen Denkhandlung wird. Auch dieser Aspekt ist für das Rechnenlernen bedeutsam, das darauf abzielt, Rechenprozesse ohne jede äußere Hilfe auch „im Kopf“ vollziehen zu können. Mit der Übertragung der Rechentätigkeit auf zunehmend abstraktere Handlungsebenen wird der eigentliche Rechenprozess verkürzt und automatisiert, wodurch Verarbeitungskapazität für den Umgang mit komplexeren Anforderungen frei wird. Behring et al. (1999) variieren Aufgaben auf der bildlichen und symbolischen Ebene. Für den Mengenvergleich z. B. werden zunächst gleiche Bildmengen ausgewählt, die nach Form, Größe und Art der Objekte immer unähnlicher werden, bis zu Aufgaben auf der Ziffernebene. Über die Aufgabentypen hinweg lässt sich dann vergleichen, ob das Kind Aufgaben eines Präsentationsniveaus lösen kann und auf welchem dies nicht möglich ist. Diese Systematik, die auch in anderen Testverfahren umgesetzt wurde (vgl. Wagner & Born, 1994; Moog & Schulz, 1999), ist jedoch nicht unproblematisch. Grundsätzlich kann nicht davon ausgegangen werden, dass die einzelnen Stufen als streng aufeinander aufbauende zu verstehen sind, die nacheinander ausgebildet werden. „It is not that these are stages in any sense“ (Bruner, 1966, 28), vielmehr sind stets mehrere Repräsentationsformen an menschlichen Handlungen beteiligt: kein Denken ohne beteiligtes oder vorgestelltes Handeln; kein Bildverstehen ohne Symbolbeteiligung; kein konkretes Handeln ohne orientierende Vorstellungen und Zeichen. Daher ist es zu einfach, anzunehmen, dass die Variation der Präsentationsebenen für alle Kinder in gleicher Weise die Aufgabenschwierigkeit erhöht oder senkt. Dazu kommt, dass auch Materialien und Veranschaulichungen der Interpretation bedürfen und sich nicht unmittelbar „von selbst“ erschließen. Die Variation der Aufgaben ist ein Versuch, das individuelle Lösungsverhalten zu den Aufgabenmerkmalen in Beziehung zu setzen und daraus Hypothesen über das Repräsentationsniveau, auf dem Operationen erfolgen können, zu bestimmen. Gezielte Zusammenstellungen von Aufgaben eines Anforderungstyps nach der Komplexität, nach der Instruktion, nach sprachlichen Bedingungen oder nach Situationsmodellen und der Vergleich der Lösungen ergänzen Prozessanalysen (Fritz, Ricken, & Schlottke, i. D.). Erforderlich sind jeweils Aufgabenmengen, die alle relevanten Merkmale des Anforderungstyps repräsentieren (bei Behring et al., 1999, sind es die dem Lehrplan zugeordneten Gruppen). Es kann geprüft werden, ob Kinder die Aufgabengruppen unterschiedlich bewältigen (vgl. Wagner & Born, 1994). So können zählende Strategien dann angenommen werden, wenn Aufgaben mit kleinerem Summanden vorn (4+13) langsamer und fehlerhafter gelöst werden als Aufgaben mit großem Summanden vorn (13+4). Im Sinne von Strategieanalysen können Kinder gebeten werden, Lösungswege vor und nach der Lösung zu erklären, zu begründen und zu bewerten. Ihr Wissen über bestimmte Rechenstrategien wie Rechenvorteile oder Ableitungsstrategien (Tausch-,



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Umkehr-, Nachbaraufgaben, dekadische Analogien, Aufgabenfamilien) kann im Dialog „sichtbar“ gemacht werden (Gerster & Schultz, 2000). Allerdings müssen sprachliche Ausdrucksmöglichkeiten zur Verfügung stehen, um diese Einsichten angemessen darzustellen. Hypothesen über Prozesse und Strategien lassen sich ebenso über die Analyse der Fehllösungen entwickeln, wenn dies in Bezug auf Aufgabenmerkmale erfolgt (vgl. z. B. Wagner & Born, 1994; 25.3, Gerster in diesem Band). Radatz (1980) klassifiziert Fehler nach Informationsverarbeitungsaspekten: I. Mangelndes Sprach- und Textverständnis; II. Übertragung von Strategien vorangegangener Aufgaben auf neue Aufgaben; III. Festhalten an spezifischen Repräsentationen, so dass Verallgemeinerungen erschwert werden; IV. Schwierigkeiten bei der Analyse von Veranschaulichungen; V. Nichtberücksichtigen relevanter Bedingungen der mathematischen Aufgabe bzw. des Problems; VI. Verlieren von Zwischenschritten im Lösungsprozess. Damit gewinnen Fehler einen ‚diagnostischen Wert‘, der in schulischen Kontexten oft übersehen wird. Erfassen von Teilfertigkeiten und Voraussetzungen Prozessanalysen können auch erfolgen, indem nach Korrelationen zwischen Teilfertigkeiten und der Gesamtleistung gesucht wird. Je nach theoretischer Ausrichtung werden unspezifische und spezifische Teilfertigkeiten unterschieden. Zur ersten Gruppe gehören z. B. ineffektive Arbeitsweisen, eine geringe Merkfähigkeit, Beeinträchtigungen der Wahrnehmungsverarbeitung, der räumlichen Orientierung, des Körperschemas oder der Bewältigung visuo-motorischer Anforderungen (Lorenz, 1992; Schrodi, 1999). Störungen dieser Art gelten als unspezifisch (von Aster, 2003), da sie in vergleichbarer Weise für Kinder beschrieben werden, deren schriftsprachliche Entwicklung problematisch verläuft. In der Tradition der Zahlbegriffsentwicklung wurden demgegenüber fertigkeitsspezifische Teilleistungen analysiert, die sich beim Übergang vom pränumerischen zum numerischen Bereich entwickeln. Dazu zählen u. a. die Klassifikation, Einsichten in Invarianzen, Seriation, Zahlwortkenntnis, Vergleichen von Mächtigkeiten (Probst & Waniek, 2003). Von Interesse ist dabei, ob Teilleistungen in Beziehung zu einander stehen. Solche Voraussetzungsstrukturen wurden im bereits dargestellten Ansatz der struktur- und niveauorientierten Diagnostik (Strukturbezogene Aufgaben zur Prüfung Mathematischer Einsichten, 1. Teil) von Kutzer und Probst (o. J.) für einen Teil relevanter Fertigkeiten nachgewiesen. Die Lernvoraussetzungen des Einzelnen werden zur Struktur des Lerngegenstandes in Beziehung gesetzt. Für 8- bis 12-jährige Lernbehinderte ließ sich eine hierarchische Struktur der Anforderungen mit sechs Niveaustufen feststellen: Die unterste und gleichzeitig leichteste Ebene (I) besteht aus pränumerischen Anforderungen: Benennen von Eigenschaften, Verknüpfung von Eigenschaften, Stück-für StückZuordnungen von Mengen, Vergleiche hinsichtlich ‚gleich‘, ‚mehr‘ oder ‚weniger‘. Die darauf aufbauende Ebene (II) enthält: Zahleninvarianz (Anordnung und Repräsentanz) und Klassifikation. Diese Ebene ist Voraussetzung für das Lösen von Seriationsaufgaben

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und Zahloperationen im Bereich bis 6 und bis 9 (Ebene III). Wenn dies gelingt, können Kinder im erweiterten Zahlenraum bis 18 operieren (Ebene IV). Auf den Ebenen V und VI gelingt dann die Erklärung von Zahloperationen zunächst bis 9 und dann im Zahlenbereich bis 18. Mit dieser Struktur kann abgeleitet werden, auf welchem Niveau das Kind zurzeit steht, welche Niveaus bewältigt sind und welche Ebene als nächste erreichbar ist. Insofern liegt mit diesem hierarchischen System ein sehr komplexes diagnostisches Hilfsmittel vor. Jedoch stehen weitere Validierungsdaten aus und mit Klauer (2003) ist zu fragen, ob solche Strukturen tatsächlich generalisierbar sind. 12.4.2 Erfassen schriftsprachlicher Kompetenzen Für die Diagnostik des Schriftspracherwerbs kann auf fundierte Annahmen über den Entwicklungsverlauf, d. h. über Voraussetzungen und Teilfertigkeiten, zugegriffen werden (vgl. auch 24.1, Walter; 24.2, Tacke; 24.3, Walter; 24.4, Scheerer-Neumann, in diesem Band). Deshalb sollen Skizzen dieser Ansätze dargestellt werden, während auf curriculumorientierte Verfahren verzichtet wird. Die Analyse der schriftsprachlichen Entwicklung bzw. deren Defizite hat zur Unterscheidung sprachunspezifischer und sprachspezifischer Teilfertigkeiten geführt (Walter, 2000). Weitgehend akzeptiert ist, die schriftsprachliche Entwicklung als Prozess aktiver Konstruktion aufzufassen, der sich auf mehr oder weniger gut abgrenzbaren Stadien oder Stufen vollzieht. An den Entwicklungsprozessen sind neben den Fertigkeiten und Voraussetzungen beim Kind familiäre und schulische Bedingungen beteiligt. Nachgewiesen sind Korrelationen zwischen der schriftsprachlichen Kompetenz und z. B. den Bildungsabschlüssen der Eltern, deren Unterstützung und Interesse am schulischen Lernen, dem emotionalen Klima in den Familien und insbesondere der familiären Literalität wie gemeinsames Lesen, Einstellung zu Büchern und Lesegewohnheiten (Klicpera & Gasteiger-Klicpera, i.D.). Zu den gesicherten schulischen Bedingungen gehören u. a. die didaktisch-methodischen Kompetenzen der Lehrer und vor allem die Anwendung der analytisch-synthetischen Methode (Valtin, 2003). Beim Erwerb der Schriftsprache wird von den Einflüssen „stützender Fähigkeiten“ ausgegangen, die mit den bereichsspezifischen Einflüssen zusammenwirken. Dazu gehören neben Motivation, Konzentration und Selbstkonzept auch Lern- und Arbeitsstrategien (z. B. Valtin, 2003). Jedoch zeigen sich eher niedrige Korrelationen, wenn diese Konstrukte im generalisierten Sinn geprüft werden. Folglich müssen diese Faktoren spezifisch in konkreten Handlungszusammenhängen betrachtet werden. So korrelieren fähigkeitsspezifische Selbstkonzeptwerte nahezu ähnlich hoch wie Intelligenz und Vorwissen mit den entsprechenden Schulleistungen (Helmke, 1997). Lernmotivation zielt auf Lernzuwachs in ganz konkreten Lernaktivitäten (Rheinberg & Fries, 1998). Damit sind Motivationsprozesse (Zielbildungen, Attributionen und Selbstbewertungen) an konkrete Lese- und Schreibanforderungen und deren Bewältigung gebunden. Ebenso wenig erklärt die Merkfähigkeit an sich Erfolg und Misserfolg. Vielmehr ist von Bedeutung, wie spezifisches Wissen über Graphem-Phonem-Verbindungen, die Verbindung zwischen „Schriftwort“ und „Sprechwort“ (Landerl, Wimmer & Moser, 1997) gespeichert ist. Marx (2000, S. 196) geht davon aus, dass die spezifischen Repräsentationen im Gedächtnis



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dann entstehen können, wenn durch „eine aufmerksamkeitskontrollierte Verarbeitung der orthografischen Besonderheiten von Wortmaterialien [...] die schriftsprachspezifischen Abfolgen der Graphem-Phonem-Korrespondenzen“ entdeckt werden. Aktuelle Studien (Hasselhorn, Tiffin-Richards, Woerner, Banaschewski & Rothenberger, 2000) zeigen Zusammenhänge zwischen dem Arbeitsgedächtnis und dem Schriftspracherwerb, insbesondere dem Rekodieren (Buchstaben werden Lauten zugeordnet). Während für die Erfassung von Arbeitsgedächtniskomponenten gegenwärtig ein diagnostisches Verfahren erarbeitet wird (Hasselhorn et al., 2003), liegen für die anderen „stützenden“ Fähigkeiten keine diagnostischen Instrumente vor, sieht man vom Interviewleitfaden von Kretschmann, Dobrindt und Behring (1998) ab, mit dem einige der motivationalen Aspekte des Schreibens und Lesens von den Kindern erfragt werden. Diese unterschiedlichen Faktoren in einzelnen Schriftspracherwerbsprozessen im Zusammenwirken zu beobachten, gelingt nicht. Möglich sind aber Korrelationsbetrachtungen zwischen Teilkomponenten und schriftsprachlichen Leistungen oder Bedingungsvariationen und Fehleranalysen. 12.4.2.1 Teilfertigkeiten und Voraussetzungen im Schriftspracherwerb Teilfertigkeiten können als notwendige Voraussetzungen zu Beginn des Erwerbsprozesses oder als integrale Bedingungen des Lese- und Schreibprozesses analysiert werden. Voraussetzungen im Vorschulalter Zu den sprachlichen Voraussetzungen, die die Entwicklung der Schriftsprachkompetenz bereits im Vorschulalter vorhersagen können, gehört die phonologische Bewusstheit (vgl. 24.1, Walter in diesem Band). Damit ist die Fähigkeit gemeint, die Aufmerksamkeit von der Bedeutung des Gesprochenen auf die formalen Aspekte der Sprache zu lenken (u. a. Jansen, Mannhaupt, Marx & Skowronek, 1999). Wenn der Klang eines Wortes zum Gegenstand des Nachdenkens wird, können einzelne Laute aus einem Wort isoliert werden. Eine nicht ausreichend entwickelte phonologische Bewusstheit kann bei LRS-Kindern beobachtet werden (z. B. Hasselhorn et al., 2000) und ist möglicherweise eine Bedingung, die den Erwerb schriftsprachlicher Fertigkeiten erschwert. Es wird davon ausgegangen, dass die zu Beginn des Erwerbsprozesses bedeutungsvolle phonologische Bewusstheit in der Schule weiter verbessert wird (vgl. ausführliche Darstellung der Studie von Ehri et al. [2001] in 24.1, Walter in diesem Band). Ein Verfahren, mit dem die phonologische Bewusstheit vor der Einschulung erfasst werden kann, ist das Bielefelder Screening (BISC) von Jansen et al. (1999). Mit diesem Test können Risikokinder identifiziert und gezielt gefördert werden. Im BISC werden neben der phonologischen Bewusstheit Gedächtnisprozesse wie Abruf und Speicherung erfasst, denen eine ebenso große Bedeutung für die Entstehung von Lese-Rechtschreibschwierigkeiten beigemessen wird. Die im BISC erfassten Leistungen sind Indikatoren für spezifische Fertigkeiten, die sich wesentlich vor der Schule, ohne systematischen Unterricht entwickeln.

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Aus der Analyse von Schwierigkeiten wurde lange Zeit auf eine bedeutsame Rolle von Wahrnehmungsprozessen (visuelle und akustische) im Lesen geschlossen. Studien zur Verbesserung der schriftsprachlichen Kompetenzen durch die Förderung der Wahrnehmungsleistungen führten jedoch zu keinen klaren Ergebnissen (Walter, 2000; Valtin, 2003). Eindeutiger fallen Befunde dann aus, wenn direkt an der sprachlich-phonologischen Verarbeitung beteiligte Fertigkeiten gefördert werden. Für das Lesen sind das beispielsweise Prozesse des Rekodierens (Umsetzung graphischer Informationen in phonologische) und des Dekodierens (Verknüpfung phonologischer Informationen mit vorhandenem Wissen). Beide Prozesse sind an der Worterkennung beteiligt und bilden eine Basis für das Verstehen gelesener Texte (vgl. 24.2, Walter in diesem Band). Marx (1998, 2003) hebt davon die Fertigkeit des Hörverstehens auf Satz- und Textebene ab. Validitätsuntersuchungen belegen die Unterscheidbarkeit dieser Fertigkeiten. Mit Hilfe von Knuspels Leseaufgaben (KNUSPEL-L; vgl. Marx, 1998) können diese Teilfertigkeiten durch einzelne Untertests erfasst und unterdurchschnittlich entwickelte Teilfertigkeiten identifiziert werden, die an Störungen der Leseprozessentwicklung beteiligt sein könnten. Für die Abbildung der Leseleistung unterscheiden Lehmann, Peek und Poerschke (1997) im Hamburger Lesetest für 3. und 4. Klassen (HAMLET 3-4) die Dekodierleistungen weiter: Elementares Leseverständnis (aus Texten können einfache sprachliche Informationen entnommen werden), generalisiertes Leseverständnis (Informationen können von der sprachlichen Form gelöst werden) und evaluiertes Leseverständnis: aus Texten können Schlussfolgerungen gezogen und Interpretationen vorgenommen werden (Lehmann et al., 1997). 12.4.2.2 Prozessanalysen im Schriftspracherwerb Der Ansatz von Marx (1998) stellt bereits ein Prozessmodell dar, bei dem die beteiligten Komponenten im Vordergrund stehen. Für Lese- und Schreibprozesse existieren darüber hinaus Modelle, in denen die Prozesse nach aufeinander aufbauenden Entwicklungsphasen bzw. -stufen unterschieden werden. Für das Lesen werden z. B. folgende Phasen unterschieden: I. Erkennen von Symbolen, II. logographemisches Worterkennen, III. logographemisches Worterkennen mit lautlichen Elementen, IV. beginnendes Erlesen, V. vollständiges Erlesen (alphabetische Strategie), VI. Erlesen größerer Einheiten (Silben, Morpheme, Signalgruppe) und VII. automatisches Worterkennen (nach Valtin, 2003). Je nach betrachteten Entwicklungsbereichen unterscheiden sich die genutzten Stufen in ihrer Untergliederung: Für das Schreiben werden logographemische, alphabetische, orthografische und morphematische Stufen unterschieden. Die Stufen und Phasen erlauben prinzipiell die Operationalisierung von Aufgaben, die Aussagen über die erreichten Aneignungsniveaus ermöglichen (z. B. Kretschmann et al., 1998). Dehn (1988) beobachtet die Entwicklung der alphabetischen Strategie im Sinne einer Vervollkommnung



Kapitel 12: Gegenstandstheoretische Konzepte als diagnostische Basis | 201

von ersten rudimentären Versuchen zum lautlich/orthografisch richtigen Verschriften differenzierter. Die Kinder schreiben dazu in Abständen im Verlauf des ersten Schuljahres jeweils die gleichen Wörter auf (rt-raita-Reiter). Im Salzburger Lese- Rechtschreibtest (SLRT) von Landerl et al. (1997) wird die Annahme über die erreichte Stufe aus den Schreibfehlern abgeleitet. Sie werden danach beurteilt, ob die Worte orthografisch falsch, aber lautgetreu oder falsch und nicht lautgetreu aufgeschrieben wurden. Zusätzlich wird die Groß- und Kleinschreibung als Hinweis auf orthografisches Wissen ausgewertet. In der Hamburger Schreib-Probe (HSP) von May (2002) erfolgt die Auswertung über die Variationen, die im zu schreibenden Wortmaterial enthalten sind. May konzipiert so genannte Lupenstellen, deren richtige bzw. falsche Verschriftung als Indikator für die Schreibstrategien zu werten ist. Folgende Stufen bzw. Strategien werden geprüft und anhand von Beispielen operationalisiert: I. Die alphabetische Strategie: Sprechwörter werden in Laute gegliedert und Lauten werden Buchstaben zugeordnet. II. Die orthografische Strategie: Regeln werden beachtet. III. Die morphematische Strategie: Wortbausteine werden verwendet. SLRT und HSP können normorientiert ausgewertet werden, indem die Fehlerhäufigkeit pro Fehlerklasse bestimmt und mit den Klassennormen verglichen werden. Es kann jedoch darüber hinaus eine entwicklungsorientierte Auswertung im Hinblick auf die dominant verwendete Rechtschreibstrategie erfolgen. Dabei ergibt sich die Frage (vgl. Tacke, Völker & Lohmüller, 2001), ob die Strategien oder Stufen in der Entwicklung der Kinder gut voneinander trennbar sind, oder ob eine Parallelität in der Verwendung der Schreibstrategien besteht. So weist Walter (2000) nach, dass Kinder (auch Förder- und Hauptschüler) eher alle Strategien gleichzeitig benutzen. Landerl et al. (1997) unterscheiden Prozesse nach der Art, wie aus der Buchstabenreihe die Lautstruktur abgeleitet wird. Einmal kann dies durch einen synthetischen Leseprozess erfolgen, in dem die den Buchstaben zugeordneten einzelnen Laute nacheinander artikuliert und zusammengefasst werden. Während der weiteren Entwicklung entsteht eine Verbindung von Buchstabenfolge und Wort, die nach Landerl et al. rasch direkt abgerufen werden kann. Im Salzburger Lese- und Rechtschreibtest werden beide Prozessarten dadurch geprüft, dass Kinder bekannte und Pseudoworte lesen. Bestimmt wird die Lesezeit, für die klassenstufenbezogene Normwerte vorliegen. Eventuelle Differenzen zwischen dem Lesen bekannter Worte und Pseudoworte werden daraufhin interpretiert, ob eher die direkte Worterkennung oder die Fähigkeit zum synthetischen Lesen beeinträchtigt ist.

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Diagnostik

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Diagnostik

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13 Förderbedarf, Förderkonzept und Förderplanung Karl Dieter Schuck, Wolfgang Lemke und Joachim Schwohl Der mit den KMK-Empfehlungen von 1994 (Sekretariat der Ständigen Konferenz der Kultusminister der Länder in der Bundesrepublik Deutschland, im Folgenden immer mit KMK abgekürzt) eingeführte Begriff des ‚Sonderpädagogischen Förderbedarfs‘ holt eine englische Entwicklung der siebziger Jahre nach (vgl. Warnock, 1978) und ist die Übersetzung von ‚special educational needs‘. ‚Needs‘ bedeutet zuallererst ‚Bedürfnisse‘ und sodann ‚Notwendigkeiten‘. Mit ‚special educational needs‘ werden im angloamerikanischen Sprachgebrauch dem entsprechend nicht nur besondere pädagogische Bedürfnisse der Schülerinnen und Schüler, sondern vor allem besondere, vom Schulsystem zu realisierende pädagogische Notwendigkeiten bezeichnet, deren Umsetzung dort streng kontrolliert wird. Im Begriff der educational needs mischen sich damit einerseits personale Aspekte, die individuellen Bedürfnisse, und andererseits herzustellende, institutionelle Bedingungen im System der Förderung. Was allerdings Bedürfnisse heranwachsender Menschen sind und wie sie in den Prozess der Förderung hineinspielen, wird je nach gewähltem theoretischen Kontext unterschiedlich zu beurteilen sein. Dynamischen und lebensweltlich orientierten Bedürfnistheorien liegt ein Menschenbild zugrunde, in dem der aktive Mensch in alltäglichen Austauschprozessen mit den Bezugspersonen seiner Lebenswelten Bedürfnisse nach Anerkennung, nach Teilhabe, nach einer wertorientierten Selbstverwirklichung und Sinnerfüllung, nach emotionaler Bindung, Identität und Persönlichkeitsentwicklung realisiert (Beck, 1996). In Anlehnung an Holzkamp (1995, S. 189) wird hier anstelle von Bedürfnissen von Lebens- und Lerninteressen gesprochen. Diese sind darauf ausgerichtet, die Verfügung über die jeweils individuell relevanten gesellschaftlichen Lebensbedingungen zu erhöhen (vgl. Kap. 10, Schwohl in diesem Band). Gängige Definitionen dessen, was Förderbedarf ist, zentrieren demgegenüber keineswegs auf die subjektiven Lebens- und Lerninteressen. So betonen Arnold und Kretschmann (2002, S. 266 f.), dass sonderpädagogische Förderung indiziert sei, wenn es zu Passungsproblemen in der allgemeinen Schule zwischen den lehrplanbezogenen Leistungsanforderungen und den Schülerleistungen oder zwischen dem sozialen Verhalten des Einzelnen und den Interaktions- und Kommunikationsregeln der Klassengemeinschaft gekommen ist. Die Feststellung des Sonderpädagogischen Förderbedarfs und die sonderpädagogische Förderung bestehen in dieser Vorstellung in der Präzisierung der unterschiedlichen Passungsprobleme und im Versuch, die Passungsprobleme durch eine kompensierende oder zieldifferente Förderung zu lösen. Die Präzisierung von Passungsproblemen geht in der Regel einher mit Operationalisierungen unterschiedlicher, schulisch für bedeutsam gehaltener Persönlichkeits- und Leistungsaspekte. Sie sind in den KMK-Empfehlungen (1994 ff.) bereits durch das Konzept der Förderschwerpunkte und verschiedener Förderbereiche wie die Sensorik, Motorik, die Kognition, die Kommunikation, das Sozialverhalten, die Emotionalität, die Motivation und das Lern- und Arbeitsverhalten angedeutet (vgl. KMK, 1994, S. 6; 1999, S. 7). Auf der Ebene praktischer Umsetzungen führten derartige Operationalisierungen zu langen Defizitlisten, die

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Diagnostik

der Bestimmung individueller Förderschwerpunkte und Förderbedarfe dienen und der weiteren Unterrichtsplanung zugrunde gelegt werden. In diesem Spannungsfeld bewegt sich jede Pädagogik und damit jede pädagogische Diagnostik: Auf der einen Seite können wie auch immer bestimmbare Lebensinteressen von Menschen nach einer Erweiterung der Verfügung über ihre jeweils relevanten Lebensbedingungen vermutet werden und auf der anderen Seite gibt es Feststellungen darüber, in welcher Weise Schülerinnen und Schüler die Erwartungen an ihre Kompetenzen, Fähigkeiten und Fertigkeiten nicht erfüllen. Erfolgreiche pädagogische Aktivitäten brauchen einen weiteren Ankerpunkt, nämlich die Suche danach, warum sich die Schülerinnen und Schüler mit den schulischen Lerngegenständen gerade so beschäftigt haben, dass es zu den festgestellten Passungsproblemen kommen musste. Eine psychodynamische Sicht der Dinge fragt zunächst nicht nach Begabung und Intelligenz, sondern nach Motiven, Bedürfnissen sowie nach Handlungen und deren Begründungen. Wird z. B. die Aneignung der Schriftsprache als ein vom Individuum ausgehender aktiver Prozess verstanden, so sind es die Lernhandlungen des Individuums, die den Erfolg oder Misserfolg erklären. Nicht die festgestellten Defizite sind demnach der Schlüssel zu einer besseren Förderung, sondern taugliche Hypothesen darüber, warum sich ein Subjekt mit den Lerngegenständen so und nicht anders auseinandergesetzt hat und welches die Begründungen seiner Handlungen waren (vgl. Koch, Schuck & Schwohl, 2001; vgl. Kap. 10, Schwohl in diesem Band). Förderplanung und Förderung haben, folgt man der Definition von Schuck (2001a, S. 63 f., vgl. auch Kap. 9.1.1, Schuck in diesem Band), die „Anregung und Begleitung einer an Bildungszielen orientierten, für wertvoll gehaltenen Veränderung individueller Handlungsmöglichkeiten von Menschen in ihren Lebensgemeinschaften“ zum Ziel. Es liegt also nahe, diesen Veränderungsprozess zu analysieren, einschließlich der Handlungsbegründungen des Subjekts, die aus der veränderten Prämissenlage (vgl. Kap. 10, Schwohl in diesem Band) hervorgegangen sind. Mittel zum Zweck ist die derzeit auch von der KMK (1994, S. 9) favorisierte lernprozessbegleitende Diagnostik, mittels derer die den Förderangeboten zugrunde liegenden Hypothesen geprüft, gegebenenfalls falsifiziert oder modifiziert werden. Damit ist die lernprozessbegleitende Diagnostik die Tätigkeit, die den Förderprozess evaluiert. Der Förderprozess hat somit mindestens zwei Seiten: Es sind einmal die internen Prozesse der Auseinandersetzung des Subjekts mit einem Lerngegenstand, seine Lernhandlungen und deren Begründungen. Zum anderen sind es die externen Prozesse der versuchten Beeinflussung und Begleitung der Lernhandlungen durch die pädagogischen Akteure. Aus aktuellen psychologischen Theorien und der daraus abgeleiteten strukturorientierten Diagnostik (vgl. Kap. 9.2.3, Schuck in diesem Band) folgt zudem, dass es Ziel der lerngegenstandsbezogenen Förderung sein muss, innere Repräsentationen des Lerngegenstandes und damit subjektive Theorien über den Gegenstand sowie erweiternd über sich selbst zu verändern. Die Veränderung innerer Repräsentationen kann nur durch die Aktivitäten der Individuen selbst hervorgerufen werden. Entwicklungspsychologisch begründete didaktische Konzepte setzen dabei auf die aktivitätsanregenden Wirkungen gemäßigt neuartiger Anforderungen. Der individuelle Entwicklungsprozess zeigt sich in diesem Denken im Erreichen eines höheren Repräsentationsniveaus bei der nächsten Messung. Unter der Aktivitätsannahme (vgl. auch Kap. 9.1.2, Schuck in diesem Band) ist damit die Feststellung eines Aneignungsniveaus



Kapitel 13: Förderbedarf, Förderkonzept und Förderplan | 209

zugleich ein Blick auf den bisherigen Lernprozess, der sich dem Diagnostizierenden durch das Wissen über einen Lerngegenstand erschließt. Ziel der lernprozessbegleitenden Diagnostik ist es demnach, das jeweilige Aneignungsniveau und die Zone der nächsten Entwicklung zu bestimmen. Allerdings ist damit noch nicht geklärt, unter welchen spezifischen Lernarrangements die Zone der nächsten Entwicklung erreicht werden kann. Noch viel weniger kann die lernprozessbegleitende Diagnostik dazu dienen, Erklärungen zu liefern, warum trotz vielfältiger Unterstützungsmaßnahmen die Zone der nächsten Entwicklung nicht erreicht wurde. Hierzu bedarf es einer Analyse der von den Lernenden hergestellten und von ihnen bewerteten Zusammenhänge zwischen Handlungen und Operationen (vgl. Koch, Schwohl, Schuck & Kornmann, 2000, S. 248 ff.; Koch, Schuck & Schwohl, 2001, S. 9 ff.; vgl. Kap. 10, Schwohl in diesem Band). Im Rahmen der Förderplanung sind damit die Aufgaben einer lernprozessbegleitenden Diagnostik wie folgt definiert: Es gilt (1.) Begründungsmuster für Lernhandlungen bzw. für widerständiges Lernen gemeinsam mit dem Schüler zu reflektieren bzw. Hypothesen darüber zu erstellen. Es sind (2.) die externen Bedingungen zu beschreiben, die die individuellen Aktivitäten zur Veränderung innerer Repräsentationen in Gang brachten bzw. verhinderten. Das sind die materiellen und personalen Gegebenheiten des Lernumfeldes, insbesondere die Aktivitäten der Kooperationspartner zur Anregung und Begleitung der Lernhandlungen. Und schließlich ist (3.) der operative Aspekt zu erfassen, d. h. das zu unterschiedlichen Zeitpunkten erreichte gegenstandsspezifische Repräsentationsniveau der erreichten Fertigkeiten und Kompetenzen. In den gesetzlichen Grundlagen vieler Bundesländer (vgl. Pluhar, 2003, S. 76 ff.) wie in anderen konzeptionellen Entwürfen scheint es eine Übereinstimmung darin zu geben, dass dem wie auch immer festgestellten pädagogischen oder sonderpädagogischen Förderbedarf ein Förderplan zu folgen habe, der die Ausgangslage und die Ziele der Förderung sowie die darauf bezogenen pädagogischen Notwendigkeiten und Aktivitäten evaluierbar beschreibt. Im Kontext der Entwicklung diagnostischen Denkens sollte die dazu notwendige Diagnostik dem Modell Kaminskis (1970) folgend als ein aus einer diagnostischen und praktischen Phase bestehender einheitlicher Prozess der Hypothesenbildung und -prüfung konzipiert werden (vgl. Kap. 9.2.3, Schuck in diesem Band), mit dem es unter heutiger Diktion möglich sein sollte, „didaktische Maßnahmen auf ihre Zweckmäßigkeit und Wirksamkeit“ hin zu überprüfen (Schlee, 1985, S. 99; vgl. auch Eberwein & Knauer, 1998, S. 10; Kolt & Rother, 1984, S. 345). Gleiches wäre auch für den Komplex der „Förderplanung“ (KMK, 1994, S. 8; vgl. auch Mutzeck, 2000; Schuck, 2003a, b) in Anspruch zu nehmen. Dieser Prozess sollte zunächst in der eingangsdiagnostischen Phase zu einem Förderkonzept führen, welches sich in der praktischen Phase, d. h. in der Umsetzung des Förderkonzeptes, zu bewähren hätte (Kautter & Munz, 1974; Schuck, 2001a, b). Es ist dabei durchaus sinnvoll, das Förderkonzept vom Förderplan nach folgendem Kriterium zu unterscheiden: Das Förderkonzept dient der Bestimmung der systemunabhängigen und von der Machbarkeit her unabhängigen pädagogischen Notwendigkeiten. Der Förderplan hingegen bewegt sich auf dem Boden der Realität, benennt das Machbare und hält das im zeitlichen Verlauf Kontrollierbare fest. Das eigentliche Problem liegt hierbei wiederum in Auffassungen von Förderung, die bei der Entwicklung eines Förderkonzeptes und eines daraus abgeleiteten Förderplans zugrunde gelegt werden. Es sollte deutlich geworden sein, dass unter der Prämisse des subjektwis-

210

| Teil III:

Diagnostik

senschaftlichen Ansatzes die Entwicklung eines Förderkonzeptes nur in Kooperation mit dem ‚zu fördernden‘ Subjekt möglich ist. Förderpläne stehen in der Gefahr, in einen neuen „Lehrlernkurzschluss“ (Holzkamp, 1995; vgl. Kap. 10, Schwohl in diesem Band) zu führen, nämlich in die Überzeugung, dass das Subjekt schon die wünschenswerten und ihm aufgenötigten Entwicklungen vollziehen wird. Gemäß dieser Erwartung wird in Vorschlägen für Förderpläne empfohlen, Lernziele in grundlegenden Entwicklungsbereichen und schulischen Kompetenzbereichen mehr oder weniger gut operationalisiert festzuhalten. Diesen Operationalisierungen sollten nach den Empfehlungen zeitliche Perspektiven und Erwartungen sowie Angaben zu notwendigen pädagogischen Aktivitäten beigegeben werden. Es sollen schließlich Leistungsvereinbarungen zwischen Pädagoginnen und Pädagogen und Vereinbarungen zu Strategien der Evaluation getroffen werden. Das sind durchaus sinnvolle Elemente von Förderplänen, die jedoch neue Versuche der Verobjektivierung des Subjektes unter den lehrplanmäßigen Anforderungen des Schulsystems sein können, die mit allerlei Kontrollmöglichkeiten sowohl der Entwicklung der Schülerinnen und Schüler als auch der Aktivitäten der Pädagoginnen und Pädagogen versehen sind. Der Begriff der Förderung reduziert sich dabei schnell auf die technokratische und mutmaßliche Behebung festgestellter Passungsprobleme im Leistungs- und Verhaltensbereich ohne Einbezug des Subjektstandpunktes, womit sich letztlich der „Lehrlernkurzschluss“ reproduziert. Demnach kann die Förderplanung nur vom Subjektstandpunkt aus gelingen, indem die Frage bearbeitet wird, welche Handlungsmöglichkeiten vom Subjekt in seinen Handlungsbegründungen aufgegriffen wurden und welche anderen Handlungsmöglichkeiten bei alternativer Begründungslage vorhanden sein könnten und für Förderung nutzbar sind. Dabei kommen selbstverständlich die Weiterentwicklung und Kompensation von Operationen in den Blick. Nur: Eine Zusammenstellung von operativen Defiziten erklärt weder die Ursache für eine Lern- und Entwicklungsschwierigkeit noch die Zusammenhänge zwischen Operationen und Handlungen. Und: Die operative Ebene der Förderung erhält erst unter Berücksichtigung der Handlungszusammenhänge ihren Stellenwert. Ein tauglicher Förderplan kann sich dementsprechend nicht in Angaben darüber erschöpfen, mit welcher Technologie ein Individuum in einem festgelegten Zeitraum vom Kenntnis- und Fähigkeitsstand A zum Kenntnis- und Fähigkeitsstand B gebracht werden kann. Gegenstand des Förderkonzeptes, des Förderplans und der Förderung ist zuallererst das handelnde Subjekt und dabei die Schaffung von Möglichkeitsräumen, die für das Subjekt anregend genug sein können, neue und andere Handlungsbegründungen aufzugreifen (Koch, Schuck & Schwohl, 2001, S. 10) und sich mit der Weiterentwicklung der operativen Aspekte seiner Handlungsfähigkeit in neuer Weise zu beschäftigen sowie, gestützt durch adäquate Arrangements der Pädagoginnen und Pädagogen, das Lernen in der Zone der nächsten Entwicklung zu bewältigen. Die dazu notwendigen pädagogischen Aktivitäten, Kooperationsfelder und Diskurslandschaften im unmittelbaren schulischen und auch außerschulischen Umfeld sind dafür im Förderplan zu beschreiben und so weit zu operationalisieren, dass ihre Evaluation und gegebenenfalls Modifikation in Zukunft möglich ist. Erfolgskriterien eines in dieser Weise auf das „System“ bezogenen Förderkonzeptes und Förderplans zur Erhöhung der pädagogischen Professionalität und Qualität wären auf der Seite der Schülerinnen und Schüler veränderte Handlungsbegründungen und

Kapitel 13: Förderbedarf, Förderkonzept und Förderplan | 211



I:

Bestandsaufnahme als Entwicklung eines Förderkonzeptes (erste diagnostische Phase)

a. Aussagen (Hypothesen) zur gegenwärtigen Situation, zu den wirksamen Bedingungen und den verfügbaren Ressourcen – Das Problem, die Hintergründe. – Verfügbare individuelle und lebensweltliche Ressourcen. – Behindernde individuelle und lebensweltliche Bedingungen. b. Aussagen (Hypothesen) über die kurz-, mittel- und langfristig zu erreichenden und erreichbaren Ziele der Förderung - bezogen auf das Individuum und - bezogen auf die Lebenswelten. c. Das Förderkonzept: Aussagen (Hypothesen) über die allgemeinen und spezifischen pädagogischen Notwendigkeiten zur Eröffnung von Entwicklungsräumen - bezogen auf das Individuum und - bezogen auf die Lebenswelten.

II:

Der Förderplan

d. Die realisierbaren und vorgesehenen pädagogischen Maßnahmen zur Eröffnung von Entwicklungsräumen – bezogen auf das Individuum und – bezogen auf die schulischen und außerschulischen Lebenswelten. e. Entscheidungen über den institutionellen Ort der Förderung. f. Zeithorizonte für die Veränderung grundlegender Handlungen, Entwicklungsund Kompetenzbereiche. g. Vereinbarungen zwischen den am Prozess der Förderung Beteiligten über die zu erbringenden Unterstützungsleistungen. h. Vereinbarungen zu Strategien der Evaluation des Förderplans und solcher der Modifikation des Förderplans und des Förderkonzeptes. i. Definition der Erfolgskriterien der Förderung.

III: Lernprozessbegleitung und Evaluation (pädagogische und zweite diagnostische Phase) j. Umsetzung der Planungsvorgaben im pädagogischen Arrangement. k. Dokumentation der Veränderungen. l. Bewertung der Veränderungen - im Hinblick auf die definierten Erfolgskriterien und die gelungene/ misslungene Umsetzung des Förderplans, - bezogen auf notwendige Veränderungen des Förderplans und - bezogen auf notwendige Veränderungen des Förderkonzepts.

Abbildung 1: Diskursive Prozesse der Entwicklung, Umsetzung und Evaluation eines Förderkonzeptes

212

| Teil III:

Diagnostik

Handlungen, eine veränderte emotionale und soziale Situation der Schülerinnen und Schüler (vgl. Rauer & Schuck, 2003), veränderte subjektive Theorien über sich selbst und die maßgeblichen Lerngegenstände sowie selbstverständlich weiterentwickelte operative Kompetenzen. Auf der Seite der Pädagoginnen und Pädagogen sind es veränderte Formen der Betrachtung, Anregung und Begleitung individueller Lernhandlungen und Lernergebnisse und andere Formen der Kooperation zwischen den Lehrkräften sowie zwischen den Lehrkräften und den Schülerinnen und Schülern. Vor diesem Hintergrund lassen sich die Arbeitsschritte für die Entwicklung eines Förderkonzeptes und seiner evaluativen Begleitung wie folgt planen und durchführen (vgl. Abbildung 2). Die diesem Schema zugrunde liegenden Ideen sind so alt (vgl. z. B. Kautter & Munz, 1974) wie weitgehend ohne wirklichen Rückhalt in der aktuellen Praxis behindertenpädagogischer Begutachtung: I. Am Anfang steht eine Bestandsaufnahme. Sie dient der Vergewisserung über die gegenwärtige Situation, die wirksamen Bedingungen im Entwicklungsprozess sowie die verfügbaren individuellen und lebensweltlichen Ressourcen. Des Weiteren sind die allgemeinen und spezifischen, auf das Individuum und seine Lebenswelten bezogenen pädagogischen Notwendigkeiten zu konzipieren, und zwar unabhängig davon, ob sie unter dem möglichen Ressourceneinsatz auch realisierbar sind. Entwickelt wird ein Förderkonzept. II. Im Förderplan sind auf dem Hintergrund verfügbarer Ressourcen und Möglichkeiten die pädagogischen Maßnahmen zur Eröffnung von Entwicklungsräumen bezogen auf das Individuum sowie die schulischen und außerschulischen Lebenswelten festzuhalten. Im Förderplan sind Aussagen über den institutionellen Ort der Förderung und die Zeithorizonte erwarteter Veränderungen zu treffen. Zugleich enthält der Förderplan Vereinbarungen zwischen den am Prozess der Förderung Beteiligten über die zu erbringenden Unterstützungsleistungen. Darin eingeschlossen sollten auch Vereinbarungen mit den Eltern sein. Der Förderplan enthält schließlich Vereinbarungen über die Strategien der Evaluation des Förderplans und die Erfolgskriterien der Förderung. III. Der Bestandsaufnahme und der formellen Erstellung des Förderplans folgt die praktische Phase, das heißt die Umsetzung des Förderplans in konkreten Unterricht und konkrete Maßnahmen der unterrichtsintegrierten und unterrichtsbegleitenden Förderung. Gegebenenfalls sind die im Förderplan festgehaltenen Maßnahmen der außerschulischen Unterstützung (zum Beispiel des Familiensystems) umzusetzen. Die Umsetzung wird begleitet durch eine Dokumentation der Veränderung und ihrer Bewertung, bezogen auf die definierten Erfolgskriterien, die notwendigen Veränderungen des Förderplans und bezogen auf eine gegebenenfalls notwendige Veränderung des Förderkonzeptes. Es bleibt nach diesem Entwurf einer Strategie der Förderplanung und der Evaluation des Förderplans die Frage danach, welche Persönlichkeits- und Leistungsbereiche Gegenstand eines individuellen Förderplans sein sollten. Die Richtung ist gewiesen: Diagnostik in der ersten Phase ist ein hypothesenbildender und -prüfender, auf das Individuum und seine Lern- und Lebenswelten bezogener Prozess. Es verbietet sich die routinemäßige Verwendung eines Standardsatzes diagnostischer Materialien. Gefordert sind vielmehr

Kapitel 13: Förderbedarf, Förderkonzept und Förderplan | 213



auf die individuellen Problemlagen bezogene Fragen, denen nach ihrer Beantwortung durch geeignete diagnostische Mittel jeweils neue Fragen zu folgen haben, bis ein tragfähiges Hypothesengerüst zu den Aspekten a. bis c. der Abbildung 1 entstanden ist. Als tragfähig kann ein Hypothesengerüst bezeichnet werden, wenn es Eingang finden kann in die folgende pädagogische Phase und sich dort auch noch bewährt. Hilfreich kann es sein, unabdingbare diagnostische Mittel von wahlweise und je nach individueller Problemlage zu verwendenden diagnostischen Mitteln zu unterscheiden. Prinzipiell werden bei Kindern mit Lernproblemen die in der folgenden Abbildung 2 genannten diagnostischen Gegenstandsbereiche in den Blick kommen können. Dabei wird sich die Professionalität der

Das Individuum

Die Systeme / Lebenswelten

1. Fragen hinsichtlich des aktuellen Lern- und Leistungsstandes in einzelnen Schulfächern: Erreichtes Aneignungsniveau im Rechnen, Lesen und Schreiben, Beherrschung der deutschen Sprache bzw. der Muttersprache als Bedeutungsträger und zur Bedeutungsvermittlung.

6. Die Lernsituation in der Klasse: Dominierende Interaktionsformen zwischen den Schülern und zwischen Lehrern und Schülern, die psychosoziale Situation des Kindes in der Klasse, Unterrichtsklima, Erschwernisse durch die verwendeten Unterrichtsmaterialien, Erschwernisse durch die Sozialbeziehungen, Erschwernisse durch die Unterrichtsformen.

2. Formen der Beschäftigung/Auseinandersetzung mit einzelnen Lerngegenständen: Arbeitsverhalten, Arbeitsstrategien und Leistungsmotivation. 3. Individuelle Handlungsgrundlagen und lerngegenstandsspezifische Voraussetzungen: Sinnesphysiologie (Sehen und Hören), Motorik,Umweltkenntnisse und Umwelterfahrungen, allgemeines kognitives Leistungsniveau, sozialemotionale Voraussetzungen, Persönlichkeits- und Motivationsstruktur.

7. Die schulische Gesamtsituation: Einzugsgebiet, Strukturen und Orientierungen des Lehrerkollegiums, das Schulklima. 8. Außerschulische Entwicklungsund Lernbedingungen: Psychosoziale Situation der Familie, Normen und Werte in der Familie, Erziehungsstrategien und -verhalten der Eltern, Anregungsbedingungen der familiären und außerfamiliären Umwelt, Kontakte innerhalb und außerhalb der Familie.

4. Prämissen und Begründungen von Handlungen 5. Emotionale und soziale Schulerfahrungen Selbstkonzept, soziale Integration, Sozialklima, Lernfreude, Anstrengungsbereitschaft, Schuleinstellung, Gefühl des Angenommenseins.

Abbildung 2: Mögliche Themen bei der Entwicklung eines Förderkonzeptes und bei der Begleitung einer Förderung

214

| Teil III:

Diagnostik

Diagnostikerinnen und Diagnostiker darin zeigen, ob sie das zur Lösung des individuellen Problems notwendige diagnostische und in der Folge pädagogische Methodenrepertoire zur Verfügung haben und verwenden können. Letzten Endes kehren unter dem Etikett der Förderplanung alle Facetten und Probleme in die Diskussion zurück, die schon die Auseinandersetzungen um die Förderdiagnostik geprägt haben.

