Opioide in der Medizin [6., aktualisierte u. erw. Aufl.] 9783540408123, 3540408126 [PDF]

Opioide gelten als die wirkstärksten Analgetika, die in der Schmerztherapie und Anästhesie verwendet werden. Für den gez

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Opioide in der Medizin [6., aktualisierte u. erw. Aufl.]
 9783540408123, 3540408126 [PDF]

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Enno Freye Opioide in der Medizin 7. aktualisierte und erweiterte Auflage

Enno Freye Opioide in der Medizin 7. aktualisierte und erweiterte Auflage

Enno Freye

Opioide in der Medizin 7. aktualisierte und erweiterte Auflage Mit 311 Abbildungen

Professor Dr. med. Enno Freye Deichstraûe 3a 41468 Neuss-Uedesheim

ISBN-13 978-3-540-46570-6, 7. Auflage Springer Medizin Verlag Heidelberg ISBN 3-540-40812-6, 6. Auflage Springer-Verlag Berlin Heidelberg New York

Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet uÈber abrufbar. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschuÈtzt. Die dadurch begruÈndeten Rechte, insbesondere die der Ûbersetzung, des Nachdrucks, des Vortrags, der Entnahme von Abbildungen und Tabellen, der Funksendung, der Mikroverfilmung oder der VervielfaÈltigung auf anderen Wegen und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. Eine VervielfaÈltigung dieses Werkes oder von Teilen dieses Werkes ist auch im Einzelfall nur in den Grenzen der gesetzlichen Bestimmungen des Urheberrechtsgesetzes der Bundesrepublik Deutschland vom 9. September 1965 in der jeweils geltenden Fassung zulaÈssig. Sie ist grundsaÈtzlich verguÈtungspflichtig. Zuwiderhandlungen unterliegen den Strafbestimmungen des Urheberrechtsgesetzes. Springer Medizin Verlag springer.de c Springer Medizin Verlag Heidelberg 1999, 2004, 2008 Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten waÈren und daher von jedermann benutzt werden duÈrften. Produkthaftung: FuÈr Angaben uÈber Dosierungsanweisungen und Applikationsformen kann vom Verlag keine GewaÈhrung uÈbernommen werden. Derartige Angaben muÈssen vom jeweiligen Anwender im Einzelfall anhand anderer Literaturstellen auf ihre Richtigkeit uÈberpruÈft werden. Planung: Ulrike Hartmann und Dr. Anna KraÈtz, Heidelberg Copy-Editing: Michaela Mallwitz, Tairnbach Layout und Einbandgestaltung: deblik Berlin Satz: Hagedorn Kommunikation, Viernheim SPIN: 11816034 Gedruckt auf saÈurefreiem Papier

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Vorwort zur 7. Auflage

Vorwort zur 7. Auflage In den letzten Jahren hat es zahlreiche Neuerungen auf dem Gebiet der Opioide in der Medizin gegeben, die nun eine Neuauflage erforderlich machen. So wurde Kap. 17 »Opioide in der Langzeittherapie chronischer Schmerzen« auf den neuesten Stand gebracht, und die am Horizont sich abzeichnenden galenischen Neuformulierungen zur Therapie chronischer Schmerzen sind detailliert in Kap. 18 besprochen. Zwei Vertreter haben es schon bis zur Marktreife gebracht: das osmotische Tablettensystem mit einer kontinuierlichen Freisetzung von Hydromorphon uÈber 24 h und die Kombination von Oxycodon/Naloxon, wodurch eine opioidbedingte Obstipation besser beherrscht werden soll. Indem der Antagonist waÈhrend des Firstpass-Effektes durch die Leber inaktiviert wird, gelangt zur Wirkungsvermittlung nur der Agonist an die zentralen Bindestellen. Es werden beide transdermalen Matrixsysteme, das DurogesicSMAT mit einer Wirkdauer von 72 h und das TranstecPro mit einer Wirkdauer von 92 h mit ihren jeweiligen Vor- und Nachteilen gegenuÈbergestellt. Die Unterschiede in den zahlreichen Generika werden erlaÈutert. Des Weiteren wird das Matrixpflaster mit 7 Tagen Wirkungsdauer, die missbrauchsresistente Retardtablette und das Titanimplantat mit einer bis zu 12 Monate anhaltenden Opioidfreisetzung besprochen. Auch das Sufentanilpflaster hat gute Aussichten auf eine Marktzulassung. Der Bereich »Gender und Schmerz« (Kap. 22) wurde wegen der Bedeutung einer zwischen den Geschlechtern differenzierenden Therapie erweitert und die Besonderheiten der Schmerzchronifizierung und der Schmerztherapie mit Opioiden bei Frauen hervorgehoben. Es ist zu hoffen, dass in Zukunft eine Therapieoptimierung bei den weiblichen Patienten erreicht wird. Des Weiteren ist das Thema »Opioide und das Immunsystem« (Kap. 32) erweitert worden, um auf die immunsuppressive Wirkung der Opioide hinzuweisen. Der Toleranzentwicklung wurde ein eigenes Kapitel gewidmet (Kap. 29). Last but not least musste aufgrund der AktualitaÈt ein weiteres neues Kapitel hinzugefuÈgt werden: »Morphin, gleichwertiger Ersatz fuÈr andere hochwirksame Opioide der Stufe III?« (Kap. 36). Dies wurde notwendig, weil die Schmerztherapeuten durch Schreiben ihrer KV »aufgefordert« wurden, die Patienten auf das preisguÈnstigere Morphin umzustellen bzw. von Anfang an nur mit Morphin zu therapieren. Hier wird die angebliche Position von Morphin als Goldstandard richtiggestellt, und den praktisch taÈtigen Kollegen werden sowohl juristische als auch pharmakologische Argumente in die Hand gegeben, das nach neuestem Stand der Erkenntnisse optimale Opioid fuÈr den individuellen Patienten zu verordnen. DuÈsseldorf im FruÈhjahr 2008

Prof. Dr. med. Enno Freye

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Hinweis fuÈr den Leser

Hinweis fuÈr den Leser Die Literatur ist kapitelweise geordnet (Anhang C) und wird im Text mit Zahlen in eckigen Klammern zitiert. GegenuÈber der Literatur der 5. Aufl. erscheinen die seinerzeit in der 6. Aufl. neu hinzugekommenen Literaturstellen im Text mit Autoren und Jahreszahl.

VII

Inhaltsverzeichnis

Inhaltsverzeichnis 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28

Der Schmerz, Teil des protektiven Systems . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Neurophysiologische Grundlagen des Schmerzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hinterhorn des RuÈckenmarks ± Ort der Modulation nozizeptiver Afferenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Neurophysiologische Grundlagen chronischer Schmerzen . . . . . . . . . . . . . . . . Supraspinale Schmerzleitung und Schmerzverarbeitung . . . . . . . . . . . . . Rationale zur Opioidtherapie bei Schmerzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Opioidwirkung abhaÈngig von AffinitaÈt, intrinsischer AktivitaÈt und Lipophilie . . . . Rezeptorinteraktion von Agonisten, Antagonisten und partiellen Agonisten . . Wirkungen und Nebenwirkungen der Opioide . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Antitussive Wirkung der Opioide . . . . . . . Sucht- und AbhaÈngigkeitspotenzial der Opioide . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Opioide und Nausea ± Emesis . . . . . . . . . . Opioide und Muskelstarre (RigiditaÈt) . . . . Opioide und gastrointestinale Hemmung (Obstipation) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Opioide und kardiovaskulaÈre Wirkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Postoperativer Einsatz von Opioiden . . . . Opioide in der Langzeittherapie chronischer Schmerzen . . . . . . . . . . . . . . . . Transdermale Opioide und andere spezielle Applikationsformen von Opioiden bei chronischen Schmerzen . . . Opioide im Rahmen der AllgemeinanaÈsthesie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Pharmakokinetik der Opioide: Bedeutung fuÈr den praktischen Einsatz . . Interaktionen der Opioide mit anderen Pharmaka . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Opioide, Gender, Sex und Schmerz ± geschlechtsspezifische Unterschiede . . . . . Schmerz und Opioide bei Kindern und Neugeborenen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Einsatz der Opioide bei alten Patienten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Analgesie mit Opioiden bei Unfallverletzten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Opioide in der Intensivmedizin . . . . . . . . . Neuroaxialer, ruÈckenmarknaher Einsatz von Opioiden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Opioidantagonisten, gemischtwirkende Agonisten/Antagonisten und partielle Agonisten . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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. 13 . 23 . 29 . 33 . 39 . 45

29 Toleranzentwicklung und Hyperalgesie unter chronischer Opioideinnahme . . . . . 30 Opioide mit peripherem Angriffsort ± klinische Bedeutung . . . . . . . . . . . . . . . . . 31 Endogene Opioide (Endorphine, Enkephaline) sowie Exorphine (exogene Opioidpeptide) und b-Caseomorphine . . 32 Opioide und das Immunsystem . . . . . . . . 33 Der opiatabhaÈngige Patient . . . . . . . . . . . 34 Opioidnachweis durch Bedsidetests oder Sticks . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35 Opiatentzug in Narkose . . . . . . . . . . . . . . 36 Morphin ± gleichwertiger Ersatz fuÈr andere hochwirksame Opioide der Stufe III? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37 »Poor metabolizers« und »Ultra-rapid metabolizers« im Rahmen einer Opioidtherapie ± klinische Bedeutung . .

. 55 . 79 . 81 . 87 . 91

. 125

. 169 . 193 . 229 . 237 . 243 . 255 . 271 . 281 . 285 . 295

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. . 345 . . 357 . . 363 . . 397 . . 411

. . 419

. . 431

Anhang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 437 A

BetaÈubungsmittel-Verschreibungsverordnung (BtMVV) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 437

B

Alphabetische Reihenfolge der in Deutschland gebraÈuchlichsten Agonisten und Antagonisten sowie einiger Opioide im Ausland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 445

C

Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 449

D

Sachverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 511

. 95 . 99 . 105

. . 319

1 Der Schmerz, Teil des protektiven Systems 1.1

Auswirkungen akuter Schmerzen auf den Organismus ± 1

1.2

Ursachen fuÈr eine ungenuÈgende Schmerztherapie. Die 11 Mythen ± 3

Der Schmerz ist eine unangenehme und emotional stark gefaÈrbte sensorische Empfindung, die mit einer realen oder potenziell gefaÈhrlichen GewebszerstoÈrung einhergeht. Er ist dabei jedoch ein integrierter Teil unseres Lebens, der uns vor moÈglicherweise gefaÈhrlichen thermischen, mechanischen oder chemischen Noxen schuÈtzt, indem er unsere Aufmerksamkeit auf den Insult richtet, damit eine weitere SchaÈdigung der IntegritaÈt des Organismus vermieden wird. Dabei ist Schmerz, akut oder chronisch, der Hauptgrund dafuÈr, dass Patienten einen Arzt aufsuchen, dessen wichtige Aufgabe es ist, eine Chronifizierung zu verhindern, damit der Schmerz nicht uÈber den Zeitpunkt einer zellulaÈren LaÈsion hinaus aktiv wird und zu einer Erkrankung »sui generis« wird. Der Mechanismus der Schmerzentstehung ist recht komplex, denn das Schmerzempfinden wird vom jeweiligen emotionalen Zustand des Patienten, dem Erkrankungsstadium, den individuellen Schmerzerfahrungen, den soziokulterellen Unterschieden und von dem jeweiligen hormonellen Status beeinflusst, sodass eine sofortige klinisch exakte Diagnose nicht immer moÈglich ist. WaÈhrend 1/3 der WeltbevoÈlkerung unter akuten, wiederkehrenden oder chronischen Schmerzen leidet und das jeweilige nationale Gesundheits- und Sozialsystem durch Krankenhausaufenthalte, Arbeitsausfall und ErwerbsunfaÈhigkeit extrem belastet wird, kann nur 50 % der Patienten,

die wegen unertraÈglicher Schmerzen den Arzt aufsuchen, ausreichend geholfen werden. 1.1

