Schmerzpsychotherapie: Grundlagen - Diagnostik - Krankheitsbilder - Behandlung [6 . aktualisierte u. überarb. Aufl.] 9783540722816, 3540722815 [PDF]

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Schmerzpsychotherapie: Grundlagen - Diagnostik - Krankheitsbilder - Behandlung  [6 . aktualisierte u. überarb. Aufl.]
 9783540722816, 3540722815 [PDF]

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Zitiervorschau

Kröner-Herwig Frettlöh Klinger Nilges (Hrsg.)

Schmerzpsychotherapie Grundlagen – Diagnostik – Krankheitsbilder – Behandlung

Kröner-Herwig Frettlöh Klinger Nilges (Hrsg.)

Schmerzpsychotherapie Grundlagen – Diagnostik – Krankheitsbilder – Behandlung

6. aktualisierte und überarbeitete Auflage Mit 78 Abbildungen

123

Prof. Dr. Birgit Kröner-Herwig Georg-August-Universität Göttingen Abteilung Klinische Psychologie u. Psychotherapie Goßlerstr. 14, 37073 Göttingen Dipl.-Psych. Dr. Jule Frettlöh BG Kliniken Bergmannsheil, Universitätsklinik Klinik für Schmerztherapie Bürkle-de-la-Camp-Platz 1, 44789 Bochum Dipl.-Psych. Dr. Regine Klinger Universität Hamburg Psychologisches Institut Von-Melle-Park 5, 20146 Hamburg Dipl.-Psych. Dr. Paul Nilges Leitender Psychologe DRK Schmerz-Zentrum Mainz Auf der Steig 16, 55131 Mainz

ISBN-13 978-3-540-72281-6 6. Auflage 2007 Springer Medizin Verlag Heidelberg ISBN 3-540-00076-3 5. Auflage Springer-Verlag Berlin Heidelberg New York 2004 Ursprünglich erschienen mit dem Titel: Psychologische Schmerztherapie unter der Herausgeberschaft von Basler, H.-D., Franz, C., Kröner-Herwig, B., Rehfisch, H.-P. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere die der Übersetzung, des Nachdrucks, des Vortrags, der Entnahme von Abbildungen und Tabellen, der Funksendung, der Mikroverfilmung oder der Vervielfältigung auf anderen Wegen und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. Eine Vervielfältigung dieses Werkes oder von Teilen dieses Werkes ist auch im Einzelfall nur in den Grenzen der gesetzlichen Bestimmungen des Urheberrechtsgesetzes der Bundesrepublik Deutschland vom 9. September 1965 in der jeweils geltenden Fassung zulässig. Sie ist grundsätzlich vergütungspflichtig. Zuwiderhandlungen unterliegen den Strafbestimmungen des Urheberrechtsgesetzes. Springer Medizin Verlag springer.de © Springer Medizin Verlag Heidelberg 1990, 1993, 1997, 1999, 2004, 2007 Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Produkthaftung: Für Angaben über Dosierungsanweisungen und Applikationsformen kann vom Verlag keine Gewähr übernommen werden. Derartige Angaben müssen vom jeweiligen Anwender im Einzelfall anhand anderer Literaturstellen auf ihre Richtigkeit geprüft werden. Planung: Ulrike Hartmann, Heidelberg Copy-Editing: Bernhard Wiedemann, Forst Projektmanagement: Gisela Schmitt, Heidelberg Layout und Einbandgestaltung: deblik Berlin Satz: am-productions GmbH, Wiesloch SPIN: 11306276 Gedruckt auf säurefreiem Papier

2122 – 5 4 3 2 1 0

V

Vorwort zur 6. Auflage Nur die leidenschaftlichsten Vertreter der psychologischen Schmerzforschung haben 1990, im Erscheinungsjahr der 1. Auflage dieses Buches, erwartet, dass weitere fünf Auflagen und - wie wir hoffen - die 7., 8. und weitere folgen werden. Dass dies so ist, hat damit zu tun, dass chronischer Schmerz ein Thema von höchster Aktualität und Bedeutsamkeit war und ist, dessen stiefmütterliche Behandlung in Deutschland noch 1986 in der Expertise von Manfred Zimmermann und Hanne Seemann beklagt wurde. Damit traf dieses Buch auf einen Höhepunkt des Interesses an neuen Perspektiven in der Schmerztherapie und -forschung. Die Neuauflagen über einen Zeitraum von mehr als 15 Jahren zeigen, dass dieses Interesse kaum abgeflaut ist. Schmerz ist für viele Kollegen, die sich mit Fragen der Gesundheit in Forschung und Praxis befassten, also immer noch ein sehr bedeutsames Thema. Die Nachfrage zeigt ebenso, dass es nicht nur Psychologische Psychotherapeuten bzw. andere psychologische Fachleute angeht, sondern auch weitere Berufsgruppen wie Mediziner, Physiotherapeuten, Sport-, Ergo- oder Sozialtherapeuten begierig sind, etwas über die genuin psychologischen Aspekte des Schmerzes zu erfahren. Diese Entwicklung belegt, dass sich im Laufe der Zeit, anders als noch 1990 zur Zeit der Konzeption der ersten Auflage, mittlerweile eine allgemein akzeptierte Erkenntnis durchgesetzt hat, dass Schmerz nie wieder das sein kann, was er früher war: ein allein somatisches Phänomen und damit ausschließlich Gegenstand der Medizin, von seiner Entstehung bis hin zur Behandlung. Die Entwicklung der Schmerzforschung und –psychotherapie wurde zum einen wissenschaftlich durch das Gate-Control-Modell von Melzack & Wall in Gang gesetzt und zum anderen klinisch durch die alltäglichen, verunsichernden „puzzles“ im praktischen Umgang mit Schmerzpatienten. Beides verdeutlichte, wie wichtig es ist, mehr über die psychologischen Grundlagen des chronischen Schmerzes und der damit assoziierten Beeinträchtigung der betroffenen Person zu wissen bzw. in Erfahrung zu bringen. Mittlerweile hat die psychologische Forschung einen Stand der Evidenzbasierung erreicht, bei dem kein Zweifel mehr dran bestehen kann, dass die psychologische Schmerztherapie „wirksam“ ist. Dies gilt insbesondere dann, wenn sie in ein multidisziplinäres Behandlungsprogramm eingebettet ist. Das bedeutet auch, dass heute z.B. beim chronischen Rücken-, Kopf- oder Phantomschmerz eine Behandlung ohne die Berücksichtigung psychologischer Interventionen nicht als Behandlung lege artis zu bewerten ist. Die psychologische Schmerzforschung hatte insbesondere in den Neunziger Jahren einen enormen Aufschwung erfahren und hat einen erheblichen Beitrag zur Erweiterung des Wissens und der Behandlungskompetenzen geleistet. Die weiterhin kaum zu überschätzende Relevanz des Gesundheitsproblems Schmerz wird deutlich in den neuesten Statistiken, die ausweisen, dass Rückenschmerzen inkl. weiterer muskuloskeletaler Probleme allein den zweithäufigsten Grund für vorzeitige Berentung darstellen und den häufigsten für Arbeitsausfalltage wegen Krankschreibung.

VI

Vorwort zur 6. Auflage

Die Attraktivität des Buches, dessen sechste Auflage sich weitgehend an der fünften orientiert, hat sicher auch ihren Grund darin, dass nahezu jeder an Schmerz interessierte Leser dort mit hoher Wahrscheinlichkeit das findet, was er sucht bzw. für seine Arbeit benötigt. Über die Jahre ist die Breite der angesprochenen Themenfelder stetig größer geworden. So wurden etwa die Kapitel „Biologische Mechanismen der Schmerzchronifizierung“ neu aufgenommen, ein Feld, in dem in den letzten Jahren wesentliche Fortschritte gemacht wurden. Ebenso das Kapitel „Schmerz und Alter“ ist neu und trägt der zunehmenden und mittlerweile auch erkannten Bedeutung dieses Themas Rechnung. Dies trifft auch für die Aufnahme des Kapitels „Schmerz bei Migranten aus der Türkei“ zu. Das Kapitel „Fort- und Weiterbildung Spezielle Schmerzpsychotherapie“ wurde in der vorliegenden Ausgabe vollständig neu aufgenommen. Es richtet sich vor allem an diejenigen Schmerzinteressierten, die eine zertifizierte Zusatzqualifikation „Spezielle Schmerzpsychotherapie“ anstreben. Das Kapitel weist auf den hohen Bedarf an psychologischen Schmerztherapeuten hin und möchte Psychologinnen und Psychologen, Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten motivieren, sich in diesem innovativen und zukunftsweisenden Berufsfeld zu engagieren. Insgesamt ist es die Absicht des Buches, die Leser in den wesentlichen Feldern der Schmerzforschung und der schmerztherapeutischen Praxis umfassend, kompetent und prägnant über den aktuellen Stand zu informieren. Insofern ist das Buch auch aufgrund des umfangreichen Stichwortverzeichnisses ein nützliches Nachschlagewerk geworden. Der Ehrgeiz der Herausgeber ist es von jeher gewesen, die kompetentesten Vertreter aus Wissenschaft und Praxis als Autoren für das Buch zu gewinnen. Wir möchten uns hiermit besonders bei den Autoren bedanken, die sich bereits zwei Jahre nach dem Erscheinen der 5. Auflage wieder die Durchsicht ihrer Kapitel und notwendige Modifikationen vorgenommen haben! Ganz besonders danken wir einem Herausgeber, der nun nicht mehr als solcher erscheint - Heinz-Dieter Basler.Wir danken dafür, dass er über lange Jahre als Erstherausgeber fungierte, der wesentlich die Konzeption des Buches mitbestimmt hat, sich bei jeder neuen Auflage der Aufgabe gestellt hat, die Autoren zu motivieren, ihre Artikel zu aktualisieren und ihrem Thema u. U. neue Perspektiven abzugewinnen. Heinz-Dieter Basler wird in Kürze pensioniert werden und zieht sich, seinen Ruhestand klug vorbereitend, allmählich aus seinen früheren Funktionen zurück. Wir, die neuen und zum Teil „alten“ Mitherausgeber, hoffen, dass wir seinem Vorbild gerecht werden und dieses Projekt erfolgreich fortsetzen können. Die Leser dieses Buches bitten wir um Rückmeldungen und Anregungen für die sicher bevorstehende nächste Auflage. Damit können Sie dazu beitragen, dass dieses Buch in Zukunft weiterhin ein aktuelles und wertvolles Angebot für schmerzpsychologisch Interessierte bleibt.

Für die Herausgeber im Juli 2007 Birgit Kröner-Herwig

VII

Inhaltsverzeichnis 2.3 I

Grundlagen

Fort- und Weiterbildung„Spezielle Schmerzpsychotherapie“ . . . . . . . . . . . . 3

M. Hüppe und G. Fritsche Evidenz der Schmerzpsychotherapie . . Gesundheitspolitische Aspekte . . . . . . . Struktur und Inhalte der Fort- bzw. Weiterbildung „Spezielle Schmerzpsychotherapie“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Theoretische Ausbildung . . . . . . . . . . . . Praktische Ausbildung . . . . . . . . . . . . . . Dokumentation der Ausbildung . . . . . . Berufspolitische Bedeutung . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1

1.1 1.2 1.3 1.4 1.5 1.6

2

2.1 2.2 2.2.1 2.2.2 2.2.3

3 3

4 4 5 5 5 6

Schmerz – eine Gegenstandsbeschreibung . . . . . . . . . . 7

B. Kröner-Herwig Schmerz – eine Definition . . . . . . . . . . . 7 Was unterscheidet chronischen Schmerz von akutem Schmerz? . . . . . . . 12 Das biopsychosoziale Konzept des chronischen Schmerzes . . . . . . . . . . 13 Allgemeine Überlegungen zur Ätiologie, Aufrechterhaltung und Nosologie. . . . . 9 Chronischer Schmerz und seine Bedeutung für das Gesundheitssystem . . . . . . 17 Schmerztherapie in Deutschland . . . . . 18 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19 Physiologie von Nozizeption und Schmerz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21

M. Zimmermann Nozizeption, akuter und chronischer Schmerz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tierexperimentelle Untersuchungen über Nozizeption und Schmerz . . . . . . Nozizeptive Reaktionen bei Hitzereizung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tierexperimentelle Modelle für chronische Schmerzen . . . . . . . . . . . Ethik des experimentellen Schmerzes bei Tieren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

21 24 24 25 26

Nozizeptoren und ihre afferenten Fasern . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.1 Nozizeptive Afferenzen . . . . . . . . . . . . . . 2.3.2 Nozizeptoren der Haut . . . . . . . . . . . . . . 2.3.3 Nozizeptoren von Muskeln, Gelenken und inneren Organen . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.4 Populationskodierung von nozizeptiven Reizen . . . . . . . . . . . . . 2.3.5 Chemische Wirkungen auf Nozizeptoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4 Mechanismen der Analgesie im peripheren Nervensystem . . . . . . . . 2.5 Zentralnervöse Mechanismen von Nozizeption und Schmerz . . . . . . . 2.5.1 Funktionelle Neuroanatomie . . . . . . . . . 2.5.2 Schmerz in der Bildgebung des menschlichen Gehirns . . . . . . . . . . . 2.5.3 Schmerz und Bewusstsein . . . . . . . . . . . 2.5.4 Physiologie zentralnervöser Verarbeitung von nozizeptiven Reizen . 2.6 Schmerzhemmung im Zentralnervensystem . . . . . . . . . . . . 2.6.1 Übersicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.6.2 Absteigende Hemmung im Rückenmark . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.6.3 Hemmung durch afferente Stimulation – TENS . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.6.4 Stressinduzierte Analgesie . . . . . . . . . . . 2.7 Plastizität im Zentralnervensystem – ein Mechanismus bei chronischen Schmerzen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.8 Pathophysiologische Mechanismen ausgewählter Schmerzsyndrome . . . . . 2.8.1 Migräne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.8.2 Neuropathische Schmerzen nach Schädigung des Nervensystems . . 2.9 Auswirkungen peripherer Nervenläsionen im Rückenmark . . . . . 2.9.1 Schwächung hemmender spinaler Systeme durch periphere Nervenläsion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.9.2 Apoptose in Rückenmarkneuronen nach peripherer Nervenläsion . . . . . . . . 2.10 Schmerzen durch Fehlregulation . . . . . 2.10.1 Schmerzentstehung durch Fehlregulation im neuromotorischen System . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

26 26 27 28 30 30 34 34 34 36 38 39 43 43 44 44 46

46 49 49 50 55

56 56 56

57

VIII

Inhaltsverzeichnis

2.10.2 Therapie von Schmerzen bei Funktionsstörungen im motorischen System . . . . . . . . . . . . . 2.11 Physiologische Ansätze zum Verständnis psychosomatischer Schmerzmechanismen . . . . . . . . . . . . . . 2.12 Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3

3.1 3.2 3.2.1 3.2.2 3.2.3 3.3

3.4

3.4.1 3.4.2 3.4.3 3.4.4 3.4.5 3.4.6 3.4.7 3.5 3.6 3.7

4

4.1 4.2 4.3 4.3.1 4.3.2 4.3.3 4.3.4 4.4

4.4.1 59

59 60 60

Neuroendokrinologie und Neuroimmunologie . . . . . . . . . . . . 63

U. Tewes, M. Schedlowski Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 63 Kommunikationswege im Körper . . . . 64 Signalübertragung von Nervenzelle zu Nervenzelle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 64 Hormonsystem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 64 Immunsystem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 66 Bedeutung der Neuropeptide für die Kommunikation zwischen den Systemen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69 Vernetzung der Schmerzverarbeitungsprozesse mit neuro-endokrinem und Immunsystem . . . . . . . . . . . . . . . . . 70 β-Endorphin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 71 Substanz P . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 71 Serotonin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 72 Oxytozin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73 Neurotensin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73 Prostaglandine . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73 Bradykinin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73 Stressbedingte Analgesie . . . . . . . . . . . . 74 Klinische Relevanz . . . . . . . . . . . . . . . . . 76 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . 77 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 78 Biologische Mechanismen der Chronifizierung – Konsequenzen für die Prävention . . . . 81

T.R. Tölle, A. Berthele Wissenschaftliches Grundkonzept . . . . Historische Sicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Aktueller Stand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hinterhorn des Rückenmarks . . . . . . . . Mechanismen funktioneller Plastizität Mechanismen struktureller Plastizität . Änderungen der neuroanatomischen Verschaltung und deren Folgen . . . . . . . Zentrale Schmerzverarbeitung beim Menschen – Analyse mit bildgebenden Methoden . . . . . . . . .

81 82 83 83 85 88

4.4.2 4.4.3 4.4.4 4.4.5 4.4.6

4.5

5

5.1 5.2 5.2.1 5.2.2 5.2.3 5.2.4 5.3 5.3.1 5.3.2 5.3.3 5.3.4 5.4 5.4.1 5.4.2 5.4.3 5.5

6

91

91

6.1 6.2

Neuroanatomie der Schmerzverarbeitung . . . . . . . . . . . . 92 Zentrale Aktivierungsmuster und individuelles Schmerzerleben . . . . 94 Phantomschmerzen und Hypnose . . . . 94 Modulation der Schmerzaktivierung durch Analgetika . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 96 Untersuchungen mit Opioidrezeptorliganden . . . . . . . . . 97 Aktivitätsabhängige neuronale Plastizität – Konsequenzen für die Therapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 98 Biologische Mechanismen der Chronifizierung – eine integrative Hypothese . . . . . . . . . . 99 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101 Psychologische Mechanismen der Chronifizierung – Konsequenzen für die Prävention . . . 103

M. Hasenbring, M. Pfingsten Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Chronifizierung auf psychischer Ebene . . . . . . . . . . . . . Emotionale Stimmung . . . . . . . . . . . . . Schmerzbezogene Kognitionen . . . . . . Verhaltensbezogene Schmerzbewältigung . . . . . . . . . . . . . . . Aktuelle Stressoren im Alltag . . . . . . . Iatrogene Faktoren im Prozess der Schmerzchronifizierung . . . . . . . . Überdiagnostik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Informationsmängel . . . . . . . . . . . . . . . Fehler bei der Medikation . . . . . . . . . . Vernachlässigung psychosozialer Faktoren . . . . . . . . . . . . Präventive Aspekte . . . . . . . . . . . . . . . . Risikofaktoren der Chronifizierung . . Identifikation von Risikofaktoren und Ansätze zur Prävention . . . . . . . . . Methoden zur Erfassung des Chronifizierungsausmaßes . . . . . . Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

103 104 104 105 106 108 110 110 111 111 111 112 112 115 118 120 120

Psychodynamische Konzepte bei somatoformen Schmerzzuständen . . . . . . . . . . . . . . . . 123

S.O. Hoffmann, U.T. Egle Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123 Der Beitrag von G.L. Engel . . . . . . . . . 124

IX Inhaltsverzeichnis

6.2.1 6.3

6.4

6.4.1 6.4.2 6.4.3 6.4.4 6.4.5 6.4.6 6.4.7

7

7.1 7.2 7.3

7.4

8

8.1 8.1.1 8.1.2 8.1.3 8.1.4 8.2 8.2.1 8.2.2 8.2.3 8.2.4 8.2.5

Schmerz als komplexes Regulationssystem . . . . . . . . . . . . . . . . . Psychodynamische Aspekte im philosophischen Schmerzverständnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Psychodynamische Erklärungsprinzipien zur Entstehung von somatoformem Schmerz . . . . . . . Der narzisstische Mechanismus der Schmerzentstehung . . . . . . . . . . . . Der Konversionsmechanismus . . . . . . Psychovegetative Spannungszustände in der Schmerzgenese . . . . . . . . . . . . . . Prinzip des Wirksamwerdens dissoziierter Traumafolgen . . . . . . . . . Bedeutung der Bindungsvorgänge . . . Lernvorgänge in der Schmerzgenese . Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

8.2.6 125 8.2.7 125

8.3.1 126 126 129 128 132 135 136 137 137

Die Schmerzpersönlichkeit – eine Fiktion? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141

B. Kröner-Herwig Rückblick auf die Geschichte der „Schmerzpersönlichkeit“ . . . . . . . Die Schmerzpersönlichkeit im „Test“ der Empirie . . . . . . . . . . . . . . Die Persönlichkeit des Schmerzpatienten – ein zu vernachlässigendes Faktum? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

8.3

8.3.2 8.3.3 8.3.4 8.3.5 8.4 8.4.1 8.4.2 8.4.3 8.5

141

Das europäische Mittelalter – Paracelsus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Arabisch-islamische Beiträge zum Schmerzproblem . . . . . . . . . . . . . . Vorstellungen von Schmerz in der Neuzeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Entwicklung des mechanistischen Denkens . . . . . . . Descartes und die Folgen . . . . . . . . . . . Schmerz als naturwissenschaftliches Problem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Schmerz als Zivilisationsproblem . . . . Ansätze für ein neues Schmerzverständnis . . . . . . . . . . . . . . . Kulturelle und geistesgeschichtliche Aspekte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bedeutung von Kultur . . . . . . . . . . . . . . Künstlerische Kreativität und Schmerz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Philosophie und Schmerz . . . . . . . . . . . Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

158 159 159 159 160 161 161 162 163 163 164 165 166 166

II Modulatoren des Schmerzes

145 9

148 149 149

9.1 9.2

Kulturgeschichtliche Bedeutung des Schmerzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151

9.3

H.C. Müller-Busch Epistemologische Probleme . . . . . . . . Schmerz als Erkenntnisphänomen . . . Sprache und Schmerz . . . . . . . . . . . . . . Terminologische Probleme . . . . . . . . . Schmerz als Kommunikationsphänomen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Vorstellungen von Schmerz in verschiedenen Kulturepochen . . . . Schmerz in „primitiven“ Kulturen . . . Archaische und antike Hochkulturen Schmerzvorstellungen in Griechenland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Nervensystem und Schmerz – Galen . Schmerz und christliche Leidensethik

9.4 9.5

151 151 152 153

9.6

153

9.7

154 154 155

9.8

156 157 157

9.10

9.9

9.11

Schmerz bei Kindern . . . . . . . . . . . . . . . 171 B. Kröner-Herwig, R. Pothmann Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171 Entwicklungsphysiologische und -psychologische Aspekte der Schmerzwahrnehmung . . . . . . . . . 171 Typische Schmerzprobleme bei Kindern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173 Schmerz infolge akuter Traumen . . . . 174 Schmerzen infolge medizinischdiagnostischer und therapeutischer Interventionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 175 Krankheitsbedingte Schmerzprobleme . . . . . . . . . . . . . . . . . 176 Schmerz bei psychophysiologischen Funktionsstörungen . . . . . . . . . . . . . . . 177 Psychologische Aspekte von Kopfund Bauchschmerz . . . . . . . . . . . . . . . . 178 Schmerzdiagnostik bei Kindern und Jugendlichen . . . . . . . . . . . . . . . . . 179 Therapeutische Interventionen bei akuten Schmerzzuständen . . . . . . 181 Die Behandlung von wiederkehrenden Schmerzen und Dauerschmerz . . . . . 186

X

Inhaltsverzeichnis

9.12 9.13

Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 189 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . 190 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 191

12

10

Schmerz und Alter . . . . . . . . . . . . . . . . . 195

12.1 12.2 12.3

H.-D. Basler Das Ausmaß des Problems . . . . . . . . . Demographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Epidemiologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Risiken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Versorgung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Schmerzerleben im Alter . . . . . . . . . . . Befunde aus dem Labor . . . . . . . . . . . . Befunde aus Schmerzkliniken . . . . . . . Schmerzdiagnostik im Alter . . . . . . . . Schmerzintensität und Lokalisation . . Schmerzanamnese . . . . . . . . . . . . . . . . . Therapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Pharmakologische Therapie . . . . . . . . Physiotherapie, Trainingstherapie, physikalische Therapie . . . . . . . . . . . . . 10.4.3 Psychologische Therapie . . . . . . . . . . . 10.5 Pflege . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10.6 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10.1 10.1.1 10.1.2 10.1.3 10.1.4 10.2 10.2.1 10.2.2 10.3 10.3.1 10.3.2 10.4 10.4.1 10.4.2

11

195 195 195 196 197 197 197 198 199 200 201 201 201 202 293 204 205 206

Schmerz und Geschlecht . . . . . . . . . . . 207

C. Zimmer 11.1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11.2 Geschlechtsbezogene Unterschiede in der Epidemiologie von Schmerzsymptomen und klinischen Schmerzsyndromen . 11.3 Geschlechtsbezogene Unterschiede bei experimentell induziertem Schmerz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11.4 Zusammenhang zwischen experimentellen und klinischen Befunden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11.5 Geschlechtsbezogene Unterschiede in der Schmerzsensitivität – Einflussfaktoren und Mechanismen . 11.5.1 Biologische Unterschiede . . . . . . . . . . . 11.5.2 Psychologische Faktoren . . . . . . . . . . . 11.5.3 Soziokulturelle Faktoren . . . . . . . . . . . 11.6 Praktische und klinische Implikationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11.7 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

207

12.4 12.5

12.6 12.7

12.8

13

13.1 13.2 13.3

13.4 208 13.4.1 210 13.4.2 13.4.3 210

211 212 214 215 217 217 218

13.4.4 13.4.5 13.5 13.6

13.6.1 13.6.2 13.6.3 13.6.4

Rolle der Familie und sozialer Unterstützung bei chronischen Schmerzen . . . . . . . . 221

T. Fydrich, H. Bastian, H. Flor Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 221 Befunde aus der Forschung . . . . . . . . . 221 Theoretische Ansätze zur Bedeutsamkeit der Familie für den chronischen Schmerz . . . . . . . 222 Rolle der Familie in der Ätiologie chronischer Schmerzsyndrome . . . . . 223 Bedeutung der Familie und sozialer Unterstützung für die Chronifizierung und den Verlauf der Schmerzerkrankung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 223 Einfluss chronischer Schmerzerkrankungen auf die Familie . . . . . . 226 Rolle der Familie bei Diagnostik und Therapie chronischer Schmerzsyndrome . . . . . . . . . . . . . . . . 226 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . 228 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 228 Schmerz bei Migranten aus der Türkei . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 231

B. Glier, Y. Erim Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Leitsymptom „Schmerz“ . . . . . . . . . . . Probleme im herkömmlichen medizinisch-therapeutischen Versorgungssystem . . . . . . . . . . . . . . . Medizinische, psychologische und soziale Besonderheiten türkischer Schmerzpatienten . . . . . . . Symptom- und Krankheitspräsentation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wissensdefizite . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Subjektive Krankheitsund Körperkonzepte . . . . . . . . . . . . . . . Kollektives Selbstbild . . . . . . . . . . . . . . Religiöses Weltbild . . . . . . . . . . . . . . . . . Kulturspezifische Dynamik der Schmerzsymptomatik . . . . . . . . . . Konsequenzen für adäquate Behandlungsstrukturen und Therapieangebote . . . . . . . . . . . . . . . . . Therapeutische Qualifikation . . . . . . . Therapeutische Haltung . . . . . . . . . . . . Psychoedukation . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kompetenzförderung . . . . . . . . . . . . . .

231 231

233

235 235 235 235 236 236 237

239 239 239 240 240

XI Inhaltsverzeichnis

13.6.5 Bearbeitung schmerzassoziierter Problembereiche . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13.6.6 Schmerz im interaktionellen Kontext 13.6.7 Sozialmedizinische Begutachtung . . . 13.7 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

241 241 242 242 243

III Diagnostik 14

14.1 14.2 14.3 14.4 14.5 14.5.1 14.5.2 14.5.3 14.5.4 14.5.5 14.5.6 14.5.7 14.5.8 14.5.9 14.5.10 14.6 14.6.1 14.6.2 14.6.3 14.6.4 14.7

Schmerzanamnese . . . . . . . . . . . . . . . . 247

P. Nilges, E. Wichmann-Dorn Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Formen der Kontaktaufnahme . . . . . . Vorbereitung der Anamnese . . . . . . . . Erster Kontakt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Exploration . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Themenschwerpunkte, Explorationshilfen und Fragebögen . . Erläuterung der einzelnen Anamnesethemen . . . . . . . . . . . . . . . . . Aktuelle Beschwerden . . . . . . . . . . . . . . Entwicklung der Chronifizierung . . . . Einflussfaktoren und -bedingungen . . Sonstige Beschwerden . . . . . . . . . . . . . . Familienanamnese . . . . . . . . . . . . . . . . Persönliche Entwicklung und aktuelle Lebenssituation . . . . . . . . Persönlichkeit, Bewältigungsstrategien . . . . . . . . . . . . . Krankheitskonzepte . . . . . . . . . . . . . . . Auswertung der Anamnesedaten . . . . Integration von Informationen aus unterschiedlichen Quellen . . . . . . Bericht für den Arzt . . . . . . . . . . . . . . . Diagnostische Schlussfolgerung . . . . . Implikationen für die Weiterbehandlung . . . . . . . . . . . . . . . . . Motivationsblockaden und Motivierungsstrategien . . . . . . . . Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

247 250 251 251 254 255 255 255 259 260 261 264 265 265 266 267 267 267 268

15.2.4 EEG, evozierte Hirnpotenziale und bildgebende Verfahren . . . . . . . . . 15.3 Messung klinischer Schmerzen . . . . . 15.3.1 Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15.3.2 Messung des Schmerzerlebens . . . . . . 15.3.3 Messung des Schmerzortes . . . . . . . . . 15.3.4 Messung von schmerzbezogenen Kognitionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15.3.5 Messung von Schmerzbewältigung (Coping) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15.3.6 Messung von schmerzassoziierter Behinderung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15.3.7 Messung von schmerzbezogenen Störungen der Interaktion . . . . . . . . . . 15.3.8 Messung von Schmerzverhalten . . . . . 15.3.9 Messung von schmerzassoziierten psychischen Problemen . . . . . . . . . . . . 15.3.10 Schmerzfragebogen-Batterie . . . . . . . . 15.3.11 Schmerztagebücher . . . . . . . . . . . . . . . . 15.3.12 Schmerzmessverfahren für ältere Menschen mit und ohne kognitive Beeinträchtigung . . . . . . . . . 15.3.13 Schmerzmessverfahren für Kinder . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16

16.1 16.2 16.3 16.4 16.5 16.6 16.7 16.8

268 16.9 269 272 272

16.10

15

Schmerzmessung . . . . . . . . . . . . . . . . . 275

16.11

15.1 15.2 15.2.1 15.2.2 15.2.3

S. Lautenbacher Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Prüfung der Schmerzsensibilität . . . . Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Schmerzinduktionstechniken . . . . . . . Psychophysikalische Messgrößen . . . .

14.8

275 276 276 277 278

16.12

280 281 281 282 283 284 284 285 286 287 287 287 288

289 290 290

Klinische Schmerzdiagnostik . . . . . . . 293

B. Kröner-Herwig Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Methodische Aspekte biomedizinischer Schmerzdiagnostik Die psychosoziale Schmerzdiagnostik . . . . . . . . . . . . . . . . Schmerzerleben . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kognitiv-emotionale Prozesse . . . . . . Behaviorale Aspekte des chronischen Schmerzsyndroms . Subjektive Beeinträchtigung . . . . . . . . Soziale Aspekte des Schmerzgeschehens . . . . . . . . . . . . Rolle des problemanalytischen Interviews . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Instrumente der allgemeinen Psychodiagnostik und Effektivitätsforschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Offene Fragen der psychosozialen Schmerzdiagnostik . . . . . . . . . . . . . . . . Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

293 293 295 295 300 302 303 304 304

305 306 307 308

XII

Inhaltsverzeichnis

17

Klassifikation chronischer Schmerzen: „Multiaxiale Schmerzklassifikation“ (MASK) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 311

R. Klinger Einführung: Diagnostik und Klassifikation chronischer Schmerzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 311 17.2 Beschreibung und Bewertung von Ansätzen zur Klassifikation chronischer Schmerzen . . . . . . . . . . . . 312 17.2.1 Klassifikationsmöglichkeiten innerhalb des international gebräuchlichen Diagnoseschlüssels ICD (bzw. DSM) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 312 17.2.2 IASP-Taxonomie . . . . . . . . . . . . . . . . . . 316 17.2.3 Kopfschmerzklassifikation der IHS . . 317 17.2.4 Multiaxiale Schmerzklassifikation MASK der DGSS . . . . . . . . . . . . . . . . . . 318 17.3 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . 325 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 325

18.5 18.5.1 18.5.2

17.1

18

Begutachtung von Schmerzen . . . . . . 327

A. Pielsticker, R. Dohrenbusch 18.1 Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18.2 Grundlagen der Begutachtung . . . . . . 18.2.1 Rechtliche Stellung des Sachverständigen . . . . . . . . . . . . . . 18.2.2 Definition von Gutachten . . . . . . . . . . . 18.2.3 Anforderungen an Gutachten . . . . . . . 18.2.4 Fragestellungen und Auftraggeber . . . 18.2.5 Grad der Behinderung (GdB) oder der Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18.3 Psychologie der Begutachtungssituation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18.3.1 Begutachtungsprozess . . . . . . . . . . . . . 18.3.2 Begutachtung als Entscheidungsprozess . . . . . . . . . . . 18.3.3 Begutachtung als soziale Interaktion mit komplementären sozialen Rollen . 18.3.4 Begutachtung als soziale Interaktion mit charakteristischen Attributionsmustern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18.3.5 Begutachtung als soziale Interaktion mit antizipierten Konsequenzen . . . . . 18.4 Der Schmerzpatient in der sozialmedizinischen Begutachtung . . 18.4.1 Personenbezogene Merkmale . . . . . . . 18.4.2 Rentenwunsch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18.4.3 Interaktionsbezogene Merkmale . . . .

327 328 328 328 328 329

18.5.3 18.5.4 18.5.5 18.5.6 18.5.7 18.6

18.6.1 18.6.2 18.6.3 18.6.4 18.6.5 18.6.6 18.6.7 18.7 18.7.1 18.7.2 18.7.3

332 333

333 334 334 335 335 336

337 338 338 338 339 339 340 340

340 341 341 341 341 342 342 342 342 343 345 345 347

IV Krankheitsbilder

330 331 331

Planung, Aufbau und Formulierung des schriftlichen Gutachtens . . . . . . . . Formale Angaben . . . . . . . . . . . . . . . . . Anlass und Auftrag bzw. Fragestellung . . . . . . . . . . . . . . . . . Vorgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Untersuchungsbericht . . . . . . . . . . . . . . Psychologischer Befund . . . . . . . . . . . . Stellungnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literaturangaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . Auswahl und Zusammenstellung der Untersuchungsmethoden und -instrumente . . . . . . . . . . . . . . . . . Anamnese . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Testverfahren zur Schmerzdiagnostik Testverfahren zur Befindensdiagnostik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Testverfahren zur Glaubwürdigkeit . . Testverfahren zur Leistungsdiagnostik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Verhaltensbeobachtung . . . . . . . . . . . . Fremdanamnese . . . . . . . . . . . . . . . . . . Spezielle Probleme in der Beurteilung der Befunde . . . . . . . . . . . Verdeutlichungstendenz, Aggravation, Simulation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dissimulation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zumutbare Willensanspannung . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

19

Kopfschmerz vom Spannungstyp . . . 351

C. Bischoff, H. Zenz, H.C. Traue 19.1 Diagnose und Diagnoseprobleme . . . 19.1.1 Definition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19.1.2 Komorbiditätsdiagnostische Überlegungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19.2 Epidemiologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19.3 Physiologische und psychophysiologische Befunde . . . . . 19.4 Auslösende Faktoren . . . . . . . . . . . . . . 19.5 Verhaltensmedizinische Modelle . . . . 19.5.1 Lerntheoretisches Modell myogener Kopfschmerzen . . . . . . . . . . 19.5.2 Persönlichkeitsmerkmale und Verhaltens- und Erlebensstile als disponierende Faktoren . . . . . . . . . 19.5.3 Einheits- oder Kontinuummodell . . . .

351 351 351 355 355 358 359 359

361 362

XIII Inhaltsverzeichnis

19.6 19.6.1 19.6.2 19.6.3

19.7

20

20.1 20.2 20.3 20.4 20.5 20.5.1 20.5.2 20.5.3 20.5.4 20.5.5 20.5.6 20.6 20.6.1 20.6.2 20.6.3 20.6.4 20.6.5 20.7 20.7.1 20.7.2 20.7.3 20.7.4 20.7.5 20.7.6

21

21.1 21.2 21.3 21.4 21.5 21.6

Therapeutische Ansätze . . . . . . . . . . . . Somatologische Verfahren . . . . . . . . . . Psychotherapeutische Ansätze . . . . . . Kombination und differenzielle Effektivität von somatologischen und psychotherapeutischen Verfahren . . . Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

362 362 363

21.7 21.8 21.8.1 21.8.2

367 367 368

21.9 21.10 21.11

Prädiktoren für einen Abususrückfall Psychologische Behandlung . . . . . . . . Stufe 1: Coaching . . . . . . . . . . . . . . . . . . Stufe 2: Psychotherapeutische Maßnahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Psychotherapie bei Komorbiditäten . Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . Kritische Bemerkungen . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

395 396 397 398 401 401 402 403

Migräne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 371

G. Fritsche Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 371 Klinisches Bild . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 372 Klassifikation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 373 Epidemiologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 374 Pathophysiologie . . . . . . . . . . . . . . . . . 374 Genetik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 375 Schmerzentstehung . . . . . . . . . . . . . . . . 375 Modell des Migränegenerators . . . . . . 376 Modell der „Cortical Spreading Depression“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 376 Modell der kortikalen Hyperaktivität 376 Zusammenfassung der pathologischen Mechanismen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 377 Psychologische Mechanismen . . . . . . 377 Modell der „Migränepersönlichkeit“ . 377 Diathese-Stress-Modell . . . . . . . . . . . . . 378 Modell der „Reizverarbeitungsstörung“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 379 Schmerzassoziierte Beeinträchtigung 380 Komorbidität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 380 Therapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 381 Medikamentöse Therapie . . . . . . . . . . . 381 Verhaltenstherapie . . . . . . . . . . . . . . . . . 383 Therapie der kindlichen Migräne . . . . 384 Alternative Behandlungsansätze . . . . . 385 Syndromspezifische psychologische Therapie . . . . . . . . . . . 385 Zusammenfassung der therapeutischen Optionen . . . . . . 388 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 388

22

Medikamenteninduzierter Kopfschmerz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 391

23

G. Fritsche Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Klinische Aspekte . . . . . . . . . . . . . . . . . Epidemiologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Pathophysiologie . . . . . . . . . . . . . . . . . Psychologische Mechanismen . . . . . . Medizinische Entzugsbehandlung . . .

23.1 391 392 392 392 393 394

22.1 22.2 22.3 22.3.1 22.3.2 22.3.3 22.3.4 22.3.5 22.4 22.4.1 22.4.2 22.4.3 22.4.4 22.5 22.5.1

22.5.2 22.5.3 22.5.4 22.6

Rückenschmerzen . . . . . . . . . . . . . . . . . 405

M. Pfingsten, J. Hildebrandt Epidemiologie und sozialmedizinische Bedeutung . . . . . . Krankheitsverlauf . . . . . . . . . . . . . . . . . Somatische Bedingungen . . . . . . . . . . . Unspezifität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Radikuläre Schmerzen . . . . . . . . . . . . . Nichtradikuläre Schmerzen . . . . . . . . . Postoperativ fortbestehende Beschwerden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Somatische Diagnostik . . . . . . . . . . . . . Psychosoziale Einflussfaktoren im Prozess der Chronifizierung . . . . . Arbeitsplatzbedingungen . . . . . . . . . . . Subjektiv erlebte Beeinträchtigung („disability“) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kognitive Überzeugungen („fear-avoidance beliefs“) . . . . . . . . . . . Iatrogene und sonstige Faktoren . . . . Therapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Inadäquate Versorgungssituation/ Defizite traditioneller Behandlungskonzepte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Multimodale Therapie chronifizierter Rückenschmerzen . . . . Effektivität der „Functionalrestoration“-Behandlung . . . . . . . . . . . Indirekte Techniken . . . . . . . . . . . . . . . Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

405 406 408 408 409 409 411 412 413 414 415 416 417 417

417 419 421 422 423 423

Bauchschmerzen und gynäkologische Schmerzen . . . . 427

Bauchschmerzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . W. Mönch, D. Breuker 23.1.1 Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23.1.2 Chronisch-entzündliche Darmerkrankungen . . . . . . . . . . . . . . . 23.1.3 Irritables Darmsyndrom (Reizdarm, Colon irritabile) . . . . . . . .

427 427 428 434

XIV

Inhaltsverzeichnis

23.1.4 Rezidivierende Bauchschmerzen bei Kindern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23.1.5 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . 23.2 Gynäkologische Schmerzen . . . . . . . . C. Schulze 23.2.1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23.2.2 Krankheitsbilder . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23.2.3 Demographische Faktoren . . . . . . . . . . 23.2.4 Zykluscharakteristika . . . . . . . . . . . . . . 23.2.5 Psychosoziale Faktoren . . . . . . . . . . . . . 23.2.6 Kognitive Leistungen . . . . . . . . . . . . . . 23.2.7 Psychophysiologie . . . . . . . . . . . . . . . . . 23.2.8 Psychotherapeutische Ansätze . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

436 438 439 439 439 441 442 443 433 446 446 447

25.5 25.6 25.7

25.8 25.9 25.10 25.11

26 24

Fibromyalgiesyndrom . . . . . . . . . . . . . 451

K. Blumenstiel, C. Bieber, W. Eich 24.1 Beschreibung des Krankheitsbildes . . 24.1.1 Terminologie, Klassifikation und Nosologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24.1.2 Klinische und Bevölkerungsepidemiologie . . . . . . . . 24.1.3 Klinisches Bild . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24.1.4 Beschwerden und Befunde . . . . . . . . . . 24.2 Diagnose . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24.3 Ätiologie und Pathogenese . . . . . . . . . 24.3.1 Zentralnervöse Modelle . . . . . . . . . . . . 24.3.2 Muskulatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24.3.3 Hormonelle Veränderungen . . . . . . . . 24.3.4 Genetische Faktoren . . . . . . . . . . . . . . . 24.4 Psychologische Untersuchungen . . . . 24.4.1 Prädisponierende Faktoren . . . . . . . . . 24.4.2 Chronifizierende Faktoren . . . . . . . . . . 24.4.3 Bedeutung für die Arzt-PatientKommunikation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24.5 Behandlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24.5.1 Krankengymnastische und physikalische Maßnahmen . . . . . 24.5.2 Medikamentöse Therapie . . . . . . . . . . . 24.5.3 Psychotherapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24.6 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25

25.1 25.2 25.3 25.4

451 451 452 452 453 454 455 456 456 456 456 457 457 458 458 459 459 459 460 462 462

Krebsschmerz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 463 D. Eggebrecht Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 463 Aufklärung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 464 Diagnostik und Therapie des Krebsschmerzes aus ärztlicher Sicht . . . . . . 465 Diagnostik des Krebsschmerzes aus psychologischer Sicht . . . . . . . . . . 467

Therapeutische Zielsetzung . . . . . . . . Besonderheiten psychologischonkologischer Schmerztherapie . . . . . Schmerz und seine seelischen Folgeerscheinungen – Was muss berücksichtigt werden? . . . . . . . . . . . . Was ist möglich an direkter Schmerzbeeinflussung? . . . . . . . . . . . . Bedeutung der Angehörigen in der Krankenbetreuung . . . . . . . . . . Palliativmedizinischer Ansatz . . . . . . Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

27.1 27.2

469

470 472 473 473 476 477

Das komplexe regionale Schmerzsyndrom (M. Sudeck, Kausalgie) . . . . . . . . . . . . . 479

J. Frettlöh, C. Maier 26.1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26.2 Klinisches Bild . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26.2.1 Somatosensorische Symptome und Schmerz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26.2.2 Autonome Symptome . . . . . . . . . . . . . . 26.2.3 Motorische Symptome . . . . . . . . . . . . . 26.2.4 Gelenk- und Knochenveränderungen 26.2.5 Trophische Störungen . . . . . . . . . . . . . . 26.2.6 Besonderheit des CRPS Typ II . . . . . . . 26.3 Differenzialdiagnosen . . . . . . . . . . . . . 26.4 Epidemiologie und auslösende Faktoren . . . . . . . . . . 26.5 Schweregrad, Verlauf und Prognose . 26.6 Pathophysiologie . . . . . . . . . . . . . . . . . 26.7 Psychische Symptome und Mechanismen . . . . . . . . . . . . . . . . 26.8 Multimodale Therapie . . . . . . . . . . . . . 26.8.1 Allgemeine Richtlinien und Ziele . . . . 26.8.2 Therapeutische Maßnahmen in Stufe I . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26.8.3 Therapeutische Maßnahmen in Stufe II . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26.8.4 Therapeutische Maßnahmen in Stufe III . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26.8.5 Relevanz psychischer Komorbiditäten 26.9 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27

468

479 479 481 482 482 482 482 483 483 483 485 485 486 490 490 492 495 496 498 499 500

Ausgewählte chronische Schmerzsyndrome . . . . . . . . . . . . . . . . . 503

J. Hildebrandt Polyneuropathien . . . . . . . . . . . . . . . . . 503 Schmerzen bei Herpes zoster . . . . . . . 504

XV Inhaltsverzeichnis

27.3 27.4 27.5 27.6 27.7 27.8

Schmerzhafte Engpasssyndrome . . . . Deafferenzierungsschmerz . . . . . . . . . Ischämieschmerz . . . . . . . . . . . . . . . . . Tumorschmerz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Schulter-Arm-Syndrom . . . . . . . . . . . . Zervikogener Kopfschmerz . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

504 505 506 507 507 508 509

V Behandlung 28

28.1 28.2 28.3 28.4 28.5

28.5.1 28.5.2 28.6 28.7 28.7.1 28.7.2 28.7.3 28.8 28.9

Behandlung chronischer Schmerzsyndrome: Plädoyer für einen multiprofessionellen Therapieansatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 513

B. Kröner-Herwig, J. Frettlöh Status quo in der Behandlung chronischer Schmerzen . . . . . . . . . . . . Das chronische Schmerzsyndrom und seine Erfassung . . . . . . . . . . . . . . . Indikationsfrage . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ziele und Methoden psychologischer Schmerzbehandlung . . . . . . . . . . . . . . Spektrum psychologischer Behandlungsformen in der Therapie chronischer Schmerzen . . . . . . . . . . . . Psychologische Interventionsformen . Settingbedingungen . . . . . . . . . . . . . . . Angebote multiprofessioneller Schmerztherapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . Effektivität multiprofessioneller und psychologischer Therapie . . . . . . Überblick über den derzeitigen Stand der Forschung . . . . . . . . . . . . . . . Katamnestische Befunde zum Therapieerfolg . . . . . . . . . . . . . . . . Prognose des Therapieerfolgs . . . . . . . Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

29.2.1 Schmerzpatienten und ihre „pain games“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29.2.2 Das „Koryphäenkillersyndrom“ . . . . . 29.2.3 Die Konstrukte von Sternbach und Beck und ihre Folgen . . . . . . . . . . 29.3 Determinanten des Interaktionsverhaltens von Arzt und chronischem Schmerzpatient . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29.3.1 Schulmedizinisches Krankheitsmodell und chronischer Schmerz . . . . . . . . . . . 29.3.2 Anamnesegespräch und seine Folgen für die Entwicklung der Arzt-PatientInteraktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29.3.3 Individuelle Krankheit und gesellschaftliche Norm . . . . . . . . . . . . . 29.4 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

513

30

514 517

30.1 30.2 30.3

519 30.4 524 524 525 528 529

30.5 30.6 30.6.1 30.6.2 30.7 30.8

529 532 533 534 535 536

30.9 30.10 30.11 30.12

31 29

29.1 29.2

Interaktionsverhalten des Patienten mit „chronisch unbehandelbarem Schmerz“ . . . . . . . 539

C. Franz, M. Bautz Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 539 Interaktionsverhalten des Patienten mit „chronisch unbehandelbarem Schmerzsyndrom“ . . . . . . . . . . . . . . . . 540

540 542 542

544 544

544 547 548 549

Entspannung und Imagination . . . . . . 551

H.P. Rehfisch, H.-D. Basler Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Auswirkungen der Entspannung . . . . Indikation von Entspannung und Imagination . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kontraindikationen von Entspannung und Imagination . . Begleiterscheinungen von Entspannung . . . . . . . . . . . . . . . . . Progressive Muskelrelaxation (PMR) Ruhesuggestionen . . . . . . . . . . . . . . . . . Schmerzspezifisches Vorgehen . . . . . . Autogenes Training . . . . . . . . . . . . . . . Vergleich der progressiven Muskelentspannung und des autogenen Trainings . . . . . . . . . . . Meditative Techniken . . . . . . . . . . . . . . Entspannung und Biofeedback . . . . . Imaginative Techniken . . . . . . . . . . . . Konkretes Vorgehen . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

551 552 553 553 554 554 556 556 557

559 560 561 561 563 563

Biofeedback . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 565

B. Kröner-Herwig Kurzer historischer Abriss: vom Experiment zur Therapie . . . . . . 31.2 Biofeedback: vom Tierexperiment zur Anwendung beim Menschen . . . . 31.3 Wirkmechanismen . . . . . . . . . . . . . . . . 31.3.1 Das physiologische Spezifitätsmodell 31.3.2 Das unspezifische physiologische Modell: Entspannungsinduktion . . . . 31.1

565 566 567 567 567

XVI

Inhaltsverzeichnis

31.3.3 31.3.4 31.3.5 31.4

Das kognitive Modell . . . . . . . . . . . . . . 567 Verbesserung der Interozeption . . . . . 568 Schlussfolgerungen . . . . . . . . . . . . . . . . 568 Einsatz von Biofeedback in der Schmerztherapie . . . . . . . . . . . . 568 31.4.1 Biofeedback als edukative Intervention . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 568 31.4.2 Biofeedback als Hauptintervention bzw. als Therapiemodul innerhalb der Schmerztherapiebehandlung . . . . 570 31.5 Schlussfolgerungen zum Einsatz von Biofeedback . . . . . . . . . . . . . . . . . . 573 31.6 Empfehlungen zum Einsatz von Feedbacktraining bei chronischen Schmerzsyndromen am Beispiel des elektromyographischen Biofeedback . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 574 31.7 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . 578 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 578 32

32.1 32.2 32.3 32.4 32.5 32.5.1 32.5.2 32.5.3 32.5.4 32.6 32.7 32.7.1 32.7.2 32.7.3 32.8

33

33.1

33.1.1

Hypnose . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 581

B. Peter Zur Geschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Definition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Indikation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kontraindikation und Nichtindikation . . . . . . . . . . . . . . . Techniken hypnotischer Schmerzkontrolle . . . . . . . . . . . . . . . . . Dissoziative Techniken . . . . . . . . . . . . . Assoziative Techniken . . . . . . . . . . . . . . Symbolische Techniken . . . . . . . . . . . . Psychodynamisches Vorgehen . . . . . . . Symptom- und problemorientiertes Vorgehen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Studien zur hypnotischen Schmerzkontrolle . . . . . . . . . . . . . . . . . Laborstudien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Mechanismen der hypnotischen Analgesie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Klinische Studien . . . . . . . . . . . . . . . . . . Metaanalyse zur Effektivität hypnotischer Schmerzkontrolle . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

581 582 584 584 584 585 587 589 591

33.1.2 Aufbau eines neuen kognitiven Modells . . . . . . . . . . . . . . . . 606 33.1.3 Aneignung von Bewältigungsfertigkeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 607 33.1.4 Anwendung und Transfer . . . . . . . . . . . 609 33.1.5 Aufrechterhaltung, Rückfallprävention . . . . . . . . . . . . . . . . 610 33.2 Darstellung der kognitiv-behavioralen Therapie an einem Fallbeispiel . . . . . 610 33.2.1 Diagnostische Phase . . . . . . . . . . . . . . . 610 33.2.2 Behandlungsplanung . . . . . . . . . . . . . . 611 33.2.3 Behandlungsverlauf . . . . . . . . . . . . . . . 611 33.2.4 Abschluss der Behandlung und Therapieerfolg . . . . . . . . . . . . . . . . 612 33.2.5 Katamnese . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 612 33.3 Wirksamkeit bei chronischen Schmerzsyndromen . . . . 612 33.4 Indikation und Kontraindikation . . . 613 33.5 Weiterentwicklungen, Modifikationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 614 33.6 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . 614 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 614 34

34.1 34.2 34.3 34.4 34.5

592

34.5.1

593 593

34.5.2

596 597

34.5.3 34.5.4

599 600

Kognitiv-behaviorale Therapie . . . . . . 603

35

H. Flor, C. Hermann Der kognitiv-behaviorale Ansatz in der Behandlung chronischen Schmerzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 603 Diagnostische Phase . . . . . . . . . . . . . . . 605

35.1

Psychodynamische Psychotherapie bei chronischem Schmerz . . . . . . . . . . 617

U.T. Egle, R. Nickel, S.O. Hoffmann Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 617 Interventionsverhalten . . . . . . . . . . . . 619 Therapeutischer Entwicklungsprozess . . . . . . . . . . . . . . 620 Wirksamkeit psychodynamischer Psychotherapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 620 Darstellung der psychodynamischen Psychotherapie an einem Fallbeispiel 622 Phase der Differenzierung zwischen körperlichem Schmerz und Affekten . 622 Phase der Akzeptanz erwünschter und Ablehnung unerwünschter Affekte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 623 Phase der Akzeptanz unerwünschter Affekte . . . . . . . . . . . . . 623 Entlastung der Abwehr und Bearbeiten von Widerstand und Übertragung . . . 623 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 624 Medikamentenmissbrauch, -abhängigkeit und -entzug . . . . . . . . . 625

B. Glier Diagnostische und klassifikatorische Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 625

XVII Inhaltsverzeichnis

35.1.1 Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35.1.2 Substanzabhängigkeit – Medikamentenabhängigkeit . . . . . . . . 35.1.3 Substanzmissbrauch – Medikamentenmissbrauch . . . . . . . . . . 35.2 Entstehungsbedingungen für Medikamentenmissbrauch und -abhängigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . 35.2.1 Multidimensionales Bedingungsgefüge . . . . . . . . . . . . . . . . . 35.2.2 Pharmakologische und pharmakopsychologische Bedingungen . . . . . . . 35.2.3 Individuelle Bedingungen . . . . . . . . . . 35.2.4 Umweltbedingungen . . . . . . . . . . . . . . . 35.2.5 Modelle für die Entwicklung von Medikamentenmissbrauch und -abhängigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . 35.3 Grundlagen der Behandlung . . . . . . . 35.3.1 Vorbemerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35.3.2 Eingangsdiagnostik . . . . . . . . . . . . . . . . 35.3.3 Indikationsstellung . . . . . . . . . . . . . . . . 35.3.4 Therapeutische Ziele und Interventionen bei Medikamentenmissbrauch und Niedrigdosisabhängigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35.4 Prävention . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

625

36

626 627

36.1 36.2

627

36.2.1 36.2.2 36.3

627 628 629 630

631 632 632 632 633

36.4 36.4.1 36.4.2 36.5 36.6 36.7 36.8

633 635 635

36.9 36.10

Praxis psychologischer Schmerztherapie – kritische Reflexion aus der Patientenperspektive . . . . . . . 637

U. Frede Persönliche Situation . . . . . . . . . . . . . . Rolle psychologischer Modelle in der Praxis der Schmerztherapie . . . Das operante Modell . . . . . . . . . . . . . . . Das kognitive Modell . . . . . . . . . . . . . . Überbetonung persönlicher Verantwortlichkeit: Auswirkungen auf den Schmerzpatienten . . . . . . . . . Trauer und Angst – dysfunktionale oder natürliche Reaktionen? . . . . . . . . Trauer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Angst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sinn und Unsinn von Schmerztagebüchern . . . . . . . . . . Verständigung über den Schmerz . . . Förderung von Autonomie als Ziel der Schmerztherapie . . . . . . . . . . . . . . Wert- bzw. Unwertperspektive als therapeutische Grundhaltung . . . . Ziel: Leben mit dem Schmerz . . . . . . . Schlussbemerkungen . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

637 638 638 639

640 642 642 643 645 646 648 649 651 652 652

Stichwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 655

XIX

Autorenverzeichnis Basler, H.-D., Prof. Dr. Dr. Abteilung Medizinische Psychologie, Phillips-Universität, Bunsenstr. 3, 35037 Marburg Bastian, H.-D., Dipl.-Psych. Zentrum für Psychologische Psychotherapie, Universität Heidelberg, Hauptstr. 47–51, 69117 Heidelberg Bautz, M., Dipl.-Psych. Hagenbreite 15, 37125 Rosdorf Berthele, A., Dr. Klinikum Rechts der Isar, Neurologische Klinik und Poliklinik, Möhlstr. 28, 81675 München Bieber, C., Dr. Medizinische Universitätsklinik, Abteilung Innere Medizin II, Bergheimer Str. 58, 69115 Heidelberg Bischoff, C., Prof. Dr. Psychosomatische Fachklinik, Kurbrunnenstr. 12, 67098 Bad Dürkheim Blumenstiel, K., Dr. Medizinische Universitätsklinik, Abteilung Innere Medizin II, Bergheimer Str. 58, 69115 Heidelberg Breuker, D., Dr. phil. Institut für Aus- und Fortbildung der Polizei NRW, Weseler Str. 264, 48151 Münster

Diezmann, A., Dr. rer. nat. DRG Schmerzzentrum, Auf der Steig 14–16, 55131 Mainz Dohrenbusch, R., PD Dr. Institut für Psychologie, Römerstr. 164, 53117 Bonn Eggebrecht, D.-B., Dipl.-Psych. Palliativzentrum Göttingen, Universitätsmedizin Göttingen, Robert-Koch-Str. 40, 3 7075 Göttingen Egle, U. T., Prof. Dr. Klinik Kinzigtal, Wolfsweg 12, 77723 Gengenbach Eich, W., Prof. Dr. Medizinische Universitätsklinik, Abteilung Innere Medizin II, Bergheimer Str. 58, 69115 Heidelberg Erim, Y., Dr. (TR) Klinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, Virchowstr. 174, 45147 Essen Flor, H., Prof. Dr. Institut für Neuropsychologie u. klinische Psychologie, Zentralinstitut für Seelische Gesundheit, J 5, 68159 Mannheim Franz, C., Dipl.-Psych. Psychotherapeutische Praxis, Hospitalstr. 24, 37073 Göttingen Frede, U., Dipl.-Psych. Hofgasse 2a, 78337 Öhningen

Frettlöh, J., Dr. Dipl.-Psych. Berufsgenossenschaftliches Universitätsklinikum Bergmannsheil GmbH, Schmerzambulanz, Bürkle-de-la-Camp-Platz 1, 44789 Bochum Fritsche, G., Dr. Dipl.-Psych. Neurologische Klinik und Poliklinik, Uniklinikum Essen, Hufelandstr. 55, 45122 Essen Fydrich, T., Prof. Dr. Zentrum für Psychologische Psychotherapie, Universität Heidelberg, Hauptstr. 47–51, 69117 Heidelberg Glier, B., Dr. Dipl.-Psych. Internistischpsychosomatische Fachklinik Hochsauerland, Zu den drei Buchen 2, 57392 Schmallenberg Hasenbring, M., Prof. Dr. Ruhr-Universität Bochum, Medizinische Fakultät, Abt. für Mediz. Psychologie, Gebäude MA 0/145, 44780 Bochum Hermann, C., PD Dr. Institut für Neuropsychologie u. klinische Psychologie, Zentralinstitut für Seelische Gesundheit, J 5, 68159 Mannheim Hildebrandt, J., Prof. Dr. Nikolausberger Weg 126, 37075 Göttingen

XX

Autorenverzeichnis

Hoffmann, S.O., Prof. Dr. Emerit. Direktor der Klinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie an der Universität Mainz Sierichstr. 175, 22299 Hamburg Hüppe, M., Prof. Dr. Universität zu Lübeck, Klinik für Anästhesiologie, Ratzeburger Allee 160, 23538 Lübeck Klinger, R., Dr. Dipl.-Psych. Universität Hamburg, Psychologisches Institut, Von-Melle-Park 5, 20146 Hamburg Kröner-Herwig, B., Prof. Dr. Georg-August-Universität Göttingen, Abteilung Klinische Psychologie und Psychotherapie, Goßlerstr. 14, 37073 Göttingen Lautenbacher, S., Prof. Dr. Abteilung Physiologische Psychologie, Universität Bamberg, Markusplatz 3, 96045 Bamberg Maier, C., Prof. Dr. Abteilung für Schmerztherapie, Berufsgenossenschaftliches Universitätsklinikum Bergmannsheil GmbH, Bürkle-de-la-Camp-Platz 1, 44789 Bochum Mönch, W., Dr. Pappelallee 52, 53879 Euskirchen Müller-Busch, H. C., Prof. Abteilung für Anästhesiologie, Palliativmedizin u. Schmerztherapie, Gemeinschaftskrankenhaus Havelhöhe, Kladower Damm 221, 14089 Berlin

Nickel, R., Dr. Klinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, Rheingauer Str. 35, 65388 Schlangenbad Nilges, Dr. Dipl.-Psych. Leitender Psychologe DRK Schmerz-Zentrum Mainz Auf der Steig 16, 55131 Mainz Peter, B., Dr. Dipl.-Psych. Otto-Heilmann-Str. 27a, 82031 Grünwald Pfingsten, M., Prof. Dr. Georg-August-Universität Göttingen, Ambulanz für Schmerzbehandlung, Zentrum für Anästhesiologie, Rettungs- u. Intensivmedizin, Robert-Koch-Str. 40, 37075 Göttingen Pielsticker, A., Dr. Dipl.-Psych. Tal 15, 80331 München Pothmann, R., Dr. Zentrum Kinderschmerztherapie, Klinikum Heidberg, Haus 10, Tangstedter Landstr. 400, 22417 Hamburg Rehfisch, H.-P., Dipl.-Psych. Psychologische Praxis, Lindengasse 8, 35390 Gießen Schedlowski, M., Prof. Dr. Eidgenössische Technische Hochschule Zürich, Institut für Verhaltenswissenschaften, Universitätsstr. 6, 8092 Zürich, Schweiz

Schulze, C., Dr. Dipl.-Psych. Wilhelm-Roser-Str. 24, 35037 Marburg Tewes, U., Prof. Dr. Glisser Weg 1, 31618 Liebenau Tölle, T. R., Prof. Dr. Dr. Klinik für Neurologie, Technische Universität München, Möhlstr. 28, 81675 München Traue, H., Prof. Dr. Sektion für Medizinische Psychologie, Universitätsklinikum für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, Am Hochsträß 8, 89081 Ulm Wichmann-Dorn, E., Dipl.-Psych. Ginsterweg 3, 38179 Schwülper-Walle Zenz, M., Prof. Dr. BG Kliniken Bergmannsheil, Klinik für Anästhesiologie, Intensiv- und Schmerztherapie, Bürkle-de-la-Camp-Platz 1, 44789 Bochum Zimmer-Albert, C., Dr. Dipl.-Psych. Psychologisches Institut der Universität Freiburg, Klinische und Entwicklungspsychologie, Engelberger Str. 41, 79085 Freiburg Zimmermann, M., Prof. Dr. Neuroscience & Pain Research Institute, SRH, Bonhoefferstr. 17, 69123 Heidelberg

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I Teil I Grundlagen

Fort- und Weiterbildung „Spezielle Schmerzpsychotherapie” . .

3

Kapitel 1 Schmerz – eine Gegenstandsbeschreibung . . . . . . . . . . . . .

7

Kapitel 2 Physiologie von Nozizeption und Schmerz . . . . . . . . . . . .

21

Kapitel 3 Neuroendokrinologie und Neuroimmunologie . . . . . . . . . .

63

Kapitel 4 Biologische Mechanismen der Chronifizierung – Konsequenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

81

Kapitel 5 Psychologische Mechanismen der Chronifizierung – Konsequenzen für die Prävention . . . . . . . . . . . . . . . .

103

Kapitel 6 Psychodynamische Konzepte bei somatoformen Schmerzzuständen . . . . . . . . . . . . . . 123

Kapitel 7 Die Schmerzpersönlichkeit – eine Fiktion? . . . . . . . . . . . . 141

Kapitel 8 Kulturgeschichtliche Bedeutung des Schmerzes . . . . . . . . . 151

3

Fort- und Weiterbildung „Spezielle Schmerzpsychotherapie“ M. Hüppe und G. Fritsche

Evidenz der Schmerzpsychotherapie 17 % der deutschen erwachsenen Bevölkerung haben nach einer neueren europaweiten Studie chronische Schmerzen, d. h. Schmerzen, die seit mindestens 6 Monaten bestehen, die mehrmals in der Woche auftreten und die eine Schmerzintensität von mindestens 5 auf einer 10-stufigen Skala haben. Personen, auf die dies zutrifft, haben die Schmerzen seit durchschnittlich 6,9 Jahren (Breivik et al., 2006). Es ist ein Merkmal chronischer Schmerzen, dass eine ausschließliche Charakterisierung durch das Schmerzerleben (Lokalisation, Intensität, Qualität, Variabilität) unzureichend ist. Diese Erkrankung wird im Verlauf der Chronifizierung insbesondere im Verhalten, in Stimmungen und Gefühlen, in Gedanken, Erwartungen und Überzeugungen sichtbar. Die Beeinträchtigung der Lebensqualität der Patienten ist dabei wesentlich bestimmt durch kognitive, emotionale und behaviorale Faktoren und damit durch psychische Funktionen. Kröner-Herwig führt diese bei der Gegenstandsbestimmung chronischer Schmerzen in  Kap. 1 aus. Infolge chronischer Schmerzen verändert sich oft auch die soziale und wirtschaftliche Situation des Patienten. Auch unter gesamtwirtschaftlichen Aspekten sind die Folgen chronischer Schmerzen enorm. So entstehen alleine durch Rückenschmerzen jährlich hohe direkte (Behandlungskosten) und indirekte (eingeschränkte Arbeits-, Berufs- und Erwerbsfähigkeit) Kosten im zweistelligen Milliardenbereich (1998: 25 Mrd. Euro, vgl. Schwartz et al., 1999). Der Bedarf nach wirksamer Behandlung chronischer Schmerzen ist damit offensichtlich. Die effektivsten Ansätze zur Behandlung chronischer Schmerzen sind interdisziplinäre Ansätze, die unter dem Verständnis eines bio-psycho-sozialen Schmerzmodells realisiert werden. Im optimalen Fall kooperieren dabei Ärzte (mit Weiterbil-

dung „Spezielle Schmerztherapie“), Psychologische Psychotherapeuten (mit Weiter- bzw. Fortbildung „Spezielle Schmerzpsychotherapie“) und Physiotherapeuten. Weitere Berufsgruppen (z. B. soziale Beratungsdienste) sind fallbezogen einzubeziehen. Interdisziplinäre Ansätze unter Beteiligung von Psychologen sind deutlich effektiver als unimodale medizinische Ansätze (Flor, Fydrich u. Turk, 1992; Basler u. Kröner-Herwig, 1998, s. auch den Beitrag von Kröner-Herwig u. Frettlöh in diesem Buch). Kognitiv-verhaltenstherapeutische Interventionsmaßnahmen sind dabei als wirksame psychotherapeutische Behandlungsansätze gut belegt (Morley, Eccleston u. Williams, 1999), Kröner-Herwig u. Hoefert (1999) erachten sie als unabdingbaren Bestandteil in der interdisziplinären Behandlung von Schmerzerkrankungen mit hohem Chronifizierungsgrad (s. dazu auch  Kap. 33 von Flor u. Herrmann).

Gesundheitspolitische Aspekte Dem Wissen über die Notwendigkeit und von der Effektivität psychologischer Behandlungen chronischer Schmerzen stehen aktuell erhebliche Defizite in der Versorgung gegenüber, die vor Kurzem von Pfingsten u. Nilges (2007) dargestellt wurden. So ergab eine Befragung von Willweber-Strumpf, Zenz u. Bartz (2000) in verschiedenen Facharztpraxen, dass 36 % aller Patienten an chronischen Schmerzen litten, dass davon aber nur 2,1 % eine psychotherapeutische Behandlung erhalten hatten. Die Defizite in der schmerzpsychotherapeutischen Versorgung von Patienten lassen sich nicht einfach mit mangelnder Kooperationsbereitschaft der Ärzte und Ärztinnen begründen. Oft suchen diese nach Möglichkeiten, ihre Schmerzpatienten psychotherapeutisch (mit)behandeln zu lassen, sie scheitern aber an der Verfügbarkeit geeigneter

4

Teil I · Grundlagen

und kooperationswilliger Psychotherapeuten. Pfingsten u. Nilges (2007) berichten von einer Befragung aller (ärztlichen und psychologischen) Psychotherapeuten des KV-Bereiches Göttingen nach deren Bereitschaft bzw. Möglichkeit der Kooperation in Bezug auf Schmerzpatienten. Von denjenigen, die überhaupt antworteten (45 %) signalisierten 31 % Kooperationsbereitschaft, aber nur 7,5 % gaben Wartezeiten von weniger als 4 Wochen an. 37,5 % der kooperationswilligen Psychotherapeuten benannten Wartezeiten von mehr als 6 Monaten. Die Befragung fand 2002 statt; kein potenzieller Kooperationspartner verfügte über eine schmerzpsychotherapeutische Zusatzqualifikation.

Struktur und Inhalte der Fort- bzw. Weiterbildung „Spezielle Schmerzpsychotherapie“ Spezielle Kenntnisse zu psychologischen und somatischen Mechanismen der Chronifizierung von Schmerzen, zur Diagnostik psychologischer Faktoren der Entstehung, Aufrechterhaltung und Verstärkung von Schmerzen und schmerzbedingten Beeinträchtigungen sowie der z. T. syndromspezifischen Behandlungsmöglichkeiten sind für eine adäquate schmerzpsychotherapeutische Qualifikation notwendig. Diese Qualifikation wird weder im Studium noch in der Psychotherapieausbildung hinreichend vermittelt. Um die spezifischen Kenntnisse und Fertigkeiten für die Behandlung von Patienten mit dem Leitsymptom Schmerz zu vermitteln, existiert eine Fort- bzw. Weiterbildung „Spezielle Schmerzpsychotherapie“ (SSPT). Der Unterschied zwischen einer Fort- und Weiterbildung liegt im Status der Anerkennung durch die Landespsychotherapeutenkammern. Weiterbildungen sind in Weiterbildungsordnungen (WBO) der Psychotherapeutenkammern geregelt. Eine Weiterbildung beinhaltet eine deutliche Vertiefung und Spezialisierung des bereits erworbenen Fachwissens. Sie umfasst dabei einen wesentlichen Zuwachs an Kenntnissen und Fertigkeiten. Zur Weiterbildung gehören ein theoretischer und ein praktischer Teil. Demgegenüber beinhaltet eine Fortbildung lediglich eine „Aktualisierung“ des Wissens und der Kompetenz für eine Tätigkeit, die vorher bereits erlernt wurde, um die Qualität der beruflichen Tätigkeit aufrecht

zu erhalten. Fortbildungsordnungen verpflichten zur Bemühung, die Heilkunde nach dem aktuellen Stand der Forschung auszuführen. Die Fort- bzw. Weiterbildung „Spezielle Schmerzpsychotherapie“ richtet sich v. a. an approbierte Psychologische Psychotherapeuten, ist aber auch für Mediziner mit vergleichbarer Facharztweiterbildung möglich. Die 4 deutschen Schmerzgesellschaften Deutsche Gesellschaft für psychologische Schmerztherapie und -forschung (DGPSF), Deutsche Gesellschaft zum Studium des Schmerzes (DGSS), Deutsche Gesellschaft für Schmerztherapie (DGS) und Deutsche Migräne- und Kopfschmerzgesellschaft (DMKG) haben 2003 gemeinsame Richtlinien zur Fort- bzw. Weiterbildung „Spezielle Schmerzpsychotherapie“ formuliert. Die Weiterbildung soll psychotherapeutische Kompetenzen für wissenschaftlich fundierte psychologische Diagnostik und Therapie bei Patienten mit Schmerzen vermitteln und die Fähigkeit zur Kommunikation mit anderen Berufsgruppen fördern, die Patienten mit chronischen Schmerzen behandeln. Die Ausbildungsstruktur der Fort- bzw. Weiterbildung „Spezielle Schmerzpsychotherapie“ besteht im Wesentlichen aus 3 Bereichen.

Theoretische Ausbildung In einem 80 Unterrichtsstunden umfassenden Curriculum „Spezielle Schmerzpsychotherapie“ werden zum einen Kenntnisse über die biopsycho-sozialen Grundlagen des (chronischen) Schmerzes vermittelt. Dies schließt somatische und psychische Vorgänge der Nozizeption, der Schmerzinformationsverarbeitung, der Chronifizierungsmechanismen sowie der Pharmakotherapie ein (16 Unterrichtsstunden). Des Weiteren werden Kompetenzen in der schmerzpsychotherapeutischen Anamnese, Diagnostik und Therapie erworben. Letzteres umfasst insbesondere edukative, psychophysiologische, kognitive, verhaltensbezogene sowie emotions- und konfliktbezogene Interventionsansätze (40 Unterrichtsstunden). Schließlich werden vertiefende Kenntnisse zu den häufigsten chronischen Schmerzsyndromen (Rückenschmerzen, Kopfschmerzen, Gesichtsschmerzen, viszerale Schmerzen, Tumorschmerzen, neuropathische Schmerzen und muskulo-skelettale Schmerzen) und ihren Behand-

5 Fort- und Weiterbildung „Spezielle Schmerzpsychotherapie

lungsmethoden vermittelt (24 Unterrichtsstunden). Das Curriculum wird von der Akademie für Schmerzpsychotherapie der Deutschen Gesellschaft für Psychologische Schmerztherapie und forschung (DGPSF e.V.) in Bochum, Mainz und Norddeutschland angeboten. Weitere Ausbildungseinrichtungen befinden sich in Berlin, Bad Salzuflen und München. Die Ausbildung findet an 5 Wochenenden statt ( www.schmerzpsychotherapie.net). Es werden nur theoretische Ausbildungen anerkannt, die im Rahmen eines von der Prüfungskommission akkreditierten Curriculums erworben wurden. Frühere und aus einzelnen Ausbildungseinheiten zusammengestellte Theorieleistungen werden nicht anerkannt. Ein Wechsel zwischen den Ausbildungsinstituten wird im Ausnahmeverfahren von der Prüfungskommission geprüft.

Praktische Ausbildung Der 2. Bereich besteht aus der praktisch-klinischen Tätigkeit in der Versorgung von Schmerzpatienten. Diese Tätigkeit findet über eine Dauer von mindestens 6 Monaten in frei zu wählenden Einrichtungen statt, die in der Versorgung von Patienten mit chronischen Schmerzen eingebunden sind. Ein qualifizierter Schmerzpsychotherapeut soll in der Einrichtung tätig sein. Alternativ kann eine Kooperation über mindestens 2 Jahre mit einer solchen Einrichtung stattfinden. Des Weiteren gehört zu diesem Anforderungsbereich die regelmäßige Teilnahme an interdisziplinären Schmerzkonferenzen über einen Zeitraum von mindestens 2 Jahren mit einer Frequenz von durchschnittlich einmal pro Monat.

Dokumentation der Ausbildung Der 3. Bereich besteht in der Durchführung und Dokumentation der klinisch-psychologischen Anamnese, Diagnostik und Behandlung von Patienten mit chronischem Schmerz (10 Falldokumentationen mit 25 Stunden Supervision). Wenn die Leistungsnachweise in den 3 Bereichen erbracht sind, führt eine Abschlussprüfung,

die von der gemeinsamen Prüfungskommission der 4 Schmerzgesellschaften organisiert wird, zu einem Zertifikat, das die Zusatzqualifikation „Spezielle Schmerzpsychotherapie“ bescheinigt. Diese Qualifikation haben gegenwärtig in Deutschland 183 Psychotherapeuten (Stand: März 2007).

Berufspolitische Bedeutung Die Zusatzqualifikation „Spezielle Schmerzpsychotherapie“ ist seit 2005 von der Landespsychotherapeutenkammer Rheinland-Pfalz als ankündigungsfähiger Zusatztitel gemäß der Weiterbildungsordnung (in Abgrenzung zur Fortbildung) anerkannt. Für die anderen Bundesländer muss dieser Status erst erarbeitet werden. „Spezielle Schmerzpsychotherapie“ bescheinigt damit eine besondere Befähigung für die psychotherapeutische Behandlung von Patienten, die an (chronischen) Schmerzen leiden, ohne Kolleginnen und Kollegen einzuschränken, die ohne diesen Weiterbildungsnachweis Patienten mit Schmerzen behandeln. Es ist das erklärte Ziel der Psychotherapeutenkammern, durch Weiterbildungsordnungen keine Einschränkung der durch die Approbation erlangten Kompetenzen bzw. Tätigkeitsfelder zu schaffen. Dennoch wird es für Leistungsträger zunehmend interessant, Psychotherapeuten mit dem qualifizierenden Nachweis einer durch eine gemeinsame Prüfungskommission der vier großen deutschen Schmerzgesellschaften akkreditierten und durch Leistungsnachweise belegten Fort- bzw. Weiterbildung „Spezielle Schmerzpsychotherapie“ für besondere Zwecke zu gewinnen und zu vergüten. Im ambulanten Bereich wäre dies denkbar im Zusammenhang mit Strukturverträgen, mit Integrierten Versorgungsverträgen oder mit schmerztherapeutischen Modellprojekten einzelner Krankenkassen. Im stationären Bereich wäre die Integration der Speziellen Schmerzpsychotherapie in das Fallpauschalensystem zu diskutieren. Schließlich könnten Leistungsträger auch über Sonderverträge mit Schmerz-Tageskliniken die Qualität schmerzpsychotherapeutischer Behandlungen sicherstellen.

6

Teil I · Grundlagen

Literatur Basler H-D, Kröner-Herwig B (Hrsg.) (1998) Psychologische Therapie bei Kopf- und Rückenschmerzen. Quintessenz, München Breivik H, Collett B,Ventafridda V, Gallacher D (2006) Survey of chronic pain in Europe: prevalence, impact of daily life, and treatment. European Journal of Pain 10: 287–333 Flor H, Fydrich T, Turk DC (1992) Efficacy of multidisciplinary pain treatment centers: a meta-analytic review. Pain 49: 221–230 Kröner-Herwig B, Hoefert H-W (1999) Zum Stand der Schmerzbehandlung in Deutschland. In Hoefert H-W, Kröner-Herwig B (Hrsg.) Schmerzbehandlung. Psychologische und medikamentöse Interventionen (S. 7–21). Ernst Reinhard, München

Morley S, Eccleston C, Williams A (1999) Systematic review and meta-analysis of randomized controlled trials of cognitive behaviour therapy and behaviour therapy for chronic pain in adults, excluding headache. Pain 80: 1–13 Pfingsten M, Nilges P (2007) Patienten mit chronischen Schmerzen – Versorgungsdefizite auch bei Psychotherapie. Report Psychologie 32: 122–130 Schwartz FW, Bitzer EM, Döring H, Grobe TG, Krauth C, Schlaud M, Schmidt T, Zielke M (1999) Gesundheitsausgaben für chronische Krankheiten in Deutschland. Pabst Science Publishers, Lengerich Willweber-Strumpf A, Zenz M, Bartz D (2000) Epidemiologie chronischer Schmerzen. Der Schmerz 14: 84–91

7

1

Schmerz – eine Gegenstandsbeschreibung B. Kröner-Herwig

Zunächst werden die Schmerzdefinition der Internationalen Gesellschaft zum Studium des Schmerzes vorgestellt und ihre Mängel dargelegt. Die Charakteristika des akuten und chronischen Schmerzes wer-

den in Abgrenzung voneinander ausführlich beschrieben, da sie für das Verständnis und den Umgang mit chronischem Schmerz besonders bedeutsam sind. Das biopsychosoziale Modell des chronischen Schmerzes wird vorgestellt, wobei neben

biologischen Faktoren die besondere Rolle psychosozialer Prozesse hervorgehoben wird. Die Entwicklung von Behandlungskonzepten für den chronischen Schmerz auf der Grundlage des biopsychosozialen Modells wird diskutiert. Befunde aus epidemiologischen Studien, die die große Bedeutung chronischen Schmerzes in unserem Gesundheitssystem belegen, werden

vorgestellt. Schließlich wird ein Blick auf die Qualität der schmerztherapeutischen Versorgung in Deutschland geworfen.

Erkenntnisstatus zum Schmerz, sieht man sich mit vielen ungelösten Fragen konfrontiert. So ist es letztlich bezeichnend, dass Melzack noch 1973 seinem Buch den Titel gab The Puzzle of Pain. Obwohl gerade Deutschland schon im 19. Jahrhundert einige Pioniere der Schmerzforschung, wie M. von Frey und A. Goldscheider, hervorgebracht hatte (Handwerker u. Brune 1987), zeigen erst die letzten 4 Jahrzehnte nach Veröffentlichung der bahnbrechenden Theorie von Melzack und Wall in den 1960er Jahren (deutsche Publikation der Gatecontrol-Theorie 1982) einen deutlichen Anstieg der Forschungsbemühungen. Neuere Entwicklungen der letzten 2 Jahrzehnte in Diagnostik und Therapie haben zum Teil bereits Eingang in die Versorgungspraxis gefunden. Unter den vielfältigen Versuchen, den Untersuchungsgegenstand „Schmerz“ zu definieren (Sternbach 1978), ragt das gemeinsame Bemühen einer Gruppe von Wissenschaftlern heraus, die im Auftrag der International Association for the Study of Pain (IASP) folgende Definition erstellten. > Schmerzdefinition der International Society for

1.1

Schmerz – eine Definition

Betrachtet man den Schmerz unter einem phylogenetischen Blickwinkel, so ist die Sensitivität für noxische Reize ein „uraltes“ und vielen, auch einfachsten Organismen gemeinsames Merkmal. Ontogenetisch betrachtet gehört Schmerz zu den frühesten, häufigsten und eindrücklichsten Erfahrungen eines jeden Individuums. Danach wäre zu erwarten, dass auch der wissenschaftliche Umgang mit Schmerz eine lange Tradition hat und die wesentlichsten Fragen beantwortet sind. Befasst man sich jedoch mit dem

the Study of Pain: „Pain is an unpleasant sensory and emotional experience with actual or potential tissue damage or described in terms of such damage.“

Danach ist Schmerz ein unangenehmes Sinnesund Gefühlserlebnis, das mit aktueller oder potenzieller Gewebeschädigung verknüpft ist oder mit Begriffen einer solchen Schädigung beschrieben wird. Diese Definition hat eine Reihe von Vorzügen. Zum einen hebt sie den emotionalen Aspekt als konstitutive Komponente des Schmerzgeschehens heraus und unterscheidet damit Schmerz von anderen sensorischen Wahrnehmungsprozessen, die nicht notwendigerweise eine affektive Reaktions-

8

Teil I · Grundlagen

komponente beinhalten. Schmerz ist damit mehr als reine Reizwahrnehmung. Es werden im Einklang mit Sternbach (1978) Subjektivität und Privatheit des Schmerzerlebens und der Schmerzerfahrung hervorgehoben. Eine

weitere Leistung dieser Definition ist – selbst wenn diese Aussage sehr verklausuliert ist – dass die einfache – wie wir heute wissen zu einfache – Kausalverknüpfung von Gewebeschädigung und Schmerzreaktion aufgegeben wird. > Schmerz ist Schmerz, auch wenn keine somati-

Besonders die Unterscheidung von akutem und chronischem Schmerz halten wir aus konzeptuellen Gründen für überaus wichtig, zum einen für das Verständnis der komplexen Bedingtheit des chronischen Schmerzes und zum anderen für die besonderen Notwendigkeiten seiner Behandlung. Es soll deshalb zunächst der Versuch der Differenzierung akuter und chronischer Schmerzen gemacht werden. Vorauszuschicken ist, dass die hier an einigen Stellen nahegelegte kategoriale Trennung der Schmerzformen eine Vereinfachung darstellt.

schen Auslösebedingungen identifizierbar sind.

Die Definition der Wissenschaftler der IASP ist damit offen für komplexe, multifaktorielle Modelle der Schmerzentstehung und -aufrechterhaltung, die neben somatischen auch Faktoren ande-

rer Art berücksichtigen. Nach der vorgelegten Definition wird der Schmerz von dem betroffenen Subjekt als körperliches Phänomen erfahren. Damit sind die rein „psychischen“ Schmerzen (z. B. „Trennungsschmerz“, „Heimweh“) aus dem Gegenstandsbereich der Schmerzforschung herausgenommen. Aber auch die Konzeptualisierung der IASP bleibt unbefriedigend. Sie hat 2 Defizite, die besonders hervorzuheben sind: 쎔 Sie unterscheidet nicht zwischen akutem und chronischem Schmerz. 쎔 Sie definiert Schmerz einseitig als Erleben. Eine weitere wichtige Komponente des Schmerzes, nämlich das Schmerzverhalten, wird dabei außer Acht gelassen (Fordyce 1976). Bestimmungsstücke und Mängel der Schmerzdefinition der IASP

쎔 Schmerz hat eine sensorische und emotionale Qualität

쎔 Schmerz ist ein körperlich wahrgenommenes Phänomen

쎔 Schmerz kann ohne Gewebeschädigung auftreten

쎔 Es fehlen 쎔 Hervorhebung der behavioralen Seite des Schmerzes

쎔 Differenzierung von akutem und chronischem Schmerz

1.2

Was unterscheidet chronischen Schmerz von akutem Schmerz?

Das Erleben akuten Schmerzes ist eine fast tägliche Erfahrung. Akut bedeutet, der Schmerz dauert Sekunden bis maximal Wochen und ist in der Regel an erkennbare Auslöser, wie z. B. aversive/schädigende äußere Reize oder endogene Prozesse (z. B. Gelenküberdehnung, Entzündung), gekoppelt. Das Aufhören des exogenen Reizes oder das Abklingen der endogenen Störung geht einher mit dem Abklingen des Schmerzes. Von chronischem Schmerz spricht man hingegen dann, wenn der Schmerz „persists past the normal time of healing“ (Bonica 1953). Diese etwas problematische Kennzeichnung (was ist „normal time“?) wird in der Praxis oft über zeitliche Kriterien determiniert. Die Task Force der IASP geht von der pragmatischen Zeitgrenze von 3 Monaten aus, andere setzen als Kriterium für chronischen Schmerz eine Dauer von 6 Monaten an. > Damit ist der akute Schmerz vom chronischen Schmerz zunächst einmal durch seine speziellen zeitlichen Charakteristika und Auslösungsbedingungen zu unterscheiden.

Es werden unter dem Begriff „chronisch“ ausdrücklich sowohl anhaltende wie wiederkehrende Schmerzen, etwa die anfallsartig auftretende Migräne oder Neuralgien, subsumiert, wenn sie über lange Zeiträume hinweg häufig auftreten. Ein neueres Konzept der Chronizität, das Mainzer Stufenmodell, unterscheidet verschiedene Stufen der Chronifizierung und nutzt auch qualitative Merkmale des Schmerzsyndroms zur Definition.

9 Kapitel 1 · Schmerz – eine Gegenstandsbeschreibung

> Beim chronischen Schmerz liegt eine enge Kopplung mit eindeutig bestimmbaren, schädigenden somatischen Faktoren häufig nicht vor.

Lassen sich schmerzbezogene Schädigungen identifizieren, so sind diese nicht behebbar (z. B. bei degenerativen Erkrankungen). In einigen Fällen sind organische Schädigungsfaktoren diagnostizierbar, deren Ausmaß und Schwere aber (aus der Sicht eines medizinischen Modells) in einer „nichtproportionalen“ Beziehung zur berichteten Schmerzintensität oder -lokalisierung stehen. Beim akuten Schmerz findet man analog zu

seiner Assoziation mit identifizierbaren auslösenden Bedingungen meist eine relativ gut umschreibbare Lokalisation des Schmerzes. Beim chronischen Schmerz dagegen sind oft verschiedene Areale des Körpers betroffen, einige Patienten berichten von Schmerzen im ganzen Körper. Weiterhin ist akuter Schmerz in der Regel begleitet von autonomen und hormonellen Aktivierungs- und Stressreaktionen.Auch reflexhafte motorische Reaktionen (Muskelspannungserhöhung) können auftreten. Insbesondere autonome Stressreaktionen sind bei chronischem Schmerz in der Regel nicht zu beobachten. Die bei einigen chronischen Syndromen (z. B. Spannungskopfschmerz, Rückenschmerz) zum Teil zu findende langfristig erhöhte Muskelspannung kann als Folge, aber auch als eine Entstehungsbedingung des Schmerzes betrachtet werden (Turk u. Flor 1984). > Grundsätzlich ist Schmerz eine subjektive Reaktion.

Bei der Einwirkung zeitlich begrenzter, diskreter Schmerzreize (beim z. B. durch elektrische oder thermische Reize induzierten akuten Laborschmerz) lässt sich aber auch ein sog. „objektiver“ Schmerzindikator messen, das elektroenzephalographisch erhebbare sog. sensorisch evozierte Schmerzpotenzial (SEP; Bromm 1985). SEPs sind Korrelate sensorischer Reizverarbeitung. Sie treten in einer regelhaften zeitlichen Kopplung mit dem auslösenden Reiz auf und variieren in ihrer Gestalt mit Charakteristika des Reizes. So wird etwa mit ansteigender Intensität des noxischen Reizes die späte Potenzialkomponente (zum Zeitpunkt 100 ms nach Reizbeginn) größer. Analgetika wirken sich dagegen dämpfend auf das SEP aus. Die Methode der Erfassung der SEP setzt dabei eine häufige, identische

1

Darbietung des noxischen Reizes voraus, wie es bei Laborreizen möglich ist. Aus den vorhergegangenen Ausführungen zum Charakter des chronischen Schmerzes ist evident, dass diskrete zentralnervöse Reaktionen, wie das SEP, bei chronischem Schmerz nicht erwartet werden können. Neuere Methoden des Neuroimaging – wie die funktionelle Magnetresonanztomographie (fMRI), die Magnetenzephalographie (MEG) oder die Positronenemissionstomographie (PET) – erlauben, bisher erst im beschränkten Ausmaß, die Darstellung klinischen Schmerzes, also bei dem durch „natürliche“ Ursachen ausgelösten Schmerz (Rainville et al. 2000). So konnten im MEG Veränderungen in der kortikalen Organisation bei Phantomschmerzpatienten nachgewiesen werden (Flor et al. 1995). Experimente mit induziertem Schmerz gaben wichtige Hinweise auf die neuronalen Netzwerke der Schmerzverarbeitung (Wiech et al. 2001, Tölle u. Berthele, Kap. 4 in diesem Band). > Da in der Routinediagnostik einsetzbare objektive und verlässliche Verfahren zur Schmerzerkennung nicht zur Verfügung stehen, sind wir in der Diagnostizierung und Messung des klinischen Schmerzes ausschließlich auf das erlebende Subjekt verwiesen, d. h. auf seine Aussagen und sein Verhalten.

Wesentliche Unterschiede zwischen akutem und chronischem Schmerz betreffen seine Bedeutung und Funktion für den Organismus. Der akute Schmerz hat eine unübersehbare Warn- und Schutzfunktion, da er das Signal für die Auslösung weitere Schädigung vermeidenden bzw. heilungsförderlichen Verhaltens darstellt. Die einfachsten schmerzbezogenen Verhaltensweisen, die wir schon bei Einzellern finden, sind die sog. Schutzund Vermeidungsreflexe, die ein Wegstreben von der Schmerzquelle beinhalten. Die beschriebenen autonomen und motorischen Aktivierungsreaktionen sollen den Organismus in die Lage versetzen, der Bedrohung zu entfliehen oder ggf. einen ihn verletzenden Gegner selbst anzugreifen. Akuter Schmerz setzt aber auch, natürlich insbesondere beim Menschen, komplexeres Verhalten in Gang, z. B. Ruhe und Schonung, Aufsuchen des Arztes, Medikamenteneinnahme.Auch die verbale oder behaviorale Schmerzexpression kann funktionale Bedeutung haben (Herbeiholen von

10

Teil I · Grundlagen

Unterstützung, Hilfe). Ob man die beschriebenen Verhaltensweisen als Komponenten oder Folge des Schmerzes beschreibt, hängt von der Betrachtungsweise ab und ist eine relativ willkürliche Setzung. > Festzuhalten ist, dass akuter Schmerz über die unmittelbar negative Valenz des Erlebens hinaus („unpleasant experience“) eine äußerst wichtige Funktion hat, nämlich den Erhalt bzw. die Wiederherstellung der körperlichen Unversehrtheit des Organismus zu gewährleisten.

Ganz besonders deutlich wird diese Funktion, wenn man die Geschichte eines der wenigen Menschen betrachtet, der von Geburt an schmerzunempfindlich war. : Fallstudie Angeborene Schmerzunempfindlichkeit Sternbach (1963) beschreibt den Fall einer jungen Frau, die während ihres ganzen Lebens intensiv untersucht und beobachtet worden war. Sie hatte in ihrer Kindheit und Jugend spektakuläre Unfälle erlitten: So hatte sie sich Brandverletzungen 3. Grades zugezogen, als sie sich auf einen heißen Heizkörper setzte, um aus dem Fenster zu schauen. Beim Essen hatte sie sich ein Stück Zunge abgebissen. Die dabei zugezogenen Verletzungen waren jedoch nicht ihr Verhängnis. Die junge Frau starb mit 29 Jahren an Infektionen und Entzündungen von Haut, Knochen und Gelenken, die sie sich aufgrund einer dauernden dysfunktionalen Belastung ihres Bewegungsapparates zugezogen hatte. Da sie absolut schmerzinsensitiv war, standen ihr keine Körpersignale zur funktionalen Steuerung ihrer Bewegungen zur Verfügung, was zu einer chronischen Fehl- und Überbelastung führte.

Die Leidensgeschichte (!) dieser schmerzunempfindlichen jungen Frau war also insgesamt weniger durch spektakuläre Unfälle als durch die zunächst einmal eher unauffälligen, aber letztlich letalen Folgen ihres Defizits bestimmt. Diese Warnfunktion verliert der chronische Schmerz völlig. Er ist in der Regel nicht mehr Hinweis auf eine Schädigung des Körpers, die durch geeignetes Verhalten behoben werden kann, noch gibt er Hinweise auf eine drohende Schädigung,

die durch geeignete Maßnahmen verhindert werden kann. > Somit wird der chronische Schmerzzustand vom Symptom zur Krankheit selbst, Schmerzlinderung wird zum eigentlichen Ziel der Behandlung (ggf. neben der Behandlung somatischer Korrelate, z. B. der Entzündung wie bei der rheumatischen Arthritis).

Weitere wesentliche Unterscheidungsaspekte zwischen akutem und chronischem Schmerz (Tabelle 1.1) ergeben sich aus Unterschieden in der kognitiv-emotionalen Bewertung des Schmerzgeschehens und daraus folgendem Verhalten. Hier

soll zunächst einmal der chronische Schmerzpatient selbst in seiner Auseinandersetzung mit dem Leiden betrachtet werden, wobei diese stark von der Ausrichtung unseres Gesundheitssystems mitbestimmt ist. Sowohl Patient als auch der Arzt haben im Fall des akuten Schmerzes in der Regel eine relativ klare Kausalattribution. Es wird davon ausgegangen, dass der Schmerz eine bestimmte identifizierbare Ursache hat. Es besteht Gewissheit, zumindest aber eine große Zuversicht hinsichtlich des vorübergehenden Charakters des Schmerzes. Auch die Kontrollattributionen sind in der Regel positiv. Die Behandlung der Schmerzursachen kann mit Aussicht auf Erfolg angegangen werden. Analgetika können in der Zwischenzeit bis zur Behebung der Grundstörung den Schmerz lindern. Damit ist die Bedrohlichkeit des Ereignisses reduziert. > Aus der Stressforschung ist bekannt, dass Vorhersehbarkeit und Kontrollierbarkeit die psychische Belastungsreaktion mildern. Das Ertragen auch intensiver Schmerzen wird somit erleichtert.

Die Art der Auseinandersetzung mit akutem Schmerz kann etwa nach Selye (1953) sinngemäß als Prozess der Widerstandsphase in der Auseinandersetzung mit einem Stressor charakterisiert werden. Die Auseinandersetzung mit chronischem Schmerz dagegen ist am ehesten als Prozess der Erschöpfungsphase beschreibbar. Er stellt sich in der kognitiven Verarbeitung und seinen Konsequenzen völlig anders dar als akuter Schmerz.

11 Kapitel 1 · Schmerz – eine Gegenstandsbeschreibung

1

Tabelle 1.1. Unterscheidungsmerkmale akuter und chronischer Schmerzen Akut

Chronisch

Dauer

Nur kurz andauernd

Lang andauernd bzw. wiederkehrend

Ursache

Bekannt und ggf. therapierbar (z. B. Verletzung, Entzündung)

Unbekannt und vielschichtig unspezifischer Rückenschmerz oder bekannt und nicht therapierbar (z. B. Wirbeldegeneration)

Funktion

Warnfunktion

Keine Warnfunktion

Intervention

Schonung, Behandlung der Schmerzursachen, analgetische Behandlung

Abbau schmerzunterstützender Faktoren, z. B. Auslöserkontrolle, Veränderung von katastrophisierender Verarbeitung, Abbau von Bewegungsangst

Behandlungsziele

Schmerzfreiheit

Linderung der Schmerzen, besserer Umgang mit dem Schmerz, Minderung der Beeinträchtigung

Psychologische Konsequenzen

Hoffnung auf Erfolg der Behandlung, Kontrollüberzeugung

Resignation, Hoffnungslosigkeit, Hilflosigkeit

Wie bereits beschrieben, ist häufig eine klare Kausalattribution nicht möglich, bzw. im Laufe der

Zeit werden Patient und Arzt hinsichtlich der möglichen Ursachen immer unsicherer. Die Überzeugung, den Schmerz in den „Griff“ zu bekommen, wird immer geringer, d. h. die Kontrollattribution ist schwach ausgeprägt. Der Patient wird durch eine Reihe erfolgloser Behandlungsversuche so frustriert, dass schließlich Resignation und Hoffnungslosigkeit Platz greifen und er an sich selbst zu verzweifeln beginnt. Dieser Prozess wird nur kurzfristig durch neue diagnostische Versuche und therapeutische „Heilversprechungen“ aufgebrochen, deren Misserfolg den Patienten dann noch weiter zurückwirft. Da sich die Behandlungsversuche zumeist am Akutmodell des Schmerzes orientieren, erhält der Patient auch keine alternativen Anregungen zum Umgang mit dem Schmerz. In einigen Fällen kombiniert sich die Ratlosigkeit des Patienten und seine Perspektivlosigkeit mit Feindseligkeit und Aggressionen gegenüber den als „unfähig“ eingeschätzten Ärzten und der gesunden Umgebung. > Auch die behandelnden Ärzte erleben Hilflosigkeit im Umgang mit dem Patienten. Auch ihr Bedürfnis nach Ursachenerklärung wird frustriert,

ihr Kompetenzgefühl durch immer wieder erfolglose Behandlungsversuche bedroht.

Die in unserem System auf Aktion verpflichteten Ärzte reagieren oft mit der Strategie des „Mehr desselben“ (z. B. Serien von Injektionen, wobei die erste schon keinen Erfolg zeigte) oder mit Überweisungen zu verschiedenen Fachärzten, die ebenso dem Modell des akuten Schmerzes anhängen. Diese suchen die Ursache des Schmerzes in ihrem Fachgebiet und beginnen mit den in ihrer Disziplin gängigen Therapien. Nach weiteren Misserfolgen ist die letzte Stufe dieser Entwicklung häufig das „Aufgeben“ des Patienten durch den Arzt. Als quasi letzte Instanz für den Schmerzpatient gilt die Psychiatrie. Von dieser Institution wird erwartet, dass sie den Patient als „Simulant“ entlarvt oder ihn zumindest als „hypochondrischen“ Übertreiber seines Leidens diagnostiziert, sofern nicht noch „Schlimmeres“, etwa psychopathologische Prozesse, als Grundlage des Schmerzes vermutet werden. > Diese ärztliche Reaktion hat natürlich wiederum Einfluss auf das Patientenverhalten. Fast immer wird die Vermutung, der Schmerz sei psychisch verursacht, als eine Bedrohung der eigenen Integrität wahrgenommen (DeGood 1983).

12

Teil I · Grundlagen

Der Patient besitzt, genau wie der Arzt, in der Regel ein monokausales medizinisches Konzept des Schmerzes, das auf seinen Erfahrungen mit akutem Schmerz beruht. Die Vermittlung an psychologische und insbesondere psychiatrische Institutionen begründet für ihn zumeist den Verdacht, man glaube, er sei „verrückt“, sein Schmerz sei eingebildet oder aus „naheliegenden“ Gründen (Rente!) vorgespielt. Darauf folgt oft genug ein verbissenes Bemühen des Patienten, durch Aufsuchen immer neuer Ärzte, sich doch noch durch das Entdecken der organischen Ursache zu rechtfertigen und es den Ärzten und allen anderen zu „beweisen“. Diese Entwicklung, die oft genug einer effektiven, d. h. multiprofessionellen Behandlung mit hoher Eigenaktivität des Patienten entgegensteht, beschreibt Sternbach (1974) im Rahmen der sog. „pain games“, die Patient und Arzt „spielen“.

1.3

Das biopsychosoziale Konzept des chronischen Schmerzes

Aus den bisherigen Ausführungen geht bereits hervor, dass der chronische Schmerz mehr beinhaltet als das Erleben von Schmerzen. Er ist als Syndrom zu verstehen, bei dem das Erleben des

Schmerzes in seiner Intensität (Schmerzstärke), seiner Qualität (sensorisch und affektiv) sowie seiner Lokalisierung und zeitlichen Charakteristika zwar ein Kernstück des Syndroms ausmachen, aber zur Charakterisierung bei Weitem nicht ausreichen. Die Beeinträchtigung des Patienten ist wesentlich bestimmt durch die kognitiv-emotionalen und behavioralen Komponenten des Syndroms. Gerade kognitive und emotionale Aspekte des Schmerzes – wie Kontrollverlust, Hoffnungslosigkeit,Verzweiflung und Depression – sind Korrelate und vermutlich auch Verstärker der Schmerzen (Abb. 1.1; Romano u. Turner 1985). Die Fokussierung auf den Schmerz, die damit verbundene Diagnostik und Behandlung, führen zu einer Einengung der Lebensperspektive, mit der häufig eine gravierende Veränderung des gesamten Lebensgefüges einhergeht. Viele der langjährigen Schmerzpatienten sind auf längere Zeit arbeitsunfähig (McArthur et al. 1987), was sie weiter dem normalen Leben entfremdet. Rentenanträge werden oft schon in jungem Alter gestellt. > Schonung (auf begrenzte Zeit) und Rückzug von bestimmten Aktivitäten können bei akutem Schmerz eine sinnvolle vorübergehende Strategie zur Wiederherstellung der FunktionsfähigAbb. 1.1. Schmerz als multidimensionales Syndrom

13 Kapitel 1 · Schmerz – eine Gegenstandsbeschreibung

keit sein. Wird diese Strategie jedoch auf längere Zeit beibehalten, führt sie auf Dauer gesehen mit großer Wahrscheinlichkeit in die Chronifizierung (Fordyce 1995). Das Akutmodell des Schmerzes propagiert aber gerade dieses Verhalten.

Die Familienbeziehung ist infolge der chronischen Schmerzbeschwerden eines Mitglieds häufig beeinträchtigt. Der Patient fordert auf „Kosten“ der Familie Rücksichtnahme und Schonung oder sie werden ihm aufgedrängt. Alltagsaktivitäten werden von anderen Familienmitgliedern übernommen, gemeinsame Aktivitäten sind beeinträchtigt. Die Sexualität zwischen Ehepartnern ist durch das Schmerzgeschehen oft erheblich gestört (Maruta et al. 1981). Die Zufriedenheit mit der Partnerschaft nimmt ab (Flor et al. 1987). Es kann zu einer komplementären Koalition kommen, wo die Schwäche des Partners zur Stärke des Anderen wird, in der der Schmerz einen hohen Stellenwert einnimmt. Gemeinsame Aktivitäten mit Freunden und Bekannten werden häufig reduziert, da der Betroffene der Meinung ist, dies belaste entweder ihn selbst über Gebühr und/oder belaste die anderen, so dass in jedem Fall Rückzug die Folge ist. > Das Schmerzmanagement selbst (Arztbesuche, Medikamenteneinnahme, Bestrahlungen, Bäder usw.) steht im Vordergrund des Lebensvollzugs und kann zum nahezu einzigen Lebensinhalt werden.

Die Einseitigkeit der Perspektive und gleichzeitige Ausgefülltheit des Lebens durch den Schmerz erleichtern das grüblerische, depressive Verharren in der aussichtslos geglaubten Situation. Bei einer Reihe von chronischen Schmerzpatienten entwickelt sich ein dysfunktionales Muster von einerseits Überaktivität und eigener Überforderung in schmerzärmeren oder -freien Perioden und andererseits absoluter Inaktivität in den (durch die Überlastung vermutlich verstärkt auftretenden) Schmerzphasen. Ein solches Muster wird besonders von der Überzeugung aufrechterhalten, dass man sich Phasen von Ruhe und Entspannung nur bei Schmerz „gönnen“ darf, Schmerz also die einzige Rechtfertigung für Erholungsphasen ist. Dies scheint besonders häufig bei Migränepatientinnen vorzuliegen.

1

Es ist deutlich geworden, dass chronischer Schmerz in vielen Fällen ein sog. „chronisches Krankheitsverhalten“ beinhaltet (Fordyce 1976; Beutel 1988), das durch psychosoziale Inaktivität und Rückzug, Ausrichtung auf Schonung sowie Fokussierung auf Behandlungsangebote des Gesundheitsversorgungssystems gekennzeichnet ist. > Dieses chronische Krankheitsverhalten verstärkt und verfestigt in der Regel die schmerzabhängige Depressivität, die wiederum mit einem negativen Selbstkonzept (Large 1985) einhergeht.

Der Patient sieht sich als Versager und Invalide, der seine sozialen Pflichten nicht mehr erfüllen kann, oder er sieht sich als Opfer des Schicksals, nur noch als „Leidenden“. Diese negativen Formen des Selbstkonzepts können so dominant und rigide werden, dass sie eine Veränderung der eigenen Rollenperspektive verhindern, wie Sternbach (1978) dies sehr nachdrücklich in seinem Buch Pain Patients beschreibt.

1.4

Allgemeine Überlegungen zur Ätiologie, Aufrechterhaltung und Nosologie

Es soll vorangestellt werden, dass das bereits im letzten Abschnitt skizzierte biopsychosoziale Modell des Schmerzes zwar insbesondere für den chronischen Schmerz Geltung hat, aber der akute Schmerz in vieler Hinsicht davon nicht ausgenommen ist. An dieser Stelle kann jedoch darauf nicht weiter eingegangen werden. Zur adäquaten Erfassung chronischer Schmerzsyndrome gehört die Analyse biologischer Faktoren wie psychosozialer Faktoren. Dies gilt für Diagnostik und Therapie ebenso wie für die Erklärung der Entstehung und Aufrechterhaltung. > Die Frage nach den psychosozialen Anteilen am chronischen Schmerzgeschehen sollte nicht, wie es häufig geschieht, auf die Frage der Genese eingeengt werden, wie dies in der Tradition der klassischen Psychosomatik häufig der Fall ist.

Der Frage nach der Genese (psychogener/somatogener Schmerz) liegt oft ein Krankheitsmodell zu-

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Teil I · Grundlagen

grunde, dem heute von vielen Forschern kein wissenschaftlicher oder auch nur heuristischer Wert mehr zuerkannt wird. Die Aufklärung der Ätiologiebedingungen wird nach der hier vertretenen Auffassung hinsichtlich ihrer Bedeutsamkeit und Nützlichkeit überbewertet. Dies gilt insbesondere für die psychologische Therapieplanung. Das Augenmerk sollte im Wesentlichen auf den Aufrechterhaltungsbedingungen des Schmerzgeschehens liegen, deren Analyse unmittelbar nützlich

für die Therapieplanung ist. Dies soll im Folgenden deutlich gemacht werden. Beim chronischen Schmerz steht am Beginn der Schmerzkarriere nicht selten ein definierbares Ereignis, z. B. eine Verletzung, ein Unfalltrauma, eine Entzündung, eine Operation o.Ä. Aus diesem akuten Beginn entwickelt sich ein chronisches Geschehen, wobei nach heutiger Auffassung neben psychosozialen Prozessen auch immer neurophysiologische Prozesse eine Rolle spielen, selbst wenn diese bislang einer medizinischen Diagnostik nicht zugänglich sind (Coderre et al. 1993). In jedem Fall überdauert der chronische Schmerz seinen „Anlass“. Die psychische Beteiligung bei der Entwicklung und Aufrechterhaltung des chronischen Schmerzsyndroms ist am plausibelsten im Rahmen eines Prozessmodells zu verstehen. Ist eine erste Schmerzempfindung (z. B. Rückenschmerz durch langes „verspanntes“ Sitzen, Tragen schwerer Lasten etc.) ausgelöst, wird diese unmittelbar durch die psychologischen Prozesse moduliert. So nimmt die Bewertung des Geschehens, etwa wie bedrohlich der Schmerz eingeschätzt wird oder als wie kontrollierbar er wahrgenommen wird, Einfluss auf das Erleben. Einstellungen und Überzeugungen, z. B. „Aktivitäten verschlimmern Schmerzen“, prägen weiter das Erleben und Verhalten im Zusammenhang mit dem Schmerz. Der emotionale Zustand, wie Angst oder depressive Stimmung, sind weitere Modulationsfaktoren (Lethem et al. 1983). Das Schmerzerleben wird in seiner Intensität und besonders in der affektiven Qualität (z. B. unerträglich, lästig) durch die genannten Prozesse beeinflusst. Zugleich wird das „Schmerzschicksal“ durch die mehr oder weniger erfolgreichen Bewältigungsbemühungen des Patienten mitbestimmt (Lethem et al. 1983). > Der Umgang mit dem Schmerz, das sog. Coping, beeinflusst in einem großen Ausmaß langfristig

das Befinden des Patienten (Kröner-Herwig et al. 1996), wobei einem passiven vermeidenden Bewältigungsstil eine negative Auswirkung zugeschrieben wird.

Fordyce (1976) hat zudem ganz besonders die verstärkende Funktion von Umweltkonsequenzen

betont und die operante Verstärkung von Schmerzverhalten (Klagen, Schonung, Medikamenteneinnahme) sowie die Löschung/Bestrafung von Gesundheitsverhalten hervorgehoben. Operante Faktoren können aber auch in der Vermeidung angst- oder konfliktbesetzter Situationen (z. B. am Arbeitsplatz), legitimiert durch den Schmerz, gesehen werden. > Angstmotiviertes Vermeidungsverhalten wird heute als bedeutsamer Faktor in der Chronifizierung betrachtet, sei es die Angst vor neuer Verletzung oder Schmerzverstärkung durch Aktivitäten.

Ob sich chronische Schmerzen im Sonderfall ohne jede somatische Beteiligung – zumindest zu Beginn des Geschehens – entwickeln können, erscheint fraglich. Allerdings ist sowohl die Bestätigung dieser Hypothese als auch ihre endgültige Verwerfung empirisch kaum möglich. Sternbach und Fordyce, zwei Protagonisten der psychologischen Schmerzforschung, stellen die Dichotomisierung in psychische und somatische Faktoren generell in Frage, da sie dies für eine

Scheinproblemlösung halten. Je nach Orientierung und Fokussierung kann man bestimmte Faktoren als psychisch oder somatisch bezeichnen. So korreliert z. B. erhöhte Muskelspannung mit subjektivem Stressempfinden und kann mit Kopfschmerzen einhergehen. Sind dann diese Kopfschmerzen nun physiologisch oder psychologisch bedingt? Wenn man grundsätzlich davon ausgeht, dass in verschiedenen Entwicklungsstadien des chronischen Schmerzes verschiedene Komponenten unterschiedlich miteinander interagieren, so scheint es sinnvoll, insbesondere dann, wenn es um die Intervention geht, den aktuellen Status zu analysieren. Dabei geht es darum, die biologischen und psychosozialen Komponenten des Schmerzsyndroms im individuellen Fall zu identifizieren und die aufrechterhaltenden Bedingungen soweit als möglich zu analysieren und zu gewichten, um

15 Kapitel 1 · Schmerz – eine Gegenstandsbeschreibung

sie letztlich in der Therapie modifizieren zu können. Die geschilderte Sichtweise unterscheidet sich deutlich von der Sichtweise der klassischen psychiatrischen Diagnosesysteme (z. B. ICD 10). Hier werden 2 Formen von Schmerzen unterschieden, der sog. „anhaltende somatoforme Schmerz“ (F 45.4), der als weitgehend „psychogen“ definiert wird, und der organisch aufklärbare Schmerz. Dieses Modell erscheint aufgrund des komplexen Zusammenspiels und der Interaktion verschiedener Prozesse als unangemessen vereinfachend. : Fallstudie Illustration des Zusammenwirkens verschiedener den Schmerz aufrechterhaltender Bedingungen Der 45-jährige Herr F. leidet seit 3 Jahren nunmehr täglich unter erheblichen Rückenschmerzen. Zum ersten Mal waren diese Schmerzen beim Heben einer schweren Last aufgetreten, danach klangen sie für eine Weile wieder ab und traten dann um so heftiger und immer häufiger wieder auf. Eine umfassende medizinische Untersuchung ergab Röntgenbefunde, die auf degenerative Veränderungen der Wirbelsäule hinwiesen.Weiterhin zeigten sich Verspannungen im Bereich der spinalen Rückenmuskulatur und eine beeinträchtigte Bewegungsfunktion.

Die psychosoziale Situation des Patienten stellt sich folgendermaßen dar: Er hat etwa 2 Jahre nach Beginn der Schmerzepisoden, verbunden mit häufigen Arbeitsunfähigkeitszeiten, seine Berufstätigkeit als Programmierer aufgegeben, da er den Anforderungen seines Betriebs nicht mehr gerecht werden konnte. Zudem hatte die Krankenkasse ihn zu einem Antrag auf Berentung (auf Zeit) gedrängt. Weiter ergibt sich, dass der Patient vor Beginn der Krankheit beruflich erheblich belastet war und einen Arbeitstag von 10–12 h hatte. Er fühlte sich erschöpft und überfordert, ist aber gleichzeitig sehr ehrgeizig. Das Gefühl der Überforderung verstärkte sich mit Beginn des Schmerzes. Die Berentung stellte, zumindest zu Anfang, eine für den Patienten deutlich fühlbare Erleichterung dar. Der Patient hat mittlerweile alle seine früheren Freizeitaktivitäten auf ein Minimum reduziert (Karten-, Tennisspielen, Segelbootfahren). Er geht kaum noch aus dem Haus. Die häuslichen Akti-

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vitäten sind seit Beginn der Schmerzproblematik im Wesentlichen durch die Ehefrau des Patienten übernommen worden, die den Patienten von nahezu allen häuslichen Pflichten, zu denen auch Arbeiten gehörten, die ihm immer sehr unangenehm waren (kümmern um das eigene Mietshaus, „Schriftkram“), befreit. Mittlerweile haben sich wegen der mangelnden gemeinsamen Aktivitäten und der durchweg negativen Gestimmtheit des Ehemanns erhebliche Eheprobleme eingestellt. Die Ehefrau hat eine Beziehung zu einem anderen Mann aufgenommen. Der Patient klagt nur sehr wenig über seine Schmerzbeschwerden, die er eher schweigend und in sich gekehrt erträgt. Wenn es ihm besonders schlecht geht, zieht er sich in sein Schlafzimmer zurück und legt sich – auch tagsüber – hin. Er nimmt regelmäßig relativ hohe Dosen analgetischer Medikamente ein, die er nach Bedarf konsumiert. Sein Gefühlszustand ist geprägt durch eine depressive Grundstimmung. Er grübelt stundenlang über die möglichen Ursachen seiner Schmerzen und weitere Behandlungsalternativen und sorgt sich um seine Zukunft. Die Analyse der beschriebenen Faktoren legt die Hypothese nahe, dass die Wirbelsäulendegeneration von Herrn F. zu einer Kompression sensibler Nerven führt, was mit Schmerz verbunden sein kann. Diese Hypothese müsste schmerzmedizinisch validiert werden, was jedoch häufig nicht gelingt (Nilges u. Gerbershagen 1994). > Etwa 90 % aller Rückenschmerzen treten ohne „spezifische“ somatische Ursache auf.

Der überhöhten Muskelspannung, die vermutlich reflektorisch sowie durch eine starke Schonhaltung aufrechterhalten wird, kommt wahrscheinlich eine schmerzverstärkende Bedeutung zu. Die muskuläre Verspannung wird im Sinne einer Stressreaktion zusätzlich durch die Ehekonflikte und die psychische Belastung des Patienten verstärkt. Weiter ergibt sich, dass das Rückzugsverhalten bezüglich Freunden und Hobbys deutlich durch die Einstellung motiviert ist, dass „wer nicht arbeitet, sich auch nicht vergnügen dürfe“. Dies reflektiert die Furcht des Patienten vor der Abstemplung als „Simulant“ oder „Drückeberger“. > Die selbstverordnete Passivität des Patienten, die durch ärztliche Empfehlung verstärkt wur-

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Teil I · Grundlagen

de, gekoppelt mit der wachsenden Depressivität, führte dazu, dass sich das Verhalten und die Gedanken des Patienten nur noch auf den Schmerz konzentrieren und so zur Aufrechterhaltung der Symptomatik beitragen.

Operante Faktoren haben in der Entwicklung des

Schmerzverhaltens wahrscheinlich eine Rolle gespielt (Entlastung von beruflichem Stress, möglicherweise Entlastung von häuslichen Aktivitäten durch die Ehefrau). Möglicherweise haben Mängel im Durchsetzungsverhalten von Herrn F. dazu geführt, dass er sich gegen die berufliche Überlastung nicht zur Wehr setzen konnte. Das Rückzugsverhalten des Patienten trägt zu muskulärer Dekonditionierung bei, was zu einer Schmerzsensitivierung führt. An diesem Beispiel wird deutlich, wie biologische und psychosoziale Anteile das Schmerzgeschehen prägen: 쎔 Eine Therapie müsste demnach ggf. die Möglichkeiten der medizinischen Beeinflussung der Nervenirritation berücksichtigen. 쎔 Psychologische und physiotherapeutische Maßnahmen zur muskulären Entspannung sollten genutzt werden. 쎔 Interventionen zum Abbau des Analgetikaabusus sind zu ergreifen. 쎔 Psychologische und sporttherapeutische Maßnahmen zur Veränderung des dysfunktionalen Schonverhaltens und zum Aufbau von Aktivitäten bis hin zur Wiederaufnahme des Berufs sind notwendig. 쎔 Eine Beratung beider Partner im Ehekonflikt ist wünschenswert. 쎔 Insgesamt sind Maßnahmen zum Abbau der Depression von vorrangiger Bedeutung. > Wenn in dem geschilderten hypothetischen Beispiel medizinische und psychosoziale Faktoren als Korrelate bzw. als aufrechterhaltende Bedingungen des Schmerzes als relativ gleichgewichtig dargestellt wurden, bleibt festzuhalten, dass es natürlich auch chronische Schmerzsyndrome gibt, bei denen entweder die somatischen oder die psychosozialen Faktoren weniger deutlich ausgeprägt sind.

An dieser Stelle soll noch einmal auf einen häufig anzutreffenden Fehlschluss hingewiesen werden. Die Annahme, dass, wenn psychosoziale Aspekte

im Schmerzgeschehen deutlich und klar identifizierbar sind, somatische Faktoren ausgeschlossen werden können, ist unzutreffend. Ebenso fragwürdig ist umgekehrt der Ausschluss psychosozialer Aspekte bei Vorliegen somatischer Faktoren. Dies geschieht sicherlich häufiger, da die Tendenz besteht, korrelative medizinische Befunde als kausal zu interpretieren (Nilges u. Gebershagen 1994) und sich mit dieser Diagnose zu begnügen. Häufiger werden auch die Begriffe „psychosomatisch“ bzw. „somatopsychisch“ zur Kennzeichnung von Schmerzsyndromen genutzt. Eine derartige Beschreibung kann allenfalls als Kürzel für die Kennzeichnung des Ergebnisses einer differenzierten Schmerzanalyse betrachtet werden, womit der Schwerpunkt oder Ausgangspunkt der Schmerzsymptomatik gekennzeichnet werden soll. Dabei bleibt es offen, ob die Kennzeichnung für die Beschreibung der Symptomatik genutzt wird oder ob sie sich auf die Analyse der Bedingungsfaktoren bezieht. Da die Kennzeichnung keine differenzielle Information enthält (weder über die Art der wesentlichen psychosozialen Faktoren noch über die biologischen Faktoren) und grundsätzlich von einer Interaktion auszugehen ist, ist auch diese Begrifflichkeit wenig hilfreich. Eine systematische und differenzierte Schmerzanalyse hinsichtlich der verschiedenen medizinischen und psychologischen Aspekte ist durch die oben genannte Klassifizierung nicht zu ersetzen. Es besteht bei der Verwendung des Begriffspaares somatisch-psychisch weiter die Gefahr, dass die sozialen Bezüge des Schmerzsyndroms, d. h. wie der Patient auf sein soziales Gefüge (Beruf, Familie, Gesundheitssystem) einwirkt und dieses soziale Gefüge auf den Patienten einwirkt, aus dem Blick verloren werden. Um eine Einseitigkeit des Zugangs bereits in der Diagnostik zu vermeiden, haben sich deutsche Schmerzexperten auf ein Schmerzdiagnostik- und Klassifikationssystem verständigt, das generell medizinische und psychosoziale Merkmale zur Kennzeichnung des Schmerzsyndroms und seiner Bedingtheit heranzieht (Klinger et al. 2000). Das sog. „Multiaxiale Schmerzklassifikationssystem“ (MASK) verdeutlicht somit die wachsende Verbreitung des biopsychosozialen Schmerzkonzepts in Forschung und Praxis.

17 Kapitel 1 · Schmerz – eine Gegenstandsbeschreibung

1.5

Chronischer Schmerz und seine Bedeutung für das Gesundheitssystem

1

loskelettalen Schmerzen – „blue collar worker“ zeigen höhere Prävalenzen (Waddell 1998). > Rückenschmerz ist neben Gelenkschmerzen

Es sind mittlerweile eine Reihe von epidemiologischen Studien aus verschiedenen Ländern publiziert worden, die eine Abschätzung der Größe und Bedeutung des Problems ermöglichen. So untersuchte Brattberg (1990) mittels einer Fragebogenerhebung an 1009 zufällig ausgewählten Personen einer schwedischen Region, die zwischen 18 und 84 Jahre alt waren, die Häufigkeit persistierender Schmerzbeschwerden und versuchte, das Ausmaß der Behandlungsbedürftigkeit abzuschätzen. Unter „obvious pain“ mit einer Dauer von 6 Monaten oder länger, definiert als Empfindung „wie in steifen Muskeln nach ungewohntem Training“ und einer dadurch ausgelösten „ziemlich“ hohen Beeinträchtigung, litten immerhin 39,9 % der Befragten. Abhängig von der Schwere der Schmerzbelastung und der psychischen und sozialen Funktionsbeeinträchtigung wurde ein „klarer unabweisbarer“ Behandlungsbedarf bei 10,7 % der Befragten festgestellt, wobei bei Dauerschmerz grundsätzlich Behandlungswürdigkeit vermutet wurde. > Höchster Behandlungsbedarf bestand in der Gruppe der 45- bis 64-jährigen Befragten der Untersuchung.

unterschiedlicher Lokalisation die häufigste Beschwerde.

In einer Erhebung der Punktprävalenz („heute habe ich Schmerzen“) berichteten die in einer Lübecker Studie Befragten zu über 40 % von Rückenschmerz (Kohlmann 1991). Auch in sozialmedizinischer Hinsicht ist Rückenschmerz das gravierendste Schmerzproblem mit den meisten Arbeitsausfalltagen. Muskuloskelletale Beschwerden, d. h. im Wesentlichen Rückenschmerz, stehen an der Spitze der Statistik bezüglich der Krankschreibungen. Rückenschmerz ist auch der häufigste Grund für Berentung (Abb. 1.2). > Rückenschmerz ist damit unter Einschluss der indirekten Sozialkosten die teuerste Krankheit für die Versorgungssysteme der westlichen Industriestaaten.

Insgesamt gesehen ist in der Bundesrepublik Deutschland auf eine Quote von ca. 8–10 % der Bevölkerung zu schließen, die wegen chronischer Schmerzen behandlungsbedürftig sind. Dies bedeutet, dass zwischen 6 und 7 Millionen Men-

Epidemiologie chronischer Schmerzen (nach Brattberg 1990)

쎔 „Obvious pain“ (>6 Monate Dauer): 39,9 % der erwachsenen Bevölkerung

쎔 Schmerzen mit unabweisbarem Behandlungsbedarf: 10,7 %

> Chronische Schmerzbeschwerden treten bei Frauen häufiger auf als bei Männern, wie die meisten der epidemiologischen Studien zeigen. Dies ist besonders deutlich bei Kopfschmerzen (Verhältnis 2–3:1; Goebel 1997).

Dies gilt eingeschränkt auch für den Rückenschmerz. Eine Reihe von Studien zeigten auch eine Schichtabhängigkeit chronischer Schmerzbeschwerden, insbesondere hinsichtlich der musku-

Abb. 1.2. Sozialmedizinische Folgen verschiedener Krankheiten

18

Teil I · Grundlagen

schen wegen dauerhafter oder wiederkehrender Schmerzsyndrome eine Therapie benötigen.Wenn man den Prozentsatz der durch traditionelle medizinische Behandlungsmethoden nicht ausreichend und zufriedenstellend therapierten Patienten auf ca. 10 % der chronifizierten Patienten schätzt (was nach verschiedenen Studien vermutlich eine deutliche Unterschätzung darstellt), kommt man auf 600.000–700.000 Patienten, die einer spezifischen Schmerztherapie bedürfen. In Anbetracht dieses Faktums setzen sich 2 der herausragendsten Forscher im Bereich des Rückenschmerzes – G. Waddell und A.L. Nachemson, beides im Übrigen Wirbelsäulenchirurgen – ausgesprochen kritisch mit den traditionellen Behandlungsformen bei Rückenschmerz auseinander. Sie betonen nicht nur die Wirkungslosigkeit der meisten Behandlungsmaßnahmen, sondern stellen das Schädigungspotenzial gerade der operativen Maßnahmen heraus. So formuliert Nachemson (1992) drastisch, dass gerade das „abnorme diagnostische und therapeutische Verhalten“ der meisten Ärzte das „abnorme Krankheitsverhalten“ des Patienten verursacht. Auch Waddell (1998) stellt fest, dass die Behinderung durch Kreuzschmerzen weitgehend ärztlich bedingt ist. Er kommt nach Lage der Literatur zu der Auffassung, dass keine medizinische Rückenschmerztherapie besser ist als das „Zusammenwirken von Spontanremission und Placeboeffekt“. Zu ähnlichen Schlussfolgerungen kommt auch die Task Force on Pain in the Workplace (Fordyce 1995) und reklamiert die Verantwortung des Gesundheitssystems für den geradezu epidemieartigen Anstieg der Rückenschmerzen bzw. ihrer sozialmedizinischen Folgen.

> Die sich durch Schmerzmittelmissbrauch ergebenden Probleme, wie medikamenteninduzierter Kopfschmerz, vielfältige körperliche Schädigungen (Magen, Leber, Niere), psychische Abhängigkeit, erhöhtes Unfallrisiko usw. machen die Notwendigkeit alternativer multiprofessioneller Behandlungsangebote deutlich, die der biopsychosozialen Bedingtheit der chronischen Schmerzen gerecht werden.

Von einer quantitativ und qualitativ angemessenen schmerztherapeutischen Versorgung kann in der BRD bis zum heutigen Tag noch nicht die Rede sein. Zum einen deckt die Anzahl der schmerztherapeutischen Behandlungsstätten den Bedarf bei Weitem nicht ab, zum anderen ist in vielen dieser Einrichtungen die Forderung (u. a. der IASP) nach Multiprofessionalität des Behandlungsangebots nicht erfüllt. Meist erreichen nur universitäre Klinikambulanzen diesen Standard mit Teams von schmerztherapeutisch weitergebildeten Ärzten, Psychotherapeuten, Physiotherapeuten sowie Sport- und Sozialtherapeuten. Dennoch ist festzuhalten, dass sich in den letzten Jahren eine Verbesserung abzeichnet. Die allgemeine Akzeptanz für die Notwendigkeit multiprofessioneller Therapieangebote für chronische Schmerzen hat deutlich zugenommen. Ärzte verschiedener Fachrichtungen sowie Psychologen und Angehörige anderer Berufsgruppen tauschen sich zunehmend auf interdisziplinären Schmerzkonferenzen aus, immer mehr kooperieren auf der Ebene der ambulanten Versorgung. Mehr Patienten wissen um die neuen Methoden der Schmerztherapie und fordern sie ein. Weiterbildung in Schmerztherapie

1.6

Schmerztherapie in Deutschland

쎔 Zusatzausbildung in „Spezieller Schmerztherapie“ für Ärzte

Die häufigste Behandlungsmethode für chronischen Schmerz ist die medikamentöse Behandlung. Nach einer amerikanischen Studie betreffen 42 % der Behandlungsvorschläge die Verschreibung von Medikamenten. Analgetika und Antirheumatika stehen an erster Stelle in der Arzneimittelstatistik der BRD. Nach Glaeske (1999) ist in der Bundesrepublik der Analgetikaverbrauch besonders hoch. Hier wird das Doppelte an Menge pro Kopf der Bevölkerung eingenommen wie in nordeuropäischen Ländern.

쎔 Weiterbildung in „Spezieller Schmerzpsychotherapie“ für Psychotherapeuten

쎔 Infos unter 쎔 http://www.dgpsf.de 쎔 http://www.dgss.org

Durch die Einführung der Zusatzbezeichnung „Spezielle Schmerztherapie“ für Mediziner verschiedener Fachgebiete sind verbindliche Weiterbildungsstandards geschaffen worden. Für

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19 Kapitel 1 · Schmerz – eine Gegenstandsbeschreibung

Psychologen wird seit längerem ein spezielles Curriculum für die Schmerztherapie angeboten, das von vier einschlägigen Fachgesellschaften gemeinsam getragen wird. Dies sind einige der Veränderungen, die insbesondere aus der Sicht der Psychologie zuversichtlich stimmen. Andererseits kämpfen viele Klinikambulanzen immer noch um die eine Psychologenstelle, wo vielleicht sogar zwei oder drei nötig wären, und können Schmerzmediziner ihre Patienten immer noch nicht an einen kooperierenden schmerzpsychologisch weitergebildeten Psychologen bzw. Psychotherapeuten überweisen, weil es in ihrem Umfeld keinen gibt. Der Weg zu einer zufriedenstellenden Schmerztherapie ist noch weit, aber erste Schritte sind gemacht und ermutigen zu weiterem Fortschreiten.

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2

Physiologie von Nozizeption und Schmerz M. Zimmermann

Der Schmerz hat viele Bezüge zur Lebensund Geisteswelt des Menschen, entsprechend vielfältig sind seine Synonyme. So hat er einen hohen Stellenwert in allen Religionen (Hölle, Sünde, Erlösung), in den Sozialsystemen (Erziehung, Bestrafung, Kommunikation, Initiationsriten), in der Philosophie (Gegenpol der Lust), in der Dicht- und Bildkunst (Trauer, Abschied, Verzweiflung). Aus biologischer Sicht ist er ein Sinnessystem mit Überlebenswert, das in der Evolution der Tiere frühzeitig und universell angelegt wurde. In der Medizin ist der Schmerz ein Symptom vieler Krankheiten, jedoch auch Indikator und Ausdruck für gestörte Befindlichkeit und Leidenszustände, als chronischer Schmerz kann er zu einer eigenständigen Krankheit werden. Wissenschaftlich ist der Schmerz Gegenstand von Biologie, Medizin, Psychologie und Sozialwissenschaften. Entsprechend setzt sich auch in der Heilkunde zunehmend eine biopsychosoziale Perspektive durch. Dieser Beitrag befasst sich mit den neurobiologischen Mechanismen des Schmerzes, unter Bemühung einer interdisziplinären Sichtweise.

2.1

Nozizeption, akuter und chronischer Schmerz

Im biomedizinischen Kontext wird das Wort „Schmerz“ v. a. für 2 verschiedene Konstrukte verwendet: 쎔 Schmerz als Wahrnehmungsinhalt und Sinnessytem, 쎔 Schmerz als Krankheit und Leiden.

In einer einleitenden Betrachtung möchte ich den Leser an diese beiden Schmerzbegriffe heranführen. > In seiner Funktion als Sinnessystem meldet der Schmerz Gefahren und potenzielle Schädigungen von außen und innen.