Literatur Arnold, K.-H. & Kretschmann, R. (2002). Förderdiagnostik, Förderplan und Förderkontrakt: Von der Eingangsdiagnose zu Förderungs- und Fortschreibungsdiagnosen. Zeitschrift für Heilpädagogik, 53 (7), 266-271. Beck, I. (1996). Behinderung – spezielle Erziehungsbedürfnisse – sonderpädagogischer Förderbedarf: Theoretische Begründungs- und Vermittlungsprobleme einer „lebensweltlich“ und final orientierten Bestimmung des individuellen Bedarfs an Hilfen. Die neue Sonderschule, 41 (6), 443-456. Eberwein, H. & Knauer, S. (1998). Einführung und Problemstellung. In H. Eberwein & S. Knauer (Hrsg.), Handbuch Lernprozesse verstehen. Wege einer neuen (sonder-)pädagogischen Diagnostik (S. 7-14). Weinheim: Beltz. Holzkamp, K. (1995). Lernen. Subjektwissenschaftliche Grundlegung (Studienausgabe). Frankfurt am Main: Campus. Kaminski, G. (1970). Verhaltenstheorie und Verhaltensmodifikation. Entwurf einer integrativen Theorie psychologischer Praxis am Individuum. Stuttgart: Klett. Kautter, H. & Munz, W. (1974). Verfahren der Aufnahme und Überweisung in die Sonderschule. In Deutscher Bildungsrat (Hrsg.), Sonderpädagogik 3 (Gutachten und Studien der Bildungskommission, Bd. 34, S. 235-385). Stuttgart: Klett. Koch, K., Schuck, K. D. & Schwohl, J. (2001). Diagnose und Förderung im subjektwissenschaftlichen Paradigma – Ein anderes Verständnis von Lern- und Entwicklungsproblemen. In Verband Deutscher Sonderschulen, Fachverband für Behindertenpädagogik (Hrsg.), Entwicklung fördern – Impulse für Didaktik und Therapie (Sonderpädagogischer Kongress 2001, Bd. II, S. 6-11). Würzburg: Selbstverlag. Koch, K., Schwohl, J., Schuck, K. D. & Kornmann, R. (2000). Redefinitionsversuche der Begriffe „Diagnostik“ und „Förderung“ angesichts des subjektwissenschaftlichen Paradigmas. In E. H. Funke & Th. Rihm (Hrsg.), Subjektsein in der Schule? Eine pädagogische Auseinandersetzung mit dem Lernbegriff Klaus Holzkamps (S. 239-254). Bad Heilbrunn: Klinkhardt. Kolt, C. & Rother, H.-J. (1984). Förderdiagnostik in der Sackgasse. Behindertenpädagogik, 23 (4), 343-349. Mutzeck, W. (Hrsg.). (2000). Förderplanung. Grundlagen – Methoden – Alternativen. Weinheim: Deutscher Studien Verlag. Pluhar, C. (2003). Sonderpädagogischer Förderbedarf aus der Sicht eines Mitglieds der KMK-Arbeitsgruppe. In G. Ricken, A. Fritz & C. Hofmann (Hrsg.), Diagnose: Sonderpädagogischer Förderbedarf (S. 67-82). Lengerich: Papst. Rauer, W. & Schuck, K. D. (2003). FEESS 3-4. Fragebogen zur Erfassung emotionaler und sozialer Schulerfahrungen von Grundschulkindern dritter und vierter Klassen. Manual. Göttingen: Beltz Test GmbH. Schlee, J. (1985). Förderdiagnostik – eine bessere Konzeption? In R. S. Jäger, R. Horn & K. Ingenkamp (Hrsg.), Test und Trends 4. Jahrbuch der Pädagogischen Diagnostik (S. 82-108). Weinheim: Beltz.



Kapitel 13: Förderbedarf, Förderkonzept und Förderplan | 215

Schuck, K. D. (2001a). Fördern, Förderung, Förderbedarf. In G. Antor & U. Bleidick (Hrsg.), Handlexikon der Behindertenpädagogik. Schlüsselbegriffe aus Theorie und Praxis (S. 63-67). Stuttgart: Kohlhammer. Schuck, K. D. (2001b). Psychodiagnostik und Begutachtung. In G. Antor & U. Bleidick (Hrsg.), Handlexikon der Behindertenpädagogik: Schlüsselbegriffe aus Theorie und Praxis (S. 260-264). Stuttgart: Kohlhammer. Schuck, K. D. (2003a). Lernprozessdiagnostik und individuelle Förderplanung. Sonderpädagogische Förderung in NRW, 41 (3), 19-34. Schuck, K. D. (2003b). Sonderpädagogischer Förderbedarf oder: Stellen wir die richtigen Fragen im Prozess von Diagnose und Förderung. In G. Ricken, A. Fritz & C. Hofmann (Hrsg.), Diagnose: Sonderpädagogischer Förderbedarf (S. 54-67). Lengerich: Papst. Sekretariat der Ständigen Konferenz der Kultusminister der Länder in der Bundesrepublik Deutschland (1994). Empfehlungen zur sonderpädagogischen Förderung in den Schulen der Bundesrepublik Deutschland. Beschluß der Kultusministerkonferenz vom 06.05.1994. o. O.: Selbstverlag. Sekretariat der Ständigen Konferenz der Kultusminister der Länder in der Bundesrepublik Deutschland (1999). Empfehlungen zum Förderschwerpunkt Lernen. Beschluss der Kultusministerkonferenz vom 01.10.1999. o. O.: Selbstverlag. Warnock, H. M. (1978). Special Education Needs. Report of the Commitee of Enquiry into the Education of Handicapped Children and Young People. London: Her Majesty’s Stationary Office.

Teil IV

Prävention

Einführung Prävention habe Vorrang vor Intervention! Diese Forderung ist bei besonderem pädagogischem Förderbedarf im Bereich des Lernens oft zu hören, denn sie ist intuitiv ansprechend: Warum soll man warten, bis sich bei einem Kind Lernstörungen manifestieren? Ist es nicht besser, man versucht durch frühzeitiges und vorsorgendes Eingreifen zu verhindern, dass sich überhaupt Störungen entwickeln? Gerhard Klein zeigt in seinem einleitenden Kapitel zur Frühförderung in früher Kindheit und Vorschulalter, dass frühe Förderung nicht nur die Kinder und Eltern entlasten, sondern auch helfen kann, konsekutive Störungen zu verhindern, da die ersten Lebensjahre maßgebend für das lebenslange Lernen sind. Frühförderung, argumentiert Klein, setzt zum einen Früherkennung voraus, denn eine generelle Prävention ist weniger effizient als eine spezifische Prävention, bei der förderliche Maßnahmen konzentriert und speziell für bedürftige Kinder angeboten werden. Hier zeigen sich Desiderata, denn viele Kinder mit Lernstörungen und Lernschwierigkeiten werden zu spät, nämlich erst bei der Einschulungsuntersuchung identifiziert. Frühförderung, zeigt Klein, setzt zum anderen voraus, dass man über bewährte Methoden der gezielten Förderung verfügt sowie über eine entsprechende institutionelle Infrastruktur zur praktischen Umsetzung dieser Methoden. Der Autor zeichnet die Entwicklung hin zu zunehmend integrierten, kooperativ arbeitenden und vernetzten Frühberatungsstellen auf, die sich am Lebenskontext der Kinder mit psychosozialen Entwicklungsrisiken orientieren, erörtert Möglichkeiten der Förderung in Kinderkrippen, Kindergärten und Eltern-Kind-Programmen und stellt spezielle umschriebene Programme zur systematischen Elementarerziehung und Schulvorbereitung vor, die er in einen ganzheitlichen Kontext stellt, der die Eigenaktivität des Kindes in den Mittelpunkt rückt. Rudolf Kretschmann stellt Möglichkeiten vor, die schulischen Lern- und Lebensbedingungen so zu gestalten, dass möglichst alle Lernenden bestmögliche Entwicklungsbedingungen vorfinden. Ausgehend von systemischen und entwicklungsökologischen Überlegungen präsentiert er Beispiele für effektive pädagogische Angebote im Elementarbereich, zeigt Möglichkeiten zur Erleichterung von Übergängen zwischen Bildungseinrichtungen auf und erörtert Möglichkeiten der Prävention auf Unterrichtsebene. Als besondere Angebote für Kinder mit hohem Risiko für Schulversagen stellt er die Vor- und Nachteile von Schulkindergärten, jahrgangsübergreifenden Schulklassen, integrativen Regelklassen, Ganztagsschulen und Familien ergänzenden Diensten vor.

14 Frühe Kindheit und Vorschulalter Gerhard Klein

14.1 Das System Frühförderung Frühförderung als sonderpädagogische Maßnahme für Kinder mit Behinderungen hat sich in Deutschland in den vergangenen 35 Jahren entwickelt. Die Praxis der Frühförderung in der Bundesrepublik wird bestimmt durch ein Netz von Frühförderstellen, das in den einzelnen Bundesländern von sehr unterschiedlicher Dichte ist, und durch die Mitarbeit sehr unterschiedlicher Fachkräfte. Neben den Ärzten sind es Physiotherapeuten, Ergotherapeuten, Logopäden, Diplompädagogen, Sonderpädagogen, Sozialpädagogen und Psychologen, die im Feld der Frühförderung kooperieren. Da in der Frühförderung mehrheitlich Frauen arbeiten, wird im folgenden Text nur die weibliche Form gewählt. Es waren hauptsächlich zwei Gründe, die es in den 70er Jahren des vergangenen Jahrhunderts als notwendig und sinnvoll erscheinen ließen, spezielle Förderangebote in den frühen Lebensjahren für behinderte Kinder zu schaffen. Zum einen waren viele Eltern nicht nur tief getroffen von der Tatsache, dass ihr Kind behindert ist, sondern auch verunsichert und oft hilflos im Umgang mit dem Kind. Diese Eltern suchten fachlichen Rat und Hilfe und verbanden damit die Hoffnung, etwas für eine positive Entwicklung ihres Kindes tun zu können. Den zweiten Grund lieferten die damals aktuellen Erkenntnisse entwicklungspsychologischer Forschung, wonach die ersten Lebensjahre maßgebend für die weitere Entwicklung eines Kindes sind. Vor allem für Kinder mit Sinnesschädigungen wurde erkannt, wie durch frühzeitige Hilfen noch vorhandene Restfähigkeiten des Sehens und Hörens erhalten und entwickelt werden können. Mit den Gutachten des Deutschen Bildungsrates zur Früherkennung und Frühförderung (Klein, 1973; Speck, 1973) und den Empfehlungen der Bildungskommission „Zur pädagogischen Förderung behinderter und von Behinderung bedrohter Kinder und Jugendlicher“ (Deutscher Bildungsrat, 1973) erfuhr die Frühförderung in der Bundesrepublik einen wesentlichen Impuls zu einem flächendeckenden Auf- und Ausbau. Frühförderung erfahren Kinder im Alter von 0–6 Jahren. Mit der Frühförderung ist die Beratung der Eltern verbunden. Voraussetzung für die Gewährung und Finanzierung von Frühförderung ist jedoch, dass bei dem Kinde, das gefördert werden soll, eine Behinderung oder eine drohende Behinderung festgestellt wurde. Frühfördermaßnahmen umfassen eine breite Palette von Hilfeangeboten: Beratung der Eltern, medizinische und psychologische Diagnose, Krankengymnastik, Ergotherapie, Sprachtherapie, Spielförderung, pädagogische Förderung. Der zeitliche Umfang der Fördermaßnahmen beträgt etwa eine Stunde pro Woche. In der Praxis haben sich zwei Organisationsformen herausgebildet, nämlich die ambulante Frühförderung in den Beratungsstellen oder therapeutischen Praxen, in welche die Kinder zur Behandlung gebracht werden, und die mobile Frühförderung oder Hausfrüherziehung, bei der die Förderung der Kinder in ihren Familien erfolgt. Die Rahmenbedingungen und Organisationsformen der Frühförderung sind bis heute von einer behinderungsspezifischen Ausrichtung geprägt, wie sie in den Anfangsjah-

Kapitel 14: Frühe Kindheit und Vorschulalter | 221



ren der Frühförderung gefordert und praktiziert wurde (vgl. Deutscher Bildungsrat, 1973). Demnach wird Frühförderung zuerst und hauptsächlich als spezielle Hilfe für Kinder mit spezifischen Behinderungen wie z. B. Sehschädigung, spastische Lähmung, Down-Syndrom usw. verstanden. Bei diesem Verständnis von Frühförderung wird davon ausgegangen, dass die reguläre Pflege und Erziehung eines Kindes von den Eltern wahrgenommen wird, wie es das Grundgesetz vorsieht: „Pflege und Erziehung der Kinder sind das natürliche Recht der Eltern und die zuvörderst ihnen obliegende Pflicht“ (Grundgesetz, Art. 6, Abs. 2). Aufgabe der Frühförderung dagegen ist es, die Eltern in der erschwerten Pflege und Erziehung eines behinderten Kindes zu unterstützen und durch spezielle Fördermaßnahmen die Entwicklung der Fähigkeiten des Kindes trotz seiner Behinderung zu ermöglichen. Für Kinder, die im Schulalter als lernbehindert gelten und dem Bildungsgang unserer Schulen nicht zu folgen vermögen, erweist sich dieses Verständnis von Frühförderung in mehrfacher Hinsicht als problematisch.

14.2 Probleme der Früherkennung Für Kinder mit dem Förderschwerpunkt Lernen beginnt die spezielle Problematik der Frühförderung mit der Früherkennung, die ja Voraussetzung für jede Frühförderung ist. Bei einem Säugling oder Kleinkind unter drei Jahren erkennen zu wollen, ob er oder es im Schulalter als lernbehindert erscheinen wird, wäre vermessen. Entwicklungsverzögerungen als Anzeichen einer drohenden Behinderung lassen sich erst dann bei einem Kind erkennen, wenn in seiner Entwicklung die entsprechenden Funktionen (Sprache, kognitive Leistungen, Wahrnehmung usw.) ausgebildet werden und entsprechende Fähigkeiten zu erwarten sind. Die Mehrzahl der Kinder, die nur durch Entwicklungsverzögerungen auffallen, werden daher erst ab drei, vier und oft erst mit fünf oder sechs Jahren als förderungsbedürftig erkannt. Meist fällt die verzögerte Sprachentwicklung zuerst Tabelle 1: Lebensalter der Kinder bei ihrer Erstvorstellung in einer Frühfördereinrichtung – Angaben in Prozent (Trost, 1992, S. 51) Lebensalter

Total

G

K

H

B

S

BF

Fr.Tr.

0–1 Jahre

6,2

18,9

8,5

8,3

38,4

0,1

0

22,2

1–2 Jahre

9,8

19,4

15,4

31,4

26,9

0,3

0

14,7

2–3 Jahre

8,9

21,7

20,2

20,0

9,3

2,1

0,8

17,1

3–4 Jahre

14,9

18,0

14,1

16,7

11,3

13,5

15,9

15,7

4–5 Jahre

41,4

13,1

16,1

13,0

8,3

42,6

36,1

17,0

mehr als 5 J.

30,7

9,0

25,7

10,5

5,8

41,5

47,3

13,4

(G = Beratungsstellen f. geistig Behinderte; K = Beratungsstellen f. Körperbehinderte; H = Beratungsstellen f. Gehörlose/ Schwerhörige; B = Beratungsstellen f. Blinde/Sehbehinderte; S = Beratungsstellen f. Sprachbehinderte; BF = Beratungsstellen f. besonders Förderungsbedürftige; Fr.Tr. = Beratungsstellen f. in freier Trägerschaft)

| Teil IV:

Prävention

160

141

140

Anzahl der Kinder

222

112

120 100

79

80

67

60 40 20

12

25

27

1–2 Jahre

2–3 Jahre

0 0–1 Jahr

3–4 Jahre

4–5 Jahre

5–6 Jahre

>6 Jahre

Abbildung 1: Altersgruppe der Frühförderkinder in Brandenburg (Überregionaler Arbeitskreis der Frühförder- und Beratungsstellen 1995; Sohns, 2000, S. 273)

auf, was dazu führt, dass diese Kinder in der Frühförderung zunächst und hauptsächlich Sprachförderung erfahren. Oft werden lernbehinderte Kinder erst der Frühförderung zugeführt, wenn sie bei der Einschulung wegen fehlender Schulreife auffallen. Diese Feststellung wird durch die Ergebnisse einiger empirischer Untersuchungen belegt. In der Bestandsaufnahme zur Frühförderung in Baden-Württemberg von Trost (1992) etwa zeigte sich, dass gerade „besonders förderungsbedürftige“ (später lernbehinderte) Kinder erst spät durch die Frühfördermaßnahmen erreicht werden. 47,3 % der „besonders Förderungsbedürftigen“ (BF) sind bei ihrer Erstvorstellung fünf Jahre und älter. In den ersten drei Lebensjahren wird nicht einmal 1 % dieser Kinder erreicht. Auch eine Untersuchung aus Brandenburg (Sohns, 2000, S. 273) belegt, dass für die Mehrzahl der Kinder Frühförderung erst nach dem dritten Lebensjahr beginnt. In dieser Untersuchung ist zwar die Gruppe der Lernbehinderten nicht gesondert ausgewiesen, doch zeigen andere Untersuchungen, dass sinnesgeschädigte, körper- und geistigbehinderte Kinder schon in den ersten Lebensjahren durch Frühförderung erreicht werden. Von allen Kindern, die eine Förderschule für Lernbehinderte besuchen, erfahren nur sehr wenige überhaupt Frühförderung. 1989 waren es 15,9 % (Klein, 1990) und 1997 lag der Anteil der deutschen Kinder, die Frühförderung erfahren haben, bei 13,1 %, während von den ausländischen Kindern nur 8,8 % durch die Frühförderung erreicht wurden (Klein, 2001). Wie groß die Zahl der förderungsbedürftigen Kinder ist, die durch das gegenwärtige System der Frühförderung nicht erreicht werden, wird deutlich, wenn man bedenkt, dass etwa 60 % aller Sonderschüler die Förderschule/Schule für Lernbehinderte besuchen und von diesen kaum ein Viertel Frühförderung erfahren hat. Zusammenfassend bleibt festzustellen: Kinder, die im Schulalter als lernbehindert erscheinen, werden durch das gegenwärtige System der Frühförderung in Deutschland kaum erreicht, und wenn sie erreicht werden, dann erst sehr spät. Von Frühförderung bei diesen Kindern zu sprechen, ist nicht berechtigt, allenfalls von einer verspäteten Frühförderung. Die Erfolge sind daher auch gering. Es scheint so, als liege die ver-



Kapitel 14: Frühe Kindheit und Vorschulalter | 223

spätete Frühförderung von entwicklungsverzögerten Kindern in der Natur der Sache, da ja Entwicklungsverzögerungen erst erkannt werden können, wenn die psychischen Funktionen sich entwickelt haben sollten. Diese Überlegung ist nur z. T. richtig, denn Früherkennung darf sich nicht allein auf die Möglichkeit beschränken, eine eingetretene Entwicklungsverzögerung am Kind selbst zu erkennen. Aufgabe der Früherkennung ist es auch, nach den Ursachen von Entwicklungsverzögerungen zu fragen, diese zu beheben und so Frühförderung als eine präventive Maßnahme zu ermöglichen.

14.3 Ursachen von Lernbehinderungen Die Mehrzahl der lernbehinderten Kinder kommt aus ungünstigen und z. T. deprivierenden Lebens- und Erziehungsbedingungen (Begemann, 1970; Klein, 1973, 1985, 2001, 2002). Psychosoziale Risiken beeinträchtigen die Entwicklung dieser Kinder schon während der Schwangerschaft und bei der Geburt, vor allem aber im Säuglings- und Kleinkindalter. Der Anteil lernbehinderter Kinder, die aus günstigen familiären Bedingungen kommen, liegt zwischen 15 und 30 %. Bei diesen Kindern sind die Ursachen ihrer Entwicklungsverzögerung meist organischer Natur. Die „Rahmenkonzeption zur Früherkennung und Frühförderung behinderter und von Behinderung bedrohter Kinder in Baden-Württemberg“ führt im Einzelnen folgende psychosozialen Risikofaktoren auf: – deprivierende Lebensbedingungen (unzureichende Befriedigung der Grundbedürfnisse nach Nahrung, Bewegung, emotionaler Sicherheit und kommunikativer Anregung) – psychische Störungen der Eltern oder eines Elternteils, – Alkoholismus/Drogenhabhängigkeit der Eltern, – Häufung ökonomischer Probleme (beengte Wohnung, Verschuldung, Sozialhilfe), – Überlastung bzw. Überforderung der Mutter, – eingeengte Handlungs- und Erfahrungsmöglichkeiten (Sozialministerium BadenWürttemberg, 1998, S. 9). Die Grundbedürfnisse eines Säuglings und Kleinkindes sind kulturübergreifend, sogenannte Universalia, die in allen Kulturen gelten und von deren Befriedigung die gedeihliche Entwicklung eines Kindes abhängt (Leyendecker, 1997). Zu diesen Universalia zählt, dass das neugeborene Lebewesen Mensch in seiner Hilflosigkeit und Weltoffenheit der Pflege, der verlässlichen Sicherheit und emotionalen Annahme sowie der Ansprache durch eine menschliche Stimme bedarf, um die Potenziale seiner Fähigkeiten und Fertigkeiten ausbilden zu können. Das Fehlen solcher Grundvoraussetzungen einer guten Entwicklung des Säuglings und Kleinkindes hat gravierendere und dauerhaftere Schädigungen in den Gehirnstrukturen zur Folge als schichtspezifischer Sprachgebrauch oder autoritärer Erziehungsstil. Die Ergebnisse der Deprivationsforschung belegen dies sehr eindrücklich. Eine naturwissenschaftliche Erklärung liefern die Erkenntnisse der Gehirnforschung. Die Ausbildung der Gehirnstrukturen in den ersten Lebensjahren hat sich in hohem Maße als umweltabhängig erwiesen (Dichgans, 1994; Spitzer, 2002; Vester, 1978). Zwar gilt generell, dass Lernbehinderungen multifaktoriell bedingt sind, doch in den meisten Fällen sind sie die Folge einer in früher Kindheit beginnenden Kumulation

224

| Teil IV:

100

Prävention

% psychisch auffällig

80 61,6

60

40

20

12,2

14,0

0

1

29,8

31,0

2

3

35,7

36,8

4

5

40,0

0 6

>=7

Anzahl von Risikofaktoren

Abbildung 2: Kumulativer Effekt psychosozialer Risikofaktoren (Laucht et al., 1999, S. 101)

von beeinträchtigenden Faktoren für die kindliche Entwicklung (Kanter, 1974). Belegt wird diese These durch eine Reihe von Längsschnittstudien über Risikokinder. So zeigte sich in der Kauai-Studie (Werner, 1999; Werner & Smith, 1989), dass zwei Drittel der Kinder, die im Alter von zwei Jahren schon vier oder mehr Risikofaktoren ausgesetzt waren, in der Folge auch schwere Lern- und Verhaltensprobleme in der Schulzeit entwickelten (Werner, 1999, S. 26). Die Mannheimer Längsschnittstudie (Laucht, Esser & Schmidt, 1999, S. 7) zeigte ebenfalls, dass mit der Risikokumulation die Wahrscheinlichkeit einer Entwicklungsbeeinträchtigung wächst. Folgende Abbildung zeigt, wie die Rate psychisch auffälliger Kinder bei 8-Jährigen mit der Anzahl frühkindlicher psychosozialer Risiken kontinuierlich zunimmt. Als prognostisch bedeutsamste Faktoren familiärer Belastung ergaben sich bei der Mannheimer Längsschnittstudie unerwünschte Schwangerschaft, Delinquenz des Vaters, Herkunft der Eltern aus zerrütteten Familien und niedriges Bildungsniveau der Eltern. Zu ähnlichen Ergebnissen kamen auch die Rostocker und die Regensburger/Bielefelder Längsschnittstudien (Meyer-Probst & Reis, 1999; Zimmermann, Suess, Scheurer-Englisch & Grossmann, 1999). In der Züricher Längsschnittstudie kommt Largo (1995, S. 17) zu dem Ergebnis, dass der sozioökonomische Status die intellektuelle Entwicklung weit mehr bestimme als sämtliche erfassbaren pränatalen und perinatalen Risikofaktoren.

14.4 Umgestaltung der Früherkennung und Frühförderung Aus diesen Erkenntnissen ergeben sich Konsequenzen für die Früherkennung und Frühförderung lernbehinderter Kinder. Das bestehende System der Frühförderung



Kapitel 14: Frühe Kindheit und Vorschulalter | 225

kann zwar angemessene Hilfe bieten, sofern es sich um Kinder mit ausschließlich organisch bedingten Entwicklungsbeeinträchtigungen handelt. Für die Mehrzahl der Kinder, die heute eine Förderschule/Schule für Lernbehinderte besuchen, sind jedoch die bestehenden Möglichkeiten zur Früherkennung und Frühförderung völlig unbefriedigend. Denn ehe es zum Erstkontakt mit einer Frühberatungsstelle kommt, muss das Kind zuvor einer Person aus seiner Umgebung aufgefallen sein und die Erziehungsberechtigten müssen bereit sein, das Kind in einer Beratungsstelle oder bei einem Arzt vorzustellen. Beide Punkte bilden für die Früherkennung bei Kindern aus sozial randständigem Milieu oft unterschätzte oder übersehene Barrieren. Zwar bieten die Vorsorgeuntersuchungen U1-U9 durch den Kinderarzt eine Chance zur Früherkennung, aber eben nur, wenn diese Vorsorgeuntersuchungen wahrgenommen werden. Mütter aus sozial randständigem Milieu bringen ihre Kinder, je älter diese werden, immer seltener zu Vorsorgeuntersuchungen. Nach einer Untersuchung von Koch (1999, S. 57 ff.) hat dies in der DDR besser funktioniert. Doch selbst wenn diese Vorsorgeuntersuchungen wahrgenommen werden, bleibt das Verfahren für Kinder mit psychosozialen Risiken unbefriedigend, denn die Untersuchungen sind in erster Linie darauf ausgerichtet, Entwicklungsverzögerungen oder Entwicklungsauffälligkeiten am Kind festzustellen und nicht psychosoziale Risikofaktoren in seiner Umwelt zu erfassen, deren Auswirkungen zu Entwicklungsverzögerungen führen. Erst wenn die festgestellten Entwicklungsstörungen als Anzeichen einer drohenden Behinderung eingeschätzt werden, kann ein Kind Frühförderung erfahren. Sollen für Kinder mit psychosozialen Risiken rechtzeitig Maßnahmen zur Frühförderung eingeleitet werden, dann müssen diese Risiken in der Umwelt des Kindes erkannt werden, ehe sich ihre Auswirkungen als Entwicklungsverzögerungen am Kind manifestieren. Die üblichen Verfahren zur Früherkennung (Entwicklungstabellen, Screenings) sind dafür ungeeignet, da es dabei in erster Linie um den Entwicklungsstand des Kindes geht und Fragen nach der Lebenswelt und den Erziehungsbedingungen kaum vorkommen. Die Checkliste der Vorsorgeuntersuchungen U3-U8 weist nur zwei Fragen in dieser Richtung auf. Unter den von Thurmair und Naggl (2002, S. 63-69) aufgeführten 17 Screening-Verfahren, die als Hilfsmittel für eine fachspezifische Diagnostik dienen, erscheint bei den Inhaltsbereichen nur einmal die Frage nach familiärer und psychosozialer Belastung in dem Beobachtungsbogen zur Erfassung von Entwicklungsrückständen und Verhaltensauffälligkeiten bei Kindergartenkindern (BEK) von Mayr (1998). Zu ähnlichen Ergebnissen kommt eine Untersuchung von Meisels und Wasik (1990) in den USA. Zusammenfassend stellen die Autoren fest: 1. Die Messwerte bei der Geburt eines Kindes haben einen äußerst geringen Vorhersagewert für die spätere Intelligenz- und Sprachentwicklung. 2. Die standardisierten Messinstrumente für die kindliche Entwicklung sind während des ersten Lebensjahres von begrenztem Wert. 3. Aus der Mutter-Kind-Interaktion und den Umweltfaktoren lassen sich Langzeitentwicklungen gut vorhersagen. 4. Familienökologische Variablen (Stress, soziale Unterstützung oder mütterliche Erziehung) sagen spätere intellektuelle Fähigkeiten besser vorher als irgendwelche Testergebnisse aus dem ersten Lebensjahr und ungefähr gleich gut wie Testergebnisse im zweiten Lebensjahr.

226

| Teil IV:

Prävention

Meisels und Wasik (1990) schlagen daher für die Früherkennung einen am Lebenskontext orientierten Ansatz vor (contextual approach). Solche am Lebenskontext orientierten Verfahren zur Früherkennung gibt es noch nicht, obwohl die Schaffung von entsprechenden Instrumentarien zur Früherkennung schon in den Empfehlungen der Bildungskommission des Deutschen Bildungsrates (1973, S. 47) gefordert wurde. Als Orientierungshilfe für solche Verfahren zur Diagnose des Lebenskontextes könnte z. B. die Auflistung psychosozialer Risiken aus der Mannheimer Längsschnittstudie (Laucht et al., 1999, S. 77) dienen, die folgende Punkte aufführt: 1 Niedriges Bildungsniveau der Eltern 2 Beengte Wohnverhältnisse 3 Psychische Störung eines Elternteils 4 Anamnestische Belastung der Eltern 5 Disharmonische Partnerschaft 6 Frühe Elternschaft 7 Ein-Eltern-Familie 8 Unerwünschte Schwangerschaft 9 Mangelnde soziale Integration und Unterstützung 10 Ausgeprägte chronische Schwierigkeiten 11 Mangelnde Bewältigungsfähigkeit der Eltern Vor einer unreflektierten Anwendung dieser Punkte als Checkliste zur Früherkennung muss allerdings gewarnt werden. Einmal gilt es zu beachten, dass die Autoren nur bei einer Kumulation von drei und mehr Punkten von einer Gefährdung durch psychosoziale Risiken sprechen. Zum andern muss nicht in jedem Fall eine Häufung der aufgeführten Faktoren zu Entwicklungsverzögerungen führen; viel wichtiger ist die tatsächliche Interaktion mit dem Kind, dessen Pflege und Erziehung. Vom Deutschen Kinderschutzbund und dem Institut für soziale Arbeit e.V. in Münster wird die Problematik der Entwicklungsgefährdung durch psychosoziale Risiken unter dem Begriff der Vernachlässigung behandelt. Eine Broschüre zum Thema „Kindesvernachlässigung“ (Deutscher Kinderschutzbund, 2000) versucht, praktische Hilfestellung zur Erkennung von Situationen zu geben, in denen die kindliche Entwicklung gefährdet ist. Mit folgender Auflistung werden die Risiken umrissen und zugleich deutlich gemacht, dass ihre Kumulation die Wahrscheinlichkeit der Vernachlässigung steigert: „Je geringer die finanziellen und materiellen Ressourcen ... [und] je schwieriger das soziale Umfeld ... [und] je desorganisierter die Familiensituation ... [und] je belasteter und defizitärer die persönliche Situation der erziehenden Eltern ... [und] je herausfordernder die Situation und das Verhalten des Kindes ... um so höher ist das Risiko, dass sich eine Vernachlässigungssituation für das Kind entwickelt“ (Deutscher Kinderschutzbund, 2000, S. 27; Hervorhebungen ausgelassen). Einschränkend weisen die Verfasser jedoch darauf hin, dass der Umkehrschluss nicht erlaubt sei, wonach bei einer Häufung der Faktoren immer auch Vernachlässigung vorliegen müsse. „Dies würde gerade jenen Eltern und Familien nicht gerecht, die trotz immenser Belastungen eine unter diesen Umständen hervorragende Betreuung und Erziehung ihrer Kinder gewährleisten“ (Deutscher Kinderschutzbund, 2000, S. 27). Ergänzend zur dieser Auflistung relativ allgemein gehaltener Risikofaktoren bietet die Broschüre sehr konkrete, operationalisierte Fragen zu den alltäglichen Lebensbedin-



Kapitel 14: Frühe Kindheit und Vorschulalter | 227

gungen von Säuglingen und Kleinkindern. Zwei Beispiele daraus sollen hier wiedergegeben werden: Geeigneter Wach- und Schlafplatz – Liegt das Kind tagsüber stundenlang in einem angedunkelten oder künstlich beleuchteten Raum und bekommt kaum Tageslicht? – Sind Matratzen und Kissen ständig nass und muffig? – Liegt das Kind immer in der Wippe, der Tragetasche oder im Bett? Zärtlichkeit, Anerkennung und Bestätigung – Wird das Kind beim Füttern in den Arm genommen oder bekommt es lediglich eine Flasche, die es allein austrinken muss? – Erfolgt das Wickeln grob und ohne Ansprache? – Wird dem Kind bei Krankheit oder Verletzung Trost verweigert? – Wird der Säugling bei unerwünschtem Verhalten (z. B. Strampeln beim Wickeln) gezüchtigt, geschlagen, gekniffen, geschüttelt usw.? (Deutscher Kinderschutzbund, 2000, S. 41 f.) Solche Fragen können allerdings nur von Personen beantwortet werden, die in unmittelbarem Kontakt mit den Familien und vor allem den Müttern stehen, wie z. B. Hebammen und Kinderschwestern der Entbindungsstationen, Mitarbeiterinnen des Allgemeinen Sozialen Dienstes, des Kinderschutzbundes oder Erzieherinnen in Kindertagesstätten. Zur Erfassung der pädagogischen Qualität in unterschiedlichen Betreuungssettings können auch die Skalen von Tietze, Schuster, Grenner und Roßbach (2001) verwendet werden. Das Fehlen von Frühfördermaßnahmen für lernbehinderte Kinder wurde bisher häufig mit dem Einwand begründet, man könne diese Kinder ja so früh nicht erkennen und darum auch keine Frühförderung für sie bieten. Dieser Einwand ist nicht länger haltbar. Allerdings muss darauf hingewiesen werden, dass alle Bemühungen um Früherkennung nur sinnvoll sind, wenn es auch entsprechende Hilfeangebote für die Mütter, die Familien und die Kinder gibt. Um solche Hilfeangebote zu schaffen, muss unter Umständen der Bedarf nachgewiesen werden. In solchen Fällen kann es auch sinnvoll sein, die Früherkennung schon durchzuführen, wenn noch keine entsprechenden Hilfeangebote bestehen. Neben diesen gezielten Bemühungen um Früherkennung vernachlässigter Kinder sind auch andere Strategien denkbar, wenn man punktuelle Lösungen akzeptiert und nicht auf flächendeckenden Lösungen beharrt. So können z. B. in sozialen Brennpunkten oder in sanierungsbedürftigen Altstadtvierteln Hilfeangebote für Mütter und Kleinkinder installiert werden. In der Zusammenarbeit mit Entbindungskliniken können sich Hinweise auf psychosoziale Risiken der dort entbundenen Kinder ergeben. In der Längsschnittuntersuchung von Becker (1991, S. 48), die noch zu DDR-Zeiten durchgeführt wurde, zeigte sich, dass Kinder, die im vierten bis fünften Lebensjahr als entwicklungsauffällig eingestuft wurden, schon in den ersten Lebenstagen als „sozial betreuungsbedürftig“ erschienen. Eine enge Zusammenarbeit zwischen Einrichtungen der Frühförderung und den Jugendämtern kann ebenfalls die Früherkennung vernachlässigter Kinder ermöglichen.

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| Teil IV:

Prävention

14.5 Maßnahmen zur Frühförderung 14.5.1 Orientierungspunkte und Rahmenbedingungen Maßnahmen zur Frühförderung müssen sich an den besonderen Bedürfnissen der Kinder, die gefördert werden sollen, orientieren und nicht an deren Entwicklungsdefiziten. Damit dies gelingt, müssen alle Bemühungen um Förderung dieser Kinder deren gesamte Lebenslage mit in Betracht ziehen. Die positiven Wirkungen früher Hilfen für Kinder mit psychosozialen Risiken wurden in den USA durch eine Reihe von Untersuchungen gut belegt (vgl. Dunst, Snyder & Mankinen, 1989; Farran, 1990; Haskins, 1989; Mayr, 2000; White, 1985/86). Als entscheidende Merkmale erfolgreicher Frühförderung ergaben sich dabei folgende Punkte, die als Orientierungshilfe für eine den Bedürfnissen der Kinder angemessene Gestaltung der Frühförderung dienen können: – Der frühe Beginn, möglichst schon während der Schwangerschaft oder bei der Geburt. – Die Befriedigung der alltäglichen Grundbedürfnisse des Kindes und die Stabilisierung der Lebenslage der Eltern. – Der Aufbau einer guten emotionalen Beziehung und Bindung sowie eine sensible Interaktion mit einer verlässlichen Bezugsperson. – Die Ermöglichung spontaner Eigenaktivität des Kindes in selbstgestalteten Lernprozessen. Für die Gruppe der Kinder mit Entwicklungsverzögerungen, die aus günstigem familiärem Umfeld kommen, bieten die gegenwärtigen Einrichtungen zur Frühförderung geeignete Hilfen und Fördermaßnahmen. Die rechtlichen Grundlagen dazu finden sich – trotz der gegenwärtigen Unsicherheiten – im neunten Band des Sozialgesetzbuches (Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen) in den §§ 11 „Heilpädagogische Maßnahmen“ und 56 „Heilpädagogische Leistungen“. Allerdings besteht bei diesen Kindern manchmal die Tendenz, ihnen zuviel an Fördermaßnahmen zuzumuten, wollen doch die Eltern nichts unversucht lassen, um ihrem Kind zu einer regelgerechten Entwicklung zu verhelfen. So kann es geschehen, dass ein Kind an mehreren Tagen in der Woche zu wechselnden Therapien gebracht wird und den Eltern auch noch nahe gelegt wird, zu Hause weiterzuüben. Bei einem solchen Übermaß an Übungs- und Trainingssequenzen kommt die Eigenaktivität eines Kindes oft zu kurz. Das Bemühen der Erwachsenen nach dem Motto „Viel hilft viel“ übersieht, dass kindliche Entwicklung von der Eigenaktivität der Kinder getragen werden muss. Allzu forciertes Drängen und Trainieren führt schnell zu Verweigerung und Desinteresse. In diesem Sinne fasst Wilken ihre langjährigen Erfahrungen zusammen: Wir können somit für das Kind zwar günstige Bedingungen für seine Entwicklung gestalten, aber wir müssen bedenken, dass Lernen ein aktiver Prozess ist, den das Kind selbst leisten muss. Eine überzogene Aktivität der Bezugsperson kann deshalb dazu führen, dass die kindliche Eigenaktivität eingeschränkt bzw. gestört wird. (1999, S. 111)



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Für die große Zahl der Kinder, die in sozial randständigen, durch Armut geprägten Familien aufwachsen, bietet das bestehende System der Frühförderung kaum zureichende Fördermöglichkeiten. Ähnlich wie bei der Früherkennung ist eine enge Zusammenarbeit mit der Kinder- und Jugendhilfe notwendig. Da die Maßnahmen zur Frühförderung zeitlich meist auf eine oder zwei Stunden pro Woche begrenzt sind, müssen sie durch Maßnahmen der Kinder- und Jugendhilfe ergänzt werden. Dazu ist der Aufbau von multiprofessionellen Netzwerken erforderlich, wie ihn Schone (2000, S. 85) vorschlägt. Die allgemeinen und speziellen Dienste der Jugendhilfe, des Gesundheitswesens, Familien- und Vormundschaftsgerichte sowie die psychologisch-pädagogischen und therapeutischen Dienste müssen zu diesem Zweck eng kooperieren. Folgende Beispiele sollen Möglichkeiten der Kooperation und Vernetzung deutlich machen. 14.5.2 Beispiele der Kooperation und Vernetzung Familienhebammen, wie es sie in Bremen und in Hannover gibt, arbeiten vor allem in Familien aus sozialen Brennpunkten. Sie kümmern sich neben ihrer Hebammentätigkeit im engeren Sinn auch um die ganze Familie, die psychosozialen Rahmenbedingungen bei Schwangerschaft und Geburt (Schone, 2000). Stadtteilorientiertes Bindungsförderungsprojekt: In dem Kölner Projekt „Frühe Kindheit“ wird gezeigt, wie Kinderschutz und Jugendhilfe zur Unterstützung einer guten Eltern-Kind-Beziehung zusammenarbeiten (Blum-Maurice & Bächer, 2003). Interdisziplinäre Frühberatungsstellen z. B. in sozialen Brennpunkten in Bremen (Beyersmann, 2000), München (Pommer-Irmisch, 2000) oder Hamburg (Barth, 2000) arbeiten zusammen mit Kinderärzten, Säuglingsschwestern, dem Allgemeinen Sozialen Dienst und der Sozialpädagogischen Familienhilfe. Wie ein solches Netzwerk, das Frühförderung und lebensweltorientierte Sozialarbeit verbindet, auf überregionaler Ebene konzipiert und umgesetzt werden kann, zeigt die britische Regierung mit ihrem Programm „Sure Start“, das sie 1999 begonnen und mit einem Finanzvolumen von 1.690.000 e bis zum Jahr 2004 ausgestattet hat. Lokale Initiativen in Quartieren mit vielen armen Familien werden durch dieses Programm unterstützt. Diese Initiativen arbeiten mit Eltern und werdenden Eltern zusammen. Kernangebote der lokal unterschiedlichen Programme sind: aufsuchende Arbeit und Hausbesuche, Unterstützung der Familien und Eltern, Unterstützung bei qualifiziertem Spiel, beim Lernen und beim Gewinnen guter Erfahrungen in der täglichen Fürsorge für die Kinder, grundlegende und gemeindebezogene Gesundheitsdienste, Unterstützung von Kindern und Eltern mit besonderen Bedürfnissen einschließlich der Kontaktvermittlung zu speziellen Diensten (vgl. hierzu die Rubrik Stichwort in der Zeitschrift Frühförderung interdisziplinär, 2003, S. 38). 14.5.3 Möglichkeiten zur Frühförderung nach dem Kinder- und Jugendhilfegesetz (SGB VIII) Das Kinder- und Jugendhilfegesetz (SGB VIII) enthält eine Reihe von Maßnahmen, die als Frühfördermaßnahmen für Kinder mit psychosozialen Risiken geeignet sind.

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Prävention

1. Eingliederungshilfe für seelisch behinderte Kinder und Jugendliche (§ 35a)

Unter seelischen Behinderungen ... können ... alle psychischen Störungen im Kindesund Jugendalter zusammengefasst werden, die sich – einerseits als Entwicklungsstörungen gegenüber der geistigen Behinderung abgrenzen lassen und – als chronische Störungen trotz einer laufenden begleitenden ärztlichen Behandlung oder auch unabhängig von einer solchen die psychosoziale Entwicklung und Integration des Kindes und Jugendlichen nachdrücklich beeinträchtigen. (Lempp, 1999, S. 25 f.)

2. Gemeinsame Wohnformen für Mütter/Väter und Kinder (§ 19)



Mütter oder Väter, die allein für ein Kind unter sechs Jahren zu sorgen haben, sollen gemeinsam mit dem Kind in einer geeigneten Wohnform betreut werden, wenn und solange sie aufgrund ihrer Persönlichkeitsentwicklung dieser Form der Unterstützung bei der Pflege und Erziehung des Kindes bedürfen. (Kinder- und Jugendhilfegesetz, § 19, Abs. 1) Diese gemeinsamen Wohnformen sind für sehr junge, alleinerziehende Mütter oder Väter gedacht.

3. Tagespflege – Tagesmütter (§ 23) 4. Sozialpädagogische Familienhilfe (§ 31)

Sozialpädagogische Familienhilfe muss dann gewährt werden, „...wenn eine dem Wohl des Kindes oder des Jugendlichen entsprechende Erziehung nicht gewährleistet ist und die Hilfe für seine Entwicklung geeignet und notwendig ist“ (§ 27, Abs. 1). Adressaten der sozialpädagogischen Familienhilfe sind Familien mit Schwierigkeiten in mehreren Lebensbereichen: geringes Einkommen, beengte Wohnung, Arbeitslosigkeit, niedriges Bildungsniveau, Krankheit und geringe soziale Partizipation.

5. Vollzeitpflege (§ 33)

Neben der regulären Vollzeitpflege sieht das Gesetz im Satz 2 des § 33 ausdrücklich vor, dass für besonders entwicklungsbeeinträchtigte Kinder geeignete Formen der Familienpflege zu schaffen und auszubauen sind. Allerdings hinkt auch in diesem Punkt die Realität den gesetzlichen Verpflichtungen noch nach.

Die hier in sehr verkürzter Form wiedergegebenen Möglichkeiten der Kinder- und Jugendhilfe werden für die Frühförderung von Kindern mit psychosozialen Risiken noch viel zu wenig in Anspruch genommen. Die Kooperation zwischen Frühförderstellen und Jugendämtern muss darum intensiviert werden. Mit den bisher dargestellten Maßnahmen zur Frühförderung wurden Organisationsformen und Rahmenbedingungen beschrieben, die allerdings noch durch die konkrete pädagogische Arbeit ausgefüllt werden müssen. Qualität und Effizienz dieser Maßnahmen hängen somit in hohem Maße von den Kompetenzen und der Persönlichkeit der beteiligten Personen ab.



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14.5.4 Kinderkrippen Eine pädagogisch konzipierte und gestaltete Einrichtung zur ganztägigen Erziehung von Kleinkindern ist die Kinderkrippe oder Kindertagestätte. In ihrer heutigen Form hat sie nur noch wenig mit den Kinderkrippen gemeinsam, die über hundert Jahre der Beaufsichtigung und Pflege von Säuglingen und Kleinkindern dienten. Die negativen Vorurteile über Krippen stammen aus jener Zeit und wurden noch verstärkt durch das Klischee von DDR-Krippen als Anstalten zur Indoktrination. Heute sind die meisten Kindertagestätten so geführt, dass sich Kinder dort wohl fühlen, Menschen finden, die sie annehmen, sich um ihre großen und kleinen Bedürfnisse kümmern und ihnen eine sichere Basis bieten, von der aus sie eine gut vorbereitete Umgebung erkunden können. Emmi Pikler, die ungarische Kinderärztin, fasst ihr Konzept zur Gestaltung von Tageseinrichtungen für Säuglinge und Kleinkinder in fünf Grundannahmen zusammen: 1. Jedes Kind ist Subjekt seiner Entwicklung und hat seinen eigenen Entwicklungsrhythmus. 2. Ein „normales“ Kind weiß am besten selbst, was seine Aufmerksamkeit erregt; es muß nicht beschäftigt werden, braucht keine Stimulanz, sondern beschäftigt sich selbst, wenn es Ruhe, Raum und Material dazu hat. 3. Erwachsene sollen dem Kind keine Fähigkeiten beibringen, sondern das Kind den jeweils nächsten Entwicklungsschritt finden lassen. 4. Entscheidend ist nicht, wann ein Kind etwas „schon“ macht, sondern wie es das macht. 5. Beziehungen zwischen Erwachsenem und dem Kind entstehen vor allem während der gemeinsamen Tätigkeiten des täglichen Lebens, also vor allem in den Pflege- und Füttersituationen. (Pikler, 1979, zitiert nach Kokigei & Prott, 1985, S. 16; Hervorhebungen ausgelassen) Für weitere spezielle Fragen zur Krippenerziehung sei auf ausführlichere Darstellungen verwiesen (Erath, 1992; Klein, 2002; Petersen, 1991; Reyer & Kleine, 1997). 14.5.5 Das Prager-Eltern-Kind-Programm (PEKiP) Das Prager-Eltern-Kind-Programm wurde in den fünfziger Jahren des letzten Jahrhunderts von dem Psychologen Jaroslaw Koch in Prag entwickelt. Es ist ein Angebot für Mütter und Väter mit Säuglingen im Alter von fünf Wochen bis zum Ende des ersten Lebensjahres. Die Eltern werden dabei angeleitet, in entspannter Atmosphäre mit ihren Kindern zu spielen. Dies geschieht in Gruppen von acht bis zehn Erwachsenen samt Säuglingen. Das Programm war zuerst für Krippen- und Heimkinder gedacht, wurde aber dann erweitert für Kinder und Mütter, die aus sozialen Gründen im „Heim für Mutter und Kind“ lebten. Koch hatte erkannt, wie schwer sich die sehr jungen Mütter in ungesicherter Lebenslage tun, mit ihren Säuglingen anregend zu spielen. Offenbar ist es Koch gelungen, das intuitive Verhalten der Mütter im Umgang mit ihren Säuglingen zu aktivieren. Solche PEKiPGruppen werden inzwischen durch ausgebildete Gruppenleiterinnen an vielen Orten in Deutschland angeboten. Eine ausführliche Darstellung der Anregungen und Spiele des

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Prävention

Programms gibt Polinski (1993). Wahrgenommen werden diese PEKiP-Gruppen jedoch vorwiegend von interessierten und informierten Müttern und weniger von den Müttern, für die das Programm ursprünglich von Koch entwickelt wurde. Es wäre wünschenswert, dass das PEKiP-Programm zum festen Bestandteil der Frühfördermaßnahmen für Säuglinge und deren Mütter gemacht wird. Gerade im ersten Lebensjahr ist es wichtig, dass Mütter und Väter in die pädagogische Frühförderung aktiv mit einbezogen werden. 14.5.6 Kindergarten Auch der Kindergarten ist eine wichtige Einrichtung für die Frühförderung. Da jedes Kind ab dem vollendeten dritten Lebensjahr das Recht auf einen Kindergartenplatz hat, ist der Kindergarten die erste familienergänzende Erziehungseinrichtung, in der alle Kinder eines Jahrgangs erreicht werden können. Für Kinder aus sozial randständigen Familien ist es allerdings nicht selbstverständlich, dass sie einen Kindergarten besuchen. Nicht der zu bezahlende Kindergartenbeitrag ist das Problem, sondern die Entfernung von der Wohnung. Soll ein Kind einen Kindergarten besuchen, der etwa einen Kilometer von der Wohnung entfernt ist, so heißt das für die Mutter, sie ist jeden Tag etwa zwei Stunden zu Fuß unterwegs, um das Kind am Vormittag hinzubringen, es am Mittag abzuholen, und am Nachmittag noch einmal dieselbe Wegstrecke. Sind noch weitere Kinder in der Familie, so bedeutet das eine solche Überforderung für die Mutter, dass sie das Kind nur sporadisch oder gar nicht in den Kindergarten bringen wird. Eine Aufgabe der Frühförderstellen wäre es, diesen Kindern einen regelmäßigen Besuch eines Kindergartens zu ermöglichen, was am besten durch einen Fahrdienst geschehen könnte. Viele Kinder mit Entwicklungsverzögerungen werden erst im Kindergarten auffällig, da die Erzieherinnen die Kinder objektiver als die Eltern und im Vergleich mit anderen Kindern desselben Alters sehen. Jeder Kindergarten muss daher mit den örtlichen Frühförderstellen zusammenarbeiten. Der Besuch eines Kindergartens ist in mehrfacher Hinsicht ein Beitrag zur Frühförderung. Die Bedeutung des Kindergartens für die Sozialerziehung ist bekannt. Für Kinder aus beengtem und anregungsarmem Umfeld bietet ein Kindergarten viele Anregungen und Lerngelegenheiten. Als ein Ort zur Früherkennung haben Kindergärten eine wichtige Funktion, obwohl man bei Dreijährigen und Älteren kaum mehr von Früherkennung reden kann. Spezielle zusätzliche Fördermaßnahmen können entwicklungsbeeinträchtigte Kinder im Kindergarten oft leichter erfahren als in den Familien. Für behinderte Kinder gibt es zwar nach wie vor Sonderkindergärten mit speziellen Einrichtungen, einem reduzierten Gruppenschlüssel und einem eigenen Fahrdienst. Über die Gewährung von Eingliederungshilfe nach § 40 des Bundessozialhilfegesetzes wurden jedoch die Möglichkeiten zur Integration behinderter Kinder in allgemeine Kindergärten erweitert. Die Regelungen in den einzelnen Bundesländern sind unterschiedlich.