Auswirkungen akuter Schmerzen auf den Organismus

Der Schmerz als Warnsymptom, das die Aufmerksamkeit des Individuums auf die verletzte Stelle richtet, damit eine weitere SchaÈdigung vermieden wird und schuÈtzende Maûnahmen ergriffen werden, kann ein derartiges Ausmaû annehmen, dass die als Schutzmaûnahmen gedachten koÈrperlichen Reaktionen uÈberhand nehmen und das Individuum zusaÈtzlich belasten. So fuÈhren Schmerz und Angst uÈber eine AktivitaÈtssteigerung des adrenergen Systems zu einer AusschuÈttung von Adrenalin und Noradrenalin. Gleichzeitig werden uÈber die Achse Kortex-Hypothalamus-Adenohypophyse-ACTH die Gluko- und Mineralokortikoide aus der Nebenniere ausgeschuÈttet. Vom Hypophysenhinterlappen werden unter der den Schmerz begleitenden Stressreaktion die Hormone ADH (antidiuretisches Hormon) und STH (somatotropes Hormon) freigesetzt. Alle diese Abwehrreaktionen fuÈhren im kardiovaskulaÈren System zu folgenden VeraÈnderungen: 4 Hypertonie, 4 Tachykardie, 4 Vasokonstriktion (peripher und im Splanchnikusgebiet), 4 vermehrte Herzarbeit, 4 gesteigerte kardiale Erregbarkeit,

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Kapitel 1  Der Schmerz, Teil des protektiven Systems

4 Zunahme des myokardialen O2-Bedarfs (MVO2). Zu diesen durch die Hormone der Nebenniere ausgeloÈsten Herz-Kreislauf-Wirkungen treten humorale VeraÈnderungen hinzu: 4 Vermehrung des Blutvolumens, 4 Zunahme der BlutviskositaÈt, 4 HyperglykaÈmie (Glukokortikoid- und Adrenalinwirkung), 4 MilchsaÈureuÈberschuss (HyperlaktataÈmie), 4 Anstieg der freien FettsaÈuren im Blut (Noradrenalinwirkung), 4 verminderte Na‡-Auscheidung und 4 vermehrter K‡-Verlust (Aldosteronwirkung). Neben diesen hormonellen VeraÈnderungen, die dem akuten Schmerz dicht folgen, sind es besonders die in der postoperativen Phase auftretenden Schmerzen, die schaÈdliche Folgen haben, weil sie FunktionsstoÈrungen von Organen und Organsystemen bewirken:

4 Immunosuppression, die auf einer Freisetzung von Glukokortikoiden uÈber einen langen Zeitraum basiert und in eine erhoÈhte AnfaÈlligkeit fuÈr bakterielle und virale Erkrankungen muÈndet (. Abb. 1-1). 4 Gesteigerte VulnerabilitaÈt des myokardialen Erregungs- und Leitungssystems bis hin zum Ventrikelflimmern. 4 Pulmonale Dysfunktionen sind eine der hauptsaÈchlichen postoperativen Komplikationen, insbesondere nach thorakalen und intraabdominellen Eingriffen [1, 2]. Hierbei kommt es neben einer unzureichenden Ventilation und einer daraus resultierenden Ventilations-Perfusions-StoÈrung mit Hypoxie auch zu einem ungenuÈgenden Abhusten, wodurch Atelektasen auftreten und sich eine Pneumonie aufpfropfen kann. 4 Zirkulatorische und metabolische Dysfunktionen fuÈhren zu einem erhoÈhten Herzschlag-

. Abb. 1-1. Ineinandergreifen von ungenuÈgender

Analgesie und die FolgezustaÈnde im Immunsystem

1.2  Ursachen fuÈr eine ungenuÈgende Schmerztherapie. Die 11 Mythen

volumen, Blutdruck und Metabolismus sowie zu einem gesteigerten O2-Verbrauch. 4 Gastrointestinale und urologische Komplikationen entstehen durch reflektorische MotilitaÈtshemmung, sodass sich Ûbelkeit und Emesis bis hin zum Ileus entwickeln, waÈhrend eine durch Schmerzen ausgeloÈste reflektorische HypomotilitaÈt der harnableitenden Wege und der Blase zu Harnretention fuÈhrt. 4 Reflektorische Vasokonstriktionen fuÈhren nach Eingriffen im Bereich der groûen Gelenke zu InaktivitaÈtsatrophie und Gelenkversteifung [3]. 4 Thrombosen entstehen nach operativen Eingriffen an den unteren ExtremitaÈten bei ungenuÈgender postoperativer Analgesie [4]. Erschwerend hinzu kommen die hormonell induzierte BlutviskositaÈtszunahme und eine gesteigerte Fibrinolyse sowie Thrombozytenaggregation [3]. 4 Chronifizierung von Schmerzen aufgrund elektrophysiologischer und morphologischer VeraÈnderungen im nozizeptiven System, die das eigentliche Schmerzereignis uÈberdauern (Katz 1992). Letztere sind spaÈter sehr schwer mit dem eigentlichen Entstehungsmechanismus in Verbindung zu bringen (Wall 1988), und das Schmerzgeschehen, welches die gesamte Aufmerksamkeit des Individuums beansprucht, verselbststaÈndigt sich und muÈndet schlieûlich, trotz Behebung des ausloÈsenden Faktors, in ein chronisches Schmerzverhalten. Der chronifizierte Schmerz schlieûlich

3

hat seinen eigentlichen Sinn als Schadensmelder verloren, er begleitet den Patienten uÈber Jahre und Jahrzehnte [5±7]. Der Schmerz hat als Krankheit sui generis zu gelten und muss entsprechend behandelt werden. 1.2

Ursachen fuÈr eine ungenuÈgende Schmerztherapie. Die 11 Mythen

Weil der Schmerz in vielen FaÈllen nicht verhindert werden kann, ist es eine der vordringlichsten Aufgaben der Medizin, sich des Schmerzes in seinen vielfaÈltigsten Erscheinungsformen sowie der moÈglichen Therapiekonzepte anzunehmen. FuÈr die Behandlung von Schmerzen stehen Analgetika zur VerfuÈgung, wobei insbesondere »zentrale« Analgetika ± die Opioide ± eine Gruppe darstellen (. Abb. 1-2), die im therapeutischen Schmerzkonzept nicht nur eine »zentrale« Stellung einnimmt, sondern auch die wirkungsvollsten Pharmaka in der Therapie des Schmerzes sind. Dieser Hinweis erscheint umso dringlicher, als die Verschreibung von Analgetika, insbesondere die von Opioiden, aufgrund gesetzlicher Bestimmungen in den vergangenen Jahren nicht unbedingt erleichtert, sondern erschwert wurde [8]. Deutschland nimmt, im Vergleich zum umliegenden Ausland in Westeueropa, aufgrund der AufklaÈrung uÈber den chronifizierten Schmerz und seine Therapie mittlerweile zwar eine Mittelstellung ein, was die Verschreibung des BetaÈubungsmittels Morphin betrifft ein. Im internationalen Vergleich

. Abb. 1-2. Ûbersicht der zur Schmerzbehandlung eingesetzten Analgetika

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Moprhin in kg pro Mio. Einwohner

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Kapitel 1  Der Schmerz, Teil des protektiven Systems

Jahre . Abb. 1-3. Zunehmender Morphineinsatz in Deutschland im Zeitraum 1991±2004.

(Quelle: International Narcotics Control Board)

landet Deutschland jedoch immer noch auf einem der hinteren PlaÈtze, was ursaÈchlich nicht nur an der BetaÈubungsmittelverschreibungsverordnung (BtMVV) liegt (. Abb. 1-3 und . 1-4). Immerhin hat diese Verordnung in den vergangenen Jahren dazu gefuÈhrt dass: 4 eine Verfestigung von Vorurteilen eintrat, 4 eine Stigmatisierung der Patienten, die Opioide erhielten, die Folge war, 4 Schmerzpatienten den DrogenabhaÈngigen gleichgesetzt wurden, 4 immer noch ein enormer Aufwand noÈtig ist, was das AusfuÈllen, Aufbewahren und Anfordern (»die 3 As«) der Rezepte betrifft. Dies sind alles GruÈnde, die eine ausreichende Schmerztherapie eher verhindern, statt sie zu foÈrdern. Andererseits besteht bei niedergelassenen Allgemein- und auch FachaÈrzten immer noch Unkenntnis daruÈber, wie mit der Gruppe der Opioide ausreichend therapiert werden kann. Als ErklaÈrung wird v. a. die oft zitierte AbhaÈngigkeitsentwicklung als Vorwand fuÈr eine mangelnde Versorgung mit Schmerzmitteln herangezogen, die darin gipfelt, dass der erwartete Nutzen gegenuÈber dem Risiko einer Suchtentwicklung in Frage gestellt wird [9]. Die Gefahr der AbhaÈngigkeit besteht bei einer Opioiodtherapie nicht, wenn einfache Richtlinien wie feste Einnahmezeiten eingehalten werden,

d. h. wenn vorbeugend nach der Uhr ± bevor der Schmerz durchbricht ± die retardierte Form des Opioids verabreicht wird, die eine konstante Konzentration im Plasma garantiert, und wenn der Patient dahingehend aufgeklaÈrt wird, dass ohne groûe Nebenwirkungen oder gar BewusstseinseinschraÈnkungen auch uÈber jahrelange BehandlungszeitraÈume hinweg keine Sucht ausgeloÈst wird. Dem Patienten ist auch zu erklaÈren, dass seinem individuellen Schmerzniveau angepasste, entsprechend stark wirkende Opioide eingesetzt werden koÈnnen. Dieser AufklaÈrungsbedarf besteht nach wie vor, weil bei einer repraÈsentativen Umfrage der EMNID immer noch zahlreiche Vorurteile und Mythen gegenuÈber starken Schmerzmitteln vorherrschen, die eine angemessene Behandlung verhindern. So halten etwa 13 % der Befragten chronische Schmerzen fuÈr eine Alterserscheinung, die man ertragen muÈsse, 3 % glauben sogar, Dauerschmerzen seien Einbildung und psychisch bedingt, und nur 30 % schaÈtzen chronische Schmerzen als eine eigenstaÈndige Erkrankung ein, die behandelt werden muss. Die Mehrzahl der Befragten (60 %) ist jedoch der Meinung, bei chronischen Schmerzen muÈsse man die Grunderkrankung behandeln, und fast 1/3 glaubt faÈlschlicherweise, dass Opioide Drogen sind, die die Sinne betaÈuben und suÈchtig machen. Es sind jedoch 59 % der BuÈrger davon uÈberzeugt, dass Opioide bei Patienten mit starken Schmerzen ein-

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1.2  Ursachen fuÈr eine ungenuÈgende Schmerztherapie. Die 11 Mythen

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Morphin in kg pro Mio. Einwohner . Abb. 1-4. Morphinverbrauch in kg/Mio. Einwohner in Westeuropa aus dem Jahr 2004. (Quelle: International Narcotics Control Board)

gesetzt werden sollten, obgleich hiervon 34 % solche Substanzen nur fuÈr Krebspatienten im Endstadium anwenden wuÈrden. Weil 70 % der Tumorpatienten im fortgeschrittenen Stadium Schmerzen als Hauptsymptom angeben, koÈnnten hiervon 90 % schmerzfrei oder schmerzaÈrmer sein, wenn sie adaÈquat behandelt wuÈrden. In Deutschland leiden die Tumorpatienten mitunter an schweren Schmerzen, weil ihnen die noÈtigen Schmerzmittel versagt werden. Hingegen sind in England, wo die Opioide auf normalen Rezepten verschrieben werden, 90 % der Tumorpatienten schmerzfrei. Nach Zimmermann [10] geht bei Ørzten, Pflegern und Patienten das »Schreckgespenst von Sucht und LebensverkuÈrzung durch Opioide« um. Aus diesem Grund werden von den schaÈtzungsweise 100.000 Krebspatienten mit Schmerzsymptomatik in Deutschland weniger als 10 % ausreichend mit Opioiden versorgt. Von den Mythen uÈber Opioide kursieren die unterschiedlichsten Varianten, die der Arzt bei der Beratung des Patienten auszuraÈumen hat: Mythos 1: Opioide deprimieren die Atmung und sind deshalb zu gefaÈhrlich, um sicher eingesetzt zu werden.