Für diesen Bereich verwenden wir auch den Begriff der Nozizeption (von lat. nocere, schaden). Noxische (d. h. potenziell schädigende) Reize lösen in der Tierwelt eine Vielzahl von nozizeptiven Reaktionen aus, deren Ziel die Abwendung oder Abschwächung der Gefahr ist. Nach außen sichtbar ist v. a. das nozizeptive Verhalten, mit angeborenen und erworbenen Anteilen, dessen Messung ein wichtiges Werkzeug der Schmerzforschung ist. Menschen lernen in der Kindheit, die Wahrnehmung solcher noxischer Reize mit dem Begriff „Schmerz“ zu assoziieren, der zunächst hauptsächlich affektive (aversive) und später zunehmend auch kognitive (identifizierende, bewertende) Inhalte hat. Der Schmerzbegriff des Kindes entsteht, im Rahmen der Persönlichkeitsentwicklung, v. a. in der Familie. So ist z. B. auch zu verstehen, warum Mütter und Töchter oft durch gleichartige Auslöser eine Migräne bekommen und mit dieser Schmerzepisode auch ähnlich umgehen. Neben solchen durch Lernvorgänge im Familienverband erworbenen (d.h. gelernten) Präfungen bestehen auch genetische Faktoren, die Schmerzwahrnehmung und -verhalten bestimmen. Auf einfachsten Überlegungen baut eine vielzitierte Definition des Schmerzes durch die International Association for the Study of Pain (IASP, 1979) auf: „Schmerz ist ein unangenehmes Sinnesund Gefühlserlebnis, das mit einer tatsächlichen oder potenziellen Gewebeschädigung verknüpft ist oder mit Begriffen einer solchen Schädigung beschrieben wird.“ Diese „Definition“ ist ziemlich trivial und unvollständig, sie ignoriert grundlegende Fakten und kann kaum zur Begriffsbildung

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Teil I · Grundlagen

über den Schmerz beitragen auch werden Schmerzen bei Tieren und Kleinkindern von dieser Definition nicht beschrieben. Die meisten im täglichen Leben und in der Medizin bedeutsamen Schmerzen gehören zu den akuten Schmerzen. Sie sind entweder durch den auslösenden Reiz oder infolge der nozizeptiven Reaktion bzw. der Therapie zeitlich begrenzt. In der Medizin spielen sie eine erstrangige Rolle bei der Erkennung und Behandlung von Krankheiten. Der Betroffene hat meist eine konkrete Vorstellung über Ursachen und Verlauf seiner akuten Schmerzen, sie können bei Bedarf effizient behandelt werden, und deshalb stellen sie meist keine große Belastung dar – im Unterschied zu den chronischen Schmerzen. Zur wissenschaftlichen Erforschung der Nozizeption bei Mensch und Tier werden definierte noxische Reize eingesetzt, deren Schmerzhaftigkeit wir aus der eigenen Erfahrung kennen. Sie lösen nozizeptive (auch: nozifensive) Reaktionen aus, die uns aus der eigenen täglichen Erfahrung und der Beobachtung von Menschen und Tieren geläufig sind. Hierzu werden nachfolgend einige Erläuterungen gegeben: 쎔 Nozizeptive Reflexe und Stereotypien laufen weitgehend unbewusst und automatisch ab, ihre Schutzfunktion ist augenscheinlich. Beim Wegziehreflex (meistens ein Beuge- oder Flexorreflex) wird eine Extremität vor dem Scha-

densreiz in Sicherheit gebracht (Abb. 2.1). Durch Flucht-,Abwehr- und Angriffsverhalten, die meistens als stereotype Verhaltensmuster ablaufen, wird das Individuum als Ganzes vor der Gefahrensituation geschützt.Vegetative Reflexe unterstützen die Schutz- und Abwehrreaktionen, z. B. steigern sie die regionale Durchblutung um eine Noxe, erhöhen den Blutdruck, aktivieren die lokale Immunabwehr. 쎔 Durch operante Konditionierung lernen wir, Schmerzsituationen zu vermeiden („gebranntes Kind scheut das Feuer“). Dabei wird das Zeitintervall, innerhalb dessen wir den Zusammenhang zwischen Ursache und nozizeptiver Reaktion bzw. Schmerzwahrnehmung erkennen können, im Laufe des Lebens immer länger. So erkennt das Kind die Ursache für seinen Schmerz zunächst nur, wenn diese der Schmerzwahrnehmung unmittelbar vorausgeht. Mit zunehmender Lebenserfahrung vermeiden wir dagegen auch Handlungen und Situationen, die erst nach einer Zeitverzögerung zu Schmerzen führen, z. B. essen wir keine Dinge, die uns Leibschmerzen verursachen, wir trinken keinen oder weniger Alkohol, um am nächsten Tag keine Kopfschmerzen zu bekommen. Wegen dieses Vermeidungsverhaltens hat die Nozizeption auch Eigenschaften eines Schadensfrühwarnsystems.

Abb. 2.1a, b. Messung einer nozizeptiven Reaktion. a Der Schwanz einer Ratte wird auf eine Länge von z. B. 5 cm in heißes Wasser (z. B. 50 °C) eingetaucht. Nach einer bestimmten Latenzzeit führt das Tier eine Wegziehbewegung des Schwanzes aus. Dieser „tail-flick“ ist eine nozizeptive Reak-

tion. b Die Latenzzeit zwischen Beginn des Hitzereizes und der Wegziehbewegung des Schwanzes hängt reproduzierbar von der Temperatur des heißen Wassers ab. Die Latenzzeit wird als quantitatives Maß zur Charakterisierung der nozizeptiven Reaktion des Tieres verwendet

23 Kapitel 2 · Physiologie von Nozizeption und Schmerz

쎔 Schmerzen motivieren uns zu zielgerichteten Handlungen, mit denen ein Schaden als

Schmerzursache beseitigt werden soll: Wir kühlen eine Brandwunde, schonen ein schmerzendes Gelenk, nehmen Schmerzmittel ein, kommunizieren über den Schmerz und Möglichkeiten seiner Behandlung, gehen zum Arzt, lassen uns krankschreiben. > Sinnvollerweise können also Zusammenhänge zwischen Schmerz, Schmerzursachen und Schmerzbehandlung im Laufe des Lebens in einer immer größer werdenden Komplexität erkannt und genutzt werden.

Dabei können sich jedoch auch Reaktionen ausbilden, die nicht zu einer verbesserten Schadensbewältigung führen und sogar zur Schmerzchronifizierung beitragen können, z. B. eine länger dauernde körperliche Schonung zur Schmerzvermeidung, oder gelernte Hilflosigkeit. Mit diesen Fehlreaktionen befassen sich spätere Abschnitte dieses Beitrags und andere Kapitel dieses Lehrbuchs. Nozizeptive Reaktionen können wir in großer Vielfalt auch beim Tier sehen, in arttypischer Ausprägung. Protektive Reflexe treten bereits bei Insekten auf, mit der fortschreitenden Phylogenese des Gehirns entstehen bei den Säugetieren auch gelernte und zielgerichtete Verhaltensweisen. Auch beim Tier können viele Konditionierungen zur Schmerz- und Schadensvermeidung beobachtet werden, z. B. die „conditioned taste aversion“, also die Vermeidung eines Futtermittels über seinen Geschmack oder Geruch, nachdem es einmal zu viszeralen Beschwerden (Bauchschmerzen) geführt hatte. Aus solchen Konditionierungsexperimenten und Verhaltensbeobachtungen wird geschlossen, dass auch Tiere Wahrnehmungen haben können, die mit dem Schmerz des Menschen vergleichbar sind. Der Mensch hat eine Sonderstellung wegen seiner ungeheuer großen Möglichkeiten der kognitiven Verarbeitung und Bewältigung von Schmerzreizen und -situationen. Diese Sonderstellung des Menschen betrifft jedoch alle Sinnessysteme. Chronische Schmerzen sind Folge und Ausdruck von bleibenden pathophysiologischen Veränderungen, wie sie bei einer länger andauernden/unheilbaren Krankheit oder durch Schädigung des Nervensystems entstehen können, z. B. Schmerz bei einer chronischen Gelenkentzündung

2

(Polyarthritis), Tumorschmerz, diabetische Polyneuropathie. > Kennzeichnend für chronische Schmerzen ist zunächst, dass physiologische Reaktionen und Verhalten die Schmerzursache nicht beseitigen können.

Auch am chronischen Schmerz ist primär das neuronale System der Nozizeption beteiligt. Jedoch kommt es unter der Dauererregung oft zu plastischen Veränderungen, die das Nervensystem sensibilisieren und so die neuronale Schmerzinformation verstärken können, z. B. die tierexperimentell nachgewiesene synaptische Langzeitpotenzierung (LTP) im Rückenmark. Durch solche Prozesse können Schmerzen verstärkt werden, selbst wenn die auslösende Pathologie unverändert bleibt oder sogar zurückgeht, und dies kann auch zur fortschreitenden Schmerzchronifizierung beitragen. Diese nachhaltigen Veränderungen im Nervensystem werden auch unter dem Begriff „Schmerzgedächtnis“ zusammengefasst. Körperliche und psychosoziale Reaktionen bei chronischen Schmerzen können ebenfalls zur Chronifizierung beitragen, z. B. eine länger andauernde Schonhaltung oder eine soziale Belohnung durch Familienmitglieder für gezeigtes Schmerzverhalten. Teleologisch müssen sie als (schmerzverstärkende) Fehlreaktionen des Nervensystems angesehen werden. Der Schmerz entwickelt sich so vom Krankheitssymptom zur eigenständigen Schmerzkrankheit. Äußerungen des Leidens unter chronischem Schmerz können wir auch beim Tier beobachten, v. a. Schonhaltung, Leidensphysiognomie, Vernachlässigung der Körperpflege, Einschränkungen des Neugierverhaltens und des Aktivitätsradius, Veränderung der sozialen Wechselbeziehungen. Es ist wahrscheinlich, dass das aus dem Verhalten erschlossene Erleben von chronischen Schmerzsituationen innerhalb der Tierreihe unterschiedlich bedeutsam und belastend ist. Dieses für den Tierschutz wichtige Gebiet ist allerdings noch kaum erforscht. > Beim Menschen ist es ein wesentlicher Aspekt, dass der Schmerz in sein biographisches Bewusstsein eingebunden ist, er kann die Relevanz des chronischen oder häufig wiederkehrenden Schmerzes für sein zukünftiges Leben erkennen.

24

Teil I · Grundlagen

Die prognostische Bewertung des Schmerzes ist ein wichtiger Faktor des Leidens beim Menschen, sie kann psychopathologische Folgen haben (z. B. algogenes Psychosyndrom, Depression,Angst), die wiederum verstärkend auf das Schmerzerleben zurückwirken. Beim Tier, selbst beim Affen, fehlt diese prognostische Komponente des Leidens. Es gibt viele Vorschläge, eine Zeitangabe für den Übergang eines Schmerzes in einen chronischen Schmerzzustand festzulegen, die angegebenen Zeitspannen reichen von 4 Wochen bis zu 6 Monaten. Eine bessere Entscheidungsgrundlage lässt sich mit funktionellen Kriterien begründen. Wenn Schmerzen den Kranken in seiner Lebenssicht nachhaltig verändern, ihn zermürben, depressiv machen, seiner Hoffnung auf Besserung berauben, zum sozialen Rückzug führen, dann ist der Schmerz chronisch geworden. Der Zeitpunkt hängt ganz entscheidend von der erlebten Schmerzintensität ab, jedoch auch von der Fähigkeit zur Bewältigung oder von anderen Belastungen aus der Lebensgeschichte und der sozialen Umgebung.

2.2

Tierexperimentelle Untersuchungen über Nozizeption und Schmerz

Ein großer Teil des Wissens über die neurobiologischen Mechanismen des Schmerzes wurde in Tierversuchen gewonnen. Untersuchungen zur Nozizeption gehen meistens von experimentellen Reizen aus, die wir Menschen als schmerzhaft empfinden, wie z. B. Erhitzung der Haut, lokaler Druck auf eine Hautfalte, intrakutane Injektion von Bradykinin oder vorübergehende Unterbrechung der Blutzufuhr (Ischämie). Bei allen Tierversuchen über Nozizeption und Schmerz müssen Reize und Reaktionen quantitativ erfasst werden, um aussagekräftige und überprüfbare Ergebnisse zu erzielen. Forschungsansätze benutzen die Verhaltensmessung (am wachen Tier), die Ableitung neuronaler Entladungen im Nervensystem (am narkotisierten Tier) oder den histochemischen Nachweis einer induzierten Gentranskription im Rückenmark und Gehirn (nach Tötung des Tieres). In den nachfolgenden Abschnitten werden beispielhaft Ergebnisse aus der tierexperimentellen Forschung über den akuten und chronischen Schmerz erörtert.

2.2.1

Nozizeptive Reaktionen bei Hitzereizung

Taucht man den Schwanz einer Ratte in heißes Wasser von z. B. 50 °C, dann zieht das Tier ihn nach einigen Sekunden ruckartig wieder heraus (Abb. 2.1). Dieses Wegziehen des Schwanzes („tailflick“) ist ein nozizeptiver Reflex. Er funktioniert auch bei Ratten, bei denen die Verbindung zwischen Gehirn und Rückenmark unterbrochen ist, es handelt sich also um einen spinalen Reflex. Wie alle Tätigkeiten des Rückenmarks stehen auch nozizeptive Reflexe normalerweise unter der Kontrolle des Gehirns und werden von dort vielfältig moduliert. Diese vom Gehirn zum Rückenmark absteigende Kontrolle ist für die spinale Verarbeitung von schmerzhaften Reizen von Bedeutung, wie wir später noch sehen werden. Folgende Charakteristika sprechen dafür, den, „tail-flick“ als nozizeptive Reaktion anzusehen: 쎔 Er schützt das Tier vor Schädigung. 쎔 Eine Reaktion tritt erst ab ungefähr 45 °C auf, ab dieser Temperatur kommt es zu Gewebeschädigungen. 쎔 Bei 45 °C liegt auch die Schwelle für Hitzeschmerz beim Mensch. 쎔 Die Reaktion wird durch Schmerzmedikamente (Analgetika) abgeschwächt und verzögert. Die Reaktion kann durch Messung der Latenz vom Beginn des Hitzereizes bis zur Wegziehbewegung quantifiziert werden. Wird die Temperatur des Wassers erhöht, dann sinkt diese Latenz (Abb. 2.1b). Schmerzreduzierende Maßnahmen, z. B. die Gabe von Analgetika oder die Aktivierung von Hemmungssystemen im Zentralnervensystem (ZNS), verlängern die Reflexlatenz. Auf diese Weise kann man solche schmerzmodulierenden Methoden am Modell des „tail-flick“ untersuchen. Das Experiment der Abb. 2.1 kann man auch bei einer menschlichen Versuchsperson durchführen, die z. B. einen Finger in heißes Wasser eintaucht und die Zeit bis zur Wahrnehmung eines Hitzeschmerzes misst.

25 Kapitel 2 · Physiologie von Nozizeption und Schmerz

2.2.2

Tierexperimentelle Modelle für chronische Schmerzen

Um auch die Mechanismen des chronischen Schmerzes besser zu verstehen, wurden in letzter Zeit zunehmend Untersuchungen an geeigneten Tiermodellen durchgeführt, z. B. bei Ratten mit Gelenkentzündung, Gallensteinen, Diabetes oder einer Nervenverletzung. Den Schmerzzustand kann man bei solchen Tiermodellen aus der Verhaltensbeobachtung erschließen. Im Beispiel der Abb. 2.2 wurde bei einer Ratte eine Entzündungsreaktion in der rechten Vorderpfote induziert. Anschließend zeigt das Tier vermehrt Schonverhalten mit den folgenden Kategorien (Abb. 2.2a): 쎔 kein erkennbares Schonverhalten (0); 쎔 leichtes Schonen der Pfote beim Gehen und Stehen (1);

Abb. 2.2a, b. Der Formalintest, ein tierexperimentelles Modell für länger andauerndes differenziertes Schmerzverhalten. a Nach Injektion einer kleinen Menge einer Formalinlösung in die rechte Vorderpfote zeigt die Ratte Schon- und Pflegeverhalten, das entsprechend den Skizzen mit den Kategorien 0–3 klassifiziert wird: 0: keine beobachtbaren Auffälligkeiten; 1: die Pfote wird beim Stehen und Gehen deutlich weniger mit Körpergewicht belastet; 2: die Pfote wird ständig angehoben; 3: die betroffene Pfote wird durch Lecken und Kratzen mit der gesunden Pfote gepflegt und bearbeitet. Die Verhaltenskategorien werden durch fortlaufendes Beobachten des Tieres als „pain rating“ aufgezeichnet. b Zeitverlauf des gemittelten „pain rating“ einer Gruppe von Ratten nach Injektion von 50 µl einer 5%igen Formalinlösung in die Vorderpfote, ohne Behandlung mit einem Schmerzmedikament (Kontrolle) und nach intraperitonealer Injektion von Acetylsalicylsäure (Aspirin) oder Morphin

2

쎔 häufiges oder ständiges Hochheben des Beines (2);

쎔 Pflegen der Pfote durch Lecken und Kratzen (3). Bei geringer Formalinkonzentration überwiegt Verhalten (1), bei höheren Konzentrationen zeigt das Tier zunehmend häufig auch die Verhaltensweisen (2) und (3). Dieses Verhalten ähnelt dem eines Menschen mit einem schmerzenden Fuß, man spricht deshalb auch beim Tier von Schmerzverhalten. Durch Erfassung des integrierten Auftretens der Kategorien 1–3 kann man das Schonverhalten als Ausdruck des persistierenden Schmerzes quantifizieren (Abb. 2.2b), durch Behandlung

mit einem Schmerzmittel geht das schmerzbedingte Schonverhalten zurück. Je nach Art des Schmerzmodells dauert das veränderte Verhalten wenige Stunden (wie in Abb. 2.2) bis Wochen.

26

Teil I · Grundlagen

2.2.3

Ethik des experimentellen Schmerzes bei Tieren

Die tierexperimentelle Schmerzforschung führt in ein ethisches Dilemma. Sie leitet sich aus dem ethischen Imperativ ab, dem leidenden Schmerzpatienten durch Verbesserung des Wissens über Schmerzentstehung und -behandlung zu helfen. Die Entstehung der modernen Algesiologie mit ihren Konzepten zur Therapie und Prävention chronischer Schmerzen ist ohne die tierexperimentelle Forschung nicht denkbar. Andererseits haben wir auch die ethische Verpflichtung, Tieren keine Schmerzen zuzufügen. Diese ist ein Hauptmotiv des Tierschutzes, der in vielen Ländern gesetzlich geregelt ist und 2002 in Deutschland sogar in das Grundgesetz aufgenommen wurde. Die meisten tierexperimentellen Arbeiten zur Nozizeption werden unter Narkose durchgeführt, dadurch wird das Leiden der Tiere vermieden. > Zunehmend verwenden Forschungsansätze zur Physiologie und Pharmakologie der Nozizeption auch Zellkulturen und isolierte Präparate wie Hautstückchen mit Nerven oder Rückenmarkscheiben, die aus schmerzlos getöteten Tieren entnommen wurden.

Bei der Forschung zu klinisch bedeutsamen chronischen Schmerzen ist es jedoch unvermeidbar, bei Versuchstieren zeitlich begrenzt schmerzhafte Krankheiten zu erzeugen. Der Schmerzforscher trägt hier eine große Verantwortung. Eine Kommission der International Association for the Study of Pain (IASP) hat ethische Leitlinien für den tierexperimentellen Schmerzforscher erarbeitet (Zimmermann 1983). Danach muss der Schmerzforscher gewissenhaft prüfen, ob von seinem Forschungsprojekt wirklich eine Erweiterung des Wissens über Schmerz erwartet werden kann. Der Experimentierplan muss so ausgelegt sein, dass den Tieren nicht mehr Schmerz als unbedingt notwendig zugefügt wird („minimum pain principle“). In Deutschland überprüfen die Tierschutzkommissionen der Regierungspräsidien alle beantragten tierexperimentellen Projekte nach ähnlichen Grundsätzen auf Vertretbarkeit und Vermeidung von Leiden. Bei intelligenter und kompetenter Versuchplanung sind die Möglichkeiten recht groß, Tiere zu schonen und trotzdem re-

levante Forschungsergebnisse über Schmerz zu erzielen.

2.3

Nozizeptoren und ihre afferenten Fasern

2.3.1

Nozizeptive Afferenzen

Schmerzen haben häufig ihre Ursache im Bereich des peripheren Nervensystems. Die Wahrnehmung dieser Schmerzen beruht dann darauf, dass Nervenimpulse über afferente Fasern zum Zentralnervensystem gelangen.Diese werden als nozizeptive Afferenzen bezeichnet, weil sie auf die Übermittlung von Schadensinformation spezialisiert sind. Ein peripherer Nerv besteht aus Tausenden von Fasern. Sie lassen sich nach der Leitungsgeschwindigkeit einteilen. Im Summenaktionspotenzial eines Hautnervs nach einem elektrischem Einzelreiz sieht man dementsprechend 3 Komponenten mit unterschiedlichen Latenzzeiten, die verschiedenen Fasern zugeordnet werden können (Abb. 2.3): 쎔 Aβ-Fasern, 쎔 Aδ-Fasern, 쎔 C-Fasern. > Die C-Fasern stellen in den meisten peripheren Nerven das größte Kontingent dar.

Nozizeptive Afferenzen gibt es unter den Aδ- und

den C-Fasern, jedoch sind in beiden Gruppen auch Afferenzen anderer Sinnesqualitäten vertreten (Warmfasern, Kaltfasern). Die Aβ-Fasern stehen mit empfindlichen Mechanorezeptoren in Verbindung (Tastsinn, Propriozeption). Reizt man Hautnerven elektrisch, dann kommt es zu nozizeptiven Reaktionen (bei Tieren) und Schmerzwahrnehmungen (bei Menschen), sobald die Reizstärke die Schwelle für die Aδ-Fasern überschreitet. Wenn bei zunehmender Reizstärke auch C-Fasern rekrutiert werden, dann wird der Schmerz intensiver und bekommt eine brennende Qualität. > Aus diesen Beobachtungen lässt sich folgern, dass nozizeptive Fasern in den Gruppen der Aδund C-Fasern enthalten sind und dass die Qualität und die Intensität des Schmerzes von der Art und der Anzahl der aktivierten Nervenfasern abhängen.

27 Kapitel 2 · Physiologie von Nozizeption und Schmerz

2

Abb. 2.3. Summenaktionspotenzial und Fasertypen eines Hautnervs; gezeigt sind die oszillographischen Registrierungen des Aktionspotenzials vom N. suralis der narkotisierten Katze bei elektrischer Reizung; Aktionspotenziale der myelinisierten Fasern (Aβ-, Aδ-Fasern, obere Registrierung) und

der unmyelinisierten Fasern (C-Fasern, untere Registrierung). Rechts sind die Typen von Rezeptoren in den 3 Fasergruppen zusammengestellt. Die C-Fasern enthalten auch die sympathischen Efferenzen

Die Existenz von 2 verschieden schnell leitenden Typen nozizeptiver Afferenzen kann man leicht im Selbstversuch demonstrieren: Bei einem plötzlichen Druckreiz (z. B. mit einem Kugelschreiber) an der Hautlamelle zwischen benachbarten Fingern („Schwimmhaut“) wird zuerst ein stechender, gut lokalisierter Schmerz wahrgenommen, der der schnellen Informationsleitung über nozizeptive Aδ-Fasern zugeordnet wird, mit Leitungsgeschwindigkeiten um 15 m/s. Mit einer Verzögerung von etwa 1 s folgt dann ein langsam ansteigender und abfallender Schmerz, meist mit einem dumpfen, bohrenden oder brennenden Charakter. Er wird der Erregung von C-Fasern zugeschrieben, die eine Leitungsgeschwindigkeit von etwa 1 m/s haben. Die nozizeptiven Afferenzen sind in einem peripheren Nerv sehr häufig, z. B. sind bis zu 80 % der afferenten Fasern eines Hautnervs nozizeptiv. Sie werden entweder durch Reizung ihrer sensorischen Endigungen, der Nozizeptoren, erregt, oder direkt durch lokale Schadenswirkungen auf die Axone (Neuralgie). Die Gruppe der C-Fasern aller peripheren Nerven enthält in großer Zahl auch efferente Fasern des sympathischen Nervensystems, Informationsleitungen vom Rückenmark zu den peripheren sympathischen Effektoren (Blutgefäße, Schweißdrüsen). Obwohl sie nicht der afferenten Leitung von sensorischer Information dienen können, sind

sie unter bestimmten pathophysiologischen Bedingungen an der Schmerzentstehung beteiligt.

2.3.2

Nozizeptoren der Haut

Durch neurophysiologische Registrierung von einzelnen Fasern in Hautnerven bei Mensch und Tier konnten Nozizeptoren durch Reizversuche identifiziert werden. Bei Tieren arbeitet man dazu unter Narkose am freigelegten Nerv oder an isolierten Haut-/Nervenpräparaten von getöteten Tieren. Bei wachen Versuchspersonen wendet man die Mikroneurographie an, bei der eine Nadelelekrode mit einer Spitze von 1 µm Durchmesser durch die Haut in einen Nerv eingeführt wird (Abb. 2.4a). > Nozizeptoren können dadurch identifiziert werden, dass sie nur durch starke, potenziell schädigende Hautreize in Erregung versetzt werden. Nozizeptoren sind also nervöse Schadensmelder.

Beispiele für hitzesensitive Nozizeptoren der Haut mit afferenten C-Fasern von Mensch und Katze sind in Abb. 2.4 zusammengestellt. Aus diesen Messungen können wir 2 grundsätzliche, wichtige Erkenntnisse herleiten:

28

Teil I · Grundlagen

Abb. 2.4a–c. Hitzesensitive Nozizeptoren mit C-Fasern in Hautnerven. a Registrierung von einer einzelnen C-Faser im N. radialis des Menschen, abgeleitet mit einer perkutan in den Nerv eingestochenen Mikroelektrode. Das rezeptive Feld der Faser in der Hand wurde mit 3 verschieden hohen Temperaturen (42, 43 und 44 °C) jeweils 20 s lang gereizt. Der Zeitverlauf der durch den Hitzereiz erzeugten Hauttemperatur ist unten gezeigt. Die Pfeile geben die Zeitpunkte an, ab

쎔 Die Schwelle der Entladung solcher Nozizeptoren liegt im Bereich von 40–45 °C. 쎔 Mit zunehmender Temperatur des Hitzereizes steigt die Entladungsfrequenz an. Die Entladungsschwelle liegt in einem Bereich von Hauttemperaturen, in dem bei psychophysiologischen Untersuchungen am Menschen die Wahrnehmung „warm“ umschlägt in „schmerzhaft heiß“. Im Verhaltensversuch beim Tier beginnen bei etwa 45 °C nozizeptive Reaktionen (Abb. 2.1). Das Ansteigen der Entladungsfrequenz mit zunehmender Reiztemperatur zeigt an, dass die Nozizeptoren nicht nur die Anwesenheit eines noxischen Reizes melden können, sondern auch Information über die Reizintensität übertragen (Frequenzmodulation der Entladung). > Die Intensitätskodierung der Nozizeptoren bewirkt, dass Tier und Mensch im psychophysiologischen Experiment Hitzereize unterschiedlicher Intensität (d. h. Hauttemperatur) unterscheiden und mit abgestuften Reaktionen beantworten können.

Die meisten Nozizeptoren der Haut reagieren auf mehrere Reizarten, z. B. auf Hitze, starke mechanische Reize (Quetschen einer Hautfalte), chemische Reize (Bradykinin). Sie heißen deshalb polymodale Nozizeptoren. Es gibt in einigen Hautbereichen

denen die Versuchspersonen Hitzeschmerz empfinden. b Registrierung von einer einzelnen C-Faser aus dem N. plantaris einer narkotisierten Katze während Hitzereizung der Fußsohle mit verschiedenen Temperaturen. c Zusammenhang zwischen Hauttemperatur (Abszisse) und Zahl der Impulse pro Hitzereiz von 10 s Dauer (Ordinate). Jeder Punkt ist eine Messung, wie in b gezeigt. (a nach Van Hees 1976; b, c nach Beck et al. 1974)

jedoch auch unimodale Nozizeptoren, die z. B. nur auf mechanische Reize oder Hitzereize ansprechen. Die Schwellen von Schmerzwahrnehmungen (bzw. nozizeptiven Reaktionen) bei Hitzereizen liegen höher als die der Nozizeptoren. Aus diesem Unterschied wird gefolgert, dass die Schmerzschwelle durch das Zentralnervensystem bestimmt wird, wobei eine ständige Kontrolle durch Hemmungsmechanismen mitwirkt. Bereits um 1900 hat Goldscheider aus klinischen Beobachtungen eine entsprechende Summations- oder Intensitätstheorie des Schmerzes entwickelt.

2.3.3

Nozizeptoren von Muskeln, Gelenken und inneren Organen

Von allen tiefgelegenen Organen lassen sich Schmerzen auslösen, auch hier gibt es Nozizeptoren. Experimentelle noxische Reize sind z. B. Injektion von Bradykinin in die Arterie eines Muskels, Dehnung des Dickdarms mit einem Ballon, Injektion von entzündungsauslösenden Chemikalien in den Gelenkspalt (Gebhart 1996; Jänig 1982; Mense 1993; Schmidt et al. 1994). Die Nozizeptoren der Skelettmuskulatur sprechen v. a. auf chemische Substanzen an, wie z. B. Bradykinin, KCl, Serotonin, Interleukin-6, die alle zu den körpereigenen schmerzerzeugenden (al-

29 Kapitel 2 · Physiologie von Nozizeption und Schmerz

2

Abb. 2.5a, b. Sensibilisierung von chemosensitiven Nozizeptoren im Skelettmuskel durch körpereigene algetische Substanzen. a Eine C-Faser aus dem M. gastrocnemius der Katze wird durch Injektion von Bradykinin (Pfeil) in die Muskelarterie erregt. Die Antworten auf die nachfolgenden gleichartigen Bradykinininjektionen werden durch vorausgehende Injektionen von 5-Hydroxytryptamin (5-HT, auch als Serotonin bezeichnet) langfristig potenziert. b Ähnliches Experiment wie a, hier wird jedoch die Sensibilisierung durch eine vorausgehende Injektion von Prostaglandin E2 (PGE2) erzeugt. (Aus Mense 1981)

getischen) Substanzen gehören. Ein Beispiel ist in

Abb. 2.5 gezeigt. Bemerkenswert ist hier, dass die Antwort der nozizeptiven C-Fasern auf eine Injektion von Bradykinin durch eine vorausgehende Injektion von Serotonin (5-HT) oder Prostaglandin E2 stark potenziert wird. > Solche sensibilisierenden Wechselwirkungen zwischen mehreren algetischen Substanzen bestimmen auch die hohe Erregbarkeit von Nozizeptoren bei Entzündungen. Bei Entzündungsvorgängen sind nämlich meistens zahlreiche Substanzen beteiligt.

Viele Nozizeptoren des Muskels werden auch durch Kontraktion bei repetitiver Reizung der motorischen Nerven erregt, besonders unter Sauerstoffmangel. Die Annahme ist naheliegend, dass diese Nozizeptoren für den Muskelschmerz verantwortlich sind, für den die Ischämie eine besonders häufige Auslösebedingung ist. Die Nozizeptoren des Herzmuskels haben ähnliche Eigenschaften wie die der Skelettmuskeln. Sie sind v. a. an den kleinen Arterien lokalisiert. Ischämie, experimentell erzeugt durch Abklemmen einer Herzkranzarterie, erregt viele dieser Nozizeptoren. Die kardialen Nozizeptoren sind wahrscheinlich für die Entstehung der Herzschmerzen (Angina pectoris bei der koronaren Herzkrankheit, Infarktschmerz) zuständig.

Die Nozizeptoren in der Gelenkkapsel werden durch starken lokalen Druck und passive Gelenkbewegungen jenseits des physiologischen Bereichs erregt, sowie durch algetische Substanzen in der Gelenkkapsel. Auch hier wird die Antwort auf Bradykinin durch vorher gegebenes Prostaglandin E2 potenziert (Abb. 2.5). Unter einer experimentellen Gelenkentzündung (Arthritis) werden die Nozizeptoren sensibilisiert, sie können dann bereits durch Gelenkbewegungen im physiologischen Bereich aktiviert werden. Die Tiere vermeiden dann die Bewegung der betroffenen Gelenke weitgehend (Schonhaltung), ein Beleg dafür, dass sie bewegungsabhängige Schmerzen haben. > Bei einer Gelenkentzündung werden Nozizeptoren erregbar, die vorher selbst mit starken mechanischen Reizen nicht aktiviert werden konnten.

Diese „schlafenden“ Nozizeptoren stellen mindestens 30 % aller Gelenknozizeptoren dar (Schmidt et al. 1994). Schlafende Nozizeptoren wurden auch in der Haut und den inneren Organen beobachtet (Handwerker 1999). Es handelt sich hier um eine Plastizität im peripheren Nervensystem, die für die Sensibilisierung des nozizeptiven Systems bei entzündlichen Erkrankungen bedeutsam ist. Die sensorische Innervation der inneren Organe (also z. B. gastrointestinales System, urogenitales System, Lunge, Gefäßsystem, Hirnhäute) be-

Teil I · Grundlagen

30

steht fast ausschließlich aus C-Fasern. Diese viszeralen Afferenzen verlaufen in den Eingeweidenerven, also z. B. N. splanchnicus, N. vagus und N. pelvicus sowie in den Nervengeflechten entlang der Blutgefäße. Viszerale Nozizeptoren werden im Tierexperiment durch viele Arten von Reizen aktiviert, die beim Menschen als schmerzhaft gelten, also Dehnung und Kontraktion von Hohlorganen wie Dickdarm (Kolon), Gallengang und Harnleiter, Ziehen am Mesenterium, Ischämie des Herzens, Irritation des Bronchialepithels, Injektion algetischer Substanzen (Essigsäure, Bradykinin) in den Bauchraum. Bei vergleichenden neueren Studien an Tier und Mensch unter kontrollierter Reizung mit einem kolorektalen Ballonkatheter konnten die neuro- und psychophysiologischen Bedingungen des viszeralen Schmerzes systematisiert werden (Gebhart 1996). So wurden 3 Gruppen von viszeralen Nozizeptoren mit abgestuften Empfindlichkeitsbereichen identifiziert, die viszerale Wahrnehmungen vom Unwohlsein bis zum heftigen viszeralen Schmerz vermitteln können (Handwerker 1999).

2.3.4

Populationskodierung von nozizeptiven Reizen

Bei den meisten schmerzhaften Reizen werden nicht nur Nozizeptoren erregt, sondern auch eine Reihe von niederschwelligen Rezeptoren. Jede Form von mechanisch erzeugten Schmerzen führt auch zur Erregung von niederschwelligen Mechanorezeptoren, z. B. werden unter den Bedingungen des Ischämieschmerzes am arbeitenden Muskel auch Muskelspindeln und Sehnenorgane aktiviert. Es ist wahrscheinlich, dass die aus solchen niederschwelligen Rezeptoren in das Zentralnervensystem einströmenden Informationen bei der Wahrnehmung und bei den verhaltensmäßigen Reaktionen auch mitverwendet werden. Wir bezeichnen diese Funktion als Populationskodierung. > Es ist zu bedenken, dass bei den meisten Situationen im täglichen Leben die Informationen aus den Sinnesorganen über die Populationskodierung vermittelt werden, die Erregung einer einzelnen Art von Rezeptoren ist eher die Ausnahme. Bei schmerzhaften Reizen schließt die Populationskodierung sowohl unterschiedliche

Arten von Nozizeptoren als auch andere, nichtnozizeptive Rezeptoren ein.

Funktionelle Leistungen der Populationskodierung beim Schmerz können etwa die folgenden

sein: 쎔 Lokalisation eines schmerzhaften Reizes über die miterregten niederschwelligen Mechanorezeptoren und deren topographisch gut geordnete Projektion im Zentralnervensystem, z. B. auf dem somatosensorischen Kortex. 쎔 Mitwirkung an der qualitativen Färbung von Schmerzwahrnehmung: Die Miterregung von niederschwelligen Mechanorezeptoren kann z. B. darüber informieren, dass es sich um einen mechanischen Schmerzreiz handelt. Andererseits ist bekannt, dass niederschwellige Mechanorezeptoren der Haut bei Erhitzung auf 45 °C und darüber weitgehend unerregbar werden. Dieser Wegfall von Aktivität in niederschwelligen Mechanorezeptoren könnte mitbestimmend sein für die charakteristische Qualität eines Hitzereizes.

2.3.5

Chemische Wirkungen auf Nozizeptoren

Die Mikroumgebung des Nozizeptors besteht z. B. aus glatter Muskulatur, Blutkapillaren, efferenten sympathischen Nervenfasern, Zellen der innervierten Organe und des Immunsystems sowie vielen körpereigenen chemischen Substanzen (Abb. 2.6). Hier können sich physiologische und pathophysiologische Veränderungen abspielen, die die Erregungsbildung des Nozizeptors beeinflussen, sowohl im Sinne einer Erregungsverstärkung als auch -abschwächung.

Erregung und Sensibilisierung durch algetische Substanzen Bei Verletzungen und Entzündungen kommt es im Mikromilieu der Nozizeptoren zur erhöhten Freisetzung von körpereigenen Substanzen aus dem umliegenden Gewebe (Abb. 2.6), wie z. B. KCl, H+-Ionen, Serotonin, Bradykinin, Prostaglandinen, Zytokinen. Diese Substanzen sind generell bei vielen nützlichen Regulationsvorgängen als spezifische Mediatoren beteiligt, z. B. bei der Nierenfunktion, Temperaturregulation oder Immunabwehr. Sie sind jedoch auch bei der Entstehung des

31 Kapitel 2 · Physiologie von Nozizeption und Schmerz

Entzündungsschmerzes und anderer chronischer Schmerzformen wesentlich beteiligt und werden in diesem Zusammenhang als körpereigene algetische Substanzen oder Entzündungs- und Schmerzmediatoren bezeichnet. Sie sind sämtlich auch vasoaktiv und deshalb auch bei den Erscheinungen der Entzündung beteiligt (z. B. erhöhte lokale Durchblutung und Gefäßpermeabilität). Einige dieser Schmerzmediatoren sind auch in Tierund Pflanzengiften enthalten, z. B. bei Biene und Brennnessel. > Die endogenen algetischen Substanzen können in allen Organen Schmerzen auslösen. In unterschwelligen Konzentrationen, wenn sie selbst also keine Nozizeptoren erregen, wirken sie sensibilisierend: So können Bradykinin und Prostaglandin E2 bereits in geringer Dosis die Schwelle der Nozizeptoren für andere Reize (z. B. Hitzereize) absenken.

Abb. 2.6. Erregungs- und Sekretionsmechanismen des Nozizeptors. Schematische Darstellung eines Nozizeptors im histologischen Bild: Endaufzweigung einer afferenten Aδ- oder C-Faser mit freien Nervenendigungen. Er wird durch potenziell schädigende physikalische Reize und durch viele körpereigene Mediatoren (z. B. Bradykinin, Prostaglandine, 5-HT, H+-Ionen) erregt, sie werden in diesem Kontext als Schmerzmediatoren bezeichnet. Die Schmerzmediatoren bewirken, auch wenn sie z. B. bei niedriger Konzentration nicht zur Erregung führen, eine langdauernde Sensibilisierung (Abb. 2.5). Beispielhaft sind hier Bradykinin und Prostaglandin E2 als Schmerzmediatoren dargestellt. Eine der sensibilisierenden

2

Dies ist eine physiologische Grundlage für Formen erhöhter Schmerzempfindlichkeit (Hyperalgesie, Allodynie). Auch untereinander bewirken die algetischen Substanzen Sensibilisierungen (Abb. 2.5). Auch die Verstärkung der Synthese von Prostaglandin E2 durch Bradykinin ist als ein Mechanismus der Sensibilisierung zu sehen (Abb. 2.6). An der Membran der Nozizeptoren konnten für fast alle Schmerz- und Entzündungsmediatoren pharmakologische Rezeptoren identifiziert werden (Abb. 2.7a). Es handelt sich dabei um Proteinmoleküle, die in die Membran der Nervenendigung eingelagert sind. Sie besitzen eine räumliche Struktur, die jeweils spezifisch zu einem Mediatormolekül passt (wie ein Schlüssel zum Schloss), das als Ligand dort andocken (binden) kann und dabei den Rezeptor aktiviert. Die für nozizeptive Erregungs- und Sensibilisierungsprozesse wichtigsten Rezeptoren sind in Abb. 7a zusammengestellt. Auch die bei den Erregungsvorgängen mitwirkenden Ionenkanäle für Na+-, K+- und Ca2+Ionen sind hier aufgeführt.

Wechselwirkungen ist auch, dass Bradykinin die Synthese von Prostanglandin E2 aus Arachidonsäure begünstigt (+). COX-2-Hemmer und Kortikosteroide hemmen (–) die Prostaglandinsynthese auf verschiedenen Stufen. Im unteren Teil ist die Freisetzung von Neuropeptiden aus den Nozizeptoren dargestellt (z. B. Substanz P, CGRP,„calcitonin gene-related peptide“). Diese führen zu Vasodilatation, erhöhter Gefäßpermeabilität und Aktivierung von Mastzellen und anderen Zellen des Immunsystems, diese Vorgänge bilden die neurogene Entzündung. Der durch den Kreis hervorgehobene Ausschnitt einer einzelnen Endigung wird molekularbiologisch in Abb. 2.7 dargestellt.

32

Teil I · Grundlagen

Rezeptoren und Kanäle bestehen immer aus Proteinuntereinheiten, die in der Membran liegen und in den Intra- oder Extrazellulärraum ragen

(Abb. 2.7b). Alle diese Proteine werden über den axonalen Transport aus dem Zellkörper im Spinalganglion herangeführt, die Proteinsynthese erfolgt

Abb. 2.7a, b. Biochemische Rezeptoren und Ionenkanäle am Nozizeptor. a Für viele Schmerzmediatoren gibt es an der Membran des Nozizeptors spezifische Rezeptormoleküle, an die die Mediatormoleküle andocken und dadurch die Nozizeptoren erregen. Diese Rezeptoren sind Proteine, die im Zellkörper in den Spinalganglien synthetisiert werden. Außer den gezeigten Beispielen gibt es noch zahlreiche weitere Rezeptoren, die an der Schmerzentstehung mitwirken. Spannungsgesteuerte Ionenkanäle, auch aus Proteinen aufgebaut, wirken ebenfalls an der Erregung mit. Die Rezeptoren sind an intrazelluläre biochemische Signalkaskaden angekoppelt, die z. B. durch Phosphorylierung der Rezeptorprotei-

ne diese in ihrer Empfindlichkeit modulieren und dadurch zur Sensibilisierung der Nozizeptoren für einzelne Mediatoren führen können. Neurotrophine (Wachstumsfaktoren, z. B. NGF, „nerve growth factor“) werden über den Trk-Rezeptor aufgenommen und zum Zellkern transportiert, wo sie die Gentranskription steuern und die Proteinsynthese bedarfsgerecht umstellen können. b Rezeptorproteine bestehen aus mehreren Transmembrandomänen (hier I–VII), extrazellulären Bindungsdomänen, an die Mediatormoleküle andocken, und katalytischen Domänen, die intrazelluläre biochemische Signalkaskaden aktivieren

33 Kapitel 2 · Physiologie von Nozizeption und Schmerz

nämlich nur dort. Die Rezeptoren sind entweder mit einem Ionenkanal assoziiert, wie z. B. der Vanilloidrezeptor VR1, oder sie sind über Signalproteine (G-Proteine) an die intrazellulären biochemischen Signalkaskaden angekoppelt. Sie wirken an der Auslösung der Erregung mit, jedoch auch am intrazellulären Metabolismus bis hin zur Transkriptionskontrolle im (fernen) Zellkern. Einige Rezeptoren können auch zur Sensibilisierung der Nozizeptoren beitragen, so v. a. der VR1-Rezeptor, der Bradykinin-BK1-Rezeptor und, unter bestimmten pathophysiologischen Bedingungen, der adrenerge α-1-Rezeptor. Der Vanilloidrezeptor VR1 (Abb. 2.7a), 1997 entdeckt, wird besonders durch die pflanzliche Substanz Capsaicin (verursacht u. a. auch den brennenden Geschmack in Pfeffer und Paprika) aktiviert, jedoch auch durch H+-Ionen (also durch Säuren und alle Substanzen und Prozesse, die den pH-Wert in den sauren Bereich verschieben). Er ist mit einem Ionenkanal für Na+- und Ca2+-Ionen gekoppelt, bewirkt also direkt Depolarisationen und Erregungen des Nozizeptors. > Eine besondere Eigenschaft des VR1-Rezeptors ist, dass er zu einer nachhaltigen Sensibilisierung des Nozizeptors z. B. für Hitzereize führt. Diese unterbleibt bei Tieren, denen das Gen für den VR1-Rezeptor infolge einer gentechnischen Mutation (VR1-“knockout“) fehlt.

Die Sensibilisierung von Nozizeptoren ist ein komplexer Vorgang, bei dem intrazelluläre Signalwege und Prozesse beteiligt sind (Abb. 2.7a), z. B. die Phosphorylierung von Rezeptorproteinen durch Proteinkinasen. Dadurch werden die Rezeptoren für ihre Liganden empfindlicher oder es kommt zu überadditiven Synergien verschiedener Rezeptoren (Abb. 2.5). Auch Veränderungen der Proteinsynthese können bei einer lang andauernden Sensibilisierung mitwirken. So wird z. B. NGF („nerve growth factor“, Nervenwachstumsfaktor) von einem Trk-Rezeptor (Trk = Tyrosinkinase) erkannt (Abb. 2.7a), in den Intrazellulärraum aufgenommen und zum Zellkern transportiert. Dort wird z. B. eine verstärkte Transkription des Gens für Substanz P induziert, die Synthese und damit auch die Konzentration von Substanz P im Neuron steigen an. Dadurch kann auch mehr Substanz P freigesetzt werden, die neurogene Entzündung und die synaptische Erregung im Rückenmark

2

werden verstärkt. Diese Ereigniskette bedeutet eine nachhaltige Sensibilisierung, die sich am peripheren und spinalen Ende der afferenten Neurone manifestiert, d. h. am Nozizeptor und an der synaptischen Übertragung im Rückenmark.

Neurogene Entzündung Substanz P, CGRP („calcitonin gene-related peptide“) und andere Neuropeptide werden bei der Erregung von Nozizeptoren aus den Nervenendigungen vermehrt freigesetzt. Dies führt zu Entzündungsphänomenen, wir sprechen von der neurogenen Entzündung. > Die Nozizeptoren haben also nicht nur sensorische, sondern auch neurosekretorische Funktionen (Abb. 2.6).

CGRP bewirkt eine starke Vasodilatation, Substanz P eine Permeabilitätssteigerung der lokalen Kapillaren, wodurch es zu einer Erhöhung der lokalen Durchblutung und zum Austritt von Plasmabestandteilen aus den Blutkapillaren (Extravasation, z. B. Plasmakinine) kommt. Außerdem bewirkt Substanz P die Freisetzung von Histamin aus Mastzellen und von Zytokinen (z. B. Tumornekrosefaktor-α, ΤΝF-α) aus Entzündungszellen. Die bei akuten Schadensreizen innerhalb von Minuten ausgelöste neurogene Entzündung ist als sinnvolle Abwehrreaktion zu sehen, mit der bei einer Verletzung eindringende Fremdsubstanzen schneller beseitigt und die Wundheilung beschleunigt werden. > Durch Substanz P, Histamin, Plasmakinine und Zytokine können jedoch Nozizeptoren weiter sensibilisiert werden, was besonders dann bedeutsam ist, wenn die neurogene Entzündung pathophysiologisch längere Zeit andauert.

Hierbei kann es auch zu einem selbstverstärkenden Fehlregulationskreis vom Typ des „positive feedback“ kommen, der an der Aufrechterhaltung von lang andauernden Entzündungsprozessen und Schmerzen mitwirkt. Insbesondere bei Patienten mit rheumatischen Erkrankungen, Fibromyalgie und Migräne wurden lokal erhöhte Konzentrationen von CGRP und Substanz P nachgewiesen, was als Zeichen einer neurogenen Komponente des chronisch verlaufenden Entzündungsgeschehens interpretiert wird.

34

Teil I · Grundlagen

Das multiple Zusammenwirken verschiedener neuro- und vasoaktiver Substanzen zeigt die Komplexität der Mechanismen, die an der Schmerzentstehung und -aufrechterhaltung und schließlich auch an peripheren Mechanismen der Chronifizierung beteiligt sein können.

2.4

Mechanismen der Analgesie im peripheren Nervensystem

Die Entstehung von Schmerz unter Beteiligung von Prostaglandin E2 und anderen Abkömmlingen der Arachidonsäure (Abb. 2.6) kann einen Teil der analgetischen Wirkung von Acetylsalicylsäure und anderen NSAID („non-steroidal anti-inflammatory drugs“) biochemisch erklären. Sie hemmen nämlich das Enzym Cyclooxygenase (COX), das die Synthese von Prostaglandinen, Prostacyclinen und Thromboxanen aus der Arachidonsäure steuert. Bei Hemmung der COX werden, entsprechend der dadurch verringerten Konzentration dieser algetischen Substanzen, auch Erregung und Sensibilisierung von Nozizeptoren schwächer, ebenso die Zeichen der Entzündung. Auch die Kortikosteroide entfalten ihre entzündungshemmende und analgetische Wirkung u. a. über die Stoffwechselkette der Arachidonsäure: Sie hemmen eine Phospholipase, die die Bildung von Arachidonsäure aus Phospholipiden steuert (Abb. 2.6). > Neuerdings wurden sog. COX-2-Hemmer in die Schmerz- und Entzündungstherapie eingeführt, die Coxibe. Sie hemmen selektiv die bei Schmerz und Entzündung beteiligte Enzymvariante COX-2.

Die Isoform COX-1 wirkt bei vielen Regulationsfunktionen in den inneren Organen mit, sie wird durch die selektiven COX-2-Hemmer nicht beeinflusst. Die COX-1-Hemmung durch die undifferenziert auf beide Isoformen der COX wirkenden klassischen NSAID ist verantwortlich für die unerwünschten Nebenwirkungen wie Magenblutung, Entstehung von Magengeschwüren und allergische Reaktionen, die besonders bei einer Dauerbehandlung mit NSAID problematisch werden können. Entsprechend sind diese Nebenwirkungen bei der Behandlung mit COX-2-Inhibitoren wesentlich geringer. Die Coxibe stellen eine Erweiterung des Spektrums der entzündungshemmenden Analgetika dar, die u.a. doe älteren Patienten be-

trifft, mit erhöhtem Risiko für gastro-intestinale Blutungen.

Zentralnervöse Mechanismen von Nozizeption und Schmerz

2.5

Über die Funktion des Zentralnervensystems (ZNS) bei Schmerzwahrnehmung und Schmerzverhalten hat die neuere Forschung an Mensch und Tier einen enormen Gewinn an Wissen erbracht. Ein lokalisierbares „Schmerzzentrum“, etwa vergleichbar mit den räumlich geordneten thalamokortikalen Projektionen von Tastsinn, visuellem und auditorischem System, gibt es wahrscheinlich nicht. > Man muss annehmen, dass Schmerz auf dem Zusammenwirken vieler Hirnsysteme beruht.

2.5.1

Funktionelle Neuroanatomie

Zur ersten Orientierung kann man Teilaspekte des Schmerzgeschehens bestimmten zentralnervösen Strukturen zuordnen (Abb. 2.8): 쎔 Im Rückenmark wird die Information aus den Nozizeptoren zu antinozizeptiven motorischen und sympathischen Reflexen verarbeitet. 쎔 Im Hirnstamm werden diese Informationen in die Steuerung von Kreislauf und Atmung integriert, wobei ebenfalls Schutz- und Abwehrmechanismen gegen die Schmerzsituation auftreten.. 쎔 Der Thalamus im Zwischenhirn ist, vereinfacht, als eine Art Verteilerstation für alle Sinnesinformationen zu sehen, hier werden auch schmerzbezogene Informationen zum Endhirn, zum Hypothalamus und zur Hypophyse (endokrines System) weitergemeldet. 쎔 Die Großhirnrinde ist zuständig für die bewusste Erkennung und Lokalisation von Schmerzen sowie für zielgerichtete Handlungen zu deren Beseitigung, während die Tätigkeit des limbischen Systems die emotional-affektiven Inhalte der Schmerzwahrnehmung bestimmt. Die genannten Teile des ZNS wirken in einem komplexen Wechselspiel zusammen. Schmerz, in der Vielfalt seiner Erscheinungsformen mit sensorischen, motorischen, vegetativen, affektiven und

35 Kapitel 2 · Physiologie von Nozizeption und Schmerz

2

Abb. 2.8. Übersicht über das zentralnervöse Schmerzsystem. Über die Hinterwurzeln treten die nozizeptiven Informationen in das Rückenmark ein. Dort werden sie in die spinalen motorischen und sympathischen Reflexe integriert und in aufsteigenden Systemen zum Gehirn verschaltet. Bei der Verarbeitung im Rückenmark konvergieren Informationen aus der Haut und den inneren Organen. Nozizeptive Information wird bereits hier durch hemmende Systeme kontrolliert. Der Thalamus im Zwischenhirn ist eine universelle Verteilersta-

tion für fast alle sensorische Systeme. Von dort gelangt nozizeptive Information zum somatosensorischen Kortex (kognitive Funktionen) sowie zum limbischen System (affektive Funktionen) mit dem Gyrus cinguli im medialen Kortex (Abb. 2.13). Das Schmerzsystem steht unter vielfältiger hemmender Kontrolle. Ein wichtiger „Knotenpunkt“ liegt im periaquäduktalen Grau (PAG) des Mittelhirns, von hier gehen Hemmungseinflüsse sowohl absteigend zum Rückenmark als auch aufsteigend zum Vorderhirn

kognitiven Komponenten, ist das Ergebnis dieses Zusammenwirkens. Die periphere nozizeptive Information wird im Hinterhorn des Rückenmarks auf zentralnervöse Neurone umgeschaltet. Diese Information wird zunächst lokal, also im Rückenmarksegment, in die motorischen bzw. vegetativen Reflexe einbezogen. Die Weiterleitung zum Gehirn erfolgt v. a. über den kontralateralen Vorderseitenstrang (Tr. anterolateralis). Seine Rolle als „Schmerzbahn“ wurde v. a. daraus gefolgert, dass bei Patienten mit schwersten Schmerzzuständen die neurochirurgische Unterbrechung, die Chordotomie, eine zumindest zeitweilige Schmerzausschaltung bewirkt. Die Afferenzen aus dem Gesicht, einschließlich der Mundhöhle mit den Zähnen, projizieren zum Trigeminuskern im Hirnstamm. Diese Region funktioniert analog zum

Hinterhorn des Rückenmarks und hat auch entsprechende aufsteigende Verbindungen zum Endhirn. Der Vorderseitenstrang kann, aufgrund seiner Endigungsgebiete, unterteilt werden in den Tr. spinoreticularis und den Tr. spinothalamicus. Die Formatio reticularis ist eine weitverzweigte neuronale Struktur des Hirnstamms mit vielen sensorischen, motorischen und vegetativen Funktionen. Sie können heute zunehmend den von hier zum Vorderhirn und Rückenmark projiziernden, neurochemisch identifizierten Neuronensystemen mit Noradrenalin, Serotonin (5-HT) und Dopamin als Neurotransmittern zugeschrieben werden. Dazu gehört v. a. auch das „aufsteigende retikuläre aktivierende System“ (ARAS; zum Kortex), das für die Wachheits- und Aufmerksamkeitssteuerung zuständig ist und besonders auf Schmerzreize anspricht.

36

Teil I · Grundlagen

> Auch die Beeinflussung des kardiovaskulären und des respiratorischen Systems durch Schmerzreize ist in der Formation reticularis lokalisiert.

Im Thalamus finden wir Endigungen des Tr. spinothalamicus und des Tr. trigeminothalamicus in den medialen und lateralen Kerngruppen. Die medialen Thalamusgebiete stehen mehr mit dem limbischen System und dem Hypothalamus in Verbindung, während über den lateralen Thalamus Schmerzinformationen zum thalamokortikalen System der Somatosensorik gelangt. Das thalamokortikale System ist für Tastsinn und Propriozeption gut untersucht (Zimmermann 2000). Wir finden topographisch geordnete Projektionen für die niederschwelligen Mechanorezeptoren der Haut im lateralen Thalamus (Ventrobasalkomplex) und im somatosensorischen Kortex (Gyrus postcentralis). Hier finden auch Diskrimination und Lokalisation von Schmerzreizen der Haut statt, jedoch ist neurophysiologisch noch nicht klar, wie dabei die Informationen aus Nozizeptoren eingebunden sind. Möglicherweise spielt hier eine Populationskodierung eine Rolle, bei der niederschwellige Mechano- und Thermorezeptoren sowie Nozizeptoren zusammenwirken. Hirnreizversuche bei wachen Patienten, die im Zusammenhang mit neurochirurgischen Operationen durchgeführt wurden, haben Folgendes ergeben: 쎔 Reizung im lateralen somatosensorischen Thalamus und auf dem Gyrus postcentralis des Kortex führt zu Parästhesien (Kribbelempfindungen), die aus umschriebenen Regionen der Körperperipherie zu kommen scheinen. Die Parästhesien sind manchmal ähnlich wie die natürlichen Empfindungen bei Hautreizung (Berührung,Wärme, Kälte), Schmerzwahrnehmungen wurden allerdings äußert selten berichtet. 쎔 Bei Stimulation im medialen Thalamus haben die Patienten keine deutliche Wahrnehmung der Reizung. Es kommt aber häufig zu unangenehmen Stimmungen (Dysphorie) und Angstzuständen. > Aus solchen Beobachtungen wird geschlossen, dass selektive Erregung des thalamokortikalen Systems der Somatosensorik nicht hinreichend für die Schmerzwahrnehmung ist.

Auch die selektive Erregung des medialen Thalamus (mit Anbindung an das limbische System) führt nicht zur Schmerzwahrnehmung, wohl aber zu affektiven Begleitphänomenen von Schmerzen. Wahrscheinlich ergibt erst die simultane Erregungen beider Hirnbereiche das konzertierte Erregungsmuster des Schmerzes mit kognitiven und affektiven Komponenten. Neuere Erkenntnisse mit bildgebenden Verfahren stützen diese Sichtweisen, (Abb. 2.9), unter der Bezeichnung Pain Matrix wird für die schmerzrelevanten Endhirnstrukturen eine Konzeptbildung versucht.. Neurochirurgische Ausschaltungen durch stereotaktisch platzierte lokalisierte Erhitzung (Koagulation) mit Hochfrequenzstrom werden zur Behandlung von extremen Schmerzzuständen und schwer belastenden motorischen Störungen (bei der Parkinson-Krankheit) eingesetzt. Dabei können Läsionen sowohl im medialen Thalamus als auch in den lateralen somatosensorischen Kernen schmerztherapeutisch erfolgreich sein (Hassler 1960). Auch aus diesen klinischen Befunden wurden auf eine „zweigleisige“ zentralnervöse Funktion beim Schmerz geschlossen, also mit affektiven und kognitiven Aspekten, entsprechend der Zuordnung zum medialen und lateralen Thalamus. Wir können davon ausgehen, dass diese Betrachtungsweise stark vereinfachend ist.

2.5.2

Schmerz in der Bildgebung des menschlichen Gehirns

Schmerzbezogene Vorgänge im Gehirn des Menschen lassen sich durch die folgenden Verfahren der computerbasierten Bildgebung sichtbar machen: 쎔 Landkarten („mapping“) der ereigniskorrelierten Potenziale mit EEG-Elektroden: es können v. a. oberflächennahe kortikale neurophysiologische Vorgänge schnell und mit guter zweidimensionaler Auflösung erfasst werden; 쎔 ereigniskorrelierte Magnetfelder: es können mit der Magnetenzephalographie (MEG) schnelle Ströme auch in tiefen Hirnregionen erfasst und räumlich als Dipole dargestellt werden;

쎔 funktionelle

Magnetresonanztomographie (fMRT), bei der Veränderungen der regionalen

Durchblutung als Aktivitätsindikator unter regelmäßig wiederholten Reizen dargestellt werden;

37 Kapitel 2 · Physiologie von Nozizeption und Schmerz

Abb. 2.9a, b. Schmerzbild des menschlichen Gehirns, mit PET sichtbar gemacht. Mit der Positronenemissionstomographie (PET) werden Regionen verstärkter Durchblutung im Gehirn nachgewiesen. Die Abbildungen zeigen den Neokortex (a) und die mediale Hirnoberfläche (b), die also zur Längsfurche zwischen den Hirnhälften hin gerichtet ist, von einer Versuchsperson (VP) während eines Schmerzexperiments. Durch Injektion einer Alkohollösung in den Oberarm der VP wird ein vorübergehender Schmerz erzeugt. Durch PET (wei-

쎔 Positronenemissionstomographie (PET), bei der eine stationär veränderte regionale Blutflussänderung als Indikator für neuronale Aktivität dargestellt wird, der Nachweis geschieht hier über ein in das Blut injiziertes kurzlebiges Radioisotop. Mit allen 4 Methoden wurden zahlreiche Untersuchungen der Hirnaktivität beim Menschen unter experimentellen Schmerzreizen durchgeführt, z. T. auch bei Schmerzpatienten. : Fallbeispiel In Abb. 2.9 ist ein Beispiel eines „Schmerzbildes“ mit PET gezeigt, als schmerzhafter Reiz diente die Injektion von Alkohol in den Oberarm. In Abb. 2.9a ist eine erhöhte regionale Durchblutung in der Hirnrinde dargestellt, man erkennt die Aktivierungen im somatosensorischen und motorischen Kortex, entsprechend der topographischen Lage der Oberarmprojektion. In Abb. 2.9b ist eine mediale Sagittalschicht dargestellt, die Aktivierungen im Gyrus cinguli und im PAG (periaqäduktales Grau des Hirnstamms) zeigt.

2

ße Areale) werden die folgenden Hirnregionen mit erhöhter Durchblutung identifiziert, die wiederum auf einer reizbedingten verstärkten neuronalen Aktivität beruht: a sensomotorische Kortexareale (SMA, MI/SI) auf dem Gyrus postcentralis und dem Gyrus praecentralis, Fühl- und Bewegungsregionen, entsprechend der Topographie der Armprojektion; b Gyrus cinguli (oben), kortikaler Teil des limbischen Systems, Affektregion, periaquäduktales Grau (PAG), Hirnstammregion v. a. für Schmerzhemmung

Dieses Beispiel ist typisch für viele Ergebnisse aus der Schmerzforschung mit Bildgebung am Menschen. Der Aktivierung des somatosensorischen Kortex (SI), über den lateralen somatosensorischen Thalamus vermittelt, wird dabei die kognitive Komponente des Schmerzerlebnisses zugeordnet. Die Aktivierung im Gyrus cinguli, der schon lange als Kortexbereich des limbischen Systems („limbischer Kortex“) angesehen wird, ist mit dem affektiven Anteil der Schmerzsituation assoziiert. Die Bedeutung der PAG-Aktivierung könnte auch einer limbischen Funktion entsprechen, denn das PAG ist bei Affen z. B. an der (affektiv bedeutsamen) Lauterzeugung beteiligt. Die Aktivierung im PAG lässt sich jedoch auch deuten im Sinne einer reaktiven Schmerzhemmung, denn von dieser Region gehen vielfältige auf- und absteigende serotoninerge Bahnen aus, die z. T. eine schmerzhemmende Funktion haben. Dies entspricht auch Ergebnissen von Tierexperimenten, bei denen durch Schmerz- und Stresssituationen verhaltensmäßig eine stressinduzierte Analgesie und neurophysiologisch die Aktivierung einer absteigenden Hemmung von Schmerzinformation im Rückenmark gezeigt wurden.

38

Teil I · Grundlagen

2.5.3

Schmerz und Bewusstsein

Es ist viel darüber gerätselt worden, wo das Substrat für die bewusste Schmerzwahrnehmung zu sehen sei. Zunächst wurde, im Sinne der klassischen Lokalisationslehre der Hirnfunktionen, nach einem umschriebenen Schmerzzentrum im Gehirn gesucht, erste Vermutungen zielten dabei auf die Großhirnrinde. Unter neurochirurgischen Operationen führte Penfield um 1935 systematisch elektrische Stimulationen der Hirnrinde an Patienten durch, die wurden später v. a. von Libet weiterentwickelt und verfeinert. Dabei konnten neben den motorischen auch die somatosensorischen Rindenfelder kartografiert werden, bei deren Reizung die Patienten über vielerlei natürliche oder fremdartige Wahrnehmungen berichteten. Unter diesen gab es jedoch praktisch keine schmerzhaften Ereignisse. Auch die neurochirurgische Abtragung von Kortexarealen auf dem Gyrus postcentralis (z. B. bei Tumor- und Epilepsieoperationen) beseitigte nicht die Fähigkeit zum Erleben von Schmerzen, während der Tastsinn schwer beeinträchtigt war. > Bei Reizungen im Thalamus und Stammhirn dagegen wurden häufig Schmerzerfahrungen berichtet, dort konnten andererseits auch schwere Schmerzzustände neurochirurgisch gebessert werden (Hassler 1960).

Aus diesen klinischen Erfahrungen wurde geschlossen, dass die Erkennung der Schmerzhaftigkeit eines Reizes nicht in der Hirnrinde, sondern bereits auf subkortikaler Ebene erfolgen muss, vielleicht im Bereich des Thalamus und des limbischen Systems. Heute wissen wir, dass die Frage nach einem umschriebenen Schmerzzentrum falsch gestellt war, der Schmerz wird heute als integrative Leistung vieler kooperierender Hirnbereiche gesehen.

Die bewusste Schmerzwahrnehmung ist sicherlich nur der „Gipfel des Eisbergs“ der Reaktionen, die im Zentralnervensystem und im Körper bei Schmerzreizen ablaufen. Viele dieser physiologischen Vorgänge lassen sich auch noch nachweisen, wenn das Bewusstsein ausgeschaltet ist. So zeigen Patienten, die z. B. nach einem Schädel-Hirn-Trauma bewusstlos sind, viele Reaktionen auf Schmerzreize,

Gibt es unbewusste Schmerzen?

wie sie auch bei wachen Menschen vorkommen: Wir sehen kardiovaskuläre und respiratorische Reaktionen, Tränensekretion (Weinen), Pupillenerweiterung, unartikulierte Lautäußerungen. Ähnliche Reaktionen können auch an narkotisierten Patienten beobachtet werden, je nach Narkosetiefe. > Es gibt Anzeichen dafür, dass diese unbewussten Vorgänge im ZNS auch in die Zeit nach der Narkose wirken und sogar erinnerbar sind. Die auch normalerweise immer ablaufenden unterund unbewussten Phänomene müssen als eine wichtige „unsichtbare“ Basis für Schmerzwahrnehmungen beim wachen Menschen angesehen werden.

Beobachtungen vergleichbarer Verhaltensreaktionen bei Tier und Mensch haben dazu geführt, auch Tieren die Fähigkeit zuzusprechen, Schmerzen zu erleben und zu erleiden. Bei der Einführung dieser pragmatisch-operationalen Definition von Schmerz bei Tieren wurde der Begriff „Bewusstsein“ zunächst sogar ausgeklammert. Auch beim Fetus wird aufgrund von Beobachtungen des Verhaltens und der physiologischen und endokrinen Reaktionen angenommen, dass noxische Reize im Nervensystem zu nachhaltigen Veränderungen führen, die als eine frühe Form von Schmerzerleben angesehen werden können (Zimmermann 1991a, 2004). Ein wichtiges Kriterium zu der Frage, ab wann man in der fetalen Entwicklung von Schmerzerleben sprechen kann, ist die Fähigkeit zur Gedächtnisbildung, die aus Untersuchungen der klassischen und operanten Konditionierung bei Feten und Frühgeborenen gesichert ist. Dieses Schmerzgedächtnis bietet die Möglichkeit, die Konzepte für „Schmerzerlebnis“ und „Schmerzleiden“ zu erweitern und vom sprachlich orientierten Bewusstsein des Menschen unabhängig zu machen. Bereits aus dieser kurzen Erörterung über Erscheinungen bei Mensch und Tier sollte deutlich werden, dass es nicht gerechtfertigt ist, den Gesamtkomplex des Schmerzes einzuengen auf die Erlebniswelt des wachen Menschen, die in ein (überwiegend) sprachlich organisiertes Bewusstsein eingeordnet ist.

39 Kapitel 2 · Physiologie von Nozizeption und Schmerz

2.5.4

Physiologie zentralnervöser Verarbeitung von nozizeptiven Reizen

Neurophysiologische Untersuchungen am ZNS werden vorwiegend an narkotisierten Versuchstieren (Ratten, Katzen, Affen) durchgeführt. Wir registrieren dabei mit Mikroelektroden die Antworten einzelner Neurone im Rückenmark oder Gehirn auf nozizeptive Reize wie Erhitzung der Haut, intraarterielle Injektion von Bradykinin, Dehnung des Darms. Die nozizeptive Information erscheint in 2 Arten von zentralen Neuronen, nämlich: 쎔 spezifisch nozizeptive Neurone, die ausschließlich durch die noxischen Reize erregt werden (Class 3);

Abb. 2.10a–c. Verschaltung somatosensensorischer Information im Rückenmmark, hier ohne Berücksichtigung von Hemmungsvorgängen. a Afferente Neurone des peripheren Nervensystems sind synaptisch erregend mit Neuronen des Hinterhorns verbunden. Die Hinterhornneurone können nach ihrem afferenten Zustrom wie folgt klassifiziert werden: Class-2-Neurone erhalten ihren afferenten Zustrom konvergierend von niederschwelligen Mechanozeptoren der Haut (Aβ-Fasern) und Nozizeptoren (Aδ- und C-Fasern), Class-3Neurone werden nur von Nozizeptoren aktiviert. Aus beiden Populationen von Neuronen ziehen lange Axone über den Vorderseitenstrang zum Gehirn. Kollateralen der afferenten Aβ-Fasern bilden die Hinterstrangbahn (Tastsinn). Informa-

2

쎔 multirezeptive oder multifunktionale Neurone, bei denen nozizeptive Afferenzen eine unter mehreren Arten von Eingängen darstellen (Class 2). Die spezifisch nozizeptiven Neurone werden im Experiment viel seltener als die multifunktionalen Neurone verzeichnet, man findet sie zudem immer seltener, je weiter man im somatosensorischen System von der Peripherie zum Endhirn aufsteigt.

Neurone des Rückenmarks Die neuronalen Grundlagen der Verarbeitung von schmerzhaften Reizen sind im Rückenmark besonders gut untersucht worden, sie sollen beispielhaft für zentralnervöse Mechanismen erörtert werden (Abb. 2.10). Im Hinterhorn finden wir die

tionen aus Nozizeptoren und anderen Rezeptoren der Haut werden auch in die spinalen motorischen und sympathischen Funktionen integriert. b Entladung eines Class-3-Neurons bei noxischer Hitzereizung der Haut, mit einer Mikroelektrode am narkotisierten Tier registriert. Kontrollierte Strahlungshitze erregt, entsprechend seiner Flächenausdehnung und Intensität, zahlreiche Nozizeptoren, die auf das Neuron konvergieren. Die Entladung des Hinterhornneurons überdauert den Hitzereiz (Temperatur: 50 °C; 10 s; Zeitverlauf in der unteren Registrierung), im Gegensatz zum Nozizeptor (Abb. 2.4). c Intensitätskennlinie eines Hinterhornneurons, also Zusammenhang zwischen maximaler Entladungsfrequenz (Ordinate) und Hauttemperatur (Abszisse) bei Hitzereizung

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Teil I · Grundlagen

genannten 2 Typen von Neuronen mit nozizeptivem Input. In einer grundlegenden Arbeit (Handwerker et al. 1975) wurden sie als Class-2-Neurone (multirezeptive Neurone) und Class-3-Neurone (spezifisch nozizeptive Neurone) bezeichnet: 쎔 Auf Class-2-Neurone konvergieren Afferenzen aus niederschwelligen Mechanorezeptoren der Haut (Aβ-Fasern) und Nozizeptoren (Aδ- und C-Fasern), sie werden heute vielfach auch als WDR- („Wide-dynamic-range“-)Neurone bezeichnet. 쎔 Class-3-Neurone werden nur durch nozizeptive Afferenzen erregt, man findet sie v. a. in der Substantia gelatinosa, der dorsalen Schicht des Hinterhorns. Hier enden v. a. afferente Aδ- und C-Fasern, unter denen ja die Nozizeptoren überwiegen. Die Class-1-Neurone dieser Klassifikation erhalten nur niederschwellige mechanosensitive Afferenzen für Tastsiun imd Propriozeption, sie werden hier nicht weiter erörtert. Das Hinterhornneuron, Station der ersten synaptischen Umschaltung der nozizeptiven Afferenzen, ist das Bindeglied zu drei Ausgängen: motorische Reflexe, Sympathiskusreflexe, aufsteigende Bahnen zum Gehirn. Hier findet aber nicht nur eine Informationsübertragung an erregenden Synapsen statt, die Schmerzinformation kann bereits im Hinterhorn durch Hemmung modifiziert werden. Details hierzu werden in einem späteren Abschnitt erörtert (s.„Schmerzhemmung im Zentralnervensystem“). Als gut dosierbarer nozizeptiver Reiz für neurophysiologische Untersuchungen ist Strahlungshitze geeignet, mit Hauttemperaturen zwischen 45 und 50 °C. Dies ist ein weitgehend selektiver nozizeptiver Reiz: Er erregt Nozizeptoren, jedoch keine niederschwelligen Mechanorezeptoren, was für Untersuchungen zur Nozizeption im Zentralnervensystem eine ideale Bedingung darstellt. In Abb. 2.10b ist die Entladung eines Hinterhornneurons (Class 2) der Katze bei Hitzereizung der Haut gezeigt. Die maximale Entladungsfrequenz des Neurons steigt mit der Hauttemperatur an (Abb. 2.10c), die Entladungsfrequenz enthält also Information über die Intensität des schmerzhaften Hitzereizes. Hier kommt die bereits bei den Nozizeptoren gefundene Intensitätskodierung (Abb. 2.4) zum Ausdruck.

> Die Entladungsfrequenzen von Hinterhornneuronen können allerdings vielfach höher sein als die einzelner hitzeempfindlicher Nozizeptoren. Dies kann mit der Konvergenz vieler nozizeptiver Afferenzen auf jedes Neuron erklärt werden.

Konvergenz und Divergenz sind grundlegende Funktionsprinzipien des Zentralnervensystems. Auffällig ist das langsame Abklingen der Entladung nach Beendigung des Hitzereizes (Abb. 2.10b). Diese Nachentladung ist charakteristisch für die Erregung von Neuronen im ZNS durch noxische Reize; sie kann als neurophysiologisches Korrelat für die Nachempfindung bei Schmerzreizen angesehen werden. Die Nachentladung entsteht im Rückenmark, z. B. infolge der langsamen Kinetik eines beteiligten erregenden Neurotransmitters, dabei handelt es sich wahrscheinlich um Substanz P. Viele Neurone der Spinalganglien mit Aδ- und C-Fasern enthalten Neuropeptide, am häufigsten sind CGRP („calcitonin gene-related peptide“) und Substanz P (Abb. 2.6). Werden diese Fasern erregt, dann werden die Neuropeptide aus den präsynaptischen Endigungen im Rückenmark freigesetzt und wirken als Neurotransmitter erregend auf die Hinterhornneurone. Lokale Mikroanwendung synthetischer Substanz P führt tatsächlich zur Erregung von Hinterhornneuronen, besonders von solchen, die auch durch Schmerzreizung der Haut aktiviert werden können. Anstieg und Abfall der Entladungsfrequenz haben einen langsamen Zeitgang, ähnlich wie die Erregung durch Hitzestimulation der Haut (Abb. 2.10b). Die Neurone haben spezifische postsynaptische Rezeptoren für Substanz P, die NK1-Rezeptoren (NK = Neurokinin) und für CGRP. Gleichzeitig wird aus den präsynaptischen Endigungen der Afferenzen auch Glutamat freigesetzt, ein universeller erregender Transmitter des Zentralnervensystems.

Spinale Mechanismen des übertragenen Schmerzes Der englische Neurologe Sir Henry Head hat 1893 über Beobachtungen berichtet, wonach bei Erkrankungen innerer Organe vom Patienten Schmerzen aus charakteristischen Hautarealen empfunden werden (Hansen u. Schliack 1962). Diese Head-Zonen (Abb. 2.11) zeigen zudem eine erhöhte Empfindlichkeit für äußere Reize: Berührungsreize können als schmerzhaft empfunden werden, wir sprechen von einer Allodynie oder

41 Kapitel 2 · Physiologie von Nozizeption und Schmerz

2

Abb. 2.11. Übersicht über einige typische Head-Zonen innerer Organe mit Angabe der zugehörigen Rückenmarksegmente. (Aus Ewald 1964)

Hyperpathie. Es kann auch zu übertrieben starken Wahrnehmungen von Schmerzreizen kommen, Hyperalgesie genannt. Oft treten dabei auch Zonen vermehrter Muskelspannung auf (z. B. harte Bauchmuskeln bei akut entzündlichen Vorgängen im Bauch). Wie kommen diese Erscheinungen zustande? Man kann sie durch die Konvergenz sensorischer Fasern im Rückenmark erklären (Abb. 2.8). Viele Hinterhornneurone erhalten nämlich Input aus den Afferenzen der inneren Organen und der Haut. Dabei wird die gemeinsame embryonale Herkunft von Hautbezirk, innerem Organ und Rückenmarksegment beibehalten.

Innervation und mangels täglicher Erfahrung, im Körperbild nicht deutlich repräsentiert. Die viszeralen Afferenzen, die über die Hinterwurzeln in das Rückenmark einlaufen, erzeugen auch motorische Reflexe. So kann z. B. eine Blinddarmentzündung reflektorisch zu einer verspannten Bauchmuskulatur führen. Aus der sorgfältigen Beobachtung dieser algetischen Krankheitszeichen – also Schmerzübertragung, Hyperalgesie der Head-Zone, Muskelverspannung – kann der Arzt wichtige diagnostische Hinweise auf das erkrankte innere Organ erhalten (Hausen u. Schliack 1962).

> Wegen der Konvergenz viszeraler und kutaner

Auf die inneren Organe können wir von der Haut aus auch therapeutisch einwirken – wir sprechen von Reflextherapie. Hier nutzt man die kutiviszeralen sympathischen Reflexe aus, sowie die von der Haut ausgehenden Einflüsse auf die nervöse Steuerung der Skelettmuskulatur. Massage, Bindegewebsmassage, Wärme- und Kältebehandlung, transkutane elektrische Nervenstimulation, Neuraltherapie und Akupunktur sind zu diesen reflextherapeutischen Verfahren zu rechnen. Eine Einführung in Theorie und Praxis dieser Therapieverfahren gibt Conradi (1990).

Afferenzen auf dieselbe Population von Hinterhornneuronen wird bei der Weiterleitung der afferenten Information zum Gehirn die Herkunft der Erregung mehrdeutig, beim Wahrnehmungsprozess werden Erregungen aus inneren Organen auf die Haut fehllokalisiert.

Dabei wirkt auch mit, dass sich unser erlerntes Körperbild überwiegend auf die Körperoberfläche bezieht, unsere inneren Organe sind, wegen des Fehlens einer empfindlichen mechanorezeptiven

Reflextherapie von Schmerzzuständen

42

Teil I · Grundlagen

Nozizeptive Neurone im Gehirn

zizeptive Reize erregt werden. Um die Bedeutung der schmerzbezogenen Information in solchen „vielseitigen“ Neuronen zu erfassen und zu verstehen, ist das Experimentieren an einem narkotisierten, unbeweglichen Tier nicht ausreichend. Ein methodisch sinnvoller Ansatz zur Erforschung der funktionellen Bedeutung zentralnervöser Neurone ist die Wachtierableitung (Abb. 2.12). Dabei werden einzelne Neurone am

nichtnarkotisierten, frei beweglichen Tier registriert. Die Halterung für die Mikroelektroden wurde vorher unter Narkose am Schädelknochen befestigt (Abb. 2.12a). Wenn das Tier noxisch gereizt wird (z. B. Erhitzung der Haut), dann antwortet es mit nozizeptivem Verhalten. Dieses Verhalten kann ein Reflex (Abb. 2.1) oder eine gelernte Reaktion sein. Eine gelernte Reaktion ist z. B. das Betätigen eines Schalters mit einer Pfote, um einen Hitzereiz abzuschalten. Durch Futterbelohnung kann man das Tier z. B. trainieren, einen Hitzereiz einzuschalten, der dann, bei Wiederholungen, langsam in seiner Intensität gesteigert wird. Wenn der Hitzereiz wegen zunehmender Schmerzhaftigkeit vom Tier nicht mehr toleriert wird, kann es ihn abschalten. Durch Belohnung (z. B. bevorzugtes Futter) lässt sich das Tier konditionieren, seine Schmerztoleranz zu erhöhen. So kann auch der Einfluss anderer Motivationen (z. B. soziale und sexuelle Bedürfnisse, Neugier) auf das Schmerzverhalten untersucht werden. Bei solchen Wachtierableitungen führt das Tier die nozizeptive Reaktion wiederholt aus, während gleichzeitig die Entladungen zentralnervöser

Abb. 2.12a, b. Wachtierableitung bei nozizeptivem Verhalten. a Bei einer Katze wurde unter Narkose eine Halterung am Schädelknochen implantiert, an der später ein Gerät zur Einführung einer Mikroelektrode ins Gehirn angebracht werden kann. So können am freibeweglichen Tier die Entladungen einzelner Neurone registriert werden. b Die Katze wird trainiert, mit den Hinterfüßen auf beheizbaren Platten (Thermoden) zu stehen. c Steigt die Temperatur des Fußes nach Einschaltung des Hitzereizes an der Thermode langsam an, dann

beginnt das Tier bei einer bestimmten Temperatur, den Fuß wiederholt hochzuheben. Da diese Reaktion etwa bei 45 °C beginnt, kann sie als Ausdruck für die Wahrnehmung eines Hitzereizes betrachtet werden. Die veränderte Entladung eines Thalamusneurons kann mit dem Hitzereiz oder dem dadurch ausgelösten motorischen Verhalten des Tieres korreliert werden. Das Tier wurde trainiert, den Hitzereiz selbst abzuschalten. (Nach Brinkhus, Schlenker und Zimmermann, unveröffentlicht)

Neurone, die nozizeptive Informationen aus der Peripherie erhalten, wurden in vielen Gehirngebieten gefunden: 쎔 Formatio reticularis des Hirnstamms, 쎔 medialer und lateraler Thalamus, 쎔 Corpus striatum, das zum motorischen System und auch zum limbischen System gerechnet wird, 쎔 Substantia nigra, 쎔 somatosensorischer Kortex, besonders Region SII (Zimmermann 2000). Es handelt sich dabei fast ausschließlich um multifunktionale Neurone, die also u. a. auch durch no-

43 Kapitel 2 · Physiologie von Nozizeption und Schmerz

Neurone registriert werden. Man kann nun das Entladungsverhalten dieser Neurone überprüfen auf eine Beziehung (Korrelation) mit Parametern des noxischen Reizes, des nozizeptiven Verhaltens oder der Motivation. Auf diese Weise ist es möglich, funktionelle Eigenschaften von Neuronen im Kontext des schmerzbedingten Verhaltens aufzuklären.

2.6

Schmerzhemmung im Zentralnervensystem

2.6.1

Übersicht

Die Arbeit des Zentralnervensystems beruht auf einer Vielfalt von Erregungs- und Hemmungsprozessen. Das Zusammenspiel erregender und hemmender Neurotransmitter an einem Neuron bestimmt dessen Aktivität, dies gilt auch für die Verarbeitung schmerzbezogener Informationen. Eine Übersicht der erregenden und hemmenden Transmitter an einem multirezeptiven (Class2-)Hinterhornneuron im Rückenmark ist in Abb. 2.13 dargestellt. Die synaptische Erregung des Neurons erfolgt über die afferenten Aβ-, Aδ- und C-Fasern. Diese enthalten alle Glutamat als universellen erregenden Transmitter des Zentralnervensystems, die C-Fasern zusätzlich noch Substanz P, CGRP und andere Neuropeptide. Postsynaptisch besitzt das Neuron spezifische pharmakologische Rezeptoren für die Neurotransmittersubstanzen, ganz ähnlich wie die Rezeporen für Schmerzmediatoren an den Nozizeptoren (Abb. 2.7). Der Rezeptor für Substanz P ist der NK1Rezeptor (NK=Neurokinin), für Glutamat gibt es eine größere Anzahl verschiedener postsynaptischer Rezeptoren, die verschiedene Funktionen haben. Im nozizeptiven System ist v. a. der NMDARezeptor (NMDA=N-Methyl-D-Aspartat) von großer Bedeutung, er wirkt v. a. an neuroplastischen Prozessen mit, die zur Sensibilisierung des zentralen Schmerzsystems beitragen. Solche Sensibilisierungsvorgänge treten besonders bei wiederholten und längerdauernden nozizeptiven Erregungen auf, wobei Substanz P und Glutamat gleichzeitig freigesetzt werden. Auch die Funktion der hemmenden Vorgänge im Schmerzsystem ist am besten an den Hinterhornneuronen des Rückenmarks untersucht

2

(Abb. 2.13). Wir können hier 2 Arten von hemmenden Einflüssen unterscheiden: 쎔 von spinalen hemmenden Interneuronen (segmentale Hemmung), 쎔 aus supraspinalen Regionen (absteigende Hemmung). > Es können sowohl die zum Gehirn weitergeleiteten Informationen über Schmerzreize als auch nozizeptive sympathische und motorische Reflexe abgeschwächt werden.

Abb. 2.13. Übersicht über pharmakologisch und histochemisch identifizierte erregende und hemmende Neurotransmitter und Neuromodulatoren im Hinterhorn. Als erregende Mediatoren in den nozizeptiven Afferenzen wurden v. a. Substanz P, CGRP („calcitonin gene-related peptide“) und Glutamat identifiziert, die über postsynaptische Rezeptoren (NK1, NMDA) die Hinterhornneurone erregen. Dabei kann es zu Langzeitveränderungen der Erregbarkeit in Richtung einer Sensibilisierung und Hyperalgesie kommen, wobei meistens NK1- und NMDA-Rezeptoren gleichzeitig aktiviert werden. Hemmung wird durch lokale spinale Neurone (hier mit Enkephalin, GABA und Glyzin als hemmende Transmitter) sowie durch deszendierende Bahnen (hier mit Serotonin und Noradrenalin als hemmende Transmitter) ausgübt. Die funktionelle Bedeutung von Somatostatin ist noch unklar, denn pharmakologisch bewirkt die Applikation von Somatostatin am Rückenmark immer eine Hemmung, weshalb der Somatostatinsynapse eine hemmende Funktion zugeschrieben wird

44

Teil I · Grundlagen

Bei der Hemmung von schmerzbezogenen Informationen im Hinterhorn spielen besonders Enkephalin, Endomorphin, 5-Hydroxytryptamin (5HT, Serotonin) und Noradrenalin eine Rolle. GABA und Glyzin, die besonders bei der neuronalen Steuerung der Skelettmotorik mitwirken, sind auch bei der Hemmung von Schmerzinformation beteiligt. Diese hemmenden Transmitter wirken über spezifische postsynaptische Rezeptoren, die das Neuron hyperpolarisieren oder präsynaptisch die Ausschüttung des Transmitters aus erregenden Afferenzen kontrollieren. So wird z. B. die Freisetzung von Substanz P über präsynaptische Hemmung durch Opioide stark gehemmt (Abb. 2.13). Hemmende spinale Neurone können die Übertragung der afferenten nozizeptiven Information bremsen und die Schmerzempfindlichkeit eines Menschen oder Tieres modulieren. Wie in Abb. 2.8 angedeutet, gibt es viele physiologische, pharmakologische und psychologische Methoden, die schmerzhemmenden Mechanismen zu aktivieren. Die hemmenden Mechanismen können durch medikamentöse Gabe eines Agonisten des jeweiligen Transmitters schmerztherapeutisch aktiviert werden, z. B. bei der Morphintherapie. Morphin, mit einem Katheter am Rückenmark appliziert, führt bereits bei sehr niedriger Dosierung zu einer wirkungsvollen Analgesie, die therapeutisch besonders dann ausgenutzt wird, wenn die orale Morphintherapie zu hohe Dosierungen erfordert. Somatostatin, ein Neuropeptid, ist in vielen afferenten Neuronen des Rückenmarks enthalten. Pharmakologisch kann es erregende oder hemmende Wirkungen haben, seine Funktion bei der spinalen Informationsverarbeitung ist noch nicht geklärt. Somatostatin ist auch als regulierendes Hormon bekannt, es hemmt die Freisetzung von Wachstumshormon in der Hypophyse.

2.6.2

Absteigende Hemmung im Rückenmark

Elektrische Stimulation im Mittelhirn von wachen Ratten versetzt diese in Analgesie.Auch bei Patienten mit schwersten Schmerzzuständen wurde durch Hirnstimulation im periventrikulären Grau (Zwischenhirn) eine Schmerzlinderung bewirkt. Kleinste Mengen von Morphin, in die Hirnventrikel infundiert, bewirken bei solchen Patienten und bei Tieren ebenfalls eine Analgesie.

Einer der Mechanismen bei dieser Analgesie durch Hirnstimulation ist die absteigende Hemmung im Rückenmark (Fields u. Basbaum 1994; Gebhart et al. 1984). Sie wurde neurophysiologisch an narkotisierten Tieren analysiert. So werden nozizeptive Entladungen von Hinterhornneuronen durch Stimulation im periaqäduktalen Grau (PAG) des Mittelhirns gehemmt (Abb. 2.14 und 2.8). > Die Auswirkung auf die Kodierung der Intensität des Hitzereizes in die Antwortfrequenz des Neurons (Abb. 2.14b) lässt sich informationstechnisch als Verstärkungskontrolle („gain control“) des nozizeptiven Systems interpretieren.

Auch von anderen Regionen des Hirnstamms lässt sich eine Hemmung der Rückenmarkneurone auslösen, z. B. vom Locus coeruleus, den Raphekernen und verschiedenen Gebieten der Formatio reticularis. So wurde das Neuron der Abb. 2.14b durch Stimulation sowohl im PAG als auch in der lateralen Formatio reticularis (LRF) des Mittelhirns gehemmt. Beide Hemmungen sind aber funktionell unterschiedlich organisiert, ersichtlich aus den Wirkungen auf die Intensitätskodierung (Abb. 2.14b). Die beiden deszendierenden Hemmungssysteme unterscheiden sich auch pharmakologisch: bei Stimulation im PAG, nicht aber in der LRF, ist 5-HT als hemmender Transmitter in den absteigenden Neuronen im Rückenmark beteiligt. Bei den absteigenden Hemmsystemen sind auch Opioidmechanismen beteiligt. So lässt sich durch fokale Mikroinjektion von Morphin (z. B. 10 µg) in das PAG die nozizeptive Erregung von Rückenmarkneuronen nachhaltig hemmen. Diese Morphinwirkungen werden durch Opioidrezeptoren im PAG vermittelt, an denen physiologischerweise Endorphin angreift. Über ein neuronales Netzwerk im Hirnstamm, bei dem auch GABA als inhibitorischer Transmitter mitwirkt, wird schließlich das absteigende Hemmungssystem zum Rückenmark aktiviert. Diese pharmakologischen und biochemischen Zusammenhänge wurden detailliert von Fields u. Basbaum (1994) erörtert.

2.6.3

Hemmung durch afferente Stimulation – TENS

Auch durch elektrische Stimulation peripherer Nerven können nozizeptive Antworten von Hin-

45 Kapitel 2 · Physiologie von Nozizeption und Schmerz

2

Abb. 2.14a, b. Absteigende Hemmung von Hinterhornneuronen. a Hinterhornneurone, die z. B. durch noxische Hitze erregt werden können, stehen unter dem Einfluss absteigender Hemmungssysteme. Durch elektrische Stimulation im Mittelhirn (PAG, LRF) und durch Mikroinjektion von Morphin (PAG) kann eine absteigende Hemmung bewirkt werden. Die mit einer Mikroelektrode gemessene Antwort eines Hinterhornneurons, z. B. auf noxische Hitzereizung der Haut, wird verrin-

gert. b Die Entladung des Hinterhornneurons steigt linear mit der noxischen Hauttemperatur an (Kontrolle). Diese Intensitätskennlinie wird durch Stimulation in 2 Regionen des Mittelhirns (PAG, LRF) unterschiedlich beeinflusst. Sowohl die Abnahme der Steigung der Kennlinie als auch die Parallelverschiebung zu niedrigen Entladungsraten und höheren Temperaturschwellen sind Ausdruck der absteigenden Hemmung. (b aus Carstens et al. 1980)

terhornneuronen gehemmt werden (Abb. 2.15). Hier wurde die Hemmung beim narkotisierten Tier durch repetitive Stimulation eines Hautnervs erzeugt. Es fällt auf, dass die Hemmung sich erst allmählich während der Nervenstimulation aufbaut und die Stimulationsperiode überdauert. Stimulation der Aβ-Fasern genügt zur Auslösung der Hemmung, sie wird jedoch stärker, wenn auch die Aδ-Fasern stimuliert werden, unter denen auch nozizeptive Afferenzen enthalten sind.Auch direkte elektrische Stimulation des Rückenmarks mit epiduralen Elektroden bewirkt eine Hemmung von Hinterhornneuronen. Die Langsamkeit der Zeitverläufe in Abb. 2.15 kann auf verschiedenen Mechanismen beruhen, z. B. auf der Kinetik von Freisetzung und Abbau der beteiligten inhibitorischen Neurotransmitter (GABA, 5-HT, Enkephalin) oder auf reizbedingten Änderungen der extrazellulären Konzentrationen v. a. von K+- und Ca2+-Ionen. Zur Hemmung durch afferente Stimulation tragen sowohl spinale als

auch supraspinale Mechanismen bei. Tatsächlich konnte nachgewiesen werden, dass Neurone des PAG durch Stimulation peripherer Nerven erregt werden, wie druch die Bildgebung am Menschen vielfach belegt (Abb. 2.9b). > Es wird vermutet, dass solche Hemmungsphänomene an der Schmerzdämpfung beteiligt sind, die man bei Patienten durch transkutane elektrische Nervenstimulation (TENS), Stimulationsakupunktur und andere Gegenirritationsverfahren bewirken kann.

Im Rückenmark gibt es Opioidrezeptoren und enkephalinerge Neurone (Abb. 2.13), die z. B. auch durch afferente Stimulation und deszendierende Systeme aktiviert werden können. Sie sind auch die Grundlage der spinalen Morphinanalgesie zur wirksamen Behandlung schwerer Schmerzzustände über Katheter, die durch orales Morphin nicht ausreichend kontrolliert werden können.

Teil I · Grundlagen

46

Abb. 2.15a–c. Hemmung von Rückenmarkneuronen durch Nervenstimulation. a Versuchsanordnung zur Registrierung der Entladung eines Hinterhornneurons bei der narkotisierten Katze, noxischer Hitzereizung der Haut im rezeptiven Feld (Hinterfuß), elektrischer Stimulation des Nervs zum Hinterfuß (N. tibialis posterior). b Oszillographische Registrierung der Entladung auf Hitzereiz (50 °C, Zeitverlauf in der untersten

2.6.4

Stressinduzierte Analgesie

Akuter Stress bei Ratten (z. B. durch erzwungenes Schwimmen) führt zur Verringerung der Schmerzempfindlichkeit, man spricht von einer „stress-induced analgesia“ (Tricklebank u. Curzon 1984). Dabei werden u. a. auch die vom Hirnstamm zum Rückenmark absteigenden Hemmungssysteme und das endogene Opioidsystem aktiviert. > Solche Mechanismen haben einen Überlebenswert in Gefahrensituationen: Die „körpereigene Schmerzabwehr“ gewährleistet z. B., dass sich ein Verletzter ohne die Behinderung durch eine schmerzbedingte Bewegungshemmung in Sicherheit bringen kann.

Die Stressanalgesie kann vom Tier auch durch klassische Konditionierung gelernt werden, dann ist sie z. B. bereits durch einen konditionierten Lichtreiz auslösbar. Verallgemeinert bedeutet dies, dass psychologische Einflüsse das endogene Schmerzhemmungssystem anstoßen können.

Zeile) vor und nach elektrischer Nervenstimulation (50 Hz, 6mal 2 min). c Zeitverlauf der Antwort des Hinterhornneurons auf noxische Hautreizung während und nach Perioden elektrischer Nervenstimulation. Gemessen wurde die max. Entladungsfrequenz der Antwort auf einen Hitzereiz sowie die gesamte Entladung des Neurons während einer Registrierzeit von 20 s. (Aus Dickhaus et al. 1978)

Auch beim Mensch gibt es hierfür Befunde, z. B. die Freisetzung endogener Opioide bei Hypnose oder Placebobehandlung.

2.7

Plastizität im Zentralnervensystem – ein Mechanismus bei chronischen Schmerzen?

Klinische Beobachtungen, z. B. bei Phantomschmerzen das Fehlen von afferenten Erregungen aus der Peripherie, weisen auf die Bildung eines zentralnervösen Schmerzengramms (Schmerzgedächtnis) hin. Auch psychophysiologische Untersuchungen an Schmerzpatienten geben Evidenz für plastische Veränderungen des Nervensystems. So sind evozierte Potenziale auf Schmerzreize bei Schmerzpatienten verstärkt und zeigen eine geringere Habituation als bei Gesunden. Die Kartographierung ereigniskorrelierter elektrischer Potenziale und magnetischer Felder im Gehirn zeigte, dass bei Patienten mit Phantom-

47 Kapitel 2 · Physiologie von Nozizeption und Schmerz

2

schmerzen die Somatotopie verändert ist (Flor et al. 1994). Die Grundlagenforschung konzentriert sich neuerdings auf das Thema einer zentralnervösen Neuroplastizität als Mechanismus chronischer Schmerzen (Coderre et al. 1993; Zimmermann u. Herdegen 1996). Auch hier wurden modellhafte Untersuchungen am Rückenmark durchgeführt. So bewirkt eine kurzzeitige repetitive Stimulation von afferenten C-Fasern (Abb. 2.16) an den Synapsen zu den Hinterhornneuronen eine Langzeitpotenzierung (LTP), die viele Stunden oder Tage bestehen bleibt und die synaptische Übertragung v. a. von schmerzbezogenen Informationen eindrucksvoll verstärkt. Diese LTP hängt u. a. von NMDA-Rezeptoren ab, sie kann nämlich durch eine präventive Behandlung mit einem NMDA-Antagonist verhindert werden. Zahlreiche weitere experimentelle Befunde zeigen, dass es bei persistierenden noxischen Reizen zu vielfältigen langfristigen physiologischen und biochemischen Reaktionen im Zentralnervensystem kommt. Die Entzündung eines Gelenks führt zu einer anhaltenden Erregbarkeitszunahme im Rückenmark und zu einer Ausbreitung der kortikalen Projektion, zusätzlich zu der entzündungsbedingten Sensibilisierung der Gelenknozizeptoren. Dieser Sensibilisierungsprozess an spinalen Neuronen hängt sowohl von NMDA-Rezeptoren

als auch von metabotropen Glutamatrezeptoren ab. Bei einer experimentellen Polyarthritis kommt es zu einer Zunahme der endogenen Opioide im Rückenmark. Nach Nervenverletzungen ist das zentralnervöse Organisationsmuster der sympathischen Reflexe bleibend verändert, endogene Hemmungssysteme werden abgeschwächt, v. a. das Opioidsystem (Zimmermann 1991b).

Abb. 2.16. Langzeitpotenzierung (LTP) der synaptischen Übertragung im Hinterhorn des Rückenmarks. Durch eine kurzzeitige (wenige Sekunden dauernde) repetitive Stimulation (100 Hz) der afferenten C-Fasern im peripheren Nerv

wird die synaptische Übertragung auf die Hinterhornneurone potenziert. Diese LTP kann viele Stunden oder Tage anhalten. (Nach Liu und Sandkühler 1995)

> Schmerzsituationen wirken sich im Nervensystem auch auf der molekularbiologischen Ebene aus. So kommt es nach Schmerzreizen und Nervenverletzungen zur induzierten Genexpression im Nervensystem.

Die Vorgänge bei der induzierten Transkription von Genen im Zellkern von Nervenzellen können über die immediate-early genes (IEG) erschlossen werden (Abb. 2.17). Bei länger andauernden noxischen Reizen oder nach Nervenverletzungen werden IEG aktiviert, es kommt zur Expression von IEG-kodierten Proteinen wie c-Fos, c-Jun und Krox-24 (Herdegen et al. 1991; Zimmermann u. Herdegen 1994). Diese nukleären Proteine sind wiederum Transkriptionsfaktoren, die über Bindung an Promotorregionen der Desoxyribonukleinsäure (DNS/ DNA) die Expression anderer Gene in den Nervenzellen kontrollieren (Morgan u. Curran 1989). Da-

48

Teil I · Grundlagen

Abb. 2.17. Induzierte Transkription nach noxischen Reizen. In Hinterhornneuronen des Rückenmarks und in Neuronen des Hirnstamms und des Thalamus wird durch schmerzhafte Reize die Transkription von Genen wie c-fos, c-jun und krox24 induziert („immediate-early genes“, IEG). Die IEG-kodierten Proteine binden an DNS und kontrollieren die Transkrip-

tion anderer Gene, sie sind also Transkriptionsfaktoren. Dadurch können die funktionellen Eigenschaften von Neuronen für längere Zeit oder sogar bleibend verändert werden (Neuroplastizität), z. B. in Richtung einer Sensibilisierung und Übererregbarkeit

durch kann es zu Änderungen der Transkription und somit der Expression dieser Zielgene kommen. Nach wiederholten, kurz andauernden noxischen Reizen erreichen die Proteine c-Fos und Krox-24 im Hinterhorn des Rückenmarks nach 2 h ihre max. Konzentration, danach gehen ihre Spiegel innerhalb von etwa 12 h wieder zurück. Die nukleären Proteine Jun D und Fos B dagegen erreichen ihre Höchstwerte nach 8 h, ihre Expression ist für mehr als 24 h erhöht. Damit wird nach einer kurzen Episode noxischer Stimulation ein mehrstündiges Zeitfenster für eine verstärkte Transkription geöffnet.

Dabei kann es offensichtlich auch zu den weiter oben erörterten pathologischen Fehlentwicklungen der neuronalen Funktionen kommen, die zu einer erhöhten Erregbarkeit (Sensibilisierung) führen und dadurch die Entstehung von Schmerzsignalen im Nervensystem begünstigen. Die Einsichten in die Molekularbiologie des Schmerzes werden wahrscheinlich auch zu neuen Ansätzen bei der Schmerztherapie führen. So haben wir untersucht, ob die induzierte Expression von c-fos durch Translationshemmung mit einem Antisense-Oligonukleotid gehemmt werden kann (Gillardon et al. 1994). Wir haben dazu eine Seite des Rückenmarks mit einem Antisense-Oligonukleotid gegen die c-fos-mRNA („messenger ribonucleic acid“) superfundiert und dann einen schmerzhaften Hitzereiz auf beide Hinterpfoten gegeben. Auf der Seite der Antisense-Oligonukleotid-Superfusion war die Zahl der Neurone mit c-Fos deutlich reduziert. Die Expression von c-Jun war dagegen nicht verändert. Durch diese Ab-

> Diese Vorgänge können tiefgreifende und langfristige biochemische Funktionsverschiebungen im Nervensystem bewirken, z. B. durch die Veränderung der Synthese von Neurotransmittern oder die Bildung modifizierter Rezeptorproteine (Abb. 2.17).

49 Kapitel 2 · Physiologie von Nozizeption und Schmerz

schwächung der schmerzinduzierten Transkription von c-Fos sollten auch schädliche Langzeitveränderungen der Neurone, die von c-Fos als Transkriptionsfaktor abhängen, reduziert werden können. Die biotechnische Herstellung von maßgeschneiderten Antisense-Oligonukleotiden gegen krankheitsrelevante unerwünschte Proteine könnte auch in der zukünftigen Schmerztherapie Bedeutung erlangen.

2

durch mechanische Manipulationen oder elektrische Reize an den Blutgefäßen der Hirnhaut migräneähnliche Kopfschmerzen ausgelöst werden.

toren liegen an den Blutgefäßen in den Hirnhäuten, bei Versuchen an Patienten unter neurochirurgischen Eingriffen konnten nämlich nur

Die sensorische Innervation der Hirnhaut erfolgt über Äste des N. trigeminus, der ansonsten v. a. die Gesichts- und Mundregion einschließlich der Zähne innerviert. Durch ganz verschiedene Auslöser („Migränetrigger“) kommt es zu einer vorübergehenden arteriellen Vasodilatation in den Hirnhäuten, wahrscheinlich durch plötzlichen Anstieg und Abfall der Serotonin(5-HT)-Konzentration im Blut. Dabei spielt auch die Freisetzung von 5-HT aus den Blutplättchen (Thrombozyten) eine Rolle. Die Mitwirkung von 5-HT bei der Migräne ist jedoch komplex, es sind mindestens 4 verschiedene 5-HTRezeptoren an vaskulären, peripherneuronalen und zentralnervösen Wirkorten beteiligt (Olesen u. Saxena 1992). Bei der vorübergehenden Vasodilatation in den Hirnhäuten soll auch eine efferente parasympathische Innervation mitwirken, die über den N. facialis verläuft. Bekannte Migräneauslöser sind z. B. 쎔 bestimmte Nahrungsmittel- und Rotweinbestandteile,

Abb. 2.18. Pathogenetische Faktoren der Migräne. Durch verschiedene Auslöser kommt es im Bereich der Hirngefäße zur erhöhten Freisetzung von Histamin (aus den Mastzellen) und von Serotonin (5-HT, z. B. aus den Thrombozyten). Dadurch kommt es zur Vasokonstriktion mit nachfolgender Dilatation der Kapillaren sowie zur erhöhten Gefäßpermeabilität. Sensibilisierung durch die chemischen Substanzen und

Überdehnung der Gefäße führen zur Erregung von Nozizeptoren in den Gefäßwänden. Substanz P und „calcitonin generelated peptide“ (CGRP) werden aus den Nozizeptoren freigesetzt und potenzieren lokale Entzündung,Vasodilatation und Nozizeptorerregung, wodurch ein Circulus vitiosus entsteht, der dann den anfallsartigen (Alles-oder-nichts-)Ablauf der Migräne begünstigt

2.8

Pathophysiologische Mechanismen ausgewählter Schmerzsyndrome

2.8.1

Migräne

Die Migräne ist typischerweise ein anfallsweise auftretendes Kopfschmerzsyndrom. Hier läuft eine komplexe Folge von neuronalen und vaskulären Fehlfunktionen in teilweise stereotyper Weise ab (Dalessio 1980; Ensink u. Soyka 1994; Abb. 2.18). > Die für die Migräne verantwortlichen Nozizep-

50

쎔 쎔 쎔 쎔 쎔 쎔 쎔 쎔

Teil I · Grundlagen

Gerüche, Koffeinentzug, Alkoholgenuss, Hormone, Medikamente, Wechsel im Schlaf-Wach-Rhythmus, psychosozialer Stress, gelernte Reaktionen.

Die initiale Vasodilatation im Bereich der kleinen Arterien führt zu einer passiven Überdehnung der Kapillaren und Venen in den Hirnhäuten im Rhythmus des Pulses, Migräneschmerzen werden typischerweise vom Patienten als pochend und pulsierend beschrieben. Infolge einer Steigerung der Gefäßpermeabilität durch Histamin kommt es gleichzeitig zum vermehrten Austritt von algetischen Substanzen aus den Kapillaren (z. B. 5-HT, Plasmakinine), die zu einer Sensibilisierung der Nozizeptoren in den Gefäßwänden führt. Die Sensibilisierung der Nozizeptoren und ihre Erregung durch Dehnung der Gefäßwände, besonders auf der venösen Seite, führen zum Migräneschmerz. Bei Erregung werden aus vielen Nozizeptoren Substanz P und CGRP freigesetzt, es kommt zu einer neurogenen Entzündung, die Vasodilatation und Extravasation der meningealen und duralen Gefäße wird so verstärkt und verlängert (Goadsby u. Edvinsson 1993). Dieser Schritt bedingt wahrscheinlich auch den stereotypen Verlauf des Anfalls, also den „Alles-oder-nichts“Charakter des Ablaufs, wenn er erst einmal gestartet ist. Entsprechend diesen Vorstellungen zur Pathogenese kann die Migräne mit gefäßaktiven Medikamenten erfolgreich behandelt werden, besonders mit solchen, die auf bestimmte 5-HT-Rezeptoren wirken oder die Freisetzung von Neuropeptiden aus den trigeminalen afferenten Fasern hemmen. Dazu gehören v. a. die Triptane, deren Palette neuerdings stetig erweitert wurde. Auch das psychophysiologische Vasokonstriktionstraining mit Biofeedback ist als gefäßaktiver Therapieansatz zu sehen. Mit diesen neurovaskulären Mechanismen im peripheren Nervensystem kann man die Migräne nicht vollständig verstehen. Deshalb wurde auch nach pathophysiologischen Mechanismen im Zentralnervensystem gesucht.

> Bereits mehrfach wurden Anzeichen für eine zentralnervöse Übererregbarkeit berichtet, die sich bei vielen Migränikern v. a. in nichthabituierenden kortikalen VEP (visuell evozierten Potenzialen) äußert.

Ein anderer Befund, der bei Kopfschmerzpatienten (nicht nur bei Migränikern) auf eine erhöhte zentrale Erregbarkeit hinweist, ist ein besonders geringes Ausmaß präsynaptischer Hemmung, die man im Reflex-EMG der perikranialen Muskulatur nachweisen kann. Eine andere zentralnervöse Pathophysiologie wurde bei Untersuchungen an Migränepatienten mit PET (Positronenemissionstomographie, s.Abb. 2.9) beobachtet: Vor und während dem Anfall konnte eine Aktivierung desPAG (periaquäduktales Grau) des Mittelhirns nachgewiesen werden (wie in Abb. 2.9b). In dieser Region liegen die Raphekerne mit serotoninergen Neuronen, die weitverzweigte Projektionen im Zentralnervensystem haben. Aus dieser Betrachtung wurde die Existenz eines zentralen Migränegenerators im PAG hypothetisiert, das bisher fehlende Interface für solche Migränetrigger, die ihren Weg über das Zentralnervensystem nehmen müssen, darunter auch psychosoziale Migräneauslöser. Eine alternative Interpretation ist die, dass das PAG als Reaktion auf den Migräneschmerz aktiviert wird, im Sinne einer Schmerzabwehr durch zentralnevöse Hemmungsmechanismen.

2.8.2

Neuropathische Schmerzen nach Schädigung des Nervensystems

Normalerweise sind Nervenfasern durch natürlich vorkommende Reize nicht oder nur schwer erregbar: Jeder weiß aus eigener Erfahrung, dass wir dem N. ulnaris, im Bereich seines oberflächlichen Verlaufs am Ellbogen, schon einen kräftigen Stoß versetzen müssen, um die Nervenfasern zu einer kurz andauernden Entladung zu bringen, die dann eine typische „elektrisierende“ Wahrnehmung aus dem Unterarm auslöst. Nervenfasern sind nämlich spezialisiert zur elektrischen Weiterleitung von Erregungen, nicht jedoch zur Transduktion von Reizen, wie dies in den Sinnesrezeptoren geschieht.

51 Kapitel 2 · Physiologie von Nozizeption und Schmerz

2

> Unter pathophysiologischen Bedingungen kön-

Tiermodelle für neuropathische Schmerzen

nen Nervenfasern jedoch eine Erregbarkeit für mechanische, thermische und chemische Reize entwickeln oder sogar spontan aktiv werden. Die so entstehenden „ektopischen“ Erregungen führen zu unnatürlichen Reizwahrnehmungen und Schmerzen, wie sie für viele Neuropathien charakteristisch sind.

Nach Durchtrennung eines größeren Nervs im Rattenbein beobachteten Wall et al. (1979), dass die Tiere nach einigen Tagen begannen, die denervierte Zone übermäßig zu pflegen und zu bearbeiten: Sie lecken, kratzen und knabbern, es kommt zu Wunden bis zur Verstümmelung einzelner Zehen (Abb. 2.19). Dieses als Autotomie bezeichnete Verhalten lässt sich quantitativ erfassen, etwa über die flächenmäßige Ausdehnung der entstehenden Wunden (Abb. 2.19). Die Autotomie nach Nervenverletzung wird als Ausdruck für chronische neuropathische Schmerzen angesehen. Sie kann durch Analgetika (z. B. Morphin) sowie neurochirurgisch durch Chordotomie reduziert werden. Seither wurden weitere Tiermodelle zur Erforschung neuropathischer Schmerzen eingeführt, z. B. Nervenkompression und Bandscheibenvorfall, diabetische Neuropathie, Nervenwurzelausriss, Querschnittslähmung. Bei diesen Tieren wurden die folgenden Verhaltensweisen beobachtet: 쎔 Autotomie, also Selbstverletzung einer denervierten Extremität durch übermäßiges Pflegeverhalten des Tieres (Abb. 2.19); 쎔 Hyperalgesie, d. h. verstärkte Wegziehreaktionen auf überschwellige noxische Reize, z. B. bei Hitzereizung der betroffenen Extremität; 쎔 Allodynie, d. h. Wegziehreaktionen auf normalerweise nichtnoxische Hautreize, z. B. mit einem Tasthaar nach von Frey.

Solche Nervenschmerzen oder neuropathische Schmerzen können durch vielfältige Schädigungen peripherer Nerven oder des Zentralnervensystems entstehen, z. B. durch Kompression, Durchtrennung, metabolische Störungen (z. B. bei Diabetes). Beispiele für Ursachen von Schädigungen des Nervensystems

쎔 쎔 쎔 쎔 쎔

Kompression Diabetes mellitus Chemotherapeutika Nervendurchtrennung Virusinfektion

Die wichtigsten Schmerzsyndrome nach Schädigungen des Nervensystems

쎔 쎔 쎔 쎔 쎔 쎔 쎔

Stumpfschmerz Phantomschmerz Schmerzen bei Bandscheibenvorfall Engpasssyndrom Diabetische Polyneuropathie Postherpetische Neuralgie Trigeminusneuralgie

Neuropathische Schmerzen unterscheiden sich von Nozizeptorschmerzen, ihre charakteristischen Merkmale sind nachfolgend zusammengestellt.

Merkmale neuropathischer Schmerzen

쎔 쎔 쎔 쎔 쎔 쎔

Dauernder Brennschmerz Einschießende Schmerzattacken Allodynie (Schmerz durch Berührung) Hypästhesie (Taubheitsgefühl) Dysästhesie, Parästhesie (Jucken, Ameisenlaufen) Fehllokalisation projizierter Schmerz

> Hyperalgesie und Allodynie treten nur auf, wenn nach der Nervenverletzung noch afferente Neurone im geschädigten Nerv oder in einem benachbarten Nerv überleben, die eine Restsensibilität aus der denervierten Extremität vermitteln können.

Die Autotomie ist dagegen um so ausgeprägter, je vollständiger die Denervierung und damit auch der Sensibilitätsausfall sind, wie das Beispiel der Abb. 2.19c zeigt. Bei alleiniger Durchtrennung des N. saphenus, einem kleineren Hautnerv mit einem umschriebenen Innervationsgebiet am Hinterbein, trat keine Autotomie auf. Nach Durchtrennung des N. ischiadicus allein trat eine deutliche und mit der Zeit zunehmende Autotomie auf. Bei Durchtrennung beider Nerven verdoppelte sich annähernd das Ausmaß der Autotomie. Diese Er-

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Teil I · Grundlagen

Abb. 2.19a–c. Schmerzverhalten von Tieren nach Nervendurchtrennung. Nach Durchschneidung und Ligatur eines Nervs entsteht ein Neurom. a Histologisches Bild eines Neuroms, etwa eine Woche nach Nervendurchtrennung. Vom proximalen Stumpf (oben) gehen Nervensprosse aus, von denen nur wenige den distalen, dengenerierenden Nervenabschnitt erreichen (unten). b Ratten mit einem experimentellen Neurom des N. ischiadicus verletzen ihr denerviertes

Bein durch häufiges Beißen (Autotomie). Die verletzten Areale sind im gezeigten Beispiel schraffiert. c Ausmaß der Autotomie, gemessen als relative Fläche der Verletzung (Ordinate) in Abhängigkeit von der Zeit nach Nervendurchtrennung (Abszisse). Gezeigt sind die Verläufe der Autotomie nach Durchtrennung des N. saphenus oder des N. ischiadicus, jeweils allein und nach gleichzeitiger Durchtrennung beider Nerven. (a aus Cajal 1959; c nach Wall et al. 1979)

gebnisse lassen vorhersagen, dass kleine Nervenverletzungen ein geringes Risiko für die Entstehung chronischer Schmerzen haben, während die Verletzung großer Nerven (wie z. B. bei einer Amputation) das Risiko für neuropathische Schmerzen stark erhöht.

aus der amputierten Extremität wahrgenommen. Ihre Mechanismen sind als zentralnervöse Folgeschäden der Nervenverletzung anzusehen, die sich oft erst deutlich verzögert als Schmerzen manifestieren.

Zwei Arten von Schmerzen nach Nervendurchtrennung

Bereits wenige Tage nach einer Nervendurchtrennung oder -kompression können am geschädigten Axon abnormale Nervenimpulse ausgelöst werden (ektopische Entladungen). Die Entladungen sind „erratisch“, sie werden z. B. unregelmäßig durch vielerlei Reize ausgelöst und können den Reiz überdauern, sie entsprechen also nicht den Gesetzmäßigkeiten der Erregung und Kodierung in Sinnesrezeptoren. Solche abnormalen Entladungen führen dann beim Patienten zu Parästhesien und Dysästhesien, Dauerschmerzen (v. a. Brennschmerzen), Hyperalgesie und Allodynie.

Nach Durchtrennung eines peripheren Nervs kommt es zur Degeneration des distalen Nervenabschnitts. Anschließend setzt im proximalen Stumpf eine Regeneration ein, wenn der Zellkörper im Spinalganglion intakt geblieben ist. Die regenerierenden Nerven können Ausgangsort für quälende Dauerschmerzen sein, insbesondere dann, wenn sich bei behindertem Aussprossen ein Neurom gebildet hat (Abb. 2.19a). Bei Amputierten werden solche lokal vom durchtrennten Nerv ausgehende Schmerzen als Stumpfschmerzen bezeichnet. Im Gegensatz dazu entstehen Phantomschmerzen im Zentralnervensystem, durch abnormale Erregungen z. B. von Rückenmarkneuronen. Die Phantomschmerzen werden typischerweise

Neurom- und Stumpfschmerzen

> Das erratische Verhalten von Nervenimpulsen ist besonders ausgeprägt an Neuromen, wenn das Längenwachstum der aussprossenden Nervenfasern behindert ist (Abb. 2.19a).

53 Kapitel 2 · Physiologie von Nozizeption und Schmerz

Wenn dagegen das Auswachsen in das ursprüngliche Territorium ermöglicht wird, normalisieren sich die physiologischen Funktionen wieder: Die Faserendigungen sprechen zunehmend wieder selektiv auf bestimmte Reizmodalitäten an, sie entladen nur während der Dauer eines Reizes, und schließlich kommt es wieder zur Intensitätskodierung, d. h. die Impulsrate nimmt mit der Reizstärke zu. Dies gilt auch für regenerierte Nozizeptoren, bei diesen wurden jedoch erniedrigte Reizschwellen festgestellt. Dies entspricht der klinischen Beobachtung einer Hyperalgesie im Gebiet eines regenerierten Hautnervs. Auch ohne Neurombildung sind regenerierende Fasern leicht durch mechanische Reize erregbar. Mit dem Tinel-Test löst der Neurologe durch leichtes Klopfen auf die Haut übereinem geschädigten Nerv beim Patienten dort Empfindungen aus, wo gerade die Enden der auswachsenden Fasern angekommen sind. So lässt sich das Längenwachstum eines regenerierenden Nervs überwachen, es schreitet mit etwa 1 mm/Tag fort.

Ionenkanäle bei neuropathischen Schmerzen Nach einer Nervendurchtrennung häufen sich proximal der Verletzungsstelle Natriumkanäle an. Diese Anhäufung kann zu der lokal erhöhten Erregbarkeit der Nervenfasern proximal der Nervenverletzung beitragen. Bei molekularbiologischen Untersuchungen wurden neue Subtypen von Na+Kanälen in den Spinalganglien festgestellt, die spezifisch für sensorische Nerven (SNS) sind und langsame abgestufte Depolarisationen bilden können. Sie werden nicht durch Tetrodotoxin (TTX) blockiert, im Gegensatz zu den schnellen Na+-Kanälen, die die Impulsweiterleitung entlang der Nervenfasern vermitteln. Die Na+-Kanäle vom Typ SNS werden durch Lokalanästhetika bereits bei niedrigeren Konzentrationen als die schnellen Na+-Kanäle blockiert und ziehen deshalb das Interesse der therapeutischen Forschung auf sich.

Chemosensitivität der Nervensprosse An den aussprossenden Nervenendigungen bilden sich bereits nach wenigen Tagen pharmakologische Rezeptoren, z. B. für Bradykinin, 5-HT, Histamin oder Capsaicin, die auch an normalen Nozizeptoren auftreten (Abb. 2.7a).

2

> Während der Regenerationszeit werden jedoch abnormale Funktionen der Rezeptoren beobachtet.

So kann z. B. die Auslösung von Nervenimpulsen durch Infusion von Adrenalin sowie durch repetitive elektrische Stimulation des Sympathikus im Grenzstrang gebahnt werden (Abb. 2.20). Daraus wird geschlossen, dass efferente sympathische Nervenfasern, die im Gewirr der aussprossenden Fasern des Neuroms ebenfalls enthalten sind, erregend auf die nozizeptiven Afferenzen einwirken können. Die erregungsfördernden Einflüsse werden durch adrenerge α2-Rezeptoren vermittelt. Ein klinisches Syndrom mit ausgeprägten Brennschmerzen und Anzeichen einer sympathischen Fehlsteuerung (z. B. Störungen der Durchblutung und der Schweißsekretion) ist die Kausalgie, die bevorzugt nach Schussverletzung eines größeren Extremitätennervs auftritt. > Aufregungen mit starker Aktivierung des sympathische Nervensystems führen bei der Kausalgie oft zur Schmerzverstärkung.

Die Kausalgie wird zu den komplexen regionalen Schmerzsyndromen gerechnet (CRPS, „complex regional pain syndrome“). Beim CRPS wirken neben den adrenergen Einflüssen noch andere erregungsfördernde Mechanismen mit, z. B. die neurogene Entzündung durch Freisetzung von Substanz P (Abb. 2.6). Regelmäßig werden auch psychosomatische Zeichen beobachtet. Bei den pathophysiologische Geschehen fehlt oft sogar die früher als charakterisierend angesehene Beteiligung des Sympathikus (Jänig u. Stanton-Hicks 12996. Neuerdings werden dem CRPS erhebliche Störungen bei der Kooperation zwischen peripherem und zentralensensomotorischen System zugeschrieben. Bei der Therapie werden Maßnahmen der Neurorehabilitation eingesetzt.

Zytokine bei neuropathischen Schmerzen Zytokine, die Mediatoren des Immunsystems, mit einer immensen Bedeutung bei entzündlichen Erkrankungen in der Rheumatologie, sind auch bei neuropathischen Schmerzen beteiligt, v. a. Inter-

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Teil I · Grundlagen

In Abb. 2.21 ist eine Kaskade der Ereignisse nach einer Nervendurchtrennung dargestellt. Auf sol-

Abb. 2.20a–c. Abnormale Impulsentstehung in einem Neurom unter Sympathikuswirkung. a Bei Tieren wird experimentell ein Neurom erzeugt (Nervendurchschneidung). In den Wochen danach können von den afferenten Fasern Spontanentladungen abgeleitet werden. b, c Die im Neurom entstehenden Spontanentladungen werden durch Noradrenalin und durch Sympathikusstimulation verstärkt. (Nach Wall u. Gutnick 1974)

leukin-1 (IL-1) und Tumornekrosefaktor-α (TNFα; Sommer et al. 1998). Die Zytokine werden aus Makrophagen und anderen Immunzellen freigesetzt, die sich an Verletzungen im Nervensystem ansammeln. Im Tiermodell sprechen neuropathische Schmerzen auf Behandlung mit Antikörpern gegen TNF-α-Rezeptoren an. Daraus wird gefolgert, dass eine gegen Zytokine gerichtete Therapie auch bei neuropathischen Schmerzen wirksam sein könnte.

Ausbreitung neuropathischer Schäden im Nervensystem, Mechanismen von Phantomschmerzen > Die Pathophysiologie bleibt bei Neuropathien nicht auf den Ort der primären Schädigung beschränkt, sondern breitet sich bald über das geschädigte Neuron, das Rückenmark bis zum somatosensorischen Kortex aus.

chen Vorgängen beruht die Entstehung von Phantomschmerzen. Ein Auslöser für diese Fernwirkungen ist die Unterbrechung des axonalen Transports durch die Läsion (rechts in Abb. 2.21). Normalerweise nimmt ein Neuron über seine Kontakte mit dem innervierten Organ Signalsubstanzen auf, die maßgeblich die Funktionalität des Neurons bestimmen. Die am längsten bekannte Substanz dieser Art ist der Nervenwachstumsfaktor („nerve growth factor“, NGF). Diese Neurotrophine werden über spezifische Rezeptoren an den Nervenenden aufgenommen (Trk in Abb. 2.7a) und gelangen über den axonalen Transport zum Zellkern. Hier steuern sie die Gentranskription so, dass die für die Funktion eines Neurons notwendigen Proteine bedarfsgerecht synthetisiert werden. Fehlen die Signalsubstanzen aus dem Zielorgan, dann ändert sich die Funktion des Neurons, oft auf dramatische Weise. In allen axotomierten Neuronen der Spinalganglien (Abb. 2.21) kommt es bereits nach einem Tag zu einer lang andauernden Induktion des c-jun-Gens (Herdegen u. Zimmermann 1994). Das c-jun-Gen gehört zur Gruppe der schnellinduzierbaren Gene (IEG, „immediate early gene“). Sein kodiertes Protein, c-Jun, ist ein Transkriptionsfaktor, der viele andere Gene kontrolliert. So wird die Synthesemaschine in einem Teil der geschädigten Neurone auf die Bedürfnisse bei der Regeneration des Axons umgestellt, man findet für die Regeneration typische Proteine wie das GAP-43 („growth associated protein“). Ein anderer Teil der c-Jun-exprimierenden Spinalganglienneurone wird in den programmierten Zelltod, die Apoptose, gesteuert, kenntlich an der Abnahme des antiapoptotischen Proteins Bcl-2 (Abb. 2.21). Den Weg in die Apoptose gehen wahrscheinlich die Neurone, bei denen das Regenerationspotenzial zur Wiedergewinnung der Funktion nicht ausreicht. Die durch c-jun ausgelöste Genaktivierung kann also sowohl zur Regeneration des Axons als auch zur Apoptose führen. Bei der Entscheidung über eine dieser beiden Richtungen scheinen strategisch wichtige Phosphorylierungen durch Kinasen mitzuwirken.

55 Kapitel 2 · Physiologie von Nozizeption und Schmerz

2

Abb. 2.21. Ausbreitung eines neuropathischen Schadens im Nervensystem. (Nach Zimmermann 2001)

2.9

Auswirkungen peripherer Nervenläsionen im Rückenmark

Bereits wenige Stunden nach Axotomie wurde eine Verstärkung der synaptischen Übertragung zu den nachgeordneten Neuronen im Hinterhorn des Rückenmarks beobachtet. Es handelt sich dabei um die Erscheinungen des „wind-up“ und der „long term potentiation“ (LTP; Abb. 2.16), sie können die Hyperalgesie und Allodynie erklären, wie sie nach einer Nervenläsion bei Patienten und im Tierexperiment beobachtet werden. Bei der synaptischen Sensibilisierung nach Nervenschäden wirken u. a. NMDA-Rezeptoren und NO (Stickstoffoxid) mit. Nach einer peripheren Nervenläsion kommt es auch zur transsynaptischen Geninduktion in den Hinterhornneuronen. Die Initialreaktion ist eine Aktivierung der IEG c-fos und c-jun, deren Proteine als Transkriptionsfaktoren eine Kaskade weiterer Gene regulieren. Folgende Endeffekte wurden nachgewiesen (Abb. 2.21): 쎔 Sensibilisierung von Rückenmarkneuronen; 쎔 Apoptose von Rückenmarkneuronen; 쎔 verringerte analgetische Wirksamkeit von spinalem Morphin.

> Die Sensibilisierung des somatosensorischen Systems auf Rückenmarkebene ist von größter Relevanz als Folge einer Amputation: Sensibilisierte Rückenmarkneurone stellen einen wichtigen pathophysiologischen Mechanismus für Phantomschmerzen dar.

Klinische Studien zielen darauf ab, die massive Erregung des Rückenmarks als Folge des Amputationstraumas durch langwirkende periphere und spinale Blockaden mit einem Lokalanästhetikum zu vermeiden. Das Risiko für Phantomschmerzen wurde dadurch reduziert, konnte aber nicht vollständig ausgeschaltet werden. Die Lokalanästhesie blockiert zwar die übermäßige elektrische Erregung des Rückenmarks, jedoch kaum die zellbiologischen Reaktionen der geschädigten Spinalganglienneurone (Abb. 2.21). Als Mechanismen der Hyperaktivität nach Deafferentierung werden Funktionsveränderungen postsynaptischer Glutamatrezeptoren und Kalziumkanäle diskutiert, mit denen das Neuron nach

Degeneration der präsynaptischen Terminalen kompensatorisch seine elektrische Aktivität aufrechterhält. Hinzu kommt die Abschwächung von Hemmungsmechanismen, wie im nächsten Abschnitt erörtert.

56

Teil I · Grundlagen

2.9.1

Schwächung hemmender spinaler Systeme durch periphere Nervenläsion

Unsere Schmerzempfindlichkeit wird ganz wesentlich durch ständig aktive Hemmungssysteme im ZNS bestimmt. Es gibt viele Hinweise, dass deren Wirksamkeit bei Neuropathien abnimmt. Tierexperimentell wurde bereits eine Woche nach einer Nervenläsion eine dramatische Abschwächung der antinozizeptiven Wirksamkeit spinaler Opioide festgestellt (Mao et al. 1995). Behandelt man die Tiere präventiv mit dem NMDA-Antagonisten MK-801, kann man das Nachlassen der Morphinwirkung völlig vermeiden, die analgetische Wirksamkeit des Morphins bleibt dann unverändert erhalten.

2.9.2

Apoptose in Rückenmarkneuronen nach peripherer Nervenläsion

Apoptose, eine Form des programmierten Zelltods, spielt v. a. bei der Entwicklung des Nervensystems eine nützliche Rolle: Überzählige Neurone, die nach der Reifung des Nervensystems nicht mehr benötigt werden, werden durch Apoptose auf kontrollierte Art beseitigt. Aber auch geschädigte Neurone können durch Apoptose absterben, ein primärer Schaden wird so durch einen verzögerten Sekundärschaden vergrößert. Wir haben bereits die Apoptose von Spinalganglienneuronen nach einer peripheren Nervenläsion kennengelernt. Aber auch in Rückenmarkneuronen konnte nach peripherer Nervendurchtrennung Apoptose festgestellt werden (Azkue et al. 1998). Durch eine präventive Behandlung mit dem NMDA-Antagonisten MK-801 konnte die Apoptose im Rückenmark völlig verhindert werden. Es ist wahrscheinlich, dass unter den apoptotischen Neuronen im Hinterhorn nach einer Nervenläsion v. a. hemmende Interneurone vertreten sind, Apoptose wäre somit zumindest ein Teilmechanismus für die abnehmende Wirksamkeit der Opioidtherapie bei neuropathischen Schmerzen. > Mittlerweile ist gesichert, dass bei einer Zostererkrankung in erheblichem Umfang Neurone der Spinalganglien und Rückenmarkneurone

durch Apoptose zugrunde gehen (Zimmermann 2001).

Apoptoseforschung und Erprobung antiapoptotischer Therapien könnten bald wichtige Themen auf dem Gebiet neuropathischer Schmerzen und ihrer Prävention werden.

2.10

Schmerzen durch Fehlregulation

Darstellungen von theoretischen Konzepten des Schmerzes beschränken sich meistens auf lineare Modelle, bei denen eine sensorisch-perzeptive „Schmerzbahn“ von der Reiztransformation im Nozizeptor bis zum Wahrnehmungsprozess im Kortex gezeichnet wird. Mit diesem Ursache-Wirkungs-Schema kann man jedoch die Realität des Schmerzpatienten oft nicht hinreichend erfassen, denn dessen Schmerz ist „nichtlinear“, die erkennbare Ursache ist vielfältig und variabel. Zur Beschreibung ist ein Regelkreisschema besser geeignet (Abb. 2.22), denn es kann die Reaktionen des Patienten abbilden, mit denen er physiologisch, psychologisch und kommunikativ reagiert, auf den Schmerz und dessen Bezugssystem zurückwirkt und beide verändert. Der einfachste Fall einer Reaktion ist der biologisch sinnvolle, nämlich die Schadensabwendung durch protektives Verhalten, Schaden und Schmerz werden dadurch beendet oder minimiert. Systemtheoretisch handelt es sich hier um einen typischen Regulationsvorgang, eine negative Rückkopplung („negative feedback“), das System nähert sich wieder dem störungs- und schmerzfreien Zustand an. > Der andere Extremfall ist eine positive Rückkopplung („positive feedback“), die Systemantwort verstärkt den Schmerz, schaukelt ihn auf und hält ihn aufrecht.

Man kann diesen Fall treffend als eine Fehlregulation bezeichnen, denn die Systemkomponenten sind dieselben wie bei der perfekten Regulation, lediglich das Vorzeichen der Rückwirkung hat sich geändert (Abb. 2.22). Patienten mit chronischen Schmerzen entsprechen diesem Schema, die Fehlregulation hat sich meistens im Verlauf der Krankengeschichte bereits fest etabliert und zu einer „funktionellen“ Schmerzchronifizierung geführt.

57 Kapitel 2 · Physiologie von Nozizeption und Schmerz

2

zessive Rückenmarkreflexe nach Sensibilisierung der spinalen Reflexübertragung (unspezifische Rücken- und Nackenschmerzen, Myoarthropathie des Kausystems) – dieses Beispiel ist nachfolgend ausführlicher dargestellt; 쎔 verstärktes Schmerzerlebnis des Patienten über einen sozialen Gewinn infolge des Schmerzes, PF durch schmerzkontingente Zuwendung (Bauchschmerzen v. a. bei Kindern, Migräne). Die gemeinsame Folge ist die Aufrechterhaltung eines Schmerzzustands allein auf funktioneller Abb. 2.22. Der Schmerz als Regulationssystem. Die Reaktion des Zentralnervensystems auf einen noxischen Reiz wirkt praktisch immer auf den Reiz zurück, z. B. entsprechend der protektiven Funktion des nozizeptiven Systems. Diese Schutzfunktion lässt sich als „Gegenregulation“ interpretieren und als Regelkreis mit negativer Rückkopplung darstellen („negative feedback“, Minuszeichen in der Rückwirkung). Bei Patienten mit chronischen Schmerzen kann man oft eine Rückkopplungswirkung erkennen, die den Schmerzreiz nicht abschwächt, sondern verstärkt: Formal lässt sich diese Funktion als Fehlregulation (Circulus vitiosus) deuten, im Regelkreis ist eine positive (selbstverstärkende) Rückkopplung entstanden („positive feedback“, Pluszeichen in der Rückwirkung). Solche Fehler im Regelkreis lassen sich auf allen Funktionsebenen des Schmerzsystems (Physiologie, Psychologie und Verhalten, Kommunikation und soziale Interaktionen) erkennen, ein konkretes Beispiel ist in Abb. 2.23 ausgeführt. Viele Chronifizierungsmechanismen lassen sich im Regelkreismodell formal einheitlich als Systemfehler interpretieren. (Nach Seemann u. Zimmermann 1994)

Fehlregulationen nach diesem Prinzip können bei vielen chronischen Schmerzzuständen aufgedeckt werden, die verstärkenden Rückwirkungen („positive feedback“) können sich auf unterschiedlichen Ebenen des Schmerzgeschehens manifestieren. Hier einige Beispiele, die jeweils für die Fehlregulation kritische positive Rückkopplung wird mit „PF“ („positive feedback“) gekennzeichnet: 쎔 Verstärkung von Entzündungsvorgängen über die neurogene Entzündung (Abb. 2.6), PF durch andauernde Freisetzung von Substanz P und anderen Neuropeptiden aus Nozizeptoren nach Hochregulation der Neuropeptidsynthese (entzündliche rheumatische Erkrankungen, Migräne); 쎔 verstärkte Dauererregung von Nozizeptoren in Muskeln und Sehnen über die anhaltende Kontraktion posturaler Muskeln, PF durch ex-

Basis. Die Wichtigkeit solcher Phänomene bei der Entstehung chronischer Schmerzen ist bisher nicht hinreichend beachtet worden, das medizinische Denken war zu sehr vom „Einbahnstraßenkonzept“ des sensorischen Informationsflusses von der Peripherie zum Zentrum beherrscht.