14.6 Frühförderung als Spielförderung Wer in der Frühförderung arbeitet, muss sich oft der kritischen Rückfrage der Eltern stellen, warum mit ihrem Kind so viel gespielt werde. Darin zeigt sich die weit verbrei-



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tete Vorstellung, bei Frühförderung gehe es um ein spezielles Training, durch das unterentwickelte Funktionen geübt und Entwicklungsrückstände aufgeholt werden. Gestalt gewonnen hat diese Vorstellung in Trainingsprogrammen, bei denen es vor allem auf die Frühförderinnen ankommt, die durch geschickte Motivation die Kinder dazu bringen, die Übungen des Programms auszuführen. Frühförderinnen oder Therapeuten werden so für die erreichten oder ausbleibenden Entwicklungsfortschritte verantwortlich gemacht. Unausgesprochen steckt darin die Vorstellung, dass nichtbehinderte Kinder sich wie von selbst entwickeln, während behinderte oder entwicklungsverzögerte Kinder angeregt und vor allem trainiert werden müssen, damit ihre Entwicklung sich vollzieht. Diese Vorstellungen werden von einem technologischen Denken bestimmt, demzufolge alles machbar ist. Dabei wird übersehen, dass das Menschenkind keine zu formende Materie ist, die es nach den Regeln der Kunst zu bearbeiten gilt. Jedes Kind wirkt von Geburt an aktiv an seiner Entwicklung mit. Darum ist menschliche Entwicklung nicht machbar und lässt sich nicht durch steuernde Eingriffe beschleunigen. Anthropologie, Entwicklungspsychologie und Gehirnforschung haben uns gezeigt, dass es die Eigenaktivität, die selbsttätige Auseinandersetzung eines Kindes mit seiner Umgebung ist, durch die ein Kind seine Fähigkeiten entwickelt und seine Fertigkeiten ausbildet (Leont’ev, 1977; Montessori, 1972; Piaget, 1969; Winnicott, 1997). Diese aktive Auseinandersetzung mit seiner Welt geschieht beim Kleinkind im Spiel. Im Spiel bildet es seine neuen Fähigkeiten aus, entwickelt sich und macht durch das Spielen Entwicklungsfortschritte. Die tiefe Verwurzelung des Spiels in der kindlichen Entwicklung, sein spontanes Auftreten und seine Universalität über alle Kulturen hinweg sprechen dafür, daß Spiel nicht nur als austauschbares Hilfsmittel für Entwicklung angesehen werden kann, sondern eine basale Funktion haben muß. (Oerter, 1996, S. 267) Wenn die frühkindliche Entwicklung sich vor allem dadurch vollzieht, dass ein Kind spielt, und wenn wir zugleich beobachten, dass behinderte oder entwicklungsverzögerte Kinder wenig spielen, dann müssen wir nach den Ursachen mangelnder Spielfähigkeit fragen. Sehr oft fehlt es an der Befriedigung der Grundbedürfnisse eines Kindes, wenn es nicht oder nur sehr oberflächlich spielt. Nur ein Kind, das sich wohl und geborgen fühlt, spielt. Während einer Krankheit spielt ein Kind weniger als in gesunden Tagen oder gar nicht mehr. Ist ein Kind müde, traurig oder fühlt es sich allein gelassen, wirkt sich sein Befinden auf sein Spiel aus. Das physische und psychische Wohlbefinden ist eine notwendige Voraussetzung, damit ein Kind spielen kann. (Largo, 1993, S. 226; Hervorhebungen ausgelassen) Auf die Bedeutung einer sicheren emotionalen Bindung eines Kindes an eine Bezugsperson als Voraussetzung für intensives Spielen weisen die Untersuchungen von Main (1977) hin. Fehlende Anregungen zum Spiel und fehlende Spieldinge können, wenn auch seltener, die Ursache für mangelndes Spielen eines Kindes sein. Organische Schädigungen können das kindliche Spielen beeinträchtigen. Durch restriktives Erzieherverhalten kann das Spielen vor allem bei lebhaften Kindern unterdrückt werden. Diesen Ursachen fehlender oder verminderter Spielfähigkeit bei Kleinkindern können wir Hinweise für die Gestaltung von Frühförderung als Spielförderung entnehmen.

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Prävention

Spielen zu trainieren oder üben zu wollen, wäre ein Widerspruch in sich. Spielförderung wird sich also darauf beschränken müssen, die Voraussetzungen zu schaffen, die Kinder brauchen, damit sie mit Lust und Interesse spielen können. Die Voraussetzungen, die kindliches Spielen ermöglichen und fördern können, sollen darum im Einzelnen aufgeführt werden: – Die Befriedigung der Bedürfnisse nach Nahrung, Schlaf, Pflege und Bewegung. – Eine sichere Bindung des Kindes an eine erwachsene Bezugsperson. Das Kind braucht eine „sichere Basis“, von der aus es die Welt erkundet und die es ihm erlaubt, sich intensiv in ein Spiel zu versenken. – Lenkende oder korrigierende Eingriffe durch Erwachsene in das kindliche Spiel stören dieses und verunsichern das Kind. Es muss in seinem Spiel selbstbestimmend sein (Largo, 1993, S. 228). – Thema und Inhalt der Spielhandlungen soll das Kind frei wählen können. Nur so kann das Spiel dem aktuellen Entwicklungsbedürfnis eines Kindes entsprechen und von Interesse getragen sein. – Das Kind sollte in seiner Umgebung Dinge vorfinden, die es zum Spielen anregen. – Vor allem für Kinder im Säuglings- und Kleinkindalter sind Erwachsene als einfühlsame Spielpartner unerlässlich. Aber auch ältere Kinder sind glücklich, wenn Erwachsene mit innerer Beteiligung mit ihnen spielen.

14.7 Spezielle Programme und Methoden der Frühförderung In den 70er und 80er Jahren des letzten Jahrhunderts wurde eine Reihe von Programmen und Methoden zur Frühförderung entwickelt. Solche Frühförderprogramme können eine Hilfe sein für Frühförderinnen, die in ihrem Berufsfeld noch wenig Erfahrung haben, die bei einem Kind unsicher sind, wie sie vorgehen sollen, oder auch wenn sie durch die Eltern unter Handlungsdruck geraten (vgl. Thurmair & Naggl, 2002, S. 167). Auf die Problematik eines unkritischen Gebrauchs solcher Förderprogramme wurde mehrfach hingewiesen (Klein, 1996, 2002). Im Rahmen dieses Beitrags können die verschiedenen Methoden und Programme nur kurz erwähnt werden, ohne sie im Einzelnen kritisch zu würdigen. Eine sehr hilfreiche und knappe Übersicht über mehrere Frühförderprogramme geben Thurmair und Naggl in ihrem Buch „Praxis der Frühförderung“ (2002, S. 167 ff.). Sensorische Integrationstherapie nach Jean Ayres (1984) betont die Bedeutung der körperlichen Bewegung für die Entwicklung des Kleinkindes und für dessen Lernfähigkeit. Im Zentrum dieser Therapie steht die Bedeutung vestibulärer, propriozeptiver und taktiler Informationen für die Verbindung und Zusammenführung der Wahrnehmungen. Während vestibuläre Informationen Gleichgewicht und Raumlage und propriozeptive Informationen die Selbstwahrnehmung der Muskelspannung betreffen, hängen taktile Informationen mit Tasterfahrungen zusammen. In der therapeutischen Praxis (bei Ergotherapeuten) spielen Geräte wie Schaukeln, Rollbretter, Hängematten u. ä. eine Rolle. Durch sie sollen vor allem vestibuläre, kinästhetische und taktile Erfahrungen vermittelt werden. Die Einführung in die Methode der Sensorischen Integration geschieht in sehr praktisch ausgerichteten Fortbildungskursen (vgl. Ayres, 1984; Doering & Doering, 1990; Kesper, 2002).



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Psychomotorische Förderkonzepte sehen in der Bewegung ein tragendes Element der gesamten Entwicklung eines Kindes. Durch eine Vielfalt von Bewegungsspielen sowie durch Geräte und Materialien, die zur Bewegung anregen, wie Rollbretter, Trampolin, Sprossenwand, Seile, Rutschen, Wasser, Sand u. a. soll die Freude an Bewegungen geweckt und die Lust am selbständigen Beherrschen des Körpers erfahren werden (vgl. einführend Eggert, 1994 und in diesem Band; Esser, 2000; Kiphard, 1998; Hölter in diesem Band). Förderung der visuellen Wahrnehmung: Das von Marianne Frostig entwickelte und praktizierte Programm zur Wahrnehmungsförderung hat seinen Niederschlag in Arbeitsbögen gefunden, auf denen die Übungsaufgaben dargestellt sind. Es sind Aufgaben zum Nachfahren, Nachzeichnen, Ausmalen, Auffinden und Wiedererkennen. Die Lebendigkeit, mit der Marianne Frostig die Kinder zum Mitmachen anregen konnte, ist in den gedruckten Blättern nicht mehr zu erkennen und muss von den Erwachsenen, die damit arbeiten, eingebracht werden. Das in den Blättern vorgesehene Training der Wahrnehmung wird ergänzt durch sensomotorische, sprachliche und kognitive Übungen. Dem Frostig-Programm liegt die Annahme zu Grunde, dass die visuelle Wahrnehmung für eine ungestörte kindliche Entwicklung unverzichtbar ist. In Wahrnehmungsstörungen werden oft die Ursachen für Lernstörungen und für Probleme beim Schriftspracherwerb gesehen (siehe auch Fischer, 1998; Lockowandt, 1994; Reinartz & Reinartz, 1977 oder Greisbach in diesem Band). Frühförderung konkret wurde als spezielles Frühförderprogramm für behinderte Kinder von Straßmeier erstellt und ist 2002 in 5. Auflage erschienen. Die Aufgaben sind auf die Entwicklungsbereiche Selbstversorgung, Sozialentwicklung, Feinmotorik, Grobmotorik, Sprache, Denken und Wahrnehmung abgestimmt und den verschiedenen Altersstufen entsprechend gestaltet. Weitere Methoden und Förderprogramme, die vor allem der Sprache gelten, die aber immer auch Wahrnehmungsübungen mit einschließen, seien nur kurz genannt: Affolter (2001), Anderlik (1999), Britton (1999), Küspert und Schneider (1999) sowie von v. Oy und Sagi (1979).

14.8 Förderung bei Störungen des Spracherwerbs Da die sprachliche Entwicklung am besten auch den allgemeinen psychologischen Entwicklungsstand eines Kindes anzeigt und zuverlässig spätere Entwicklungs- und Lernmöglichkeiten vorhersagen lässt, kann die frühest mögliche Diagnose von Verzögerungen beim Spracherwerb ein Weg sein, sich anbahnende Entwicklungsverzögerungen schon früh zu erkennen (Grimm & Doil, 2000, S. 7 f.). Wurde die Entstehung der meisten Sprachstörungen bisher erst nach dem 4. Lebensjahr angesetzt (Grohnfeldt, 1993, S. 180), so lassen die Erkenntnisse der Spracherwerbsforschung heute sehr viel früher Verzögerungen im Spracherwerb erkennen. Die Elternfragebögen für die Früherkennung von Risikokindern (ELFRA) (Grimm & Doil, 2000) können schon bei den Vorsorgeuntersuchungen U6 (1.–12. Lebensmonat) und U7 (21.–24. Lebensmonat) eingesetzt werden. Einige Hinweise zum Problem Sprachförderung seien darum noch angefügt.

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Ältere Sprachförderprogramme waren auf Wortschatzerweiterung, Sprechfehlerkorrektur und Satzbauübungen ausgerichtet und nach dem Grundmuster konzipiert, dass geübt werden muss, was in den Bereichen Sprechfähigkeit und Sprachverständnis noch nicht altersgemäß entwickelt ist. Der Schwerpunkt dieser Art von Sprachförderung bestand darin, die Kluft zwischen Störung und Norm zu überwinden (Zollinger, 1999, S. 126). Neuere Ansätze (Dannenbauer, 1994; Grimm, 1999; Zollinger, 1999) sehen in einer „entwicklungsproximalen Intervention“ den besseren Weg. Dass heißt die Fördermaßnahmen orientieren sich an der normalen Sprachentwicklung und den dort beobachteten Spracherwerbsprozessen und versuchen die Förderangebote so zu gestalten, dass ein Kind dem Weg des normalen Spracherwerbsprozesses folgen kann. Die Spracherwerbsforschung hat vor allem auf die Vorausläuferfähigkeiten aufmerksam gemacht (Grimm, 1999). Solche Vorausläuferfähigkeiten werden in den ersten Lebensjahren entwickelt, z. B. Aufmerksamkeit auf Gesicht und Stimme der Mutter, Imitation, Gesten, Nutzung prosodischer Merkmale, Präferenz für mütterliche Stimme. Eine der wichtigsten Wurzeln des Spracherwerbs sieht Largo (1993, S. 309) im Beziehungsverhalten zwischen Säugling und Mutter oder einer anderen Bezugsperson. Die für die Sprachentwicklung grundlegende Bedeutung der „Ammensprache“ oder des „Baby-Talks“ haben die Untersuchungen des Ehepaars Papoušek (1994) gezeigt. Dem erwähnten Elternfragebogen ELFRA (Grimm & Doil, 2000) sind kurzgefasste Elternratgeber beigefügt, die diesen Erkenntnissen Rechnung tragen. Als Lehrstrategie, die die Mütter im 2. Lebensjahr eines Kindes anwenden, wurde die „stützende Sprache“ (scaffolding, engl. scaffold = Gerüst) und für den Beginn des 3. Lebensjahres (24.–27. Monat) die „modellierende Sprachstrategie“ beschrieben (Bruner, 1987; Grimm, 1999). Auf die Bedeutung der Eigenaktivität des Kindes beim Spracherwerb hat vor allem Zollinger (1999, S. 99) hingewiesen. Auf Grund langjähriger praktischer Erfahrungen konnte sie zeigen, wie der gestörte Spracherwerbsprozess dann wieder in Gang kommt, wenn es gelingt, die spontanen Tätigkeiten eines Kindes zur Orientierung in der Sprachförderung zu machen und das Interesse für das Sprachverständnis zu wecken. Für die Sprachförderung ist es nach Zollinger darum wichtig, bedeutungsvolle Situationen zu schaffen (Zollinger, 1999, S. 116). „Das Ziel der Therapie ist dann erreicht,“ schreibt Zollinger (1999, S. 99), „wenn das Kind seine Lust wieder entdeckt hat, d. h. wenn es den Anderen nonverbal oder verbal Fragen stellt und sich im Spiel mit den Gegenständen auseinandersetzt.“ In unserem Zusammenhang sind diese Erkenntnisse der Spracherwerbsforschung insofern von Interesse, als sie deutlich machen, 1. dass Sprachförderung nicht erst dann einsetzen darf, wenn eine Sprachentwicklungsverzögerung festgestellt wurde, sondern schon im ersten Lebensjahr, wenn die Vorausläuferfähigkeiten entwickelt werden. 2. dass sich Sprachförderung in den späteren Lebensjahren an den mütterlichen Lehrstrategien orientieren sollte (vgl. Grimm & Doil, 2000). 3. dass es nicht um die Korrektur einer Störung geht, sondern um die Wiedergewinnung des ursprünglichen Zugangs zu Sprache und ihrer bedeutungserschließenden Funk­ tion. Damit wird auch deutlich, dass Sprachförderprogramme, deren Zielsetzungen vom Sprach­ entwicklungsstand des Schulanfängers bestimmt werden, voraussetzen, dass die frühen



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Formen des Spracherwerbs stattgefunden haben und es nun darum geht, das sprachliche Angebot in kompensatorischer Absicht zu bereichern. Diese Voraussetzungen sind bei vielen Kindern nicht gegeben, was die Wirksamkeit solcher Sprachförderprogramme im Vorschulalter einschränkt.

14.9 Elementarerziehung und Schulvorbereitung 14.9.1 Problemanalyse Wie wir gesehen haben, werden entwicklungsverzögerte Kinder mit psychosozialen Risiken durch das System der Frühförderung in Deutschland, wenn überhaupt, dann sehr spät erreicht (Klein, 2002). Das heißt, dass Frühförderung für lernbehinderte Kinder für einen kleinen Teil erst im Kindergarten beginnt, für viele erst kurz vor der Einschulung oder nach der Zurückstellung vom Schulbesuch. In Grundschulförderklassen oder Diagnose- und Förderklassen soll nachgeholt werden, was in den vorausgehenden sechs Jahren versäumt wurde. So ärgerlich oder bedauerlich diese Tatsache ist, so werden Frühförderinnen, Erzieherinnen, Lehrerinnen und Lehrer weiterhin mit der Aufgabe konfrontiert sein, entwicklungsverzögerte Kinder im Alter von 5-7 Jahren so fördern zu sollen, dass sie beim Schuleintritt in ihren Fähigkeiten, Fertigkeiten und Verhaltensweisen den Erwartungen der Grundschule entsprechen. Das Maß dieser Erwartungen ist in Schulreifetests operationalisiert. Gemessen werden Gestaltgliederungsfähigkeit, Mengenerfassung, Symbolverständnis, Feinmotorik und soziale Reife. Nachdem in den 60er Jahren des letzten Jahrhunderts Schulreife nicht mehr als das Produkt eines endogenen Reifungsprozesses verstanden wurde (Kemmler, 1967) und die Frühlesebewegung Eltern und Pädagogen erfasst hatte, entstand eine Fülle von Trainingsmaterialien, mit deren Hilfe die in der Schule geforderten Fähigkeiten erworben werden sollten. Das in den USA begonnene Programm Head Start (Barnett, 1995; Opp & Fingerle, 2000; Wember, 2000) wurde zum Vorbild genommen. Die schwungvoll begonnene Vorschulerziehung verebbte wieder und führte jahrzehntelang ein bescheidenes Dasein in der Vorschule, die sich auf einen Nachmittag pro Woche in den Kindergärten reduziert hatte. Die Reste auflagenstarker Sprachtrainingsmappen kamen dort zum Einsatz. Mit der Kritik an einer Verwissenschaftlichung der Grundschule und an einer Überbetonung der kognitiven Fähigkeiten wurde der Pflege der Phantasie, des freien Spiels und der Rollenspiele in den Kindergärten wieder mehr Aufmerksamkeit geschenkt. Das öffentliche Interesse an Kindergärten reduzierte sich allerdings weitgehend auf die Rahmenbedingungen wie Öffnungszeiten und Betreuungssätze. Dass darüber die Interessen und Fähigkeiten der Kindergartenkinder zu wenig Beachtung fanden und unterschätzt wurden, darauf hat nun Elschenbroich mit ihrem Buch „Weltwissen der Siebenjährigen“ (2001) aufmerksam gemacht. Schließlich war es die Pisa-Studie, die auch die Förderung im Vorschulalter wieder ins Blickfeld bildungspolitischer Interessen rückte. In diesem Kontext wechselnder Verunsicherungen von Erzieherinnen und Eltern, Lehrerinnen und Lehrern war und ist es schwierig, einen sinnvollen Weg für die Frühförderung entwicklungsverzögerter und sozial benachteiligter Kinder zu finden. Frühförderung im Elementarbereich und als schulvorbereitende Maßnahme bewegt sich in

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dem Spannungsfeld, dessen eine Seite die Anforderungen der Schule darstellen und die Erwartungen der Eltern, dass das Kind schulfähig gemacht wird, dessen andere Seite die entwicklungsverzögerten, vernachlässigten, beunruhigten und verängstigten Kinder sind, von denen viele erstmals eine spezielle Förderung erfahren sollen. Fertigkeiten sollen eingeübt werden, für die die grundlegenden Fähigkeiten kaum ausgebildet wurden und die vom Interessenhorizont der Kinder oft weit entfernt sind. Was diese Kinder bereitwillig mitmachen, wenn sich ihnen überhaupt ein Mensch freundlich und warmherzig zuwendet, ist erstaunlich. 14.9.2 Spezielle Fördermaßnahmen Welche Entwicklungsfortschritte wodurch erreicht werden, darüber wissen wir wenig. Über positive Langzeiteffekte von speziellen Interventionsprogrammen in den USA berichten Dunst et al. (1996), Haskins (1989) und Mayr (2000). Tietze (2002, S. 511) berichtet über mehrere Untersuchungen auch aus Europa, die deutliche Zusammenhänge zwischen pädagogischer Qualität der Betreuung im Vorschulalter und positiver langfristiger Entwicklung der Kinder zeigten. Sehr positive Auswirkungen auf den Schriftspracherwerb zeigte das Würzburger Trainingsprogramm zur phonologischen Bewusstheit (Küspert & Schneider, 1999). Das „Bielefelder Screening zur Früherkennung von Lese-Rechtschreibschwierigkeiten“ (BISC) (Jansen, Mannhaupt, Marx & Skowronek, 1999) kann nach Aussage der Autoren die präventive Förderung zur Vermeidung von Lese-Rechtschreibschwierigkeiten unterstützen. 14.9.3 Ganzheitlichkeit und Eigenaktivität Die generelle Abkehr von isolierten, funktionsorientierten Therapien oder Trainingsprogrammen in der Frühförderung und die Betonung der ganzheitlichen Gestaltung von Fördermaßnahmen gilt auch für den Elementarbereich. Ganzheitlichkeit darf allerdings nicht additiv verstanden werden als Förderung aller Funktionsbereiche. Ganzheitlich ist eine Förderung dann, wenn ein Kind als ganze Person, als Subjekt seines Handelns, aktiv mit Leib und Seele an seinem Tun beteiligt ist. Ob dann bei einer Übung alle oder nur einzelne Funktionen Beachtung finden, ist zweitrangig. Auch für diese Altersstufe gilt die Erkenntnis, dass kindliche Entwicklungs- und Lernprozesse von der Eigenaktivität der Kinder getragen und vorangebracht werden. Im Rahmen des Reutlinger Forschungsprojektes zur Frühförderung entwicklungsverzögerter und entwicklungsgefährdeter Kinder zeigte sich, dass bei einem Kind immer dann deutliche Entwicklungsfortschritte eintraten, wenn das Kind anfing, sich selbständig und aktiv mit seiner Welt auseinanderzusetzen und sich diese so anzueignen. Der abschließende Bericht erhielt darum den Titel „Das Kind als Akteur seiner Entwicklung“ (Kautter, Klein, Laupheimer & Wiegand, 1998). Vergleichbare Erfahrungen schildert Zollinger (1999) aus der Sprachförderung. Über unerwartet positive Entwicklungen von schwierigen Schülerinnen und Schülern in der Eingangsstufe einer Förderschule/Schule für Lernbehinderte berichtet auch die



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Sonderschullehrerin Braun (2003), nachdem sie ihren Unterricht und das Klassenzimmer umgestaltete. Sie unterteilte das Klassenzimmer in einen Arbeitsbereich und einen Spielbereich. Die so gestaltete Umgebung und die veränderte Haltung der Lehrerin waren die Voraussetzung für die Entfaltung der Eigenaktivität der Kinder im Spiel und in der Freiarbeit. In einem Erfahrungszeitraum von fünf Jahren konnten nach dem Besuch der ersten Klasse der Förderschule 38 % der Kinder mit Erfolg die Allgemeine Schule besuchen (Braun, 2003, S. 220). In diesem Konzept einer offenen Unterrichtsgestaltung zeigt sich eine gelungene Balance zwischen dem entwicklungsfördernden Spiel und der schulvorbereitenden Einübung in selbständiges Arbeiten. 14.9.4 Ausbilden von Lernstrategien Im Hinblick auf die Anforderungen der Schule ist es sicher sinnvoll, zweckmäßige Lernstrategien auszubilden, wie sie Kretschmann, Dobrindt und Behring (1997) beschrieben haben. Im Kindergarten und in der Schule bietet die Montessori-Pädagogik dafür eine gute Möglichkeit, denn genau die von Kretschmann et al. (1997) beschriebenen Maßnahmen sind feste Bestandteile einer Arbeit im Sinne Montessoris. – Der Zeitdruck wird vom Kind genommen, da jedes Kind Zeitpunkt und Dauer seiner Arbeit mit den Materialien selbst bestimmt. Ein leitendes Motto der MontessoriPädagogik lautet „Lasst uns Zeit“ und wird oft mit dem Symbol der Schnecke verbunden. – In den „Lektionen“ wird jedem Kind einzeln gezeigt, was und wie es etwas tun soll. Die eindrückliche Demonstration der Lösungswege durch eine Modellperson erweckt in den Kindern die Lust zur Nachahmung. – Wettbewerbssituationen werden dadurch vermieden, dass jedes Material nur einmal vorhanden ist. Der bewusste oder unbewusste Leistungsvergleich, der dem Frontalunterricht immanent ist, kann nicht stattfinden, da jedes Kind etwas anderes arbeitet und nur seinen eigenen Leistungsfortschritt registriert. – Die Möglichkeit zur Selbstkontrolle ist ein fester Bestandteil der Freiarbeitsmaterialien und schützt das Kind vor der beschämenden Bloßstellung seiner Fehler. – Wenn Kretschmann et al. die Aufgabe der Förderlehrerin „in der Suche nach Angeboten, die das Kind interessieren“ (1997, S. 148) sehen, dann entspricht das der Aufgabe des Beobachtens in Montessori-Klassen. Die Lehrenden sollen durch ihr Beobachten der Kinder erkennen, wofür ein Kind Interesse zeigt, wo sich eine „sensible Phase“ für eine Sache ankündigt. Aufgabe der Lehrenden ist es dann, entsprechende Materialien dem Kind anzubieten und es in den Gebrauch durch eine Lektion einzuführen. – Der „Polung der Aufmerksamkeit“ (Kretschmann et al., 1997, S. 144) dient das ganze Arrangement der Montessori-Pädagogik (vorbereitete Umgebung, Wahlfreiheit, Zeitfreiheit, Zurückhaltung der Lehrenden usw.) mit dem Ziel, den Kindern die „Polarisation der Aufmerksamkeit“ (Montessori) zu ermöglichen. – Das konzentriert arbeitende Kind vor Störungen durch andere zu schützen, ist eine wesentliche Aufgabe der Lehrerin. Sie selbst hält sich zurück und gewährt nur dem Kind Hilfe, das darum bittet. Dies entspricht dem allmählichen Ausblenden von Hilfestellung und Hilfen, wie es Kretschmann et al. (1997, S. 148) fordern.

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14.9.5 Übergang zur Schule Die Bemühungen, durch Frühförderung und schulvorbereitende Hilfen entwicklungsverzögerten Kindern zu einem guten Schulanfang zu verhelfen, können durch die Einschulungspraxis zunichte gemacht werden. Folgendes Beispiel mag dies verdeutlichen: Tina hatte nach zweieinhalb Jahren in einem Förderkindergarten ihre starke Scheu und Zurückhaltung überwunden und ihre anfängliche Sprachverweigerung aufgegeben. Nach gründlicher Prüfung erschien sie allen Beteiligten als schulfähig. In Gesprächen mit dem Schulleiter der zuständigen Grundschule und mit der künftigen Klassenlehrerin wurde die Einschulung vorbereitet. Der Schulleiter versprach, darauf zu achten, dass das Mädchen mit benachbarten Kindern aus seinem Wohnblock in eine Klasse komme. – Drei Wochen nach Schuljahresbeginn rief eine Klassenlehrerin im Kindergarten empört an und fragte, was man ihr da für eine Autistin geschickt habe. – Was war geschehen? Die vorgesehene Klassenlehrerin war an eine andere Schule versetzt worden. Die Zuteilung der Kinder zu den einzelnen Klassen hatte die Sekretärin des Rektors nach dem Alphabet vorgenommen. Die neue Klassenlehrerin wusste von all den Absprachen nichts. Nach wenigen Wochen wurde das Mädchen an eine Förderschule umgeschult. Die Einschulung in eine Grundschule oder auch in eine Förderschule bedarf darum der sorgfältigen Vorbereitung, vor allem aber der Abstimmung mit allen Beteiligten. Zunächst gilt es abzuwägen, ob der Unterricht in dieser speziellen Grundschulklasse dem Kind eine positive Fortführung der begonnenen Lernprozesse ermöglichen wird oder ob eine Rückstellung vom Schulbesuch besser ist. Wird eine Einschulung in die Grundschule empfohlen, dann muss die Frühförderstelle bereits im alten Schuljahr mit der Schulleitung und mit der künftigen Lehrerin oder dem Lehrer Kontakt aufnehmen. Dabei wird es um eingehende Informationen über die Lebenssituation und die besonderen Bedürfnisse des Kindes gehen. Gegebenenfalls sollten auch spezielle didaktische Hilfen und Materialien mitgegeben werden. Finden solche Gespräche jedoch keine positive Aufnahme bei den künftigen Lehrkräften, dann sollte die Frühförderstelle für das Kind eine andere Schule suchen. Unter Umständen kann es auch notwendig sein, ein Kind in den ersten Tagen nach Schulbeginn noch in der neuen Klasse durch eine vertraute Person zu begleiten. Denkbar ist auch, dass eine Person aus der Frühförderung mit dem einzuschulenden Kind die künftige Lehrkraft noch im Unterricht mit ihrer alten Klasse besucht. Dies alles können nur allgemeine Hinweise sein. In jedem Einzelfall gilt es, die spezielle Situation des Kindes und die Möglichkeiten der aufnehmenden Klasse zu beachten und abzuwägen, welches der bessere Weg für ein Kind ist. In einigen Fällen wird auch eine direkte Einschulung in eine Förderschule notwendig sein. In jedem Fall wird es darum gehen, die speziellen Bedürfnisse eines Kindes mit den Möglichkeiten der aufnehmenden Schule sehr konkret und zuverlässig abzustimmen und den Übergang behutsam zu begleiten.



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244

| Teil IV:

Prävention

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15 Schulalter Rudolf Kretschmann Unter Prävention soll die pädagogische Zielsetzung verstanden werden, schulische Lern- und Lebensbedingungen so zu gestalten, dass alle Lernenden bestmögliche Entwicklungschancen erhalten; vor allem aber soll unter Prävention ein Ensemble von Maßnahmen verstanden werden, welche geeignet sind zu verhindern, dass sich bei Kindern und Jugendlichen, welche „von Behinderung bedroht“ sind (Deutscher Bildungsrat, 1974), manifeste Lern- und Verhaltensprobleme ausbilden. Den Gegenstandsbereich pädagogischer Prävention bilden Lern- und Verhaltensprobleme als reaktive Störungen, welche durch inadäquate vorschulische bzw. schulpädagogische Angebote provoziert oder verstärkt werden, mit Einschränkungen auch Störungen, die ihre Ursachen zwar außerhalb des schulischen Settings haben, sich aber in der Schule manifestieren. Zwar ist die Schule häufig damit überfordert, Probleme, die außerhalb ihres Wirkungsbereichs liegen, zu lösen, aber sie ist dennoch gefordert, auf das Verhalten der Lernenden in der Schule adäquat zu reagieren.

15.1 Systemische und entwicklungsökologische Ausgangsüberlegungen Wie im ersten Handbuchbeitrag ausgeführt, sind Lernstörungen multisymptomatisch und multikausal. So wenig, wie Einzelereignisse zur Entstehung komplexer Entwicklungsergebnisse führen, so wenig lassen sich eingetretene Fehlentwicklungen durch pädagogische Einzelmaßnahmen aufhalten oder gar rückgängig machen. Wie Bronfenbrenner bereits 1974 ausführt, bleiben pädagogische oder therapeutische Beeinflussungsversuche vor allem dann wirkungslos, wenn sie auf Einzelsymptome zielen, von kurzer Dauer, von geringer Breite und geringer methodischer Vielfalt sind. Deutlich unterschiedliche Entwicklungsverläufe zeigen dagegen Kinder, wenn sie in unterschiedlichen Gesellschaften oder Subkulturen heranwachsen. Bronfenbrenner zieht daraus den Schluss, dass die Entwicklung von Individuen nicht von pädagogisch-therapeutischen Einzelmaßnahmen beeinflusst wird, sondern von Umwelten. Er folgert weiterhin, dass man Umwelten, Lebensräume als Ganze zum Positiven verändern muss, wenn man die Entwicklung von Kindern zum Besseren wenden will. Bronfenbrenner nennt seine Sicht der Dinge eine ökologische Betrachtungsweise. Die Systemforschung hat die Erkenntnisse über die relative Unwirksamkeit von Einzelmaßnahmen erweitert: Ein Förderangebot, das im Fall von Verhaltens- oder Lernproblemen realisiert wird, bedeutet einen Eingriff in ein System oder in mehrere Systeme, in unserem Fall in die Systeme Schule und Familie. Systeme aber reagieren träge; punktuelle Eingriffe in das System werden „abgepuffert“ (Vester, 1984). Werden dagegen mehrere gleichsinnige Förderangebote gebündelt, kann es zu synergetischen Wirkungen kommen, zu wechselseitigen Wirkungsverstärkungen. Richtungsweisend für eine entwicklungsförderliche Gestaltung von Systemen ist die von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) schon vor Jahren getroffene Unterschei-

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| Teil IV:

Prävention

dung zwischen primärer, sekundärer und tertiärer Prävention. Unter primärer Prävention werden Maßnahmen der Gesundheitsvorsorge für die Gesamtbevölkerung verstanden. Dazu gehört z. B. der Zugang zu sauberem Trinkwasser, die Lebensmittelkontrolle, aber auch die gesundheitliche Aufklärung der Bevölkerung. Auch die regelmäßige Teilnahme an Vorsorgeuntersuchungen gehört zur primären Prävention. Die sekundäre Prävention umfasst Vorsorgeprogramme für Risikogruppen, z. B. für Personen, die von Diabetes, Bluthochdruck oder Koronarerkrankungen bedroht sind. Tertiäre Prävention ist die medizinische Behandlung von manifesten Erkrankungen. Die Unterscheidung lässt sich auf die Problematik von Lern- und Entwicklungsstörungen übertragen: – Primäre Prävention: Angemessene Ausstattung und Gestaltung institutioneller – schulischer wie vorschulischer – Lebens- und Lernbedingungen für alle Lernenden, – Sekundäre Prävention: Unterstützungsangebote für Lernende, die von Entwicklungsstörungen bzw. Schulversagen bedroht sind, einschließlich schulorganisatorischer Maßnahmen, – Tertiäre Prävention: Förderung, Therapie, Unterstützungsangebote bei manifesten Störungen. Eine solche Unterscheidung von Präventionshierarchien bedeutet ein Umdenken gegenüber traditionellen Konzepten der Förderungspädagogik: Für die traditionelle (Förderungs-)Pädagogik stehen die Bedingungen und die Anforderungen des Systems gleichsam unverrückbar fest. Durch eine Art Intensivtraining bzw. durch pädagogischtherapeutische Angebote (tertiäre Prävention) sollen Kinder dazu befähigt werden, mit den vorhandenen Bedingungen zurechtzukommen, und den definierten Anforderungen zu genügen. Bei der primären und sekundären Prävention werden dagegen die Bedingungen und die Anforderungen des Systems hinterfragt und ggf. den Lernvoraussetzungen der Kinder oder Jugendlichen angepasst. „Von der Einzelfallhilfe zur Organisationsentwicklung“ – auf diesen Nenner könnte der notwendige Umdenkungsprozess gebracht werden, wobei die Einzelfallhilfe im Sinne tertiärer Prävention keineswegs als überflüssig erachtet wird, aber eben auch nicht als ausreichend. Auch und gerade für die sonderpädagogische Förderung gilt die alte Weisheit „Vorbeugen ist besser als Heilen“. Darüber hinaus ist von einer sonderpädagogischen Förderung nur dann eine substanzielle Wirkung zu erwarten, wenn sie die Angebote gut funktionierender pädagogischer Systeme ergänzt – nicht aber, wenn sie gehalten ist, die Mängel wenig optimierter pädagogischer Systeme zu kompensieren. Primäre, sekundäre und tertiäre Prävention unterscheiden sich in den Zielrichtungen und in den Zuständigkeiten: – Primäre Prävention zielt auf die Optimierung von Systemen, im konkreten Fall von Bildungseinrichtungen, die Kindern und Jugendlichen zum Erwerb eines größtmöglichen Bestandes von Einsichten, Fertigkeiten und Kenntnissen sowie zu einer optimalen Entfaltung ihrer Möglichkeiten verhelfen sollen. Mittelbar und in erster Linie zielt sie damit auf die Personen, die in den Institutionen gefördert werden sollen. Vor dem Hintergrund sich ständig verändernder Lebensbedingungen von Kindern und Jugendlichen (Rolff & Zimmermann, 1985; Fölling-Albers, 1988) ist es angezeigt, die schulischen Angebote immer wieder darauf hin zu überprüfen, ob sie den pädagogischen Bedarfen der Lernenden noch gerecht werden. Verantwortlich für die



Kapitel 15: Schulalter | 247

Realisierung von Maßnahmen Primärer Prävention sind zunächst die an einer Schule tätigen Lehrkräfte, aber der Kreis der Verantwortlichen geht weit über das pädagogische Personal der Institutionen hinaus: In zentraler Verantwortung steht die Schulund Bildungspolitik, die durch Ressourcen- und Strukturentscheidungen sowie durch die von ihr vorangetragenen Bildungsziele die institutionellen Rahmenbedingungen setzt. Ein wesentlicher Grund für geringe Effizienz dürfte die Unterfinanzierung weiter Teile des Bildungssystems sein, nicht selten aber auch reaktive, kurzatmige und auf besonders spektakuläre Fehlentwicklungen zielende Einzelmaßnahmen. Gerade die Bildungspolitik, die Entscheidungen von großer zeitlicher, finanzieller und gesellschaftlicher Tragweite zu verantworten hat, sollte lernen, in systemischen und entwicklungsökologischen Kategorien zu denken, Gesamtkonzepte zu entwickeln und die daraus abzuleitenden Maßnahmen planvoll und mit nachhaltiger Prozessbegleitung umzusetzen. – Die tertiäre Prävention zielt als Intervention auf den Einzelfall, auf die Förderung von Kindern und Jugendlichen ab, die manifeste Lernrückstände oder Entwicklungsstörungen ausgebildet haben. Zuständig sind im Idealfall multiprofessionelle Teams, in denen je nach Erfordernis Lehrkräfte, Sonderschullehrkräfte, Sozialarbeiter und Psychologen mitarbeiten: Fachleute, welche die pädagogisch-therapeutischen Bedarfe von Kindern diagnostisch abklären, um darauf aufbauend individuelle Entwicklungspläne auszuarbeiten und umzusetzen. – Sekundäre Prävention nimmt eine Mittelstellung ein zwischen den o.a. Präventionsebenen. Zum einen sind für wiederkehrende Problemlagen Strukturen aufzubauen und Ressourcen bereitzustellen, was zunächst auf der Systemebene zu geschehen hat, etwa für Kinder, welche die deutsche Sprache nur unzulänglich beherrschen oder für Lernende mit unzweckmäßigem Arbeitsverhalten oder Sozialisationsrückständen. Die Fördermaßnahmen müssen vorbeugend angesetzt werden, wenn Schwierigkeiten sich andeuten, aber noch nicht manifest geworden sind. Auf der anderen Seite ist jedes Kind in seinem pädagogischen Bedarf einzigartig, und auch wenn vorbeugend Förderressourcen bereit gestellt und Fördergruppen eingerichtet werden, wird eine nachhaltige Prävention nur dann erreicht werden, wenn auch für diese Kinder individuelle Entwicklungspläne erstellt und abgearbeitet werden. Tabelle 1 zeigt exemplarisch eine Übersicht über Präventionsebenen und –bereiche für die Institution Schule. Letztendlich handelt es sich um Akzentuierungen mit Überlappungen und fließenden Übergängen. Eine planvolle Organisation von Präventionsangeboten erfordert, – sich einen Überblick zu verschaffen, welche Angebote in einer Institution bzw. einer Region bereits existieren und wo ggf. Handlungsbedarf besteht, – die Ziele im Hinblick auf eine konkrete Region, einen konkreten Standort zu operationalisieren, – auszuwählen, welche Ziele realisierbar sind, – bzw. bei welchen die beste Kosten-Nutzen-Relation gegeben ist, – auszuwählen, welche kurz-, mittel- und langfristig verfolgt werden sollen, – einen Zeitplan zu erstellen, – die Zuständigkeiten und die Verantwortlichkeiten zu klären,

Regelmäßiges und frühzeitiges Screening der Lernentwicklung. Unterrichtsintegrierte oder unterrichtsergänzende Angebote für entwicklungsgefährdete Lernende z. B. – zur Verbesserung der Sprachkompetenz – zur Ausbildung zweckmäßigen Arbeitsverhaltens – zur Ausbildung von Erfolgszuversicht und Selbstwertgefühl – zur Förderung der Sozialkompetenz Hausaufgabenhilfe, Förderunterricht Familienergänzende Angebote für sozial gefährdete Kinder und Jugendliche. Individuelle Entwicklungspläne mit operationalen Entwicklungszielen.

Diagnostische Ermittlung der Zone der aktuellen Leistung (Lesen und Schreiben) Diagnostische Ermittlung der emotionalen Einstellung zum Lerngegenstand. Ggf. diagnostischer Ermittlung lernförderlicher und lernhemmender innerer und äußerer Bedingungen (einschließlich organischer Beeinträchtigungen). Erkennen, Würdigen und Fördern von Stärken des Kindes, um das Selbstwertgefühl zu heben bzw. dem Kind Kompensationsmöglichkeiten zu eröffnen. Erstellen operationaler individuelle Entwicklungspläne. Passung der Angebote an die Lernausgangslage des Kindes. Förderangebote mit subjektivem Erlebnis- und Gebrauchswert (Verknüpfung mit persönlichen Interessen). Ausgiebige Bearbeitung der besonderen Schwierigkeiten des Lerngegenstands. Modellhafte Demonstration und entlastende Hilfestellungen bei besonderen Schwierigkeiten. Ausgiebige Gelegenheit zu Automatisierung und Verfestigung.

Auf Unterrichtsebene: Didaktisch sinnvolle Stoffauswahl, Inhalte mit Gebrauchs- und Erlebniswert und Lebensweltbezug Effiziente und motivierende Methoden Passung der Angebote an die individuellen Ausgangslagen der Lernenden. Binnendifferenzierung, Niveaudifferenzierung, Effiziente Unterrichtsorganisation. Ausgiebige Bearbeitung besonderer Schwierigkeiten der jeweiligen Lerngegenstände. Gelegenheit zur Automatisierung des Gelernten für alle Lernenden. Kontinuierliche Entwicklungsdokumentation für alle Lernenden. Respektierende und freundliche Umgangsformen. Auf Schul- und Kollegiumsebene: Aktives Schulleben, Schulprofile Kontinuierliche und planvolle Bemühungen um adäquate pädagogische Angebote und Profile. Kontinuierliche und planvolle Bemühungen um einen pädagogischen Konsens. Kontinuierliche Kooperation mit den abgebenden und aufnehmenden Institutionen (z. B. Kindergarten, weiterführende Schule). Kontinuierliche Kooperation mit anderen bildungsfördernden Institutionen (z. B. Bibliotheken, Sportvereinen, Mal- und Musikschulen etc.).

Prozedurale Bedingungen, Angebote und Aktivitäten

Tertiäre Prävention

Respektierende Grundhaltung den Lernenden gegenüber. – Respektierende Grundhaltung der Lehrenden im Umgang miteinander. – Ermutigungskultur. – Aufgeschlossenheit der Lehrkräfte gegenüber Austausch und Kooperation. – Akzeptanz der Verschiedenheit. – Begreifen von Heterogenität als Chance. – Selbstverpflichtung, keinen Schüler, keine Schülerin zurück lassen zu wollen . – Überwinden von Schwierigkeiten als eine Aufgabe der Institution begreifen.

Sekundäre Prävention

| Teil IV:

Orientierung

Primäre Prävention

Tabelle 1: Präventionsebenen im Bereich Schule

248 Prävention

Strukturelle und organisatorische Bedingun­ gen, Ressourcen, Infrastrukturen

Curricula, Arbeits- und Organisationsstrukturen – Kindgerechte und entwicklungsförderliche pädagogische Konzepte und Angebote. – Curricula mit Lebensweltbezug und Selbstwirksamkeitserleben. – Training von Lifeskills, Sozialverhalten und Kommunikationskompetenz. – Binnendifferenzierender Unterricht, Bemühen um größtmögliche Passung der Angebote. – Anforderungsfreie Begegnungsmöglichkeiten (Arbeitsgemeinschaften, Freizeiten). – Ganztagsunterricht. – Regelmäßige Abstimmung und Kooperation. – Bemühen um einen pädagogischen Konsens. – Präventions- und Förderangebote für lern- und entwicklungsgefährdete Kinder.

Kontinuierliche Kooperation mit Eltern und Elternvertretungen.

– Bereitstellen von personellen Ressourcen zur präventiven Begegnung wiederkehrender Problemlagen bei Lernenden (ausreichende Deputate und einschlägig qualifiziertes Personal). – Bereitstellen von Zeiten, Räumlichkeiten und Materialien, um anstehende Entwicklungsaufgaben zu bewältigen. – Festlegen von Verfahrensabläufen zur Identifikation entwicklungsgefährdeter Schülerinnen und Schüler.

– Bereitstellen von personellen Ressourcen zur Intervention bei manifesten Problemen von Lernenden (ausreichende Deputate und einschlägig qualifiziertes Personal). – Bereitstellen von Zeiten, Räumlichkeiten und Materialien, um ausgelassene Lernschritte nachzulernen. – Festlegen von Verfahrensabläufen zur Diagnose und Förderung von Lernenden mit manifesten schulischen Problemen. – Ermöglichen nichtdiskriminierender Lernzeitverlängerung (z. B. längerer Verbleib in jahrgangsübergreifenden Klassen). – Kooperationsstrukturen mit unterstützenden Diensten und Institutionen (Schulpsychologie, Jugendhilfe). – Regelmäßige Hilfekonferenzen. – Coaching und Supervisionsangebote für das pädagogische Personal.

Ermutigung, Bestätigung, Vermittlung von Kompetenzerlebnissen und Erfolgszuversicht. Verringern von innerer und äußerer Ablenkung. Familienergänzende Angebote (Mahlzeiten, Randzeitenbetreuung). Kooperation d. Lehrkräfte mit außerschulischen Diensten. Elterngespräch, Elternberatung. Außerschulische Betreuungsangebote, Hort, Hausaufgabenbetreuung, Nachhilfe. Einschalten von schulpsychologischem oder sozialem Dienst. Familienhilfe, Familientherapie.

Kapitel 15: Schulalter | 249

– Ermöglichen nichtdiskriminierender Lernzeitverlängerung (z. B. längerer Verbleib in jahrgangsübergreifenden Klassen). – Kooperationsstrukturen mit unterstützenden Diensten und Institutionen (Schulpsychologie, Jugendhilfe). – Infrastrukturen mit ehrenamtlichen Helfern („Lesehelfer“). – Coaching und Supervisionsangebote für das pädagogische Personal.