Fakt ist, dass die Atmedepression zwar eine gefaÈhrliche Nebenwirkung darstellt, diese jedoch klinisch bei Patienten nicht auftritt, wenn die Opioiddosis der SchmerzintensitaÈt entsprechend verordnet, eingenommen und nach der Wirkung titriert wird. Mythos 2: Opioide fuÈhren zur Sucht (zur psychischen AbhaÈngigkeit) und stellen ein Problem bei der Therapie des Patinten mit einem Opioid dar. Fakt ist, dass eine echte Suchtentwicklung, bei entsprechender Indikation und bei Einnahme sog. retardierter Formen des Opioids, ein sehr seltenes Ereignis ist und uÈberbewertet wird. Mythos 3: Unter Opioideinnahme kommt es sehr schnell zur Toleranzentwicklung, sodass die Dosis stetig erhoÈht werden muss. Fakt ist, dass eine Toleranzentwicklung nur langsam einsetzt, in den meisten FaÈllen nicht zu verzeichen und ein hoÈherer Bedarf zum groÈûten Teil auf ein Fortschreiten der Grunderkrankung zuruÈckzufuÈhren ist. Mythos 4: Opioide fuÈhren zu einer unkontrollierbaren Obstipation.

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1

Kapitel 1  Der Schmerz, Teil des protektiven Systems

Fakt ist, dass die Obstipation zwar ein universelles Problem jeglicher Opioidtherapie darstellt, diese jedoch beherrschbar ist. Die opioidbedingte Obstipation darf kein Grund sein, dem Patienten ein Opioid vorzuenthalten. Mythos 5: Der groÈûte Teil der Patienten unter einer Opioidtherapie benoÈtigt prophylaktisch ein Antiemetikum. Fakt ist, dass Nausea und Emesis gewoÈhnlich nur voruÈbergehende Nebenwirkungen darstellen, die innerhalb der ersten Tage einer Therapie sistieren. Mythos 6: Eine starke Sedierung und VerwirrtheitszustaÈnde sind wiederholt auftretende Nebenwirkungen. Fakt ist, dass bei korrekter Verabreichung der Opioide bei mittleren und starken Schmerzen in den seltensten FaÈllen Sedierung und VerwirrtheitszutaÈnde zu verzeichnen sind. Mythos 7: Nur kurzwirkende Opioide von 3±6 h Wirkungsdauer stellen das ideale Analgetikum zur Beherrschung mittlerer und starker Schmerzen dar.

Fakt ist, dass kurzwirkende Opioide eher zur Toleranzentwicklung fuÈhren, der Patient die notwendige wiederholte Einnahme vergisst und deshalb Schmerzen durchbrechen. Mit der kontrollierten Freisetzung eines Opioids uÈber 12 oder 24 h bestehen solche Nebenwirkungen nicht. Mythos 8: Die kontrolliert freisetzende Form eines Opioids ist nur fuÈr den Tumorpatienten angebracht. Fakt ist, dass die kontrolliert freisetzende Form eines Opioids bei allen Formen mittlerer und schwerer Schmerzen angebracht ist, sodass hiervon auch Patienten mit starken Schmerzen, wie sie bei der Osteoarthritis, der rheumatoiden Arthritis oder bei neuropathischen Schmerzen bestehen, profitieren koÈnnen. Mythos 9: Dosisanpassung und praÈzise Titration nach Wirkung sind bei der kontrolliert freisetzenden Form der Opioide sehr schwierig. Fakt ist, dass bei opioidnaiven Patienten mit der niedrigsten Dosis begonnen und innerhalb von 1±2 Tagen schnell bis zur effektiven Dosis in festen

. Abb. 1-5. Schematische Darstellung der peripheren Nozizeptoren und die Wirkungsweise antipyretischer Analgetika (AA ArachidonsaÈure, PG Prostaglandine)

1.2  Ursachen fuÈr eine ungenuÈgende Schmerztherapie. Die 11 Mythen

ZeitabstaÈnden hochtitriert werden kann, wobei eine DosiserhoÈhung um 25±50 % sich an der vorangegangenen Dosis orientiert. So genannten Durchbruchschmerzen ist mit einer schnell freisetzenden Galenik zu begegnen. Mythos 10: Schwere Schmerzen bei einer Krebserkrankung koÈnnen nur mit der parenteralen Verbreichung eines Opioids erfolgreich bekaÈmpft werden. Fakt ist, dass die orale Einnahme eines Opioids nach Angaben der WHO, unabhaÈngig von der Schwere der Erkrankung, allen anderen Applikationsformen vorzuziehen ist. Sollte eine orale Aufnahme nicht moÈglich sein, wird die rektale oder transdermale Applikationsform gewaÈhlt. Mythos 11: Die Konzentration eines Opioids im Plasma korreliert eng mit dem analgetischen Niveau. Fakt ist, dass eine exakte Korrelation zwischen der Konzentration im Plasma und der Analgesie nicht besteht. Je besser verstanden wird, wie und auf welchem Wege Schmerzen entstehen und wie Schmerzen optimal zu behandeln sind, desto eher laÈsst sich auch ein wirkungsvoller therapeutischer Ansatzpunkt finden. So dient die HaÈlfte aller Haut-

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nervenfasern der Schmerzleitung, wobei die Reizaufnehmer (periphere Nozizeptoren) thermisch (WaÈrme oder KaÈlte), mechanisch (Stoû, Druck) oder chemisch (SaÈuren, Laugen) aktiviert werden koÈnnen. Dies wird beispielsweise bei einem der haÈufigsten Schmerzen im Bereich des Bewegungsapparates, dem Rezeptorschmerz mit seiner Warnfunktion, am besten verstaÈndlich: Infolge von Noxen wie Quetschung, Zerrung, EntzuÈndung sowie thermischer oder elektrischer SchaÈdigung treten am Ort der Verletzung sog. algetische Substanzen auf, die die peripheren Nozizeptoren (freie Nervenendigungen) erregen (. Abb. 1-5). Die Nozizeptoren werden direkt durch Traumata (z. B. Stich, Schlag) oder indirekt durch verschiedene Kinine wie z. B. Bradykinin, Kallidin und T-Kinin oder Prostaglandin E (koÈrpereigene Stoffe, die durch EntzuÈndung oder SchaÈdigung von Gewebe vermehrt freigesetzt werden) erregt. Durch Hemmung des Enzyms Cyclooxygenase (COX), das die Synthese von Prostaglandin aus ArachidonsaÈure steuert, ist eine periphere analgetische Wirkung zu erreichen. Es ist aber auch hinreichend nachgewiesen worden, dass diese Analgetika auûerdem eine zentrale Wirkung ausuÈben [11].

1

2 Neurophysiologische Grundlagen des Schmerzes 2.1

Unterschiedliche SchmerzqualitaÈten

± 10

Bei der ZerstoÈrung, EntzuÈndung oder SchaÈdigung von Zellen werden sog. algetische Stoffe ausgeschuÈttet wie freie Radikale (NO), Prostanoide (Prostaglandin D, E, F, I, Leukotriene), Thromboxan, Purine (Adenosin, Adenosintriphosphat), Serotonin, Tachikinine (Substanz P, Neurokinin A, B), Histamin, Kinine (Bradykinin, Kallidin und T-Kinin) sowie Kationen (H‡- und K‡-Ionen) (. Abb. 2-1). Alle diese Substanzen werden als »Suppe von EntzuÈndungsmediatoren«

bezeichnet, die alle zusammen mehr oder weniger nicht nur die EntzuÈndung weiter unterhalten, sondern auch zur AusloÈsung von Schmerzen fuÈhren. Prostaglandin E2 (PGE2) nimmt hierbei eine SchluÈsselstellung ein, denn dieser Stoff muss vor einer Erregung vorhanden sein, weil er die peripheren Schmerzrezeptoren fuÈr weitere Neurotransmitter, die dann erst am Nozizeptor des afferenten Neurons eine Schmerzempfindung ausloÈsen, sensibilisiert. Zu den Substanzen, die dann

. Abb. 2-1. Unspezifische Blockade durch nichtsteroidale Antirheumatika (NSAR) und/oder Glukokortikoide auf die bei einer EntzuÈndung aktivierte Synthese der Prostanoide

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2

Kapitel 2  Neurophysiologische Grundlagen des Schmerzes

ein Schmerzempfinden auszuloÈsen imstande sind, zaÈhlen u. a.: 4 Histamin, 4 Acetylcholin, 4 Serotonin, 4 die Kinine wie Bradykinin, Kallidin und T-Kinin. Histamin loÈst erst in relativ hohen Konzentrationen eine Schmerzempfindung aus, waÈhrend Acetylcholin bereits in niedrigen Konzentrationen die Schmerzrezeptoren fuÈr andere Mediatoren sensibilisiert. In Verbindung mit anderen Mediatoren, insbesondere PGE2, das allein unwirksam ist, werden Schmerzen ausgeloÈst. Auch Serotonin nimmt in der Gruppe der schmerzerzeugenden Mediatoren eine zentrale Stellung ein. Lokale, an den Nozizeptoren nachzuweisende Bradykinin-B1- und -B2-Rezeptoren sind maûgeblich an einem lokalen EntzuÈndungsschmerz und an einer spaÈter sich entwickelnden neuropathischen Hyperalgesie beteiligt. Der B1-Rezeptor liegt normalerweise im gesunden Gewebe nicht vor, und erst nach einer Gewebeverletzung oder uÈber entzuÈndungsbedingte Cytokine, insbesondere den Tumornekrosefaktor a (TNF-a) und Interleukin 1b (IL-1b), kommt es zu seiner Exprimierung. Der B2-Bradykininrezeptor kann dagegen an den peripheren Nozizeptoren und sowohl in den peripheren als auch zentralen Ganglien nachgewiesen werden. Er ist besonders an der chronifizierten Phase von EntzuÈndungsschmerzen und bei der Schmerzreaktion beteiligt. Im Anschluss an die B2-Rezeptoraktivierung kommt es uÈber eine intrazellulaÈre Aktivierung des Enzyms Proteinkinase C (PKC) zur AktivitaÈtzunahme der Cyclooxygenase 2 (COX-2) und zur Produktion sowie zur Freisetzung von Prostaglandin E2 (PGE2). Da die Prostanoide sowohl bei der GewebeschaÈdigung als auch bei einer EntzuÈndung vermehrt gebildet werden, wobei besondere dem Prostaglandin E2 eine zentrale Rolle bei der Schmerzvermittlung zuteil wird, sind sie auch maûgeblich am Dauerschmerz beteiligt. Sie erregen jedoch die Nozizeptoren nicht direkt, sondern sensibilisieren sie, wodurch andere Mediatoren verstaÈrkt einwirken. Andererseits werden bei einer PGE2-Aktivierung auch vermehrt Na-KanaÈle gebildet, die nach Depolarisierung eine zentrale Rolle bei der Generierung und der Weiterleitung von nozizeptiven Afferenzen spielen. WaÈhrend LokalanaÈsthetika wie Lidocain und Procain solche vermehrt aktivierten Na-KanaÈle blockieren koÈnnen, stellt die Hemmung der Prostaglandinsynthese durch Cyclooxygenasehemmer (COX-1/2-

Hemmer) ein wichtiges analgetisches Wirkprinzip dar, das insbesondere bei peripher bedingten SchmerzzustaÈnden einen zentrale Stellung einnimmt. Die bei der Prostglandinsynthese notwendigen Isoenzyme, das COX-1 und das COX-2, katalysieren die Prostaglandinsynthese. Sie stellen deshalb den Hauptangriffspunkt der nichtsteroidalen Antirheumatika (NSAID) dar. COX-1 ist ein konstitutives Enzym, was bedeutet, dass es fuÈr die physiolgischen Funktionen notwendig ist, waÈhrend das Enzym COX-2 ein induziertes Enzym darstellt, welches durch EntzuÈndungen uÈberexprimiert wird. Viele der bekannten NSAID wie z. B. Aspirin oder Diclofenac inhibieren nichtselektiv sowohl COX-1 als auch COX-2, waÈhrend die SelektivitaÈt anderer NSAID recht unterschiedlich ist. Dagegen stellen PraÈparate wie Refecoxib (Vioxx), Celecoxib (Celebrex) und die Prodrug Parecoxib (Dynastat), die intermediaÈr zu dem aktiven Valdecoxib umgewandelt wird, Substanzen mit sehr hoher COX-2-SelektivitaÈt dar. Dies ist insofern von Bedeutung, als aufgrund der SelektivitaÈt das konstitutiv taÈtige COX-1 nicht inhibiert wird, sodass die sonst bekannten Nebenwirkungen wie Magen-Darm-Ulzerationen, Blutbildungs- und NierenfunktionsstoÈrungen, insbesondere bei langfristiger Einnahme, nicht zu erwarten sind. Die fuÈr Prostaglandine und andere Mediatoren empfindlichen Endorgane, die Nozizeptoren, sind keine besonders ausgebildeten Rezeptororgane, sondern einfache Nervenendigungen, sodass auch durch Druck auf die sensible Nervenfaser eine Erregung ausgeloÈst wird. Bei chronischer Irritation nehmen die Nervenendigungen jedoch die Eigenschaft von Rezeptoren an, die intrazellulaÈr uÈber das zyklische Aminomonophosphat (cAMP) maûgeblich an einer peripheren Sensitivierung und einer in diesem Areal entstehenden Hyperalgesie beteiligt sind. 2.1