2.10.1 Schmerzentstehung

durch Fehlregulation im neuromotorischen System Schmerzen des Bewegungssystems beruhen häufig auf entzündlichen oder degenerativen Erkrankungen der Gelenke, die zu typischen Nozizeptorschmerzen führen. Es gibt jedoch auch Schmerzzustände des skelettmotorischen Systems, bei denen solche primären Ursachen nicht im Vordergrund stehen (Mense 1993). Sie gehen mit Störungen der Muskelfunktion einher, an denen eine inadäquate neurale Steuerung der Motorik mitwirkt (Abb. 2.23). So kann ein primärer Schmerz (im Beispiel der Abb. 2.23 von einem Gelenk ausgehend) zu einer zeitweilig oder dauernd übermäßig angespannten Muskulatur führen, im Sinne eines übersteigerten tonischen nozizeptiven Reflexes. Zu dieser Fehlregulation scheint es besonders leicht bei der posturalen Muskulatur der Wirbelsäule zu kommen, da hier die Dauererregung der Motoneurone und der Muskelfasern bereits zur physiologischen Ausstattung gehört. Eine dauernd oder zeitweilig unangemessen erhöhte Muskelanspannung kann die Erregung der Nozizeptoren in den Muskeln sowie in den verstärkt belasteten Sehnen und Gelenken erhöhen (Abb. 2.23), wodurch wiederum über den spinalen Reflex die Erregung der Motoneurone und die Muskelkontraktion erhöht werden. So

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Teil I · Grundlagen

Abb. 2.23. Chronifizierung von Schmerzen durch Muskelanspannung. In dieser schematischen Darstellung soll sichtbar gemacht werden, dass die erhöhte Muskelanspannung, die zunächst reflektorisch z. B. durch Nozizeptoren aus einem erkrankten Gelenk erzeugt wird, über die Erregung der Nozizeptoren der Muskeln, Sehnen und Gelenke als Folge der länger andauernden Kontraktion zu einer Selbstverstärkung führen kann. Dieser pathophysiologische Zustand der positi-

ven Rückkopplung kann zu chronischen Schmerzen beitragen. Durch Injektion eines Lokalanästhetikums („therapeutische Lokalanästhesie“), Aktivierung zentralnervöser hemmender Systeme („hemmendes Neuron“) oder Kontrolle der spinalen Reflexe vom Gehirn kann der Selbsterregungskreis unterbrochen oder abgeschwächt werden. Das Schema ist hypothetisch, viele klinische Erscheinungen können damit jedoch erklärt werden. (Nach Zimmermann 1984)

schließt sich ein hypothetischer Fehlregulationskreis, bei dem es durch eine positive Rückkopplung zur Selbstverstärkung und Selbstunterhaltung von Muskeltonus und dem damit assoziierten Schmerz kommt. Im Sinne dieses Konzepts wurde z. B. bei Rückenschmerzpatienten ein überreagibles EMG (Elektromyogramm) in den Haltemuskeln der Wirbelsäule gefunden (Flor 1991; Flor et al. 1994), bei einer als Test herbeigeführten emotionalen Stresssituation zeigten die Patienten im Vergleich zu Kontrollen höhere EMG-Werte und ein langsameres Abklingen nach Ende des Tests.

kann: Nach einem kurz andauernden Hitzetrauma an einer Hinterextremität war die Schwelle zur Auslösung von motorischen Fremdreflexen lang andauernd, über Wochen, abgesenkt, und zwar nicht nur auf der Seite des Traumas, sondern auch kontralateral. Die durch das Trauma induzierte Plastizität des Rückenmarks schafft modellhaft Bedingungen für Aufrechterhaltung und Fortschreiten eines chronischen Schmerzes durch Fehlregulation. Der vorstehend erörterte Störungskreis aus Muskeltonus und Schmerz ist nicht die einzige Fehlregulation mit dem Risiko einer fortschreitenden Chronifizierung. Alternativ kann es durch einen noxischen Dauerreiz nämlich auch zu einer

> Eine kritische Variable für die Entstehung einer positiven Rückkopplung bei der spinalen Motorik ist die Verstärkung der Reflexübertragung, in Abb. 2.23 mit dem Pfeil „abnormale Reflexübertragung“ gekennzeichnet.

In Experimenten an Ratten konnte Clifford Woolf (1983) direkt zeigen, dass die Reflexübertragung tatsächlich pathophysiologisch stark ansteigen

reflektorischen Hemmung von Motoneuronen

kommen, mit resultierender Bewegungsschwäche und schließlich Atrophie des vermindert aktiven Muskels. In die gleiche Richtung führt die bei Schmerzpatienten besonders häufig vorkommende Schonhaltung und Schonbewegung, die wegen der resultierenden Schmerzreduktion zum bevorzugten Verhaltensmuster wird.

59 Kapitel 2 · Physiologie von Nozizeption und Schmerz

Solche Abläufe können z. B. bei Patienten mit initialen Gelenkschmerzen durch Arthrose beobachtet werden. Durch Lernvorgänge gehen die zunächst gelenkbezogenen Schonungen in ein generelles Vermeidungsverhalten über, das schließlich in Immobilität und Autonomieverlust einmündet. Alle diese Prozesse können in unser Regelkreisschema (Abb. 2.22) als krankheitsfördernde Fehlregulationen eingeordnet werden.

2.10.2 Therapie von Schmerzen

bei Funktionsstörungen im motorischen System Ansätze zur Behandlung solcher Fehlregulationsschmerzen zielen darauf ab, die erhöhte Muskelspannung zu lösen oder den Zusammenhang zwischen Muskelspannung und Erregung der Nozizeptoren abzuschwächen (Abb. 2.23). Neurophysiologisch begründete Maßnahmen sind die folgenden: 쎔 therapeutische Lokalanästhesie (z. B. Injektion in myofasziale Triggerpunkte), 쎔 Aktivierung zentraler Schmerzhemmungssysteme zur Dämpfung der übersteigerten Reflexerregbarkeit (z. B. durch Analgetika, Akupunktur oder TENS), 쎔 Verringerung der tonischen zentralnervösen motorischen Erregung (z. B. durch zentrale Muskelrelaxanzien), 쎔 aktive muskuläre Entspannung und Umlernen der zu Fehlhaltungen führenden motorischen Steuerprogramme des ZNS (z. B. Verhaltenstherapie, Biofeedback), 쎔 Bewegungs- und Haltungstraining, z. B. bei der Rückenschule, beim Göttinger Rücken-Intensiv-Programm (Kap. 22). > Die Schmerzen, bei denen efferente motorische Wirkungen beteiligt sind, können also auch durch Eingriffe über das motorische System behandelt werden, durch Verminderung der Muskelspannung wird der Circulus vitiosus der Selbsterregung durchbrochen.

So ist es z. B. eine alte Erfahrung, dass durch Wärmetherapie der Haut Muskelanspannungen und die dadurch bedingten Schmerzen gelöst werden können. Es wird vermutet, dass dies über die hemmende Wirkung von kutanen Warmrezeptoren auf

2

die Motoneurone zustande kommt. Eine andere Methode, den Circulus vitiosus einer Selbsterregung zu durchbrechen, ist die Injektion eines Lokalanästhetikums in einen Schmerzpunkt im Bereich eines Muskels oder einer Sehne (Abb. 2.23, therapeutischen Lokalanästhesie). Auch durch supraspinalen Eingriff können Schmerzen im Bewegungsapparat wirkungsvoll behandelt werden, etwa bei der progressiven Relaxation. Durch ein gezieltes Bewegungsprogramm unter Anleitung eines Therapeuten können Fehlhaltungen und Fehlbelastungen im skelettmotorischen System abgebaut werden. Die Motivation zur aktiven Mitarbeit des Patienten ist hier von ausschlaggebender Bedeutung für den Erfolg.

2.11

Physiologische Ansätze zum Verständnis psychosomatischer Schmerzmechanismen

Die vom Gehirn absteigenden Einflüsse auf die Motorik können auch als physiologisches Interface der Psychosomatik aufgefasst werden, da Stress,Angst und psychische Anspannung zu einer Mitinnervation des motorischen Nervensystems führen können. Viele Experimente (Flor 1991) belegen, dass emotionaler Stress eine Anspannung der Rückenmuskulatur oder der Kaumuskulatur bewirken kann. Diese Anspannungen sind bei Patienten mit chronischen Schmerzen stärker als bei Gesunden, außerdem klingen sie nach Ende der Stresssituation langsamer ab als bei normalen Probanden. Bei Versuchen zur klassischen Konditionierung von Muskelanspannungen zeigte sich auch, dass Schmerzpatienten schneller lernen als Gesunde (Flor et al. 1994). Die bessere Lernfähigkeit wird hier im Sinne eines erhöhten Risikos für die Chronifizierung von Schmerzen interpretiert. > Psychische Vorgänge äußern sich auch als physiologische Aktivitätsänderungen im sympathischen Nervensystem.

So kommt es z. B. bei emotionalem Stress zur Verstärkung der Schweißsekretion (Registrierung über den Hautwiderstand) und zur regionalen Veränderungen der Durchblutung (Registrierung über die Hauttemperatur). Diese psychophysiologischen Reaktionen im sympathischen Nervensys-

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Teil I · Grundlagen

tem enthalten krankheitsverstärkende Risiken, wie sie besonders bei der Entstehung des Bluthochdrucks belegt sind. Zur Schmerzverstärkung und -chronifizierung können sie z. B. unter den Bedingungen des CRPS („complex regional pain syndrome“) beitragen, experimentell und klinisch nachgewiesen ist dies an Neuromen nach Nervenverletzungen (Abb. 2.20). Auf der Basis dieser experimentellen Beobachtungen ist es naheliegend, dass psychosomatische Störungen auch ganz konkret und messtechnisch erfassbar über physiologische Mechanismen des motorischen und sympathischen Nervensystems vermittelt werden und sich schließlich auch als schmerzhafte Regulationsstörung manifestieren. Leider werden diese auch klinisch prüfbaren psychophysiologischen Mechanismen in den Konzepten der Psychosomatik noch weitgehend ignoriert.

2.12

Ausblick

Die Kenntnis der physiologischen Mechanismen der Schmerzentstehung und Schmerztherapie wurde durch die Grundlagenforschung während der vergangenen 20 Jahre beträchtlich erweitert. Die Ergebnisse haben auch die psychologische und klinische Schmerzforschung stark angeregt. Die Fortschritte der Schmerzforschung haben die klinische Auseinandersetzung mit der Schmerzproblematik auf eine neue Ebene gebracht, das bessere Wissen ermöglicht ein gezieltes und logisches Vorgehen bei der Schmerztherapie. Die Erkenntnisse zur Plastizität im Nervensystem haben zu neuen Konzepten über die Chronifizierung von Schmerzen und ihre Prävention geführt.

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61 Kapitel 2 · Physiologie von Nozizeption und Schmerz

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62

Teil I · Grundlagen

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63

3

Neuroendokrinologie und Neuroimmunologie U. Tewes und M. Schedlowski

> Dabei wurde ersichtlich, dass die SchmerzwahrAn der Verarbeitung akuter und chronischer Schmerzempfindungen ist ein breites Spektrum psychobiologischer Funktionen beteiligt, das noch nicht in allen Einzelheiten aufgeschlüsselt ist. Einerseits wird die Schmerzempfindung nicht nur durch das Schmerzverhalten, sondern auch durch das Nervensystem, das Hormonsystem und das Immunsystem beeinflusst, andererseits bewirkt die Schmerzempfindung auch Veränderungen in den Funktionen dieser Systeme. Das Verständnis der komplexen Wechselwirkungen dieser verschiedenen Systeme setzt nicht nur die Kenntnis ihrer Funktionsweisen voraus, sondern auch das Wissen darüber, wie diese Systeme miteinander vernetzt sind und mit Hilfe welcher Strukturen und Botenstoffe sie miteinander kommunizieren. Klinische Studien zeigen, dass sich daraus neue Erkenntnisse über die Entstehung und Verarbeitung akuter Schmerzzustände und chronischer Schmerzen gewinnen lassen.

3.1

Einleitung

Schmerz ist die Reaktion auf einen schmerzauslösenden Reiz. Schmerz ist selbst kein Reiz, sondern eine Empfindung (Graham 1990). Die neuronalen Aktivitäten von der Einwirkung des noxischen Reizes auf die Nozizeptoren und die Weiterleitung der Information über das Rückenmark zum Thalamus und von dort weiter zu den höheren Hirnregionen, aber auch über die Formatio reticularis zum limbischen System und weiter zum Hypothalamus, sind gründlich erforscht.

nehmung im Gegensatz zu anderen Sinnesmodalitäten keine klar umschriebene kortikale Repräsentation aufweist (Pinel 1993).

Die Organisation der Schmerzverarbeitung in den höheren Zentren ist noch nicht völlig verstanden. Aus korrelationsstatischen Untersuchungen weiß man, dass Schmerzempfindungen nicht nur die Motorik, die Emotionen, Motivationen sowie die Aufmerksamkeit und andere kognitive Prozesse verändern, sondern dass die Schmerzverarbeitung ihrerseits auch durch diese psychobiologischen Funktionen moduliert wird. Man ist stets davon ausgegangen, dass an der Schmerzverarbeitung ein breites Spektrum psychobiologischer Funktionen und biologischer Kommunikationswege beteiligt ist. Die Tatsache, dass bei den psychobiologischen Beschreibungen der Schmerzverarbeitungsprozesse die neuronalen Kommunikationswege den größten Raum einnehmen, ist v. a. darauf zurückzuführen, dass das Nervensystem am längsten und gründlichsten erforscht ist. In den letzten Jahrzehnten ergaben sich jedoch auch aus der endokrinologischen und immunologischen Forschung neue Erkenntnisse, die für das Verständnis der Schmerzverarbeitungsprozesse von Bedeutung sind. Die Neuropeptidforschung nahm erst in den 1970er Jahren ihren Anfang. Das breite Spektrum der schmerzassoziierten körperlich-biologischen und psychologischen Veränderungen wird man erst verstehen können,

wenn die neuronalen, humoralen und immunologischen Komponenten dieses komplexen Netzwerks weiter aufgeschlüsselt sein werden. Schon jetzt zeichnet sich jedoch ab, dass diese verschiedenen Systeme über regulatorische Peptide wesentlich stärker miteinander in Beziehung stehen als man früher annahm und dass sich aus der Kenntnis derartiger Zusammenhänge auch neue

Teil I · Grundlagen

64

Erkenntnisse zum Verständnis der Schmerzverarbeitung ergeben können.

3.2

Kommunikationswege im Körper

3.2.1

Signalübertragung von Nervenzelle zu Nervenzelle

Die biologische Voraussetzung für die Informationsweitergabe von Zelle zu Zelle bilden die Synapsen. Die Informationsübertragung erfolgt sowohl durch elektrische Impulse als auch durch chemische Reaktionen. Die Kommunikation zwischen benachbarten Nervenzellen erfolgt durch synaptische Übertragung chemischer Botenstoffe (Neurotransmitter). Sie verläuft in der Regel nur in einer Richtung. Bei dem Transmitter handelt es sich um eine Aminosäure oder häufiger um ein Monoamin, das in der Nervenzelle durch Veränderung der Aminosäure gebildet wird. Die Signalübertragung ist äußerst schnell und beansprucht Die Informationsübertragung im Nervensystem erfolgt über Nervenfasern und wird durch chemische Botenstoffen modifiziert.

3.2.2

Hormonsystem

Das Hormonsystem, in dem Drüsenzellen mit Zielzellen über Hormone als Botenstoffe kommunizieren, arbeitet demgegenüber vergleichsweise langsam. Bei den meisten Hormonen handelt es sich um Peptide, also um kurze Ketten von Aminosäuren. > Von der Ausschüttung der Hormone aus den Drüsen des Hormonsystems bis zur Entfaltung ihrer Wirkungen in den Zielzellen, die sie über die Blutbahn erreichen, können Minuten bis Stunden vergehen.

Während das Nervensystem v. a. der Reizwahrnehmung und Reizverarbeitung dient und eine koordinatorische Funktion ausübt, hat das humoralvegetative System eine adaptive Funktion. Es hält das innere Milieu möglichst konstant und unterliegt dabei einer homöostatischen Regulation. Außerdem ermöglicht es dem Organismus die Anpassung an akute oder andauernde Veränderungen in der Umwelt. Das Hormonsystem bildet ein sehr komplexes Netzwerk. Die Hormone werden in bestimmten Drüsenzellen produziert und speichern Botenstoffe ab. Nachdem diese von den Drüsenzellen in die Blutbahn abgegeben werden, binden sie an spezifische Rezeptoren ihrer Zielzellen, wobei sich einerseits ein und derselbe Rezeptor auf unterschiedlichen Zelltypen befinden, andererseits aber auch ein bestimmter Zelltyp bzw. eine einzelne Zielzelle verschiedenartige Rezeptoren aufweisen kann. Die zentrale Schaltstelle für die Koordination des Hormonsystems ist der Hypothalamus. Dieser bildet gleichzeitig die Schnittstelle zwischen Hormonsystem und Nervensystem. Er nimmt nicht nur Signale aus dem Hormonsystem auf, sondern ebenfalls Impulse aus den Sinnesorganen. Der Hypothalamus regelt zum einen die Aktivität der Hypophyse, gibt aber andererseits auch effektorische Hormone wie Adiuretin und Oxytozin ab. Die Hypophyse produziert verschiedene Hormone, mit denen die Aktivitäten anderer Drüsen und innerer Organe gesteuert werden, so beispielsweise die Aktivität 쎔 der Gonaden durch das follikelstimulierende Hormon (FSH) und das luteinisierende Hormon (LH), 쎔 der Schilddrüse durch Thyreotropin (TSH),

65 Kapitel 3 · Neuroendokrinologie und Neuroimmunologie

쎔 der Nebennierenrinde durch das adrenokorti-

> Besonders wichtig für die Auseinandersetzung mit akuten Gefahrensituationen oder anhaltenden Belastungen sind das Katecholamin- und das Kortisolsystem.

Das Katecholaminsystem (Abb. 3.1) mobilisiert unter akuter Belastung Ressourcen, die ursprünglich der Kampf- oder Fluchtreaktion dienten. In diesem Fall werden vermehrt Adrenalin und Noradrenalin ausgeschüttet. Adrenalin hat sympathikotone Wirkungen. Es verbessert die Durchblutung der Herz- und Skelettmuskulatur und hemmt die gastrointestinale Motilität. Erhöht werden auch die Atmungs- und Herzschlagfrequenz sowie die Ansprechbarkeit auf Sinnesreize. Ganz allgemein wird durch Erhöhung der Lipolyse im Fettgewebe und der Proteolyse in der Leber mehr Energie bereitgestellt. Reduziert werden jene Funktionen, die unter akuter Belastung nicht benötigt werden, wie beispielsweise die Verdauungsfunk-

limbisches System Hypothalamus

Autonomes Nervensystem

Nebennierenmark Adrenalin (Noradrenalin)

Noradrenalin (Adrenalin)

Diese Organe geben wiederum eine Vielzahl von Substanzen ab, durch die zahlreiche Funktionen im Organismus gesteuert werden, die einen Einfluss auf die körperliche Funktionstüchtigkeit haben, andererseits aber auch die Emotionen und Motivationen verändern können. Der Hypothalamus greift in diesen kaskadenähnlich („topdown“) organisierten Ablauf ein, indem er über sog. Releasinghormone (RH) und Inhibitinghormone (IH) die Produktion der Hypophysenhormone stimuliert oder hemmt. Die Konstanz des inneren Milieus wird dabei über Rückkopplungsschleifen aufrechterhalten („bottom-up“), wobei verschiedene Hormone, wie beispielsweise Kortisol oder Trijodthyronin, wenn sie vermehrt in den Blutkreislauf ausgeschüttet werden, auf den Hypothalamus und die Hypophyse zurückwirken und dort die weitere Ausschüttung hemmen. Funktionell lässt sich das Hormonsystem in verschiedene Teilsysteme untergliedern.

ZNS Großhirnrinde

Negative Rückkoppelung

kotrope Hormon (ACTH), 쎔 der Melanozyten durch das melanozytenstimulierende Hormon (MSH), 쎔 der Leber-, Knochen-, Fett- und Muskelzellen durch das Wachstumshormon („growth hormon“, GH), 쎔 der Brustdrüsen durch Prolaktin.

3

Effekte: -

Herzaktivität Gefäßdilatation Insulinsekretion Lipolyse Glukoneolyse

Abb. 3.1. Katecholaminsystem

tionen oder die Insulinsekretion, aber auch die sexuelle Erregbarkeit und das Wachstum. Adrenalin wird durch das Nebennierenmark ausgeschüttet. Noradrenalin hat teilweise ähnliche Wirkungen, fördert aber auch kognitive Funktionen, wie die Aufmerksamkeit und das Gedächtnis. Es erzeugt seine Wirkungen nicht nur in der Peripherie, sondern auch in verschiedenen Hirnarealen, die für die Steuerung des Verhaltens und der Emotionen von Bedeutung sind. Es wird in der Nebenniere, größtenteils jedoch im Locus coeruleus produziert („blauer Kern“), einer Gruppe bläulich-grauer Zellen am Übergang zwischen Rückenmark und Gehirn. Die Katecholaminausschüttung fördert auf diese Weise die aktive Auseinandersetzung mit akuten Belastungen. Sie kann innerhalb kurzer Zeit aktiviert werden. Das Kortisolsystem (Abb. 3.2) hat eine längere Latenzzeit und wird v. a. bei passivem Stress aktiviert, insbesondere dann, wenn das Individuum meint, einer bedrohlichen Situation hilflos ausgeliefert zu sein. Akut führt die vermehrte Ausschüttung von Kortisol zu einer Erhöhung der Aminosäurenkonzentration im Blut, was im Fall einer Ge-

66

Teil I · Grundlagen

ZNS Großhirnrinde limbisches System

Negative Rückkoppelung

Hypothalamus CRF

Hypophyse POMC

ACTH β - Endorphin

Nebennierenrinde

Kortisol

Schon diese kurzen Beispiele machen deutlich, dass Hormone nicht nur Botenstoffe sind, die die Stoffwechselvorgänge regulieren, sondern dass sie teilweise auch die Funktion von Neurotransmittern haben. So wird Noradrenalin nicht nur von den Endigungen der sympathischen Nerven in das Blut abgegeben, sondern auch vom Locus coeruleus als Neurotransmitter über verschiedene Nervenfasern in andere Hirnareale transportiert. > Die Informationsübertragung im Hormonsystem von den Drüsen bis zu den Zielzellen erfolgt über die Blutbahnen, wobei sich das System v. a. kurzer Aminosäureketten als Botenstoffe bedient.

Kortisol

3.2.3 Effekte: -

Entzündungshemmung Glukoneogenese Proteolyse Lipolyse

Abb. 3.2. Kortisolsystem

webeschädigung den Heilungsprozess fördert. Kortisol hat aber auch permissive Auswirkungen auf die Wirkungen der Katecholamine, da diese ihre Wirkung auf die glatte Muskulatur nur unter dem Einfluss des Kortisols ausüben können. Weiterhin bewirkt Kortisol eine vermehrte Bereitstellung von Glukose im Blut. Die These, dass die Aktivierung des Kortisolsystems der Aktivierung des Katecholaminsystems nachgeordnet ist und daher die längerfristige Adaptation fördert, wird durch die Erkenntnis gestützt, dass die Reaktionskette mit der vermehrten Ausschüttung von Noradrenalin durch den Locus coeruleus beginnt. Dieses stimuliert den Hypothalamus zur Freigabe des Kortikotropinreleasinghormons (CRH), das über die portalen Gefäße an den Hypophysenvorderlappen weitergegeben wird. Dieser wird dadurch zur Synthese und Freisetzung des adrenokortikotropen Hormons (ACTH) stimuliert. Das ACTH stimuliert wiederum die Nebennierenrinde zur Synthese von Kortisol.

Immunsystem

Ein weiteres kommunikatives Netzwerk, über das der Körper verfügt, ist das Immunsystem. Seine Funktion beruht auf einem fein abgestimmten Zusammenspiel verschiedener Zelltypen im Blut und im Gewebe des Körpers. Das Immunsystem hat die Aufgabe, körperfremde Substanzen, wie pathogene Mikroorganismen, zu erkennen und zu eliminieren. Es unterscheidet sozusagen zwischen „Selbst“ und „NichtSelbst“. Eine molekulare Struktur, die vom Immunsystem als „Nicht-Selbst“ erkannt wird, bezeichnet man als Antigen. > Da die Bandbreite fremder Organismen, die in den Körper eindringen können, sehr groß ist, muss das Immunsystem spezifisch und flexibel reagieren können.

Für die Erkennung fremder Molekularstrukturen sind die Lymphozyten, eine Sorte weißer Blutkörperchen, zuständig. Wenn ein Lymphozyt auf ein Antigen trifft, so kann er dieses mit Hilfe eines speziellen Rezeptorproteins an sich binden. Jeder Lymphozyt hat an seiner Oberfläche mehrere Tausend Rezeptoren. Da praktisch jeder Lymphozyt ein eigenes Rezeptorprotein entwickelt, kommt es zu einer enormen Vielfalt von Antigenrezeptoren im Körper. Die Lymphozytenpopulation des menschlichen Körpers verfügt schätzungsweise über 100 Mio. verschiedener Rezeptoren (Engelhard 1994). Damit kann dieses System praktisch auf alle körperfremden molekularen

67 Kapitel 3 · Neuroendokrinologie und Neuroimmunologie

3

Abb. 3.3. Netzwerk des Immunsystems. (Nach Traxel u. Rimpler 1991)

Strukturen reagieren, mit denen es in Kontakt kommt. Diese Vielfalt kommt dadurch zustande, dass die Rezeptoren einen konstanten und einen variablen Teil aufweisen. Der variable Teil besteht aus Einzelsegmenten, die sich bei der Entwicklung des Lymphozyten nach Zufall kombinieren. Wenn ein Lymphozyt ein Antigen bindet, so bewirkt dies eine Teilung des Lymphozyten, wobei jeder Klon dieselbe Antigenspezifität enthält wie der ursprüngliche Lymphozyt (Abb. 3.3). Der Organismus wendet dabei 2 unterschiedliche Abwehrstrategien an: 쎔 Gegen Erreger in den extrazellulären Räumen des Körpers werden B-Lymphozyten aktiv, sie entstammen dem Knochenmark (B = „bone marrow“). 쎔 Erreger, die sich intrazellulär einnisten, wie beispielsweise Viren, werden durch T-Lymphozyten (T = Thymus) bekämpft.

B-Lymphozyten haben lösliche Antigenrezepto-

ren. Diese binden sich an das Antigen und markieren es dadurch als Ziel für andere immunkompetente Zellen. Außerdem beginnen die B-Lymphozyten, sich zu teilen und reifen anschließend überwiegend zu antikörperproduzierenden Plasmazellen, die sich dann nicht weiter vermehren. Sie produzieren jedoch Antikörper mit der gleichen Antigenspezifität wie die ursprünglichen B-Zellen. Die Antikörper unterstützen andere Immunfunktionen und markieren Antigene auf infizierten Zellen, um sie auf diese Weise der Bekämpfung durch andere Zellen des Immunsystems zugänglich zu machen. Nach einigen Wochen sterben diese B-Zellen ab. > Ein Teil der B-Zellen ist an diesem Prozess nicht beteiligt. Er bleibt in Form von „Gedächtniszellen“ im Körper. Diese können, weil sie nicht mehr so viele Teilungsschritte durchlaufen müssen, später wesentlich schneller reagieren, wenn

68

Teil I · Grundlagen

sie erneut mit demselben Antigen konfrontiert werden.

T-Lymphozyten differenzieren zu T-Helferzellen und zytotoxischen (zellgiftigen) T-Zellen. Die THelferzellen reagieren, wenn ihnen andere Zellen

(z. B. B-Lymphozyten oder Makrophagen) körperfremde Substanzen an ihrer Oberfläche präsentieren. Sie erkennen befallene oder entartete Zellen daran, dass diese auf ihrer Oberfläche einen veränderten MHC-Peptidkomplex (MHC = „major histocompatibility complex“) präsentieren, der ihren Befall oder ihre Entartung nach außen signalisiert. T-Lymphozyten reagieren ausschließlich auf Antigene, die an MHC-Moleküle gebunden sind. T-Helferzellen schütten Zytokine aus und beeinflussen dadurch die Entwicklung, Differenzierung und Aktivierung anderer Immunzellen. Aktivierte THelferzellen stimulieren außerdem die Reifung der B-Lymphozyten und deren Produktion von Antikörpern.Die zytotoxischen T-Lymphozyten vernichten den Erreger dadurch, dass sie die befallene Zelle insgesamt vernichten. Bei Bindung an eine infizierte Zelle beginnen sie, sich zu teilen. Alle Klone haben denselben Rezeptor und können somit alle Zellen mit diesem Antigen zerstören. Der MHC-Peptidkomplex wird gebildet, indem sich innerhalb der Zelle MHC-Moleküle mit Peptiden oder Proteinen des Parasiten verbinden und der daraus entstandene Komplex auf die Außenwand der Zelle transportiert wird. Dabei wird in der befallenen Zelle das Antigen zunächst in kurze Peptide von 10–20 Aminosäuren zerlegt. Anschließend werden diese an das MHC-Molekül gekoppelt und an die Oberflächenmembran der Zelle transportiert, wo es dann für die T-Lymphozyten erkennbar ist. Die auf diese Weise markierten Zellen werden dann von den T-Lymphozyten abgetötet. MHC-Peptidkomplexe werden jedoch nicht nur von befallenen Zellen an ihrer Oberfläche präsentiert.Vielmehr nehmen auch B-Zellen und Makrophagen Antigene in sich auf und bilden MHCKomplexe. Makrophagen (sog. Fresszellen) durchwandern den Körper und vernichten Zellmüll und Antigene. > Alle Körperzellen unterliegen einer dauernden Überprüfung durch immunkompetente Zellen.

Diese Kontrolle wird dadurch gewährleistet, dass die Zellen fortlaufend eigene und fremde Proteine

von eingedrungene Viren in Peptide zerlegen und zusammen mit MHC-Molekülen an ihre Oberfläche transportieren. Ein MHC-Komplex vom Typ I wird von den infizierten Zellen direkt präsentiert. Der Typ II wird von antigenpräsentierenden Zellen, wie Makrophagen und B-Zellen, gebildet. B-Lymphozyten erkennen die Antigene direkt. Die zytotoxischen T-Lymphozyten erkennen Antigene, wenn sie an einen MHC-Komplex der Klasse I gebunden sind. Diese gibt es auf fast allen körpereigenen Zellen. Sie können daher alle Körperzellen auf tumorale oder virale Veränderungen überprüfen. Die T-Helferzellen erkennen Antigene nur, wenn sie an einen MHC-Komplex der Klasse II gebunden sind, den es ausschließlich auf spezialisierten Zellen wie Makrophagen und B-Lymphozyten gibt. Neben dieser spezifischen Abwehr gibt es noch ein unspezifisches Immunsystem, das darauf ausgerichtet ist, fremde Erreger und entartete eigene Zellen an der Ausbreitung im Körper zu hindern. Hierzu gehören insbesondere die Phagozyten und die NK-Zellen (NK = „natural killer“). Sie erkennen fremde und entartete Zellen auch ohne MHCKomplex. Die Phagozyten nehmen körperfremdes Material auf und machen es durch Abbau unschädlich. Außerdem sezernieren sie Proteine, die wiederum andere Immunzellen aktivieren. Die NK-Zellen sind zytotoxisch (zellgiftig). Sie binden sich an entartete oder infizierte Zellen und töten diese ab. Die verschiedenen Zellen des Immunsystems wandern in den Blut- und Lymphgefäßen durch den Körper und werden v. a. in den lymphatischen Organen – wie Milz, Lymphknoten, Thymus, Tonsillen und Peyer-Placques – gespeichert. Die Funktionstüchtigkeit dieser Organe ist wiederum auch vom Hormonsystem beeinflusst. So kann beispielsweise eine anhaltende Überproduktion von Kortisol zu einer Schädigung der Milz führen. Lange Zeit war unbekannt, auf welchem Weg die Immunzellen miteinander kommunizieren und wie es dazu kommt, dass sie sich nach Kontakt mit einem Antigen vermehren. Man nahm zunächst an, dass diese Zellen nur im direkten Kontakt miteinander biochemische Signale austauschen. Inzwischen weiß man, dass die Funktionsweise des Immunsystems erstaunliche Analogien zum Hormonsystem aufweist.

69 Kapitel 3 · Neuroendokrinologie und Neuroimmunologie

> Nach Kontakt mit Antigenen schaltet das Im-

beispielsweise über Neurotransmitter und Lymphokine/Zytokine.

munsystem von einer biochemischen auf eine hormonelle Regulation um.

Ein entscheidender Faktor in diesem Prozess ist das Interleukin-2 (IL-2). Nachdem die Makrophagen das Antigen auf ihrer Oberfläche präsentiert haben und ein T-Lymphozyt mit passendem Rezeptor durch dieses Antigen aktiviert wurde, beginnt die T-Zelle, IL-2 auszuschütten und auch Rezeptoren für IL-2 zu präsentieren. Das Signal zur Teilung erhält die Zelle nicht durch die Bindung an das Antigen, sondern dadurch, dass sich das IL-2 an den Rezeptor bindet (Smith 1990). Das Ausmaß der Vermehrung der T-Lymphozyten nach Antigenkontakt steigt in geometrischer Folge. Die Vermehrung ist abhängig von der Konzentration des IL-2, von der Anzahl der IL-2Rezeptoren auf der Zelloberfläche und der Dauer des Kontakts mit dem IL-2. Wenn die mit dem Antigen befallenen Zellen weitgehend eliminiert sind, nimmt die Zahl der Signale, die die T-Zellen von ihren Antigenrezeptoren erhalten, ab, und entsprechend vermindert sich die Zahl der IL-2-Rezeptoren. Die verbleibenden Zellen bilden dann das „Gedächtnis“ des Immunsystems. Auf IL-2 sprechen auch die NK-Zellen des unspezifischen Immunsystems an, obwohl sie keine Antigenrezeptoren aufweisen. Das IL-2 fördert auch die Reifung der B-Lymphozyten. Somit kann als gesichert gelten, dass die Immunzellen nicht nur über Zell-zu-Zell-Kontakt, sondern ähnlich wie die Zellen des Hormonsystems auch über Distanz miteinander kommunizieren. Funktionell weist das Immunsystem jedoch nicht nur Ähnlichkeiten mit dem Hormonsystem auf, sondern ebenfalls mit dem Nervensystem. Beide Systeme verfügen über ein Gedächtnis (Gehirn bzw. langlebende Gedächtnislymphozyten), und beide verwenden chemische Botenstoffe zur Signalübermittlung (Neurotransmitter bzw. Lymphokine/Zytokine). Außerdem kommunizieren beide Systeme über Entfernungen (Nerven bzw. „wandernde“ immunkompetente Zellen). > Die Informationsübertragung im Immunsystem erfolgt über wandernde Lymphozyten, die in unmittelbaren Zell-zu-Zell-Kontakt miteinander treten und über den Austausch biochemischer Signale zwischen immunkompetenten Zellen,

3

3.3

Bedeutung der Neuropeptide für die Kommunikation zwischen den Systemen

Lange war man der Ansicht, dass Nervensystem, Hormonsystem und Immunsystem weitgehend unabhängig voneinander reguliert werden. Seit der Entdeckung der Neuropeptide zu Beginn der 1970er Jahre wurden jedoch in rascher Folge Substanzen nachgewiesen, die Verbindungen zwischen den 3 Systemen herstellen (Schedlowski u. Tewes 1996). Gleichzeitig spielen sie aber auch eine wichtige Rolle bei der Regulation wichtiger psychiobiologischer Funktionen, wie Hunger, Durst, Aufmerksamkeit und Emotionen. Einige dieser Botenstoffe scheinen für die Schmerzempfindung von besonderer Bedeutung zu sein, wobei sich abzeichnet, dass die Schmerzempfindung in enger Wechselwirkung mit allen 3 Systemen steht. > Aktivitäten des Nervensystems, des Hormonsystems und des Immunsystems werden offensichtlich durch Schmerzreize verändert, modulieren andererseits aber auch die Schmerzwahrnehmung.

Ein Peptid besteht aus einer Kette von Aminosäuren. Peptide, die von Nervenzellen abgegeben werden, bezeichnet man als Neuropeptide. Sie haben einerseits die Funktion von Neurotransmittern, werden andererseits aber auch von Nervenzellen als Hormone ausgeschieden. Rezeptoren für ein und dasselbe Neuropeptid finden sich in verschiedenen Bereichen des Nervensystems, aber auch im Hormonsystem und im Immunsystem sowie im Gastrointestinaltrakt. In Abhängigkeit von ihrer Lokalisation können sie sehr unterschiedliche Wirkungen vermitteln. Eine Sondergruppe der Neuropeptide, die für die Schmerzverarbeitung von Bedeutung ist, bilden die sog. opioiden Peptide. Die analgetische Wirkung von Opiaten war lange bekannt, bevor die entsprechenden Rezeptoren im Gehirn nachgewiesen werden konnten. Nachdem dieser Nachweis gelungen war, lag die Annahme nahe, dass der Körper auch selbst Moleküle produziert, die an diese Rezeptoren binden. So gelang es u. a. Hughes

70

Teil I · Grundlagen

et al. (1975), 2 aus 5 Aminosäuren bestehende Peptide zu isolieren, die im Gehirn von Wirbeltieren gebildet werden und mit den Opioidrezeptoren im Gehirn in Wechselwirkung treten (Enkephaline). Beide sind für die Regulation der Schmerzbahnen von Bedeutung, die von den peripheren Nerven zum Gehirn ziehen (Crapo 1986). Es wurden dann eine Vielzahl von opioiden und nichtopioiden Peptiden entdeckt. > Für die Schmerzverarbeitung sind v. a. die Endorphine (endogenen Morphine) von Bedeutung. Sie haben ähnliche Wirkung auf die Schmerzempfindung wie Morphin.

Enkephaline und manche Endorphine haben nicht

nur analgetische Wirkung, sondern beeinflussen auch eine Vielzahl anderer wichtiger körperlicher Funktionen (z. B. Blutdruck, Motorik, Temperatur). Zunächst wurden alle Opioidpeptide als Endorphine bezeichnet. Inzwischen ist bekannt, dass auch sog. Enkephaline eine opioide Wirkung ausüben. Die opioidwirkenden Spaltprodukte des Proopiomelanocortins (POMC) bezeichnet man als Endorphine. Beim POMC handelt es sich um ein längeres Peptid, das in der Hypophyse und bestimmten Zellgruppen des Hypothalamus gebildet wird. Es enthält u. a. auch Sequenzen für ACTH. In einer akuten Stresssituation wird nicht nur vermehrt das Hormon ACTH ausgeschüttet, das dann seine oben beschriebenen Wirkungen entfaltet, sondern auch das opioide Peptid β-Endorphin (Morley 1981). Die opioiden Peptide regulieren offensichtlich eine Vielzahl von Körperfunktionen, wobei Schmerzempfindungen und andere Emotionen häufig ebenfalls reguliert werden. In jenen Gebieten des zentralen Nervensystems, deren elektrische Stimulierung analgetische Effekte hat, findet man besonders große Mengen dieser Peptide und auch entsprechend viele Rezeptoren. Injektionen dieser Peptide in die entsprechenden Hirnregionen haben analgetische Wirkung, i.v.-Injektionen bewirken Veränderungen in der Ausschüttung der Hypophysenhormone. > Die Neuropeptide haben eine doppelte Funktion als Neurotransmitter und als Hormon. Substanzen wie Endorphine, Vasopressin, das Releasinghormon TRH oder Somatostatin werden von Drüsenzellen freigesetzt, wirken andererseits aber auch als Neurotransmitter im Nervensystem.

Im Folgenden sollen v. a. jene endogenen Substanzen beschrieben werden, die für die Schmerzverarbeitung von Bedeutung sind. Besonders stark mit Opioidrezeptoren sind jene Bereiche des ZNS angereichert, die für die Emotionsverarbeitung und Verhaltenssteuerung

wichtig sind, wie der Hypothalamus, das limbische System und hier wiederum v. a. die Amygdala. Aber auch die Informationsverarbeitung scheint durch endogene Opioide reguliert zu werden. Hohe Anreicherungen von Opioidrezeptoren findet man nämlich auch in jenen Bereichen des Nervensystems, die für die Verarbeitung der von der Peripherie des Nervensystems eingehenden Informationen verantwortlich sind, so beispielsweise an den Hinterhornneuronen des Rückenmarks, über die die peripheren sensorischen Systeme, so auch die nozizeptorischen Afferenzen, ihre erstmalige synaptische Verschaltung mit dem ZNS haben. Möglicherweise bilden die Opioidrezeptoren auf diese Weise einen Filter, der die eingehenden Informationen in Hinblick auf ihre Bedeutung für das Überleben des Organismus nach Prioritäten ordnet (Pert et al. 1985). Eine weitere Region des ZNS, die besonders stark mit Opioidrezeptoren angereichert ist, ist das zentrale Höhlengrau des Stammhirns, in dem die afferenten Reizverarbeitungsprozesse integriert und die Reizschwellen für die Sinnesorgane und somit auch für Schmerzreize moduliert werden. Die elektrische Reizung dieses Bereichs hat u. a. eine analgetische Wirkung, die Mikroinjektion von Neuropeptiden, wie beispielsweise von Neurotensin und Bombesin (Pert et al. 1980) oder Substanz P (Sullivan u. Pert 1981), jedoch ebenfalls. > Nervensystem, Hormonsystem, Immunsystem und Verhalten bedienen sich gemeinsamer Botenstoffe, wie die regulatorischen Peptide, mit denen sich die Funktionen der verschiedenen Systeme aufeinander abstimmen lassen.

3.4

Vernetzung der Schmerzverarbeitungsprozesse mit neuroendokrinem und Immunsystem

Die bisherigen Erläuterungen machen deutlich, dass dem Organismus offensichtlich Botenstoffe zur Verfügung stehen, mit deren Hilfe die Funktionen des Nervensystems, des Hormonsystems und

71 Kapitel 3 · Neuroendokrinologie und Neuroimmunologie

des Immunsystems, die man früher meist separat untersucht hat, aufeinander abgestimmt werden können und dass bei der Schmerzwahrnehmung und -verarbeitung anscheinend alle Systeme mehr oder minder involviert sind. Die empirischen Befunde sind in Anbetracht des immensen Forschungsaufwands vorerst als exemplarisch anzusehen.Aus der Fülle der bisher untersuchten regulatorischen Peptide sollen im Folgenden jene näher erläutert werden, die sowohl für die Schmerzverarbeitung als auch für die Regulierung von Immunfunktionen von Bedeutung sind. > Als regulatorische Peptide bezeichnet man Proteine bzw. Botenstoffe des Körpers mit Proteincharakter, die in die Stoffwechselvorgänge des Körpers eingreifen.

Dabei unterscheidet man Neuropeptide und Peptidhormone. Die Neuropeptide dienen als Überträgersubstanzen an den Synapsen des Nervensystems, die Peptidhormone werden als Botenstoffe über das Blut und die extrazelluläre Flüssigkeit des Körpers transportiert.

3.4.1

β-Endorphin

Das β-Endorphin ist ein Neuropeptid aus 32 Aminosäuren. Es ist v. a. im Hyothalamus und im Hypophysenvorderlappen nachweisbar und entfaltet seine morphinähnliche analgetische Wirkung etwa 2–3 h nach i.v.-Injektion. Es unterstützt dabei v. a. die Arbeit der efferenten Hemmsysteme. Beim Versuchstier senkt es die Körpertemperatur und bewirkt eine starke Analgesie des gesamten Körpers über mehrere Stunden. Außerdem ist es für die Regulation emotionaler Reaktionen von Bedeutung. Die Ausschüttung wird durch Serotonin und Noradrenalin verstärkt und durch GABA gehemmt. > β-Endorphin bindet aber auch an spezifische Rezeptoren auf der Membran von Immunzellen, wie schon von Wybran et al. (1979) erstmals berichtet wurde.

Auf diese Weise stimuliert es beispielsweise Leukozyten und Makrophagen in vitro zur Produktion von Superoxid und beeinflusst die Aktivität der natürlichen Killerzellen in vivo nichtlinear. Gerin-

3

ge und sehr hohe Dosierungen haben eine wenig, mittlere Dosierungen eine stärker stimulierende Wirkung (Mathews et al. 1983). Die Wirkung scheint jedoch wechselseitig zu sein. Beim Mensch produzieren beispielsweise periphere Lymphozyten auch eine Substanz, die in ihrer Wirkung dem des γ-Endorphins ähnelt (Blalock u. Smith 1980). Dass es sich bei der aktivierenden Wirkung von β-Endorphin auf die Lymphozyten um eine Kausalbeziehung handelt, lässt sich dadurch belegen, dass sich diese Wirkung durch die Gabe des Opiatantagonisten Naloxon wieder aufheben lässt. Möglicherweise bewirkt β-Endorphin auch eine Feinabstimmung der Lymphozytenaktivität, da seine Wirkung auch vom Aktivierungsgrad der Lymphozyten abhängt. Es wird diskutiert, ob β-Endorphin dann stimulierend wirkt, wenn der Aktivierungsgrad der Lymphozyten schwach ist und dass es hemmend wirkt, wenn der Aktivierungsgrad hoch ist. Der Zusammenhang zwischen β-Endorphin und Lymphozytenaktivität lässt sich in Form eines Regelkreises beschreiben.Wie schon erwähnt, sind β-Endorphin und ACTH Teile des Vorläufermoleküls POMC, dessen Sekretion durch das Kortikoreleasinghormon CRH stimuliert wird. Das Immunsystem sezerniert Substanzen (Zytokine), die wiederum die CRH-Ausschüttung und die Funktion von opiokortikoiden Neuronen beeinflussen. Wenn Lymphozyten auf Antigene reagieren, wird auf diesem Weg auch vermehrt ACTH ausgeschüttet (Lolait 1991). Eine vereinfachte, schematische Darstellung dieses Netzwerks bietet Abb. 3.4.

3.4.2

Substanz P

Substanz P ist ein Neuropeptid aus 11 Aminosäuren. Es wirkt analgetisch, bei intraarterieller Injektion löst es Schmerzempfindungen aus. Substanz P wird u. a. im Rückenmark freigesetzt und unterstützt die Weiterleitung von Schmerzreizen in das ZNS. Es ist im ZNS, in den Schmerzbahnen des Rückenmarks und im Magen-Darm-Trakt nachweisbar, wirkt darmerregend, blutdrucksenkend und verändert die mikrovaskuläre Permeabilität. Außerdem bewirkt es lokale Entzündungsprozesse der Haut und beeinflusst die Funktion verschiedener Zelltypen der Haut. Rezeptoren für Substanz P wurden auf T- und B-Lymphozyten nachgewiesen. Man geht davon

Teil I · Grundlagen

72

Abb. 3.4. Neuroendokrinologische und neuroimmunologische Veränderungen unter Stress. (Nach Lolait 1991)

ZNS Großhirnrinde limbisches System Hypothalamus CRF

Hypophyse

Enkephaline

ACTH

Immunsystem

ACTH

Steroide

Nebennieren Katecholamine

aus, dass Substanz P die Lymphozytenproliferation und die Aktivität der Lymphozyten stimuliert. Außerdem beeinflusst es in niedriger Konzentration die Chemotaxis von Monozyten und Lymphozyten. Substanz P kann auch Monozyten zur Produktion von IL-1, IL-6 und TNF-α (Tumornekrosefaktor-α) anregen (Lotz et al. 1988). > Madden und Felten (1995) kommen zu dem Schluss, dass Substanz P das Immunsystem zu einer ersten Abwehr gegen Verletzungen und entzündliche Prozesse mobilisiert. Dem wäre hinzuzufügen, dass die analgetische Wirkung von Substanz P das begleitende oder auslösende Signal darstellen könnte.

3.4.3

Katecholamine

in β-

En

do

rph

Zytokine

Autonomes Nervensystem

ACTH

Zellkörpern der Serotoninneuronen in den Raphekernen des Hirnstammes laufen Serotoninfasern zu 쎔 Hypothalamus, v. a. zum Nucleus suprachiasmaticus, der für die Regulation von Schlaf und Wachzuständen zuständig ist, 쎔 Septum, 쎔 Hippokampus, 쎔 Großhirnrinde, 쎔 Basalganglien, 쎔 Amygdala, 쎔 Formatio reticularis. > In der Zirbeldrüse (Epiphyse) findet man die höchste Serotoninkonzentration. Dort wird es in Melatonin umgewandelt und hat so einen Einfluss auf die Kontrolle der Tag-Nacht-Rhythmik.

Serotonin

Serotonin ist ein biogenes Amin. Es hat eine analgetische Wirkung und kommt in Rückenmark, Mittelhirn und im Raphekern des Hirnstamms sowie in der Substantia gelatinosa und den chromaffinen Zellen der Darmschleimhaut vor. Von den

Seine analgetische Wirkung beruht wahrscheinlich darauf, dass es das absteigende Schmerzhemmsystem aktiviert. Eine Blockierung der Serotoninsynthese verursacht Schmerzen. Serotonin regelt den Tonus der glatten Muskulatur und beeinflusst eine Vielzahl anderer Körperfunktionen,

73 Kapitel 3 · Neuroendokrinologie und Neuroimmunologie

wie beispielsweise die Schlaf-Wach-Regulation, die Regulation der Körpertemperatur, Nahrungsaufnahme und Sexualität sowie Wahrnehmungen und Emotionen. Eine reduzierte Serotoninsynthese kann zu Depressionen führen. Ein hoher Serotoninspiegel wirkt emotional hemmend. Über die Auswirkungen von Serotonin auf das Immunsystem ist wenig bekannt. Es gibt Hinweise darauf, dass Serotonin die Anzahl und die Verteilung von T-Lymphozyten beeinflusst (Wybran 1985). Serotonin scheint die Immunreaktion zu hemmen und reduziert die Anzahl verschiedener Lymphozyten (Jackson et al. 1985). Khan et al. (1986) sowie Arzt et al. (1988) beobachteten eine etwa 50 %ige Abnahme der mitogenvermittelten Lymphozytenproliferation und eine fast vollständige Hemmung der Produktion von IFN-γ und anderer Lymphokine. Die Ergebnisse sind allerdings noch widersprüchlich. So wurde beispielsweise auch eine 50%ige Vermehrung der NK-Zell-Zytotoxizität beobachtet (Hellstrand u. Hermodsson 1987). Es ist auch noch nicht geklärt, ob die Auswirkungen des Serotonins auf Immunfunktionen rezeptorvermittelt sind. Nach Devoino (1988a, b) wirkt Serotonin über eine Erhöhung der Kortikosteronfreisetzung immunsuppressiv. Trotzdem kann als gesichert gelten, dass Serotonin ein wichtiges regulatorisches Peptid ist, dessen sich Gehirn und Immunsystem gemeinsam bedienen.

3.4.4

Oxytozin

Oxytozin hat algetische Wirkung und wird im Hypophysenhinterlappen synthetisiert. Es weist ähnliche Strukturen auf wie Vasopressin und dient der Förderung der Wehentätigkeit und somit der Beschleunigung der Geburt. Es unterstützt die IFN-γProduktion der T-Zellen (Johnson u. Torres 1985). Rezeptoren für Oxytozin wurden im Thymus von Ratten nachgewiesen (Elands et al. 1988).

3.4.5

3

spezifische Rezeptoren für Neurotensin haben. Neurotensin wurde auch beim Mensch und verschiedenen Tierarten im Thymus nachgewiesen (Geenen et al. 1986, 1987, 1988).

3.4.6

Prostaglandine

Prostaglandine sind Fettsäurenderivate mit 20 Kohlenstoffatomen und einem Ring aus 5 C-Atomen, die die Aktivität der Zellen, in denen sie synthetisiert werden, und die der Nachbarzellen verändern. Sie werden von den peripheren Nervenendigungen, Blutgefäßen und dem Bindegewebe freigesetzt. Sie kommen in Thymus, Pankreas, Niere, Lunge, Samenflüssigkeit und Menstruationsblut vor. > Die Art der Effekte kann sich von Zelltyp zu Zelltyp ändern.

Sie wirken blutdrucksenkend, regulieren die Blutzirkulation in bestimmten Organen und modulieren die synaptische Übertragung.Außerdem erhöhen sie die Empfindlichkeit gegenüber Schmerzen, die durch Entzündungen ausgelöst werden, indem sie die Nozizeptoren in der Peripherie aktivieren. Da bei Depressiven, die vermehrt über Schmerzen klagen, häufig auch die Prostaglandinwerte deutlich erhöht sind, liegt hierin evtl. eine mögliche Ursache für die erhöhte Schmerzempfindlichkeit bei Depressiven. Da diese Patienten gleichzeitig auch Veränderungen in den Immunfunktionen aufweisen, wird diskutiert, ob hierfür möglicherweise die Prostaglandine verantwortlich sind (Goodwin u. Webb 1980), zumal in den Bereichen der Peripherie, in denen die Prostaglandine die Nozizeptoren aktivieren, auch Wechselwirkungen zwischen Nozizeptoren und immunkompetenten Zellen zu beobachten sind. Die entzündungsfördernde Wirkung der Prostaglandine kann durch Aspirin vermindert werden, da dieses die Biosynthese der Prostaglandine hemmt (Tölle 1997).

Neurotensin

Neurotensin ist ein Peptid aus 13 Aminosäuren. Es wirkt analgetisch und verteilt sich im Körper ähnlich wie Substanz P und die Enkephaline. Die analgetische Wirkung des Neurotensins lässt sich nicht durch den Morphinantagonisten Naloxon aufheben. Folglich müssen schmerzleitende Nerven

3.4.7

Bradykinin

Bradykinin ist ein Gewebehormon. Es senkt den Blutdruck und kontrahiert die glatte Muskulatur. Bradykinin hat algetische Wirkung und erhöht die allgemeine Sensibilität für Schmerzreize. Die Verab-

Teil I · Grundlagen

74

reichung von Bradykinin löst beim Menschen brennende Schmerzempfindungen aus. Über immunologische Effekte ist gegenwärtig nichts bekannt. > Ein bestimmtes regulatorisches Peptid kann somit Wirkungen im Nervensystem, Hormonsystem und Immunsystem entfalten.

Welcher Art diese Wirkungen sind, scheint im Wesentlichen davon abzuhängen, welche Bereiche dieser Systeme besonders stark mit Rezeptoren für dieses Peptid angereichert sind. Somit können sehr unterschiedliche Formen der Schmerzempfindung, beispielsweise bei Verletzungen,Verbrennungen, Entzündungen, Eingeweideschmerzen oder Geburtswehen, auch durch Neuropeptide oder Peptidhormone verstärkt oder abgeschwächt werden, die gleichzeitig vielfältige Vorgänge im Nervensystem, Hormonsystem und Immunsystem beeinflussen und das Verhalten und die Emotionen regulieren, wobei sich über Rückkopplungseffekte auch Veränderungen in diesen 3 Systemen auf die Schmerzverarbeitung auswirken können. Beispiele für verschiedene Botenstoffe, die sowohl die Funktionen des Immunsystems als auch die Schmerzregulation beeinflussen

쎔 β-Endorphin: stimuliert Leukozyten, Ma-









krophagen und die Aktivität von NK-Zellen; morphinähnliche analgetische Wirkung Substanz P: stimuliert Aktivität und Proliferation von Lymphozyten sowie die Produktion von IL-1, IL-6 und TNF-α, mobilisiert das Immunsystem zu einer ersten Abwehr bei Verletzungen und entzündlichen Prozessen; unterstützt die Weiterleitung von Schmerzreizen in das ZNS Serotonin: beeinflusst Anzahl und Verteilung von T-Lymphozyten, hemmt die Immunreaktion; aktiviert das absteigende Schmerzhemmsystem Oxytozin: unterstützt die IFN-γ-Produktion der T-Zellen; fördert die Wehentätigkeit und somit die Beschleunigung der Geburt Neurotensin: wirkt auf den Thymus; hat morphinähnliche analgetische Wirkung

3.5

Stressbedingte Analgesie

> Die Tatsache, dass Menschen akute oder chronische Schmerzen empfinden können, ohne dass eine organische Ursache dafür nachgewiesen werden kann, führt häufig zu Fehleinschätzungen.

Es wird dann unscharf formuliert, dass der Schmerz „eingebildet“ sei oder dass der Patient „wehleidig“ oder hypochondrisch sei. Im Gegensatz zu einer organisch bedingten Schmerzreaktion spricht man in diesem Zusammenhang häufig von psychogenem Schmerz, ohne dass klare Vorstellungen damit verknüpft sind, welche Mediatoren die Zusammenhänge zwischen psychischer Befindlichkeit und Schmerz vermitteln. Seitdem jedoch die Bedeutung der regulatorischen Peptide bekannt geworden und gründlicher erforscht ist, wird immer deutlicher, wie eng die Verknüpfungen zwischen den verschiedenen informationsverarbeitenden Systemen des Körpers sind. Schmerzreize wirken auf das ZNS, das Hormon- und das Immunsystem ein und werden durch Veränderungen in diesen Systemen moduliert. Aus experimentalpsychologischer und psychobiologischer Sicht stellt sich in diesem Zusammenhang die Frage, ob es spezifische psychologische Stimuli gibt, die eine Aktivierung opioidpeptiderger Systeme bewirken und welche biologische Bedeutung ihnen ggf. zukommt. Besonders gründlich sind in diesem Zusammenhang bisher Furcht und Stresseinflüsse untersucht worden. > Inzwischen kann als gesichert gelten, dass unter Stress oder in furchtauslösenden Situationen endogene Opioide freigesetzt werden können, die eine analgetische Wirkung haben.

Teschemacher (1987) sieht darin, ohne explizit darauf Bezug zu nehmen, eine Erweiterung der von Cannon (1929) beschriebenen Notfallreaktion des Organismus. In Gefahrensituationen und unter akuter Belastung werden vom Organismus unmittelbar Ressourcen für Kampf- oder Fluchtreaktionen bereitgestellt. Es wird vermehrt Adrenalin in das Blut ausgeschüttet, dessen sympathikotone Wirkung jene körperlichen Funktionen unterstützt, die für den Kampf oder für die Fluchtreaktion besonders wichtig sind, während jene Funk-

75 Kapitel 3 · Neuroendokrinologie und Neuroimmunologie

tionen, die in diesem Zusammenhang nicht benötigt werden, unterdrückt werden. Erhöht werden beispielsweise die Durchblutung der Herz- und Skelettmuskulatur sowie die Atem- und die Herzschlagfrequenz. Aus der Leber wird vermehrt Zucker für die Muskeln freigesetzt. Die Ansprechbarkeit auf Sinnesreize wird erhöht. Zu den eingeschränkten vegetativen Funktionen gehören insbesondere die Magen-Darm-Motalität, die sexuelle Erregbarkeit und das Wachstum. Teschemacher (1987) weist darauf hin, dass Morphine das „protektive System“ des Körpers blockieren. Darunter sind jene Reflexe des Körpers zu verstehen, die der Aufrechterhaltung der Homöostase dienen. Dazu gehören u. a. Schmerzempfinden, Husten, Stuhldrang, Harndrang und weitere Reflexe, deren normaler Ablauf das Individuum in der akuten Gefahrensituation eher ablenken würde. Der Organismus nimmt somit zur „Wahrnehmung eines höheren Rechtsguts“, wie Teschemacher es bezeichnet, eine akute Störung der Homöostase in Kauf. Schmerzempfindungen bei im Kampf erlittenen Verletzungen würden das davon betroffene Individuum nur ablenken und werden daher, ebenso wie andere störende Reflexe und Empfindungen, vom opioidpeptidergen System unterdrückt. Bolles u. Faneslow (1985) meinen, dass Schmerz und Furcht 2 verschiedene motivationale Systeme sind, deren Aktivierungen einander ausschließen. Unter starker Furcht richtet sich die Aufmerksamkeit nach außen, und die Umgebung wird nach potenziellen Gefahren abgesucht. Bei starken Schmerzen richtet sich die Aufmerksamkeit auf die Verletzung. Der schmerzende Körperteil wird möglichst ruhig gestellt und von Kontakten mit äußeren Gegenständen ferngehalten. Tiere nehmen in solchen Situationen eine Schonhaltung ein, die sie sofort aufgeben, wenn sie sich bedroht fühlen. Eine Schmerzhemmung unter Stress durch endogene Opioide lässt sich im Tierexperiment leicht nachweisen. Dafür ergeben sich verschiedene Möglichkeiten (Dantzer 1993). Als Kriterium für die Schmerzempfindlichkeit dient in der Regel die Latenz des Vermeidungsreflexes nach schmerzhafter Reizung, beispielsweise durch Hitze oder Elektroschock. Im Verlauf mehrfacher schmerzhafter Stimulierung kommt es unter bestimmten Bedingungen zu einer Erhöhung der Latenzzeit, also einer höheren Schmerztoleranz.

3

Wenn dieser Effekt durch endogene Opioide ausgelöst sein sollte, so müsste er sich durch vorherige Gabe eines Opioidantagonisten (Naloxon) aufheben lassen, was in der Tat der Fall ist. Da die mehrfache Gabe von Morphinen die Toleranz stark erhöht, müssten Tiere, deren endogene Morphine mehrfach durch Stress stimuliert wurden, auch eine höhere Toleranz gegen Morphingaben entwickeln, was ebenfalls nachweisbar ist. > Dantzer (1993) weist allerdings auch darauf hin, dass die stressinduzierte Analgesie ein sehr heterogenes Phänomen ist und dass unterschiedliche Stressoren wahrscheinlich auch sehr verschiedene analgetische Substrate aktivieren, wobei er zwischen opioiden und nonopioiden sowie hormonellen und nichthormonellen stressanalgetischen Effekten unterscheidet.

Von Bedeutung sind in diesem Zusammenhang anscheinend Häufigkeit und Dauer des Schocks, aber auch die Bedingungen, unter denen die Schocks appliziert werden. Der gleiche physikalische Stressor hat völlig unterschiedliche Wirkungen in Abhängigkeit davon, ob das Tier sich dem Stressor hilflos ausgeliefert fühlt oder ob es etwas dagegen unternehmen kann. Wie diese Feinabstimmung jeweils reguliert wird, ist noch weitgehend ungeklärt. Die regulatorischen Peptide dürften dabei sicherlich von zentraler Bedeutung sein. Leider wird in derartigen Experimenten in der Schmerzforschung häufig ein Schmerzreiz als Stressor eingesetzt, sodass im Grunde nur ein spezifischer Regelkreis untersucht wird, in dem die Schmerzempfindung sowohl die unabhängige Variable (Stressor) als auch die abhängige Variable (Analgesie) darstellt. Zu prüfen wäre somit, ob andere Stressoren (z. B. Lärm, Helligkeit, Gerüche, Störungen sozialer Beziehungen) ebenfalls analgetische Wirkungen haben und welcher Art diese ggf. sind. Anderenfalls bleibt offen, ob der Schmerzreiz das Schmerzhemmsystem aktiviert oder ob die Furcht vor dem Reiz schmerzhemmend wirkt. Die Tatsache, dass leichte Schmerzreize, wie sie beispielsweise durch Akupunktur erzeugt werden, oder schmerzhafte körperliche Belastungen beim Sport schmerzhemmende Wirkung haben können, obwohl sie nicht mit Angst oder Furcht assoziiert sind, weist darauf hin, dass der Schmerzreiz selbst auch schon analgetisch wirken kann. Viele

76

Teil I · Grundlagen

Autoren gehen daher davon aus, dass analgetische Effekte durch unterschiedliche Reize, wie beispielsweise Furcht, Stress oder auch Schmerz, ausgelöst werden können und dass das entscheidende Kriterium dafür, ob eine Schmerzhemmung erzeugt wird, die Richtung der Aufmerksamkeit des Individuums ist. Dies würde auch die Tatsache erklären, dass Personen unter Hypnose beispielsweise zahnmedizinische Eingriffe ertragen können, die ohne Hypnose bei ihnen starke Schmerzempfindungen auslösen würden. Bei der Hypnose kommt es u. a. zu einer extremen Einengung und Fixierung der Aufmerksamkeit auf andere Reize. > Unter akuter Belastung werden endogene Opioide freigesetzt, die analgetische Wirkung haben und das Individuum bei Flucht- oder Kampfreaktion vor Ablenkungen durch Schmerzempfindungen schützen.

3.6

Klinische Relevanz

Die Einbindung des Immunsystems in die Notfallreaktion erweitert allenfalls die Stresstheorie und bietet Erklärungen dafür an, weshalb akute Wechselwirkungen zwischen endokrinologischen und immunologischen Funktionen auftreten können.

> In den letzten Jahren ergaben sich jedoch vermehrt Hinweise dafür, dass das Immunsystem auch an der Entstehung chronischer Schmerzen beteiligt sein könnte.

Vor diesem Hintergrund zeichnen sich gegenwärtig 2 Forschungsansätze ab. Zum Einen wird untersucht, ob analgetisch wirksame Substanzen einen Einfluss auf immunologische Funktionen haben, andererseits wurde geprüft, ob immunologische Funktionsveränderungen einen Einfluss auf die Entstehung von Schmerzen haben. > Als gesichert kann inzwischen gelten, dass Opioide einen Einfluss auf immunologische Funktionen haben.

Ernst u. Pfaffenzeller (1998) erläutern in einem gut dokumentierten Review, dass die Funktionen des Immunsystems durch Morphin moduliert werden. Die pathophysiologischen Mechanismen sind

noch nicht im Detail geklärt. Die bisherigen Erkenntnisse basieren in erster Linie auf tierexperimentellen Untersuchungen. Sofern Schmerzen vorlagen, kam es in der Regel zu immunstimulierenden Reaktionen. Insgesamt ergeben sich jedoch Hinweise dafür, dass Opioide initial einen immunstimulierenden Effekt haben, dass sie jedoch längerfristig zu einer Immunsuppression führen. Mit der Frage, inwieweit immunologische Funktionen zur Entstehung chronischer Schmerzen beitragen können, setzt sich sehr differenziert ein Übersichtsartikel von Watkins u. Maier (2000) auseinander. Die Autoren erläutern detailliert, dass schmerzhemmende Reaktionen nicht nur durch Substanzen wie Morphine ausgelöst werden, sondern dass der Organismus auch in ähnlicher Weise auf gelernte (konditionierte) Gefahrensignale reagiert. Andererseits können Schmerzempfindungen, die normalerweise durch Entzündungen oder Infektionen ausgelöst werden, auch durch erlernte (konditionierte) Krankheits- oder Sicherheitssignale ausgelöst werden. Die Aktivität von Nervenverbindungen vom Rückenmark zum zentralen Nervensystem kann durch derartige Konditionierungsvorgänge gehemmt oder sensibilisiert werden. Die Hemmung ist in der Regel ein Bestandteil der Notfallreaktion und kann in diesem Zusammenhang klassisch konditioniert werden. Schmerzsteigernde Reaktionen beruhen hingegen auf analgetischen und hyperalgetischen Prozessen. Während die analgetischen Effekte v. a. darauf zurückzuführen sein dürften, dass die gelernten (konditionierten) Sicherheitssignale die Morphintoleranz verändern, wird bei der Hyperalgesie die Schmerzschwelle auf Reize, die ursprünglich nicht schmerzauslösend waren, verringert, indem vermehrt Botenstoffe, wie Substanz P oder Glutamat, ausgeschüttet werden, die die Erregbarkeit der Nerven des Rückenmarks dahingehend steigern, dass diese auf Schmerzsignale aus der Peripherie hypersensibel reagieren. Die psychoneuroimmunologischen Veränderungen wären somit Teil einer so genannten „sickness response“ oder des „sickness behavior“ (Dantzer 1999). Diese Reaktion ist gekennzeichnet durch physiologische Veränderungen (Fieber, Veränderungen in der chemischen Zusammensetzung des Blutes, erhöhtes Schlafbedürfnis), durch Verhaltensänderungen (Einschränkungen des Be-

77 Kapitel 3 · Neuroendokrinologie und Neuroimmunologie

wegungsantriebs, der sexuellen Aktivität, des explorativen Verhaltens, der Aggressivität, der Nahrungs- und Flüssigkeitsaufnahme) sowie hormoneller Veränderungen (Aktivierung des sympathischen Nervensystems, vermehrte Ausschüttung von Stresshormonen), wobei insbesondere das Fieber zu einer extremen Erhöhung des Energieverbrauchs führt. Dabei kommt es auch zu einer vermehrten Produktion und Ausschüttung sog. inflammatorischer Zytokine durch Makrophagen und andere Zellen des Immunsystems, wie beispielsweise TNF (Tumornekrosefaktor) oder die Interleukine IL-1 und IL-6. > IL-1 und TNF sind wesentliche Bestandteile der „sickness response“, die durch Gabe entsprechender Antagonisten blockiert werden kann.

Während die „Top-down“-Kommunikation zwischen Nervensystem und Immunsystem durch die Konditionierung von Gefahren- und Sicherheitssignalen gesteuert wird, sind für die „Bottom-up“Kommunikation vom Immunsystem zum Nervensystem die sensorischen Anteile des N. vagus zuständig, deren Sensibilität durch die proinflammatorischen Zytokine erhöht wird. Nach Durchtrennung des N. vagus werden die typischen Merkmale der „sickness response“ (Fieber, Ausschüttung von Stresshormonen, Einschränkung des explorativen Verhaltens und der sozialen Interaktionen) unterbunden. Eine Infektion oder Verletzung führt somit nicht nur zu einer Aktivierung von Zellen des Immunsystems, insbesondere von TNF, IL-1 und IL-6, sondern auch zu einer Erregung der sensorischen Anteile des N. vagus durch diese Botenstoffe, wodurch wiederum, wahrscheinlich über den Nucleus tractus solitarus, die „sickness response“ moduliert wird. Ausgelöst wird die „sickness response“ jedoch in der Peripherie, wobei die 3 genannten inflammatorischen Zytokine eine vermehrte Ausschüttung von Prostglandinen bewirken, was zur Folge hat, dass die nozizeptiven Nerven hypersensibilisiert werden. Inflammatorische Zytokine beeinflussen die Schmerzverarbeitung auf verschiedenen Ebenen, und zwar sowohl an den Nervenendigungen als auch an den Nervenbahnen sowie in Rückenmark und Gehirn. Watkins u. Maier (2000) weisen auf eine Vielzahl klinischer Studien hin, die die klinische Relevanz dieser Mechanismen belegen.

3

> Die unspezifischen Schmerzen, über die mehr als 80 % der AIDS-Patienten klagen, sind vermutlich auf eine Hypersensibilisierung des Rückenmarks zurückzuführen.

TNF verursacht eine Demyelinisierung von Axonen und könnte auf diese Weise die Entstehung der Multiplen Sklerose bewirken. Diese Mechanismen könnten auch die Entstehung der rheumatoiden Arthritis erklären. Aus Tierversuchen weiß man, dass IL-1-Injektionen arthritische Symptome auslösen oder verstärken können. Patienten mit Arthritis weisen eine erhöhte IL-1-Konzentration im Blut auf, und Patienten, denen ein IL-1-RezeptorAntagonist verabreicht wurde, zeigten im Doppelbindversuch weniger Schmerzsymptome als Kontrollpersonen, die ein Placebo enthielten (Nuki et al. 1997). > Inflammatorische Zytokine beeinflussen die Schmerzleitung an den Nervenendigungen und Nervenbahnen sowie in Rückenmark und Gehirn. Dabei kommt es zu einer Veränderung der Morphintoleranz und Verringerung der Schmerzschwelle auf Reize, die ursprünglich nicht schmerzauslösend waren. Damit verbundene substanzielle Veränderungen, wie die Demyelinisierung von Axonen, könnten zur Entstehung chronischer Erkrankungen, wie Multiple Sklerose und rheumatoide Arthritis, führen.

3.7

Zusammenfassung

Insgesamt ergeben sich überzeugende Hinweise dafür, dass akute Schmerzreize nicht nur Reaktionen im Nerven- und Hormonsystem auslösen, sondern auch immunologische Reaktionen verändern und dass immunologische Funktionen akut die Schmerzwahrnehmung hemmen, auf Dauer jedoch die Schmerzverarbeitung von der Peripherie bis in das zentrale Nervensystem modulieren, wobei insbesondere die inflammatorischen Zytokine substanzielle Veränderungen in den Nervenbahnen verursachen können, die einerseits die Sensibilität für Schmerzreize verstärken, andererseits aber auch degenerative Veränderungen verursachen, die die Schmerzhemmungsmechanismen schwächen.

78

Teil I · Grundlagen

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79 Kapitel 3 · Neuroendokrinologie und Neuroimmunologie

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4

Biologische Mechanismen der Chronifizierung – Konsequenzen für die Prävention T.R. Tölle und A. Berthele

> Zentrale Sensitivierung nach Schmerz stellt eiIn den vergangenen Jahren erbrachten vielfältige elektrophysiologische und molekularbiologische Untersuchungen Hinweise auf die Beteiligung zentralnervöser Strukturen an der Entwicklung und Aufrechterhaltung von Sensitivierungsvorgängen, die in der Folge zu chronischem

Schmerz führen können. Darüber hinaus wurde zunehmend deutlich, dass neben somatischen Faktoren insbesondere psychosoziale Faktoren am Prozess der Chronifizierung wesentlich beteiligt sind. Es steht daher zu vermuten, dass auf der Basis eines durch somatische Faktoren bedingten chronischen Schmerzes im Verlauf einer jahrelangen Schmerzerkrankung ein die gesamte Person einnehmender chronifizierter Schmerz entstehen kann.

4.1

Wissenschaftliches Grundkonzept

Die Vorstellung über die Pathogenese einer Schmerzüberempfindlichkeit im Rahmen einer wiederholten nozizeptiven Reizung oder im Rahmen einer Entzündung beruhte lange Zeit ausschließlich auf der Annahme, dass Veränderungen im peripheren Nervensystem eintreten, die sich z. B. als Erniedrigung der Reizschwelle peripherer Nozizeptoren sowie als Sensitivierung von „Chemonozizeptoren“ für mechanische und thermische Reize nachweisen lassen. Nach heutigem Kenntnisstand führen länger anhaltende oder häufig wiederholte Schmerzreize zu einer Kaskade von Vorgängen, die alle letztendlich zu einer lang andauernden Änderung synaptischer Übertragungsvorgänge beitragen (Abb. 4.1).

nen Zustand gesteigerter Erregbarkeit dar, der die geänderte Wahrnehmung schmerzhafter und nichtschmerzhafter Reize auch dann noch unterhält, wenn der ursprünglich schmerzauslösende Reiz nicht mehr einwirkt.

Im Verlauf dieser zentralen Sensitivierung wandelt sich das schmerzverarbeitende System, das ursprünglich durch die Aktivierung über hochschwellige Nozizeptoren gekennzeichnet war, zu einem niedrigschwelligen, von Nozizeptoren, aber auch anderen, nichtnozizeptiven Modalitäten der Oberflächen- und Tiefensensibilität aktivierbaren System. Als Resultat des einmaligen oder wiederholten Durchlaufens eines Kreislaufs aus nozizeptiver Reizung und zentralnervösen adaptiven Prozessen (nachweisbar an Änderungen von Ionenkanälen, Neurorezeptoren, „second messengers“, Neurotransmittern, anatomischer Reorganisation) entsteht möglicherweise eine so weitreichende Umstrukturierung des ZNS, dass sich eine Eigenständigkeit zentraler Erregungskreisläufe mit Bildung eines Schmerzengramms und weitgehender Abkopplung von ursprünglich auslösenden Reizbedingungen entwickeln kann und auf diese Weise ein „Circulus vitiosus des Schmerzes“ entsteht. Damit können, wie die Internationale Gesellschaft zum Studium des Schmerzes im Jahre 1999 formuliert hat, die Folgen der Entwicklung eines „Schmerzgedächtnisses“ für den Organismus u. U. belastender sein als die zur Gedächtnisbildung führenden akuten Schmerzen. Die aus den oben geschilderten Beobachtungen entstandenen Konzepte, die eine aktivitätsabhängige neuronale Plastizität als wesentliche Mitursache der Entwicklung chronischer Schmerzzustände betrachten, haben insbesondere Fragen nach der Vermeidung (präemptive Analgesie) bzw. der Wiederauslöschung einer durch Schmerz ausgelösten Plastizität aufgeworfen (Wall 1988; McQuay 1994).

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Teil I · Grundlagen

Abb. 4.1. Der „Circulus vitiosus des Schmerzes“. Die Reizung peripherer Nozizeptoren aktiviert zentralnervöse Strukturen, und es resultiert ein akuter Schmerz. Gleichzeitig können vermutlich auf jeder Ebene der Neuraxis Mechanismen induziert werden, die über eine funktionelle und strukturelle Plastizität zu molekularen Veränderungen der Eigenschaften der beteiligten Nervenzellen und zur Bildung reorganisierter zentraler Netzwerke zur Verarbeitung des Schmerzes führen. Klinische Ausdrucksformen einer Änderung zentraler Verarbeitungsmechanismen sind Hyperalgesie, Allodynie und motorische

4.2

Historische Sicht

Die Bedeutung biologischer Mechanismen für die Chronifizierung von Schmerzen sind keineswegs Erkenntnisse der heutigen modernen Schmerzforschung. Bereits im Jahre 1893 bezeichnete MacKenzie die Wirkung sensorischer Impulse aus verletztem Gewebe auf das Gehirn als „Etablierung eines irritablen Herdes im ZNS“ oder „zentrale Hyperaktivität“ mit den Folgen einer Schmerzüberempfindlichkeit. Auch die klinische Beobachtung, dass sich eine Schmerzüberempfindlichkeit auf benachbarte Dermatome ausdehnen kann, wurde als Hinweis auf eine „zentrale Reorganisation“ gedeutet. Patienten mit Schädigungen des Plexus brachialis berichteten über Episoden von einschießenden Schmerzattacken, die vom klinischen Erschei-

und vegetative Dysregulation. Die extreme Folge können andauernde Schmerzen sein, obwohl die ursprünglich auslösenden Reize nicht mehr bestehen. Darüber hinaus wurde zunehmend deutlich, dass neben somatischen Faktoren insbesondere psychosoziale Faktoren am Prozess der Chronifizierung wesentlich beteiligt sind. Auf der Basis somatischer Faktoren entwickelt sich ein chronischer Schmerz, der sich im Verlauf einer jahrelangen Schmerzerkrankung zu einem die gesamte Person einnehmenden chronifizierten Schmerz weiterentwickelt

nungsbild stark an eine epileptiforme Aktivität erinnerten. Die postmortale Untersuchung der korrespondierenden Rückenmarkabschnitte bei diesen Patienten zeigte bei erhaltenen sekundärsensorischen Neuronen einen vollständigen Verlust der afferenten Fasern zum Hinterhorn, was nur bedeuten konnte, dass sich die spontane Auslösung von Schmerzempfindungen aus einer zentralen Quelle speist, was bei paraplegischen Patienten als epileptiforme Aktivität von Rückenmarkneuronen, die zeitlich mit der Angabe der Schmerzattacken korrelierte, elektrophysiologisch dokumentiert werden konnte. Neben den Ereignissen im Rückenmark traten bei Patienten mit neuropathischen Schmerzen auch in Neuronen im somatosensorischen Thalamus eine hohe spontane Entladungsrate, abnormales „bursting“ und überschießende Antworten

Kapitel 4 · Biologische Mechanismen der Chronifizierung – Konsequenzen für die Prävention

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4

Aktueller Stand

auf sensorische Reizung von Hautarealen auf, die normalerweise nicht zur Erregung dieser Neurone führen. Die thalamischen Neurone mit pathologischem Entladungsmuster standen hierbei somatotopisch zu der chronisch schmerzhaften Körperregion in Beziehung bzw. beschränkten sich nach Rückenmarkdurchtrennung auf thalamische Projektionsgebiete mit Verlust des normalen sensorischen Eingangs. Bei elektrischer Mikrostimulation einzelner thalamischer Neurone erlebten Patienten vergangenen somatischen und viszeralen Schmerz und damit quasi ein Erinnerungsbild vergangener schmerzhafter Erlebnisse.

4.3

> Dies zeigt eindrucksvoll, dass intensive Schmerz-

transsynaptischen Aktivierung induzierbarer Transkriptionsfaktoren (iTF) bzw. „immediate early genes“ (IEG), die vermutlich durch die Kon-

erlebnisse eine nachhaltige Erinnerungsspur im ZNS hinterlassen können.

Im tierexperimentellen Bereich zeigte Eric Kandel (2001) mit seiner Arbeitsgruppe, dass bereits bei der Meerschnecke Aplysia auf neurochemisch/ molekularer Ebene differenzielle Mechanismen für die Entwicklung eines Kurzzeit- und Langzeitgedächtnisses für „Schmerz“ existieren, die an der gesteigerten Reaktion nach einem konditionierenden nozizeptiven Reiz beteiligt sind. Da Weichund Wirbeltiere sich bereits vor ca. 600 Mio. Jahren entwicklungsgeschichtlich trennten, muss die Anlage zur Sensitivierung des Nervensystems durch kurzdauernde Serien nozizeptiver Reize ein ausgesprochen gut konserviertes genetisches Programm darstellen. An Wirbeltieren wies Clifford Woolf (1983) eindrucksvoll die zentrale Sensitivierung nach. Er zeichnete die Reflexantwort spinaler Motorneurone nach proximaler elektrischer Nervenstimulation von C-Fasern aus dem Bereich der Hinterpfote auf und löste dann eine Entzündung an der Hinterpfote aus. Bereits wenige Minuten nach Auslösung der Entzündung beobachtete er eine wesentlich gesteigerte Reflexamptitude bei elektrischer Reizung. Auch nach einem Leitungsblock der nozizeptiven Impulse aus dem Bereich der Hinterpfote durch Lokalanästhetika persistierte die Übererregbarkeit für Stunden und ließ sich auch bei Reizung der kontralateralen, nichtentzündeten Seite nachweisen. Diese Beobachtung zeigte eindeutig, dass die durch die konditionierende schmerzhafte Entzündung aufgetretene Übererregbarkeit zentralen Ursprungs (d. h. spinal, supraspinal oder spinal/supraspinal) war.

Während die im Sekunden- und Minutenbereich beobachtbare neuronale Plastizität nach nozizeptiver Reizung vermutlich durch die Summation langsamer synaptischer Potenziale durch unmyelinisierte Fasern erklärt werden kann, sind an den lang andauernden Änderungen der Antworteigenschaften spinaler Neurone, die sich im Verlauf von Stunden und Tagen entwickeln, molekulare Mechanismen unter Einbeziehung der Expression von Genen beteiligt (Abb. 4.2). Evidenz für eine aktivitätsabhängige neuronale Plastizität ergibt sich insbesondere aus der

trolle von Zielgenen, die z. B. für Präkursoren von Neurotransmittern, Rezeptoren oder Second-messenger-Systemen kodieren, eine Umgestaltung zentraler Strukturen herbeiführen können (Hunt et al. 1987; Tölle et al. 1995; Besson 1999). Die begriffliche Abgrenzung einer funktionellen gegenüber einer strukturellen Plastizität soll zum Ausdruck bringen, dass das Nervensystem einerseits im Sinne einer funktionellen Plastizität mit der ihm zur Verfügung stehenden Grundausstattung eine rasche adaptive Antwort auf eine neue Art der synaptischen Aktivierung bewerkstelligen kann, darüber hinaus jedoch auch mit den Mitteln einer strukturellen Plastizität tiefergreifende anatomisch/biochemische Veränderungen induzieren muss, um mittel- und langfristig die geänderten Anforderungen an die Funktionserfordernisse des ZNS herstellen zu können. > Es ist eine funktionelle von einer strukturellen neuronalen Plastizität zu unterscheiden.

4.3.1

Hinterhorn des Rückenmarks

Das Hinterhorn des Rückenmarks stellt die erste Integrationsebene für nozizeptive Information aus der Peripherie des Körpers dar. An der synap-

tischen Transmission von primären Afferenzen und deszendierenden Bahnen auf multirezeptive Hinterhornneurone sind erregende und hemmende Aminosäuren und eine Vielzahl von Neuropeptiden beteiligt.

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Teil I · Grundlagen

Abb. 4.2. Überblick über Neurotransmitterveränderungen und die Änderung der Beteiligung von Rezeptorsystemen und intrazellulärer Signalwege, die im Verlauf anhaltender nozizeptiver Reizung im Rahmen einer funktionellen und strukturellen Plastizität auftreten. Nach peripheren schmerzhaften Reizen werden aus den Endigungen afferenter Fasern im Hinterhorn des Rückenmarks die häufig kolokalisierten Substanz P (große Vesikel) und exzitatorische Aminosäuren (Glutamat; kleine Vesikel) freigesetzt. Bei normaler nozizeptiver Transmission (linke Seite) dominiert ein Na+-Einstrom über glutamaterge AMPA-Rezeptoren. Bei stärkerem nozizeptiven Reiz (rechte Seite) wird vermehrt SP ausgeschüttet, was G-Protein-gekoppelte NK-1-Rezeptoren aktiviert. Dies führt zur Freisetzung von Ca2+ aus intrazellulären Speichern und Aktivierung der Proteinkinase C (PKC). Die Aktivierung von NMDA-Rezeptoren durch Glutamat triggert einen Ca2+Einstrom durch diese ligandengekoppelten Kanäle. NMDAund AMPA-Rezeptoren und metabotrope Glutamatrezepto-

ren enthalten Aminosäuresequenzen für die Phosphorylierung (P) durch PKC oder cAMP-abhängige Proteinkinasen. Die im Verlauf wiederholter nozizeptiver Reizung eintretende verstärkte Aktivierung von NMDA-, metabotropen Glutamatund NK-1-Rezeptoren führt zur Phosphorylierung von Membranrezeptoren, wodurch sich die Eigenschaften der Rezeptoren nachhaltig ändern. Die ebenfalls stattfindende Phosphorylierung von Strukturproteinen und Enzymen sowie die Aktivierung von Transkriptionsfaktoren (z. B. c-fos), die die Ablesung bestimmter Zielgene im Zellkern induzieren, führt schließlich zu Umbauvorgängen in der Zelle im Sinne einer strukturellen Plastizität. Die funktionelle und strukturelle Plastizität haben zur Folge, dass auch nichtschmerzhafte Reize an vordepolarisierten, teilweise spontan aktiven Neuronen eine massive Entladungstätigkeit hervorrufen, die unter normalen Bedingungen nur durch schmerzhafte Reize ausgelöst werden kann

Die Aufnahme und Transduktion eines nozizeptiven Reizes erfolgt durch hochspezialisierte Nozizeptoren. Der häufigste Nozizeptor ist der sog. multimodale Nozizeptor, der durch intensive mechanische, thermische oder chemische Reize

aktiviert wird. Über Aδ- und C-Fasern des peripheren Nervs erhalten Neurone in den oberflächlichen Laminae I und II des Rückenmarkhinterhorns ihre primärafferenten nozizeptiven Eingänge. Nach peripherer Nervendurchschneidung

Kapitel 4 · Biologische Mechanismen der Chronifizierung – Konsequenzen für die Prävention

sprossen Fasern von den Laminae III–IV in die Lamina II aus und erreichen Neurone, die vordem vorwiegend Ziel für primärafferente nozizeptive Fasern waren. Es ist noch fraglich, in welchem Maße dieser Vorgang einer morphologisch nachweisbaren Plastizität zum Auftreten einer mechanischen Allodynie beiträgt. Viele Neurotransmitter- und Neuromodulatorsysteme nehmen an der integrativen Verarbeitung nozizeptiver Signale im Rückenmark teil. Exzitatorische Aminosäuren (EAA), wie Glutamat, oder inhibitorische Aminosäuren, wie Gammaaminobuttersäure (GABA) und Glyzin, sowie Monoamine und eine Anzahl von Neuropeptiden sind in primärafferenten Fasern, in Interneuronen und in deszendierenden Axonen, die aus dem Hirnstamm oder dem ventralen Mittelhirn entstammen, lokalisiert und entfalten ihre Wirkungen über eine Vielzahl prä- und postsynaptisch lokalisierter Rezeptorsubtypen. Daneben sind Steroide, Peptidhormone und Zytokine über noch weitgehend unbekannte Mechanismen an der synaptischen Transmission im Hinterhorn beteiligt. > Die integrative Verarbeitung nozizeptiver Signale im Rückenmark wird durch Neurotransmitter- und Neuromodulatorsysteme beeinflusst.

Glutamaterge (EAA) und GABAerge Neurotransmission > Exzitatorische Aminosäuren (EAA), wie Glutamat, sind die wichtigsten erregenden Neurotransmitter im ZNS.

Sie werden gemeinsam mit Peptiden bei nozizeptiver Reizung aus primären Afferenzen freigesetzt. Bei nozizeptiver und nichtnozizeptiver peripherer Reizung werden die raschen synaptischen Antwortkomponenten und monosynaptischen Reflexantworten insbesondere durch AMPA- und Kainatrezeptoren vermittelt, während NMDA- und metabotrope Glutamatrezeptoren eine besondere Beteiligung an späten, länger anhaltenden und polysynaptisch vermittelten Komponenten besitzen. Der metabotrope Glutamatrezeptor (mGluR) zeigt funktionell wie pharmakologisch deutliche Unterschiede zu den ionotropen Glutamatrezeptoren und ist über ein G-Protein an intrazelluläre Signalkaskaden gekoppelt (Abb. 4.2).

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4

> GABA ist der hauptsächliche inhibitorische Neurotransmitter im Gehirn und als Modulator nozizeptiver Information auf spinalem wie auf supraspinalem Niveau bekannt.

Aus präsynaptischen Endigungen freigesetztes GABA trifft postsynaptisch auf 2 Typen von Rezeptoren, den GABAA-und den GABAB-Rezeptor. Im Rückenmark sind der Neurotransmitter GABA und das GABA synthetisierende Enzym Glutamatdecarboxylase (GAD) bevorzugt in den oberflächlichen Laminae des Hinterhorns nachweisbar. Auf ultrastrukturellem Niveau zeigten sich vielfältige axo-axonische Kontakte zwischen GABAergen Axonen und primärafferenten Terminalen, insbesondere in der Lamina II des Rückenmarks. Der GABAA-Rezeptor besteht aus einer Vielzahl von Rezeptoruntereinheiten. In-situ-Hybridisierungsexperimente legten nahe, dass GABAARezeptoren auf Neuronen des Hinterhorns vermutlich aus einer Kombination von α3-, β3- und γ2-Untereinheiten aufgebaut sind. GABAB-Rezeptoren befinden sich bevorzugt in den Laminae I–III des Hinterhorns. Klonierungsexperimente zeigten, dass der GABAB-Rezeptor eine hohe Homologie mit dem metabotropen Glutamatrezeptor besitzt.

4.3.2

Mechanismen funktioneller Plastizität

„Wind-up“ als transiente Erregbarkeitssteigerung im Rückenmark Als ein erster Hinweis auf neuronale Plastizität und zentrale Sensitivierung wurde eine schrittweise Steigerung der Antwort spinaler Hinterhornneurone nach repetitiver elektrischer Reizung von C-Fasern gewertet (Woolf 1983). Für dieses Phänomen der gesteigerten zentralen Erregbarkeit, das auch nach Blockade der myelinisierten Fasern auftritt und unabhängig von einer peripheren Sensitivierung ist, wurde der Begriff „wind-up“ geprägt. > „Wind-up“ bezeichnet das Phänomen einer gesteigerten zentralen Erregbarkeit, das auch nach Blockade myelinisierter Fasern auftritt und unabhängig von einer peripheren Sensitivierung ist.

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Teil I · Grundlagen

Neben dem „wind-up“, das lange Zeit als einziger Hinweis auf spinale neuronale Plastizität angesehen wurde, zeigen neuere Untersuchungen, dass die Langzeitpotenzierung C-Faser-evozierter Feldpotenziale im Hinterhorn der Ratte Gemeinsamkeiten mit der Langzeitpotenzierung (LTP) in hippokampalen Strukturen besitzt, die als das prototypische elektrophysiologische Phänomen für Lernen und Gedächtnis gilt (Sandkühler 1996). Augenblicklich wird versucht, viele pathophysiologische Zustände, wie Hyperpathie oder Allodynie, beim Menschen mit dieser Art zentraler Sensitivierung zu erklären und einen Zusammenhang zur Aktivierung von NMDA-Rezeptoren herzustellen. In der klinischen Anwendung haben der NMDA-Antagonist Ketamin, CPP oder Memantine bei verschiedenen experimentellen und klinischen Schmerzzuständen eine therapeutische Wirksamkeit bewiesen. Insbesondere das Dextrometorphan, welches als NMDA-Antagonist auch in therapeutischen Dosierungen keine psychotomimetischen Effekte besitzt, zeigte beim Menschen nach oraler Gabe eine dosisabhängige Reduktion der zeitlichen Summierung eines durch elektrische und thermische Reizserien ausgelösten sekundären Schmerzes. Die Effekte des Dextromethorphan waren insofern spezifisch für dieses dem „windup“ vergleichbare Schmerzphänomen als weder die initiale Stärke des ersten noch des zweiten Schmerzes beeinflusst wurde. Das Experiment darf daher als vielversprechender Beleg für die Vergleichbarkeit von Ergebnissen aus elektrophysiologischen Untersuchungen am Tier mit psychophysischen Untersuchungen am Menschen gelten. In chronischen Schmerzmodellen reduzierten NMDA-Antagonisten die Hyperalgesie nach Neuropathie oder Arthritis. Ebenso werden die vergrößerten rezeptiven Felder spinaler Neurone bei chronischen Schmerzen durch NMDA-Antagonisten wieder verkleinert. Bei Patienten mit postherpetischer Neuralgie, die häufig über heftige Spontanschmerzen und eine ausgeprägte Allodynie klagen, zeigte das auch NMDA-antagonistisch wirkende Memantine eine deutliche Wirksamkeit. > In Studien mit spinaler Applikation von Pharmaka beim Menschen zeigte sich, dass durch Lokalanästhetika der anhaltenden Brennschmerz positiv beeinflusst wurde, während NMDA-

Antagonisten spezifisch die Allodynie unterdrücken konnten.

Das hervorstechende Merkmal aller bisher beschriebenen Manifestationen neuronaler Plastizität und zentraler Sensitivierung im Rückenmark ist, dass NMDA-Rezeptorantagonisten diese zu vermeiden helfen. Erklärungsversuche, die sämtliche Erscheinungsformen zentraler Sensitivierung mit der Aktivierung des NMDA-Rezeptors in Einklang zu bringen versuchen, sind jedoch zu stark vereinfachend. Eine eminent wichtige Bedeutung für langsame und dauerhafte Depolarisationen nach Reizung von C-Fasern und die konsekutive Entwicklung einer spinalen Übererregbarkeit haben Neuropeptide, die häufig gleichzeitig mit EAA freigesetzt werden. So werden viele Langzeitveränderungen durch NK1-Rezeptorantagonisten ebenfalls unterdrückt, und die Aktivierung des NK1-Rezeptors ist für die Entwicklung des „wind-up“ offensichtlich von zentraler Bedeutung. Darüber hinaus besteht ausreichende Evidenz, dass das Radikal NO („nitric oxide“, Stickstoffmonoxid) an der Ausprägung einer spinalen Übererregbarkeit beteiligt ist. Die durch intrathekale Verabreichung von NMDA erzeugte Hyperalgesie und Bahnung nozizeptiver Reflexe kann durch NO-Inhibitoren blockiert werden.

Proteinkinase C und Rezeptorphosphorylierung Verhaltensuntersuchungen, in denen Tiere nach akuter Formalinentzündung bei intrathekaler Gabe von Phorbolestern gesteigerte und bei Gabe eines Inhibitors der Phospholipase C (Neomycin) abgeschwächte nozifensive Reaktionen zeigten, sprechen für die Beteiligung der Proteinkinase C (PKC) an spinalen Sensitivierungsvorgängen. Akute Entzündungsreize durch Formalin und Senföl führen zu einer Translokation von 3H-Phorbol12,13-Dibutyrat (PDBU), was für eine Aktivierung von PKC durch Stimulation von Neurorezeptoren

spricht. Im chronischen Schmerzmodell der Mononeuropathie wird die membranäre Translokation von PDBU durch die Gabe von Gangliosiden verhindert, die die PKC-Translokation/Aktivierung hemmen, und gleichzeitig wird die Schmerzüberempfindlichkeit der Tiere aufgehoben bzw. reduziert. Bei der chronischen Monoarthritis zeigten sich Änderungen der spinalen PKC durch eine Inten-

Kapitel 4 · Biologische Mechanismen der Chronifizierung – Konsequenzen für die Prävention

sivierung der autoradiographischen Darstellung von membrangebundenem PDBU (Tölle et al. 1996). Nach rascher Entwicklung einer bilateralen elektrophysiologischen Erregbarkeitssteigerung und einer mechanischen Hyperalgesie tritt nach 4 Tagen zunächst ipsilateral und mit einer zeitlichen Verzögerung nach 14 Tagen auch kontralateral eine verstärkte PDBU-Bindung auf. Neben einer Intensivierung der PDBU-Bindung in den oberflächlichen Laminae des Hinterhorns war eine anatomische Ausdehnung der PDBU-Bindungsstellen zu beobachten. Untersuchungen zur Transaktivierung der spezifischen mRNA der PKC-Isoformen ergaben eine, zeitlich der PDBU-Bindungsverstärkung vorausgehende, differenzielle Zunahme der Expression von PKC-β1 und -β2 in Neuronen in den oberflächlichen Laminae des Hinterhorns. Die regionale Verstärkung der PDBU-Bindung findet sich auch in der Lamina III, wo primäre Afferenzen auf niedrigschwelligen mechanorezeptiven Neuronen endigen, deren Sensitivierung die bei Arthritis beobachtbare Allodynie erklärbar machen könnte. Die molekularen Mechanismen einer durch PKC ausgelösten Sensitivierung sind unklar. In elektrophysiologischen Untersuchungen am Rückenmarksschnitt in vitro förderten Aktivatoren von PKC die Freisetzung von Glutamat und Aspartat. An isolierten Neuronen aus dem Nucl. trigeminus vergrößerte PKC die NMDA-vermittelten Ströme durch Erhöhung der Offenwahrscheinlichkeit von Ionenkanälen und Reduktion des spannungsabhängigen Mg2+-Blocks. > Bei der Langzeitpotenzierung oder dem assoziativen Lernen sind eine nach NMDA-Rezeptoraktivierung ausgelöste Translokation der Proteinkinase C von zytosolischen zu membranständigen Zellkompartimenten und eine NMDARezeptorphosphorylierung vermutlich von wesentlicher Bedeutung.

Durch den damit verbundenen verstärkten Ca2+Einwärtsstrom werden PKC zusätzlich aktiviert und ein positiver Rückkopplungskreislauf für die Erhaltung zentraler Sensitivierung erzeugt. Hinweise für die Phosphorylierung von EAA-Rezeptoren durch PKC und CaM-KII ergeben sich sowohl für AMPA- als auch für NMDA-Rezeptoren. Im Rückenmark überlappt die Expression der NMDAR1-1-Splice-Variante des NMDA-Rezeptors,

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4

die eine Konsensussequenz für die Phosphorylierung durch PKC trägt – mit PDBU, das die Diazylglyzerol- (DAG-)Bindungsstelle der Proteinkinase C trägt. An der Umsetzung oder Konsolidierung der von NMDA-Rezeptoren angestoßenen Kaskade neuroadaptiver Vorgänge sind vermutlich verschiedene intrazelluläre Second-messenger-Systeme, Kinasen und Phosphatasen beteiligt, die nach Aktivierung von Membranrezeptoren direkt oder indirekt (über Ca2+) angesteuert werden. Die antinozizeptive Wirkung von Substanzen, welche die Translokation von PKC verhindern und dadurch die Erregbarkeit der Neurone reduzieren, eröffnet möglicherweise einen neuen therapeutischen Zugang zur Behandlung von Hyperalgesie und Allodynie bei Neuropathien und Arthritiden.

Wechselwirkungen zwischen EAA und Substanz P Durch Entzündungsreize werden sowohl Glutamat als auch Substanz P (SP) vermehrt freigesetzt. Zusätzlich findet sich eine verstärkte Expression von Preprotachykinin-A-mRNA, einem Vorläufer von SP, in Zellen des Spinalganglions und in Neuronen des Rückenmarks (Abb. 4.2). > Die Steigerung der spinalen Erregbarkeit nach länger anhaltender peripherer nozizeptiver Reizung entsteht vermutlich durch die kooperative Wirkung von EAA und SP auf das postsynaptische Neuron.

Die enge Verbindung der beiden Transmittern EAA und SP ergibt sich aus:

쎔 dem immunhistochemischen Nachweis einer

Kolokalisation von EAA und SP in vielen primären Afferenzen, 쎔 der simultanen und wechselweisen Beeinflussung der Freisetzung, 쎔 der elektrophysiologisch nachweisbaren gesteigerten Erregung postsynaptischer Neurone bei simultaner Applikation. NMDA-Rezeptorantagonisten sowie selektive und nichtselektive SP-Antagonisten können die massive Erregbarkeitssteigerung nach simultaner Einwirkung beider Transmitter blockieren. Der molekulare Mechanismus der Erregbarkeitssteigerung von SP beruht vermutlich auf einem modulatorischen Effekt auf postsynaptische NMDA- und/

Teil I · Grundlagen

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oder metabotrope Glutamatrezeptoren unter Vermittlung von „second messengers“. An Hinterhornneuronen werden durch NMDA aktivierte Membranströme durch SP selektiv verstärkt. Die Interaktion zwischen SP und NMDA-Rezeptoren wird durch PKC-Inhibitoren blockiert, und die Wirkungen von SP-Agonisten werden durch PKCAktivatoren nachgeahmt. Nach augenblicklicher Vorstellung führt die Aktivierung von PKC nach Stimulation des SP-Rezeptors zu einer Phosphorylierung des NMDA-Rezeptors, wodurch die Kinetik der Mg2+-Blockade des NMDA-Rezeptors geändert und die Aktivierung von NMDA-Rezeptoren bei negativerem Membranpotenzial möglich wird. Als Folge können freigesetzte EAA den NMDA-Rezeptor schneller und stärker aktivieren und durch einen gesteigerten Anstieg der intrazellulären Ca2+-Konzentration und gleichzeitiger Aktivierung spannungsabhängiger Ca2+-Kanäle die Aktivierung von PKC weiter steigern. Unter der Annahme eines NMDARezeptors mit funktionell gelockerten Aktivierungsbedingungen und einer kooperativen stärkeren Aktivierung des metabotropen Glutamatrezeptors, der seinerseits Second-messenger-Systeme und Rezeptorphosphorylierungen induzieren kann, sind möglicherweise auch primär nichtnozizeptive afferente Eingänge über Aβ-Fasern in der Lage, in spinalen Neuronen ein „wind-up“ zu erzeugen. Die Modellvorstellung kann somit nicht nur die klinischen Beobachtungen einer Hyperalgesie durch zentrale Sensitivierung erklären, sondern möglicherweise auch das Auftreten der Allodynie. > Primär nichtnozizeptive afferente Eingänge sind über Aβ-Fasern in der Lage, in spinalen Neuronen ein „wind-up“ zu erzeugen.

4.3.3

Mechanismen struktureller Plastizität

> Die durch Schmerz ausgelöste Induktion von iTF, die als Transkriptionsregulation die Transaktivierung von Zielgenen steuern können, gilt als wichtiger Hinweis auf strukturelle Plastizität in schmerzverarbeitenden Strukturen (Abb. 4.2).

In Neuronen des Rückenmarks induzieren nozizeptive und nichtnozizeptive Reize durch trans-

synaptische Aktivierung die Expression einer Vielzahl von iTF. Im Jahre 1987 konnte erstmals die nach mechanorezeptiver Reizung, nichtschmerzhafter Bewegung der Extremität und nozizeptiver Hitzereizung in Neuronen des Rückenmarks nachgewiesen werden (Hunt et al. 1987). In Abhängigkeit vom untersuchten iTF und den spezifischen Reizbedingungen des peripheren nozizeptiven Reizes ändert sich das Muster der Expressionen hinsichtlich der Gesamtanzahl der beteiligten Neurone, der intraspinalen anatomischen Verteilung, der Zeitpunkte der maximalen Expression sowie der Persistenz des iTF-Signals. Neuere Ergebnisse wiesen bei einer akuten Entzündung eine starke bilaterale Phosphorylierung von CREB nach. Nach Auslösung einer chronischen Monarthritis wechselt nach 24 h das Bild einer dorso-ventralen Verteilung c-fos-positiver Neurone zu einer höheren Dichte c-fos-positiver Neurone in den tiefen Laminae III–VI. In einer Untersuchung, die neben c-fos auch die Expression von fos B, jun-Proteinen und krox-24 nachwies, wurde bei stabiler Monarthritis mit allen klinischen Zeichen der Entzündung ab dem 5. Tag ein vollkommenes Fehlen c-fos-positiver Neurone in oberflächlichen Laminae berichtet, während fos B, jun D und krox-24 noch in einer geringeren Anzahl von Neuronen über 2–4 Wochen zu beobachten war (Tölle et al. 1995). > Obwohl eine kausale Beziehung zwischen peripherer Reizung, Aktivierung von iTF und lang anhaltenden Änderungen in der Expression von Zielgenen noch nicht eindeutig belegt ist, ist wahrscheinlich, dass zumindest einige der Langzeiteffekte, die durch periphere Schädigung in zentralen Neuronen induziert werden, über eine Transaktivierung von iTF zustande kommen.

Endogene Opioide Zu dynamischen Veränderungen von Neurotransmittersystemen im Rückenmark nach nozizeptiver Reizung gehört der Anstieg der Opioidsynthese in spinalen Neuronen. Der gesteigerten Synthese von Opioidpeptiden geht ein Anstieg der c-fos-Expression zeitlich voraus. Durch die Kombination der immunhistochemischen Technik mit der In-situ-Hybridisierung konnte eine Kolokalisation von c-fos und Prodynorphin-mRNA bzw. Proenkepha-

Kapitel 4 · Biologische Mechanismen der Chronifizierung – Konsequenzen für die Prävention

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4

lin-mRNA in einzelnen dieser Neurone nachgewiesen werden.

veränderungen der Erregbarkeit im Rückenmark beteiligt zu sein.

> Untersuchungen mit c-fos-Anti-sense-Oligonu-

So entwickelt sich eine akute mechanische Hyperalgesie vermutlich durch Koaktivierung von AMPA und metabotropen Glutamatrezeptoren. Im Verlauf einer akuten Entzündung gewinnen mGluRRezeptoren funktionell stärkere Bedeutung. Dabei wird die mGluR3-Rezeptor-mRNA in zeitlicher Korrelation zur Hyperalgesie im Hinterhorn des Rückenmarks transient verstärkt exprimiert.

kleotiden konnten die Transaktivierung des Zielgens Prodynorphin unterdrücken und lieferten somit einen wichtigen Beleg dafür, dass iTF an der Regulation des Gens beteiligt sind.

Zeitlich versetzt zur Expression des Prodynorphins treten ab dem 2. Tag eine Steigerung der Immunoreaktivität für Dynorphin und ab dem 5. Tag eine vermehrte Freisetzung von α-Neoendorphin auf. Die funktionelle Bedeutung spinal freigesetzten Dynorphins ist noch nicht endgültig geklärt. Dynorphin ändert die Erregbarkeit im Hinterhorn möglicherweise durch Steigerung der Freisetzung von EAA und ist an der Vergrößerung der rezeptiven Felder spinaler Hinterhornneurone beteiligt. Durch die stärkere Überlappung der vergrößerten rezeptiven Felder werden eine größere Anzahl spinaler Neurone bei gleichem peripheren Reiz aktiviert. Die resultierende verstärkte neuronale Aktivität führt somit zur stärkeren Aktivierung spinaler Hinterhornneurone und durch den gesteigerten zentralen Impulszustrom damit möglicherweise auch zu einem gesteigerten Erleben von Schmerz.

EAA Änderungen der Expression von AMPA-RezeptormRNA, der Expression von GluR-A- und -B-Splice-Varianten und mGluR-mRNA wurden nach hippokampalem Kindling und globaler Ischämie berichtet. Auch die Auslösung einer akuten Entzündungsreaktion durch Injektion von Lipopolysacchariden in die Hinterpfote führte nach 24 h zu einer transienten bilateralen 20%igen Erniedrigung der Expression der GluR-A-mRNA, während GluR-B-, -C- und NMDAR1-mRNA nicht geändert waren. Da homomere GluR-A-Rezeptoren die höchste Affinität gegenüber Glutamat aufweisen, kann die selektive Reduktion der GluR-A-mRNA eine verminderte Ansprechbarkeit der AMPA-Rezeptoren auf die vermehrt aus primären Faserterminalen freigesetzten EAA zur Folge haben und somit einen autoprotektiven Mechanismus gegen exzessive glutamaterge Erregung darstellen. > Neben den ionotropen Rezeptoren scheinen metabotrope Glutamatrezeptoren an Langzeit-

GABA > Akute und chronische Entzündungsreize bewirken einen signifikanten Anstieg der Anzahl GABA-immunoreaktiver Neurone im Hinterhorn des Rückenmarks.

In der HPLC ließ sich eine ca. 30%ige Zunahme der Konzentration von GABA im Rückenmark nachweisen. Die Veränderungen im GABAergen System traten in allen untersuchten Modellen nur ipsilateral zur Stimulation auf und verliefen parallel zur Entwicklung der klinischen Entzündungszeichen. Dies und die Beobachtung einer gesteigerten Immunoreaktivität für GAD und einer De-novoExpression von GAD-mRNA nach peripherer Entzündung sprechen für eine von primärafferenten Fasern induzierte aktivitätsabhängige Synthesesteigerung von GABA. Eine genaue zeitliche Analyse der Änderungen von GAD und GABA zeigt, dass sich bei peripherer nozizeptiver Reizung in Neuronen des Rückenmarks zunächst eine verstärkte Transkription des GAD-Gens entwickelt, mit einer Anreicherung von GAD-mRNA. Als Folge einer gesteigerten Translation der GAD-mRNA wird vermehrt GAD-Enzym bereitgestellt. Erst anschließend findet sich die gesteigerte Nachweisbarkeit des Neurotransmitters GABA (Castro-Lopes et al. 1994). Überlegungen zu funktionellen Konsequenzen einer gesteigerten Bereitstellung von GABA in spinalen Neuronen sind wesentlich an die Voraussetzung geknüpft, dass der vermehrt synthetisierte Neurotransmitter auch vermehrt freigesetzt wird. Die Beobachtung von Änderungen der postsynaptischen Rezeptordichte machen diese vermehrte Freisetzung wahrscheinlich. Als Resultat der verstärkten Bereitstellung und Freisetzung von GABA könnte eine Verstärkung der Inhibition im

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Teil I · Grundlagen

Rückenmark resultieren – eine Hypothese, die jedoch noch durch weitere, insbesondere elektrophysiologische Untersuchungen validiert werden muss. > Viele pharmakologische Untersuchungen konnten die antinozizeptive Wirkung von GABA-Rezeptoragonisten (insbesondere GABAB-Agonisten) bestätigen und die physiologische Bedeutung von GABA bei der präsynaptischen Hemmung und der postsynaptischen Inhibition spinaler Neurone belegen.

Der Übererregbarkeit, die sich nach chronischen Entzündungsreizen in spinalen Hinterhornneuronen über verschiedene Mechanismen entwickelt, könnte durch den Anstieg des inhibitorischen Tonus über Aktivierung GABAerger Systeme möglicherweise entgegengewirkt werden. Pharmakologische Untersuchungen haben eine synergistische, antinozizeptive Wirkung von GABA und Opioiden auf spinaler Ebene gezeigt. Opioide und GABABAgonisten reduzieren die Freisetzung von Substanz P im Rückenmark. Daneben sind im Rückenmark Kontakte zwischen GABA- und enkephalinimmunoreaktiven Neuronen nachgewiesen. Da enkephalinerge Neurone einen inhibitorischen Tonus auf das Rückenmark ausüben, ist es denkbar, dass GABA seinen inhibitorischen Effekt auf die Verarbeitung sensorischer Information einerseits durch direkte Wirkung auf prä- und postsynaptische GABA-Rezeptoren und andererseits über Wechselwirkung mit enkephalinergen Interneuronen ausübt.

Pharmakologische Modulation der Transaktivierung von iTF > Die transsynaptische Aktivierung stellt den Schlüsselreiz für die Initialisierung der Signalkaskade in postsynaptischen Neuronen dar.

Eine ursprünglich nur für den iTF c-fos formulierte Hypothese geht davon aus, dass die Menge des von Nervenzellen synthetisierten c-fos-Proteins einerseits in einer direkten Beziehung zum Ausmaß der synaptischen Aktivierung steht, andererseits von der Art des Neurotransmitters und der damit postsynaptisch angestoßenen Signalkaskade abhängt und/oder darüber hinaus von der genetischen Ausstattung des postsynaptischen Neurons mitbestimmt wird.

Eine große Anzahl von Untersuchungen konnte mittlerweile zeigen, dass die Modulation der synaptischen Transmission durch exogene und endogene Opioide, Substanz P und NMDA-Antagonisten, GABAerge Substanzen und Antikonvulsiva die Expression von IEG unterdrückt. Die systemische Applikation des µ-Opioidrezeptoragonisten Morphium sowie des κ-Opioidrezeptoragonisten U-50488 reduzierte die IEG-Induktion in Neuronen des Rückenmarkes nach akuter Hitzereizung und nach akuter Entzündung. Der die Expression modulierende Effekt von Opioidagonisten kann mit hoher Wahrscheinlichkeit auf die vielfach nachgewiesene Unterdrückung neuronaler Entladungstätigkeit zurückgeführt werden. Elektrophysiologische Untersuchungen mit intra- und extrazellulären Ableitungstechniken zeigten, dass die Wirkung von Morphium bevorzugt auf die durch C-Faser-Aktivierung evozierte spinale Entladungstätigkeit erfolgt, während frühe Antwortkomponenten, die durch die Aktivierung stark myelinisierter Fasern entstehen, selbst bei hohen Dosen von Morphium nur geringfügig oder aber überhaupt nicht beeinflusst werden. Anhaltende neuronale Aktivität und/oder Erregungen, die sich durch niedrigschwellige Afferenzen ergeben, tragen vermutlich zum residualen Expressionsmuster der iTF bei, das auch noch unter der Gabe hoher Dosen von Morphium beobachtet werden kann. Neben der Wirkung exogener Opioide wie Morphium weisen vielfältige Beobachtungen aus den letzten Jahren daraufhin, dass endogene Opioide, die in Faserterminalen wie auch in Interneuronen des Rückenmarks enthalten sind, an der Modulation der Entladungstätigkeit spinaler Projektionsneurone beteiligt sind (Tölle et al. 1994). Neben einer spinalen Ausschüttung enkephalinerger Substanzen aus Interneuronen als Folge einer nozizeptiven Reizung wurde ein tonisch aktives enkephalinerges System postuliert, das für die Kontrolle der Verarbeitung nozizeptiver Signale bereits im Niveau des Rückenmarks funktionelle Bedeutung besitzt. Die reduzierte Degradation von Opioidpeptiden nach Applikation von Peptidaseinhibitoren, wie z. B. Kelatorphan (einem Inhibitor verschiedener enkephalinabbauender Enzyme),steigert ebenfalls den tonisch aktiven opioidergen Tonus und induziert in vielen experimentellen Modellen antinozizeptive Effekte bzw. reduziert die iTF-Expres-

Kapitel 4 · Biologische Mechanismen der Chronifizierung – Konsequenzen für die Prävention

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4

sion nach nozizeptiver Reizung. Durch die Entwicklung pharmakologischer Substanzen, die auf indirektem Weg den Tonus des endogenen opioidergen Systems regulieren, bietet sich möglicherweise die Gelegenheit, nebenwirkungsärmere Medikamente mit guten analgetischen Eigenschaften einzusetzen. Unter dem Konzept der präemptiven Analgesie war eine klinisch möglicherweise wichtige Beobachtung, dass die Verabreichung analgetischer Dosen von Morphium unmittelbar nach Beendigung der nozizeptiven Reizung keinen Einfluss auf das Ausmaß der Expression von iTF besaß.

Rückenmarks hat dies zur Folge, dass nunmehr nichtnozizeptive afferente Reize, wie Druck und Berührung, synaptisch auf Neurone aufschalten, die exklusiv mit der Verarbeitung nozizeptiver Informationen befasst sind (Abb. 4.3). Durch diese spezifisch neue Verschaltung können dann auch ohne ein zentral sensitiviertes Rückenmark ein Berührungsreiz als Schmerzreiz erlebt werden und Patienten mit Verlust nozizeptiver C-Fasern, wie bei der Postzosterneuralgie, die Empfindung einer Allodynie haben (Baron u. Saguer 1993).

> Ergebnisse aus der iTF-Forschung zeigen, dass

> Nichtnozizeptive afferente Reize, wie Druck und

auch bei der Entzündung Antiphlogistika nur bei frühzeitiger Applikation in der Lage sind, die Aktivierung von iTF zu unterdrücken, während sie bei fortgeschrittener Erkrankung in dieser Hinsicht ohne Wirksamkeit sind.

Berührung, schalten sich synaptisch auf Neurone auf, die exklusiv mit der Verarbeitung nozizeptiver Informationen befasst sind, sodass auch ohne ein zentral sensitiviertes Rückenmark ein Berührungsreiz als Schmerzreiz erlebt werden kann.

Änderungen der neuroanatomischen Verschaltung und deren Folgen

Neben der anatomischen Reorganisation findet zusätzlich eine neurochemische Umgestaltung der ausgesprossten A-Fasern statt, die nunmehr auch Substanz P und CGRP an ihren Terminalen freisetzen. Unter physiologischen Bedingungen trifft dies sonst nur für nozizeptive C-Faserterminale zu. Auf diesem Wege erwerben die A-Fasern die Möglichkeit, durch die Ausschüttung von Neuropeptiden eine zentrale Sensitivierung in den oberflächlichen Laminae des Hinterhorns auszulösen, wie dies sonst nur bei nozizeptiven Impulszustrom möglich ist. Im Endeffekt kann der Zustand der neuronalen Reorganisation zusammen mit dem Auftreten der zentralen Sensitivierung bestehen. Eine weitere Steigerung der Übererregbarkeit der oberflächlichen Laminae des Hinterhorns entsteht offensichtlich durch den Verlust von kleinen, vermutlich inhibitorischen Interneuronen in diesen Zellschichten, die möglicherweise durch einen exzitotoxischen Zelltod im Rahmen der überstarken synaptischen Aktivierung durch die nozizeptiven Impulse in Gang gesetzt wird.

4.3.4

Wie in den vorangehenden Abschnitten ausgeführt, wird mit den Mechanismen der zentralen Sensitivierung, wodurch die Entladungsbereitschaft spinaler Neurone konstant hoch gehalten wird, versucht, klinische Phänomene der Hyperalgesie und Allodynie zu erklären (Abb. 4.2). Eine Reihe von Patienten zeigen eine mechanisch ausgelöste Allodynie, jedoch auch ohne über andauernde spontane Schmerzen, die als ein Zeichen der Aufrechterhaltung eines zentral sensitivierten Zustands gelten, zu klagen. Dies trifft insbesondere für Patienten mit einem peripheren Nervenschaden, verbunden mit dem Verlust von Axonen, zu. Bei der Postzosterneuralgie zeigt sich der Untergang von Neuronen nicht nur im Hinterwurzelganglion des entsprechenden Dermatoms, sondern auch in einem atrophischen Umbau des Hinterhorns im Rückenmark, das den synaptischen Eingang durch die primärafferenten Fasern verloren hat. In Tierexperimenten konnte nach peripherer Nervenschädigung mit Betonung der myelinisierten Fasern ein Aussprossen von A-Fasern, die normalerweise in tieferen Laminae des Hinterhorns ihre Terminationgebiete finden, zu Neuronen in der Lamina II gefunden werden, die nahezu ausschließlich nozizeptiven Input aufweisen (Woolf u. Mannion 1999). Für die Funktion des

4.4

Zentrale Schmerzverarbeitung beim Menschen – Analyse mit bildgebenden Methoden

Die Vorstellungen zur funktionellen Anatomie der Schmerzverarbeitung beim Menschen basierte bis

92

Teil I · Grundlagen

Abb. 4.3a, b. Neuroanatomische Reorganisation im Rückenmark. Als Folge eines Nervenschadens mit C-Faser-Verlust wachsen primär-afferente Terminale von nichtnozizeptiven A-Fasern, die normalerweise in tieferen Laminae des Hinterhorns auf spinothalamische Projektionsneurone aufschalten (a), in oberflächliche Laminae der Hinterhorns ein (b). Da-

durch können A-Fasern nozizeptive Neurone in der Lamina II aktivieren, und es entsteht eine Schmerzempfindung bei Berührungsreizen, die sog. mechanische Allodynie (Kasten). Gleichzeitig erhöht ein Verlust inhibitorischer Interneurone im Hinterhorn die Erregbarkeit der nozizeptiven Neurone in der Lamina II (schwarze Punkte in der Lamina II in a und b)

vor wenigen Jahren auf postmortalen Untersuchungen nach zentralen Schädigungen, den Effekten kortikaler und subkortikaler elektrischer Reizungen während neurochirurgischer Eingriffe sowie Erkenntnissen, die durch gezielte Läsionen zerebraler Strukturen gewonnen wurden. Ein wesentlicher Fortschritt konnte durch den Einsatz bildgebender Verfahren erzielt werden, die eine

von Neurotransmittersystemen an der Schmerzverarbeitung sind mittels Liganden-PET möglich. EEG und MEG erfassen die durch den nozizeptiven Reiz ausgelöste Zunahme der Impulssynchronisation räumlich parallel orientierter Neuronenverbände im Bereich von Millisekunden. PET und fMRI messen sekundäre metabolische Effekte (z. B. Glukoseverbrauch) oder Änderungen der regionalen Durchblutung, die mit einer Verzögerung im Bereich von Sekunden resultieren.

nichtinvasive Untersuchung normaler und gestörter Schmerzverarbeitung am wachen und kooperativen Menschen ermöglichen.

Zu den heute favorisierten Methoden zählen von den elektrophysiologischen Untersuchungsansätzen (Bromm u. Lorenz 1998): 쎔 Vielkanalelektroenzephalographie (EEG), 쎔 Dipolquellenanalyse evozierter Potenziale, 쎔 Mangnetenzephalographie (MEG). Von den tomographischen Methoden werden heute vorzugsweise die funktionelle Kernspintomographie (fMRI) und die Positronenemissionstomographie (PET) eingesetzt (Peyron et al. 2000; Wiech et al. 2001). Erste Aussagen zur Beteiligung

4.4.1

Neuroanatomie der Schmerzverarbeitung

Der Einsatz bildgebender Verfahren durch verschiedene Arbeitsgruppen und Methoden belegte bei experimentellen somatischen und viszeralen Schmerzreizen mit relativ hoher Übereinstimmung ein spezifisch aktiviertes zentrales Netzwerk unter Einbeziehung des Mittelhirns, thalamischer, limbischer und korticaler Strukturen (Treede et al. 1999).

Kapitel 4 · Biologische Mechanismen der Chronifizierung – Konsequenzen für die Prävention

> Die Multiplizität der aktivierten Hirnareale, die sich in verschiedenen Schmerzparadigmata gezeigt hat, spricht gegen eine zentrale Verarbeitungsstruktur im Sinne eines „Schmerzzentrums“ für die Generierung des komplexen Sinneseindruckes Schmerz.

Nach Melzack u. Casey (1968) wird das Erleben von Schmerz als multidimensional bezeichnet. Der Gesamteindruck ist auflösbar in sensorischdiskriminative, affektiv-motivationale und kognitive Teilkonstituenten und entsteht vermutlich nach einer Serie von parallelen und sequenziellen Verarbeitungsschritten in einer Matrix, die ihre afferenten Zugänge über unterschiedliche anatomische Bahnensysteme erhält (Abb. 4.4). > Die Projektionen spinothalamokortikaler Neurone in laterale und mediale thalamische Kerngebiete mit konsekutiver Weiterverarbeitung der Information entweder im somatosensorischen oder dem limbischen Kortex führte zur Bildung der Begriffe „laterales Schmerzsystem“ und „mediales Schmerzsystem“.

Dem lateralen Schmerzsystem, zu welchem auf der Ebene des Thalamus die lateralen Kerngruppen gehören, die dann zum primären und sekundärsensorischen Kortex projizieren (S1, S2), wer-

Abb. 4.4. Die Schmerzempfindung und das Schmerzerleben bei peripherer nozizeptiver Reizung werden nach zentraler Verarbeitung unter Beteiligung verschiedener Hirnstrukturen generiert. Zur sensorischdiskriminativen Dimension gehören spezifische sensorische thalamische Kerngebiete und somatosensorische Hirnrindenanteile. Die emotionale Färbung des Schmerzes erfolgt durch Verarbeitung in limbischen Strukturen und unter Einbeziehung von frontalen Hirnarealen

93

4

den die Reizdetektion, Lokalisation und Qualitätsbzw. Intensitätsdiskrimination zugerechnet. Es steuert auf diesem Wege die sensorisch-diskriminative Komponente des Schmerzerlebens bei. Die affektiv-motivationale Komponente resultiert aus Verarbeitungsschritten im medialen Schmerzsystem. Hierzu gehören die medial gelegenen thalamischen Strukturen, der zinguläre Kortex sowie der präfrontale Kortex. Die Inselregion nimmt in diesem Konzept eine intermediäre Position ein. Sie erhält somatischen und viszeralen afferenten Zustrom aus dem lateralen System und projiziert ihrerseits aber in das limbische System und kann damit zur emotionalen Tönung von sensorischen Reizen beitragen. Die Verarbeitung nozizeptiver Signale im Gyrus cinguli – einer Hirnstruktur, die dem limbischen System zugerechnet wird – wurde mittels Einzelzellregistrierung nachgewiesen. Eine Reihe von wissenschaftlichen Arbeiten haben diese Region seitdem als wichtige Projektion des medialen Schmerzsystems identifiziert und ihr eine zentrale Rolle in der Integration von sensorischen, affektiven und emotionalen Prozessen zugeordnet (Vogt 1992). Die zentrale Rolle des Gyrus cinguli bei der Verarbeitung von akuten und chronischen Schmerzen wurde durch zahlreiche PET- und fMRI-Untersuchungen bestätigt (Peyron et al. 2000). Eine Studie bei Patienten mit einem atypi-

94

Teil I · Grundlagen

schen Gesichtsschmerz zeigte nach zusätzlicher nozizeptiver Hitzereizung eine differenzielle Aktivierung im Vergleich zu gesunden Kontrollpersonen in Form einer gesteigerten Aktivierung im anterioren zingulären Kortex und einer schwächeren Aktivierung im präfrontalen Kortex.

4.4.2

Zentrale Aktivierungsmuster und individuelles Schmerzerleben

In PET Aktivierungsstudien mit einem tonischen Hitzeschmerzreiz zeigte sich beim Gruppenvergleich eine signifikante Aktivierung von 쎔 periaquäduktalem/periventrikulärem Grau (PAG/PVG), 쎔 Thalamus, 쎔 Gyrus cinguli, 쎔 Insula, 쎔 frontobasalem Kortex (Tölle et al. 1999). In der Korrelation der zerebralen Durchblutung mit der individuell erlebten Intensität und Unangenehmheit des Reizes (Abb. 4.5) ließ sich eine differenzielle Beteiligung einzelner anatomischer/ funktioneller Anteile dieses Netzwerks für die Ver-

arbeitung der verschiedenen Aspekte eines komplexen multidimensionalen Schmerzerlebnisses nachweisen (Rainville et al. 1997; Tölle et al. 1999). Die gefundene Korrelation im PVG/PVG entspricht hinsichtlich der Tailarach-Koordinaten der Lokalisation, die als neurochirurgische Zielkoordinaten zur Implantation von Stimulationselektroden zur tiefen Hirnstimulation dienen. Elektrische Hirnstimulation im PAG/PVG, wo die höchste Opioidrezeptordichte innerhalb des Mittelhirns nachweisbar ist, löst eine Analgesie aus, die vermutlich auf der lokalen Ausschüttung endogener Opioide beruht und zur Aktivierung deszendierender inhibitorischer Bahnsystemen führt, die hier ihren Ursprung nehmen und auf Ebene des Rückenmarks eine Unterdrückung afferenter nozizeptiver Aktivität bewirken. Die positive Korrelation zur subjektiv erlebten Intensität des Schmerzes, nicht zur objektiv applizierten Reizintensität, könnte somit auf eine Aktivierung dieser deszendierenden Kontrolle in Abhängigkeit vom Schmerz sprechen. Ob die schmerzintensitätsabhängige Aktivität des PAG/PVG auf aszendierende Impulse aus dem spinothalamischen Trakt oder aus einer absteigenden Kontrolle resultiert, die

von multiplen rostralen Strukturen, wie dem ACC (anteriorer Gyrus cinguli), ausgeübt wird, kann aus den aktuell vorliegenden Daten nicht geschlossen werden. Ein aktueller Befund der Arbeitsgruppe um J. Frost (persönliche Mitteilung) wies an Probanden nach schmerzhafter Capsaicin-Applikation einer Extremität eine regionale Verdrängung µ-selektiven Liganden (11C-Carfentanil) in Strukturen des Mittelhirns nach. Die Abnahme der verfügbaren Opioidbindungsstellen korrelierte hierbei nur in Strukturen des Mittelhirns, die als PVG und Strukturen des benachbarten Ncl. raphe indentifiziert wurden, positiv mit der subjektiv erlebten Intensität des Schmerzes. In einer weiteren Untersuchung mit experimentell induziertem Gesichtsschmerz zeigte sich eine Verringerung der Opioidrezeptorbindung in Korrelation zur erlebten Unangenehmheit im posterioren Sektor des ACC (Zubieta et al. 2001). Es ist daher insgesamt erlaubt zu spekulieren, dass die beobachtete Zunahme des rCBF in der PET-Aktivierungsuntersuchung im Zusammenhang mit einer neuronalen Aktivität steht, die nach PETLigandenuntersuchungen mit der Ausschüttung von endogenen Opioiden in Zusammenhang steht. Ob die aus dem rCBF-Anstieg geschlossene Zunahme der Nervenzellaktivität im PAG/PVG die Entladungstätigkeit inhibitorischer endorphinerger Neurone oder die postsynaptische Wirkung von Endorphinen im Sinne einer über Interneurone vermittelten Disinhibition widerspiegelt, kann zunächst nur in tierexperimentellen Versuchsansätzen angegangen werden. > Durch den Korrelationsansatz zeichnet sich die Möglichkeit ab, psychophysische und psychologische Aspekte des individuellen Schmerzerlebens durch bildgebende Verfahren am Menschen darzustellen und sie spezifischen neurochemischen Anteilen des Netzwerkes zuzuordnen.

4.4.3

Phantomschmerzen und Hypnose

Der Begriff „Phantomschmerz“ wurde erstmals von Mitchell in seiner klassischen Beschreibung dieses Phänomens 1871 verwendet. Eine Reihe von Studien haben elektrophysiologische Veränderungen sowie Mechanismen der neuronalen Reorga-

Kapitel 4 · Biologische Mechanismen der Chronifizierung – Konsequenzen für die Prävention

Abb. 4.5a–c. Untersuchungen zur zentralen Schmerzverarbeitung mit der Positronenemissionstomographie bei experimentellem Hitzeschmerz und bei zentralem Schmerz nach Schlaganfall. (a) Die schematische Abbildung zeigt einen durch akuten Hitzeschmerz ausgelösten Blutflussanstieg (H2O15O-PET). Nach Durführung einer Korrelationsanalyse von Blutflussänderungen mit psychophysischen Angaben der Probanden hinsichtlich der individuell erlebten Schmerzintensität (I: sensorisch-diskriminative Komponente) und Schmerzunangenehmheit (III: affektiv-motivationale Komponente) zeigen sich differenzielle Hirnstrukturen, die für spezifische Anteile im multidimensionalen Schmerzerleben kodie-

95

4

ren. Bei Patienten mit zentralem Schmerz nach Schlaganfall zeigen korrespondierende Regionen einen relativen Glukosehypometabolismus (FDG-PET; gelb) bzw. ein reduziertes Bindungsverhalten für Opioidrezeptoren (Diprenorphin-PET; blau). (b) Der Fokus der signifikanten Korrelationen des H2O15-PET in Projektion auf die korrespondierenden horizontalen und sagittalen Schnitte eines T1-gewichteten Kernspintomogramms. (c) Oberflächenprojektionen des Glukosemetabolismus (FDG) und der Opioidbindung der Patienten mit zentralem Schmerz (Kontrollgruppe und Patientengruppe)

96

Teil I · Grundlagen

nisation bei Phantomschmerzen untersucht (Flor et al. 1995; Rainville et al. 1997; Willoch et al. 2000). Erste Untersuchungen mit bildgebenden Verfahren liegen erst seit jüngster Zeit vor. In einer Untersuchung an Patienten mit traumatischer Armamputation und Entwicklung anhaltender, auf pharmakologische Ansätze therapieresistenter Phantomschmerzen wurde eine Modulation des Schmerzerlebens durch hypnotische Suggestion

durchgeführt (Willoch et al. 2000).

bens bei realer peripherer nozizeptiver Reizung wie auch bei Phantomschmerzen sprechen für die Verarbeitung im gleichen neuronalen Substrat. Die Ergebnisse geben damit Hinweise auf die strukturelle Realität, die Phantomempfindungen in neuronalen Netzwerken zur Grundlage haben, und weisen Richtungen, wie Ergebnisse experimenteller Schmerzstudien möglicherweise zum Verständnis klinischer Schmerzbilder beitragen können.

> Hypnose bewirkt durch Suggestion einen schlafähnlichen Zustand mit Bewusstseinseinengung und stark herabgesetzter Willensbildung. Mit Hilfe des kognitiven Werkzeugs „Hypnose“ gelang es, durch gezielte Suggestionen unterschiedliche Phantomsensationen hervorzurufen.