Personelle Ressourcen und Unterrichtsversorgung. – Hinreichend umfangreiche Stundentafel. – Ausreichende Zahl von Planstellen. – Ausreichende Zahl besetzter Stellen. – Krankheits- und Vertretungsreserven. – Doppelbesetzung in schwierigen Lerngruppen. – Überschaubare Klassenfrequenzen. – Für die Unterrichtsaufgaben hinreichend qualifiziertes Personal. – Kontinuierliche Personalentwicklung. – Nichtunterrichtendes pädagogisches Personal (z. B. Schulsozialarbeiter).

Bau, Gelände und Ausstattung – Freundliche bauliche Gestaltung der Schule, – zweckmäßiges Raumangebot, – ausreichendes und funktionelles Pausengelände – guter baulicher Erhaltungszustand, – ansprechende und gut erhaltene Einrichtung und Raumausstattung. Ausstattung mit zeitgemäßen pädagogischen Arbeitsmitteln (Bibliothek, PC, Werkstoffe, didaktische Materialien)

Tertiäre Prävention

| Teil IV:

Kinder – Wiederkehrend motivierte und bildungsinteressierte Schülerschaft.

Sekundäre Prävention

Primäre Prävention

Tabelle 1 (Fortsetzung)

250 Prävention



Kapitel 15: Schulalter | 251

– die Ressourcen bereitzustellen, – Maßnahmen zur Prozessbegleitung zu organisieren und – festzulegen, wie die Zielannäherung erkannt und wie eine Prozesssteuerung erfolgen soll. Viele Reformkonzepte scheitern daran, dass sie nach dem Muster traditioneller Bürokratiemodelle von Entscheidungsträgern in der übergeordneten Bildungsverwaltung verordnet werden, ohne dass vor Ort in den Schulen eine Prozessbegleitung und eine Erfolgskontrolle erfolgen. Wenn derartige Verordnungen die Institutionen in raschem Wechsel und nicht selten verbunden mit krassen Richtungsänderungen erreichen, ist eine Effizienzsteigerung im Sinne primärer Prävention eher unwahrscheinlich. Eher wird das Gegenteil erreicht: Die Lehrkräfte werden demotiviert. Tabelle 1 enthält die Ziele nur in Stichworten. An ausgewählten Beispielen sollen konkrete Präventionsmöglichkeiten erläutert werden. Die Beispiele beschränken sich auf Maßnahmen primärer und sekundärer Prävention, denn die tertiäre Prävention ist durch zahlreiche eigene Beiträge in Teil 5 und 6 dieses Handbuches repräsentiert.

15.2 Beispiele primärer Prävention 15.2.1 Prävention durch eine leistungsfähige Elementarerziehung 15.2.1.1 Die Bedeutung der vorschulischen Entwicklung für den späteren Schulerfolg Viele Jahre und Jahrzehnte lang konzentrierten sich, wenn es um die Frage ging, wie Bildungsstandards angehoben oder sozialisationsbedingte Nachteile ausgeglichen werden können, die bildungspolitischen und erziehungswissenschaftlichen Bemühungen zum überwiegenden Teil auf die Schule. In jüngster Zeit jedoch mehren sich die Erkenntnisse, wonach für die schulische Lernentwicklung nicht weniger wichtiger ist, was vor der Schule geschieht, als das, was in der Schule an pädagogischen Angeboten erfolgt. Die Ergebnisse der European Child Care and Education Study (Krumm et al., 1999) wurden bereits im ersten Kapitel dieses Handbuchs dargestellt. Den Einfluss der vorschulischen Entwicklung belegt auch ein Teilergebnis der Logik- und Scholastik-Studien (Helmke, 1997). In diesen Untersuchungsvorhaben wurde die Entwicklung von bis zu 220 Kindern vom 4. bis zum 12. Lebensjahr verfolgt, das ist die Zeit vom Kindergartenbesuch bis zum Ende des fünften Schuljahres. Wie sich in den Untersuchungen zeigte, bleiben die Leistungsunterschiede der Lernenden über alle Schuljahre nahezu konstant: Bei einem Teil der ursprünglichen Spitzenschüler sinken die Leistungen auf ein niedrigeres Niveau, welches jedoch immer noch über dem Durchschnitt liegt, während bei einem Teil der ursprünglich durchschnittlichen Lernenden die Leistungen auf ein leicht überdurchschnittliches Niveau ansteigen. Alle Schülerinnen und Schüler aber, welche die Grundschulzeit mit niedrigen Leistungen beginnen, behalten diese relative Position bis zum Ende der Grundschulzeit bei. Ein Aufholen der Schwächeren findet nicht statt. Im Rahmen dieser Studien wurden bei Kindergartenkindern diverse Fähigkeiten, Kenntnisse und Einstellungen ermittelt und später mit den Schulleistungen in Beziehung

252

| Teil IV:

Prävention

gesetzt (Schneider, Stefanek & Dotzler, 1997). Ermittelt wurden die Intelligenz, gemessen mit einem nonverbalen Intelligenztest, Vorläuferkompetenzen des Rechnens (Zählen und Mengen schätzen), Vorläuferkompetenzen des Schreibens, z. B. phonologische Operationen wie Reime erkennen, Silben klatschen etc. Im Rahmen der Längsschnittuntersuchungen zeigte sich, dass bis zu 30 Prozent des späteren Schulerfolges durch Fertigkeiten und Kenntnisse vorhergesagt werden können, die sich bereits im Vorschulalter erheben lassen. Das ist ein vergleichsweise hoher Wert. Insbesondere stellte sich heraus, dass Schulleistungen wie Lesen, Rechtschreiben oder Zahlenrechnen weitaus besser durch die Vorläuferkompetenzen des Lesens, Schreibens und Rechnens vorhergesagt werden konnten als durch den IQ und dass dieser nur bei Aufgaben, die weniger auf Wissen als auf Denkfähigkeit beruhten, eine höhere Bedeutung hatte. Das bedeutet: Wer im Vorschulalter schon bereichsspezifisches Vorwissen zum Lesen, Schreiben und Rechnen erwirbt, verschafft sich eine günstige Ausgangsposition, um sich in der Schule weiteres Wissen anzueignen, d. h. beim Lesen, Schreiben und Rechnen erfolgreich zu sein. Kinder, die ohne solches Vorwissen zur Schule kommen, bleiben in den meisten Fällen während ihrer gesamten Grundschulzeit und oft noch weit über diese Zeit hinaus am unteren Ende der Leistungsskala. 15.2.1.2 Pädagogische Angebote im Elementarbereich In der Vergangenheit wurde auf die Vermittlung schulisch relevanter Vorläuferkompetenzen in deutschen Kindergärten offenbar wenig Wert gelegt. Handlungsleitendes Konzept der Vorschulerziehung der letzten Jahre war der so genannte „Situative Ansatz“ mit Betonung der Ausbildung von Sozialkompetenz (Zimmer, 1986, S. 22): „Es besteht ein Primat sozialen Lernens. Sachbezogenes Lernen, der Erwerb von Kenntnissen und Fertigkeiten wird sozialem Lernen untergeordnet und nach Möglichkeit auf soziale Zusammenhänge bezogen.“ Tatsächlich zeigt ein Vergleich der OECD, dass in anderen Ländern durchaus andere Gewichtungen bestehen und dass soziales Lernen und Schulvorbereitung sich offenbar nicht ausschließen müssen (vgl. Bairrao & Tietze, 1993, zit. n. Hacker, 1998): In Deutschland hat die Förderung der sozial-emotiven Entwicklung einen hohen Stellenwert. Förderangebote zur Schulvorbereitung und zur kognitiven Entwicklung wurden eher selten beobachtet. Frankreich bietet das genaue Kontrastprogramm: Hier haben Schulvorbereitung und kognitive Förderung einen hohen Stellenwert, während der Förderung der sozial-emotiven Entwicklung eine geringe Bedeutung beigemessen wird. In Erstaunen versetzt ein Land wie Griechenland: Hier konnten die Untersucher in allen drei Bereichen gezielten Förderung beobachten, etwas abgeschwächt auch in Belgien. In diversen Untersuchungen (Jansen, Mannhaupt, Marx & Skowronek, 1999; Schneider et al., 1997) hat sich gezeigt, dass beim Lesen- und Schreibenlernen die so genannten „phonologischen Operationen“ eine wichtige Rolle spielen (vgl. Kapitel 24.1, Phonologische Bewusstheit). Kinder, die im Vorschulalter schon in der Lage sind, Reimpaare zu erkennen, Silben zu klatschen, Anlaute von Wörtern zu erkennen, sind später beim Lesen- und Schreibenlernen erfolgreicher als solche, die über solche „phonologische Bewusstheit“ nicht oder nur in Ansätzen verfügen. Das Wissen um den Zusammenhang zwischen phonologischer Bewusstheit und dem späteren Leseerfolg hat bereits zu



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praktischen Konsequenzen geführt, denn es gibt Verfahren zur Diagnose phonologische Operationen im Vorschulalter (z. B. das Bielefelder Screening von Jansen et al., 1999) und es gibt Trainingsprogramme, um solche Kompetenzen gezielt zu fördern (z. B. das Programm „Hören, lauschen, lernen“ von Küspert & Schneider, 1999). Man sollte die Verbesserung der vorschulischen Angebote jedoch nicht auf ein bloßes phonologisches Funktionstraining reduzieren, denn phonologische Bewusstheit ist ein Sozialisationsergebnis von bildungsnahen und literalen Milieus. Es ist nur eines von mehreren Ergebnissen: Über regelmäßiges Vorlesen, über eigene Bücher und über die Beachtung ihrer ersten Schreibversuche entwickeln Kinder nicht nur ein phonologisches Verständnis, sondern auch eine positive emotionale Beziehung zur Schrift. Sie entwickeln eine freudige Erwartung, in der Schule endlich das Lesen zu erlernen. Will man also schon im Kindergarten auf den Schriftspracherwerb hinarbeiten, dann sollte dies nicht nur durch ein isoliertes Training phonologischer Operationen geschehen, sondern auch durch Sprachförderung im Allgemeinen, durch die Schaffung eines literalen Umfelds, welches möglichst dem nahe kommt, was Kinder aus bildungsnahen Familien in ihren Elternhäusern vorfinden, sowie insbesondere durch eine gezielte Sprachförderung für Kinder nichtdeutscher Herkunftssprache. Für einen größeren intellektuellen Anregungsgehalt der Elementarerziehung plädiert u. a. auch Elschenbroich (1997). Vehement setzt sie sich für eine stärkere Verortung des Weltwissens in der Vorschulpädagogik ein und illustriert ihre Forderung mit Beispielen: „In einem (...) Kanon des Weltwissens von Siebenjährigen wird die Nachtwanderung enthalten sein, bei der jedes Kind einige Sternbilder kennen gelernt hat. Die Blindenschrift, mit der jedes Kind in Berührung gekommen sein sollte. Jedes Kind sollte während der ersten sieben Jahre die Chance gehabt haben, ein Musikinstrument zu bauen und die Stille als einen Teil von Musik zu erleben“ (S. 9). Diese Forderungen klingen z. T. exotisch und müssten im Einzelnen diskutiert werden. Aber sie zeigen eine Richtung auf, die bei allem berechtigten Interesse am sozialen Lernen vielleicht zu Unrecht in den Hintergrund getreten ist. Ursprünglich aus England stammt eine Initiative, die Kindern möglichst früh und lebensweltbezogen Naturkenntnisse wissenschaftlich nahe bringen will. In den Jahren 1960 bis 1993 wurden von der Nuffield Foundation Aktivitäten zur naturwissenschaftlichen Curriculumentwicklung und zur Lehreraus- und Fortbildung gefördert. Die Anregungen wurden praktisch in allen Regionen des englischen Sprachraums aufgenommen und sie wirken auch noch weit in die Gegenwart hinein. Für den Anfangsunterricht der fünfjährigen Grundschüler wurden zahlreiche didaktische Materialien und Ideen entwickelt, die teilweise auch in deutscher Übersetzung vorliegen. Zwischen sekundärer und tertiärer Prävention anzusiedeln sind Bemühungen, Sprachprüfungen bei Vorschulkindern durchzuführen, um bei Kindern mit Sprachproblemen Fördermaßnahmen einzuleiten. Bezogen auf die aktuelle Situation wäre dies eine pädagogisch-therapeutische Intervention. Im Hinblick auf die zu erwartenden Anforderungen sind solche Maßnahmen als sekundäre Prävention einzustufen: Den Kindern sollen schulische Lernschwierigkeiten infolge sprachlicher Defizite erspart bleiben. So z. B. wird in Bremen seit 2003 regelmäßig die Sprachkompetenz fünfjähriger Kindergartenkinder überprüft. Für Kinder mit einem Prozentrang 15 oder niedriger wird eine Sprachförderung angeboten (Kretschmann & Schulte, 2004).

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15.2.2 Die Erleichterung von Übergängen Jeder Mensch durchläuft in seinem Leben verschiedene Lebensräume, sog. „Soziale Settings“ (Bronfenbrenner, 1974, 1989): von der Familie in den Kindergarten, vom Kindergarten in die Schule, von der Schule in den Beruf, vom Berufsleben in den Ruhestand. Jedes dieser Settings konfrontiert die Person mit spezifischen Anforderungen, mit „Entwicklungsaufgaben“ (Havighurst, 1972). Je schlechter eine Person diese Entwicklungsaufgaben bewältigt, desto wahrscheinlicher sind Folgeprobleme in späteren Lebensabschnitten. Den Übergang von einem Setting in ein anderes nennt Bronfenbrenner einen Ökologischen Übergang. Ökologische Übergänge sind immer latent krisenhaft, weil sie mit neuen Entwicklungsaufgaben einhergehen. Eine Person, welche von einem Setting in das andere wechselt, muss immer erst erfahren, welche neuen Verhaltensmuster von ihr erwartet werden. Es kommt zum Scheitern oder zur Randständigkeit in dem jeweiligen Kollektiv, wenn die Person sich nicht auf die veränderten Bedingungen einstellen kann. Ein besonders kritischer Übergang ist der Schulanfang, denn die Schule ist für Kinder ein neuer, bis dahin nicht erfahrener Lebensraum; sie verlangt von Kindern Verhaltensmuster, die sie in ihren bisherigen Lebensräumen nicht oder in weitaus geringerem Maße erbringen mussten. Zudem ist der Schulbesuch verpflichtend; ein Kind, welches den Anforderungen nicht genügt, hat keine Möglichkeit, diese Anforderungen zu vermeiden; Erfolg und Scheitern in der Schule können den weiteren Lebensweg vorher bestimmen, denn noch immer ist die Schule auch ein Berechtigungssystem. Ein anerkannter Schulabschluss ist zwar keine Garantie für eine hohe Lebensqualität; umgekehrt aber ist mit einem unzulänglichen Abschluss ein Leben in sozialer Randständigkeit oft geradezu vorgezeichnet und führt nicht selten in ein Verharren in einem Teufelskreis von Armut und Inkompetenz. Wegen der großen Bedeutung, welche dem Erfolg in der Schule auch subjektiv zugeschrieben wird, stellen Eltern in dieser Zeit oft hohe und überhöhte Ansprüche an die Kinder, so dass manche Kinder unter einer doppelten Belastung stehen: Sie müssen die Anforderungen der Schule bewältigen und den Erwartungen ihrer überengagierten Eltern genügen. Die Entwicklungsanforderungen beim Schuleintritt können differieren, je nachdem, ob der Unterricht eher lehrerzentriert oder eher geöffnet, eher formal oder eher bedürfnisorientiert, die Lerngruppe homogen oder heterogen ist. Aber wie auch immer der Unterricht gestaltet sein mag: Für die Kinder ist schulisches Lernen immer Lernen in einer Lerngruppe, und zum schulischen Lernen gehört auch, dass Kinder Anstrengungen erbringen und sich Wettbewerbssituationen stellen müssen, um sich das von der Gesellschaft geforderte Wissen und Können aneignen zu können. Kern (1951) war der Auffassung, „Schulreife“ sei das Ergebnis einer biologischen Entwicklung, welches sich bei dem einen Kind früher, beim anderen später einstelle: „Wenn wir mit der Einschulung eines Kindes warteten, bis es den geforderten Entwicklungspunkt erreicht hätte, dann wäre jedem Kind ein leichtes und erfolgreiches Beschreiten und Durchschreiten der Schullaufbahn möglich“ (Kern, 1951, S. 67). Konkrete Folge dieser mit Überzeugung vorgetragenen Position war die in den siebziger und achtziger Jahren verbreitete Praxis, die Schulreife eines Kindes mittels eines Schulreifetests zu ermitteln und es ggf. ein Jahr vom Schulbesuch zurückzustellen. Dieses Vorgehen hat sich im Laufe der Jahre als



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unangebracht und ungeeignet erwiesen: Angesichts der vergleichsweise niedrigen Reliabilität und Validität von Schulreifetests lässt sich vorhersagen, dass „ ...die Gesamtzahl der Fehlentscheidungen mit Hilfe der üblichen Einschulungstests nicht geringer ist als die Zahl der Fehlentscheidungen, die zu treffen wäre, wenn man ohne jede diagnostische Informationserhebung alle Kinder eines Schülerjahrganges einschulen würde“ (Mandl, 1978, S. 957). Bedeutsamer als das testdiagnostische Argument ist jedoch die Erkenntnis, dass ein Kind die für den erfolgreichen Schulbesuch erforderlichen Kompetenzen nicht durch Reifung erwerben kann. Vielmehr handelt es sich um erfahrungsabhängige Fertigkeiten. Es kommt zu keinem nennenswerten Zuwachs an Fertigkeiten, wenn ein Kind durch Zurückstellung ein Jahr länger im gleichen Milieu verbleibt, ohne dass Maßnahmen ergriffen würden, eventuelle Entwicklungsrückstände aufzuholen. Eine Zurückstellung führt nur dann zu einer bedeutsamen Kompetenzsteigerung, wenn sie von Angeboten begleitet ist, welche die Kinder auf den Schulbesuch vorbereiten (Tiedemann, 1977). 15.2.2.1 Organisatorische Maßnahmen Wenn der Schuleintritt eine kritische Lebensphase für alle Kinder ist, ist es angezeigt, Voraussetzungen zu schaffen, die den Kindern diesen Übergang erleichtern. Dies kann durch eine wechselseitige Passung der Angebote von Schul- und Vorschulpädagogik erfolgen, z. B. durch eine organisatorische Verknüpfung der Angebote. So werden in den Niederlanden Kinder in die Grundschule aufgenommen, wenn sie das vierte Lebensjahr vollendet haben. In den ersten beiden Schulbesuchsjahren erhalten sie Angebote, welche denen unserer Kindergartenerziehung ähneln. Da Schulkinder und (in unserer Terminologie) Vorschulkinder jedoch am gleichen Lernort im gleichen System und von dem gleichen pädagogischen Personal betreut werden, wird eine Harmonisierung der pädagogischen Konzepte erleichtert und Übergangsproblemen vorgebeugt (Kats, 1992). Ein vergleichbares Modell finden wir in England. In die „infant school“ werden Kinder eingeschult, wenn sie das fünfte Lebensjahr vollendet haben. Die pädagogischen Angebote bestehen aus einer konsequenten Mischung aus Kindergartenerziehung und Schule (Kasper, 1967; Kretschmann, 1985). Die sukzessive Einschulung der Kinder in die erste Klasse ermöglicht es, mit kleinen Lerngruppen zu beginnen und die Kinder entsprechend intensiv auf die schulischen Arbeits- und Verkehrsformen vorzubereiten. Später übernehmen die Kinder, die sich bereits länger in der Institution befinden, Modellfunktion bei der schulischen Sozialisation. Unabhängig von Systemstrukturen und dem Selbstverständnis der Institutionen können Kindergärten und Schulen auch in unserem Land auf lokaler Ebene kooperieren, und vielfach geschieht dies bereits. 15.2.2.2 Kooperation und Maßnahmen vor Ort Vorbereitung der Kinder auf die nächste Entwicklungsetappe: Eine verbreitete Praxis sind Besuche der Kindergartenkinder in der Schule einige Monate vor Schulbeginn, bei denen die Kinder auch an Unterrichtsstunden teilnehmen und so erste Eindrücke

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von dem gewinnen können, was sie erwartet. Zumindest in den letzten Monaten der Kindergartenzeit sollten Kinder vermehrt mit den schulischen Arbeitsformen vertraut gemacht werden. Vor allem Kinder, die zu Hause wenige Anregungen erhalten, bekommen so Informationen, welche sich Kinder aus privilegierteren Familien im Elternhaus beiläufig aneignen. Vorbereitung der Lehrer auf die Neuankömmlinge: Eine Passung der Angebote an die Ausgangslage des Kindes setzt voraus, dass die Lehrerin etwas über das Kind weiß, das in ihre Klasse kommen soll. Zwar werden die meisten relevanten Informationen erst in den ersten Schulwochen gewonnen werden können, es kann jedoch den Beginn in der Grundschule erleichtern, wenn die Lehrerin sich mit der Kindergärtnerin und den Eltern austauscht, um etwas über die Stärken und die Vorlieben des Kindes zu erfahren, aber möglicherweise auch über besonderen Unterstützungsbedarf. Zwar lässt sich dabei nie gänzlich ausschließen, dass auch Vorurteile weiter gegeben werden, aber ohne Kenntnis der Ausgangslage sind Über- und Unterforderungen nicht zu vermeiden. Elternberatung und -gespräche: Sensorische oder kognitive Maße zur visuellen oder auditiven Wahrnehmung können kaum mehr als 10–15 % der Leistungen im Lesen und Schreiben erklären, um nur eine der wichtigsten Komponenten des Schulerfolgs zu nennen (vgl. Brügelmann, 1984; Wendeler, 1988). Als wirksamere Prädiktoren erwiesen sich die Indikatoren der häuslichen Sprach- und Schriftkultur. So konnten Mason und McCormick (1979) bzw. Wells (1987) 30–60 % des späteren Leseerfolgs auf die vorschulischen Erfahrungen der Kinder mit Schrift und Schriftprodukten zurückführen. Als besonders bedeutsam erwiesen sich das elterliche Vorbild, d. h. Lese- und Schreibaktivitäten der Eltern, das regelmäßige Vorlesen von Geschichten, die Tatsache, dass ein Kind selber über Bücher verfügte oder dass in einer Familie viel gesprochen wurde. Solche Erkenntnisse sollten Eltern möglichst früh nahegebracht werden. Schulversagen ist häufig nicht die Folge inadäquaten Verhaltens eines Kindes in der Schule, sondern die späte Folge vertaner Entwicklungschancen in früheren Lebensabschnitten. Der Schuleintritt ist auch für viele Eltern eine Entwicklungsaufgabe. Die Vorstellung, die pädagogische Verantwortung für das eigene Kind mit einer staatlichen Institution teilen zu müssen, ist für manche Eltern nicht leicht und Ängste der Kinder sind vermutlich nicht selten Reaktionen auf die Ängste von Erziehungspersonen. Ausgiebige Informationen über Konzepte und geplante Maßnahmen sind geeignet, Besorgnisse von Eltern zu reduzieren, wobei das oft sehr gespannte Verhältnis zwischen der Elternschaft und den Institutionen auch dadurch gebessert werden kann, dass man nicht nur dann an Eltern herantritt, wenn Probleme aufgetreten sind. Familientage in der Schule, Einladung zu und Beteiligung der Eltern an Aufführungen, Sportfesten etc. verringern Spannungen und erhöhen den Informationsfluss, was wiederum einer besseren Passung der Angebote dienen kann. Eine die Übergangsproblematik berücksichtigende Anfangsphase in der Grundschule: Der Übergang wird erleichtert, wenn die Schule zunächst an die Arbeitsformen anknüpft, welche die Kinder im Kindergarten gewohnt sind. Vorschläge dazu finden sich bei Portmann (1988) und Hacker (1998), sowie wiederkehrend in einschlägigen Fachzeitschriften für Grundschulpädagogik.



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15.2.2.3 Verringerung der Zahl von Übergängen Was hier relativ ausführlich für den Schulanfang dargestellt wurde gilt im Prinzip auch für andere Übergänge, z. B. für den Übergang in die Schulformen der Sekundarstufe 1. Es gibt für die Erleichterung dieses Übergangs ebenso Empfehlungen wie für den Schuleintritt (Portmann, Wiederhold & Mitzlaff, 1989). Derartige Bemühungen erübrigen sich bei einer geringeren Zahl von Übergängen: Die Dokumentation von Schmitt (1992) belegt, dass Deutschland mit Ausnahme der Bundesländer Berlin und Brandenburg das einzige Land in Europa ist, welches die Grundschulzeit auf vier Jahre beschränkt. Andere Länder kennen eine sechs-, acht- oder gar zehnjährige Grundschule. 15.2.3 Prävention auf Unterrichtsebene Veränderte Lebensbedingungen und gesellschaftliche Entwicklungen haben u. a. zu einer erheblichen Zunahme der Heterogenität der Schülerschaft geführt: Es gibt einerseits Kinder aus einem festgefügten familiären Milieu, die wohlbehütet und optimal gefördert aufwachsen und mit einem reichen Repertoire intellektueller, sprachlicher und emotionaler Kompetenzen die Schullaufbahn beginnen. Andererseits kommen viele Kinder aus einem sozialen Milieu, in dem die wirtschaftliche Verarmung z. B. durch Arbeitslosigkeit den Alltag bestimmt und zunehmend zu einer erzieherischen Verarmung der Kinder führt, denen dadurch auch wichtige Lernvoraussetzungen fehlen. Zusätzliche Probleme ergeben sich durch die Veränderung der Familienstrukturen. Viele Kinder stammen aus unvollständigen Familien oder haben Scheidungen mit den damit verbundenen psychischen Belastungen erlebt. Ein weiterer Grund für die gewachsene Heterogenität sind schließlich die Einwanderungsbewegungen der vergangenen Jahre. Die Kinder ausländischer Herkunft sind sicher nicht schwieriger zu erziehen als die im Lande geborenen. Aber infolge ihrer unterschiedlichen Sozialisationserfahrungen und Sprachprobleme sind zahlreiche schulische Angebote für viele von ihnen unverständlich und bedeutungslos. Die Folge sind Schulprobleme. Wie bereits in Kapitel 1 dieses Handbuches ausgeführt wurde, ist die Wahrscheinlichkeit, dass Schülerinnen und Schüler mit Migrationshintergrund sonderpädagogisch förderbedürftig werden bzw. die Schule ohne Hauptschulabschluss verlassen, doppelt so hoch wie bei Lernenden deutscher Abstammung und Sozialisation. Wenn man bei der gewachsenen Heterogenität der Schülerschaft versucht, einen gleichschrittigen und verbal-abstrakten Unterricht zu organisieren, provoziert man Störungen, weil man regelmäßig einen Teil der Kinder über- und andere unterfordert. Viele Lehrerinnen und Lehrer haben aus dieser Entwicklung die Konsequenz gezogen und begonnen, ihren Unterricht anders, z. B. nach den Prinzipien des geöffneten Lernens (Klewitz & Mitzkat, 1977; Sennlaub & Meis, 1983; Kretschmann, 1985) oder der Freinet-Pädagogik (Koitka, 1977; Baillet, 1983) umzuorganisieren. Das Konzept des geöffneten Unterrichts geht von folgenden Grundannahmen aus (vgl. Hartke in diesem Band): – Alle Kinder sind verschieden, die Kinder einer Schulklasse müssen daher unterschiedliche Unterrichtsangebote erhalten.

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– Sie sollen ihr je eigenes, also mithin von Kind zu Kind verschiedenes Lerntempo realisieren können. – Sie sollen nach Möglichkeit spielend, handelnd und anschaulich lernen. – Sie sollen nicht nur aufnehmen müssen, sondern vielmehr sollen ihre kreativen Fähigkeiten ständig herausgefordert werden. – Die Kinder sollen gern zur Schule kommen, weil nur ein angstfreies Lernen die Aufrechterhaltung der kindlichen Aufnahmebereitschaft und Kreativität garantiert. – Die Schule soll eine Lernumgebung sein, d. h. schon durch ihre Ausstattung und äußere Gestaltung Erkenntniszuwächse ermöglichen. – Die Schule soll ein Lebensraum sein, in dem Kinder sich wohl fühlen und ihre Bedürfnisse befriedigen können. Kinder und Jugendliche verbinden einen wesentlichen Teil ihrer Lebenszeit in der Schule. Quantitativ wie qualitativ ist diese Zeit so bedeutsam, dass man die Schulzeit nicht allein als eine Vorbereitungszeit für das „eigentliche“ Leben ansehen kann. Geöffnete Unterrichtskonzepte sind darüber hinaus die Voraussetzung für eine integrative Unterrichtung für Lernende mit manifesten Behinderungen bzw. für die präventive Förderung von Kindern mit vorübergehenden Schwierigkeiten. Nur in einem binnendifferenzierenden Unterricht können individuelle Förderprogramme realisiert werden, ohne dass dies mit einer augenfälligen Besonderung der behinderten Schülerinnen und Schüler einherginge, welche tendenziell die Stigmatisierung der leistungsschwachen Lernenden fördert. 15.2.4 Kooperation und Binnenklima Rutter, Manham, Mortimore und Ouston veröffentlichten 1979 (dt. 1980) eine Untersuchung über die Effizienz schulischer Maßnahmen. Untersucht wurden 12 secondary schools im Stadtbezirk von London. Erfasst wurden vier Schülervariablen: Anwesenheit sowie Verhalten im Unterricht (Disziplin), Lernerfolg und Delinquenz. Diese Variablen wurden mit verschiedenen Variablen schulischer Betreuung in Beziehung gesetzt. Es handelt sich um eine Längsschnittuntersuchung, die sich über einen Zeitraum von 10 Jahren erstreckte. Wesentlich ist, dass der Entwicklungs- und Kenntnisstand der Schüler bereits beim Eintritt in die secondary school erfasst wurde. Dadurch war es möglich, anstelle der Abschlussleistungen einen Index für den Lernfortschritt zu errechnen, welcher den Einfluss der Schule weitaus besser abbildet als das absolute Leistungsniveau. In Bezug auf alle Schülervariablen erzielten diejenigen Schulen günstige Resultate, welche eine stärkere Leistungsorientierung aufwiesen. Als Indikatoren dieser Orientierung dienten die Vergabe und Kontrolle von Hausaufgaben im Umfang von 15–35 Minuten, die effektive wöchentliche Unterrichtszeit, die Ausstellung von Schülerarbeiten und die gemeinsame Curriculumplanung im Kollegium. Je weniger die Lehrerinnen und Lehrer jedoch in der zur Verfügung stehenden Zeit unterrichteten, desto größer war auch die Zahl der Störungen. „Ein Lehrer, der nach dem offiziellen Beginn der Stunde, – d. h., wenn die Schüler bereits ihre Plätze eingenommen haben, zunächst mit erheblichem Zeitaufwand die anstehenden Material- und Organisationsfragen klärt, muss vermutlich damit rechnen, dass die Aufmerksamkeit der Klasse sehr bald nachlässt und dass es im Verlauf des



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Unterrichts entsprechend häufiger zu Störungen kommt“ (Rutter et al., 1980, S. 146). Die einzelnen Lehrer wendeten für solche Fragen zwischen 2 und 16 % der Zeit auf. Schulen, an denen besonders viele Lehrkräfte in kooperative Planungsprozesse eingebunden waren, verzeichneten tendenziell höhere Anwesenheits- und niedrigere Delinquenzquoten. Ergebnisse solcher Kooperationen unter Lehrerinnen und Lehrern waren häufig integrierte, fächerübergreifende Unterrichtseinheiten. An den weniger erfolgreichen Schulen waren die Lehrer in der Unterrichtsplanung meist völlig auf sich allein gestellt: Sie unterrichteten ganz nach ihrem individuellen Plan, und kaum jemand schien sich dafür zu interessieren, was sie inhaltlich anboten und wie sie ihren Unterricht gestalteten. Wenn das pünktliche Erscheinen der Lehrer kaum oder gar nicht kontrolliert wurde, waren bei den Schülern überdurchschnittlich hohe Fehlzeiten festzustellen. Materielle Rahmenbedingungen und die Zusammensetzung der Schülerschaft erwiesen sich im Hinblick auf die Effizienz einer Schule hingegen von geringerer Bedeutung.

15.3 Maßnahmen sekundärer Prävention Die Übergänge zwischen primärer und sekundärer Prävention sind fließend. Von sekundärer Prävention kann man dann sprechen, wenn besondere Angebote für Risikokinder bereitgehalten werden bzw. wenn Schulen sich besonders organisieren, in denen erfahrungsgemäß viele Schüler unterrichtet werden, die auffällig bzw. von Behinderung bedroht sind, oder wenn Schulen in einem schwierigen Einzugsgebiet besondere Schulprogramme entwickeln und implementieren. 15.3.1 Schulkindergärten und jahrgangsübergreifende Klassen Die bildungspolitische Reaktion auf die Erkenntnis der relativen Unwirksamkeit von Zurückstellungen war die Einrichtung von Schulkindergärten und Vorklassen: Nicht schulreife Kinder sollten hier vor allem Angebote zur Steigerung ihrer sozialen Kompetenz, zum Erlernen von Arbeitstechniken und zur Ausdifferenzierung kognitiver Kompetenzen wie Wahrnehmungsfähigkeit und Sprache erhalten. Ein bisher ungelöstes Problem ist die diagnostische Feststellung fehlender Schulreife. Wegen der geringen Tauglichkeit von Tests werden in einzelnen Bundesländern zunächst alle Kinder eingeschult und erst dann, wenn sich nach einer etwa vierwöchigen Beschulungs- und Beobachtungsphase Probleme zeigen, in einen Schulkindergarten überstellt. Dies hat den Nachteil, dass Kinder aus einer Gruppierung herausgenommen werden, in der sie vielleicht schon Freundschaften geschlossen haben. Darüber hinaus bedeutet die so offenkundige Zuweisung des Status „nicht schulfähig“ für die Kinder eine Demütigung. Faust-Siehl, Garlichs, Ramseger, Schwarz und Warm (1996) sprechen sich daher für eine gemeinsame Einschulung und eine integrative Unterrichtung aller Kinder aus. Dies ist jedoch nur vorstellbar unter der Voraussetzung zieldifferenten Lernens und wirft die Frage auf, was geschehen soll, wenn ein Kind am Ende seiner Grundschulzeit nicht die Mindestanforderungen des vierten, in Berlin und Brandenburg des sechsten Schuljahres erfüllt.

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Rathenow und Vöge (1987) zufolge entsprechen die Leistungsunterschiede von Schulanfängern dem Pensum von zwei bis drei Schuljahren. Angesichts definierter Lernziele sind Schüler mit ungünstiger Lernausgangslage gehalten, sich nicht nur den Stoff der vor ihnen liegenden Schuljahre anzueignen, sondern darüber hinaus die Rückstände aufzuholen, die sie gegenüber ihren begünstigteren Mitschülern haben – im Weltwissen, in der Sozialkompetenz, der Sprache usw. Bei der wachsenden Bedeutung, welche das Vorwissen im Laufe der Schulzeit erlangt – je mehr eine Person bereits über einen Sachverhalt weiß, desto leichter fällt es ihr sich neues Wissen anzueignen – ist dies eine Anforderung, die kaum zu bewältigen ist, zumindest dann nicht, wenn das Zeitkontingent für alle Lernenden das gleiche ist. Abhilfe schaffen könnte eine Verlängerung der Lernzeit, wobei es nicht beliebig ist, wie diese Verlängerung erfolgt. Die gängigste Form der Lernzeitverlängerung ist das Sitzenbleiben. Auf die relative Unwirksamkeit der Klassenwiederholung hat bereits Tiedemann (1977) hingewiesen. Auch die Betreuung der Kinder in einem Schulkindergarten bedeutet eine Lernzeitverlängerung, die trotz aller vorgetragener Bedenken bei geeigneten pädagogischen Angeboten Schwierigkeiten vorbeugen kann. Gezielter noch als im Kindergarten kann Kindern durch spielerisches Heranführen an schulische Lerninhalte wie durch die Vermittlung von Weltwissen und Arbeitstechniken die Bewältigung der schulischen Entwicklungsaufgaben erleichtert werden. Eine elegante Lösung der Verlängerung der Lernzeit bilden jahrgangsübergreifende Klassen, die nach dem Prinzip der Jenaplan-Pädagogik (Dietrich, 1991; Skiera, 1985) organisiert sind. Die Kinder verbleiben zwei oder drei Jahre in der gleichen Lerngruppe. Bei einem Zweijahres-Modell verlässt jeweils die Hälfte der Kinder die Gruppe, um in die nächst höhere zu wechseln, und macht Platz für Neuankömmlinge, die dann eine gleich große Gruppe von Mitschülern vorfindet, die in dieser Gruppe schon ein Jahr lang unterrichtet wurden. Einem Kind mit besonderem Förderbedarf könnten in solch einer Klasse für die Bewältigung des Lernstoffs von zwei Schuljahren drei Jahre zugestanden werden. Durch Individualisierung kann auf die besonderen Bedarfe eines Kindes differenziert eingegangen werden, namentlich dann, wenn zusätzliche Stunden für eine sonderpädagogische Förderung zur Verfügung stehen. 15.3.2 Integrative Regelklassen Ein Präventionsangebot besonderer Art stellen Integrative Regelklassen dar. Ausgehend von der Beobachtung, dass Integrationsbemühungen nur vergleichsweise selten Kinder erreichen, die Förderschulen für Lernbehinderte, Schulen für Verhaltensauffällige oder Sprachheilschulen besuchen, richtete Hamburg integrativ arbeitende Klassen ein. Bei entsprechender Ausstattung aller Jahrgänge entstehen auf diese Weise „integrative Regelschulen“. Durch eine pauschale Zuweisung von 50 % zusätzlicher Planstellen für pädagogisches Personal sollen die Klassen bzw. Schulen so integrationsfähig werden, dass sich eine Überweisung von Kindern in die o. a. Sonderschulen erübrigt. Die Vorzüge dieses Modells bestehen darin, dass die zahlenmäßig größten Problemgruppen von Schülern durch integrative Angebote erreicht werden und dass eine Zuweisung von Ressourcen ohne administrative Etikettierung der zu fördernden Kinder erfolgt. Allerdings haben sich die Erwartungen, die an dieses Modell gerichtet wurden, nicht



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durchgehend erfüllt. Zwar ist es möglich, die zu Beginn der Einschulung vorhandene Heterogenität der Schülerschaft während der gesamten Grundschulzeit zu erhalten. Die Quote der Kinder, die nach der Grundschulzeit in eine Sonderschule überwiesen werden, entspricht jedoch der Größenordnung von Schulen ohne besonderen Integrationsauftrag. Auch die Schulleistungen und das subjektive Wohlbefinden der Schüler lagen in diesen Klassen nicht über dem von Kontrollgruppen – Indikatoren dafür, dass dieses Modell noch verbesserungsbedürftig ist (Hinz et al., 1998). 15.3.3 Schulen mit familienergänzenden Aufgaben Maßnahmen primärer Prävention stoßen an Grenzen, wenn Eltern ihre Kinder nicht in ausreichendem Maße versorgen und betreuen und wenn schädigende Einflüsse, welche die Kinder außerhalb der Schule erfahren, die positiven Wirkungen des Schulvormittags zunichte machen. In vielen Familien häufen sich die durch den gesellschaftlichen Wandel entstandenen Probleme. Manche Schulen haben überproportional viele Kinder aus solchen Familien zu betreuen. Für Schulen in sozialen Brennpunkten besteht die Notwendigkeit, geeignete Entwicklungsumwelten, welche ein Gegengewicht zu ungünstigen häuslichen Bedingungen darstellen, zu schaffen; Bedingungen müssen hergestellt werden, die geeignet sind, Defizite in der Primärsozialisation zu kompensieren. Konkrete Formen solcher Entwicklungsumwelten können „Sozialpädagogische Schulen“ (Ertle, 1989), Ganztagsschulen (Böttcher, 1992) oder verlässliche Halbtagsschulen mit familienergänzender Betreuung sein: – Die Lehrerinnen nehmen vermehrt sozialpädagogische Aufgaben wahr und werden von Sozialpädagoginnen unterstützt. – Sonderpädagogische Angebote im Regelunterricht sollen der Entstehung schulischer Lern- und Entwicklungsstörungen vorbeugen, bzw. dazu dienen, Störungen abzubauen. – Die Schule bietet eine geregelte zeitliche Struktur. Statt wechselnder Schulanfänge und wechselndem Schulschluss wird die Schule als ganze Halbtagsschule oder als Ganztagsschule organisiert. – Für Kinder berufstätiger Eltern wird eine Frühbetreuung ab 7.00 Uhr angeboten. Für alle Kinder erfolgt ein Betreuungsangebot bis mindestens 13.00 Uhr. – Um unpünktliche Kinder nicht schon am Schulanfang zu diskriminieren, beginnt der Unterricht mit einer Gleitphase zwischen 8.00 und 9.00 Uhr. – Für Kinder, denen es außerschulisch an geeigneten Angeboten fehlt, wird eine Nachmittagsbetreuung organisiert. Die Weiterentwicklung zu einer Ganztagsschule ist sinnvoll. – Für Kinder, die ohne Frühstück zur Schule kommen, wird eine Mahlzeit angeboten, wie überhaupt auch in den Essenspausen für ein gesundes Ernährungsangebot gesorgt wird. Auch ein Mittagessen für bedürftige Kinder ist vorzusehen. – In den unterrichtsfreien Schulstunden erfolgt ein Freizeitangebot. – Die Kinder werden regelmäßig medizinisch untersucht. – Durch schulnahe Sozialarbeit wird ein enger Kontakt zwischen den Schulen und den Familien gehalten und die Familien werden darin unterstützt, ihre Lebensverhältnisse zu gestalten (Fatke & Valtin, 1997).

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15.3.4 Ganztagsunterricht Eine konsequente Fortführung der Idee, Kindern förderliche und anregungsreiche Lebensräume zu bieten, ist die Einrichtung von Ganztagsschulen. Im internationalen Vergleich befindet sich Deutschland mit seinem Schulsystem, das fast ausschließlich auf Halbtagsschulen beruht, in einer Sonderrolle. Im europäischen und außereuropäischen Ausland sind Ganztagsschulen so verbreitet, dass es dafür keinen eigenen Begriff gibt. Dort bedeutet „Schule“ ganz selbstverständlich, dass Schülerinnen und Schüler auch am Nachmittag unterrichtet und betreut werden. Mit dem Investitionsprogramm „Zukunft Bildung und Betreuung“ (IZBB) unterstützt die Bundesregierung seit 2003 die Länder beim Auf- und Ausbau von Ganztagsschulen. Ganztagsunterricht ist in den europäischen Nachbarländern nicht gleichbedeutend mit einer höheren Zahl von Unterrichtsstunden. So ist der Umfang der Unterrichtsstunden an englischen Grundschulen keineswegs höher als in deutschen Grundschulen. Die nichtunterrichtlichen Anwesenheitszeiten der Lernenden verteilen sich auf gemeinsame Mahlzeiten, Arbeitsgemeinschaften oder betreute Freizeitangebote. Die Unterrichtsverpflichtungen der Lehrkräfte liegen mit Umfängen von 22 – 25 Stunden größtenteils sogar unter der deutscher Lehrerinnen und Lehrer. Ihre Präsenzzeiten verteilen sich über die Unterrichtstätigkeiten hinaus auf die Anleitung der o.a. Freizeiten und Arbeitsgemeinschaften. Darüber hinaus verwenden z. B. englische Lehrkräfte einen großen Teil der Präsenzzeiten für professionelle Kommunikation und Kooperation, etwa für die schulinterne Curriculumgestaltung, die gemeinsame Planung von Projekten oder den Austausch über Lernende mit besonderen Förderbedarfen. Für Maßnahmen primärer und sekundärer Prävention bietet die Ganztagsschule wesentlich bessere Voraussetzungen als der Halbtagsunterricht, erst recht für die Förderung von Lernenden mit sonderpädagogischem Förderbedarf. So bezeichnet Ellger-Rüttgardt (2003, S. 62) es als einen Skandal, dass Schulen für Lernhilfe angesichts ihrer umfangreichen sozialpädagogischen Aufgaben noch immer größtenteils als Halbtagsschulen organisiert sind. Ganztagsschulen bieten durch ihr Mehr an Zeit bessere Voraussetzungen für die Lösung zentraler Probleme in unserem Schulsystem. Sie ermöglichen eine individuelle Förderung, die auf die unterschiedlichen Stärken, Interessen und Voraussetzungen des einzelnen Kindes eingeht. 15.3.5 Die Unterstützung von Eltern bei ihrer Erziehungsarbeit Bei der Frage nach den Ursachen der wenig vorteilhaften PISA-Ergebnissen wiederholt sich, was in solchen Fällen häufig geschieht: Jede der an der Erziehung und Unterrichtung der Lernenden beteiligten Institutionen macht die Vorgängereinrichtung für die Probleme verantwortlich: die weiterführenden Schulen die Grundschule, die Grundschule den Kindergarten und alle gemeinsam die Eltern, die nach einhelliger Meinung der Bildungsinstitutionen eine zu geringe Erziehungsleistung erbringen. Tatsächlich kann sich niemand von den beteiligten Personen und Institutionen von einer Mitverantwortung frei sprechen. Grundschule und weiterführende Schulen haben den Auftrag, die Bildung der Kinder fortzusetzen, die Eltern und Kindergarten im Vorschulalter angelegt haben. Die



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Vorschuleinrichtungen haben die Erziehungsarbeit der Eltern zu ergänzen und in den Grenzen ihrer Möglichkeit auch zu kompensieren. Die Erstverantwortung liegt bei den Eltern. Es wäre weitgehend eine Scheinlösung, lediglich an Eltern zu appellieren, sich auf ihre Erziehungspflichten zu besinnen. Denn gerade bei den am stärksten gefährdeten Kindern liegt es nicht nur an mangelndem Elternwillen, sondern auch am fehlenden Können. In England und den USA werden für bildungsferne Familien sog. „family literacy“ Programme aufgelegt. Die Förderung setzt nicht direkt beim Kind an, sondern bei den Eltern. Schon im Vorschulalter der Kinder werden Eltern dazu bewegt, sich selber im Lesen und Schreiben weiterzubilden und es wird ihnen nahe gebracht, wie wichtig es ist, dass sie mit ihren Kindern sprechen, ihnen Geschichten vorlesen, sie auf die Schrift aufmerksam machen oder die Kinder bekräftigen, wenn sie Interesse am Lesen und Schreiben zeigen. Es konnte empirisch belegt werden, dass dies die Chancen der Kinder in der Schule verbessert (Yates, 2001; Nickel, 2004). Das HIPPY-Programm (Home Instruction Program for Preschool Youngsters), in Israel zur Integration von Migranten konzipiert, dient sowohl zur Integration von Kindern kultureller Minderheiten als auch zur Unterstützung sozial benachteiligter Kinder. Ziel ist die Förderung der Lernfähigkeit und dabei besonders der Schulung kognitiver Fähigkeiten. Außerdem soll das Programm auch zur Entwicklung und Intensivierung der Mutter-Kind-Beziehung beitragen. In einem zweijährigen Training lernen die Mütter zu Hause, wie sie ihr Kind spielend fördern können. Die Trainerinnen haben den gleichen kulturellen Hintergrund wie die Mütter. In 14-tägigen Zusammenkünften lernen die Mütter neue Materialien kennen und tauschen sich aus. Bislang wird dieses Programm als hochwirksam und effizient eingeschätzt (Kiefl & Pettinger, 1997).

15.3 Schluss Durch Präventionsmaßnahmen soll erreicht werden, dass Schwierigkeiten von Kindern und Jugendlichen, die von Behinderung bedroht sind, eskalieren und zu einer Sonderschulüberweisung führen, nicht zuletzt weil eine Sonderbeschulung keineswegs eine Garantie für größere Lernzuwächse ist (Kniel, 1979). Wie Haeberlin, Bless, Moser und Klaghofer (1990) gezeigt haben, sind die Lernfortschritte bei Kindern mit manifesten Lernbeeinträchtigungen, die ohne besondere Fördermaßnahmen in Regelschulen verbleiben, größer als bei Schülern, die bei vergleichbaren Problemen an Sonderschulen unterrichtet wurden. Allerdings hatten diese Schüler größere emotionale Probleme. Angesichts der Tatsache, dass es für die Schüler weder besondere Angebote gab noch zusätzliche Ressourcen für die Schulen, sind die Ergebnisse keineswegs entmutigend. Die bloße Vermehrung von Ressourcen reicht, wie die Erfahrungen mit den integrativen Regelklassen zeigen, offenbar nicht aus, um eine nachhaltige Präventionswirkung zu erzielen. Offenbar müssen zu einer hinreichenden Ressourcenausstattung begründete Diagnose- und Förderkonzepte hinzukommen. Die von Rutter et al. (1980) vorgestellten Ergebnisse lassen hoffen, dass mit Schulprogrammen und pädagogischer Konsensbildung an einem Schulstandort weitere Fortschritte erzielt werden können.