Unterschiedliche SchmerzqualitaÈten

Bereits in der Peripherie, also am Beginn der Schmerzbahn, koÈnnen hemmende, aber auch stimulierende RuÈckkopplungsreize entstehen. So werden Schmerzrezeptoren im Muskelgewebe besonders dann erregt, wenn Serotonin und Prostaglandin vorhanden sind. Bradykinin selber foÈrdert hierbei die Prostaglandinsynthese. Dies erklaÈrt die erniedrigte Schmerzschwelle in EntzuÈndungsgebieten. Die sich daran anschlieûende Schmerzafferenz kann in unterschiedliche qualitative Merkmale untergliedert werden:

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2.1  Unterschiedliche SchmerzqualitaÈten

1. OberflaÈchenerstschmerz. Er ist stechend, hell, kurz und kann gut lokalisiert werden. 2. OberflaÈchenzweitschmerz. Er ist zeitlich etwas verzoÈgert, dauert laÈnger an, ist dumpf und kann schlecht lokalisiert werden. 3. Eingeweide- oder Viszeralschmerz. Er ist dumpf bis kolikartig, kann schlecht lokalisiert werden und ist von vegetativen Sensationen begleitet. 4. Tiefenschmerz in subkutanen Regionen wie Muskeln, Gelenken und Knochen. Er ist dumpf und strahlt in die Umgebung aus. Diese verschiedenen SchmerzqualitaÈten werden uÈber 2 Fasertypen zum RuÈckenmark geleitet: 4 die Ad-Fasern, die relativ schnell (15±20 m/s) den OberflaÈchenschmerzreiz leiten, und

4 die C-Fasern, die die uÈbrigen SchmerzqualitaÈten leiten und durch eine langsame Leitung (1 m/s) charakterisiert sind (. Abb. 2-2). Die Umschaltung der peripheren, sensiblen Afferenzen (Ad-und C-Fasern) des 1. Neurons auf das 2. Neuron (Tractus spinothalamicus und Tractus spinoreticuaris) erfolgt im Hinterhorn des RuÈckenmarks, der Substantia gelatinosa. Hier enden die schnellen Ad-Fasern in den Laminae II, III und IV, waÈhrend die langsameren C-Fasern in den Laminae I und II enden [12]. Transmitter an den Synapsen dieser Dendriten ist das Neuropeptid Substanz P. Substanz P ist ein Undekapeptid und besteht aus 11 AminosaÈurensequenzen, das bei Reizung auch retrograd zu den freien peripheren Nervenenden wandert, an denen es freigesetzt wird und zu einer RoÈtung der Haut fuÈhrt. Diese

absteigende Fasern (5HT, NA)

–––– Interneurone

. Abb. 2-2. Segmentale Ûbertragung der Schmerzafferenz uÈber C- und Ad-Fasern im Hinterhorn des RuÈckenmarks, wo eine Schmerzmodulation durch deszendierende Fasern und Interneuronen mit endogenen Peptiden (Enkephalinen) stattfindet 5HT Serotonin; NA Noradrenalin

2

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2

Kapitel 2  Neurophysiologische Grundlagen des Schmerzes

Transmission vom 1. auf das 2. Neuron stellt ein Regulations-, Modulations- und Entscheidungszentrum dar. Denn die aus den verschiedenen Segmenten einlaufenden ReizintensitaÈten werden hier gesammelt, integriert und modelliert. ZusaÈtzlich erfolgt uÈber die von hoÈheren Hirnarealen deszendierenden Bahnen (Tractus corticospinalis, Tractus reticulospinalis), die als ÛbertraÈgersubstanz Serotonin oder Noradrenallin verwenden (serotoninerge Bahnen) und uÈber lokale endorphinerge Neuronen (Endorphine, Enkephaline) einwirken, eine Hemmung der einschieûenden Afferenzen; die Schmerzschwelle wird erhoÈht (. Abb. 2-2). Die Enkephaline hemmen hierbei die Freisetzung von Substanz P sowie die anderer exzitatorischer Transmitter (z. B. Glutamat, »calcitonin-gene-related pepetide«; CGRP) und damit die ErregungsuÈbertragung. Hierin ist auch der Wirkmechanismus eines analgetischen Effekts spinal oder peridural applizierter Opioide begruÈndet, die an den gleichen Rezeptoren angreifen. Der Tractus spinoreticularis, der an beiden Seiten des RuÈckenmarks uÈber die Formatio reticularis bis zu den intralaminaÈren Kernen des rechten und linken Thalamus projeziert, uÈbernimmt die Aufgabe einer Weckreaktion auf einen Schmerz (»arousal«) sowie die Verarbeitung der Schmerzen durch Verbindungen zum anterioren Kortex, zum Gyrus cynguli und Strukturen des limbischen Systems (Nucleus amygdalea und Hypothalamus). WaÈhrend vom limbischen System emotionale Reaktionen wie Angst und autonome Reaktionen auf den Schmerz ausgeloÈst werden, werden vom anterioren Kortex Erfahrungen auf den Schmerz abgerufen, und der Gyrus cynguli dient dazu, die negativen Empfindungen auf den Schmerz durch die Freisetzung endogener Opioide zu verringern. Der Tractus spinothalamicus sendet seine Fasern zum Hirnstamm (Medulla und Mittelhirn), wo er mit den Synapsen des venteroposterioren und den intrathalamischen Kernen des Thalamus Verbindung aufnimmt. Vom Thalamus schlieûlich ziehen Fasern zu der primaÈren somatosensorischen Region (S1 und S2) des Kortex. Von dieser Region ziehen Fasern zu den hinteren, parietalen Anteilen des Kortex und enden schieûlich im Nucleus amygdalea, dem perirhinalen Kortex und dem Hippocampus. Es ist wichtig festzuhalten, dass die Fasern des Tractus spinothalamicus hauptsaÈchlich aus sog. »wide dynamic range« Neuronen und spezifischen Schmerzneuronen zusammengesetzt sind. Hierdurch koÈnnen unterschiedliche Dimensionen und SchmerzintensitaÈten vermittelt werden, sodass

das System, bei langanhaltender Reizung, zur Weiterleitung mehr Afferenzen als urspruÈnglich akquirieren kann. Ob die von den spezifischen schmerzleitenden Fasern ausgeloÈsten Afferenzen der maûgebliche Faktor fuÈr das Empfinden von Schmerzen sind, wird von enigen Forschungsgruppen in Frage gestellt. Nach einer Theorie von Melzack (Melzack u. Wall 1995) ist Schmerz das Endergebnis eines uÈber den ganzen Organismus verteilten neuronalen Netzwerkes, sodass Schmerz von der individuellen koÈrpereigenen Neuromatrix bestimmt ist und weniger das Ergebnis eines direkten Inputs von geschaÈdigten sensorischen Nervenfasen ist. Immerhin konnte diese Theorie beim sog. Phantomschmerz, der nach Amputationen in bis zu zu 70 % der FaÈlle auftritt, bestaÈtigt werden, indem kortikale Reorganisationen zu einer deutlichen Schmerzverringerung fuÈhrten. GrundsaÈtzlich ist jedoch festzuhalten, dass bei einer ungenuÈgenden Schmerzunterbrechung und Schmerzlinderung, wie sie insbesondere bei Operationen aufteten koÈnnen, die postoperative MorbiditaÈt und MortalitaÈt ansteigt [699, 700, 701]. Hierbei spielen hormonelle und nozizeptivadaptive Prozesse mit beginnender Schmerzchronifizierung eine bedeutsame Rolle. Es ist deshalb schon vor dem Eintreffen nozizeptiver Afferenzen eine ausreichende Blockade in den schmerzleitenden und schmerzverarbeitenden Systemen des RuÈckenmarks, des Hirnstamms und der subkortikalen Zentren anzustreben, weil ein Bambardement von afferenten Schmerzinformationen zu neuronalen VeraÈnderungen in den verschiedensten Regionen des ZNS fuÈhrt.

3 Hinterhorn des RuÈckenmarks ± Ort der Modulation nozizeptiver Afferenzen 3.1

VerstaÈrkung und Chronifizierung von Schmerzen ± 13

3.2

Glutamatrezeptoren, pronozizeptives Rezeptorsystem ± 14

3.3

Stickstoffmonoxid, Mediator fuÈr chronische Schmerzen ± 19

3.4

Deszendierendes antinozizeptives System ± 21

3.5

Reflektorische Schmerzsyndrome ± 22

3.1

VerstaÈrkung und Chronifizierung von Schmerzen

Das Hinterhorn des RuÈckenmarks kann als das Tor angesehen werden, durch das nozizeptive Reize durchtreten muÈssen, um zu den hoÈheren supraspinalen schmerzverarbeitenden Zentren im ZNS zu gelangen. Es ist aber auch das Tor, an dem eine Modulation ankommender Schmerzimpulse im Sinne einer Verminderung bzw. VerstaÈrkung stattfindet. WaÈhrend allgemein akzeptiert wird, dass Opioidrezeptoren und die hierzu gehoÈrigen endogenen Liganden, die Endorphine oder Enkephaline, eine entscheidende Bedeutung bei der Verminderung eintreffender Schmerzimpulse haben [14±17], sind besonders die pronozizeptiven Transmitter von Bedeutung, die eine VerstaÈrkung eintreffender nozizeptiver Afferenzen bewirken [18]. Zu den pronozizeptiven Mediatoren gehoÈren die Gruppe der exzitatorischen AminosaÈuren wie Glutamat, Aspartat und die Gruppe der Tachykinine, zu denen Substanz P sowie Neurokinin A, B und C zaÈhlen. So wird neben anfaÈnglichen elektrophysiologischen und hormonellen VeraÈnderungen, ein nozizeptiver Reiz auch die Empfindlichkeit peripherer und zentraler Nozizeptoren erhoÈhen [702, 703] was der Entstehung chronischer Schmerzen Vorschub leistet. Denn durch langandauernde nozizeptive Reize kommt es zu einer gesteigerten Bahnung afferenter Schmerzleitungen [704] und zu einer langandauernden, morphologi-

schen VeraÈnderung im Sinne eines Schmerzengramms im RuÈckenmark [697, 698, 705, 706] (. Abb. 3-1). Zuerst werden alle uÈber die C-Fasern eintreffenden nozizeptiven Afferenzen nach Bindung an exzitatorischen Tachykinin-Rezeptoren intrazellulaÈr das G-Protein aktivieren, das als der hauptsaÈchlichste sekundaÈre intrazellulaÈre Mittler (»second messenger«) einer Rezeptorbindung angesehen werden kann. Es ist dann auch das G-Protein, welches anschlieûend die Adenylatcyclase (AC) umwandelt, die dann wiederum Adenosintriphosphat (ATP) in zyklisches Aminomonophosphat (c-AMP) aktiviert. Hierdurch werden mehrere c-AMP-abhaÈngige Kinasen, insbesondere Proteinkinase A (PKA) und Proteinkinase C (PKC) dahingehend angestoûen, uÈber Phosphoproteine eigene spannungsabhaÈngige Ca2‡-IonenkanaÈle zu oÈffnen, sodass jetzt vermehrt Ca2‡-Ionen von extra- nach intrazellulaÈr wandern, ein physiologischer Ca2‡-Einstrom, der in eine Erregungssteigerung der neuronalen Zelle muÈndet (. Abb. 3-2). Bei repetetiver, langfristiger Reizung afferenter C-Fasern werden jedoch besonders die erregenden, glutaminergen Synapsen der spinalen Neurone (. Abb. 3-1) an einer uÈber den NMDA(N-Methyl-D-Aspartat)-Rezeptor ausgeloÈsten Potenzierung (»wind-up«) der ErregungsuÈbertragung teilhaben [13, 708].