Die induzierten Phantomsensationen, die die Patienten als typisch für die alltäglich spontan auftretenden Sensationen beschrieben, waren schmerzhafte und nichtschmerzhafte Ruhepositionen des Phantomglieds sowie schmerzhafte und nichtschmerzhafte Phantomgliedbewegungen. Aktivierungen in der SMA (supplementär motorisches Areal) und in der kontralateralen SM1 (primär sensorischer Kortex) wurden bei der Sensation von Phantomgliedbewegungen beobachtet. Die beobachteten Muster der aktivierten Hirnareale zeigten hohe Übereinstimmung mit Aktivierungen, die auch bei der tatsächlichen Ausführung der Bewegung einer vorhandenen Extremität zu beobachten sind. Das Aktivierungsmuster während hypnotisch induziertem Phantomschmerz war in vielen Strukturen in Übereinstimmung mit experimentellen und klinischen Schmerzaktivierungen. Es zeigten sich Aktivierungen kontralateral zum Phantomglied in der SM1 und dem Nucl. lenticularis, dem posterioren ACC und der kaudalen SMA, dem anteromedialen Thalamus und besonders deutlich im linken lateralen präfrontalen Kortex. Bei Korrelation der zerebralen Durchblutung mit dem subjektiv erlebten Schmerz (VAS-Skala) konnte eine signifikante Beteiligung des ACC und des PCC (posteriorer Gyrus cinguli) nachgewiesen werden, die in hoher Übereinstimmung mit den aktivierten Strukturen bei akutem Hitzeschmerz stand (Abb. 4.5). Die Beteiligung identischer Hirnstrukturen an der Enkodierung des Schmerzerle-

4.4.4

Modulation der Schmerzaktivierung durch Analgetika

Die Bildgebung gestattet einen Vergleich der Aktivierungsmuster bei Patienten mit unterschiedlichen Schmerzzuständen vor und nach Behandlung mit spezifischen Pharmaka (z. B. Opioide, Lokalanästhetika). An Patienten mit chronischen Schulterschmerzen konnte durch regionale Lokalanästhetikainjektionen eine eintretende Rückbildung schmerzbedingter zerebraler Aktivierungsmuster nachwiesen werden (Tölle et al., unveröf-

fentlicht). Bei den Patienten, die durch die Lokalanästhesie nur bedingt schmerzfrei wurden, konnten nur marginale Änderungen des zentralen Aktivierungsmusters beobachtet werden. Hierdurch bietet sich die Möglichkeit der Objektivierung einer Interventionsmaßnahme. Weiterhin können durch funktionelle Bildgebung die präferenziellen Hauptwirkorte einer Substanz, der bevorzugte Einsatz einer Medikamentengruppe bei spezifischen Schmerzsyndromen und eine differenzielle Wirkung auf Unteraspekte des Schmerzerlebens dargestellt werden. > Die Bildgebung gestattet es, Interventionsmaßnahmen zu objektivieren und in der pharmakologischen Forschung präferenzielle Hauptwirkorte einer Substanz zu erfassen.

Opioide haben in der Schmerztherapie und der

Anästhesie eine herausragende Bedeutung. Die opioidinduzierten intrinsischen Aktivierungen durch den µ-selektiven Opioidagonisten Remifentanil zeigten in einer Regressionsanalyse über ansteigende Dosierungen die höchste positive Korrelation im ACC (Wagner et al. 2001) – einer Region, in der die affektive Komponente des Schmerzerlebens verarbeitet wird.

Kapitel 4 · Biologische Mechanismen der Chronifizierung – Konsequenzen für die Prävention

Analgetika aus der Gruppe der Opioide beeinflussen einzelne Aspekte des Schmerzerlebens offensichtlich in unterschiedlichem Ausmaß. Von Morphium wird berichtet, dass es insbesondere in niedriger Dosierung stärker die affektive Komponente des Schmerzes reduziert, während Fentanyl zumindest in einigen experimentellen Schmerzmodellen stärker die sensorisch-diskriminative Komponente und weniger den affektiven Anteil des Schmerzes moduliert. In der für das sensorisch-diskriminative Schmerzerleben verantwortlichen Struktur, dem PCC, wurde keinerlei Korrelation zum rCBF gefunden. Unter den durch Schmerz aktivierten Hirnarealen wurden auch positive Korrelationen im Thalamus, Gyrus temporalis superior, präfrontalen Kortex und Insula beobachtet. Bei steigender Dosierung des Remifentanil wurde eine sukzessive Reduktion der schmerzbedingten Aktivierungen beobachtet. In Abb. 4.4 wird die verminderte

thalamische und insuläre Aktivierung während der Opioidgabe dargestellt. Weitere Analysen zeigten eine abnehmende Wirkung des Remifentanil auf die Unterdrückung der durch Schmerz ausgelösten Aktivierungen in

folgender Ordnung: ACC > PCC > S2, d. h. der rCBF-Anstieg des PCC und besonders des S2 wird damit offensichtlich weniger durch die Opioidanalgesie beeinflusst. Das subjektive Schmerzrating (VAS) nahm signifikant zwischen den opioidfreien Konditionen und den beiden Remifentanildosierungen ab. Signifikante Unterschiede bezüglich des subjektiven Schmerzratings hinsichtlich Intensität (sensorische Komponente) und Unangenehmheit (affektive Komponente) konnten zwischen den beiden hier angewendeten Dosierungen von Remifentanil nicht erhoben werden. Eine neuere bildgebende Untersuchung mit der PET zeigte, dass eine Placeboanalgesie und die durch Opioide induzierte Analgesie offensichtlich überlappende neuronale Strukturen rekrutieren (Petrovic et al. 2002).

4.4.5

Untersuchungen mit Opioidrezeptorliganden

PET-Studien mit unspezifischen Opioidrezeptorliganden (Diprenorphin) lieferten erste Hinweise auf Veränderungen des opioidergen Systems bei chronischen Schmerzzuständen.

97

4

> Sie sind damit ein erstes Beispiel am Menschen in vivo, dass durch Schmerzen dynamische Änderungen in Neurotransmittersystemen in Gehirnarealen auftreten, die für die somatosensorische und affektive Verarbeitung von Schmerzen wichtig sind.

Patienten mit rheumatoider Arthritis zeigten nach suffizienter Schmerztherapie wieder eine normalisierte Bindung von Diprenorphin, v. a. im Thalamus, dem ACC sowie dem präfrontalen, temporalen und insulären Kortex (Jones et al. 1994). Die erniedrigte Bindung im Zustand des Schmerzes lässt sich als erhöhte Kompetition der endogenen Opioide um den Rezeptor, als Folge der Rezeptorinternalisation bzw. als eine langfristige Herunterregulierung der Rezeptordichte nach Daueraktivierung, interpretieren. Eine weiterführende Aufklärung dieses Ergebnisses kann zum jetzigen Zeitpunkt nur durch die Übertragung des Schmerzbildes in ein darauf zugeschnittenes Tiermodell erfolgen bzw. durch postmortale Analysen humanen Gewebes. Molekularbiologische Methoden erlauben dann z. B. eine Analyse hinsichtlich des präsynaptischen Gehalts an endogenen Opioiden und der postsynaptischen Dichte der Opioidrezeptoren in den entsprechenden Strukturen. Untersuchungen bei Patienten mit zentralen Schmerzen nach Schlaganfall konnten eine Änderung der Opioidrezeptorbindung in nahezu allen Hirnstrukturen nachweisen, die an der Verarbeitung von Schmerz beteiligt sind. Häufig entwickeln diese Patienten ein zentrales Schmerzsyndrom mit intensiven und ausgesprochen quälenden neuropathischen Schmerzen. Eine reduzierte Opioidrezeptorbindung konnte im Thalamus und im ACC nachgewiesen werden (Willoch 1999). Die Studie wurde durch einen Untersuchung des zerebralen Glukosestoffwechsels (18F-Fluordeoxyglukose, FDG) ergänzt und erbrachte ein vergleichbares Muster (Abb. 4.5c). Lediglich das PCC zeigte zusätzlich hypometabolische Veränderungen. Damit zeigt sich, dass die Veränderungen im Transmittersystem der Opioide nicht notwendigerweise von Änderungen der metabolischen Aktivität begleitet werden. Ob sich aus diesen Beobachtungen in Zukunft therapeutische Indikationen ergeben, ist noch nicht abzusehen.

98

Teil I · Grundlagen

4.4.6

Aktivitätsabhängige neuronale Plastizität – Konsequenzen für die Therapie

der chemischen Ansprechbarkeit des Neurons auszulösen? > Der entscheidende Faktor, der das Ausmaß der

Ob die oben beschriebene komplexe Kaskade transkriptionaler Vorgänge in letzter Konsequenz zur Beibehaltung eines physiologischen Gleichgewichts beiträgt oder aber einzig und allein die Entwicklung pathophysiologischer Entladungsmuster bewirkt, an deren Ende die Entstehung chronischer Schmerzen steht, ist bei gegenwärtigem Kenntnisstand noch nicht sicher zu beantworten. Insgesamt bestehen jedoch wenig Zweifel, dass tierexperimentelle Modelle wie z. B. zur chronischen Arthritis oder zur Neuropathie viele grundsätzliche Aspekte chronischer Schmerzen beim Menschen gut erfassen. Somit erscheint es in Hinblick auf klinische Beobachtungen zulässig, Schlussfolgerungen aus tierexperimentellen Studien zu ziehen, um zelluläre Mechanismen zu erklären, die für die Entwicklung chronischer Schmerzen, z. B. im Rahmen von Phantomschmerzen oder der Trigeminusneuralgie, wirksam sind. Sollte die aktivitätsabhängige neuronale Plastizität tatsächlich die Ursache für Veränderungen darstellen, die eine Entwicklung zur „chronischen Schmerzkrankheit“ fördern, müssen daraus wichtige therapeutische Konsequenzen abgeleitet werden. Bereits im Tierexperiment besteht eine zeitliche Diskrepanz zwischen der Initialisierung neuroplastischer Veränderungen (Aktivierung der iTF-Kaskade innerhalb von Tagen) und dem Nachweis von Veränderungen in spezifischen Neurotransmittersystemen (nach Wochen bis Monaten). Beim Menschen wird die Entwicklung einer Arthritis mit dem Beschwerdebild „Schwellung, Rötung, Bewegungseinschränkung, Schmerzen“ nach ca. 2–3 Tagen zur Konsultation des Arztes führen. Bei Übertragung der Erkenntnisse aus dem Tierexperiment wäre zu diesem Zeitpunkt bereits ein beträchtlicher Teil der iTF-Kaskade abgelaufen, Veränderungen in der molekularen Ausstattung des schmerzverarbeitenden Systems

also bereits initiiert. Wie soll mit dem Wissen umgegangen werden, dass das Anstoßen solcher Signalkaskaden durch nozizeptive Reize oder unphysiologisch hohe Entladungstätigkeit in afferenten Nerven vermieden werden muss, um nicht Gefahr zu laufen, chronische Übererregbarkeit durch eine Veränderung

zentralen Sensitivierung determiniert, ist die Intensität des nozizeptiven Bombardements zentraler Neurone in der Akutphase der Erkrankung. Eine therapeutische Maxime sollte daher sein, zu jedem Zeitpunkt der Therapie eine möglichst optimale Analgesie, ggf. unter Einbeziehung von hochpotenten Opioiden, in ausreichender Dosierung und durch therapeutische Leitungsblockaden durchzuführen.

Gleichzeitig sollten bei zur Chronifizierung neigenden Schmerzbildern, wie der postherpetischen Neuralgie, bereits frühzeitig Behandlungsstrategien mit Einsatz bewährter Analgetika in Kombination mit sog. „nichtklassischen“ Analgetika (Antidepressiva, Antikonvulsiva, NMDA-Antagonisten) gewählt werden, um die aktivitätsabhängige Langzeitveränderung zu verhindern bzw. deren Auslöschung aus einem Schmerzgedächtnis zu erleichtern. Die klinische Einsetzbarkeit von NMDA-Antagonisten (kompetitiv, unselektiv, mit Angriff an der Glyzin-, Polyamin- oder Redoxstelle) und SP-Antagonisten mit spezifischer Wirkung auf Rezeptorsubtypen könnte zusätzlich helfen, die Entwicklung zentraler Sensitivierungen zu verhindern bzw. abzuschwächen. Langfristig müssten Therapieansätze konzipiert werden, die gezielt in die intrazelluläre Signalkaskade der Neurone eingreifen. Darüber hinaus wird die bessere Kenntnis über Vorgänge in Bereichen des peripheren Nozizeptors zunehmend an Bedeutung gewinnen, da auch dieser ein vielversprechendes Ziel für eine selektive Pharmakotherapie darstellt. Ein sicherlich rasch expandierendes Forschungsgebiet ist der Bereich „Schmerz und Genetik“. Es ist offensichtlich, dass erhebliche individuelle, genetisch determinierte Unterschiede bestehen, die die physiologischen Antworteigenschaften des reizaufnehmenden, verarbeitenden und deszendierend kontrollierenden Schmerzsystems sowie das individuelle Ansprechen auf Pharmaka unterschiedlicher Wirkgruppen bestimmen (Mogil 1999). > Die Kenntnis der genetischen Grundausstattung, die die Propagation eines somatischen Chronifizierungsprozesses mitbestimmen kann,

Kapitel 4 · Biologische Mechanismen der Chronifizierung – Konsequenzen für die Prävention

sollte helfen, das Gefährdungspotenzial eines Patienten bei Einwirkung einer Noxe abschätzen zu lassen und die Zielgerichtetheit der therapeutischen Maßnahmen weiter zu erhöhen.

Neben der Bedeutung pharmakologischer Therapieansätze dürfen die Möglichkeiten einer physikalischen Therapie, insbesondere für die Extinktion etablierter pathologischer Entladungsmuster, nicht unterschätzt werden. Durch das Angebot physiologischer Entladungsmuster, die sich an spinalen Neuronen z. B. aus der Durchbewegung einer Extremität mit der Aktivierung primärafferenter Fasern aus Muskeln und Gelenken einstellen (was anfänglich möglicherweise nur unter ausreichender Analgesie vom Patienten toleriert wird), entsteht über das neuerliche Anstoßen der Signalkaskade möglicherweise die Chance zur neuroadaptiven „Rückentwicklung“ zu ursprünglichen physiologischen Verhältnissen. Auf die elementare Bedeutung der psychologischen und psychosozialen Interventionen, die für die umfassende Therapie chronischer oder chronifizierter Schmerzen nötig sind, wird an anderer Stelle dieses Buches eingegangen.

4.5

Biologische Mechanismen der Chronifizierung – eine integrative Hypothese

Neben den oben geschilderten molekularen Veränderungen auf Einzelzellebene spielt für die Entstehung chronischer Schmerzen wahrscheinlich auch eine Reassemblierung kohärent aktivierter Neuronenpopulationen im „zentralen Schmerznetzwerk“ eine entscheidende Rolle (Abb. 4.6). Höhere Funktionen – wie das Erkennen, Erinnern und Bewerten schmerzhafter Reize – werden, wie es allgemein beim Lernen angenommen wird, durch ein sich kontinuierlich veränderndes, zeitlich-räumliches Muster elektrischer Signale repräsentiert. Der individuelle Sinneseindruck resultiert auf der Detektion von gleichzeitig auftretenden Signalen in Ensembles von miteinander verbundenen Nervenzellpopulationen. Jedes der an einem Ensemble beteiligten Neurone trägt zum Gesamterleben nur bestimmte Teilaspekte (z. B. Sensorik, Affekt, Kognition, Aufmerksamkeit, Vorerfahrungen, Persönlichkeitsvariablen, kulturelle Faktoren) bei.

99

4

Die Bandbreite der Reaktionen auf eine Noxe hängt dabei von der individuellen (Schmerz-)lebenserfahrung, der Persönlichkeitsstruktur und den präformierten Handlungs- und Bewältigungsstrategien ab (Abb. 4.6). Das neuronale Substrat rekrutiert sich dabei aus verschiedenen Anteilen kortikaler und subkortikaler Areale, die überlappende und divergierende Netzwerke, z. B. mit solchen zur Antizipation von Schmerz (Ploghaus et al. 1999) oder für Belohnung und Verstärkung (Becera et al. 2001), aufweisen. Soll die Speicherung eines Sinneseindrucks durch Assemblierung kohärent aktiver Neurone erzielt werden, muss sich eine Netzwerkarchitektur etablieren, die eine präferenzielle Kopplung („funktionelle Konnektivität“) zwischen Neuronen unterschiedlicher Ensembles gewährleistet (Büchel et al. 1999). Auch bei experimentellen und klinischen Schmerzmodellen zeigte sich ein Rearrangement neuronaler Verarbeitungsstrukturen, wobei offensichtlich dem frontalen Kortex eine zentrale Kontrolle für die Ausgestaltung der aktivierten Matrix zukommt (Abb. 4.6). Analysen mit Methoden höherer zeitlicher Auflösung und Ansätze zur Ermittlung der effektiven Konnektivität können hierzu möglicherweise in Zukunft Erklärungen liefern. Ensembles, die wiederholt zu einem Netzwerk zusammentreten, entwickeln eine gefestigte Verbindung und konsolidieren das „neue Netzwerk“ (Flor et al. 1995; Büchel et al. 1999; Miltner et al. 1999). Für den Bereich des Schmerzes führt dies möglicherweise dazu, dass Schmerzerleben und Schmerzverhalten stärker mit bestimmten sensorischen, affektiven oder kognitiven Aspekten bzw. geänderten Bewertungs- und Reaktionstendenzen belegt werden und mittelfristig ein chronischer Schmerz mit den dazugehörigen Merkmalen resultiert. > Bei Annahme der Hypothese, dass zeitliche Kohärenz eine wichtige Voraussetzung zur dauerhaften Enkodierung somatosensorischer Information darstellt, werden durch die oben beschriebenen Mechanismen der funktionellen und strukturellen Plastizität (z. B. Kinetik von NMDA-Rezeptoren, Phosphorylierung von Rezeptoren) erst die (patho)physiologischen Voraussetzungen geschaffen, die notwendige Assemblierung von neuen Netzwerken zu realisieren.

100

Teil I · Grundlagen

Kapitel 4 · Biologische Mechanismen der Chronifizierung – Konsequenzen für die Prävention

Abb. 4.6. Schematische Darstellung wichtiger Hirnstrukturen, die nach gegenwärtigem Stand an der Prozessierung von Schmerz beteiligt sind (oben). Aktuelle Forschungen mit bildgebenden Verfahren lieferten erste Hinweise auf Änderungen der Netzwerkstruktur beim Übergang von akutem zu chronischem Schmerz.. Für die Entstehung chronischer Schmerzen spielt wahrscheinlich auch die Re-Assemblierung kohärent aktivierter Neuronenpopulationen im „zentralen Schmerznetzwerk“ eine entscheidende Rolle, wobei frontalkortikale Areale offensichtlich eine entscheidende Kontrollfunktion auf limbische, thalamische und deszendierendhemmende Strukturen ausüben und damit die „effektive Konnektivität“ innerhalb des Netzwerkes ändern können (Pfeile). Die molekularen Veränderungen auf Einzelzelebene

101

4

ermöglichen dabei ein sich kontinuierlich veränderndes, zeitlich-räumliches Muster elektrischer Signale. Der individuelle Sinneseindruck resultiert aus der Detektion von gleichzeitig auftretenden Signalen in Ensembles von miteinander verbundenen Nervenzellpopulationen. Jedes der an einem Ensemble beteiligten Neurone trägt zum Gesamterleben nur bestimmte Teilaspekte (z. B. Sensorik, Affekt, Kognition) bei, die von der individuellen (Schmerz-)lebenserfahrung, der Persönlichkeitsstruktur und den präformierten Handlungsund Bewältigungsstrategien abhängen und sich im Verlauf der Schmerzerkrankung dynamisch ändern können (unten; funktionelles Kernspintomogramm eines Probanden bei Hitzeschmerz). ACC ; S1 primärsensorischer Kortex; PCC posteriorer Gyrus cinguli; PAG periaquäduktales Grau



Die Überprüfung der Hypothese einer Beteiligung veränderter Ensembles, die Bedeutung neurochemischer Änderungen bei der Etablierung veränderter Netzwerke bzw. die Frage nach Änderungen der „effektiven Konnektivität“ der an der Verarbeitung akuter Schmerzen beteiligten Ensembles beim Übergang zum chronischen Schmerz sollten am Menschen durch Untersuchungen mit bildgebenden Verfahren (Aktivierungs-PET, LigandenPET, funktionelle Kernspintomographie) mittelfristig möglich werden. PET-Studien mit Liganden erlauben die Untersuchung neurochemischer Veränderungen im Gehirn bei chronischen Schmerzzuständen. Postmortale Untersuchungen können molekulare Veränderungen in der Ausstattung der aktivierten Neurone in diesem Schmerznetzwerk feststellen. Die zu erwartende Synergie aus molekularer Forschung, bildgebender Analyse und klinischer Evaluation lässt einen spürbaren Zugewinn an Wissen zur Vermeidung der Chronifizierung von Schmerz in den nächsten Jahren erwarten.

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Teil I · Grundlagen

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103

5

Psychologische Mechanismen der Chronifizierung – Konsequenzen für die Prävention M. Hasenbring und M. Pfingsten

5.1

Pain is not the problem but chronicity. (A. Nachemson, 1998) In den vergangenen 15 Jahren wurde, v. a. im Rahmen prospektiver Längsschnittstudien, nachgewiesen, dass zahlreichen psychologischen und psychobiologischen Mechanismen eine bedeutende Rolle im

Prozess der Chronifizierung akuter Schmerzen zukommt. Hierzu zählen eine depressive Stimmungslage, ungünstige Formen der emotionalen, kognitiven und verhaltensbezogenen Schmerzverarbeitung sowie chronische Stressoren im beruflichen und privaten Alltagsleben. In der Aufrechterhaltung dieser Faktoren kommt Prozessen der klassischen und operanten Konditionierung zentrale Bedeutung zu. In

jüngerer Zeit werden darüber hinaus verstärkt iatrogene Prozesse beschrieben, die im Rahmen der medizinischen Behandlung von Schmerzpatienten eine Chronifizierung begünstigen. Aktuelle Leitlinien zur Behandlung akuter Schmerzen (z. B. akuter Rückenschmerzen) sehen als Konsequenz eine frühzeitige Diagnostik psychologischer Risikofaktoren (sog. „yellow flags“) vor, deren Berücksichtigung zur Prävention der Schmerzchronifizierung beitragen soll. Erste Screeninginstrumente liegen für die Individualdiagnostik vor. Ebenso gibt es erste empirische Befunde aus kontrollierten randomisierten Interventionsstudien bei Rückenschmerzen, die darauf hindeuten, das risikofaktorenbasierte kognitiv-verhaltenstherapeutische Interventionen bei Hochrisikopatienten den Chronifizierungsprozess verhindern können.

Einführung

> In Deutschland leben nach jüngsten Schätzungen 5–8 Mio. Menschen, die unter chronischen Schmerzen leiden.

Bei klinischen Schmerzproblemen ist häufig nicht in erster Linie die Inzidenz, sondern ihre Persistenz von Bedeutung. Dies zeigt sich z. B. an den Gesundheitskosten, die bei Rückenschmerzen zu mehr als 80 % von einer kleinen Gruppe von Patienten (ca. 10 %) verursacht werden: den Patienten mit länger anhaltenden Beschwerden bzw. chronischen Schmerzen (Fordyce 1995; Seitz 2002). Somatische Ursachen sind häufig die Basis von Schmerzen, können aber die Zunahme von Krankheitsverhalten und die vermehrte Inanspruchnahme medizinischer sowie Leistungen der sozialen Versorgungssysteme nur unzureichend erklären. > Was selbst für den akuten Schmerz Gültigkeit hat, nämlich dass keine proportionale Beziehung zwischen den Merkmalen einer Schädigung und der Schmerzempfindung besteht, hat erst recht Gültigkeit für ein chronisches Geschehen.

Bei chronischen Schmerzen wird die schmerzbedingte Beeinträchtigung nur marginal durch das Ausmaß der diagnostizierbaren Körperschäden bestimmt und korreliert auch nur schwach bis mittelstark mit der berichteten Schmerzintensität. Dagegen sind kognitive, emotionale sowie Verhaltensaspekte, die die Schmerzverarbeitung und -bewältigung betreffen, von hoher Bedeutung (Hasenbring et al. 2001; Pfingsten 2004).

104

Teil I · Grundlagen

Bei dem Versuch, Ätiologie und Pathogenese chronischer Schmerzen zu verstehen, hat sich der Schwerpunkt interdisziplinärer Forschungsarbeiten in den vergangenen 15 Jahren zunehmend auf den Prozess einer allmählich sich entwickelnden Chronifizierung verlagert. Der Begriff der Chronifizierung kennzeichnet dabei in zeitlicher Hinsicht die Phase des Überganges („transition“) von einem akuten zu einem chronisch-persistierenden oder chronisch-rezidivierenden Schmerz (Turk 1996). Die empirische Forschung konzentriert sich auf die Untersuchung folgender 2 Fragen: 쎔 Welche Faktoren beeinflussen den Übergang von einem akuten Schmerz zu einem chronisch-rezidivierenden oder chronisch-persistierenden Schmerz bzw. welche biologischen, psychologischen, sozialen und sozioökonomischen Prozesse sind daran beteiligt? Der Schwerpunkt dieser Fragestellung liegt auf den Mechanismen der Chronifizierung. Im Folgenden soll zunächst die Beantwortung dieser ersten Frage im Vordergrund stehen. 쎔 Eine zweite Frage beschäftigt sich mit der Identifikation von Risikofaktoren, die frühzeitig, z. B. bei Auftreten erster akuter Schmerzen, anzeigen, ob bei einer Person die Gefahr einer Chronifizierung besteht. Dieser Ansatz soll im vorliegenden Kapitel unter der Überschrift „Präventive Aspekte“ behandelt werden. Im folgenden Kapitel liegt der Schwerpunkt auf psychosozialen Prozessen, die als wichtige Determinanten der Schmerzchronifizierung gelten können. Andere Mechanismen – insbesondere physiologische Chronifizierungsfaktoren, wie z. B. Aspekte der Neuroplastizität, werden zur Vermeidung von Redundanzen in anderen Kapiteln behandelt (Kap. 2 und 4). Innerhalb der klinischen Schmerzforschung existiert gegenwärtig ein empirisch begründetes Wissen vorranggig für das Krankheitsbild desRückenschmerzes. Nur wenige Forschungsarbeiten liegen bisher zu Chronifizierungsprozessen bei anderen Schmerzsyndromen vor, wie beispielsweise zum Herpes zoster (z. B. Dworkin et al. 1992) oder der rheumatoiden Arthritis (z. B. Yelin et al. 1980; Keefe et al. 1997). Im Folgenden soll dennoch versucht werden, allgemeine Prozesse der Schmerzchronifizierung zu beschreiben, die weit-

gehend syndromunspezifisch wirksam werden können. Syndromspezifische Chronifizierungsmechanismen werden jeweils genauer in den Kapiteln „Krankheitsbilder“ beschrieben (Kap. 19–27).

Chronifizierung auf psychischer Ebene

5.2

Auf psychischer Ebene wurden in den vergangenen Jahren eine Vielzahl an Faktoren in ihrem Einfluss auf den Prozess der Chronifizierung untersucht. Sie lassen sich grob einteilen in die Bereiche: 쎔 emotionale Stimmung, 쎔 schmerzbezogene Kognitionen, 쎔 (verhaltensbezogene) Schmerzbewältigung.

5.2.1

Emotionale Stimmung

> Liegt bei einem Patienten mit akutem lumbalen Bandscheibenvorfall und radikulärer Schmerzsymptomatik eine depressiv getönte Stimmungslage vor, so ist in über 80 % der Fälle davon auszugehen, dass der Betroffene von einer Operation allein nicht profitieren, sondern ein chronisches Schmerzbild entwickeln wird.

Eine Reihe prospektiver Untersuchungen zeigte dies mit unterschiedlichen Erhebungsverfahren zur Operationalisierung der Depressivität (Hasenbring et al. 1994). Die Vorhersagegenauigkeit fiel dabei für das Beck-Depressionsinventar (BDI) mit einer Sensitivität von ca. 90 % und einer Spezifität von >75 % am höchsten aus. Auch für den Chronifizierungsverlauf nach akuten unspezifischen Rückenschmerzen erwies sich die aktuelle depressive Stimmungslage als signifikanter Risikofaktor (Cherkin et al. 1996). Ein systematischer Überblick bei Turk (1996) zeigt, dass dies auch für die überwiegende Zahl an prospektiven Studien gilt, die eine Intensivierung chronischer Rückenschmerzen erst im späteren Verlauf untersuchten. Überwiegend handelt es sich dabei um milde Formen von Depressivität, die nach einer Klassifikation von Beck et al. (1961) zwischen den Stufen „keine Depression“ und „mäßige bzw. schwere Depression“ liegen (Hasenbring 1992). Psychiatrisch relevante depressive Störungen konnten dagegen im frühen Chronifizierungsprozess nicht als

Kapitel 5 · Psychologische Mechanismen der Chronifizierung – Konsequenzen für die Prävention

relevante Risikofaktoren bestätigt werden (Gatchel et al. 1995). Eine depressive Stimmungslage kann im Einzelfall Folge sein von 쎔 lang anhaltender Belastung im beruflichen oder privaten Alltag, 쎔 chronischer körperlicher/mentaler Überforderung, 쎔 einem lebensverändernden Ereignis (z. B. Verlust eines nahen Angehörigen), 쎔 bereits bestehenden Schmerzen bzw. einer ungünstigen Schmerzbewältigung. Zur Frage psychobiologischer Wechselwirkungen existieren gegenwärtig verschiedene, sich mitunter ergänzende Hypothesen, für die erste bestätigende empirische Ergebnisse vorliegen. Folgende Zusammenhänge werden diskutiert: 쎔 Eine depressive Stimmungslage (z. B. als Folge chronischer Alltagsbelastungen) ist mit einer erhöhten muskulären Aktivität – v. a. im lumbalen Wirbelsäulenabschnitt – verbunden. Diese kann einerseits zu einem rein muskulär bedingten Schmerz führen, andererseits über einen erhöhten intradiskalen Druck zu einer weiteren Verschiebung von diskalem Gewebe führen, sodass es zu einer schmerzhaften Bedrängung der Nervenwurzel kommt. 쎔 Eine länger andauernde und ausgeprägte depressive Stimmungslage ist üblicherweise mit Passivität und Rückzugsverhalten einhergehend, sodass es über lang andauernde körperliche Inaktivität schließlich zur Schwächung wichtiger Muskelgruppen/Atrophie der Muskulatur kommen kann, die bei Belastung besonders schnell schmerzhaft wird. 쎔 Eine unabhängig von der Schmerzerkankung auftretende depressive Stimmungslage (z. B. aufgrund eines Verlusterlebnisses) wie auch eine depressive Stimmung als konsekutive Folge der schmerzbedingten Beeinträchtigung (Verlust von Verstärkungsbedingungen) intensiviert das negative emotionale Erleben, ist mit dysfunktionalen kognitiven Mechanismen vergesellschaftet und erschwert eine adaptive Bewältigung des Schmerzes. Neben dem Faktor „Depressivität“ kann auch das aktuelle Erleben von Angst die Aufrechterhaltung

von Schmerzen ungünstig beeinflussen (Sieben et

105

5

al. 2002). Innerhalb der Forschung zur Chronifizierung von Rückenschmerzen wurde diese affektive Komponente jedoch kaum gesondert untersucht, sondern eher in Verbindung mit angstassoziierten schmerzbezogenen Kognitionen und spezifischen Formen der Schmerzbewältigung (s.u.).

5.2.2

Schmerzbezogene Kognitionen

Unter schmerzbezogenen Kognitionen werden zum einen momenthafte schmerzbezogene Selbstverbalisationen gefasst, zum anderen zeitübergreifende Metakognitionen, die sich auf das Schmerzerleben insgesamt beziehen (Hasenbring 2000). Bezüglich der momentbezogenen Selbstverbalisationen lassen sich verschiedene attributionale und attentionale kognitive Prozesse unterscheiden (Murphy et al. 1997): Zu den eher momentbezogenen attributionalen Kognitionen zählen Katastrophisieren und Hilf-/Hoffnungslosigkeit – beides sind Aspekte, die mit einer Überbewertung der Schmerzerfahrung einhergehen. Weiterhin zählen hierzu Kognitionen des Bagatellisierens, die mit einer Unterbewertung einhergehen (Hasenbring 1992). Zu den am häufigsten untersuchten krankheitsbezogenen Metakognitionen gehören die sog. „fear-avoidance beliefs“ (Waddell et al. 1993, s. unten). Diese stellen Überzeugungshaltungen mit Verhaltenskonsequenz dar, wonach das persönliche Schmerzleiden einen ungünstigen Verlauf nehmen und nicht mit einer Wiederherstellung der ursprünglichen Funktionskapazität gerechnet wird (vgl. Kap. 33). Erste pathogenetische Vorstellungen zur Frage der Maladaptivität ungünstiger attributionaler Kognitionen wurden von Philips (1987) formuliert. Sie vermutet, dass Patienten mit der Neigung, ihre Schmerzen bedrohlich überzubewerten (Katastrophisieren), diese dann kognitiv (und später auch im Verhalten) versuchen zu meiden, sodass sie nicht mehr in der Lage sind, zukünftige Schmerzen einem jeweils neuen realen Bewertungsprozess zu unterziehen. Im Gegensatz dazu wird angenommen, dass Personen ohne dieses auffällige kognitive Muster jeden Schmerzreiz neu kalibrieren und entsprechende adaptive Bewältigungsstrategien einleiten. Auf der Basis dieser Annahmen lässt sich vermuten, dass auch Patienten, die künftige Schmerzen unterschätzen, wie auch sol-

106

Teil I · Grundlagen

che, die sie kognitiv unterdrücken, einen entsprechenden Kalibrierungsprozess unmöglich machen. Diese Annahmen sind bislang jedoch hypothetisch. > Prospektive Längsschnittstudien zur Chronifizierung akuter unspezifischer Rückenschmerzen haben bereits wiederholt die Relevanz attributionaler Kognitionen für die Aufrechterhaltung der Schmerzen bestätigen können (Klenerman et al. 1995).

Burton et al. (1995) unterschieden in ihrer Arbeit den Verlauf akuter (Schmerz 3 Wochen, Schmerz Dieses oftmals zu beobachtende Krankheitsverhalten hat die negative Eigenschaft, dass es auf lange Sicht ausgesprochen kontraproduktiv ist.

Kurzfristig kann es jedoch durchaus positive Konsequenzen aufweisen: Nach dem operanten Konditionierungsparadigma wird das Schmerzverhalten z. B. über die Reaktion des sozialen Umfeldes verstärkt, indem es z. B. Aufmerksamkeit und Zuwendung erzeugt, unangenehme Tätigkeiten verhindert oder indem es zu einer kurzfristigen Verringerung der Schmerzintensität führt (wie es z. B. oftmals bei passivem Verhalten wie Schonung, Ruhe, Fernsehen, Lesen, Massage oder „schmerzkontingenter“ Medikamenteneinnahme der Fall ist). Diese positiven Konsequenzen führen zu einer höheren Wahrscheinlichkeit des weiteren Auftretens des Krankheitsverhaltens. Auf diese Weise nimmt das Krankheitsverhalten einen immer größeren Raum ein und unterdrückt schließlich alle positiven, aktiven Bewältigungsanstrengungen. Dieser Prozess verläuft in der Regel schleichend, sodass der Betroffene (oder das direkte soziale Umfeld) die drastische Veränderung der Lebensgewohnheiten nicht einmal bemerkt (Linton 2000). Eintretende Arbeitsunfähigkeit kann diesen Prozess erheblich beschleunigen, indem sie den Bruch in den Lebensgewohnheiten verstärkt und den Zugang zu wichtigen alternativen Verstärkerquellen verhindert. Die verringerte körperliche und soziale Aktivität führt wiederum zu Konsequenzen im emotionalen und kognitiven Bereich, indem es quasi zwangsläufig zu depressiver Verstimmung und katastrophisierenden Gedanken führt; Kap. 22). Neben dem Vermeiden körperlicher Aktivitäten („fear-avoidance“) zählt das Vermeiden sozialer Aktivitäten zum problematischen Krankheitsverhalten. So hat ein Betroffener beispielsweise kaum noch soziale Kontakte, da er schmerzbedingt weder Gäste einlädt noch Freunde besucht. Sportliche Aktivitäten, die mit sozialen Kontakten

107

5

einhergehen, werden vollständig aufgegeben. In einer verhaltensanalytischen Untersuchung kann deutlich werden, dass entsprechende Sozialkontakte v. a. dann vermieden werden, wenn sie bereits vor der Erkrankung emotional belastend waren. > Prospektive Untersuchungen an akuten Bandscheibenpatienten zeigten, dass beide Formen des Vermeidungsverhaltens (Vermeidung körperlicher und sozialer Aktivitäten) zu den relevanten Risikofaktoren für eine spätere Chronifizierung gehörten (Hasenbring 1992; Hasenbring et al. 1994), das Vermeiden sozialer Aktivitäten war im Vergleich jedoch der varianzstärkere Faktor.

Die Aufrechterhaltung und Chronifizierung der Schmerzen wird über Prozesse des operanten Konditionierens erklärt. Führt das Verhalten zu einer Reduzierung von aversiven Gefühlen wie Schmerz oder depressive Stimmung, wird es auf dem Weg der negativen Verstärkung stabilisiert. In Hinblick auf psychobiologische Zusammenhänge werden 2 Wege angenommen: 쎔 Das dauerhafte Vermeiden sozialer Zusammenkünfte mit anderen Menschen begünstigt und verstärkt eine depressive Stimmungslage, indem es neben der kurzfristigen Reduktion aversiver Gefühle langfristig zu einem Verlust primärer Verstärkung kommt, d. h. zu einem Verlust an Freude oder Ablenkung, die durch das Zusammensein mit anderen Menschen ausgelöst werden können. 쎔 Das Meiden körperlicher Aktivitäten kann über die Minderbeanspruchung der Muskulatur zur Schwächung wichtiger Muskelgruppen bis hin zur Muskelatrophie führen, die, wie weiter oben ausgeführt, bei Belastung vorschnell schmerzhaft reagiert. Als ein besonderes Beispiel für den Zusammenhang von verhaltensbezogenen und kognitivemotionalen Faktoren der Chronifizierung kann das Angst-/Vermeidungsverhalten im Rahmen sog. Fear-avoidance-Modelle betrachtet werden (Vlaeyen et al. 1995; Pfingsten et al. 2001): Es ist eine normale Reaktion, auf Schmerz mit Angst zu reagieren, die wiederum ein Vermeidungsverhalten (meist im Sinne der Ruhigstellung und Schonung des betroffenen Körperteils) nach sich zieht.

108

Teil I · Grundlagen

Die Vermeidung von Aktivität und Bewegung wird über die Reduktion von Angst verstärkt (operantes Konditionierungsparadigma). Die Funktionsweise ist dem Vermeidungsverhalten bei Phobien ähnlich (Kori et al. 1990) und führt schließlich zu einer immer weiter fortschreitenden Immobilisierung des Betroffenen mit Konsequenzen auf der körperlichen wie auch psychosozialen Ebene (Kap. 22). In mehreren empirischen Studien wurde inzwischen nachgewiesen, dass sich das beschriebene Vermeidungsverhalten besonders bei den Patienten ausbildet, bei denen kognitive Überzeugungen zum Zusammenhang zwischen Rückenschmerzen einerseits und Bewegung/Belastung andererseits stark ausgeprägt sind. Derartige Überzeugungen werden nach Waddell et al. (1993) als „fear-avoidance beliefs“ bezeichnet. Diese sind offensichtlich nicht allein ein Merkmal des fortgeschrittenen Chronifizierungsprozesses, sondern werden bereits bei akutem Rückenschmerz verhaltensrelevant und bestimmen den weiteren Krankheitsverlauf (Klenerman et al. 1995). Hasenbring und Mitarbeiter (Hasenbring 1992; Hasenbring et al. 1994) zeigten im Rahmen prospektiver Längsschnittstudien an Patienten mit akuten Rücken-/Beinschmerzen und lumbalem Bandscheibenbefund, dass auf Verhaltensebene auch ein gegenteiliger Aspekt für die Chronifizierung der Schmerzen relevant sein kann. Über das Fragebogenverfahren CRSS (Coping-Reaktionen in Schmerzsituationen) des Kieler Schmerz-Inventars (KSI; Hasenbring 1994) wurde mit der Skala „Durchhaltestrategien“ die Tendenz erfasst, trotz starker Schmerzen jede begonnene Arbeit zu beenden und jeden Termin einzuhalten sowie die Unfähigkeit oder mangelnde Bereitschaft, schmerzbedingt Pausen zu machen. Dieses Verhalten ging auf emotionaler Ebene mit dem Bemühen um eine ausgesprochen positive Stimmungslage einher. > Im Rahmen multipler Regressionsanalysen zählte dieser Aspekt neben dem Vermeidungsverhalten ebenfalls zu den relevanten Risikofaktoren für künftige Schmerzen.

Diese Befunde veranlassten eine Erweiterung der pathogenetischen Vorstellungen zur Chronifizierung, die zur Formulierung des Avoidanceendurance-Modells führten (Hasenbring et al.

2001). Hierin wird angenommen, dass die Aspekte eines dem Vermeidungsverhalten entgegengesetzten suppressiven Durchhalteverhaltens über eine physische Überbelastung und damit einhergehende muskuläre Überaktivität zur Chronifizierung akuter Schmerzen führen. In diesem Modell wird explizit Bezug auf die weiter unten dargestellten Ergebnisse der Arbeitsgruppe um Nachemson (1975) genommen, in denen der ungünstige Einfluss biomechanischer Be- und Entlastungshaltungen auf die Entwicklung chronischer Schmerzen dargestellt wurde (vgl. Hasenbring et al. 2006). In Hinblick auf die Kommunikation von Schmerzen hat sich weiterhin das nichtverbale Ausdrucksverhalten gegenüber bedeutsamen Bezugspersonen als Risikofaktor für die Chronifizierung akuter spezifischer Rücken-/Beinschmerzen erwiesen (Hasenbring et al. 1994). Patienten, die die ausgesprochene Tendenz zeigten, Schmerzen über die Mimik, Gestik, Körperhaltung oder über paraverbale Merkmale der Umgebung zu signalisieren, entwickelten langfristig rezidivierende oder persistierende Schmerzen. In Ergänzung dazu fand sich bei Patienten, die auf der Skala „Direkte Bitte um soziale Unterstützung“ niedrige Werte angaben, ebenfalls eine stärkere Chronifizierung der Schmerzen. Es wird angenommen, dass gerade bei Personen, die eine geringe Fähigkeit oder Bereitschaft haben, ihre Angehörigen direkt um Hilfe oder Unterstützung zu bitten, die Gefahr besteht, dass sie ihre Beschwerden gestisch oder mimisch mitteilen. Operante Verstärkungsprozesse dieses nonverbalen Verhaltens tragen dann zur Aufrechterhaltung des Schmerzverhaltens bei, welches gerade bei chronischen Patienten einen zentralen Aspekt des Schmerzproblems darstellt (Fordyce 1976).

5.2.4

Aktuelle Stressoren im Alltag

Aktuelle Stressoren im Alltag, hier insbesondere chronisch anhaltende Belastungen im beruflichen oder privaten Alltag, gehören weiterhin zu den relevanten Risikofaktoren für eine Chronifizierung akuter Rückenschmerzen. Sensitivität und Spezifität für die Vorhersage eines „failed back syndrome“ nach Bandscheibenvorfall lagen bei über 70 % (Hasenbring 1992). In über 80 % der Fälle konnte allein anhand des Wissens um berufliche Belastungen (insbesondere interpersonelle

Kapitel 5 · Psychologische Mechanismen der Chronifizierung – Konsequenzen für die Prävention

Konflikte) und Depressivität vorhergesagt werden, ob es 6 Monate nach Behandlungsende zu einer Frühberentung kommt oder nicht. > Ähnlich zeigen jüngere Studien an Patienten mit akuten oder subchronischen unspezifischen Rückenschmerzen, dass die subjektive Unzufriedenheit mit den Arbeitsplatzbedingungen die künftige Chronifizierung begünstigt (Cherkin et al. 1996; Papageorgiou et al. 1997).

Ein zentrales psychobiologisches Bindeglied wird, wie bereits oben erwähnt, in einer Erhöhung der muskulären Aktivität in den symptomrelevanten Muskelarealen vermutet. Offensichtlich führt psychische Stressbelastung über deszendierende Bahnen aus der Formatio reticularis zur Aktivierung

Abb. 5.1. Pathogenese von Schmerzen muskulärer Genese. (Nach Hildebrandt u. Pfingsten 1990)

109

5

von γ-Motoneuronen und zu einer anhaltenden Erhöhung der Muskelaktivität in der symptomrelevanten Muskulatur (sog. deszendierende Aktivierung). Die aus der Dysbalance resultierende Überbeanspruchung der betroffenen Muskulatur wird oft erst nach mehreren Jahren und erst beim Zusammentreffen mit zusätzlichen belastenden Faktoren (körperliche Erkrankungen, psychische Beeinträchtigungen) als schmerzhafte Verspannung manifest (Mense 1999; Abb. 5.1). Laborexperimentelle Belege für einen Zusammenhang zwischen chronisch anhaltenden Alltagsbelastungen und muskulärer Reagibilität

fanden sich in einer Stichprobe von Patienten mit einem „failed back syndrome“ 3 Jahre nach Bandscheibenoperation (Hasenbring u. Soyka 1996). Eine einminütige Konfrontation mit einer persön-

110

Teil I · Grundlagen

lich relevanten Alltagsbelastung führte zu einer signifikanten Erhöhung der muskulären Reagibilität, die auf den Bereich des M. erector spinae beschränkt blieb. Sie zeigte sich nicht in parallel erfassten Messungen der Mm. trapezii rechts/links oder des M. frontalis. Auch subjektiv gaben die Patienten signifikant mehr chronische Belastungen in einem standardisierten Interview an (KISS) als eine Vergleichsgruppe schmerzfrei gewordener Patienten. Mögliche darüber hinausgehende psychoneuroendokrinologische oder psychoimmunologische Mechanismen, die an der Aufrechterhaltung der Schmerzen durch psychischen Stress beteiligt sein könnten, sind hinsichtlich der Chronifizierungsproblematik bis heute noch wenig aufgeklärt.

5.3

Iatrogene Faktoren im Prozess der Schmerzchronifizierung

Indikatoren und Mechanismen der Chronifizierung von Schmerzen wurden bisher überwiegend

auf der Patientenebene untersucht. Dies betrifft die oben beschriebenen somatischen, psychologischen und sozialen Faktoren. Neben den Faktoren auf der Patientenebene sind am Gesamtgeschehen jedoch auch Behandler- und Systemfaktoren beteiligt, die in der Betrachtung des Chronifizierungsverlaufs oftmals vernachlässigt werden. Pither u. Nicholas haben ihre bereits 1991 erschienene kritische Aufzählung von vielfältig angewandten, aber ineffektiven therapeutischen Maßnahmen bei Schmerzpatienten mit dem Untertitel versehen „abnormal teatment behavior“. > Gemäß den Autoren war in einer Stichprobe aus 89 chronischen Schmerzpatienten davon auszugehen, dass in 87 % der Fälle mindestens 2, meist aber mehrere therapeutische Empfehlungen nicht etwa zur Besserung der Symptomatik beigetragen haben, sondern zu ihrer Verschlechterung.

In einer Studie aus dem King’s College School of Medicine in London von Kouyanou et al. (1997) wurden die Behandlungsverläufe bei 125 Patienten aus 2 Londoner Schmerzkliniken ausführlich untersucht sowie ihre Krankheitsgeschichte und der Behandlungsverlauf sorgfältig analysiert. Die

Autoren kamen in einer schematischen Zusammenfassung zu 4 Problembereichen iatrogener Faktoren (d. h. schädigende Einflüsse, resultierend aus dem ärztlichen Verhalten und Nichtverhalten). Diese Faktoren lassen sich zusammenfassen in folgende Bereiche: 쎔 Überdiagnostik, 쎔 Informationsmängel, 쎔 Fehler bei der Medikation, 쎔 Vernachlässigung psychosozialer Faktoren.

5.3.1

Überdiagnostik

Die Untersucher der oben genannten Arbeitsgruppe stellten fest, dass bei 27 % der Schmerzpatienten in einem kurzen Zeitraum mehr als ein Computer- oder Kernspintomogramm durchgeführt wurde, ohne dass sich dadurch ein neuer Befund ergab. Die Motivation für diese Überdiagnostik bestand meist in der Sorge, evtl. eine somatische Ursache zu übersehen. > In mehreren Studien in den letzten Jahren konnte eindrucksvoll gezeigt werden, dass die immer weiter verfeinerte radiologische Diagnostik zwar eine hohe Sensitivität aufweist (Identifikation der „Abweichung“), andererseits aber mit einer geringen Spezifität (Identifikation des Gesunden) einhergeht.

In einer Studie aus dem Inselhospital in Bern konnte z. B. gezeigt werden, dass sich eine Gruppe von Patienten mit starken Rückenschmerzen in den kernspintomographischen Befunden kaum von einer hinsichtlich Alter, Geschlecht und beruflicher Belastung parallelisierten Kontrollgruppe ohne Rückenschmerzen unterschied (Boos et al. 1995). Auch bei einer gesunden Gruppe (ohne Schmerzen) wurden in 85 % der Fälle relevante Auffälligkeiten in der Bildgebung identifiziert – v. a. dann, wenn in erster Linie der radiologische Befund zur Bestimmung des weiteren Vorgehens herangezogen wird, besteht die Gefahr einer falsch angelegten Behandlung. Abgesehen von einer einseitigen und damit falsch-positiven Ursachenzuschreibung ergibt sich bei aufwändiger und fortdauernder somatischer Diagnostik die Gefahr, dass Patient und Arzt für eine somatische Pathologie sensibilisiert und in einem somatischen Krankheitskonzept bestärkt

Kapitel 5 · Psychologische Mechanismen der Chronifizierung – Konsequenzen für die Prävention

werden und sie dadurch andere, möglicherweise relevantere, im psychosozialen Umfeld liegende Ursachen vernachlässigen.

5.3.2

Informationsmängel

In der Studie von Kouyanou et al. (1998) zeigte sich, dass ca. 68 % der Schmerzpatienten mindestens einen Ratschlag in Bezug darauf erhielten, sich körperlich zu schonen; 50 % der Patienten wurde sogar ausdrücklich zur Bettruhe geraten, obwohl dies nachweislich eine ungeeignete Behandlungsmethode darstellt: In einer australischen Arbeitsgruppe wurde in MedLine nach allen kontrollierten randomisierten Studien zur Verschreibung von Bettruhe geforscht und 39 Studien mit insgesamt 5777 Patienten gefunden (Allan et al. 1999). Die Auswertung aller Studien ergab das eindeutige Ergebnis, dass Bettruhe eine ineffiziente Behandlungsmaßnahme darstellt – selbst wenn man unterscheidet, ob Bettruhe als primäre Intervention (z. B. bei akutem Rückenschmerz, Herzinfarkt, Hepatitis) oder nach anderweitiger Intervention (Spinalpunktion, kardiale Katheterisierung) „verschrieben“ wird. > Keine Studie zeigte eine Verbesserung des Behandlungseffekts nach der Verschreibung von Bettruhe, wobei aber andererseits in insgesamt 17 von 39 Studien sogar eine Verschlechterung des Effekts nach Bettruhe gefunden wurde.

In mehreren Studien der letzten Zeit konnte z. B. für Patienten mit Rückenschmerzen gezeigt werden, dass falsche Information über das längere Einhalten von Bettruhe bzw. Schonung zur Verschlechterung der körperlichen Kondition und der Herz-/Kreislauf-Ausdauer, zur muskulären Dekonditionierung und zur Immobilisierung führen kann und damit der weiteren Chronifizierung Vorschub geleistet wird (Hagen et al. 2000).

5.3.3

Fehler bei der Medikation

Fehler bei der Medikation können auf vielfältige Art und Weise vorkommen und erhebliche Probleme nach sich ziehen. In der Studie von Kouyanou et al. (1998) erhielten 51 % der Patienten Kombina-

111

5

tionsanalgetika (die nachweislich zur Schmerzbehandlung eher ungeeignet sind), in 57 % der Fälle wurde den Patienten keine adäquaten Information über die richtige Medikamenteneinnahme gegeben, 16 % erhielten die Anweisung, die Medikamente „schmerzkontingent“ einzunehmen, und 15 % erhielten mehr als 1 Analgetikum der gleichen Substanzklasse.

> Eine schmerzkontingente Einnahme beeinflusst unter lernpsychologischen Gesichtspunkten den Chronifizierungprozess in ungünstiger Weise.

Durch mehrere Behandler werden insgesamt zu viele Präparate verordnet, wobei meist zu wenig Kommunikation zwischen den verschreibenden Ärzten stattfindet (Baust 2000). Eine weiteres Problem stellt in diesem Zusammenhang der sog. analgetikainduzierte Kopfschmerz dar (Kap. 21), dessen Ursachen sowohl in einem Fehlgebrauch von Medikamenten durch die Patienten selbst (Verhaltensaspekt, s. oben) als auch durch eine zu unreflektierte Verschreibungspraxis behandelnder Ärzte (iatrogener Aspekt) liegen können.

5.3.4

Vernachlässigung psychosozialer Faktoren

Nicht zuletzt werden psychosoziale Faktoren von den Behandlern in der Regel immer noch vernachlässigt. Es geht dabei nicht um die Frage, ob ein entweder körperlicher oder psychischer Mechanismus vorliegt, sondern um die Frage, wie psychologische Faktoren physiologische Prozesse beeinflussen.

Die Gründe dafür, psychologische Faktoren zu vernachlässigen, sind vielfältig und betreffen Motive sowohl auf Seiten des Arztes als auch auf Seiten der Patienten. Beim Arzt behindern Fachspezialisierung und ökonomische Zwänge die Identifikation entsprechender Zusammenhänge. Im Besonderen braucht eine entsprechende Exploration v. a. Zeit, die oftmals nicht vorhanden ist. Nach medizinsoziologischen Untersuchungen hört der angehende Arzt in seinem Medizinstudium etwa 95 % der Zeit von der Wichtigkeit somatischer Bedingungen für die Entstehung und Erhaltung von Krankheiten, psychosomatische Ansätze stehen in der Ausbildung eher im Hintergrund. Des weiteren

Teil I · Grundlagen

112

handelt es sich auch um ein Problem der Wertigkeit: Das Übersehen einer organischen Ursache wird noch eher als Kunstfehler eingeschätzt als das Übersehen psychischer Störungen. > Die Patienten selbst haben in aller Regel ein weitgehend somatisches Kausalitätskonzept und betrachten oftmals bereits jede Andeutung psychosomatischer Zusammenhänge als Bedrohung der „Legitimität“ ihrer Erkrankung.

Das heißt, sowohl Arzt als auch Patient haben „Somatisierungsbedürfnisse“ und bevorzugen somatische Sicht- und Vorgehensweisen. Auf diese Art und Weise besteht das Risiko, dass die Behandlung „falsch“ angelegt wird und unnötige bzw. sogar schädigende Interventionen durchgeführt werden, die den Krankheitsverlauf weiter voranschreiten lassen. Die Erfahrung zeigt in diesen Fällen, dass oftmals erst ganz am Ende nach psychosomatischen Zusammenhängen gesucht wird, wenn es für eine erfolgversprechende psychotherapeutische Intervention bereits lange zu spät ist.

5.4

Präventive Aspekte

5.4.1

Risikofaktoren der Chronifizierung

In den eingangs erwähnten Chronifizierungsmodellen wird eine komplexe Wechselwirkung zwischen biologischen, psychischen und sozialen Faktoren als pathogenetisch bedeutsam angenom-

men. Die vorliegenden empirischen Feldstudien zur klinischen Schmerzforschung fokussieren in erster Linie die Untersuchung von Prädiktoren für die Chronifizierung. Sie beziehen zwar häufig alle 3 Datenebenen mit ein, prüfen diese jedoch alternativ zueinander in Hinblick auf die jeweilige Vorhersagekraft. Die Art und Weise, wie diese Faktoren den Chronifizierungsprozess tatsächlich beeinflussen, bleibt bisher hypothetisch. Dies ist sicher darin begründet, dass die Suche nach Prädiktoren für die Entwicklung eines chronischen Verlaufs erst in zweiter Linie grundlagenwissenschaftliche Ziele verfolgt. Im Vordergrund der Bemühungen stehen die klinisch-angewandten Ziele, valide Risikofaktoren zu identifizieren, die eine möglichst frühe Erkennung von Hochrisikopatienten erlauben.

Dies ist eine wesentliche Grundlage, um sowohl effektive als auch kostengünstige Behandlungsstrategien zu entwickeln. Erste Belege für den effektiven Einsatz eines an den individuellen psychologischen Risikofaktoren ansetzenden verhaltenstherapeutischen Behandlungsangebots bei Patienten mit radikulären Schmerzen unterstützt diesen Ansatz (Hasenbring et al. 1999). > Eine Aussage kann aus den vorliegenden empirischen Untersuchungen zur Chronifizierung bereits mit Sicherheit abgeleitet werden: Wenn Studien sowohl somatische als auch psychische und soziale Faktoren im Rahmen prospektiver Designs einbezogen haben, zeigte sich meist übereinstimmend, dass psychologischen Prädiktoren die jeweils größte Vorhersagekraft zukommt. Dies macht deutlich, dass bereits in den frühesten Stadien akuter Rückenschmerzen die Einbeziehung psychologischer Maßnahmen dringend geboten ist (Fordyce 1995).

Eine häufig kontrovers diskutierte Frage ist die Bedeutung physikalischer Belastungen als Risikofaktor für das Auftreten von Schmerzen bzw. für die Chronifizierung. Besonders intensiv wurde diese Frage in Bezug auf muskuloskelettale Schmerzen diskutiert. Zu physikalischen Belastungen werden dabei in erster Linie unphysiologische Körperhaltungen, die über längere Zeit eingenommen werden (z. B. vorn übergebeugtes Sitzen oder Stehen) gezählt. Die Arbeitsgruppe um den schwedischen Neuroorthopäden Nachemson konnte in den 1960er Jahren anhand von In-vivo-Messungen des intradiskalen Drucks und von gleichzeitig im Oberflächen-EMG gemessener Muskelaktivität zeigen, dass es bei vorn übergebeugtem Sitzen oder Stehen nicht nur zu einer maximalen Anspannung der lumbalen Rückenstreckermuskulatur, einer Verkürzung der tonischen und einer Schwächung der phasischen Muskulatur kommt, sondern auch zu einer einseitigen Druckbelastung der Bandscheiben (Nachemson 1975; Abb. 5.2). Unphysiologische Körperhaltungen und damit einhergehend erhöhter intradiskaler Druck gehen darüber hinaus mit einer Verringerung des Bandscheibenvolumens sowie nutritiver Prozesse des Bandscheibengewebes einher. Diese Prozesse sind wiederum verbunden mit einer verringerten Elastizität und zunehmenden Degeneration der Bandscheiben.

Kapitel 5 · Psychologische Mechanismen der Chronifizierung – Konsequenzen für die Prävention

113

5

Abb. 5.2. Intradiskaler Druck in Höhe L3 bei verschiedenen Körperpositionen und Flüssigkeitsverschiebungen an der Bandscheibengrenze. (Nach Nachemson 1975)

In den letzten Jahren wurden diese „alten“ Ergebnisse jedoch auch durchaus kontrovers diskutiert: Erste Zweifel an der grundsätzlichen Gültigkeit der damaligen Erkenntnisse kamen mit den Ergebnissen einer Höhenpräzisionsmessung im lumbalen Wirbelsäulenabschnitt auf (Althoff et al. 1992). Mit dieser Methode wurde festgestellt, dass die Bandscheiben an Höhe zunahmen, wenn sich Probanden aus einer stehenden Position heraus hinsetzten. Diese daran erkennbare Entlastung der Bandscheiben war sogar beim Sitzen in kyphosierender Haltung erkennbar, was im Widerspruch zu den Messungen aus den 1960er Jahren steht. Auch andere Widersprüche wurden durch die Untersu-

chungen der Arbeitsgruppe um Wilke (Wilke et al. 1999) und um Rohlmann et al. (1999) gefunden. Trotz geringer Fallzahlen (n=1 und n=10) zeigen die Ergebnisse beider Studien einvernehmlich, dass die Schlussfolgerungen aus den Messungen der 1960er Jahre revidiert werden müssen. Zu diesem Ergebnis „passen“ auch die Befunde aus prospektiven Längsschnittstudien zum Zusammenhang zwischen lang anhaltend eingenommener konstanter Körperpositionen (z. B. Sitzen oder Stehen) und Rückenschmerzen. Die Ergebnisse sind insgesamt eher uneinheitlich (z. B. Macfarlane et al. 1997), wobei ein einfacher biomechanischer Zusammenhang zwischen Art der Kör-

114

Teil I · Grundlagen

perhaltung und Auftreten/Chronifizierung von Schmerzen offensichtlich keine Gültigkeit besitzt. Auch hier war Sitzen eine eher protektive Körperhaltung. Als zusätzlich konfundierende Variablen waren ein eindeutiger Geschlechtseffekt sowie der Einfluss subjektiver Bewertungen der Untersuchten festgestellt worden. Bei aller Kontroverse zum Risikofaktor „körperliche Belastungen/Belastungshaltungen“ liegt die Lösung (zur Verhinderung der dadurch bedingten Chronifizierung) vermutlich in einem ausgewogenen Verhältnis von Be- und Entlastung als zentrale Voraussetzung für eine physiologische Belastung von Muskeln und für eine ausreichende Elastizität der Bandscheiben. Es führt diesbezüglich aber zu einem falschen Verständnis, davon auszugehen, dass körperliche Belastung (schwere Arbeitstätigkeit oder konstante Haltungen) allein und notwendigerweise eine Voraussetzung für das Auftreten muskuloskelettaler Schmerzen sind. Soviel wie dieser Zusammenhang Gültigkeit besitzt, so besitzt auch der Zusammenhang Gültigkeit, dass ein „zu wenig“ an körperlicher Belastung Chronifizierungsprozesse fördert. Wie oben bereits erwähnt, kommt es bei körperlicher Über- oder Unterforderung erst im Verbund mit psychologischen Faktoren (z. B. Attributionsprozesse der Kausalität und Kontrolle, Angst-/Vermeidungseinstellungen oder ausgeprägt suppressive Schmerzverarbeitung) zu einer höheren Wahrscheinlichkeit des Auftretens von schmerzbedingten Beeinträchtigungen (Kap. 22; Hildebrandt et al. 1996). Das heißt, ein Zusammentreffen einer ubiquitären Missempfindung („normaler“ Rückenschmerz) mit Arbeitsplatzbelastungen wird vom Betroffenen offensichtlich schnell auf diese attribuiert. Eine Zunahme dieser Attributionen auf arbeitsplatzverursachende Faktoren wächst mit der Dauer der Arbeitsunfähigkeitstage (Burton 1997). Sie spiegeln daher offensichtlich eher eine subjektive Einschätzung wider, als dass sie mit objektiven biomechanischen Stressoren korrelieren (Gralow 2000). Die Rolle soziodemographischer und sozioökonomischer Faktoren im Chronifizierungsprozess von Rückenschmerzen ist trotz einer reichhaltigen Forschungslage sehr uneindeutig. Faktoren wie Alter, Geschlecht, Familienstatus, Bildungsstatus, Einkommen und soziale Schicht wurden mindestens so oft als Risikofaktoren bestätigt wie widerlegt (Turk 1996). Studien, die eine Aussage

über die relative Vorhersagekraft erlauben, zeigen, dass bei Bestätigung soziodemographischer Faktoren als Risikoindikatoren diese relativ wenig Varianz in den jeweiligen Kriterien aufklären (Cherkin et al. 1996). > Innerhalb multivariater Auswertungsdesigns, in denen Korrelationen zwischen verschiedenen Prädiktoren berücksichtigt werden, zeigte sich wiederholt, dass andere als soziodemographische Faktoren in der Vorhersage dominieren (z. B. Depressivität).

Dies bedeutet mit hoher Wahrscheinlichkeit, dass erst die Wechselwirkung zwischen soziodemographischen, psychologischen und somatischen Merkmalen eine Vorhersage ermöglicht und dass

erst diese Wechselwirkung für den Prozess der Chronifizierung bedeutsam ist. Wenn beispielsweise das höhere Alter von Patienten einen Risikofaktor für die Chronifizierung darstellt, kann dies darauf zurückzuführen sein, dass veränderte Arbeitsplatzbedingungen (Umstellung auf EDV) neue individuell bedeutsame Anforderungen bzw. Anpassungsleistungen mit sich bringen, die älteren Menschen besonders viel Probleme bereiten. Für sie werden solche Umstellungen zu chronisch anhaltenden Belastungen am Arbeitsplatz. Diese können einerseits, wie vorher gezeigt, stressbedingt zu einer Aufrechterhaltung der Schmerzen führen. Andererseits können diese Bedingungen gerade bei älteren Menschen ein spezifisch meidendes Krankheitsverhalten forcieren, welches in Entlastungswünschen und -verhalten (Krankschreibung, Rentenantrag) mündet. Ein häufig anzutreffender Chronifizierungsfaktor aus dem sozioökonomischen Bereich sind Versicherungsansprüche – sowohl bei Verletzungen aufgrund (unverschuldetem) Unfall als auch bei Rentenwünschen. In diesen Fällen ist die Aufrechterhaltung des Schmerzsyndroms verstehbar anhand verstärkungstheoretischer Mechanismen: Nachdem körperlich bedingte Auslöser die ursprüngliche Ursache für eine Schmerzempfindung bildeten, können positive Faktoren (sog. „Verstärker“ = bereits wirksame, zukünftige/erwartete/ gewünschte Konsequenzen von Krankheit/Beeinträchtigung) wichtige Bedingungsfaktoren für die Zunahme der Auftretenshäufigkeit von Schmerzverhalten und Schmerzempfindungen darstellen (operantes Konditionierungsmodell = (Schmerz-)

Kapitel 5 · Psychologische Mechanismen der Chronifizierung – Konsequenzen für die Prävention

Verhalten wird über die erwarteten Konsequenzen gesteuert). Diese positiven Konsequenzen können sowohl Aufmerksamkeit und Zuwendung von Partner oder sozialem Umfeld, Vermeidung unangenehmer Tätigkeiten (Entlastung), Realisierung von beruflichen Veränderungswünschen, aber auch monetäre Zuwendungen (wie Versicherungsoder Rentenansprüche) umfassen. Um positive Konsequenzen eines Schmerzverhaltens handelt es sich auch, wenn das Schmerzverhalten der Stabilisierung des inneren Systems dient und damit psychoprotektive Funktion hat. Es ist z. B. denkbar, dass eine Person (mehr oder weniger bewusst) erlebt, dass sie den Anforderungen des Berufes nicht mehr gewachsen ist (evtl. durch das Erleben ständiger Bedrohung oder durch Versagensängste). Wenn das Eingeständnis des „Versagens“ nicht möglich ist, kann das Schmerzerleben diesen Konflikt lösen, indem es für die Notwendigkeit einer beruflichen Veränderung verantwortlich gemacht werden kann, und nicht eigene, in der Person liegenden Ursachen, wie evtl. Angst, Unsicherheit, Anpassungsprobleme oder das Nichterfüllen neuer Arbeitsanforderungen. Die Beschwerden erlauben damit den Rückzug aus der erlebten Überforderungssituationen, um das Erleben von negativen Erfahrungen, wie Versagen und Enttäuschung/Kränkung, zu vermeiden. Diese letztgenannten Prozesse laufen in der Regel vor- bis unbewusst ab und können den Patienten nicht als „aktiv selbst intendiert“ angelastet werden.

5.4.2

Identifikation von Risikofaktoren und Ansätze zur Prävention

> Der einzige Weg, rückenschmerzbedingte Beeinträchtigung durch Chronifizierung zu verringern, liegt in der möglichst frühzeitigen Identifikation von Patienten/Betroffenen, die ein erhöhtes Risiko für eine Chronifizierung aufweisen (s. oben).

Wie bereits oben und in den anderen Kapitel ausgeführt, konnte in mehreren bisherigen Studien nachgewiesen werden, dass psychologische Faktoren eine bessere Vorhersage anhaltender Beeinträchtigung durch Schmerzen darstellen als somatische oder arbeitsplatzbezogene Faktoren. Dies ist

115

5

insbesondere für den Übergang („transition“) von akutem zu chronischem Schmerz der Fall. In ausführlicher Weise haben sich Kendall et al. (1997) mit psychosozialen Risikofaktoren auseinandergesetzt, die als sog. „yellow flags“ in die Leitlinien der Rückenschmerzbehandlung in Neuseeland Eingang fanden. Obwohl vorrangig für Rückenschmerzen entwickelt, haben diese Kriterien auch für andere Schmerzsyndrome Gültigkeit (Tabelle 5.1). Sie umfassen in der Regel empirisch gewonnene Merkmale, die sich als negatives Kriterium für einen langwierigen Krankheitsverlauf erwiesen haben und beinhalten neben den Auffälligkeiten auf emotionaler, kognitiver und Verhaltensebene Merkmale aus dem direkten Umfeld der Betroffenen (Familie, Partnerschaft, Beruf) sowie Kennzeichen des vorhergehenden Krankheitsverlaufs. > Was zunächst trivial erscheint, sollte als wichtiger Risikofaktor immer berücksichtigt werden: Die zumeist stärksten Prädiktoren für wiederkehrende Schmerzen sind vorausgehende Schmerzepisoden.

Zur Identifikation der Risikofaktoren können bzgl. einiger Bereiche Testverfahren als Screeninginstrumente eingesetzt werden. Zur Identifikation verhaltensrelevanter dysfunktionaler Kognitionen im Zusammenhang mit dem genannten Angst-/ Vermeidungsverhalten ist z. B. die deutsche Version des Fear-avoidance-beliefs-Questionnaire (FABQ; Pfingsten et al. 2000) verwendbar. Ein Instrument, das Risikofaktoren in mehreren der genannten Bereiche erfassen kann, ist das „Screening psychosozialer Risikofaktoren bei akuten Rücken-/ Beinschmerzen SPR-AR“, welches das Kieler

Schmerzinventar (Hasenbring 1994), das Beck-Depressionsinventar (Beck et al. 1961) sowie den Fragebogen „Belastungen-Ressourcen“ aus dem Kieler „Interview zur subjektiven Situation KisS-BR“ (Hasenbring et al. 1989) umfasst und in einer computerisierten Version vorliegt (Hasenbring u. Hallner 1999). Psychologische Testverfahren sind jedoch lediglich als Screening sinnvoll – die Identifikation und Verifikation entsprechender Risikobedingungen sollte bei begründetem Verdacht durch eine fachspezifische psychologische Exploration durchgeführt werden (Kap. 14). Im Rahmen der Prävention chronischer Schmerzen (sekundäre Prävention) ist es sinnvoll,

116

Teil I · Grundlagen

Tabelle 5.1. „Yellow flags“ für das Chronifizierungsrisiko. (Nach Kandall et al. 1997) Kognitionen/Beliefs

Überzeugung, dass Bewegung/ Belastung schadet Überzeugung, dass Schmerz vor der Wiederaufnahme von Aktivitäten vollständig verschwunden sein muss Katastrophisieren Überzeugung, dass der Schmerz unkontrollierbar ist Fixierte Vorstellung über Behandlungsverlauf

Emotionen

Extreme Angst vor Schmerz und Beeinträchtigung Depressive Verstimmung Erhöhte Aufmerksamkeit für körperliche Symptome Hilflosigkeit/Ohnmacht/Resignation

Verhalten

Ausgeprägtes Schonverhalten Rückzug von normalen Alltagsaktivitäten Ausgeprägtes Vermeidungsverhalten Extremes Schmerzverhalten (auch Intensität) Schlafstörungen Medikamentenmissbrauch

Familie

Überprotektiver, zu fürsorglicher Partner Abhängigkeitsvorgeschichte (Medikamente, Alkohol) Familienangehöriger als Schmerzpatient Gravierende partnerschaftliche/familiäre Konflikte

Arbeitsplatz

Überzeugung, dass die Arbeitstätigkeit dem Körper schadet Wenig unterstützende Umgebung am Arbeitsplatz Kein Interesse von Vorgesetzten oder Kollegen Unzufriedenheit am Arbeitsplatz Entlastungsmotivation

Diagnostik/Behandlung

Schonverhalten/Beeinträchtigung von Behandler unterstützt Mehrere (zum Teil sich widersprechende) Diagnosen Befürchtung einer malignen Erkrankung Verschreibung passiver Behandlungen Hohes Inanspruchnahmeverhalten Überzeugung, dass nur eine somatische Behandlung (Operation, Blockade, Medikamente) Besserung bringt Unzufriedenheit über vorhergehende Behandlung

Kapitel 5 · Psychologische Mechanismen der Chronifizierung – Konsequenzen für die Prävention

Maßnahmen in Abhängigkeit vom Vorliegen psychosozialer Risikofaktoren zu konzipieren. Im Fall eines geringen psychosozialen Chronifizierungsrisikos erscheint es nach dem gegenwärtigen Kenntnisstand ausreichend, in der medizinischen Behandlung akuter Rückenschmerzen eine Reihe von Prinzipien anzuwenden, die sich aus den Forschungsergebnissen der pädagogischen, klinischen und verhaltensmedizinischen Psychologie ableiten (Linton 2000). Diese Prinzipien sind in Tabelle 5.2 aufgelistet.

117

5

> Im Fall eines erhöhten psychosozialen Chronifizierungsrisikos zeigen erste empirische Befunde einer prospektiven, randomisierten Kontrollgruppenstudie an Patienten mit akuten radikulären Schmerzen, dass ein auf die individuell vorliegenden Risikofaktoren (z. B. maladaptive Schmerzverarbeitung im Sinne eines Fearavoidance- oder eines suppressiven Musters) zugeschnittenes kognitiv-verhaltenstherapeutisches Behandlungsprogramm der Chronifizierung der Schmerzen wirksam vorbeugen kann (Hasenbring et al. 1999).

Tabelle 5.2. Behandlungsprinzipien für chronische Schmerzpatienten Prinzip

Beschreibung

Frühzeitige Intervention

Behandlung möglichst vor der Veränderung der Lebensgewohnheiten

Kommunikative Beziehung

Eine Grundvoraussetzung für Veränderung ist Verstehen und Akzeptieren (Compliance)

Patient ist Partner

Verhaltensänderungen erfordern die enge Mitarbeit des Patienten

Klare therapeutische Ziele

Die eindeutige Definition der fokussierten Verhaltensänderungen einschließlich deren Überprüfung erleichtert die Kommunikation

Negative Emotionen entschärfen

Angst, Ärger, Trauer, Schuld und Frustration können den Gesundungsprozess stark behindern und müssen frühzeitig identifiziert und bearbeitet werden

Bewältigungsstrategien vermitteln

Dysfunktionale Überzeugungen sind wichtige negative Merkmale des Chronifizierungsprozesses, Behandlungsziel ist die Stärkung von Selbsteffizienz und Kontrollerleben

Nutzung von Verstärkungsmechanismen

Positive Verstärkung (z. B. durch Aufmerksamkeitszuwendung, positive Kommunikation) gesunden Verhaltens (z. B. von Beibehaltung der Aktivität), negative Verstärkung des Krankheitsverhaltens (Medikamente, Schonverhalten)

Koordination

Arbeitsplatz, Familie, medizinisches Versorgungssystem (andere Behandler), Kostenträger sind zusammen in den Krankheitsprozess involviert ⇒ gegenseitige Informierung und Abstimmung (z. B. Ziele)

Konstanz der Betreuung

Verhaltensänderungen können sich im Alltag schnell relativieren und zurückbilden ⇒ längere Betreuungskonstanz und regelmäßige Überprüfung des Effekts

118

Teil I · Grundlagen

5.4.3

Methoden zur Erfassung des Chronifizierungsausmaßes

Schmerzstörungen – insbesondere die großen Gruppen der Kopf- und Rückenschmerzerkrankungen – weisen in der Regel ein großes Variationsspektrum von leichten Befindlichkeitsstörungen bis hin zu schweren chronischen Erkrankungen auf. Vorrangiges Merkmal der Gesundheitsstörungen ist in diesen Fällen nicht mehr die Diagnose, sondern das Ausmaß der Chronifizierung bzw. die Schwere der Erkrankung. Üblicherweise und ursprünglich angelehnt an die Ausführungen der International Association for the Study of Pain (IASP) wird die Chronifizierung im Zusammenhang mit dem zeitlichen Fortschreiten der Erkrankung gesehen. Obwohl ein Zusammenhang zwischen dem zeitlichen Andauern einer Schmerzsymptomatik und der Chronifizierung besteht, wird diese jedoch nicht vorrangig durch zeitliche Aspekte bestimmt. Insofern sind diese traditionellen Orientierungen nicht mehr zeitgemäß. Im Jahre 1986 wurde von Gerbershagen ein diagnoseunabhängiges Klassifikationsmodell vorgestellt, das im deutschsprachigen Raum die weiteste Verbreitung gefunden hat (Gerbershagen 1996). Die 3-stufige Stadieneinteilung setzt sich aus 4 Achsen zusammen, die die zeitlichen und räumlichen Aspekte des Schmerzgeschehens sowie das Medikamenteneinnahmeverhalten und die Beanspruchung medizinischer Leistungen anamnestisch erfassen (Abb. 5.3). Aus der Summe der 4 verschiedenen Achsenstadien, die sich aus 10 unterschiedlichen anamnestischen Beobachtungsmerkmalen zusammensetzen, ergibt sich ein additiver Wert im Bereich von 4–12 (Achsensummenwert).Aus dem Achsensummenwert lässt sich wiederum das Gesamtstadium der Chronifizierung bestimmen, wobei Werte zwischen 4 und 6 dem Stadium I, Werte 7 und 8 dem Stadium II und Werte zwischen 9 und 12 dem Stadium III entsprechen (Tabelle 5.3). Die parametrischen Eigenschaften des Stagingmodells wurden in den letzten beiden Jahren in 2 unabhängigen Studien untersucht (Pfingsten et al. 2000; Hüppe et al. 2001). > In beiden Untersuchungen konnte die Unabhängigkeit des Stagingmodells von soziodemographischen und insbesondere von schmerz-

Tabelle 5.3. Chronifizierungsstadien bei Schmerzsyndromen Stadium I

Akuter/subakuter und remittierender Schmerz Wenig komplizierende Faktoren

Stadium II

Chronischer Schmerz Mehrere komplizierende Faktoren Multilokalisation, Polytherapien Medikamentenabusus

Stadium III

Lang andauernder chronischer Schmerz Viele komplizierende Faktoren Unklare Schmerzlokalisationen Langjährige Polytoxikomanie Schwere psychosoziale Alteration

spezifischen Parametern sowie dem zeitlichen Verlauf der Erkrankung erneut bestätigt werden.

Als guter Validitätshinweis und die Anlehnung an ein biopsychosoziales Schmerzkonzept kann der relevante Zusammenhang zwischen dem Ausmaß der Chronifizierung einerseits und dem psychischen Befinden (Depressivität), der schmerzbedingten Beeinträchtigungen bei Verrichtungen des alltäglichen Lebens („disability“) sowie dem Ausmaß der Arbeitsunfähigkeit bewertet werden. Es wurden aber auch Probleme des Stagingmodells deutlich: Aufgrund „diagnosetypischer“ Merkmale in den Einzelkriterien können Kopfschmerzpatienten im Vergleich zu Patienten mit Rückenschmerzen nur einen geringeren Chronifizierungsgrad erzielen. Dieses Ergebnis gibt Veranlassung zur Vermutung, dass eine Graduierung von unterschiedlichen Schmerzerkrankungen anhand eines einheitlichen Kriterienkataloges vermutlich nicht möglich ist und dass zumindest für die großen Syndromgruppen unterschiedliche Graduierungsmodelle mit jeweils krankheitsspezifischen Kriterien aufgestellt werden müssen. Weitere Probleme ergaben sich in Bezug auf die nicht mehr zeitgemäße Definition (z. B. des Medikamenteneinnahmeverhaltens), durch z. T. hohe Interkorrelationen zwischen Einzelmerkmalen (Schmerzdauer, Auftretenshäufigkeit) sowie dadurch, dass das Krankheitsverhalten (als vom Patienten aktiv intendierte Handlung) nur partiell

Kapitel 5 · Psychologische Mechanismen der Chronifizierung – Konsequenzen für die Prävention

Abb. 5.3. Das Mainzer Stadienmodell der Schmerzchronifizierung (MPSS)

119

5

120

Teil I · Grundlagen

über Inanspruchnahme und Medikamenteneinnahme erfasst wird und für beide Aspekte vorausgesetzt werden kann, dass sie vorrangig durch ärztliche Verschreibung initiiert werden. Ein weiterer wichtiger Punkt ist die bisher fehlende Veränderungssensitivität der Graduierung nach dem Mainzer Stadienkonzept, wobei aufgrund des nicht definierten Zeitfensters keine PräPost-Vergleiche möglich sind. Wenn das Ausmaß der Chronifizierung als relativ zeitunabhängig angesehen wird und das Resultat eines dynamischen Prozesses darstellt, in den mehrere Parameter Eingang finden, so muss auch die Möglichkeit einer Veränderung des Chronifizierungsausmaßes in positive Richtung (geringere Chronifizierung nach Behandlung) möglich sein. Auch dafür ist aber eine spezifischere Berücksichtigung von Erlebensund Verhaltensparametern erforderlich. Insgesamt erscheint die subjektive Erlebensseite des Patienten als Merkmal der Chronifizierung im vorliegenden Stadienmodell zu wenig berücksichtigt zu sein. Ob ein übergreifendes Graduierungsmodell für verschiedene Schmerzerkrankungen valide sein kann, muss eine weitergehende Analyse zeigen.

5.5

Zusammenfassung

Die Verhinderung der Chronifizierung (im Sinne präventiver Maßnahmen) ist als eine primäre gesundheitspolitische Aufgabe zu betrachten, die aufgrund der Komplexität des Geschehens nur in der interdisziplinären Zusammenarbeit gelöst werden kann. Eine Erfassung der potenziellen Risikofaktoren ist bereits zu einem sehr frühen Zeitpunkt der Krankheitsentwicklung möglich und sollte idealerweise bereits Bestandteil der hausärztlichen Diagnostik sein. Sofern weder auf der kognitiven noch der emotionalen und Verhaltensebene eine Chronifizierung eingetreten ist, kann diese im frühen Schmerzstadium mit relativ einfachen Mitteln und ohne großen Aufwand verhindert werden. Es ist dann auch nicht notwendig, zeit- und kostenaufwändige Behandlungsprogramme zu initiieren, sondern Prinzipien anzuwenden, die sich aus den Forschungsergebnissen der pädagogischen, klinischen und verhaltensmedizinischen Psychologie ableiten. Im Fall des Vorliegens psychosozialer Risikofaktoren für eine Chronifizierung sollten risikofaktorenbasierte

kognitiv-verhaltenstherapeutische Behandlungsangebote zusätzlich zur medizinischen Therapie vorgesehen werden.

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Teil I · Grundlagen

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123

6

Psychodynamische Konzepte bei somatoformen Schmerzzuständen S.O. Hoffmann und U.T. Egle

6.1

Im Mittelpunkt des Beitrags stehen 6 Modelle („Prinzipien“), die im Rahmen eines psychodynamischen Schmerzverständnisses die jeweilige Pathogenese bestimmen:

쎔 Das Prinzip der psychischen Substitu-











tion, Ersatzvorstellung, Ersatzwahrnehmung („psychoprothetische Funktion“): Dieses Konzept entspricht weitgehend dem des narzisstischen Mechanismus. Das Prinzip der Konfliktentlastung durch körpersprachlich ausgedrückte Symbolisierung entspricht dem noch von S. Freud konzipierten Konversionsmechanismus. Das Prinzip der primären (nichtkonvertierten) Umwandlung von Affekten in körperliche Spannungszustände erfasst Schmerzen als Folge eines primär somatisiert erlebten Affektdrucks. Das Prinzip des Wirksamwerdens dissoziierter Traumafolgen zeigt in einem kleineren Bereich Überschneidungen mit dem Konversionsvorgang, basiert aber nach zurzeit aktuellstem Theoriestand, dessen Vertreter sich besonders auf P. Janet berufen, auf einem übergeordneten dynamischen Geschehen, das als Dissoziation bezeichnet wird. Das Bindungskonzept von J. Bowlby, partiell ebenfalls ein psychodynamisches Prinzip, bezieht sich weniger auf die Entstehung von Schmerz, sondern ermöglicht die Spezifizierung von Bedingungen seiner Chronifizierung. Lernvorgänge, obwohl psychodynamisch nur randständig aufgegriffen, wurden ebenfalls für das Verständnis der Chronifizierung einbezogen („Automatisierung“).

Einleitung

> „Psychodynamische Konzepte“ bedeutet im Zusammenhang dieses Kapitels das Verständnis der inneren Abläufe des Schmerzkranken aus einer an psychoanalytischen Konzepten orientierten Sicht.

Dabei ist psychodynamisch dezidiert allgemeiner als psychoanalytisch gemeint. Daraus ergibt sich von selbst die Möglichkeit, auch nichtpsychoanalytische Überlegungen mit einzubeziehen. Für ein zeitgemäßes Schmerzverständnis ist dies natürlich unerlässlich. Angesichts der Breite, mit der in diesem Band das behaviorale Schmerzverständnis dominiert, liegt der Akzent unserer Darstellung auf den Konzepten, die sich von den kognitiv-behavioralen unterscheiden bzw. über diese hinausgehen. Das erste stringente und in weiten Bereichen heute noch gültige Konzept der Entstehung eines psychogenen körperlichen Schmerzes ist das der Konversion, welches S. Freud 1895 am Beispiel einer Patientin mit Astasie, Abasie und Schmerzzuständen entwickelte. In seinem Gesamtwerk ging Freud zwar wiederholt auf die Bedeutung der Psychogenese von Schmerzzuständen ein (Berning 1980), jedoch hatte diese Frage weder bei ihm noch bei anderen Autoren der frühen Psychoanalyse Relevanz. Erst in den 1930er Jahren gewinnt das Thema einiges Interesse: 쎔 Schilder (1931) stellt wohl als Erster eine kausale Beziehung zwischen dem demütigenden und harten Kindheitsmilieu und der späteren Schmerzkrankheit her. 쎔 Jelliffe (1933) beschreibt klinisch die „Sucht nach operativer Behandlung“ und erklärt sie durch ein unbewusstes Leidensbedürfnis. Seine Rückführung der Vorgänge auf Äußerungen des Todestriebs entwerten aus heutiger Sicht diese guten Beobachtungen.

124

Teil I · Grundlagen

쎔 Im Jahre 1933 geht Weiss zentral auf die Beziehung von Körperschmerz und Seelenschmerz ein und belegt das wechselseitige Füreinandereintreten beider Phänomene an neurotischen und psychotischen Patienten. Diese schöne Studie wurde von Nichtpsychoanalytikern wenig beachtet. 쎔 Ebenfalls wenig Beachtung fand die ebenfalls gute Arbeit von Hart (1947), der die Reduzierung des Schuldgefühls durch die Sühneleistung des Schmerzes in den Mittelpunkt stellt. > Den eigentlichen Durchbruch für einen psychologischen Zugang zum Schmerzverständnis bewirkt die Arbeit von G.L. Engel: „Psychogenic pain and the pain-prone patient“ 1959 im American Journal of Medicine.

Das Buch von Merskey u. Spear (1967) war in der Konzeption zwar weniger psychodynamisch, ging das Thema aber in noch größerer Breite an. Psychoanalytische Beiträge sind seither immer wieder in kleiner Anzahl erschienen, sie wirken in der nun zunehmend behavioristisch dominierten Schmerzforschung jedoch so fremd, dass sie kaum rezipiert wurden. Auch aus diesem Grunde möchten wir hier auf Arbeiten hinweisen, die u. E. die Wichtigkeit eines psychodynamischen Krankheitsverständnisses zum Thema verdeutlichen können. Unterschiedliche Ansätze. Im Jahre 1958 unter-

suchten Ramzy u.Wallerstein die besondere Beziehung von Schmerz, Furcht und Angst. Spiegel entwickelte 1966 ein Modell für die Beziehung von Affekten zu Ich und Selbst, wobei er auch die Rolle des Schmerzes untersuchte und dabei auf das Konzept der Besetzung von Ich-(Körper-)Grenzen kam, wie es schon bei Weiss (1933) anklingt, jedoch erst von Schilder (1935 – auch dezidiert in Bezug auf den Schmerz) und Federn (1952) im eigentlichen Sinne entwickelt wurde. Beide Autoren erwähnt Spiegel merkwürdigerweise nicht. Valenstein (1973) schließlich arbeitet die Bindung an „schmerzhafte Empfindungen“ unter Berücksichtigung der modernen Objektbeziehungspsychologie in differenzierter Weise aus, was, weniger erfolgreich, auch Jordt (1988) versucht.

6.2

Der Beitrag von G.L. Engel

Wie ausgeführt, ist es v. a. der Beitrag von G.L. Engel (1959), der so etwas wie einen Dammbruch für den psychologischen Gesichtspunkt in der Schmerzforschung bewirkte, auch wenn in der Folge v. a. behavioristisch orientierte Autoren diese Chance nutzten. Dadurch kam es in der Folge zu einer Akzentverschiebung in der Forschung, wie sie G.L. Engel sicher nicht intendiert hatte. In gewissem Sinne versöhnlich wirkt es, wie Roy (1985), der sich ein für psychodynamische Fragen offenes Ohr erhalten hat, die Wirkung von Engels Aufsatz ein Vierteljahrhundert später untersucht und würdigt. Auch wenn man aus guten Gründen heute dem Konzept einer Schmerzpersönlichkeit zurückhaltendender gegenübersteht, als noch Engel es tat, gelang ihm jedoch im Entwurf einer solchen Persönlichkeitsstruktur die Beschreibung einer Reihe von psychodynamischen Phänomenen, die bis heute Gültigkeit beanspruchen können. Engel ging von der Beobachtung aus, dass manche Individuen anfälliger sind, Schmerz als psychischen Regulator zu verwenden als andere – unabhängig davon, ob der Schmerz ursprünglich von einer peripheren Reizquelle ausging (also organisch verursacht war) oder nicht. Diese schmerzanfälligen Patienten zeigen nach Engel folgende Merkmale: 쎔 deutliche Hinweise für bewusste und unbewusste Schuldgefühle, wobei der Schmerz offensichtlich die Funktion einer Sühneleistung hat; 쎔 einen lebensgeschichtlichen Hintergrund, der dazu prädisponiert, Schmerz in diesem Sinne einzusetzen; 쎔 eine lange Geschichte von Leid und Niederlagen und eine Intoleranz für Erfolg (masochistische Persönlichkeitsstruktur), mit einer Neigung, Schmerzerlebnisse geradezu zu provozieren, wie die lange Liste von schmerzhaften Verletzungen, Operationen und Behandlungen zeigt; 쎔 aggressive Bedürfnisse, die stark gehemmt sind, nicht ausgelebt werden und an deren Stelle Schmerz tritt; 쎔 Entwicklung von Schmerz als Ersatz für einen Verlust, wenn eine Beziehung bedroht oder auseinandergegangen ist; 쎔 eine Tendenz in Richtung sadomasochistischer sexueller Entwicklung mit Auftreten von

125 Kapitel 6 · Psychodynamische Konzepte bei somatoformen Schmerzzuständen

Schmerzepisoden bei konflikthaften sexuellen Impulsen; 쎔 eine Schmerzlokalisation, die bestimmt ist durch vorausgehende Schmerzerfahrungen („Schmerzgedächtnis“) oder Identifizierung mit sozialen Bezugspersonen, wobei der Schmerz des anderen als Modell für den Patienten in gleicher Weise eine Phantasie wie eine Realität sein kann; Dieses Persönlichkeitsbild wird verschiedensten deskriptiven Diagnosen – v. a. Konversionshysterien, Depressionen, Hypochondrien, wahnhaften Schizophrenien und weiteren – zugeordnet. Viele Patienten sind diagnostisch keiner nosologischen Kategorie eindeutig zuzuordnen. Engels zentrale These, 1959 alles andere als anerkannt, ist ein energisches Plädoyer dafür, den Schmerz als psychologisches Phänomen aufzufassen, auch wenn er aus physiologischen Sensationen erwachse. Engel betont, dass es auch neurophysiologisch betrachtet keinen Schmerz ohne Partizipation zentralnervöser höherer Zentren gibt, dass aber dann auch den anderen Funktionen dieser Zentren in Beziehung zum Schmerz Aufmerksamkeit geschenkt werden müsse. > Entwicklungsgeschichtlich entwickelt sich nach Engel der Schmerz aus Aktivitätsmustern, die in peripheren Rezeptoren entstehen, welche dem biologischen Abwehrsystem zum Schutz des Organismus vor Verletzung zugehören.

Dies beinhaltet, dass es einen biographisch sich entwickelnden Übergang von einem reinen Reflexsystem zur psychischen Erfahrung „Schmerz“ gibt. Ist die psychische Organisation der Schmerzwahrnehmung einmal entwickelt, bedarf es keiner peripheren Reizung mehr, um Schmerz zu spüren, wie es ähnlich auch für visuelle und akustische Sensationen gilt. Wenn Schmerzsensationen aus dem psychischen Bereich auf den Körper projiziert werden, nimmt sie der Mensch in einem Körperteil wahr, und sie sind für ihn von peripheren Schmerzsensationen nicht mehr unterscheidbar. Als Engel diese Ausführung machte, stand ihm noch nicht die 1965 erstmalig und 1983 in ihrer heutigen Form vorgelegte Gate-control-Theorie von Melzack u. Wall zur Verfügung. Mit Hilfe dieser Theorie lässt sich jede der von Engel gemachten klinischen und physiologischen Annahmen decken.

6.2.1

6

Schmerz als komplexes Regulationssystem

Neben der Herausarbeitung der primär psychischen (und nicht physischen) Natur des Schmerzphänomens liegt u. E. ein weiterer bedeutender Beitrag Engels in seiner Formulierung des Schmerzerlebens als ein umfassendes seelisches Regulationssystem. Es spielt damit eine zentrale

Rolle für die psychische Ökonomie. Einerseits schützt es das Individuum als Warnsystem vor körperlichem Schaden, bewirkt die Unterscheidung und Abgrenzung von Umwelt und eigenem Körper, und andererseits beeinflusst es wiederum die Natur der sozialen Beziehungen, weil diese selbst mit der Entstehung des Schmerzerlebens eng verbunden sind. > Im Verlaufe der kindlichen Entwicklung spielen Schmerz und Entlastung von Schmerzen eine entscheidende Rolle bei der Ausbildung interpersonaler Beziehungen und bei der Bildung von wertenden Konzepten wie gut und böse, Belohnung und Strafe, Erfolg und Misserfolg.

Das individuelle „Schmerzgedächtnis“, welches sich für die klinischen Phänomene als so bedeutsam erwies, ist somit auch ein entschieden soziales Gedächtnis.

6.3

Psychodynamische Aspekte im philosophischen Schmerzverständnis

Ohne weitergehendes Referat soll auch auf philosophische Beiträge zum Schmerzproblem, die dem Phänomen des Schmerzes in manchem gerechter werden als Medizin und Psychologie, hingewiesen werden. Buytendijk (1955) gibt eine Übersicht hierzu, wobei er den anthropologischen und – soweit sich diese nicht ohnehin überschneiden – den phänomenologischen Gesichtspunkt betont. Bemerkenswert erscheint uns seine Vorstellung der „Entzweiung von Ich und Leib“ als Voraussetzung des Schmerzerlebens. Fehlt die Entzweiung, geht z. B. der Mensch in Wut und Angst auf, so verspürt er weder seinen Körper noch seinen Schmerz. Ebenfalls vom Phänomen des Schmerzerlebens geht Wisser (1985) aus. Er arbeitet die schon bei Plato nachweisbare und über Kant zu Schopen-

126

Teil I · Grundlagen

hauer reichende Denklinie aus, dass nicht das Vergnügen und die Lust, sondern der Schmerz die primäre Empfindung sei und den unabdingbaren Kontrasthintergrund der angenehmen Gefühle verkörpere. Für Schopenhauer heißt das, dass Gesundheit und Wohlbefinden „negativer, hingegen der Schmerz positiver Natur“ (Wisser 1985) ist. Positiv und negativ meint hier nicht affektive Wahrnehmungstönungen, sondern, dem Wortsinn entsprechend, die Unmittelbarkeit der Erfahrung im Bewusstsein. Die Konsequenzen dieses Verständnisses vom Schmerzerleben reichen sehr viel weiter als das populäre einer Unlustempfindung, die auf Beseitigung drängt. P. Bieri (1987) hat aus erkenntnistheoretischer Sicht den phänomenalen und epi-





phänomenalen Charakter der Schmerzwahrnehmung nachgezeichnet. Durch Unterscheidung

einer personalen (die ganze Person) und einer subpersonalen (die Interaktion ihrer Teile) umfassenden Ebene versucht er, das Problem anzugehen, dass Schmerz primär ein nur subjektiv erlebbares und mitteilbares Phänomen ist. Wir können auf diese Ansätze nur verweisen.

6.4

Psychodynamische Erklärungsprinzipien zur Entstehung von somatoformem Schmerz

In der Folge gehen wir von den nachstehenden 6 Erklärungsprinzipien zur Entstehung und Erhaltung somatoformen (also hier: psychogenen oder überwiegend psychogenen) Schmerzes aus, wovon die ersten 4 im engeren Sinne, das fünfte (Bindung) im weiteren Sinne und das sechste (Lernvorgänge) nur indirekt in den Bereich psychodymischen Erklärens fallen. Obwohl es fraglos Überschneidungen gibt, können sie als voneinander ausreichend unabhängig angesehen werden: 쎔 Das Prinzip der psychischen Substitution, Ersatzvorstellung, Ersatzwahrnehmung („psychoprothetische Funktion“): Dieses Konzept entspricht weitgehend dem des narzisstischen Mechanismus. 쎔 Das Prinzip der Konfliktentlastung durch körpersprachlich ausgedrückte Symbolisierung: Dieses Konzept entspricht dem Konversionsmechanismus, überschneidet sich jedoch nur zu Teilen mit dem „hysterischen Modus“ der





Konfliktlösung (wie ihn Mentzos – 1982 – konzipiert). Das Prinzip der primären (nichtkonvertierten) Umwandlung von Affekten in körperliche Spannungszustände: Dieses Konzept erfasst psychovegetative Spannungszustände als Folge eines primär körperlich erlebten Affektdrucks. Schmerzentstehung und mögliche organische Läsionen (z. B. Bandscheibenprolaps) wären hier unmittelbare Folge der anhaltenden Muskelkontraktionen. Das Prinzip des Wirksamwerdens dissoziierter Traumafolgen. Dieses Konzept zeigt in einem kleineren Bereich Überschneidungen mit dem Konversionsvorgang, basiert aber nach zurzeit aktuellstem Theoriestand, dessen Vertreter sich besonders auf P. Janet berufen, auf einem übergeordneten dynamischen Geschehen, das als Dissoziation bezeichnet wird. Ein fünftes, auch von seiner Herkunft her psychodynamisches Prinzip bezieht sich weniger auf die Entstehung von Schmerz, sondern spezifiziert Bedingungen seiner Chronifizierung: Es handelt sich um das Bindungskonzept, das in der Folge seiner Konzeptionalisierung durch J. Bowlby (1969) zu einer ständig ansteigenden wissenschaftlichen Auseinandersetzung und Forschung führte. Das Prinzip der Lernvorgänge: Dieses Konzept erfasst insbesondere das operante Konditionieren in seiner kooperativen Funktion in Entstehung und Erhaltung von Symptomen. In der psychodynamischen Sicht kommt ihm v. a. für das Verständnis der Chronifizierung entscheidende Bedeutung zu, die in den enger dynamischen Konzepten kaum Gegenstand des Interesses war.

6.4.1

Der narzisstische Mechanismus der Schmerzentstehung

> Der narzisstische Mechanismus intendiert in seiner Psychodynamik die Vermeidung oder Begrenzung einer subjektiv existenziellen Krise des Selbstgefühls („narzisstische Krise“) durch die Bildung eines Symptoms oder Verhaltens, welches dann den intrapsychisch wahrgenommenen Ausfall substituieren soll („psychoprothetische Funktion“). Es geht also nicht primär um eine angestrebte Spannungsentlastung,

127 Kapitel 6 · Psychodynamische Konzepte bei somatoformen Schmerzzuständen

sondern um die Aufrechterhaltung psychischen Funktionierens überhaupt bzw. die Vermeidung eines psychischen Zusammenbruchs.

6

affektiv gespannter emotionaler Hintergrund

nachweisbar ist. > Die Unfallfolge, das Trauma, die Beeinträchti-

Dabei ist die Entstehung eines in solchem Sinne verstandenen Schmerzsyndroms natürlich als Misslingen einer sinnvollen Ersatzbildung anzusehen, als ein (in Freuds Worten) misslungener „Heilungs- und Rekonstruktionsversuch“ (Freud 1924). Wie bei der Konversion, kann es sich um eine Symbolisierung handeln – das Fehlende, das Vermisste, das Ersehnte wird dargestellt, jedoch steht der Rekonstruktionsvorgang hinsichtlich seines dynamischen Gewichts vor dem Ausdrucksgehalt, vor dem kommunikativen Vermittlungsangebot.

Ausdrucksgehalt narzisstisch determinierter Symptome Der prinzipiell also auch beim narzisstischen Vorgang mögliche Ausdrucksgehalt lässt sich nach unserem Verständnis durch 2 Aspekte von dem beim konversionsneurotischen Mechanismus abgrenzen: 쎔 Die Symbolik im Symptom ist „matter“, weniger expressiv. Sie arbeitet, in Lorenzers Terminologie, mehr mit „Zeichen“ als mit Symbolen („von den Zeichen zu den Symbolen geht ... eine Linie der Zunahme an gestischem Gehalt“; Lorenzer 1970). 쎔 Der Einsatz solcher nur noch begrenzt als Kommunikationsmittel ansprechbarer Symbole hat einen eindeutigen existenziellen Charakter. Denn in erster Linie geht es bei dieser Art der Symptombildung nicht um Reduktion intrapsychischer Spannungen, sondern um Versuche der Sicherung oder Wiederherstellung existenzieller psychischer Basisbedingungen, die hochgefährdet sind oder zusammenbrachen. Allgemein wird man jedoch bei auf narzisstischem Wege entstandenen Symptomen eher einen begrenzten oder keinen Ausdrucksgehalt vorfinden.

Typische Auslösesituationen bei narzisstischer Psychodynamik Klinisch häufen sich über diese Pathogenese gebahnte Schmerzzustände nach zufälligen Unfällen, Traumen und banalen Beeinträchtigungen, bei denen oft schon im diagnostischen Erstgespräch ein

gung heilen in der Folge nicht aus, sondern chronifizieren – zumindest was das Schmerzerleben angeht. Das somatische Ereignis wird hier zur „gestaltgebenden Leitlinie“ der Pathodynamik.

E. Weiss formulierte 1933: „Ein körperlicher Schmerz, der einmal erlebt wurde, bahnt den Weg zum Ersatz eines Seelenschmerzes durch einen Körperschmerz.“ Diese Aussage gilt auch für den Konversionsvorgang, hat aber beim narzisstischen Mechanismus noch mehr Gewicht. Durch das „Ereignis“ kommt es zur Dekompensation vorher (gerade noch) kompensierter psychischer Verhaltensmöglichkeiten. Wohl deshalb beobachten wir klinisch die Häufung „arbeitssüchtiger“ („workaholic“), extrem leistungsorientierter Menschen in dieser Gruppe. Gildenberg und DeVaul (1985) sprechen von „überforderten Patienten“. Ohne dass dies so ausformuliert wurde, sind diese Zusammenhänge implizit bei Engel im Rahmen seiner Auffassung des Schmerzes als eines allgemeinen Regulationssystems psychoökonomischer Vorgänge angesprochen.

Der intendierte, aber verfehlte Reparationsvorgang Der Erklärungswert dieses Prinzips reicht weit. Auf der einen Seite umfasst es den halluzinatorischen Schmerz des Psychotikers, mit dem dieser „versucht“, eine erlebbare,„erfühlbare“ Ordnungsgestalt in sein Chaos zu bringen. Trotz des Misslingens seines Lösungsversuchs – denn Halluzinationen verschlechtern die Realitätskontrolle noch mehr – wird nachvollziehbar, dass der Schmerz hier einen intendierten Zugewinn an Organisiertheit darstellen könnte. Die Halluzination von Schmerzen wäre somit die „reinste“ Anwendung des Substitutionsprinzips in der Erklärung psychogener Schmerzzustände. Von hier aus ergibt sich klinisch ein Kontinuum über die schwerer gestörten Borderlinepersönlichkeiten (z. B. schizoide Persönlichkeiten, infantil-hysterische Persönlichkeiten im Sinne Kernbergs) hin zu den narzisstischen Persönlichkeiten.

128

Teil I · Grundlagen

> Gemeinsam wäre den chronischen Schmerzsyndromen solcher Menschen, dass sie auf der Basis dieses Erklärungsansatzes in der Intention in gleicher Weise unbewusst einen Zugewinn an „schmerzhafter“ Ordnungsstruktur anstreben.

Bei den genannten Persönlichkeitsstörungen beobachten wir auch klinisch regelmäßig aktive Selbstverletzungen mit Rasierklingen, Messern oder Zigaretten in eindeutig nichtsuizidaler Absicht. Psychodynamisch sind diese autoaggressiven Handlungen zunächst als Grenzsetzungs- und Ordnungsversuch- zu verstehen – dabei müssen sie gewissermaßen „noch“ ihre Schmerzen sich selbst bereiten. Die eigentliche Psychogenese von Schmerzen verliefe, verglichen mit dieser Personengruppe, dynamisch in der gleichen Richtung, nur bedürfte es dann keiner aktiven Manipulation zur Schmerzgewinnung, sondern der ganze ätiologische Ablauf könnte als intrapsychischer aufgefasst werden. Ein drittes und hier letztgenanntes Beispiel wären die Schmerzzustände im Rahmen von akuter Trauer oder Verlustreaktionen. Hierbei handelt es sich um nicht häufige, dafür aber um so eindrucksvollere Phänomene, bei denen der Schmerz, meist in unmittelbarem Zusammenhang mit dem Verlust entstanden, die verlorene Bezugsperson ersetzt, gewissermaßen im Sinne einer schmerzlichen Tröstung („Was mich so schmerzt, kann nicht verloren sein“). Hier gibt es einen bereits diskutierten und nur schwer abgrenzbaren Übergang zum Konversionsmechanismus.

Was kränkt, macht krank Schors (1993) schreibt der Rolle des vielfältig zu konzipierenden und vom Patienten zu erlebenden Verlusts eine zentrale Funktion bei praktisch

jeder Entstehung von Schmerz über psychische Mechanismen zu.Wir haben Zweifel daran, ob diese generelle Aussage hinsichtlich ihres ätiologischen Gehalts zutrifft. > Ohne Frage gilt sie jedoch für die zahlreichen Verlusterlebnisse des Schmerzkranken, wenn sich sein Leiden einmal etabliert hat: Der Schmerzpatient sieht sich mit einer langen Liste von Personen, Dingen und Funktionen konfrontiert, die er nicht mehr hat, über die er nicht mehr verfügen kann oder derer er nicht mehr fähig ist.

Die von Schors am gleichen Ort besonders betonte Rolle der Kränkung in der Schmerzkrankheit („Was kränkt, macht krank“) gewinnt ihre pathogene Potenz gerade über diese zahlreichen Verlusterlebnisse. Uns scheint sie im Zusammenhang des hier besprochenen narzisstischen Mechanismus von zentraler Bedeutung. Auch in den Ausführungen von Jordt (1988) wird eine ähnliche Überlegung geäußert: Der Autor versteht den Schmerz als eine Art „Uraffekt“, als Reaktion auf frühe Verluste – ein Gedanke, der dicht an der Attachmenttheorie von Bowlby (1969) liegt. Durch die Introjektion des Schmerzes wird die Trennung vermieden. Aber unabhängig davon, ob Schmerz als psychologisches Phänomen in seinem ursprünglichsten Charakter (immer) Trennungsschmerz ist – als narzisstische Abwehr schützt er, um den Preis andauernder Pein, vor der befürchteten Trennung. Blazer (1980/81) hat versucht, einen narzisstischen Persönlichkeitstyp mit einer besonderen Neigung, psychogene Schmerzsyndrome zu entwickeln, zu beschreiben. Nach seiner Studie handelt es sich um Menschen mit einer ausgeprägten libidinösen Besetzung ihrer Person und ihres Körpers. Es bestehen unverarbeitete infantile Unverletzlichkeitsphantasien fort, was sich in einem leistungsmäßig oft erfolgreichen, aber sozial problematischen Verhalten ausdrückt. > In Versagens- und Misserfolgssituationen zeigen diese Patienten ein ausgeprägt regressives Verhalten, es kommt zur „narzisstischen Krise“ des Selbstgefühls, das plötzlich in seiner Brüchigkeit erlebbar wird. So sind es fast immer plötzliche Ereignisse, Unfälle, Stürze, Verkehrsunglücke, die die Krankheit einleiten und dem Patienten ein ausgeprägtes Gefühl von Hilflosigkeit vermitteln.

Die Ärzte, die quasi durch Zauberkraft die Krankheit und ihre Folgen auf der Stelle beenden sollen, werden in charakteristisch narzisstischer Weise zuerst idealisiert, um dann als enttäuschend erlebt zu werden. Es entwickelt sich ein typisches Krankheitsverhalten mit häufigem Arztwechsel, misstrauischem Rückzug und einer narzisstischen Neuorganisation als leidendes Opfer, als gestürzter Engel um das Schmerzsyndrom herum. Psychometrisch ließ sich die Gruppe dieser Patienten von anderen chronischen Schmerzpatienten hinsicht-

129 Kapitel 6 · Psychodynamische Konzepte bei somatoformen Schmerzzuständen

lich des plötzlichen und dramatischen Krankheitsbeginns, des Erlebnisses der ausgeprägten Hilflosigkeit, des subjektiven Erlebnisses uninteressierter Ärzte, sozial beanspruchter Führungspositionen und zorniger Affekte abgrenzen. Ätiologisch rekonstruiert Blazer (1980), dass der akute traumatische Einbruch körperlicher Krankheit für die Patienten eine Reaktualisierung darstellt, die sie seinerzeit durch ein künstlich aufgeblähtes Selbstgefühl, durch die Entwicklung eines kompensatorischen Narzissmus stabilisieren konnten. Diese Kompensation reichte jedoch nur unter günstigen Lebensbedingungen aus und endete bei ernsthaften Krisen. Das Selbstgefühl dieser Menschen hat gewissermaßen keine Reserven. Wir würden dieser Rekonstruktion der Ätiologie im Sinne der biographischen Genese folgen. Narzisstische und Borderlinepersönlichkeiten werden generell als biographisch stärker und früher (in der präverbalen Entwicklung) belastet angesehen, ihre eingeschränkten Ich- und Selbstfunktionen sind Folge eben dieser belasteten Entwicklung.

6.4.2

Der Konversionsmechanismus

> Der Konversionsmechanismus ist das bekannteste Prinzip zur Erklärung der Entstehung von Schmerzen im überwiegend oder mitverursachend psychogenen Sinne.

Eine Operationalisierung des Konversionsmechanismus stammt von Hoffmann (1996), die vollständigste und aktuellste Übersicht zum Konzept der Konversion geben Kößler u. Scheidt (1997). Das Konzept geht von der Annahme innerer Konflikte aus, die durch ein körpersprachlich dargestelltes Symptom entlastet werden sollen. Diese Symptome stellen etwas dar, sie drücken eine Kommunikation aus, weswegen v. Uexküll von „Ausdruckskrankheiten“ spricht. Konversion (lat. Umwandlung) meint ursprünglich die Konvertierung eines psychischen Konflikts in den körperlichen Bereich. Dabei handelt es sich jedoch eher um ein komplexes als einfaches Geschehen (Freud: „rätselhafter Sprung“). Auch wenn sich in den letzten Jahren eine rasante Entwicklung der Forschung im psychoendokrinologischen, psychobiologischen, psychophysiologischen und neuropsychoimmunologischen Bereich

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abzeichnet, sind die somatischen Details erst in Ansätzen zu benennen, die bei dieser Vermittlung vom Psychischen ins Körperliche eine Rolle spielen. Besser beschreibbar sind die psychischen Teilvorgänge, viele von ihnen jedoch durchaus vage und vorläufig.

Teilvorgänge der Konversion Diese Teilmechanismen betreffen im Rahmen der Konversion u. a. folgende Vorgänge: 쎔 Eine zentrale Rolle kommt unbewussten Vorstellungen und Phantasien zu, die den eigentlichen Inhalt der Darstellung im Symptom ausmachen. 쎔 Als Abwehrvorgang ist regelmäßig die Verdrängung beteiligt. Verleugnung, Verschiebung und Projektion werden ebenfalls häufig beobachtet. 쎔 Vor allem bei den histrionischen Konversionsvorgängen ist eine Bewusstseinsveränderung, die im Extrem das Ausmaß einer Bewusstseinsspaltung (Dissoziation) erreichen kann, beteiligt. Gewöhnlich ist sie aber milder ausgeprägt, mit allen Übergangsformen, welche v. a. eine Wahrnehmungseinengung und eine Störung der Realitätskontrolle und Selbstkritik bedingen. 쎔 Die Hyperemotionalität (z. B. Angstüberflutungen, histrionisches „Aufgebrachtsein“) wirkt ebenfalls im Sinne einer Störung der Realitätskontrolle und führt wegen des entstehenden Gefühls der Hilflosigkeit zur Entlastung von Selbstvorwürfen und, wie die Bewusstseinsveränderungen, zu verfehlter Selbstwahrnehmung. 쎔 Die Veränderung des Selbstbilds bzw. der Selbstwahrnehmung ist im Rahmen der hysterischen Konversion von Mentzos (1980) als besonders bedeutsamer Teilmechanismus beschrieben worden. Es geht dabei immer um eine regressive Selbstbildveränderung, die die Symbolisierung von Schwäche, Hilflosigkeit, Unschuld, Anlehnungsbedürftigkeit usw. fördert („Ich kann nichts sehen, ich kann nicht gehen, ich bin zu schwach, mir tut alles weh ...“). Dabei scheint hier der unbewusste Symptomgewinn in der vorrangigen Gewissensentlastung zu liegen. 쎔 Der kommunikative Aspekt unterstreicht die Wichtigkeit der körpersprachlichen Mitteilung an den realen oder imaginären Beobachter des

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Teil I · Grundlagen

Symptoms („Krankheit als Bühne“). Dieser Zusammenhang wurde schon teilweise in den vorausgegangenen Punkten angesprochen („Ausdruckserkrankung“). 쎔 Eine wichtige Rolle spielen Identifizierungsvorgänge, welche die – das ist der klinisch relevante Anteil – Übernahme von Krankheitsmustern von für den Patienten signifikanten anderen Personen ermöglichen. 쎔 Die Symbolisierung – das ist hier die ausdruckshaltige Darstellung von unbewussten Konflikten, Bedürfnissen, Befürchtungen usw. im Symptom – ist wahrscheinlich ein Vorgang, der viele der schon ausgeführten einschließt. Manche Autoren halten ihn aber für einen psychischen Prozess sui generis, der zudem ein spezifisches Humanum darstellt, da spontane Symbolisierung auch bei den uns nächst verwandten Primaten nicht eindeutig beobachtet wurde. Dieses Konversionsmodell wurde von Freud 1895 entwickelt und auf einen Fall von psychogenem Schmerz angewandt. Seine originale Formulierung ist in ihrer Aktualität heute noch lesenswert. Nachdem er das Motiv der Abwehr, das zur hysterischen Bewusstseinsspaltung führt, dargestellt hat, fährt er fort: „Der Mechanismus war der der Konversion, d. h. anstatt der seelischen Schmerzen, die sie sich erspart hatte, traten körperliche auf, es wurde so eine Umwandlung eingeleitet, bei der sich als Gewinn herausstellte, dass die Kranke sich einem unerträglichen psychischen Zustand entzogen hatte, allerdings auf Kosten einer psychischen Anomalie, der zugelassenen Bewusstseinsspaltung, und eines körperlichen Leidens, der Schmerzen ...“ (Freud 1895), und er präzisiert sein theoretisches Verständnis noch einmal mit den Worten: „Was ist es denn, was sich hier in körperlichen Schmerz verwandelt? Die vorsichtige Antwort wird lauten: Etwas, woraus seelischer Schmerz hätte werden können und werden sollen“ (Freud 1895).

Aus seelischem Schmerz wird körperlicher Schmerz Wir meinen, dass die heuristische Prägnanz und die theoretische Sparsamkeit (im Sinne von Occams) dieser Grundformel auch in der behavioristischen Konzeption nirgends erreicht und außerhalb der Psychoanalyse zu Unrecht so wenig be-

achtet worden sind. Ein Votum so erfahrener Autoren wie Blumer u. Heilbronn macht diesbezüglich eine Ausnahme: „Chronischer Schmerz ist dann der somatische Ausdruck eines ungelösten psychischen Schmerzes. Schmerz kommt von Schmerz, und dies erscheint die wissenschaftstheoretisch sparsamste Erklärung“ (Blumer u. Heilbronn 1982). > Dass es sich hierbei um eine realistische und nicht um eine fiktive Deduktion handelt, stützt die Studie von Osmond et al. (1985). Die Autoren befragten depressive Patienten, welche auch weitgehende Erfahrungen mit körperlichen Schmerzen hatten, ob sie mehr unter ihren depressiven Verstimmungen oder mehr unter den körperlichen Schmerzzuständen gelitten hätten bzw. welche der beiden Erscheinungen sie stärker fürchteten. Die Patienten schätzten die depressive Verstimmung fast ausnahmslos als quälender als die körperlichen Schmerzen ein.

Im gleichen Sinne spricht das Votum einer Patientin: „Lieber unerträgliche Schmerzen als ständig diese Leeregefühle.“ Dies leitet über zu der Frage, der Abwehr welcher unerträglichen Gefühle und Konflikte denn der psychogene Schmerz dient. Im psychoanalytischen Verständnis sind auf psychischer Ebene monokausale Erklärungen die Ausnahme und multiple Motivationszusammenhänge (Überdeterminierungen) die Regel. Man wird hier also keine einfachen und voneinander unabhängigen Antworten erwarten können. Fünf Bereiche waren es, die wir bei unseren mittlerweile über 2500 genau untersuchten Patienten am häufigsten vorfanden:

쎔 Die symptomgebundene Darstellung des verbal nicht aussprechbaren und benennbaren „alten Schlimmen“ (Rilke): Es sind dies die Pa-

tienten, die dem Untersucher zuerst erzählen, dass sie eine „goldene Kindheit“ gehabt hätten, alles sei schön gewesen, um dann bei geduldiger Fortführung des Gesprächs zwischen den Worten, in Nebensätzen und durch nivellierende Bemerkungen verschleiert, eine entsetzliche Biographie mit Misshandlungen, Ausbeutungen und anhaltender Arbeitsfron zu berichten. Nicht selten schließt der Bericht mit der Versicherung „Ja, so war das, aber das hat mir alles nichts geschadet. Und mit den Schmerzen hat das nichts zu tun“ – so als ob der Patient durch

131 Kapitel 6 · Psychodynamische Konzepte bei somatoformen Schmerzzuständen

das Gespräch plötzlich die Zusammenhänge erahne und unverzüglich zu verleugnen suche. > Der symptommotivierende Gehalt ist hier als die Vermittlung des erlebten Elends in einer für den Patienten chiffrierten Formel zu interpretieren. Der seelische Schmerz wird dargestellt (im körperlichen Schmerz), aber er kann nicht benannt werden.

쎔 Das anhaltende Leid durch das Schmerzsyndrom führt zu einer eindrucksvollen Entlastung von Schuldgefühlen. So formulierte eine Patientin: „Wenn es ordentlich wehtut, dann schwinden die Schuldgefühle.“ Patienten mit solcher Problematik sind natürlich v. a. depressive und masochistische Persönlichkeiten. Beim psychischen Masochismus ist per definitionem die depressive Verstimmung häufig durch das erlebte Leid gebunden. Oft entstehen die Schuldgefühle auch aus starken, aber gehemmten Bedürfnissen der Patienten, die nicht selten bereits primär durch die Depression abgewehrt wurden. Unsere klinischen Beobachtungen sprechen jedoch für die heute allgemein akzeptierte Tendenz, bei höchstens einem Viertel der psychogen Schmerzkranken larvierte Depressionen anzunehmen. Diese Fraktion wurde von Pilowsky (1988) in seinem Grundsatzreferat auf dem Weltschmerzkongress genannt und steht in einem deutlichen Gegensatz zu Positionen wie etwa die von Blumer u. Heilbronn (1982) oder Groen (1984; „Psychalgia melancholica“), die psychogene Schmerzen ganz überwiegend als Depressionsäquivalent auffassen möchten. > Als symptommotivierenden Gehalt kann man hier einen multipel determinierten Sühnevorgang durch das Leiden unterstellen, der die subjektive Schuld entlastet.

쎔 Die Entlastung von „schmerzhaften“ Affekten, vorzugsweise angsthaften und depressiven Verstimmungen, gelegentlich aber auch von Leere- und Sinnlosigkeitsgefühlen und weiteren, durch den körperlichen Schmerz ist augenfällig. An die Studie von Osmond et al. (1985) sei hier erinnert. Der „scharfe Schnitt des Schmerzes“ erlaubt offensichtlich in bestechender Weise eine Neuorientierung um ein

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Symptom herum, die vom ursprünglich quä-

lenden Affekt stark „ablenkt“. Man könnte auch von einer pathologischen Aufmerksamkeitsverschiebung sprechen. Wenn wir den Begriff nicht für den narzisstischen Mechanismus reservieren wollten, böte sich auch das Konzept einer Substitution des schmerzhaften Affekts durch ein (weniger!) schmerzendes Symptom an. Der Kompromisscharakter, den Freud für neurotische Symptome generell postuliert, wird sehr deutlich. > Der symptommotivierende Gehalt wird hier in der unbewusst angestrebten Entlastung durch eine Umlenkung der Aufmerksamkeit vom psychischen zum körperlichen Bereich gesehen. Die anamnestisch häufig berichtete körperliche Überaktivität vieler Patienten dient offensichtlich gleichen Zielen.

쎔 Eine weitere pathogenetische Rolle kommt der Aggression zu. Aggressive Motive sind bei den

meisten chronisch Schmerzkranken stark gehemmt und verdrängt. Regelmäßig lassen sie sich jedoch klinisch nachweisen, bei manchen Patienten bereits in der Art ihrer Schmerzbeschreibung. So umriss ein Patient mit chronischen Rückenschmerzen diese folgendermaßen: „Es ist so, als wenn mich ein Tiger von hinten anspränge und mir das Fleisch in Fetzen vom Körper risse.“ Manchmal gibt das unbewusste Ausdrucksverhalten Hinweise auf solche Motive. So fiel uns wiederholt die Kiefermotorik (Zähneknirschen, Verbissenheit, zwischen den Zähnen zerquetschte Sprache) als expressives Charakteristikum solcherart gestalteter Probleme auf – sekundär haben diese Patienten oft dysarthrische Beschwerden. Auch Kranke mit „schneidenden“, migränoiden Kopfschmerzen („... als ob in meinem Kopf eine Bombe platzt“) scheinen in ihrer Psychodynamik durch eine gesteigerte aggressive und sekundär gehemmte (abgewehrte) Motivlage charakterisiert. > Der symptommotivierende Gehalt lässt sich in der erfolgreichen Unterdrückung der aggressiven Motive durch den Schmerz und damit der Vermeidung von Gewissenskonflikten und Selbstvorwürfen bestimmen.

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Teil I · Grundlagen

쎔 Schließlich beobachteten wir ein Motivbündel, welches in seinem Kern die phantasierte Erhaltung eines bedrohten sozialen Bezugs (Objektbeziehung) intendiert. Der Schmerz symbolisiert hier das Fortbestehen der Beziehung. Der irrationale Syllogismus ließe sich so formulieren: „Solange es mir wehtut, bin ich nicht verlassen.“ Von den eingangs ausgeführten Thesen Engels beziehen sich mehrere auf dieses Theoriestück von Schmerz, Beziehung und Verlust. Nach Engels Modell beinhaltet das Anhalten des chronischen Schmerzes die unbewusste tröstliche Gewissheit, dass die Mutter kommen und helfen und alles wieder gutmachen wird. Das Schwinden des Schmerzes bedeutete dann paradoxerweise, dass der andere „weg“ ist, dass man verlassen ist. Hat sich eine solche neurotische Symbolik etabliert, wird psychodynamisch nachvollziehbar, warum das Symptom so hartnäckig anhält. Diesen Gesichtspunkt haben nach Engel (1959) v. a. Valenstein (1973) und Hirsch (1985; „Schmerz als Übergangsphänomen“) bearbeitet.Auf die allgemeine Bedeutung der Rolle des Verlusts für die Entstehung psychogener Schmerzen wurde bereits oben (narzisstischer

Mechanismus) hingewiesen. Die Verarbeitung von Verlusten ist prinzipiell in gleicher Weise narzisstisch wie konversiv möglich – Überschneidungen beider Formen dürften sogar überwiegen. > Der symptommotivierende Gehalt liegt hier in einer assoziativen Verkopplung (Symbolisierung) von Schmerz und sozialer Beziehung. Das Fortbestehen des Schmerzes bedeutet intrapsychisch – zutiefst irrational – das Fortbestehen der verlorenen und gewünschten Beziehung. Der Schmerz wird zum verlässlichen Begleiter.

Diesen häufigen Motiven ließen sich zahlreiche, individuell variierende und kombinierte, aber auch durchaus einmalige, für das Individuum singuläre anfügen. Für uns leitet sich daraus zwingend die Notwendigkeit eines stark erweiterten Konversionskonzepts, welches insbesondere nicht auf Vorgänge in der histrionischen Psychodynamik eingeengt ist, ab. Dem scheint eine generelle Tendenz im psychoanalytischen Schrifttum zu entsprechen (Rangell 1959; Thomä 1962/63), wir

haben deswegen auch schon früher speziell für die Erweiterung des Konversionsverständnisses bei der Erklärung psychogener Schmerzen plädiert (Hoffmann u. Egle 1984).Andererseits gilt, dass die Entstehung von somatoformen Schmerzen über den Konversionsmechnismus im engeren Sinne nur für eine vergleichsweise kleine Untergruppe die Erklärung der Wahl darstellt.

6.4.3

Psychovegetative Spannungszustände in der Schmerzgenese

> Entwicklungspsychologisch kann man davon ausgehen, dass alle Affekte anfangs als körperliche erlebt werden und erst im Laufe des Erwachsenwerdens idealerweise eine sog. Desomatisierung durchmachen.

Man könnte diesen Vorgang auch als „Psychisierung“ der Affekte bezeichnen. Dennoch bleibt allen Affekten zeitlebens eine gewisse somatische Begleitkomponente erhalten, die auf diese primäre Beziehung zwischen Affekt und Vegetativum weist. Keine Freude ohne Herzklopfen, keine Angst ohne Blutdruckanstieg und Schweißausbrüche, keine Scham ohne Veränderung der Hautdurchblutung usw. Nach einem Vorschlag von Zepf wären solche begleitenden oder nachfolgenden vegetativen Phänomene als „vegetative Korrelate“ zu bezeichnen. Es kann aber eine Entwicklung auftreten, bei der die Desomatisierung der Affekte primär unzureichend ist oder eine ausgeprägte sekundäre Resomatisierung stattgefunden hat (Schur 1955; Cremerius 1968). In solchen Fällen kommt es zu gar keiner psychischen Repräsentanz der Affekte, sondern ausschließlich zu einer somatischen. Das vegetative Phänomen vertritt dann gewissermaßen den Affekt, es steht stellvertretend für ihn. Bekanntestes Beispiel ist die fehlende bewusste Angst bei Menschen mit ausgeprägter vegetativer Angstsymptomatik (Schweißausbrüche, Schwindel, Pulsanstieg, Durchfälle und Weiteres). Der hier angemessene Terminus spricht von „vegetativen Äquivalenten“ (Freud), einer Affektspannung gewissermaßen ohne Affekte. Dabei ist nachvollziehbar, dass naturgemäß das pathogene Potenzial auf der Seite der angsthaften, traurigen, schamhaften oder eifersüchtigen und weiterer Affekte liegt und nicht auf der der freudig-zufriedenen.

133 Kapitel 6 · Psychodynamische Konzepte bei somatoformen Schmerzzuständen

Affektive Spannung – vegetative Spannung – Schmerz Allgemeines Charakteristikum unzureichend desomatisierter und damit nicht ausdrückbarer Affekte („expressed emotion“) ist eine Erhöhung vegetativer Spannung. Dabei kann als experimentell gesichert gelten, dass alle Formen von Hemmung expressiver, v. a. verbaler, aber auch mimischer und anderer Affektabfuhr vegetativ vermittelt zu einer messbar erhöhten Muskelspannung führen. > Die populärpsychologische Feststellung, dass man „Haltung bewahren“, „das Kreuz steif machen“ muss, beschreibt genau die körperliche Entsprechung des affektiv gehemmten, „Contenance“ bewahrenden Menschen.

Dieser Mensch, vom Persönlichkeitstyp eher introvertiert bzw. depressiv-zwanghaft, hat dann in der Regel auch seine Kreuzschmerzen. Von hier aus ist der weitere Übergang zum chronischen Kreuzschmerz bis zum Bandscheibenprolaps konsequent nachvollziehbar. Zuviel anhaltende Muskelspannung bekommt keiner Wirbelsäule. Es spricht einiges dafür, den erhöhten Tonus als unspezifische Reaktion auf vielerlei Belastungssituationen anzunehmen, wie er auch hinsichtlich der gehemmten Affekte unspezifisch scheint. Möglicherweise kommt es hier zukünftig noch zu Differenzierungen. Die allgemein regressive Lebenseinstellung von psychovegetativ Gestörten („Man schont sich“) hat psychodynamisch daher dazu veranlasst, die mangelnde Desomatisierung der Affekte (bzw. ihre Resomatisierung) als eine generell somatisierende Abwehrbewegung aufzufassen. Dabei handelt es sich um eine Form „primitiverer“ Abwehr, die sich von den „reiferen“ klassischen Abwehrmechanismen deutlich unterscheidet.

Aktivierung der köperzentrierten Wahrnehmung Nach Jores (1973), der auch ausführlich auf Schmerzzustände im Rahmen psychovegetativer Syndrome eingeht, stammen die ausführlichsten Untersuchungen zu diesem Bereich von Ermann (zusammenfassend 1987). Ermann sieht eine doppelte Pathologie am Werk: Über eine Konfliktpathologie kommt es im Rahmen missglückter Konfliktlösungen zu Störungen im affektiven Erleben, z. B. Ängsten, Erschöpfungen, Depressionen.

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Die gleichzeitig bestehende Ich-Pathologie bewirkt, dass der seelische Anteil dieses Erlebens unterbewertet, in der Wahrnehmung vernachlässigt wird, sodass sich die Aufmerksamkeit auf die begleitenden körperlichen Störungen konzentriert. Dies führt zu einer Aktivierung der körperzentrierten Wahrnehmung, die ihrerseits wiederum den vitiösen Zirkel unterhält, wie schon v. Uexküll in seinem Funktionsstörungsmodell dargestellt hatte. Dieses Regelkreismodell geht von psychisch verursachten Funktionsänderungen aus, die zu körperlichen Sensationen (vegetative Korrelate!) führen und diese ihrerseits wieder zu Funktionsänderungen und erneuten körperlichen Sensationen usw. Schmerzpatienten mit ängstlich-hypochondrischer Selbstbeobachtung, die zunehmend das

Interesse an allen Vorgängen jenseits ihres Symptoms verloren haben, gehören zu den therapeutisch problematischsten Patienten. Sie lassen sich auch im Ausmaß ihrer Überzeugtheit von einer ausschließlich organischen Genese ihrer Schmerzen deutlich von Konversionsneurotikern abgrenzen, die eher bereit sind, psychische Faktoren als Denkmöglichkeit zuzulassen (Ermann 1987). Erklärerisch finden wir somit im psychovegetativen Modell nach Ermann eine Kombination uns vom narzisstischen und vom Konversionsmechanismus her vertrauter Elemente. Zentral steht die Vorstellung einer nichtkonflikthaften Resomatisierung affektiver Abläufe. Dieser Vorgang kann auch als indirekter, auf einem reiferen (entwicklungspsychologisch späteren) Niveau über den „richtungsweisenden“ Umweg missglückter Konfliktlösungen abzulaufen. Das Modell der psychovegetativen Symptomentstehung kann erklärerisch enger und weiter gefasst werden. Die referierten Überlegungen von Ermann sind fraglos die weiterreichenden. > Das engere (einfachere) Konzept der Pathogenese hat den Akzent auf der unmittelbaren (d. h. nicht über Vorstellungen vermittelten) Umsetzung affektiver Spannungen in solche im neurovegetativ-muskulären Bereich.

Dieser Vorgang könnte primär so verlaufen und/oder über sekundäre Automatisierung sich etablieren. Er könnte über äußere Belastungen („Stress“) oder innere Belastungen („Strain“;

Teil I · Grundlagen

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Zander 1989) alternativ oder additiv entstehen und unterhalten werden.

6.4.4

Prinzip des Wirksamwerdens dissoziierter Traumafolgen

Dieses Konzept zeigt in einem kleineren Bereich Überschneidungen mit dem Konversionsvorgang, basiert aber nach zurzeit aktuellstem Theoriestand, dessen Vertreter sich besonders auf P. Janet berufen, auf einem übergeordneten dynamischen Geschehen, das als Dissoziation bezeichnet wird. Bereits 1980 versuchte der amerikanische Psychosomatiker J. Nemiah, den Konversionsvorgang vor dem Hintergrund eines übergeordneten Mechanismus „Dissoziation“ zu verstehen. Das Konzept der Dissoziation wurde am Ende des 19. Jahrhunderts durch den französischen Psychiater Pierre Janet (1859–1947) entwickelt. Dissoziative Störungen waren in unserem Jahrhundert lange Zeit vernachlässigt und erlebten eine Renaissance durch ihre Aufnahme und Betonung im DSM III (1980). > Wörtlich übersetzt bedeutet Dissoziation „Bewusstseinsspaltung“. Dabei handelt es sich um einen komplexen psychophysiologischen Prozess, der durch eine teilweise oder völlige Desintegration psychischer Funktionen (also Auflösung des geordneten Zusammenhangs) – wie der Erinnerung an die Vergangenheit, des Identitätsbewusstseins, der Wahrnehmung des Selbst und der Umgebung und der unmittelbaren Empfindungen – gekennzeichnet ist. Es handelt sich um eine Störung des Bewusstseins, die vielfältige Formen aufweisen kann.

Das Phänomen der Dissoziation umfasst ein Spektrum, das von normalpsychologischen dissoziativen Zuständen, wie sie in Übermüdungs- und Stressituationen vorkommen, über Trancezustände, die bewusst intendiert werden (Schamanismus, rituelle Tänze, Hypnose), bis hin zu den eigentlichen psychopathologischen Phänomenen reicht. Innerhalb der dissoziativen Pathologie sind Schmerzerlebnisse nicht häufige, aber immer wieder vorkommende Phänomene (Steele et al. 2002; Nijenhuis 2002). Für die Psychoanalyse griff Freud das Konzept anfangs aktiv auf. In einem zusammen mit J. Breu-

er verfassten Fragment aus dem Jahre 1892 heißt es: „..., dass wir die Annahme einer Dissoziation – einer Spaltung des Bewusstseinsinhaltes – für unentbehrlich zur Erklärung hysterischer Phänomene erachten“ (Freud 1940). Später vermeidet Freud den Begriff der Dissoziation und spricht, wo es denn unvermeidlich ist, von „Aufsplitterung des Ich“ oder von Bewusstseinsspaltung. Er wird deutlich, dass er sich zugunsten des seines Erachtens dynamischeren Konzepts der Verdrängung entschieden hatte und das Dissoziationskonzept entbehren zu können glaubte. Neubearbeitungen der originalen Schriften von Janet lassen daran zweifeln, dass sein Verständnis der Dissoziation tatsächlich so statisch gewesen ist, wie es bei oberflächlicher Betrachtung erscheint (van der Hart u. Friedman 1989).