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Prävention

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Prävention

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Teil V

Interventionen

Einführung Ulrich Schröder klärt in seinem Beitrag zunächst den Begriff der Metakognition samt seiner sonderpädagogischen Relevanz, um dann die Auffälligkeiten von Schülerinnen und Schülern mit Lernbeeinträchtigungen auf dem Gebiet metakognitiven Verhaltens bei schulischen Leistungsanforderungen aufzuzeigen. Es werden Möglichkeiten der Abhilfe, also der Förderung Lernbehinderter in Metakognition, angesprochen. Schließlich erfolgt eine Fokussierung auf die Unterrichtstätigkeit von Lehrpersonen. Trainingsverfahren für Einzelpersonen oder „Minigruppen“ werden eher am Rande behandelt. Gerhard Büttner und Marcus Hasselhorn sprechen in ihrem Beitrag zwei bedeutsame Bereiche an, in denen wissenschaftlich evaluierte Maßnahmen zur Förderung von Lernund Gedächtnisleistungen bei stark lernbeeinträchtigten Kindern und Jugendlichen entwickelt worden sind: Vermittlung von spezifischen deklarativen Wissensinhalten und Förderung selbstregulatorischer Lernkompetenzen. Die bisherigen Erfolge zur Vermittlung von schulrelevantem Faktenwissen sind sehr überzeugend. Es gibt zahlreiche internationale Laborstudien zur Wirksamkeit von Mnemotechniken bei Kindern mit generalisierten Lernschwierigkeiten, die durch Evaluationsstudien in der Schule ergänzt worden sind. Im deutschen Sprachraum fehlen bislang solch schulnahe Interventionsstudien bei Lernbehinderten. Beim derzeitigen Stand der Forschung scheint eine besonders erfolgreiche Förderung der Lern- und Gedächtnisleistungen Lernbehinderter dann möglich zu sein, wenn Interventionen gewählt werden, in denen ein gezieltes und informiertes Einüben bereichsspezifischer Strategien und deren metakognitiver Regulation erfolgt. Heutzutage findet in Schulen keinerlei systematische Denkerziehung mehr statt. Man verlässt sich darauf, dass die geistigen Fähigkeiten hinreichend in der Auseinandersetzung mit dem regulären Unterrichtsstoff entwickelt werden. Zentrale These des Beitrags von Karl Josef Klauer ist aber, dass damit vielen Kindern ein Schaden zugefügt wird, denn man enthält ihnen so die Möglichkeit vor, ihre Kompetenzen besser zu entwickeln, um dadurch mehr und effektiver zu lernen. Er zeigt, dass das Training des induktiven Denkens aus seiner Sicht nachweislich nicht nur die intellektuelle Kapazität fördert, sondern in noch stärkerem Maße das Lernen in der Schule. Von daher bietet es sich an zu prüfen, ob die Strategie nicht systematisch in Schulen gelehrt werden sollte, zumal entsprechendes Material zur Verfügung steht. Michaela Greisbach beschäftigt sich mit der Förderung der Wahrnehmung. Nach der Definition des Gegenstandbereichs stellt sie wichtige Tests und empirisch evaluierte Förderprogramme aus diesem Gebiet dar. Die Autorin kommt zu dem Ergebnis, dass der Begriff der Wahrnehmungsstörung in der Regel eine unspezifische, nicht näher differenzierte Diagnosekategorie kennzeichnet, die kaum einen sinnvollen Zugang bietet. Der Begriff der Wahrnehmungsstörung bietet für die in der Praxis zu beobachtenden Auffälligkeiten von Kindern weder einen ausreichenden Beschreibungshintergrund noch liefert er überprüfbare Hypothesen über die Ursachen ihrer abweichenden Verhaltensweisen. Eine genaue Abgrenzung zu anderen Störungsbildern gibt es nicht. Im Gegenteil: Sie erinnert in weiten Teilen an die lange Zeit übliche Diagnose einer minimalen cerebralen

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| Teil V: Interventionen Dysfunktion. Am Beispiel der visuellen Wahrnehmungsförderung wird aufgezeigt, dass die Erwartungen an nicht triviale Effekte hinsichtlich einer Verbesserung der Schulleistungen (und insbesondere der Leseleistungen) nicht erfüllt werden können. Dietrich Eggert und Christina Reichenbach betonen in ihrem Beitrag, dass in verschiedenen Effektivitätsstudien nachgewiesen wurde, dass die Wirkungen einer psychomotorischen Förderung vorwiegend im Bereich einer ganzheitlichen Persönlichkeitsentwicklung und einer Stabilisierung der Persönlichkeit in ihrer Beziehung zum Lebenskontext liegen. Die beiden Autoren beschreiben dann ausführlich Wirkfaktoren psychomotorischer Förderung, Methoden einer psychomotorischen Förderung sowie Grundzüge einer ökosystemischen Psychomotorik. Sie stellen auch fest, dass bei zunehmendem Alter des Kindes immer weniger in kognitiven oder sprachlichen Bereichen eine direkte Einwirkung von der Motorik aus stattfinde; selbst eine direkte Bewegungsförderung verbessere nicht immer auch die Motorik. Nachdem Kerstin Naumann und Gerhard Lauth zunächst pädagogische, psychologische sowie medizinische Determinanten von Aufmerksamkeit dargestellt haben, beschäftigen sie sich schwerpunktmäßig mit der unterrichtsintegrierten Förderung von Aufmerksamkeit. Wichtigen Komponenten sind hier die Vermittlung grundlegender Kenntnisse, die Strukturierung von Lern- und Unterrichtssituationen durch den Lehrer, die Verbesserung der Lernaktivitäten des Kindes, die Verhaltensmodifikation (Kontingenzmanagement) sowie die Zusammenarbeit mit den Eltern. Die vorliegenden Programme haben insgesamt überwiegend den Charakter von kindzentrierten Trainings, die im schulischen Kontext durchgeführt werden. Was noch weitgehend aussteht, ist hingegen ein breit angelegtes, didaktisch gut aufbereitetes und standardisiertes Trainingsprogramm zur Lehrerfortbildung, das die Lehrkräfte befähigt, sowohl therapeutische Maßnahmen (etwa die Vermittlung von Selbstinstruktionen) im Unterricht aufzugreifen als auch den laufenden Unterricht für betroffene Kinder förderlicher zu gestalten (etwa durch strukturierende Maßnahmen, Einführung von Ritualen, geeignete Sitzplatzwahl etc.). In seinem Beitrag klärt Johann Borchert zunächst einige wichtige Begriffe. Im schulischen Kontext werden nämlich in der sonderpädagogischen Psychologie die Begriffe Leistungs- und Lernmotivation, von der Sonderpädagogik eher der Terminus Interesse favorisiert, wenn es um Motivation geht. In Anlehnung an Rheinberg und Krug ist allen Begriffen gemeinsam, dass Personen Ziele vor Augen haben, die erreicht werden sollen, sich deshalb bemühen und anstrengen und sich durch andere Reize nicht ablenken lassen. Der Autor gibt dann einen Überblick über Programme zur Motivationsförderung und zum Attributionstraining. Dabei versäumt er nicht, die empirische Evaluation solcher Trainingsmaßnahmen in den Mittelpunkt zu rücken.

16 Förderung der Metakognition Ulrich Schröder Wenn man im Internet einen Suchauftrag mit dem Stichwort „Metacognition“ erteilt, muss man den Eindruck haben, dass man zumindest in den USA auf ein Modethema – auch in der pädagogischen Landschaft – gestoßen ist. In Deutschland lässt sich dieses Ergebnis, jedenfalls was die (sonder)pädagogische Rezeption angeht, nicht bestätigen, obwohl in der so vielzitierten PISA-Erhebung der OECD ein Großteil der Resultate in das Metakognitionskonzept einzuordnen ist. Im vorliegenden Beitrag ist jedoch zunächst der Begriff „Metakognition“ samt seiner sonderpädagogischen Relevanz zu klären, sodann sind die Auffälligkeiten von Schülerinnen und Schülern mit Lernbeeinträchtigungen auf dem Gebiet metakognitiven Verhaltens bei schulischen Leistungsanforderungen aufzuzeigen, bevor Möglichkeiten der Abhilfe, also der Förderung Lernbehinderter in Metakognition, angesprochen werden. In diesem dritten Teil erfolgt eine Fokussierung auf die Unterrichtstätigkeit von Lehrpersonen; Trainingsverfahren für Einzelpersonen oder „Minigruppen“, wie sie im Unterricht mit Lernbehinderten kaum realisierbar sind, werden dementsprechend höchstens am Rande behandelt.

16.1 Zum Begriff der Metakognition Am Zustandekommen von Leistungen, wie sie in Schulen gefordert werden, sind kognitive Funktionen ganz wesentlich beteiligt: aktive, selektive Wahrnehmung, Einsatz von Gedächtnis und Wissen, Analysieren, Vergleichen, Klassifizieren usw. Aber es kommen weitere psychische Aktivitäten hinzu, außer Gefühl, Motivation u. a. auch solche – und die sind hier Gegenstand –, die sozusagen „hinter“ den kognitiven Funktionen stehen: Wissen über das eigene Vermögen, die Aufgabe zu lösen, und über die dafür aufzubringende Zeit und Anstrengung z. B. oder Vor‑Überlegungen über die Herangehensweise oder Strategie, oder ein ständiges ‚Aufpassen‘, ob der Weg bisher der richtige war, oder am Schluss die kritische Überprüfung dessen, was herausgekommen ist. Für diese Aktivitäten, die sich nur begrenzt an beobachtbarem Verhalten ablesen lassen, wurde in den siebziger Jahren der Begriff „Metakognition“ geprägt (Kluwe, 1981; Flavell, 1984; Brown, 1984; Hasselhorn & Mähler, 1990; Schröder, 2000a, 2000b, S. 129 ff.). Dabei sind zwei Komponenten zu unterscheiden: einerseits das Wissen über Kognitionen und anderseits die als „exekutive Prozesse“ bezeichneten Funktionen, mit denen eine „Regulation“ der kognitiven Funktionen bewirkt wird. Zur ersten Art von Metakognition zählt außer dem oben genannten Wissen insbesondere die Kenntnis von Strategien zur Aufgabenlösung, dabei auch, wo und wann sie einzusetzen sind. Solches Wissen über Kognitionen im Allgemeinen und über die eigenen Kognitionen im Besonderen entwickelt sich erst allmählich, bleibt dann aber ziemlich stabil. Es ist in der Regel bewusst und sprachlich formulierbar (Brown, 1984, S. 63), damit aber auch abhängig von der Ausdrucksfähigkeit der Kinder. Im Falle der Lernbehinderten, deren „typische“ Sprachform für die Beschreibung innerpsychischer Vorgänge nicht günstig ist, muss hier mit Benachteiligungen gerechnet werden.

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| Teil V: Interventionen Die „exekutiven Prozesse“ oder Regulationen sind aus diesem Grunde und auch, weil sie den Abläufen des Lernens und der pädagogischen Interventionen näher sind, von größerem Interesse und stehen als die sonderpädagogisch bedeutsamere Komponente im Folgenden im Mittelpunkt. Es geht bei ihnen um die In-Gang-Setzung und Ausführung der Bewältigungsstrategien, um das Wie des Zustandekommens von Textverständnis (vgl. Walter in diesem Band) und Textproduktion oder von Lösungen für Probleme aus dem Alltag oder aus der Mathematik (vgl. jeweils Werner und Scherer in diesem Band). Dabei lassen sich wiederum drei hauptsächliche Teilbereiche unterscheiden: das Planen, die Überwachung während des Ausführens und die Kontrolle oder Evaluation am Schluss: – Am Beginn des Lösungs- oder Verstehensvorganges gehören zur Planung Fragen wie: Was ist meine Aufgabe, worin besteht sie? Lässt sie sich in Teilaufgaben zerlegen und, wenn ja, in welche (Aufgabenanalyse)? Welche geeigneten Vorgehensweisen oder Strategien kenne ich schon dafür (Strategieauswahl) – oder muss ich vielleicht selber erst einen Weg der Bewältigung (er)finden? Welches Vorwissen brauche ich und muss ich aktivieren? Kann ich sofort losprobieren oder sollte ich eher abwartend noch mehr Einblick in die Aufgabenstellung anstreben? Wo und wie setze ich an? – Die „Überwachung“ unterzieht alle kognitiven Abläufe der aufmerksamen Betrachtung wie auf einem Kontroll-Bildschirm („monitoring“): Wird die gewählte Herangehensweise oder Strategie umgesetzt und eingehalten? Bewährt sie sich? Wie komme ich weiter? Wie setze ich mein Vorwissen ein? Gibt es Stellen, auf die mehr Aufmerksamkeit, Mühe und/oder Zeit verwandt werden müssen, und wo sind sie? Erweist sich die gewählte Strategie als geeignet oder muss ‚umdisponiert‘ werden? Ändern sich vielleicht sogar während der Bearbeitung die Bedingungen der Aufgabenlösung (Revidieren und Umplanen)? – Schließlich ist zu kontrollieren, wie das Ergebnis der Bemühungen ausgefallen ist. Diese Evaluation erfolgt zwar am Schluss, sollte aber besser in den gesamten Lösungsprozess integriert sein (und fällt so teilweise mit dem monitoring zusammen). Überhaupt ist festzuhalten, dass Planen, Überwachen und Evaluieren nicht in starr linearer Abfolge zu denken sind, sondern jederzeit ineinander greifen können, wenn es die Bedingungen der Aufgabe und der jeweilige Stand des Lösungsprozesses erfordern. So können Revisionen der Planung und Kontrollprozesse im gesamten Ablauf wiederholt auftreten. Anfänge der exekutiven Prozesse gehen schon in die frühe Kindheit zurück, sie entwickeln sich beim Erfüllen kognitiver Anforderungen. Anderseits sind sie von situativen Bedingungen wie dem Sachgebiet oder der Schwierigkeit der Aufgabenstellung abhängig, sind also nicht unbedingt stabil. Sie entgehen oft ganz der Selbstbeobachtung und sind daher nicht immer willkürlich verfügbar und schwer sprachlich formulierbar, jedoch auch nicht so abhängig von der sprachlichen Ausdrucksfähigkeit wie das metakognitive Wissen (vgl. Brown, 1984, S. 63 f.; Butler, 1998, S. 283). Die Unterscheidung von Wissen über Kognitionen einerseits und exekutiven Prozessen, also Steuerung, Regulation der Kognitionen, anderseits, bedeutet nicht, dass man übersehen darf, wie beide Komponenten sich gegenseitig beeinflussen. So fördern exekutive Prozesse den Erwerb von Wissen, und umgekehrt bildet metakognitives Wissen die Grundlage für eine angemessene Auswahl von Strategien.



Kapitel 16: Förderung der Metakognition | 273

Wenn Schülerinnen und Schüler Metakognition einsetzen, hat das sicher auch mit Überzeugungen der „Selbstwirksamkeit“ (self-efficacy) und mit „Kausalattributionen“ zu tun, mit Überzeugungen also, eigene Kompetenz und Anstrengung könnten positive Wirkungen bei den Lösungsbemühungen haben, bzw. umgekehrt, Lösungserfolge seien auf den eigenen Einsatz zurückzuführen. Mit Hilfe des „Allgemeinen Strategiewissens“ – des Wissens, dass Anstrengung zum strategischen Lernen notwendig und dass dieses strategische Lernen leistungsfördernd ist – hat Borkowski ein um motivationale Bereiche erweitertes Konzept der Metakognition eingeführt, das große Verbreitung erfahren hat (Borkowski & Turner, 1990; Borkowski & Muthukrishna, 1992; vgl. Butler, 1998, S. 284 ff.). Hier kann darauf nicht weiter eingegangen werden; stattdessen wird auf den einschlägigen Handbuchbeitrag zur Motivation verwiesen (vgl. Borchert in diesem Band). Da die Metakognition in die kognitiven Funktionen eingebettet ist (vgl. Paris & Winograd, 1990), ist es zuweilen kaum möglich, zwischen der Kognition und der sich darauf beziehenden Metakognition zu unterscheiden. Dies muss jedoch weder die inhaltliche Relevanz des theoretischen Ansatzes noch seine unterrichtliche Nutzung in Frage stellen.

16.2 Metakognition bei lernbehinderten Schülerinnen und Schülern Schülerinnen und Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf im Bereich schulischen Lernens weisen im Vergleich mit durchschnittlichen Kindern eklatante Schwächen im Einsatz der Metakognition, insbesondere in den exekutiven Prozessen des Planens, Überwachens und Kontrollierens, auf (Neukäter & Schröder, 1991; Schröder & Neukäter, 1993; den deutschen Daten können solche aus anderen Ländern mit vergleichbaren Schülerpopulationen zugesellt werden; vgl. Brown, 1984; Campione, 1984; Klauer & Lauth, 1997; Lauth, 1998; Schröder, 2000a, 2000b). Daher könnte man durchaus erwägen, auf diesen Gebieten die deutlichsten Kennzeichen dafür zu suchen, was mit „Lernbehinderung“ benannt wird. Natürlich bedeutet das nicht, dass die im Folgenden genannten Auffälligkeiten jedes lernbehinderte Kind betreffen oder dass betroffene Kinder alle Auffälligkeiten zeigen müssen; eine Prüfung jedes Einzelfalles ist unabdingbar. Beim metakognitiven Wissen sind in der Regel geringere Kenntnisse über die eigenen Kognitionen festzustellen. Vor allem kennen die Kinder weniger Strategien zum Verstehen und Aufgabenlösen, sodass sie entweder wegen dieses Mangels sofort scheitern oder aber beim Auftreten von Schwierigkeiten nicht wissen, wie sie diese überwinden können, da sie für eine nicht erfolgreiche Lösungsstrategie keine Alternative verfügbar haben. Bei Bedarf spontan selbst geeignete Strategien zu erfinden, gelingt ihnen meist nicht. Auch die Anwendung bekannter Strategien bedarf oft äußerer Anstöße, vor allem, wenn diese nicht in dem engen Kontext, in dem sie erworben wurden, eingesetzt werden müssten, sondern flexibel und generalisiert. Was Auswahl und Einsatz geeigneter Strategien angeht, muss also insgesamt mit Einschränkungen gerechnet werden. Dazu kommt noch, dass diese Kinder auch auf Strategien, die sie eigentlich beherrschen, oft nicht zugreifen können und sie nicht aufgabengerecht zu aktivieren vermögen.

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| Teil V: Interventionen Die am Beginn eines kognitiven Prozesses erforderliche Analyse der Problemstellung und ihrer wesentlichen Variablen, z. B. der Schwierigkeit oder der Aufgabenstruktur, kann meist nicht effektiv geleistet werden. Dasselbe gilt für die Notwendigkeit, sich Rechenschaft über die Ziele der in Angriff zu nehmenden Aufgabe zu geben; so gelingt es ihnen z. B. kaum, die Art des Lesens (rasches Überfliegen oder gründliches Durchlesen) dem Zweck der Lektüre anzupassen. Kinder mit Lernschwierigkeiten machen sich ihr Wissensniveau, d. h. was sie wissen und was sie nicht wissen, nicht bewusst (Butler, 1998, S. 291). Damit zusammenhängend „fragen [sie] vorhandenes Vorwissen in geringerem Maße ab“ (Lauth, 1998, S. 212). Im Laufe der Lösungs- oder Lernprozesse mangelt es generell an Selbst-Regulation, an der ständigen Überwachung und Überprüfung des eigenen Vorgehens. Angewandte Strategien werden nicht immer genau befolgt, deren gegebenenfalls erforderliche Modifizierung oder Revidierung gelingt kaum. Darunter leidet nicht nur die frühzeitige Entdeckung von Irrwegen und Fehlern, sondern auch die Anpassung an veränderte Aufgabenbedingungen, z. B. an erhöhte oder verminderte Schwierigkeit. Besonders auffällig ist die Nutzung der zur Verfügung stehenden Zeit: In der Regel sind die Lernbehinderten schneller ‚fertig‘ als Grundschüler (Neukäter & Schröder, 1991; Schröder & Neukäter, 1993; vgl. Butler, 1998), und es gelingt ihnen meist nicht, die Zeit in differenzierter Weise einzuteilen – leichtere Teilprozesse rascher zu durchlaufen, schwierigeren längere Zeit zu widmen. Ebenso bereitet es große Schwierigkeiten, die Intensität der Bemühungen den Anforderungen entsprechend abzustufen. Probleme bereitet es insgesamt, sich Rechenschaft über den bisher zurückgelegten Lern- bzw. Lösungsweg zu geben und so den jeweiligen Stand des Lernens zu überwachen. Und schließlich wird die ständig, aber besonders am Schluss obligatorische Kontrolle nur unzureichend ausgeübt und erfährt keine Rückbindung auf den eingeschlagenen Lösungsweg und mögliche Fehlerquellen. Auf die Dauer verursacht der geringe Einsatz von Metakognition bei den lernbeeinträchtigten Schülerinnen und Schülern ein Stagnieren in der Lern- und Denkentwicklung (vgl. Klauer & Lauth, 1997). Die aufgezählten Schwächen und Diskrepanzen gegenüber durchschnittlich Lernenden fallen umso deutlicher aus, je komplexer die Aufgabenstellung ist, je höherrangig demnach die erforderlichen Metakognitionsleistungen sind. Es ist wichtig darauf hinzuweisen, dass entsprechend dem Metakognitionsansatz selbst die obige „Negativ-Liste“ nicht zu einer globalen negativen Qualifizierung der Problemlöse- oder Lernfähigkeit Lernbehinderter führen muss, sondern im Gegenteil erlaubt, die im Einzelnen und differenziert bezeichneten Defizite als sonderpädagogische Förderungsbedürfnisse zu interpretieren und zu versuchen, sie durch eine entsprechende fördernde Intervention anzugehen.

16.3 Zur Anbahnung und Steigerung metakognitiver Aktivitäten bei Lernbehinderten Wie schon einleitend bemerkt, sollen im Folgenden Trainingsversuche zurücktreten zugunsten von Möglichkeiten der Förderung metakognitiver Aktivitäten im üblichen Unterricht. Es soll also um Metakognitionsförderung mit didaktischen Mitteln gehen.



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Anderseits hielte ich es für überzogen, von einer „metakognitiven Didaktik“ (Ianes, 1996; De Beni, 1999) zu sprechen. Es kann auch „nicht [darum gehen], Metakognition als ein Lehrziel im Curriculum zu etablieren“ (Paris & Winograd, 1990, S. 7). Die Frage ist vielmehr, wie metakognitive Ansätze in die alltägliche unterrichtliche Arbeit integriert werden können, wie der Unterricht bei Lernbehinderten in den vorgegebenen Lernbereichen so gestaltet werden kann, dass sich der Effekt gesteigerter und erfolgreicher metakognitiver Aktivitäten einstellt (vgl. Taylor, Sternberg & Richards, 1995, S. 62-69). Freilich ist in Kauf zu nehmen, dass es dabei – im Gegensatz zu formellen Trainingsverfahren – kaum empirische Absicherung gibt. Summarisch könnte zunächst gesagt werden, Lehrer und Lehrerinnen sollten alle in den Erläuterungen der Metakognition und der Auffälligkeiten bei Lernbehinderten genannten Merkmale so verinnerlichen, dass sie den Prozessen, die strategisches, metakognitiv gesteuertes schulisches Lernen impliziert, eine ständige Aufmerksamkeit widmen, sozusagen eine stabile metakognitionsorientierte Einstellung zur Planung und reflektierten Durchführung ihres Unterrichtes bilden (vgl. De Beni, 1999, S. 246). Dies ist mit Sicherheit weit schwieriger, als es formuliert ist. Aber man kann es sich zur Gewohnheit machen, bei allen Entwürfen und auch im Ablauf des Unterrichtens immer die Frage präsent zu haben, wo darin jeweils Prozesse des Planens, Überwachens und Evaluierens impliziert sind oder beteiligt werden können. Darüber hinaus können Lernsituationen so arrangiert werden, dass sie es „den Schülern erleichtern, ein optimales Verständnis von Aufgaben und Lernprozessen zu bilden“ (Butler, 1998, S. 297); das heißt, die Lernsituationen müssen Strukturierungen anbieten, dürfen also nicht zu komplex, aber auch nicht zu simpel und schon gar nicht routinemäßig zu bewältigen sein. Insbesondere Personen mit sehr geringen bisherigen Lernerfolgen bedürfen dabei stetiger Ermunterung und Ermutigung, sich auf die exekutiven Prozesse einzulassen. Letzten Endes soll ja die Anleitung zu metakognitivem Lern- und Problemlöseverhalten durch Lehrpersonen allmählich zurücktreten zugunsten der Eigenaktivität und Selbständigkeit der Lernenden (das ist – mit Verlaub – dann das größte didaktische Kunststück; vgl. Ianes, 1996, S. 44 ff.). Nicht geeignet sind, wie oben schon angedeutet, Aktivitäten im Lernvorgang, die Routine geworden sind und berechtigterweise bleiben sollen; bei ihnen würde metakognitives Reflektieren nur zu Verzögerungen und Verunsicherung führen. Zur allgemeinen Einstellung der Lehrpersonen gehört auch, dass der im engeren Sinne metakognitive Bereich überschritten und – nun im Sinne der Sichtweise Borkowskis – im Unterricht vermittelt wird, wie nützlich fürs Lernen neben dem Einsatz eigenen Strategiewissens und des Überwachens auch die allgemeine Überzeugung von der Bedeutung planvollen Vorgehens sowie das Vertrauen in die eigene Anstrengung und das motivierte Durchhalten sind (Borkowski & Muthukrishna, 1992; Borkowski & Turner, 1990; vgl. 16.1 und Butler, 1998). Aus Banduras Theorie des Sozialen Lernens und aus dem Selbstinstruktionstraining (Lauth, 1998) lässt sich die Funktion der Lehrperson als Modell metakognitiven Verhaltens für die Schülerinnen und Schüler ableiten: Die Lehrperson kann im Unterricht „laut denkend“ vor der Klasse die Aufgabenstellung und ihre Ziele analysieren sowie ein nicht überhastetes, planendes, überwachendes und regulatives Verhalten demonstrieren und dabei auf seine Vorteile hinweisen.

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| Teil V: Interventionen Eine direkte Unterweisung betrifft nützliche Lernstrategien. Lernschwachen oder retardierten Kindern mit ihrem meist unzureichenden Repertoire an Strategien, z. B. zum Textverständnis oder zum Lösen von mathematischen Textaufgaben, sind Kenntnisse von Strategien zu vermitteln. Allerdings sollte man nur wenige auf einmal lehren und ihre positive Wirkung durch Modelllernen unterstreichen. Nun liegt das Wesentliche aber nicht im Wissen über Strategien, sondern in ihrer richtigen Anwendung; außerdem stellen sich sehr bald die Probleme der Übertragbarkeit und Dauerhaftigkeit der gelernten Strategien heraus. Daher ist – wie Campione es in Bezug auf Trainingsverfahren bei Lernbeeinträchtigten ausgedrückt hat – das „expliziteste Training“ notwendig, das nicht nur vermittelt, welche Strategien es gibt, sondern auch, wann und wie sie anzuwenden und wie sie zu überwachen und zu evaluieren sind (Campione, 1984, S. 125; vgl. Borkowski & Muthukrishna, 1992; Taylor et al., 1995; De Beni, 1999). Und es ist wesentlich, dass die Lehrpersonen den Lernenden dabei helfen, die Strategien, die sie nach und nach erwerben, auf neue Situationen zu generalisieren (vgl. Borkowski & Muthukrishna, 1992). Um die Überwachung und die allgemeine Aktivierung der „passiven Lerner“ zu fördern, wird empfohlen, die Schülerinnen und Schüler zum Verbalisieren der Lösungsschritte und zur Selbstbefragung hinsichtlich der Teilprozesse des Planens, Überwachens, Regulierens und Kontrollierens anzuregen: Was soll ich machen (z. B. wozu soll ich den Text lesen)? Was mache ich zuerst? Wie viel Zeit habe ich zur Verfügung? Bin ich auf dem richtigen Weg? Wie weit ist mein Verständnis des Textes gekommen? Ist mein Rechenergebnis korrekt? Hätte ich die Aufgabe auch anders bewältigen können? usw. (vgl. oben 16.1; Taylor et al., 1995). Fragen nach dem eigenen Vorgehen können jedoch Lernbehinderte und allgemein jüngere Kinder kaum beantworten, so dass hier vor Überforderung gewarnt werden muss. Darüber hinaus gilt generell, dass man zum Fragestellen bereits allerhand Vorkenntnis von einer Sache haben muss: „Um eine Frage zu stellen, muss man genug wissen, um zu wissen, was [noch] nicht bekannt ist“ [Übers. v. Verf.] (Miyake & Norman, 1979). Der Einwand gilt allerdings wohl weniger für die Selbstbefragung in Bezug auf das sachliche Vorwissen, das für eine Aufgabe erforderlich ist, z. B.: Welche Aufgabe aus dem Einmalsieben kann ich schon perfekt, welche noch am wenigsten? Welche Länder, aus denen Apfelsinen kommen können, weiß ich? Eine allgemeine Voraussetzung für die Entwicklung und den Einsatz von Metakognition ist, dass die Personen relativ frei von Angst sind. Auch Zeitdruck ist keineswegs förderlich. Daher sollte Zeit für komplexe Aufgaben, bei denen Metakognition einzusetzen ist, ausreichend zur Verfügung stehen (bei Routinetätigkeiten kann dagegen eine Zeitbegrenzung sinnvoll sein). Angesichts der vielfach empirisch belegten Tatsache, dass Lernbehinderte und andere Personen, die wenig Metakognition einsetzen, charakteristischerweise weniger Zeit für die Lösung von Aufgaben aufwenden bzw. sich oft zu schnell für eine Lösung entscheiden (Neukäter & Schröder, 1991; Schröder & Neukäter, 1993), sollten diese geradezu zum Sich-Zeit-Lassen aufgefordert werden. Um einen bewussteren und günstigeren Umgang mit der Zeit zu erreichen, kann man vor einer kognitiven Unternehmung die dafür wohl erforderliche Zeit schätzen lassen. Überforderung, aber ebenso sehr Unterforderung, ist zu vermeiden. Im einen Falle wird – wie bei der emotionalen Belastung der Angst oder bei Zeitmangel – Druck erzeugt, der keinen Freiraum für Metakognition lässt, im anderen besteht keinerlei Anlass



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zu besonderer kognitiver Anstrengung. Unterforderung tritt jedoch zuweilen subjektiv als Täuschung auf, wenn nämlich Kinder sich überschätzen. Bei „impulsiven“ Kindern, die dazu neigen, lässt sie sich leichter reduzieren als das umgekehrte Phänomen der Unterschätzung der eigenen Fähigkeiten bei „zögerlich-ängstlichen“ Kindern (Mathes, Hofmann & Emmer, 1999). Problemlöse- und Lernprozesse paarweise bearbeiten zu lassen, kann die Schülerinnen und Schüler dazu bringen, ihre Überlegungen und (Selbst‑)Beobachtungen dabei auszutauschen und so zugleich ihr Augenmerk auf steuernde und überwachende Aktivitäten zu richten. Zu einigen schulischen Fächern bzw. Lernbereichen sind ausgearbeitete und überprüfte Modelle der Metakognitionsförderung vorgelegt worden. So befasst sich seit Jahren eine Arbeitsgruppe um C. Cornoldi von der Universität Padua mit der Propagierung eines metakognitiv geprägten Unterrichtens, insbesondere auch für Stützmaßnahmen bei Lernbeeinträchtigten (vgl. Schröder, 2000b, S. 212 f.). Am bekanntesten wurde indessen das von A. L. Brown und A. S. Palincsar vorgestellte Konzept des wechselseitigen Unterrichtens, des „reciprocal teaching“, das zunächst zur Verbesserung des Textverständnisses entwickelt worden ist (Palincsar & Brown, 1984; Palincsar & Brown, 1986; vgl. Hasselhorn & Mähler, 1990). Ausgangspunkt ist auch die Erfahrung, dass „schwächere Leser... weniger den Zweck des Lesens wahr[nehmen]“ und „sich mehr auf das Dekodieren der Wörter und auf richtiges Lesen als auf die Sinnentnahme aus dem Text“ konzentrieren (Butler, 1998, S. 288; dass dies auch eine Folge falsch akzentuierten Unterrichtes sein könnte, diskutiert die Autorin nicht). Es werden vier das Verständnis fördernde Überwachungsstrategien erarbeitet: Zusammenfassen – Formulierung von Fragen zum Text – Identifizierung und Beseitigung von Unklarheiten – Vorhersage des noch Folgenden. Sie werden zuerst einschließlich ihrer Verwendung und ihres Nutzens erklärt, danach durch Unterweisung und Modellieren durch die Lehrperson vermittelt; spätestens vom Praktizieren durch die Schülerinnen und Schüler an (anfänglich noch unter Anleitung) tritt die Rolle der Lehrperson mehr und mehr zurück, die Rollen werden getauscht, und die Lernenden übernehmen die Verantwortung für den metakognitiven Dialog. Die vier Strategien müssen übrigens nicht isoliert und streng nacheinander erarbeitet werden; dies kann – je nach Vermögen der Kinder – auch teilweise gleichzeitig geschehen, damit die Strategien sich gegenseitig unterstützen können. „Das Kennzeichen dieser Unterrichtsform ist ihre interaktive Natur“, die sich im Dialog manifestiert (Palincsar & Brown, 1986, S. 773). Sie hat nicht nur für das Lesen zur Sinnentnahme ihre Eignung nachgewiesen, sondern auch in anderen Lernbereichen, selbst – mit entsprechender Modifikation – bei Schülerinnen und Schülern, die die Lesetechnik noch nicht beherrschen. Sie lässt sich in die schulischen Lehrgänge integrieren und kann an den geistigen und schulischen Entwicklungsstand der Lernenden angepasst werden (vgl. Taylor et al., 1995, S. 69). Auch die Gruppengrößen, in denen das reciprocal teaching eingesetzt wird, können stark variieren; Phasen innerer Differenzierung bieten sich freilich didaktisch am ehesten an. Andere Vorschläge zur Förderung des Textverständnisses beruhen auf der Technik der (mündlichen oder schriftlichen) Selbst-Befragung, die die Ziele der Lektüre betreffen kann, die Suche nach den Hauptgedanken (die anschließend im Text hervorgehoben werden), den Stand des Verstehensprozesses und verbliebene Unklarheiten (vgl. Walter in

278

| Teil V: Interventionen diesem Band). Ferner ist die Strategie zu vermitteln, dass man je nach Zweck des Lesens unterschiedliche Vorgehensweisen vom „Überfliegen“ bis zum gründlichen Durchlesen wählen kann und die Anstrengung entsprechend gezielt einteilen sollte. Für die Textproduktion, die schreibbegleitend planende und überwachende Aktivitäten erfordert, hat Englert eine metakognitive Förderung mit Hilfe von „Denkzetteln“ entwickelt (Englert, 1990). Zur Überwindung ineffektiver Schreibstrategien wie „Alles-erzählen-was-ich-weiß“ und mangelnder Adressatenbezogenheit erhalten die Kinder Arbeitsblätter, die sie auf Planung (Zweck, Hintergrundwissen usw.), Organisation, Überprüfen und Revidieren hinlenken, bevor die endgültige Fassung entsteht. Offen bleibt, wie in diesem Konzept der Übergang zu der für Metakognition grundlegenden Selbständigkeit der exekutiven Prozesse bei den Lernenden erfolgen soll (solange sie die „Denkzettel“ benutzen, kann von eigenständiger Metakognition noch keine Rede sein). Weitere unterrichtliche Vorschläge zur Metakognitionsförderung – z. B. in Mathematik oder unter Einsatz von Spielen (Fritz & Hussy, 1996) – können hier nur genannt, jedoch nicht weiter behandelt werden. Viele der Vorschläge laufen darauf hinaus, dass „dieser [meta]kognitive Modellansatz die Betonung auf Lernen, wie man lernt, legt“ (Taylor et al., 1995, S. 62). Doch darf da kein Missverständnis entstehen: Dieses „das Lernen lernen“ stellt keinen Gegensatz zum Erwerb von „Lernstoff“, also von inhaltlichem Wissen auf Sachgebieten, dar. Vielmehr ist hinreichend belegt, dass sogenanntes bereichsspezifisches Wissen Entwicklung und Einsatz von Metakognition erleichtert (Borkowski, Schneider & Pressley, 1989); schon zur Planungsphase der exekutiven Prozesse (vgl. 16.1) gehört die Analyse des Vorwissens. Umgekehrt haben schon bei Schulbeginn Kinder mit einem aus sozio-kulturellen oder anderen Gründen geringen oder weniger strukturierten bereichsspezifischen Wissen schlechte Chancen, Metakognition zu entwickeln und zu entfalten (vgl. Schröder, 2000b); „eine nur wenig entwickelte Wissensbasis wird manche unterrichtliche Bemühung um Strategien bei lernbeeinträchtigten Schülerinnen und Schülern frustrieren und einschränken“ (Borkowski et al., 1989, S. 178). Es mag paradox klingen: Wer Metakognition fördern will, muss auch als Basis Sachwissen fördern. Allerdings erfordert diese Wissensvermittlung didaktisch eine Orientierung an den Interessen der Kinder und vor allem Organisation, Verknüpfung und Hierarchisierung des Wissens, damit es gut und schnell verfügbar ist und sicher eingesetzt werden kann. So wird es möglich, das neuerworbene Wissen zum Gegenstand von Planungs-, Überwachungs- oder Selbstbefragungsprozessen zu machen.

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17 Förderung von Lern- und Gedächtnisleistungen Gerhard Büttner und Marcus Hasselhorn

17.1 Vorbemerkung Versteht man in Anlehnung an den Deutschen Bildungsrat (1973; vergl. auch Klauer & Lauth, 1997) unter Lernbehinderung eine chronifizierte Form von generalisierten Lernschwierigkeiten mit gravierenden Rückständen von ca. zwei bis drei Jahren in den schulischen Leistungen und einem unterdurchschnittlichen IQ im Bereich zwischen 85 und 55, dann ergeben sich konzeptuelle Überlappungen mit zwei Kategorien mentaler Retardierung, wie sie in den Internationalen Klassifikationssystemen ICD-10 und DSMIV-TR verwendet werden: borderline intellectual functioning (IQ zwischen 71 und 84) und mild mental retardation (IQ zwischen 50 und 70) (Dilling, Mombour, Schmidt & Schulte-Markwort, 2000; Saß, Wittchen, Zaudig & Houben, 2003). In der einschlägigen Literatur finden sich viele Arbeiten mit Personen, die in die Kategorie mild mental retardation passen, wenige (vor allem deutschsprachige) Arbeiten mit Lernbehinderten gemäß der Definition des Deutschen Bildungsrates und so gut wie keine mit Kindern, die als borderline intellectual functioning klassifiziert wurden. Um ein empirisch tragfähiges Bild der Möglichkeiten zur Förderung von Kindern und Jugendlichen mit einer Lernbehinderung zu zeichnen, beziehen wir uns im Folgenden nicht nur auf Studien mit lernbehinderten Kindern, sondern zusätzlich auf Untersuchungen mit mental retardierten Personen. Dies scheint uns gerechtfertigt, da es eine nicht unbedeutende Überlappung zwischen diesen beiden Gruppen gibt und sich gezeigt hat, dass sich das Lernverhalten beider Gruppen durch ähnliche Schwierigkeiten charakterisieren lässt.

17.2 Charakteristische Merkmale von Lernen und Gedächtnis bei generalisierten Lernschwierigkeiten (Lernbehinderung und mentale Retardierung) Neben ungünstigen Ausprägungen des Leistungsmotivsystems gelten vor allem Beeinträchtigungen der dem Lernverhalten zugrundeliegenden kognitiven Funktionen als Ursache der schulischen Leistungsrückstände und der unterdurchschnittlichen kognitiven Leistungsfähigkeit bei Personen mit diagnostizierter Lernbehinderung (Campione, Brown & Ferrara, 1982; Detterman, 1987; Ferretti & Cavalier, 1991). Als heuristisch fruchtbar für ein Verständnis der spezifischen kognitiven Schwierigkeiten der Betroffenen haben sich die Basisannahmen der Theorie der Informationsverarbeitung erwiesen, (1) dass Information mehrere Speicherstrukturen (sensorisches Register, Kurzzeit- und Arbeitsgedächtnis, Langzeitgedächtnis) mit unterschiedlicher Speicherkapazität und Speicherdauer durchlaufen muss, bevor sie langfristig als Wissen abgespeichert werden kann und (2) dass automatisierte und kontrollierte Verarbeitungsprozesse stattfinden, die in unterschiedlichem Ausmaß kognitive Ressourcen beanspruchen. Die empirischen Befunde zur Informationsverarbeitung mental Retardierter deuten mehrheitlich darauf hin, dass

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| Teil V: Interventionen deren Lernschwierigkeiten weder auf Unzulänglichkeiten in Speicherstrukturen noch auf Beeinträchtigungen in solchen Verarbeitungsprozessen zurückgeführt werden können, die weitestgehend automatisiert ablaufen und wenig mentale Ressourcen beanspruchen, sondern in erster Linie durch unzureichende kontrollierte Verarbeitungsprozesse bedingt sind (Campione & Brown, 1978). Als bedeutsame Determinanten von Lern- und Gedächtnisleistungen gelten bei unauffälligen Kindern und Jugendlichen Kapazität von Kurzzeit- und Arbeitsgedächtnis, strategisches Verhalten, Metagedächtnis und Vorwissen (Schneider & Büttner, 2002). Mental retardierte Kinder und Jugendliche zeigen in allen vier Determinanten Besonderheiten. Arbeitsgedächtnis. Beim schulischen Lernen spielt die Fähigkeit, neue Information in einem Arbeitsspeicher über eine kurze Zeitspanne für kognitive Verarbeitungsprozesse präsent zu halten, eine bedeutsame Rolle. Die inhaltliche Bedeutung eines Satzes zu erfassen ist z. B. nur dann möglich, wenn der Anfang des Satzes so lange im Arbeitsgedächtnis erhalten bleibt, bis das Satzende erreicht ist. Kinder und Jugendliche mit Lernbehinderungen sind dadurch gekennzeichnet, dass sie weniger Information simultan verarbeiten können und eine geringere Kapazität des Kurzzeit- und Arbeitsspeichers aufweisen als unauffällige Peers (Gathercole & Pickering, 2001; Henry & MacLean, 2002; Mähler & Hasselhorn, 1990). Für diese Kapazitätsprobleme werden Besonderheiten in kognitiven Verarbeitungsprozessen verantwortlich gemacht. Die Geschwindigkeit, mit der sprachliche Einheiten artikuliert werden können, ist bei Lernbehinderten reduziert (Das, 1985). Darüber hinaus finden bei ihnen subvokale Rehearsalprozesse, die dazu beitragen, Information im Arbeitsspeicher aufrechtzuerhalten, nur in eingeschränktem Maße statt (Mähler & Hasselhorn, 2003; Rosenquist, Conners & Roskos-Ewoldsen, 2003). Strategiegebrauch. Mental retardierte Kinder und Jugendliche haben relative Stärken in Gedächtnisprozessen, die als nichtstrategisch gelten und vergleichsweise wenig sprachbasiert sind. Visuelles Wiedererkennen oder Erinnern von Lokationen funktionieren bei ihnen ähnlich effizient wie bei Nicht-Retardierten (Ellis, Katz & Williams, 1987; Woodley-Zanthos, 1993). Beeinträchtigungen zeigen sich insbesondere in solchen Gedächtnisleistungen, die aktive, sprachorientierte und strategische Verarbeitungsprozesse voraussetzen (Bebko & Luhaorg, 1998; Bray, Fletcher & Turner, 1997). Rehearsal oder Organisieren nach Oberbegriffen werden von Kindern und Jugendlichen mit leichter mentaler Retardierung seltener spontan eingesetzt als von unauffälligen Peers. Der Entwicklungsverlauf in diesen strategischen Verhaltensweisen ist zum Teil stark verlangsamt (Bray, Hersh & Turner, 1985; Bray, Turner & Hersh, 1985; Turner, Hale & Borkowski, 1996). Sind die Aufgabenbedingungen allerdings günstig (z. B. wenn den Probanden Gelegenheit gegeben wird, sich Lernmaterial mehrfach anzuschauen), zeigen auch mental Retardierte verstärkt Anzeichen von strategischem Verhalten (Turner & Bray, 1985). Dies deutet darauf hin, dass strategische Kompetenzen vorhanden sind, die zur Steigerung von Lernleistungen genutzt werden können, wenn sie durch externe Maßnahmen unterstützt werden. Metagedächtnis. Die Probleme retardierter Kinder und Jugendlicher in der Anwendung von Gedächtnisstrategien werden mit einem unzureichenden deklarativen und prozeduralen Metagedächtnis in Verbindung gebracht. Im Vergleich zu unauffälligen Peers sind Kinder und Jugendliche mit Lernschwierigkeiten weniger sensitiv gegenüber Begrenzungen des eigenen Gedächtnisses und sie haben ein geringeres Wissen darüber, welche Strategien



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angewandt werden können, um Lernleistungen zu verbessern (Cornoldi & Vianello, 1992; Justice, 1985; Turner, Hale & Borkowski, 1996). Ihre Schwierigkeiten liegen insbesondere darin, komplexere Aspekte des Strategiegebrauchs wie z. B. die Abhängigkeit des Strategieeinsatzes von situativen Bedingungen adäquat zu erfassen (Borkowski & Kurtz, 1987). Vorwissen. Einen bedeutsamen Einfluss auf Gedächtnisleistungen hat die vorhandene Wissensbasis. Bei Kindern mit generalisierten Lernschwierigkeiten wird davon ausgegangen, dass ihr allgemeines und ihr bereichsspezifisches Vorwissen vergleichsweise wenig elaboriert und differenziert ist (McFarland & Wiebe, 1987). In Übereinstimmung mit dieser Auffassung stehen die Befunde, dass mental Retardierte zu vorgegebenen Kategorien weniger Exemplare wiedergeben können als unauffällige Peers (Glidden & Mar, 1978) und dass es ihnen weniger gut gelingt, Bezeichnungen von bildlich dargestellten Objekten abzurufen (Winters & Brzoska, 1975). Auch die Entscheidung, ob eine Aussage über Eigenschaften eines Objektes zutrifft, fällt ihnen vergleichsweise schwer (McCauley, Sperber & Roaden, 1978). Darüber hinaus können sie Ähnlichkeiten und Unterschiede zwischen verschiedenen Exemplaren einer Kategorie (z. B. Tiere) weniger gut beschreiben als Peers ohne kognitive Auffälligkeiten (Scott & Greenfield, 1992). Zusammengefasst lässt sich festhalten, dass lernbeeinträchtigte Kinder in allen vier Determinanten von Lern- und Gedächtnisleistungen Defizite aufweisen. Die Frage allerdings, ob es sich dabei jeweils um verursachende Defizite der Lernbeeinträchtigung handelt oder eher um deren Folgen, lässt sich aufgrund vorliegender Untersuchungen nur vage beantworten. Lediglich für die automatische Aktivierung zentraler Prozesse zur Verarbeitung sprachlicher Information im Arbeitsgedächtnis liegen zur Zeit überzeugende Belege dafür vor, dass in diesem Bereich ein Funktionsdefizit lernbeeinträchtigter Kinder vorliegt, das deren Leistungsprobleme mit verursacht (Mähler & Hasselhorn, 2003).