3

14

Kapitel 3  Hinterhorn des RuÈckenmarks ± Ort der Modulation nozizeptiver Afferenzen

3.2

Glutamatrezeptoren, pronozizeptives Rezeptorsystem

Bei jedem nozizeptiven Reizen werden schon im Hinterhorn des RuÈckenmarks neben den Tachykininen (Substanz P, Neurokinin A und B) zusaÈtzlich exzitatorische AminosaÈuren wie Glutamat und Glycin freigesetzt. Letztere interagieren mit spezifischen Bindestellen, die grob gesehen in ionotrope und metabotrope Glutamatrezeptoren unterteilt werden koÈnnen. WaÈhrend der ionotrope Rezeptor nach Ligandenbindung direkt einen Ionenkanal beeinflusst, ist beim metabotropen Rezeptor als Mittler das G-Protein zwischengeschaltet, das nach Rezeptorbesetzung anschlieûend sekundaÈre intrazellulaÈre VeraÈnderungen bewirkt. Letztlich schlaÈgt sich diese Zwischenstufe auch in der Geschwindigkeit nieder, mit der eine Reaktion ausgeloÈst wird. So ist der ionotrope Glutamatrezeptor durch einen schnelle synaptische Transmission charakterisiert, waÈhrend der metabotrope Glutamatrezeptor als Modulator synaptischer VorgaÈnge anzusehen ist und um ein Vielfaches traÈger reagiert (. Abb. 3-3). Beide, sowohl der ionotrope als auch der metabotrope Glutamatrezeptor, koÈnnen in mehrere Subtypen unterteilt werden. So existieren beim ionotropen Glutamatrezeptor der NMDA (N-Methyl-D-Aspartat)Rezeptorsubtypen vom Glutamintyp und NichtNMDA-Rezeptoren, die mit Kainat (Kainatrezeptor) oder »a-amino-3-hydroxy-5-methyl-4-isoxazole-PropionsaÈure« (AMPA-Rezeptor) interagieren (. Abb. 3-2). Der NMDA-Rezeptor ist insofern von Bedeutung, weil uÈber ihn schnelle IonenkanaÈle geoÈffnet werden, die den Einstrom von Na‡- und Ca2‡-Ionen in die Zelle und den Ausstrom von K‡-Ionen aus der Zelle regulieren. Er hat eine verstaÈrkende Wirkung der exzitatorischen AminosaÈuren Glyzin und Glutamat zur Folge, sodass schon eine nur geringe Besetzung des Rezeptors zu einer groûen Folgereaktion fuÈhrt [24]. So soll der NMDARezeptor am sog. Wind-up-PhaÈnomen maûgeblich beteiligt sein, indem die wiederholte AusloÈsung gleichbleibender nozizeptiver Stimuli zu immer staÈrkeren Reaktionen fuÈhrt. Weil die NMDA-Rezeptorstimulation auch einen vermehrten Einstrom von Ca2‡-Ionen uÈber spannungsabhaÈngige IonenkanaÈle zur Folge hat, bzw. eine Verringerung der Mg-abhaÈngigen NMDA-Rezeptorblockade bewirkt (. Abb. 3-2), ist dieser »second-messenger« von entscheidender Bedeutung bei den genetischen VeraÈnderungen innerhalb der Zelle des Hinterhorns, die mit chronischen SchmerzzustaÈnden

vergesellschaftet sind. Am NMDA-Rezeptor wirkt die PCP (Phenylcyclidin)-Bindestelle als sog. Modulationseinheit, indem der rezeptorabhaÈngige Ionenkanal blockiert wird. Ûber diesen Mechanismus wird die Wirkung sog. dissoziativer AnaÈsthetika, wie z. B. PCP (Phencyclidin) u. Ketamin erklaÈrt [25, 26], waÈhrend Magnesium und Dizocilpin (MK-801) den Calciumeinstrom uÈber eine gesonderte Bindestelle hemmen (. Abb. 3-4). Ebenso wie beim spannungsabhaÈngigen Ca2‡-Ionenkanal wird nach Bindung des exzitatorischen ÛbertraÈgerstoffs Glutamat am inotropen Neurokinin- (NMDA-) und am metabotropen Glutamat- (AMPA) Rezeptor ein Anstieg der intrazellulaÈren Ca2‡-Ionen erreicht, die direkt uÈber die NMDA-RezeptorkanaÈle in die Nervenzellen gelangen. Dieser Vorgang wird durch Substanz P, das am benachbarten Neurokinin-Rezeptor bindet, angestoûen (. Abb. 3-2). Durch die folgende Koaktivierung von Glutamat- und Tachykinin- (Substanz-P) Rezeptoren werden uÈber den Ca2‡-Einstrom in der Nervenzelle neuroplastische VeraÈnderungen ausgeloÈst, indem postsynaptische StroÈme verstaÈrkt uÈber das c-AMP den Transkriptionsfaktor CREB (»c-AMP-response elment-binding protein«) die Zielgene c-fos und c-jun aktivieren, die eine gesteigerte Synthese von Rezeptoren einleiten. Es stehen dann mehr Bindestellen fuÈr die Weiterleitung nozizeptiver Erregungen zur VerfuÈgung, was sich in einem »wind-up« und einer HyperaÈsthesie von Schmerzen niederschlaÈgt. Eine Verhinderung dieser Genexpression mit Opioiden ist deswegen eines der wichtigsten Ziele der Schmerztherapie, wobei die Genexpression dann am besten verhindert werden kann, wenn die Opioide vor dem Einttreffen der Schmerzreize verabreicht werden [19], bevor neuroplastische Ønderungen uÈberhaupt eingeleitet werden konnten. Denn ein akuter Schmerz kann deshalb nur chronisch werden, wenn er nicht ausreichend von Anfang an therapiert worden ist. Ist dagegen schon eine Chronifizierung mit der Entwicklung sog. neuroptahischer Schmerzen eingetreten, so ist es von klinischer Bedeutung, dass der bekannte unspezifische NMDA-Antagonist, das Ketamin, in subanaÈsthetischen Dosen, Analgesie erzeugen kann, wenn aufgrund einer Toleranzentwicklung auf Opioide zur ausreichenden Schmerzunterbrechung hoÈhere Dosen notwendig werden. Ein starker nozizeptiver Reiz fuÈhrt deshalb immer zu einer Freisetzung von exzitatorisch wirkenden Neurotransmittern und Peptiden im Bereich des Hinterhorns, die nicht nur die Inter-

3.2  Glutamatrezeptoren, pronozizeptives Rezeptorsystem

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. Abb. 3-1. Langanhaltende GewebelaÈsionen induzieren uÈber C-Fasern im RuÈckenmark die Freisetzung von Substanz P (SP), die direkt am Neurokininrezeptor (NK-1) oder, nach Zwischenschaltung uÈber ein glyzinerges Interneuron zu sog. »Wide-dynamicrange-« und nozizeptiv spezifischen Neuronen, eine ReizverstaÈrkung aszendierender Axone bewirkt. Ûber das 2. Neuron werden die Reize anschlieûend supraspinal zum Thalamus weitergeleitet, wo sie dann die Empfindung Schmerz ausloÈsen

. Abb. 3-2. Schematische Darstellung des NMDA-Rezeptorkomplexes. Erst nach vorausgegangener kurzfristiger Depolarisierung

der neuronalen Membran uÈber die Substanz P (SP) wird das den Rezeptor blockierende Mg2‡-Ion entfernt, und es koÈnnen die exzitatorischen Neurotransmitter Glyzin (Gly) und Glutamat (Glu) am NMDA-Rezeptor binden. Letzteres loÈst einen Kationenfluss aus, der in eine VerstaÈrkung nozizeptiver Afferenzen bzw. in eine pronozizeptive, antiopioidartige Wirkung muÈndet. Durch Ca2‡-Ionen kommt es zur Aktivierung intrazellulaÈrer Mechanismen mit Schmerzchronifizierung [Phospholipase C (PLC), Adenylatcyclase (AC), Proteinkinase C (PKC), Phospholipase A (PLA2), Nitritmonoxidsynthetase (NOS) und Zielgene (cFOS)]. Ein Pharmakon, das an der phencyclidinsensiblen (PCP) NMDA-Bindungsstelle angreift, ist Ketamin, wodurch ein funktioneller Antagonismus der Opioidwirkung verhindert wird. (Mod. nach Leslie 1987; Hudspith 1997)

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Kapitel 3  Hinterhorn des RuÈckenmarks ± Ort der Modulation nozizeptiver Afferenzen

neurone aktivieren. Vielmehr stimulieren sie auch die Zellen des Tractus spinothalamicus, wodurch es zu einer langanhaltenden Empfindlichkeitssteigerung auf spaÈtere eintreffende nozizeptive Reize kommt. Dieser Effekt kann sogar den eigentlichen

Reiz uÈberdauern [20], ein PhaÈnomen, das als zentrale Hypersensibilisierung oder »wind-up« [21] in die Literatur eingegangen ist. Klinisch ist bei diesem PhaÈnomen eine Hyperalgesie im Gebiet der SchaÈdigung und eine DysaÈsthesie in den umge-

3

. Abb. 3-3. Schematische Darstellung der schnellen ionotropen (NMDA-, AMPA- und Kainat-) und der langsamen metabotropen

Glutamatrezeptoren

. Abb. 3-4. Schematische Darstellung des bei langanhaltenden Schmerzen aktivierten NMDA- (N-Methyl-D-Aspartat)-Rezeptors und die am Rezeptor angreifenden Substanzgruppen

3.2  Glutamatrezeptoren, pronozizeptives Rezeptorsystem

17

. Abb. 3-5a. Der Opioidrezeptor mit seinen 7 transmembranoÈsen aus Peptiden bestehenden Schleifen

benden nicht beschaÈdigten Hautarealen mit anhaltenden Schmerzen nachweisbar [22]. Aufgrund dieser Erkenntnisse wird nicht nur die Forderung nach ausreichender Schmerzblockade verstaÈndlich, vielmehr laÈsst sich hieraus auch die Forderung nach einer vorangehenden (»preemptiven«) oder verhindernden (»preventiven«) Analgesie mit Analgetika ableiten. Opioide verhindern hierbei den Einstrom von Ca2‡-Ionen uÈber den spannungsabhaÈngige Ca2‡-Ionenkanal. Nach Bindung und anschlieûender KonformationsaÈnderung am Opioidrezeptors, wird uÈber das G-Protein eine SignaluÈbertragung in das Zellinnere stattfinden, indem die Adenylatcyclase deaktiviert wird. Es resultiert eine Dissoziation von Guanisindiphosphat (GDP) mit anschlieûender ÛberfuÈhrung in Guanisintriphosphat (GTP) (. Abb. 3-5b). Dieser Vorgang hat zur Folge, dass zum einen das G-Protein vom Rezeptor dissoziiert und zum anderen die AffinitaÈt des Liganden zum Rezeptor nachlaÈsst (Entwicklung einer Tachyphylaxie). Andererseits trennt sich die a-GTP Untereinheit des G-Proteins vom b/g-Restkomplex, um direkt mit dem Effektor (E) zu interagieren, wobei intrazellulaÈre VeraÈnderungen wie z. B. die DurchlaÈssigkeit der abhaÈngigen IonenkanaÈle, insbesondere eine gesteigerte Zunahme der K‡- und ein verminderter Transfer der Ca2‡-Ionen veranlasst werden, sodass die Zelle eine verminderte Ansprechrate auf nozizeptive Reize aufweist. Es resultiert eine Hyperpolari-

sation bei einer gleichzeitigen verminderten DurchlaÈssigkeit bis hin zur Blockade von Ca2‡KanaÈlen, sodass die Zelle durch einen eintreffenden afferenten Impuls nicht mehr depolarisiert werden kann und eine Weiterleitung unterbrochen wird (. Abb. 3-5c). Das Wirkungsende des Opioids wird dadurch eingeleitet, dass das GTP sein Phosphat abgibt, sich von der a-Einheit trennt und nach Vereinigung der a-Einheit mit dem b/g-Restkomplex die Zelle wieder in den Ruhezustand zuruÈckkehrt. Solche opioidinduzierte analgetische Wirkung tritt zuerst im RuÈckenmark auf; es ist somit der Ort, an dem durch Bindung eines Opioids an die dort ebenfalls vorhandenen Opioidrezeptoren, uÈber Interneurone eine verminderte Ansprechbarkeit zellulaÈrer Reaktionen auf eintreffende nozizeptive Afferenzen stattfindet (. Abb. È r Reize 2-2). Die Nervenzelle ist anschlieûend fu nicht mehr ansprechbar und es werden alle eintreffenden afferenten Impulse nicht weitergeleitet; ein Transmitter wird im synaptischen Spalt nicht mehr freigesetzt, und die nozizeptive Erregungsleitung ist unterbrochen. Dieser neuromolekulare Wirkungsmechanismus stuÈtzt die Forderung nach ausreichender Schmerzblockade vor dem Eintreffen des eigentlichen nozizeptiven Reizes. Auf die Klinik uÈbertragen bedeutet dies, dass z. B. im Rahmen einer Narkose, schon vor dem operativen Eingriff eine genuÈgende nozizeptive Blockade mit Opioiden eingelei-