Dissoziation und Trauma Insbesondere van der Hart und seine Arbeitsgruppe haben das Konzept der Dissoziation in einen kausalen Zusammenhang mit der Verarbeitung von Psychotraumen gebracht und beziehen sich nach eigenem Zeugnis dabei unmittelbar auf Janet. > Dissoziation stellt dabei einen Bewältigungsversuch des Nichtaushaltbaren (der unerträglichen, oft genug körperlichen Pein) dar, indem der nichtaushaltbare Gehalt dissoziiert, also in seiner Verfügbarkeit dem Bewusstsein entzogen wird.

Gegenüber der Verdrängung, die diesen Löschungsprozess einer Gedächtnisspur auch leisten kann, handelt es sich bei der Dissoziation um einen weitergehenderen, in seinen Konsequenzen das Individuum nachhaltiger schädigenden Bewältigungsversuch. Es kommt dabei zu Veränderungen nicht nur des Gedächtnisses, sondern auch des Erlebens der Identität, des Selbst und der Integrität der eigenen Person. Plötzlich auftretende heftige Schmerzzustände – insbesondere, wenn sie streng lokalisiert sind (und außerhalb einer anderen Pathogenese liegen) – werden hier als unvermittelte Wiederbelebung einer implizit abgespeicherten Erinnerung an reale Schmerzen im Zusammenhang zurückliegender traumatischer Erlebnisse verstanden. Im Rahmen von Therapieprozessen traumatisierter Patienten geht diese aktivierte (implizit gespei-

135 Kapitel 6 · Psychodynamische Konzepte bei somatoformen Schmerzzuständen

cherte) Schmerzwahrnehmung oft der Erinnerung an das Trauma, die regelhaft phobisch vermieden wird, voraus und muss im Rahmen der „integrativen Behandlungsphase“ wieder mit den expliziten Erinnerungen zusammengebracht werden (van der Hart et al. 1993; Steele et al. 2002).

6.4.5

Bedeutung der Bindungsvorgänge

> Der aus der psychoanalytischen Tradition stammende, sich von ihr aber stark abgrenzende J. Bowlby („Attachment“; 1969) hält die Bindung des Menschen (und der höheren Säugetiere) an eine mütterliche Person für einen primären, evolutionär entstandenen Prozess.

Bowlby unterscheidet sich damit von allen Auffassungen, die Bindung als Folge von Belohnungslernen, Sicherheitslernen (Lerntheorie), Triebbefriedigung (Psychoanalyse) oder anderen sekundären Abläufen ansehen. Im Verständnis Bowlbys wird das Verhaltenssystem „Bindung“ immer dann aktiviert, wenn es im Verlauf des Lebens zu Bedrohungserlebnissen unterschiedlichster Art kommt. Die Art der dann aktivierten Bindungsform wiederum ist abhängig von den Entwicklungsschicksalen des Individuums in den ersten Lebensjahren und der von dieser Entwicklung abhängigen Bindungsstile (das Konzept der Bindungsstile wurde in der Folge dann v. a. von Ainsworth et al., 1978, ausgearbeitet.). Im 2. Band seiner „Bindungs-Trilogie“ („Separation, Anxiety and Anger“; 1973) befasst sich Bowlby mit der Rolle von Schmerz für die Aktivierung des Beziehungssystems „Bindung“. Seines Erachtens ist die Rolle des Schmerzes selbst als eines körpernahen Rezeptors einer Bedrohungssituation zu Ungunsten der Distanzrezeptoren (Gesicht, Gehör) überschätzt worden. Biologisch haben über die Distanz wirkende Reize wie Furcht und Nachahmung (für die Primaten von größter Bedeutung!) erhebliche Vorteile für die Aktivierung des Bindungssystems mit dem Verhalten des Schutzsuchens in einer bedrohlichen Situation. Diese Fernreize antizipieren die Gefahr früher als die „letzte Chance“ des eigentlichen Schmerzreizes. Dann ist die Gefahr nämlich bereits sehr nah. Das Individuum lernt so potenzielle Schmerzreize anhand assoziierter köperferner Schlüssel zu erkennen und zu vermeiden.

6

Auf diese Weise entsteht für Bowlby eine enge Beziehung des Bindungssystems einerseits und der arterhaltenden Schlüsselreize Angst und Schmerz andererseits. Die erste Antwort auf den Schmerzreiz ist reflektorisch: Das Individuum versucht, der Schmerzquelle zu entgehen, sie abzustellen. Gelingt dies nicht, so wird das Bindungssystem aktiviert und eine schutzgebende Bindung gesucht. Dabei ist die erste Wahrnehmung innerhalb der Aktivierung des Bindungssystems die einer Bedrohung (Bowlby 1988). Das ist der Ansatz, den eine kanadische Arbeitsgruppe (Mikail et al. 1996) aufgreift. Der Schmerz bewirkt ein Aufsuchen von schutzgebenden Personen innerhalb des Gesundheitssystems. Die Varianz dieses „Inanspruchnahmeverhaltens“ erklären die Autoren mit dem Konzept der Bindungsstile, wobei sie sich auf die Systematik der Bindungsstile von Bartholomew u. Horowitz (1991) beziehen. Sie stützen sich auch auf Vorarbeiten von Simpson et al. (1992), die das Suchen nach Schutz und das Gewähren von Unterstützung innerhalb von Paarbeziehungen untersucht hatten.

Bindungsstile und die Entwicklung chronischer Schmerzen Die nachstehende Systematik von Mikail et al. (1996) ist bisher empirisch nicht überprüft, was die Autoren zu einem Desiderat künftiger Forschung erklären. 쎔 Sicher („secure“) gebundene Personen können bei Schmerzreizen angemessen und rasch für sich Hilfe innerhalb des Gesundheitssystems beanspruchen. Ihre Gefährdung zur Entwicklung eines chronischen Schmerzsyndroms ist eher gering. Dennoch können sie z. B. bei einem insuffizienten Versorgungssystem oder bei schwerer psychosozialer Belastung auch im Sinne einer Chronifizierung dekompensieren.

쎔 Unsicher-abweisend („dismissing“) gebunde-

ne Personen zeigen bei Schmerzbeginn eine

verzögerte Inanspruchnahme von Hilfe. Sie neigen zu Unterdrückung und Unterbewertung des Schmerzes und wirken bei der klinischen Untersuchung oft „stoisch“. Ihr inneres Modell schätzt die eigenen Möglichkeiten hoch und die der anderen gering ein. Dies führt bei der Behandlung oft zu Vorwürfen und gereizten Auseinandersetzungen. Die

136

Teil I · Grundlagen

dann erfolgenden Behandlungsabbrüche bestätigen wiederum ihre Weltsicht.

쎔 Unsicher-ängstlich („fearful“) gebundene Personen neigen in ihren Interaktionen zu Angst und Feindseligkeit. Ihr inneres Modell zeigt Misstrauen gegenüber den Fähigkeiten anderer zu helfender Zuwendung bei gleichzeitiger negativer Selbsteinschätzung bis zur Selbstabwertung. Bei der Suche nach Hilfe für ihre Schmerzsymptomatik zeigen sie erhebliche Verzögerungen.Wenn sie sich dann schließlich doch vorstellen, vermitteln sie eine ausgeprägte Resignation, Hilf- und Hoffnungslosigkeit. Diese Patienten sind auch nicht selten suizidgefährdet. Sowohl ihre autoaggressive Tendenz als auch ihre Neigung zu versteckter Feindseligkeit verschlechtern ihre Schmerzprognose erheblich. Die Reaktionen der Ärzte auf ihr Verhalten verstärken ihr Grundmodell, dass man Leute wie sie nicht mag.

쎔 Besitzergreifend-ambivalent („preoccupied“)

gebundene Personen schwanken zwischen hilfesuchendem Verhalten und seiner Vermeidung, weil sie befürchten, abgelehnt zu werden. Ernstgenommen und verstanden zu werden, ist für sie von größter Bedeutung. Sie neigen daher zu einer anfänglichen Idealisierung ihrer Ärzte und kooperieren gut. Die sich einstellenden Anfangserfolge in der Schmerzbehandlung bestärken ihre Bindungsambivalenz und führen zu einer zunehmend schlechteren Compliance. Sie fühlen sich dann nicht mehr gut genug behandelt und in ihren individuellen Bedürfnissen wahrgenommen. Es kommt zu Behandlungswechseln, und viele Details des Stereotyps der „doctor shopper“ werden von ihnen erfüllt. Ihr persönliches soziales Netz ist schwach. Ihr inneres Modell wertet sie selbst und die anderen in gleicher Weise ab. Diese Patienten sind ausgesprochen gefährdet im Sinne eines chronischen Schmerzsyndroms.

> Aus den Beschreibungen wird deutlich, dass die Patienten mit jedem der 3 unsicher gebundenen Stile ausgesprochen gefährdet im Sinne einer Chronifizierung ihrer Schmerzsymptomatik sind.

Die entscheidenden intervenierenden Variablen sind ihr Selbstkonzept (in Bezug auf die anderen) und dessen Umsetzung in ein bestimmtes Interak-

tionsverhalten innerhalb des Gesundheitssystems. Genau genommen handelt es sich beim Bindungskonzept nicht um einen Beitrag zu Pathogenese des Schmerzes als vielmehr um eine Differenzierung der Chronifizierungsneigung von Schmerzsyndromen, abgeleitet aus ihrem Interaktionsver-

halten. Daher ergänzt dieses Modell die vorausgehenden 4 pathogenetischen Modelle im Sinne einer Präzisierung der Chronifizierungsgefährdung. Auch innerhalb der Modelle scheint es zu Überschneidungen zu kommen: So ist z. B. eine erhöhte Korrelation des narzisstischen Mechanismus der Schmerzentstehung mit dem besitzergreifend-ambivalenten Bindungsverhalten denkbar. Ob sie regelhaft ist, bleibt einer empirischen Prüfung vorbehalten.

6.4.6

Lernvorgänge in der Schmerzgenese

Üblicherweise wird man in einer psychodynamischen Konzeption der Genese von Symptomen kaum eine Berücksichtigung von Lernvorgängen erwarten. Diese Sicht ist natürlich zutreffend, und Lernfaktoren sind, wenn überhaupt, von Psychoanalytikern eher im Bereich der Therapie (und dort randständig) bearbeitet worden.Andererseits gibt es eine immanente Bedeutung von Lernvorgängen in der Psychoanalyse, die sich auch am Freudschen Werk nachzeichnen lässt („... der Reflexvorgang bleibt das Vorbild auch aller psychischen Leistungen“; Freud 1900). Dührssen hat 1984 diese vergessene bzw. unterdrückte Linie der psychoanalytischen Tradition kurz dargestellt und am Beispiel von Angstsymptomen illustriert. D. Rapaport, der große Systematiker der Psychoanalyse, hielt gegen Ende seines kurzen Lebens die Schaffung einer Lerntheorie auf psychodynamischer Basis für die anstehende Aufgabe. So waren es seine Schüler Schwartz u. Schiller (1970), die ein Konzept der „Automatisation“ bestehenden neurotischen Verhaltens entwickelten, und Greenspan (1975), der bei seinem Integrationsversuch besonders dem Konzept des operanten Konditionierens nachgeht. Hoffmann u. Hochapfel (1999) erörtern die Rolle der Lernvorgänge für die Entstehung und Erhaltung von Symptomen. Dies gälte analog für die

Genese psychogener (neurotischer) und chronischer (psychosomatischer) Schmerzen.

137 Kapitel 6 · Psychodynamische Konzepte bei somatoformen Schmerzzuständen

> Insbesondere das operante Konditionieren und die Rolle der sozialen Verstärkung spielen bei der Etablierung und Chronifizierung von Schmerzvorgängen eine entscheidende Rolle.

Psychodynamisch heißt dies, dass die konflikthaften Bedingungen, die das Symptom – etwa als konversionsneurotisches – ursprünglich entstehen ließen, sich gewissermaßen überlebt haben, ihre motivationale Kraft im Laufe der Zeit verloren und durch andere Erhaltungsprinzipien abgelöst wurden. Dies ist ein Vorgang, den wir an dieser Stelle nicht weiter ausführen können, dem wir aber gerade in der Schmerzdynamik („Krankheitsverhalten“) besondere Bedeutung zusprechen. Auf das Konzept des Schmerzverhaltens, seine Möglichkeiten und Grenzen sind Turk u. Flor (1987) eingegangen. Es wird auch auf die entsprechenden Passagen in diesem Band verwiesen.

6.4.7

Zusammenfassung

Dieses Kapitel stellt weniger den Versuch einer Synthese von behavioralen und psychodynamischen Perspektiven und auch nicht den Entwurf einer integrierenden Konzeption der Entstehung somatoformer Schmerzen dar. Angesichts der behavioralen Grundorientierung dieses Bandes liegt der Akzent auf der Darstellung dessen, was – psychodynamisch beleuchtet – anders gesehen wird und was möglicherweise dem Verständnis des Schmerzkranken partiell gerechter wird. Fünf Thesen zur Pathogenese somatoformer Schmerzen sollten wahrscheinlich gemacht wer-

den: 쎔 Schmerz kann eine intrapsychisch stabilisierende Funktion haben. 쎔 Schmerz kann einen misslungenen Versuch komplexer körpersprachlicher Botschaften bedeuten. 쎔 Schmerz kann Folge einer direkten Umsetzung von Affekten in vegetative Spannungen sein. 쎔 Schmerz kann dissoziierte Folge traumatischer Erlebnisse sein. 쎔 Die etablierten Folgen von Bindungserlebnissen können intervenierende Variablen für die Chronifizierung darstellen.

6

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138

Teil I · Grundlagen

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139 Kapitel 6 · Psychodynamische Konzepte bei somatoformen Schmerzzuständen

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141

7

Die Schmerzpersönlichkeit – eine Fiktion? B. Kröner-Herwig

Im folgenden Kapitel werden die Ansätze zur Konzeptionalisierung von „Schmerzpersönlichkeiten“ beleuchtet. Die einfluss-

reiche Theorie der „pain prone personality“ von Engel wird vorgestellt. Anschließend werden die empirisch-methodischen Voraussetzungen zur Identifizierung spezifischer Persönlichkeitsmuster und zur Verifizierung der Hypothese ihrer Prämorbidität dargestellt sowie der empirische Evidenzstatus untersucht. Typische, verstärkt auftretende Merkmale von Schmerzpatienten (z. B. Neurotizimus) werden als Charakteristika einer allgemeinen „chronic disease personality“ identifiziert. Im Rahmen der Interaktionstheorie von Mischel werden verschiedene Verhaltens- und Erlebensdispositionen (z. B. Katastrophisierung, Bewältigungsverhalten) auf ihre Bedeutung für die Schmerzentwicklung und die Behandlung chronischer Schmerzen hin untersucht.

7.1

Rückblick auf die Geschichte der „Schmerzpersönlichkeit“

Als die wahrscheinlich älteste „Kreation“ einer Schmerzpersönlichkeit kann die 1734 von Junkerius beschriebene Persönlichkeit des Migränikers gelten, die gekennzeichnet wird durch „ira, imprimis tacita et supressa“ („Wut, besonders stille, unterdrückte“; Jonckheere 1971). Sie begründete eine bis heute ungebrochene Tradition: So schreibt Harrison noch 1975, dass nicht ausgedrückter Ärger („unexpressed anger“) als das kennzeichnende Merkmal der Migränepersönlichkeit gelten kann.

Wissenschaftlichen Stellenwert erhielt die Theorie der Migränepersönlichkeit durch die Arbeiten von Wolff (1937). Auf der Basis seiner umfangreichen klinischen Untersuchungen zu psychologischen und physiologischen Grundlagen des Kopfschmerzes entwarf er ein komplexes

Bild der Persönlichkeitsstruktur des Migräneleidenden. Die Migränepersönlichkeit nach Wolff (1937)

쎔 쎔 쎔 쎔 쎔 쎔

Ehrgeizig Leistungsorientiert Perfektionistisch Zwanghaft ordentlich Rigide Unterdrückt feindselig

Nun ist Migräne nicht die einzige Schmerzsymptomatik, zu der Vorstellungen über persönlichkeitsspezifische Charakteristika der unter ihr Leidenden bestehen. In der Literatur findet man auch Beschreibungen der „rheumatoid arthritic personality“. Überraschenderweise soll sich auch die Persönlichkeit des Rheumakranken durch unterdrückte Feindseligkeit auszeichnen („contained hostility“; Cobb 1959). Die nach außen blockierte Aggressivität wendet sich danach gegen den eigenen Körper und verunstaltet und schädigt ihn. Handelt es sich hier gewissermaßen um einen „Theorienklau“, oder deutet sich das Konzept einer allgemeinen, syndromunspezifischen Schmerzpersönlichkeit an? Das Konzept einer allgemeinen Schmerzpersönlichkeit wurde in der Tat 1959 von Engel in seinem berühmten Artikel „Psychogenic pain and the pain-prone patient“ aus der Taufe gehoben. Auf der Grundlage einer psychodynamischen Theorie entwirft Engel das Bild des durch exzessi-

142

Teil I · Grundlagen

ve Schuldgefühle gekennzeichneten chronischen Schmerzpatienten („some times with and some times without any recognizable peripheral change“). Dieser hat sich Schmerz als Störung „ausgewählt“ um sich zu bestrafen und sich damit von Schuldgefühlen zu befreien. Dies geschieht insbesondere dann, wenn die Lebensumstände der Person eigentlich eher positiv sind, sie also wenig zu „leiden“ hat.

psychosomatische Zusammenhänge beim chronischen Schmerz auch heute noch, oft mehr implizit

als explizit, auf den Vorstellungen von Engel basieren. Dass dessen Bild einer Schmerzpersönlichkeit unvergessen ist, zeigt der 1985 erschienene Artikel von Roy „Engel’s pain-prone patient: 25 years thereafter“. > In der jüngsten Zeit richtet sich das Interesse besonders auf den Zusammenhang von Missbrauch, besonders sexuellem Missbrauch in Kindheit und Jugend, und dem späteren Auftreten chronischer Schmerzen (Linton 2000).

> Der typische „pain-prone patient“ ist nach Engel depressiv, pessimistisch und schwermütig und kennt keinerlei Lebensfreude.

Diese Persönlichkeitsstruktur entwickelt sich aufgrund komplexer entwicklungsgeschichtlicher Erfahrungen. Der „pain-prone patient“ hatte Eltern, die ihn als Kind verbal oder physisch misshandelten, deren Beziehung also durch Gewalt geprägt war. Somit standen Schmerz, Liebe und Zuneigung für den „pain-prone patient“ in einem engen Erfahrungszusammenhang. Nach Schmerz (durch Bestrafung) folgte verstärkte Zuneigung. Möglicherweise wurde der „pain-prone patient“ nur bei Krankheit und Schmerz mit Liebe verwöhnt. Auch für Engel spielt die unterdrückte Feindseligkeit des Schmerzpatienten, der für sein aggressives Verhalten in der Jugend häufig bestraft wurde, eine große Rolle. Neben der Aggression sind die Bereiche Sexualität und Erfolg für den Schmerzpatienten aufgrund des Erziehungsverhaltens der Eltern stark konfliktbehaftet. Die „Pain-Prone Personality“ (nach Engel 1959)

쎔 Depressiv, schwermütig 쎔 Pessimistisch 쎔 Schmerz als Selbstbestrafung (Befreiung

Dieser kurze Streifzug durch die Geschichte der „Schmerzpersönlichkeit“ bzw. „Schmerzpersönlichkeiten“ verweist auf die lange Tradition dieser Konzepte in unserer Gesellschaft. Die Psychosomatik Franz Alexanders hat sie in den Köpfen ganzer Generationen von Medizinern, Psychotherapeuten und Laien verfestigt. Der folgende Abschnitt wendet sich den Aspekten der empirischen Erforschung der Schmerzpersönlichkeit

zu. Theoretische und methodische Voraussetzungen zur empirischen Überprüfung des Konzepts

쎔 Das Konzept der Persönlichkeitsspezifität beinhaltet 2 grundsätzliche Annahmen: 쎔 Die Gruppe der Störungsträger (Schmerzpatienten) unterscheidet sich von Nichtstörungsträgern. 쎔 Die Gruppe der Störungsträger unterscheidet sich hinsichtlich der Persönlichkeit von Trägern einer anderen Störung.

von Schuldgefühlen)

쎔 Frühe Gewalterfahrungen 쎔 Schmerz/Krankheit mit Zuwendung gekoppelt

쎔 Unterdrückte Feindseligkeit 쎔 Konflikt behaftet: Sexualität und Leistung

Dieses Bild des zum chronischen Schmerzpatienten „erzogenen“ Menschen hat einen großen Einfluss auf die Konzepte vieler in der Schmerztherapie Tätigen gehabt, deren Vorstellungen über

Es ist deshalb zu fordern, dass in Studien, die sich mit der Fragestellung der Persönlichkeitsspezifität befassen, mindestens 2 Typen von Kontrollgruppen einbezogen werden, eine sog. Normalkontrolle (symptomfrei) und mindestens eine Vergleichsgruppe mit einem anderen Störungsbild. Nur ein derartig angelegtes Forschungsdesign kann prinzipiell die Frage nach dem (korrelativen) Zusammenhang von Persönlichkeitsmerkmalen und der spezifischen Störung (chronischer Schmerz) beantworten.

143 Kapitel 7 · Die Schmerzpersönlichkeit – eine Fiktion?

> Auch wenn man das Konzept der Persönlichkeitsspezifität für ein untersuchungswertes Problemfeld hält, ist doch zuvor als Prämisse festzuhalten, dass die Persönlichkeit keinesfalls als alleiniger Erklärungsfaktor für eine Schmerzstörung gelten kann, sondern allenfalls im Wirkungszusammenhang mit anderen Faktoren (z. B. Erbfaktoren, körperlicher Status, soziale Aspekte) Einfluss nehmen könnte.

Voraussetzung für die Identifizierung einer spezifischen Schmerzpersönlichkeit

쎔 Erhebung der potenziell relevanten dispositionellen Merkmale bei 쎔 einer Gruppe von Patienten mit chronischem Schmerz 쎔 einer Normalkontrollgruppe (gesunde Probanden) 쎔 einer Patientengruppe mit einer anderen chronischen Krankheit

Bei dieser Art von Studien ist besonderes Augenmerk auf die Stichprobenselektion zu richten. Die zu vergleichenden Stichproben sollten sich idealerweise nur in der relevanten Dimension, nämlich der Störung selbst, unterscheiden. Alter, Geschlecht und sozioökonomischer Status sind als mögliche Störvariablen oder Moderatorvariablen zu beachten und müssen kontrolliert werden. Eine weitere für die Interpretation von Daten äußerst wichtige Variable ist die Morbiditätsebene, aus der die Störungsträger selektiert werden. Stammt eine Migränestichprobe aus der „wahren Grundgesamtheit aller Migränebetroffenen“, aus der „Grundgesamtheit der Migräniker, die sich beim Hausarzt in Behandlung befinden“, oder stammt sie aus der Population der Patienten, die sich nach längerer „Patientenkarriere“ in neurologisch-psychiatrische oder psychologische Behandlung begeben haben? Eventuell sich ergebende Merkmalsbesonderheiten in den Vergleichsgruppen lassen sich u. U. eher aus der Stichprobenselektion, d. h. der Morbiditätsebene, als aus der Störung selbst ableiten. Es ist demnach zu fordern, dass die untersuchten Stichproben unbedingt hinsichtlich der Morbiditätsebene zu kennzeichnen sind. Selektionseffekte können aber auch noch spezifischer sein. So könnten sich in einer bestimmten

7

Institution, aus der Patienten rekrutiert werden, bestimmte Patientengruppen häufen (z. B. in einer Spezialklinik für Kopfschmerz besonders viele Patienten mit medikamenteninduziertem Kopfschmerz). Somit kann dabei keinesfalls auf Studien an Störungsträgern aus der ersten Morbiditätsebene verzichtet werden, da ansonsten die Bedeutsamkeit der Variable „Aufsuchen einer Behandlung“ als Selektionskriterium nicht beurteilt werden kann. Die Erfassung nichtbehandelter Störungsträger ist aber von besonderer Schwierigkeit und kann nur in aufwändigen repräsentativen epidemiologischen Studien erfolgen. Eine weitere wichtige Moderatorvariable ist die Dauer der Störung bzw. der Grad der Chronizität, die unbedingt erfasst werden muss, wobei es fraglich ist, ob Dauer und Chronizität, wie sie z. B. von Gerbershagen und Mitarbeitern (Schmitt 1990) definiert werden, eine lineare Beziehung haben. Potenzielle Störvariablen im Vergleich von Störungsgruppen

쎔 Alter/Geschlecht/soziodemographischer Status

쎔 Morbiditätsebene 쎔 Spezifischer Selektionsbias aufgrund der Rekrutierung

쎔 Dauer der Störung 쎔 Chronifizierungsgrad der Patienten

Von besonderer Bedeutung für die Untersuchung der Persönlichkeitsspezifität und den verschiedenen Stadien ist die Diagnose der Störung, hier des chronischen Schmerzsyndroms, selbst. Ergebnisse verschiedener Studien können nur dann zusammengeführt werden, wenn einheitliche und reliable Diagnosekriterien verwendet werden. Auch die 1986 veröffentlichte Taxonomie der International Association for the Study of Pain ermöglicht keine hinreichend reliablen Diagnosen (Turk u. Rudy 1987). Vermutlich ist die Klassifikation der Kopfschmerzsyndrome der International Headache Society aufgrund des Versuchs einer weitgehenden Operationalisierung noch das reliabelste System, wenn es dem Reglement entsprechend genutzt wird. Neben qualitativen Syndrommerkmalen sind auch Häufigkeit und Intensität des Schmerzes und

Teil I · Grundlagen

144

für die Kennzeichnung der Stichprobe von Bedeutung.

Diese sind allerdings gerade im Bereich von Persönlichkeitsstörungen von umstrittener Reliabilität.

Zu beachten!

쎔 Kriterien der Diagnose einer chronischen 쎔 쎔 쎔

Schmerzstörung Objektiv? Reliabel? Übereinstimmend mit anderen Studien?

Eine weitere Schwierigkeit für die Identifizierung der „schmerzspezifischen Persönlichkeit“ bezieht sich auf die Wahl der Instrumente zur Bestimmung der Merkmale. Die im ersten Abschnitt zitierten Auffassungen beruhen weitgehend auf dem „klinischen Eindruck“ der Untersucher, der aufgrund mehr oder minder systematisch geführter psychiatrischer Interviews und der sonstigen Interaktion mit dem Patienten gewonnen wurde (Wolff 1937; Engel 1959). Die erhebliche methodische Schwäche dieser „Messmethodik“ braucht nicht im Detail beschrieben zu werden (Subjektivität, mangelnde Reliabilität und Validität). Sie ist demnach zur wissenschaftlich empirischen Überprüfung von Hypothesen grundsätzlich ungeeignet. Projektive Tests kommen der Sensitivität und Differenzierungsfähigkeit des Klinikers in den Augen vieler Autoren noch am nächsten und sind deshalb auch häufig eingesetzt worden. Projektive Tests sind aber ebenfalls mit den psychometrischen Mängeln behaftet, die zuvor beschrieben wurden. Die dritte Kategorie der verwendbaren Erhebungsinstrumente umfasst die sog. Self-reportMaße, die, wenn sie standardisiert sind und bestimmte Gütekriterien erfüllen, als psychometrische Tests bezeichnet werden. > Aus methodischen Gründen ist zu fordern, dass in Untersuchungen zur Identifizierung spezifischer Persönlichkeitsmerkmale objektive, reliable und valide Verfahren, also psychometrische Tests, verwendet werden.

Wenn es um die Erfassung von Persönlichkeitsstörungen geht, stehen standardisierte klinische Interviews zur Verfügung, die Diagnosen gemäß der ICD-10 oder des DSM-IV ermöglichen.

Methoden zur Erfassung von Persönlichkeitsmerkmalen

쎔 쎔 쎔 쎔

Klinisches Urteil Projektive Verfahren Psychometrische Tests Klinische standardisierte Interviews (Persönlichkeitsstörungen gemäß ICD und DSM)

Von Kritikern des psychometrischen Ansatzes, insbesondere psychodynamisch orientierten Forschern, wird jedoch gerade an der Validität und Relevanz psychometrischer Testverfahren für die Untersuchung der persönlichkeitsspezifischen Hypothesen gezweifelt. Sie heben hervor, dass möglicherweise nur der klinische Experte aufgrund seiner intensiven Interaktion mit dem Patienten dessen „spezifische Konflikte, Charakterzüge oder Verhaltensweisen“ eruieren könne (Raspe 1986), während objektivierte und standardisierte Verfahren dafür ungeeignet sind. Harrison (1975) ist der Meinung, dass die Self-report-Maße auch nicht biasfrei sind, da sie die Krankheitstheorien der Patienten widerspiegeln, die sich ebenso häufig wie die der Ärzte aus stereotypen traditionellen Vorstellungsweisen speisen. Weiter spiegeln sie nur den „bewussten und zugelassenen“ Anteil der Persönlichkeit wider. Kritik an psychometrischen Tests

쎔 쎔 쎔 쎔

Nicht sensitiv Nicht differenziert Biasbehaftet Selbstbericht von „bewusst“ wahrgenommenen Merkmalen

Über die Aufgabe der empirisch gestützten Identifizierung einer Schmerzpersönlichkeit hinaus geht die Aufklärung der Frage, ob es sich um eine persönlichkeitsbezogene Prädisposition oder um eine postmorbide Entwicklung handelt, wobei bestimmte Patientenmerkmale sich in der Auseinandersetzung mit der Störung entwickelt haben.

145 Kapitel 7 · Die Schmerzpersönlichkeit – eine Fiktion?

Frühe Autoren wie Engel oder Wolff vertraten in der Regel das Prädispositionskonzept. Aus methodischen Gründen ist zu fordern, dass, wenn Aussagen über Prädisposition bzw. Postmorbidität gemacht werden sollen, ausschließlich prospektive epidemiologische Studien herangezogen werden. > Ausschließlich prospektive Studien erlauben Aussagen über die Prämorbidität von Persönlichkeitsmerkmalen (d. h. über ihr Vorhandensein vor Beginn einer Störung).

Damit sind nun die wichtigsten Forderungen an eine Forschung dargestellt worden, die zum einen die Frage nach der Spezifität von Persönlichkeitsmerkmalen bei Schmerzpatienten beantworten und zum anderen die Frage nach der Prädisposition oder Postmorbidität entscheiden will. Im folgenden Abschnitt soll geprüft werden, inwieweit die vorhandenen Studien diese Kriterien erfüllen und welche Ergebnisse sie erbracht haben.

7.2

Die Schmerzpersönlichkeit im „Test“ der Empirie

Zunächst ist zu konstatieren, dass die überwiegende Zahl von Untersuchungen in diesem Bereich gegen eine oder mehrere der im vorigen Abschnitt beschriebenen methodischen Anforderungen verstoßen (Harrison 1975; Köhler et al. 1987; Köhler 1987). Oft werden keine adäquaten Kontrollgruppen einbezogen, insbesondere keine anderen Störungssyndromgruppen. Die Selektionsmerkmale der Stichproben werden häufig nicht genau dokumentiert und potenzielle Störvariablen nicht kontrolliert. Die meisten Daten stammen von „behandelten“ Schmerzpatienten. Potenziellen speziellen Selektionseinflüssen wird nicht Rechnung getragen. Positiv ist hervorzuheben, dass insbesondere in den letzten Jahren Messinstrumente eingesetzt wurden, die den Testgüteanforderungen entsprechen. Aussagestarke prospektive Studien gibt es nur wenige, und diese haben auch meist ein anderes Hauptziel als das der Überprüfung persönlichkeitspsychologischer Annahmen. Linton (2000) sichtet in einer Übersichtsarbeit 37 prospektive Studien, die sich der Untersuchung von prädiktiven Faktoren, u. a. auch Persönlichkeitsfaktoren,

7

für das Auftreten von akuten, subakuten und chronischen Schmerzen gewidmet hatten und kategorisiert sie hinsichtlich des Grades an Absicherung der hypostasierten Einflussfaktoren. Während er eine relativ gute Absicherung (Level A: 2 positive prospektive Studien) für psychosoziale Statusvariablen wie „alltäglicher Disstress“ und „Arbeitsunzufriedenheit“, und weitere Prozessvariablen wie „schmerzbezogene Kognitionen“ und „Bewältigungsverhalten“, für den Übergang vom akuten zum chronischen Schmerz fand, konnte er für allgemeine Traitmerkmale der Person keine zuverlässigen Aussagen deduzieren (Level C: gemischte Befunde). Keinerlei bestätigende Befunde fand er für die Annahme der „pain-prone personality“. Auch die Rolle von Gewalterfahrungen (physischer/sexueller Missbrauch) konnte als spezifischer Prädiktionsfaktor für chronischen Schmerz nicht verifiziert werden. > Eine Variable scheint jedoch der genaueren Untersuchung wert: Magni et al. (1994) zeigten, dass prämorbide Depressivität – allerdings zu einem sehr geringen Ausmaß – eine Schmerzsymptomatik voraussagt (hier allerdings akuter bzw. subakuter Art), die Schmerzstörung selbst aber auch zur Vorhersage einer erhöhten Depressivität beiträgt und zwar in einem (etwas) stärkeren Maße. Eine ähnliche Beziehung fanden Breslau et al. (2003) zwischen Depressivität und dem Auftreten von Migräne

Somit kann man also am ehesten von einer gegenseitigen Beeinflussung, also einem positiv rückgekoppelten Systemzusammenhang, ausgehen. Auch Hasenbring (1992) stellte die Variablen „Depressivität“ sowie „Schmerzsuppression“ (Durchhaltemotivation) als prädiktive Faktoren für den postoperativen Schmerzstatus von Rückenschmerzpatienten heraus. Allerdings ist generell infrage zu stellen, ob es sich hierbei um „echte“, d. h. transsituationale, habituelle Merkmale der Persönlichkeit handelt, die über den Bereich Schmerz hinaus die Person kennzeichnen. Die Befundlage, die sich aus den prospektiven, also methodisch aussagestärksten Studien ergibt, ist insgesamt als schwach zu bezeichnen. Wenn überhaupt, so stellen Persönlichkeitsvariablen nur ein sehr geringes Risiko für die Entwicklung von Schmerzstörungen in einem Verbund mit anderen Einflussfaktoren dar.

146

Teil I · Grundlagen

Die Antwort auf die Frage, ob es eine spezifische prämorbide Schmerzpersönlichkeit gibt, lautet damit: Nein. Diese Ansicht wird von anderen Autoren (Köhler et al. 1987; Köhler 1987; Linton 2000) geteilt. > Prospektive Studien belegen kein typisches Persönlichkeitsmuster für Schmerzpatienten. Die spezifische prämorbide Schmerzpersönlichkeit gibt es nicht.

Die weitere Frage, ob sich die an einer Schmerzstörung erkrankte Person überhaupt von sog. Normalkontrollgruppen oder Patienten mit anderen chronischen Krankheiten unterscheidet, kann anhand korrelativer Studien untersucht werden. Viele Untersuchungen an Kopfschmerzpatienten und anderen Schmerzpatientengruppen (die aber auch nicht immer die geforderten methodischen Anforderungen erfüllen) weisen darauf hin, dass in einigen der gemessenen Merkmale Unterschiede zur allgemeinen Bevölkerung beobachtet werden können, auf die noch einzugehen ist. Es werden ansonsten keine Unterschiede zwischen verschiedenen Schmerzsyndromgruppen und anderen Patientengruppen mit chronischen Krankheiten gefunden. Im Folgenden soll näher diskutiert werden, wie die in der Tat beobachteten normabweichenden Werte in Persönlichkeitsmerkmalen bei Schmerzpatienten zu beurteilen sind. > Eine Variable, bei der in der Regel Werte über der Norm erhoben werden, ist der Neurotizismus (Kröner 1982).

Im MMPI, einem in den USA vielfach eingesetzten Persönlichkeitstest, wird ein „neurotisches“ Persönlichkeitsmuster durch die sog. „neurotische Triade“ (erhöhte Werte in den Skalen „Hysterie“, „Depression“,„Hypochondrie“) bestimmt (Leavitt 1985). Erhöhte Neurotizismuswerte bei Schmerzpatienten finden sich insbesondere dann, wenn es sich um in Behandlung befindliche Personen mit längerer Schmerzdauer handelt (Henryk-Gutt u. Rees 1973). Eine Erklärungsmöglichkeit für diesen Befund besagt, dass die wegen ihrer Schmerzen Behandlung suchenden Patienten eine spezielle „neurotische“ Selektion aller Schmerzleidenden darstellen (hohe Klagsamkeit, geringe Bewältigungsressourcen) oder das Schmerzleiden „neurotisierenden“ Einfluss hat.

Bei Stichprobenvergleichen von Normalkontrollgruppen mit Schmerzbetroffenen der ersten Morbiditätsebene zeigten sich in der Regel keine wesentlichen Unterschiede (hier Migräneleidende; Henryk-Gutt u. Rees 1973; Köhler et al. 1987). Ein hoher Neurotizismusscore unterscheidet weder verschiedene Schmerzsyndromgruppen (z. B. Migräne- vs. Spannungskopfschmerzpatienten; Kröner 1982) noch Schmerzpatienten mit oder ohne organische Befunde voneinander (Leavitt 1985). Der Neurotizismusscore differenziert auch Schmerzpatienten nicht von anderen Störungsgruppen, insbesondere dann nicht, wenn es sich um chronische Störungen handelt (Naliboff et al. 1982). Er ist also eher als ein Korrelat chronischer Erkrankungen zu verstehen, obgleich Breslau et al. (1996) in einer Studie Neurotizismus als Prädikatior für das Auftreten von Migräne identifizieren konnten. Betrachtet man die Items, die das Merkmal bestimmen, genauer, ist es plausibel, dass es sich in der Auseinandersetzung mit der Krankheit entwickelt. Im FPI-R (Fahrenberg et al. 2001), wo dieses Merkmal als „Emotionalität“ bezeichnet wird, sind u. a. Gefühle des Abgespanntseins, der Mattigkeit, gedrückte Stimmung, gesundheitliche Sorgen und psychosomatische Symptome merkmalsdefinierende Items. > Zum Teil lassen sich erhöhte Neurotizismuswerte bei Schmerzpatienten also als Bias werten, da die erfragten Merkmale Bestandteil der Schmerzstörung selbst sind.

Ähnliche Aussagen wie zum Neurotizismus lassen sich auch für das schon erwähnte Merkmal der Depressivität machen, wo Schmerzpatienten als Gruppe in der Regel hohe Scores zeigen. Dieses Merkmal lässt sich hier dann als Persönlichkeitsvariable verstehen, wenn man davon ausgeht, dass Depressivitätstests nicht nur den aktuellen affektiven Status und damit akute kognitiv-emotionale Tendenzen erfassen, sondern zumindest zum Teil auch habituelle, also überdauernde und situationsübergreifende Verarbeitungsweisen der eigenen Lebenssituation. Erhöhte Depressivitätswerte finden sich bei vielen Schmerzpatienten insbesondere dann, wenn eine Chronizität besteht (Keefe et al. 1986; Romano u. Turner 1985). Die Vermutung, dass der Schmerz Ausdruck einer larvierten Depression sei,

147 Kapitel 7 · Die Schmerzpersönlichkeit – eine Fiktion?

die ins Körperliche „konvertiert“ ist (Blumer u. Heilbronn 1982), konnte nicht bestätigt werden (Sternbach et al. 1973). Erhöhte Depressionswerte finden sich aber auch bei anderen Patienten, die durch chronische Krankheiten beeinträchtigt sind (Beutel 1988) und können damit ebenso wie der Neurotizismus als Merkmal eines „Chronic-disease“-Patienten gewertet werden. Dieser Befund ist – ähnlich wie beim Neurotizismus – jedoch mit einiger Vorsicht zu betrachten. Verschiedene Depressionstests (z. B. das Beck-Depressions-Inventar) erzeugen einen Bias in Richtung erhöhter Depression bei Schmerzpatienten und anderen chronisch Kranken, da sie körperliche Symptome, die direkt der Störung zuzuordnen sind, als depressive Zeichen werten (Kessler et al. 1996). Für die anfangs zitierte „Repressed-anger“Hypothese gibt es außer in Untersuchungen mit zweifelhaften Erhebungsinstrumenten keine Bestätigung (Henryk-Gutt u. Rees 1973). In Anbetracht der langen Tradition dieser Hypothese ist allerdings ihre nur sehr mangelhafte Untersuchung zu bedauern. Köhler et al. (1987) verzichten explizit auf die Untersuchung dieses Merkmals, da sie der Meinung sind, dass seine Operationalisierung bis heute noch nicht gelungen sei. Diese Autoren haben ansonsten versucht, die spezifischen Hypothesen von Wolff über die Migränepersönlichkeit zu überprüfen (Ehrgeiz, Ordnungssinn, Rigidität). Die Daten lassen nach ihrer Ansicht nicht den Schluss zu, dass im Sinne Wolffs von einer bestimmten Persönlichkeitskonstellation bei Migränikern – bei anderen Schmerzsyndromen sind diese Merkmale nicht systematisch überprüft worden – ausgegangen werden kann. Eine schier unübersehbare Zahl von verschiedenen weiteren Persönlichkeitsmerkmalen, die weniger Bestandteil spezifischer Persönlichkeitshypothesen waren, sind in Untersuchungen erhoben worden, um zu prüfen, ob sie Schmerzpatienten von andere Gruppen unterscheiden, u. a.: 쎔 Ängstlichkeit (Kröner 1982), 쎔 „anxiety sensitivity“ (Zvolensky et al. 2001), 쎔 Extraversion (Philipps u. Gatchel 2000), 쎔 Alexithymie (Juntura et al. 1991), 쎔 Kausal- und Kontrollattributionen („locus of control“; Schucman u. Thetford 1970), 쎔 Bindungsstil (Merriman 2000).

7

쎔 Insbesondere zur „Ängstlichkeit“ gibt es eine Reihe von Befunden, die auf regelmäßig erhöhte Werte bei Schmerzpatienten hindeuten. Hierbei sollte nicht vergessen werden, dass Ängstlichkeit und Depressivität eng korrelieren, also deutlich überlappende Konstrukte darstellen. Die Befunde zu den anderen Persönlichkeitsvariablen sind eher uneinheitlich. Merkmale von Schmerzpatienten im Vergleich zur Normalbevölkerung

쎔 Höherer Neurotizismuswert 쎔 Höhere Depressivität 쎔 Höhere Ängstlichkeit

Diese Merkmale sind typisch für den „Chronicdisease“-Patienten und entwickeln sich vermutlich in der Auseinandersetzung mit der Störung. Es bleibt also festzuhalten, dass bei verschiedenen Schmerzsyndromgruppen ebenso wie bei verschiedenen anderen Patientengruppen mit anderen Krankheiten erhöhte Werte – insbesondere in den Variablen Depressivität, Neurotizismus und Ängstlichkeit – zu beobachten sind, und zwar besonders dann, wenn es sich um Patienten handelt, die sich in Behandlung befinden und deren Leiden eher chronischen Charakter hat. Dass sich gerade Neurotizismus und Depressivität mit großer Wahrscheinlichkeit besonders auch als Folge einer chronischen Schmerzstörung entwickeln können, lassen eine Reihe von Studien vermuten (Romano u. Turner 1985). Dafür spricht natürlich auch die Plausibilität: Dass Patienten infolge anhaltender Schmerzen, des Misserfolgs sämtlicher Behandlungsversuche, der Beeinträchtigung vieler Lebensvollzüge und ggf. des Verlusts des Arbeitsplatzes häufiger die genannten Merkmale aufweisen als gesunde Personen, ist nahezu trivial. > Trotz vieler methodisch unzureichender Studien kann heute also folgende Aussage getroffen werden: Es gibt keine spezifische Schmerzpersönlichkeit oder syndromspezifische Schmerzpersönlichkeiten, die in sich homogen sind und sich gegen Persönlichkeitsmuster anderer Störungsgruppen abgrenzen lassen.

148

Teil I · Grundlagen

7.3

Die Persönlichkeit des Schmerzpatienten – ein zu vernachlässigendes Faktum?

> Auf diese Frage ist trotz der kritischen Diskussion zum Konzept der Persönlichkeit in den vorhergehenden Abschnitten mit „Nein“ zu antworten!

Habituelle kognitiv-emotionale und behaviorale Merkmale der Person, möglicherweise entstanden bzw. verfestigt in der Auseinandersetzung mit dem Schmerz und sich auf diesen beziehend, haben mit großer Wahrscheinlichkeit eine wesentliche Bedeutung für die Entwicklung des Schmerzgeschehens. Sie sind auch im Zusammenhang mit der Planung der Therapie und der Prognose des therapeutischen Erfolgs bedenkenswert. In diesem Zusammenhang halten wir für das Verständnis des Folgenden und die Entwicklung weiterer Forschungsfragen das interaktive Modell von Mischel (1968) für nützlich. Verhaltensvorhersagen lassen sich danach nur aus der Interaktion von dispositionellen Variablen und bestimmten situativen Bedingungen machen. Die Vorhersagen werden umso genauer sein, je weniger global die dispositionellen Konzepte sind (z. B. bezogen auf Attributionen „health locus of control“ statt „general locus of control“). Es sollte daher insbesondere die Interaktion zwischen bestimmten störungsbezogenen dispositionellen Merkmalen der Person und Aspekten des Schmerzgeschehens, im Sinne situativer Kontextvariablen, untersucht werden. Als kognitive, bereichsbezogene Verarbeitungsdisposition kann die Tendenz zur Generierung dysfunktionaler Kognitionen, die sog. „Katastrophisierung“ gelten („Mit diesem Schmerz kann ich nichts mehr leisten!“, „Das wird nie wieder besser!“ etc.; Flor u. Turk 1988), die große Ähnlichkeit mit dem Konzept der depressiven Verarbeitung hat (Sullivan u. Deon 1990). Auch die sog. „Denkfehler“, bezogen auf das Schmerzgeschehen, können in diesen Zusammenhang gestellt werden (Smith et al. 1986). Viele Befunde verweisen auf die große Bedeutung der „Schmerzbewältigungsstrategien“ (Jensen et al. 1992). Weitere Befunde betreffen die schmerzbezogene „self efficacy“, also Selbstwirksamkeitsüberzeugung, d. h. wie sehr der Patient überzeugt ist, Einfluss auf den Schmerz nehmen zu können. Andere Befunde lassen die sog. „pain

beliefs“ als wichtige personale Variable erscheinen. Beim Rückenschmerz spielen die „Fearavoidance“-Überzeugungen eine große Rolle

(Waddel 1998). Diese implizieren die Annahme, dass Arbeit und andere Aktivitäten für die Schmerzen verantwortlich sind und Arbeit die Gefahr einer neuen Verletzung oder einer Schmerzverstärkung mit sich bringt. Allen Variablen gemeinsam ist, dass eine Fülle empirischer Befunde zeigen, dass sie eng mit der Beeinträchtigung durch den Schmerz korrelieren. > Patienten, die eine katastrophisierende, depressive Verarbeitung haben, eher passive, vermeidende Strategien der Bewältigung zeigen, weniger an ihre Einflussmöglichkeiten auf den Schmerz glauben und dysfunktionale Schmerzüberzeugungen aufweisen, sind bei gleicher Schmerzstärke deutlich beeinträchtigter (Jensen et al. 1992; Turk u. Rudy 1992; Gottlieb 1986; Waddell 1998; Kröner-Herwig et al. 1996).

Es gibt auch Hinweise dafür, dass diese Merkmale mit einem eher negativen Therapieerfolg einhergehen (Jacob et al. 1983; Kerns u. Haythornthwaite 1988; Dolce 1987). Zur eindeutigen Klärung der Bedeutung von schmerzbezogenen Kausal- und Kontrollattributionen (Kröner-Herwig et al. 1993) fehlen noch Untersuchungen. Erste Befunde weisen darauf hin, dass ihr Stellenwert insbesondere hinsichtlich der Therapieerfolgsprognose überschätzt worden ist. Die Befunde legen insgesamt nahe, dass Therapien geeignet sein sollten, die dysfunktionalen Verarbeitungsdispositionen und Überzeugungen

abzubauen, um erfolgreich zu sein. Es gibt bereits empirische Hinweise, dass die Veränderung in einigen dieser Variablen als Mediatoren des Therapieerfolgs gelten können. Weitere wichtige Fragestellungen lassen sich hinsichtlich der benannten Konstrukte entwickeln: 쎔 Welche Entwicklungen im Verlaufe einer Schmerzstörung (akut bis chronisch) lassen sich bezüglich dieser Variablen erkennen? 쎔 Welche Zusammenhänge ergeben sich zu Verhaltensweisen wie Medikamenteneinnahme, beobachtbares Schmerzverhalten, Inanspruchnahmeverhalten? 쎔 Gibt es bestimmte Erfahrungen des Patienten, die bestimmte Entwicklungen hinsichtlich der genannten Merkmale präjudizieren?

149 Kapitel 7 · Die Schmerzpersönlichkeit – eine Fiktion?

7

> Die persönliche, habituelle Form der Verarbei-

trächtigung hohe Bedeutung zu. Therapeutische

tung wie sie sich z. B. in der Katastrophisierung, der Bevorzugung bestimmter Copingstrategien und bestimmten Überzeugungen („pain beliefs“, „Fear-avoidance“-Überzeugungen) ausdrückt, ist von Bedeutung für die Beeinträchtigung des Patienten und wahrscheinlich für den Behandlungserfolg.

Bemühungen sollten sich auch auf die Veränderung dieser ungünstigen Verarbeitungsweisen richten.

Kritisch muss allerdings angemerkt werden, dass es an der Zeit ist, die genannten Konstrukte bzw. die in Fragebogen messtechnisch realisierten Variablen wie „Katastrophisierung“, „depressive Verarbeitung“ und „Coping“ auf ihre Unabhängigkeit bzw. Überlappung zu prüfen (Kröner-Herwig et al. 1996). Nach den beschriebenen Befunden ist es somit sehr wahrscheinlich, dass die persönliche, individuelle Verarbeitung der Schmerzsituation von hoher Bedeutung für die Syndromentwicklung ist sowie therapierelevante Aspekte beinhaltet. Die psychologischen Variablen haben – so zeigen viele Befunde – sogar eine weitaus größere Bedeutung für die Beeinträchtigung des Patienten durch den Schmerz als somatische Faktoren. Weitere, insbesondere prospektive Forschung in diesem Bereich zur Aufklärung der zum Teil oben ausgesprochenen Fragen erscheint somit aussichtsreich.

7.4

Zusammenfassung

Eine schmerzspezifische Persönlichkeit konnte nicht identifiziert werden. Im Vergleich zur Normalbevölkerung häufig als erhöht gefundene Merkmalswerte betreffen wesentlich Neurotizismus, Depressivität und Ängstlichkeit, wie dies generell bei Patienten mit chronischen Krankheiten, die sich in ärztlicher Behandlung befinden, der Fall ist. Es ist wahrscheinlich, dass sich diese Merkmale aus dem Umgang mit der chronischen Erkrankung entwickeln. Für prädispositionelle Effekte gibt es mit Ausnahme der Depressivität und mit Einschränkung des Neurotizismus keine Belege. Schmerzbezogenen dispositionellen Merkmalen der individuellen Krankheitsverarbeitung, wie der sog. Katastrophisierung, ungünstigen Überzeugungen (z. B. „fear avoidance“) und den speziellen Bewältigungsformen, die ein Patient nutzt, kommen allerdings für die Ausprägung der Beein-

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150

Teil I · Grundlagen

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8

Kulturgeschichtliche Bedeutung des Schmerzes H.C. Müller-Busch

> Schmerz und Leiden sind kulturell geprägte BeIm Laufe der Kulturgeschichte der Menschheit haben sich mit zunehmender Kenntnis anatomischer Strukturen und physiologischer Mechanismen die Auffassungen über die funktionelle Bedeutung des Schmerzes verändert. Philosophische, reli-

giöse und ethische Vorstellungen, aber auch unterschiedliche verbale und nonverbale Möglichkeiten der Kommunikation haben in allen historischen Epochen Wesens- und Sinndeutung, aber auch die Bewertung und den Umgang mit Schmerzen wesentlich bestimmt. Schon die sprachliche Analyse des Phänomens Schmerz verweist auf kultur- und geisteswissenschaftliche Dimensionen, die berücksichtigt werden müssen, wenn wir uns in der Beschäftigung mit Schmerz über ein in einem besonderen Maße von Kultur bestimmtes Konstrukt zu verständigen versuchen. Schmerz als intraindividuelles bzw. soziales Kommunikationsphänomen beinhaltet soziokulturelle Zusammenhänge, deren Komplexität für Schmerzwahrnehmung, -verhalten und -erfahrung auch im Hinblick auf therapeutische Implikationen häufig nicht ausreichend beachtet wird.

8.1

Epistemologische Probleme

8.1.1

Schmerz als Erkenntnisphänomen

wusstseinsphänomene, deren Verständnis von einer kulturgeschichtlich orientierten Anthropologie nicht zu trennen ist (Bonica 1980; Procacci u. Maresca 1984).

Unter diesem Aspekt ist Schmerz nicht nur eine Manifestation der subjektiven Realität, sondern auch eine besondere Form der Kommunikation, sowohl mit dem eigenen Körper als auch mit dem sozialen Umfeld, in dem sich ein Mensch mit oder durch Schmerzen befindet. Trotz aller Erkenntnisfortschritte der letzten 200 Jahre, das „Elementarphänomen Schmerz“ (Toellner 1971) zu analysieren und zu objektivieren und dadurch beherrschbar zu machen, wird das soziale Leben unserer Zeit durch die Erfahrung und den Umgang mit Schmerz und Leid wesentlich bestimmt. Das „Schmerzbewusstsein“ des 20. Jahrhunderts ist allerdings zumindest in den westlichen industrialisierten Ländern dadurch gekennzeichnet, dass Schmerz als fremdes, störendes Übel verstanden wird, das durch entsprechende Techniken und spezielle Therapien „bekämpft“ werden muss. In Ivan Illichs (1981) provokativem Essay „Das Abtöten von Schmerz“ wird das moderne Schmerzverständnis so charakterisiert, dass Schmerz nicht mehr als unvermeidbarer Teil der subjektiven Realität des eigenen Körpers erlebt und akzeptiert wird und dass die Menschen mehr und mehr verlernt haben, Leiden im Rahmen einer bewussten Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit anzuerkennen. Eine epistemologische Untersuchung oder Wesensbestimmung des Phänomens Schmerz

Die Frage nach Ursprung, Wesen, Bedeutung, Funktion und Therapie des „physischen“ Schmerzes hat im Rahmen der Menschheitsentwicklung immer eine große Rolle gespielt, wie aus zahlreichen Dokumenten aus allen Kulturbereichen und historischen Epochen ersichtlich ist.

muss unter kulturhistorischen Aspekten 2 Fragen berücksichtigen: 쎔 Wie haben sich die Auffassungen über die funktionelle Bedeutung des Schmerzes mit zunehmender Kenntnis anatomischer Strukturen und physiologischer Mechanismen verändert?

Teil I · Grundlagen

152

쎔 Wie haben die unterschiedlichen philosophischen, religiösen und ethischen Vorstellungen in verschiedenen Kulturen und geschichtlichen Epochen die ontologische Bestimmung von Schmerz und Leiden beeinflusst?

8.1.2

Sprache und Schmerz

Eine Analyse des Alltagssprachgebrauchs zeigt, dass das Wort „Schmerz“ im Deutschen nicht nur für eine Vielzahl körperlicher Missempfindungen, sondern auch für emotionale Zustände verwendet wird. > In der deutschen Sprache gibt es nach Niemann (1993) wohl kaum ein Synonym, das die Zusammenhänge von körperlicher Empfindung, begleitenden Affekten, individuellen Vorstellungen und Phantasien sowie sozialen Konflikten so selbstverständlich voraussetzt wie der Begriff „Schmerz“.

Mit „Schmerz“ wird ein Phänomen bezeichnet, das in seiner individuellen und existenziellen Bewusstseins- und Bedeutungsdimension letztlich genauso wenig kommunizierbar ist wie Freude, Glück, Lust, Schönheit und Wohlbefinden und nur in Analogie zu eigener sinnlicher Erfahrung verstanden werden kann. Synonyme für Schmerz sind z. B. Leid, Qual, Pein, Traurigkeit. Sauerbruch u. Wenke (1936) haben auf die unterschiedliche Bedeutung des Wortes Schmerz – z. B. in Sätzen wie „Ich habe Schmerzen“ oder „Ich empfinde Schmerz über etwas“ – hingewiesen. Die Wurzel des neuhochdeutschen Wortes „Schmerz“ geht zurück auf das lateinische „mordere“ (beißen) und das griechische „smerdnos“, das am ehesten mit „grässlich“ zu übersetzen ist. Das indogermanische „smerd“ (reiben) wandelte sich im mittelhochdeutschen Sprachgebrauch in den „smerze“. und findet im Englischen eine Entsprechung in dem Wort „smart“, das auch „scharf“ und „beißend“ bedeutet. Ursprünglich war damit nur der stechende, scharfe, gut lokalisierte, akute Schmerz gemeint, während für den dumpfen, diffusen, protopathischen, chronischen Schmerz keine etymologische Zuordnung bekannt ist. Janzen (1968) wies darauf hin, dass erst ab dem 16. Jahrhundert das Wort „schmertz“ in der Schriftsprache verwendet wurde, während zuvor

Begriffe wie „not“ oder „seer“ üblich waren, wobei sich allerdings auch heute noch in einigen nördlichen Landstrichen Deutschlands im Plattdeutschen Begriffe wie „Liefseer“ (Bauchschmerzen) und „Koppseer“ (Kopfschmerzen) gehalten haben. Während sich das Wort „Schmerz“ v. a. im Norden Deutschlands und in Mitteldeutschland durchsetzte, wurden in Bayern, Württemberg und Österreich lange Zeit die Wörter „Pein“ und „Weh“ zur Kennzeichnung körperlicher Schmerzen verwendet. Schwierigkeit, Schmerz als körperliche Empfindung begrifflich zu fassen, findet sich allerdings auch in anderen Sprach- und Kulturkreisen. Das englische „pain“, geht wie „Pein“ zurück auf das griechische „ponos“ (Last, Buße) und das lateinische „poena“ (Strafe), das althochdeutsche „pina“ wurde im mittelhochdeutschen „pine“ und häufig mit Bestrafung für irdische Sünden in Beziehung gesetzt (Leiss 1975). Das in der französischen Sprache verwendete Wort „douleur“ oder „dolor“ im Spanischen und Italienischen bzw. das im Portugiesischen gebräuchliche „dor“ geht zurück auf das lateinische „dolor“, mit dem neben Schmerz auch Reue, Betrübnis und Trauer zum Ausdruck gebracht wurde, das aber ursprünglich mehr „Zerreißen“ und „Behauen“ bedeutet haben soll. Das auch im deutschen gebräuchliche „Weh“, verwandt mit „wei“ und „au“ (neuhochdeutsch „auweh“) gilt als onomatopoetische Urschöpfung, um schmerzhafte Empfindungen zum Ausdruck zu bringen. Unser deutsches „weh“ ist verwandt mit dem im Sanskrit verwendeten „Wedana“. Ein ebenfalls im Sanskrit verwendetes Wort für Schmerz ist „Kasta“, das sich im spanischen und portugiesischen „castigar“ wiederfindet. Das im Persischen für Schmerz gebräuchliche „Dard“ bedeutet Gift und Gegengift gleichzeitig, es ist neben Liebe und Tod eines der bedeutendsten und in vielfältigen Bedeutungszusammenhängen verwendete Wort, das auf Qualen des Körpers, der Seele, des Herzens und des Geistes verweist (Abb. 8.1). Auch die Anzahl der verbalen Möglichkeiten, verschiedene Qualitäten des Schmerzes auszudrücken, weist große kulturelle Unterschiede auf. So umfasst das Repertoire der Schmerzsprache in den indoeuropäischen Kulturen nach Lehrl (1983) mehrere Tausend Wörter, während es nach Bagchi (1987) im Hebräischen,Arabischen,Afrikanischen, Japanischen, Koreanischen und Chinesischen nur ganz wenige verbale Ausdrucksmöglichkeiten für Schmerz gibt. Das im Chinesischen für Schmerz

153 Kapitel 8 · Kulturgeschichtliche Bedeutung des Schmerzes

Abb. 8.1. Schmerz – etymologische Beziehungen

gebräuchliche Wort „tong“ kann lediglich noch durch „mäßig“ oder „stark“ ergänzt werden, weitere Möglichkeiten „Schmerzqualitäten“ zu beschreiben, gibt es im Chinesischen nicht. Ots (1987) sieht einen Zusammenhang zwischen den geringeren linguistischen Ausdrucksmöglichkeiten und der in China viel seltener als bei uns geäußerten Beschwerde „Schmerz“. Der Bedeutungswandel des Wortes „Schmerz“ wird besonders deutlich, wenn es im Kontext neurophysiologischer, psychologischer, philosophisch-literarischer oder religiös-theologischer Diskussionen gebraucht wird. Die Implikation dieser „Sprachspiele“ (Degenaar 1979) für die interpersonelle und interdisziplinäre Kommunikation hat auch Konsequenzen für wissenschaftliche Aussagen und therapeutische Ansätze. Auch die averbalen expressiven Schmerzäußerungen sind kulturell bestimmt. So berichtet Fordyce (1982), dass die Reaktion von Eskimos auch auf extrem schmerzhafte Traumen wie das Abreißen eines Armes in Lachen besteht.

8

(Todd 1985). Hahnemann (1755–1843), der Begründer der Homöopathie, nennt 73 verschiedene Formen der Schmerzempfindung. Sauerbruch u. Wenke (1936) weisen auf die kommunikativen Schwierigkeiten im Beschreiben von Schmerzen hin, dessen Erlebnis- und Bewusstseinsdimension nur unzureichend zu vermitteln ist. Schon Locke hat in seinem Hauptwerk „Abhandlungen über den menschlichen Verstand“ diese Problematik zum Ausdruck gebracht: „Freude und Schmerz lassen sich wie andere einfache Ideen nicht beschreiben und ihre Namen nicht definieren; man kann sie ebenso wie die einfachen sinnlichen Ideen nur aus der Erfahrung kennenlernen“ (Sauerbruch u. Wenke 1936).

8.1.4

Schmerz als Kommunikationsphänomen

> Schmerzprävalenz wird durch die sprachlichen

Die Schlussfolgerung Bunges u. Ardillas (1990), „das Erlebnis Schmerz sprachlich nicht mehr zu definieren, da nur das Haben des Bewusstseinsinhaltes selbst eine umfassende Bestimmung erlaubt“, sind sicherlich zu verkürzt, auch wenn damit ein wichtiger Aspekt zum Ausdruck gebracht wird, nämlich, dass das Verstehen und die Verständigung über den Schmerz nur reduktionistisch durch Beschränkung auf seine einzelnen Komponenten bestimmt wird. Sicherlich kommen in verbalen Schmerzäußerungen in einer besonderen Weise sensorisch-kognitive, affektive und evaluative Komponenten zum Ausdruck, die auf kulturelle Determinanten verweisen (Abb. 8.2).

Möglichkeiten, Schmerzen auszudrücken, bestimmt.

> Sowohl die primären als auch sekundären bzw.

8.1.3

Terminologische Probleme

Ansätze, das Phänomen Schmerz zu definieren bzw. ihm terminologisch gerecht zu werden, finden sich in verschiedenen Systematisierungsversuchen, die bis ins Mittelalter zurückreichen. So unterscheidet schon Avicenna (980–1055) im Canon Medicinae (einer Enzyklopädie, die bis in das 17. Jahrhundert hinein Bestandteil des Unterrichtsprogramms an den medizinischen Fakultäten Europas war) 15 verschiedene Formen des Schmerzes, die auf Veränderungen in der Zusammensetzung der Körpersäfte zurückgeführt wurden

sensorisch-kognitiven und affektiv-evaluativen Schmerzbegriffe enthalten eine Vielzahl von ätiologischen Vorstellungen und emotionalen Inhalten.

Abb. 8.2. Schmerz und Sprache

154

Teil I · Grundlagen

In allen Reaktionen vokaler und nonvokaler Art und besonders den sog. sozialen und funktionalen Schmerzantworten, die die Verhaltensebene berühren, lassen sich kulturgeschichtlich bestimmte, kommunikative Bedeutungsaspekte erkennen, die in den letzten Jahren zunehmend Beachtung finden. Während die Definition der IASP (International Association for the Study of Pain) sich in einem hohen Maße noch auf die Annahme einer direkten Verbindung bzw. Übereinstimmung zwischen der Erlebensdimension des Schmerzes und der Fähigkeit zu verbaler Schmerzexpressivität stützt – wobei nach Merskey (1991) jedes Individuum den Gebrauch und die Bedeutung des Wortes „Schmerz“ durch eigene, in frühen Lebensperioden gemachte Verletzungen und Erfahrungen erlernt hat und versteht –, plädieren Anand u. Craig (1996) für eine Neudefinition des Begriffes „Schmerz“, der seine funktionelle und kommunikative Bedeutung stärker berücksichtigt. Als charakteristische adaptative ontogenetische Reaktionsform lebender Organismen soll sich die Bedeutung des Schmerzes auf unterschiedlichen Entwicklungsstufen durch spezifische kommunikative Signale manifestieren. Die kommunikative Spezifität behavioraler Reaktionen muss also in ihrem jeweiligen entwicklungsgemäßen Bedeutungszusammenhang erkannt, bewertet und ggf. behandelt werden. Sowohl in Schmerzgestik als auch im Schmerzverhalten finden sich auf unterschiedlichen individuellen und soziokulturellen Entwicklungsstufen ganz verschiedenartige Manifestationsformen (MüllerBusch 2001). Fehlinterpretationen von Körpersignalen, d. h. Störungen der intrapersonalen Kommunikation, aber auch Störungen der interpersonalen Kommunikation scheinen für den Prozess der Schmerzchronifizierung eine wichtige Rolle zu spielen.

8.2

Vorstellungen von Schmerz in verschiedenen Kulturepochen

8.2.1

Schmerz in „primitiven“ Kulturen

Während bei den Urmenschen Schmerzen, deren Ursachen direkt erkennbar waren – z. B. ein Dornenstich, der Biss eines Tieres, ein Sturz – als etwas Natürliches angesehen und mit primitiven Mitteln behandelt wurden, konnten Schmerzen, deren

Ursachen nicht beobachtbar waren – wie Kopfschmerzen, Zahnschmerzen, rheumatische Beschwerden – nur mit dem Wirken übernatürlicher Kräfte in Verbindung gebracht werden. Das Eindringen von magischen Gegenständen bzw. Dämonen durch die Körperöffnungen, Mund, Ohren, Nasenlöcher, aber auch durch die Haut, war die Erklärung für solche schmerzhaften Erkrankungen. Dazu kam die Ansicht, dass Schmerzen auch durch übernatürliche Fähigkeiten des Menschen selbst, durch Zauberei und Hexerei verursacht werden könnten. Magisch-dämonische Vorstellungen über die Entstehung von Schmerzen und Krankheiten kennzeichnen ein Weltbild, das auch heute noch in unterschiedlichen Formen bei den Naturvölkern Afrikas, Asiens und Lateinamerikas zu finden ist, z. B. in Neuguinea, Melanesien, Bali, aber auch bei den Navarro-Indianern und den Cuna-Indianern Panamas. Plenot (1986) bemerkt, dass sich die Krankheits- und Schmerzvorstellungen der Naturvölker nach unseren nosologischen Kriterien allerdings nicht beurteilen lassen. > Hauschild (1982) und Rush (1974) wiesen darauf hin, dass der Glaube an magisch-dämonische Kräfte, an den bösen Blick, an den Geister- bzw. Hexenschuss auch in modernen Kulturen, besonders in den europäischen Mittelmeerländern, durchaus noch eine lebendige Tradition hat.

Die Behandlung schmerzhafter Zustände in den primitiven Gesellschaften bestand darin, durch geeignete Heilrituale die mythisch angenommenen Zusammenhänge zwischen Schmerz, Betroffenem, Heilkundigem und Umwelt symbolisch zur Darstellung zu bringen, mit den Geistern zu kommunizieren und durch eine symbolische oder suggestive Extraktion des Dämons bzw. des in den Körper eingedrungenen Gegenstands eine Modifikation organischer Funktionen zu bewirken (LeviStrauss 1969). Die Extraktion des Leidens durch ekstatische Trance und schamanische Rituale, unterstützt durch den Gebrauch von Heilpflanzen – deren Bedeutung allerdings weniger in ihren pharmakologischen (halluzinogenen) Eigenschaften liegt als in den ihnen zugeschriebenen magischen Kräften – bildet auch heute noch bei vielen Naturvölkern die Grundlage der Behandlung von Krankheiten und funktionellen Beschwerden (Abb. 8.3).

155 Kapitel 8 · Kulturgeschichtliche Bedeutung des Schmerzes

8.2.2

Abb. 8.3. Schamane der Magar aus dem Zentralhimalaya

Wichtig für den Therapieerfolg scheint zu sein, inwieweit es gelingt, eine Identifikation des Kranken bzw. seiner Symptome mit dem schamanischen Zauber bzw. der rituellen Zeremonie zu erreichen. Dabei werden auch durch gruppendynamische Prozesse und suggestive Methoden affektive Situationen geschaffen, in denen Schmerzen in einem veränderten sozialen Zusammenhang erlebt und bewertet werden. Grossinger (1984) und Frank (1981) haben auf die Gemeinsamkeit der magischen Heilverfahren bei indianischen und afrikanischen Naturvölkern mit modernen Psychotherapien hingewiesen. LeviStrauss (1969) ordnet den Schamanismus zwischen Organmedizin und Psychoanalyse ein und charakterisiert die Psychoanalyse als moderne Form eines schamanischen Rituals. > Schamanische Rituale spielen bei Naturvölkern eine große Rolle in der Schmerzbehandlung.

8

Archaische und antike Hochkulturen

Auch das Schmerzverständnis in der babylonischassyrischen und altägyptischen Medizin beruhte noch auf magisch-religiösen Vorstellungen. Erstmals finden sich Beschreibungen von Kopf- und Gesichtsschmerzen (Tainter 1948; Sigerist 1955), die durch anthropomorphe Geister verursacht bzw. als Strafe für die Beleidigung von Göttern gedeutet wurden. Der Zusammenhang von Krankheitsursachen und Schmerz mit Sünde und Strafe hatte für Diagnostik und Therapie weitreichende Konsequenzen: Es galt nicht nur zu erkennen, welcher Art die Sünde war, sondern auch, wie die Gunst beleidigter Gottheiten wiedererlangt werden konnte. Die Babylonier glaubten, dass Schmerz, der an bestimmten Körperstellen auftrete, die Folge einer moralischen Verfehlung sei, für die die Gottheit diesen Körperteil fordere. Religiöse Waschungen, Gebete und Opfergaben ergänzten die magischen Zauberhandlungen, um die Beleidigung der Gottheit zu sühnen. Allerdings wurden die rituellen Handlungen auch durch empirisch-rationale Methoden zur Linderung körperlicher Beschwerden ergänzt. In den antiken Hochkulturen fanden sich erstmals Spezialisten, die für die Behandlung von Krankheiten und Schmerz zuständig wurden: Priesterärzte, die einerseits zwischen den beleidigten Göttern und den kranken, schmerzgequälten Sündern vermitteln sollten, andererseits aber auch die Aufgabe hatten, spezielle Therapieverfahren durchzuführen. Priesterärzte gab es in allen archaischen Hochkulturen, in Mesopotamien, Ägypten und China. > Nach Schipperges (1985) stellten die Priesterärzte den Beginn einer Professionalisierung der Heilberufe bzw. Institutionalisierung der Heilkunde dar, wobei die Orientierung gesundheitlicher Konzepte in den einzelnen Kulturen allerdings erhebliche Unterschiede erkennen ließ.

Während im alten Ägypten der Erhalt der Gesundheit Anliegen der priesterärztlichen Bemühungen war, stand die Welt des Kranken in Mesopotamien im Mittelpunkt der Therapie. Bei den Weden wurden Gesundheit und Krankheit auf

Teil I · Grundlagen

156

kosmische Zusammenhänge bezogen, im alten China auf die soziale Gemeinschaft. Procacci (1980) weist darauf hin, dass die besonders in den assyrisch-babylonischen und hebräischen, aber auch in der wedischen Kultur zu findenden Anschauungen über den Schmerz als Strafe für die Entwicklung einer christlichen Leidensethik eine wichtige Rolle gespielt haben. Trotz aller mystischen Anschauungen über die magischen Ursachen des Schmerzes gab es in den Hochkulturen auch Bemühungen, anatomische Strukturen für die Schmerzempfindungen zu finden. Die älteste Beschreibung über den Sitz der Schmerzempfindung findet sich im Papyrus Ebers, der ein Traktat über Anatomie und Physiologie des Herzens enthält und auf Kenntnisse aus der 3.–6. Dynastie (2660–2160 v. Chr.) verweist. Herz und Gefäße werden als Sitz der Seele, der Gefühle und des Schmerzes angesehen – eine Vorstellung, die sich auch in alten indischen Schriften findet (Todd 1985).

8.2.3

Schmerzvorstellungen in Griechenland

> Im Krankheitsverständnis der griechischen Antike hatten alle Krankheiten ihre Ursache in einer Unreinheit der Gedanken, die sich u. a. auch im Schmerz manifestierte.

Die Schmerzvorstellungen im antiken Griechenland lassen sich in den Schriften Homers und Sophokles v. a. an Beispielen der griechischen Mythologie erkennen. In der Ilias werden zwar verschiedene Formen des Schmerzes (penteos, kedos, algos, acheos, odune, pena) beschrieben, es findet sich jedoch kein Hinweis auf eine Unterscheidung zwischen somatischen oder psychischen Ebenen. Schmerzen werden selten in ihrer unmittelbar erlebten Intensität dargestellt, sondern in einer zeitlichen Dimension bzw. in dem Ausmaß, in dem eine Person auch in zeitlicher Hinsicht bestimmt wird und Schmerz unter zeitlichen Aspekten erlebt (Rey 1993). Neben der Deutung des Schmerzes als Götterzeichen bzw. als Strafe oder Fluch findet sich in Homers Ilias eine neue, funktionelle Bedeutung des Schmerzes als Alarmsignal: die Vorstellung des „bellenden Wachhundes von Gesundheit“ (Sauerbruch u. Wenke 1936). Bauer (1996) wies darauf hin, dass mit dem griechischen „algein“ nicht nur

eine passive Empfindung, sondern eine aktive Verhaltensweise gemeint war. Um die Mitte des ersten vorchristlichen Jahrtausends wurden in allen Kulturen die religiösmagischen Auffassungen über die Entstehung des Schmerzes durch rationales Denken ersetzt. Für die Entwicklung der modernen physiologisch orientierten Schmerztheorien besonders bedeutsam wurden die spekulativen philosophischen Aktivitäten im antiken Griechenland etwa 500–430 v. Chr. Während von Alkmeus, einem Schüler von Pythagoras und Anaxagoras aufgrund empirischer Untersuchungen das Gehirn als Träger aller Gefühle und des Verstandes angesehen wurde, war Empedokles der Auffassung, dass Blut und Herz Sitz des Denkens, der Gefühle und des Schmerzes seien (Procacci u. von Maresca 1984). Die physiologischen Überlegungen zum Problem des Schmerzes von Hippokrates, Demokrit, Platon und Aristoteles beruhten weniger auf empirischen Untersuchungen als auf philosophischen Spekulationen. Das hippokratische Modell der Schmerzentstehung stützt sich auf die von dem „Vater der Medizin“ begründete Säfte- und Temperamentenlehre, die im Corpus hippocraticum in der Schrift Über die Natur der Menschen formuliert wurde: Schmerz entsteht dann, wenn eine Dyskrasie der im menschlichen Körper bestehenden Säftekonstellation (Blut, Schleim, gelbe und schwarze Galle) eingetreten ist. Nach Platons und Demokrits Auffassung sind Empfindungen wie Schmerz, Freude und Berührung Eigenschaften der im Herz lokalisierten Seele. Sie werden durch das Eindringen atomarer Teile der Elemente Feuer, Erde, Luft und Wasser in das sterbliche Soma ausgelöst, wodurch Erregungen der unsterblichen Psyche entstehen. Auch für Aristoteles ist das Herz „sensorium commune“, Empfindungszentrum für Schmerz und andere Gefühle. Schmerz und Freude werden bei ihm allerdings nicht zu den von ihm erstmals beschriebenen 5 Sinnesqualitäten gezählt (Dallenbach 1939). Die hippokratische Humoralpathologie und Symptomatologie, Platons spekulative Ideenlehre und Aristoteles methaphysische Sinnesphysiologie haben das wissenschaftliche Denken in Medizin und Psychologie in Europa bis in die Neuzeit stark beeinflusst, wobei besonders die Empfindungslehre des Aristoteles eine dogmatische Bedeutung erlangte (Procacci u. Maresca 1984).

157 Kapitel 8 · Kulturgeschichtliche Bedeutung des Schmerzes

8

> Platons Ideenlehre und Aristoteles Sinnes-

> Die im antiken Griechenland begonnene Ent-

physiologie haben die Auffassungen über den Schmerz in der Neuzeit lange bestimmt.

mythisierung von Krankheit und Schmerz veränderte auch die therapeutischen Konzepte. In Homers Dichtungen finden sich keine Spuren mehr, die auf magische Behandlungsmethoden hinweisen (Baisette 1986).

8.2.4

Nervensystem und Schmerz – Galen

Die Vorstellungen römischer Gelehrter über den Schmerz, besonders von Celsus im ersten Jahrhundert vor Christus und Galen, bauten auf der hippokratischen Lehre, aber auch auf den empirischen und experimentellen Studien der Schule von Alexandria, v. a. von Herophilos und Erasistratos, auf. Mit zunehmender Kenntnis der Anatomie, physiologischer und pathologischer Vorgänge wurde Schmerz als Symptom pathologischer Mechanismen, z. B. einer Entzündung (Celsus), eingeordnet

und als diagnostischer Hinweis auf Erkrankungen innerer Organe gewertet. Galen lokalisierte aufgrund der anatomischen Ergebnisse von Herophilos und Erasistratos sowie mit Hilfe eigener Studien die Schmerzempfindung im zentralen Nervensystem und unterschied neben motorischen und sensiblen Nerven solche für den Transport von Schmerzen. Er nahm an, dass deren Hohlräume mit dem von Plato postulierten Seelenpneuma gefüllt seien. In seinem Hauptwerk De locis affectis wurden anhand unterschiedlicher Schmerzqualitäten – wie stechend, pulsierend, drückend und bohrend – wichtige diagnostische Kriterien zur Schmerzlinderung genannt, die er als göttliche Aufgabe („divinum est sedare dolorem“) charakterisierte. Galens Unvermögen – im Gegensatz zu Aristoteles – für die Seele keinen sicheren Sitz im Körper zu finden, hat nach Keele (1962) dazu beigetragen, dass seine wichtigen anatomischen und physiologischen Erkenntnisse über die Entstehung und Leitung von Schmerzen lange Zeit von der christlich dogmatisierten Wissenschaft ignoriert wurden. Mit dem Untergang des römischen Reiches war jedoch auch eine weitgehende Verschüttung empirisch-rationalen Wissens über die Mechanismen der Schmerzentstehung und wohl auch über analgetische Behandlungsmethoden verbunden. Hinweise über die Anwendung narkotisch und analgetisch wirksamer Substanzen finden sich in zahlreichen Dokumenten dieser Kulturepoche (Krantz 1978).

Aufbauend auf den von den Priesterärzten entwickelten empirischen Maßnahmen zur Schmerzlinderung haben Celsus und Galen die 3 Säulen der klassischen Therapie formuliert, die auch heute noch für interdisziplinär orientierte Ansätze in der Schmerztherapie Gültigkeit besitzen: Chirurgie, Pharmazeutik, Diätetik. Die klassische hippokratische Diätetik kann durchaus als Urform einer verhaltensorientierten Therapie angesehen werden, indem sie nicht nur auf die Veränderung bestimmter Ess- und Trinkgewohnheiten zielte, sondern sich auch auf ökologische, soziale und psychische Aspekte bezog. > Die griechische und römische Diätetik kann als Urform einer verhaltensorientierten Therapie angesehen werden.

8.2.5

Schmerz und christliche Leidensethik

Die frühe christliche Leidenslehre verwarf die tradierten Erkenntnisse der Ägypter, Griechen und Römer als heidnisch. Erneut wurde körperlicher Schmerz, den ja viele der verfolgten Christen selbst erfahren hatten, mystifiziert und in Analogie zum Leidensweg Christi als eigener Weg zur Erlösung gesehen. Die Ideologie des Schmerzertragens hat ihre Wurzeln allerdings nicht nur in der christlichen Glaubenslehre, sondern – wie Illich (1981) bemerkt – schon in den vorchristlichen Philosophien bzw. in neuplatonischen Vorstellungen, wobei stoische, epikureische und skeptische Elemente mit platonischen und aristotelischen Gedanken verbunden werden. Die Auffassung vom Schmerz als Strafe Gottes hat in den abendländischen christlichen Kulturen die Haltung zum Schmerz ebenso geprägt wie die Lehre vom Kismet als gottgewolltes Schicksal bei den Mohammedanern oder bei den Hindus die Idee des Karmas. > Wesentlicher Bestandteil der christlichen Leidenslehre ist die Vorstellung, dass das Ertragen

158

Teil I · Grundlagen

von Schmerzen als Zeichen innerer Kraft gelte und dass Erlösung letztlich nur durch die Gnade Gottes erlangt werden kann.

Im Glauben wird Schmerz zur Lebensform, wobei in bestimmten Ritualen, Meditationen, Gebeten, beim Handauflegen, Kreuzschlagen oder Reliquienverehrung sicherlich auch therapeutisch wirksame suggestive Elemente zu finden sind (Abb. 8.4). Besonders deutlich wird die christliche Wesensbestimmung des Schmerzes bei Thomas von Aquin. Für ihn sind Schmerzen und Freude gleichermaßen Eigenschaften der Seele, Leidenschaften („passiones“), die durch den menschlichen Willen, durch geistige Kräfte beherrscht werden können Sein Lehrsatz „der selige Genuss, der in der Beschauung göttlicher Dinge liegt, vermindert den körperlichen Schmerz, deshalb ertrugen Märtyrer ihre Qualen geduldiger, weil sie ganz in die Liebe Gottes versenkt waren“ (Thomas von Aquin: Summa theologiae III; Sauerbruch u. Wenke 1936) deutet an, welche Kraft dem Glauben bzw. mentalen Fähigkeiten für den Umgang mit Schmerzen zugeschrieben wurde. In keiner anderen Religion wur-

Abb. 8.4. Der Heilige Sebastian von Cosimo Tura, Gemäldegalerie Dresden

de Schmerz so sehr dogmatisiert, ideologisiert und als schicksalsmäßiger Bestandteil des Lebens angesehen wie im frühen Christentum. Brodniewicz (1994) hat darauf hingewiesen, dass die Aussage des Thomas von Aquin über Schmerz, Trauer, Freude und Lust und seine Anweisungen zum Umgang mit diesen Affekten auch in der modernen Psychotherapie aufgegriffen wurden und im Rahmen verhaltenstherapeutischer Behandlungskonzepte wieder Aktualität bekommen haben.

8.2.6

Das europäische Mittelalter – Paracelsus

Das europäische Mittelalter war gekennzeichnet durch die Beschränkungen, die die Kirche wissenschaftlichem, kulturellem und sozialem Leben auferlegt hatte. Menschen, die Substanzen zur Schmerzlinderung anboten oder einnahmen, wurden als mit dem Teufel im Bunde angesehen bzw. als Hexen verbrannt. Unter dem Dogma, dass Schmerz eine „Sündenkrankheit“ (Goebel 1982), aber auch ein Weg zur Läuterung sei, wurden alle Anstrengungen, Schmerzen zu lindern, als Versuche angesehen, sich Gottes Willen zu widersetzen. Die Vorstellungen und Bewertungen des Schmerzes bis zum 16. und 17. Jahrhundert waren im Wesentlichen durch das Gedankengebäude der christlichen Glaubenslehre und Ethik bestimmt. Jeder Versuch der Behandlung des Schmerzes, der als schicksalhaftes Phänomen im Rahmen einer universellen Gesamtordnung angesehen wurde, konnte nur im Zusammenspiel mit den außerhalb des Menschen wirkenden Kräften erfolgen. Auch von einem Außenseiter wie Theophrastus von Hohenheim, genannt Paracelsus (1493–1541), der mit seiner Lehre der 5 Entien oder Seinsbereiche ein eindrucksvolles kategoriales System geschaffen hat, die Welt des kranken Menschen theoretisch zu erfassen, wurden Krankheit und Schmerz in einen teleologisch-universellen Zusammenhang gestellt und der Arzt sogar als der „Vollbringer der Werke Gottes“ (Schipperges 1985) angesehen. Paracelsus’ Vorstellung einer auf den 4 Säulen Philosophie, Astronomie, Physik und Chemie begründeten Medizin kann als Übergang zwischen der antiken Säftelehre und einer langsam aufkei-

159 Kapitel 8 · Kulturgeschichtliche Bedeutung des Schmerzes

menden, naturwissenschaftlich orientierten, rationalen Krankheits- und Therapielehre eingeordnet werden. Schipperges (1985) weist mit Recht darauf hin, dass die auf einer umfassenden Naturphilosophie begründete eschatologische Entienlehre des Paracelsus gerade in der modernen Wissenschaftsgeschichte und bei den „Bemühungen“, Phänomene wie Krankheit, Gesundheit und Schmerz im Rahmen systemtheoretischer Modelle zu erklären, viel zu wenig gewürdigt wird. > Religiöse Dogmen bestimmten das Schmerzverständnis im Mittelalter.

8.2.7

Arabisch-islamische Beiträge zum Schmerzproblem

Außerhalb Europas wurden besonders in der arabisch-islamischen und hebräischen Medizin die griechisch-römischen Ideen zum Verständnis des Schmerzes pragmatisch weiterentwickelt. Das Werk Avicennas umfasst nicht nur eine nach rationalen Erklärungsmodellen und klaren nosologischen Kriterien gegliederte Krankheitslehre, sondern auch effektive Therapieverfahren. So wurden im Canon Medicinae für die 15 unterschiedenen Schmerzqualitäten kausaltherapeutische, lokalanalgesierende und bewusstseinsverändernde Behandlungsmethoden angegeben. Die Verwendung von Opium (Macht 1915), Mandragora, Bilsenkraut zur Anästhesie und Schmerzlinderung war in der arabischen Medizin weit verbreitet (Zimmermann 2001), während in Europa der Gebrauch narkotisch wirksamer Substanzen bis in das 13. Jahrhundert weitgehend unbekannt bzw. von kirchlicher Seite verboten war. Schmerzkonzepte von der Antike bis zur Neuzeit

쎔 쎔 쎔 쎔 쎔 쎔 쎔 쎔

Schmerz als Zeichen dämonischer Kräfte Schmerz als Strafe beleidigter Götter Schmerz als Dyskrasie der Körpersäfte Schmerz als Zeichen gestörter Diätetik Schmerz als Wächter und Hüter des Lebens Schmerz als Sinnesempfindung Schmerz als Prüfung Gottes Schmerz als Störung polarer Beziehungen

8.3

Vorstellungen von Schmerz in der Neuzeit

8.3.1

Entwicklung des mechanistischen Denkens

8

Bis in das 17. Jahrhundert wurde die Schmerzempfindung als eine Eigenschaft der Seele angesehen, die an unterschiedlichen Stellen des Körpers angesiedelt wurde. Bei Hippokrates und Aristoteles, in der relgiös-magischen Medizin und in der christlichen Leidenslehre tauchte die Frage nach den körperlichen Bedingungen des Schmerzes nicht auf, da – wie Toellner (1971), Illich (1981) und Rothschuh (1965) feststellten – es keinen von der Seele unabhängigen somatischen Bereich mit eigenen Gesetzen und eigener Ordnung gab. Dies änderte sich mit zunehmender Kenntnis anatomischer Strukturen, sodass nun auch systematisch nach den Mechanismen der Schmerzentstehung gesucht wurde. Während für Harvey (1578–1657) noch das Herz als Zentrum aller Gefühle und Emotionen galt und das zirkulierende Blut als Wohnsitz der Seele, hielt von Helmont (1577–1649), ein Nachfolger des Paracelsus, den Magen für den Sitz der Seele, des Bewusstseins, von Emotionen und von Schmerz (Todd 1985). Die Grundlagen für die modernen, physiologisch und psychologisch orientierten Schmerztheorien, die eine somatische und psychische Ebene unterscheiden, wurden im 17. Jahrhundert v. a. von Descartes (1596–1650) und Spinoza (1632–1677) sowie den englischen Empirikern, besonders Locke (1632–1704), gebildet. Die von Locke in der Auseinandersetzung mit Descartes entwickelte Assoziationstheorie, nach der alle Tätigkeiten der Seele durch besondere Reflexionen wahrgenommen werden können, hat die wissenschaftliche Behandlung des Themas „Schmerz“ ebenso bestimmt wie Descartes’ und Spinozas mechanistische Affektenlehre. > Descartes’ Trennung von erkennendem Subjekt und beobachtetem Objekt hat eine neue Epoche wissenschaftlicher Erkenntnisbemühungen eingeleitet, die durch ein rational-analytisches Herangehen an das Problem der Schmerzempfindung gekennzeichnet ist.

Obwohl die meisten Einzelaussagen Descartes’ zum Schmerz durch empirische Untersuchungen

Teil I · Grundlagen

160

nicht bestätigt werden konnten, hat der „cartesianische Dualismus“, d. h. die methodische Trennung des Leibes, der Körperwelt („res extensio“), von der Seele und dem Bewusstsein („res cogitans“), die im – mit einer Maschine verglichenen – menschlichen Organismus in komplexer Wechselwirkung miteinander stehen, für die Vorstellung von Schmerz als Alarmsignal für körperliche oder seelische Fehlfunktionen die entscheidende theo-

retische Grundlage gebildet.

8.3.2

Descartes und die Folgen

Auch wenn bei Descartes und in der von Spinoza weiterentwickelten Affektenlehre Schmerz als ein – wie alle Affekte – Phänomen der Seele bzw. des Bewusstseins dargestellt wird, welches seinen Sitz in der Epiphyse hat, hatte deren mechanistisches Schmerzverständnis weitreichende Folgen für die in der modernen Medizin und Psychologie entwickelten Vorstellungen. > Die „Umbewertung des Schmerzes“ (Toellner 1971) durch und nach Descartes führte dazu, dass Schmerz nicht mehr als schicksalhaftes Übel, sondern als etwas Nützliches, Gutes angesehen wurde, dessen biologisch-funktionelle Bedeutung es zu erkennen galt, indem – am Kausalitätsprinzip der Physik und Chemie orientierten Untersuchungsmodellen – der Schmerz in physiologische und psychologische Teilaspekte zur wissenschaftlichen Analyse zerlegt wurde.

Sicherlich hat das Paradigma Descartes’, Schmerz als leib-seelische Funktionsstörung anzusehen, für die Entwicklung differenzierter psychologischer, chirurgischer und pharmakologischer Behandlungsmethoden eine große Bedeutung erlangt – es hat aber auch zu einer oft unreflektierten Versachlichung in der Herangehensweise an das Phänomen Schmerz geführt, die seiner komplexen Problematik nicht immer gerecht wurde. Weiner (1986) und v. Uexküll (1986) haben Descartes gegen den Vorwurf in Schutz genommen, Urheber eines „medizinischen Dualismus“ zu sein, der z. B. in der Unterscheidung von seelischem und körperlichem Schmerz zum Ausdruck kommt, da gerade Descartes nicht nur auf die

komplizierte Wechselwirkung, sondern auch auf die Einheit von somatischem und psychischem Sein im Menschen hingewiesen hat. Auch wenn – wie Toellner (1971) bemerkt – in der Folge von Descartes eine Flut von physikotheologischer Literatur den Gedanken zu popularisieren versuchte, dass Schmerz nicht „Zeichen einer gefallenen Schöpfung“, sondern „Wächter und Hüter des Lebens“ sei, wurde bis in das 19. Jahrhundert hinein die Diskussion um die Bewertung der Schmerztherapie doch weitgehend von der noch teilweise von mittelalterlichen Vorstellungen geprägten Haltung der Kirche bestimmt. Die Geschichte der Anästhesie ist ein eindrucksvolles Beispiel dafür, mit welchen Widerständen die Einführung von analgetischen und anästhesiologischen Verfahren zur Geburtserleichterung bzw. zur Durchführung von Operationen im 19. Jahrhundert verbunden war, da in der konservativen Öffentlichkeit der Gebrauch von Narkotika als Verstoß gegen die Gesetze der Natur bzw. als Eingriff in natürliche Heilungsprozesse angesehen wurde (Pernick 1985). Auch die Auffassung, dass bittere Arzneimittel besonders „wirksam“ seien oder „dass Wunden schmerzen müssen, um zu heilen“, lassen sich auf vitalistische und mystische Konzepte zurückführen, die die biologisch-funktionelle Bedeutung des Schmerzes mit den Vorstellungen von Sünde und gerechter Strafe in Verbindung bringen. Bemerkenswert in der Folge von Descartes sind auch therapeutische Bemühungen zur Schmerzlinderung, z. B. durch Musik, wobei interessante physiologische Hypothesen – z. B. in einer Dissertation von Johann Christian Albrecht – formuliert wurden (Kümmel 1977), die im Zusammenhang mit modernen Erklärungsmodellen der Schmerzentstehung in der von Melzack u.Wall entwickelten Gate-control-Theorie in ähnlicher Form wieder auftauchen. > Für die Entwicklung differenzierter psychologischer, pharmakologischer und chirurgischer Behandlungsmethoden war der cartesianische Dualismus von großer Bedeutung, auch wenn Descartes selbst immer wieder auf die Einheit von somatischem und psychischem Sein im Menschen hingewiesen hat.

161 Kapitel 8 · Kulturgeschichtliche Bedeutung des Schmerzes

8.3.3

Schmerz als naturwissenschaftliches Problem

Die Profanisierung des Phänomens „Schmerz“ im 19. Jahrhundert kann auf die gewaltigen Veränderungen durch Industrierevolution, Agrarreform und soziale Bewegungen, aber auch auf die im Zuge der Aufklärung begonnene Befreiung der Wissenschaften von religiösen Dogmen und auf die Fortschritte in Physik, Biologie und Chemie zurückgeführt werden. Dies führte auch dazu, dass Medizin und Anästhesie nun zunehmend Anerkennung als soziale Errungenschaften fanden. Die moderne Zivilisationsgesellschaft ist ohne die im 19. und 20. Jahrhundert entstandenen Erkenntnisse zur „Schmerzentstehung“, durch differenzierte Möglichkeiten zur Schmerztherapie und durch die daraus resultierende Neubewertung des Phänomens „Schmerz“ nicht vorstellbar. Schmerz wurde zum eigenständigen Wissenschaftsbereich und zum Gegenstand zahlreicher empirischer und experimenteller Forschungen. (Zimmermann 2001). Unter der Vorstellung, dass Schmerz Ausdruck der hilfsbedürftigen Begrenztheit der menschlichen Existenz sei, konnte unter humanitären Aspekten eine Ethik der Schmerzbehandlung entwickelt werden, durch die im Laufe des 19. Jahrhunderts aus dem Problem der Bewältigung das seiner Beseitigung wurde (Illich 1981). Ende des 19. Jahrhunderts wurden unter physiologischen und psychologisch-philosophischen Aspekten 3 miteinander konkurrierende Theorien zur Erklärung des „Naturphänomens Schmerz“ diskutiert:

쎔 In der von Johannes Müller 1837 entwickelten – auf den Erkenntnissen von Aristoteles, Avicenna und Descartes aufbauenden – Spezifitätstheorie wurde Schmerz als „Empfindungsmodalität“ angesehen, die durch Erregung spezieller sensorischer Systeme hervorgerufen wird. 쎔 In der von Blix u. Goldscheider Ende des 19. Jahrhundertts begründeten Intensitätslehre galt die zentrale Summation taktiler Empfindungen als wesentliche Ursache der Schmerzwahrnehmung. 쎔 Beide Konzepte bildeten die Grundlage für die von Melzack u. Wall Mitte des 20. Jahrhunderts entwickelte Gate-control-Theorie der Schmerzentstehung (Melzack 1978).

8

Im Gegensatz zu den naturwissenschaftlichen Theorien Müllers, Blix’ und Goldscheiders standen die von der idealistischen und romantischen Naturphilosophie Schellings, v. Feuchterslebens, Schlegels und Novalis’ beeinflussten Vorstellungen, die im Schmerz ein affektives Begleitphänomen anderer Gefühlsempfindungen bzw. Schmerz und Freude als miteinander verwandte Phänomene sahen. Die Affekttheorie wurde in den USA Ende des 19. Jahrhunderts besonders von den Psychologen Marshall und Nichols vertreten, zu deren Bestätigung dann systematisch auch nach Nerven der Freude und Lust gesucht wurde (Dallenbach 1939). In der sinnes- und wahrnehmungsphysiologisch orientierten wissenschaftlichen Psychologie Wundts und Brentanos werden eine sensible Schmerzempfindung und ein affektives Schmerzgefühl unterschieden (Sauerbruch u. Wenke 1936). In der frühen Psychoanalyse Freuds werden somatischer und psychischer Schmerz streng voneinander unterschieden, wobei psychischer Schmerz in Beziehung zu Freude und Lust gesetzt wird und im Rahmen psychodynamischer und psychoenergetischer Prozesse gedeutet wird. Für ein Verständnis der funktionellen bzw. verhaltensmäßigen Dimension des Phänomens „Schmerz“ sind die Arbeiten des britischen Neurophysiologen und Nobelpreisträgers Sherrington (1857–1952) von Bedeutung. Obwohl auch bei ihm Schmerz als Wahrnehmungsphänomen verstanden wird, versuchte er – in Anlehnung an Darwins Evolutionstheorie und Virchows Zellulartheorie – Schmerz als integrativen Bestandteil des ZNS zu deuten, dem – in Form des Nozizeptorreflexes – eine eigenständige Schutzfunktion im menschlichen Organismus zugeschrieben wird. > Schmerzwahrnehmung ist die psychische Manifestation eines durch affektive und sensorische Komponenten bestimmten Reflexgeschehens.

8.3.4

Schmerz als Zivilisationsproblem

Illich (1981) hat darauf hingewiesen, wie sich im 20. Jahrhundert gerade durch die modernen iatrotechnischen, pharmakochemischen und psychotherapeutischen Möglichkeiten der Schmerzunterdrückung auch die Erfahrungen und Einstellungen zum Schmerz verändert haben. Gleichzei-

Teil I · Grundlagen

162

tig hat das Problem des Schmerzes eine zunehmende soziale und ökonomische Bedeutung erlangt (Sternbach 1986; Zimmermann u. Seemann 1986). Die inzwischen allgemein anerkannte Unterscheidung zwischen akutem und chronischem Schmerz kennzeichnet diese Situation: Die Anzahl

von Patienten mit schmerzhaften Befindlichkeitsstörungen, „Schmerzkrankheiten“, scheint trotz aller Erfolge der Spezialisten in der Behandlung akuter Schmerzen zuzunehmen. > Kallinke (1988) sieht einen Zusammenhang zwischen steigender „Algophobie“, verminderter Schmerztoleranz und zunehmend spezialisiertem schmerztherapeutischen Angebot, die zu einer passiven Anspruchshaltung des hilflosen zivilisierten Individuums geführt haben.

In zunehmender Anerkennung und in Berücksichtigung der Bedeutung kultureller und kognitiver Aspekte ist allerdings in den letzten Jahren auch eine Tendenz zu beobachten, die Verantwortung für den Umgang mit körperlichen Beschwerden wieder an den Leidenden, den Betroffenen, zurückzugeben, z. B. durch Selbsthilfetraining, das Erlernen von Copingtechniken, Biofeedback, aber auch durch „selbstkontrollierte“ Medikamentenapplikation.

8.3.5

Ansätze für ein neues Schmerzverständnis

Die auch für den Schmerz gültige These Kuhns, dass anthropologische Orientierungen und paradigmatische Voraussetzungen bestimmen, welche Aspekte der Wahrnehmung im Bewusstsein wirksam werden, haben auch dazu geführt, die als mechanistisch bzw. reduktionistisch charakterisierten Schmerzkonzepte des 19. und der 1. Hälfte des 20. Jahrhunderts stärker zu hinterfragen. So geht es nicht mehr darum, das Phänomen Schmerz nur als somatische oder psychische Funktionsstörung

zu analysieren, sondern als besonderes Bewusstseins- und Kommunikationsphänomen auf unterschiedlichen Ebenen zu verstehen. Sowohl für den akuten als auch den chronischen Schmerz gilt, dass dieser nicht nur durch die individuelle Disposition, die soziale Entwicklung und die Spezifität einer Erkrankung entsteht, son-

dern als „Empfindungserlebnis“ und „Verhaltensphänomen“ eine über die „individuelle Wirklichkeit“ hinauswirkende Erfahrung ist, die nicht nur die Lebenssituation des Einzelnen, sondern auch sein Lebensumfeld entscheidend bestimmt. Diese Determination ist jedoch nicht einseitig zu sehen: „Es ist nicht immer der Schmerz, der das Leben unerträglich macht, sondern häufig ist es umgekehrt, dass das Leben den Schmerz unerträglich macht“ (Bresler 1979). Anregende Vorstellungen zur Überwindung des mechanistischen Schmerzverständnisses finden sich bei Plügge (1962), besonders aber in der anthropologischen Medizin Victor v. Weizäckers (1986, 1987), der von einer „Ordnung der Schmerzen“ spricht und einen „Zerstörungs- und Werdeschmerz“ unterscheidet. Auch Georg v. Groddecks (1983) teleologisch gestellte Frage nach dem Sinn der Schmerzen verweist auf eine anthropologische Orientierung, die in der integrierten Psychosomatik von v. Uexkülls (1986), aber auch in systemtheoretischen Vorstellungen aufgegriffen und weiterentwickelt wurde (Buytendijk 1962; Engel 1977). Gemeinsam ist diesen „ganzheitlichen“ Schmerzmodellen, dass biologische und psychosoziale Determinanten des Schmerzerlebens miteinander verbunden werden und die Frage nach der Bedeutung des Schmerzes als Leib-Seele-Problem unter individuell existenziellen und kulturellen Aspekten als Erkenntnisproblem in der therapeutischen Beziehung mitberücksichtigt wird. Die Einführung systemtheoretischer Modelle zur Beschreibung biologischer, psychologischer und medizinischer Phänomene hat in der Auseinandersetzung mit mechanistischen und vitalistischen Vorstellungen in der Medizin auch dazu geführt, dass eine Neubewertung von traditionellen Behandlungsmethoden, z. B. von Akupunktur und Homöopathie, erfolgte und anstelle der Elimination des Schmerzes das Konzept einer angemessenen Schmerzbewältigung größere Bedeutung erlangte. Schmerzkonzepte der Neuzeit

쎔 Schmerz als körperliche Funktionsstörung

쎔 Schmerz als mechanisches Reflexgeschehen

쎔 Schmerz als innerpsychischer Konflikt 쎔 Schmerz als Störung regulativer Systeme

163 Kapitel 8 · Kulturgeschichtliche Bedeutung des Schmerzes

쎔 Schmerz als neurophysiologische Reak쎔 쎔

tion Schmerz als biopsychosoziales Phänomen Schmerz als Kommunikationsvorgang

> Traditionelle Behandlungsmethoden in der Schmerztherapie haben durch systemtheoretische und „ganzheitliche“ Schmerzmodelle eine Neubewertung erhalten.

8.4

Kulturelle und geistesgeschichtliche Aspekte

8.4.1

Bedeutung von Kultur

> Wolff u. Langley (1968) wiesen darauf hin, dass individuelles Schmerzerleben auch von soziokulturellen und ethnischen Faktoren abhängig ist.

So zeigte Zborowski (1952) in einer klassischen Studie an irischen, jüdischen, italienischen und amerikanischen Schmerzpatienten, dass sich diese in Schmerzwahrnehmung, Verhalten und Bewertung deutlich unterschieden. Amerikaner zeigten die höchste Schmerztoleranz, die jüdischen Schmerzpatienten das stärkste Deutungsbedürfnis und die Italiener das stärkste Verlangen nach symptomatischer Therapie. Auch Sternbach u. Tursky (1965) fanden in experimentellen Studien bei amerikanischen und irischen Frauen höhere Schmerztoleranzen als bei italienischen und jüdischen. Weisenberg (1982) berichtete über eine unterschiedliche Schmerztoleranz und Verhaltensunterschiede bei Puertoricanern, schwarzen

und weißen Amerikanern. Schiefenhövel (1980) führte die von ihm beobachtete höhere Schmerztoleranz bei den Eipos in Westguinea auf frühe Erfahrungen mit Initiationsriten in der Kindheit zurück. Craig (1980) wies auf die Bedeutung von Lernprozessen, der kulturellen Sozialisation, familiärer Determinanten und den Erwerb einer spezifischen Schmerzsprache für die Entwicklung einer unterschiedlichen Schmerztoleranz und eines unterschiedlichen Schmerzverhaltens hin.

8

> Besonders für die hochzivilisierte westliche Welt gilt, dass die hohe Bedeutung von Schmerz als Beschwerdesymptom beim Menschen auch durch die entwickelten Möglichkeiten der Kommunikation, v. a. von sprachlichen Ausdruckformen, zustande kommt.

Für ein Verständnis des Phänomens Schmerz im transkulturellen Vergleich sind ferner auch ethisch-religiöse Paradigmen bedeutsam, unter denen die individuelle Schmerzerfahrung bewertet und gedeutet wird. Sowohl in der christlichen als auch in der jüdischen Theologie gelten Schmerz und Leid als Folge des Sündenfalls, als Zeichen Gottes. Die christliche Haltung zum Schmerz kann sich sowohl in der Ideologie des Schmerzertragens manifestieren – die in der Verinnerlichung des Schmerzes, in asketischer Verweigerung jeder Hilfe, in büßender Erkenntnis die Nähe Gottes zu suchen – ihre extreme Ausdrucksform findet. Sie kann aber auch in der des Mitleids, in humanitärer Hilfe und Nächstenliebe ihre Entsprechung finden. Die Auffassung von Leiden als notwendigem Bestandteil des menschlichen Lebens auf dem Weg zur Erlösung und als Hinweis auf die Begrenztheit der menschlichen Existenz hat für das Verständnis der Schmerzerfahrung, für die Bewertung von Schmerztoleranz, aber auch für Therapieansätze in den christlich bestimmten Kulturen eine große Bedeutung bekommen. Im Islam gilt der Schmerz als Prüfung Gottes, die in Geduld und Ausdauer bestanden werden kann, wenn Schmerz im Vertrauen auf die göttliche Gnade als vorbestimmtes Schicksal ertragen wird. In der hinduistisch-buddhistischen Weltanschauung wird Schmerz als schicksalsmäßig dem Leben zugehörig angesehen und kann durch meditative Übungen beherrscht werden. Die „4fache Wahrheit vom Schmerz“ hat eine zentrale Bedeutung in der Lehre Gautama Buddhas, um den Weg zu Erleuchtung und Erlösung zu finden. So lässt sich auch verstehen, dass das geringe Vertrauen der Hindus in die moderne naturwissenschaftliche Medizin darin begründet ist, das diese keine Mantras, Meditationsübungen zur konzentrativen Entspannung, sondern nur Medikamente verschreiben. Pharmakologische Verfahren behindern jedoch die meditativen Anstrengungen, um die Transzendierung des Schmerzes zu ermöglichen (Pandya 1987).

Teil I · Grundlagen

164

In der chinesisch-konfuzianischen Tradition dagegen gelten Schmerz und Leiden keineswegs als göttliches Schicksal, sondern als Wesensmerkmal der menschlichen Existenz. Im Rahmen einer kosmischen Ordnung, in deren Mittelpunkt der Mensch selbst steht, wird Schmerz in seiner dynamischen Funktion in Beziehung zu den Gesundheit und Krankheit bestimmenden Regulationsprozessen gedeutet. Der westliche Leib-Seele-Dualismus ist der traditionellen chinesischen Denkweise fremd. Schmerz wird als Störung von Energieflüssen, von im Gleichgewicht stehenden polaren Beziehungen verstanden, wobei Krankheit und Schmerz in der traditionellen chinesischen Medizin anderer nosologischer Kriterien bedürfen. > Die Berücksichtigung chinesischer Vorstellungen über den Schmerz könnte allerdings dazu führen, einem umfassenden, von ganzheitlichen Vorraussetzungen getragenen Schmerzverständnis näher zu kommen (Tu 1987).

8.4.2

Künstlerische Kreativität und Schmerz

Menschliches Leid und Schmerz haben zu allen Zeiten künstlerische Kreativität und philosophisches Denken beeinflusst(Schipperges 1985; Morris 1991). Procaccii (1988) wies darauf hin, dass es fast 1000 Jahre lang ausschließlich religiöse Themen waren, in denen Schmerz in der bildenden Kunst zur Darstellung gebracht wurde. Beispiele für diese „ars patiendi“ sind die „Vertreibung aus dem Paradies“ von Massaccio (Abb. 8.5), Michelangelos „Pieta Palestrina“, die Werke Giottos. Erst im Barock wurden auch profanere Aspekte des Schmerzes dargestellt, so bei Breughel und Brouwer, auch in Caravaggios „Zahnextraktion“. Im 19. Jahrhundert finden sich dann sogar Karikaturen, z. B. bei Cruikshank oder bei Rolandson über Patienten mit Koliken und Gicht. Die bekanntesten künstlerischen Darstellungen im 20. Jahrhundert, die Schmerz zum Thema haben, sind Munchs „Der Schrei“ und Picassos „Guernica“. Besonders zu erwähnen ist auch die mexikanische Malerin Frieda Kahlo, die in ihrem nach einem schweren Verkehrsunfall entstandenen künstlerischen Schaffen ihr eigenes Schmerzerleben zum bestimmenden Thema gemacht hat.

Abb. 8.5. Vertreibung aus dem Paradies von Tommaso Masaccio, 1427, Florenz

> Lessing hat in seiner Schrift „Über die Grenzen der Malerei und Poesie“, in der er sich mit der im 16. Jahrhundert aufgefundenen Laokoonstatue beschäftigt, auf die Schwierigkeit der Kunst hingewiesen, Leiden und Schmerz zum Ausdruck zu bringen.

Tolstois großartige Novelle „Der Tod des Ivan Iljitsch“ ist vielleicht das beeindruckendste Beispiel in der Literatur, in der der schon im alten Testament im Buch Hiob gestellten Frage nach der Bedeutung des Schmerzes nachgegangen wird. In vielen Arbeiten, die sich mit der ethisch-religiösen und sozialen Dimension des Schmerzes für die Seinsbestimmung des Menschen beschäftigten, finden sich Hinweise auf Tolstoi. Auch Theodor Storms nachdenklich-ahnungsvolles Gedicht „Beginn des Endes“ ist ein Beispiel für die zahlreichen Versuche, eigenes Schmerzerleben in eine literarische Form zu bringen.

165 Kapitel 8 · Kulturgeschichtliche Bedeutung des Schmerzes

Novalis und Nietzsche bemühten sich um eine romantisch verklärte „Teleologie des Schmerzes“. „Jeder Schmerz ist eine Erinnerung unseres hohen Ranges“, schreibt der lungenkranke Novalis, für den „das schmerzliche Vergnügen zur Individualisierung“ beiträgt (Sauerbruch u. Wenke 1936). Auch für den wahrscheinlich an schweren Migräneanfällen leidenden Nietzsche gehörte körperlicher Schmerz zu den arterhaltenden Werten, dessen Sinn im Leben selbst zum Ausdruck kommt. Die Heroisierung des Schmerzes als aktives Lebensgefühl, die sich u. a. bei E. Jünger und N. Hartmann findet, entsprach einer in bürgerlichen Kreisen im ersten Drittels des 20. Jahrhunderts verbreiteten Idealisierung preußisch-spartanischer Einstellung. Bei Thomas Bernhard dagegen, der in seinem autobiographischen Roman „Der Atem“ in jungen Jahren selbsterlebte Krankheits- und Schmerzerfahrungen beschreibt, dient Schmerz der lebensnotwendigen Selbstfindung. Auch P. Noll versucht, in seinen „Diktaten über Sterben und Tod“ im Schmerz einen Sinn zu finden, der die Auseinandersetzung mit der Gegenwart ermöglicht.

Abb. 8.6. Schmerzzeichnung eines Patienten

8

Auch die Schmerztherapie hat durch die Kunst, insbesondere durch die Musik, schon von alters her immer wieder wichtige Anregungen bekommen (Kümmel 1977; Müller-Busch 1997). Unter dem Aspekt, dass Schmerz mehr ist als nur ein physiologischer Defekt, ist es deswegen nicht verwunderlich, dass die Aktivierung kreativer Potenziale durch künstlerische Therapien, die neue Erlebnisdimensionen eröffnen, zunehmend auch in der Behandlung von Patienten mit chronischen Schmerzen berücksichtigt wird (Abb. 8.6).

8.4.3

Philosophie und Schmerz

Degenaar (1979) und Schmitz (1985) haben auf die verschiedenen Ansätze, sich dem „Phänomen“ Schmerz aus philosophischer Sicht zu nähern, aufmerksam gemacht. Erkenntnistheoretische Überlegungen finden in den neueren Schmerztheorien allerdings nur wenig Berücksichtigung. Dabei gibt es in der – noch nicht geschriebenen – Geschichte der „Schmerzphilosophie“ viele Hinweise, die für ein erweitertes Verständnis des Phänomens

166

Teil I · Grundlagen

„Schmerz“ bedeutsam sind. So erscheint bei Kant der Schmerz als „Stachel aller Tätigkeiten“, für Pascal wurde er Ansporn zu intellektuellen Höchstleistungen, bei Fichte und Schelling wurde Schmerz transzendiert und als Impuls zur „dauernd kämpfenden Tätigkeit, durch die der Mensch erst seine Freuden und all seinen Genuss findet“, verstanden, bei Nietzsche wurde der Schmerz zum „Befreier des Geistes“, zum „Lehrmeister“, der den Philosophen zwingt, in die letzte Tiefe zu steigen“ (Schipperges 1985). Auch in der neueren Philosophie – bei Kierkegaard, Husserl, Heidegger, Merleau-Ponty und Jaspers – finden sich Beiträge, sich dem Problem des Schmerzes aus phänomenologischer und existenzphilosophischer Sicht zu nähern. In Puccettis (1975) Auseinandersetzung mit Buytendijks (1962) Wertbestimmung von Schmerz als „malum“ wird die Notwendigkeit von Schmerzen im Rahmen evolutionärer Prozesse infrage gestellt. Ontologische Bestimmungsversuche und philosophische Untersuchungen zur Wahrnehmungsproblematik von Schmerzen wurden von Bieri (1987) aufgegriffen, um am Beispiel des Schmerzes als gleichermaßen Seins- und Bewusstseinsphänomen die Sackgasse des ontologischen Dualismus aufzuzeigen. Angesichts der Tatsache, dass trotz aller Fortschritte die Illusion und Suggestion von Schmerzfreiheit eine Fiktion bleibt, muss jedoch auch die Relevanz philosophischer Überlegungen hinterfragt werden, wenn damit nicht auch eine Neubestimmung traditioneller Erkenntniswege verbunden wird. Vorraussetzung dazu ist die Einsicht, die „Selbstbefangenheit“, mit der wir dem Phänomen Schmerz begegnen – unter der Prämisse, dass er ganz selbstverständlich zu vermeiden, zu unterdrücken und auch zu bekämpfen ist – zunächst einmal auch als Resultat unserer kulturellen Sozialisation anerkennen und zu verstehen lernen. > Philosophische

und erkenntnistheoretische Überlegungen finden in den modernen Schmerztheorien nur wenig Berücksichtigung. Die philosophische Erkenntnis, dass das Erleiden von Schmerz nicht objektiviert werden kann, sondern die Einstellung dazu – die Art, wie sich der Betroffene und sein soziales Umfeld zum Schmerz verhalten – das Bewusstseinsund Kommunikationsphänomen „Schmerz“ entscheidend bestimmt, könnte dazu beitragen,

auch im therapeutischen Umgang mit dem Schmerz neue Wege zu finden.

8.5

Zusammenfassung

Schmerz und Leiden sind kulturell geprägte Bewusstseins- und Kommunikationsphänomene, deren Verständnis von einer kulturgeschichtlich orientierten Anthropologie nicht zu trennen ist. Die modernen Möglichkeiten der Schmerztherapie haben zu einer Medikalisierung des Phänomens „Schmerz“ geführt, durch das die kulturgeschichtlichen und geisteswissenschafltlichen Dimensionen häufig nicht ausreichend beachtet werden. Die Komplexität des Phänomens „Schmerz“ kann jedoch nur verstanden werden, wenn auch die historischen, kulturellen, philosophischen und anthropologischen Zusammenhänge unserer eigenen Sozialisation und „Selbstbefangenheit“ berücksichtigt werden.

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167 Kapitel 8 · Kulturgeschichtliche Bedeutung des Schmerzes

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chen eines speziellen Forschungsdefizits, sondern spiegelt bestimmte Überzeugungen unter Laien und Experten wider, nämlich dass Schmerz bei Kindern kein relevantes Problem sei.

physiologischen und -psychologischen Erkenntnisse zur Schmerzwahrnehmung bei Kindern dargelegt. Fünf Schmerzbereiche

werden unterschieden: Schmerz infolge akuter Traumen sowie medizinisch-diagnostischer und therapeutischer Interventionen, krankheitsbezogene Schmerzprobleme und funktionelle Schmerzbeschwerden. Die verschiedenen Methoden der Erfassung von Schmerzerleben bzw. Schmerzverhalten von Kindern ab Geburt

bis zum späteren Alter werden vorgestellt. Der Einsatz von therapeutischen Verfahren mit einem Schwergewicht auf psychosozialen Interventionen wird ausführlich beleuchtet, und zwar bei akuten Schmerzzuständen (z. B. nach Operationen) und bei rekurrierendem Schmerz, der krankheitsbedingt (z. B. bei Arthritis) oder funktionell (z. B. Kopfschmerz) sein kann.

So bestand lange die Überzeugung, dass neugeborene Kinder Schmerz nicht wahrnehmen und erleben können (Craig u. Gruneau 1991). Jüngste Untersuchungen haben hingegen gezeigt, dass scheinbar harmlose Schmerzreize bei Früh- und Neugeborenen das nozizeptive System über Monate bis Jahre ungünstig beeinflussen (Porter et al. 1999). Während chronischer Schmerz bei Erwachsenen seit langem ein Schwerpunkt der Forschung ist, wurde das Vorkommen chronischer oder wiederkehrender Schmerzbeschwerden bei Kindern, insbesondere wenn sie nicht als direkte Folge einer zugrundeliegenden Krankheit betrachtet werden können, überhaupt infrage gestellt. Neuere Untersuchungen zeigen dagegen, dass rekurrierende Schmerzzustände bei ca. 25 % der Kinder und Jugendlichen vorkommen (Perquin et al. 2000).

9.2 9.1

Einführung

Die Aufmerksamkeit, die dem Phänomen „Schmerz bei Kindern“ gewidmet wurde, war bis vor wenigen Jahren erstaunlich gering. Noch 1984 enthielt das Textbook of Pain von Wall und Melzack bei 800 Seiten Umfang nur ganze 3 Seiten zum Problem des „pediatric pain“. Im Jahre 1988 erschien in Deutschland ein erstes Buch über chronische Schmerzen im Kindesalter (Pothmann 1988) und 1994 ein Sammelband über Schmerz im Kindesalter (Petermann et al. 1994), das einen Schwerpunkt auf psychosoziale Aspekte legte.

Entwicklungsphysiologische und -psychologische Aspekte der Schmerzwahrnehmung

> Dass Kinder unmittelbar postnatal und sogar schon pränatal schmerzhafte Reize wahrnehmen und darauf mit einer Art Stressreaktion reagieren, ist heute eine gesicherte Erkenntnis (Tyler 1990).

Es gibt eine Reihe von Studien, die zeigen, dass neugeborene, sogar schon frühgeborene Kinder auf schmerzhafte Reize mit motorischen Reflexen, einer Erhöhung der Herzrate und Atemfrequenz sowie mit einer niedrigeren Sauerstoffsättigung des

172

Teil II · Modulatoren des Schmerzes

Blutes reagieren. Auch bestimmte mimische Reaktionen und das Schreiverhalten sind als schmerzspezifische Reaktionen identifiziert worden. Erkenntnisse der neurophysiologischen Forschung unterstützen die Schlussfolgerung, dass Menschen schon sehr früh in ihrer Entwicklung in der Lage sind, Schmerz wahrzunehmen. Selbst wenn die Myelinisierung der Nervenfasern, z. B. der bei der Nozizeption beteiligten A-Fasern, bei der Geburt noch nicht abgeschlossen ist, so existieren doch bereits die nichtmyelinisierten C-Fasern einschließlich ihrer zentralnervösen Verbindungen als ein wesentlicher Bestandteil des peripheren neuronalen Schmerzsystems. Dabei führt die zunehmende neuronale Reifung dazu, dass die Schmerzsensitivität zunächst etwa bis zum 3. Monat zunimmt, danach aber die Schmerzschwelle im Verlauf der Zeit eher wieder ansteigt. Dies könnte mit der stärkeren Aktivierung schmerzhemmender neuronaler bzw. humoraler Systeme zusammenhängen (Tyler u. Krane 1990; Sandkühler u. Benrath 2001). > Das nunmehr gesicherte Wissen, dass Neugeborene Schmerz wahrnehmen können, beruht wesentlich auf einer verfeinerten Methodik in der Erfassung von behavioralen und physiologischen Schmerzreaktionen bei Kindern. Diese sind von besonderer Bedeutung, da in diesem Alter die sonst so wichtigen verbalen Schmerzindikatoren ausfallen.

Das zunächst eher globale und diffuse Schmerzverhalten des Neugeborenen verändert sich infolge physiologischer Reifung und der psychosozialen Entwicklung bereits im ersten Jahr deutlich. Die Fähigkeit des Kleinkinds, den Schmerz zu lokalisieren und ein spezifischeres motorisches Abwehrverhalten zu initiieren, nimmt zu. Aufgrund der wachsenden Gedächtnisfunktionen kann Schmerz erinnert und antizipiert werden. Somit können Schmerz und Schmerzerwartung in verschiedenste Lernprozesse involviert sein, bei denen Angst und Vermeidung eine Rolle spielen. Schmerzinduzierte reflexhafte Verhaltensweisen und gelerntes Verhalten sind die Basis der Überlebensfunktion des Schmerzes. > Die früher angenommene Insensitivität von Säuglingen gegenüber Schmerz ist ein Mythos. Selbst unreife Frühgeborene nehmen Schmer-

zen wahr. Frühe „harmlose“ Schmerzreize können eine langfristige negative Auswirkung auf das Schmerzerleben von Kindern haben.

Mit der ab dem vollendeten 1. Lebensjahr einsetzenden Sprachentwicklung und der damit möglichen differenzierteren Kommunikation und Interaktion wird das Schmerzerleben und -verhalten in einen neuen sozialen Kontext gestellt. Das Kind erlernt Verhalten in Schmerzsituationen, welches unmittelbar durch familiäre Einflüsse geformt wird, aber auch von kulturellen Determinanten beeinflusst wird. Das Kind bildet besonders auch verbales Verhalten aus, mit dem es sich die maximale Zuwendung der Bezugspersonen sichern kann bzw. eine mögliche Bestrafung minimiert. So berichteten immerhin 30 % der 994 von Ross u. Ross (1984) befragten Kinder zwischen 5 und 12 Jahren von positiven Konsequenzen auf ihre Schmerzäußerungen. Ein ähnlicher Prozentsatz berichtete sogar von bewusstem Einsatz von Schmerzverhalten mit der Funktion der Vermeidung aversiver Ereignisse (z.B. Schreiben einer Klassenarbeit; Ross u. Ross 1988). > Schmerzausdruck bzw. -verhalten und subjektives Schmerzerleben können aufgrund solcher Lernprozesse dissoziieren.

Das Erleben eines eher schwachen Schmerzes kann mit ausgeprägtem Schmerzverhalten einhergehen, stark affektiv besetztes Schmerzerleben muss nicht von deutlichem Schmerzverhalten (z. B. Schonung) begleitet sein. Ebenso erlernen die Kinder bestimmte Formen von Schmerzbewältigungsverhalten, das wesentlich durch das familiäre Modellverhalten mitgestaltet wird. Aus den Ergebnissen verschiedener Studien ist zu schließen, dass Modelllernen ein wesentlicher Faktor bei der Entwicklung des Schmerzverhaltens ist, insbesondere bei chronischen Syndromen (Edwards et al. 1985). Auch Risikoverhalten bezüglich des Aufsuchens bzw. Vermeidens von Situationen, in denen es zu Schmerzerfahrungen kommen kann, entwickelt sich bereits in der vorschulischen Phase. Die Hypothese der „emotionalen Ansteckung“, die besagt, dass mütterliche (oder väterliche) Angst, vorrangig über nichtverbale Hinweisreize, direkt dem Kind kommuniziert wird und dort aversive Empfindungen auslöst, konnte mehrfach durch

173 Kapitel 9 · Schmerz bei Kindern

9

empirische Befunde gestützt werden (Melamed u. Bush 1985). Die kognitiven Schemata über Schmerz entwickeln sich im Zusammenhang mit der Sprachentwicklung. Zum Verständnis dieser Entwicklung wird vornehmlich auf das Modell von Piaget zurückgegriffen. In der sog. präoperationalen Phase, die mit einem Alter von 2–7 Jahren korreliert, ist das Schmerzkonzept des Kindes geprägt durch (Gedaly-Duff 1991): 쎔 Egozentrizität, 쎔 Konkretheit, 쎔 Einfachstruktur, 쎔 selektive Fokussierung, 쎔 transduktives Denken.

Das Kind kann über Veränderung der Bedeutung des Schmerzes seine Schmerzwahrnehmung ändern (die Spritze, die ein „Zaubermittel“ enthält, die einen stark und kräftig macht wie den „Helden“ der gerade gelesenen Geschichte, wird als weniger schmerzhaft und bedrohlich wahrgenommen.). Die konkreten Ursachen des Schmerzes werden genauer erfasst, etwa Krankheit, Dysfunktionen bestimmter Organe oder Unfälle.

So glaubt etwa das Kind, dass die Mutter den Schmerz im Bauch, den es selbst fühlt, auch sehen kann. Das Kind, das nach der Operation aufwacht, weint erst dann vor Schmerz, wenn es den Verband über der Wunde sieht. Kinder, die gefragt werden, was Schmerz ist, beschreiben ihn als „a sore thing“, „a thing that hurts“, „when you fall you get it“ (Ross u. Ross 1988). Das Kind, das eine Spritze bekommen soll, die ihm weitere Schmerzen beim medizinischen Eingriff erspart, fokussiert sein Denken nur auf den Einstich und berücksichtigt nicht die zu erwartenden positiven Effekte. Kinder halten in dieser Phase den Schmerz oft für eine Bestrafung für „böses“ ungezogenes Verhalten und nicht für die natürliche Folge eines Ereignisses z. B. eines Sturzes.

Heranwachsende (ca. ab 12 Jahren) wechseln nach Piaget in die Phase des formal-operationalen Denkens über. Die Fähigkeit zur Selbstreflexion setzt ein, Gedanken können selbst Gegenstand des Nachdenkens werden, logische Schlussfolgerungen können gezogen werden. Gaffney u. Dunne (1986, 1987) fanden, dass Kinder in diesem Alter in der Regel zwischen physischen und psychologischen Komponenten des Schmerzes unterscheiden und den aktiven Umgang mit dem Schmerz in den Vordergrund stellen. Zudem wird der eigene Erfahrungsschatz mit konkreten Schmerzereignissen immer größer. Dieser gewinnt bei der wachsenden Effizienz des Gedächtnisses wahrscheinlich immer mehr Einfluss auf das aktuelle Schmerzerleben und den Umgang mit schmerzhaften Erfahrungen. Die kognitiven Entwicklungslinien verlaufen allerdings nicht immer linear zum Alter, so dass die interindividuelle Varianz sehr hoch ist. Kognitive Konzepte sind zudem abhängig vom Typ des Schmerzes, über den Kinder befragt werden.

> Das Schmerzkonzept des Kindes verändert sich von der präoperationalen Phase (ca. bis 7 Jahre) über die konkret-operationale Phase (ca. bis 11 Jahre) bis hin zur formal-operationalen Phase (ab 11 Jahre) deutlich.

Im Schulalter (ca. 7–11 Jahre) entwickelt sich das Denken des Kindes nach Piagets Modell zum konkret-operationalen. Das Kind lernt, zwischen der eigenen Wahrnehmung und der Fremder zu unterscheiden. Es kann verschiedene Dimensionen einer Erfahrung unterscheiden und sowohl die Lokalisation als auch die Intensität, aber auch Qualität und Zeitcharakteristik des Schmerzgefühls beschreiben. Dabei benutzt es oft Analogien (Ross u. Ross 1988; z. B. „Schmerz ist wie ein Vulkan in deinem Ohr“ sagt ein 7-jähriges Mädchen über seinen Ohrenschmerz).

> Kindern in der konkret-operationalen Phase verwenden bereits auch kognitive Copingstrategien, die von Gedankenstopp und Ablenkung bis zu imaginativer Transformation reichen können (Ross u. Ross 1988).

> Schmerzverhalten, Schmerzangst und Schmerzbewältigungsstrategien unterliegen frühen Lernprozessen.

9.3

Typische Schmerzprobleme bei Kindern

Nach Varni (1990) können verschiedene Kategorien von Schmerzerfahrungen bei Kindern unterschieden werden, wobei die Kontext- bzw.

Teil II · Modulatoren des Schmerzes

174

Auslösebedingungen als Klassifizierungsmerkmal dienen.

Widerstand gegen die Gabe von schmerzstillenden Mitteln, insbesondere zentralnervös wirkender Analgetika vom Opioidtyp, besteht (Beyer et al. 1983).

Relevante Schmerzbereiche bei Kindern

쎔 Schmerz infolge akuter Traumen 쎔 Schmerz infolge medizinisch-diagnosti쎔 쎔

scher oder therapeutischer Eingriffe krankheitsbezogener Schmerz Schmerz bei psychophysiologischen Funktionsstörungen

Ehe im Folgenden auf die genannten Bereiche im Einzelnen eingegangen wird, soll auf eine weitere Differenzierung hingewiesen werden, die sich bei Erwachsenen als außerordentlich bedeutsam herausgestellt hat, nämlich die Unterscheidung in akuten und chronischen Schmerz. Auch Kinder weisen Schmerzen auf – und dies viel häufiger als früher angenommen –, die eher dem chronifizierten Typ, also häufig auftretendem oder persistierendem Schmerz, zuzuweisen sind. Chronische Schmerzsyndrome können auch bei Kindern zur Beeinträchtigung der Lebensqualität führen. Sie gehören v. a. den Kategorien, „krankheitsbezogener Schmerz“ (z. B. Arthritis) und „Schmerz infolge psychophysiologischer Funktionsstörungen“ an (z. B. Kopfschmerz).

> Kinder und Jugendliche erhalten meist keine ausreichende Schmerzmedikation.

Posttraumatischer Schmerz sollte allerdings nicht nur als ein rein medizinisch behebbares Phänomen gesehen werden, sondern ist eingebettet in einen psychosozialen Kontext, der eine spezielle Berücksichtigung erfordert. Verletzungen können erhebliche Ängste bezüglich Dauer, Art und Ausmaß der Beeinträchtigung bei Kindern hervorrufen, sie können einhergehen mit einem Gefühl der Hilflosigkeit und Kontrolllosigkeit. Sie können ebenso begleitet sein von massiven Schuldgefühlen, wenn die Verletzung bei Übertretung eines elterlichen Gebots aufgetreten ist. Ein damit verbundener Klinikaufenthalt kann die erstmalige Trennung vom Elternhaus bedeuten und erhebliche Trennungsängste auslösen. Im Zusammenhang mit traumatischen Schmerzereignissen ist bislang am intensivsten zum Verbrennungsschmerz geforscht worden. Dabei steht die durch die Behandlungsprozeduren erzeugte zusätzliche Belastung der brandverletzten Kinder im Blickpunkt. > Auch traumatisch bedingter akuter Schmerz

9.4

Schmerz infolge akuter Traumen

Traumata infolge von Unfällen sind wahrscheinlich die häufigste Schmerzursache bei Kindern. Sie sind in jedem Fall die häufigste Ursache für Tod im Kindes- und Jugendalter (Tyler 1990). Zu den wichtigsten Auslösern gehören Verkehrsunfälle, aber auch Sportunfälle und die intentionale Beibringung von Verletzungen unter den Kindern und Jugendlichen selbst bzw. durch physische Misshandlung durch Erwachsene. Aus medizinischer Sicht ist posttraumatischer Schmerz prinzipiell gut beherrschbar. Eine zeitlich begrenzte Analgetikaversorgung kann die Zeit bis zur „Ausheilung“ der Verletzung in der Regel überbrücken. Diese allerdings wurde und wird Kindern nicht immer zuteil, da Schmerz bei Kindern von den Betreuungspersonen eher unterschätzt wird und ein erheblicher psychologisch motivierter

ist in einem psychosozialen Kontext zu sehen, der bei der Behandlung zu berücksichtigen ist.

Schockeffekte aufgrund des Unfallereignisses, Schmerz durch die Verletzung selbst sowie aufgrund der medizinischen Eingriffe, Angst vor diesen Interventionen, die Befürchtung einer dauerhaften Beeinträchtigung oder Entstellung und schließlich die Effekte einer längeren Hospitalisierung bilden ein interagierendes System von Belastungsfaktoren, die bei der Behandlung der Kinder zu berücksichtigen sind. In einigen Fällen ist davon auszugehen, dass nur eine multidisziplinäre Herangehensweise unter Einschluss von psychosozialen Experten ein adäquates Behandlungsangebot darstellt.