17.3 Verfahren zur Diagnostik gravierender Gedächtnisprobleme Zur Diagnostik von Gedächtnisproblemen bei Kindern und Jugendlichen mit generalisierten Lernschwierigkeiten fehlt es an standardisierten Verfahren mit differenzierten Normen für den angezielten Personenkreis. Notwendig wären diagnostische Instrumente, mit denen man abklären kann, in welchen Bereichen (kapazitative Aspekte von Kurzzeit- und Arbeitsgedächtnis, deklaratives und prozedurales Gedächtniswissen, Anwendung strategischer Verhaltensweisen, allgemeines und bereichsspezifisches Weltwissen) spezifische Beeinträchtigungen vorhanden sind. Am ehesten wird diese Anforderung im Bereich der Kapazität des phonologischen Arbeitsgedächtnisses erfüllt, die mit Hilfe der Gedächtnisspanne (z. B. Zahlen nachsprechen vorwärts oder rückwärts) erfasst werden kann. Entsprechende Subtests sind in mehreren Intelligenztests (HAWIK-III, AID 2, K-ABC) vorhanden. Eine Alternative stellt der Mottier-Test aus dem Zürcher Lese-Test (Linder & Grissemann, 1996) dar, bei dem Kunstwörter nachgesprochen werden sollen. Zur Differentialdiagnostik weiterer basaler Funktionen des Arbeitsgedächtnisses liegen zusätzliche Testaufgaben vor, für die erste Vorarbeiten geleistet worden sind (Hasselhorn, Grube, Mähler, Zoelch, Gaupp & Schumann-Hengsteler, 2003).

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| Teil V: Interventionen Ein standardisiertes Verfahren zur Erfassung von metamemorialem Wissen stellt die Würzburger Testbatterie zum deklarativen Metagedächtnis (Schlagmüller, Visé & Schneider, 2001) dar. Sie kann im Grundschulalter eingesetzt werden, stellt allerdings vergleichsweise hohe Anforderungen an die verbalen Fähigkeiten der Probanden und ist deshalb im Lernbehindertenbereich nur begrenzt geeignet. Ob tatsächlich Gedächtnisstrategien angewendet werden (Strategiegebrauch) und ob das Verhalten gezielt geplant, kontrolliert und bei Bedarf reguliert wird (prozedurales Metagedächtnis), kann am ehesten mit systematischer Verhaltensbeobachtung bei Lernaufgaben und mit Arbeitsproben abgeklärt werden.

17.4 Interventionen zur Förderung von Lern- und Gedächtnisleistungen Zur Förderung von Lern- und Gedächtnisleistungen bei Kindern mit Lernbeeinträchtigungen wurden verschiedene kognitive Interventionen entwickelt, die sich in Anlehnung an Mastropieri und Scruggs (1991) grob in zwei Richtungen einteilen lassen: – Interventionen mit der bevorzugten Zielsetzung, den Erwerb von deklarativen Wissensinhalten zu optimieren. In erster Linie geht es hierbei um Hilfestellungen, die darauf ausgerichtet sind, die Integration von neu zu erwerbenden Wissensinhalten in bereits vorhandenes Vorwissen zu erleichtern. – Interventionen mit der bevorzugten Zielsetzung, selbstreguliertes Lern- und Gedächtnisverhalten einzuüben und den Transfer dieses Verhaltens auf neue Lernsituationen zu unterstützen. In erster Linie geht es hierbei um die Vermittlung der Fähigkeit, strategisches Verhalten in verschiedenen Lernsituationen und bei verschiedenen Materialarten einsetzen zu können. 17.4.1 Interventionen zur Optimierung von Wissenserwerb In der gedächtnispsychologischen Grundlagenforschung sind verschiedene Merkmale von Lernmaterial analysiert worden, die Einfluss auf den Lernprozess und das Lernergebnis haben. Weitgehend gesichert ist, dass Inhalte, die bedeutungshaltig, konkret und anschaulich sind, leichter gelernt werden können als bedeutungsarme, abstrakte und unanschauliche Inhalte. Schulische Inhalte weisen jedoch zum Teil die lernförderlichen Materialeigenschaften nicht oder nur unzureichend auf, weil sie zu unanschaulich oder für die Schülerinnen und Schüler zu wenig bedeutungshaltig sind. Das Lernen solcher Inhalte kann gefördert werden, indem sie elaboriert werden. Unter Elaborationen werden verbale oder bildhafte Anreicherungen des Lernmaterials verstanden, die geeignet sind, in irgendeiner Weise eine Verbindung zwischen dem neuen Lernstoff und dem bereits vorhandenen Vorwissen herzustellen. Elaborationen lassen sich differenzieren in transformative und nichttransformative Varianten (Pressley, Johnson & Symons, 1987). Zu den transformativen Varianten zählen die Mnemotechniken, zu den nichttransformativen Varianten gehören die verstehensorientierten elaborativen Fragen.



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Mnemotechniken. Transformative Elaborationen verändern den Lernstoff. Sie sind insbesondere dann erforderlich, wenn bedeutungsarme Fakten (z. B. Vokabeln, Bezeichnungen, Jahreszahlen) zu lernen sind. Bei transformativen Elaborationen werden die Lerninhalte in neue Zusammenhänge eingebettet, die eine größere Bedeutungshaltigkeit aufweisen und deshalb leichter zu behalten sind. Die Abfolge der Planeten unseres Sonnensystems nach ihrer Entfernung zur Sonne z. B. ist eine Information mit geringem Bedeutungsgehalt, deren Verankerung im Langzeitgedächtnis schwer fällt. Sie kann jedoch als transformierte Information vergleichsweise leicht rekonstruiert werden, wenn sie in den bedeutungshaltigen und daher leicht zu lernenden Satz „Mein Vater erklärt mir jeden Sonntag unseren Nachthimmel“ eingebettet wird, da die Abfolge der Wortanfänge die Abfolge der Planeten repräsentiert (Mond, Venus, Erde, Mars, Jupiter, Saturn, Uranus, Neptun). Zu den wirkungsvollsten Mnemotechniken zählen u. a. die Schlüsselwortmethode (keyword method), die Methode der Orte (loci method) und die Aufhängermethode (pegword method). Die Schlüsselwortmethode ist hilfreich, wenn wenig geläufige Begriffe (z. B. Bankrott) gelernt werden sollen, während die Methode der Orte und die Aufhängermethode geeignet sind, die Abfolge von Ereignissen (z. B. geschichtliche Abläufe) leichter zu lernen. Ein umfassender Ansatz zur Vermittlung von biologischem, historischem und sozialwissenschaftlichem Faktenwissen, in den verschiedene Mnemotechniken integriert worden sind und der sowohl in Labor- als auch in Schulversuchen evaluiert worden ist, wurde von Scruggs und Mastropieri (1989; Mastropieri & Scruggs, 1991, 2004) entwickelt. Kernelemente dieses Ansatzes sind sogenannte rekonstruierende Elaborationen (reconstructive elaborations), die darauf ausgerichtet sind, neu zu lernende Wissensinhalte durch bildhafte, symbolische oder akustische Repräsentationen bedeutungshaltiger zu machen. Mnemotechniken haben sich in zahlreichen Studien, in denen verschiedene Maßnahmen zur Optimierung von Wissenserwerb vergleichend untersucht wurden, bewährt. In einer Metaanalyse, in der 24 Einzelergebnisse zusammen gefasst wurden, die bei Personen mit unterschiedlichen Beeinträchtigungen gewonnen worden waren (bereichsspezifische Lernschwierigkeiten, leichte mentale Retardierung, Verhaltensauffälligkeiten), fanden Mastropieri und Scruggs (1989) eine mittlere Effektstärke von 1.62. Dieser Wert bringt zum Ausdruck, dass die Vermittlung von Wissen mit Hilfe von mnemotechnischen Verfahren zu einem Leistungsgewinn führte, der durchschnittlich mehr als eineinhalb Standardabweichungen über dem Leistungsgewinn bei alternativen Instruktionsmethoden lag. Exakt den gleichen Wert fanden die Autoren ein Jahrzehnt später bei einer Metaanalyse über 34 Einzelergebnisse (Scruggs & Mastropieri, 2000). Im Vergleich zu sonstigen kognitiven Interventionen im sonderpädagogischen Feld weisen Mnemotechniken mit deutlichem Abstand die höchsten Effektstärken auf (Walter, 2002). Dabei ist allerdings zu berücksichtigen, dass Unterschiede in der Lernfähigkeit zwischen mental Retardierten und unauffälligen Peers auch durch Mnemotechniken nicht kompensiert werden können. Der Leistungsvorsprung der unauffälligen Peers bleibt erhalten, wenn beide Gruppen darin instruiert werden, mnemotechnische Strategien anzuwenden. Darüber hinaus ist von Bedeutung, dass Mnemotechniken in der Gruppe der Lernbehinderten je nach intellektuellem Leistungsvermögen differenziell wirksam sind. Lernbehinderte, die der Borderline-Gruppe zuzuordnen sind (IQ über 70) profitieren von mnemotechnischen Verfahren stärker als Lernbehinderte aus der Kategorie mild mental retardation (IQ zwischen

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| Teil V: Interventionen 50 und 69). Den geringsten Effekt zeigen Mnemotechniken bei Geistig Behinderten mit einem IQ unter 50 (Forness & Kavale, 1993). Elaborative Fragen. Nichttransformative Elaborationen wie z. B. veranschaulichende Abbildungen in einem Text verändern den Lernstoff nicht substanziell. Eine bedeutsame Variante dieser Vorgehensweise sind elaborative Fragen (elaborative interrogations), die bei bedeutungshaltigem Lernmaterial (z. B. wenn Zusammenhänge zwischen spezifischen Merkmalen des Körperbaus von Tieren und deren Lebensumständen zu lernen sind) zu einem tieferen Verständnis der Lerninhalte führen können. Elaborative Fragen (Warum macht es Sinn, dass pflanzenfressende Tiere breite Backenzähne haben?) sollen dazu anregen, durch schlussfolgerndes Denken nach Erklärungen für den zu erwerbenden Wissensinhalt zu suchen und dadurch die Zusammenhänge besser zu verstehen. Elaborative Fragen sind bisher als Verfahren zur Wissensvermittlung bei Kindern mit Lernbeeinträchtigungen weniger intensiv validiert worden als Mnemotechniken. Die vorhandenen Befunde beziehen sich zudem in erster Linie auf Studien, in denen sich die Experimentalgruppen nur zu einem geringen Anteil aus Kindern mit generalisierten Lernschwierigkeiten zusammen setzten und hauptsächlich Kinder mit umgrenzten Lernstörungen umfassten (z. B. Scruggs, Mastropieri & Sullivan, 1994). Einige Studien deuten darauf hin, dass die Wirksamkeit elaborativer Fragen durch geringes Vorwissen beeinträchtigt wird (z. B. Wood, Willoughby, Bolger, Younger & Kaspar, 1993). Da bei generalisierten Lernschwierigkeiten davon auszugehen ist, dass die Wissensbasis vergleichsweise eingeschränkt ist, muss vorläufig offen bleiben, ob die verstehensorientierte Methode bei Kindern mit Lernbehinderung eine geeignete Methode zur Vermittlung schulischer Wissensinhalte darstellt, auch wenn sie bisher bei Kindern mit umgrenzten Lernstörungen mit Gewinn eingesetzt werden konnte. Eine Studie von Kendall, Borkowski und Cavanaugh (1980) mit mental retardierten Kindern gibt allerdings Anlass zu vorsichtigem Optimismus. Beim Lernen von willkürlich kombinierten Bildpaaren (z. B. nurse – toaster) führten elaborative Fragen, mit denen eine bedeutungshaltige Beziehung zwischen den Bildern hergestellt wurde, zu besseren Gedächtnisleistungen als das reine Auswendiglernen der Paarassoziationen. Diese Studie zeigt zumindest, dass die Fragetechnik von mental Retardierten mit Gewinn angewandt werden kann, auch wenn die Fragen nicht darauf ausgerichtet waren, vorhandene Verstehenszusammenhänge zu rekonstruieren, sondern neue bedeutungshaltige Zusammenhänge zu generieren. Eine weitere Einschränkung ergibt sich bei den elaborativen Fragen daraus, dass sich die bisherigen Evaluationsversuche auf Laborsituationen mit Zweierinteraktionen zwischen einem Erwachsenen und einem Kind beschränkten, so dass der empirische Nachweis noch aussteht, dass das Verfahren auch in kleinen Gruppen oder in der Schulklasse effizient eingesetzt werden kann. 17.4.2 Interventionen zur Förderung selbstregulierten Lern- und Gedächtnisverhaltens Selbstreguliertes Lern- und Gedächtnisverhalten setzt sich aus verschiedenen Einzelverhaltensweisen zusammen, die dynamisch aufeinander bezogen sind. Selbstregulation erfordert beim Lernen generell eine Entscheidung darüber, welche strategische Ver-



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haltensweise bei welcher Art von Aufgabe anzuwenden ist. Eine solche Entscheidung setzt voraus, dass die Aufgabenstellung und das vorhandene Strategierepertoire geprüft werden. Darauf aufbauend ist das strategische Vorgehen zu planen, durchzuführen und zu evaluieren. In Abhängigkeit von dem Lernprozess und dem Lernergebnis ist das Verhalten gegebenenfalls zu revidieren. Die experimentelle Trainingsforschung der letzten drei bis vier Jahrzehnte hat deutlich werden lassen, dass Interventionen zur Vermittlung eines solch komplexen und dynamischen Systems von Einzelverhaltensweisen an mehreren Ebenen (kognitiv, metakognitiv, motivational) ansetzen müssen, wenn sie erfolgreich sein sollen. Dies trifft insbesondere dann zu, wenn sich die Interventionen auf Kinder und Jugendliche mit generalisierten Lernschwierigkeiten richten (Whitman, 1990). In einer beträchtlichen Anzahl von Studien konnte nachgewiesen werden, dass mental retardierte Kinder und Jugendliche durchaus in der Lage sind, strategische Verhaltensweisen zu erwerben und damit zusammenhängend ihre Gedächtnisleistungen zu verbessern (z. B. Gonser, Stemmler & Masendorf, 1999; Hasselhorn & Mähler, 1992; Perleth, Schuker & Hubel, 1992). Die Trainingserfolge konnten teilweise bis zu einen Zeitraum von einem halben bzw. einem ganzen Jahr aufrechterhalten werden und erfüllten damit das Kriterium der Nachhaltigkeit (z. B. Brown, Campione & Barclay, 1979; Engle & Nagle, 1979). Trainingserfolge nach dem aus der Perspektive selbstregulatorischen Verhaltens besonders bedeutsamen Kriterium der Generalisierung blieben jedoch weitgehend aus. Ein Transfer der eingeübten strategischen Verhaltensweisen auf nicht trainierte Aufgabenstellungen gelang kaum (Blackman & Lin, 1984; Borkowski & Cavanaugh, 1979; Brown, Campione & Murphy, 1974). Der geringe Generalisierungsgrad der Trainingserfolge mag teilweise darauf zurückgeführt werden, dass der Strategiegebrauch meist isoliert eingeübt wurde. Belmont, Butterfield und Ferretti (1982) kommen nach Sichtung einer größeren Anzahl von Trainingsstudien zu dem Schluss, dass die Wahrscheinlichkeit zum Transfer von trainiertem strategischen Verhalten davon abhängig ist, ob neben dem aufgabenspezifischen Strategiegebrauch auch allgemeine selbstregulatorische Verhaltens­ aspekte eingeübt werden. Nur die kombinierte Vermittlung strategiespezifischer und metamemorialer Wissens- und Verhaltensaspekte erwies sich als eine erfolgversprechende Vorgehensweise. Vor dem Hintergrund solcher Befunde nimmt bei Maßnahmen zur Förderung von Lernverhalten neben der Einübung von strategischem Verhalten das systematische Informieren über den Nutzen und die Anwendungsmöglichkeiten von Gedächtnisstrategien einen besonderen Stellenwert ein (Campione, Brown & Ferrara, 1982). Vermittelt werden sollte also nicht nur der Strategiegebrauch an sich, sondern auch das Wissen, dass die Strategie funktioniert und dass der Strategiegebrauch sich lohnt. Ein wesentliches Element erfolgreichen Trainings besteht dementsprechend darin, die Probanden anhand von konkreten Lernergebnissen erfahren zu lassen, dass strategisches Verhalten zu einer Verbesserung von Gedächtnisleistungen führt und sie explizit darauf hinzuweisen, dass der verbesserte Lernerfolg mit der Anwendung der Strategie zusammen hängt. Von Vorteil ist darüber hinaus, den Strategiegebrauch in verschiedenen Aufgabenkontexten und mit unterschiedlichem Übungsmaterial einzuüben, da sich dadurch ebenfalls die Wahrscheinlichkeit erhöht, dass ein Transfer auf neue Aufgabenbereiche stattfindet (Belmont, Butterfield & Borkowski, 1978). Für eine erfolgreiche Intervention bei lernbeeinträch-

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| Teil V: Interventionen tigten Kindern ist letztlich von entscheidender Bedeutung, dass die Instruktionselemente an deren Bedürfnisse angepasst werden und umso mehr Hilfestellungen enthalten (z. B. Vereinfachung und Konkretisierung, strukturiertes Vorgehen, ausführliche Übung), je geringer die Lernvoraussetzungen der Kinder sind.

17.5 Resümee Wir haben zwei bedeutsame Bereiche angesprochen, in denen wissenschaftlich evaluierte Maßnahmen zur Förderung von Lern- und Gedächtnisleistungen bei stark lernbeeinträchtigten Kindern und Jugendlichen entwickelt worden sind: Vermittlung von spezifischen deklarativen Wissensinhalten und Förderung selbstregulatorischer Lernkompetenzen. Die bisherigen Erfolge zur Vermittlung von schulrelevantem Faktenwissen sind sehr überzeugend. Es gibt zahlreiche internationale Laborstudien zur Wirksamkeit von Mnemotechniken bei Kindern mit generalisierten Lernschwierigkeiten, die durch Evaluationsstudien in der Schule ergänzt worden sind. Im deutschen Sprachraum fehlen bislang solch schulnahe Interventionsstudien bei Lernbehinderten. Dies ist bedauerlich, zumal unklar ist, ob und gegebenenfalls unter welchen Bedingungen Maßnahmen dieser Art unter den Alltagsbedingungen im Klassenzimmer und im regulären Unterricht erfolgreich umgesetzt werden können. Der Forderung nach schulnahen Förderansätzen selbstregulatorischer Lernkompetenzen steht in der einschlägigen Literatur ein eher uneinheitliches Bild der kognitiven Kompetenzen lernbehinderter Kinder gegenüber. Auf der einen Seite werden die beeinträchtigten Kinder und Jugendlichen häufig als passive Lernende bezeichnet, mit ausgeprägten Defiziten im Strategiegebrauch und dessen metakognitiver Regulation (Bray & Turner, 1986; Justice, 1985). Eine Interventionsforschung, die sich an dieser Charakterisierung orientiert, versucht in erster Linie Bedingungen zu identifizieren, unter denen die Strategiedefizite durch direktes Training ausgeglichen werden können. Auf der anderen Seite wurde in jüngerer Zeit deutlich, dass die hier betrachtete Gruppe von Kindern unter günstigen Aufgabenbedingungen über weit mehr strategische Kompetenzen verfügen als ursprünglich vermutet. So zeigte sich, dass Strategien, die wenig sprachgebunden sind (z. B. auf einen Gegenstand deuten, Objekte als Erinnerungshilfe anordnen), von Lernbeeinträchtigten im höheren Jugendalter auch ohne Training ähnlich effizient angewandt werden wie von unauffälligen chronologisch gleichaltrigen Peers, wenn situationsadäquate Hinweisreize zum Strategiegebrauch gegeben werden (Bray et al., 1999; Bray, Fletcher & Turner, 1997; Fletcher, Huffman & Bray, 2003). Derartige Befunde eröffnen auch für die Interventionsforschung eine neue Perspektive. Ergänzend zu den skizzierten Trainingsbemühungen werfen sie die Frage auf, ob sich spezifische Situationen finden lassen, unter denen lernbehinderte Kinder ohne explizites Training Strategien entdecken und erfolgreich anwenden können. Beim derzeitigen Stand der Forschung scheint uns eine besonders erfolgreiche Förderung der Lern- und Gedächtnisleistungen Lernbehinderter dann möglich zu sein, wenn Interventionen gewählt werden, in denen ein gezieltes und informiertes Einüben bereichsspezifischer Strategien und deren metakognitiven Regulation erfolgt (vgl. Hasselhorn & Mähler, 1990), in denen subjektive Erfolgserlebnisse beim Lernen statt-



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finden, um die Anstrengungsbereitschaft für weitere Lernbemühungen zu erhöhen und in denen eventuell Übungen zum Automatisieren der Verarbeitungsprozesse sprachlicher Informationen im Arbeitsgedächtnis realisiert werden, weil diese Funktion sich als Ursachenfaktor der Lernbehinderung erwiesen hat (s.o.). Ob solche Übungen allerdings erfolgreich gestaltet werden können und wie diese im Einzelnen aussehen könnten, ist derzeit nicht bekannt.

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| Teil V: Interventionen Schneider, W. & Büttner, G. (2002). Entwicklung des Gedächtnisses bei Kindern und Jugendlichen. In R. Oerter & L. Montada (Hrsg.), Entwicklungspsychologie (5. Aufl., S. 495-516). Weinheim: Psychologie Verlags Union. Scott, M. S. & Greenfield, D. B. (1992). A comparison of normally achieving, learning disabled and mildly retarded students on a taxonomic information task. Learning Disabilities Research & Practice, 7, 59-67. Scruggs, T. E. & Mastropieri, M. A. (1989). Reconstructive elaborations: A model for content area learning. American Educational Research Journal, 26, 311-327. Scruggs, T. E. & Mastropieri, M. A. (2000). The effectiveness of mnemonic instruction for students with learning and behavior problems: An update and research synthesis. Journal of Behavioral Education, 10, 163-173. Scruggs, T. E., Mastropieri, M. A. & Sullivan, G. S. (1994). Promoting relational thinking: Elaborative interrogation for students with mild disabilities. Exceptional Children, 60, 450-457. Turner, L. A. & Bray, N. W. (1985). Spontaneous rehearsal by mildly retarded children and adolescents. American Journal of Mental Deficiency, 90, 57-63. Turner, L. A., Hale, C. & Borkowski, J. G. (1996). Influence of intelligence on memory development. American Journal on Mental Retardation, 100, 468-480. Walter, J. (2002). „Einer flog übers Kuckucksnest“ oder welche Interventionsformen erbringen im sonderpädagogischen Feld welche Effekte? Ergebnisse ausgewählter us-amerikanischer Meta- und Mega-Analysen. Zeitschrift für Heilpädagogik, 53, 442-450. Whitman, T. L. (1990). Self-regulation and mental retardation. American Journal on Mental Retardation, 94, 347-362. Winters, J. J. & Brzoska, M. A. (1975). Development of lexicon in normal and retarded persons. Psychological Reports, 37, 391‑402. Wood, E., Willoughby, T., Bolger, A., Younger, J. & Kaspar, V. (1993). Effectiveness of Elaboration strategies for grade school children as a function of academic achievement. Journal of Experimental Child Psychology, 56, 240-253. Woodley-Zanthos, P. (1993). The effects of level of processing on long-term recognition memory in retarded and nonretarded persons. Intelligence, 17, 205-221.

18 Förderung des Lernens durch Förderung des Denkens Karl Josef Klauer Im Jahre 1806 veröffentlichte K. A. Schaller, Feldprediger zu Halle, ein Buch mit dem etwas länglichen Titel „Magazin der Verstandesübungen als Vorbereitung zu eigentlich wissenschaftlichen Studien zum Gebrauch öffentlicher Lehranstalten und beim Privatunterricht“. Der Text enthält eine Fülle von Übungen zur Denkerziehung, wie man sie auch anderen Veröffentlichungen aus älterer und jüngerer Zeit entnehmen kann. Früher gab es auch eine Menge Lehrmaterial zum systematischen Gedächtnistraining (z. B. Kallas, 1897; Engelen, 1927) – alles Materialien, die auf eine formale Bildung hoffen ließen und heute eher skeptisch betrachtet werden. Heutzutage findet in Schulen keinerlei systematische Denkerziehung mehr statt, und man schüttet damit das Kind vielleicht doch mit dem Bade aus. Heute verlässt man sich darauf, dass die geistigen Fähigkeiten hinreichend in der Auseinandersetzung mit dem regulären Unterrichtsstoff entwickelt werden. Zentrale These dieses Beitrags ist aber, dass damit vielen Kindern ein Schaden zugefügt wird, denn man enthält ihnen so die Möglichkeit vor, ihre Kompetenzen besser zu entwickeln, um dadurch mehr und effektiver zu lernen. Das soll im Folgenden dargelegt werden. Konkret geht es um die kognitive Strategie des induktiven Denkens und ihre metakognitive Steuerung. Es wird gezeigt werden, dass es sich um eine relativ einfache Strategie handelt, die in Wissenschaft und Alltag häufig gefordert ist, die lehr- und lernbar ist und nachweislich nicht nur die intellektuelle Kapazität fördert, sondern in noch stärkerem Maße das Lernen in der Schule. Von daher bietet es sich an zu prüfen, ob die Strategie nicht systematisch in Schulen gelehrt werden sollte, zumal entsprechendes Material zur Verfügung steht. Der Beitrag geht zunächst kurz auf die Theorie des induktiven Denkens ein, stellt dann das Trainingskonzept dar, um anschließend einen Überblick über die empirische Erprobung des Trainings zu geben. Im Diskussionsteil werden Konsequenzen beleuchtet und verschiedene Einwände diskutiert, so dass man sich auf Grund der Datenlage selbst ein Urteil bilden kann.

18.1 Theoretischer Hintergrund 18.1.1 Zur Theorie des induktiven Denkens Induktiv nennt man das Denken, bei dem Regelhaftigkeiten induziert, das heißt entdeckt oder herausgefunden werden. Dies geschieht durch die Entdeckung von Gemeinsamkeiten. Das soll an zwei Beispielen erläutert werden. Beispiel 1: Sturm, Regen, Nebel, Hagel, Schnee, Dampf. Diese Phänomene sind alle ……………..…?

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| Teil V: Interventionen Hier geht es um eine gemeinsame Eigenschaft oder um ein gemeinsames Merkmal. Alle genannten Phänomene haben etwas mit dem Wetter zu tun, aber auch mit Wasser. Man könnte also von Wetterphänomenen oder von Erscheinungsformen des Wassers sprechen. Immer dann, wenn gemeinsame Merkmale von Objekten festgestellt werden, handelt es sich um die Bildung von Allgemeinbegriffen oder um Oberbegriffe. Und immer dann, wenn gemeinsame Beziehungen vorliegen, handelt es sich wie in Beispiel 2 um Regelhaftigkeiten oder Gesetzmäßigkeiten. Beispiel 2: 3 5 7 9

– – – –

6 10 14 ?

Das Fragezeichen ist hier zu ersetzen, offensichtlich durch die Zahl 18. Wie kann man dessen sicher sein? Man erkennt zunächst, dass die zweite Zahl einer Zeile durch Verdoppelung der ersten entsteht. Man erkennt darüber hinaus, dass die Zahlen der linken Reihe (3, 5, 7, 9) ungerade sind und immer um 2 zunehmen. Analog wachsen die geraden Zahlen 6, 10, 14, 18 der rechten Reihe um 4, also um doppelt so viele. Die Zahlenpaare haben einiges gemeinsam, die Zahlenpaare von links nach rechts die Verdoppelung, die Paare in den Reihen das Anwachsen um 2, beziehungsweise um das Doppelte von 2. Hier sind also gleichzeitig mehrere Regelhaftigkeiten zu erkennen, von denen eine schon genügte, um die Aufgabe zu lösen. In allen diesen Fällen handelt es sich um gemeinsame Beziehungen. Regelhaftigkeiten entdecken schon Kleinkinder, und sie bilden auch Allgemeinbegriffe. Dabei unterlaufen ihnen aus Erwachsenensicht mitunter Fehler. Spontan neigen noch ältere Kinder dazu, den Wal als Fisch einzuordnen und den Strauß nicht als Vogel zu identifizieren. Übergeneralisierung nennt man den ersten Fehler, Untergeneralisierung den zweiten. Wir werden sehen, dass diese beiden Fehler bei allen induktiven Leistungen möglich sind. Wissenschaftler bilden ebenfalls neue Allgemeinbegriffe und entdecken neue Gesetzmäßigkeiten. Deren Ergebnis bietet sich Schulkindern wie Studierenden als Lehrstoff dar. Von daher wundert es nicht, dass in allen schulischen Lehrstoffen und in allen Wissenschaften induktives Denken eine dominante Rolle spielt. Das konnte auch schon empirisch nachgewiesen werden. Csapó (1997) fand eine enge Korrelation zwischen Maßen des induktiven Denkens und dem Lernerfolg in der Schule. Darüber hinaus ist sehr gut belegt, dass induktives Denken eine zentrale Leistung der menschlichen Intelligenz darstellt (Snow, Kyllonen & Marshalek, 1984; van de Vijver, 1991). Eine Förderung des induktiven Denkens sollte sich daher sowohl im schulischen Lernen als auch allgemein in der Förderung der intellektuellen Kapazität auswirken. Um Missverständnissen vorzubeugen, empfiehlt sich, zwischen induktivem Denken und induktivem Schließen zu unterscheiden. Beim induktiven Denken werden Regelhaftigkeiten und Gesetzmäßigkeiten erkannt, während beim induktiven Schließen darüber hinaus angenommen wird, dass die Regelhaftigkeit für die ganze Grundgesamtheit (für „alle Schwäne“) gilt. Wie schon die beiden Beispiele oben zeigen, geht induktives Denken nie über die empirisch gegebene Datenbasis hinaus, was beim induktiven Schluss aber grundsätzlich der Fall ist. Induktive Schlüsse sind wie Generalisierungen auf eine

Kapitel 18: Förderung des Lernens durch Förderung des Denkens | 295



Grundgesamtheit oft problematisch. Wir befassen uns im Folgenden nur mit dem induktiven Denken. 18.1.2 Die Strategie des induktiven Denkens Eingehende Analysen induktiver Aufgaben haben mich dazu geführt, eine Strategie zu entwickeln, mit deren Hilfe alle induktiven Aufgaben prinzipiell gelöst werden können. Wir haben gesehen: Regelhaftigkeiten entstehen dadurch, dass Gemeinsamkeiten vorliegen. Die moderne Logik zeigt, dass Gemeinsamkeiten entweder auf gemeinsamen Merkmalen oder auf gemeinsamen Beziehungen (Relationen) beruhen, weitere Möglichkeiten gibt es nicht. Will man also Regelhaftigkeiten entdecken, so muss man auf gemeinsame Merkmale von Objekten oder auf gemeinsame Beziehungen zwischen Objekten achten, wobei es allerdings entscheidend ist, relevante Unterschiede nicht zu übersehen. Zentral geht es also darum, gemeinsame Merkmale oder gemeinsame Beziehungen zu entdecken, aber Unterschiede zu beachten, um Übergeneralisierungen zu vermeiden. Dabei kommt Vergleichsprozessen entscheidende Bedeutung zu. Wir können daher definieren: Die Strategie des induktiven Denkens besteht in der Entdeckung von Regelhaftigkeiten durch Vergleichen, also durch Feststellung der Gleichheit, der Verschiedenheit oder der Gleichheit und Verschiedenheit entweder bei Merkmalen von Objekten oder bei Relationen zwischen Objekten. Vergleichen bedeutet nichts anderes als Gemeinsamkeiten und Unterschiede zu entdecken, Gleichheit und Verschiedenheit zu beachten. Die Strategie des Vergleichens ist demnach entscheidend beim induktiven Denken. Im Training wird eben diese Strategie vermittelt. Wie aus der Definition herzuleiten ist, gibt es genau sechs Klassen induktiver Aufgaben, nicht mehr und nicht weniger. In Tabelle 1 sind die sechs Klassen erläutert und mit solchen Beispielen versehen, wie man sie aus Intelligenztests kennt. Es wäre Tabelle 1: Die sechs Kernaufgaben des induktiven Denkens Name und Abkürzung

Festzustellen ist ...

Beispiele aus Intelligenztests

Generalisierung GE

Gleichheit von Merkmalen

Klassen bilden Klassen ergänzen Gemeinsamkeiten finden

Diskrimination DI

Verschiedenheit von Merkmalen

Unpassendes streichen

Kreuzklassifikation KK

Gleichheit und Verschiedenheit von Merkmalen

Vierfelderschema

Beziehungserfassung BE

Gleichheit von Beziehungen

Folgen ergänzen Folgen ordnen Analogien

Beziehungsunterscheidung BU

Verschiedenheit von Beziehungen

Gestörte Folgen

Systembildung SB

Gleichheit und Verschiedenheit von Beziehungen

Matrizenaufgaben

296

| Teil V: Interventionen ebenso gut möglich, die Beispiele aus einem Wissensgebiet zu entnehmen, etwa aus der Grammatik, der Erdkunde, der Mathematik, einer beliebigen Naturwissenschaft oder der Geschichte. Das macht deutlich, warum Transfer des Trainings auf schulisches Lernen zu erwarten ist. Die Lösung der sechs Kernaufgaben des induktiven Denkens mit Hilfe der Strategie des Vergleichens ist Gegenstand einer systematischen Denkerziehung. 18.1.3 Die Trainingsprogramme Für Kinder und Jugendliche stehen drei Programme zur Verfügung (Klauer, 1989, 1991, 1993): – „Denktraining für Kinder I“ für etwa 5- bis 8-jährige Kinder, – „Denktraining für Kinder II“ für etwa 10- bis 13-jährige Kinder, – „Denktraining für Jugendliche“ für junge Menschen etwa ab 15 Jahren. Tabelle 2: Trainingsziele der zehn Lektionen Lektion

Trainingsziel

Erläuterung

1

Naives Problemlösen.

Aufgaben lösen lassen, ohne auf die Art der Lösung oder der Aufgaben einzugehen. Vertrautwerden mit dem Material.

2

Unterscheiden von Merkmalen und Relationen.

Einführung der Begriffe »Eigenschaft« und »Beziehung«. Alle bisherigen Aufgaben entsprechend sortieren.

3

Die drei Merkmalsklassen kennen.

Die drei Klassen unterscheiden lernen. Alle bisherigen Merkmalsaufgaben entsprechend einordnen.

4

Die drei Relationsklassen kennen.

Die drei Klassen unterscheiden lernen. Alle bisherigen Relationsaufgaben einordnen.

5

Lösungs- und Kontrollprozess bei Gleichheit von Merkmalen bzw. Relationen kennen.

Herausarbeiten, wie GE- und BE-Aufgaben gelöst werden und wie man die Lösung durch die Gegenoperation prüft.

6

Lösungs- und Kontrollprozess bei Verschiedenheit von Merkmalen bzw. Relationen kennen.

Herausarbeiten, wie DI- und BU-Aufgaben gelöst werden und wie man die Lösung durch die Gegenoperation prüft. Wiederholung des Sortierens.

7

Lösungs- und Kontrollprozess bei Gleichheit und Verschiedenheit kennen.

Herausarbeiten, wie KK- und SB-Aufgaben gelöst werden und wie man die Lösung überprüft. Wiederholung des Sortierens.

8

Merkmalsaufgaben wiederholen und Prozesse automatisieren.

Einübung und Festigung der Erkennens-, Lösungsund Kontrollprozesse bei Merkmalsaufgaben.

9

Relationsaufgaben wiederholen und Prozesse automatisieren.

Einübung und Festigung der Erkennens-, ­Lösungsund Kontrollprozesse bei Relationsaufgaben.

10

Gemischte Wiederholung zur Automatisierung der Prozesse.

Einübung und Festigung der Erkennens-, Lösungsund Kontrollprozesse bei allen Arten von Aufgaben.



Kapitel 18: Förderung des Lernens durch Förderung des Denkens | 297

Das Denktraining für Jugendliche ist speziell für lernschwache junge Menschen gedacht, bei denen mit Problemen bei der beruflichen Eingliederung zu rechnen ist. Denktraining II ist relativ anspruchsvoll und kommt für Hauptschüler, Realschüler und Gymnasiasten in Frage. Das Denktraining I kann gut begabten Kindern schon früher, lernschwachen Kindern jedoch auch deutlich später mit Erfolg gegeben werden. Die drei Programme sind völlig analog konstruiert. Sie bieten jeweils 20 Aufgaben für jede der sechs Aufgabenklassen, also insgesamt 120 Aufgaben. Dabei wird vorgeschlagen, die Programme in zehn Lektionen zu je zwölf Aufgaben durchzunehmen. Bewährt hat sich, pro Woche zwei Lektionen zu geben, so dass das Programm in fünf Wochen durchgeführt ist. Für jede Lektion besteht ein eigenes Lehrziel, das Tabelle 2 zu entnehmen ist. Wie man sieht, werden nicht nur kognitive Ziele vermittelt, sondern auch metakognitive: Die Probanden sollen die Aufgabenklassen mindestens so kennen lernen, dass sie die Anforderungen einer neuen Aufgabe identifizieren sowie ihr Vorgehen planen, steuern und überwachen können, und schließlich sollen sie in der Lage sein, ihre Lösungen selbst zu kontrollieren. Nach ähnlichen Prinzipien ist ein Trainingsprogramm aufgebaut, das für Senioren zum Selbsttraining geeignet ist und jene kritischen Funktionen trainiert, die im Alter vom Abbau bedroht sind (Klauer, 2002a).

18.2 Ergebnisse der empirischen Erprobungen Inzwischen – Stand Herbst 2003 – sind 74 experimentelle Erprobungen veröffentlicht worden, in denen eines der Programme durchgeführt und seine Effekte mit dem Effekt des regulären Schulunterrichts, zum Teil auch mit dem Effekt eines anderen Trainingsprogramms verglichen wurden. Davon stammen 33 aus dem eigenen Arbeitskreis, während 41 von anderen Autoren publiziert wurden. Über 3.200 Kinder waren in diese Untersuchungen einbezogen, eine Datenbasis, die kein anderes deutsches Trainingsprogramme bisher aufzuweisen hat. Die Ergebnisse sollen metaanalytisch zusammengefasst werden (zur Methodik dieser Metaanalysen vgl. Klauer, 2001, S. 180 ff.; Walter in diesem Band), wobei ich hier nur auf das Maß der Effektstärke d kurz eingehe. Das d-Maß ist definiert als standardisierte Differenz der Mittelwerte von Trainings- und Kontrollgruppe. Dabei wurden Leistungsunterschiede, die schon vorher zwischen den Gruppen bestanden, durch ein Korrekturverfahren dkorr ausgeglichen (dkorr = dpost – dprä). Eine Effektstärke von 1 bedeutet, dass ein trainiertes Kind ein nicht trainiertes um durchschnittlich eine Standardabweichung trainingsbedingt übertrifft. Das entspricht einer Verbesserung des Durchschnittskindes um 36 Rangplätze. Die Effektstärke von 0,5 entspricht einer Verbesserung des Durchschnittskindes um 19 Rangplätze. Abbildung 1 zeigt die Häufigkeitsverteilung der Effektstärken, die in den Trainingsexperimenten auf Intelligenztests erzielt worden sind. Man entnimmt der Abbildung, dass es eine große Variabilität gibt: Wenige Experimente zeigten überhaupt keine Effekte, andere mäßige, während das Gros mittlere und viele sehr hohe Effektstärken brachten. Die nächstliegende Erklärung ist, dass es große Unterschiede im Hinblick darauf gibt, wie die einzelnen Trainerinnen und Trainer mit den Kindern und dem Programm zurechtkommen, was auch sonst für pädagogische Interventionen gilt.

| Teil V: Interventionen

16 14 Häufigkeiten

12 10 8 6 4 2 0 0

0,13 0,25 0,38

0,5

0,63 0,75 0,88

1

1,13 1,25

Effektstärke

Abbildung 1: Effekt des Denktrainings auf Intelligenztestleistung (Gesamtgruppe)

Halten diese Effekte auch vor? In 25 Experimenten bestand die Möglichkeit, den Intelligenztest längere Zeit nach dem Training erneut zu geben. Dieser Retest fand zwischen 3 und 15 Monaten nach Abschluss des Trainings statt – im Mittel nach 7 Monaten. Wie der Abbildung 2 zu entnehmen ist, kann von einem Abfall keine Rede sein. Tatsächlich wächst der Trainingseffekt sogar mit der Zeit. Die Partialkorrelation zwischen der Anzahl der Monate und der Effektstärke beim späteren Test unter Auspartialisierung der Effektstärke unmittelbar nach dem Training ist signifikant positiv (rp = 0,42, p < 0,05, FG = 22). Die trainierten Kinder wenden die Strategie des induktiven Denkens nicht nur auch später noch an, sondern offenbar später sogar noch etwas besser.

1

Effektstärke

298

0,8 0,6 0,4 0,2 0 Unmittelbar nach dem Training

Ca. 7 Monate später

Abbildung 2: Effekt des Denktrainings auf Intelligenztests unmittelbar nach dem Training und 7 Monate später (Gesamtgruppe)

Kapitel 18: Förderung des Lernens durch Förderung des Denkens | 299



1

Effektstärke

0,8 0,6 0,4 0,2 0 Intelligenz

Lernen

Abbildung 3: Effekt des Denktrainings auf Intelligenz und schulisches Lernen (Gesamtgruppe)

In 46 Experimenten wurde der Trainings- und der Kontrollgruppe gemeinsam nach Abschluss der Trainingsphase eine Unterrichtsstunde gegeben, z. B. in Erdkunde, Biologie, Gemeinschaftskunde, Mathematik usw. Danach wurden die Ergebnisse des Lernens durch einen entsprechenden lehrzielorientierten Test am Ende der Unterrichtsstunde festgestellt. Abbildung 3 zeigt die im Mittel erzielten Ergebnisse. Das Training wirkte sich offensichtlich auf schulisches Lernen noch besser aus als auf die Intelligenz. Die genauen Mittelwerte der Effektstärken in den Abbildung 1, 2 und 3 lauten so: Md = 0,60 auf Maße der Intelligenz unmittelbar nach dem Training, Md = 0,77 auf Maße der Intelligenz zwischen 3 und 15 Monaten später und Md = 0,70 auf Maße des schulischen Lernens. Diese Werte beziehen sich auf die Gesamtgruppe. Von besonderem Interesse dürften aber auch die Werte sein, die in der Teilgruppe von behinderten und benachteiligten Kindern erzielt worden sind. Zu der Teilgruppe der Lernschwachen wurden alle Kinder aus Sonderschulen zusammengefasst, aber auch ältere Behinderte aus einer Behindertenwerkstatt sowie (gemäß einer großen niederländischen Trainingsstudie) Immigrantenkinder aus niedrigem sozioökonomischen Status. Insgesamt besteht die Teilgruppe der Lernschwachen aus 1.231 Probanden. Abbildung 4 zeigt die Verteilung der 24 Effektstärken, die bei Trainingsexperimenten in der Gruppe der Lernschwachen auf Intelligenztests erzielt worden sind. Wie in Abbildung 1 findet man auch hier eine beachtliche Variabilität, wobei in der Mehrzahl der Fälle jedoch bemerkenswerte Effekte resultierten. Leider war es nur in 6 Experimenten möglich, den Intelligenztest in der Gruppe der Lernschwachen Monate später erneut zu geben. Das geschah zwischen 3 und 10 Monaten später, im Mittel rund 6 Monate später. Abbildung 5 macht deutlich, dass auch in dieser Gruppe von einem Abfall des Effekts keine Rede sein kann. In der Gruppe der Lernschwachen waren 15 Experimente so angelegt, dass der Transfer des Trainings auf das Lernen in einer gemeinsamen Unterrichtsstunde ermittelt werden konnte. Wie aus Abbildung 6 hervorgeht, wirkte sich das Training hier noch stärker

| Teil V: Interventionen 8

Häufigkeiten

6 4 2 0 bis 0,1

0,3

0,5

0,7

0,9

1,1

1,3

Effektstärken Abbildung 4: Effekt des Denktrainings auf Intelligenztestleistung (Lernschwache Probanden)

1

Effektstärke

300

0,8 0,6 0,4 0,2 0 Unmittelbar nach dem Training

Ca. 7 Monate später

Abbildung 5: Effekt des Denktrainings auf Intelligenztests unmittelbar nach dem Training und 7 Monate später (Lernschwache Probanden)

auf das Lernen als auf die Intelligenz aus, ein Ergebnis, das sich in der Gesamtgruppe schon so dargestellt hatte. Die entsprechenden Mittelwerte zu den Abbildungen 4, 5 und 6 lauten: Md = 0,60 auf Maße der Intelligenz unmittelbar nach dem Training, Md = 0,63 auf Maße der Intelligenz zwischen 3 und 10 Monaten später und Md = 0,95 auf Maße des schulischen Lernens.

Kapitel 18: Förderung des Lernens durch Förderung des Denkens | 301



1

Effektstärke

0,8 0,6 0,4 0,2 0 Intelligenz

Lernen

Abbildung 6: Effekt des Denktrainings auf Intelligenz und schulisches Lernen (Lernschwache Probanden)

18.3 Diskussion und Schlussfolgerungen Zunächst ist festzuhalten, dass das Denktraining bei normal begabten, bei hochbegabten, aber auch bei lernschwachen Kindern zu einer deutlichen Steigerung intellektueller Leistungen führt. Diese Leistungssteigerung ist nicht vorübergehender Natur. Sie überdauert den bisherigen Beobachtungszeitraum deutlich, ja sie nimmt sogar im Laufe der Zeit nachweislich noch zu. Die Schere zwischen Kindern, die das Training erhalten haben, und Kindern, die es nicht erhalten haben, öffnet sich im Laufe der Zeit weiter. Solche Schereneffekte sind in der Literatur gelegentlich schon nachgewiesen worden (Cook, Appleton, Connor & Schaffer, 1975; Walberg & Tsai, 1983). Allerdings stellten sie sich nur relativ selten ein. In aller Regel wird Gelerntes, wenn es nicht dauernd gebraucht wird, früher oder später vergessen. Insofern sind Schereneffekte, wenn sie denn nachzuweisen sind, besonderer Erklärung bedürftig. Zur Erklärung lassen sich zwei Überlegungen heranziehen. Die eine nimmt an, dass das im Training Gelernte auch weiterhin spontan und außerhalb des Trainings genutzt wird. Da im vorliegenden Fall das Training auch auf reguläres Lernen im Unterricht nachweislich transferiert, spricht Vieles dafür, dass die Strategie des induktiven Denkens in der Tat auch außerhalb des Trainings eingesetzt und somit durch weitere Übung verbessert wird. Die zweite Überlegung nimmt an, dass die erzielten Effekte ihrerseits Ursache werden für neue Effekte. Das kann man sich so vorstellen: Angenommen, ein Kind lernt früh lesen und gewinnt Spaß am Lesen und erwirbt auf diese Weise viel neues Wissen, mehr als andere weniger motivierte Kinder. Nun ist bekannt, dass spezifisches Vorwissen einerseits und Motivation andererseits neues Lernen stark begünstigen. Insofern ist verständlich, dass ein solches Kind auch zukünftig mehr Wissen erwirbt, dass sich also die Schere weiter öffnet. Ähnlich kann man sich vorstellen, mit Hilfe der gelernten Strategie des induktiven Denkens würde weiteres Wissen erworben, das sich auf den späteren Wissenserwerb

302

| Teil V: Interventionen förderlich auswirkt. So können langfristige Wirkungen eines relativ kurzen Trainings erklärbar werden. Weiterhin ist von besonderem Interesse, dass der Effekt des Trainings auf das Lernen deutlich größer ist als auf die Intelligenz. Es gibt einige mögliche Erklärungen für diesen Befund. Die einfachste wäre wohl, den unterschiedlichen Effekt in den unterschiedlichen Materialarten von Training, Intelligenztests und Unterricht zu suchen. Das Training bietet weit überwiegend sinnvolles Material, wie es Kindern auch im Unterricht begegnet, wohingegen die meisten der eingesetzten Intelligenztests sinnfrei-abstraktes Material enthalten. So könnte der Transfer auf anderes sinnvolles Material leichter sein als auf das abstrakte sinnarme Material der Intelligenztests. Ob diese Erklärung ausreicht, wäre noch näher zu untersuchen. In jedem Fall dürften Eltern wie Lehrkräfte den starken Effekt auf das Lernen begrüßen. Sieht man von den Mittelwerten einmal ab, so interessiert die Frage, wie sich die Effekte auf Einzelfallebene darstellen, also bei einzelnen Kindern. In einem größeren Trainingsprojekt mit 279 Erstklässlern konnte dieser Frage nachgegangen werden (­Klauer, 2002b). Dabei ergab sich Folgendes: 68 % der trainierten Kinder profitierten im Laufe der Zeit überdurchschnittlich, was nur 10 % der nicht trainierten Kinder gelang. Wurden zwei Tests herangezogen, so erhöhte das Training die Wahrscheinlichkeit, in beiden überdurchschnittlich zuzulegen, sogar um das Siebenfache. Bei rund einem Drittel der Kinder hat das Training nichts gebracht, geschadet hat es dagegen praktisch nie. Allerdings entwickelte sich über die Hälfte der Kinder, die kein Training erhalten hatten, in der Folge unterdurchschnittlich. Man wird also zusammenfassend feststellen können, dass es ein entschiedener Vorteil für ein Kind ist, wenn es am Training teilnehmen kann, und ein entschiedener Nachteil, wenn ihm das Training vorenthalten wird. Da das Training aber nur auf 10 Lektionen konzipiert ist, lässt sich schwer vertreten, es nicht durchzuführen. Bei Effektstärken wie den vorliegenden würde man in der Medizin von einem unverzeihlichen Kunstfehler sprechen, wenn eine solche Behandlung unterlassen würde. Hager und Hasselhorn (1993, 1995) haben insgesamt drei verschiedene Hypothesen vorgetragen, um die Effekte anders zu erklären. Diese Bedenken haben viel Aufmerksamkeit gefunden und veranlassten die unterschiedlichsten Autoren zu eigenen gezielten Untersuchungen. Eine der Alternativhypothesen war, das Denktraining fördere nur Wahrnehmungsleistungen, eine Hypothese, die heute schon deshalb widerlegt ist, weil die vielfältigen Effekte auf schulisches Lernen nicht durch bloße Wahrnehmungsförderung erklärbar sind. Des Weiteren haben sie die Effekte für solche gehalten, die auf die bloße Zuwendung zurückzuführen sind. Mehrfach wurde aber in Untersuchungen festgestellt, dass sich die Effekte von denen einer Zuwendungs- oder einer andersartig trainierten Gruppe signifikant unterscheiden (z. B. Langfeldt & Schlieper, 1999; Souvignier, 1998). Schließlich hielten sie für möglich, die Effekte könnten als Effekte von Testcoaching verstanden werden, die rasch verschwinden (Hager, Hübner & Hasselhorn, 2000). Die langfristig überdauernden Effekte widerlegen jedoch auch diese Annahme. Nimmt man alles in allem, so trugen die Einwände jedoch dazu bei, das Denktraining zu dem mit Abstand am besten evaluierten deutschsprachigen Training zu machen.