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Kapitel 3  Hinterhorn des RuÈckenmarks ± Ort der Modulation nozizeptiver Afferenzen

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. Abb. 3-5b. Die Eigenschaft der Opioide, eine durch einen afferenten Schmerzimpuls induzierte Freisetzung von

Neurotransmitter an der Synapse zu hemmen. Schematische Bedeutung der sekundaÈren Messengersysteme nach erfolgter Rezeptorbesetzung. Das G-Protein, wichtigster Mittler einer transmembranoÈsen Signalleitung, die sekundaÈre intrazellulaÈre Ønderungen induziert

. Abb. 3-5c. Die nach Aufspaltung des G-Proteins eingeleitete Aktivierung von Proteinkinasen, die letztlich uÈber eine Phosporilierung der DurchgaÈngigkeit spannungsabhaÈngiger Ca2+- und K+-KanaÈle veraÈndern

3.3  Stickstoffmonoxid, Mediator fuÈr chronische Schmerzen

tet wird, bzw. bei anhaltenden postoperativen oder posttraumatischen Schmerzen fruÈhzeitig mit einer Opioidtherapie begonnen werden sollte. Hieraus erhaÈlt auch die Forderung nach einer ausreichenden SaÈttigungsdosierung des Opioids bei Schmerzen ihre Berechtigung. Denn der nozizeptive Impuls laÈsst sich effektiver und mit weniger Opioiden vor seinem Eintreffen blockieren, anstatt wenn erst nach der Schmerzexposition mit einer Opioidtherapie begonnen wird [23]. In solchen FaÈllen koÈnnen hoÈhere Dosen notwendig werden, die dann die schon einsetzenden Chronifzierungsprozesse und die damit einhergehenden neuroplastischen VeraÈnderungen wieder ruÈckgaÈngig machen. 3.3

Stickstoffmonoxid, Mediator fuÈr chronische Schmerzen

Dem Stickstoffmonoxid (NO), einem erst in den vergangenen Jahren entdeckten gasfoÈrmigen Transmitter im ZNS, kommt ebenfalls eine entscheidende Bedeutung in der Chronifizierung nozizeptiver Afferenzen zu [27]. So entsteht NO

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als intrazellulaÈrer Mittler einer nachgeschalteten NMDA-Rezeptoraktivierung im RuÈckenmark, indem die Nitritoxydsynthetase (NOS) aktiviert wird und das dabei entstehende NO langfristig an der Entstehung eines Wind-ups und einer Hyperalgesie sowie einer sich anschlieûenden neuronalen StrukturveraÈnderungen mit Genmodifikationen und Chronifizierung von Schmerzen beteiligt ist (. Abb. 3-6). Die Bedeutung von NO im Chronifizierungsprozess von Schmerzen spielt hauptsaÈchlich dann eine Rolle, wenn eine bei der Verletzung von Gewebe begleitende EntzuÈndung vorliegt [27]. Hinweise hierfuÈr bieten Ergebnisse am Tier, an dem durch den Einsatz des NO-Synthesehemmers L-NAME (L-NitroargininMethylesther) intrathekal eine VerstaÈrkung der morphinbedingten Analgesie erreicht werden konnte [28] und eine im Rahmen einer Schmerzbehandlung auftretende Toleranzentwicklung auf Morphin, experimentell mit Hilfe des NO-Synthesehemmers verhindert werden konnte [29]. WaÈhrend beim akuten oder neuropathischen Schmerz. NO keine oder nur eine untergeordnete Rolle spielt, kann hingegen es als gesichert gelten, dass

. Abb. 3-6. Nach NMDA-Rezeptoraktivierung durch Glutamat kommt es zur Freisetzung von Stickstoffmonoxid (NO). Denn NMDA-Rezeptoraktivierung fuÈhrt zu einem Ca2‡-Einstrom, der an einer calmodolin(CaM-)sensiblen Stelle die Synthese von Stickstoffmonoxid aus L-Arginin und molekularem Sauerstoff in Gegenwart des Kofaktors NADPH bewirkt

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Kapitel 3  Hinterhorn des RuÈckenmarks ± Ort der Modulation nozizeptiver Afferenzen

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. Abb. 3-7. Das nozizeptive System im Hinterhorn des RuÈckenmarks. Die ErregungsuÈbertragung wird indirekt durch enkephalinerge Interneurone blockiert. Gleichzeitig findet uÈber deszendierende serotinerge und noradrenerge Bahnen aus dem periaquaÈduktalen Grau und den Raphe-Kernen eine direkte Aktivierung der Interneurone statt (supraspinale Schmerzhemmung)

3.4  Deszendierendes antinozizeptives System

NO an der Entstehung und an der Chronifizierung von EntzuÈndungsschmerz maûgeblich beteiligt ist. Inwieweit Pharmaka, die die Freisetzung von NO regulieren, in der Schmerztherapie der Zukunft und somit fuÈr die Praxis eine Bedeutung bekommen werden, wird zurzeit geklaÈrt. 3.4

Deszendierendes antinozizeptives System

Ein weiteres, klar definiertes System, das den nozizeptiven Input im Bereich des RuÈckenmarks moduliert, bilden die deszendierenden Bahnen aus dem periaquaÈduktalen Grau des Mittelhirns und dem Nucleus raphe magnus [30]. Denn es ist bewiesen, dass die analgetische Wirkung der Opioide bei systemischer Gabe z. T. auf einer Aktivierung dieser Bahnen beruht, die direkt vom periaquaÈduktalen zentralen HoÈhlengrau oder auf Umweg uÈber Nucleus raphe magnus und dem Locus caeruleus zum Hinterhorn ziehen. Die Neuronen dieser Areale projizieren ihre serotinergen und noradrenergen Bahnen in das Hinterhorn des RuÈckenmarks (. Abb. 3-7), wo sie selektiv die AktivitaÈt der nozizeptiven Hinterhornneurone uÈber hemmmende, enkephalinerge Interneurone und Relayneurone mit a2-Adrenorezeptoren modulieren und desensibilisieren [31]. An diesen deszendierenden, hemmenden Bahnen des Tractus reticulospinalis sind unterschiedliche Neurotransmitter wie z. B. Glutamat, Aspartat, Serotonin und Neurotensin beteiligt, die alle in Nervenleitungen aus dem periaquaÈduktalen HoÈhlengrau nachgewiesen werden konnten [32, 33]. Schlieûlich ist die Schaltstelle in der Substantia gelatinosa des Hinterhorn im RuÈckenmark auch der Ort eines weiteren Hemmmechanismus der als »gate-control« von Melzack und Wall propagiert, in die Literatur eingegangen ist. Hierbei werden hemmende Interneurone im Hinterhorn durch schnell leitende Ab-Fasern aus den Mechanorezeptoren der Haut erregt. Trifft auf diese Zellen ein nozizeptiver Reiz aus den langsameren Adund C-Fasern, wird die Ûbertragung gehemmt [34]. Dieser Mechanismus erklaÈrt die Erfahrung, dass Schmerzempfindungen durch gleichzeitige taktile (TENS) oder thermische Erregung verringert werden koÈnnen (. Abb. 3-8). Hierzu gehoÈren auch die RuÈckenmark- oder Hinterstrangstimulation (SCS ˆ spinal cord stimulation), die Thalamusstimulation und die Elektroakupunktur, bei denen mit Hilfe elektrischer StroÈme (sog. Gegenirritationsverfahren) nozizeptive Afferenzen gehemmt werden. Nach der Gate-

21

control-Theorie begegnet ein aus den Ad- und C-Fasern aufsteigender nozizeptiver Impuls an der Pforte (»gate«) in der Substantia gelatinosa des RuÈckenmarks, einen absteigenden inhibitorischen Impuls aus den Ab-Fasern. Es werden die Schmerzimpulse unterdruÈckt und das eigentliche Schmerzempfinden erhaÈlt eine DaÈmpfung, ein Wirkungsmechanismus der letztlich auch im Experiment nachgewiesen werden konnte [35]. Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass bei der nozizeptiven Ûbertragung vom 1. Neuron auf das 2. Neuron im Hinterhorn 3 Hemmmechanismen maûgeblich beteiligt sind: 1. Absteigende Fasern aus dem Locus caeruleus, der Formatio reticularis (Tractus reticulospinalis), den Raphe-Kernen und dem periaquaÈduktalen Grau. Sie verringern uÈber eine Serotonin- und Noradrenalinfreisetzung (serotinerge und noradrenerge Leitungsbahnen) in der Substantia gelatinosa die Empfindlichkeit der kleinen Relayzellen auf nozizeptive Reize (. Abb. 3-7). 2. Hemmende endorphinerge Interneurone im Bereich des Hinterhorns, die uÈber die AusschuÈttung, besonders von Enkephalinen, die nozizeptive Ûberleitung hemmen (. Abb. 2-2). 3. Einige uÈber das Hinterhorn des RuÈckenmarks einstrahlende Schmerzfasern erregen nicht nur das 2. aszendierende Neuron der Schmerzbahn, sondern sie stimulieren auch hemmende Zellen. Es findet eine Selbstregulation statt.

. Abb. 3-8. Das Prinzip der »Gate-control-Theorie«, theo-

retische Basis fuÈr den Einsatz der transkutanen elektrischen Nervenstimulation (TENS), die das nozizeptive System im RuÈckenmark uÈber Ab-Fasern hemmt

3

22

3

Kapitel 3  Hinterhorn des RuÈckenmarks ± Ort der Modulation nozizeptiver Afferenzen

Alle in der Substantia gelatinosa im Hinterhorn des RuÈckenmarks ankommenden ReizintensitaÈten werden hier gesammelt, integriert, moduliert und in Wechselbeziehung mit den einstrahlenden Hemmmechanismen wird entschieden, ob und in welcher StaÈrke eine Schmerzmeldung weitergeben werden soll (. Abb. 3-8). Eine der wichtigsten Aufgaben sinnvoller Schmerzbehandlung ist das Vermeiden dieser Chronfizierungs- und Lernprozesse. Deswegen ist auch die fruÈhzeitige und ausreichend lange Schmerzhemmung mit einem Opioid wichtigster Bestandteil solcher Strategien. Denn es blockiert hierbei nicht nur die Transmission an der Ûbertragungsstelle im RuÈckenmark; es kann auch uÈber absteigende hemmende Impulse direkt auf die spinale Schmerzleitung einwirken, wobei koÈrpereigenen Mechanismen der Schmerzkontrolle benutzt und verstaÈrkt werden. 3.5

Eine Umschaltung von viszerosensiblen Reizen auf viszeromotorische Neuronen, die zu einer Erregung der glatten Muskulatur fuÈhrt, kann einen Circulus vitiosus bedingen. Denn die freien Nervenendigungen der glatten Muskulatur sind gegenuÈber Kontraktionen sehr empfindlich, sodass bei einer Schmerzmeldung mit reflektorischer Kontraktion der Muskulatur die Nozizeption und Schmerzempfindung verstaÈrkt werden (. Abb. 3-9b).

Reflektorische Schmerzsyndrome

Erst wenn im RuÈckenmark die Erregungsschwelle oberhalb der Schmerzschwelle liegt, wird die Meldung vom 1. Neuron auf das 2. Neuron, den Tractus spinothalamicus und weiter zu den hoÈheren schmerzverarbeitenden Zentren geleitet. Die Substantia gelatinosa im Hinterhorn des RuÈckenmarks ist aber auch die Stelle, an der einstrahlende Schmerzafferenzen direkt oder uÈber zwischengeschaltete Interneurone zum Seitenhorn des RuÈckenmarks laufen und zu den motorischen Kernen des Vorderhorns weitergeleitet werden. Hier erfolgt uÈber das gleiche Segment oder uÈber Kollateralen die Umschaltung in mehrere benachbarte Segmente sowohl auf vegetative als auch motorische Neurone (konvergierende Afferenz; . Abb. 3-9a). Dies erklaÈrt sowohl Muskelverspannungen bei Schmerzempfindungen (Verspannungen der Bauchdecken bei viszerosensiblen Schmerzen; . Abb. 3-9b) als auch vegetative Sto È rungen (ZirkulationsstoÈrungen, Beeinflussung der SchweiûdruÈsen) und die Projektion von Schmerzen auf Hautareale des KoÈrper (. Abb. 3-9c), die von demselben RuÈckenmarksegment wie das betroffenen innere Organ nervoÈs versorgt werden (Head-Zonen).