175 Kapitel 9 · Schmerz bei Kindern

Schmerzen infolge medizinisch-diagnostischer und therapeutischer Interventionen

9.5

Dieser Bereich pädiatrisch relevanter Schmerzsyndrome weist einen engen Bezug zu den zuvor diskutierten Schmerzphänomenen auf. Es handelt sich hier in der Regel eher um Schmerzereignisse, die einmalig sind oder sich in mehr oder weniger größeren Abständen im Verlaufe des Lebens wiederholen können, wie z. B. chirurgische Eingriffe. Es zeigt sich aber auch zum Teil ein fließender Übergang zu rekurrierenden Schmerzformen, wenn es um sich häufig wiederholende Ereignisse geht, etwa um invasive medizinische Maßnahmen wie z. B. Injektionen verschiedener Art oder Lumbalpunktionen im Gefolge einer Krebserkrankung. Typische Schmerzsituationen bei Kindern und Jugendlichen im Zusammenhang mit medizinischen Interventionen

쎔 쎔 쎔 쎔 쎔 쎔

Verabreichung von Injektionen Legung von intravenösen Kathetern Lumbalpunktionen Knochenmarkentnahmen Verbandwechsel bei Brandverletzungen Zahnärztliche Behandlungen

Bei den medizinischen Interventionen handelt es sich um invasive Methoden, die in der Regel antizipatorisch Angst auslösen. Die Angst kann über die Wahrnehmung eines Modells, etwa eines kindlichen Mitpatienten, oder auch im Sinne der „emotionalen Ansteckung“ durch eine geängstigte Bezugsperson und/oder durch aversive Konditionierung bei der Prozedur selbst erzeugt werden. Die Angst verstärkt den Schmerz, Schmerz erhöht die Angst. Folge ist das Auftreten von „disstress“ als Konglomerat beider Prozesse. Disstress kennzeichnet zunächst das subjektive Leiden des Kindes, führt aber auch aufgrund der damit verbundenen Desorganisation des Verhaltens des Kindes zu einer mehr oder weniger großen Störung der medizinischen Prozeduren. Dies kann wiederum zur Erschwerung und Verlängerung des schmerzhaften Eingriffs und zur Verstärkung der negativen emotionalen Folgen führen. Ältere Kinder zeigen bei medizinischen

9

Eingriffen in der Regel weniger Schmerzverhalten als jüngere Kinder. Zwischen Jungen und Mädchen gibt es keine deutlichen Unterschiede, wie eine Studie von Fowler-Kerry u. Lander (1991) an 180 Kindern im Alter von 5–18 Jahren zeigt, die einer intravenösen Injektion unterzogen wurden. > Kinder bis zu 7 Jahren zeigen bei Anwesenheit der Mutter mehr Schmerzverhalten.

Sie präferieren aber dennoch die Anwesenheit der Mutter in großer Mehrheit (83 %; Gonzalez et al. 1989). Schmerzverhalten kann demnach unter diskriminativer Stimuluskontrolle stehen, so dass es bei Verstärkungserwartung (Zuspruch, Tröstung) vermehrt gezeigt wird. Ehe nun der Schluss gezogen wird, dass es günstiger sei, Kinder ohne die Eltern zu behandeln, wäre zu prüfen, ob nicht, anders als das Verhalten, das emotionale Schmerzerleben des Kindes durch die Anwesenheit der Eltern gemildert wird und somit nachträgliche negative emotionale Effekte vermieden werden. Kusch u. Bode (1994) verweisen in diesem Zusammenhang auf die notwendige Differenzierung der zeitlichen Situationsaspekte und Folgen medizinischer Interventionen. Während kurzfristig die Bewältigung der schmerzhaften Prozedur durch das Kind im Vordergrund steht, geht es langfristig um die emotionale Verarbeitung des schmerzhaften Ereignisses, die sich positiv oder negativ auf die Entwicklung des Kindes auswirken kann. Betrachtet man gesondert den postoperativen Schmerz, so wird immer wieder hervorgehoben, dass die postoperative Analgesie besonders bei Kindern höchst mangelhaft ist (Tyler 1990). Nur 25–30 % der Kinder im Vergleich zu 70 % bei den Erwachsenen erhalten eine angemessene analgetische Versorgung. Oft bekommen Kinder die von Ärzten verschriebenen Medikamente durch das Pflegepersonal nicht, da dieses generell pharmakologische Schmerzinterventionen bei Kindern nur mit Vorbehalt akzeptiert. Dies geschieht wahrscheinlich im Wesentlichen aufgrund der Überzeugung der Schädlichkeit dieser Art von „Drogen“ für Kinder. Ein weiterer Grund ist das Fehlen einer systematischen Erhebung der Schmerzintensität. So deutet das Pflegepersonal etwa Passivität und Apathie nicht als Folge von Schmerzen, sondern eher als Indikator der Schmerzfreiheit. Eine Reihe von Studien zeigt, dass schon Kinder ab 7 Jahren mit der sog. patientenkontrollier-

176

Teil II · Modulatoren des Schmerzes

ten Opioidanalgesie (PCA oder On-demand-

Analgesie) gut zurechtkommen (Berde et al. 1991) und keine unerwünschten Nebeneffekte auftreten. > Bei Schmerz durch medizinische Interventionen ist die analgetische Versorgung deutlich zu verbessern und sind die psychosozialen Möglichkeiten der Schmerzminderung (z. B. durch Ablenkung, imaginative hypnotische Transformation, Selbstkontrolle) auszuschöpfen.

Neben dem Schmerz durch Verbrennungen ist deren Behandlung eine höchst schmerzhafte Prozedur (Maron u. Bush 1991). Der meist 2-mal täglich vorgenommene Wechsel der Verbände, die Offenlegung der Wunde, wobei oft Verband- und Salbenreste aus der Wunde entfernt werden müssen, die Säuberung der Wunde von Geweberesten sind extrem belastende Interventionen, die dazu noch zu einer massiven Konfrontation mit der Verletzung und Entstellung des Körpers führen.Auch die Hydrotherapie zur antibakteriellen Behandlung und „Einweichung“ der Haut ist sehr schmerzhaft. Die in späteren Phasen notwendige Physiotherapie zur Wiederherstellung bzw. Erhalt der Beweglichkeit verbrannter Körperregionen kann nur unter Schmerzen durchgeführt werden.

fahren eingesetzt und auf ihre Wirksamkeit überprüft worden sind. Ob in der zahnärztlichen Behandlung wirklich der Schmerz selbst das aversivste Ereignis darstellt, ist durchaus fraglich. Andere prozedurale Aspekte, wie die Schwierigkeit des Schluckens bei aufgesperrtem Mund, die schrillen Geräusche des Bohrers, die Hilflosigkeit, bedingt durch die halbliegende Position, und die Behinderung der sprachlichen Kommunikation, machen die gesamte Situation äußerst belastend. Bei Zahnarztbesuchen ist auch die „Angstansteckung“ durch Erwachsene besonders hoch einzuschätzen, da die Mehrheit selbst Angst vor einer zahnärztlichen Behandlung hat. So trägt beim Bohren letztendlich der oft nicht vorhersehbare, intermittierend auftretende Schmerz oder der Verletzungsschmerz zum Gesamtdisstress bei. In diesem Bereich existiert eine besonders eindrucksvolle Forschungsvielfalt zu psychologisch fundierten Interventionen, die neben anästhetischen Prozeduren (Vereisung, Lachgas) zur Verbesserung der Bewältigung der Situation und Minimierung negativer Folgen eingesetzt worden sind (Breuker u. Petermann 1994).

Krankheitsbedingte Schmerzprobleme

9.6

> Die subjektive Einschätzung der Kinder dazu, ob eine Behandlung „gut“ oder „schlecht“ für sie ist, hängt stark von deren Schmerzhaftigkeit ab und damit letztendlich auch die Kooperation der Kinder mit den Behandlern.

Die Beobachtung anderer Kinder, die sich gegen die Behandlung wehren und schreien, wirkt sich negativ aus. Auch glauben Kinder zum Teil schreien zu müssen, damit das Pflegepersonal überhaupt bemerkt, dass sie unter Schmerzen leiden. Somit kommt für alle Beteiligten ein höchst unangenehmer Aufschauklungsprozess in Gang. Im Zusammenhang mit Tumorerkrankungen ist insbesondere die Bedeutung der Lumbalpunktion und der Knochenmarkentnahme bei hämatologischen Tumorerkrankungen untersucht worden. Eine zufriedenstellende pharmakologische Intervention ist aus verschiedenen Gründen bei diesen Prozeduren schwierig (Manne u. Anderson 1991), so dass insbesondere in den USA und Kanada psychologische Interventionen zur Schmerzlinderung und zur Minderung der Aversität der Ver-

Im Folgenden sollen im Wesentlichen chronische, d. h. anhaltende oder rekurrierende Schmerzbeschwerden infolge von Primärerkrankungen betrachtet werden. Krankheiten, die am häufigsten mit Schmerzen von chronischem Charakter in Zusammenhang stehen (nach McGrath u. Unruh 1987)

쎔 쎔 쎔 쎔 쎔

Juvenile Arthritis Hämophilie Sichelzellenanämie Tumorerkrankungen Reflexdystrophie (oder komplexes regionales Schmerzsyndrom)

Juvenile Arthritis in ihren unterschiedlichen For-

men gehört mit einer geschätzten Inzidenz von 1,1 auf 1000 Kinder pro Jahr zu den häufigsten chroni-

177 Kapitel 9 · Schmerz bei Kindern

schen Störungen im Kindesalter. Sie beginnt meist im 1.–3., in aller Regel jedoch vor dem 6. Lebensjahr (Truckenbrod u. von Altenbockum 1994). Die Krankheit befällt das Bindegewebe in den Gelenken und führt zu Schwellungen, Steifheit der Extremitäten, v. a. der Füße, der Hände, der Ellbogen und der Kniegelenke, was langfristig mit einer dauerhaften Schädigung der Gelenke einhergeht. Diese Prozesse sind äußerst schmerzhaft und führen zu Schonhaltung und Vermeidungsverhalten, die wiederum zu weiteren Schmerzen Anlass geben können (z. B. über Muskelverspannungen, Bänderdehnungen). Klinische Untersuchungen weisen darauf hin, dass der arthritische Prozess für Erwachsene mit mehr Schmerzen verbunden ist als für Kinder, wobei ältere Kinder wiederum mehr Schmerz angeben, vermutlich, weil sie die Bedrohung durch die Krankheit genauer einschätzen können als jüngere Kinder (Beales et al. 1983). > Die Krankheitsaktivität, definiert anhand verschiedener medizinischer Kriterien, korreliert nur mäßig mit der subjektiven Schmerzeinschätzung (Truckenbrod u. von Altenbockum 1991).

Hämophilie ist eine Störung der Blutgerinnung, bei der Episoden interner Blutungen auftreten können. Wenn diese Blutungen in Gelenken auftreten, führen sie zu akuten und langfristig u. U. zu überdauernden Schmerzen. Die Bewältigung der chronischen Schmerzen mittels psychologischer Methoden ist nach Walco u. Varni (1991) wichtig, um nicht durch eine hohe Analgetikagabe die Signalfunktion der akuten Schmerzattacken infolge von Blutungen zu eliminieren. Der akute Schmerz ist das wichtigste Signal für eine spezifische, zeitbegrenzte, intravenöse, auf Verbesserung der Gerinnung des Blutes gerichtete Therapie. Sichelzellenanämie stellt eine eher seltene, genetisch bedingte Abnormität des Hämoglobins mit einer sichelförmigen Ausprägung der roten Blutkörperchen dar, die häufiger unter Afroamerikanern beobachtet wird. Sichelzellen führen zu einer reversiblen Okklusion der kapillaren Blutgefäße, was mit milden, aber auch extrem heftigen Schmerzattacken einhergehen kann. In der Untersuchung einer Stichprobe von 50 an Sichelzellenanämie erkrankten Kindern kamen bis zum Alter von 5 Jahren ca. 2,3 Hospitalisationen pro Jahr

9

wegen der Schmerzattacken vor, im Alter von 12–16 Jahren noch 1,3 Krisen dieser Art, wobei milde bis mittlere Schmerzintensitätsgrade ein- bis 2-mal im Monat vorkamen (Shapiro et al. 1990). Der Begriff der Reflexdystrophie, oder nach dem heutigen Sprachgebrauch „komplexes regionales Schmerzsyndrom“ (CRPS), kann auch bei Kindern auftreten (Olson et al. 1990; Sherry et al. 1999). Der Begriff kennzeichnet ein sehr schmerzhaftes, sympathisch unterhaltenes Syndrom, das oft nach akuten Traumen von Extremitäten, z. B. nach einem Unterschenkelbruch, auftritt. Hierzu gibt es allerdings bis heute kaum Erkenntnisse aus Untersuchungen bei Kindern und Jugendlichen. Bei Tumoren treten neben interventionsabhängigen Schmerzen auch Schmerzen auf, die tumorbezogen, also krankheitsbedingt sind. Man schätzt diesen Anteil auf ca. 60 % der kindlichen Neoplasien. Der Schmerz ist vielfältig bedingt: durch das verdrängende infiltrierende Wachstum sowie Entzündungen und Durchblutungsstörungen, die zu Nozizeption führen können. Allerdings dominiert meist der interventionsbezogene Schmerz (Miser 1990).

9.7

Schmerz bei psychophysiologischen Funktionsstörungen

Die häufigsten funktionellen Schmerzen bei Kindern und Jugendlichen

쎔 Migräne und Kopfschmerz vom Spannungstyp

쎔 Rekurrierender Bauchschmerz 쎔 (Rückenschmerz)

Kopfschmerz, insbesondere der rekurrierende und

der Dauerkopfschmerz, ist neben dem nicht krankheitsbedingten Bauchschmerz die häufigste funktionelle chronische Schmerzstörung bei Kindern. Der Vergleich von älteren epidemiologischen Studien mit neueren Untersuchungen zeigt, dass die Prävalenz (mindestens einmaliges Auftreten eines Kopfschmerzes) von ca. 45 % auf 70–90 % bei Kindern zwischen 6 und 16 Jahren gestiegen ist (Pothmann et al. 1994). Auch ein deutlicher Anstieg chronischer (häufig wiederkehrender

178

Teil II · Modulatoren des Schmerzes

oder dauerhafter) Kopfschmerzen ist erkennbar. Sillanpää (1976) findet bei 4–5 % finnischer Kinder Kopfschmerzen, die mindestens einmal pro Woche auftreten, 1996 sind jedoch schon doppelt so viele Kinder betroffen (Sillanpää u. Antilla 1996). Bedeutsam ist auch der Befund von Bille (1982), dass ca. 60 % aller Kinder mit Migräne diese in ihr Erwachsenenalter „mitnehmen“. Dies bedeutet, dass nicht angemessen behandelter kindlicher Kopfschmerz in einem sehr hohen Ausmaß die Tendenz zur Chronifizierung über Jahre und Jahrzehnte hat. > Die Prävalenz von Kopfschmerz bei Kindern und Jugendlichen ist in den letzten 3 Jahrzehnten stark gestiegen.

Die meisten epidemiologischen Studien zeigen, dass Mädchen insgesamt höhere Prävalenzraten aufweisen als Jungen, zumindest ab einem Alter von etwa 10 Jahren (Pothmann et al. 1994). Dies gilt besonders für die Migräne. Insgesamt hat aber Kopfschmerz vom Spannungstyp den größten Anteil am Kopfschmerzgeschehen. Ein hoher Leidensdruck ist nach Ergebnissen der deutschen Studie bei mindestens 5–6 % der Kinder von 8–15 Jahren anzunehmen. Weitere 10 % der Kopfschmerzkinder sind durch Chronifizierung bedroht und beratungsbedürftig. Die epidemiologischen Daten zeigen damit eindeutig die hohe gesundheitspolitische Relevanz dieser Störung auf. Die beiden Hauptformen des primären Kopfschmerzes, Migräne und Kopfschmerz vom Spannungstyp, sind bei Kindern oft weniger gut trennbar. Bei 20–30 % ist keine klare Diagnose zuzuordnen. Die Unilateralität der Migräne ist seltener, ebenso wie Aurasymptome weniger häufig auftreten. Auch dauert ein Migräneanfall meist nicht so lang wie bei Erwachsenen. Anhaltender Bauchschmerz kann in seltenen Fällen auch klar identifizierbare organische Ursachen haben. Scharff (1997) schätzt deren Anteil auf ca. 5–10 % aller Fälle. Die möglichen Ursachen sind vielfältig und reichen von gastrointestinalen Dysfunktionen über Nahrungsmittelunverträglichkeiten, gynäkologische Beschwerden, Tumoren, chronische Infektionen, Stoffwechselanomalien, Komplikationen nach Traumata und hämatologische Krankheiten bis hin zu neurologischen Störungen.

> Somit muss in jedem Fall eine sorgfältige medizinische Diagnostik erfolgen.

Rezidivierender

idiopathischer

Bauchschmerz

(RIB bzw. „recurrent abdominal pain“, RAP) wurde in der bahnbrechenden Arbeit von Apley (1975) definiert und eingegrenzt. Um RIB zu diagnostizieren, dürfen keine organischen Verursachungsfaktoren ermittelbar sein. Weiterhin müssen mindestens 3 Episoden in den letzten 3 Monaten aufgetreten sein, die die psychosozialen Aktivitäten der Kinder beeinträchtigt haben. Die Schmerzen sind interindividuell und auch intraindividuell meist sehr variabel hinsichtlich Lokalisation, Qualität und Intensität. Sie gehen oft einher mit anderen gastrointestinalen Beschwerden. Im Weiteren ist charakteristisch, dass eine Reihe von Behandlungsversuchen ohne Erfolg geblieben sind. Epidemiologische Untersuchungen (Scharff 1997) zeigen, dass die Prävalenz von RIB bei 8–12 % liegt. Vor dem 5. Lebensjahr ist die Häufigkeit deutlich geringer, während die Spitzenprävalenz etwa bei 8–10 Jahren liegt. Mädchen sind dabei etwas häufiger betroffen. Scharff (1997) wendet sich explizit gegen die Kennzeichnung des chronischen Bauchschmerzes als psychogenes Phänomen. Sie fordert auch hier eine biopsychosoziale Sichtweise ein, wie sie beim Kopfschmerz, dessen biologische Mechanismen allerdings genauer verstanden werden, schon Verbreitung gefunden hat. Lange Zeit dachte man, dass Rückenschmerz nur ein Beschwerdebild von Erwachsenen sei. Eine neuere epidemiologische Studie von Taimela et al. (1997) aus Finnland zeigte, dass schon 18 % der Jugendlichen zwischen 14 und 16 Jahren von rekurrierendem Rückenschmerz berichteten. Lassen sich diese Zahlen in weiteren Studien bestätigen, müsste Rückenschmerz bei Kindern und Jugendlichen zu einem wichtigen Forschungsthema werden.

9.8

Psychologische Aspekte von Kopf- und Bauchschmerz

Bei beiden Syndromen, chronischem Kopf- wie Bauchschmerz, wird angenommen, dass psychologische Faktoren die Auftretenshäufigkeit und Schwere des Symptoms modulieren. Es gibt es eine Reihe von Studien, die auf eine hohe Ängstlichkeit

179 Kapitel 9 · Schmerz bei Kindern

und depressive Verstimmtheit der Kinder hinweisen (Mc Grath 1990). Es ist aber deutlich erkennbar, dass Kinder diesbezüglich vom Mittel einer schmerzunbelasteten Stichprobe weniger abweichen als dies erwachsene Kopfschmerzpatienten tun (Smith et al. 1991). Es bleibt ohne prospektive Studien unklar, ob die genannten Merkmale als Disposition oder Reaktion auf die Störung zu verstehen sind. > Unbestritten ist, dass Stressbelastung eine wesentliche Rolle sowohl bei Kopf- als auch bei Bauchschmerz spielt. Pothmann et al. (1994) beschreiben neben Erkältungskrankheiten „Belastungen in der Schule“ und „Ärger“ als die hauptsächlichen Auslösefaktoren.

Auf die Bedeutung sozialer Einflüsse, insbesondere der Familie, wurde schon eingangs hingewiesen. Es gibt eine Reihe von Befunden, die zeigen, dass die Eltern von Kindern mit funktionellen Schmerzen auch selbst unter Beschwerden, insbesondere chronischen Schmerzbeschwerden, leiden. Mikail u. von Baeyer (1990) fanden, dass Kinder aus „Schmerzfamilien“ eine deutlich höhere somatische Fokussierung aufweisen und dass sie im Ausmaß der Beschäftigung mit Gesundheit und Krankheitsproblemen eine große Übereinstimmung mit dem chronisch schmerzkranken Familienmitglied zeigen. Auch wird vermutet, dass die Familieninteraktion, z. B. Überprotektivität der Eltern, Spannungen zwischen Ehepartnern, ängstliche Überbeschäftigung mit Gesundheitsproblemen, Defizite im Problemlösen oder Rigidität, eine bedeutsame Rolle spielen. Nach der Lerntheorie von Fordyce sind operante Prozesse aufrechterhaltende (nicht ätiologisch relevante) Faktoren für Schmerzverhalten. Eine eigene Untersuchung an 22 Kindern mit chronischem Kopfschmerz mittels ausführlicher problemanalytischer Interviews mit den Müttern der Kinder zeigt, dass bei 19 Kindern operante aufrechterhaltende Bedingungen für den Kopfschmerz zu identifizieren waren. Somit sind „Stress“ mit seinen vielfältigen psychophysiologischen Reaktionskomponenten, „operantes Lernen“ und „Modelllernen“ als die wesentlichen psychologischen Einflussfaktoren beim kindlichen Kopf- und Bauchschmerz anzunehmen.

9.9

9

Schmerzdiagnostik bei Kindern und Jugendlichen

Auch beim pädiatrischen Schmerz ist in der Diagnostik das Mehrebenenmodell der multidimensionalen Diagnostik sinnvoll. Je nach Alter der betroffenen Kinder kann die Quelle der Information das Kind selbst und/oder die Eltern sein. Aus den vorangegangenen Erörterungen ist evident, dass neben der psychologischen Dimension auch soziale Variablen (z. B. Familiendynamik, Schulanpassung etc.) zu erfassen sind, die zum Verständnis des Schmerzes bzw. der Disstressreaktion erheblich beitragen. Im Folgenden soll die Diagnostik des subjektiven Schmerzerlebens im Mittelpunkt der Betrachtung stehen (Denecke u. Hünseler 2001). Selbstverständlich hat die medizinische Diagnostik, d. h. die Suche nach krankheitsbedingten Schmerzursachen, einen vorrangigen Stellenwert, da es gilt, die Primärerkrankung zu beseitigen oder zu mindern. Dies darf jedoch nicht auf Kosten der Schmerzdiagnostik selbst und der Erfassung der sonstigen den Schmerz beeinflussenden psychosozialen Faktoren geschehen, wie dies oft der Fall ist. > Bei der Erfassung des Schmerzerlebens sind die Dimensionen Intensität, Häufigkeit, Dauer und Qualität von Bedeutung.

Zur Erhebung der Schmerzstärke sind kindgerechte visuelle Analogskalen oder numerische Ratingskalen, wie sie ähnlich für Erwachsene vorliegen, relativ reliabel einsetzbar. Insbesondere für Kinder ab 3–4 Jahren wurden Bilderskalen entwickelt, z. B. eine sog.„Smily“-Analogskala (Zernikow 2001; Abb. 9.1), die Gesichtsschemata verwendet, oder die Oucher-Skala, die Fotografien von Kindergesichtern sowie eine zusätzliche Skalierung von 0–100 nutzt. Zumindest die Smily-Analogskala scheint, wie eine Reihe von Untersuchungen zeigt, den Güteanforderungen zu entsprechen. Auf weitere spezifische Aspekte der quantitativen Schmerzerfassung mit Gesichter- bzw. Analogskalen weisen Denecke u. Hünseler (2001) hin. Festzuhalten bleibt, dass in der Regel bei Kindern ab 6 Jahren eine numerische Ratingskala, die als „Schmerzthermometer“ eingeführt werden kann, einsetzbar ist. Die Qualität des Schmerzes, d. h. die affektiven und sensorischen Aspekte des Schmerzes, werden

180

Teil II · Modulatoren des Schmerzes

Abb. 9.1. Die Smily-Analogskala zur Einschätzung der Schmerzintensität. (Nach Zernikow 2001)

beim Erwachsenen üblicherweise durch Adjektivlisten erfasst. Diese lassen sich bei Kindern ab ca. 10 Jahren einsetzen. Bei jüngeren Kindern werden häufig nonverbale qualitative Methoden zur Schmerzqualitätserfassung eingesetzt. So werden Kinder aufgefordert, ihren Schmerz zu malen oder die Farbe ihres Schmerzes auszuwählen. Diese Verfahren entziehen sich jedoch weitgehend einer objektiven standardisierten Auswertung. Zur Erfassung des Schmerzverhaltens bei Kindern, die aufgrund ihrer Entwicklung noch nicht imstande sind, die Instruktionen und zugrunde liegenden Prinzipien der Instrumente zur Selbstbeschreibung des Schmerzes zu verstehen und umzusetzen, d. h. in erster Linie bei Kindern im Alter bis zu 3 Jahren, steht im Wesentlichen die Fremdbeobachtung des Verhaltens als Methode zur Verfügung (Denecke u. Hünseler 2001). Es sind hier vor allen Dingen Messinstrumente zum Akutschmerz entstanden. Im deutschen Sprachraum wurde ein Beobachtungsinventar von Büttner (1998), die sog. „Kindliche Unbehagenund Schmerzskala“ (KUSS) entwickelt, die einfach handhabbar und für einen breiten Altersbereich einsetzbar ist. Dabei werden etwa Gesichtsausdruck, Körperbewegungen, motorische Unruhe und Weinen/Schreien als Verhaltenseinheiten beobachtet und kodiert. Speziell für Neugeborene und Säuglinge wurden Schmerzverhaltensbeobachtungssysteme entwickelt, die sich auf das „facial action coding system“ zur Analyse von mimischem Ausdrucksverhalten beziehen (Denecke u. Hünseler 2001) oder mit stimmspektrographischen Analysemethoden schmerzinduziertes

Schreien von anderen Schreiformen unterscheiden wollen (Wolff 1987). > Physiologische Parameter der Schmerzempfindung sind v. a. in der nichtverbalen Phase der kindlichen Entwicklung von Bedeutung.

Sie können besonders bei schmerzinduzierenden medizinischen Interventionen eingesetzt werden, um spezielle Maßnahmen zur Schmerzminderung zu untersuchen. Zu den häufiger genutzten Parametern gehören Herzfrequenz, elektrische Hautleitfähigkeit, Kortisolausschüttung und Sauerstoffdruck. Grundsätzlich problematisch an den physiologischen Parametern bleibt, dass sie eine eher unspezifische Aktivierung anzeigen und keineswegs nur als Folge der Intensität des Schmerzes gelten können (Denecke u. Hünseler 2001). Möglichkeiten der Erfassung des Schmerzverhaltens bei Kleinkindern (bis ca. 3 Jahre)

쎔 Systematische Verhaltensbeobachtung 쎔

(z. B. Weinen, mimischer Ausdruck, Körperbewegungen etc.) Physiologische Aktivierungsparameter (z. B. Herzfrequenz, Hautleitfähigkeit)

Möglichkeiten der Schmerzerfassung bei Kindern (ab 3–4 Jahren)

쎔 Skalierung des Schmerzes (z. B. SmilySkala) durch die Kinder selbst

181 Kapitel 9 · Schmerz bei Kindern

쎔 Systematische Befragung der Bezugspersonen und Kinder

쎔 Tagebuchdokumentation durch die Kinder (ab ca. 8 Jahren)

Für den deutschen Sprachraum liegt bisher nur ein Instrument vor, das für eine systematische Schmerzanamnese insbesondere für rekurrierende und persistierende Schmerzen geeignet ist. Der sog. „Dattelner Schmerzfragebogen für Kinder und Jugendliche“ (Zernikow 2001) ist in Anlehnung an den Schmerzfragebogen der Deutschen Gesellschaft zum Studium des Schmerzes entwickelt worden und erfasst die wesentlichen Aspekte der Schmerzgeschichte und -symptomatik durch Befragung der Betroffenen und der Eltern. Auch die Erhebung der Depressivität der Kinder und Jugendlichen ist eingeschlossen.

9

wie Sticker o. Ä.). Anreizbedingungen dieser Art fördern besonders bei jüngeren Kindern die Mitarbeit. Vermutlich würden auch elektronische Tagebücher bei Kindern auf hohe Akzeptanz stoßen. Über einen Einsatz bei dieser Betroffenengruppe ist uns allerdings nichts bekannt. Die Tagebuchführung kann direkt therapeutisch relevante Effekte haben. Das Kind wird durch diese Aufgabe zum Experten für seinen Schmerz gemacht. Es wird aktiv in den Therapieprozess einbezogen und übernimmt Verantwortung. Schmerzminderung kann als Konsequenz des eigenen Handelns wahrgenommen werden, wobei die Tagebuchführung direkte Verstärkerfunktion haben kann. Eine reaktive Wirkung der Tagebuchführung ist in eigenen Untersuchungen zu rekurrierenden Kopfschmerzen regelmäßig zu beobachten gewesen.

9.10

Therapeutische Interventionen bei akuten Schmerzzuständen

> Von besonderer Bedeutung in der Schmerzdiagnostik, aber auch in therapeutischer und evaluativer Hinsicht, ist das Schmerztagebuch.

In Deutschland sind Tagebücher für den Einsatz bei Kopfschmerzen bei Kindern entwickelt worden (Abb. 9.2; Denecke u. Hünseler 2001; Pothmann et al. 1997), die sich in Forschung und Praxis bewährt haben. Diese Tagebücher lassen sich auch auf andere Schmerzsyndrome adaptieren. Das Tagebuch hat den Vorteil, dass es den Schmerz relativ ereignisnah (mindestens eine Protokollierung pro Tag) erfasst und somit sowohl zur Bestimmung des „Status quo“ vor der Therapie als auch der Auswirkungen von Interventionen gut geeignet ist. Auch Auslösebedingungen, deren Identifizierung wesentlich für die Therapie sein kann, lässt sich mit Hilfe der Tagebuchmethode auf die Spur kommen. Ebenso kann die Beeinträchtigung des Kindes durch den Schmerz (Unterbrechung von Aktivitäten, Schulfehlzeiten, Medikamentenverabreichung) erhoben werden. Wenn die Tagebücher kindgerecht gestaltet sind (einfache, kurze Fragen, graphisch ansprechend, prägnant) werden sie von den Kindern in der Regel gern und mit Sorgfalt ausgefüllt, insbesondere wenn spezielle Anreize gesetzt werden (Klebepunkte für sorgfältiges Ausfüllen, „Eintausch“ der Klebepunkte in tangible Verstärker

Unzweifelhaft ist die Entwicklung effektiver Strategien zur Schmerzprävention oder -minderung bzw. zur Reduktion negativer Effekte von Schmerz eine multidisziplinäre Aufgabe, die in enger Kooperation und gemeinsamer Abstimmung der Betroffenen erfolgen sollte. Die hiervon primär angesprochenen Berufsgruppen sind Ärzte, Schwestern und schließlich auch Psychologen, wobei der Einbezug der Eltern vorausgesetzt wird. Es ist unstrittig, dass von der Seite der Medizin eine angemessene Analgesie zu gewährleisten ist. Dazu ist zunächst vonnöten, dass eine adäquate analgetische Versorgung von Kindern und Jugendlichen als bedeutsames und erreichbares Ziel in den medizinischen Aufgabenkodex aufgenommen werden muss. Weiter ist vorauszusetzen, dass eine standardisierte und reliable Schmerzerfassung regelmäßiger Bestandteil der Praxis werden muss. Dabei reicht das Spektrum der möglichen Maßnahmen vom analgetischen Pflaster (sog. EMLA-Pflaster), das etwa eine Stunde vor einer Injektion auf die Hautstelle aufgebracht wird, über sorgfältig bedachten und dosierten Einsatz von Analgetika gemäß des 3-Stufen-Schemas der WHO bei pädiatrischen Tumorpatienten bis zu postoperativer On-demand-Opioidanalgesie. Auch nichtmedikamentöse Schmerzbehandlungsstrategien, wie TENS (transkutane elektrische Nervenstimu-

Abb. 9.2. Beispiel für ein Kinderkopfschmerztagebuch. (Nach Denecke u. Kröner-Herwig 2000)

182 Teil II · Modulatoren des Schmerzes

183 Kapitel 9 · Schmerz bei Kindern

lation) oder Akupunktur, können bei Kindern mit speziellen Schmerzsymptomen eingesetzt werden (Pothmann u. Meng 1995; Pothmann 1996). Notwendigkeiten der medizinischen Akuttherapie bei Schmerzen

쎔 Anerkenntnis des Ziels Schmerzfreiheit 쎔 Adäquate Schmerzdiagnostik Möglichkeiten der medizinischen Akuttherapie bei Schmerzen

쎔 EMLA Pflaster (Schmerzprophylaxe) 쎔 Anwendung des 3-Stufen-Schemas der WHO (Tumor)

쎔 On-demand-Analgesie (postoperativ) 쎔 Medikamentöse Therapie (z. B. Migräne) 쎔 Nichtmedikamentöse Verfahren (TENS, Akupunktur)

Generell muss aufgrund heutiger Erkenntnisse eine verbesserte Praxis bei der Analgesie und Anästhesie eingefordert werden. Mittlerweile kann in diesem Bereich auf sachkompetente Empfehlungen und Hinweise zurückgegriffen werden (Pothmann et al. 2001; Zernikow 2001), die eine angemessene analgetisch wirksame Behandlung der Kinder und Jugendlichen gewährleisten sollte. Die Schmerzbehandlung kann dabei nicht auf Strategien verzichten, die über psychosoziale Prozesse wirksam werden, wie etwa (Kuttner 1989): 쎔 angemessene Vorbereitung der Kinder und ihrer Angehörigen auf Eingriffe, 쎔 Gestaltung einer beruhigenden Atmosphäre, 쎔 positiver, das Selbstgefühl des Kindes unterstützender Kontakt, 쎔 Miteinbeziehung der Patienten in die Maßnahmen zur Stärkung des Kontrollgefühls der Kinder, 쎔 hypnotherapeutische Verfahren.

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ventionen, hat sich die Vorbereitung des kindlichen Patienten und Angehörigen als bedeutsame Einflussgröße herausgestellt. Die vermittelte Information sollte sowohl die Art des Eingriffs als auch das Ziel fokussieren. > Ross u. Ross (1988) betonen die Bedeutsamkeit der Ehrlichkeit der Informationen und ihrer Konkretheit. Aussagen wie „Das tut überhaupt nicht weh.“ oder „Du wirst nichts spüren.“ sind somit obsolet.

Die Autoren verweisen aber auch darauf, dass das Ausmaß an Information, das für ein bestimmtes Kind angemessen ist, individuell unterschiedlich ist und aus der Reaktion des Kindes „herausgelesen“ werden muss. Die Informationsvermittlung kann verbal sein, sollte aber auch, wenn eben möglich, über direktes Erleben das Kind auf die Prozedur vorbereiten (z. B. den Untersuchungsraum genau ansehen lassen, den Zahnarztstuhl ausprobieren lassen, Demonstration des Eingriffs an einer Puppe etc.; Mühlig u. Petermann 1994). Teil der Vorbereitung sollte auch eine vorwegnehmende Hilfestellung für die Bewältigung der akuten Schmerzsituation sein. Dazu gehört das Erfragen von Ängsten (die u. U. auf Missverständnissen der Kinder beruhen) wie das Hinweisen auf Bewältigungsmöglichkeiten oder die Vorbereitung durch einen Modellfilm, in dem ein anderes Kind die gleiche Situation adäquat bewältigt. Diese Vorbereitung sollte immer im räumlichen Setting des späteren Eingriffs stattfinden und gemeinsam mit allen beteiligten Personen. Ziele der Vorbereitung sind somit: 쎔 maximal mögliche Reduktion der Erwartungsangst, 쎔 Schaffung von Vertrauen in die Behandlung, 쎔 Minderung der Unvorhersagbarkeit und Bedrohlichkeit des bevorstehenden Eingriffs, 쎔 Stärkung der Bewältigungskompetenz. > Mühlig u. Petermann (1994) weisen darauf hin,

Bei eingriffsbedingtem, etwa operativem Schmerz können die Phasen vor, während und nach der Intervention unterschieden werden. Die jeweils geeigneten Interventionen zur Belastungs- und Schmerzminderung werden im Folgenden diskutiert. In der Vorphase von Eingriffen, insbesondere bei Operationen oder anderen ernsthaften Inter-

dass es bei der Vorbereitung keine generell wirksamen Standardrezepte gibt, sondern das Alter des Kindes, seine Persönlichkeitsmerkmale, insbesondere die allgemeine Ängstlichkeit, Schmerzvorerfahrungen und der Einfluss der Eltern eine Rolle spielen, so dass die Intervention immer individuenzentriert abgestimmt werden muss.

184

Teil II · Modulatoren des Schmerzes

Auch die Art des Eingriffs und der Zeitpunkt der Vorbereitung (längere Zeit oder kurz vor dem Eingriff) sind zu berücksichtigen. So sollte bei Operationen längere Zeit (etwa eine Woche) vorher eine erste Vorbereitung stattfinden, in der die Ziele der Operation (z. B. „dass du wieder ohne Schmerzen spielen kannst“) und die Ablaufstrukturen demonstriert (u. U. nachspielbar zu Hause mit Puppen) sowie die Vertrautheit mit Klinik und Personal hergestellt werden können. Dagegen sollte insbesondere bei einem voraussichtlich einmaligen Eingriff mit nur kurzzeitigen Folgen die Information kurz vorher erfolgen und auf die sensorische Vorbereitung und effektive Formen der Bewältigung fokussiert sein. In jedem Fall sollte das Risiko einer Angst- und Empfindungssteigerung durch die Information berücksichtigt werden. Kognitiv-behaviorale Interventionen während der Schmerzinduktion sind immer dann wichtig, wenn keine bewusstseinsausschaltende Narkose erfolgt. Diese Interventionen sind natürlich auch vorzubereiten (z. B. durch Ansicht eines Modellfilms), ggf. sollten sie vorher eingeübt werden. Man kann verschiedene Interventionskomponenten unterscheiden, wobei meist mehrere berücksichtigt werden. Interventionen zur Schmerzminderung im Umgang mit schmerzhaften Eingriffen (vgl. Duke University Medical Center Durham, USA; http://www.pain.mc.duke.edu)

쎔 Säuglinge 쎔 Lageänderung/Windeln wechseln 쎔 Wiegen/streicheln 쎔 Schnuller geben 쎔 Sanfte Musik/Wiegenlieder/ sanfte Stimme

쎔 Licht dämmen/Vermeidung lauter Hintergrundgeräusche

쎔 Visuelle Ablenkung

(z. B. Mobile in Bewegung setzen)

쎔 Zugang zu Eltern ermöglichen

쎔 Kleinkinder 쎔 Mit Kind vor und nach Eingriff spielen 쎔 Gegenstand, der Sicherheit vermittelt (z. B. Kuschelkissen)

쎔 Beruhigende Stimme

쎔 쎔 쎔 쎔



Seifenblasen Halten/Drücken der Hand Kuckuck-da-Spiel Ablenkung (z. B. Zugang zu Eltern ermöglichen, Pop-up-Bücher, Gameboy, singen) 쎔 Zauberstab 쎔 Musik (Entspannung herbeiführen, z. B. Wiegenlied/Kinderlied singen) 쎔 Vorbereitung durch Informationen Schulkinder 쎔 Vorbereitung durch prozedurale, sensorische und Copinginformationen 쎔 Entspannung durch Atemtechniken 쎔 Geführte Imaginationen 쎔 Musik nach Wunsch (mit Kopfhörer) 쎔 Halten oder Drücken der Hand 쎔 Ablenkung (Unterhaltung, attraktive Bücher ansehen, elektronische Spiele) 쎔 evtl. Zauberstab 쎔 Visuelle Fokussierungstechniken (Blickkontakt mit Vertrauensperson, Fixierung eines Punktes im Raum)

Diese Strategien sind zum Teil schon in den Verhaltensrepertoires von Kindern enthalten, wie dies Ross u. Ross (1988) anhand von Beispielen sehr anschaulich beschreiben und können dann im Einzelfall gezielt gefördert werden. Externe Aufmerksamkeitsablenkung kann besonders gut durch emotional positiv besetzte, individuell interessierende Reizbedingungen erfolgen. Die konkrete Intervention reicht vom Einsatz spannender Geschichten, über Wortspiele, audiovisuelle Medien (Comics) bis zur Konzentration auf vorhandene Umweltreize (Zählen von Medizinflaschen im Regal). Selbstverständlich sollen mit diesen Ablenkungsstrategien Kinder, insbesondere ältere Kinder, nicht „übertölpelt“ werden, sondern diese sollten sich bewusst darauf einlassen können. Aufmerksamkeitslenkungsstrategien sind nahezu ad hoc einsetzbar, relativ einfach, individuell gut anpassbar und effektiv. Insgesamt kommt ihnen eine hohe Priorität innerhalb des Instrumentariums zur Schmerz-Disstress-Minimierung sowohl vor als auch während einer schmerzhaften Intervention zu. Innere Aufmerksamkeitslenkung ist eng verbunden mit imaginativen Prozessen. Dabei kön-

185 Kapitel 9 · Schmerz bei Kindern

nen Kinder angeregt werden, die Geschichte einer Comicfigur weiterzuentwickeln oder eine Geschichte um das Schmerzereignis zu „bauen“, in der sie selbst eine Hauptrolle als „tapferer Held“ spielen. Diese imaginativen Prozesse können in selbsthypnotische Prozesse übergehen. Dabei wird mit den Kindern z. B. zuvor die Funktion eines „Zauberhandschuhs“ oder eines „Schmerzschalters“ besprochen, der vor Schmerz schützt. Mit Hilfe der Eltern oder eines Therapeuten ziehen sich die Kinder vor dem Eingriff den „Zauberhandschuh“ über, der sie schmerzunempfindlich macht, oder legen den „Schmerzschalter“ im Gehirn um, der den Schmerz dämmt. Entspannungstechniken, insbesondere Atemtechniken, können nicht nur eine emotionale Aufschaukelung während des Interventionsprozesses verhindern, sondern sind gleichzeitig auch als Ablenkung zu verstehen. Das langsame Ausblasen des Atems ist verbunden mit Entspannung, gleichzeitig kann es dazu dienen, einen imaginären „Luftballon“ aufzublasen, der in den schönsten Farben strahlt und auf und davon fliegt. Bei jüngeren Kindern kann man mit Seifenblasen den Schmerz „wegfliegen“ lassen. > Aber nicht nur Interventionen zur Ausblendung des Schmerzereignisses sind sinnvoll, sondern auch Verfahren, in denen die Prozedur fokussiert, aber dem Kind mehr Kontrolle übertragen wird.

Zum Beispiel kann die Alkoholreinigung der Haut vor einer Injektion vom Kind selbst durchgeführt werden, und es sollte selbst bestimmen, zu welchem Zeitpunkt die Prozedur beginnt. Dabei sollte gleichzeitig die Überzeugung der Bewältigungsfähigkeit gefördert werden („Ich trau’ dir zu, dass du es schaffst, nicht zu weinen, selbst wenn es ein bisschen weh tut.“). Das Abmachen von klaren Signalen zwischen Arzt/Schwester und Patient darüber, wann ein Eingriff begonnen oder unterbrochen werden sollte, kann ebenso geeignet sein, dem Kind ein Kontrollgefühl zu vermitteln (Ross u. Ross 1988). Objektive Kontrolle und die Überzeugung der eigenen Bewältigungsfähigkeit sind geeignet, die Bedrohlichkeit des Schmerzereignisses zu mindern und das Schmerzverhalten abzubauen. Selbstverständlich ist die Verstärkung von Bewältigungsverhalten nach Abschluss der Intervention von allergrößter Bedeutung, insbesondere wenn es sich um wiederholte Eingriffe handelt.

9

Eine Reihe von kontrollierten Studien, insbesondere aus den USA und Kanada, zeigen, dass die Implementierung von Hilfen dieser Art in die Praxis zum besseren Umgang mit Schmerz sowohl bei den involvierten Kindern als auch den Eltern zu einer erheblichen Disstressverminderung beiträgt. Jay et al. (1986) berichten in ihrer Überblicksarbeit über die erfolgreiche Anwendung eines kognitiv-behavioralen Interventionsprogramms mit einem Modellfilm, atmungsinduzierter Entspannung, Anleitung zu emotional positiven Imaginationen, Aufmerksamkeitsablenkungsstrategien, der gezielten Verstärkung von Bewältigungsverhalten sowie Verhaltensübungen bei Kindern im Alter von 3–13 Jahren, die sich im Zusammenhang mit ihrer Krebserkrankung häufiger Knochenmarkentnahmen und Lumbalpunktionen unterziehen mussten. Der Einbezug von Eltern in dieses Programm fördert noch seine Wirksamkeit. Eine weitere kontrollierte Studie an 83 Kindern zwischen 3,5 und 12 Jahren untersuchte die Frage, ob oral verabreichtes Valium die Wirkung des kognitivbehavioralen Programms noch verbessert (Jay et al. 1991). Die zusätzliche Gabe von Valium förderte das Erlernen der Selbstkontrollstrategien nicht, sondern behinderte es sogar. Die Autoren selbst weisen allerdings auf die unvollkommene Wirkung der psychologischen Strategien zur Schmerzminderung hin und plädieren für den Einsatz der in Europa bereits üblichen Kurzanästhesie zur Verhinderung von Schmerzen bei medizinischen Eingriffen. Nur wenn deren Anwendung aus spezifischen Gründen nicht möglich ist, sollten demnach kognitiv-behaviorale Programme zum Einsatz kommen. Jay et al. (1986) berichten ausführlich über weitere Studien bei krebskranken Kindern, die zeigen konnten, dass hypnotische Techniken zur Ablenkung und Imaginationsbildung besonders effektiv sind. Ausschöpfung aller direkten und indirekten Methoden zur Minderung akuter Schmerzen durch den Arzt

쎔 Medikamentöse Verfahren (z. B. 3-Stufen쎔 쎔

Schema der WHO, patientenkontrollierte Analgesie) Nichtmedikamentöse Verfahren (z. B. TENS, Akupunktur) Angemessene Information, Aufklärung und Beratung von Kindern und Eltern

Teil II · Modulatoren des Schmerzes

186

쎔 Systematische Nutzung von psychosozialen Interventionen (z. B. Ablenkung)

Unterstützung durch den Psychologen

Tabelle 9.1. Prozentsatz der Kinder mit klinisch bedeutsamer Kopfschmerzveränderung (Reduktion >50 %) und Prozentsatz der Nonresponder (Kopfschmerzaktivität ≥100 % bezogen auf Baseline) bei Anwendung von Biofeedback und multimodalem Gruppentraining

쎔 Optimierung schmerzmindernder Inter쎔 쎔

ventionen (z. B. hypnotische Verfahren) Systematisierter Einsatz von Modellen zur Schmerzbewältigung Anleitung der Eltern zur Unterstützung der Schmerzbewältigung

Positive Ergebnisse werden auch über den Einsatz kognitiv-behavioraler Strategien beim Wechseln der Verbände brandverletzter Kinder, bei der Blutentnahme, Routineimpfungen und Zahnbehandlungen berichtet. Auch hier fand in der Regel eine deutliche Reduzierung des Disstress statt.

9.11

Die Behandlung von wiederkehrenden Schmerzen und Dauerschmerz

Die Entwicklung psychologischer Interventionsmethoden ist v. a. im Bereich chronischer Kopfschmerzen vorangetrieben worden (Kröner-Herwig u. Plump 1992). Hier nehmen Studien zur Wirksamkeit von Entspannungsverfahren den größten Raum ein. Dabei wird Entspannung in der Regel entweder über eine auf Kinder adaptierte Form der progressiven Muskelrelaxation (PMR) oder über Biofeedback induziert. Die Studien wurden sowohl im klinisch-therapeutischen Rahmen als auch mit sekundärpräventiver Absicht an Schulklassen durchgeführt. > Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass Relaxationstrainings bei Kindern mit Kopfschmerz im Alter ab etwa 8 Jahren insgesamt eine hohe Erfolgsrate aufweisen.

So ist in der Regel eine Verringerung in der Kopfschmerzaktivität von 60–90 % (Tabelle 9.1) zu beobachten. In fast allen Studien wurden Kopfschmerztagebücher in der Evaluation eingesetzt, so dass eine Überschätzung des Behandlungserfolgs, wie sie sich bei globaleren Erfassungsmethoden zeigt, ausgeschlossen werden kann. Die Erfolge bei Kindern, die im klinischen Rahmen behan-

Erfolg

Kein Erfolg

Biofeedback (n=20)

Multimodales Gruppentraining (n=27)

Nach Therapie

71,7

56,3

Follow-up (6 Monate)

81,7

76,2

Nach Therapie

8,3

19,5

Follow-up (6 Monate)

3,3

2,4

delt wurden, sind besonders hoch. Die Wirksamkeit der Trainings zeigt sich im Wesentlichen in der Reduktion der Anzahl der Kopfschmerzanfälle bzw. dem Anstieg der kopfschmerzfreien Tage. Die Dauer und die Intensität der verbleibenden Anfälle werden ebenfalls positiv beeinflusst, wenn auch oft weniger deutlich. Letzterer Befund könnte andeuten, dass die behandelten Kinder mit Hilfe der Entspannung Kopfschmerzattacken verhindern können. Wenn aber ein Anfall, insbesondere eine Migräneattacke, aber einmal begonnen hat, ist es weniger leicht, aktiv Einfluss zu nehmen. Ein Hinweis auf eine differenzielle Effektivität von Entspannungstraining bei Spannungskopfschmerz bzw. Migräne zeigte sich bislang nicht. > Besonders beachtenswert ist, dass die Anzahl der Trainingssitzungen von kaum mehr als 6 im Vergleich zu dem bei Erwachsenen üblichen Trainingsumfang bei gleichzeitig höheren Erfolgsquoten sehr klein ist (Sarafino u. Goehring 2000).

Die Relaxationsbehandlung wurde allerdings bis auf wenige Ausnahmen in Einzelsitzungen durchgeführt, ein im Vergleich zum Training bei Erwachsenen eher unübliches und aufwändiges Prozedere. Zu erwähnen bleibt, dass jedes Training wie bei Erwachsenen eine Anleitung zum täglichen häuslichen Üben beinhaltet.

187 Kapitel 9 · Schmerz bei Kindern

Generell ist die Stabilität der beobachteten Effekte selbst in den Katamnesen sehr zufriedenstellend. Weiter deuten die Ergebnisse der Studien darauf hin, dass die Behandlung so früh wie möglich einsetzen sollte, da die Erfolgsraten bei Jugendlichen (ab etwa 14 Jahren) geringer scheinen als bei jüngeren Kindern. Zum Biofeedback liegen die meisten Untersuchungen zur Rückmeldung des Stirnmuskeltonus, insbesondere bei Kindern mit Kopfschmerz vom Spannungstyp bzw. kombiniertem Kopfschmerz, vor. Es gibt hier allerdings nur wenige randomisierte Kontrollgruppenuntersuchungen zur Effektivität (Kröner-Herwig et al. 1998). Dies gilt auch für die Anwendung von autogenem Biofeedback bei Migräne, bei dem eine Handtemperaturrückmeldung, kombiniert mit dem Ziel der Erwärmung und peripheren Gefäßerweiterung, mit autogenen Selbstinstruktionen („Ich bin ganz ruhig ...“, „Meine Hände werden ganz warm“) erreicht werden soll. Auch die Anwendung von Biofeedback wird immer durch häusliches Üben der gelernten Entspannung ohne Gerät ergänzt. Zum Teil werden auch schon während des Trainings spezielle Entspannungsübungen eingesetzt. Wie bei der Relaxation zeigen, gemessen an der Reduktion der Kopfschmerzhäufigkeit, die meisten Studien eine gute bis ausgezeichnete Wirksamkeit (vgl. Tab. 9.1). Die Metaanalyse zur Behandlung von Migräne von Hermann et al. (1997) zeigt eine durchschnittliche Effektstärke von 2,57, die tendenziell höher ausfällt als bei medikamentösen Verfahren der Migräneprohylaxe (1,62). > In der Mehrzahl der Studien ließ sich keine signifikante Unterlegenheit konventionellen Ent-

9

spannungstrainings, das aber immer auf die Kopfschmerzproblematik abgestimmt war, gegenüber Biofeedback erkennen, obwohl in einer eigenen Studie, gemessen an der Effektstärke, Biofeedback günstiger abschnitt (Kröner-Herwig et al. 1998).

Ein weiterer Therapieansatz im Bereich chronischer Kopfschmerzen, der auch auf andere funktionelle rekurrierende Schmerzen übertragen werden kann, ist das von McGrath u. Unruh (1987) konzipierte und von Denecke u. Kröner-Herwig (2000) für deutsche Verhältnisse adaptierte kognitiv-behaviorale Therapieprogramm „STOPP den Kopfschmerz“. Dieses 8 Zielbereiche umfassen-

de Therapieprogramm ist an multimodalem Schmerzbewältigungstraining für erwachsene Schmerzpatienten orientiert. Es enthält: 쎔 Entspannungsübungen, Selbstbeobachtung, 쎔 Prüfung unrealistischer und dysfunktionaler Einstellungen und Gedanken zu Schmerz und Stress, 쎔 Anleitungen zur kognitiven Umstrukturierung und zu imaginativen Bewältigungsprozessen, 쎔 Aufmerksamkeitslenkungsstrategien, 쎔 Unterstützung der Selbstbehauptung, 쎔 Hilfen zum Problemlösen. Denecke u.Kröner-Herwig (2000) haben dieses Programm als therapeutengestützte Gruppentherapie (8 Sitzungen, 5–6 Kinder pro Programm) bzw. als „Self-help“-Programm für Kinder von ca. 10–14 Jahren konzipiert.Das Selbsthilfeprogramm besteht aus schriftlichen, mit Cartoons und Grafiken angereicherten Materialien (Abb. 9.3), die durch Tonband-

Abb. 9.3. Visualisierung von Übungen des kognitiv-behavioralen Kopfschmerztrainings. Problemlösen (links), kognitive Umstrukturierung (Mitte), Entspannung (rechts). (Nach Denecke u. Kröner-Herwig 2000)

188

Teil II · Modulatoren des Schmerzes

kassetten ergänzt werden. Selbstbeobachtungsbögen und Hausaufgabeninstruktionen vervollständigen die Therapiematerialien. In der Selbsthilfeversion überwacht der Therapeut den Umgang des Kindes mit dem Programm einmal pro Woche per Telefon und gibt ggf. Beratung und Anregung. > In der von Kröner-Herwig u. Denecke (2002) durchgeführten Untersuchung an ca. 80 Kindern war die Selbsthilfeversion nahezu so wirksam wie die therapeutengeleitete Version.

Die Gruppenversion des Trainings ist aber genauso effizient wie das Selbsthilfeformat.Auch dieses Therapieprogramm zeigte gute und anhaltende Effekte hinsichtlich der Kopfschmerzreduktion sowohl bei Kindern mit Migräne als auch Kopfschmerz vom Spannungstyp. Es zeigten sich sogar weitergehende positive Auswirkungen auf das Selbstbild der Kinder. Ob das kognitiv-behaviorale Programm ein breiteres Wirkungsspektrum etwa im Vergleich zum Biofeedback hat, müsste geprüft werden. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass eine psychologisch fundierte Kopfschmerzbehandlung bei Kindern, insbesondere zwischen 7 und

14 Jahren, unabhängig vom Typ des Kopfschmerzes eine hohe Erfolgswahrscheinlichkeit aufweist. Auch die langfristige Wirkung bis ca. 2 Jahre ist nachgewiesen. Damit ist diese Form der Prophylaxe der medikamentösen Prophylaxe bei Migräne vorzuziehen. Insgesamt kann die psychologisch fundierte Therapie durch die Minderung der Schmerzepisoden auch die Notwendigkeit einer Akutbehandlung bei Kopfschmerz mittels Analgetika oder bei Migräne mittels Triptanen oder anderen Migränemitteln minimieren. Die genannten nicht-medikamentösen Verfahren der Kopfschmerztherapie können als evidenzbasierte Behandlungsmethoden gemäß den Level-I-Kriterien (Wirksamkeitsnachweis durch Meta-Analysen von randomisierten Kontrollgruppenstudien; vgl. Trautmann et al. 2006) gelten. Psychologische Verfahren, die bei häufigen Kopfschmerzen (Migräne, Kopfschmerz vom Spannungstyp) im Vordergrund stehen sollten

쎔 Entspannungsverfahren (z. B. progressive Muskelrelaxation)

쎔 Biofeedbackverfahren (z. B. EMG-Feed쎔

back des Frontalismuskels, Hauttemperaturfeedback) Kognitiv-behaviorale Programme (z. B. das Gruppentherapieprogramm „STOPP den Kopfschmerz“)

TENS und Akupunktur sowie ggf. Ernährungsumstellung sind weitere nichtmedikamentöse Möglichkeiten der Behandlung, Analgetika und Migränemittel können auch für Kinder und Jugendliche zur Akutbehandlung, insbesondere der Migräne, eingesetzt werden.

> Selbst wenn man heute der Auffassung ist, dass eine gelegentliche Akutmedikation auch für Kinder nicht schädlich ist (Überall et al. 2001; Pothmann et al. 2001), sollte zur Verhinderung ungünstiger Lernprozesse, die zu Missbrauch von Schmerzmitteln führen können die Begrenzung der Medikamenteneinnahme angestrebt werden.

Nur wenige Studien widmen sich der Unterstützung eines kognitiv-behavioralen Therapieprogramms bei dem zweitbedeutsamsten chronischen Schmerzsyndrom, dem rekurrierenden idiopatischen Bauchschmerz (RIP). Sanders et al. (1994) setzten ein der Kopfschmerzbehandlung ähnliches Therapieprogramm ein (mit Selbstbeobachtung, differenzieller Verstärkung zur Erhöhung schmerzfreier Phasen, Ablenkung und Aufbau positiver Aktivitäten, Verbesserung der schmerzbezogenen Selbstinstruktionen, Selbstwirksamkeitserhöhung, Entspannung, Selbstbelohnung, Imagination) und verglichen es mit einer Wartegruppe bzw. konventioneller medizinischer Therapie mittels Umstellung auf eine ballaststoffreiche Ernährung und einer allgemeinen Beratung der Eltern über die Funktionsstörung. Die psychologisch behandelten Kinder waren im 12-MonatsFollow-up zu 59 % schmerzfrei, die der Standardbehandlung nur zu 39 %. Keine statistisch bedeutsamen Vorteile eines Biofeedbacktrainings gegenüber der medizinischen Standardbehandlung fanden Humphreys u. Gevirtz (2000).Weitere Studien sind in diesem Bereich dringend vonnöten, um zu eindeutigeren Aussagen zu kommen.

189 Kapitel 9 · Schmerz bei Kindern

Maßnahmen nach Ausschluss direkter organischer Verursachung bei chronischem Bauchschmerz (RIB)

쎔 Umstellung auf ballaststoffreiche und zusatzstoffarme Kost

쎔 Ggf. kognitiv-behaviorale Therapie

Bezüglich der Therapie anderer rekurrierender Schmerzstörungen, die infolge primärer Erkrankungen auftreten, wie Hämophilie, Sichelzellenanämie, Arthritis oder Turmorerkrankungen, gibt es über die medizinische Therapie der Primärerkrankungen hinausgehend nur wenige publizierte Erfahrungsberichte. Bei der Hämophilie können sowohl rekurrierende akute Schmerzattacken als auch langanhaltende (arthritische) Schmerzbelastungen auftreten. : Fallstudie Varni et al. (1981) berichten beispielhaft von dem Fall eines 9 Jahre alten Jungen, der aufgrund seiner Beschwerden immer höhere Dosen analgetischer Medikamente benötigte und in einem Zeitraum von 4–5 Jahren 16-mal aufgrund seiner Beschwerden hospitalisiert worden war, wobei er ca. 50 % der Zeit auf einen Rollstuhl angewiesen war. Nach einem intensiven Entspannungstraining (PMR kombiniert mit Atem- und Imaginationsübungen) konnte der Junge die mittlere Intensität seines Schmerzerlebens von 7 auf 2 (10Punkte-Skala) reduzieren. Weitere Verbesserungen waren hinsichtlich der Mobilität, der Schlafqualität und der generellen Funktionsfähigkeit zu beobachten. Der Junge benötigte dabei deutlich weniger Medikamente.

Die Sichelzellenanämie ist gekennzeichnet durch wiederkehrende Schmerzattacken. Zeltzer et al. (1979) vermittelten einer jugendlichen Patientin Selbstkontrollstrategien (PMR, Imagination, Selbsthypnose, Entspannungssuggestion) als Bewältigungsstrategie bei einsetzenden Schmerzen. Dabei wurden sowohl die Häufigkeit von Besuchen der Klinikambulanz als auch die Dauer der Hospitalisierung deutlich verringert. Walco u. Varni (1991) berichten über eine kognitiv-behaviorale Therapie bei arthritischem

9

Schmerz, deren Interventionsbausteine denen der Programme von McGrath u. Unruh (1987) und Sanders et al. (1994) sehr ähnlich sind. Sie schildern eine geradezu dramatische Schmerzreduktion bei fast allen Kindern (Reduktion des VASWerts von 4,89 auf 0,68). Die Autoren betonen, dass die in der Klinik gelernten Strategien von den Kindern recht gut auf die häusliche Situation übertragen werden können. Auch die täglichen Aktivitäten, Schulfehlzeiten und das Wohlbefinden der Kinder werden durch das Therapieprogramm generell positiv beeinflusst.

> Auch bei juveniler Arthritis, Hämophilie, Sichelzellenanämie und Tumorschmerz sollten psychosoziale Interventionen zur Verbesserung der Schmerzbewältigung und Lebensqualität der Kinder und Jugendlichen eingesetzt werden.

Aufgrund der Zweifel an der Relevanz der Beschwerden für Kinder und Jugendliche sind – soweit bekannt – bisher keine Behandlungsstudien zum rekurrierenden Rückenschmerz durchgeführt worden. Allerdings hat es einige wenige Präventionsprojekte gegeben (Balagué et al. 1996).

9.12

Ausblick

International hat die pädiatrische Schmerzforschung in den letzten Jahren einen deutlichen Aufschwung genommen, während in der Bundesrepublik Deutschland Forschungsaktivitäten auf diesem Gebiet und die Implementierung von neuem Behandlungswissen in die Praxis bislang eher zurückhaltend gehandhabt werden. Ohne dass an dieser Stelle für alle Sektoren der pädiatrischen Schmerzforschung wichtige zukunftsweisende Forschungsfragen und -perspektiven formuliert werden können, soll doch auf einige bedeutsame Fragestellungsbereiche hingewiesen werden. Die Weiterentwicklung quantitativer behavioraler und physiologischer Schmerzerfassungsmethoden, ggf. unter der Berücksichtigung von

Variablenmustern, ist dringend notwendig, um die Wirkung von schmerzdämpfenden Interventionen bei Säuglingen besser erfassen und optimieren zu können. Auch der Entwicklungsverlauf der Schmerzreaktivität und die darauf einflussnehmenden Faktoren könnten dann besser erforscht werden.

190

Teil II · Modulatoren des Schmerzes

> Besonders interessant, sowohl im Zusammenhang mit dem Umgang mit akutem als auch chronischem Schmerz, ist der Einfluss der Familie.

Obgleich für den chronischen Schmerz die Bedeutsamkeit familiärer Strukturmerkmale erkannt worden ist, wissen wir über die Mediatoren zwischen der Schmerzbelastung der Eltern und dem erhöhten Risiko für die Kinder bisher zu wenig, um gezielte Präventionsmaßnahmen planen zu können. Generell wird hier die Frage nach den Prädiktoren einer funktionellen Schmerzbeschwerde im Jugend- oder Erwachsenenalter angesprochen. Was sind die Risikofaktoren, die das Auftreten von Kopfschmerzen oder chronischen Rückenschmerzen fördern? Neben familiären Faktoren könnten Faktoren wie Stressbelastung in Schule und Freizeit, Bewegungsmangel bei gleichzeitiger hoher perzeptiver und attentiver Belastung (z. B. durch Computerspiele, -arbeit) sowie ein Mangel an expressiver und kreativer Freizeitbeschäftigung oder Fehlernährung eine Rolle spielen. Erst wenn wir hier genauere Kenntnisse besitzen, kann eine erfolgversprechende Prävention angegangen werden. > Chronische Schmerzprobleme verursachen in allen industrialisierten Ländern ein hohes Ausmaß an individuellem Leid und immense Sozialkosten, so dass eine Schwerpunktsetzung auf sekundäre Prävention, u. U. sogar primäre Prävention, in unserem Gesundheitssystem dringend nötig wäre.

auf eine Operation und ihrer Folgen sollte in Gang gesetzt werden. > Eine Befragung von Eltern zeigte, dass die überwiegende Mehrzahl sich wünscht, ihren Kindern in diesen Situationen besser beistehen zu können und sich zu diesem Zweck mehr Informationen und Anleitung von Seiten des Klinikpersonals erhofft (Watt-Watson et al. 1990).

Auch im Bereich funktioneller Schmerzbeschwerden, etwa Kopf- und Bauchschmerz, kann jetzt schon die Anwendung psychologischer Verfahren zur Behandlung für die Praxis ohne weitere Forschung empfohlen werden. Forschung bedarf es aber noch bei der Prozessaufklärung der Wirkmechanismen und der Entwicklung hocheffizienter, d. h. ökonomischer und wirksamer Therapieansätze. Weiter ist hier die Nachhaltigkeit des Behandlungserfolgs (z. B. durch 5- bis 10-Jahres-Followups) zu prüfen. Schmerz bei Kindern bleibt somit noch auf lange Sicht eine Herausforderung für Forscher und Praktiker.

9.13

Zusammenfassung

Neuere Befunde lassen keinen Zweifel daran, dass bereits Säuglinge ein ausgeprägtes Schmerzempfinden besitzen. Weiter zeichnet sich ab, dass früh erlebter Schmerz, etwa durch medizinische Eingriffe, der nicht analgetisch behandelt wird, eine langfristige Sensibilisierung für noxische Reize

Die Evaluationsforschung zu kognitiv-behavioralen Interventionen bei schmerzhaften medizinischen Eingriffen hat prinzipiell bereits die Effektivität bestimmter Behandlungsstrategien nachgewiesen. Es wäre aber dringlich zu untersuchen, wie solche Strategien optimal in Klinikabläufe oder die Praxisroutine integriert werden könnten. Insgesamt sollten Experten in diesem Feld schon zum jetzigen Zeitpunkt mehr Augenmerk darauf richten, dass bereits gesicherte Erkenntnisse nutzbringend in die Behandlungspraxis übernommen werden. Dazu bedarf es einer wirksamen Aufklärungsarbeit in der Fach- und Laienöffentlichkeit. Der Impetus für die Implementierung schmerzmindernder kognitiv-behavioraler Verfahren (z. B. einfacher Ablenkungsprozeduren) bei Routineimpfungen oder Verfahren bei der Vorbereitung

zur Folge haben könnte. Befunde aus verschiedenen Ländern weisen weiter darauf hin, dass die medikamentöse Analgesie bei akuten Schmerzen, z. B. nach einer Operation, gerade bei Kindern und Jugendlichen mangelhaft ist und hier dringend Abhilfe geschaffen werden muss. Die Schmerzdiagnostik bei Kindern und Jugendlichen hat in den letzten Jahren erhebliche Fortschritte gemacht und reicht von Methoden der Verhaltensbeobachtung anhand von Kategoriensystemen bei Säuglingen bis zur Tagebuchdokumentation von Schmerzerleben und Schmerzverhalten, das von Kindern ab ca. 8 Jahren durchgeführt werden kann. > Als wesentlicher Fortschritt in der Schmerzdiagnostik wäre die systematische Implementierung

191 Kapitel 9 · Schmerz bei Kindern

dieser Verfahren in die Behandlungspraxis zu werten.

Forschungsergebnisse belegen, dass psychologische Maßnahmen auch bei akuten Schmerzen, infolge von Traumata oder medizinischen Eingriffen, indiziert sein können. Dazu gehören Interventionen wie Ablenkungsmethoden, Entspannungsund Atemtechniken, aber auch die Übertragung von Kontrolle über medizinisch notwendige Prozeduren auf das Kind. Eltern sollten in diese Interventionen einbezogen werden. Die häufigsten rekurrierenden funktionellen Schmerzsyndrome bei Kindern sind Kopf- und Bauchschmerzen. Hier haben sich neben Entspannungstraining und Biofeedbackverfahren multimodale kognitiv-behaviorale Programme als sehr wirksam erwiesen und sollten in die schmerztherapeutische Praxis integriert werden. Auch bei krankheitsbedingten Schmerzen, wie z. B. Arthritis, sollten psychologische Verfahren der Schmerzminderung und -bewältigung eingesetzt werden. Die Schmerztherapie bei Kindern und Jugendlichen ist ein lange vernachlässigtes Thema in Medizin und Psychologie gewesen, so dass ein erheblicher Rückstand in Forschung und Praxis aufzuholen ist.

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Teil II · Modulatoren des Schmerzes

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Schmerz und Alter H.-D. Basler

Aufgrund der demographischen Alterung der Bevölkerung werden chronische Schmerzkrankheiten – v. a. diejenigen, die auf degenerative Prozesse zurückzuführen sind – in Zukunft häufiger auftreten. Zurzeit wird sowohl die Schmerzdiagnostik als auch die Schmerztherapie im hohen Lebensalter als unbefriedigend angesehen. Eine der Ursachen hierfür könnte eine unzulässige Übertragung der Befunde zum Schmerzerleben alter Menschen aus laborexperimentellen Studien auf die Klinik sein. Für die Schmerzdiagnostik alter Menschen sollten speziell für diese Zielgruppe entwickelte Messinstrumente eingesetzt werden. Wie auch bei jüngeren Menschen sollte die Therapie interdisziplinär erfolgen und pharmakologische, physiotherapeutische und psychologische Interventionen umfassen, die vom Hausarzt koordiniert werden müssen. Allerdings sind altersspezifische Besonderheiten der therapeutischen Verfahren zu beachten.

10.1

Das Ausmaß des Problems

tistischen Bundesamtes die Lebenserwartung der männlichen Neugeborenen 75,59 Jahre, die der weiblichen Neugeborenen 81,34 Jahre, wobei im Vergleich zu den vorausgegangenen Jahren eine steigende Tendenz festgestellt wurde. Die durchschnittliche Lebenserwartung der bereits 80-jährigen Männer lag bei 7,14 Jahren, die der gleichaltrigen Frauen bei 8,57 Jahren. Der Anteil derjenigen, die 65 Jahre und älter sind, wird von heute etwa 15 % bis zum Jahre 2020 in den entwickelten Ländern auf 20–25 % der Population ansteigen. > Beachtenswert ist die Diskrepanz der Lebenserwartung zwischen Männern und Frauen. Die typische geriatrische Schmerzpatientin ist die Frau mit bereits verstorbenem Partner.

Menschen höheren Lebensalters können weder hinsichtlich ihres psychischen noch ihres körperlichen Befindens als eine homogene Gruppe angesehen werden. Häufig wird z. B. eine weitere Unterteilung hinsichtlich des Lebensalters vorgenommen. So wird von den „jungen Alten“ (60+), den Alten (75+), den Hochbetagten (90+) und den Langlebigen (100+) gesprochen. Die Orientierung dieser Klassifikation am Lebensalter ist allerdings zu hinterfragen. Geriater halten das biologische Alter für bedeutsamer als das kalendarische Alter, um einen geriatrischen Patienten zu kennzeichnen (Interdisziplinärer Arbeitskreis Schmerz im Alter 1999).

10.1.1 Demographie

Die demographische Entwicklung der Bevölkerung in den entwickelten Ländern legt es nahe, sich den spezifischen Gesundheitsproblemen älterer Menschen verstärkt zuzuwenden. Sowohl der Anteil der alten Menschen an der Bevölkerung als auch die durchschnittliche Lebenserwartung werden nach derzeitigen Prognosen weiterhin zunehmen. Im Jahre 2004 betrug nach Angaben des Sta-

10.1.2 Epidemiologie

Epidemiologische Daten zum Auftreten chronischer Schmerzzustände im Alter liegen vorwiegend aus amerikanischen und skandinavischen Studien vor. Schmerz ist ein häufiges Phänomen. Je nach Altersgruppe, Messverfahren und Schmerzdiagnosen schwankt die Zahl älterer Menschen,

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Teil II · Modulatoren des Schmerzes

die über ständig vorhandene oder rezidivierende Schmerzen klagen, erheblich und liegt zwischen 25 und 75 %. In einer schwedischen bevölkerungsbezogenen Studie berichten 3/4 der über 74-jährigen Personen über Schmerzen, 1/3 von ihnen über schwere und schwerste Dauerschmerzen (Brattberg et al. 1996). Es scheint einen Häufigkeitsgipfel zahlreicher Schmerzzustände im mittleren Lebensalter zu geben, sodass mit zunehmendem Alter ein rückläufiger Trend zu beobachten ist. Dies trifft für Kopfschmerz, Migräne und unspezifischen Rückenschmerz zu. Für Gelenkschmerzen, für Fibromyalgie und für schwere Dauerschmerzen wird dagegen eine Zunahme mit steigendem Lebensalter berichtet. Harkins u. Price (1992) kritisieren, dass die meisten epidemiologischen Studien nur Personen mit eigenem Haushalt einbeziehen, dass aber Schmerzkranke ein höheres Risiko der Hospitalisierung haben und daher in solchen Studien unterrepräsentiert sind. Unbestritten ist, dass unter Heimbewohnern die Prävalenz chronischer Schmerzen deutlich höher liegt als in der Gemeinde. Die Schätzungen reichen von 45–80 %. Von Pflegeheimbewohnern mit chronischen Schmerzen leiden 2/3 an intermittierenden und 1/3 an Dauerschmerzen. > Mit der Zunahme alter Menschen in der Bevölkerung wird es auch eine Zunahme chronischer Schmerzkrankheiten geben.

In nahezu allen Untersuchungen werden degenerative Gelenkerkrankungen (einschließlich der Wirbelgelenke) als häufigste Ursache chronischer Schmerzen im Alter genannt. Es folgen: 쎔 Karzinomschmerzen, 쎔 Schmerzen bei Osteoporose,

Abb. 10.1. Internationale Klassifikation der Krankheitsfolgen

쎔 쎔 쎔 쎔 쎔

Herpes zoster, Arteriitis temporalis, rheumatische Schmerzen, Polyneuropathien, Schmerzen infolge zeitlich zurückliegender Knochenbrüche.

10.1.3 Risiken

Wenngleich chronische Schmerzzustände auch im jüngeren Lebensalter das Risiko psychischer und sozialer Beeinträchtigung erhöhen, so sind doch ältere Schmerzpatienten in besonderem Maße gefährdet, in der Folge eines Schmerzproblems ihre soziale Unabhängigkeit einzubüßen. Insbesondere die häufigen degenerativen Erkrankungen führen zu einer Einschränkung der Mobilität und dadurch zu einer Bedrohung der Selbstständigkeit. Die erhöhte Prävalenz der Schmerzkrankheiten unter Heimbewohnern weist auf das gesteigerte Risiko der Hospitalisierung hin, wenn nämlich aufgrund des eingeschränkten sozialen Netzwerkes im Alter die schmerzbedingten Funktionsbeeinträchtigungen nicht mehr kompensiert werden können. > Bei alten Menschen gilt es noch stärker als bei jüngeren, die Krankheitsfolgen zu beachten und zu verhindern, dass eine körperliche Schädigung zu einer Einschränkung der Aktivitäten und der Teilhabe am sozialen Leben führt, wie es von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) beschrieben wurde (WHO 2001; Abb. 10.1).

Es ist unklar, ob die Prävalenz depressiver Zustände im Alter erhöht ist. Sicher scheint allerdings zu sein, dass ältere chronische Schmerzpatienten

197 Kapitel 10 · Schmerz und Alter

nicht häufiger depressiv reagieren als jüngere. Turk et al. (1995) kommen aufgrund pfadanalytischer Untersuchungen zu dem Ergebnis, dass nur bei älteren Schmerzpatienten ein direkter Zusammenhang zwischen depressiver Verstimmung und erlebter Schmerzintensität nachzuweisen ist, während bei jüngeren Personen dieser Zusammenhang stärker durch kognitive Variablen, wie z. B. die wahrgenommene Kontrolle, moderiert wird. Die Autoren sind der Auffassung, dass nur bei den älteren, nicht aber bei den jüngeren Patienten Veränderungen der Schmerzintensität einen direkten Einfluss auf die Depressivität ausüben können.

10.1.4 Versorgung

Trotz der Häufigkeit schmerzrelevanter Erkrankungen im Alter wird die schmerztherapeutische Versorgung als wenig befriedigend geschildert. Verschiedene Autoren berichten im Gegenteil von einer deutlichen Unterversorgung älterer Schmerzpatienten, die besonders gravierend bei Patienten mit kognitiven Beeinträchtigungen zu beobachten ist. Die Unterversorgung wird auf verschiedene Ursachen zurückgeführt: 쎔 Fehlinterpretationen der Befunde zum Schmerzempfinden älterer Menschen durch die Behandler, 쎔 unzureichende Schmerzdiagnostik, 쎔 Fehleinschätzungen der Erfolge der Therapie.

10.2

Schmerzerleben im Alter

10.2.1 Befunde aus dem Labor

Aufgrund der Erfahrung, dass sich bei vielen Personen die akustische, optische, gustatorische und olfaktorische Wahrnehmung mit steigendem Lebensalter verschlechtert, wurden Untersuchungen zu altersbedingten Veränderungen der Wahrnehmung auch für die Nozizeption durchgeführt. Sollte es tatsächlich zu einer Veränderung der Schmerzwahrnehmung kommen, könnte dem ja durchaus ein Sinn zugeschrieben werden. Eine verringerte Schmerzwahrnehmung könnte als adaptiv angesehen werden. Ältere Menschen erlebten dann einen nozizeptiven Reiz nicht in gleicher Weise als schmerzhaft wie jüngere Men-

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schen. Ihr Leiden unter dem Schmerz wäre voraussichtlich geringer. Bei gleicher Organpathologie benötigten sie möglicherweise andere oder weniger intensive Therapien. Studien, in denen untersucht wurde, ob sich die Schmerzempfindung mit steigendem Lebensalter verändert, bedienen sich der Methoden der Psychophysik zur Bestimmung 쎔 der Schmerzschwelle, 쎔 des Diskriminationsvermögens für nozizeptive Reize unterschiedlicher Intensität, 쎔 der Schmerztoleranz. Unter einer Schwelle versteht man die Bezeichnung für die Grenzwerte bei Empfindungen. Ein Schwellenreiz ist die geringste wahrnehmbare Reizstärke bzw. die Reizstärke, die eine eben merkliche Reaktion hervorruft. Das Diskriminationsvermögen wird gemessen, indem die Reizintensität so lange gesteigert wird bis eine von der ersten deutlich unterscheidbare Erhöhung der Reizstärke wahrgenommen wird. Die Toleranz stellt die Zeitdauer dar, die eine Person bereit ist, einen Reiz zu ertragen, ehe sie sich ihm entzieht (s. Kap. 15). > Experimentelle Schmerzmessung bezieht sich auf die Bestimmung der Schmerzschwellen, der Diskriminationsfähigkeit für Schmerzreize und der Schmerztoleranz.

Als nozizeptive Reize werden im Regelfall entweder Hitze- oder Kältereize, Druck oder elektrische Reize eingesetzt, die in ihrer Intensität gut zu kontrollieren sind. In Bezug auf die Schmerzschwellen zeigen die Studien ein uneinheitliches Bild. In etwa der Hälfte der Publikationen wurde gefunden, dass ältere Menschen höhere Schmerzschwellen als jüngere haben. Das heißt, ältere Menschen benötigten eine größere Reizintensität, ehe sie einen potenziell nozizeptiven Reiz als schmerzhaft bezeichneten. In anderen Studien hingegen wurden keine Alterseffekte festgestellt, und in einer Studie wird sogar über eine niedrigere Schwelle bei den Älteren berichtet. Lautenbacher (1999) fand signifikante Erhöhungen der Schwellen nur bei Messungen am Fuß, nicht aber bei Messungen an der Hand und betont, dass Altersveränderungen der Schmerzwahrnehmung nicht überall am Körper zum gleichen Zeitpunkt und bei gleicher Lokalisation in Erscheinung treten. In einer neueren Untersu-

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Teil II · Modulatoren des Schmerzes

chung berichten Lautenbacher et al. (2002) zudem, dass bei Druckreizen, die nicht nur auf die Hautoberfläche sondern auf die Muskulatur ausgeübt wurden, bei älteren Menschen eine niedrigere Schmerzschwelle gefunden wurde als bei jüngeren. Die Autoren schließen daraus, dass die zuvor berichtete gesteigerte Schmerzschwelle im Alter ein Artefakt der eingesetzten Untersuchungsmethode sein könnte. Übereinstimmend zeigen die vorliegenden Untersuchungen, dass die Diskriminationsfähigkeit für Schmerzreize bei älteren Menschen geringer ist als bei jüngeren und dass die Schmerztoleranz mit steigendem Lebensalter abnimmt, wobei als nozizeptive Reize in diesen Studien Elektroschocks, Druck auf die Achillessehne und Eiswasser (Cold-pressor-Test) verwendet wurden. Mit Bezug auf die verringerte Diskriminationsfähigkeit im Alter bezweifeln Harkins u. Price (1992), dass diese Befunde als Indiz für eine geringere Schmerzempfindsamkeit zu interpretieren seien. Sie führen die erzielten Ergebnisse vielmehr auf die verwendeten Messverfahren zurück und halten diese für nicht angemessen, um bei älteren Menschen zuverlässige Daten zu liefern. Die Versuchspersonen hatten nämlich die Aufgabe, die Intensität eines elektrischen Reizes auf einer Ratingskala mit 6 Abstufungen einzuschätzen. Eine zutreffende Zuordnung der erlebten Schmerzintensität zu der tatsächlichen Reizstärke erforderte von ihnen einen Vergleich der unterschiedlichen Intensität zeitlich aufeinanderfolgender Reize. Diese Aufgabe kann am besten von Personen mit einer hohen „fluiden“ Intelligenz (Anpassung an neue Aufgaben, Orientierung in neuen Situationen, schlussfolgerndes Denken) gelöst worden, die im Gegensatz zu der „kristallinen“ Intelligenz (Erfahrungswissen, Sprachverständnis) mit dem Lebensalter abnimmt. In Wirklichkeit seien also in dem Experiment nicht Unterschiede der Schmerzdiskriminierung, sondern Unterschiede spezifischer intellektueller Fähigkeiten gemessen worden. Nicht die Diskriminierung der Schmerzreize, sondern die intellektuellen Fähigkeiten seien altersabhängig. Schlussfolgerungen, die aus dieser Datenlage gezogen werden, sind unterschiedlich. Gagliese u. Melzack (1997b) vertreten die Auffassung, das Schmerzempfinden älterer Menschen sei im Vergleich zu jüngeren verringert. Sie stützen diese Interpretation auch auf tierexperimentelle Unter-

suchungen, nach deren Ergebnissen die Befundlage offenbar eindeutiger ist.Auf dem Hintergrund neuerer Untersuchungen vertreten wir hingegen eine andere Auffassung. Zum einen sind selbst in den älteren Studien, die sich auf die Reizung der Hautoberfläche beziehen, die Unterschiede der Schmerzschwellen zwischen jüngeren und älteren Personen so gering, dass sie klinisch keine große Bedeutung zu haben scheinen – insbesondere wenn es um den chronischen und nicht den akuten Schmerz geht. Zum anderen scheint der v. a. im Alter klinisch relevantere Tiefenschmerz bei gleicher Reizung von älteren Menschen sogar intensiver erlebt zu werden als von jüngeren. Harkins u. Price formulierten bereits im Jahre 1992 pointiert: „Age is not an analgesic!“ Als gesichert kann hingegen das Ergebnis einer geringeren Schmerztoleranz im Alter gelten. Dennoch stellt sich die Frage, wieweit experimentell induzierter Schmerz im Labor repräsentativ für den Umgang mit chronischem Schmerz im Alltag sein kann. Es könnte auch ein Zeichen von Altersweisheit sein, sich den im Labor induzierten Schmerzen eher zu entziehen als Jüngere dieses tun. > Age is not an analgesic! 10.2.2 Befunde aus Schmerzkliniken

Aus amerikanischen Schmerzkliniken liegen einige Studien vor, in denen untersucht wurde, ob sich ältere von jüngeren Patienten hinsichtlich der Diagnosen und der bei den jeweiligen Diagnosen berichteten Schmerzintensität bzw. Beeinträchtigung unterscheiden (Harkins u. Price 1992). Hiernach waren in den Kliniken bei über 65-jährigen die Diagnosen Osteoporose und Herpes zoster überrepräsentiert. Unter ihnen fanden sich seltener als bei jüngeren solche Personen, deren Schmerz auf ein traumatisches Ereignis oder auf Bedingungen am Arbeitsplatz zurückgeführt werden konnte. Die Größe der als schmerzhaft angegebenen Körperoberfläche unterschied sich bei älteren und jüngeren Patienten mit derselben medizinischen Diagnose nicht. Die älteren Patienten wiesen zwar bei der Aufnahme eine größere Anzahl organpathologischer Befunde als jüngere Patienten auf, die berichtete Schmerzintensität, die berichtete

199 Kapitel 10 · Schmerz und Alter

emotionale Beeinträchtigung und die berichtete Funktionsbehinderung wichen allerdings in den Altersgruppen bei gleicher Diagnose nicht voneinander ab. Die in der Klinik behandelten älteren Patienten hatten zwar 4-mal so viele Arztkontakte und Krankenhausaufenthalte aufzuweisen wie die jüngeren, dennoch gaben sie keine Unterschiede in der erlebten Schmerzintensität an, wohl aber beschrieben sie sich als emotional stärker beeinträchtigt. > Zusammenfassend kann davon ausgegangen werden, dass die in multidisziplinäre Kliniken aufgenommenen älteren Patienten sich hinsichtlich ihres Schmerzerlebens nicht bedeutsam von den dort aufgenommenen jüngeren Patienten unterscheiden.

Auch dieser Sachverhalt macht deutlich, dass die in Laborstudien gefundene Altersabhängigkeit der Schmerzschwelle offenbar für die klinische Versorgung nur von geringer Relevanz ist.

10.3

Schmerzdiagnostik im Alter

tienten allerdings durch eine Merkaufgabe gewonnen werden, die in Analogie zu einer entsprechenden Aufgabe aus der Skala entwickelt wurde.Wenn ein Patient nicht in der Lage ist, auch nur ein einziges Item dieser Aufgabe zu erinnern, sollte auf den Einsatz der üblicherweise bei jüngeren Menschen zur Schmerzmessung eingesetzten Instrumente verzichtet werden (Basler et al. 2001). Screeningaufgabe zur kognitiven Beeinträchtigung (nach Basler et al. 2001)

쎔 Interviewer: die Begriffe langsam und

쎔 쎔

> Bei der Diagnostik chronischer Schmerzzustände im Alter müssen altersspezifische Probleme berücksichtigt werden.

Die Anamnese wird bei alten Menschen häufig durch kognitive Leistungseinbußen oder sensorische Beeinträchtigungen erschwert.Aus denselben Gründen ist auch das Ausfüllen von Fragebögen häufig mit großen Schwierigkeiten verbunden. Nach dem Gesundheitsbericht für Deutschland (Statistisches Bundesamt 2005) leiden 15 % der über 80-jährigen und 25 % der über 85-jährigen an einer Demenz. Weit größer ist aber der Anteil derjenigen mit leichter oder mittlerer kognitiver Beeinträchtigung. Das am häufigsten verwendete Instrument zur Erfassung der kognitiven Beeinträchtigung ist die „Mini-Mental-State Scale“ (Folstein et al. 1975), deren Einsatz allerdings einen Zeitaufwand von etwa 20 min erfordert und die deswegen in der Praxis der Schmerzdiagnostik außerhalb von spezialisierten Einrichtungen wenig angewandt wird. Nach eigenen Untersuchungen kann ein Eindruck über die kognitiven Fähigkeiten eines Pa-

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쎔 쎔 쎔 쎔

쎔 쎔 쎔 쎔

deutlich – im Abstand von jeweils ca. 1 s – nennen, ggf. die Begriffe wiederholen, bis alle 3 gelernt wurden. Die Anzahl der notwendigen Versuche wird notiert (max. sind 6 Versuche zulässig). Wenn nicht alle 3 Begriffe zu diesem Zeitpunkt reproduziert werden können, erübrigt es sich, den nachfolgenden Gedächtnistest durchzuführen. Und nun eine Frage zu Ihrem Gedächtnis. „Bitte merken Sie sich: Haus, Brot, Hand. Wiederholen Sie bitte jetzt diese Begriffe.“ „Haus“ beim ersten Versuch reproduziert 쎔 1: ja 쎔 2: nein „Brot“ beim ersten Versuch reproduziert 쎔 1: ja 쎔 2: nein „Hand“ beim ersten Versuch reproduziert 쎔 1: ja 쎔 2: nein Anzahl der Versuche: _______ Nach etwa 2–3 min, in denen das Interview mit anderen Fragen fortgesetzt wird: „Und nun zurück zu den Dingen, die Sie sich gemerkt haben.Was waren die Dinge, die ich Ihnen vorhin genannt habe?“ „Haus“ reproduziert 쎔 1: ja 쎔 2: nein „Brot“ reproduziert 쎔 1: ja 쎔 2: nein „Hand“ reproduziert 쎔 1: ja 쎔 2: nein Anzahl der reproduzierten Items: _______

200

Teil II · Modulatoren des Schmerzes

Die Schmerzdiagnostik in höherem Alter kann weiterhin dadurch erschwert werden, dass viele ältere Menschen Schmerzen für ein normales Phänomen des Alters halten und daher den Arzt gar nicht darüber informieren (Nikolaus 1994). Sie stellen in ihren Äußerungen stärker die Folgen des Schmerzes – wie z. B. Schlafstörungen, Lustlosigkeit oder Beeinträchtigung der Alltagsfunktionen – in den Vordergrund. > Es ist daher wichtig, direkt nach dem Schmerz zu fragen, wenngleich die Diagnostik des Schmerzes allein durch eine solche Frage nicht als ausreichend angesehen werden kann.

Es konnte gezeigt werden, dass die Frage „Leiden Sie an Schmerzen?“ deutlich häufiger zu falsch-negativen Befunden führte als die Anwendung einer standardisierten Messskala, die den Patienten vorgelegt wurde und sie zur Einschätzung der vorhandenen Schmerzintensität aufforderte (Kamel et al. 2001). Die Angaben der Patienten sollten insbesondere dann, wenn bereits kognitive Leistungseinbußen vorliegen, durch Angaben von Angehörigen ergänzt werden.

10.3.1 Schmerzintensität und Lokalisation

Das am häufigsten auch im Alter eingesetzte Instrument zur Diagnostik der Schmerzintensität ist die visuelle Analogskala (VAS).Hierbei handelt es sich um eine 10 cm lange Linie mit den Polen „kein Schmerz“ und „schlimmster vorstellbarer Schmerz“, wobei die Patienten gebeten werden, den Punkt zu markieren, der ihrer eignen Schmerzerfahrung entspricht. Dieses Verfahren führt zu reliablen und validen Befunden,wenngleich die Anzahl falscher Selbsteinstufungen mit dem Alter zunimmt.

> Viele ältere Menschen kommen mit einer verbalen Ratingskala besser zurecht als mit der visuellen Analogskala.

Bei der verbalen Ratingskala wird eine Abstufung in diskreten Schritten vorgenommen, wobei als Ankerreize Adjektive zur Beschreibung der Intensität verwendet werden, z. B. geringer, starker, unerträglicher Schmerz. Bei kognitiver Beeinträchtigung in höherem Lebensalter wird darüber hinaus vorgeschlagen, wieder auf Messinstrumente zurückzugreifen, wie sie bei Kindern verwendet werden, so z. B. auf „Smilies“, d. h. auf Schablonen von Gesichtern, die durch die dargestellte Mimik unterschiedliche Ausmaße des Schmerzes kundtun (Gagliese u. Melzack 1997a; Wong 2000; Abb. 10.2). Chibnall u. Tait (2001) kritisieren allerdings die „Smily“-Skala, da sie nach ihren Untersuchungen zu einer eingeschränkten Varianz der Messwerte führt. Auch für kognitiv beeinträchtigte alte Menschen empfehlen diese Autoren die „21-Point Box Scale“. Hierbei handelt es sich um eine Reihe von 21 Kästchen, die in Abständen von 5 Zählern von 0–100 gekennzeichnet sind. 0 hat den Ankerreiz „kein Schmerz“ und 100 den Ankerreiz „der schlimmste vorstellbare Schmerz“. Zur Dokumentation der Lokalisation wird im Regelfall ein Körperschema verwendet, wobei ältere, kognitiv oder sensorisch beeinträchtigte Patienten abweichend von jüngeren die schmerzenden Stellen nicht selbst in dieses Schema einzeichnen sollten, sondern vom Untersucher aufgefordert werden, die schmerzenden Stellen mit dem Finger zu umfahren, wobei anschließend die Dokumentation durch den Untersucher vorgenommen wird (Basler et al. 2001).

Abb. 10.2. Die FACES-Skala (Wong 2000)

201 Kapitel 10 · Schmerz und Alter

10

10.3.2 Schmerzanamnese

10.4

> Bei der Schmerzanamnese sind mögliche kogni-

In höherem Lebensalter wird aufgrund der häufiger vorliegenden degenerativen Erkrankungen häufiger als bei jüngeren Menschen die Ursache des Schmerzes gar nicht oder nur sehr schwierig zu beheben sein.

tive Leistungseinbußen oder sensorische Beeinträchtigungen zu beachten.

Hier hat sich ein strukturiertes Schmerzinterview bewährt, das die Bereiche „Schmerzlokalisation“, „Schmerzintensität“, „Schmerzdauer und -persistenz“ und „Beeinträchtigung“ sowie emotionale und kognitiven Reaktionen umfasst und auch bei mittelgradiger kognitiver Beeinträchtigung zuverlässige Angaben erlaubt (Basler et al. 2001). Ergänzend wird eine Fremdanamnese zu Medikation, vorherigen Behandlungen und Wohnsituation vorgegeben. Große diagnostische Probleme stellen sich allerdings bei stark kognitiv beeinträchtigten bzw. bei dementen Patienten. Hier gibt es Versuche, statt der Selbstbeschreibung die Beobachtung des Schmerzverhaltens zu berücksichtigen. Schonverhalten, Grimassieren und direkte Schmerzäußerungen könnten der Messung des Schmerzes zugrunde gelegt werden, wie es derzeit von einer französischen Arbeitsgruppe versucht wird (http://www.doloplus.com). Wir selbst haben eine Beobachtungsskala für sprachlich nicht kommunikationsfähige Patienten mit Alzheimer-Demenz aus dem Amerikanischen übersetzt (Warden et al. 2003) und deren Gütekriterien an einer Stichprobe von 99 Patienten in einem fortgeschrittenen Stadium einer Demenz in acht Pflegeeinrichtungen überprüft. Die Beobachtung bezieht sich auf fünf Verhaltenskategorien, die eindeutig operationalisiert sind: Atmung, Lautäußerungen, Gesichtsausdruck, Körpersprache und Reaktion auf Tröstung. gute Werte für die interne Konsistenz, die RetestReliabilität sowie die Übereinstimmung zwischen verschiedenen Beobachtungen weisen auf die Zuverlässigkeit der Messung hin. Die Validität der Skala konnte unter anderem dadurch belegt werden, dass das beobachtete Schmerzverhalten in einem zeitlichen Zusammenhang mit Gabe und Entzug einer analgetischen Medikation auftrat (Basler et al. 2006). Nikolaus (1994) vertritt die Auffassung, dass die bisher in der Praxis häufig anzutreffende Schmerzdiagnostik, die nicht spezifisch auf die Bedürfnisse des älteren Patienten abgestimmt ist, zu einem „Underreporting“ tatsächlich vorhandener Schmerzzustände führt.

Therapie

> Schmerzfreiheit als Therapieziel ist daher irrealistisch und würde bei Patienten und Therapeuten zu Frustrationen führen.

Als Therapieziel tritt daher noch stärker als bei jüngeren Menschen die Förderung der Lebensqualität trotz weiterhin vorhandener Schmerzen in den Vordergrund. Dieses Ziel kann erfolgreich durch einen multidisziplinären Behandlungsansatz erreicht werden, in dem neben pharmakologischen Maßnahmen auch bewegungstherapeutische, psychologische und sozialtherapeutische Interventionen vertreten sind (Kee et al. 1996). > Schmerztherapie im Alter sollte stets multidisziplinär erfolgen, wobei die Koordination der Behandlung in den Händen des Hausarztes liegt (Interdisziplinärer Arbeitskreis Schmerz im Alter 1999).

Besondere Probleme der Schmerztherapie stellen Patienten im terminalen Stadium dar. In einer jüngst veröffentlichten Metaanalyse konnten Pan et al. (2000) nachweisen, dass komplementäre Verfahren – wie transkutane elektrische Nervenstimulation (TENS), Akupunktur, Massage – und Entspannungsverfahren, wie die progressive Muskelrelaxation, auch bei Patienten im Endstadium ihres Leidens positive Wirkungen auf den Schmerz entfalten können. Eine hohe Wirksamkeit konnte auch für imaginative und hypnotische Techniken zusätzlich zu einer pharmakologischen Therapie nachgewiesen werden. Unabhängig von der Art der Intervention sollte auch im klinischen Alltag deren Erfolg überprüft werden. Die in dem vorausgegangenen Abschnitt dargestellten Methoden des Schmerzassessment sollten daher auch zur Therapieüberprüfung eingesetzt werden. Hierbei sind Schmerztagebücher, die entweder von den Betroffenen oder den betreuenden Personen zu jedem Messzeitpunkt mindestens über eine Woche geführt werden sollten, zuverlässiger als einmalige Erhebungen der Schmerzintensität.

202

Teil II · Modulatoren des Schmerzes

10.4.1 Pharmakologische Therapie

Obwohl Menschen über 65 Jahren die häufigsten Konsumenten von verschreibungspflichtigen Arzneimitteln sind, liegen kaum klinische Studien vor, die der Verordnung als Entscheidungsgrundlage dienen könnten. Im Regelfall werden ältere Personen aufgrund der häufig zu beobachtenden Multimorbidität und ihrer im Vergleich zu jüngeren Personen veränderten Stoffwechsellage aus klinischen Prüfstudien ausgeschlossen. Vielleicht ist das ein Grund, weshalb unerwünschte Arzneimittelwirkungen bei älteren Patienten öfter als bei jüngeren zu beobachten sind. Die aufgrund der Vielzahl der Diagnosen erforderliche Polymedikation macht es zudem notwendig, die Wechselwirkungen der Medikamente zu berücksichtigen und eine geeignete Galenik und Dosierung auszuwählen, durch die alterstypische Veränderungen der Pharmakokinetik und Pharmakodynamik berücksichtigt werden. Wie bei jüngeren Menschen gilt auch im Alter, dass Medikamente zeitkontingent und nicht schmerzkontingent verabreicht werden sollten. > Auch im Alter gilt es bei der Behandlung chronischer Schmerzen als Kunstfehler, Medikamente nach Bedarf und nicht nach einem festen Zeitschema zu verordnen!

Unter Berücksichtigung des Wissens über Veränderungen der Pharmakokinetik und -dynamik im Alter können grundsätzlich alle Schmerzmedikamente, die sich in klinischen Studien als wirksam erwiesen haben, auch im Alter gegeben werden. Hierbei

sollte unabhängig von der Schmerzdiagnose das Stufenschema der WHO berücksichtigt werden. Dieses wurde ursprünglich für die Behandlung von Tumorscherzen entwickelt, gewinnt aber zunehmend Anerkennung für die Behandlung chronischer Schmerzzustände. Auf der ersten Stufe stehen die nichtopioidhaltigen Analgetika. Sie werden bei unzureichender Schmerzlinderung mit schwachen Opioiden kombiniert. Wird auch hierdurch der Schmerz nicht ausreichend gelindert, werden starke Opioide, wie Morphin oder Methadon, eingesetzt. Adjuvant werden bei entsprechender Indikation Antidepressiva und Antikonvulsiva verordnet. Nähere Einzelheiten über Handelsnamen der Analgetika und Dosierungsempfehlungen sind der Publikation des Interdisziplinären Arbeitskreises Schmerz im Alter (1999) zu entnehmen. Als besonderes Problem der Schmerztherapie in Deutschland wird die zurückhaltende Verordnung opioidhaltiger Analgetika der Stufe 3 in höherem Lebensalter angesehen. Hierdurch besteht die Gefahr, dass den Betroffenen eine wirksame Schmerzlinderung vorenthalten wird. Nach Informationen des International Narcotic Control Board (INCB 2001) in Wien nimmt Deutschland in Westeuropa im Vergleich zu den skandinavischen Staaten eher einen unteren Platz bei der Verordnung von Morphinen ein (Abb. 10.3). Als Grund hierfür wird heute nach der Liberalisierung der Betäubungsmittelverschreibungsverordnung im Jahre 1998 in erster Linie die Angst der Behandler vor der Abhängigkeit der Patienten angesehen. Diese Angst ist dann unbegründet, wenn die Verordnung nach einem festen Zeitschema und nicht nach Bedarf erfolgt. Abb. 10.3. Morphingebrauch für medizinische Zwecke in den Ländern Westeuropas im Jahre 1999. (Nach: International Narcotic Control Board)

203 Kapitel 10 · Schmerz und Alter

10.4.2 Physiotherapie, Trainingstherapie,

physikalische Therapie Die Bedeutung körperlicher Inaktivität für den Prozess der Chronifizierung des Schmerzes ist bekannt. Schmerz führt häufig zu Schonverhalten, Schonverhalten zu einem Funktionsdefizit, das die Gefahr von Verletzungen und damit weiteren Schmerzen erhöht. Hierdurch bildet sich ein Circulus vitiosus, der ein Dekonditionierungssyndrom begünstigt (Liebenson 1996). In der Literatur wird auf die Möglichkeiten der physiotherapeutischen Behandlung von Schmerzen im Alter noch wenig eingegangen. Dabei ist be-

kannt, dass der mangelnde Trainingszustand im Alter zur Reduktion der Muskelkraft, zu Haltungsschwäche, Muskeldysbalancen, zur leichten Ermüdbarkeit und auch zu Stimmungsschwankungen führen kann. Die Vorteile eines aeroben Krafttrainings werden bei älteren Patienten durch mehrere Untersuchungen belegt. Für Patienten mit chronischen Gelenk- und Muskelschmerzen wird eine Physiotherapie und aktive Trainingstherapie zur Reduktion der Gelenkbelastung, zum Erhalt bzw. Aufbau der Muskelkraft, zur Verbesserung von Koordination und Stabilität sowie zur Erhaltung der Mobilität von einigen Autoren sogar als unerlässlich angesehen (Flynn u. Wigley 1995). Diese Auffassungen werden durch die Empirie gestützt und auch durch die Erfolge einer Trainingstherapie bei Patienten mit chronischem Rückenschmerz auch in Deutschland bestätigt (Pfingsten 1998). Einschränkend ist zu sagen, dass sich die meisten Studien auf ein gemischtes Patientengut beziehen, d. h. auf jüngere wie auch ältere Patienten. > Die wenigen Studien, die sich ausschließlich auf ältere Patienten bezogen, lassen es allerdings als wahrscheinlich erscheinen, dass eine den Bedürfnissen älterer Personen angepasste Trainingstherapie nicht nur zu einer verringerten Schmerzintensität, sondern auch zu einer Verbesserung von depressiven Verstimmungen sowie Angst- und Spannungszuständen führt, die ja häufig den chronischen Schmerz begleiten (DGSS 1998).

Bei physikalischen Maßnahmen im engeren Sinne wird der Organismus Reizen in Form von Druck

10

und Zug, elektrischem Strom, ionisierenden Strahlen, Temperaturen, Licht, Luft und klimatischen Einflüssen ausgesetzt. Solche Maßnahmen können die Schmerzbehandlung unterstützen, sie sollten aber ausschließlich in Kombination mit Verfahren eingesetzt werden, die den Patienten aktivieren, also z. B. in Kombination mit einer Trainingstherapie oder den anschließend abgehandelten psychologischen Verfahren.

10.4.3 Psychologische Therapie

Psychologische Verfahren streben an, den Patienten von einer Fremdkontrolle zu einer Selbstkontrolle des Schmerzes zu führen. > Die Verfahren sind ohne eine aktive Mitarbeit des Patienten nicht durchführbar.

Der Patient wird von einem Empfänger medizinischer Dienstleistungen zu einem aktiven Partner des Therapeuten. Schulungen der Patienten sowie Übungs- und Trainingsprogramme für die Umsetzung des Erlernten in den Alltag sind unverzichtbare Bestandteile einer jeden Therapie und werden häufig auch als Programme zum Schmerzmanagement bezeichnet (Basler 2001). Untersuchungen über Alterseffekte multidisziplinärer Programme liegen ebenfalls aus amerikanischen multidisziplinären Schmerzzentren vor. Einige frühe Publikationen aus den 1980er Jahren haben dazu geführt, eher ungünstige Effekte mit steigendem Lebensalter zu erwarten. Die Erfolgsraten der Behandlung nahmen mit steigendem Lebensalter ab. Als Konsequenz daraus wurde z. B. empfohlen, Biofeedbackverfahren wegen angeblicher Unwirksamkeit bei älteren Patienten nicht einzusetzen. In einer Übersicht führen Kee et al. (1996) eine kritische Bewertung dieser frühen Studien durch. Sie bemängeln v. a., dass bei der Messung des Therapieerfolgs das jeweilige Ausgangsniveau der Patienten nicht berücksichtigt und dass älteren Patienten nicht dasselbe Therapieprogramm wie jüngeren angeboten worden war. Zwar scheinen sich bei gleicher Diagnose ältere von jüngeren Patienten nicht hinsichtlich der erlebten Schmerzintensität zu unterscheiden. Wie allerdings zuvor dargelegt wurde, haben ältere Patienten häufig andere Schmerzdiagnosen als jüngere, sie weisen in

204

Teil II · Modulatoren des Schmerzes

höherem Ausmaß als jüngere eine Multimorbidität auf und haben daher bereits bei Eingang in die Studien eine den jüngeren Patienten nicht vergleichbare Ausgangslage. Wenn jetzt, wie das in den Studien geschehen ist, diese unterschiedlichen Bedingungen nicht berücksichtigt werden, wenn zudem noch einige nur bei jüngeren als wirksam angesehene Verfahren gar nicht eingesetzt werden, ist ein ungünstiges Ergebnis zu Lasten der älteren wahrscheinlich. Wird hingegen bei der Erfolgsmessung die Multimorbidität der Patienten berücksichtigt, werden die beobachteten Effekte bei den Älteren im Vergleich zu den Jüngeren deutlich besser. Inzwischen gibt es Studien, die auch bei älteren Patienten von erfolgreicher Anwendung von Biofeedbackverfahren berichten. Auch mit Bezug auf operante und kognitive Verfahren konnte nachgewiesen werden, dass ältere in gleicher Weise wie jüngere Patienten davon profitieren. So waren bei der Analyse der Behandlungsdaten bei der Mehrzahl der Erfolgsmaße keine Unterschiede zwischen Älteren und Jüngeren zu erkennen. Zum Beispiel konnten altersgleiche Erfolgsraten hinsichtlich der Kriterien „Schmerzintensität“ und „Bewegungstoleranz“ festgestellt werden. Unterschiede ergaben sich in der Fähigkeit, ohne Schmerz eine vorher festgelegte Strecke zu gehen, was bei den Älteren schlechter möglich war als bei den Jüngeren. Ältere Patienten zeigten stärker als jüngere eine Verringerung der emotionalen Belastung, während die jüngeren ihre motorischen Fertigkeiten stärker verbesserten. Bei den Älteren konnte jedoch im Gegensatz zu den Jüngeren eine bessere Befolgung des täglichen Übungsprogramms beobachtet werden. Zugunsten der älteren Patienten trat eine deutlich stärkere Reduktion der in der Folge verursachten Behandlungskosten auf als bei den jüngeren. Eine Übersicht über die in den letzten Jahren zu dieser Thematik durchgeführten Studien findet sich bei Gibson und Weiner (2005). Die Befürchtung, ältere Patienten seien nicht motiviert oder nicht befähigt, erfolgreich an einer aktivierenden Therapie mitzuwirken, haben sich als grundlos herausgestellt. > Voraussetzung für den Therapieerfolg ist es allerdings, dass die therapeutischen Strategien den Bedürfnissen der älteren Patienten angepasst werden.

Modifikation therapeutischer Strategien

쎔 Die Instruktionen müssen vereinfacht und













häufig wiederholt werden, sie sollen zudem schriftlich vorliegen (z. B. bei physiotherapeutischem Training oder bei Entspannungsverfahren). Der Kontakt zwischen Therapeut und Patient soll intensiviert werden. Hierzu gehört es auch, dass während der Instruktion der räumliche Abstand zwischen Therapeut und Patient gering gehalten werden sollte, um das Hörverständnis zu erleichtern. Die Therapeuten sollen besonders deutlich und langsam sprechen und sich auf mögliche Hörbehinderungen einstellen. Die Anzahl der Sitzungen soll erhöht und ihr jeweiliger zeitlicher Umfang verringert werden, um einer möglichen verringerten Aufmerksamkeitsspanne entgegenzukommen. Während des Programms zur Steigerung der körperlichen Aktivität soll die Steigerung des Schwierigkeitsgrads in sehr kleinen Abstufungen vorgenommen werden. Damit wird der Tatsache Rechnung getragen, dass es bei älteren Patienten leichter als bei jüngeren bei zunehmender Beanspruchung zu einem Aufflammen des Schmerzes kommt. Vor einer Übungsbehandlung soll die Medikation insbesondere bei solchen Patienten überprüft werden, die regelmäßig Benzodiazepine einnehmen. Durch diese Präparate wird die Lernfähigkeit beeinträchtigt, was eine Verhaltensänderung erschweren kann. Psychologische Therapie sollte als Teil einer interdisziplinären Behandlung erfolgen, die sowohl eine adäquate Pharmakotherapie als auch eine physiotherapeutische Übungsbehandlung unter Einschluss aktiver und passiver Maßnahmen umfasst. Der alte Mensch benötigt einen konstanten Ansprechpartner. Für diese Funktion ist am besten der Hausarzt geeignet.

205 Kapitel 10 · Schmerz und Alter

10.5

Pflege

Die häusliche Pflege des älteren chronischen Schmerzpatienten wird im Regelfall durch den etwa gleichalten Partner oder die eigenen Kinder vorgenommen, wobei ggf. eine Unterstützung durch soziale Pflegedienste erfolgt. > Um die Compliance in der Schmerztherapie zu fördern, ist eine eingehende Information der Pflegepersonen über das Therapieschema sowie über die für die Erfolgskontrolle benötigte Schmerzmessung erforderlich.

Den Angehörigen müssen Schmerztagebücher, die zur Therapieüberwachung eingesetzt werden, ebenso wie die zur Schmerzdiagnostik verwendeten Ratingskalen erklärt werden. Auch hier gilt die Regel, dass schriftliche Informationen die mündlich gegebenen ergänzen sollen. Das Therapieschema muss so verständlich dargestellt werden, dass die Gefahr einer Über- oder Untermedikation vermieden wird. Bei der Verordnung von Opioiden muss auf die zu erwartenden Ängste und Befürchtungen eingegangen werden, die nicht nur bei den Patienten, sondern auch bei den Angehörigen zu finden sind. Um die Compliance zu erleichtern, sind Dosierungshilfen in Form von Tablettenschachteln hilfreich, durch die der Tages- und Wochenbedarf den Einnahmezeiten zugeordnet wird. Desweiteren sollen die Angehörigen darüber aufgeklärt werden, dass die häusliche Hilfe nicht zu einer Infantilisierung des Patienten führen darf.Aus laborexperimentellen Studien ist bekannt, dass eine selektive Zuwendung des Partners bei Schmerzäußerungen und Schonverhalten des Patienten zu einer Zunahme des Schmerzerlebens und einer Einschränkung der körperlichen Aktivität mit den oben genannten negativen Folgen führt. > Die Angehörigen sollten daher ermuntert werden, die Aktivität der Patienten und nicht deren Schonverhalten zu verstärken. Ablenkung vom Schmerz durch eine anregende häusliche Umgebung und Förderung sozialer Kontakte können die medikamentöse Schmerztherapie unterstützen.

Nicht zu kontrollierender Schmerz ist häufig eine Ursache dafür, dass Patienten ihre Selbstständigkeit aufgeben und in Alten- oder Pflegeheim aufsuchen müssen. Dieser Grund trägt dazu bei, dass,

10

wie zuvor berichtet, die Prävalenz chronischer Schmerzzustände in diesen Einrichtungen erhöht ist. US-amerikanische Studien zeigen auf, dass jeder 4. Heimbewohner mit chronischen Schmerzen gar nicht oder nicht adäquat algesiologisch versorgt wird. Das betrifft auch die Versorgung dementer Patienten. Herr u. Mobily (1996) erklären die Unterversorgung dadurch, dass das Personal nicht ausreichend geschult sei, Schmerzzustände zu erkennen und wegen des damit häufig verbundenen Aufwands nicht ausreichend motiviert sei, eine adäquate Schmerztherapie zu veranlassen. Die betroffenen Patienten selbst ergriffen ebenfalls keine Initiative, da sie sich entweder hilflos fühlten, kognitiv beeinträchtigt seien oder die bereits zuvor zitierte Auffassung teilten, Schmerz gehöre zum Alter und müsse daher fatalistisch ertragen werden. Als Lösung schlagen die Autoren eine verbesserte Ausbildung des Pflegepersonals vor.

10.6

Zusammenfassung

Im Alter ist von einem Underreporting des Schmerzes auszugehen. Die Ursache hierfür liegt in der von Therapeuten und Betroffenen geteilten Überzeugung, Schmerz gehöre zum Alter und müsse daher ertragen werden. Folglich soll der Behandler von sich aus auf den Schmerz zu sprechen kommen und den Bericht darüber nicht der Initiative des Patienten überlassen. Hierbei sollten standardisierte Messinstrumente eingesetzt werden. Eine wirksame Schmerzbehandlung unterbleibt oft deshalb, weil Fehlurteile über das Abhängigkeitspotenzial von Opioiden verbreitet sind und weil ein multidisziplinärer Behandlungsansatz nicht für effektiv gehalten wird. Entgegen dieser Annahme ist auch im Alter eine multidisziplinäre Behandlung einer ausschließlichen medikamentösen Therapie überlegen. So gibt es keinerlei bedeutsame Hinweise darauf, dass ältere Menschen nicht in gleicher Weise wie jüngere von einer multidisziplinären Behandlung des Schmerzes

profitieren können. Voraussetzung für die Mitarbeit und den Erfolg ist es, sich auf die spezifischen Bedürfnisse älterer Menschen einzustellen und das Therapieprogramm entsprechend anzupassen. Die medikamentöse Schmerztherapie soll durch trainingstherapeutische und andere, den Patienten aktivierende Maßnahmen ergänzt werden. Die Steigerung der Übungsanforderungen muss in sehr kleinen Schritten erfol-

206

Teil II · Modulatoren des Schmerzes

gen. Weiterhin ist zu beachten, dass viele Patienten Ängste haben, die Aktivität könne ihnen schaden und den Schmerz verstärken. Eine Aufklärung der Patienten und der pflegenden Angehörigen über den Zusammenhang zwischen Schmerz und Aktivität sowie über die Vor- und Nachteile einer effektiven Schmerztherapie sind unerlässlich,um die Mitarbeit in der Therapie zu sichern. Wie die zur Verfügung stehende Literatur ausweist, ist die empirische Basis zur Beurteilung diagnostischer und therapeutischer Verfahren für ältere Patienten noch schmal. In Anbetracht der zu erwartenden Zunahme des Anteils älterer Schmerzpatienten und der höheren Anforderungen, die an die schmerztherapeutische Versorgung dieses Personenkreises in Zukunft gestellt werden, sollte die Forschung über Schmerzkrankheiten im Alter und deren Behandlung intensiviert werden.

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207

11

Schmerz und Geschlecht C. Zimmer-Albert

Laborexperimentelle Untersuchungen scheinen die Alltagserfahrung zu bestätigen: Frauen reagieren empfindlicher als Männer auf Schmerzreize. Die erhöhte Schmerzsensitivität könnte möglicherweise ein Risikofaktor für die Entstehung chronischer Schmerzzustände sein. Auch in der Klinik sind deutliche Unterschiede in der Prävalenz von Schmerzdiagnosen zu Lasten der Frauen zu beobachten, wenngleich eine Differenzierung nach der Schmerzlokalisation vorgenommen werden muss. Zur Erklärung der beobachteten Unterschiede zwischen den Geschlechtern werden sowohl biologische als auch psychosoziale Bedingungen diskutiert. Sowohl die Wirkung der Sexualhormone als auch die Reagibilität des endogenen Schmerzkontrollsystems, die vorhandenen Geschlechtsrollenstereotype und die Emotionalität werden als bedingende Variablen berücksichtigt. Das Wissen um geschlechtsbezogene Unterschiede des Schmerzerlebens und Schmerzverhaltens könnte zu einer Verbesserung der Therapie durch eine Berücksichtigung geschlechtsspezifischer Wirkfaktoren beitragen.

11.1

Einleitung

Die meisten Menschen nehmen an, dass Frauen und Männer unterschiedlich auf Schmerz reagieren.Allerdings sind die Meinungen geteilt, wie diese Unterschiede beschaffen seien. So wird häufig vermutet, dass Männer weniger schmerzempfindlich seien und ihre Sozialisation darauf hinziele, Schmerzäußerungen als Zeichen von Schwäche

zu erachten und dementsprechend zu unterdrücken, während Frauen dazu ermutigt würden, ihre Gefühle zu äußern und auch Schmerzen mitzuteilen. Andererseits wird häufig das Stereotyp bemüht, dass Männer „wehleidiger“ seien als Frauen und die Menschheit schon längst ausgestorben sei, wenn die Fortpflanzung davon abhinge, dass Männer Kinder bekommen und den Geburtsschmerz ertragen müssten. Trotz dieser landläufigen Annahmen zu geschlechtsbezogenen Unterschieden in der Schmerzempfindung waren diese in der Schmerzforschung lange Zeit kein Thema. So konstatierte Karen Berkley in einem Artikel mit dem provokativen Titel „Vive la différence“ 1992 nach einer Recherche in etwa 100 neurowissenschaftlichen Zeitschriften, dass in etwa 45 % der Publikationen das Geschlecht der Probanden bzw. Versuchstiere nicht mitgeteilt wird und plädierte für die wissenschaftliche Untersuchung von geschlechtsbezogenen Unterschieden. Weitere Stimmen schlossen sich diesem Urteil an (z. B. Fillingim u. Maixner 1995; Unruh 1996), und heute, nach etwa 15 Jahren, können wir auf eine beträchtliche klinische und experimentelle Forschungsliteratur zu diesem Thema zurückgreifen. Roger Fillingim kommt in einer Übersichtsarbeit zum Thema Schmerz und Geschlecht aus dem Jahre 2000 zu dem Schluss „Women and men really are different“, obwohl die Meinungen geteilt sind und bezweifelt wird, dass die Varianz zwischen Männern und Frauen größer sei als die erhebliche Variabilität innerhalb der Geschlechter (Fillingim 2000c). Nachdem man sich lange Zeit fast ausschließlich mit der Frage beschäftigt hat, ob geschlechtsbezogene Unterschiede in Schmerzwahrnehmung, -verarbeitung und -verhalten überhaupt existieren und nachdem nun zu dieser Frage differenzierte Ergebnisse vorliegen, ist es heute von besonderem Interesse, die Mechanismen dieser Unterschiede

Teil II · Modulatoren des Schmerzes

208

zu erforschen und die praktische Relevanz für den klinischen Alltag zu ermitteln (Fillingim 2000a). Allerdings mangelt es heute noch immer an einem plausiblen Modell darüber, auf welche Art und Weise die Geschlechtszugehörigkeit die Schmerzsensitivität beeinflussen kann.

11.2

Geschlechtsbezogene Unterschiede in der Epidemiologie von Schmerzsymptomen und klinischen Schmerzsyndromen

Das Erleben von Schmerzen ist ein weit verbreitetes Phänomen, und fast jeder leidet im Laufe eines Jahres ein- oder mehrmals an Schmerzen (Kohlmann u. Raspe 1992). > Epidemiologische Studien zeigen darüber hinaus generell auf, dass Frauen eine größere Anzahl von Schmerzsymptomen berichten, mehr betroffene Körperareale angeben und aufgrund von Schmerzen häufiger professionelle Hilfe in Anspruch nehmen.

Ein Beispiel dafür ist die Übersicht von Unruh (1996), die insgesamt 118 internationale epidemiologische Studien zu häufig auftretenden Schmerzarten – wie Kopfschmerz, Gesichtsschmerz, muskuloskelettale Schmerzen, Rücken- und abdominelle Schmerzen – untersuchte. Bei fast allen Schmerzarten zeigten sich stärkere, häufigere und länger anhaltende Schmerzen bei Frauen. Hinzu kamen mäßig bis stark ausgeprägte frauenspezifische Schmerzen aufgrund von Menstruation, Schwangerschaft und Geburt. > In 2 repräsentativen Querschnitterhebungen in Deutschland aus den Jahren 1975 und 1994, in denen mittels des Gießener Beschwerdebogens (GBB) aktuell auftretende Schmerzen erfasst wurden, zeigte sich, dass das Geschlecht der befragten Personen einen bedeutsamen Einfluss auf das Schmerzerleben hatte.

Bei der Erhebung im Jahre 1975 wurden bei fast allen untersuchten Schmerzlokalisationen signifikante geschlechtsbezogene Unterschiede erkennbar: Frauen berichteten über ausgeprägtere Glieder-, Rücken-, Nacken- und Kopfschmerzen. Lediglich bei Magenschmerzen ergab sich kein

signifikanter Geschlechtseffekt. Interessanterweise zeigten sich in der Folgestudie von 1994 signifikante geschlechtsbezogene Unterschiede allein noch bei Nacken- und Kopfschmerzen, während sich die Prävalenzraten bei Glieder-, Rücken- und Magenschmerzen zwischen Frauen und Männern nicht bedeutsam voneinander unterschieden (Schumacher u. Brähler 1999). Die Geschlechtsabhängigkeit von körperlichen Beschwerden scheint demnach in der deutschen Bevölkerung zurückgegangen zu sein. Das Bundesgesundheitssurvey 1998 beinhaltete schmerzepidemiologische Fragen und gestattet für die deutsche Bevölkerung erstmals differenzierte Aussagen zur Prävalenz von Schmerzen sowie deren Lokalisation und Intensität und ermöglicht eine Differenzierung nach Alter, Geschlecht und Schichtzugehörigkeit. Bei Frauen ergab sich über alle Schmerzlokalisationen und Altersgruppen hinweg durchgängig eine größere Prävalenz von Schmerzen. Hier bildete lediglich der Brustschmerz eine Ausnahme, bei dem Männer eine geringfügig höhere Auftretenshäufigkeit angaben (Bellach et al. 2000). Bis zum Alter von 40 Jahren klagten Frauen am häufigsten über Kopfschmerzen, Männer über Rückenschmerzen. Mit Ausnahme der Kopfschmerzen, deren Prävalenz sich bei beiden Geschlechtern mit dem Älterwerden verringerte, nahm bei allen anderen Schmerzlokalisationen die Häufigkeit der Nennung mit steigendem Alter zu. Dies steht im Gegensatz zu Befunden aus anderen Studien, in denen eine Verminderung der Schmerzhäufigkeit mit steigendem Alter gefunden wurde (Unruh 1996). Dieser augenscheinliche Widerspruch kann dadurch aufgelöst werden, dass zum einen zwischen Schmerz und Alter häufig eine umgekehrt U-förmige Beziehung mit einem Prävalenzmaximum in der Altersgruppe der 45bis 64-jährigen zu finden ist (Brattberg et al. 1989). Zum anderen muss die Schmerzart berücksichtigt werden. Brustschmerz nimmt beispielsweise bei beiden Geschlechtern mit dem Alter zu, abdomineller Schmerz dagegen nur bei Frauen. Muskuloskelettale Schmerzen steigen bei Männern insgesamt mit dem Alter an, allerdings bilden Rückenund Hüftschmerzen eine Ausnahme, bei denen es zu einer Abnahme kommt (Brattberg et al. 1997). Es ergeben sich somit bereits sehr differenzierte Prävalenzmuster, wenn man lediglich die Prävalenzen der verschiedenen Schmerzarten in ihren

209 Kapitel 11 · Schmerz und Geschlecht

Altersverläufen untersucht. Berücksichtigt man

zusätzlich das Geschlecht, so werden, wie im Folgenden zu sehen sein wird, die Muster noch komplexer. > Geschlechtsbezogene Unterschiede im Auftreten von Schmerzen sind in fast allen Altersstufen zu verzeichnen (Brattberg et al. 1989, 1996, 1997).

11

Nach Berkley (1997) entstehen Probleme bei der Beurteilung geschlechtsbezogener Unterschiede bei Schmerzen zusätzlich durch die Tatsache, dass sich auch die Symptome bestimmter Erkrankungen (z. B. Colon irritabile, Migräne, koronare Herzerkrankung) bei beiden Geschlechtern in unterschiedlicher Form präsentieren, wodurch die Diagnose und damit die Prävalenz der Erkrankung beeinflusst werden. Es gibt eine komplexe Beziehung zwischen dem Geschlecht und dem Auftreten von Schmerzen. Bei den meisten Schmerzarten ist eine etwa 1,5fach erhöhte Prävalenz bei Frauen festzustellen. Ebenso berichten Frauen über intensivere und länger andauernde Schmerzen und geben mehr betroffene Körperareale an. Über die Lebensspanne sind die geschlechtsbezogenen Unterschiede in fast allen Altersstufen vorhanden. Die Größe der Unterschiede ist abhängig von der Art der Schmerzen. Werden soziodemographische Faktoren und Komorbidität kontrolliert, so ergibt sich dennoch ein unabhängiger Effekt der Geschlechts. In diesem Zusammenhang wird meist die Frage gestellt, ob Schmerzen bzw. mit Schmerzen verbundene Störungen bei Frauen wirklich häufiger auftreten oder ob Frauen lediglich auf gleich starke Schmerzreize intensiver reagieren als Männer, was bedeuten würde, dass sich die Prozesse der Schmerzverarbeitung zwischen den Geschlechtern unterscheiden. Neben den bisher aufgezeigten geschlechtsbezogenen Unterschieden in Häufigkeit, Intensität und Dauer von Schmerzen berichten klinische Studien tatsächlich von geschlechts-

Brattberg et al. (1996) konnten aufzeigen, dass Frauen im Vergleich zu Männern im Alter von etwa 18–44 Jahren und schließlich im hohen Alter ab 77 Jahren mehr Schmerzen aufweisen. Dieser Geschlechtsunterschied ist in den mittleren Jahren und im frühen Alter nicht derart stark ausgeprägt. LeResche (2000) berichtet hinsichtlich der Prävalenz von insgesamt 5 verschiedenen chronischen Schmerzzuständen (Rückenschmerz, Kopfschmerz, Magenschmerz, Brustschmerz und temporomandibulärer Schmerz), dass Frauen bis zum Alter von etwa 65 Jahren sowohl häufiger Schmerzen als auch mehr Schmerzlokalisationen angeben als Männer. Im höheren Lebensalter nähern sich Frauen und Männer wieder einander an. Dennoch sind die Zusammenhänge auch hier nicht ganz so einfach wie eben dargestellt. Die Prävalenzraten von Gelenkschmerzen, Fibromyalgie und Schulterschmerz sind bei Frauen durchweg höher als bei Männern, zudem steigen sie bei beiden Geschlechtern bis zum Alter von 65 Jahren an. Bei Rückenschmerz sind die Geschlechtsunterschiede weniger stark ausgeprägt, und es ist im höheren Alter eine Abnahme zu beobachten. Auch bei abdominellen Schmerzen und Kopfschmerzen scheinen die Prävalenzraten mit dem Alter abzunehmen, wobei die Altersabnahme am stärksten bei den Kopfschmerzen der Frauen zu beobachten ist. Ein weiteres interessantes Ergebnis ist die Tatsache, dass sich bei der statistischen Kontrolle weiterer soziodemographischer Variablen wie Bildungsstand und ethnische Zugehörigkeit sowie somatischer und psychiatrischer Komorbidität der Einfluss des Geschlechts auf die Anzahl der Symptome nicht verringerte, sondern sich vielmehr akzentuierte (Kroenke u. Spitzer 1998).

folgen (Fillingim 2000b). So zeigten sich zwar keine Unterschiede im Gesamtniveau der Depressionswerte von Patientinnen und Patienten mit chronischen Schmerzen, die Geschlechter unterschieden sich aber qualitativ hinsichtlich der Ausprägung einer Reihe von depressiven Symptomen, wie Erschöpfung und Verzerrung der Körperwahrnehmung. Darüber hinaus war das Ausmaß der Depressivität bei den Schmerzpatientinnen mit der Schmerzintensität assoziiert, bei den Schmerzpatienten dagegen mit der schmerzbedingten körperlichen Behinderung.

> Der Geschlechtseffekt scheint also unabhängig

> Es kann festgehalten werden, dass

von soziodemographischen Variablen und der psychiatrischen Komorbidität zu bestehen.

bezogenen Differenzen in der Verarbeitung der Schmerzen sowie in den beobachteten Schmerz-

쎔 Frauen über häufigere und intensivere Schmerzen berichten,

Teil II · Modulatoren des Schmerzes

210

쎔 es für bestimmte Schmerzarten entweder ei쎔 쎔

11.3

ne weibliche oder männliche Dominanz gibt, die Symptome einiger mit Schmerzen verbundener Erkrankungen sich bei Frauen und Männern unterscheiden, Prozesse der Verarbeitung chronischer Schmerzen sich möglicherweise geschlechtsbezogen unterscheiden.

Geschlechtsbezogene Unterschiede bei experimentell induziertem Schmerz

Geschlechtsbezogene Unterschiede bei laborexperimentell induzierten Schmerzen wurden mit einer Vielzahl unterschiedlicher Schmerzinduktionsmethoden und Schmerzmessmethoden untersucht. Fillingim u. Maixner (1995) berichten in einer Übersichtsarbeit, dass Frauen bei Druckschmerz durchweg eine höhere Schmerzsensitivität aufweisen als Männer. Auch in Studien, die mit elektrischer Stimulation arbeiten, ergibt sich bis auf wenige Ausnahmen eine höhere Schmerzsensitivität bei den Frauen. Weniger einheitlich sind die Ergebnisse von Studien zu Hitzeschmerz, die teilweise keine geschlechtsbezogenen Unterschiede feststellen konnten, andererseits aber herausfanden, dass Frauen die Schmerzstimulation früher abbrachen und somit weniger als die an der Studie teilnehmenden Männer motiviert waren, auch intensive Hitzereize zu tolerieren.

Krämpfe, Muskelschmerzen, Muskelübersäuerung). Diese Auffassung wird bestätigt durch eine Metaanalyse, die quantitative Daten über das Ausmaß von geschlechtsbezogenen Unterschieden bei experimentell induziertem Schmerz erbringen sollte (Riley et al. 1998). Die Analyse ergab mittlere bis hohe Effektstärken in Abhängigkeit von der verwendeten Schmerzinduktionsmethode sowie vom eingesetzten Schmerzmessparameter. Die höchsten Effektstärken ergaben sich sowohl für die Schmerz- als auch für die Toleranzschwellen bei Druckschmerz und elektrischer Stimulation. Hitzeschmerzreize zeigten geringere und variablere Effekte. Berkley (1997) konstatiert in ihrer Übersicht, dass bei sorgfältiger Betrachtung die gefundenen geschlechtsbezogenen Unterschiede letztlich nur gering und zudem unter streng kontrollierten experimentellen Bedingungen nur inkonsistent nachweisbar seien. Fillingim (2000b) kommt zu dem Ergebnis, dass die zusammengetragenen Daten zwar die Annahme einer erhöhten Schmerzsensitivität bei Frauen bestätigen, dass aber eine große Variabi-

lität im Ausmaß dieser Effekte vorliege. Die Frage „Gibt es geschlechtsbezogene Unterschiede in der Schmerzwahrnehmung?“ kennzeichne jedoch nur den Anfang der Forschung auf diesem Gebiet. Während diese heute mit den eben genannten Differenzierungen getrost mit „Ja“ beantwortet werden könne, so gelte es mittlerweile, komplexere Sachverhalte zu untersuchen, wie z. B. die Art des Zusammenspiels der an der Entstehung dieser Unterschiede beteiligten Mechanismen.

> Lautenbacher u. Rollman (1993) konnten in

> Geschlechtsunterschiede der Schmerzsensiti-

einer Studie unter Verwendung von 2 unterschiedlichen Schmerzstimulationsmethoden belegen, dass der Nachweis geschlechtsbezogener Unterschiede von der Art der Schmerzstimulation abhängt. Inkonsistente Ergebnisse in experimentellen Schmerzstudien können folglich durch die verwendete Stimulationsmethode bedingt sein (Fillingim 2000).

vität gelten in laborexperimentellen Studien als gesichert. Sie treten besonders deutlich bei der Induktion von Tiefenschmerz auf.

Fillingim u. Maixner (1995) vertreten die Auffassung, dass geschlechtsbezogene Unterschiede am ehesten bei Schmerzinduktionsmethoden zu beobachten sind, die eine tiefe, tonische Schmerzsensation bewirken (z. B. mechanischer, ischämischer oder Kälteschmerz) und somit „natürlichen“ Schmerzen ähnlich sind (z. B. Kopfschmerz,

11.4

Zusammenhang zwischen experimentellen und klinischen Befunden

Gibt es einen Zusammenhang zwischen der größeren Schmerzsensitivität bei laborexperimentell induzierten Schmerzen und dem höheren Ausmaß der in der Klinik berichteten Schmerzsymptome bei Frauen? Fillingim (2000b) vertritt die Hypothese, dass geschlechtsbezogene Unterschiede in der Sensitivität für experimentelle Schmerzreize

211 Kapitel 11 · Schmerz und Geschlecht

einen Risikofaktor für die Entwicklung chronischer Schmerzsyndrome bei Frauen darstellen. Bisher gibt es für diese Annahme fast ausschließlich korrelative Befunde. So zeichnen sich beispielsweise einige bei Frauen häufiger als bei Männern vorkommende Schmerzsyndrome (z. B. Kopfschmerz vom Spannungstyp, Fibromyalgie, temporomandibulärer Schmerz und Colon irritabile) durch eine erhöhte Schmerzsensitivität bei experimentell induziertem Schmerz aus. Weiterhin konnten Studien belegen, dass eine stärkere Schmerzwahrnehmung im Laborexperiment mit intensiver erlebtem klinischen Schmerz einherging. Da es nicht auszuschließen ist, dass eine in einer klinischen Stichprobe erhöhte Schmerzsensitivität im Laborexperiment eine Folge und nicht eine Ursache der chronischen Schmerzsymptomatik darstellt, gingen Fillingim et al. (1999) der Frage nach, ob gesunde Probandinnen und Probanden, die über häufigere Schmerzereignisse im letzten Monat berichteten, ebenfalls eine erhöhte Sensibilität bei der Messung von Schmerzschwelle und -toleranz auf einen thermischen Schmerzreiz erkennen ließen. Es stellte sich heraus, dass die weiblichen Versuchsteilnehmer eine höhere Anzahl an Schmerzorten sowie eine höhere Sensibilität bei der experimentellen Schmerzstimulation aufwiesen. Besonders interessant war, dass eine höhere Anzahl an Schmerzepisoden im letzten Monat lediglich bei Frauen mit einer höheren Schmerzsensibilität bei der thermischen Stimulation zusammenhing, nicht aber bei den untersuchten Männern. Es könnte also sein, dass experimenteller Schmerz für Frauen klinisch relevanter ist als für Männer. Weiterhin wird nahegelegt, dass klinischer und experimenteller Schmerz miteinander in Beziehung stehen. Um die Frage zu klären, ob die laborexperimentell erfasste Schmerzsensitivität tatsächlich ein Prädiktor für die Entwicklung klinischer Schmerzen ist, wären groß angelegte prospektive Studien vonnöten. > Studien, die den Zusammenhang zwischen klinischen und experimentellen Schmerzen untersuchen, unterstützen die Annahme, dass klinischer und experimenteller Schmerz miteinander in Beziehung stehen. Dieser Zusammenhang scheint v. a. für Frauen klinisch relevant zu sein.