Kapitel 18: Förderung des Lernens durch Förderung des Denkens | 303

Literatur Cook, T. D., Appleton, H., Connor, R. & Schaffer, A. (1975). Sesame street revisited: A case study in evaluation research. New York: Russel Sage. Csapó, B. (1997). The development of inductive reasoning: Cross-sectional assessments in an educational context. International Journal of Behavioral Development, 20, 609-626. Engelen, P. (1927). Gedächtniswissenschaft und die Steigerung der Gedächtniskraft (9. Auflage). München: Verlag der Ärztlichen Rundschau. Hager W. & Hasselhorn, M. (1993). Induktives Denken oder elementares Wahrnehmen? Prüfung von Hypothesen über die Art der Wirkung eines Denktrainings für Kinder. Empirische Pädagogik, 7, 421-458. Hager, W. & Hasselhorn, M. (1995). Zuwendung als Faktor der Wirksamkeit kognitiver Trainings für Kinder. Zeitschrift für Pädagogische Psychologie, 9, 163-179. Hager, K., Hübner, S. & Hasselhorn, M. (2000). Zur Bedeutung der sozialen Interaktion bei der Evaluation kognitiver Trainingsprogramme. Zeitschrift für Pädagogische Psychologie, 14, 106-115. Kallas, R. G. (1897). Gedächtnislehre. Dorpal: Laakmann. Klauer, K. J. (1989). Denktraining für Kinder I. Göttingen: Hogrefe. Klauer, K. J. (1991). Denktraining für Kinder II. Göttingen: Hogrefe. Klauer, K. J. (1993). Denktraining für Jugendliche. Göttingen: Hogrefe. Klauer, K. J. (2001). Training des induktiven Denkens. In K. J. Klauer (Hrsg.), Handbuch Kognitives Training (S. 165-209). Göttingen: Hogrefe. Klauer, K. J. (2002a). Denksport für Ältere. Geistig fit bleiben. Bern: Huber. Klauer, K. J. (2002b). Wie viele haben denn nun wirklich von dem Training profitiert? Psychologie in Erziehung und Unterricht, 49, 210-218. Langfeldt, H.-P. & Schlieper, J. (1999). Aspekte der konvergenten und diskriminanten Validität des „Denktrainings für Kinder I“ von K. J. Klauer. Psychologie in Erziehung und Unterricht, 46, 1-6. Schaller, K. A. (1806). Magazin der Verstandesübungen als Vorbereitung zu eigentlich wissenschaftlichen Studien zum Gebrauch öffentlicher Lehranstalten und beim Privatunterricht. Halle: Hemmerde & Schwetschke. Snow, R. E., Kyllonen, P. C. & Marshalek, B. (1984). The topography of ability and learning correlations. In R. J. Sternberg (Hrsg.), Advances in the psychology of human intellgence, (Vol. 2, S. 47-103). Hillsdale, N. J.: Erlbaum. Souvignier, E. (1998). Effekte kognitiver Trainingsprogramme der Vorstellungsfähigkeit und des induktiven Denkens auf die Problemlösefähigkeit. Zeitschrift für Experimentelle Psychologie, 45, 20-28. Van de Vijver, F. (1991). Inductive thinking across cultures: An empirical investigation. Unveröffentlichte Dissertation, Universität Tilburg. Walberg, H. J. & Tsai, S.-L. (1983). Matthew effects in education. American Educational Research Journal, 20, 259-373.

19 Förderung der Wahrnehmung Michaela Greisbach Wahrnehmung ist ein aktiver Prozess, bei dem sich der Mensch mit allen Sinnen die Umwelt aneignet und sich mit ihr auseinandersetzt. Unter Wahrnehmung versteht man nicht nur die Aufnahme, Weiterleitung und Speicherung von Reizen, sondern auch die Verarbeitung der Sinneseindrücke zu individuell bewerteten Empfindungen. Zimmer definiert Wahrnehmung daher ... als den Prozess der Informationsaufnahme aus Umwelt- und Körperreizen (äußere und innere Wahrnehmung) und der Weiterleitung, Koordination und Verarbeitung dieser Reize im Gehirn. ... In der Regel folgen der Aufnahme und Verarbeitung von Informationen Reaktionen in der Motorik oder im Verhalten eines Menschen, die wiederum zu neuen Wahrnehmungen führen. (Zimmer, 2003, S. 32)

19.1 Der Prozess der Wahrnehmung Der Wahrnehmungsprozess ist ein ganzheitlicher Vorgang, auf den verschiedene Faktoren einwirken. Neben der aktuellen emotionalen Befindlichkeit (Aufmerksamkeit, Motivation etc.) wird die Informationsverarbeitung von der individuellen emotionalen Wertung eines Reizes (Erwartungen und Überzeugungen) und der Verknüpfung mit zuvor gespeicherten Erfahrungen beeinflusst. Zimbardo und Gerrig (1999) teilen den Wahrnehmungsvorgang, d. h. die Aufnahme und Auswertung von Informationen aus der Umwelt, in drei Stufen ein: Empfinden, Organisieren sowie Identifizieren und Einordnen.

1. Reiz-Aufnahme über Sinnesorgane (Input)

9. Rückmeldung

8. Reaktion (Output)

2. Weiterleitung zum Gehirn

3. Auswahl und Filterung

4. Speicherung

7. Einordnen, Erkennen

6. Integration verschiedener Sinnesmodalitäten 5. Vergleichen mit bisher Wahrgenommenem

Abbildung 1: Sensu-motorischer Regelkreis (Muders, 1991, S. 310)



Kapitel 19: Förderung der Wahrnehmung | 305

Empfinden (Empfindung) bezieht sich auf die Umwandlung physikalischer Energie in neural kodierte Information, die vom Gehirn weiterverarbeitet werden kann. Auf der nächsten Stufe, der Organisation der Wahrnehmung (perzeptuelle Organisation), wird eine innere Repräsentation des Objekts oder Ereignisses aufgebaut und ein Perzept des äußeren Reizes gebildet. Beim Identifizieren und Einordnen („recognition“), dem dritten Schritt der Wahrnehmungssequenz, werden Perzepten Bedeutungen zugewiesen. (Zimbardo & Gerrig, 1999, S. 148 f.) Abbildung 1 zeigt: Die aufgenommenen Reize werden über afferente Nervenbahnen geleitet und zunächst im Hirnstamm gesammelt. Selektionsprozesse unterdrücken schon an dieser Stelle bis zu 99 % aller Reize. Die verbleibenden Nervenimpulse werden zum größten Teil auf niederem Hirnniveau weiterverarbeitet. Nur ein minimaler Rest der Sinneseindrücke wird bewusst wahrgenommen. Durch das Filtern der Körper- und Umweltreize ist eine Konzentration auf relevante Informationen – und somit auch Lernen – erst möglich.

19.2 Die Bedeutung der Wahrnehmung Sinneserfahrungen bilden die Basis menschlichen Lernens. Gerade in der Embryonalphase und in den ersten Lebensjahren sind neben Reifungsprozessen die Sinneseindrücke von wesentlicher Bedeutung für die Gehirnentwicklung. Nervenzellen sind zwar bei der Geburt ausgebildet, eine Differenzierung muss jedoch noch erfolgen. Dies geschieht in Abhängigkeit von den Reizen, welche die Umwelt dem Säugling und Kleinkind bietet. Dabei werden die Nervenzellen aktiviert, sie bilden Dendriten und neuronale Verbindungen (Synapsen) aus. Wahrnehmungsprozesse sind folglich überaus wichtig für die menschliche Entwicklung, denn die Aufnahme, Speicherung und Verarbeitung von Reizen ist Voraussetzung für die Gehirnentwicklung. Gleichzeitig beeinflussen diese gespeicherten Informationen die Aufnahme, Speicherung und Verknüpfung neuer Reize. Somit kommt der Umwelt eine große Bedeutung zu. Sie bestimmt die Art, die Quantität und die Qualität der Reizdarbietung sowie die Vielfalt der Wahrnehmungseindrücke (Modalitäten). Nicht ohne Grund wird an dieser Stelle in der Literatur häufig auf eine sich verändernde Kindheit hingewiesen. Die zunehmende Technisierung und Mediatisierung führt bei Kindern zu einem Überangebot an optischen und akustischen Reizen.

19.3 Wahrnehmungsstörungen Grundsätzlich können drei Arten von Störungen im Wahrnehmungsprozess unterschieden werden (Muders, 1991, S. 310). Liegen Veränderungen bzw. Einschränkungen bei der Reizaufnahme durch die Sinnesorgane oder bei der Weiterleitung der Impulse über die afferenten Bahnen vor, so spricht man von Sinnesbeeinträchtigungen. Eine zentrale Wahrnehmungsstörung betrifft die zentralnervösen Informationsverarbeitungsprozesse. „Diese kann in ihrem gestörten Funktionsanteil nicht exakt lokalisiert werden, sie lässt sich nur an ihrem Ergebnis, der nicht angepassten motorischen, sprach-

306

| Teil V: Interventionen lichen oder Verhaltensreaktion, ablesen“ (Muders, 1991, S. 310). Zimmer (2003, S. 160) unterteilt Wahrnehmungsstörungen in a) modalitätsspezifische Störungen (Verarbeitungsprobleme in einzelnen Bereichen der visuellen, auditiven, taktilen, kinästhetischen und vestibulären Wahrnehmung), b) intermodale Störungen (Beeinträchtigung bei der Verknüpfung der Sinneseindrücke) und c) seriale Störungen (mangelnde Fähigkeit, ein räumliches oder zeitliches Nacheinander von Reizen zu erkennen). Störungen in lediglich einem Wahrnehmungsbereich sind nur selten zu beobachten (Brand, Breitenbach & Maisel, 1988, S. 66). Zentrale Wahrnehmungsstörungen sind nicht nur schwer lokalisierbar, auch deren Ursache ist meist nicht eindeutig feststellbar. Multifaktorielle Erklärungsansätze (z. B. Zimmer, 2003, S. 158 ff.) nennen als Faktoren organische Beeinträchtigungen (Hirnfunktionsstörungen wie eine verminderte neuronale Vernetzung oder Störungen der Transmitterausschüttung) und hemmende Einflüsse der Umwelt. Neben genetischen Dispositionen werden als organische Ursachen pränatale Schädigungen (Infektionskrankheiten in der Schwangerschaft, toxikologische Einwirkungen durch Nikotin, Alkohol, Drogen), perinatale Einwirkungen (Sauerstoffmangel durch Komplikationen während der Geburt) oder postnatale Beeinträchtigungen (z. B. Hirnhauterkrankungen, SchädelHirn-Traumata, Mangelernährung) vermutet. Als umweltbedingte Ursachen kommen ein Mangel an Entwicklungsreizen oder unausgewogene Reizeinflüsse in Frage. Quantität und Qualität von Wahrnehmung sind abhängig von Erwartungen, vorhandenen Gedächtnisinhalten, Motivation etc. Somit können bei intakter Reizaufnahme und -verarbeitung auch mangelnde oder veränderte Umweltreize Einfluss auf den Wahrnehmungsprozess nehmen. Dies kann zu einer erfahrungs- oder soziokulturell bedingten Wahrnehmungseinschränkung führen. Wahrnehmungsstörungen werden häufig im Zusammenhang mit Erklärungsmodellen zur Entstehung von Lernbehinderung genannt (z. B. Kanter, 1980; Schröder, 2000). Auch wenn der direkte Einfluss von Defiziten in der Wahrnehmungsleistung auf spezifische Schulleistungen wie Lesen, Schreiben und Rechnen nicht ausreichend empirisch belegt ist, betonen Forschungsergebnisse beispielsweise aus der Neuropsychologie die Bedeutung von Körper- und Umweltreizen auf die frühe Entwicklung des Zentralnervensystems (Breitenbach, 1996, S. 408). Ausgehend von der Plastizität des Gehirns wird in diesem Zusammenhang auch die Relevanz der frühen Förderung potentiell lernbehinderter Kinder abgeleitet, wächst doch ein hoher Prozentsatz in anregungsarmer Umgebung auf. Gefordert wird eine Anregung der Lernprozesse über die Förderung von Wahrnehmung, Sprache und Motorik im sozial-emotionalen Kontext (Kiphard, 1993; Schmutzler, 1999). Im Folgenden sollen am Beispiel der Diagnostik und Förderung der visuellen Wahrnehmung Möglichkeiten und Grenzen der Anregung von Wahrnehmungsprozessen aufgezeigt werden. Dies geschieht vor dem Hintergrund, dass Störungen visueller Verarbeitungsprozesse häufig als Ursachen für ein Versagen beim Erwerb der Kulturtechniken genannt werden, ohne dies kritisch zu hinterfragen.

19.4 Diagnostik Im Bereich der Diagnose visueller Wahrnehmungsstörungen sind verschiedene normierte Testverfahren im Einsatz. Tabelle 1 führt die Verfahren auf, die sich mit dieser spezi-

Kapitel 19: Förderung der Wahrnehmung | 307



Tabelle 1: Testverfahren zur Überprüfung der visuellen Wahrnehmungsleistungen Testverfahren

Altersnormierung

DTVP-2

Developmental Test of Visual Perception (Hammill, Pearson & Voress, 1993)

4;0 – 9;11

FEW

Frostigs Entwicklungstest der visuellen Wahrnehmung (Lockowandt, 2000)

4;0 – 8;11

POB-4

Prüfung optischer Differenzierungsleistungen bei Vierjährigen (Sauter, 2001)

4;0 – 4;11

POB

Prüfung optischer Differenzierungsleistungen (Sauter, 1979)

5;0 – 7;7

VSRT

Visuomotorischer Schulreifetest (Esser & Stöhr, 1990)

5;6 – 6;11

fischen Problematik beschäftigen. Die jeweiligen Altersangaben beziehen sich auf den Einsatzbereich, für den der Test Vergleichswerte bietet. Unberücksichtigt bleiben dabei allgemeine Entwicklungstests wie z. B. die Basisdiagnostik für umschriebene Entwicklungsstörungen im Vorschulalter (BUEVA) von Esser (2002), die zur diagnostischen Abklärung neben anderen Bereichen auch Wahrnehmungsleistungen überprüfen. Im deutschsprachigen Raum ist der bekannteste Test der FEW, Frostigs Entwicklungstest der visuellen Wahrnehmung (Lockowandt, 2000). Dieser geht auf den Developmental Test of Visual Perception zurück, den Marianne Frostig und Mitarbeiter zwischen 1958 und 1963 in den Vereinigten Staaten entwickelten. Die Übertragung ins Deutsche erfolgte durch Lockowandt (erste Veröffentlichung 1972). Die jetzige, in neunter Auflage vorliegende Form unterscheidet sich nur wenig von der ursprünglichen Fassung. Neben einer Veränderung der Skalen wurde lediglich die Normierung (1 200 Kinder aus dem Raum Bielefeld) um 300 Kinder im Alter von acht Jahren aus dem gleichen Einzugsgebiet erweitert. Der FEW misst das Verhalten der Ruhewahrnehmung (static perception), also Wahrnehmungsbereiche, denen keine Veränderung in der Zeit zu Grunde liegen. Überprüft werden die Wahrnehmungsfunktionen Visuo-motorische Koordination (kontrollierte Augen- und Handbewegungen), Figur-Grund-Unterscheidung (Wahrnehmung von Figuren auf zunehmend komplexerem Grund), Formkonstanz-Beachtung (Wiedererkennung von Figuren unterschiedlicher Größe und Lage), Erkennen der Lage im Raum (Unterscheidung von Objekten von spiegelbildlich oder gedrehten Objekten) sowie Erfassen räumlicher Beziehungen (Abzeichnen von Strichmustern in Punktmatrizen). Die in den fünf Untertests operationalisierten Wahrnehmungsfähigkeiten stehen nicht – wie manchmal fälschlich angenommen – für die Gesamtheit des visuellen Wahrnehmungsprozesses. Bei ihnen handelt es sich nach Frostig um „wichtige Komponenten des Prozesses, denen besondere Bedeutung für die Schulleistung zuzukommen scheint“ (1963, S. 464, zitiert nach Lockowandt, 2000, S. 11). Somit ist auch mit dem (im Vergleich zu den anderen genannten Wahrnehmungstests) umfangreichen Inventar keine generelle Diagnose der visuellen Wahrnehmungsfähigkeit möglich. Weiterhin lässt sich

308

| Teil V: Interventionen eine Aussage über die – von Frostig postulierte – Spezifität der in den fünf Untertests geprüften Wahrnehmungsfunktionen auf Grund der Ergebnisse verschiedener Studien nicht abschließend treffen (Lockowandt, 2000, S. 14). So ermittelte Dacheneder (1993) in einer Faktorenanalyse des FEW nur zwei Faktoren der visuellen Wahrnehmung, von ihm interpretiert als graphomotorische Kompetenz und als Fähigkeit des Form- und Gestalterfassens. Zudem liegt aufgrund der hohen Korrelation des FEW mit Intelligenztestwerten die Vermutung nahe, dass hier Intelligenzfunktionen (mit)gemessen werden (Larsen & Hammill, 1975; Wember, 1982). Die Resultate dieser und weiterer Faktorenanalysen zeigen deutlich, dass eine Interpretation des FEW auf der Ebene einzelner Untertests nicht möglich ist. Somit kann auch eine Förderung der visuellen Wahrnehmung (also spezifische Förderziele) nicht aus Einzelergebnissen der getesteten Teilbereiche abgeleitet werden. Neben der Interpretation auf der Basis von Untertestergebnissen ist auch die generelle Aussagekraft des FEW problematisch. Als eigentliches Ziel verfolgte Frostig die Ableitung spezifischer Förderschwerpunkte (vgl. 19.5) bei Kindern mit Lernstörungen im schulischen Bereich. Sie berichtet von zwei Untersuchungen, die einen Zusammenhang zwischen den Testergebnissen und der späteren Leseleistung fanden. Valtin (1972), Ohnmacht und Olson (1968) sowie Olson und Johnson (1970) konnten dagegen nur eine niedrige prognostische Validität des FEW hinsichtlich der Leseleistung ermitteln. Lockowandt kommt aufgrund der referierten Untersuchungsergebnisse zu dem Schluss, dass die Wahrnehmungsfunktionen des FEW nur eine untergeordnete Rolle für die Leseleistung spielen. „Die gefundenen Zusammenhänge lassen dann auf eine nur sehr geringe Beteiligung eigentlicher Wahrnehmungsfunktionen beim Lesen schließen, jedenfalls insofern und insoweit der FEW die visuelle Wahrnehmung diagnostiziert“ (Lockowandt, 2000, S. 27). Somit kann die Annahme von Frostig, welche die Defizite in der visuellen Wahrnehmung zwar nicht als einzige Ursache für Probleme beim Lesen lernen aber zu deren wichtigsten Faktoren zählt, nicht unterstützt werden. Neuere Forschungsansätze zur Leseforschung haben gezeigt, dass vielmehr Faktoren wie die phonologische Rekodierung von zentraler Bedeutung für das Lesenlernen sind (z. B. Klicpera & Gasteiger-Klicpera, 1995). Neben dem Verweis auf eine mögliche Überschätzung der Testergebnisse hinsichtlich ihrer prognostischen Aussagefähigkeit werden weitere Kritikpunkte am FEW genannt. So bemängelt Dacheneder (1997, S. 143 f.) die Durchführungsform als PapierBleistift-Test, die ausschließlich graphomotorische Tätigkeiten erfordert. Zudem benachteiligt zumindest der Untertest Erfassen räumlicher Beziehungen linkshändige Kinder, da diese mit der Schreibhand die Vorlage, die abzuzeichnen ist, verdecken. Dacheneder kritisiert ebenfalls die Signierung der Aufgaben. Eine differenzierte Auswertung hinsichtlich teilweise richtig gelöster Aufgabenstellungen ist meist nicht möglich, was nach Lienert und Raatz (1998) eine Erhöhung der Reliabilität des Tests zur Folge hätte. Mit dem DTVP-2, dem Developmental Test of Visual Perception, liegt nun seit 1993 eine Überarbeitung und Neukonstruktion des DTVP vor, bei der Hammill, Pearson und Voress verschiedene Kritikpunkte, insbesondere die Ergebnisse von Faktorenanalysen, aufgegriffen haben. Der DTVP-2 besteht aus acht Untertests. Bei der Hälfte der Untertests bleiben die graphomotorischen Anforderungen hoch, denn die Aufgaben sind weiterhin als Papier-Bleistift-Test konzipiert. Bei der anderen Hälfte ist dagegen eine geringe Motorikbeteiligung erforderlich. Hier sollen die Kinder lediglich auf die richtige Lösung

Kapitel 19: Förderung der Wahrnehmung | 309



Tabelle 2: Untertests des DTVP-2 (Hammill, Pearson & Voress, 1993) unter Berücksichtigung der graphomotorischen Anforderungen (Dacheneder, 1997, S. 146) Motorikbeteiligung hoch Eye-Hand-Coordination

Auge-Hand-Koordination

Position in Space

Lage im Raum

Copying

Nachzeichnen

Figure-Ground

Figur-Grund

Spatial Relations

räumliche Beziehung

Visual Closure

Gestaltschließen

Visual-Motor-Speed

visuo-mot. Geschwindigkeit

gering

+ + + + + + +

(oder die richtigen Lösungen) zeigen. Die Abfolge der Untertests ist so angeordnet, dass sie abwechselnd eine hohe und eine geringe motorische Leistung verlangen. Beim Untertest Copying, bei dem das Kind Formen nachzeichnen muss, sind die Kästchen mit der Vorlage jetzt so angeordnet, dass Linkshänder nicht mehr benachteiligt werden. Auch die Signierung ist überarbeitet worden. Tabelle 2 gibt einen Überblick über die acht Untertests. Nach Dacheneder (1997) liegt mit dem DTVP-2 eine gelungene Überarbeitung des Developmental Test of Visual Perception von Marianne Frostig und Mitarbeitern vor.

A

B

C

D

Abbildung 2: Aufgabenbeispiele aus dem DTVP-2 (Hammill, Pearson & Voress, 1993): Visual-motor Speed (A), Copying (B), Figure-Ground (C), Visual Closure (D)

310

| Teil V: Interventionen Sowohl hinsichtlich der methodischen als auch der inhaltlichen Mängel sind wichtige Verbesserungen vorgenommen worden. Aber auch ideologisch ist ein Wandel zu verzeichnen. Die Testautoren distanzieren sich von der von Frostig hervorgehobenen Bedeutung der visuellen Wahrnehmung für schulische Lerninhalte. „Damit emanzipiert sich die Behandlung visueller Wahrnehmungsstörung von der ausschließlichen Legitimation durch Schulprobleme“ (Dacheneder, 1997, S. 157).

19.5 Förderprogramme Programme zur Förderung der Wahrnehmung zeigen ein weites Spektrum an Ansätzen. Von isolierten Funktionstrainings über psychomotorische Behandlungen bis hin zu esoterisch anmutenden Therapien reicht das Angebot. Im Folgenden wird das Wahrnehmungstraining nach Frostig vorgestellt. Zum einen gehört dieser Ansatz zu den wenigen, über die auch Evaluationsstudien vorliegen. Zum anderen ist das Programm häufig Bestandteil von Frühförderkonzepten, was auch die Neuauflage des Programms von 2000 zeigt. Marianne Frostig (1906-1985) interpretierte Lernschwierigkeiten als Entwicklungsverzögerung; Wahrnehmungsstörungen sah sie dabei als eine zentrale Ursache an. Zu Unrecht wird ihr jedoch häufig unterstellt, dass sie eine Verfechterin einseitiger visuell-perzeptiver Trainingsmaßnahmen gewesen sei (Kiphard, 1993, S. 140). Zwar weist Kiphard zu Recht darauf hin, dass die Arbeitshefte, welche die zweidimensionalen Papier-Bleistift-Aufgaben enthalten, den Benutzer dazu verleiten können, auf eine Förderung im Gesamtkonzept zu verzichten, denn selbst Interventionsstudien wie die von Sander (1973) oder Seidel und Biesalski (1973) verwenden lediglich die Arbeitsblätter, obwohl Frostig immer ein isoliertes Training der visuellen Wahrnehmung zur Behebung von Lernschwierigkeiten abgelehnt hat. Im Gegenteil: Eine erfolgreiche Förderung von Wahrnehmungsleistungen muss die Förderung von Bewegung und Sprache sowie das kognitive Niveau und die sozial-emotionale Entwicklung des Kindes einbeziehen. „Zu einem optimalen Fortschritt kommt es nur, wenn die Wahrnehmungsförderung mit Übungen der sensomotorischen Fertigkeiten, der Sprache und der höheren Denkprozesse verbunden ist“ (Frostig & Horne, 2000, S. 5). Dieser multidimensionale Ansatz spiegelt sich auch in der von Frostig verwendeten Testbatterie zur Eingangsdiagnostik wider. Neben Anamnese und Verhaltensbeobachtung werden Tests zur motorischen Entwicklung, visuellen Wahrnehmung, auditiven Diskrimination, sprachlichen Entwicklung und Intelligenz durchgeführt. Für die beiden erstgenannten Bereiche entwickelte sie an dem von ihr gegründeten und von 1947-1972 geleiteten Marianne Frostig Center of Educational Therapy in Los Angeles zusammen mit ihren Mitarbeitern standardisierte Testverfahren, den Developmental Test of Visual Perception (siehe 19.4) und den Frostig Movement Skills Test Battery (Frostig Test der motorischen Entwicklung (FTM), Frostig, 1985). Ausgehend von den ermittelten Testergebnissen wird für jedes Kind ein individuelles Förderprogramm erstellt (vgl. Reich, 1993). Für die visuelle Förderung steht dabei das Trainingsprogramm Visuelle Wahrnehmungsförderung (Frostig & Horne, 2000) zur Verfügung (bedauerlicherweise auch in der neuen Auflage ohne grafische Überarbeitung). Drei Übungshefte mit Arbeitsblättern sind den fünf Wahrnehmungsbereichen, die im FEW in den Untertests überprüft werden, zu-



Kapitel 19: Förderung der Wahrnehmung | 311

geordnet: Visuo-motorische Koordination, Figur-Grund-Wahrnehmung, Wahrnehmungskonstanz, Wahrnehmung der Raumlage sowie Wahrnehmung räumlicher Beziehungen. Diese zweidimensionalen Papier-Bleistift-Aufgabenstellungen können nach Frostig und Horne (2000) ihre volle Wirksamkeit jedoch nur entfalten, wenn zuvor und gleichzeitig sogenannte vorbereitende und ergänzende Übungen durchgeführt werden. Dazu gehören u. a. Übungen zum Körperbegriff, zum Körperschema, zum Seiten- und Richtungserkennen und sensomotorische Übungen. Durch Einbeziehen dreidimensionalen Materials und vielfältiger sprachlicher Anregungen richtet sich das Programm nach dem individuellen Entwicklungsstand des einzelnen Kindes. Besondere Aufmerksamkeit erfährt dabei die Sprachförderung, sollen hier doch die Bildung neuer Begriffe im Sinne einer Wortschatz­ erweiterung angeregt werden, um Erfahrungen einordnen zu können, Klassifizierungen und Oberbegriffe bilden zu können.

19.6 Evaluationsstudien Verschiedene Evaluationsstudien zum visuellen Wahrnehmungstraining von Frostig erbrachten ein sehr uneinheitliches Bild. Frostig (1963), Rosen (1965) und Ritz (1969) (alle drei Untersuchungen zitiert in Lockowandt, 2000, S. 71) konnten zwar Verbesserungen in den Wahrnehmungsleistungen nachweisen, die Leseleistungen veränderten sich jedoch nicht. Auch Sander (1973) oder Seidel und Biesalski (1973) berichten lediglich von Verbesserungen der Wahrnehmungsleistungen nach einem Training mit dem Frostig-Programm. Wember (1982) kommt in einem Überblicksartikel zu dem Schluss, dass manche Untersuchungen eine Verbesserung der visuellen Wahrnehmungsleistung, also einen trivialen Transfer, nachweisen konnten, aber keine Verbesserung der Leseleistung. Andere Untersuchungen, die eine Verbesserung der Leseleistung erreichten, konnten mit dem Training dagegen keine positive Veränderung im FEW nachweisen. Der fehlende Transfer einer Förderung der visuellen Wahrnehmung auf schulische Leistungen beeinflusste auch die Lese-Rechtschreibforschung. Traditionelle Ansätze sahen kognitive Funktionsstörungen – und hier insbesondere Wahrnehmungsstörungen – als eine Hauptursache für Lese-Rechtschreibschwierigkeiten an (Walter, 1996, S. 35 ff.). Oehrle (1975) konnte in einer Untersuchung sogar die Überlegenheit schwacher Leser gegenüber guten Lesern hinsichtlich der Wahrnehmungsleistung nachweisen. Zu Recht bemerkt Walter (1996, S. 40) hierzu, dass dies den Praxiserfahrungen entspricht. Kinder mit einer Leseschwäche fallen oftmals im Unterricht erst sehr spät auf, da sie zuvor mit der Taktik, sich Wörter oder Texte als Ganzes zu merken, bei dem im Anfangsunterricht begrenzten Wortschatz erfolgreich sind. Diese Annahme wird von zahlreichen Untersuchungen gestützt, die keinen positiven Zusammenhang zwischen visueller Wahrnehmungsfähigkeit und schulischem Lernen nachweisen konnten (z. B. Meyers & Hammill, 1976; Robinson & Schwartz, 1973; Wendeler, 1986). Ebenso wenig ist die Hypothese aufrecht zu halten, dass visuelle Wahrnehmungsstörungen insbesondere das Lesenlernen beeinträchtigen. Metzger und Werner (1984) konnten umgekehrt auch keinen Beweis dafür erbringen, dass Schüler mit Leseschwierigkeiten an visuellen Wahrnehmungsstörungen leiden. Somit ist von einem isolierten visuellen Wahrnehmungstraining bei Lernschwierigkeiten abzuraten (Hammill

312

| Teil V: Interventionen & Bartel, 1982; Kavale & Mattson, 1983; Kiphard, 1997; Leigh, 1986; Ross, 1987), wenn die schulischen Leistungen im Lesen oder Rechnen verbessert werden sollen. Es ist allenfalls bei sorgfältig diagnostizierten Rückständen in der Wahrnehmungsentwicklung ratsam und lässt dann auf Effekte im Wahrnehmungsbereich hoffen.

19.7 Fazit Der Begriff der Wahrnehmungsstörung wird in der Regel als eine unspezifische, nicht näher differenzierte Diagnose gebraucht. Sie „bietet kaum einen sinnvollen Zugang, die in der Praxis zu beobachtenden Auffälligkeiten von Kindern hinreichend zu beschreiben und überprüfbare Hypothesen über die Ursachen ihrer abweichenden Verhaltensweisen zu bilden“ (Nußbeck, 2002, S. 237). Eine genaue Abgrenzung zu anderen Störungsbildern gibt es nicht. Im Gegenteil: Sie erinnert in weiten Teilen an die lange Zeit übliche Diagnose einer minimalen cerebralen Dysfunktion. Am Beispiel der visuellen Wahrnehmungsförderung wurde aufgezeigt, dass die Erwartungen an nicht triviale Effekte hinsichtlich einer Verbesserung der Schulleistungen (und insbesondere der Leseleistungen) nicht erfüllt werden können. Dies wird bestätigt von den Ergebnissen einer Metaanalyse von Kavale und Mattson (1983). Bei der Berücksichtigung von 180 Untersuchungen zu psychomotorischen Wahrnehmungstrainings ergab sich eine niedrige mittlere Effektstärke von 0.08. „Von den 637 Effektmaßen waren 48 % negativ, was bedeutet, dass die Wahrscheinlichkeit, ein positives Ergebnis zu erhalten, gerade mal etwas höher war als der Zufall“ (Walter, 2002, S. 449 und in diesem Band). Trotz dieser eindeutigen Untersuchungsergebnisse werden u. a. von Schulbuchverlagen Trainingsprogramme zur Förderung der visuellen Wahrnehmung vertrieben. Klappentexte und Übungen, die Buchstaben und Zahlen einbeziehen, vermitteln den Eindruck, dass durch den Einsatz dieser Materialien eine wesentliche Voraussetzung zum Lesen-, Schreiben- und Rechnen lernen geschaffen wird. So wird eine Alltagsüberzeugung im pädagogischen Bereich weiter bestärkt, die empirisch bislang nicht verifiziert werden konnte.

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20 Psychomotorische Förderung Dietrich Eggert und Christina Reichenbach

20.1 Allgemeiner Überblick und historische Entwicklung Psychomotorische Förderung ist eine weit verbreitete Praxis Kindern mit verschiedenartigen Lern- und Entwicklungsverzögerungen durch das Medium Bewegung besser an schulische und außerschulische Lernanforderungen heranzuführen. Ihre Effektivität ist in verschiedenen Studien nachgewiesen worden (vgl. Eggert & Lütje-Klose, 1994), wenngleich Studien von Kavale und Mattson (1983) in Bezug auf die amerikanische Praxis Zweifel angemeldet haben. Den Kindern soll es durch individuell ausgerichtete psychomotorische Fördersituationen ermöglicht werden, soziale Fertigkeiten zu entwickeln, ihr Selbstkonzept zu verbessern sowie die Erfahrung von Selbstwirksamkeit zu erleben. Darüber hinaus werden die Beziehungsmuster zum Lebenskontext positiv beeinflusst. Dieser Aspekt war bislang aber noch nicht Gegenstand in empirischen Studien zur Psychomotorik. Psychomotorische Förderung wird primär im Vorschul- und Grundschulalter eingesetzt. Die Orte der Förderung reichen dabei vom Kindergarten, über die Schule, hin zu eigenständigen pädagogisch-therapeutischen Praxen, Ergo- und Physiotherapie u. a. Eine psychomotorische Intervention ist in der Regel durch eine hohe Alltäglichkeit und Selbstverständlichkeit des Vorgehens gekennzeichnet. Bei näherer theoretischer Betrachtung sind jedoch die oft sehr einfachen psychomotorischen „Regeln“ (vgl. Kiphard, 1982; Zimmer, 1993, 1999) lediglich Praxeologien und Vereinfachungen von Theorien. Die vorliegenden Sachverhalte und Bedingungen sind ungleich komplexer, sowohl in der Theorie als auch in der Praxis. Die damals formulierten Einfach-Kategorien halten inzwischen einer theoretischen Reflexion nur unvollkommen stand. Aus dem ursprünglichen Ansatz der „Psychomotorischen Übungsbehandlung“ (Kip­ hard, 1960), der in den Jahren zwischen 1955 und 1980 entstand, hat sich inzwischen eine Erweiterung in verschiedene Richtungen v. a. bzgl. der theoretischen Ansatzpunkte und Fundierung ergeben. Die Grundlage der Psychomotorik nach Kiphard ist kurz zusammengefasst eine Erziehung durch Bewegung, so dass das Kind durch kindgemäßes Handeln, Selbstfinden, Explorieren und Experimentieren als methodische Prinzipien zu einer handlungskompetenten Persönlichkeit wird. Die gewünschte Erlebnis- und Persönlichkeitsorientierung, die Ausrichtung am Prozess des Lernens und nicht an dessen Produkt, die Gewährung von freien Handlungsmöglichkeiten in offenen Bewegungssituationen etc. werden im Bereich der Psychomotorik nach Kiphard (1982), Irmischer (1987) u. a. durch eine sehr einfache entwicklungsbezogene Strukturierung erreicht, die in folgenden Stufen erfolgt: Körpererfahrung, Materialerfahrung und Sozialerfahrung. Da sich diese Stufen mehrfach überschneiden, aber sich ausschließlich auf die Fähigkeiten des Kindes beziehen, ist ihr Erklärungswert gering. Genauso praktisch einfach, aber theoretisch unbefriedigend sind die Stufen der Förderung von der Sensomotorik über die Psychomotorik zur Soziomotorik (vgl. Kiphard, 1982), die im Akt der psychomotorischen Förderung nicht voneinander zu trennen sind. In einer psychomotorischen Förderung spielt dagegen eine Fülle miteinander verknüpfter Bedingungen und Beziehungen eine Rolle, die sich

316

| Teil V: Interventionen nur unvollkommen auf einfache Regeln reduzieren lässt. Die neueren theoretischen Ansätze sind interessanterweise nicht mehr auf eine Komplexitätsreduktion, sondern auf eine Ausweitung der psychomotorischen Handlungsprinzipien, auf eine Betrachtung der Förderung aus eher psychotherapeutischer (vgl. Hölter, 1993; Seewald, 1993) oder ökosystemischer Sicht (Eggert, Reichenbach & Bode, 2003; Eggert & Wegner-Blesin, 2000) ausgerichtet.

20.2 Zielgruppen einer psychomotorischen Förderung Amft und Amft (2003) haben zu Recht darauf hingewiesen, dass in der Frage nach dem Klientel der psychomotorischen Förderung die gleiche Situation wie bei der theoretischen Orientierung herrscht: Es gibt eine gut funktionierende praxeologische Übereinkunft darüber, welche Kinder eine psychomotorische Therapie brauchen und welche am meisten davon profitieren können. In den meisten Fällen ist es aber durchaus unklar, ob diese Kinder mit eher motorischer oder eher psychosozialer Problematik in eine psychomotorische Förderung kommen. Dies wird zum Teil bereits in der folgenden Liste deutlich, in der verschiedene Zielgruppen einer psychomotorischen Förderung zusammengestellt sind: – Kinder mit vielfältigen Entwicklungsrückständen (emotional, motorisch, kommunikativ, kognitiv, ...), – Kinder mit sog. Bewegungsstörungen (Ungeschicklichkeit, Unruhe, Gehemmtheit, ...), – Kinder mit sog. Wahrnehmungsstörungen (auditiv, visuell, kinästhetisch, ...), – Kinder mit mangelnder Konzentration und Unaufmerksamkeit, – Kinder mit Sprachproblemen, – Kinder mit Lernproblemen, – Kinder mit sog. Verhaltensauffälligkeiten (Aggression, Ängstlichkeit, u. a.) und – Kinder mit Migrationshintergrund. Es ist anzunehmen, dass Kinder in der Schule oder im Kindergarten auf Grund motorischer Probleme auffallen, wobei es sich dann häufig zeigt, dass psychologische oder psychosoziale Problemstellungen vorhanden sind. Zusammenfassend kann vorerst festgehalten werden, dass eine psychomotorische Förderung für die Kinder angezeigt ist, die in verschiedenen Entwicklungsbereichen (sozial-emotional, motorisch, perzeptiv, kognitiv, kommunikativ) einen Förderbedarf haben, dem über das Medium Bewegung entsprochen werden kann.

20.3 Wirkfaktoren psychomotorischer Förderung In verschiedenen Effektivitätsstudien (vgl. zusammenfassend Eggert & Lütje-Klose, 1994) wurde nachgewiesen, dass die Wirkungen einer psychomotorischen Förderung vorwiegend im Bereich einer ganzheitlichen Persönlichkeitsentwicklung und einer Stabilisierung der Persönlichkeit in ihrer Beziehung zum Lebenskontext liegen. Es konnte gezeigt werden, dass eine psychomotorische Förderung ein Kind in seiner Entwicklung voran bringt und es fördert. Die Wirkungen gehen dabei zurück auf:



Kapitel 20: Psychomotorische Förderung | 317

– die Verbesserung der Wahrnehmung bzgl. der Möglichkeiten des eigenen Körpers; der Ausdrucks- und Haltungspotentiale; der Fähigkeit, Wünsche und Ziele auszudrücken (Körperkontrolle, Körperausdruck, Körperwahrnehmung), – die Entwicklung eines positiven Selbstkonzeptes und die Erfahrung von Selbstwirksamkeit (vgl. Eggert, Bode & Reichenbach, 2003), – die Entwicklung kommunikativer Fähigkeiten im Kontakt mit anderen (im Ausdruck von Gefühlen für und mit anderen) und von Empathie für andere, – die Entwicklung von Kooperation mit anderen (Vertrauen in sich selbst und andere setzen), – das Erfahren rhythmisierender Handlungen, d. h. sich Einfühlen lernen durch Spannung und Entspannung, – den Ausdruck von Gefühlen und Stimmungen durch Rollenspiel, – eine Erkundung der Umwelt durch Ausprobieren von unterschiedlichen Lösungen mit verschiedenen Materialien, – die Erfahrung von Raum und Zeit als Voraussetzung des schulischen Lernens (vgl. Eggert & Bertrand, 2002), – die Stabilisierung der Persönlichkeit durch erfolgreiches soziales Handeln und – das Erleben positiver Beziehungen innerhalb und außerhalb des sozialen Lebenskontextes. Bei zunehmendem Alter des Kindes findet immer weniger in kognitiven oder sprachlichen Bereichen eine direkte Einwirkung von der Motorik aus statt und selbst eine direkte Bewegungsförderung verbessert nicht immer auch die Motorik (vgl. Eggert & Lütje-Klose, 1994; Moser & Christiansen, 1997). Es ist unbestritten, dass die Beziehungsgestaltung ein wichtiger Wirkfaktor in pädagogischen Prozessen ist. Die Frage nach der Beziehungsgestaltung ist für eine psychomotorische Förderung insofern bedeutend, dass die Frage besteht, inwiefern Beziehungen so gestaltet werden (können), dass sie entwicklungsfördernd oder -hemmend sind. Dabei ist die Art der Beziehungsgestaltung u. a. von der Persönlichkeit des Pädagogen abhängig (vgl. Hölter, 1993, S. 13), d. h. sie ist geprägt durch seine Biografie, sein Ausmaß an Selbsterfahrung, sein pädagogisch-therapeutisches Selbstverständnis, sein Menschenbild, seine Persönlichkeitscharakteristika, seine Reflexionsfähigkeit, seine individuelle Vorgehensweise, seine theoretische Verankerung und sein Handlungsrepertoire. Diese Beziehung selbst zeigt sich dann u. a. – in der Sichtweise bzgl. des Kindes (Respekt, Anerkennung ...), – in der verbalen und nonverbalen Kommunikation mit dem Kind (Zugewandtheit, Körperkontakt ...), – im Umgang mit dem Kind während der Arbeit (führend, folgend, partnerschaftlich ...), – in den eigenen emotionalen Äußerungen und Reaktionen (Freude, Ärger, Angst, Offenheit, Klarheit ...). Bedeutende Faktoren für eine psychomotorische Entwicklungsförderung sind: – der Einbezug des Kindes und die Orientierung am Kind, – ein positiver Beziehungsaufbau und eine positive Beziehungsgestaltung als wesentliche und grundlegende Elemente einer Förderung,

318

| Teil V: Interventionen – – – – – – –

die Kommunikation als wesentliches Element der Förderung – zur Vermittlung von Inhalten, – zur Erreichung von Entwicklungszielen, – zur Bestätigung bzw. Rückmeldung an das Kind, – zum gegenseitigen Austausch von Ansichten, Gefühlen, Stimmungen etc., die Grundprinzipien Empathie, Echtheit und Achtung gegenüber dem Kind, die ritualisierte Handlungen als Rahmen und Strukturierungsmöglichkeit für Interventionsprozesse, eine Transparenz des Vorgehens und der Handlungen des Pädagogen, eine Flexibilität im Sinne der Bedürfnisorientierung, eine gemeinsame Präsentation der „Arbeitsergebnisse“ und eine konstante Reflexion des Verhaltens, Könnens, Vorgehens etc. gemeinsam mit dem Kind.