. Abb. 3-9a±c. Theorien zur AusloÈsung und Entstehung des uÈbertragenen Schmerzes (»referred pain«) durch sympathische EinfluÈsse und Reflexe sowie deren motorische Fehlsteuerung (positive RuÈckkoppelung) sowie der daraus resultierenden Chronifizierung. (Nach [10])

4 Neurophysiologische Grundlagen chronischer Schmerzen 4.1

Ausbildung eines SchmerzgedaÈchtnisses ± 23

4.2

Supraspinale Engramme chronischer Schmerzen ± 26

4.3

Psychisch bedingter Schmerz

4.1

± 27

Ausbildung eines SchmerzgedaÈchtnisses

Damit eine Schadensmeldung chronischen Charakter annimmt, muss nach anfaÈnglicher Reizung peripherer Nozizeptoren der Haut, wo etwa 90 % der uÈber 3 Mio. Nozizeptoren sitzen, die Erregung eine bestimmte IntensitaÈt erreichten. Erst dann werden uÈber unspezifische sog. multimodale Nervenfasern (Wide-dynamic-range-Rezeptoren), die taktile Empfindungen wie Druck, Dehnung und Hitze aufnehmen, jetzt auch Schmerzimpulse zum RuÈckenmark weitergeleitet. Hier an der ersten Schaltstelle werden neben hemmenden Stoffen, den Endorphinen, auch sog. pronozizeptive Transmitter wie Substanz P, Glycin, Glutamat, Neurokinin A und B freigesetzt. Wie in anderen Hirnregionen werden auch hier die synaptischen Potenziale uÈber verschiedenen Subtypen des Glutamatrezeptors (NMDARezeptor, AMPA-Rezeptor) vermittelt, wobei, als Folge wiederholter synaptischer Reizungen, sich ein Lernvorgang an der Nervenzelle manifestiert. Weil in der Folge immer wieder Schmerzreize an der Nervenzelle ankommen, wird diese die Zahl ihrer spontanen Entladungen erhoÈhen und anschlieûend, auch ohne erhoÈhten Reiz, eine gesteigerte Entladungsrate hochfrequenter Aktionspotenziale aufweisen (Wind-up-PhaÈnomen oder Phase der Bahnung). Solche durch langanhaltende Reize ausgeloÈste Reaktionsbereitschaft bleibt der Nervenzelle auch

in der Zukunft erhalten. Es wirken jetzt die freigesetzten nozizeptiven Transmitter vermehrt auf die ihr nachgeschalteten Nervenzellen was eine verhaÈngnisvollen Kaskade zur Folge hat: In der Zellmembran oÈffnen sich Ca2‡-IonenkanaÈle, die im Inneren der Nervenzelle Botenstoffe, sog. »second messenger«, aktivieren. So ist Kalzium ein wichtiger Botenstoff, der eine Reihe von Zellfunktionen steuert und fuÈr eine zentrale Sensitivierung verantwortlich gemacht wird. Indem Phosphorilisierungsprozesse angestoûen werden, kommt es auch zur Aktivierung von Transkriptionsfaktoren wie CREB (c-AMP »responsive element binding protein«), das die Ablesung von Genen und somit den PhaÈnotyp nozizeptiver Hinterhornzellen steuert, sodass als Folge eine zentrale Sensibilisierung eingeleitet wird. Auch werden diese Transkriptionsfaktoren spezifische Eiweiûstoffe, »immediate-early-genes«, nach Bindung an Ziel-Gene zur Umsetzung der genetischen Information in eine Strukturinformation veranlassen. Die Zelle wird zur Synthese von spezifischen Proteinen angeregt, wobei mit Steigerung der Transkriptionsrate eine Neubildung und Synthese von zusaÈtzlichen Rezeptoren und IonenkanaÈlen ausgeloÈst wird. Die Zelle wird in eine permanente »Hab-Acht-Stellung« versetzt (Phase der Sensibilisierung und der HyperreaktivitaÈt), in der auch spontan Neurotransmitter und Neurohormone verstaÈrkt ausgeschuÈttet werden koÈnnen. Vorher inaktive Synapsen werden aktiviert, sodass trotz gleichbleibendem Impulsstrom aus

24

4

Kapitel 4  Neurophysiologische Grundlagen chronischer Schmerzen

der Peripherie jetzt der Signalstrom im RuÈckenmark hoÈher geschaltet wird. Dabei werden nicht nur weitere Nozizeptoren funktionell mit der EmpfaÈngerzelle verbunden. Es werden jetzt auch niederschwellige Mechano- und Thermorezeptoren mit in die Schmerzleitung einbezogen, sodass eine Ausdehnung der schmerzempfindlichen Zonen in gesunde Bereiche erfolgt und der Patient selbst leichteste BeruÈhrungsreize, von der verletzten und entzuÈndeten Stelle entfernt, als schmerzhaft empfindet (Phase der Allodynie). Im Endstadium hat die Nervenzelle die Schmerzinformation nicht mehr vergessen, eine chronische Ûbererregbarkeit ist die Folge, es ist ein SchmerzgedaÈchtnis entstanden, das, auch wenn der urspruÈngliche AusloÈser fuÈr die Schmerzafferenz nicht mehr existent, dauerhaft an den schmerzhaften Eingriff erinnert und fortan auch solche Reize an das Bewusstsein weiterleitet, die normalerweise als harmlose KaÈlte- oder Druckreize empfunden worden waÈren (Phase der chronischen Ûbererregbarkeit, . Abb. 4-1). Morphin [36], aber auch 5-HT2- (Ketanserin-) und 5-HT3-Rezeptorantagonisten [37] und Peptidaseinhibitoren, die die tonische AktivitaÈt der endorphinergen Zellen dadurch verstaÈrken, dass sie den enzymatischen Abbau verhindern [38], sind in der Lage, die Bildung der spezifischen Eiweiûstoffe (»immediate early genes«) und deren Unterfamilien wie c-fos, c-jun zu verhindern. Diese unter chronischer nozizeptiver Reizung nachweisbare gesteigerte c-fos-Expression konnte experimentell neben Morphin auch durch

aÈquianalgetische Dosen des k-Liganden U50,488H unterdruÈckt werden, ein Effekt, der sich auf spinaler Ebene nachweisen lieû [39]. Hieraus ist abzuleiten, dass unterschiedliche viszerale, nozizeptive Afferenzen erfolgreicher durch Opioide mit unterschiedlicher RezeptorpraÈferenz unterbrochen werden koÈnnen, experimentelle Hinweise, die es gilt am Menschen nachzuvollziehen. Andererseits koÈnnen mit Antidepressiva und mit Antikonvulsiva antinozizeptive Wirkungen am Menschen nachgewiesen werden. WaÈhrend fuÈr die Wirkung der Antidepressiva eine Aktivierung hemmender, deszendierender Bahnen diskutiert wird, geht von den Antikonvulsiva wie z. B. Carbamazepin, Valproat, aber auch den neueren Lamotrigin und Gabapentin GABAerge Effekte aus. Letzteres ist dadurch zu erklaÈren, dass durch die exzessive ErhoÈhung der Kalziumionenkonzentration ein programmierter Zelltod (Apoptose) hemmender, antinozizeptiver Neurone, die als Neurotransmitter die g-AminobuttersaÈure (GABA) verwenden, offenbar wird, sodass der Verlust der GABAergen Hemmung im RuÈckenmark zu schweren Formen von Hyperalgesie und Allodynie sowie spontanen Schmerzen fuÈhrt. Dieser Verlust laÈsst sich jedoch durch eine kompensatorische Zunahme der RezeptoraktivitaÈt, wie er mit Hilfe von Antikonvulsiva aber auch von Benzodiazepinen erreicht wird, wieder wett machen, sodass von solchen Substanzgruppen auch analgetische Wirkungen zu erwarten sind. Denn sowohl spinale als auch supraspinale Zellareale weisen nach Antikonvulsiva eine Zunahme

. Abb. 4-1. Theoretischer Unterbau fuÈr die NeuroplastizitaÈt im RuÈckenmark, eine wesentliche Komponente der Ausbildung eines SchmerzgedaÈchtnisses und der Entwicklung chronischer SchmerzzustaÈnde

4.1  Ausbildung eines SchmerzgedaÈchtnisses

an g-AminobuttersaÈure (GABA) auf [40, 41], wodurch eine »LoÈschung des SchmerzgedaÈchtnisses« erreicht wird, ein Effekt der klinisch mit einem Verblassen der Schmerzempfindungen einhergeht. Solche sowohl klinischen als auch praÈklinischen Ergebnisse weisen darauf hin, dass

25

neben dem Opioidsystem auch das GABAerge System eine bedeutende Stellung bei der Verarbeitung von Schmerzafferenzen, schon in der ersten Schaltstelle im Bereich des RuÈckenmarks, einnimmt [42±44]. Dies erklaÈrt auch warum antinozizeptive Wirkungen von Baclofen, dem Prototyp fuÈr den GABAB-Rezeptor, und von Muscinol, dem Pro-

. Abb. 4-2. Die Bedeutung von sowohl deszendierenden serotinergen und noradrenergen Bahnen als auch der im Hinterhorn

des RuÈckenmarks lokalisierten enkephalinergen und GABAergen Interneurone bei der Hemmung nozizeptiver Afferenzen

4

26

4

Kapitel 4  Neurophysiologische Grundlagen chronischer Schmerzen

totyp fuÈr den GABAA-Rezeptor, ausgehen, wobei beide GABA-Agonisten die auf somatische oder viszerale nozizeptive Reize im Hinterhorn des RuÈckenmarks folgende biochemische Kaskade mit Sensibilisierung vermindern koÈnnen [45]. UrsaÈchlich wird neben einer direkten Aktivierung des GABA-Rezeptors auch eine verstaÈrkte Synthese des fuÈr die Bildung von GABA zustaÈndigen Enzyms Glutamatdecarboxylase (GAD) diskutiert [40]. Hieran knuÈpft auch die erfolgreiche analgetische Wirkung des Benzodiazepins Midazolam an, das seine antinozizeptive Wirkung uÈber eine Bindung an den GABAA-Rezeptoren vermittelt [46]. Aus diesen Ergebnissen ist zu schlieûen, dass v. a. bei chronifizierten Schmerzen der zusaÈtzlichen Syntheseleistung GABAerger hemmender Interneurone als Mittler einer Schmerztherapie eine entscheidende Rolle zuteil wird (. Abb. 4-2). 4.2

Supraspinale Engramme chronischer Schmerzen

WaÈhrend die von einer peripheren GewebeschaÈdigung ausgehenden nozizeptiven Afferenzen schon in der ersten Schaltstelle im Hinterhorn der RuÈckenmark ihre erste Modulation erfahren, uÈbernimmt bei GewebelaÈsionen im Bereich von Kopf und Gesicht der N. trigeminus diese Funktion. Indem er die nozizeptive Afferenzen zum Nucleus nervi trigemini im Hirnstamm weiterleitet, findet auch dort die erste Modulation statt. Von dort ziehen Fasern, nach Kreuzung zur entgegengesetzten Seite, zum Thalamus, um dann weiter zu den rostralwaÈrts gelegenen lemniskalen, thalamischen Strukturen umzuschalten, bevor sie den somatosensorischen Kortex erreichen. Jegliche gesteigerte oder auch nur paroxysmale AktivitaÈtszunahme von Afferenzen zum Hinterhorn des RuÈckenmark oder zum Nucl. nervi trigemini muÈndet schlieûlich auch in eine aktivitaÈtsabhaÈngige Anpassung der weiter rostral gelegenen thalamischen und neokortikalen Strukturen [47], sodass an der Chronifizierung von Schmerzen, neben peripheren VeraÈnderungen, auch eine Adaptation auf kortikaler Ebene stattfindet (. Abb. 4-3). So konnte bei Patienten mit chronischen Schmerzen eine Ûbererregbarkeit kortikaler Neuronen dokumentiert werden, indem nach experimentell gesetzten Schmerzreizen, im Vergleich zu einer Kontrollgruppe, sich schon nach 80±129 ms im primaÈren kortikalen Projektionsareal des evozierten Potenzials eine verstaÈrkte Antwort ableiten lieû.