11.5

11

Geschlechtsbezogene Unterschiede in der Schmerzsensitivität – Einflussfaktoren und Mechanismen

Auf welche Faktoren sind diese gefundenen Unterschiede zurückzuführen? Besitzen Frauen eine höhere Wahrnehmungssensitivität für noxische Reize? Liegt die Schwelle, einen Stimulus als schmerzhaft zu bewerten, bei Frauen niedriger als bei Männern? Sind Sozialisationsunterschiede verantwortlich, die es für Frauen akzeptabler machen, Schmerz zu zeigen? > Die heute favorisierten multidimensionalen und biopsychosozialen Modelle gehen von einem komplexen Zusammenspiel biologischer, psychologischer und sozialer Faktoren aus.

Geschlechtsbezogene Unterschiede können auf mehreren Ebenen der Schmerzverarbeitung auftreten, sodass die anspruchsvolle Aufgabe in einer Klärung der Rolle und des Zusammenspiels der einzelnen Faktoren und Ebenen besteht. Pragmatisch wird zumeist zwischen biologischen und psychosozialen Erklärungsansätzen

unterschieden. Diese Differenzierung darf die Interaktionen und Interdependenzen der beteiligten Mechanismen nicht vernachlässigen: So entfalten psychologische und psychosoziale Faktoren ihre Effekte über biologische Mechanismen, und biologische Zustände können wiederum auf psychologische und psychosoziale Prozesse einwirken. Abbildung 11.1 zeigt eine schematische Darstellung einer biopsychosozialen Sichtweise von geschlechtsbezogenen Unterschieden bei Schmerz mit den wichtigsten Einflussfaktoren, die heute diskutiert werden. Wenn man nun davon ausgeht, dass die aufgeführten Aspekte die verschiedenen Stadien der Verarbeitung eines Schmerzreizes beeinflussen können, und wenn man zudem annimmt, dass Frauen und Männer sich in einigen dieser Bereiche unterscheiden, so wäre es eher überraschend, keine geschlechtsbezogenen Unterschiede in der Reaktion auf Schmerzen zu finden. Notwendig ist es nun, anhand der vorliegenden Einzelergebnisse ein komplexes theoretisches Modell zu entwickeln, das die bisherigen Befunde einordnet und spezifische Hypothesen für die weitere Forschung ermöglicht.

212

Teil II · Modulatoren des Schmerzes

Abb. 11.1. Schematische Darstellung von Einflussfaktoren auf die Entwicklung geschlechtsbezogener Unterschiede bei Schmerz. (Nach Fillingim 2000a)

11.5.1 Biologische Unterschiede

Hormonelle Faktoren – Einfluss der Sexualhormone auf Schmerz

Weiterhin kann vermutet werden, dass diejenigen Prozesse, an denen Sexualhormone beteiligt sind, geschlechtsbezogene Unterschiede aufweisen (Berkley 1997). Dementsprechend wird die Wirkung der Steroidhormone häufig zur Erklärung geschlechtsbezogener Unterschiede in der Schmerzwahrnehmung herangezogen. Tatsächlich gibt es sowohl aus Tierstudien als auch aus Untersuchungen am Menschen Belege für deren schmerzmodulierende Eigenschaften. So ist beispielsweise aus Tierstudien bekannt, dass Nozizeption und endogene Schmerzmodulation mit dem Menstruationszyklus variieren, und auch im Humanbereich konnte nachgewiesen werden, dass Schmerzreaktionen bei Frauen von der Zyklusphase beeinflusst werden (Berkley 1997; Fillingim 2000b). Dieses Ergebnis wurde durch eine Metaanalyse von Studien, die Schmerzreaktionen auf verschiedene experimentelle Schmerzreize in Abhängigkeit von der menstruellen Zyklusphase untersuchten, bestätigt (Riley et al. 1998).

Die 3 Sexualhormone oder Steroidhormone Östrogen, Progesteron und Testosteron sind jeweils bei

> Es zeigte sich, dass Reaktionen auf experimen-

Welche biologischen Unterschiede in den Mechanismen der Schmerzverarbeitung führen dazu, dass Frauen eine höhere Schmerzsensitivität aufweisen als Männer? Als besonders bedeutsam in diesem Zusammenhang werden hormonelle Faktoren, speziell die Sexualhormone, sowie Unterschiede in der Funktionsweise endogener Schmerzkontroll- und Neurotransmittersysteme

eingeschätzt (Berkley 1997; Fillingim 2000c). Als weitere biologische Faktoren werden Blutdruck und Körpergröße genannt, deren differenzieller Einfluss auf die Schmerzsensitivität bei Frauen und Männern nach heutigem Erkenntnisstand aber eher als gering beurteilt werden muss (Rollman et al. 2000).

beiden Geschlechtern vorhanden, sodass es eigentlich nicht korrekt ist, von „weiblichen“ und „männlichen“ Hormonen zu sprechen. Allerdings bestehen zwischen den Geschlechtern große Unterschiede sowohl in der Produktion, den Biorhythmen, den biologischen Funktionen als auch im Metabolismus der Sexualhormone. Allein diese Differenzen legen die Annahme nahe, dass Sexualhormone an Prozessen, bei denen geschlechtsbezogene Unterschiede beobachtet werden, beteiligt sind.

tell induzierten Schmerz vom Menstruationszyklus abhingen.

Die höchste Schmerzsensitivität wurde bei fast allen Schmerzstressoren während der Lutealphase gefunden, wobei die Effektstärken allerdings eher mäßig bis gering ausgeprägt waren. Nach heutigem Erkenntnisstand kann somit davon ausgegangen werden, dass Zykluseffekte nur einen Teil der Variabilität von weiblichen und männlichen Schmerzreaktionen erklären können.

213 Kapitel 11 · Schmerz und Geschlecht

Spielen Lernmechanismen eine Rolle? Obwohl auch Männer chronobiologischen Veränderungen unterworfen sind, erfahren sie insgesamt wesentlich geringere Hormonschwankungen als Frauen. Berkley (1997) nimmt an, dass sowohl akute Schmerzreaktionen als auch persistierende Schmerzen bei Frauen über den Lernmechanismus der klassischen Konditionierung beeinflusst sein könnten. > Im Rahmen der hormonellen Veränderungen während des weiblichen Zyklus könnten Menstruationsschmerzen über Lernprozesse eine Kopplung mit einer bestimmten Hormonkonzentration erfahren. Letztere wird zu einem konditionierten Stimulus und damit zum Schmerzanlass.

Dies könnte auch Schmerzen von Frauen nach der Menopause erklären, die weiterhin unter Symptomen von Dysmenorrhö leiden. Obwohl es aus Tierstudien einige Belege für solche Konditionierungsprozesse gibt, ist derzeit noch unklar, ob dies auch für den Menschen zutrifft. Allerdings könnten assoziative Lernprozesse eine gute Erklärung für Schmerzzustände ohne Vorliegen einer klaren Organpathologie liefern.

Endogene Schmerzhemmung – Ergebnisse zur stressinduzierten Analgesie Endogene Systeme, die die Schmerzwahrnehmung modulieren, scheinen bei Frauen und Männern unterschiedlich zu reagieren. Ein in Tierstudien gut untersuchter Bereich ist die stressinduzierte Analgesie (SIA). So fand man, dass weibliche Ratten bei verschiedenen Stressoren sowohl eine geringere opioid- als auch nichtopioidvermittelte SIA zeigten als männliche Ratten. Diese Effekte sind offenbar durch Sexualhormone vermittelt (Fillingim 2000c, Berkley 1997). > Generell scheinen hormonelle Bedingungen, die entweder durch einen erhöhten Östrogenspiegel oder auch durch einen erhöhten Östrogenspiegel in Kombination mit einem erhöhten Progesteronspiegel gekennzeichnet sind, mit erhöhten Schmerzreaktionen und verminderten analgetischen Reaktionen auf Stress oder Opioidgabe in Zusammenhang zu stehen (Fillingim u. Ness 2000).

11

Während Tierstudien eine größere Opioidanalgesie bei männlichen Versuchstieren zum Ergebnis haben, legen Untersuchungen im Humanbereich das Gegenteil nahe. Miaskowski u. Levine (1999) schließen aufgrund der Befundlage aus Studien, die den postoperativen, von den Patienten selbstangeforderten Verbrauch von Morphium über eine Medikamentenpumpe untersuchten, dass die analgetische Wirkung von Opioiden bei Frauen stärker ausgeprägt sei. In diese Richtung weisen auch weitere Untersuchungen, die die analgetische Wirkung unterschiedlicher Morphinderivate prüften (Fillingim 2000a). Mogil et al. (1993) konnten zudem im Tierversuch qualitative Unterschiede der Morphinwirkung belegen. Diese Autoren fanden, dass weibliche und männliche Mäuse zwar ein gleiches Ausmaß an Analgesie bei Schwimmstress aufwiesen, diese aber bei den männlichen Tieren durch eine Opioidrezeptorblockade aufgehoben werden konnte, bei den Weibchen dagegen nicht. > In Belastungssituationen ist die stressinduzierte Analgesie bei Frauen wahrscheinlich stärker ausgeprägt als bei Männern.

Zentrales und peripheres Nervensystem Sexualhormone beeinflussen mehrere Wege der Schmerzmodulation, bei denen das ZNS beteiligt ist. So verändern sie die Konzentrationen einer Reihe von neuroaktiven Substanzen, die an der Schmerzverarbeitung beteiligt sind, wie z. B. Substanz P, Aminosäuren – wie GABA (Gammaaminobuttersäure) und Glutamat – und andere Neurotransmitter wie Serotonin, Dopamin und Noradrenalin (Berkley 1997; Fillingim u. Ness 2000).

> Interaktionen zwischen den Sexualhormonen und zentralen neuromodulatorischen Systemen könnten die grundlegende Schmerzsensitivität sowohl durch eine Herabregulierung der endogenen Schmerzkontrollmechanismen als auch durch die Modulation der analgetischen Reaktionen auf pharmakologische Substanzen verändern (Fillingim u. Ness 2000).

Neben der Wirkung auf zentralnervöse Prozesse wird weiterhin angenommen, dass Sexualhormone die Nozizeption bereits in der Peripherie auf

214

Teil II · Modulatoren des Schmerzes

der Ebene der primären Afferenzen beeinflussen. Hier gibt es Ergebnisse aus Tierstudien, dass Östrogengabe Eigenschaften der rezeptiven Felder der primären Afferenzen des Trigeminusnervs verändern kann. Schwangerschaft und das Hormon Progesteron beeinflussen die Nervenleitfähigkeit von somatischen und viszeralen peripheren Nerven für die Wirkung von Lokalanästhetika (Fillingim u. Ness 2000). Die bisherige Forschungslage legt nahe, dass Sexualhormone periphere wie auch zentrale Effekte ausüben, die die Schmerzmodulation beeinflussen. Allerdings muss die praktische Relevanz dieser Befunde noch geklärt werden.

entfalten. Sie könnten zum einen direkte Einflüsse auf die Evaluation von Schmerzen ausüben, zum anderen aber auch als kognitive Mediatoren von eingesetzten Copingstrategien wirksam werden. > Bei der Betrachtung von experimentellen Studien zum Zusammenhang zwischen kognitivem Coping, Selbstwirksamkeitserwartungen und Schmerz zeigt sich allgemein, dass ausgeprägte Selbstwirksamkeitserwartungen die Anwendung von Schmerzbewältigungsstrategien sowie das Ausmaß der Schmerztoleranz günstig beeinflussen.

Kognitive Copingstrategien zeigten bessere Effek-

> Die Sexualsteroide beeinflussen sowohl periphere als auch zentrale Mechanismen, die an der Verarbeitung eines Schmerzreizes beteiligt sind. Allerdings sind das Ausmaß der Effekte sowie die Rolle, die sie in der Pathophysiologie spielen, derzeit noch unklar.

Die Sexualsteroide können die vorgefundenen Unterschiede in der Schmerzsensitivität zwischen Männern und Frauen teilweise, aber nicht vollständig erklären. Geschlechtsbezogene biologische Faktoren stellen jedoch nur eine Auswahl von Variablen dar, die die Schmerzreaktion beeinflussen. Es muss davon ausgegangen werden, dass der Einfluss soziodemographischer, psychologischer und psychosozialer Faktoren diese Beziehungen modulieren oder auch maskieren kann.

11.5.2 Psychologische Faktoren

Kognitive Faktoren Experimentelle Studien, die kognitive Faktoren in die Untersuchung von geschlechtsbezogenen Unterschieden bei Schmerz einbeziehen, sind bisher noch rar (Robinson et al. 2000), obwohl man annimmt, dass sie beim Prozess der Schmerzverarbeitung eine bedeutende Rolle spielen. Kontrolle und Selbstwirksamkeitserwartungen.

Seit einiger Zeit wird dem Einfluss von Selbstwirksamkeitserwartungen auf die Schmerzsensitivität vermehrt Beachtung geschenkt. Die Befundlage ist allerdings uneinheitlich, und es ist bisher auch nur unzureichend geklärt, über welche Mechanismen Selbstwirksamkeitserwartungen ihre Wirkung

te, wenn sie mit positiven als mit negativen Selbstwirksamkeitserwartungen verbunden waren. Fillingim et al. (1996) wiesen allerdings nach, dass sich die Korrelationsmuster zwischen psychologischen Variablen und der Reaktion auf einen thermischen Schmerzreiz geschlechtsbezogen unterscheiden: Höher ausgeprägte Kontrollannahmen und Selbstwirksamkeitserwartungen waren ausschließlich bei Frauen mit einer geringeren Schmerzsensitivität assoziiert. Bei Männern dagegen bestand eine positive Korrelation zwischen Angst und Schmerzsensitivität. Die psychologischen Variablen „Selbstwirksamkeit“ und „Kontrollerwartung“ könnten also in geschlechtsbezogener Weise die Schmerzreaktionen von Frauen und Männern beeinflussen, allerdings bieten die Autoren nur Spekulationen über die Ursache der beobachteten Unterschiede an. Studien, die die Kognitionen von Patientinnen und Patienten mit chronischen Schmerzen untersuchten, bestätigen diese in experimentellen Untersuchungen gefundenen Geschlechtsunterschiede nicht. Es existieren somit keine ausreichenden Belege für die klinische Relevanz der in den experimentellen Studien gefundenen Ergebnisse. Copingstile und katastrophisierende Kognitionen. Es gibt nur wenige Studien, die geschlechts-

bezogene Schmerzbewältigungsstile direkt untersucht haben, obwohl eine Reihe von Autoren annimmt, dass Frauen und Männer durch soziale Einflüsse unterschiedliche Copingstile zum Umgang mit Schmerzen erwerben (Robinson et al. 2000). Insgesamt gesehen legt die Literatur nach einer Übersichtsarbeit dieser Autoren nahe, dass

215 Kapitel 11 · Schmerz und Geschlecht

Frauen und Männer solche Copingstile zur Stressbewältigung einsetzen, die den gängigen Geschlechtsrollenstereotypen entsprechen: Danach konzentrieren Frauen sich mehr auf interpersonale und emotionale Aspekte einer Situation, während Männer eher instrumentelle und problemlösende Strategien verfolgen. Studien, die Schmerzbewältigungsstrategien bei Männern und Frauen untersuchten, zeigen übereinstimmend auf, dass Frauen eine breitere Palette verschiedener Copingstrategien verwenden, diese Strategien eher in den Alltag integrieren und mit höherer Wahrscheinlichkeit soziale Unterstützung erbitten. Männer ignorieren oder reinterpretieren ihre Schmerzen häufiger und verwenden mehr bewältigende Selbstinstruktionen. Katastrophisierende Kognitionen werden übereinstimmend als weiterer wichtiger Faktor sowohl für die Schmerzbeurteilung als auch für die Beziehung zwischen Schmerz und negativem Affekt angesehen. Obwohl nur wenige Studien vorliegen und die Befundlage zudem uneinheitlich ist, lässt sich vorsichtig schlussfolgern, dass Frauen eine stärkere Tendenz zu katastrophisierenden Kognitionen aufweisen als Männer. Dieser Befund müsste allerdings durch weitere Studien erhärtet werden. > Kognitionen werden als bedeutsame Faktoren bei der Ausprägung geschlechtsbezogener Unterschiede sowohl im klinischen als auch im experimentellen Bereich angesehen.

Allerdings ist hier noch viel Forschungsarbeit zu leisten: Nur wenige Studien beschäftigen sich direkt mit der Überprüfung von unterschiedlichen Kognitionen bei Frauen und Männern bzw. mit der Frage, auf welche Weise geschlechtsbezogene Unterschiede kognitiver Faktoren sich auf die Schmerzsensitivität bzw. auf den Zusammenhang zwischen Schmerz und negativem Affekt auswirken könnten.

Affektive Faktoren – Unterscheiden sich Frauen und Männer in ihren affektiven Reaktionen auf Schmerz? Die im Zusammenhang mit Schmerz am meisten untersuchten emotionalen Reaktionen sind Angst und depressive Verstimmung. Mittlerweile wird auch der Bedeutung anderer Emotionen – wie z. B. Ärger oder Frustration – mehr Beachtung ge-

11

schenkt. Es existieren aber nur wenige Studien, die sich in diesem Zusammenhang mit geschlechtsbezogenen Unterschieden auseinandergesetzt haben. Daher wird im folgenden das Augenmerk v. a. auf Angst und Depression gerichtet. Rollman (1995) nimmt an, dass geschlechtsbezogene Unterschiede bei laborexperimentellen Schmerzen durch Angst mitbedingt sein könnten. Im Rahmen von Experimenten, bei denen die „State-Angst“ als affektives Maß erfasst wurde, stellte sich heraus, dass Frauen signifikant höhere Werte aufwiesen als Männer. Darüber hinaus zeigte sich in einer Studie, bei der mehrfach Bestimmungen der Schmerzschwelle vorgenommen wurden, bei Frauen ein Anstieg der Ängstlichkeitsscores, wohingegen bei Männern die Werte stabil blieben. Rollman nimmt an, dass Frauen und Männer der experimentellen Untersuchungssituation mit unterschiedlichen Angstniveaus begegnen und die gefundenen Unterschiede in der Schmerzsensitivität durch die Konfundierung von Schmerz und Angst bedingt sein könnten. Als Beleg für diese Annahme wertet er die Tatsache, dass jene männliche und weibliche Versuchspersonen, die gleiche Werte für „State-Angst“ aufwiesen, keine signifikanten Unterschiede in ihren Schmerzschwellen bei Schmerzinduktion durch einen Hitzereiz erkennen ließen. Im klinischen Bereich ist es gut belegt, dass Angst und Depression bei Frauen häufiger auftreten als bei Männern und zudem eine hohe Komorbidität mit Schmerz als auch mit anderen physischen Symptomen besteht (Kroenke u. Spitzer 1995). Robinson et al. (2000) geben einen Überblick über affektive Reaktionen bei klinischem Schmerz und vermuten, dass sich geschlechtsbezogene Unterschiede in der emotionalen Schmerzreaktion auf die Schilderung klinischer Schmerzen

auswirken könnten. So scheint bei Frauen ein signifikanter Zusammenhang zwischen Depression und Schmerz zu bestehen, während bei Männern ein Zusammenhang zwischen Depression und Aktivitätsgrad, nicht aber zwischen Depression und Schmerz beobachtet wird. > Angst und Depression sind die hinsichtlich ihrer Einflussnahme auf Schmerz am besten untersuchten affektiven Reaktionen. Insgesamt gesehen weisen Frauen ein höheres Ausmaß an Angst in experimentellen Schmerzsituationen

216

Teil II · Modulatoren des Schmerzes

auf, sodass sich eine Konfundierung von Schmerz und Angst vermuten lässt.Weiterhin ist bei Frauen der Zusammenhang zwischen Schmerz und Depression stärker ausgeprägt als bei Männern.

11.5.3 Soziokulturelle Faktoren

Geschlechtsrollenerwartungen Geschlechtsrollenerwartungen und soziale Rollenmodelle werden häufig als Einflussfaktoren auf Schmerz angenommen, aber relativ selten direkt untersucht (Robinson et al. 2000). > Nach traditionellen Geschlechtsrollenstereotypen wird erwartet, dass die männliche Rolle es verlange, Schmerz zu unterdrücken, um nicht unmännlich zu erscheinen, während es von Frauen erwartet wird, expressiv zu sein und offenes Schmerzverhalten zu zeigen sowie soziale Unterstützung zu suchen.

In Bestätigung dieser Annahmen fanden Klonoff et al. (1993), dass männliche Versuchsteilnehmer berichteten, dass es ihnen peinlich sei, Schmerzen zu zeigen und sie dies vermeiden würden. Die an der Studie beteiligten Frauen äußerten dagegen, dass sie auf Schmerzen mit Angst und Irritation reagierten und diese mit hoher Wahrscheinlichkeit auch ihrer Umwelt mitteilen würden. Auch Unruh (1996) betont, dass Frauen und Mädchen bei Schmerzen stärker offen irritiert sind und Unruhe zeigen. In einer vielzitierten Studie versuchten Levine u. De Simone (1991), die Auswirkungen von Geschlechtsrollenstereotypen direkt während eines Experiments mit dem Eiswassertest zu untersuchen. Weibliche und männliche Probanden wurden randomisiert weiblichen oder männlichen Versuchsleitern zugeteilt, die nach ihrer physischen Attraktivität ausgewählt worden waren und für das Experiment mit Minirock bzw. Muskelshirt in geschlechtsstereotyper Weise gekleidet waren. Es stellte sich heraus, dass die männlichen Probanden bei der weiblichen Versuchsleiterin signifikant weniger Schmerzen angaben als bei dem männlichen Versuchsleiter. Dieser Unterschied war bei den weiblichen Versuchspersonen nicht signifikant, obwohl auch sie tendenziell dem

männlichen Versuchsleiter mehr Schmerzen mitteilten. > Die Autoren schlossen daraus, dass die Schmerzkommunikation durch den sozialen Kontext beeinflusst ist und sich die Unterschiede in den Schmerzschilderungen zwischen den Geschlechtern nicht allein auf die Schmerzsensitivität zurückführen lassen.

Zu beachten ist, dass ohne die die Geschlechtsrollen betonende Aufmachung Feine et al. (1991) die geschilderten Interaktionen nicht nachweisen konnten. Otto u. Dougher (1985) untersuchten die Beziehung zwischen biologischem Geschlecht, psychologischem Geschlecht („gender“), sozialer Erwünschtheit und der Schmerzsensitivität bei Frauen und Männern. Zur Erfassung des psychologischen Geschlechts wurde das „Bem Sex Role Inventory“ verwendet, welches Einstellungen und Erwartungen zu weiblichen und männlichen Geschlechtsrollen (Femininität und Maskulinität) erfragt. Die Ergebnisse zeigten eine signifikante Interaktion zwischen den Scores für Maskulinität und Femininität und biologischem Geschlecht: Männer mit hohen Werten in der Maskulinitätsskala wiesen – ganz dem männlichen Geschlechtsrollenstereotyp entsprechend – die höchsten Werte für die Schmerztoleranz auf. Die Schmerztoleranz bei Frauen hingegen wurde nicht durch ihr psychologisches Geschlecht beeinflusst. Jones u. Rollman (1999) untersuchten ebenfalls den Einfluss der Geschlechtsrolle auf die Schmerzreaktion. Höhere Werte in der Bem-Femininitätsskala gingen bei Frauen mit einer niedrigeren Schmerzschwelle sowie höheren Ratings der Schmerzintensität einher. Bei Männern korrelierten hohe Werte in der Maskulinitätsskala mit geringeren Schmerzratings. Die Autoren nehmen an, dass diese Ergebnisse frühe Sozialisationsunterschiede hinsichtlich des Umgangs mit Schmerz reflektieren. Offen bleibt die Frage, ob sich der Einfluss dieser geschlechtsbezogenen Einstellungen nicht nur auf den experimentellen, sondern auch auf den klinischen Schmerz bezieht, der im Gegensatz zum experimentellen Schmerz zumeist länger andauert und sich v. a. der Kontrolle des Individuums entzieht. Aussagekräftige Daten hierzu fehlen.

217 Kapitel 11 · Schmerz und Geschlecht

Traumatisierung > Es gibt eine wachsende Anzahl von Belegen für die Annahme einer Beziehung zwischen chronischem Schmerz und körperlichem oder sexuellem Missbrauch.

Toomey et al. (1995) berichten bei Schmerzpatienten von Prävalenzraten zwischen 34 % und 66 % über verschiedene Schmerzsyndrome und Arten des Missbrauchs hinweg und stellen dar, dass betroffene Frauen v. a. unter chronischen Abdominalschmerzen und Kopfschmerzen leiden. Es bestehe eine positive Beziehung zwischen Missbrauch, der Diagnose einer funktionellen Störung sowie einem hohen Ausmaß der Inanspruchnahme des Gesundheitswesens. Während sich die Schmerzbeschreibungen zwischen Missbrauchsopfern und Nichtmissbrauchten nicht voneinander unterschieden, ergaben sich signifikant ungünstigere Scores im Copingverhalten, der Belastung und der Inanspruchnahme des Gesundheitswesens für die Missbrauchsopfer. Spertus et al. (1999) berichten, dass eine traumatische Erfahrung (die Definition beinhaltete hier neben Erfahrungen von körperlichem oder sexuellem Missbrauch auch lebensbedrohliche Ereignisse, traumatische Todesfälle und Zeugenschaft bei traumatischen Ereignissen) v. a. bei Männern die Fähigkeit, mit chronischen Schmerzen konstruktiv umzugehen, negativ beeinflusste. > Soziodemografische Faktoren beeinflussen den berichteten Schmerz: In laborexperimentellen Untersuchungen sind Schmerzberichte abhängig von Geschlechtsrollenstereotypen. In klinischen Studien wird die große Bedeutung von Traumatisierungen für das Schmerzerleben deutlich, wobei möglicherweise Männer durch Traumata in der Schmerzbewältigung stärker beeinträchtigt werden als Frauen.

schungsergebnisse sich erst unscharf abzeichnen, können wir doch davon ausgehen, dass geschlechtsbezogene Unterschiede die Diagnose und Behandlung von Schmerzpatientinnen und -patienten in Zukunft beeinflussen werden.

> Fillingim (2000c) führt aus, dass die Untersuchung von geschlechtsbezogenen Unterschieden bei Schmerz helfen könnte, die Pathophysiologie bestimmter Schmerzerkrankungen besser als bisher zu klären.

Untersucht man beispielsweise Störungen, die hauptsächlich Frauen betreffen, so könnte der Einfluss der Sexualhormone auf pathophysiologische Prozesse deutlicher zutage treten. Darüber hinaus gibt es Anhaltspunkte, dass bestimmte Opioide bei Frauen eine bessere analgetischeWirkung haben als bei Männern (Fillingim 2000c; Fillingim u. Ness 2000), wohingegen Ibuprofen bei Männern besser wirkt (Fillingim u. Ness 2000). Es scheint daher sinnvoll, die medizinisch-somatische Schmerzbehandlung und Auswahl von Analgetika auf das Geschlecht der Patienten abzustimmen. Insgesamt könnte das bessere Verständnis der geschlechtsbezogenen neuralen und hormonellen Mechanismen zur Entwicklung neuer und auch effektiverer Behandlungsmöglichkeiten führen. Gleiches gilt für die Indikation zur psychologischen Schmerztherapie. Da psychologische und psychosoziale Faktoren Schmerz in geschlechtsbezogener Weise beeinflussen, liegt die Vermutung nahe, dass sich eine optimale psychologische Schmerzbehandlung bei Frauen und Männern unterscheiden muss. Zu dieser Fragestellung gibt es bisher keine systematischen Untersuchungen, sodass hier noch ein großer Forschungs- und Handlungsbedarf besteht.

11.7 11.6

Praktische und klinische Implikationen

Die Untersuchung von geschlechtsbezogenen Unterschieden in der Schmerzsensitivität von Frauen und Männern ist nicht nur von akademischem Interesse, sondern hat weitreichende praktische und klinische Implikationen. Obwohl mögliche Konsequenzen der hier berichteten For-

11

Zusammenfassung

Die Untersuchung von geschlechtsbezogenen Unterschieden in der Schmerzsensitivität ist von weitreichendem praktischen und klinischen Interesse. Epidemiologische Studien weisen eine etwa 1,5fach erhöhte Prävalenz von Schmerz bei Frauen nach, wobei allerdings nach der Schmerz-

art differenziert werden muss. Experimentelle Schmerzstudien belegen, dass Frauen eine erhöhte

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Teil II · Modulatoren des Schmerzes

Schmerzsensitivität aufweisen. Die höchsten Effektstärken finden sich für Druckschmerz und elektrische Stimulation. Es wird vermutet, dass klinischer und experimenteller Schmerz miteinander in Beziehung stehen und die experimentell vorgefundene Schmerzsensitivität v. a. bei Frauen ein Prädiktor für die Entwicklung von Schmerzerkrankungen

sein könnte. Obwohl die Theoriebildung noch nicht abgeschlossen ist, gibt es Befunde, die das komplexe Ineinandergreifen von biologischen, psychologischen und psychosozialen Faktoren beleuchten.

Unter biologischer Perspektive beeinflussen Sexualsteroide sowohl periphere als auch zentrale Mechanismen, die an der Verarbeitung eines Schmerzreizes beteiligt sind. Frauen und Männer unterscheiden sich wahrscheinlich zugunsten der Frauen sowohl quantitativ als auch qualitativ in der stressinduzierten Analgesie.Auch die analgetische Wirkung einiger Opioide ist bei Frauen und Männern verschieden, was nahelegt, medizinische und analgetische Behandlungen auf das Geschlecht abzustimmen. In Bezug auf psychosoziale Variablen wissen wir, dass Frauen im Vergleich zu Männern ein höheres Ausmaß an katastrophisierenden Kognitionen aufweisen. Sie scheinen allerdings eine breitere Palette an Copingstrategien zur Verfügung zu haben. In experimentellen Schmerzsituationen zeigen sie ein höheres Ausmaß an Angst, sodass sich eine Konfundierung von Schmerz und Angst vermuten lässt. Weiterhin ist bei Frauen der Zusammenhang zwischen Schmerz und Depression stärker ausgeprägt als bei Männern. Traditionelle Geschlechtsrollenerwartungen zeigen zwar einen geschlechtsbezogenen Einfluss auf Schmerzbewertungen, können diese aber weniger gut vorhersagen als das biologische Geschlecht. Bisher ist noch nicht geklärt, in welchem Ausmaß all diese Faktoren geschlechtsbezogene Unterschiede bei Schmerz erklären können.Weitere Forschung könnte dazu beitragen, unterschiedliche Behandlungsansätze für Frauen und Männer

zu entwickeln.

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Rolle der Familie und sozialer Unterstützung bei chronischen Schmerzen T. Fydrich, H. Bastian und H. Flor

12.1

Einleitung

Ein an chronischen Schmerzen leidendes Familienmitglied hat einen bedeutsamen Einfluss auf das alltägliche Leben von Partnern und Familienmitgliedern. Ebenso liegen empirische Befunde dazu vor, dass das Verhalten von Familienmitgliedern oder Partnern von Schmerzpatienten eine wichtige Rolle bei der Chronifizierung von Schmerzen spielt. Weiterhin wird der Umgang mit Krankheiten und Verletzungen in mannigfaltiger Weise durch familiäre Normen geprägt. > Die Familie ist damit das primäre Umfeld, in dem Gewohnheiten entstehen, die Gesundheit fördern können oder aber diese in ungünstiger Weise beeinflussen.

12.2

Befunde aus der Forschung

Zu Beginn dieses Beitrags sollen Befunde aus der Forschung dargestellt werden, die die Bedeutsamkeit der Familie und des näheren sozialen Umfelds

im Zusammenhang mit Gesundheit und Krankheit beispielhaft verdeutlichen (Turk u. Kerns 1985): 쎔 Etwa drei Viertel aller Erkrankungen werden außerhalb des professionellen Gesundheitssystems – nämlich in der Familie – behandelt. 쎔 Die Interpretation von Symptomen und die Befolgung ärztlicher Ratschläge sind stark von den Einstellungen der nächsten sozialen Umwelt abhängig. 쎔 Je höher die Übereinstimmung zwischen Einstellungen von Familienmitgliedern bezüglich einer Erkrankung ist, desto größer ist der zu erwartende Erfolg von Behandlungen. 쎔 Gesundheitsförderndes Verhalten tritt bei Kindern deutlich häufiger auf, wenn die Eltern selbst das entsprechende Verhalten zeigen.

쎔 Ungünstige Bedingungen in der Familie (z. B. dauernder Streit) können den Verlauf und möglicherweise auch die Entwicklung von chronischen und akuten Erkrankungen in der Familie negativ beeinflussen. 쎔 Bei mehr als der Hälfte der Familien von Patienten mit chronischen Schmerzen ist mindestens ein weiteres Familienmitglied von Schmerzen betroffen. 쎔 Die Behandlung von Schmerzpatienten in einem multidisziplinären Behandlungszentrum ist für diejenigen Patienten erfolgreicher, die in ihrer Familie ein höheres Ausmaß an sozialer Unterstützung erleben. Andererseits sind jedoch Schmerzpatienten im Beisein von sehr fürsorglichen Partnern häufig klagsamer und zeigen stärkere funktionale Einschränkungen als ohne ihren Partner. Nach einem kurzen Überblick zu theoretischen Modellen zum Zusammenhang von Schmerz und Familie werden in diesem Beitrag 4 Fragen zur Interaktion von Schmerz und Familie diskutiert: 쎔 Hat die Familie einen Einfluss auf die Entstehung chronischer Schmerzen? 쎔 Welchen Einfluss haben Familie und soziale Unterstützung ggf. auf die Chronifizierung und den Verlauf von Schmerzen? 쎔 Welchen Einfluss hat die chronische Schmerzerkrankung auf das Zusammenleben in der Familie? 쎔 Welche Rolle kann die Familie bei Diagnostik und Therapie chronischer Schmerzsyndrome spielen? In der Literatur können 3 bedeutsame theoretische Ansätze unterschieden werden, die sich mit diesen Fragestellungen beschäftigen: 쎔 psychoanalytisch, 쎔 systemisch-familientherapeutisch, 쎔 lerntheoretisch.

222

Teil II · Modulatoren des Schmerzes

12.3

Theoretische Ansätze zur Bedeutsamkeit der Familie für den chronischen Schmerz

Psychoanalytisch orientierte Autoren betonen traditionell die Rolle intrapsychischer Prozesse und Konflikte bei der Genese sog. psychosomatischer Symptome. Sowohl bei der Entstehung als auch bei der „Symptomwahl“ spielen nach psychoanalytischen Theorien Motive wie Aggression und Schuld eine wichtige Rolle. > Frühe Kindheitserfahrungen im Zusammenhang mit dem Erleben von Schmerzen sind danach von besonderer Wichtigkeit und substanziell an der Entstehung einer Persönlichkeitsstruktur beteiligt, die Schmerz als „psychischen Regulator“ zum Ausgleich von Schuldgefühlen, Aggression oder Verlust nutzt.

Engel (1959) charakterisiert diesen „Pain-prone“Charakter (Persönlichkeit, die dazu neigt, Schmerzen zu haben) als sadomasochistisch orientiert. In der psychoanalytisch orientierten Literatur wird betont, dass bei diesen Patientinnen und Patienten in vielen Fällen psychische Störungen – wie Konversionshysterie, Hypochondrie und Depression – diagnostiziert werden. Unbewusste Konflikte und Motive und die damit zusammenhängende Symbolik sollen danach die „Auswahl“ des schmerzenden Körperteils steuern. Feindselige Beziehungen innerhalb der Familie, frühe emotionale Deprivation und eine gestörte Mutter-Kind-Beziehung werden häufig als familiäre Bedingungen für die Entstehung „psychogener“ Schmerzen betrachtet (Ahrens 1993; Alexander 1951; Blumer u. Heilbronn 1982). > Den psychoanalytisch orientierten Forschungsansätzen fehlen in der Regel angemessene Vergleichsstichproben, sodass über die schmerzspezifische Gültigkeit dieser Sichtweisen keine empirisch fundierten Aussagen gemacht werden können.

Systemisch und familientherapeutisch orientierte Ansätze betrachten im Gegensatz zu psychoanalytischen Modellen nicht die individuellen Persönlichkeitsfaktoren des „Symptomträgers“, in diesem Fall also des Schmerzpatienten selbst, als wichtigste Determinante der Erkrankung. Sie sehen viel-

mehr in der Familie ein System von Beziehungen, in dem das Wohlbefinden jedes Familienmitglieds auch von den anderen Familienmitgliedern abhängt. In diesem nach Homöostase strebenden System kann – nach systemtheoretischen Erwägungen – ein krankes Familienmitglied eine stabilisierende Funktion haben (Minuchin et al. 1975). So könnte beispielsweise ein chronisch krankes Kind zum Mittelpunkt der Aufmerksamkeit einer Familie werden und es damit ermöglichen, dass von anderen Konflikten – z. B. Eheproblemen – abgelenkt wird. > Die chronische Erkrankung kann nach von Schlippe u. Schweitzer (2000) für ein Familienmitglied die einzige Möglichkeit sein, psychisch in der Familie zu „überleben“.

Nach Minuchin et al. (1975) ist weniger die Motivstruktur eines Individuums (wie in psychoanalytisch orientierten Ansätzen) als vielmehr der „Charakter“ der gesamten Familie für die Entwicklung von „psychosomatischen“ Symptomen eines Familienmitglieds wichtig. Die Krankheit hat eine funktionale Rolle für die Beziehungen in der Familie. Familien mit „psychosomatisch“ erkrankten Mitgliedern sind danach häufig durch Verstricktheit, Überbehütung, Rigidität und Mangel an Konfliktlösefähigkeiten gekennzeichnet. Saile u. Dietrich (1992) konnten zeigen, dass die erlebte Abhängigkeit der Familienmitglieder untereinander und der Grad der Entfremdung mit der funktionalen Einschränkung von chronischen Schmerzpatienten kovariieren. Weiterhin zeigte die Untersuchung, dass bei geringer familiärer Problemlösekompetenz hinsichtlich krankheitsbedingter Aspekte die Depressivität der Schmerzpatienten höher ist. Das Problem in der systemtheoretisch orientierten Forschung ist, dass viele der dargestellten familiären Interaktionen ebenso Folge der chronischen Erkrankung eines Familienmitglieds sein können. Es ist deshalb methodisch schwierig, angenommene kausale Zusammenhänge für untersuchte Variablen zu überprüfen. In verhaltenstheoretischen Modellen wird der Zusammenhang zwischen chronischem Schmerz und Familie v. a. durch operante Lernmechanismen und Modellernen, aber auch durch respondentes Lernen erklärt. Wooley et al. (1978) stellen ein Modell vor, in dem erklärt wird, wie Verhalten

Kapitel 12 · Rolle der Familie und sozialer Unterstützung bei chronischen Schmerzen

in Zusammenhang mit chronischer Krankheit durch instrumentelles Konditionieren beeinflusst werden kann. Verstärkende Faktoren für das „Krankheitsverhalten“ sind dabei beispielsweise das „Versorgtwerden“, das Vermeiden unangenehmer Pflichten und Tätigkeiten oder ganz allgemein die positive emotionale Zuwendung durch andere Familienmitglieder. Die Funktion von Familienmitgliedern als Modelle für den Umgang mit Schmerzen kann mit dem Konzept des Beobachtungslernens (Bandura 1977) erklärt werden. Nicht nur der Umgang mit dem Schmerz, sondern sogar die Wahrnehmung und Einschätzung seiner Intensität sowie die Beurteilung seiner Bedrohlichkeit können durch das Verhalten von Modellen beeinflusst werden (Craig 1978). In der familiären Interaktion spielt auch respondentes Lernen bei chronischem Schmerz eine wichtige Rolle. So kann beispielsweise das besorgte Gesicht des Ehepartners zum konditionierten Auslösereiz für Muskelverkrampfungen werden und dadurch evtl. Schmerzen hervorrufen. Theoretische Ansätze zur Bedeutsamkeit der Familie für chronische Schmerzen

쎔 Psychoanalytisch orientierter Ansatz: Be-





12.4

tonung von intrapsychischen Prozessen und Konflikten sowie frühen Kindheitserfahrungen im Zusammenhang mit der Genese und dem Erleben von Schmerz Systemisch und familientherapeutisch orientierter Ansatz: Betonung des nach Homöostase strebenden Familiensystems, in dem Krankheit und Schmerz eine funktionale und stabilisierende Rolle spielen können Verhaltenstheoretischer Ansatz: Betonung des operanten, respondenten und des Modelllernens bei Erleben und Umgang mit Schmerz.

Rolle der Familie in der Ätiologie chronischer Schmerzsyndrome

Zur Frage „Hat die Familie einen Einfluss auf die Entstehung chronischer Schmerzen?“ gibt es eine Vielzahl von Untersuchungen, die darauf hindeuten, dass in Familien mit chronischen Schmerz-

223

12

patienten häufiger Schmerzsymptome auffindbar sind als in Vergleichsstichproben von Patienten mit anderen chronischen Erkrankungen (Violon u. Giurgea 1984; Merskey 1965; Turkat et al. 1984; Snelling 1990).

> Die genauere Betrachtung der vorliegenden Untersuchungen lässt jedoch nicht zu, familiäre Faktoren als ursächlich für Schmerzen anzusehen.

Neben psychoanalytischen, system- und verhaltenstheoretischen Erklärungen könnten besonders auch biologische Gründe im Sinne einer Vulnerabilität für das gehäufte Auftreten von Schmerzsymptomen in „Schmerzfamilien“ verantwortlich sein. Zudem sind bei der Interpretation der Befunde eine Reihe geläufiger methodischer Probleme zu beachten. Dazu gehören z. B. die retrospektive Datenerhebung, die Vernachlässigung von Grundraten chronischer Schmerzerkrankungen und ungeeignete oder nicht vorhandene Vergleichsgruppen. Insgesamt kann davon ausgegangen werden, dass hereditäre Faktoren, aber auch Aspekte der familiären Interaktion bei der Entstehung von Schmerzerkrankungen eine Rolle spielen. Vorliegende Befunde erlauben jedoch keine Aussage darüber, wie genau und zu welchen Anteilen familiäre Faktoren bei der Ätiologie von Schmerzerkrankungen beteiligt sind. > In Familien mit chronischen Schmerzpatienten ist eine Häufung von Schmerzsymptomen feststellbar. Sowohl biologische als auch psychologische Faktoren können hierfür eine Ursache sein.

12.5

Bedeutung der Familie und sozialer Unterstützung für die Chronifizierung und den Verlauf der Schmerzerkrankung

Im operanten Schmerzmodell wird angenommen, dass bestimmte Verhaltensweisen im Umgang mit Schmerz (z. B. verbale und nonverbale Schmerzäußerungen, häufige Arztbesuche, Gebrauch von Medikamenten, Einnehmen von Schonhaltungen) – ebenso wie andere Verhaltensweisen – nach Verstärkung durch die Umwelt (Zuwendung, Trost,

224

Teil II · Modulatoren des Schmerzes

Ermunterung, Bestätigung, Entlastung, Vermeidung von Aktivitäten) häufiger auftreten. > Block et al. (1980) konnten zeigen, dass im Beisein von besorgten Ehepartnern intensivere Schmerzen berichtet werden als in Abwesenheit der Partner.

Zwischen Ehezufriedenheit und Schmerzintensität wurde von Flor et al. (1986, 1987) ein zwar geringer, aber signifikant positiver Zusammenhang gefunden (r=0,36). Dieser wird durch gegenseitige Verstärkungsmechanismen innerhalb der Partnerschaft erklärt. Eine Reihe von Ergebnissen aus experimentellen Studien deuten darauf hin, dass die Schmerzwahrnehmung ebenso wie der nonverbale und verbale Ausdruck von Schmerzen deutlich von Reaktionen der Partnerinnen und Partner beeinflusst werden. So fanden beispielsweise Lousberg et al. (1992), dass Patienten mit besorgten Partnern während und nach einem physischen Belastungstest (Laufen auf einem Laufband) stärkere Schmerzen angaben und zudem nur eine kürzere Strecke zurücklegten, wenn der Partner im Raum anwesend war. Vergleichbar damit hatten Personen in einer Studie von Flor et al. (1995) beim Eiswasserschmerztest eine deutlich erniedrigte Schmerzschwelle, wenn ein als „besorgt“ eingeschätzter Partner anwesend war. > Analysen

des Interaktionsverhaltens von Schmerzpatienten und ihren Partnern zeigen erwartungsentsprechend, dass das Schmerzverhalten von Patienten eng an zuwendendes Verhalten, nicht aber an eher schroffes, abweisendes oder aggressives Verhalten der Partner gekoppelt ist (Romano et al. 1992).

Die prominente Rolle operanter Konditionierungsmechanismen bei der Entwicklung und Aufrechterhaltung chronischer Rückenschmerzen konnten auch Flor et al. (2002) in einer experimentellen Untersuchung nachweisen. Die Befunde weisen darauf hin, dass die Schmerzpatienten durch operante Konditionierung leichter beeinflusst werden als gesunde Personen und dass diese leichtere Beeinflussbarkeit evtl. zur Aufrechterhaltung chronischer Schmerzen beitragen kann. Bei der Betrachtung von Schmerz im familiären Zusammenhang ist neben solchen operanten

Zusammenhängen von Bedeutung, dass der Schmerz selbst ein aversiver Reiz ist. Dies ist v. a. bei Erkrankungen des Bewegungsapparats bedeutsam: Schonhaltungen, Inaktivität und ausgedehnte Ruhe sind die Verhaltensweisen, die durch die Vermeidung von Schmerz negativ verstärkt werden. Inaktivität wird zudem häufig durch Familienmitglieder direkt, beispielsweise durch Übernahme von Aufgaben oder Unterstützung der Schonung, unterstützt. Diese Verhaltensweisen können jedoch sekundär zu Muskelabbau führen, damit die physische Kondition verringern und die Empfindlichkeit für Schmerz erhöhen. Dieser Teufelskreis „Schmerz – Inaktivität – Muskelabbau – Schmerz“ ist möglicherweise Teil eines Prozesses,

der mit zur Chronifizierung von Schmerzen beiträgt (Hasenbring 1992). Diese Befunde und Überlegungen könnten zu der Annahme verleiten, dass jede Form familiärer oder partnerschaftlicher sozialer Unterstützung für Patienten mit chronischen Schmerzen eher ungünstig sei und lediglich Schmerzverhalten fördere (Fordyce 1993; Turk et al. 1992). Eine interessante Studie von Paulsen und Altmaier (1995) erklärt einige der teilweise widersprüchlichen Interpretationen. Danach sind Schmerzverhaltensweisen, wie klagsames Verhalten, und die wahrgenommene Schmerzintensität nicht lediglich von der Präsenz des Partners abhängig als vielmehr von der Art der sozialen Unterstützung durch den Partner. Verhaltensweisen der Partner, die dem Schmerzpatienten nur Aufgaben abnehmen und ihm helfen, sich körperlich zu schonen, gehen mit deutlich verstärktem Schmerzverhalten einher. Wahrgenommene Unterstützung im Sinne von emotionaler Unterstützung, erlebter Zusammengehörigkeit, partnerschaftlicher Zuverlässigkeit, sozialer Integration und Wertschätzung stehen hingegen mit einem geringeren Ausmaß an Schmerzverhalten in Zusammenhang, wenn die Partner anwesend waren. Die Befunde einer Langzeitstudie an Schmerzpatienten mit Osteoarthritis von Keefe et al. (1999) zeigen, wie wichtig das Einbeziehen der Partner in die Schmerzbehandlung für den Therapieerfolg ist: Patienten, deren Partner in ein Bewältigungsstrategietraining mit eingebunden wurden und die einen Anstieg hinsichtlich der ehelichen Anpassung erlebten, zeigten nach 12 Monaten viel bessere Behandlungserfolge (im Sinne geringerer psy-

Kapitel 12 · Rolle der Familie und sozialer Unterstützung bei chronischen Schmerzen

chischer und physischer Beeinträchtigung und weniger Schmerzverhalten) als Patienten, die das Training ohne ihre Partner absolvierten. > Vor allem das spezifische Training der Fertigkeiten des Paares zur Verbesserung der Schmerzbewältigung erwies sich als bedeutsamer Aspekt für den langfristigen Behandlungserfolg.

Auch die Ergebnisse einer Therapiestudie von Jamison u. Virts (1990) weisen auf einen günstigen Einfluss sozialer Unterstützung hin. Erlebte soziale Unterstützung von Familienmitgliedern ist nach diesen Befunden ein Prädiktor für besseren Therapieerfolg bei Schmerzpatienten. Patienten, die ihre Familie als sozial unterstützend empfanden, stuften die Intensität ihrer Schmerzen 12 Monate nach einer multidisziplinären Schmerzbehandlung geringer ein, nahmen weniger Schmerzmedikamente und waren insgesamt körperlich aktiver. In wichtigen Bereichen ihres Lebens waren sie daher durch die Schmerzen weniger stark eingeschränkt als Personen einer Vergleichsgruppe von Patienten mit geringer sozialer Unterstützung. Zudem hatte sich ein deutlich größerer Anteil der wenig unterstützten Personen weiteren Behandlungen unterzogen. Bedeutsam ist dabei die Unterscheidung der Art sozialer Unterstützung von Schmerzpatienten. Nach einer Untersuchung von Roberts et al. (1996) reduziert ein geringes Ausmaß an instrumenteller Unterstützung die nachteiligen Effekte funktionaler Beeinträchtigungen auf Depression. Für die emotionale Unterstützung allein bestehen diese Zusammenhänge nicht. > Das bedeutet, dass der Erhalt oder die Förderung von Aktivität der Schmerzpatienten sowohl mit geringerer Depressivität als auch mit einer günstigeren Entwicklung hinsichtlich der funktionalen Einschränkungen einhergeht.

Interessant sind die Ergebnisse einer der wenigen prospektiven Untersuchungen zu diesem Thema. Auf der Basis von Tagebuchaufzeichnungen mit Beurteilung der Schmerzstärke, der Stimmung und der sozialen Unterstützung konnten Feldman et al. (1999) zeigen, dass Schmerz erwartungsgemäß zu depressiver, ängstlicher und gereizter Stimmung führt. Die wahrgenommene soziale Unterstützung puffert jedoch dabei nicht nur de-

225

12

pressive und ärgerliche Stimmung ab, sondern hat sogar einen positiven Effekt auf die Einschätzung der Schmerzstärke von Patienten mit sympathischem Dystrophiereflexsyndrom. In Hinblick auf günstige bzw. ungünstige Bewältigungsstrategien konnte ebenfalls in einer prospektiven Untersuchung mittels Regressionsanalysen gezeigt werden, dass Patientinnen und Patienten mit chronischer Polyarthritis nach einem Jahr dann eine Verschlechterung des funktionalen Status (Beweglichkeit, selbstständige Pflege, Greifkraft in den Händen) aufweisen, wenn sie vornehmlich passive Schmerzcopingstrategien, z. B. mehr Ruhepausen, einsetzten. Dieser ungünstige Status konnte durch ein kleineres soziales Netzwerk zum Zeitpunkt der Diagnosestellung vorhergesagt werden, was darauf hindeutet, dass die Vermeidung sozialer Aktivitäten sich ebenfalls ungünstig auf den Verlauf chronischer Schmerzerkrankungen auswirken kann (Evers et al. 1998) Zusammenfassend deuten die Ergebnisse zu sozialer Unterstützung und Verhalten der Familienmitglieder, v. a. von Partnern und Partnerinnen, darauf hin, dass besorgtes, stark fürsorgliches und (bloß) physisch unterstützendes Verhalten seitens der Partner Schmerzverhaltensweisen in ungünstiger Weise verstärken und Patienten vom Aufbau günstiger Aktivitäten abhalten können. Emotional unterstützende Partnerinnen und Partner sowie ein starker Familienzusammenhalt können sich jedoch günstig auf die Kompetenz auswirken, den Schmerz und die im Zusammenhang damit aufgetretenen Probleme zu bewältigen. Diese Befunde stützen Modelle zum positiven Zusammenhang von sozialer Unterstützung und verschiedenen Gesundheitsvariablen, wie z. B.:

쎔 쎔 쎔 쎔

allgemeines Wohlbefinden, verbesserte Selbstwirksamkeitserwartung, angemessenere Problemlösefähigkeiten, hoffnungsvollere und lösungsorientierte Einstellungen, 쎔 geringere Depressivität. > Bestimmte Verhaltensweisen hinsichtlich des Umgangs mit Schmerz treten nach Verstärkung durch die Umwelt häufiger auf. Man muss verschiedene Arten von Unterstützung unterscheiden, die sich auf das Schmerzverhalten unterschiedlich auswirken: 쎔 Ein besorgtes, fürsorgliches, lediglich physisch unterstützendes Umfeld verstärkt in

Teil II · Modulatoren des Schmerzes

226



12.6

der Regel Schmerzverhaltensweisen in ungünstiger Weise. Emotionale Unterstützung und Unterstützung aktiver Schmerzbewältigung wirken sich hingegen günstig auf die Schmerzbewältigung aus.

Einfluss chronischer Schmerzerkrankungen auf die Familie

Schon die Informationen über die Dauer chronischer Schmerzerkrankungen bei Patienten in unterschiedlichen Behandlungseinrichtungen weisen auf die Bedeutsamkeit und die Beeinträchtigungen hin, die nicht nur für die Betroffenen bestehen, sondern auch für die weiteren Mitglieder der Familie eine beträchtliche Belastung darstellen. Flor et al. (1992) stellten fest, dass die durchschnittliche angegebene Dauer der Schmerzen in 65 Schmerzbehandlungszentren 8,3 Jahre beträgt, wobei einige Patienten schon länger als 38 Jahre lang unter Schmerzen litten. > Chronische Erkrankungen von Familienmitgliedern verändern häufig die vorhandene Rollenstruktur in einer Familie, was mit weiteren Problemen – wie beispielweise Depressionen, Gereiztheit und Unzufriedenheit – einhergehen kann (Kerns u. Turk 1984).

Zudem können Probleme mit der partnerschaftlichen Sexualität zu der in vielen Studien berichteten ehelichen Unzufriedenheit bei Partnern von chronisch Schmerzkranken führen (Maruta u. Osborne 1978). Materielle Einbußen und die damit einhergehenden Belastungen sind besonders dann zu erwarten, wenn die Erkrankung mit Einschränkungen im Berufsleben einhergeht.

keit und Hoffnungslosigkeit und den damit zusammenhängenden Zukunftssorgen. Einige Studien stellten sogar einen ungünstigen Einfluss auf die physische Gesundheit von Partnern durch die chronische Schmerzerkrankung fest. Nach Rowat u. Knafl (1985) berichten 83 % der Partner chronischer Schmerzpatienten von Beeinträchtigungen in diesem Bereich. Befunde, nach denen bei Partnern von Schmerzpatienten eine erhöhte physiologische Erregung festzustellen ist, wenn sie Schmerzaktionen bei diesen beobachten, deuten sogar auf einen möglicherweise kausalen Zusammenhang zwischen diesen Variablen hin (Block u. Boyer 1984). Ein im Vergleich zu anderen chronisch Kranken spezifisch erhöhtes Auftreten von chronischen Schmerzsymptomen bei Partnern von Schmerzpatienten wird von Flor et al. (1987) berichtet. Auch Kinder von Schmerzpatienten sind durch die Schmerzerkrankung eines Elternteils negativ betroffen (Chun et al. 1993). Umgekehrt gaben Mütter von Jugendlichen mit langandauernden oder häufig wiederkehrenden Schmerzen v. a. Einschränkungen im sozialen Leben, der Lebensqualität und Probleme im Umgang mit den Belastungen an (Hunfeld et al. 2001). > Viele Lebenspartner von schmerzkranken Personen weisen selbst physische und psychische Symptome auf. Die Frage der Spezifität dieser Beeinträchtigungen für Familienmitglieder von Schmerzkranken ist jedoch weiterhin untersuchungsbedürftig. Ein beträchtlicher Anteil der Angehörigen von Schmerzpatienten scheint jedoch über gute Bewältigungsmechanismen zu verfügen, sodass bei weitem nicht in allen Familien bei den Angehörigen gesundheitliche Störungen oder psychische Probleme auftreten.

> Klein et al. (1967) berichten, dass 67 % der Ehepartner von Schmerzpatienten selbst von einer überdurchschnittlich hohen Anzahl von Stresssymptomen betroffen sind.

Weiterhin geht chronischer Schmerz mit einem erhöhten Vorkommen depressiver Störungen bei den Ehepartnern einher (Ahern u. Follik 1985; Kerns u. Turk 1984; Flor et al. 1987). Zentrale Probleme der Ehepartner bestehen in der Unsicherheit über die Erkrankung, Gefühlen der Hilflosig-

12.7

Rolle der Familie bei Diagnostik und Therapie chronischer Schmerzsyndrome

Aufgrund der aufgezeigten Befunde ist es zweifelsfrei wichtig, die familiären Bedingungen bei Diagnostik und Behandlung von Patientinnen und Patienten mit chronischen Schmerzen zu berücksichtigen. Von psychologischer Seite ist dabei bedeutsam, über aufrechterhaltende Bedingungen

Kapitel 12 · Rolle der Familie und sozialer Unterstützung bei chronischen Schmerzen

evtl. krankheitsfördernden Verhaltens innerhalb der Familie Informationen zu gewinnen. Es sollten antezedente und konsequente Bedingungen von Schmerzen und den damit zusammenhängenden Verhaltensweisen diagnostiziert werden (Verhaltensanalyse). Dabei stehen Fragen nach situativen Bedingungen für Schmerzen, Belastungen physischer und psychischer Art sowie Reaktionen von Angehörigen auf Schmerzepisoden im Vordergrund. Die Befunde über die Befolgung therapeutischer Ratschläge lassen es notwendig erscheinen, Informationen über Ursachen- und Kontrollattributionen der Patienten und über die wichtigsten Angehörigen zu gewinnen. Weitere bedeutsame diagnostische Fragen sind: 쎔 Wie hat sich das Familienleben aufgrund der Schmerzkrankheit geändert? 쎔 Welche Vor- und Nachteile hat dies für die Familie? 쎔 Welche finanziellen, sozialen und psychologischen Ressourcen sind vorhanden, und wie können sie therapeutisch genutzt werden? 쎔 In welcher Weise möchten Familienmitglieder die gegenwärtige Lage ändern? Im klinischen Alltag werden derartige Informationen in der Regel in Interviews erhoben. Einige Fragebögen mit hinreichenden Gütekriterien beinhalten jedoch auch Aspekte der Familiendiagnostik. Im West Haven-Yale Multidimensionalen Schmerzfragebogen (MPI; Flor et al. 1990) werden u. a. die soziale Unterstützung bei Schmerzen und verschiedene Reaktionen der Familienmitglieder auf die Erkrankung diagnostiziert.Auch eine Partnerversion des MPI steht zur Verfügung. Allgemeine soziale Unterstützung im Sinne emotionaler Unterstützung, praktischer Unterstützung und sozialer Integration kann mit dem „Fragebogen zur sozialen Unterstützung“ (F-SozU; Fydrich et al. 2007) erfasst werden. Die Möglichkeit, verschiedene Komponenten familiärer Kompetenzen zu diagnostizieren, ist mit dem „Schmerzbezogenen Inventar familiärer Adaptabilität und Kohäsion“ (Saile u. Schmitz 1991) gegeben. Gemessen werden: 쎔 Fähigkeit der Familie, schmerzbezogene Probleme durch gegenseitige Unterstützung und Kommunikation zu lösen (Adaptabilität); 쎔 Möglichkeiten positiver emotionaler Bindung innerhalb der Familie.

227

12

Saile und Dietrich (1992) differenzieren die 3 Skalen „Adaptabilität im Umgang mit den Schmerzen“, „schmerzbezogene Verstrickung“ und „schmerzbezogene Loslösung und Entfremdung“. > Nach den vorliegenden empirischen Daten müssen Familienmitglieder nicht in jedem Fall in den therapeutischen Prozess einbezogen werden.

Viele Familien scheinen auch ohne therapeutische Hilfen adäquate Bewältigungsmechanismen zu entwickeln. Wir halten die Einbeziehung von Partnern oder anderen Familienmitgliedern in die Therapie dann für indiziert, wenn eine oder mehrere der folgenden Sachverhalte gegeben sind: 쎔 offensichtliche Zusammenhänge zwischen Schmerzverhalten und familiären Bedingungen, 쎔 Vorkommen von Schmerzsymptomen bei mehreren Familienmitgliedern, 쎔 negative Beeinflussung des familiären Alltags durch die Schmerzerkrankung in psychologischer, aber auch in materieller Hinsicht, 쎔 Probleme in der Partnerschaft aufgrund der Erkrankung. Die zitierten Befunde zu sozialer Unterstützung machen ggf. eine differenzierte Einbeziehung der Partner in die Behandlung von Patienten mit chronischen Schmerzen notwendig. Ein bloßer Hinweis an die Partner, konsequent jede Form von Schmerzverhalten zu ignorieren, ist in dieser pauschalen Art nicht angemessen. Allgemeine emotionale Unterstützung und Unterstützung bei der Lösung von krankheitsbedingten Problemen sind für die Behandlung und den günstigen Verlauf der Schmerzerkrankung förderlich. Bloße praktische Unterstützung bei Alltagsangelegenheiten, z. B. durch immer wieder angebotene Hilfe bei bestimmten alltäglichen Aufgaben, führt hingegen u. U. lediglich zu mehr Inaktivität und kann damit zur Chronifizierung der Schmerzen beitragen. Eine entsprechende Berücksichtigung dieser differenziellen Aspekte in edukativen Komponenten von Schmerzbehandlungsprogrammen ist daher notwendig und könnte zur Steigerung der Effektivität beitragen. Interventionsmöglichkeiten, bei denen Familienmitglieder einbezogen werden können, sind:

Teil II · Modulatoren des Schmerzes

228

쎔 Information der Familienmitglieder über phy쎔 쎔 쎔 쎔

sische, psychische und soziale Hintergründe chronischer Schmerzerkrankungen, Begründung des Therapierationals und der Therapieziele auch für Partner und andere Familienmitglieder, Problemlösehilfe (z. B. durch Kommunikationstraining) bei Partnerschaftsproblemen, Beratung in Hinblick auf materielle und berufliche Probleme, Hinweise für Angehörige, welche Verhaltensweisen für den Therapieprozess förderlich sind.

> Bei der Diagnostik und Behandlung von Schmerzpatienten ist es wichtig, familiäre Aspekte, wie z. B. aufrechterhaltende Bedingungen krankheitsfördernder Verhaltensweisen, zu berücksichtigen. Psychoedukative Maßnahmen und Informationen sind wichtige Ergänzungen der individuellen Intervention.

12.8

Zusammenfassung

Zusammenfassend wird deutlich, dass aufgrund der vorliegenden Befunde nur einige wenige Hinweise auf kausale Zusammenhänge zwischen familiären Bedingungen und chronischem Schmerz

bestehen. Zumeist liegen Studien mit querschnittlichem Design vor, die nur korrelative Aussagen bezüglich der untersuchten Aspekte zulassen. Daher sind künftig v. a. längsschnittliche Untersuchungsansätze gefragt, die die Möglichkeit eröffnen, Licht in das Ursachen-Wirkungs-Gefüge dieses Forschungsgebiets zu bringen. Insgesamt gibt es jedoch eine Vielzahl von empirischen Hinweisen auf Einflüsse der Familie auf die Entstehung und den Verlauf von Schmerzerkrankungen. Zudem ist die Familie von Schmerz-

erkrankten meist in materieller, psychologischer und oft auch physischer Hinsicht durch die Schmerzerkrankung eines Familienmitglieds beeinträchtigt. Die Berücksichtigung der Familie bei der Diagnostik chronischer Schmerzen ist daher bedeutsam und unerlässlich, eine Einbeziehung von Familienmitgliedern bei der Behandlung ist bei gegebener Indikation notwendig.

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Kapitel 12 · Rolle der Familie und sozialer Unterstützung bei chronischen Schmerzen

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Schmerz bei Migranten aus der Türkei B. Glier und Y. Erim

Fachkenntnisse und -kompetenzen in der Diagnostik und Behandlung von Schmerzstörungen bei Migranten, hier am Beispiel türkischer Schmerzpatienten aufgezeigt, sind ein bislang noch unterentwickelter und defizitärer Bereich im herkömmlichen medizinisch-therapeutischen Versorgungssystem. Nicht nur sprachliche Verständigungsschwierigkeiten, sondern insbesondere unzureichende kulturspezifische Kenntnisse und Kompetenzen behindern Akzeptanz und Wirksamkeit therapeutischer Angebote. Schmerz ist wie kaum eine andere Empfindung durch kulturbedingte Einflüsse geprägt, die zwangsläufig Auswirkungen auf das Krankheitserleben, das Krankheitsverständnis und das Krankheitsverhalten nach sich ziehen. Daraus resultieren Konsequenzen für adäquate Behandlungsstrukturen und Therapieangebote in der Versorgung von Migran-

ten mit chronischen Schmerzstörungen.

13.1

Einleitung

Folgt man aktuellen epidemiologischen Untersuchungen zur Prävalenz von Schmerzen in der deutschen Bevölkerung (Zimmermann 2000), so gehören Schmerzen sowohl in der Allgemeinbevölkerung als auch in klinischen Populationen zu den am häufigsten berichteten Beschwerden. Ein vergleichsweise hoher Anteil dieser Schmerzen ist als chronisch einzustufen, da sie länger anhaltend oder dauerhaft bestehen oder aber immer wiederkehrend auftreten. > Von ca. 80 Mio. Einwohnern der Bundesrepublik Deutschland sollen ca. 7–8 Mio. Menschen von

starken und lebensbestimmenden chronischen Schmerzen betroffen sein.

Angaben hierzu schwanken je nach Studie und darin verwendeter Erhebungsmethode. In klinischen Populationen liegt die Prävalenzrate für chronische Schmerzen deutlich höher. WillweberStrumpf et al. (2000) ermittelten die Häufigkeit chronischer Schmerzen an 900 Patienten, die 5 Bochumer Facharztpraxen aufgesucht hatten. Sie lag bei 36 %. Die häufigsten Schmerzlokalisationen waren der Rücken, der Kopf, die Gelenke und die Beine. Frauen waren doppelt so häufig betroffen wie Männer. Die Erhebung wurde nur an deutschen Patienten durchgeführt. Trotz immer noch vorhandener Defizite hat sich in den letzten 15 Jahren ein insgesamt erfreulicher Trend vollzogen, was die Entwicklung spezifischer schmerztherapeutischer Versorgungsstrukturen und Behandlungsangebote für diese Klientel betrifft. Verbunden damit haben auch Forschungsaktivitäten zum Schwerpunktthema Schmerz einen beachtlichen Aufschwung vollzogen. Von diesen positiven Aussichten sind wir für die ausländische Bevölkerung noch weit entfernt. Nach dem jüngsten Bericht der Ausländerbeauftragten der Bundesregierung über die Lage von Ausländern in Deutschland beträgt der Anteil der ausländischen Bevölkerung ca. 9 % (etwa 7,3 Mio). Türken bilden mit 1,9 Mio. (ca. 26 %) die größte ethnische Minderheit, um die es auch schwerpunktmäßig im folgenden Beitrag geht.

13.2

Leitsymptom „Schmerz“

> Wenn sich türkische Migranten in ärztliche Behandlung begeben, geschieht dies häufig über das Leitsymptom „Schmerz“.

232

Teil II · Modulatoren des Schmerzes

Demnach scheint Schmerz im Beschwerdebild türkischer Patienten einen besonderen Stellenwert

쎔 Migranten der 1. Generation sind in der Türkei

einzunehmen. Wer sich allerdings für genauere Angaben zu Krankheitsbildern oder zu Fragen der Inanspruchnahme des Gesundheitswesens oder Versorgungswünschen dieser Klientel interessiert, findet kaum aktuelle Daten. In den kontinuierlich erhobenen Statistiken der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV), die z. B. Krankenhausentlassungsdiagnosen erfassen, wird nicht unterschieden zwischen deutschen und ausländischen Versicherten. > Es mangelt an wissenschaftlich fundierten epidemiologischen Untersuchungen über chronische Schmerzstörungen bei Migranten.

In einer eigenen Untersuchung an einer Gruppe von 275 türkischen Migranten (Glier u. Rodewig 2000), die im Jahre 1999 eine stationäre psychosomatische Rehabilitationsmaßnahme absolviert hatten, fanden sich: 쎔 240 Patienten (87 %), die im Erstinterview über Schmerzen als vorrangige Symptomatik berichteten, 쎔 180 Patienten (75 %), bei denen chronisch-unspezifische Rückenschmerzen an erster Stelle des Beschwerdebilds standen, 쎔 140 Patienten (51 %), die die Kriterien einer somatoformen Schmerzstörung laut ICD-10 erfüllten, 쎔 170 Patienten (61 %), bei denen eine depressive Störung vorlag, mit Schmerzen als Leitsymptom unter den somatischen Äquivalenten. Betrachtet man die soziodemographischen und sozioökonomischen Kennwerte für Schmerzpatienten der genannten Untersuchungsgruppe, fallen folgende Besonderheiten auf (Glier et al. 1998): 쎔 Der überwiegende Anteil (ca. 90 %) entstammt der 1. Migrantengeneration. Es handelt sich um türkische Mitbürger, die in der Regel im jungen Erwachsenenalter aus wirtschaftlichen und finanziellen Gründen emigrierten und inzwischen seit ca. 20–25 Jahren in Deutschland leben und arbeiten. Entsprechend dieser biographischen Angaben liegt das durchschnittliche Alter bei 46 Jahren (mit einer Standardabweichung von 7,8 Jahren).









zumeist in einem ländlichen Lebensumfeld aufgewachsen. In dieser sozialen Umgebung ist die Schul- oder Berufsausbildung der konkreten Bewältigung alltäglicher Lebensaufgaben nachgeordnet. Folgerichtig finden wir in unserer Klientel einen hohen Anteil an Patienten, die keine Schule besucht haben (18 %), einen kürzeren Schulbesuch aufweisen und keinen Schulabschluss erlangt haben (17 %). Von mangelnder schulischer Qualifikation sind v. a. die weiblichen Patienten betroffen, weil sie als junge Mädchen überwiegend im Haushalt der Mutter oder in der Landwirtschaft helfen mussten. Entsprechend der mangelnden Schulbildung findet sich in dieser Klientel mit einem Anteil von 18 % eine große Anzahl Analphabeten. Ähnliche Zahlen (ca. 20 %) berichtet Collatz (1996) von seinen Untersuchungsbefunden an türkischen Mitbürgern der 1. Migrantengeneration. Damit lässt sich auch erklären, dass die Fähigkeiten zum Erlernen einer neuen Sprache begrenzt sind und ein Großteil ungenügende deutsche Sprachkenntnisse aufweisen. Zur beruflichen Situation fällt auf, dass über 90 % der Patienten in der zuletzt ausgeübten Tätigkeit angelernte Arbeiter waren. Nur jeder 4. Patient verfügt über eine abgeschlossene Berufsausbildung. Damit findet das niedrige Bildungsniveau auch in der beruflichen Qualifikation seine Entsprechung. Für das Verständnis der Krankheitsproblematik ist die Zuordnung zur Migrantengeneration wichtig. Hinzu kommt, dass ein Großteil der Patienten langzeitarbeitsunfähig und arbeitslos ist. Nur jeder 5. Patient bezieht sein Einkommen aus eigenem Arbeitsverdienst, 80 % erhalten ihre Einkünfte aus Einrichtungen der sozialen Sicherung. Es handelt sich somit um eine Klientel mit einem hohen Anteil sozialmedizinischer Problemfälle. Beim Familienstatus fällt auf, dass der überwiegende Teil der Patienten (86 %) verheiratet ist. Nur 8 % sind geschieden oder getrennt lebend, 3 % sind ledig. In einer Vergleichspopulation deutscher Patienten finden sich dagegen 56 % Verheiratete und 37 % Alleinstehende (Geschiedene und Ledige). Bei den Verheirateten der türkischen Migranten geben 43 % an,

233 Kapitel 13 · Schmerz bei Migranten aus der Türkei

dass ihre Ehe traditionell vermittelt worden ist, ein Hinweis, der für die kulturelle Verbundenheit mit traditionellen Wertvorstellungen in dieser Generation spricht. 쎔 Mit ca. 65 % ist ein auffallend hoher Anteil Frauen vertreten, der in einer deutschen Vergleichspopulation bei 55 % deutlich niedriger liegt. Für die Bewertung solcher Daten, insbesondere auch des hohen Anteils an Patienten mit einer chronischen Schmerzsymptomatik, muss allerdings einschränkend hervorgehoben werden, dass es sich bei der genannten Studie um die Untersuchung einer speziellen Inanspruchnahmepopulation handelt, hier einer Klientel, die sich in einem hochchronifizierten Krankheitsstadium befindet, bei der ambulante Behandlungsmöglichkeiten weitestgehend ausgeschöpft sind und die Rehabilitationsmaßnahme häufig von Leistungsträgern unseres Sozialversicherungssystems (Rentenversicherungsträger, Krankenkassen) veranlasst worden ist. Im Unterschied dazu fällt der Anteil chronischer Schmerzsyndrome in der Klientel türkischer Patienten, die die Ambulanz der Klinik für Psychotherapie und Psychosomatik in Essen aufgesucht haben, erheblich niedriger aus.Von 109 türkischen Patienten des Jahres 1999 wiesen insgesamt nur 9 Patienten (8,2 %) die Diagnose einer somatoformen Schmerzstörung auf. Die Symptomdauer umfasste eine Bandbreite zwischen 6 Monaten und 8 Jahren. Depressive Störungsbilder bildeten die häufigste komorbide Diagnose. Insgesamt nehmen in der Essener Ambulanz Patienten mit somatoformen und depressiven Störungsbildern den größten Raum ein. Die Komorbidität von Depressions- und Schmerzsymptomen, wie sie auch von Sercan u. Yüksel (1990) beschrieben wurde, macht eine vorsichtige differenzialdiagnostische Abklärung erforderlich. Die Diagnose einer depressiven Episode hat möglicherweise andere therapeutische Konsequenzen zur Folge als die einer somatoformen Schmerzstörung. > So gilt es zu entscheiden, ob eine vorrangig medikamentöse Behandlung mit Antidepressiva in Kombination mit psychotherapeutischen Maßnahmen oder eine psychotherapeutische Behandlung mit Einsatz von Antidepressiva in se-

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dierenden Dosen als adjuvante Schmerztherapie indiziert ist.

Dass Schmerzstörungen in der Inanspruchnahmeklientel der Ambulanz in Essen nicht so stark vertreten sind wie z. B. in der Stichprobe der Fachklinik Hochsauerland, ist möglicherweise dadurch zu erklären, dass die Essener Klinik mit einem heimatnahen Angebot den Patienten in einem frühen Stadium der Symptombildung begegnet und überregionale Angebote vermehrt von „ausgesuchten“ chronifizierteren Patienten genutzt werden. Denkbar ist darüber hinaus auch, dass sich Schmerzpatienten mit einem traditionell eher somatischen Krankheits- und Behandlungskonzept weniger durch eine psychotherapeutische Ambulanz angesprochen fühlen. > Die meisten epidemiologischen Studien über Krankheitsbilder bei Migranten untersuchen Inanspruchnahmepopulationen.

In ihrer Übersichtsarbeit hebt Boos-Nünning (1998) hervor, dass Migranten immer wieder ein höheres Gesundheitsrisiko und eine höhere Anfälligkeit für Krankheitsbilder zugeschrieben wird, dass jedoch epidemiologische Untersuchungen, die einen Vergleich türkischer Migranten mit der einheimischen Bevölkerung ermöglichen, bis heute fehlen. Die meisten Studien zur Prävalenz von Störungsbildern bei Migranten untersuchen Inanspruchnahmepopulationen.

13.3

Probleme im herkömmlichen medizinisch-therapeutischen Versorgungssystem

> Wenn türkische Migranten wegen Schmerzen die Praxis eines deutschen Arztes aufsuchen, verlaufen solche Kontakte oftmals für beide Seiten unbefriedigend und frustrierend. Neben sprachlichen Verständigungsproblemen bestehen Kommunikationsbarrieren häufig in kulturell bedingten Missverständnissen (Abb. 13.1).

So berichteten deutsche Ärztinnen in der Diskussion nach einer Fortbildungsveranstaltung (es handelte sich um einen Qualitätszirkel für Hausärztinnen), dass es ihnen wegen sprachlicher und kultureller Barrieren schwer falle, diffuse Angaben

234

Teil II · Modulatoren des Schmerzes

für psychosomatische Medizin der Universität Gießen, das der Verbesserung psychosomatischer Probleme türkischer Arbeitnehmer und ihrer Familien dienen sollte. Nur in 24 % der Fälle kam es zu einer Behandlung, die aus mindestens 3 Kontakten bestand, 76 % brachen schon innerhalb der ersten 3 Sitzungen die Therapie ab (Gießener Modellprojekt 1987). > In bikulturellen Arzt/Therapeut-Patienten-Kontakten kommt es häufig zu sprachlichen und kulturell bedingten Kommunikationsproblemen. Abb. 13.1. Interaktionsprobleme in bikulturellen Arzt/Therapeut-Patienten-Kontakten

zur Schmerzsymptomatik bei türkischen Migrantinnen weiter zu klarifizieren, da sie befürchteten, von den Patientinnen als „zu streng“ oder „zu bestimmend“ erlebt zu werden. Diese „Berührungsangst“ ging sogar so weit, dass sie Patientinnen im angekleideten Zustand untersuchten und nicht darauf bestanden, z. B. den Oberkörper frei zu machen. Sie vermuteten, dass das Auskleiden beim Arztbesuch Schamgefühle auslösen oder verpönt sein könnte. Bei deutschen Patienten würden sie dies auf keinen Fall zulassen. Es konnte im Weiteren erarbeitet werden, dass es sich um Schuldgefühle der Ärztinnen gegenüber den Migrantinnen handelte. Als Zugehörige der „Dominanzkultur“ (Rommelspacher 2000) waren sie bestrebt, besonders einfühlsam und rücksichtsvoll gegenüber einer Gruppe zu sein, die sie als sozial benachteiligt erlebten. Schließlich fühlten sich die türkischen Patientinnen möglicherweise benachteiligt, weil sie nicht so gründlich untersucht wurden wie Deutsche. Mangelnde Sprachkompetenz und unzureichende kulturspezifische Kenntnisse und Kompetenzen führen häufig dazu, dass nicht nur die sprachliche Verständigung, sondern auch die emotionale Verständigung in der Arzt-Patienten-Beziehung erschwert abläuft. Daraus resultieren auf Behandlerseite oftmals Gefühle von Unsicherheit und Hilflosigkeit, auf die dann mit Distanzierung zum Patienten reagiert wird, der auf die empfundene Ablehnung mit nachfolgendem Abbruch der Behandlung reagiert. Diese Erfahrung stand auch im Mittelpunkt eines Modellprojekts am Zentrum

Gerade Schmerzäußerungen türkischer Migranten, aber auch anderer Ethnien aus südeuropäischen Ländern, werden von deutschen Ärzten und Therapeuten häufig als übertrieben wahrgenommen und in ihrem Krankheitswert und ihrer Bedeutung für den hilfesuchenden Patienten abgewertet, z. B. mit Bezeichnungen wie „Mittelmeersyndrom“ oder „Morbus Bosporus“. Daten einer älteren Studie des Zentralinstituts für die Kassenärztliche Versorgung in Deutschland, die aus den 1980er Jahren stammt, weisen darauf hin, dass Migranten ihre Beschwerden größtenteils als schwerwiegend einschätzten, während die behandelnden Ärzte gegenteiliger Auffassung waren (Eva-Studie [EvaS] 1989). Dabei ist Schmerz wie kaum eine andere Empfindung durch kulturbedingte Einflüsse geprägt, die zwangsläufig Auswirkungen auf das Krankheitserleben, das Krankheitsverständnis und das Krankheitsverhalten nach sich ziehen. Vor diesem Hintergrund muss das Verständnis fremdartiger subjektiver Schmerzkonzepte und daraus resultierender Behandlungserwartungen einen besonderen Stellenwert erhalten. Dazu gehört auch die Aufgabe, zu erkennen und zu verstehen, welche Bedeutung geklagten Schmerzen in der Gestaltung und im Erleben von zwischenmenschlichen Beziehungen zukommt, ein Bereich, der deutlich kulturspezifisch geprägt ist. Wo dies nicht geschieht, trifft man auf erhöhte Abbruchraten (in bikulturellen Arzt-PatientenBeziehungen doppelt so hoch wie in monokulturellen), wird in Ermangelung adäquater medizinisch-therapeutischer Behandlungsmöglichkeiten häufig eine übermäßige Verordnung von Medikamenten, insbesondere Psychopharmaka, vorgenommen (Korporal 1985), kommt es zu vermehr-

235 Kapitel 13 · Schmerz bei Migranten aus der Türkei

ten Krankschreibungen und auch zu einer deutlich höheren Rate von Frühberentungen im Ver-

gleich zu deutschen Versicherten (Hackhausen 1999).

13

sonderheiten laufen solche Patienten u. U. Gefahr, fälschlicherweise psychotische Symptome diagnostiziert zu bekommen.

13.4.2 Wissensdefizite 13.4

Medizinische, psychologische und soziale Besonderheiten türkischer Schmerzpatienten

13.4.1 Symptom-

und Krankheitspräsentation Häufig wird die Frage des Arztes oder des Therapeuten nach den vorliegenden Beschwerden mit der Feststellung beantwortet, dass „der ganze Körper schmerzt“. Während für eine sorgfältige Diagnostik möglichst genaue anatomische Angaben erwartet werden, antwortet der Patient mit einer Beschreibung seines Befindens. Das Schmerzerleben ist ganzheitlich körperbezogen und wird auch so geäußert. Dabei muss kulturübergreifend berücksichtigt werden, dass körpernahe Symptomdarstellungen und auch Somatisierungssymptome häufiger in Patientengruppen mit niedrigem sozialen Status anzutreffen sind, wie Freedman u. Hollingshead bereits 1957 in ihrer bekannt gewordenen Arbeit über die Prävalenz von neurotischen Erkrankungen in unterschiedlichen sozialen Schichten aufzeigen konnten. Somit müssen einige Auffälligkeiten in der Klientel türkischer Schmerzpatienten, wie z. B. auch die weiter unten erwähnten Wissensdefizite bezüglich Anatomie und Funktionsweise des eigenen Körpers, auch unter schichtspezifischem und nicht ausschließlich kulturspezifischem Blickwinkel gewertet werden. > Die Symptom- und Krankheitspräsentation ist häufig ganzheitlich körperbezogen und bedient sich dabei einer symbol- und bildhaften Sprache.

Eine andere Besonderheit besteht darin, dass türkische Patienten Schmerzempfindungen oftmals in einer sehr symbol- und bildhaften Sprache mitteilen: Sie sprechen von einer Schlange, die durch ihren Körper wandert oder von Zwergen, die im Körper sitzen und ihm Schmerzen zufügen, oder von kribbelnden Ameisen, die im Körper umherwandern. In Unkenntnis dieser sprachlichen Be-

Aufgrund des niedrigen allgemeinen Bildungsstandes und des hohen Anteils an Analphabeten trifft man auf beträchtliche Defizite in Bezug auf basale medizinische und biologische Grundkenntnisse. So wird aus dem Fachgebiet der Frau-

enheilkunde und Geburtshilfe berichtet, dass in einem Wissenstest auf die Frage zum Zusammenhang zwischen Hormonen und Monatsblutung nur 13 % der türkischen Frauen die richtige Antwort identifizierten (im Vergleich zu 40 % der deutschen Frauen; Rieser 2000). Wissensdefizite bestehen auch hinsichtlich biopsychosozialer Zusammenhänge. Wie Özelsel (1990) in ihrer Untersuchung zeigen konnte, verfügen Türken gegenüber Deutschen (bei ähnlicher Schulbildung) über ein signifikant geringeres Wissen um die psychische und soziale Mitbedingtheit von Erkrankungen – ein Umstand, der gerade auch in der Behandlung chronischer Schmerzen von großer Bedeutung ist.

13.4.3 Subjektive Krankheits-

und Körperkonzepte In den volksmedizinischen Vorstellungen orientalischer Länder wird Krankheit als etwas betrachtet, das „von außen kommt“, beispielsweise durch Luft oder Wasser übertragen wird, oder durch den „bösen Blick“ oder magische Einflüsse zustande kommt. Neurologische oder psychiatrische Krankheitsbilder werden in diesem Kontext auch oftmals durch Besessenheit von Geistern erklärt (Ruhkopf et al. 1993). In unserer Klientel türkischer Schmerzpatienten nehmen 75 % der Fälle eine externale Ursachenzuschreibung vor. Am häufigsten werden belastende Umweltbedingungen, Schicksal, Strafe oder magische Vorstellungen genannt. In Übereinstimmung damit stehen Kontrollattribution und Behandlungserwartung. Hier nehmen über 60 % der Patienten eine fatalistisch-passive Haltung ein, 15 % erwarten eine Veränderung ihrer gesundheitlichen Situation durch andere Personen (Ärzte, Therapeuten, Heiler, Angehörige).

236

Teil II · Modulatoren des Schmerzes

> Schmerzen werden überwiegend externalen Ur-

> Türkische Migranten leben häufig in traditionel-

sachen zugeschrieben. Damit korrespondieren passive Behandlungserwartungen.

len kohäsiven Familienstrukturen, die geprägt sind durch ein kollektives Selbstverständnis der einzelnen Mitglieder.

Bei bevorzugter Inanspruchnahme religiöser Heiler (Hodca) sollte grundsätzlich bedacht werden, inwieweit ein solches Verhalten auch beeinflusst sein kann durch unzureichende institutionelle Strukturen und Angebote in der medizinischen Versorgung. So ist der Kontakt zu religiösen Heilern für türkische Migranten der 1. Generation in ländlichen Gebieten möglicherweise die einzige „Behandlungsmöglichkeit“ gewesen. Eine Untersuchung der Kinder- und Jugendpsychiatrischen Universitätsklinik in Essen konnte darüber hinaus aufzeigen, dass in türkeistämmigen Migrantenfamilien westliche und traditionelle Bewältigungsstrategien nebeneinander eingesetzt werden (Abschlussbericht an die Deutsche Forschungsgemeinschaft:„Bewältigungsstrategien und Umgang mit Verhaltensauffälligkeiten Jugendlicher in Familien aus der Türkei unter besonderer Berücksichtigung jugendpsychiatrischer Versorgung“, 1998). Ein ähnlicher Polypragmatismus wäre auch in der Schmerzbehandlung denkbar. Es fehlen jedoch noch systematisch erhobene empirische Belege.

Das kollektive Selbstbild korrespondiert mit den erwähnten Besonderheiten im Krankheitserleben und Krankheitsverständnis und erklärt, warum die Suche nach Entstehungsbedingungen bevorzugt externalisiert abläuft. Nicht der Einzelne mit seinen persönlichen Merkmalen und eigenen Anteilen, sondern außerhalb des Individuums liegende Faktoren – wie familiäre, berufliche oder soziale Bedingungen – werden in hohem Maße verantwortlich gemacht für Wohlergehen oder Erkrankung. Eigene Schwächen werden eher als Folge äußerer gesellschaftlicher Verhältnisse verstanden. So begründet ein türkischer Schmerzpatient seine Beschwerden etwa mit dem nicht kulturkonformen Verhalten von Familienangehörigen (z. B. die Tochter, die ihren türkischen Ehemann verlassen hat und die Scheidung will) oder mit schlechten Bedingungen am Arbeitsplatz. Demzufolge sieht er auch seine Genesung in der Veränderung externaler Bedingungen. Daraus resultiert aus unserer Sicht ein passives Krankheitsverhalten mit Schon- und Rückzugsverhalten als bevorzugte Copingstrategien.

13.4.4 Kollektives Selbstbild 13.4.5 Religiöses Weltbild

Türkische Migranten der 1. Generation stammen zumeist aus Gebieten mit eher agrarischer Lebensweise, in denen noch eine weitgehend systemische Sichtweise vorherrscht. Der einzelne ist wichtig im Sinne seiner Einbettung in die übergeordneten Systeme der Großfamilie und der Nachbarschaft (Özelsel 2000). Die Beziehungsstrukturen sind von großer interpersoneller Verbundenheit in festgelegten, einander ergänzenden sozialen Rollen geprägt. Damit wird eine Gruppe von Menschen zu einem einzigen „kollektiven“ Lebewesen. Der Einzelne erlebt sich nicht als individuelles, autonomes Selbst, sondern als kollektives Selbst. Man ist einander sozial verpflichtet, jeder Einzelne ist verantwortlich für die Funktion der Gemeinschaft. In einer solchen traditionellen kohäsiven Familienstruktur sind Männer gegenüber Frauen, Ältere gegenüber Jüngeren dominant. Wichtige traditionelle Wertvorstellungen in diesem sozialen Gefüge sind Ehre und Integrität (Erim-Frodermann 2000).

Der größte Teil Migranten der 1. Generation – v. a. solche, die aus dörflichen oder kleinstädtischen Strukturen stammen – sind religiös mit dem Islam verwurzelt, richten sich in ihrem alltäglichen Leben danach aus und praktizieren die allgemeinen Pflichten. Die oben beschriebene kollektive Verbundenheit in der Familie ist auch als religiöse Gemeinschaft zu verstehen. Im Unterschied zum Christentum, das mehr Individuation und Einflussmöglichkeiten des Einzelnen auf das eigene Lebensgestaltung fördert, betont der Islam, Lebensereignisse als Schicksal und Gottgegebenheit zu verstehen und anzunehmen.

> Krankheiten oder andere Schicksalsschläge können vor diesem Hintergrund auch religiöse Bedeutungszuschreibungen erhalten, indem sie als göttliche Bestrafung oder Sühne für Fehlleistungen aufgefasst werden.

237 Kapitel 13 · Schmerz bei Migranten aus der Türkei

13.5

Kulturspezifische Dynamik der Schmerzsymptomatik

Wie bereits angesprochen, ist die traditionelle türkische Familie einerseits von kollektiver Verbundenheit, andererseits von einer geschlechts- und generationenabhängigen Hierarchie geprägt. In der traditionellen Familienorganisation haben beide Generationen Vorteile durch die kohäsive Beziehungsstruktur. Die erwachsenen Kinder können einen erheblichen Teil der Kinderbetreuung an die Elterngeneration abgeben, dadurch kann jungen Frauen die Fortsetzung ihrer Berufstätigkeit erheblich erleichtert werden. Die ältere Generation, insbesondere die Frauen, ziehen sich mit dem Eintritt in die Großelternschaft, die nach ihrer eigenen frühen Heirat oft sehr früh realisiert ist, aus dem außerhäuslichen Erwerbsleben zurück. Sie beteiligen sich intensiv am Leben ihrer Kinder, dadurch wird ein Gefühl von Zusammengehörigkeit der Familie über 3 Generationen hinweg aufrechterhalten. Die „Ehrerbietung“ der jüngeren der älteren Generation gegenüber, die Einbeziehung dieser Generation in wichtigste Entscheidungen, wie Berufswahl und sogar Partnerfindung, gehören zu diesem kohäsiven „Familienselbstbild“. In der türkischen Sprache wird diese Zusammengehörigkeit der beiden Generationen verdeutlicht im Begriff des „Mürüvvet“, ein Wort, das das Teilhaben der Elterngeneration an dem (Entwicklungs-)glück der jüngeren Generation bedeutet. Ereignisse wie Beschneidungsfeier, Schulabschlüsse und Hochzeiten werden „Mürüvvet“ genannt. Die Eltern gehören dabei nicht mehr zu den aktiv Agierenden. Für die jüngere Generation ist wichtig, dass die älteren ihren Segen für die bevorstehenden Lebensabschnitte geben. Diese Absegnung wird in vielen rituellen Handlungen auch symbolisch abgebildet. Eine ähnliche Abhängigkeit der jüngeren Generation von der älteren, des Sohnes vom Vater, beschreibt Ardjomandi (1993) für den persischen Kulturkreis. Im Alter von Kindern und einer zusammenhaltenden Familie umgeben zu sein, ist das höchste Lebensglück für Senioren dieses Kulturkreises. Ein enger familiärer Zusammenschluss gilt als Zeichen für funktionierende, wertschätzende Beziehungen in der Familie. > Für ein adäquates Krankheitsverständnis und Therapiekonzept spielt das Wissen um Beson-

13

derheiten kulturspezifischer Beziehungsdynamik eine wichtige Rolle.

Vor diesem Hintergrund ist nachvollziehbar, dass es für die ältere Generation eine große psychische Belastung bedeutet, die enge Bindung und ihren Einfluss auf ihre Kinder zu verlieren oder gar zu vereinsamen. Diese Vereinsamungsängste können im Entstehen von Schmerzsymptomen eine große Rolle spielen und sind für einheimische Psychotherapeuten, die sich mit dem kulturellen Hintergrund ihres Patienten noch nicht vertraut gemacht haben, zunächst nicht verständlich. Letztere sehen nämlich im Auszug und in der Ablösung der erwachsenen Kinder eher einen wichtigen Schritt in eine autonome Entwicklung und halten die Nähewünsche der türkischen Patienten für übertrieben oder krankhaft. Die Stellung der Frauen in der Familienhierarchie steigt mit ihrem Alter. Sie gewinnen gleichzeitig im Sinne der oben beschriebenen Ehrerbietung mehr Einfluss. So wird ein „milder“ Schmerz manchmal als symbolisches Attribut des Alterns eingesetzt und hat die Funktion, die neue Rolle einer Frau im System der Familie deutlich zu machen. : Fallstudie Beispiel 1 Frau G, 42 Jahre, war in einer türkischen Kleinstadt als dritte von 4 Geschwistern aufgewachsen. Die Eltern waren Landwirte und verheirateten die Patientin im Alter von 19 Jahren mit einem Cousin väterlicherseits, mit dem sie als Arbeitsmigrantin nach Deutschland zog. Aus der Ehe gingen 2 Söhne, 23 und 18 Jahre alt, hervor. Die Patientin ist in Deutschland jahrelang als Fabrikarbeiterin berufstätig gewesen. Als der Ehemann sich nach Bekanntschaft einer neuen Partnerin abrupt von der Patientin trennte, entwickelte diese zuerst eine depressive Symptomatik, die sich anschließend trotz stationärer psychosomatischer Behandlung in eine anhaltende Schmerzsymptomatik wandelte. Sie habe ständig Schmerzen „in allen Gelenken und in inneren Organen“. Wenige Monate nach Entwicklung der Schmerzsymptomatik gab der 22-jährige Sohn seine gemeinsame Wohnung mit einer jungen Frau auf und kehrte nach Hause zurück, um die Patientin zu betreuen. Er befürchtete, dass die

238

Teil II · Modulatoren des Schmerzes

Mutter bei den nächtlichen Schmerzzuständen ersticken könnte. Durch die Schmerzsymptomatik sicherte die Patientin die emotionale Zuwendung von wichtigen Bezugspersonen, deren Verlust sie befürchtete. In der Behandlung dieser Patientin war es schwierig, angemessene, persönliche Therapieziele zu finden. Ausgehend von den oben beschriebenen traditionellen Aufgaben im Lebenszyklus schien uns die Progression am ehesten im Zusammenhang mit Entwicklungsaufgaben der Kinder möglich, denen die Patientin ihre Unterstützung geben könnte. So ergab sich in Familiengesprächen als mögliches Ziel für die Patientin die Unterstützung ihres Sohnes bei der Suche nach einer neuen Partnerin. Bei Abschluss der Behandlung waren die Schmerzen weitestgehend zurückgegangen. Im Vordergrund hatte die Bearbeitung der Trauer gestanden. Die Patientin dekompensierte bei Belastungen immer wieder mit depressiven Beschwerden und wurde nach langen Krankschreibungen berentet. Mutter und Sohn verständigten sich schließlich darauf, dass es noch nicht an der Zeit sei, sich nach einer Partnerin für diesen umzuschauen. Der Sohn blieb weiterhin bei der Patientin wohnen. Die Patientin konnte zu diesem Zeitpunkt die Vorstellung zulassen, dass sich ihre Befindlichkeit mit der Zeit stabilisieren würde.

Beispiel 2 Frau F, 45 Jahre, war als Tochter einer Migrantenfamilie in Istanbul aufgewachsen. Die Eltern, muslimische Albaner, waren kurz vor ihrer Geburt in die Türkei ausgesiedelt. Der Vater war ein selbstständiger, tüchtiger Schreinermeister, der sich in der neuen Stadt schnell hocharbeitete, die Mutter Hausfrau. Als Jüngste von drei Geschwistern und einzige Tochter wurde die Patientin von ihren Eltern in jeder Hinsicht gefördert und verwöhnt. Sie beschrieb eine sehr enge Bindung an beide Eltern, die es ihr schwer gemacht hätte, sich für ihre Heirat im Alter von 20 Jahren zu entscheiden und zu ihrem Ehemann nach Deutschland zu ziehen. Mit diesem verstand sie sich gut. Bis auf ihren Erziehungsurlaub war sie als Fabrikarbeiterin tätig. Sie bekam 3 Kinder, eine 22-jährige Tochter und 2 Söhne, 20 und 15 Jahre alt. Bei dem jüngsten Sohn wurde im Alter von 3 Jahren eine Entwicklungsstörung und später eine Minderbegabung festgestellt. Die Patientin

ging überbehütend mit diesem um, was u. a. dazu führte, dass der Sohn keine behindertengerechte Erziehung bekam. Zu ihrer Tochter, die sie als ihre nächste Vertraute bezeichnete, hatte die Patientin eine sehr enge Beziehung. Als die Tochter mit 21 Jahren einen „guten Aspiranten“ hatte und in eine vermittelte Ehe mit einem BWL-Studenten einwilligte, reagierte die Patientin mit ambivalenten Gefühlen. Einerseits nahm sie ihre traditionelle Aufgabe als Mutter wahr, indem sie sich in die Fertigstellung der Aussteuer und die Hochzeitsvorbereitungen stürzte, andererseits wurde sie schwer krank. Ihr Diabetes war nicht mehr durch orale Antidiabetika einzustellen, sie wurde auf Insulin eingestellt. Anschließend setzte eine heftige Schmerzsymptomatik ein, wobei alle Extremitäten, v. a. aber beide Arme, einbezogen waren. Neurochirurgischerseits wurde eine Bandscheibenprotrusion in der Halswirbelsäule festgestellt, die die Schmerzsymptomatik jedoch nicht ausreichend erklären konnte. Der unbewusste Versuch der Patientin, die Tochter durch die körperlichen Beschwerden zu binden, scheiterte. Nach Heirat und Auszug der Tochter suchte sie eine muttersprachliche Therapie auf. In der therapeutischen Beziehung erlangte sie immer wieder eine Erleichterung und Beruhigung, nachdem sie über ihre als aussichtslos erlebte Lebenssituation berichtet hatte. Dabei ging es in erster Linie um die Betreuung ihres behinderten Sohnes, der nachts einnässte und aggressive Verhaltensweisen entwickelte. Leider gelang es der Patientin wenig, anstehende Veränderungen in ihrem Familiensystem oder eigene Individuationsschritte zuzulassen. In der Psychotherapie kam es zu einer zeitlich begrenzten Symptombesserung, wobei die Therapeutin als sog. Partialobjekt genutzt wurde. Die Patientin erwartete von der Therapeutin, dass diese den berichteten äußeren Geschehnissen zuhörte und ihre Sichtweise bestätigte. Mit klärenden oder gar konfrontierenden Interventionen konnte sie nur schwer umgehen, war vielmehr erstaunt und enttäuscht, wenn die Therapeutin ihre Lebenssituation abweichend beurteilte. In diesem Zusammenhang wurde ihre enge und ungelöste Bindung an die Mutter deutlich. Bei Versuchen, die Therapie zu beenden, kam es zu einem Sistieren der Schmerzsymptomatik. Immer mehr rückte die Beziehungsproblematik in

239 Kapitel 13 · Schmerz bei Migranten aus der Türkei

den Vordergrund der therapeutischen Arbeit. Es wurde deutlich, dass die symbiotisch anmutenden Beziehungsstrukturen in der Ursprungsfamilie der Patientin der Abwehr von unbearbeiteter Trauer bezüglich der ersten Migration von Albanien in die Türkei gegolten hatten. Nachdem sie diese Hintergründe bearbeitet hatte, gelang es der Patientin, sich von ihrer Tochter mehr abzulösen und einige hilfreiche Veränderungen in der Betreuung ihres Sohnes vorzunehmen. Die Schmerzsymptomatik reduzierte sich danach auf ein niedrigeres Niveau.

13

auch sprach- und kulturspezifischen Voraussetzungen erfüllen. Andererseits sind seit Beginn der Gründung von speziellen medizinischen und psychotherapeutischen Versorgungseinrichtungen für türkische Migranten in der ersten Hälfte der 1990er Jahre inzwischen weitere qualifizierte Anbieter hinzugekommen, was auf einen insgesamt positiven Trend auch für diese besondere Klientel hinweist.

13.6.2 Therapeutische Haltung

Interkulturelle Offenheit 13.6

Konsequenzen für adäquate Behandlungsstrukturen und Therapieangebote

13.6.1 Therapeutische Qualifikation

Die besonderen Merkmale der Klientel türkischer Schmerzpatienten machen für eine angemessene Behandlung Personal erforderlich, das über die fachspezifischen Qualifikationen hinausgehend sowohl über entsprechende sprachliche als auch kulturspezifische Kompetenzen verfügt. Solche Bedingungen sind am optimalsten in solchen Einrichtungen realisiert, die über bilinguales Fachpersonal verfügen. Wird auf diese Weise ethnomedizinischen Besonderheiten Rechnung getragen, wächst auch die Bereitschaft und Motivation zur Inanspruchnahme solcher therapeutischen Angebote. Erim-Frodermann (1998) berichtet hierzu, dass nach Einführung eines muttersprachlichen Angebots für türkische Mitbürger in der Klinik für Psychotherapie und Psychosomatik der Universitätsklinik Essen die Anzahl der Patienten zunahm und innerhalb von 2 Jahren das 3fache erreichte. > Eine optimale schmerztherapeutische Behandlung erfordert fachliche, sprachliche und kulturspezifische Kompetenzen.

Von solchen wünschenswerten Konstellationen sind wir aber in der Realität noch weit entfernt. Macht man sich bewusst, dass eine adäquate Behandlung chronischer Schmerzpatienten ohnehin an ein interdisziplinär arbeitendes Fachteam gebunden ist, so wird man gegenwärtig nur wenige Institutionen finden, die sowohl die fachlichen als

Unter interkultureller Offenheit des Therapeuten verstehen wir eine neugierige, respektvolle und akzeptierende Haltung gegenüber dem fremden Patienten. Viele Autoren (u. a. Eberding 1995; El Hachimi u. von Schlippe 2000) machen auf die Notwendigkeit aufmerksam, den kulturellen Hintergrund von Begriffen im Wertesystem des fremden Patienten zu verstehen. An erster Stelle sind die Einfälle des Patienten in der therapeutischen Sitzung wichtig. Sie geben oft Hinweise auf seine besondere Konfliktdynamik. In der oben geschilderten 2. Kasuistik würde die Patientin auf die Frage, warum sie die Förderung ihres minderbegabten Sohnes in einer Spezialschule nicht zugelassen hat, erwidern, dass es nach ihren Vorstellungen eine Schande ist, wenn Eltern ihre Kinder, seien sie noch so schwierig in der Erziehung, an Andere abgeben und nicht selbst versorgen. Neben diesem höchsten kulturellen Gebot würde man erste biographische Hinweise auf Objektverlustängste und daraus resultierende Nähewünsche der Patientin erhalten. > Es empfiehlt sich, bei der Klärung der Therapieziele den kohäsiven Familienstrukturen mit einem systemischen Ansatz Rechnung zu tragen und die Therapieziele bezüglich ihrer Tragbarkeit in Familie und Bezugsgruppe zu überprüfen.

Aktive unterstützende Interventionen des Therapeuten Der Therapeut sollte aktiv intervenieren, wenn er durch offene Unterstützung das Eintreten des gewünschten Verhaltens beschleunigen kann. Hierzu gehört auch die Beratung des Patienten in wesentlichen alltagspraktischen Bereichen mit Infor-

240

Teil II · Modulatoren des Schmerzes

mationen über den Umgang mit Behörden, Einschulung, Einbürgerung etc. > Im Sinne der verhaltenstherapeutischen Methode des „shaping“ sollte der Patient im Aufbau von sozial kompetentem, z. B. durchsetzungsfähigem Verhalten gefördert werden.

Förderung der Individuation Dazu gehört in erster Linie die Erschließung abgegrenzter sozialer Beziehungen, z. B. durch Teilnahme an regelmäßigen Aktivitäten bei Vereinen oder Sprachkursen, oder die Unterstreichung von Abgrenzung des Individuums durch Aktivitäten wie Lesen, einen Spaziergang machen etc. > Eine gute Möglichkeit, den innerpsychischen Raum des Patienten zu betonen, besteht in der Arbeit mit Metaphern. Hierbei kann man den Patienten z. B. fragen, ob ihm zu einem bestimmten Thema ein Sprichwort in seiner Muttersprache, eine Fabel oder ein Märchen einfällt.

Ressourcen des Kollektivs erfragen und aktivieren Man kann durch direktes Erfragen, ob der Patient jemanden aus seinem Bekanntenkreis kennt, der mit einem ähnlichen Problem zu tun hatte und zu welchen Lösungswegen dieser gefunden hat, mögliche Lösungswege in Erfahrung bringen, die für die ethnische Bezugsgruppe akzeptabel sind. Mit dem Patienten kann dann überlegt werden, ob diese Lösungen auch für ihn infrage kämen.

13.6.3 Psychoedukation

Psychoedukative Maßnahmen gehören mittlerweile zum Standard eines jeden multimodalen Schmerztherapieangebots und bilden die Grundlage für gezielte kompetenzfördernde Interventionen zur verbesserten Schmerzbewältigung. Die Bedeutung von Psychoedukation wächst mit dem Ausmaß an Wissensdefiziten in Bezug auf basale medizinische und biologische Grundkenntnisse. In der Schmerztherapie mit Migranten – insbesondere, wenn es sich um Patienten handelt, die über ein sehr niedriges Bildungsniveau verfügen – nehmen psychoedukative Maßnahmen, v. a. in der 1. Phase der Therapie, einen besonders breiten Raum ein. Neben der Vermittlung grundlegender

anatomischer und physiologischer Sachverhalte steht hierbei als weitere Aufgabe das geleitete Entdecken und Verstehen psychophysiologischer und biopsychosozialer Zusammenhänge im Fokus der therapeutischen Arbeit. > Wissensdefizite hinsichtlich basaler medizinischer und biologischer Grundkenntnisse und psychosomatischer Zusammenhänge erfordern intensive edukative Maßnahmen.

Angesichts eines potenziell hohen Anteils an türkischen Schmerzpatienten, die Analphabeten sein können, ist es wichtig, nicht nur schriftliches Informationsmaterial bereitzuhalten, sondern Informationsvermittlung möglichst auch über Videos anzubieten.

13.6.4 Kompetenzförderung

Schmerzedukation bildet üblicherweise die Vorstufe für das anschließend darauf aufbauende Training von Methoden, mit denen Schmerzerleben und Schmerzverhalten beeinflusst werden können (Entspannung, Schmerzdefokussierung, positive Selbstinstruktion etc.). In Anlehnung an bekannte und bewährte Schmerzbewältigungstrainingsprogramme, die im deutschen Sprachraum bereits existieren (Basler u. Kröner-Herwig 1998; Basler 2001), sind Materialien entstanden, die sich auch in der therapeutischen Arbeit mit türkischen Schmerzpatienten einsetzen lassen. Abbildung 13.2 enthält als Beispiel hierfür den sog. Aufmerksamkeitsscheinwerfer, anhand dessen die Funktionsweise menschlicher Wahrnehmung erläutert werden kann, als Grundlage für Übungen zum Erlernen internaler und externaler Aufmerksamkeitslenkung. Um solche Methoden in der Therapie mit türkischen Schmerzpatienten erfolgreich vermitteln zu können, bedarf es v. a. vieler konkreter, anschaulicher, einfach verständlicher und erlebnisnaher praktischer Beispiele aus dem gewöhnlichen Alltagsleben, um den Patienten Selbstwirksamkeitserfahrungen zu verdeutlichen und zu einem aktiven Verarbeitungs- und Bewältigungsmodus ihrer Schmerzsymptomatik anzuregen – Erfahrungen, die Dissonanzen zu traditionellen schicksalsabhängigen und -beeinflussten Krankheitskonzepten hervorrufen sollen.

241 Kapitel 13 · Schmerz bei Migranten aus der Türkei

13

13.6.5 Bearbeitung schmerzassoziierter

Problembereiche Hierbei geht es schwerpunktmäßig um die Klärung, Bewältigung oder Lösung häufig anzutreffender Problem- und Belastungssituationen von Migranten, von denen anzunehmen ist, dass sie die chronische Schmerzsymptomatik begünstigen und aufrechterhalten. Zu diesen Themen gehören beispielsweise Probleme mit der Kindererziehung in Deutschland, speziell auch der religiösen Erziehung, oder Probleme im Umgang zwischen Männern und Frauen, weiterhin die Bewältigung des Verlusts der ursprünglichen Heimat oder die Auseinandersetzung mit misslungener Integration. Abb. 13.2. Aufmerksamkeitsscheinwerfer „Ilgi Feneri“

> Kompetenztrainings und themenzentrierte interaktionelle Gruppentherapie zählen zu den Basismodulen in der psychotherapeutischen Schmerzbehandlung.

> Erlebnisorientierte Angebote und suggestive Techniken erleichtern das Training von Schmerzbewältigungskompetenzen.

Zur Vermittlung von Schmerzbewältigungstechniken gehört auch die Förderung von Entspannungsfähigkeit. „Westliche“ Entspannungsmethoden, wie z. B. die progressive Muskelrelaxation (PMR), existieren inzwischen auch in türkischer Sprache und sind auch als Audiokassette erhältlich. Weniger rationale, sondern mehr erlebnisorientierte Zugänge zu verbesserter Entspannungsfähigkeit, die dem orientalischen Kulturkreis entstammen und von vielen traditionell verbundenen türkischen Schmerzpatienten bevorzugt werden, lassen sich über meditative türkische Musik oder das Rezitieren von Koranversen vermitteln. Suggestive Techniken können auch bei der Veränderung depressionsfördernder Kognitionen und Einstellungen helfen. Wir wählen zu diesem

Zweck beispielsweise orientalische Märchen oder Erzählungen aus, die den Patienten aus ihrer Kindheit vertraut sind und in denen Helden zu aktiv handelnden Menschen werden, die Herausforderungen auf sich nehmen und bewältigen. Patienten können sich über ein solches suggestives Angebot leichter mit diesen Figuren identifizieren und quasi über solche „Stellvertreter“ ein Erleben von Stärke und eine Mobilisierung eigener Kräfte herbeiführen.

Wir haben hierzu im stationären Setting eine themenzentrierte interaktionelle Gruppentherapie geschaffen (Rodewig 2000). Über die Vorgabe bestimmter häufig vorkommender Problem- und Konfliktsituationen durch den Therapeuten werden so die Schamgrenzen des Einzelnen im Eingeständnis persönlicher Schwierigkeiten und Schwächen berücksichtigt und respektiert. Damit verringert sich die Hemmschwelle für die Beteiligung an der Gruppentherapie. Die allgemeine, mit anderen Gruppenteilnehmern stattfindende Erarbeitung von Lösungs- und Veränderungsmöglichkeiten erlaubt über einen solchen „indirekten“ Weg, auch zu individuellen Wegen der Problem- oder Konfliktklärung zu gelangen.

13.6.6 Schmerz im interaktionellen Kontext

Aufgrund des kulturbedingten kollektiven Selbstbilds und der kohäsiven Familienstrukturen türkischer Migranten gewinnt gerade die Frage nach der Funktionalität chronischer Schmerzen in der Ausgestaltung und im Erleben zwischenmenschlicher Beziehungen besondere Bedeutung für Diagnostik, Therapiezielbestimmung und Behandlungsplanung solcher Patienten. Die beiden dargelegten Kasuistiken sind beredte Beispiele für kulturspezifische Beziehungsdynamik der Schmerzsymptomatik und lassen es ratsam erscheinen,

242

Teil II · Modulatoren des Schmerzes

möglichst frühzeitig den Partner oder die Familie in den Therapie- und Veränderungsprozess mit einzubeziehen.

behandelbare Eisenmangelanämie kann z. B. mit der Bezeichnung „Blutarmut“ fälschlicherweise als lebensbedrohliche Krankheit missverstanden werden.

13.6.7 Sozialmedizinische Begutachtung

> Die Begutachtung von Migranten erhebt neben

> In der Begutachtung von ausländischen Patienten bzw. Klienten sollte grundsätzlich besonderer Wert darauf gelegt werden zu prüfen, ob der Proband tatsächlich die sprachlichen Voraussetzungen für eine ausreichende Verständigung besitzt, die auch emotionale Aspekte umfasst. Andernfalls sollte die Übersetzung des Gesprächs durch vereidigte Dolmetscher übernommen werden.

Dietzel-Papakiriakou (1990) berichtet, dass es sich bei Versicherungsrenten, die an türkische Arbeitsmigranten gezahlt werden, in 63 % der Fälle um Berufsunfähigkeits- und Erwerbsunfähigkeitsrenten handelt. Dieser Anteil beträgt bei Portugiesen

62 %, bei Jugoslawen 58 % und bei Griechen 49 %. Unter den Probanden, die in die psychosomatische Begutachtung kommen, nehmen Schmerzsyndrome einen großen Raum ein. Oft handelt es sich dabei um langanhaltende Beschwerdebilder sowie um einen überdurchschnittlich langen Begutachtungsprozess.Viele Gutachter bleiben in der Beurteilung der verbliebenen Leistungsfähigkeit

zurückhaltend, obwohl sie eine psychische Beeinträchtigung und die somatoforme Schmerzstörung als psychische Störung beschreiben. Dieses führt zu wiederholten Gutachtenerstellungen, die Probanden fühlen sich in diesem Prozess unzureichend wahrgenommen und verstanden. Von den Betroffenen wird die Begutachtung als eine wiederholte Kränkung erlebt. So begegnen die Schmerzpatienten dem Untersucher oft mit Gefühlen von Wut und Aggression, weil sie eine Enttäuschung erwarten. Solche spürbaren Emotionen offen anzusprechen, kann die Atmosphäre in der Begutachtungssituation entspannen helfen. Oftmals müssen muttersprachliche Gutachter feststellen, dass die Rentenantragsteller über die bei ihnen diagnostizierten somatischen Krankheiten nicht ausreichend informiert sind. Diesen somatischen Krankheitsbildern wird dann u. U. unnötigerweise eine große Gefährdung der eigenen Gesundheit oder eine Lebenszeitverkürzung zugeschrieben. Eine internistischerseits problemlos

dem ohnehin hierfür notwendigen medizinischen und psychologischen Fachwissen besondere Anforderungen an kulturspezifische Kenntnisse.

Für die Beurteilung der Leistungsfähigkeit können Kenntnisse der traditionellen kulturspezifischen Alltagsgestaltung von Nutzen sein. Dabei ist die Beschreibung des Tagesablaufs ein wichtiger Ankerpunkt. Oft wird bei einer genauen Schilderung des Tagesablaufs erst deutlich, ob die Probanden auf der psychischen, körperlichen und sozialkommunikativen Ebene Einbußen erlitten haben oder einen Rückzug aus dem Arbeitsleben praktizieren, wie er ihren kulturellen Vorstellungen vom Lebenszyklus entspricht. Die Rentenanwartszeit in der Türkei ist um 15 Jahre kürzer als in Deutschland. Es ist auch zu berücksichtigen, dass die Migranten der 1. Generation bis auf wenige Ausnahmen Kinderarbeit geleistet haben, in der Schulzeit von Haus- und Feldarbeit nicht verschont wurden und dass die Lebensarbeitszeit insgesamt deutlich länger ist als die von gleichaltrigen Einheimischen. Wenn die Betroffenen zusätzlich die Ich-Fähigkeiten der adaptiven Regression zur Entspannung und Erholung nicht haben, werden ihr Erschöpfungsgefühl und ihr Erleben, seit langen Jahren überlastet zu sein und keine Kraft mehr zu haben, noch deutlicher sein. Schließlich beschreibt Leyer (1991) die Tendenz der Migranten, sich mit Arbeit zu überlasten und aufnahmeunfähig zu machen, um die Unsicherheits- und Hilflosigkeitsgefühle in kulturfremder Umgebung zu verdrängen.

13.7

Zusammenfassung

Besonderheiten von Schmerzen bei Migranten

쎔 Schmerzstörungen bei Migranten sind sowohl in der herkömmlichen medizinisch-

243 Kapitel 13 · Schmerz bei Migranten aus der Türkei









therapeutischen Versorgung als auch in Wissenschaft und Forschung ein defizitärer Bereich. Sprachliche Verständigungsschwierigkeiten und unzureichende kulturspezifische Kenntnisse und Kompetenzen behindern bislang noch Akzeptanz und Wirksamkeit therapeutischer Angebote für diese Klientel. Für ein adäquates Krankheitsverständnis und Therapiekonzept sind insbesondere traditionelle kulturspezifische Kenntnisse hinsichtlich subjektiver Krankheitskonzepte, Symptom- und Krankheitspräsentation, religiösem Weltbild und kollektivem Selbstbild mit Verankerung in kohäsiven Familienstrukturen mit besonderen Beziehungsdynamiken unabdingbar. Adäquate Behandlungsstrukturen und Therapiemaßnahmen sollten nach Möglichkeit durch muttersprachliche Therapeuten verwirklicht werden. Psychotherapeutische Schmerzbehandlung für die Migrantenklientel sollte vermehrt edukative Elemente umfassen und Methoden anbieten, die die Selbstwirksamkeitserwartungen der Patienten steigern helfen. Die problemorientierte Arbeit sollte das eher kollektivistisch geprägte Selbst der Patienten berücksichtigen und die damit verbundene Tendenz zu Scham- und Schuldgefühlen durch indirekte Methoden der Konfliktarbeit, wie z. B. der themenzentrierten interaktionellen Gruppentherapie, minimieren.

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13

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244

Teil II · Modulatoren des Schmerzes

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III Teil III Diagnostik

Kapitel 14 Schmerzanamnese . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 247

Kapitel 15 Schmerzmessung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 275

Kapitel 16 Klinische Schmerzdiagnostik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 293

Kapitel 17 Klassifikation chronischer Schmerzen: „Multiaxiale Schmerzklassifikation“ (MASK) . . . . . . . . . . . . 311

Kapitel 18 Begutachtung von Schmerzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 327

247

14

Schmerzanamnese P. Nilges und E. Wichmann-Dorn

In diesem Beitrag werden wir auf Voraussetzungen und Besonderheiten eingehen, die bei der psychologischen Anamnese von Patienten mit chronischen Schmerzen

wichtig sind. Ausgehend von unseren eigenen Erfahrungen schlagen wir – nach einer kurzen theoretischen Einführung – Strukturierungshilfen vor, geben Hinweise auf typische Hürden und Probleme und gehen auf mögliche weitere Konsequenzen für die Patienten ein. Unsere Absicht ist es, v. a. praktische Hilfen und Hinweise sowie eine praxisnahe Anleitung mit beispielhaften Gesprächssequenzen und Vorschlägen zur Problemlösung zu geben.

14.1

Einleitung

Der Begriff „Anamnese“ wird weitgehend synonym mit den Bezeichnungen „klinisches Interview“, „Erstgespräch“, „Exploration“ und „Befragung“ gebraucht. In der angloamerikanischen Literatur wird nahezu ausschließlich der Terminus „Interview“ verwendet. Die Anamneseerhebung ist im klinischen Alltag ein diagnostisches Routineverfahren ohne verbindliche Standardisierung. Die Inhalte und Methoden sind variabel, Grundsätze oder Empfehlungen basieren auf klinischen Erfahrungen. Dadurch sind Vollständigkeit, Vergleichbarkeit und Kommunizierbarkeit von erhobenen Informationen eingeschränkt. Mit dieser methodischen Offenheit ist die Gefahr verbunden, lediglich „selbstversteckte Ostereier zu finden“, d. h. entsprechend der theoretischen Orientierung implizite Hypothesen durch Selektion und Gewichtung

von Fragen und Informationen scheinbar zu bestätigen. Dem Mangel an Standardisierung stehen allerdings entscheidende Vorteile gegenüber, über die unabhängig von der Therapierichtung zwischen Klinikern Übereinstimmung besteht (Davison u. Neale 1998): 쎔 Die Reaktionsmöglichkeiten auf die Patienten sind variabler, die sprachliche Ebene kann freier und lebendiger angepasst werden. 쎔 Themen, die sich während des Interviews als wesentlich herausstellen, können leichter fokussiert werden. 쎔 Nonverbales Verhalten kann besser registriert werden. 쎔 Die Interaktionsstile von Patienten entwickeln sich realitätsnäher, mögliche Stärken oder Defizite werden dadurch prägnanter. Nach unserer Erfahrung sind die vielfältigen Aspekte chronischer Schmerzen ohne die Offenheit eines Interviews nicht explorierbar. > Bei einer Befragung von über 100 Schmerzkliniken und -zentren in den USA wurde deutlich, dass das klinische Interview das wichtigste und am häufigsten angewendete Verfahren in der Diagnostik darstellt: Über 96 % der befragten Psychologen setzen diese Methode ein (Hickling et al. 1985).

Die meisten Kliniker folgen eher vagen Regeln bezüglich Formen und Inhalten der Anamnese (Davison et al. 1998). Im klinischen Alltag bestehen außerdem notwendige Kompromisse und Begrenzungen, z. B. durch Zeitdruck. Eine vertrauensvolle Atmosphäre zu schaffen ist eine wesentliche Voraussetzung, um zuverlässige Informationen zu erhalten. Von anderen Interviewformen unterscheidet sich das klinische Interview v. a. dadurch, dass situative und nonverbale

248

Teil III · Diagnostik

Aspekte (Gefühle,Verhalten) registriert und in die Hypothesenbildung einbezogen werden. Der Vielfalt der unterschiedlichen Schmerzarten entsprechend bestehen Unterschiede hinsichtlich möglicher Charakteristika und Schwerpunkte bei der Erhebung einer Anamnese. Prägend für dieses Arbeitsfeld ist der ständige Bezug auf somatische Prozesse. Während in der klinischen Psychologie/Verhaltensmedizin für unterschiedliche Beschwerden multifaktorielle Konzepte die Regel darstellen und Krankheit/Gesundheit weniger als klar abgrenzbare Klassen, sondern vielmehr als Kontinua angesehen werden, neigen sowohl Schmerzpatienten als auch somatische Behandler eher zu möglichst einfachen Ursache-Wirkung-Modellen. Zu Beginn und bei Veränderungen eines Schmerzproblems ist die Suche nach Ursachen der angemessene Algorithmus. Bei der überwiegenden Zahl der Patienten mit längerer Schmerzanamnese gleicht diese Jagd nach den „eigentlichen Ursachen“ dem Huhn-Ei-Dilemma. Dieses Vorgehen ist oft über Jahrzehnte leitend für (ergebnislose) Diagnostik und (erfolglose) Therapie.

> Idealerweise findet die psychologische Anamnese als fester Bestandteil der Schmerzdiagnostik in einem interdisziplinären Team statt (Main u. Spanswick 2001). Für eine einzelne Person ist es bei den komplexen somatisch-psychischen Wechselwirkungen kaum möglich, alle relevanten Informationen allein zu ermitteln und v. a. deren Relevanz einzuschätzen.

Wir verstehen Anamnese bei Schmerzpatienten als Gespräch zur Erhebung von Informationen zu Art, Umfang und Entwicklung von gegenwärtigen und vergangenen Beschwerden, zu Erfahrungen, Einstellungen und Erwartungen in Hinsicht auf Entstehungsbedingungen und Änderungsmöglichkeiten, zu vergangenen und gegenwärtigen Einflüssen durch Lebensumstände und Bezugspersonen sowie zu Änderungsmotivation, -zielen und -möglichkeiten. Noch immer scheint es regelmäßig die wichtigste diagnostische Aufgabe zu sein, „den Schmerz“ als somatisch oder psychisch bedingt zu klassifizieren (Synonyme und Euphemismen: funktionell bedingt, psychogen, somatoform, psychogen überlagert). Solche dualen, vereinfachten Konzepte entspringen dem verständlichen Be-

dürfnis nach praktikablen Algorithmen für Diagnostik und Therapie in einem Versorgungssystem mit weitgehender Trennung von psychosozialen und somatischen Faktoren. Es geht für den Arzt in dieser Situation zunächst darum, Patienten identifizieren zu können, für die seine vorhandenen Ressourcen nicht ausreichen. Vor allem zu Beginn der Schmerzforschung waren – als Gegenposition zu monokausalen biomedizinischen Modellen – einfache psychologische Ätiologiekonzepte weit verbreitet. Dazu gehörte z. B. das Konzept des „pain-prone patient“ oder des Schmerzes als Depressionsäquivalent (Engel 1959; Blumer u. Heilbronn 1982). Diese Konzepte betonen nach den Ergebnissen der neueren Forschung – und auch nach unserer klinischen Erfahrung – psychopathologische Besonderheiten von hochausgelesenen Patientengruppen. Dadurch entsteht der irreführende Eindruck, es handele sich bei Patienten mit chronischen Schmerzen um eine homogene Gruppe mit einer im Vergleich zur übrigen Bevölkerung hohen Prävalenz psychischer Störungen und einem gleichartigen Muster von Beeinträchtigung in der biographischen Entwicklung. Die Angaben zur Prävalenz von Depressionen, Angststörungen und somatoformen Störungen

schwanken jedoch erheblich und sind abhängig vom Behandlungsrahmen (Merskey et al. 1987; Turk u. Rudy 1990). Chronischer Schmerz ist somit kein Grund, per se auf eine psychische Störung zu schließen. Eigene Studien zeigen eine hohe Abhängigkeit der Häufigkeit von Diagnosen vom Grad der Chronifizierung, klassifiziert mit dem Chronifizierungsschema nach Gerbershagen (1995). Während im niedrigsten Chronifizierungsstadium Diagnosen nach DSM-III-R (Wittchen et al. 1989) aus den Störungsgruppen „somatoforme Schmerzstörungen“ bei 6 %,„affektive Störungen“ bei 18 % und „Angststörungen“ bei 13 % der Patienten gestellt wurden, lagen im höchsten Chronifizierungsstadium die entsprechenden Störungen bei 22 %, 39 % bzw. 25 % vor (Wurmthaler et al. 1996). Selbst in Untersuchungen mit nachgewiesen erhöhter Prävalenz von psychischen Störungen in Schmerzpopulationen stellt sich die Frage nach

der Spezifität: Der (Kurz-)schluss auf eine ätiologische Bedeutung etwa depressiver Störungen für bestimmte Schmerzsymptome ist kaum möglich,

249 Kapitel 14 · Schmerzanamnese

und selbst bei Patienten mit klaren psychopathologischen Befunden bedeutet dies selbstverständlich nicht, dass körperliche Faktoren zu vernachlässigen sind. > Psychische Störungen immunisieren nicht gegen körperliche Erkrankungen. Umgekehrt bestehen auch bei klarer somatischer Pathologie häufig psychische Einflussfaktoren, die den weiteren Verlauf der Beschwerden entscheidend beeinflussen können.

Verantwortlich für die Unterschiede – selbst bei vergleichbaren Untersuchungs- und Klassifikationsinstrumenten – sind u. a. Selektionseffekte auf mehreren Ebenen: 쎔 Nur ein Teil der Patienten mit chronischen Schmerzen wird an Schmerzambulanzen oder -kliniken überwiesen. 쎔 Nur ein Teil dieser Patienten wiederum wird zu psychologischen/psychiatrischen Untersuchungen geschickt. Schmidt (1990) merkte an, dass bei der Psychodiagnostik auf dem Gebiet der Gesundheits- und medizinischen Psychologie „in jüngerer Zeit eine deutliche Abwendung von der „Klinifizierung“ festzustellen“ sei. Zehn Jahre später konstatiert Margraf (2000b), dass mit der Entwicklung empirisch fundierter, reliabler und valider Systeme, wie dem DSM-IV (Sass et al. 1996) und der ICD-10 (Dilling u. Dittmann 1990),„die Klassifikation psychischer Störungen heute wieder als eine Basis verhaltenstherapeutischer Arbeit akzeptiert“ wird (S. 142). Die Integration in die klinisch-psychologische Arbeit mit Schmerzpatienten wird dadurch möglich und sinnvoll, dass insbesondere im DSM-IV die Diagnostik multiaxial und deskriptiv angelegt ist. Erst mit dieser Weiterentwicklung ist es möglich, einen Wechsel von vereinfachenden UrsacheWirkung-Annahmen hin zu komplexen, aber angemessenen Modellen zu erreichen und die Bedeutung psychischer Faktoren als aufrechterhaltende Prozesse angemessen zu berücksichtigen.

Für Rücken- und Nackenschmerzen konnte dies von Linton (2000) in einer Überblicksarbeit gut belegt werden. Diese Entwicklung entspricht einem Paradigmenwechsel, der auch für das Vorgehen bei der Anamneseerhebung unmittelbare Bedeutung hat.

14

Die Frage „Was hat den Schmerz ursprünglich verursacht?“ tritt in den Hintergrund gegenüber der Frage „Was hindert akute Schmerzen daran, wieder zu verschwinden, welche Risikofaktoren bilden jetzt noch Barrieren gegenüber einer Remission?“ (Main et al. 2001). Für Patienten von Schmerzambulanzen und -kliniken bestehen folgende wesentliche Gemeinsamkeiten und damit zu erwartende Schwierigkeiten: 쎔 Nur wenige Patienten haben eine Eigenmotivation, das Gespräch mit Psychologen zu suchen – sie werden „geschickt“. 쎔 Sie gehören sicherlich in der Mehrzahl auch nicht zum üblichen Klientel psychologischer Praxen. 쎔 Sie sind nur schwer zu einer psychologischen Behandlung motivierbar, selbst wenn die Indikation eindeutig ist. Bei dieser Ausgangslage wundert es nicht, dass auch für viele Psychologen Schmerzpatienten als schwierige Patienten gelten (Turk et al. 1990). Egan (1989) stellt fest (hier sinngemäß übersetzt): „Vermutlich alle Schmerztherapeuten, egal welcher Profession, erleben Phasen, in denen sie in einem Meer der Verzweiflung aufgrund von Misserfolgen untergehen“ – und hoffentlich auch wieder auftauchen. Sie führt weiter aus: „Niemand kann über ein ganzes Jahr ausschließlich mit Schmerzpatienten zusammenarbeiten.“ Sie äußert sich nicht dazu, was passiert, wenn diese Warnung missachtet wird. > Ein Beitrag des kanadischen Arztes Goldman (1991) beleuchtet das Thema aus der Patientenperspektive. Er trägt den Titel „Chronic-pain patients must cope with chronic lack of physician understanding“ (Patienten mit chronischen Schmerzen müssen chronisches Unverständnis der Ärzte bewältigen).

Uns liegt viel daran, für diese „heikle“ Patientengruppe Verständnis zu wecken und Hilfen für die Überwindung der typischen Hindernisse im Erstkontakt zu beschreiben. Wir möchten auf typische Fallen hinweisen, in die Psychologe und Patient geraten können, und scheinbare „Umwege“ zeigen, die eher zum Ziel führen. Besonderheiten im Interaktionsverhalten von Schmerzpatienten können mit der Bedeutung der

Teil III · Diagnostik

250

Schmerzen für die Patienten zu tun haben, sie können auch mit ihren bisherigen Erfahrungen im Gesundheitswesen zusammenhängen. „Schließlich sollte man nicht verkennen, dass der Patient mit chronischen Schmerzen wohl praktisch ohne Ausnahme schon lange ein ,Verlierer‘ im Umgang mit dem medizinischen Versorgungssystem ist. Gemeint ist hier, dass der Patient wohl wiederholt versucht hat, eine Lösung für sein Schmerzproblem zu finden und dass ihm dies nicht gelungen ist. Außerdem ist es ... fast sicher, dass ihm angedeutet wurde, dass der Schmerz weitgehend oder teilweise ,eingebildet‘, ,nur im Kopf‘ usw. sei“ (Fordyce 1980). Fast jeder Patient hat schon solche Hinweise von medizinischen Fachleuten, Freunden oder Angehörigen gehört. Die Folge davon kann sein, dass die Patienten misstrauisch, skeptisch, wütend, hilflos und resigniert sind. Statt ein psychologisches Anamnesegespräch als Hilfsangebot zu verstehen, sehen sie es eher als Angriff auf ihre Ehrlichkeit und Aufrichtigkeit und als Versuch, ihr Schmerzproblem „auf die Psyche abzuschieben“. Diese Erfahrungen prägen die meisten Patienten ganz entscheidend – mit beträchtlichen Auswirkungen auf den Verlauf der Anamneseerhebung. Patienten äußern ihre Vorbehalte selten direkt im ersten Kontakt. Deshalb ist es besonders wichtig, für die Einstellung, mit der der Patient zum Gespräch kommt, sensibel zu sein. > Vorbehalte der Patienten gegenüber einer psychologischen Anamnese sind bei Patienten mit primär somatischen Symptomen üblich. Sie stellen eine nachvollziehbare und typische Hürde im Kontakt dar, die als lösbares Problem akzeptiert und angesprochen werden sollte.

14.2

Formen der Kontaktaufnahme

In wenigen Fällen suchen Schmerzpatienten ohne Arztüberweisung psychologische Hilfe. Bei Patienten, die sich direkt an psychologische Praxen oder innerhalb einer Klinik an Psychologen wenden, finden wir unterschiedliche Motive: Dies geht von bereits vorhandenem Wissen bzgl. psychophysiologischer Einflussfaktoren bei Schmerz über psychische Störungen oder psychosoziale Belastungen, bei denen Hilfe erwartet wird, bis hin zu der sog.„Flucht in die Psyche“ als veränderbarem Fak-

tor, wenn Patienten insgeheim befürchten, an einer unheilbaren chronischen Krankheit zu leiden. Zunehmend häufiger werden Psychotherapien auf Empfehlungen von Anwälten begonnen, um während eines laufenden Renten- oder Schmerzensgeldverfahrens „Punkte zu sammeln“. Arbeits-, Sozial- und Gesundheitsämter fordern manchmal eine Therapie als Auflage. > Vor Beginn einer Psychotherapie ist eine diagnostische (Mit)abklärung durch einen Arzt selbstverständlich.