20.4 Methoden einer psychomotorischen Förderung Eine psychomotorische Förderung bedient sich verschiedener Methoden bzw. Vorgehensweisen, welche wiederum von den Zielen der Intervention abhängig sind. Wir sehen hierbei die ausgewählten Methoden als einen Weg zu dem jeweiligen individuellen (Förder-)Ziel. Mögliche Methoden wären: Übung, Training, freies Spiel/eigenständiges Ausprobieren, strukturiertes Spiel/Vorgehen, Geschichten, Bewegungsbaustellen und/ oder Arbeit mit bestimmten Inhalten bzw. an verschiedenen Themen. In diesem Zusammenhang sollten auch Fragen nach den Sozialformen (Einzelförderung, Kleingruppenförderung, Großgruppenförderung), nach der Interaktionsgestaltung, nach dem verwendeten Material sowie nach dem Aufbau bzw. der Planung der einzelnen Stunden gestellt und beantwortet werden. Die Inhalte einer psychomotorischen Förderung können in Anlehnung an eine von Hölter erstellten Literaturübersicht (vgl. 1993, S. 28) folgenden Ordnungskriterien zugeteilt werden: – Ausmaß der Bewegungsintensität (passiv, aktiv), – Art der Interaktion (Einzel- oder Gruppenmaßnahmen), – Sport- und Bewegungsformen (Gymnastik, kleine Spiele, Entspannung), – Erfahrungsbereiche (Körper-, Material-, Sozialerfahrung), – Bedeutungs- und Sinndimension von Bewegungshandlungen (instrumentell, explorativ, sozial, personal...). Wichtig ist, dass die Inhalte in Bezug zur „Problematik“ des Kindes stehen bzw. diese für das Kind bedeutend sind und als Ziel für das Kind erstrebenswert, denn nur so können auch die Ziele der Intervention erreicht werden. Dabei ist nicht die Vielzahl von LernInhalten entscheidend für den Erfolg einer Förderung, sondern der Einsatz der Inhalte zu erfolgsversprechenden Zeitpunkten, denn wie es Hölter ausdrückt: „Inhalte sind Werkzeuge und ihr geschickter Einsatz kennzeichnet den guten Handwerker“ (1993, S. 29). Für den gesamten Prozess der Förderung ist eine ständige Reflexion bedeutsam, wobei die Schwerpunkte wiederum von der jeweiligen Konzeption und der Arbeitsweise des

Kapitel 20: Psychomotorische Förderung | 319



Pädagogen abhängig sind. Eine Reflexion kann auf verschiedenen Ebenen und bzgl. verschiedener Inhalte stattfinden: – Reflexion des Therapeuten allein und/oder – Reflexion mit den Kindern gemeinsam über – das Stundengeschehen (Verlauf, Struktur, Organisation), – das Verhaltens der Kinder, – das eigene Verhalten und – die Fördererfolge/Fortschritte (Vergleiche). Reflexionen selbst können unterschiedliche Ziele haben: Bestätigung, Veränderung der Organisation (zeitlicher Ablauf etc.), Eingehen auf alle oder einzelne Kinder, Veränderung des Verhaltens der Kinder, Veränderung des eigenen Verhaltens und Dokumentation des Fördererfolges. – Das folgende Beispiel zeigt ein mögliches Vorgehen im Rahmen einer psychomotorischen Förderung. • •

gemeinsames Eintreten in die Halle Beginn auf einer gemeinsamen Matte, die in einer Ecke liegt – Begrüßung – Erzählen von Ereignissen, die innerhalb der letzten Woche das Kind (und Pädagogen) beschäftigt haben – kurze Übersicht über Ablauf der Stunde durch Pädagogen

à Ziele:

Kommunikation miteinander (Bericht + Rückfragen); Darstellung von Interessen, Wünschen, Gefühlen; Orientierung und Strukturgebung

• Aufwärmspiel – frei durch Kinder gewählt, abgestimmt oder ausgesucht

à Ziel:

Warmmachen und Ankommen

• Hauptteil – abhängig von Gruppe und individuellen Bedürfnissen – bedeutend: Abstimmung auf Bedürfnisse der Kinder mit den Kindern à gemeinsames Erarbeiten und Planung (Übersicht) – Möglichkeiten: – Arbeit an einem Thema über einen längeren Zeitraum (2-4 Monate) – Wechsel der Themen in jeder Stunde – Vorgehen: – Maß bzw. Form der Strukturierung; Rolle des Pädagogen – Bedeutung des gemeinsamen Handelns – Bedeutung der Kommunikation und Handlungsorientierung – Bedeutung der Präsentation

à Ziele:

Bedürfnis- und Zielorientierung; Kommunikation miteinander; gemeinsame Handlungsplanung und -umsetzung

320

| Teil V: Interventionen • Schlussteil – gemeinsames Aufräumen – Entspannungsphase à kann ritualisiert sein – Reflexionsphase à Was hat (nicht) gefallen? Was sollte sich wie verändern? à Vorschau auf nächste Stunde – gemeinsames Verlassen der Halle

à Ziele:

Kommunikation miteinander (Bericht); Zur Ruhe kommen; Darstellung von Ansichten, Gedanken und Gefühlen; Perspektiven aufzeigen, Vorschau; Orientierung, Struktur

20.5 Grundzüge einer ökosystemischen Psychomotorik In den vergangenen zehn Jahren hat sich der theoretische Rahmen auch in der Psychomotorik in Abhängigkeit von den Veränderungen in der Psychologie zur Psychotherapie von einem linear-kausalen Ansatz („Ich mache Psychomotorik, also muss ich auch durch mehr Bewegung mehr Entwicklungsanreize auslösen.“) hin zu einem vernetzten, prozessualen Denken („Ich mache Psychomotorik und erreiche dadurch weniger Bewegungsförderung als vielmehr psychosoziale Fähigkeiten.“) im Verbund mit Faktoren des Lebenskontextes entwickelt. Der folgende Abschnitt ist als Skizze eines Übergangskonzeptes zu verstehen. Dabei soll diese theoretische Begründung dazu dienen, dem praktischen Handeln einen veränderten Bezugsrahmen zu schaffen. Eine systemisch orientierte Psychomotorik steht dabei immer noch durchaus im Rahmen der bisherigen Prinzipien psychomotorischen Handelns wie: – einer Begründung des praktischen Handelns auf der (klinischen) Entwicklungspsychologie, d. h. auf der Grundlage einer Theorie der Entwicklung in fördernden und hemmenden Bedingungen, – einer Betonung von Interaktion und Kommunikation (im spezifischen Umfeld des Kindes), – der Betonung einer bedeutungsvollen pädagogischen Kooperation mit dem Kind, – der Betonung einer ökosystemischen Förderdiagnose und Intervention im spezifischen Umfeld des Kindes (Eltern u. a.) und – einer Betrachtung der individuellen Handlungen im Beziehungsmuster dyadischer und triadischer Art (Kind-Familie; Familie-Schule; Kind-Peers; Peers-Schule; KindFamilie-Schule-Peers etc.). Hinzu kommen neue Konzepte wie etwa: – die Funktion eines Verhaltens im Zusammenhang mit der spezifischen Umwelt (Bronfenbrenner, 1989), – die Betonung der Eigenaktivität und Handlungsfähigkeit jedes Kindes als Lösungsmöglichkeit für bestehende Probleme – wenn wir denn aus der Sicht der ökosystemischen Theorie überhaupt von Problemen sprechen können –, – die Gleichwertigkeit von Therapeut/Pädagogen und Kind im Prozess,



Kapitel 20: Psychomotorische Förderung | 321

– eine Perturbation (Irritation statt Behandlung), etwa erhoffte Ziele in der Interaktion nur anstoßen und nicht gezielt anstreben zu können und – die Erkenntnis, dass Ziele nicht linear erreicht werden können. 20.5.1 Ziele und Wege einer ökosystemischen psychomotorischen Förderung Das Ziel des Vorgehens in der Psychomotorik hat sich unter dem Einfluss des ökosystemischen Denkens verändert. Im Mittelpunkt steht nicht mehr die Verbesserung der Entwicklung des Kindes durch Bewegung, sondern 1. der Glaube an die konstruktiven Potentiale des aktiven Kindes, 2. die Entwicklung eines stabilen Selbstkonzeptes als Mittel zur Entwicklung einer positiven Identität, 3. die Auseinandersetzung mit den bedeutsamen Menschen und Faktoren seiner spezifischen Umwelt (Kind in seinem Lebenskontext). Eine psychomotorische Förderung beginnt mit dem Versuch, das Selbstwertgefühl des Kindes zu stärken und versucht von dort aus dem Individuum in seiner spezifischen Situation (Umfeld) bessere Möglichkeiten an die Hand zu geben, den Anforderungen komplexer Situationen individuell erfolgreich zu entsprechen. Durch diese Art des Vorgehens in einer PMF und den damit verbundenem Transfer in den Alltag des Kindes, können auch Beziehungsmuster zu Personen, die für das Kind in seinem Umfeld eine hohe Bedeutung haben, besser gestaltet werden, was wiederum ein effektiveres Lernen und Handeln für das Kind ermöglicht. Das erste Ziel ist es nicht, dem Kind eine unmittelbare Hilfe zu geben, sondern ihm zu helfen aus sich heraus Impulse für ein effektiveres Handeln zu finden. Der Erforscher der Lebenssituation des Kindes (das ist die Rolle des Pädagogen/ Therapeuten in einer ökosystemischen Therapie) sollte versuchen, das System Kind mit sanften Impulsen zu einer Veränderung hin zu bewegen und dazu die maximale Kapazität des Systems nutzen, sich selbst zu verändern. Damit ist die Rolle des Therapeuten im übertragenen Sinne, für ein Kind eine an seine spezielle Situation angepasste individuelle Fördermethode zu entwickeln und nicht das Kind im Rahmen einer vorgegebenen Methode zu behandeln. Diese Forderung birgt natürlich eine große Zahl von Risiken in sich. Verfügt der Therapeut über ein so großes Methodeninventar wie das Kind über ein Inventar an Verhaltensproblemen verfügt? Wie kommt man von einem individuellen Förderplan zu einem Gruppenplan, denn als Lehrer, Pädagoge oder Therapeut hat man es ja meist mit Gruppen von Kindern und nicht mit einzelnen Kindern zu tun? Und gibt es genügend Gemeinsamkeiten zwischen verschiedenen Kindern, um sie gemeinsam ansprechen zu können? In diesem Prozess kann der Pädagoge/Therapeut ein Helfer des Kindes sein oder ein Mit-Spieler oder auch ein sorgsamer Beobachter auf der Basis einer balancierten vertrauensvollen Kooperation zwischen dem Kind und ihm. Die dabei entstehende Beziehung ist die Grundlage einer angemessenen Diagnose und Förderung. Der Erforscher der Lebenssituation des Kindes kann nicht Halt bei der inneren Situation des Kindes machen, sondern muss sich auf den Weg in das Beziehungsmuster des

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| Teil V: Interventionen Kindes zu seinen Eltern und der Familie machen und nach den Mustern spüren, die diese Beziehung ausmachen. Bei der Analyse der Lebenskonstellation und der Lebensbedingungen sind u. a. folgende Fragen bedeutend: Welche Rolle hat das Problem des Kindes für den Erhalt einer stabilen Beziehung? Welche Funktion hat die Aufrechterhaltung eines Symptoms für die Stabilität der Familienbeziehungen? Welche Einstellungen haben die Eltern/die Familie (Vater, Mutter, Großvater, Großmutter etc.) dem Kind gegenüber und wie prägen ihre Vorstellungen vom notwendigen Verhalten des Kindes wiederum ihr Verhältnis zum Kind? Wie haben sich diese Einstellungen aufgebaut und zu welchen Reaktionen führen sie? Was wird vom Kind erwartet? Was erwarten Eltern, Peers, Großeltern u. a.? Welche Generationenaufträge soll es erfüllen? Was soll es v. a. nicht tun? Wie würden Veränderungen beim Kind beurteilt? In einer weiteren Stufe spielt die Frage eine Rolle, welche Position das Kind im komplexen System der Schulklasse einnimmt und wie es diese Rolle auszufüllen versucht. Wie sieht z. B. der Lehrer das Kind? Nimmt er das Kind als gleichwertigen Partner wahr oder wie sieht er das Kind? Welche Einflussmöglichkeiten auf das Kind hat er? Nun könnte man der Ansicht sein, dass die Komplexität dieser Fragen einen praktisch Handelnden überfordern würde – und hätte vermutlich dabei nicht einmal so Unrecht. Es kommt darauf an, den Rahmen für eine Analyse eines individuellen Problems und seiner Funktion für das Kind und seine Interaktionspartner so weit wie möglich zu stecken und das Kind in seinen Lebenszusammenhängen zu verstehen. Auch wenn man nicht immer in diesem Rahmen eine Intervention ansiedeln kann, bleibt das Verständnis für die Situation eines Kindes unvollkommen, wenn man nur das Kind mit seinen Kompetenzen und Problemen allein sieht. Eine erweiterte Sichtweise, die es in der Ausbildung zu betonen gilt, ist nötig. Ein erweitertes allgemeines Verständnis von Förderung könnte zu folgenden Prinzipien einer ökosystemischen psychomotorischen Förderung führen (ohne dass Vollständigkeit angestrebt wird): – Individualisierung (als Förder- und Beobachtungskategorie/Eigenaktivität des Kindes), – Ganzheitlichkeit der Person und der Förderung, – die Annahme von Perturbation (Irritierung, Anregung) statt Therapie, – Vernetztheit – Einbezug der individuellen sozialen Handlungen in den Lebenskontext, – Kooperation und Teamarbeit (Solidarität) als Voraussetzung zur Entwicklungsförderung, – förderdiagnostische Orientierung (von den Stärken ausgehen und individuell diagnostizieren und fördern), – Aufstellung von individuellen Förderplänen (vgl. Eggert, 1997), – Dokumentation in individuellen Entwicklungsplänen und -protokollen, – gemeinsame Förderung von Kindern mit und ohne Behinderung sowie aus unterschiedlichem ethnischen Hintergrund in Integration und inklusiver Erziehung, – Elternarbeit und Community Work, – Arbeit in Umweltsystemen (Vernetzte Systeme), – Qualitätssicherung (interne und externe Evaluation und Handlungskontrolle).



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Auf diesem Wege könnte man im praktischen Vorgehen versuchen, einige Anforderungen des ökosystemischen Denkens in Praxisregeln umzusetzen. Dann kann man von einer Betrachtung der individuellen Kompetenzen des Kindes ausgehen, sich in seinem speziellen Umfeld mit den bedeutsamen Personen effektiv handelnd auseinander zu setzen. Sein Selbstkonzept und seine Identität könnte man als ersten Schritt dazu in die Betrachtung einbeziehen und von dort aus zu einer Betrachtung der anderen Kompetenzen für die Auseinandersetzung mit der spezifischen Umwelt voranschreiten. Die Bewegung als sinnhafte Auseinandersetzung mit dieser Umwelt kann zugleich Abbild der motorischen Kompetenz, Spiegel der inneren emotionalen Situation des Kindes und der Beziehungen zu anderen Menschen in seinem Umfeld sein. Es geht dann darum, in der gegenwärtigen Praxis die Anknüpfungspunkte gemeinsam zu suchen, an denen man zusammen mit dem Kind beginnen könnte. Im Rahmen eines ökosystemischen Ansatzes wird also von der Vorstellung ausgegangen, dass psychomotorische Förderung ein Prozess ist, der fließend in therapeutische Interventionsformen übergeht. Der therapeutische Prozess zwischen dem Kind (dem Klienten) und dem Förderer (dem Therapeuten) in einem Dialog zwischen den beiden hängt auch von der Qualität und den Formen der Interaktion ab und wird zugleich vom Lebenskontext der Agierenden und den Zielen sowie den Inhalten des Prozesses mitbestimmt. Natürlich kann es zu Problemen kommen, wenn zwei Praktiker mit völlig unterschiedlichen Modellvorstellungen gemeinsam arbeiten – z. B. der eine mit einem klassischen medizinischen Modell im Kopf und der andere mit einem vernetzten systemischen Modell. Auch hier ist Verständnis füreinander nötig. Ohne eine Abklärung der jeweiligen therapeutischen und diagnostischen Vorstellungen kann es bei der Zusammenarbeit von zwei oder mehreren Therapeuten nicht gehen. Diese Abklärung sollte vor dem Beginn einer Förderung oder Therapie stehen. Dabei kann man nicht sofort einen vollen Erfolg der Abstimmung der therapeutischen und pädagogischen Konzeptionen erwarten. Wichtig ist jedoch, dass jeder um Vor- und Nachteile der eigenen Methode weiß und v. a. darum, mit welchen speziellen persönlichen Vorlieben der Einsatz des Denkmodells in der Praxis mit der Therapie verbunden ist. Erfahrene Therapeuten greifen eher zu einer Methodik, die ihnen auch persönlich leichter fällt als zu Methoden, die den Möglichkeiten ihrer Person eher fern stehen, oder ganz einfach: Wenn ich mich als älterer Psychomotoriker nicht mehr so ganz geeignet und fit für eine psychomotorische Praxis finde, dann greife ich eher auf verbale Elemente zurück oder widme mich der emotionalen Seite des Kindes. Jeder Therapeut realisiert diejenigen Seiten an sich besonders intensiv, die ihm leicht fallen und favorisiert sie. Das Einnehmen einer anderen Sichtweise sollte nun nicht gleichzeitig heißen, die selbst mit Mühe gefundene (systemische) Sichtweise auch gleich als die überlegene oder bessere darzustellen. Die Anerkennung der Tatsache, dass man auch mit „alten“ Methoden sinnvoll arbeiten und positive Ziele erreichen kann, fällt aber gerade jüngeren Therapeuten oft nicht leicht. Ich muss für meine Praxis sehen, mit welchen Methoden ich zufriedenstellend arbeiten kann – und diese Überlegung kann mir niemand abnehmen. Es gibt eben nicht das Rezept für eine auf Dauer unveränderbare Form der Förderung und Therapie. Ob die weitreichenden Ziele einer systemisch orientierten Therapie alle in einer Förderung angestrebt werden sollten, darüber kann man geteilter Meinung sein. Soll-

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| Teil V: Interventionen ten Psychomotoriker als halbausgebildete Laien-Familientherapeuten in Familien mit Problemen im Umgang mit einem hyperaktiven Kind tätig werden? Sicher nicht, aber die Perspektive aus der heraus man sich mit dem Kind und seinen Lebensmöglichkeiten beschäftigt, sollte so weit(sichtig) wie möglich sein. 20.5.2 Der psychomotorische Dialog als Prinzip psychomotorischer Förderung Die Wirkung einer psychomotorischen Intervention stellt sich als Ergebnis einer Kommunikation zwischen dem oder den Klienten und dem oder den Therapeuten dar – dem psychomotorischen Dialog. Zusätzlich spielt die vom Therapeuten mit dem Kind zusammen gewählte Aufgabenauswahl, also die Inhalte der psychomotorischen Förderung, eine wichtige Rolle. Bestimmt wird das Ergebnis der Interaktion vom Rahmen des Lebenskontexts der Beteiligten. Unter „Dialog“ wollen wir dabei eine Form der Kommunikation zwischen gleichberechtigten Partnern verstehen. Der Therapeut darf nicht bestimmen wollen, was für den Klienten gut und förderlich sein kann, sondern das Ausgehen von den Stärken des Klienten und von seinen Bedürfnissen ist wirksam. Der „Defekt“ eines beeinträchtigten Kindes spielt dabei eher als empfundene Inkompetenz eine Rolle, nicht aber als Nichtkönnen an sich. Das Kind soll den Weg in die Therapie im Miteinander mit dem Therapeuten anregen und steuern – so weit es dies vermag. Diagnose, Besserwissen und Fachjargon spielen eine geringere Rolle. Indem ich die individuellen Wege des Klienten als seine Stärken betrachte, kann ich ihm Anregungen und Impulse zu einer Optimierung seiner Strukturen geben. Dafür eignet sich das Konzept vom Dialog (Milani Comparetti, 1996 nach Lüpke & Voss, 2000, S. 5). Hier geht es nicht darum, ein vorgegebenes Ziel zu erreichen, sondern im Zusammenspiel mit dem Partner (den Partnern) zu gemeinsamen, nicht vorhersehbaren, auch für die Beteiligten selbst immer wieder überraschenden Resultaten zu gelangen. „Die Helfer geben keine Ziele an ... , sie begleiten, bieten einen Kontext für Erfahrungen, um damit die eigene Entwicklung zu „konstruieren“. Zuhören und Beobachten werden wichtiger als „Machen“ (Lüpke & Voss 2000, S. 5 f.). Was im psychomotorischen Dialog in dieser gemeinsamen Konstruktion einer therapeutisch-pädagogischen Realität geschieht, spielt sich auf sehr verschiedenen Wegen ab. Erstens versucht der Therapeut die Aufmerksamkeit der Klienten zu gewinnen, die Kinder in ihrer Eigenheit anzunehmen und mit ihnen zusammen den Spielraum zu gewinnen, in der Kooperation Inhalte und Methoden der psychomotorischen Interaktion zu wählen, um den Klienten zu helfen, sich wirkungsvoller mit ihrer Lebens- und Lernumwelt auseinander zu setzen und damit eine höhere Zufriedenheit zu erreichen. Die Aufgabe des Therapeuten ist dabei die Hinführung zum Selbermachen zu geben, damit die Kinder Selbstwirksamkeit erleben können. Über das Selbermachen sollen die Klienten in einer Gruppe unzweckmäßiges, schädliches, problematisches Verhalten abbauen und positiv erlebtes Handeln erfahren. Die Hinführung zur Erfahrung der Selbstwirksamkeit ist das erste Moment der Psychomotorik. Die harmonisch sich entwickelnde Persönlichkeit des Klienten ist ein wichtiges weiteres Element von Psychomotorik im Dialog.



Kapitel 20: Psychomotorische Förderung | 325

Zweitens reagieren die Mitglieder einer therapeutischen Gruppe in besonderer Weise auf die vom Therapeuten gewählten Ziele und Methoden der Intervention und auf die Persönlichkeit des Therapeuten. Diesem sollte bewusst sein, dass Ziele seines Handelns für den Klienten nur im Rahmen seiner Persönlichkeitsstruktur erreichbar sind, d. h. dass jede Therapeutenpersönlichkeit nur bestimmte Ziele (bei ganz bestimmten Klienten) zulässt. Prozesse der Übertragung und Gegenübertragung spielen dabei eine bedeutende Rolle. Drittens bestimmt der gewählte Inhalt zur Erreichung des Therapieziels den psychomotorischen Dialog. Bestimmte Inhalte erleichtern den Zugang zum Kind, andere wieder erschweren die Zugangsmöglichkeiten. Die Wahl der Inhalte geschieht im Rahmen der biographischen Erfahrungen des Therapeuten und wird vom Lebenskontext mitbestimmt, in dem er sich in seiner Entwicklung befunden hat und befindet. Viertens bestimmt die Wahl des Themas nicht nur den Inhalt, sondern auch die Form der Kommunikation zwischen Klient und Therapeut in der stattfindenden Interaktion. Es entstehen z. B. sehr unterschiedliche Situationen in Abhängigkeit davon, ob das gewählte Spiel das Kind langweilt oder es motiviert etc. Es besteht ein Unterschied zwischen Kindern, die den Therapeuten mögen (und er sie) und Kindern, die unfreiwillig in eine Gruppe gebracht werden und lieber andere Dinge als gerade Psychomotorik machen würden. Fünftens entspricht nicht immer die Wirkung einer Intervention auch den Absichten und Zielen des Therapeuten: Oft wirkt etwas anders als beabsichtigt. Wenn man in seiner Hypothesenbildung auf eine bestimmte Reaktion des Klienten durch eine psychomotorische Perturbation im Dialog fixiert ist, kann man z. B. übersehen, dass sich eine Reaktion im kognitiven oder motivationalen Bereich einstellt, die – nicht intendiert – aber erfolgreich ist. Paradoxe Wirkungen sind bei einer individuellen Betrachtung des dialogischen Therapieprozesses normal und nicht ungewöhnlich. Sechstens reagiert das System Kind als Human-Ökosystem im Rahmen seiner Handlungskompetenzen nur soweit, wie es sich durch seinen individuellen Lebenskontext (Lebensumfeld) angeregt oder gehemmt sieht. Die Grenzen der Möglichkeiten einer therapeutischen Intervention liegen in diesem Kontext; der Dialog wird durch Kontextfaktoren indirekt oder direkt bestimmt. Siebtens spielt bei dem Versuch die Handlungsstrukturen eines Kindes zu erhellen, der diagnostische Standpunkt eine Rolle: Aus der Förderdiagnostik ist diese Frage der Kontextabhängigkeit der Diagnose bekannt. Es gibt in der Pädagogik wie in der Therapie nur sehr begrenzt die Möglichkeit zu einer objektiven Diagnose. Persönlichkeit, biographische Erfahrungen, Lebenseinstellungen und Menschenbilder bestimmen den sehr subjektiven Prozess einer Diagnose, der den Prozess der Therapie ständig begleiten sollte. In diesem Zusammenhang ist auch darauf hinzuweisen, dass die eingangs dargestellten „klassischen Zielgruppen“ einer psychomotorischen Förderung so nicht aufrecht erhalten werden können, dass sie eher defizitär anstatt ressourcenorientiert formuliert sind. Systemisches Denken impliziert weiter, dass jedes Verhalten, also auch abweichendes oder „störendes“ Verhalten, im Person-Umwelt-Zusammenhang begriffen werden muss. Die Störungsursachen werden deshalb nicht im Individuum lokalisiert, sondern es wird davon ausgegangen, dass Störungen vielfältige Ursachen haben können, die komplex miteinander vernetzt sind und in der Wechselwirkung zwischen dem Kind und seiner Umwelt

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| Teil V: Interventionen anzusiedeln sind. „Störungen“ sind zunächst nichts anderes als Beschreibungen einer Differenz, „die den Unterschied des Andersseins hervorhebt“ (Walthes, 1993, S. 149). Unter diesem Perspektivwechsel zeigen sich kindliche Verhaltensbesonderheiten als Ausdruck einer jeweils besonderen Konfliktlage des Betroffenen (vgl. Amft, Mattner & Gerspach, 2002, S. 18 f.). Störungen sind dementsprechend aus systemischer Sicht keine individuellen Defizite, sondern Systemstörungen. Achtens spielt der Rahmen des gemeinsamen Lebenskontextes von Klient und Therapeut die entscheidende Rolle beim Erreichen von gemeinsam akzeptierten Veränderungen im Rahmen einer psychomotorischen Therapie. Klient und Therapeut leben in einem speziellen Lebenskontext, der ihre Einstellungen und ihr Handeln mit beeinflusst. Ihre jeweiligen Lebensumstände sind wirksam, aber nur bedingt miteinander kompatibel. Zudem haben sie auch einen gemeinsamen Lebenskontext, der die individuellen Lebenskontexte überspannt. Alle Lebenszusammenhänge sind angemessen im Förderplan zu berücksichtigen. Zusammenfassend ist festzuhalten, dass psychomotorische Förderung dem Kind zu einem Gefühl von Selbstwirksamkeit und zu Kontrollüberzeugung verhelfen kann, ihm Erfolge vermitteln, Kompetenzen verleihen und damit sein Selbstkonzept stärken kann. Zugleich wird das Kind sensibel für den Dialog mit einer bedeutsamen Bezugsperson (dem Pädagogen oder Therapeuten), mit der es in der Förderung kooperiert und für die Arbeit in einer Gruppe, die ihm hilft und es unterstützt. Psychomotorische Förderung kann auch positiv den Lebenskontext beeinflussen, d. h. sie kann den Kontakt zu den Eltern verbessern und die Akzeptanz des Kindes durch die Eltern erhöhen. Auf diese Weise kann durch Psychomotorik über die Förderung vielfältiger Kompetenzen über das Medium der Bewegung im Spiel ein wichtiger Beitrag zur Ausbildung eines positiven Selbst- und Weltkonzeptes und zum individuellen Lernen ermöglicht werden.

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Kapitel 20: Psychomotorische Förderung | 327

Eggert, D. & Wegner-Blesin, N. (2000). DITKA – Diagnostisches Inventar taktil-kinästhetischer Alltagshandlungen von Kindern im Vorschul- und Grundschulalter. Dortmund: borgmann. Fischer, K. (2000). Psychomotorik und kindliche Entwicklung. Metatheoretische Perspektiven. motorik, 23, 22-26. Hölter, G. (1993). Selbstverständnis, Ziele und Inhalte der Mototherapie. In G. Hölter (Hrsg.), Mototherapie mit Erwachsenen. Sport, Spiel und Bewegung in Psychiatrie, Psychosomatik und Suchtbehandlung (S. 12-33). Schorndorf: Hofmann. Hölter, G. (1998). Entwicklungslinien der Psychomotorik im deutschsprachigen Raum. motorik, 21, 43-49. Irmischer, T. (1987). Intentionen, Inhalte und Ziele der Motopädagogik. In Aktionskreis Psychomotorik e.V. (Hrsg.), Lehrbrief: Grundzüge der Motopädagogik (S. 13-20). Lemgo: Eigenverlag. Kavale, K. A. & Mattson, P. D. (1983). One jumped off the balance beam: Meta analysis of perceptual-motor training. Journal of learning disabilities, 16, 165-173 Kiphard, E. J. (1960). Bewegung heilt. Gütersloh: Flöttmann. Kiphard, E. J. (1982). Motopädagogik. Dortmund: verlag modernes lernen. Lüpke, H. v. & Voss, R. (2000). Entwicklung im Netzwerk. Systemisches Denken und professionsübergreifendes Handeln in der Entwicklungsförderung. Neuwied: Luchterhand. Moser, T. & Christiansen, K. (1997). Psykomotorisk trening og kognitivt funksjonsniva hos barn – et treningseksperiment. Tonsberg: Hogskolen i Vestfold, rapport 6/97, 95 Seewald, J. (1993). Entwicklungen in der Psychomotorik. Praxis der Psychomotorik, 18, 188193. Walthes, R. (1993). Störung zwischen Dir und mir. Grenzen des Verstehens, Horizonte der Verständigung. Frühförderung interdisziplinär, 4, 145-155. Zimmer, R. (1993). Handbuch der Bewegungserziehung. Didaktisch-methodische Grundlagen und Ideen für die Praxis. Freiburg: Herder. Zimmer, R. (1999). Psychomotorik – Motopädagogik – Mototherapie. In R. Zimmer (Hrsg.), Handbuch der Psychomotorik. Theorie und Praxis der psychomotorischen Förderung von Kindern (S. 19-25). Freiburg: Herder.

21 Unterrichtsintegrierte Förderung von Aufmerksamkeit Kerstin Naumann und Gerhard Lauth

21.1 Aufmerksamkeitsstörungen im schulischen Kontext Kinder, die Aufmerksamkeitsstörungen in klinisch bedeutsamer Ausprägung aufweisen, erhalten aktuell die Diagnose einer Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHD, American Psychiatric Association, 2000). Betroffene Kinder zeigen die Primärsymptome Unaufmerksamkeit und/oder Impulsivität/Hyperaktivität (siehe ausführlich Lauth & Naumann, in Druck). Der Begriff der Unaufmerksamkeit bezieht sich dabei auf eine mangelnde Stetigkeit und Zielgerichtetheit des Verhaltens der Kinder. Dazu gehört, dass es ihnen schwer fällt, einmal begonnene Aufgaben konsequent zu Ende zu führen. Auch gehen sie kaum planvoll an Aufgaben heran und lassen sich leicht ablenken. Eine übermäßige Impulsivität findet in vorschnellem und unbedachtem Handeln ihren Ausdruck. Die Betroffenen antworten etwa, ohne zuvor nachzudenken, haben Schwierigkeiten zu warten, bis sie an der Reihe sind und schätzen die Konsequenzen ihres Handelns häufig nicht richtig ein. Der dritte Bereich, der oft, aber nicht immer dazu kommt, ist eine starke motorische Unruhe. Nahezu alle Studien, die sich mit der schulischen Leistungsfähigkeit aufmerksamkeitsgestörter Kinder beschäftigen, belegen in wesentlichen Bereichen Minderleistungen gegenüber unauffälligen Schülern. Aufmerksamkeitsgestörte/hyperaktive Kinder wiederholen häufiger eine Klasse, erhalten schlechtere Schulnoten und erreichen geringere Leistungen in Sprach-, Lese-, Rechtschreib- und Rechentests (vgl. etwa Tirosh & Cohen, 1998; Busch, Biedermann, Glassner-Cohen et al., 2002), wobei die Kinder, die sich durch ausgeprägte motorische Unruhe auszeichnen, deutlich mehr Schulleistungsprobleme aufweisen als jene ohne Hyperaktivität (Shaywitz & Shaywitz, 1991). Der Anteil der aufmerksamkeitsgestörten Kinder mit Lernstörungen wird auf 20 bis 25 % geschätzt (Pliszka, 2000), während von Lernschwierigkeiten sogar 80 % bis über 90 % der Kinder betroffen sind (Anderson, Williams, McGee & Silva, 1989). Dieses erhebliche Ausmaß an Lernschwierigkeiten ist einerseits auf motivationale Defizite, eine stärkere Beeinträchtigung des Arbeitsverhaltens durch soziale Konflikte und andererseits aber auch auf unmittelbare Lernbeeinträchtigungen der Kinder zurückzuführen (Lauth & Schlottke, 1997). An Sonderschulen kommen Aufmerksamkeits- und Hyperaktivitätsstörungen so auch deutlich gehäuft vor. Beispielsweise dokumentierten Bussing, Zima, Perwien, Belin und Widawski (1998) in einer Untersuchung an 318 Sonderschülern der zweiten bis vierten Jahrgangsstufe auf der Grundlage von Eltern- und Lehrerbefragungen, dass nahezu die Hälfte dieser ausgewählten Kindergruppe Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörungen aufwies. Dies übersteigt die in der Allgemeinbevölkerung für diese Altersgruppe angenommene Prävalenzrate (etwa 3–7 %) bei weitem. Anzunehmen ist des Weiteren, dass der Anteil von Kindern mit subklinischer Störungsausprägung unter den Sonderschülern noch weitaus höher einzuschätzen ist.



Kapitel 21: Unterrichtsintegierte Förderung von Aufmerksamkeit | 329

21.2 Lernen und Aufmerksamkeit Beim Lernen handelt es sich um einen Prozess, der nicht direkt beobachtbar ist, sondern nur aus seinem Ergebnis erschlossen werden kann. Bezogen auf das schulische Lernen sind hier Testleistungen, mündliche Beiträge zum Unterricht oder die erfolgreiche Anwendung von vorgetragenen Inhalten zu nennen. In der wissenschaftlichen Definition bezeichnet der Begriff eine überdauernde Änderung des Verhaltens oder der Verhaltensmöglichkeiten, die auf wiederholte Erfahrungen des Lernenden in gegebenen Situationen zurückgehen (Hilgard & Bower, 1981). Zu unterscheiden ist zwischen implizitem (unbeabsichtigtem) und intentionalem (gezieltem) Lernen. Implizites Lernen geschieht, ohne dass der Lernende eine erklärte Absicht hat und ohne dass ihm ein gezieltes Lernangebot gemacht wird. Intentionales Lernen bezeichnet dagegen einen aktiven, konstruktiven und zielgerichteten Vorgang, der dem Aufbau von Wissen und dem Erwerb von Fertigkeiten dient (Glaser, 1991). Beim Lernen im schulischen Kontext handelt es sich typischerweise um ein eher absichtsvolles und „höheres“ Lernen (z. B. lernen, eine Fremdsprache zu sprechen, zu rechnen, ein Musikinstrument zu spielen). Dieses Lernen ist an vielfältige Voraussetzungen gebunden. Dazu zählen unter anderem Vorwissen, ein angemessenes Instruktionsverständnis, funktionierende Gedächtnisprozesse und in hohem Maße ein geeignetes Aufmerksamkeitsverhalten des Lernenden (Zielinski, 1998). Im Allgemeinen unterscheidet man folgende Formen von Aufmerksamkeitsverhalten (Heubrock & Petermann, 2001): selektive Aufmerksamkeit (schnelle und zuverlässige Fokussierung auf relevante Reize), geteilte Aufmerksamkeit (Aufteilung der Aufmerksamkeit auf zwei oder mehr Anforderungen, vor allem bei täglichen Routineanforderungen), Daueraufmerksamkeit bzw. Vigilanz (Aufrechterhaltung eines ausreichenden Aktivierungsgrades) und kurzfristige Aufmerksamkeitsaktivierung (engl.: alertness). Das Aufmerksamkeitsverhalten in den genannten Formen dient einer gezielten und effektiven Informationsverarbeitung sowie der Reaktion auf aktuelle Anforderungen. Darüber hinaus erlaubt es, eine große Menge an Umwelterfahrungen aufzunehmen und zu kategorisieren (Lauth & Hänsgen, 2004). Als wichtigste Form der Aufmerksamkeit für das schulische Lernen gilt die selektive oder fokussierte Aufmerksamkeit. Das Ziel von selektiver Aufmerksamkeit besteht darin, sich einer Sache intensiv zu widmen und andere Dinge, die sich ebenfalls aufdrängen, unbeachtet zu lassen. Sie orientiert sich an eigenen Bedürfnissen, Zielen sowie Situationsnotwendigkeiten. Selektive Aufmerksamkeit entscheidet darüber, was Beachtung findet und was nicht, im Sinne von „auswählen“, „hervorheben“, „sich auf etwas richten“, „sich zuwenden“, „anderes vernachlässigen“, „flüchtig mustern“, „als unwichtig verwerfen“, „als uninteressant übergehen“. Die Fähigkeit zur selektiven Aufmerksamkeit ist mit Absichten, Entscheidungen sowie der Wahrnehmung einer Situation verbunden und hängt sehr von Vorerfahrungen ab. Folglich ist sie auch ihrerseits durch Lernprozesse beeinflussbar und damit entwicklungsfähig. Anfang der 90er Jahre wurden erstmals differenzierte Modelle der Aufmerksamkeit vorgelegt, die das Zusammenwirken einzelner Aufmerksamkeitsmechanismen beschreiben (Cohen, 1993; Neumann, 1992). Der folgenden Darstellung liegt das Komponentenmodell der Aufmerksamkeit von Neumann (1992) zu Grunde, das im Wesentlichen auf

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| Teil V: Interventionen experimentalpsychologischen Daten beruht. Angenommen werden fünf Komponenten der Aufmerksamkeit: – Verhaltenshemmung. Prinzipiell wäre der Mensch in jeder Situation in der Lage, sehr viele, durchaus unterschiedliche Dinge zu tun. Ein Schüler, der im Klassenraum sitzt, könnte beispielsweise aus dem Fenster schauen und einen Vogel beobachten, ein Papierschiff falten, dem Lehrer zuhören oder über das Fußballspiel am vergangenen Nachmittag nachdenken. Ähnliches ließe sich für jede beliebige Situation berichten. Deshalb ist es von zentraler Bedeutung für erfolgreiches Handeln, dass eine Auswahl getroffen wird, was, in welcher Reihenfolge und mit welchem Ziel getan wird. Zum Beispiel kann man sich bewusst vornehmen, ein bestimmtes Ziel vorrangig zu verfolgen (etwa ein Schüler nimmt sich vor, die Logik der schriftlichen Division zu verstehen). Hierbei kommen psychologische Hemmungsmechanismen zum Einsatz. – Regulation der geistigen Wachheit. Nicht nur die Ausrichtung der Aufmerksamkeit kann sich unterscheiden, sondern auch deren Intensität: In Situationen, die eine hohe „Intensität“ der Aufmerksamkeit erfordern (etwa das Überqueren einer gefährlichen Straßenkreuzung) ist ein hohes Maß an zentralnervöser Aktivierung („geistiger Wachheit“) erforderlich. In anderen Situationen (etwa beim entspannten Musikhören am Abend) erweist sich ein geringes Maß an geistiger Wachheit als völlig angemessen und hinreichend. Die meisten Situationen im Leben des Menschen erfordern allerdings ein mittleres Maß an geistiger Wachheit, da dieses auch über einen längeren Zeitraum hinweg aufrechterhalten werden kann. Zum Beispiel wird es einem Schüler nur dann möglich sein, den gesamten Vormittag hinweg dem Unterricht zu folgen, wenn es ihm gelingt, ein mittleres Maß an geistiger Wachheit „einzupendeln“. Dazu muss er sein Aktivierungsniveau steuern und optimal halten, etwa durch Selbstanweisungen („Ich werde jetzt zuhören!“) oder Vorstellungen zur Selbstmotivation („Wie toll wird das sein, wenn ich meiner Mutter eine gute Mathearbeit vorlegen kann.“). – Handlungssicherheit. Nur wenige Situationen im Leben des Menschen bieten optimale und vollkommen störungsfreie Rahmenbedingungen, die es erlauben, sich ungehindert einer Tätigkeit zu widmen. Durch Übung kann man allerdings erreichen, Handlungen störungsfreier auszuführen. Deshalb müssen bedeutsame Fertigkeiten ausreichend geübt werden, um weniger anfällig für mögliche Störungen zu sein. Beispielsweise wird ein Schüler sehr sicher gelernte Vokabeln auch dann wiedergeben können, wenn er ein Gespräch seiner Mitschüler am Nebentisch hört. – Handlungssteuerung durch Informationsauswahl. Gezieltes Handeln setzt Entscheidungen voraus, wobei einige Informationen ausgewählt und andere außer Acht gelassen werden. Der umgangssprachliche Begriff „beachten“ kommt dieser Auswahl von Informationen recht nahe. Die Auswahlprozesse werden durch Zielvorhaben und Erfahrungsmuster beeinflusst. Zum Beispiel orientiert sich die Auswahl von Informationen an den Fragen: „Welche Informationen bringen mich meinem Ziel näher?“ und „Was hat sich bei einer ähnlichen Anforderung als hilfreich erwiesen?“. Somit ist die Fähigkeit eines Kindes, eine geeignete Informationsauswahl zur Handlungssteuerung vorzunehmen, keine konstante Größe, sondern durch Lernerfahrungen veränderbar. – Handlungsplanung. Beim Handeln werden einzelne Fertigkeiten, die der Mensch bereits beherrscht, neu zusammengestellt und in eine sinnvolle und häufig neue Reihenfolge gebracht. So entstehen neue Handlungsmuster. Das zielgerichtete Handeln



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setzt somit Planung voraus. Beispielsweise muss ein Schüler, der erstmals im Mathematikunterricht Textaufgaben lösen soll, auf Fertigkeiten, die er bereits beherrscht, zurückgreifen (Lesen, Schreiben, Anwendung der Grundrechenarten etc.) und deren Einsatz in geeigneter Weise strukturieren (etwa zunächst die Aufgabe durchlesen, wesentliche Größen herausschreiben, eine Rechenoperation durchführen, das Endergebnis sprachlich formulieren). Dabei werden mehrere Teilhandlungen durch einen gemeinsamen Handlungsplan gesteuert. „Allgemein hat Handlungsplanung die Funktion, Verhalten ohne Lenkung durch äußere Reize“, gegebenenfalls sogar gegen Reaktionstendenzen, die durch äußere Reize motiviert werden, zu ermöglichen (Neumann, 1996, S. 75). Damit ist sie ein zentrales Instrument der Selbstregulation. Bei der Aufmerksamkeit handelt es sich also keineswegs um eine psychophysiologische Komponente, die sich der Ausführung einer Tätigkeit lediglich zugesellt, sondern um eine komplexe Handlung. Diese Sichtweise wird durch neuropsychologische Befunde gestützt, die deutlich machen, dass verschiedene Instanzen des Gehirns zusammenarbeiten, um „Aufmerksamkeit“ zu erzeugen. Im Einzelnen sind daran vor allem Regionen des limbischen Systems beteiligt, die für das Gedächtnis, die Auswertung von Sinneseindrücken, die Entscheidungsfindung sowie die Aufnahme und Beendigung von Verhaltensweisen zuständig sind (Andreasen, 1990, 137 ff.). Insgesamt arbeiten zahlreiche kortikale und subkortikale Strukturen zusammen, wobei die „Fäden“ im Frontallappen zusammenlaufen. So kann die Handlungsplanung im Wesentlichen dem Frontalhirn zugeschrieben werden (Cohen, 1993; Tucker & Derryberry, 1992). Hier wird letztlich über die Handlungsschritte und die Durchführung oder Beendigung von Verhaltensweisen entschieden. Hinsichtlich jeder der oben dargestellten Komponenten kann es zu Störungen kommen, wenn die betreffenden Mechanismen nicht voll entwickelt oder in ihrer Funktionsfähigkeit herabgesetzt sind. In der Tat lassen sich die meisten, im Alltag auffallenden Störungen des Aufmerksamkeitsverhaltens den postulierten Komponenten zuordnen. Zum Beispiel gelingt es einem Schüler nicht ... – sich vorrangige Ziele zu setzen und diese auch konsequent zu verfolgen (etwa durch Strategien der Handlungsplanung wie Zeiteinteilung), – langfristig eine geeignete Reaktionsbereitschaft aufrecht zu erhalten (etwa durch Mobilisierung von Anstrengungsreserven, Einsatz von Selbstanweisungen), – ein hinreichendes Maß an Handlungssicherheit zu entwickeln (etwa durch gezieltes Üben z. B. unter Einsatz von Memoriertechniken), – angemessene Entscheidungen darüber zu treffen, welche der Umgebungsreize als handlungssteuernd ausgewählt und welche außer Acht gelassen werden sollten (etwa durch den Einsatz von Strategien der Informationsentnahme wie selbstgerichtete Fragen), – vorhandene Fertigkeiten zu neuen Handlungsmustern zusammenzusetzen (etwa durch den Einsatz von Problemlösestrategien). In all diesen Fällen sind unmittelbare Beeinträchtigungen des schulischen Lernens zu erwarten, etwa erscheinen den Kindern Lösungsperspektiven nicht prägnant, ihre Lernmotivation sinkt auf Grund häufiger Misserfolgserlebnisse, Wissensinhalte wer-

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| Teil V: Interventionen den nur flüchtig erlernt und rasch wieder vergessen, die Kinder verwenden nur wenig Mühe darauf, einer Aufgabenstellung die relevanten Informationen zu entnehmen und einen Lösungsplan zu entwerfen. Insofern lassen sich aus dem Komponentenmodell Ansatzpunkte für Fördermaßnahmen ableiten, die vor allem auf eine Verbesserung von Fertigkeiten der Handlungsregulation und -planung sowie eine Verbesserung der Handlungssicherheit zielen. Während bei klinisch beeinträchtigten Kindern in aller Regel eine multimodale Therapie unter Einbeziehung eines kindzentrierten Einzel- bzw. Kleingruppentrainings, einer Eltern- und Lehreranleitung sowie gegebenenfalls auch medikamentöser Behandlung angezeigt ist, kann zur Unterstützung lernschwacher Kinder mit subklinischer Störungsausprägung eine schulzentrierte Förderung bereits hinreichende Verbesserungen des Aufmerksamkeitsverhaltens erbringen. Nähere Angaben zur psychologisch-therapeutischen Intervention sind bei Lauth und Naumann (in Druck) zu finden. Im Folgenden werden dagegen schwerpunktmäßig unterrichtsintegrierte Fördermöglichkeiten aufgezeigt.

21.3 Unterrichtsintegrierte Förderung Für Kinder ab dem Schulalter werden zur Intervention bei Aufmerksamkeitsdefiziten und motorischer Unruhe Maßnahmen empfohlen, die auf verhaltenstherapeutischen Prinzipien basieren, insbesondere operante Verfahren (vgl. u. a. Barkley, 2006; Döpfner, Frölich & Lehmkuhl, 2000), Selbstinstruktionstrainings und Verfahren des Selbstmanagements (vgl. Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie, 1999). Die Begründung der kognitiv-verhaltensbezogenen Maßnahmen fußt in direkter Weise in aktuell anerkannten Erklärungsmodellen entsprechender Beeinträchtigungen. So betrifft ein grundlegender Bedingungsfaktor des aufmerksamkeitsgestörten und unruhigen Verhaltens die Regulation der zentralnervösen Aktivierung (vgl. Komponentenmodell der Aufmerksamkeit, 21.2). Demnach wird bei Kindern mit Aufmerksamkeitsstörungen als elementare Beeinträchtigung angenommen, dass sie ihre zentralnervöse Aktivierung (quasi ihre „geistige Wachheit“) nicht oder nur unzureichend regulieren können, woraufhin es zu Phasen von zentralnervöser Untererregung kommt (vgl. etwa Roth, Schlottke & Klepel, 1992; Lauth & Schlottke, 2002). Dieses grundlegende Defizit wirkt sich einschränkend auf die Verhaltensregulation aus, was seinerseits zu den beobachtbaren Verhaltensäußerungen (etwa geringe Ausdauer bei der Aufgabenbearbeitung, vorschnelles Handeln, unruhiges Verhalten) führt. Hier setzen nun strukturierende Hilfsmaßnahmen (vgl. Abschnitt b, unten) an, da sie den Kindern die Regulation ihrer Handlungen erleichtern. Die Anleitung zur verbalen Handlungsregulation (vgl. Abschnitt c, unten), dient im Weiteren dem Aufbau eigener Selbstregulationsfertigkeiten der Kinder. Die Effizienz operanter Maßnahmen wird mit der Inhibitionstheorie in Verbindung gebracht. Sie besagt, dass sich kortikal untererregte Personen aufgrund einer Schwäche, unbelohntes oder bestraftes Verhalten zu unterdrücken, weniger verstärkungskontingent verhalten. Generell weisen sie eine vergleichsweise niedrige Konditionierbarkeit auf. Hieraus folgt für die Förderung betroffener Kinder, dass die Konsequenzen für erwünschtes bzw. unerwünschtes Verhalten nachhaltiger, konsistenter und deutlicher als bei unauffälligen Kindern erfolgen müssen, damit sich ein Lerneffekt



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einstellt. Demnach sollte das Verhalten der Kinder durch häufige, prägnante und zeitnahe Rückmeldungen (vor allem Belohnungen) gesteuert werden (vgl. Abschnitt d, unten). Die genannten Maßnahmen sollten mit den wichtigsten Lehrern eines betroffenen Kindes im Zuge einer Verhaltensberatung erarbeitet und schrittweise realisiert werden (vgl. Borg-Laufs & Brack, 2001). Für diese Kooperation bieten sich folgende Inhaltsbereiche an (vgl. Naumann, 2005): a) Die Vermittlung grundlegender Kenntnisse. Als Grundlage für eine gezielte Förderung der betroffenen Kinder muss den Lehrern in einem ersten Schritt Wissen über die Themen „Aufmerksamkeit“ und „Störungen des Aufmerksamkeitsverhaltens“ vermittelt werden. Dabei wird eine verhaltensnahe Interpretation der Schwierigkeiten angestrebt. Diese Sichtweise erleichtert es, konstruktive Ziele zu bestimmen und im Unterricht zu verfolgen (z. B. das Verhalten des Kindes durch prozessorientierte Hilfen steuern anstatt vorrangig fehlerhafte Lösungsversuche zu korrigieren). Ferner erhalten Lehrer eine Einführung in die Prinzipien der Verhaltensanalyse. Anhand von Beispielen aus der Unterrichtspraxis wird herausgearbeitet, welche Situationen für das betroffene Kind besonders schwierig sind und welche bereits zufriedenstellend gelingen. Diese Situationen werden zusammen mit den Lehrern hinsichtlich der vorausgehenden und nachfolgenden Konsequenzen des Problemverhaltens analysiert, um ein verhaltensorientiertes Denken anzurege