Psychologische Praxen sollten Kontakte zu Ärzten oder Kliniken aufbauen und pflegen, die nicht zu bedenkenloser Maximaldiagnostik neigen. Denn dabei besteht wiederum die Gefahr, dass eine Fülle von Nebenbefunden erhoben wird, die dann ins Zentrum der Aufmerksamkeit von Arzt und Patient rücken. Mit den eigentlichen Beschwerden haben sie nichts zu tun, gleichzeitig verzögern sie aber eine suffiziente psychologische (Mit)behandlung und fördern – so die Ergebnisse einiger Studien – die Chronifizierung (Kendrick et al. 2001; Indahl et al. 1995). Kontakte über niedergelassene Ärzte haben den Vorteil, dass meist ein direkter Bezug zu den Lebensumständen der Patienten besteht. So ist mit vielen Hausärzten ein guter Informationsaustausch über psychosoziale Hintergrund- und Einflussfaktoren möglich. Oft suchen sie nach einer kompetenten Stelle, die zusätzliche Überzeugungsarbeit bei den Patienten leistet. Denn viele Hausärzte (und zunehmend auch Zahnärzte) fühlen sich zeitlich und fachlich überfordert, wenn Patienten wiederholt klagend in ihre Praxis kommen und keine Besserung feststellbar ist. Die Überweisung zum Psychologen nach Abschluss der medizinischen Abklärung ist sicherlich die häufigste, aber gleichzeitig die ungünstigste Ausgangslage. Nachdem eine – oft ausgedehnte – medizinische Diagnostik keine plausiblen Befunde erbracht hat, wird eine psychologische Untersuchung angeordnet: Zu Recht argumentieren Patienten, sie würden „als ,psychisch‘ abgestempelt, weil man sonst nichts findet“. > Bei Patienten, die bereits im ärztlichen Aufnahmegespräch Hinweise für psychische Belastungen und/oder Einflussfaktoren erkennen lassen, sollte der Diagnose- und Behandlungsplan die

251 Kapitel 14 · Schmerzanamnese

psychologische Konsultation beinhalten. In diesem Fall und bei von Beginn an gemeinsamer Diagnostik und Therapie durch Arzt und Psy–chologen ist in der Regel ein geringerer Widerstand zu erwarten (Jacobson et al. 1991).

Wünschenswert ist eine interdisziplinäre Diagnostik bei allen Patienten mit chronischen Schmerzen in spezialisierten Einrichtungen. Gerade Patienten mit eindeutigen körperlichen Erkrankungen – z. B. klinisch relevanter Bandscheibenvorfall, Tumor – sind psychisch belastet, sie sind nicht immun gegen psychische Störungen, die Varianz in ihrem Befinden wird durch die medizinischen Befunde meist nur zu einem geringen Teil erklärt. Ohne Frage müssen die notwendigen und möglichen medizinischen Therapien primär durchgeführt werden. Psychologie muss jedoch auch für diese Patienten über einen Status der „gutartigen Vernachlässigung“ (Turk u. Fernandez 1990) hinauskommen. Resultat und Atmosphäre der Anamnese hängen wesentlich von den Rahmenbedingungen ab. Bereits vor dem ersten Anamnesegespräch trägt es wesentlich zur Akzeptanz bei, wenn 쎔 die Überweisung für den Patienten nachvollziehbar erklärt wird; 쎔 die Patienten die Interdisziplinarität als selbstverständlich erleben können; 쎔 Einführungsvorträge mit patientengerechter Darstellung der Bedeutung psychologischer Faktoren angeboten werden.

14.3

Vorbereitung der Anamnese

Gelegentlich wird betont, dass nur durch den Verzicht auf Vorinformationen eine unvoreingenommene Anamnese möglich sei. Im Gegensatz dazu haben sich nach unseren Erfahrungen ein sorgfältiges Durcharbeiten vorhandener Unterlagen und vorbereitende Notizen bereits vor dem ersten

Kontakt aus verschiedenen Gründen als sehr sinnvoll erwiesen: 쎔 Patienten fühlen sich ernstgenommen, wenn sie merken, dass man den Inhalt ihrer Akten kennt. 쎔 Patientenunterlagen können Informationen zu psychologischen Fragestellungen geben, z. B. jahrelange Behandlung wegen „vegetativer Dystonie“, ärgerlicher Unterton in Arztbriefen,

14

auffallende Häufung von Arztbefunden in bestimmten Zeiträumen. 쎔 Einige Schmerzpatienten vergessen oder bagatellisieren frühere Krankheiten und besondere Lebensereignisse. Gezieltes Nachfragen aufgrund von Vorbefunden ergibt häufig ein vollständigeres Bild. 쎔 Dokumentierte Informationen von Schwestern und Ärzten zu Angaben und Verhalten (z. B. am Aufnahmetag und in der ärztlichen Untersuchungssituation) können wertvolle Hinweise zur Entwicklung diagnostischer Hypothesen geben (z. B. wer brachte den Patienten, kam der Patient liegend, mit Gehstützen, im Rollstuhl?). 쎔 Die Patienten erwarten berechtigterweise, dass ihre Vorarbeit berücksichtigt wird. Das heißt, wenn Patienten, wie inzwischen Standard, bereits vor der Aufnahme einen Schmerzfragebogen mit darin enthaltenen psychologischen Fragebögen ausfüllen, ist es sinnvoll, sich bereits in der Anamnese auf diese Informationen zu beziehen. Vorliegende Fragebogenergebnisse können als wichtige Hilfe dienen – die Exploration wird wesentlich erleichtert, wenn im Gespräch die Vorangaben der Patienten als Anknüpfungspunkte gewählt werden. Die Unterlagen sollten allerdings mit der nötigen Distanz gelesen werden. Kenntnisse der üblichen

Erfahrungen, die Patienten auf dem Weg in die Chronifizierung machen, der iatrogenen Faktoren im Chronifizierungsprozess sowie der häufigsten Missverständnisse und Wissensdefizite im Gesundheitswesen sind dabei sinnvoll. > Auch darf man sich als Psychologe nicht von wohlklingenden medizinischen Diagnosen „ins Bockshorn jagen“ lassen.Viele Diagnosen imponieren durch Pseudowissenschaftlichkeit (Nilges u. Gerbershagen 1994; Tabelle 14.1).

14.4

Erster Kontakt

> Patienten äußern ihre Skepsis gegenüber einer psychologischen Anamnese selten direkt, sondern verhalten sich zunächst meist angepasst. Sie befürchten negative Konsequenzen bei einer offenen Ablehnung.

252

Teil III · Diagnostik

Tabelle 14.1. Häufig gestellte medizinische Schmerzdiagnosen und ihre Übersetzung Diagnose

Übersetzung

Lumbalgie

Kreuzschmerz

Lumbalsyndrom

Kreuzschmerz

Lumbago

Kreuzschmerz

Lumboischialgie

Kreuz-Bein-Schmerz

LWS-Syndrom

Meist: Kreuzschmerz

HWS-Syndrom

Meist: Nacken-/Kopfschmerz

Degenerative Veränderungen der Wirbelsäule

Bei den meisten Menschen Normalbefund

Diskrete Protrusion L4/5

Kaum sichtbare Vorwölbung der Bandscheibe, meist ohne klinische Relevanz

Schulter-Arm-Syndrom

Schulter-Arm-Schmerz

Zervikalsyndrom

Meist: Nacken-/Kopfschmerz

Trigeminusneuralgie

Klar definierte Form von Gesichtsschmerzen, zumeist aber „diagnostischer Mülleimer“ für Gesichtsschmerzen

Atypische Trigeminusneuralgie

Gesichtsschmerzen, die keine Trigeminusneuralgie sind

Okzipitalisneuralgie

Schmerzen im Hinterkopf

Kokzygodynie

Steißbeinschmerzen

Die gelegentlich vorgeschlagene Einstiegsfrage „Was führt Sie zu mir?“ oder ähnliche offene Fragen am Gesprächsanfang sind meist unpassend und provozierend, sie fördern nach unserer Erfahrung eher die Reaktanz. Fast immer kommen darauf Antworten wie „Ich wurde geschickt, ich weiß nicht warum.“ Dadurch wird die Beziehungsaufnahme eher behindert. Zu Beginn der psychologischen Anamnese ist eine kurze Erläuterung des Ziels sowie der voraussichtlichen Dauer des Gesprächs sinnvoll (viele Patienten sind Kurzkontakte von 5–10 min gewöhnt), z. B.: 쎔 „Frau G., ich habe mir vorhin Ihre Unterlagen durchgesehen und mir dazu Notizen gemacht. Ich möchte mit Ihnen gemeinsam noch einmal einige Punkte durchgehen. Wir haben dafür heute etwa eine Stunde Zeit.“ 쎔 „Dieses Gespräch soll dazu dienen, mit Ihnen zusammen einmal in Ruhe zu besprechen, wie Sie mit dem Schmerz leben und welche

Auswirkungen der Schmerz auf Ihr Leben hat.“ Diese und ähnliche Einleitungen finden meist auch bei Patienten Zustimmung, die skeptisch auf die Frage nach psychischen Ursachen warten: Auswirkungen der Schmerzen auf ihr Leben nehmen fast alle wahr. Manche Patienten verhalten sich sozial erwünscht, kommen zum Gesprächstermin, haben aber bereits vorher „beschlossen“, nichts von ihrer tatsächlichen Situation preiszugeben. Falls Patienten diesen Eindruck im Gespräch vermitteln, sollten die möglichen Ursachen für dieses Verhalten freundlich aber eindeutig angesprochen und entlastende Informationen gegeben werden. So können Beispiele von anderen Patienten in einer ähnlichen Situation wesentlich zur Entspannung beitragen: „Viele Patienten erwarten, dass Psychologen nur nach Problemen fragen oder nach Schwierigkeiten in der Familie und am Arbeitsplatz.

253 Kapitel 14 · Schmerzanamnese

Niemand spricht gerne darüber, auch wenn diese Dinge völlig normal sind.Aber oft sind es gar nicht diese Themen, die eine Rolle für die Schmerzen spielen. Bei den meisten Patienten sind es ganz normale Alltagsbelastungen, an die man sich scheinbar schon gewöhnt hat, die gar nicht mehr registriert werden, aber trotzdem auf die Nerven gehen können.“ > Der Patient sollte das Gefühl haben, selbst darüber entscheiden zu können, was und wie viel er über sich erzählen möchte. Dies sollte auch an kritischen Stellen im Gespräch betont werden.

Im Folgenden sind einige typische Beispiele für Patientenreaktionen zu Beginn eines psychologischen Anamnesegesprächs aufgeführt: 쎔 „Ich hab’ doch alles schon so oft erzählt!“ – Dieser Satz signalisiert selten eine grundsätzlich ablehnende Haltung. Häufig genügt es, diesen Ausruf – meist verbunden mit einem Seufzer – als Ausdruck echten Ärgers und Resignation von Patienten darüber zu verstehen, dass sie ihre Krankengeschichte wiederholt erzählt haben, ohne dass sich ihre Situation bisher wesentlich verändert hat. Wird angemessenes Verständnis vermittelt, ist ein Einstieg in das Anamnesegespräch sehr viel leichter möglich. Zudem kann der Psychologe/die Psychologin auf eigene „Vorleistungen“ zurückgreifen: „Ich habe mir schon gedacht, dass Sie die vielen Fragen, die Ihnen immer wieder gestellt wurden, nicht zum hundertsten Mal wieder beantworten wollten. Deshalb habe ich mir einige Punkte aus ihren Akten notiert, die ich gerne mit Ihnen gemeinsam durchgehen möchte.“

쎔 „Ich weiß gar nicht, was ich hier soll! Ich hab’

keine Probleme, ich hab’ doch nur Schmerzen!“ – Unter dem scheinbaren Widerspruch –

an körperlichen Beschwerden zu leiden, die jedoch keine nachweisbare organische Ursache haben sollen – verspüren Patienten den Druck, beweisen zu müssen, dass sie „wirklich“ und nicht „eingebildet“ krank sind. Parallel dazu werden Konflikte und selbst alltägliche Belastungen oft präventiv negiert und bagatellisiert. Hier ist es u. U. sinnvoll, die Frage zurückzugeben: „Haben Sie eine Vermutung?“ oder „Was vermuten Sie, was hat sich Ihr Arzt gedacht, als

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er Sie hier anmeldete?“. Die Befürchtungen direkt anzusprechen, ist eine weitere Möglichkeit: „Denken Sie, dass Ihre Schmerzen für eingebildet gehalten werden?“, „Glauben Sie, man hält Sie für nervenkrank?“ Direkt und möglichst frühzeitig sollte vermittelt werden, dass Schmerzen nicht durch Einbildung entstehen können: „Warum sollte man sich Schmerzen einbilden? Wenn es Einbildung überhaupt gibt, würde man sich sicherlich etwas Angenehmes einbilden – z. B. keine Schmerzen mehr zu haben.“

쎔 „Stellen Sie nur Ihre Fragen, bei mir ist alles in

Ordnung; ich hab’ nichts zu verbergen.“ – Obwohl dieser Satz vordergründig meist freundlich gesagt wird und scheinbar Kooperationswillen ausdrückt, ist die Abwehr hier u. U. besonders stark. Diese Patienten haben den Wunsch, das Gespräch zu steuern und lassen nicht selten den Interviewer „auflaufen“.

Vorsicht ist bei der von uns so bezeichneten „Flucht in die Psyche“ erforderlich. Das betrifft diejenigen Patienten, die gleich zu Beginn des Gesprächs psychische Probleme als Ursache ihrer Schmerzen in den Vordergrund stellen. Obwohl es den Psychologen freuen mag, so ist hier dennoch Skepsis geboten. Zum einen kann hinter dieser „Flucht in die Psyche“ die Furcht vor einer chronischen körperlichen Erkrankung stecken. Zum anderen kann dies eine „Pseudokooperation“ bedeuten: „Auch die zahlreichen psychotherapeutischen Maßnahmen haben nicht geholfen!“ oder „Wenn die Ärzte nicht weiter wissen, dann kann es vielleicht wirklich psychisch sein – also soll sich der Psychologe mal anstrengen.“ Einige dieser Patienten haben bereits Vorerfahrung mit psychosozialen Versorgungseinrichtungen („Ich habe schon eine Psychotherapie ge-

macht, aber das hat leider für die Schmerzen auch nichts genutzt“). Art und Ausmaß einer solchen Vorbehandlung müssen genau abgeklärt werden. Oft stellt sich dann heraus, dass eine suffiziente Behandlung nicht durchgeführt wurde, dass lediglich 2 Termine bei einem Psychologen oder unregelmäßige Gesprächskontakte beim Hausarzt stattfanden. > Gelegentlich findet man auch den Wunsch, den Experten als „Schiedsrichter“ einzusetzen: Der Kontakt zum Psychologen dient manchen Pa-

Teil III · Diagnostik

254

tienten v. a. dazu, die Ausweglosigkeit zu betonen und sich von kompetenter Seite bestätigen zu lassen, dass Lösungen unwahrscheinlich sind.

Die möglichen „Funktionen“ von Schmerz in sozialen Beziehungen lassen sich gelegentlich aus dem Verhalten in der Anamnesesituation erschließen. Von Beginn des Gesprächs an sollte darauf geachtet werden, was der Patient mit seinem Verhalten beim Interviewer „bewirken will“, welche Einstellungen, implizite Regeln und Pläne sein Verhalten steuern und welche Hypothesen sich dazu aus der sozialen Situation des Interviews entwickeln lassen (vertikale Verhaltensanalyse). Absichten und Einstellungen drücken sich indirekt in Gesprächsäußerungen aus, wobei dies umso deutlicher wird, je freier und ungesteuerter der Patient über sich berichten kann: 쎔 Laute Schmerzäußerungen und Stöhnen können bedeuten „sieh’, wie schlecht es mir geht, tu’ was für mich, kümmere dich um mich“ und drücken meist den Wunsch nach Zuwendung, Verständnis und Entlastung aus.

쎔 „Das Schmerzzentrum ist meine letzte Hoffnung!“ – Die mögliche Bedeutung wäre hier et-

wa: „Alle anderen Ärzte waren Versager. Jetzt strengen Sie sich mal an und tun Sie mehr für mich als die anderen.“

쎔 „Bisher konnte mir keiner helfen. Selbst Professor B. sagte, einen Fall wie mich habe er noch nie gehabt.“ – Dies lässt sich meist über-

setzen mit: „Schon so viele haben versucht mir zu helfen – Sie werden es auch nicht können.“ oder „Mir geht es besonders schlecht – ich verdiene besondere Beachtung.“

쎔 „Mein Hausarzt sagt, ich soll die Rente ein-

reichen.“ – Dieser Satz sagt indirekt sowohl etwas über die subjektive Schwere der Erkrankung aus als auch über die Einstellung zur persönlichen Verantwortung für eine Veränderung.

14.5

Ein weiteres Ziel besteht darin, eine erste diagnostische Zuordnung zu erhalten, und mit dem Patienten gemeinsam die eventuelle Indikation und mögliche Schwerpunkte für eine psychologische Weiterbehandlung herauszuarbeiten. In unserer Arbeit orientieren wir uns intern am DSM-IV, nach außen werden die entsprechenden ICD-10Diagnosen verwendet. Eine schmerzspezifische Klassifikation psychosozialer Faktoren mit operationalisierten Achsen haben Klinger et al. (2000) vorgelegt. Kriterien für die Klassifikation von Verhalten, Emotionen, Kognitionen, Krankheitskonzepten, Stressoren, aktuellen und biographischen Traumata, Personenmerkmalen, Aspekten der Stressverarbeitung, der Psychophysiologie, Konfliktverarbeitungsstilen sowie einer Einschätzung der für Entwicklung bzw. Aufrechterhaltung bedeutsamen Faktoren werden formuliert (Kap. 17). Ziel ist es, eine stärker an der Behandlung orientierte Strukturierung der Exploration von Informationen zu erreichen. Im klinischen Alltag sind aus zeitlichen Gründen Begrenzungen auf Interviewschwerpunkte notwendig. Trotzdem ist es sinnvoll, sich mit strukturierten Methoden vertraut zu machen. Sie zur eigenen Schulung wiederholt zu benutzen ist eine sinnvolle Vorgehensweise (und sei es auch nur, um hinterher festzustellen, welche wichtigen Fragen nicht gestellt worden sind!). Ein Beispiel dafür ist das „Strukturierte Klinische Interview (SKID)“ auf der Grundlage des DSM-IV (Wittchen et al. 1997). Im Laufe unserer klinischen Tätigkeit entwickelte sich aufgrund unserer spezifischen Erfahrungen und der Integration strukturierter Vorgaben eine Vorgehensweise, die klare Ordnungsgesichtspunkte enthält. Beispielfragen, Interviewsequenzen und Hinweise auf weitere Informationsquellen (Fragebögen, Schmerzskalen etc.) und Besonderheiten finden sich im folgenden Abschnitt. Über Vor- und Nachteile sind wir uns im Klaren, kritische Punkte sind u. a. die Zuverlässigkeit der erhobenen Informationen und der Bezug zur späteren Therapie.

Exploration

> Ziel der Exploration ist es, mögliche Einflussfaktoren auf die Beschwerden zu erkennen. Diese können prädisponierende, auslösende und stabilisierende Bedeutung haben (zum Ursachenbegriff: Margraf 2000a).

> Bei einem Vergleich zwischen Erstgespräch und SKID finden sich allerdings Belege dafür, dass auch mit dem klinischen Erstgespräch eine valide Diagnostik möglich ist, dass gegenüber einer sehr strukturierten Vorgehensweise auch gewisse Vorteile bestehen (Saile et al. 2000).

255 Kapitel 14 · Schmerzanamnese

Dies betrifft insbesondere die Akzeptanz durch Patienten – ein Gesichtspunkt, der bei Schmerzpatienten besondere Bedeutung hat. Im klinischen Alltag nutzen wird das SKID üblicherweise auf 2 Arten: entweder zur genaueren Absicherung spezifischer diagnostischer Hypothesen auch innerhalb der Anamnese selbst (z. B. bei Hinweisen auf depressive Verstimmungen, eine Panikstörung, eine Somatisierungsstörung) oder als zusätzliches Verfahren nach dem Erstgespräch bei Patienten mit komplizierten und lückenhaften Krankengeschichten. Konsequent bei jedem Patienten ein SKID durchzuführen ist eine zwar prinzipiell wünschenswerte, im klinischen Alltag mit knapper Zeit und knappem Personal jedoch kaum zu realisieren.

14.5.1 Themenschwerpunkte,

Explorationshilfen und Fragebögen Tabelle 14.2 gibt einen Überblick über Themenschwerpunkte und kann als Richtlinie für die Anamnese betrachtet werden. > Die Themen sollen sich möglichst selbstverständlich im Gespräch entwickeln, d. h. der Interviewer hat die Gliederungspunkte im Kopf (oder auf seinem Notizblatt vermerkt), knüpft aber an dem an, was vom Patient bereits angesprochen wurde. Damit bleibt der Gesprächscharakter erhalten, Überleitungen erfolgen nicht abrupt und der Patient fühlt sich nicht „ausgefragt“.

Wir halten es für unerlässlich, während der Anamnese Notizen anzufertigen. Die Rekonstruktion der oft zahlreichen Daten aus dem Gedächtnis nach einem Gespräch ist bei den üblicherweise komplexen Schmerzanamnesen unmöglich. Stichpunktartige Aufzeichnungen vorher und v. a. während des Gesprächs stören den Ablauf nur unwesentlich und haben einige Vorteile: 쎔 Sie können ein wichtiges Hilfsmittel zur (Vor)strukturierung sein. 쎔 Sie sind zur Dokumentation unverzichtbar. 쎔 Hypothesen können notiert und markiert werden, auf die im späteren Gesprächsverlauf zurückzukommen ist. 쎔 Wichtige und erwünschte Äußerungen von Patienten können gezielt und wirksam verstärkt werden: „Können Sie das bitte noch einmal

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wiederholen? Das möchte ich mir unbedingt aufschreiben.“

14.5.2 Erläuterung

der einzelnen Anamnesethemen Schmerzspezifische Fragen und typische Schwierigkeiten sollen im Folgenden anhand von Beispielen erläutert werden. Die folgenden „Regeln“ haben sich im Laufe unserer klinischen Praxis entwickelt. Sie können als grobe Orientierung dienen, können helfen, häufige und typische Fehler zu vermeiden, und können zu einer guten Arbeitsbasis beitragen: 쎔 symptomatischer Zugang, d. h. Beginn mit den Schmerzen selbst; 쎔 Wechsel zwischen Information und Exploration; 쎔 keine Kategorisierung in psychogen vs. somatogen; 쎔 Integration der Vorbefunde, d. h. möglichst viele Vorinformationen nutzen; 쎔 Prozessanalyse, d. h. der Schwerpunkt liegt auf der Entwicklung und den aufrechterhaltenden Faktoren, auslösende Situation und „eigentliche“ Ursache sind oft nicht mehr rekonstruierbar oder irrelevant; 쎔 Fremdanamnese, wenn möglich.

14.5.3 Aktuelle Beschwerden

Bei Patienten mit langer Krankengeschichte ist die eigentliche Schmerzlokalisation meist unter einer Fülle von medizinischen Daten, Begriffen und Vorstellungen begraben: Psychologe/in:„Wo haben Sie die Schmerzen?“, Patient: „Ich hab’s mit der Bandscheibe.“ oder: „L4/L5.“ oder: „Ich habe ein Fibromyalgie.“ > Das Bedürfnis nach kausalen Zuschreibungen führt zur Übernahme von medizinischen Begriffen, die hinterfragt werden sollten.

Bei genauerer Nachfrage stellen sich die genannten Diagnosen oft als Verdachtsdiagnosen heraus, auch kann die angegebene Lokalisation eher der privaten medizinischen Theorie der Patienten als bekannten anatomischen Verhältnissen entsprechen, wenn beispielsweise die „Bandscheibe L4/5“

256

Teil III · Diagnostik

Tabelle 14.2. Themenschwerpunkte der Anamnese Themenschwerpunkt

Ergänzende Information

Aktuelle Beschwerden Schmerzlokalisation, Schmerzqualität, Häufigkeit, Dauer, Intensität, Schmerzbeginn

DGSS-Fragebogen, Schmerzzeichnung, SES, numerische Ratingskala

Entwicklung und Grad der Chronifizierung Behandlungsbeginn, Behandlungsversuche, Medikamentenanamnese, sozialmedizinische Verfahren

Mainzer Stadieneinteilung des Schmerzes

Einflussfaktoren und Bedingungen Verstärkungs- und Linderungsfaktoren, Schmerzverhalten, Eigenaktivität, Medikamenteneinnahmeverhalten, vorhandene Bewältigungsstrategien, Reaktionen von Bezugspersonen, Ausmaß der Beeinträchtigung durch Schmerz (Alltag, Arbeit, soziale Kontakte)

Schmerzprotokoll, Aktivitätenliste, PDI, Fragebogen zur Erfassung der Schmerzverarbeitung

Sonstige Beschwerden Aktuelle Beschwerden (Zusammenhang mit Hauptschmerz?), aktuelle Krankheiten, frühere Beschwerden, frühere Erkrankungen, Unfälle, Operationen, depressive Symptomatik (früher/heute), Ängstlichkeit (früher/heute), Angstanfälle

BL, STAI, ADS, SCL-90-R, U-Fragebogen

Familienanamnese Krankheiten der Angehörigen, Todesfälle, Familienstruktur (Geschwisterreihe, Rollen, Aufgabenverteilung), emotionale Atmosphäre, Erziehungsstil Entwicklung und aktuelle Lebenssituation Beziehung zur Herkunftsfamilie, Ablösung vom Elternhaus, schulische/berufliche Entwicklung (Arbeitsstil, Ziele, Beziehung zu Kollegen, Betriebsklima), Partnerschaft/Ehe/Sexualität, Kinder, Wohnsituation, finanzielle Situation, soziale Kontakte, Interessen, Hobbys (bei allen Themen: Veränderungen durch Schmerz?)

Lazarus-Fragebogen zur Lebensgeschichte

Persönlichkeit, Bewältigungsstrategien Selbstbeschreibung, Fremdbeurteilung, Stressbewältigungsverhalten

Selbstbeurteilungsfragebögen, Stressverarbeitungsfragebögen, Copingfragebögen

Krankheitskonzept Subjektive Erklärungsmodelle, Kontrollüberzeugungen, Veränderungserwartung

KKG (Lohaus u. Schmitt 1989)

DGSS Deutsche Gesellschaft zum Studium des Schmerzes; SES Schmerzempfindungsskala; PDI Pain Disability Index; BL Beschwerdeliste; STAI State-Trait-Anxiety-Inventory; ADS Allgemeine Depressionsskala; KKG Kontrollüberzeugungen zu Krankheit und Gesundheit.

Schmerzen verursacht, die den gesamten Rücken bis in den Nacken hinein und beide Beine rundum betreffen. Die Lokalisation der Schmerzen kann unter physiologischen und psychologischen Aspekten eingeschätzt werden. Obwohl in erster Linie Aufga-

be des Arztes, ist es für Psychologen wichtig, abwägen zu können, ob eine Schmerzausbreitung eher physiologischen (z. B. radikuläre oder neuropathische Schmerzen), psychophysiologischen (z. B. Spannungskopfschmerzen) oder keinen bekannten Mechanismen entspricht.

257 Kapitel 14 · Schmerzanamnese

14

> Wichtig ist es zudem, auf den Ausdrucksgehalt

> Eine hohe Ausprägung auf der affektiven

der Schmerzlokalisation mit seinen verschiedenen Bedeutungen zu achten.

Schmerzdimension weist auf die Bedeutung psychischer Einflussfaktoren hin. Dies besagt nichts über die Genese: Auch Schmerz bei einer Krebserkrankung kann stark affektiv gefärbt sein.

Schmerzen können bei anderen wichtigen Personen erlebten Beschwerden überraschend ähneln. Sie können Hinweise auf befürchtete Erkrankungen liefern (linksseitig lokalisierte Brustschmerzen als Ausdruck eines befürchteten Herzinfarkts) oder Ausdruck des Befindens sein („Ich habe ständig so einen Druck im Kopf, ich kann nicht klar denken und fühle mich einfach niedergeschlagen“). Fragen dazu sind z. B.: 쎔 „Jetzt im Moment, welche Schmerzen haben Sie da?“ 쎔 „Welches sind Ihre Hauptschmerzen? Zeigen Sie bitte möglichst mit einem Finger, wo der Schmerz beginnt, wohin er ausstrahlt, wo er aufhört.“ 쎔 „Wo haben Sie noch Schmerzen? Sind diese Schmerzen unabhängig von den anderen Schmerzen?“ 쎔 „Wo haben Sie noch Schmerzen?“ (So lange fragen, bis nichts mehr genannt wird.) Die Patienten sollten, wenn nicht bereits im Schmerzfragebogen erfolgt, mit einem breiten Farbstift ihre Schmerzareale in ein Schema vom menschlichen Körper einzeichnen („Schmerzmännchen“). Dieses Verfahren ist sinnvoll, um Informationen über das Ausmaß der Beeinträchtigung zu erhalten. Die Angaben können zudem für die Bewertung von Therapieergebnissen Bedeutung haben. Je mehr Beschwerden bestehen, desto größer ist das Risiko für die Chronifizierung von Schmerzen (Thomas et al. 1999; Ohrbach u. Dworkin 1998). Bei der Schmerzqualität werden traditionell die 3 Dimensionen von Melzack (1975) unterschieden: 쎔 sensorisch (z. B. stechend, brennend, pochend), 쎔 affektiv (erschöpfend, grausam, bestrafend), 쎔 evaluativ (unerträglich, stark). Inzwischen haben empirische Überprüfungen im englischen und deutschen Sprachraum eine Reduzierung auf die beiden Dimensionen „sensorisch“ und „affektiv“ zur Folge (zur Übersicht: Geissner 1996). Die affektive Dimension beschreibt dabei den „Leidensaspekt“, enge Beziehungen zu Angst, Depression und Hilflosigkeit sind feststellbar.

Fragen dazu sind z. B.:

쎔 „Können Sie mir bitte Ihre Schmerzen schildern. Manche Patienten sagen z. B. ,die sind stechend‘. Wie ist das bei Ihnen?“ 쎔 „Schildern Sie den Schmerz bitte einmal mit den Worten ,als ob ...‘!“ 쎔 „Waren die Schmerzen von Anfang an so?“ Ergänzend dazu sind standardisierte Schmerzskalen empfehlenswert, bei denen der Patient seine Schmerzen anhand vorgegebener Items mit Intensitätsabstufungen quantifizieren kann. Inzwischen am weitesten verbreitet und Teil des DGSSFragebogens ist die Schmerzempfindungsskala (SES; Geissner 1996). Eine Besprechung dieses Verfahrens mit den Patienten kann ein Ausgangspunkt für die Einführung psychologischer Aspekte sein: „Bei Durchsicht und Auswertung ihrer Unterlagen ist mir aufgefallen, dass Sie sich – auch im Vergleich mit anderen Schmerzpatienten – besonders stark durch ihre Beschwerden belastet fühlen, dass sie Ihnen besonders viel auszumachen scheinen. Haben Sie eine Idee warum?“ Typische Fragen zu Häufigkeit und Dauer („Wie oft tritt der Schmerz auf?“, „Wie lange hält der Schmerz an?“, „Gibt es schmerzfreie Zeiten?“) zielen auf Besonderheiten in der Schmerzwahrnehmung und -beschreibung ab: „Ich hab’ mich schon so an den Schmerz gewöhnt, dass ich ihn manchmal gar nicht mehr wahrnehme.“, „Manchmal weiß ich gar nicht, ob der Schmerz noch da ist – aber wenn ich darauf achte, dann ist er doch noch da.“ vs.„Wenn ich mich auf mein Hobby konzentriere, dann vergesse ich den Schmerz auch schon mal.“ Viele Patienten neigen zu Generalisierungen in der Schmerzbeschreibung: Sie haben immer Schmerzen, nichts lindert die Beschwerden, nie können sie sich vom Schmerz ablenken, jede Bewegung tut weh. > Für das beobachtbare Verhalten während der Anamnese gilt: Besteht eine Diskrepanz zwischen dem geschilderten Schmerz und dem Ver-

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Teil III · Diagnostik

halten, und woran kann diese Diskrepanz liegen? Hierbei können eine inadäquate Selbsteinschätzung (zu negativ, zu positiv) genauso eine Rolle spielen wie Aufmerksamkeitsfaktoren in Form von Ablenkung, Konzentration und Konstanzphänomenen.

Zur Erfassung der Schmerzintensität sind einfache Verfahren gebräuchlich. Dabei hat sich die nummerische Ratingskala (NRS) inzwischen gegenüber der traditionell verwendeten visuellen Analogskala (VAS) durchgesetzt (Seemann u. Nilges 2001). Insbesondere im Klinikalltag gewöhnen die Patienten sich sehr schnell an die Angabe der Schmerzstärke. Schmerzintensität kann sich beziehen auf: 쎔 Schmerz im Augenblick, 쎔 Schmerz in der letzten Woche, 쎔 durchschnittlichen Schmerz, 쎔 frühere Schmerzintensität, 쎔 nächtlichen Schmerz, 쎔 Schmerz morgens sofort nach dem Aufwachen, 쎔 Schmerz in vielen spezifischen Situationen. Schwierigkeiten bei der Einschätzung haben gele-

gentlich ältere Patienten. Der Schmerzbeginn kann mit folgenden Fragen erfasst werden: 쎔 „Wann haben Sie diesen Schmerz erstmals bemerkt?“ 쎔 „Wann wurde er stärker/schwächer?“ 쎔 „Hatten sie früher schon einmal ähnliche Schmerzen?“ Die scheinbar einfache Frage nach dem Beginn und dem zeitlichen Verlauf der Beschwerden führt nicht selten zu einer Aufzählung bisheriger Behandlungen – Psychologe: „Wann haben Sie erstmals Kopfschmerzen bemerkt?“; Patient: „Also seit der chiropraktischen Behandlung 1986 kann ich überhaupt nicht mehr sitzen, und dann haben die mir in der Kur eine Massage verpasst, seitdem habe ich diese wahnsinnigen Kopfschmerzen.“ Immer wieder werden als Beginn z. B. von Gesichtsschmerzen zahnärztliche Eingriffe angegeben. Bei Nachfrage („Warum wurden die Zähne denn gezogen?“, „Hatten Sie vorher schon mal Gesichtsschmerzen?“) wird oft berichtet, dass Schmerzen bereits vor dem Eingriff bestanden,

hinterher jedoch stärker oder zu Dauerschmerzen wurden. Schmerzen, die ausschließlich oder überwiegend direkte Operationsfolgen sind, treten häufig auf (Perkins u. Kehlet, 2000). Notwendig ist es jedoch, gerade bei Ursachenzuschreibungen durch Patienten genauer nachzufragen. Häufig lassen sich Aussagen wie „Die haben mich verpfuscht.“ oder „Es wurde ein Nerv verletzt.“ von medizinischer Seite nicht bestätigen. > Die Entwicklung von Schmerzen bzw. Dauerschmerzen nach Operationen ist häufig undkann mit einer Vielzahl von Faktoren zusammenhängen, die ohne ein kompetentes und v. a. vorurteilsfreies interdisziplinäres Team nicht mit ausreichender Sicherheit zu ergründen und zu gewichten sind.

Bei der Frage nach Auslösern der Schmerzen erwarten die Patienten oft die Suche nach Problemen – und reagieren ablehnend. Dies lässt sich umgehen, indem geeignete Beispiele anderer Patienten vorgeschlagen werden: 쎔 „Sie haben erstmals im Juni 1983 diese Kreuzschmerzen bemerkt.Waren Sie damals körperlich sehr belastet?“ 쎔 „Manche Patienten entwickeln ja Kreuzschmerzen, wenn sie sehr viel zu tun haben, z. B. beruflich, und dann noch nebenbei ein Haus bauen, den Nachbarn helfen oder einen Umzug haben. Wie war das bei Ihnen?“ 쎔 „Wissen sie noch den Tag, an dem es anfing? Wie kommt es, dass Sie sich den Tag so gut merken konnten?“ (Manchmal sind es Geburtstage, Todestage von Angehörigen und andere markante Zeitpunkte, aber auch Zeiten der Überforderung, die den Patient den Schmerzbeginn gut erinnern lassen und erste Hinweise auf mögliche Auslösefaktoren geben.) Weitere Fragen dazu sind z. B.:

쎔 „Was haben Sie unternommen, nachdem der Schmerz anfing?“

쎔 „Was haben Sie gedacht, gefühlt?“ 쎔 „In welcher Lebenssituation haben Sie sich damals befunden?“

쎔 „Wer hat Sie damals unterstützt?“ 쎔 „Wie reagierte Ihre Frau/Ihr Mann damals, wie reagiert sie/er heute?“

259 Kapitel 14 · Schmerzanamnese

14.5.4 Entwicklung der Chronifizierung

Hier sollte zwischen Schmerzbeginn und Behandlungsbeginn unterschieden werden. Im Anamnesebogen der DGSS (Deutsche Gesellschaft zum Studium des Schmerzes) und des Schmerzzentrums findet sich die Frage nach dem genauen Datum des Schmerzbeginns. Häufig tragen Patienten hier den Tag des ersten Arztbesuchs ein oder die erste Krankschreibung wegen Schmerzen. Auch in der Anamnese werden solche Zeitpunkte als eigentlicher Beginn genannt. Bei Nachfrage wird regelmäßig deutlich, dass die Schmerzen bereits vor diesen markanten Daten bestanden. Nur wenige Patienten entwickeln von einem auf den anderen Tag anhaltende Schmerzen mit hoher subjektiver Beeinträchtigung. Die meisten berichten von wiederkehrenden Schmerzen über einen längeren Zeitraum, die sie längere Zeit gut bewältigt haben. Die eigentliche chronische Phase mit dauerhaften Schmerzen, Behinderungen im Alltag und wiederholten Arztbesuchen entwickelt sich häufig parallel mit einer Zunahme von Belastungen oder lebensverändernden Ereignissen, die zusätzliche Anpassungsleistungen erfordern. Fragen dazu sind z. B.: 쎔 „Wann wurde der Schmerz so schlimm, dass Sie erstmals zum Arzt gingen?“ 쎔 „Wann wurde es so schlimm, dass Sie häufiger zum Arzt gingen?“ 쎔 „Ab wann haben die Tabletten nicht mehr richtig geholfen?“ 쎔 „Ab wann wurde der Schmerz so schlimm, dass Sie Ihre Arbeit nicht mehr so gut bewältigen konnten wie früher?“ 쎔 „Wann haben Sie den Arzt gewechselt?“

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ausgehen als auch von einem unsicheren Hausarzt, der nichts übersehen möchte und immer weiter überweist. Häufig geben Patienten an, schon alle Behandlungsmöglichkeiten „probiert“ zu haben. Zu prüfen ist dabei, wie intensiv die jeweilige Methode durchgeführt wurde und mit welchem Grad an Verantwortungsübernahme („Ich habe alles genauso gemacht, wie der Doktor gesagt hat, aber es hat nichts genützt“). Insbesondere Methoden, die Eigeninitiative erfordern (Krankengymnastik, Entspannungsverfahren), werden leider sehr schnell wieder aufgegeben. Die häufig festzustellende Tendenz, Verantwortung für das eigene Befinden zu delegieren, ist sicherlich auch durch die Erfahrungen mit unserem Gesundheitssystem sowie damit verbundenen unrealistischen Erwartungen geprägt: 쎔 „Mein Hausarzt sagt auch, ich könne in dem Zustand nicht mehr arbeiten.“ 쎔 „Der Orthopäde sagte, alle diese Übungen seien nicht gut für mich, weil meine Wirbelsäule kaputt ist.“ 쎔 „Es gibt keine unheilbaren Krankheiten, es gibt nur unfähige Ärzte.“ Mangelnde Selbstverantwortung findet sich auch beim Medikamenteneinnahmeverhalten nicht selten. Allerdings entwickelt sich ein verstärkter Medikamentenkonsum schon allein aufgrund des Missbrauchs- und Abhängigkeitspotenzials vieler Schmerzmittel. Ein hoher Medikamentenkonsum wird leicht verurteilt. Zu bedenken ist jedoch, dass dabei mangelnde alternative Behandlungsangebote, leichtfertige Verschreibungspraxis und Einstellungen der Patienten in Wechselwirkung treten.

> Die Anzahl bisheriger Behandlungsversuche

> So werden bei Kopfschmerz fast automatisch

sollte erhoben werden sowie die Bewertung der fehlgeschlagenen Behandlungen durch die Patienten.

Medikamente eingenommen und/oder verordnet. Bei einer regelmäßigen Einnahme tritt als häufige Nebenwirkung ein Dauerkopfschmerz auf, sodass den Medikamenten selbst ein maßgeblicher Anteil am Chronifizierungsprozess zukommt (Diener 1987).

Dabei ist die Arzt-Patienten-Interaktion von Bedeutung: „Schlimmer wurde es seit der Krankengymnastik – aber man hatte mich ja gezwungen, das zu machen, obwohl ich genau gewusst habe, dass ich diese Übung nicht machen konnte.“,„Professor S. meint auch, ich werde die Schmerzen nicht mehr los.“ Das in der Literatur als „doctor shopping“ bezeichnete Verhalten kann sowohl vom Patienten

Eine psychologische Behandlung ist bei Vorliegen dieser Problematik in aller Regel erst nach einer stationären Entzugsbehandlung möglich. Fragen zur Medikamentenanamnese sind: 쎔 „Welche Medikamente helfen am besten?“ 쎔 „Welche Medikamente halfen früher?“

260

Teil III · Diagnostik

쎔 „Welche Medikamente haben Sie sonst noch ausprobiert?“ 쎔 „Wie viel müssen Sie nehmen, um eine deutliche Linderung zu spüren?“ 쎔 „Wann müssen Sie die Medikamente nehmen?“ 쎔 „Wie stark sind die Schmerzen üblicherweise vor und nach der Medikamenteneinnahme?“ Patienten, bei denen eine Suchtproblematik im Vordergrund steht, werden zum Teil über Jahrzehnte mit wechselnden und immer stärkeren Mitteln behandelt, ohne dass dieses Problem erkannt wird: „Ich bin schon immer gegen Tabletten gewesen. Lieber würde ich sie nicht nehmen. Ich nehme sie auch nur, wenn es gar nicht mehr anders geht. Wenn Sie mir den Schmerz nehmen, brauche ich auch keine Tabletten mehr.“ Sozialmedizinische Verfahren können einen zentralen Stellenwert haben. Ein Entschädigungswunsch, z. B. nach einem Unfall, kann entscheidend zur Festschreibung der Krankenrolle beitragen. Ein Rentenwunsch oder ein bereits laufendes Rentenverfahren lässt Rückschlüsse auf den Grad der Invalidisierung zu und verschlechtert die Behandlungsprognose. Pauschale Schlussfolgerungen (typische Stichworte: „Rentenjäger“, „Sozialgangster“) sind dabei jedoch nicht hilfreich: Viele Patienten geraten mit anhaltenden Schmerzen zunehmend in finanzielle Notlagen und sind gezwungen, zur Existenzsicherung Rentenanträge zu stellen, andere wiederum werden schlicht falsch beraten („Mein Hausarzt hat gesagt: versuchen Sie’s mal, schaden kann’s nicht.“) und haben unrealistische Vorstellungen über die Konsequenzen und Aussichten eines Rentenantrags. Bei einer anderen Patientengruppe lässt sich die Entwicklung von beruflicher Überforderung, häufigen Krankschreibungen, Aussteuerung und Rentenantragsstellung auf das Ausmaß der bereits vor der Chronifizierung bestehenden psychischen Beeinträchtigung zurückführen. Eine Klassifikation der Chronifizierung ist mit Hilfe des Stadienmodells der Mainzer Arbeitsgruppe von Gerbershagen möglich (Frettlöh et al., 2003).

für die weitere Behandlung eine zentrale Rolle: Schwankt die Schmerzstärke in Abhängigkeit von verschiedenen Faktoren oder erleben sie die Beschwerden als konstant? > Schmerztagebücher führen zu lassen und gemeinsam auszuwerten ist der erste Schritt, um von globalen Einschätzungen („Mein Schmerz ist immer gleich.“) zu differenzierter Wahrnehmung und zu Ansatzpunkten für Veränderungen zu gelangen.

Wird z. B. deutlich, dass übersteigerte körperliche Aktivität oder vermehrte Stressbelastung zu einer Schmerzverstärkung führt, Ablenkung und Entspannung dagegen zu einer Reduktion, handelt es sich um einen günstigen Ausgangspunkt für die Exploration von Leistungs- und Stressverhalten. Zur Vorbereitung dieses Gesichtspunkts sind gezielte Informationen zur Entlastung der Patienten ratsam. Oft zögern Patienten, ihre Selbstbeobachtungen mitzuteilen – aus Angst, das bedeute, ihr Schmerz sei „eingebildet“. So berichtet eine Patientin: „Ich muss Ihnen mal etwas Eigenartiges erzählen. Ich habe doch fast immer Kopfschmerzen. Letztens habe ich über eine Stunde mit meiner Freundin telefoniert. Ich bin hinterher richtig erschrocken, weil ich merkte, dass mein Kopfweh weg war. Das kann doch eigentlich gar nicht sein.“ Entlastend wirkt es, wenn mit plausiblen Beispielen Informationen über psychophysiologische Zusammenhänge bei Schmerz und Stress vermittelt werden und der Patient verstehen kann, dass bestimmte Zusammenhänge „ganz normal“ sind: „Viele Patienten mit Kopfschmerzen neigen dazu, an schmerzfreien Tagen alles das nachzuholen, was sie an Tagen mit Schmerzen versäumt haben, und haben dann am nächsten Tag wieder starke Beschwerden. Wie ist das bei Ihnen?“ Die Verwendung von alltagsnahen Beispielen und eigenen Erfahrungen der Patienten erhöht die Plausibilität psychophysiologischer Modelle. Die als Metapher verwendete Gate-control-Theorie des Schmerzes (Melzack u. Wall 1965) ist nach unserer Einschätzung meist zu kompliziert.

14.5.5 Einflussfaktoren

und -bedingungen Die Beobachtung der Patienten, wodurch Schmerz beeinflussbar ist, spielt für die Diagnostik und v. a.

> Die Exploration vorhandener Bewältigungsstrategien kann bereits erste Ansatzpunkte für Behandlungsziele bieten. Die Betonung vorhandener sinnvoller und erfolgreicher Aktivitäten im

261 Kapitel 14 · Schmerzanamnese

Umgang mit Schmerz oder zur Linderung ist dabei ebenso wichtig wie die Analyse inadäquater Copingstrategien.

Fragen dazu sind z. B.:

쎔 „Was haben Sie bei der ersten Schmerzattacke unternommen?“

쎔 „In welchen Situationen tritt der Schmerz (verstärkt) auf?“

쎔 „Womit können Sie den Schmerz etwas lindern?“

쎔 „Gibt es Situationen, in denen Sie sich ganz gut vom Schmerz ablenken können?“ 쎔 „Zu welcher Tageszeit sind sie am schlimmsten?“ Mit Fragebögen kann dieser Aspekt zusätzlich erfasst und dokumentiert werden. Die Ergebnisse dieses Verfahrens sollten zur gezielten Exploration von Defiziten bzw. Exzessen in der Schmerzbewältigung genutzt werden. Viele Patienten betonen ihre „Tapferkeit“ im Umgang mit Schmerz. Typisch dafür sind Angaben wie „Ich lasse mich nicht hängen“, „Ich lasse mir meinen Schmerz nicht anmerken“,„Ich arbeite fast so weiter wie immer.“ Dies kann einmal die Beschreibung von Schmerzverhalten im Sinne des „Ignorierens“ und „Durchhaltens“ sein, das langfristig eher schmerzaufrechterhaltend wirkt, es kann aber auch Ausdruck einer unrealistischen Selbsteinschätzung sein, die bei einer Fremdanamnese sehr schnell relativiert werden muss. Wenn keine Fremdanamnese möglich ist, bietet sich zur Exploration dieses Aspekts zirkuläres Fragen als Hilfsmittel an, z. B.: 쎔 Patientin: „Ich lass’ mir die Schmerzen nicht anmerken – ich will die anderen schließlich nicht belasten.“ 쎔 Psychologe: „Wenn ich Ihren Mann fragen würde, woran er sieht, dass Sie starke Schmerzen haben, was wird er sagen?“ 쎔 Patientin: „Die muss sich dann überall abstützen und hinkt dann.“ 쎔 Psychologe: „Was würde er dann sagen oder tun?“ 쎔 Patientin: „Leg’ dich doch hin.“ 쎔 Psychologe: „In welchen Situationen werden die Schmerzen stark, was würde Ihr Mann sagen?“ 쎔 Patientin: „Ach, die übertreibt immer alles. Dabei lasse ich doch schon so viel liegen. Früher war ich doch noch viel schlimmer.“

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> Die Reaktion von wichtigen Bezugspersonen hat zentrale Bedeutung für die Stabilisierung von Schmerzverhalten: Veränderung der Aufgabenverteilung in Partnerschaft und Familie, „Krankheitsgewinn“ der Angehörigen, Erfüllung von uneingestandenen Bedürfnissen nach Schonung und Rücksichtnahme, Schwierigkeiten, direkt um Hilfe zu bitten oder Wünsche und Bedürfnisse auszudrücken.

Fragen dazu sind z. B.:

쎔 „Wie hat sich Ihr Tagesablauf im Vergleich zu der Zeit, bevor Sie Schmerzen hatten, verändert?“ 쎔 „Welche Tätigkeiten mussten andere Familienmitglieder übernehmen?“ 쎔 „Beschreiben Sie doch einmal einen typischen Tag aus der letzten Woche.“ Ein Fragebogen, der u. a. Verhaltensweisen der Partner als Reaktion auf das Schmerzproblem erfasst, also z. B. zuwendende, ablenkende, bestrafende Reaktionen, ist das „Multidimensional Pain Inventory“ (MPI) in der deutschen Fassung von Flor et al. (1990). Eine sinnvolle Ergänzung zur Anamnese stellt auch eine Liste zur Erfassung alltäglicher Aktivitäten dar, die es in vielen Variationen gibt. Protokolliert werden Tätigkeiten im Verlauf des Tages. Dieses Verfahren ist für die Diagnostik wichtiger Einflüsse auf Schmerz ebenso nützlich wie als Baseline für eine sich anschließende Therapie (z. B. Aktivitätsaufbau, adäquatere Arbeitseinteilung, Integration von Entspannungssequenzen im Alltag). Als Screeningverfahren zur Einschätzung des Grades der subjektiven Beeinträchtigung lässt sich der mit 7 Items kurze „Pain Disability Index“ (PDI; Dillmann et al. 1994) verwenden, der Bestandteil des Schmerzfragebogens der DGSS ist. Dieses Instrument wird auch von den Patienten gut akzeptiert. Im Vergleich zu anderen Verfahren ist der PDI weniger syndromabhängig, d. h. er ist bei Kopfschmerzpatienten ebenso verwendbar wie bei Patienten mit Rückenschmerzen.

14.5.6 Sonstige Beschwerden

Weitere aktuelle und frühere körperliche und psychische Beschwerden zu erfassen ist erforderlich.

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Teil III · Diagnostik

Einige Patienten schildern sich als „außer den Schmerzen kerngesund“. Erst gezieltes Nachfragen bringt manchmal zutage, dass auch der Magen „schon immer empfindlich war – jetzt nur noch mehr durch die Medikamente“, dass gegen den hohen Blutdruck schon seit Jahren Medikamente eingenommen werden und dass es noch eine Reihe von anderen Beschwerden gibt, die auf die „Wechseljahre“ zurückgeführt werden. Frühere Erkrankungen sind oft nur mühsam explorierbar, z. B.: 쎔 Psychologe: „Gab es früher schon einmal zeitweise körperliche Beschwerden?“ 쎔 Patient: „Nein, nie.“ 쎔 Psychologe: „Hatten Sie schon mal etwas mit dem Magen oder mit dem Herzen?“ 쎔 Patient: „Nein, ich war immer gesund, bevor ich die Schmerzen bekam.“ 쎔 Psychologe: „Wurde schon mal ein EKG gemacht?“ 쎔 Patient: „Ja, aber das ist schon lange her – da war aber alles o. k.“ 쎔 Psychologe: „Bei welcher Gelegenheit zum ersten Mal?“ 쎔 Patient: „Ach, das war, als ich so Mitte 20 war – da war ich mal beim Hausarzt, weil ich so Herzbeschwerden hatte – es war aber nichts am Herzen. Der Hausarzt sagte, das sei nervös.“ Weitere Nachfragen führten zu klaren Hinweisen, dass der Patient längere Zeit unter wiederkehrenden „Herzattacken“ gelitten hat, die auf funktionelle Herzbeschwerden oder Panikattacken hinwiesen. > Art, Anzahl und Zeitpunkte früherer Operationen können Hinweise auf eine Tendenz zur Entwicklung körperlicher Beschwerden in Zeiten erhöhter Belastung geben, die Bewertung von Eingriffen lässt Rückschlüsse auf die Einstellung gegenüber dem eigenen Körper und seiner Unversehrtheit zu. Eine lange Liste von Operationen, zunächst bagatellisiert, kann sich auf Nachfrage als Abfolge langwieriger Komplikationen und Häufung von Eingriffen mit zweifelhaften Indikationen herausstellen.

Auch bei primär körperlich oder mechanisch begründbaren Schmerzen und nachfolgenden Operationen ist es oft aufschlussreich, sich die Begleitumstände, den Heilungsverlauf, die erinnerten

Aussagen von Ärzten und die Art der damaligen Beschwerden schildern zu lassen. Es geht nicht darum, Schuld zuzuweisen oder die damalige Operationsindikation infrage zu stellen (was zum Gesprächsabbruch führen kann, wenn Patienten diesen Eindruck gewinnen!). Ziel ist es vielmehr, die emotionale Verarbeitung der Beschwerden und Operationen zu verstehen. Häufig ist die Kranken-

geschichte nicht von Anfang an auffällig. Eine oder zwei Operationen werden zunächst anscheinend gut bewältigt. Ab einem bestimmten Zeitpunkt aber trat eine Entwicklung mit Chronifizierung ein. Viele, auch kleinere Unfälle in der Vorgeschichte sind weniger ein Beweis für die Existenz eines „Unfällertyps“ als ein möglicher Hinweis auf einen ungünstigen Umgang mit dem eigenen Körper und seinen Leistungsgrenzen. Zu beachten ist auch an dieser Stelle, dass Erklärungen nicht vorschnell im Bereich der Psychopathologie zu suchen sind: Viele der im Chronifizierungsprozess bedeutsamen Faktoren sind eher als normalpsychologische Varianten zu werten. Es sind häufig positiv bewertete Verhaltensweisen, die aber im Sinne von Risikofaktoren berücksichtigt werden müssen („hart gegen sich selbst sein“, „keine Schwächen zeigen“, Nichtbeachtung von Stressreaktionen des Körpers). Während Schonung und Rückzug inzwischen als Risikofaktoren gut erforscht sind, werden „Verhaltensexzesse“ noch immer leicht übersehen. Die Ergebnisse von Hasenbring (Kap. 5) sowie Cioffi u. Holloway (1993) belegen jedoch die Bedeutung von „Durchhaltestrategien“ für die Entwicklung und Chronifizierung von Beschwerden. Viele unterschiedliche Beschwerden können auch im Rahmen einer Somatisierungsstörung auftreten (DSM-IV; Saß et al. 1996). Auf Nachfrage werden dann zahlreiche Beschwerden angegeben, die bereits in der Jugend oder im frühen Erwachsenenalter begannen. Die Symptome der Somatisierungsstörung sollten dann auf jeden Fall abgefragt werden. Dies ist z. B. mit dem entsprechenden Abschnitt des SKID (Wittchen et al. 1997) sehr zuverlässig möglich. Weitere Hinweise auf Diagnostik und Behandlung dieser Störung finden sich bei Rief u. Hiller (1998). An diesem Punkt des Interviews sind auch psychische Symptome zu erfragen. Da es in der Anamnese bis zu diesem Punkt primär um körperliche Beschwerden ging, ist das Vertrauen der Patienten oft schon gewonnen.

263 Kapitel 14 · Schmerzanamnese

Möglich ist eine Orientierung an den Screeningfragen des SKID. Allerdings müssen bei diesem Vorgehen zusätzliche Informationen zu depressiven Verstimmungen mit Hilfe des eigentlichen Interviewteils erhoben werden, da sich im Screeningteil keine entsprechenden Fragen finden. Abhängig von der Gesprächsatmosphäre und der Kooperation der Patienten kann es manchmal sinnvoll sein, die Fragen nach psychischen Beschwerden zunächst deutlich als Frage nach psychischen Reaktionen auf den Schmerz zu stellen, z. B.: „Viele Menschen mit chronischen Schmerzen berichten, dass die Stimmung sehr darunter leidet, dass sie gereizt oder ängstlich werden, dass das Interesse an verschiedenen Dingen nachlässt. Wie ist es bei Ihnen?“ > Nach unserer Erfahrung ist die Suggestivwirkung solcher Aussagen eher gering. Dafür ist die Hilfe groß, wenn solche Vorgaben dem Patienten vermitteln, dass psychische Reaktionen auf Schmerzen „normal“ sind und nichts mit „verrückt“ oder „nervenkrank sein“ zu tun haben.

Einige Patienten werden jedoch auch diese „Brücken“ nicht akzeptieren und angeben, dass sie keine Veränderungen in ihrem psychischen Erleben bemerkt hätten. In diesem Interviewabschnitt sollten depressive und ängstliche Symptome exploriert werden. Dabei ist zu unterscheiden zwischen häufigen Begleitreaktionen von chronischem Schmerz (Schlafstörungen, Nervosität und sozialem Rückzug) und klinisch relevanten depressiven Störungen – eine häufig schwierige Differenzierung. Patienten betonen meist, dass psychische Veränderungen erst seit Schmerzbeginn aufgetreten seien. Damit haben sie meist recht, wie einige Studien und Übersichtsarbeiten inzwischen belegen (Fishbain et al. 1997; Dohrenwend et al. 1999), z. B.: 쎔 Psychologe: „Seit wann bestehen die Nervosität und die Schlafstörungen?“ 쎔 Patient: „Seitdem ich die starken Schmerzen habe.“ 쎔 Psychologe: „Hatten Sie denn auch früher schon mal Zeiten, in denen sie schlechter schlafen konnten?“ 쎔 Patient: „Ja, schon mal, das ist aber schon länger her.“ 쎔 Psychologe: „Wie lange?“

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쎔 Patient: „So vor 8 Jahren.“ 쎔 Psychologe: „Wie ging es Ihnen zu der Zeit sonst?“

쎔 Patient: „Ich war nervös, hatte so ein Tief.“ 쎔 Psychologe: „Können Sie das Tief näher beschreiben?“

쎔 Patient: „Wie gesagt, ich konnte nicht schlafen, war nervös und mir war alles zuviel. Ich hatte zu nichts mehr Lust.“ 쎔 Psychologe: „Was haben Sie dagegen unternommen?“ 쎔 Patient: „Der Arzt hat mir Tabletten verschrieben.“ Die Tatsache, dass vom Arzt verschriebene Medikamente eingenommen wurden, weist auf die klinische Bedeutung der Beeinträchtigung hin. Die weitere Anamnese und der Vergleich mit der Schmerzentwicklung zeigt, dass die anderen Beschwerden 3–4 Jahre vor den Schmerzen im Rahmen einer Belastungssituation begannen. Ein Problem für die Therapieplanung ist regelmäßig das „Beharren“ der Patienten auf der Schmerzbedingtheit depressiver Verstimmungen: „Wenn Sie mir meine Schmerzen nehmen, bin ich wieder der glücklichste Mensch der Welt.“ Diese alleinige Orientierung auf Schmerzfreiheit als Voraussetzung für eine Verbesserung der Stimmung lässt kaum Spielraum für Psychotherapie. Ziel sollte es an dieser Stelle sein, die „feste Verbindung“ zwischen Schmerz und Stimmung zu lockern: Einige Patienten geben relativ konstante Schmerzen über Jahre an, während für die depressiven Stimmungen abgrenzbare Phasen bestehen. Hier ist es sinnvoll zu fragen „Wie schaffen Sie es, dass es ihnen trotz Schmerzen manchmal noch einigermaßen gut geht?“ Ängste sind sehr sorgfältig zu explorieren, da sie sich – besonders bei längerer Krankengeschichte – häufig hinter rein körperlich beschriebenen Symptomen verbergen. Sie werden als posttraumatische Belastungsstörungen besonders bei Patienten, die Schmerzen nach Unfällen entwickeln, nicht selten beobachtet. > Angstentwicklungen werden unserer Erfahrung nach besonders häufig verkannt. Hinweise im Interview dafür sind Brustschmerzen – auch als Dauerschmerz –, ausgesprochene Vermeidungsfunktion von Schmerzen sowie die vegetativen Angst- und Panikäquivalente.

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Teil III · Diagnostik

Die Ergebnisse einer prospektiven Studie scheinen zu belegen, dass Angst auch für die Entwicklung von Migräne eine wichtige Bedeutung hat (Merikangas et al. 1990). Zur Abklärung von Angst und Depression sollte auf Fragebögen zurückgegriffen werden: Die „Allgemeine Depressionsskala“ (ADS; Hautzinger u. Bailer 1993) thematisiert schmerzübergreifend depressive Symptome. Allgemeine Ängstlichkeit kann durch den STAI („State-Trait Anxiety Inventory“; Laux et al. 1981) erhoben werden. Ebenfalls verwendet wird die HADS (Hospital Anxiety and Depression Scale; Hermann et al., 1995) Zunehmende Bedeutung erlangen allerdings solche Verfahren, bei denen ein expliziter Bezug zu den Beschwerden hergestellt wird. Dazu gehören der Fragebogen zur Erfassung der Schmerzverarbeitung (FESV; Geissner 2001), der u. a. schmerzbezogene Hilflosigkeit, Depression und Angst erfasst. Ebenfalls häufig und vor allem bei Patienten mit Rückenschmerzen verwendet wird der FABQ in der Übersetzung von Pfingsten et al. (1997). Spezifische körperliche Angstsymptome (z. B. Herzrasen, Kloßgefühl) werden u. a. mit der Beschwerdeliste (von Zerssen 1976) erfasst. Als Screeningverfahren für sehr unterschiedliche Bereiche eingesetzt wird auch die SCL-90-R (Derogatis 1977). Die Skala Somatisierung wird allerdings besonders schnell „auffällig“, da sie u. a. Schmerzen selbst erfasst und damit für die Gruppe der Schmerzpatienten nur eingeschränkt interpretiert werden kann. Dieses Problem besteht bei allen Verfahren,bei denen die Validierungsstichproben aus körperlich gesunden Probanden besteht. > Zu einer sorgfältigen Anamneseerhebung gehört die Erfassung verschiedener Belastungsbereiche (u. a. Depression, Angst, sonstige Beschwerden) mit verschiedenen Verfahren (Gespräch, Fragebögen). Dabei sind Interpretationsgrenzen zu bedenken, wenn Fragebögen eingesetzt werden, die nicht für Menschen mit primär körperlichen Beschwerden normiert wurden. In diesen Fällen besteht die Gefahr, dass körperliche Symptome als vermeintliche Psychopathologie fehlinterpretiert werden.

14.5.7 Familienanamnese

> Fragen nach Krankheiten und Todesfällen in der Herkunftsfamilie sind unerlässlich, um Erfah-

rungen, Einstellungen und Modelle bei Krankheit und Gesundheit nachvollziehen zu können.

Die Exploration früherer Krankheiten in der Familie ermöglicht einen günstigen Einstieg in die biographische Anamnese (Krankheiten, Todesursachen, ähnliche Beschwerden, chronische Krankheiten, Schmerzverhalten der Angehörigen), z.B.: Eine Patientin mit linksseitigem Gesichtsschmerz beschreibt ihre Schmerzen als „inneren Krampf in der Wange“ und als Schmerz in der Schläfe. Bei der Familienanamnese schildert sie, die Mutter sei an einem „Gehirnschlag“ gestorben und deutet dabei automatisch auf ihre eigene Schmerzstelle an der Schläfe. In diesem Rahmen bietet es sich an, auch die Beziehungen zu den Familienmitgliedern zu explorieren: Beziehung zu den Eltern, die Position in der Geschwisterreihe und die Beziehung unter den Geschwistern. Bei einigen Schmerzpatienten findet eine frühe Verantwortungsübernahme innerhalb der Familie mit einem hohen Ausmaß an Arbeitsbelastung statt (z. B. Sorge für jüngere Geschwister, Eltern durch Arbeit sehr belastet, ein Elternteil früh verloren). Die Idealisierung der Beziehungen und Atmosphäre in der Herkunftsfamilie ist nach unseren Beobachtungen die Regel. Oftmals kommt erst im späteren Verlauf der Behandlung ein hohes Ausmaß an Belastungen zutage. So heißt es im Erstgespräch hellhörig zu sein, ohne jedoch den Patienten zu bedrängen. Dabei können Fragen nach dem Ausmaß noch bestehender Kontakte einen Eindruck von der Qualität der Beziehungen vermitteln („Wie oft treffen sich die Familienmitglieder?“, Wann haben Sie zum letzten Mal mit ihrer Schwester geredet?“). Einige Patienten berichten nach einigem Zögern von hohen Belastungen wie Alkoholismus und/oder sexuellem Missbrauch in der Herkunftsfamilie. Sie haben oft erstmals in einer Schmerzklinik oder -ambulanz Gelegenheit, über diese traumatisierenden Erfahrungen zu sprechen. Gleichzeitig ist die Angst ausgeprägt, dass diese Informationen missbraucht werden, um die Beschwerden „als psychisch abzustempeln“. Bei dieser Patientengruppe ist es besonders wichtig zu vermitteln, dass Schmerz und damit auch dessen Behandlung mehrgleisig zu sehen ist. Dazu gehört auch, dass anhaltend quälende Erfahrungen, die nie verarbeitet wurden, unsere Fähigkeiten einschränken, aktuelle Belastungen wie Schmerz zu bewältigen.

265 Kapitel 14 · Schmerzanamnese

Dass die Lokalisation der Beschwerden mit der ursprünglichen Traumatisierung zusammenhängt (z. B. Unterleibsschmerzen bei sexuellem Missbrauch), ist eine gelegentliche Beobachtung. Gefährlich ist allerdings der – leider ebenfalls noch immer häufige – Umkehrschluss.

14.5.8 Persönliche Entwicklung

und aktuelle Lebenssituation > Bei der Exploration der persönlichen Entwicklung und aktuellen Lebenssituation des Patienten ist besonders auf zeitliche Zusammenhänge mit dem Beginn oder der Zunahme von körperlichen Beschwerden zu achten.

Besondere Lebensereignisse (z. B. Ablösung vom Elternhaus, Heirat, Geburt der Kinder, Ablösung der Kinder, berufliche Veränderungen), Krisen (z. B. Trennung, Scheidung, Nichtverwirklichung von Zielen, gehemmte berufliche Entwicklung), Konflikte (intra- und interpersonelle Konflikte) und Belastungen (z. B. Pflege von Angehörigen, vermehrte berufliche Verantwortung) finden sich regelmäßig zu den Zeiten, in denen auch Beschwerden einsetzen oder zum Problem werden. Dabei feststellbare Parallelen zwischen der Schmerzanamnese und der Lebensgeschichte

müssen – bei aller Faszination, die mit diesen Phänomenen verbunden ist – mit der gleichen Vorsicht behandelt werden, wie alle retrospektiven Daten: Es kann sich um entscheidende Informationen von ätiologischer Relevanz handeln, es können jedoch auch lediglich zeitliche Parallelen bestehen, die weder subjektiv noch objektiv in Bezug zu den Beschwerden stehen. Solche Informationen sollten als Ausgangspunkt für Hypothesen gewertet und im weiteren Verlauf überprüft werden. Hypothesen, die sehr verschlossene Patienten als „gefährlich“ erleben könnten, können als „abwegige Vermutungen“ formuliert werden: „Mir fällt da gerade eine Patientin mit ähnlichen Beschwerden ein, bei der war es ...“ Die eigene Einschätzung sollte als Hypothese mit Patienten offen besprochen und damit die Plausibilität überprüft werden. Erst dadurch werden auch Änderungsmotivation und notwendige Schritte auf Patientenseite klar („Also Kreuzschmerzen hatte ich ja schon immer, aber die gingen auch wieder weg, aber seit ich meine Mutter zu

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mir genommen habe – die ist ja immer verwirrter geworden – kenne ich gar keine schmerzfreien Tage mehr“). Zu klären sind weiterhin Veränderungen in wichtigen Lebensbereichen aufgrund der Schmerzen und seit dem Schmerzbeginn. Diese Fragen haben das Ziel, Hypothesen über mögliche funktionale Bedeutungen der Schmerzen zu entwickeln. Fragen dazu sind z. B.: 쎔 „Wenn Sie morgen früh wach werden und die Beschwerden wären weg, was würde sich für Sie verändern?“ 쎔 „Was hat sich geändert, seit Sie die Schmerzen haben?“ 쎔 „Wie hätte sich Ihr Leben entwickelt, wenn Sie nicht diese Schmerzen bekommen hätten?“ 쎔 „Was ist das Schlimmste an diesen Schmerzen für Sie?“ Antworten der Patienten können sein: 쎔 „Ich hätte mir wieder eine Arbeitsstelle gesucht, als die Kinder aus dem Haus gingen.“ 쎔 „Wir hätten wohl noch ein Kind gekriegt.“ 쎔 „Ich hätte vielleicht den Mut gehabt, mich scheiden zu lassen.“ 쎔 „Ich wäre beruflich weitergekommen.“ 쎔 „Ich hätte dann mein Diplom machen können.“ 쎔 „Ich könnte dann wieder alles so schnell erledigen wie früher.“

14.5.9 Persönlichkeit,

Bewältigungsstrategien Nicht nur die direkten Schmerzbewältigungsstrategien sind interessant, sondern auch die sonstigen Muster beim Umgang mit Problemsituationen und Stress. Bei der Exploration dieser Verhaltensund Erlebensweisen werden ebenfalls mögliche Funktionen der Schmerzen deutlich. Einen neutralen Einstieg ermöglicht hierbei die Arbeits- und Berufssituation. Fragen dazu sind z. B.: 쎔 „Haben Sie Stress an Ihrem Arbeitsplatz? Wie sieht der aus?“ 쎔 „Wie würden Sie Ihren Arbeitsstil beschreiben?“ 쎔 „Was würde Ihr Chef über Sie sagen?“ 쎔 „Wie sieht Ihr Arbeitsplatz aus? Wann machen Sie Feierabend, Pausen etc.?“ 쎔 „Was macht Ihnen an Ihrer Arbeit am meisten Spaß?“ 쎔 „Was ärgert Sie an Ihrer Arbeit?“ 쎔 „Was ärgert Sie an Kollegen?“

266

Teil III · Diagnostik

Mögliche Verstärkungsfaktoren und Funktionen der Schmerzen stehen oft in Zusammenhang mit mangelnder sozialer Kompetenz ( nicht „Nein“sagen können, nicht um Hilfe bitten können), mit Perfektionismus (nichts liegen lassen können) oder mit mangelnder Entspannungsfähigkeit (nicht abschalten können). Hierbei geht es um die Exploration möglicher Verhaltensdefizite, bei denen Schmerz nicht nur Symptom von Überforderung sein kann sondern auch ausgleichende Funktionen übernehmen kann. Dies betrifft beispielsweise die Fähigkeit, sich abzugrenzen, sich durchzusetzen, sich unbeliebt zu machen, direkte Forderungen zu stellen oder sich vor Überforderung zu schützen, z. B.: 쎔 Psychologe: „Wie ist es für Sie, wenn Sie Arbeit liegen sehen?“ 쎔 Patient: „Ach, das kann ich ganz gut.“ 쎔 Psychologe: „Wie haben Sie das gelernt?“ 쎔 Patient: „Seit ich die Schmerzen habe, musste ich das lernen.“ oder: 쎔 Psychologe: „Wie reagieren Sie, wenn Ihre Mutter anruft und möchte, dass Sie helfen?“ 쎔 Patient: „Es geht eben jetzt oft nicht mehr. Ich kann einfach vor Schmerzen nicht.“ Einige dieser Aspekte können zuverlässig mit Fragebögen erfasst werden: Der U-Fragebogen (Ullrich u. de Muynck 1998) erfasst z. B. Defizite sozialer Kompetenz in brauchbarer Form, der Fragebogen zur Erfassung der Schmerzverarbeitung

(Geissner 2001) eine Reihe von Bewältigungsformen mit explizitem Schmerzbezug. Die Ergebnisse können im Gespräch als Anknüpfungspunkte genutzt werden. Ähnlich wie Laborwerte haben Punktwerte und Prozentränge für die meisten von uns – und erst recht für Patienten in primär somatischen Settings – eine höhere Plausibilität als „einfache Vermutungen“: „Sie haben den Fragebogen wie besprochen ausgefüllt und mir zukommen lassen. Bei der Auswertung hat sich die Vermutung aus unserem letzten Gespräch bestätigt, dass Sie sich schwerer als andere tun, wenn es um Durchsetzung geht. Sehen Sie hier, dieser Punktwert ist sehr hoch und bedeutet, dass Sie auf jeden Fall gegen diese Schwierigkeiten etwas unternehmen sollten.“ > Die Ergebnisse von Fragebögen sollten mit Patienten detailliert besprochen werden. Die Plausibilität der Diagnostik und Therapieemp-

fehlungen kann dadurch noch zunehmen, dass die im Gespräch erkennbaren Problembereiche (z. B. nicht „Nein“ sagen können) durch einen entsprechenden Messwert (erhöhter Punktwert) in einem Fragebogen bestätigt werden.

14.5.10

Krankheitskonzepte

> Die Exploration der subjektiven Krankheitstheorie und daraus resultierender Erwartungen ist von entscheidender Bedeutung für den weiteren Verlauf der Beschwerden und ihre Behandlung.

Fast alle Patienten gehen explizit oder implizit von einem Akutschmerzkonzept für ihre chronischen Schmerzen aus. Häufig bestehen unrealistische Hoffnungen auf eine schnelle Heilung. Diese Erwartungen sind verständlich, sie müssen ernstgenommen und angesprochen werden, um eine Basis für die Übernahme von Eigenverantwortung und damit für eine effiziente Schmerzbehandlung aufzubauen. Hierbei reicht meistens nicht die rationale Erklärung, vielmehr ist der Abschied von solchen Vorstellungen oft „Trauerarbeit“ (Williams 1998). Einige Erklärungsmodelle können entscheidend zur Entwicklung und Stabilisierung der Chronifizierung beitragen, ohne Kenntnis und Veränderung dieser Konzepte kann psychologische Arbeit aussichtslos sein: 쎔 Schmerz als Hinweis auf eine bösartige Krankheit; 쎔 Schmerz als Hinweis darauf, dass etwas übersehen worden ist; 쎔 Schmerz als Hinweis darauf, dass etwas Schlimmes passieren wird (z. B. bald an einen Rollstuhl gefesselt sein). Gelegentlich äußern Patienten eigenartige Vorstellungen von der Mechanik ihres Körpers, sie erinnern Aussagen von Vorbehandlern vermutlich selektiv und verzerrt. Diese führen dann im Sinne einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung zu Passivität, zunehmender Behinderung und verstärkten Beschwerden: 쎔 „Es springen Wirbel heraus.“ 쎔 „Der Arzt bei der Röntgenuntersuchung damals hat schon gesagt, dass ich mit diese Wirbelsäule noch mal Ärger bekommen werde.“

267 Kapitel 14 · Schmerzanamnese

쎔 „Als der Doktor damals mein Röntgenbild ge쎔 쎔 쎔 쎔

sehen hat, hat der sich gewundert, dass ich noch keine Schmerzen hatte.“ zu einer 80-jährigen Patientin: „Für Ihre Knochendichte sind sie noch erstaunlich mobil.“ „Der Arzt sagte, ich sei eigentlich 40 Jahre zu jung für meine Wirbelsäule.“ „Wenn ich mich falsch bewege, bricht etwas kaputt, und ich bin gelähmt.“ Zitat aus einem Arztbrief: „Herr D. stellte sich am ... bei mir vor und gab an, ihm seien 3 Halswirbelkörper operativ entfernt worden. Seit der Zeit könne er seinen Kopf nicht mehr halten (das könnte ich auch nicht).“

Obwohl sich gerade bei Rückenschmerzen in den letzten Jahren Ätiologie- und Therapiekonzepte drastisch veränderten, wird noch immer den mit bildgebenden Verfahren festgestellten degenerativen Wirbelsäulenveränderungen von Arzt- und Patientenseite eine unverhältnismäßig große Bedeutung beigemessen. Die Prävalenz dieser Auffälligkeiten ist sehr hoch, und die klinische Relevanz ist oft fragwürdig (z. B. Jensen et al. 1994). Solche iatrogenen Faktoren bei der Chronifizierung allein schon durch die Diagnosestellung mit simplifizierenden Erklärungen und Prognosen haben eine nachgewiesene Wirkung auf das Ausmaß der Beschwerden und die mit Schmerz verbundene Behinderung (Abenhaim et al. 1995; Indahl et al. 1995; Kendrick et al. 2001). > Die Krankheitskonzepte der Patienten spiegeln regelmäßig ihre Erfahrungen in einem primär auf somatische Pathologie orientierten System von Diagnostik und Behandlung wieder. Ihre sog. „somatische Fixierung“ ist eine häufige Konsequenz von missverständlichen und falschen Informationen, Diagnosen und Empfehlungen.

14.6

Auswertung der Anamnesedaten

14.6.1 Integration von Informationen

aus unterschiedlichen Quellen Die Anamnese verstehen wir als Startpunkt für die Entwicklung und Überprüfung von Hypothesen.

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Diagnostische Vermutungen sollten anhand anderer Quellen überprüft werden. Es ist notwendig, die erhobenen Informationen, beispielsweise zur Entwicklung der Beschwerden, mit den Angaben der Patienten im Schmerzfragebogen, bei der (dokumentierten) ärztlichen Anamnese sowie in den Vorbefunden miteinander zu vergleichen und damit die Reliabilität der eigenen Daten sicherzustellen. Dies gilt ebenso für die anderen Inhalte der Anamnese: Depression, Angst, sonstige körperliche Beschwerden, Reaktionen der Angehörigen oder Angaben zur sozialen und beruflichen Situation sollten mit vorhandenen Außenkriterien in Bezug gesetzt werden.Wenn möglich sollten zusätzlich Fremdanamnesen erfolgen. > Psychologe/in und Patient sind nicht gegen selektive Wahrnehmungen und Bewertungen resistent. Je unstandardisierter die Anamneseerhebung ist – mit allen eingangs genannten Vorteilen – desto größer ist diese Gefahr.

Informationen, die zur Komplettierung der eigenen Hypothesen beitragen, sind im stationären Setting durch andere Arbeitsbereiche verfügbar: Krankengymnasten und Pflegepersonal erleben die Patienten meist in alltagsnahen Situationen und können die eigenen Schlussfolgerungen ergänzen oder korrigieren. Hypothesen über Art und Ausmaß psychischer Störungen müssen ebenfalls mittels vorhandener oder zusätzlicher Informationen (z. B. durch ergänzende Testverfahren, SKID) überprüft werden. > Häufig haben wir feststellen müssen, dass sich das einigermaßen vollständige Bild von Art, Ausmaß und psychosozialen Hintergründen der Beschwerden unserer Patienten erst skizzieren lässt, wenn solche Zusatzinformationen und Vergleiche unterschiedlicher Datenquellen genutzt werden.

14.6.2 Bericht für den Arzt

Psychologen/innen, die in Kliniken arbeiten, werden eine zusammenfassende Darstellung ihrer diagnostischen Befunde und therapeutischen Empfehlungen an die zuständige Ärztin bzw. den Arzt weiterleiten oder als Teil des Entlassungsberichts ausarbeiten. Diese Form der Informationsüber-

268

Teil III · Diagnostik

mittlung ist zwar notwendig, aber für beide Seiten nicht ausreichend: Aus zeitlichen Gründen ist eine Beschränkung auf zentrale Punkte erforderlich, die Darstellung von Schlussfolgerungen ist meist nur sehr verkürzt möglich, gelegentlich erfolgt auch eine „Selbstzensur“ der offiziellen (und hinsichtlich der Weitergabe kaum kontrollierbaren) Berichte. Als Kompromiss bietet es sich an, eine „Notizseite“ in der Textverarbeitung der KlinikEDV einzurichten, auf der, auch für den behandelnden Arzt einsehbar, Hypothesen, Vermutungen, Gesprächsinhalte,Vereinbarungen mit Patienten (z. B.„Hausaufgaben“) und das geplante weitere Vorgehen „ins Unreine“ geschrieben werden. Diese „persönlichen Notizen“ können dann als Grundlage für den endgültigen Bericht dienen und lassen sich bei weiteren Gesprächen abrufen und ergänzen. > Ein detaillierter Austausch von Informationen innerhalb des Behandlungsteams sollte auf jeden Fall im Rahmen von Teambesprechungen erfolgen. Im ambulanten Setting sind regelmäßige konsiliarische Erörterungen unerlässlich.

14.6.3 Diagnostische Schlussfolgerung

Die heute gebräuchlichsten Klassifikationssysteme für psychische Störungen sind das DSM-IV (Saß et al. 1996) und die ICD-10 („International Classification of Diseases“ der WHO; Dilling et al. 1990). Hinsichtlich der Aspekte Operationalisierung, Differenzierung und Kommunizierbarkeit ist dem DSM-IV der Vorzug zu geben. > Eindeutige klassifikatorische Einordnungen anhand gut definierter und nachvollziehbarer Kriterien sind aus verschiedenen Gründen notwendig. In Zeiten knapper Kassen werden zunehmend Gesichtspunkte der Qualitätskontrolle und damit von klaren Behandlungsindikationen an Bedeutung gewinnen.Verstärkt werden auch juristische Aspekte eine Rolle spielen, da Gerichtsverfahren wegen Schmerzensgeld oder Rentenanträgen zunehmen.

Mit einer „Ein- oder Zweiwortdiagnose“ oder einer „Ziffer“ ist es selbstverständlich nicht getan. Ziel der psychologischen Diagnostik sollten Begründung, Entwicklung und Planung weiterer

Handlungsmöglichkeiten sein. Die derzeit zur Verfügung stehenden diagnostischen Klassifikationssysteme stellen zwar gegenüber traditionellen Konzepten einen wichtigen Fortschritt dar, sie sind jedoch bei weitem noch nicht ausreichend, um differenzierte Beschreibungen der Entwicklung chronischer Schmerzen und Indikationen für spezifische therapeutische Vorgehensweisen zu ermöglichen. Stärker therapieleitend für die meisten Patienten werden die Diagnosen bzw. Klassifikationen nach MASK-P sein (Klinger et al. 2000).

14.6.4 Implikationen

für die Weiterbehandlung Maßgebliche Ziele der Anamnese sind die Entscheidung über die weiteren therapeutischen Maßnahmen und die mögliche Planung einer psychologischen Weiterbehandlung. Oft sind Kombinationen von psychologischen und medizinischen Verfahren sinnvoll. Eine psychologische Weiterbehandlung kann eine primär symptomatische Zielsetzung haben, d. h. der Vermittlung psychologischer Verfahren zur direkten Schmerzbeeinflussung, zur Verarbeitung von Schmerzen und zum verbesserten Umgang mit körperlichen Beeinträchtigungen dienen. Psychologische Behandlung kann darüber hinaus auf die Therapie psychischer Störungen im Zusammenhang mit Schmerz gerichtet sein: Depressionen und Ängste als Reaktion auf Schmerz, als disponierende, aufrechterhaltende oder ätiologische Faktoren stellen (auch bei nachgewiesener somatischer Erkrankung) in der Regel eine Indikation für eine psychologische (Mit)behandlung dar. Dies gilt ebenso für Risikofaktoren, die bei einer ausschließlich somatischen Therapie körperlicher Probleme zu Komplikationen führen können (z. B. habituelle Überforderung der körperlichen Leistungsfähigkeit, unrealistische Erwartungen oder ausgeprägte Ängste bei operativen Eingriffen). > Die Anamnesedaten geben erste Hinweise für eine differenzierte Therapieindikation: Die Planung der weiteren psychologischen Behandlung und eine genauere Problembeschreibung orientieren sich zunächst an diesen Informationen, eine ständige Überprüfung im weiteren Verlauf ist notwendig.

269 Kapitel 14 · Schmerzanamnese

14.7

Motivationsblockaden und Motivierungsstrategien

Die in der Anamnese gewonnenen Informationen dienen u. a. der Entscheidung, ob eine psychologische Weiterbehandlung empfohlen wird und sinnvoll ist. Die Motivation auf Seiten des Patienten gilt dabei meist als Voraussetzung, sie wird als „0-1-Variable“ betrachtet: Ist sie vorhanden, umso besser für Patient und Psychologen, fehlt sie, hat der Patient „Pech gehabt“. Für den größten Teil unserer Schmerzpatienten wäre die psychologische Arbeit recht früh zu Ende, falls diese rigide Sichtweise beibehalten würde. In der Regel bestehen bei Schmerzpatienten diverse Vorbehalte gegen eine psychologische Behandlung. > Diese Motivationsblockaden zu explorieren und frühzeitig zu klären ist Voraussetzung für die Entwicklung einer tragfähigen therapeutischen Beziehung.

Ursachen können sein: 쎔 Informationsdefizite über Schmerz: Akuter

und chronischer Schmerz werden nicht unterschieden, es wird von „echten“ und „eingebildeten“ Schmerzen ausgegangen.

쎔 Informationsdefizite über die psychosoziale Versorgung: Die Unterschiede zwischen

Psychologe, Psychiater und Psychotherapeut sind meist nicht bekannt. 쎔 Regelmäßige Konnotationen im Zusammenhang mit Psychologie sind „anormal“, „geistig krank“ oder „verrückt“. 쎔 Zweifel an der Glaubwürdigkeit wurden bereits früher geäußert, Begriffe wie „Einbildung“, „Aggravation“ u. Ä. belasten die Beziehungen zu den Behandlern. Das erste und entscheidende Motivationshindernis besteht für die meisten Patienten in unrealistischen Vorstellungen und Erwartungen im Hinblick auf ein Verständnis ihres „Körpers als wartungsfreier Maschine mit unbegrenzter Lebensdauer“ (Franz 1990) und den damit verbundenen Konsequenzen für die Bewertung und Verarbeitung von Schmerz. Die ungenügende Exploration und Bearbeitung dieses Aspekts sind nach unserer Einschätzung eine wesentliche Ursache für oftmals fehlende Akzeptanz gegenüber psychologischen Maßnahmen oder gar für das Scheitern psycho-

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logischer Behandlungen. Die feste Überzeugung, dass ein körperlicher Defekt entweder mit ausschließlich medizinischen Mitteln oder überhaupt nicht mehr behebbar ist, lässt psychologische Verfahren zur verbesserten Bewältigung körperlicher Erkrankungen belanglos erscheinen, z. B.: 쎔 Patient: „Ich habe Verschleiß an der Wirbelsäule, der Arzt hat doch auch gesagt, das sind degenerative Veränderungen. Je mehr ich mich belaste und bewege, umso schlimmer wird es doch!“ 쎔 Psychologe: „Beim Auto ist es tatsächlich so, dass etwa die Kupplung, je öfter sie benutzt wird, umso schneller verschleißt und umso schneller abnutzt. Unser Körper ist zum Glück nicht mit einem Auto zu vergleichen. Knochen und Gelenke werden dann Probleme machen, wenn sie über- oder unterbelastet werden.Schonung über längere Zeit ist dabei ein sicheres Mittel, unseren Körper zu schädigen. Durch schrittweise zunehmende Beanspruchung und Belastung, also durch Training, können wir unsere Leistungsfähigkeit verbessern. Dabei haben viele Patienten das Problem, dass sie zwischen kurzzeitiger Überforderung und anschließender Resignation hin und her kippen. Oft ist es sinnvoll, die Hilfe eines Außenstehenden in Anspruch zu nehmen, um dieses Problem besser in den Griff zu bekommen.“ In der Auseinandersetzung mit möglichen somatischen Ursachen entwickeln einige Patienten Strategien der kognitiven Vermeidung: Ähnlich wie bei manchen Phobien wird die Auseinandersetzung mit dem „phobischen Reiz“, in diesem Fall der vermuteten körperlichen Erkrankung, nur graduell gesucht und bei steigender Angst abgebrochen. Oft werden medizinische Schlagworte oder bruchstückhafte Informationen, die miteinander sogar teilweise inkompatibel sind, gesammelt und je nach Situation als Erklärung in den Vordergrund gestellt. Im Unterschied zu einer (wünschenswerten) multifaktoriellen Sichtweise handelt es sich hier um multiple monokausale Konzepte. Medizinisch-anatomische

Grundkenntnisse

sind notwendig, um sich als Diagnostiker nicht völlig verwirrt zu fühlen: So ist es äußerst unwahrscheinlich, dass Kopfschmerzen, die seit 20 Jahren in gleichbleibender Intensität bestehen, mit einem Tumor zusammenhängen. Eine Hilfe für die Patienten kann darin bestehen, die vermuteten

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Teil III · Diagnostik

Ursachen konsequent zu Ende zu denken und zu möglichen logischen Widersprüchen zu kommen: Am Ende wird in der Regel deutlich, dass völlig unzusammenhängende Ursachen nebeneinander bestehen – z. B. der „Verschleiß an der HWS“, „Hormone, die mir fehlen“, „eingeklemmte Nerven“, „das Amalgam, das ich neben dem Gold im Mund habe“ und „die Vererbung durch meine Mutter“ gleichzeitig als Ursache für Migräneanfälle. > Eine heimliche Befürchtung ist meist zusätzlich ein Tumor.

Diese Ängste,Vermutungen und „Ahnungen“ werden erst auf gezielte Nachfrage hin geäußert, sie können, falls diese Aspekte übersehen werden, zu „unerklärlicher“ Stagnation in psychologischen Behandlungen führen, z. B.: 쎔 Patient: „Ich spüre das doch wirklich, ich kann mir das doch nicht einbilden.“ 쎔 Psychologe: „Es gibt keine körperliche Erkrankung ohne psychische Beteiligung. Der einzige zuverlässig schmerzfreie Zustand ist beim Menschen die völliger Ausschaltung seiner Psyche – die Vollnarkose. Umgekehrt gibt es keine seelischen Vorgänge, die nicht auch in irgendeiner Weise körperliche Folgen haben. Einige Ausdrücke beschreiben das recht gut. So sagt man etwa, „dem sitzt die Faust im Nacken“, wenn jemand unter starkem Druck steht, und viele Menschen haben in solchen Situationen tatsächlich Nackenschmerzen. Andere „beißen die Zähne zusammen“ und belasten dadurch die Gesichtmuskulatur.“ Ein kurzer Umweg mit dem Patienten zusammen kann aus dem Konflikt „somatisch oder psychisch“ herausführen. Nach einer systematische Sammlung der vom Patienten vermuteten körperlichen Ursachen können weitere Einflussfaktoren erfasst werden. Alle Einflüsse können dann entsprechend ihrer Gewichtung durch den Patienten zu einem „Kuchendiagramm“ auf 100 % zusammengestellt werden. Dadurch ist zum einen die Konzentration auf veränderbare Komponenten möglich, zum anderen kann die scheinbar statische „organische“ Ursache weiter differenziert werden. Wenn z. B. „die LWS“ mit 50 % angegeben wird, kann weitergefragt werden: „Was davon ist „Knochenmasse“, wie viel gestehen Sie der Muskulatur zu, welchen Anteil hat die Körperhaltung?“ etc., z. B.:

쎔 Patient: „Aber das bedeutet doch, dass ich versagt habe, wenn ich damit nicht fertig werde und eine Therapie beim Psychologen machen soll!“ 쎔 Psychologe: „Schmerz ist zunächst ein Warnsignal, Sie haben also völlig „gesund“ auf eine für Sie schwierige Situation reagiert. Würden Sie auf die Idee kommen, sich einen Blinddarm selbst herausoperieren zu wollen? Warum der Anspruch, eine schwierige Situation alleine ohne fachliche Hilfe lösen zu wollen, sich also an den eigenen Haaren aus dem Sumpf ziehen zu wollen? Meines Wissens gab es bisher nur einen, der das schaffte, und der hat noch dazu sein Pferd mit rausgezogen. Aber der hat ziemlich geflunkert. Sein Name war Münchhausen.“ Wichtige Bezugspersonen („beste Freundin“, erwachsene Kinder, Partner) haben gelegentlich schon „Tipps“ gegeben, die an dieser Stelle aufgegriffen werden können, z. B.: 쎔 Psychologe: „Sie sagten, dass Sie das beste Verhältnis zu Ihrer mittleren Tochter haben, dass die eher wie eine Freundin ist. Sie kennt Ihr Schmerzproblem ja schon lange, und Sie haben sicher schon einige Male darüber gesprochen, was Sie verändern müssten, damit es Ihnen besser geht. Was sagt sie denn zu Ihnen?“ 쎔 Patientin: „Na ja, sie meint, ich würde mich immer zu schnell verrückt machen.Außerdem sei ich zu nachgiebig gegenüber meinem Mann und würde alles schlucken. Sie hat mir mal gesagt, ich soll das mit einem Psychologen oder so durchsprechen.“ > Die Vermittlung von Informationen über Ursachen, Modelle und Einflussfaktoren auf Schmerz – auch als normale Variante menschlicher Reaktionen – ist in der Regel ein erster notwendiger Schritt, um Patienten zur weiteren psychologischen Behandlung zu motivieren.

Vermittelt werden sollten Informationen, die entlastend wirken: Die ausführliche Erklärung psychophysiologischer Zusammenhänge zwischen Stress, Anspannung und Schmerz bietet beispielsweise eine erfolgversprechende Ausgangsbasis. Die Einbettung der Erklärungen in den beruflichen/sozialen Kontext der Patienten und die gemeinsame Erarbeitung alltagsnaher Beispiele ist hierbei selbstverständlich.

271 Kapitel 14 · Schmerzanamnese

: Fallbeispiel Der 52-jährige Dreher und Fräser konnte nach einer chiropraktischen Behandlung wegen Armund Kreuzschmerzen vorübergehend seinen Kopf nicht mehr bewegen. Er klagte nun zusätzlich zu den alten Beschwerden über starke Kopfschmerzen. Eine mehrmonatige Krankschreibung, zunehmende Probleme am Arbeitsplatz und Angst vor Arbeitsplatzverlust waren die Folge, gleichzeitig setzte eine hartnäckige Suche nach dem,„was da kaputt gegangen ist“, ein. Der Patient war sehr aggressiv, muskulär erheblich angespannt, seine Werte im EMG-Biofeedback waren auffallend erhöht. Gleichzeitig entwickelte er starke depressive Symptome und körperbezogene Ängste. Auf die Frage nach bisherigen Behandlungen mit schmerzlinderndem Ergebnis fiel ihm kein Verfahren ein. Insbesondere die progressive Muskelentspannung sei für ihn unmöglich, er könne „überhaupt nicht entspannen“, wisse auch gar nicht, wie er sich dann fühlen solle, wenn er entspannt sei, er sei „ja eigentlich immer ein ruhiger Mensch“. Die Exploration ergab, dass er zum Ausgleich für seine körperlich anstrengende Tätigkeit als Freizeitimker aktiv war. Er könne stundenlang seinen Bienen zuschauen und fühle sich dabei ruhig und wohl. Auf detaillierte Nachfrage hin berichtete er, dass er selbst oft nicht spüre, wenn er „geladen“ sei. Er bemerke jedoch anhand der Häufigkeit, mit der ihn seine Bienen stechen, dass „etwas nicht in Ordnung“ mit ihm sei – wenn er z. B. Ärger in der Firma oder Krach mit Verwandten habe. Auch seine Frau schaue manchmal nur auf seine zerstochenen Arme und wisse dann schon, dass er wieder „nervös“ sei. Anhand dieser Information konnten mit ihm auf sehr anschauliche Art Bezüge zwischen psychischen und somatischen Vorgängen erarbeitet werden. Die Einflüsse von Angst und damit verbundener reflektorisch erhöhter Muskelspannung bei bereits ausgeheilter Verletzung waren für ihn nachvollziehbar. Direkt beobachtbares erwünschtes Verhalten ist ein überzeugender Ansatzpunkt zur Förderung einer differenzierten Wahrnehmung, der Entwicklung von Problembewusstsein und Unterstützung der Selbstwirksamkeitsüberzeugung bereits in der Anamnese. Patienten mit Rückenschmerzen eröffnen das Gespräch gelegentlich mit Bemerkungen wie „ich kann nur 10 Minuten sitzen“. Bei guter Konzentration und entspannter Gesprächsatmosphäre ist es für fast alle dieser Pa-

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tienten möglich, eine längere Zeit zu sitzen. Diese Information wird häufig negativ bewertet, als „Diskrepanz zwischen Aussagen und Verhalten“, als Hinweis auf Aggravation oder Simulation der Patienten. Tatsächlich handelt es sich um einen guten Ansatzpunkt für die Vermittlung der unterschiedlichen Aspekte von Schmerz: Bei seiner Bewertung unterschätzt der Patient, für ihn unmittelbar nachvollziehbar, seine tatsächlichen Fähigkeiten. Erwünschtes Verhalten kann so direkt aufgegriffen und verstärkt werden. Auch in einer späteren Behandlung zu bearbeitendes Problemverhalten sollte unmittelbar bei Auftreten „markiert“ werden.

: Fallbeispiel Die 47-jährige Patientin mit 2–3 Migräneanfällen pro Woche berichtete in der ersten Anamnesestunde von Selbstwertproblemen, Selbstabwertung und Ängstlichkeit. Dies sei ihr immer wieder von Mann und Tochter gesagt worden, sie selbst könne das nicht nachvollziehen. Tatsächlich bestand dieses Problem „lediglich“ in privaten Beziehungen. Im Beruf war die Patientin sehr gut durchsetzungsfähig und selbstsicher, ihre Professionalität und langjährige Erfahrung hatten ihr zu einer guten Position verholfen. Als Hausaufgabe bis zur zweiten Sitzung wurde sie gebeten, Situationen zu notieren, die ihr zu dieser Thematik während des Klinikaufenthalts auffielen. Sie zog zu Beginn des zweiten Termins einen Zettel aus der Tasche und begann mit den Worten: „Das ist sicher ganz dumm und auch nicht chronologisch, was ich mir da aufgeschrieben habe, aber ...“ Der Einstieg fiel für den Psychologen hier besonders leicht: „Können Sie bitte noch mal langsam zum Mitschreiben wiederholen, was Sie gerade gesagt haben?“ Die für die Patientin in dieser Situation direkt erlebbaren und damit einprägsam nachvollziehbaren Selbstwertdefizite standen in engem Bezug zur Auslösung und Verstärkung ihrer Kopfschmerzen. Sie begann eine ambulante psychologische Behandlung.

> Es ist ein Kunstfehler, sich während der Exploration auf Auseinandersetzungen darüber einzulassen, ob es sich um einen „organischen“ oder „psychischen“ Schmerz handelt. Der damit für die Patienten verbundene Angriff auf ihre Glaubwürdigkeit ist mit dem Aufbau einer

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Teil III · Diagnostik

vertrauensvollen Patient-Therapeut-Beziehung nicht vereinbar.

Sinnvoll kann es sogar sein, angebotene übersimplifizierende Vermutungen von Patienten über die möglichen psychischen Einflussfaktoren während dieser frühen Phase infrage zu stellen und mit der Exploration fortzufahren. Wichtig ist dieser Punkt u. a. bei „naiven“ Konzepten zur Entstehung von Krebs: Einige Patienten belasten sich zusätzlich dadurch, dass sie bei Krebserkrankungen nach der eigenen Verantwortung suchen („Ich habe oft gedacht, ich habe Magenkrebs, weil ich in meinem Leben so viel geschluckt habe“). Günstig für die Entwicklung einer tragfähigen Therapiemotivation, die auch die ersten Schwierigkeiten (z. B. Fragen der Kostenübernahme durch Krankenkassen, Suche nach einem Therapieplatz) übersteht, ist es, Ziele zu erarbeiten, die parallel zur unmittelbaren Schmerzreduzierung für den Patienten Bedeutung haben. Die Behandlungsbedürftigkeit beispielsweise einer Angststörung mit erheblichen Einschränkungen der Lebensqualität besteht unabhängig von damit verbundenen Kopfschmerzen. Wenn es gelingt, dies auch den Patienten zu vermitteln, ist ein wesentliches Hindernis für eine psychologische Behandlung beseitigt, können zu erwartende Stagnationen oder Rückschläge im therapeutischen Prozess und kann auch die zu erwartende und in den meisten Therapien immer wieder auftretende „Rivalität“ mit somatischen Krankheitskonzepten besser aufgefangen werden. Zur Vorbereitung der Überweisung zur ambulanten Psychotherapie, aber auch als Startpunkt für Behandlungen bei ambivalenter Motivation, hat es sich nach unserer Erfahrung bewährt, den Patienten als Hausaufgabe zur nächsten Stunde die Beantwortung von 2 Fragen „aufzugeben“: 쎔 Welche Gründe sprechen gegen eine Psychotherapie? 쎔 Was müsste sich in 6 Monaten in Ihrem Alltag als Folge der Behandlung ändern, damit Sie sagen würden, das war erfolgreich? > Diese Form der Vorbereitung hilft, die Motivation zu klären, Hindernisse frühzeitig zu erkennen und realistische Ziele zu entwickeln, die auch kurzfristige Durststrecken zu überwinden helfen.

14.8

Zusammenfassung

Wir haben uns an charakteristischen Patienten, Gesprächsverläufen, Schicksalen und Schwierigkeiten orientiert, denen wir bei unserer Arbeit täglich begegnen. Ziel unserer Darstellung war es, Themengebiete, Gesprächsinhalte, Strategien und Techniken darzustellen, die für diesen Tätigkeitsbereich kennzeichnend sind. Wir sind jedoch überzeugt, dass deren Kenntnis und Anwendung allein nicht ausreicht, um mit Patienten zu arbeiten, die häufig „schwierig“ sind. Die Therapeutenmerkmale Akzeptanz, Wohlwollen, Echtheit, Direktheit – und sehr viel Geduld – sind nach unserer Einschätzung in besonderer Weise gefordert, um mit den Patienten gemeinsam Wege aus den oft ausweglos erscheinenden Situationen zu finden. Diese Konstellation macht einen Teil der Faszination und Herausforderung im positiven Sinne aus. Auch wenn unsere eigene Frustrationstoleranz dabei manchmal überschritten wird und Resignation sowie Pessimismus einen festen Platz in unserem beruflichen Alltag haben: Wir erleben unsere Tätigkeit als sinnvoll, spannend und lohnend, wenn es gelingt, aus einem verwirrenden Puzzle von psychologischen, medizinischen und sozialen Informationen zu diagnostischen Schlussfolgerungen und therapeutischen Konsequenzen zu gelangen, die für unsere Patienten den Anstoß zu erfolgreichen Veränderungen geben.

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15

Schmerzmessung S. Lautenbacher

„Pain is whatever the experiencing person says it is, existing whenever he says it does ...“ (McCaffery 1972). Dieser Satz verweist auf das stark subjektive Moment des Schmerzes, das sich durch keinen Bezug auf einen Organbefund auflösen lässt und auch in den neuesten Definitionsversuchen erhalten geblieben ist. Um Schmerz zu messen, muss folglich ein psychischer Zustand quantifiziert werden. Die Schmerzmessung ist daher eine psychologische Aufgabe, die es valide und reliabel (verlässlich) zu erfüllen gilt. Anlass zur Schmerzmessung können auch Fragen in der Forschung sein, ist aber v. a. die therapieeröffnende, -begleitende und -evaluierende Schmerzdiagnostik.

15.1

Einführung

Ist die Beseitigung von erlittenen Schmerzen in weiten Bereichen der Medizin wichtigstes Motiv, professionelle Hilfe zu suchen, und wird sie häufig von Patienten als zentrales Ziel von Therapie eingefordert, sollten Schmerzdiagnostik und Schmerzmessung eigentlich bestens legitimierte Unterfangen sein. Trotz der offenkundigen Bedeutsamkeit des subjektiven Schmerzerlebens wurde aber immer wieder nach objektiven, also nicht vom Empfinden und vom Bericht des Patienten abhängigen Schmerzindikatoren in der Medizin gesucht. Die immer wieder replizierte Beobachtung, dass der strukturelle und/oder funktionelle Organbefund nicht erlauben, das Ausmaß von Schmerz zu erschließen (Gracely 1999b; Turk u. Marcus 1994), hat jedoch mittlerweile dazu geführt, dass die Schmerzdiagnostik und die Schmerzmessung in-

tegraler Bestandteil in der Schmerzbehandlung geworden sind. > Ähnliches gilt auch für die Untersuchung der Schmerzsensibilität. Auch hier können noch so ausgefeilte Methoden der Erfassung der peripheren und zentralen Nozizeption die Erfassung der Schmerzreaktion mit wahrnehmungspsychologischen Verfahren nur ergänzen, nicht aber ersetzen.

Warum bedarf es jedoch neben der Messung der klinischen Schmerzen noch der Induktion und Messung experimenteller Schmerzen beim Schmerzpatienten? Wie in Abb. 15.1 zu verdeutlichen versucht wird, ist bei der klinischen Schmerzmessung nur die Reaktionsseite hinlänglich gegeben und messbar. Wodurch die Reaktion zustande kommt, ist vielfach unklar, da über die Noxe und deren „neurogene“ und „psychogene“ Ausformung oder Substitution im Schmerzsystem meist wenig bekannt ist (die Begriffe „neurogen“ und „psychogen“ werden in Abgrenzung zu ihrer üblichen Bedeutung, die häufig noch von einer Dichotomie von Physiologie und Psychologie in der Schmerzgenese ausgeht, nur als zur Beschreibung verschiedener Verarbeitungsetappen im Schmerzsystem nützliche Termini verwendet). Das heißt, die Übertragungseigenschaften des Schmerzsystems und deren Störung bleiben bei der klinischen Schmerzmessung unbekannt. Dem kann mit der experimentellen Induktion und Messung von Schmerzen abgeholfen werden, da dort sowohl der Input (Reiz) in das als auch der Output (Reaktion) aus dem Schmerzsystem gegeben und messbar sind (Abb. 15.1). Bei Schmerzpatienten können daher mit der experimentellen Schmerzmessung die Übertragungseigenschaften des Schmerzsystems geprüft und beispielsweise regionale oder generalisierte Schmerzsensitivierungen, Amplifizierungstenden-

276

Teil III · Diagnostik

Abb. 15.1a, b. Schematische Darstellungen der Bedingungen bei der klinischen (a) und der experimentellen (b) Schmerzmessung (Schmerzsensibilitätsprüfung). Bei der klinischen Schmerzmessung sind die Eingangsgrößen (Input) in das und die Übertragungseigenschaften des Schmerzsystems größtenteils unbekannt. Die klinische Schmerzreaktion ist daher von einer unbekannten Interaktion von Eigengangsgrößen und Übertragungseigenschaften abhängig und somit uneindeutig. Bei der experimentellen Schmerzmessung sind die Eingangsgrößen bekannt, weil experimen-

tell produziert. Hier kann aus der experimentellen Schmerzreaktion auf die Übertragungseigenschaften des Schmerzsystems geschlossen werden. Werden mit der experimentellen Schmerzmessung zuerst die Übertragungseigenschaften erfasst, ermöglicht die klinische Schmerzmessung an der gleichen Person eindeutigere Rückschlüsse auf die Eingangsgrößen als vorher. Eine solche Dekomposition erlaubt nur die experimentelle Schmerzmessung, ist jedoch weder immer möglich noch notwendig

zen (Hypervigilanz) und Schmerzinhibitionsdefizite erfasst werden. Hierdurch wird es teilweise möglich, den klinischen Schmerz zu dekomponieren und die Beiträge der Noxe, der peripheren und zentralen Nozizeption sowie der psychischen Schmerzverarbeitung genauer festzustellen. Aus diesen Gründen sollen im Folgenden zuerst die Methodik der Prüfung der Schmerzsensibilität und dann die der Messung klinischer Schmerzen dargestellt werden.

sche Herangehensweise an das Schmerzsystem sinnvoll ist, da Schmerz doch auch Motiv, Emotion, Kognition und Verhalten ist. Es ist sicher richtig, dass Schmerz als Integration verschiedener psychischer Funktionen am besten verstanden wird.

15.2

Prüfung der Schmerzsensibilität

> Trotz der aus dieser Perspektive resultierenden Komplexität des gesamten Schmerzsystems kann eine sinnesphysiologische bzw. wahrnehmungspsychologische Messperspektive erste wichtige Hinweise auf die Funktionstüchtigkeit und die Funktionseigenschaften des Schmerzsystems liefern (Lautenbacher 1999).

15.2.1 Einführung

Bei der Prüfung der Schmerzsensibilität stellt sich prinzipiell immer wieder die Frage, ob eine sinnesphysiologische bzw. wahrnehmungspsychologi-

Dies gilt sowohl für komplexe Fragestellungen in der Schmerzforschung und der Schmerzdiagnostik als auch für die einfache diagnostische Routine. Man bedenke, dass bereits die Feststellung einer

277 Kapitel 15 · Schmerzmessung

erhöhten Druckschmerzhaftigkeit oft zentraler Bestandteil der Definition und Diagnose bestimmter rheumatischer und orthopädischer Erkrankungen ist. Die Fingerpalpation ist so selbstverständlich in der Schmerzuntersuchung, dass in ihr oft nicht die einfachste Form einer sinnesphysiologischen bzw. wahrnehmungspsychologischen Messperspektive auf den Schmerz gesehen wird. Doch schon hier sind alle wesentlichen Elemente dieser Messstrategie zu finden. Der Schmerz tritt nicht spontan auf, sondern wird zum Zweck der Untersuchung induziert. Der Untersucher beobachtet das offene oder verdeckte Verhalten des Patienten daraufhin, ob bestimmte, als schmerzindikativ angenommene Reaktionen auftreten. Der Zeitpunkt des Auftretens oder die Intensität der Reaktion geben dem Untersucher Hinweis auf die regionale oder – bei wiederholter Prüfung an verschiedenen Orten – generelle Reagibilität des Schmerzsystems. Die eben dargestellten Elemente dieser Messstrategie werden im Folgenden auf ihrem gegenwärtigen methodischen und technologischen Niveau dargestellt.

15.2.2 Schmerzinduktionstechniken

> Die gezielte Induktion von Schmerzen zum Zweck der Sensibilitätsprüfung muss exakt kontrollierbar sein – zum einen, um die Risiken für den Patienten zu minimieren und dessen Toleranzen zu respektieren, zum anderen, um physikalisch präzise angeben zu können, welcher Reizstärke der Patient ausgesetzt war (ArendtNielsen u. Lautenbacher 2004; Gracely 2006).

Letzteres ist unerlässlicher Teil der Schmerzsensibilitätsprüfung, da die exakte Reizkontrolle hier – im Gegensatz zur Messung klinischer Schmerzen – erlaubt, die subjektive, behaviorale oder physiologische Reaktion quantitativ auf den Auslöser, sprich die experimentelle Noxe, zu beziehen. Früher ist man größtenteils von der physiologischen und psychologischen Äquivalenz der verschiedenen Schmerzinduktionsmethoden aus-

gegangen, und es war daher eher die technische Verfügbarkeit, die über den konkreten Einsatz der verschiedenen Methoden entschied. > Heute ist bekannt, dass die verschiedenen Schmerzinduktionsmethoden

ganz

unter-

15

schiedliche Ergebnisse bezüglich der Schmerzsensibilität eines Individuums gewinnen lassen (Janal et al.1994).

Was erst eher als Fehlervarianz angesehen wurde, wird jetzt als systematische Unterschiedlichkeit verstanden, da die verschiedenen Schmerzinduktionsformen das Schmerzsystems in unterschiedlichen Teilen mit unterschiedlicher räumlicher Ausdehnung und zeitlicher Dynamik aktivieren: 쎔 So stimulieren Druckreize eher tiefer liegende Nozizeptoren, die auch spinal anders verschaltet sind und verarbeitet werden, während Hitzereize ihre Wirkung auf die Hautnozizeptoren beschränken (Rollman u. Lautenbacher 2001). 쎔 Das Eintauchen in eiskaltes oder heißes Wasser stimuliert größere Areale als die punktuelle Reizung mit einem Laserstrahl. 쎔 Die minutenlangen (tonischen) experimentell induzierten Ischämien eines Körperteils aktivieren andere primäre Afferenzen (größtenteils C-Nervenfasern) und stellen andere Verarbeitungsanforderungen an das Schmerzsystem als die millisekundenkurze (phasische) Stromstimulation mittels Elektroden (größtenteils Aδ-Nervenfasern). Die so bedingten Unterschiede bezüglich der aktivierten Afferenz- und Efferenzsysteme (deszendierende Schmerzinhibitionssysteme) sowie bezüglich der räumlichen und zeitlichen Summation nozizeptiver Signale sind auch mit unterschiedlichen subjektiven Schmerzqualitäten verbunden. Manche experimentellen Schmerzen wirken daher vertraut und wenig bedrohlich, während andere äußerst artifiziell und ungewohnt erscheinen. Je nach Fragestellung in Diagnostik und Forschung muss hier eine Auswahl getroffen werden. Tabelle 15.1 gibt einen Überblick über die gängigsten Verfahren zur Schmerzinduktion. In jüngster Zeit werden gerade die kurzfristig wirksamen Schmerzreize oft in Serien verabreicht, die zeitliche Summationseffekte erfassen lassen und als experimentelles Modell zentraler Sensitivierung gelten (Arendt-Nielsen u. Lautenbacher 2004). Wesentliche Kriterien einer guten Schmerzinduktionsmethodik sind: 쎔 kein Risiko einer Gewebeschädigung, 쎔 Wiederholbarkeit, 쎔 Auslösung einer eindeutigen Schmerzqualität,

278

Teil III · Diagnostik

쎔 präzise Reizkontrolle (Intensität, Zeit), 쎔 Anwendbarkeit an verschiedenen anatomischen Orten,

Ähnlich wie bei der Auswahl der richtigen Schmerzinduktionsmethode muss bei der Aus-

rapiebedingten Veränderungen.

wahl der Verfahren zur Erfassung der experimentellen Schmerzen bedacht werden, dass die unter-

쎔 Sensitivität gegenüber natürlichen sowie the-

Tabelle 15.1. Methoden zur Schmerzinduktion

a

15.2.3 Psychophysikalische Messgrößen

Physikalische Dimension

Methode

Mechanische Stimulation

Nadelstich, von Frey-Borsten

Mechanische Stimulation

Druck auf Muskelgewebe oder Knochena

Mechanische Stimulation

Quetschen von Hautfalten

Mechanische Stimulation

Dehnung von Viszera

Thermische Stimulation

Strahlungshitze (Infrarot, Laser)

Thermische Stimulation

Kontakthitze (PeltierElementeb, Heizstäbe, zirkulierende Flüssigkeiten)

Thermische Stimulation

Eiswasser

Thermische Stimulation

Kontaktkälte

Elektrische Stimulation

Transkutane Elektroden

Elektrische Stimulation

Intrakutane Elektroden

Elektrische Stimulation

Intramuskuläre Elektroden

Elektrische Stimulation

Dentale Elektroden

Chemische Stimulation

Kutane Anwendung von Capsaicin, Senföl etc.

Chemische Stimulation

CO2-Reizung der Nasenschleimhaut

Chemische Stimulation

Injektion von hypertoner Kochzalzlösung in die Haut oder den Muskel

Blockade der Gewebedurchblutung

Gewebeischämie, ausgelöst durch Blutdruckmanschette am Oberarm mit oder ohne Muskelarbeit

Häufig angewendete Methode mit kommerziell erhältlichen Stimulatoren mit manueller (Druckdolorimeter) oder computergesteuerter Bedienung. b Häufig angewendete Methode mit sehr gut kontrollierbaren, sicheren, kommerziell erhältlichen, aber kostenintensiven Stimulatoren (Kontaktthermoden) mit computergesteuerter Bedienung.

schiedlichen Messmethoden nicht äquivalent sind, sondern unterschiedliche Aspekte des Schmerzgeschehens abbilden. Dies gilt natürlich auch für die psychophysikalischen Verfahren, die in Tabelle 15.2 zur Übersicht dargestellt sind (Gracely 2006). > Das am häufigsten eingesetzte psychophysikalische Verfahren ist die Messung der Schmerzschwelle, also die Feststellung der minimalen physikalischen Stärke eines Reizes, die zuverlässig eine Schmerzreaktion auslöst.

Die Schmerzschwelle legt das untere Ende des Schmerzbereichs fest. Am oberen Ende des Schmerzbereichs liegt die Toleranzschwelle, definiert als die Reizstärke, die gerade eben noch als erträglich während einer Untersuchung zugelassen wird. Der Vorteil dieser Verfahren ist, dass sie in ihren Anforderungen für Untersucher wie Patient gleichermaßen einfach sind. Gerade der Stellenwert der Schmerzschwelle ist, obwohl häufig kritisiert, nach wie vor hoch, da die metrisch exquisiteren Alternativen Patienten mit geringerer Schulbildung, höherem Alter und eingeschränkter Sprachfähigkeit leicht überfordern. Trotzdem dürfen die Probleme nicht verschwiegen werden, die die Schwellenmessungen aufwerfen. Wesentlichste Einwände sind die mangelhafte Trennung von sensorischen, emotionalen und motivationalen Komponenten der Schmerzreaktion und ihre punktartigen Abbildungseigenschaften, die nur Anfang oder Ende des Schmerzbereichs abbilden. Da die Schmerz- und Toleranzschwellen in Reizstärkeeinheiten (Intensität oder Zeit) ausgedrückt werden, gelten sie als „stimulusabhängige“ Methoden (Arendt-Nielsen u. Lautenbacher 2004; Gracely 2006). Gängige psychophysikalische Prozeduren zur Feststellung der Schmerz- und Toleranzschwellen sind die Grenzwertmethode, die Herstellungsmethode und die Methode der konstanten Reize, wobei die ersten beiden Verfahren im klinischen Kontext am häufigsten angewendet werden. Für die wiederholte Messung von Schwellen, die eine zeitlich engmaschige Verlaufsmes-

279 Kapitel 15 · Schmerzmessung

15

Tabelle 15.2. Verfahren der psychophysikalischen Schmerzmessung (in dieser Tabelle werden nur die Verfahrenstypen zur Übersicht aufgelistet, weil die jeweiligen spezifischen Ausformungen und Verfahrenskombination in ihrer Vielzahl hier nicht mehr dargestellt werden können) Verfahren

Skalierung des Ergebnisses

Messbereich

Schmerzschwelle

Stimulusabhängig

Punktuell im unteren Schmerzbereich

Toleranzschwelle

Stimulusabhängig

Punktuell im oberen Schmerzbereich

Verbale Kategorialskala

Reaktionsabhängig

Gesamter Schmerzbereich

Nummerische Kategorialskala

Reaktionsabhängig

Gesamter Schmerzbereich

Visuelle Analogskala

Reaktionsabhängig

Gesamter Schmerzbereich

Größenschätzverfahren

Reaktionsabhängig

Gesamter Schmerzbereich

sung erlaubt, sind sog. Staircase- bzw.Trackingprozeduren entwickelt worden, bei denen die Reiz-

Eine weiteres Problem stellt die Auswahl geeigneter Skalenanker bzw. -markierungen dar.

stärken kontinuierlich in Abhängigkeit von den vorausgehenden Reaktionen schwellennah gehalten werden (Lautenbacher et al. 1989). Für die Erfassung der psychophysikalischen Zusammenhänge zwischen Reiz und Reaktion über den gesamten Schmerzbereich kann eine Reihe von Beurteilungsverfahren eingesetzt werden (Tabelle 15.2). Die meisten Beurteilungsskalen – z. B. visuelle Analogskalen, verbale und nummerische Beurteilungsskalen – eignen sich sowohl zur Beurteilung experimenteller als auch zur Beurteilung klinischer Schmerzen. Einzig die Größenschätzverfahren, die speziell zur psychophysikalischen Skalierung entwickelt wurden, können nur schlecht zur Beurteilung klinischer Schmerzen verwendet werden, weil sie Proportionalbeurteilungen verschiedener Schmerzstärken voraussetzen. Man muss sich bei der Auswahl von psychophysikalischen Beurteilungsverfahren immer im Klaren darüber sein, dass generelle Empfehlungen nicht sinnvoll sind. Steigern eine Erhöhung der kategorialen Auflösung, wie beispielweise beim Verfahren der Kategorienunterteilung auf mehrere Zehnerbereiche (Goebel 1992), oder gar der Übergang zur kontinuierlichen Messung, wie bei der visuellen Analogskala, potenziell die metrische Qualität eines psychophysikalischen Verfahrens, erhöhen sie jedoch auch die kognitiven Anforderungen an den Beurteiler und den Patienten (Rollman 1992). So kann das Beste für eine Gruppe von Beurteilern das Schlechteste für eine zweite Beurteilergruppe sein.

Beispielsweise hängt die individuelle Bedeutung eines verbalen Ankers am Ende der Skala „stärkst vorstellbarer Schmerz“ stark von den Vorerfahrungen sowie der aktuellen Stimmung und ggf. dem gegenwärtigen Schmerz ab. Folge sind interindividuell unterschiedliche Verteilungen von Schmerzurteilen auf einer Schmerzskala trotz ähnlicher Schmerzen. > Das Problem der interindividuell unterschiedlichen Skalenausnutzung kann verringert werden, indem offene Skalen ohne verbale Skalenanker und -markierungen verwendet werden.

Bei diesen Verfahren bleibt jedoch häufig unklar, welche absoluten Schmerzstärken die Skaleneinheiten abbilden. Zudem ist ihre Anwendung nur möglich und sinnvoll bei psychophysikalisch kompetenten Beurteilern. In der klinischen Praxis kann diese Kompetenz jedoch oft nicht kurzfristig hergestellt werden. Da bei allen eben dargestellten Verfahren das Ergebnis in Skaleneinheiten der Beurteilung vorliegt, werden sie auch als „reaktionsabhängige“ Methoden bezeichnet. Die Eindimensionalität des zu beurteilenden Schmerzes muss dabei nicht impliziert sein, da die meisten Beurteilungsverfahren durch entsprechende Instruktionen, Skalenbezeichnungen und -markierungen mehrdimensional eingesetzt werden können. So ist der parallele Einsatz zweier visueller Analogskalen zur Messung von Schmerzsensorik und -affekt mittlerwei-

280

Teil III · Diagnostik

le gängige Praxis in psychophysikalischen Experimenten (Price et al. 1987). Spezialverfahren in der Schmerzpsychophysik, die hier nur benannt, aber nicht diskutiert werden können, sind (Gracely 2006): 쎔 Methoden der Signalentdeckungstheorie (alternativ: sensorische Entscheidungstheorie), 쎔 Forced-choice-Verfahren, 쎔 Methoden der funktionellen Schmerzmessung.

15.2.4 EEG, evozierte Hirnpotenziale

und bildgebende Verfahren Die Zeiten, in denen man subjektive Schmerzparameter sowohl in der experimentellen als auch in der klinischen Schmerzmessung am liebsten vermeiden und durch objektive, die nicht auf dem Erleben des Patienten basieren, ersetzen wollte, sind glücklicherweise vorbei. Die Messung subjektiver Schmerzparameter hat sich allerseits zur anerkannten Disziplin gemausert (Gracely 1999). Trotzdem sind physiologische Reaktionen auf experimentelle Schmerzreize natürlich interessant, wenn das Gesamt an nozizeptiven Prozessen erfasst werden soll. > Viele vegetative und endokrine Reaktionen sind jedoch sehr unspezifisch und zeigen eher den mit dem Schmerz assoziierten Stress als den Schmerz selbst an. Daher verschwinden sie auch oft trotz des Persistierens des subjektiven Schmerzerlebens, wenn der Schmerz seine Neuartigkeit verloren hat (Gracely 2006).

Geht es jedoch um die Interaktion von Schmerz mit Angst, Aktivierung, Stress und Immunreaktion sind vegetative und endokrine Reaktionsgrößen sicherlich relevant, aber größtenteils nur im Rahmen von Forschungsprojekten zu erheben. Ein besonders interessanter physiologischer Indikator von Schmerz ist der nozifensive Beugereflex (R-III-Reflex), der mittels elektrischer Reizung des N. suralis ausgelöst und über die Reaktion des M. biceps femoris quantifiziert wird (Skljarevski u. Ramadan 2002).Die Korrelation mit subjektiven Indikatoren der Schmerzsensibilität ist gut, und durch die Existenz supraspinaler Einflüsse ist der Reflex auch nicht nur Spiegel spinaler nozizeptiver Reagibilität. Mitunter kommt es jedoch zur Dissoziation von subjektiver Schmerzempfindlichkeit und R-IIIReflex, weil bei letzteren doch die spinale Regula-

tion überwiegt. Trotzdem böte sich der R-III-Reflex als eine Alternative zu den schmerzevozierten Hirnpotenzialen bei der Untersuchung von Patienten an, bei denen subjektive Indikatoren der Schmerzsensibilität aufgrund sprachlicher oder kognitiver Defizite oder anderer kommunikativer Probleme nicht zu gewinnen sind (Gracely 2006). Jedoch kann auch der nozifensive Beugereflex nur in elektrophysiologischen Speziallabors erhoben werden. Schon seit einiger Zeit werden Hirnpotenziale infolge schmerzhafter Reize untersucht (ArendtNielsen 1997; Treede et al. 1995). Diese nach ihrem häufigsten Ableitungsort „Vertexpotenziale“ genannten schwachen Potenzialschwankungen, die nur durch entsprechende Mittelungsverfahren sichtbar gemacht werden können, zeigen in ihrer Amplitude eine enge Korrelation mit der empfundenen Schmerzintensität und gelten daher als „Schmerzpotenziale“. Tatsächlich sind die Potenziale unterhalb der Schmerzschwelle in ihrer Form kaum anders als oberhalb und nur durch ihre größere Amplitude unterscheidbar. Außerdem weisen sie eine hohe intra- und interindividuelle Variabilität auf. Die schmerzevozierten oder vorsichtiger schmerzkorrelierten Hirnpotenziale mit Latenzen zwischen 80 und 1400 ms sind sicherlich Korrelate des Schmerzerlebens, spiegeln aber nicht eindeutig dessen funktionelle neuronale Grundlage wider. Hiergegen spricht auch, dass die schmerzevozierten Hirnpotenziale gegenüber Aufmerksamkeits- und Habituationseffekten sowie parallel ablaufenden motorischen Prozessen sehr empfindlich sind, was beim zeitgleich gemessenen subjektiven Schmerzempfinden nicht zu beobachten ist (Gracely 2006). Eine weitere Einschränkung ist die methodisch begründete Notwendigkeit nur artifizielle Schmerzreize verwenden zu können. Die Reize müssen alle sehr kurz und mit präzise kontrollierbarem und feststellbarem Beginn und Ende sein, die in möglichst unvorhersagbaren Intervallen verabreicht werden müssen, um reliabel Potenziale auszulösen. > Die Messung schmerzevozierter Hirnpotenziale ist trotz der beschriebenen methodischen Einschränkungen und der schwierigen Quellenanalysen zur Ortung des zerebralen Sitzes der Potenzialgeneratoren sicherlich eine wertvolle Spezialmethode, die Aufschlüsse über die strukturelle und funktionelle Integrität der nozizeptiven Bahn- und Verarbeitungssysteme erlaubt und daher bei ausgewählten Patienten zur Anwendung kommen sollte.

281 Kapitel 15 · Schmerzmessung

Der Nachweis zentraler nozizeptiver Prozesse bei dauerhafterer experimenteller Stimulation ist im Prinzip mit der Elektroenzephalographie (EEG) möglich. Die mit dieser Technik erhobenen Befunde waren aber bislang recht unspezifisch und variabel (Huber et al. 2006). Bessere Ergebnisse versprechen in diesem Zusammenhang natürlich die Magnetenzephalographie (MEG), die Positronenemissionstomographie (PET) und die funktionelle Kernspintomographie (fMRI; Casey u. Bushnell 2000; Tracey 2005).Unter experimenteller Schmerzstimulation konnten mit diesen Techniken die kortikalen und subkortikalen Schmerznetzwerke mit den Schaltstellen somatosensorischer Kortex I und II, Inselkortex, anteriorer und posteriorer Gyrus cinguli, Thalamus und Zerebellum entdeckt oder bestätigt werden. PET-Analysen erlauben auch die Darstellung von schmerzrelevanten Botenstoffen und Medikamenten im Gehirn. Dies gelang jedoch in wissenschaftlichen Untersuchungen an gesunden Personen und Patienten. Für die diagnostische Prüfung der Schmerzsensibilität oder der Stärke klinischer Schmerzen sind diese geräte-, personal- und kostenintensiven Methoden noch nicht geeignet. > Die Prüfung der Schmerzsensibilität ist immer dann angezeigt, wenn Veränderungen in den Übertragungscharakteristika im Schmerzsystem vermutet werden. Solche Veränderungen können beispielsweise regional durch entzündliche Prozesse und überregional durch eine amplifizierende Schmerzwahrnehmung in Folge bestimmter psychischer Erkrankungen zustande kommen. Bei jeder Prüfung der Schmerzsensibilität von der einfachen Fingerpalpation bis zur hochtechnisierten Schmerzinduktion mittels Laser sind exakte Reizkontrolle und genaue Reaktionsmessung oberstes Gebot, um Aussagen über die Übertragungscharakteristika machen zu können. Nur dadurch gewinnt die Prüfung der Schmerzsensibilität Wert als Ergänzung der klinischen Schmerzmessung, bei der in der Regel immer nur die Reaktionsseite gegeben und messbar ist.

15.3

Messung klinischer Schmerzen

15.3.1 Einführung

Standen bis in die 1980er Jahre noch kaum deutschsprachige Testverfahren zur Messung kli-

15

nischer Schmerzen zur Verfügung – sodass der Diagnostiker auf seinen klinischen Blick, schmerzdiagnostische Eigenentwicklungen oder nicht überprüfte Übersetzungen englischsprachiger Verfahren angewiesen war –, so hat er heute oft die Qual der Wahl (Kröner-Herwig 1995).

> Die Auswahl muss sich an der diagnostischen Fragestellung einschließlich des interessierenden Schmerzaspekts, der zur Verfügung stehenden Zeit und den sprachlichen sowie kognitiven Kompetenzen des Patienten orientieren.

Kennt man diese Anwendungsbedingungen nicht, sind Empfehlungen schwierig. Metrisch und testtheoretisch ausgezeichnete Verfahren können im gegeben Fall klinisch irrelevant oder den Möglichkeiten des Patienten unangemessen sein. Daher wird hier empfohlen, dass sich der Anwender anhand der meist zur Verfügung stehenden testtheoretischen Qualitätsdaten bei der Verfahrenauswahl ein Bild darüber verschaffen muss, ob die Durchführungs- und Auswertungsobjektivität, die Reliabilität, die Validität und die Normierung ausreichend sind. Hierbei gilt es jedoch zu beachten, dass Untersuchungsverfahren keine unabänderlichen Qualitätsdaten aufweisen, sondern diese immer nur für einen bestimmten Anwendungskontext gelten. Weiterhin muss auch die Kommunizierbarkeit der Ergebnisse als Kriterium gelten, sodass manchmal eingeführte und etablierte Verfahren trotz metrischer und testtheoretischer Schwächen besseren, aber noch völlig unbekannten Neuentwicklungen vorzuziehen sind. > Ein multidimensionales Herangehen bei der Schmerzmessung ist mittlerweile Pflicht, weiß man doch, dass die verschiedenen Dimensionen des akuten und chronischen Schmerzes nur schwach korrelieren.

Der im klinischen Alltag häufige zeitliche und ökonomische Druck können hier jedoch zu Kompromissen zwingen. Versucht man die verschiedenen Dimensionen des Schmerzes aus diesem Grund theoretisch und metrisch unter ein Dach zu zwingen, wie dies mit Konzepten wie Lebensqualität und allgemeiner Krankheitswirkung versucht wird, führt dies nicht selten zu heterogenen Itempools und in der Folge zu Summenscores mit mangelhafter Reliabilität (Williams 2001).

282

Teil III · Diagnostik

Bei der Anwendung von klinischen Schmerzmessverfahren ist immer zu beachten, auf welchen Zeitpunkt und welches Zeitfenster sich die Schmerzmessung bezieht. So wird zwischen akuten und chronischen sowie zwischen gegenwärtigen, typischen und durchschnittlichen Schmerzen unterschieden, was verschiedene Variablen ausgliedert und somit die Messwerte beeinflusst (Latham 1994). Oft werden hierzu jedoch schwierige kognitive, v. a. übertriebene mnestische Anforderungen an den Patienten formuliert. Den typischen oder den durchschnittlichen Schmerz anzugeben, mag für einen Patienten mit nahezu konstanten Schmerzbeschwerden einfach sein, ist aber bei stark variierenden Beschwerden – seien dies spontane oder aktivitätsinduzierte Variationen – eine manchmal kaum lösbare Aufgabe. > Sobald das Gedächtnis des Patienten gefordert ist, um Schmerzangaben zu machen, können alle potenziellen Verzerrungen und Störungen beim Einprägen, Speichern und Abruf in das Schmerzurteil eingehen. Man denke nur an die häufig berichtete Abhängigkeit der Erinnerung früherer Schmerzen vom aktuellen Schmerzniveau (Turk u. Markus 1994).

pochondrischen Patienten häufig und besonders ausgeprägt sein können (Lautenbacher u. Rollman 1999). Natürlich gibt es noch andere Formen und Gründe von unbeabsichtigter und beabsichtigter Aggravation, fehlerhafter Ursachenattribution, Verharmlosung etc. Eine besonders schwierige Situation kann sich ergeben, wenn die Schmerzmessung Teil einer Begutachtung ist, weil dort häufig handfeste sekundäre Interessen Untersucher und Patienten leiten. Einige brauchbare Tipps zur Schmerzdiagnostik und -messung unter diesen Bedingungen finden sich in einer Buchveröffentlichung von Kügelen u. Hanisch (2001). Auf die sich noch in den Anfängen befindende Entwicklung von klinischen Schmerzmessverfahren für Personen mit Sinnesstörungen kann hier nicht weiter eingegangen werden. Es seien hier nur beispielhaft erste Versuche zur Schmerzmessung mit taktilen Analogskalen (TAS) für Blinde erwähnt (Piovesan et al. 2001). Die Möglichkeiten, Probleme und Methoden bei der Erfassung von Schmerzen bei Personen mit kognitiven Einschränkungen werden unter 15.3.11 erörtert.

15.3.2 Messung

Des Weiteren gilt es anatomisch zu klären, welcher Schmerz in der Messung bezogen wird. Man bedenke dabei, dass bei chronischen Patienten multilokuläre Schmerzen eher die Regel als die Ausnahme sind.Wenn in solchen Fällen nur eine Messskala vorgelegt wird, könnte der Patient gezwungen werden, willkürlich einen Schmerzort auszuwählen, von dem er glaubt, dass er in der gegebenen Situation besonders „relevant“ ist. Oder er versucht sich an einer Art von Summen- oder Durchschnittswert aus verschiedenen Schmerzor