Diese starke Erregbarkeit bestimmter kortikaler Areale bei Schmerzpatienten kann sogar durch sprachliche Reize ausgeloÈst werden. Denn aÈhnlich wie nichtnozizeptive Reize in der Peripherie beim chronifizierten Schmerz als schmerzhaft empfunden werden, so sind es Worte oder Gedanken, die eine Schmerzempfindung ausloÈsen koÈnnen. Es bildet sich im Verlauf der Chronifizierung im Kortex ein lokalisiertes SchmerzgedaÈchtnis aus, das auch ohne periphere Nozizeptoren aktiviert werden kann. Hierbei scheinen insbesondere exzitatorische AminosaÈuren (Glutamat, Tachykinine) eine besondere Rolle zu spielen, weil sich nach Mikroinjektion in unterschiedliche, an der Schmerzleitung beteiligte mesenzephale und dienzephale Gebiete eindeutig schmerzhafte Reaktionen ausloÈsen lassen [48]. Somit ist der Schmerz zweifelsfrei auch eine subjektive Erscheinung, wobei die erste bewusstseinsfaÈhige Ebene fuÈr den Schmerz die Verbindung zwischen den intralaminaÈren unspezifischen Kernen zum Pallidum und der zweiten Ebene, der Groûhirnrinde, darstellt, denn hier werden die Erlebnisse der Sinnesorgane auf einen Schmerz, aber auch die individuelle Verarbeitung des Schmerzes insgesamt, repraÈsentiert. Bei chronischen SchmerzzustaÈnden spielt deshalb neben VeraÈnderungen in der ersten Schaltstelle nozizeptiver Afferenzen im RuÈckenmark auch ein Lerneffekt uÈber den vorderen Hippocampus, wie er von McKenzie u. Beechy nachgewiesen worden ist, eine bedeutsame Rolle [49], denn der Hippocampus ist ein Ort der Verfestigung von Wahrnehmungen in Erinnerungsspuren, sog. Engrammen, die in einer Erwartungshaltung bei chronischen Schmerzpatienten gipfeln. Im Pallidum wird dagegen die affektive Komponente der Schmerzafferenz empfunden. Nicht ohne Grund ist das Pallidum neben dem Striatum und dem Nucleus caeruleus (Mandelkern) reich an Opioidbindestellen und endogenen Opioiden [50, 51], sodass die zur UnterdruÈckung gegebenen Opioide ihren primaÈren Wirkungsort im Pallidum dadurch offenbaren, dass sie den negativen und quaÈlenden Charakter des Schmerzes blockieren und beim Verlernen der Schmerzinformation von Bedeutung sind. Andererseits wird hieraus auch verstaÈndlich warum fuÈr die empfundenen Schmerzen verstaÈrkend unausgetragene Konflikte, Aggressionen, Angst, Resignation und PassivitaÈt wirken, waÈhrend Zufriedenheit, Ausgeglichenheit und Durchsetzungskraft eine vermindernde Wirkung auf die SchmerzintensitaÈt haben. Somit ist kein

4.3  Psychisch bedingter Schmerz

27

. Abb. 4-3. Beim chronifizierten Schmerzsyndrom mit Allodynie kommt es nach einfacher BeruÈhrung eines Hautareals zur Aktivierung korrespondierender Areale im sensorischen Kortex, die sich durch einen erhoÈhte GrundaktivitaÈt auszeichnen und »Schmerz« vermitteln. 1 Ad- und C-Fasern; 2 Tractus spinothalamicus; 3 intrathalamische, schmerzverarbeitende Zentren; 4 sensorischer Kortex

Schmerz dem anderen vergleichbar. Als hoÈchst individuelles Geschehen, das subjektiv gepraÈgt, emotional eingefaÈrbt und je nach persoÈnlicher Erfahrung auch unterschiedlich gewertet und verarbeitet wird, laÈsst er sich schwer messen und einstufen. Letztlich untersteichen solche Ûberlegungen auch die von Melzack aufgestellte Theorie, dass der Schmerz ein ganz individuelles sensorisches Empfinden ist, das das Ergebnis aller uÈber den gesamten KoÈrper verstreuten neuronalen Netzwerke darstellt, wobei durch kulturelle, genetische, soziooÈkonomische sowie durch individuelle Erfahrungen in der Vergangenheit, er eine eigene PraÈgung erfahren hat. 4.3

Psychisch bedingter Schmerz

Die groÈûten VerstaÈndigungsprobleme fuÈr den Therapeuten, beim Nichtanschlagen einer medikamentoÈsen Therapie, sind die funktionell hervorgerufenen psychosomatischen Schmerzen, die als »somatoforme SchmerzstoÈrung« in der internationalen Klassifikation psychischer StoÈrungen wie folgt definiert wurde: »Eine vorherrschende Beschwerdesymptomatik mit andauernden, schweren quaÈlenden Schmerzen, die durch einen physio-

logischen Prozess oder eine koÈrperliche StoÈrung nicht vollstaÈndig erklaÈrt werden koÈnnen. Der Schmerz tritt dann in Verbindung mit psychosozialen Problemen und emotionalen Konflikten auf, die schwerwiegend genug sind, um als ein entscheidender und ursaÈchlicher Einfluss geltend gemacht zu werden«. Die groûe Zahl solcher somatoformen, nur scheinbar koÈrperlichen Schmerzen im Kopf-, Herz-, Magen-Darm- und Genitalbereich, aber auch immer haÈufiger im Nacken und RuÈcken sowie in allen Bewegungsorganen, ist als chronisch psychosomatische, kaum zu behandelnde Schmerzkrankheit gefuÈrchtet. Solche psychischen oder psychosozialen ZusammenhaÈnge funktioneller Schmerzbeschwerden werden von den Patienten entweder verdraÈngt oder gar nicht wahrgenommen. Der Patient weigert sich, diese als Ursache anzuerkennen und wuÈnscht immer neuere medizinische Untersuchungen. Obgleich eine vorzeitige psychosomatische Etikettierung gefaÈhrlich ist, weil sie den diagnostischen Blick beeintraÈchtigt und daruÈber hinaus den Patienten verunsichert und veraÈrgert, kann bei anhaltender Therapieresistenz ein funktionelles Krankheitsgeschehen vermutet werden.

4

28

4

Kapitel 4  Neurophysiologische Grundlagen chronischer Schmerzen

Auf der Suche nach einer adaÈquaten organischen Schmerzursache geht der Leidende von Arzt zu Arzt (»doctor hopping«). Mit immer neueren und kostspieligeren Untersuchungen ambulanter, klinischer und poliklinischer Natur in immer kuÈrzeren ZeitabstaÈnden wird der Patient auch zum »KoryphaÈenkiller«, weil mit steigenden Stufen der medizinischen Hierarchie ein Agieren auf koÈrperlicher Ebene zum Scheitern verurteilt ist. Aufgrund von Scheindiagnosen werden symptomorientierte, selbst chirurgische, Behandlungen angeordnet, denen sich der Betroffene widerstandslos unterzieht. Ein Signal, welches auf ein funktionelles Schmerzsyndrom hinweist, ist die lavierte Depression, bei der die depressiven Symptome im Hintergrund, die koÈrperlichen dagegen im Vordergrund stehen. Ein weiterer Grundgedanke der funktionellen, psychosomatischen Schmerzkrankheit ist die Konversion, eine psychisch schwer zu beeinflussende StoÈrung, bei der der konversionsneurotische Schmerz in speziellen Konfliktsituationen auftritt, und dadurch verpoÈnte WuÈnsche, Affekte sowie Aggressionen vom Bewusstsein fern haÈlt. Das Symptom Schmerz hat dann einen Symbolcharakter, indem er nicht nur eine verpoÈnte Regung an das Licht bringt, sondern das Individuum auch gleichzeitig dafuÈr bestraft. Hieraus leitet sich schon die sprachliche Verwandtschaft mit dem lateinischen Wort »poena« (Strafe) und dem englischen Wort »pain« (Schmerz) ab. Der Schmerz ist dann als ein Versuch des Patienten zu verstehen, einen seelischen Zusammenbruch zu verhindern (Krankheit als Selbstheilung). Schlieûlich spielt bei der Aufrechterhaltung psychosomatischer Schmerzen und FunktionsstoÈrungen auch der Krankheitsgewinn eine wichtige Rolle, indem der Patient bewusst oder unbewusst aus dem Kranksein Gewinn zieht. So koÈnnen auch die von Psychologen als »partnerschaftliche Probleme« beschriebenen Symptome, die nicht besprochen und nicht bewaÈltigt werden, in eine KoÈrpersprache ausweichen. Solche Symptome werden nach Ansicht einiger Analytiker (Dr. Freye-ZuÈrich) dem momentanen psychologischen »mainstream« folgend, faÈlschlicherweise dem »alltaÈglichen Geschlechterkampf« zugeschrieben. Auch hier wird das eigentliche Problem verkannt, das in koÈrperliche und/oder sexuellen Misshandlungen in der Kindheit, chronischen Schmerzen bei Familienmitgliedern, psychosozialen Belastungen wie einer Scheidung oder in vorangegangene, fruÈhkindliche persoÈnliche Schmerzerlebnisse liegen kann. Die somato-

forme Schmerz wird auf den Partner uÈbertragen und eine symptomatische Therapie fuÈhrt letztendlich nicht zur Schmerzbefreiung. Der Konflikt wird weiter somatisiert, d. h. er wird auf der KoÈrperebene ausgetragen, entschaÈrft sich scheinbar auf diese Weise, indem der kranke Partner geschont wird und psychische Belastungen von ihm ferngehalten werden. Letztendlich jedoch zieht der Kranke hieraus als Machtinstrument einen Krankheitsgewinn, und das Leiden manifestiert sich weiter, wenn nicht analytisch vorgegangen wird. Bei solchen Patienten findet sich grundsaÈtzlich keine koÈrperliche Ursache fuÈr den Schmerz, es wird uÈber Dauerschmerzen geklagt, und die Beschwerden werden gefuÈhlsbetont beschrieben, dabei aber gleichzeitig so, als ob uÈber jemand anderen geredet wird. Auch steht der Schmerzbeginn typischerweise zeitlich mit der Belastungssituation im Zusammenhang.

5 Supraspinale Schmerzleitung und Schmerzverarbeitung 5.1

Faktoren, die eine Schmerzempfindung beeinflussen ± 31

Die aus den verschiedenen Schichten des Hinterhorns (. Abb. 2-2) entspringenden Axonen des 2. Neurons erreichen schlieûlich uÈber eine entwicklungsgeschichtlich junge Nervenbahn, dem Tractus neospinothalamicus, sowie uÈber eine entwicklungsgeschichtlich aÈltere Nervenbahn, den Tractus paleospinothalamicus, den Thalamus und die Groûhirnrinde. Die markscheidenhaltigen Fasern des Tractus neospinothalamicus endigen vorwiegend im Nucleus ventrocaudalis-parvocellularis. Von hier ziehen Fasern direkt zur hinteren Zentralwindung Gyrus postcentralis, die

die eigentliche KoÈrperfuÈhlsphaÈre repraÈsentiert (Schmerzlokalisation). Im Gyrus postcentralis erfolgt auch eine exakte somatotrope Gliederung, ein umgekehrter »Homunculus« ist nachweisbar. FuÈr eine medikamentoÈse Schmerztherapie sind die Endigungen der duÈnnen marklosen Fasern des Tractus paleospinothalamicus dagegen wichtiger, die neben intrathalamischen Kernen besonders in einem Grenzkern, dem Nucleus limitans der zwischen Mittelhirn und Haube liegt, endigen (. Abb. 5-1). Der Nucleus limitans und die intrathalamischen Kerne gehoÈren zum nichtspezi-

. Abb. 5-1. Topographie des Nucleus limitans, der eine zentrale Stelle in der Therapie mit Opioiden einnimmt (Nucl. vc. pc. Nucleus ventrocaudalis parvocellularis)

30

5

Kapitel 5  Supraspinale Schmerzleitung und Schmerzverarbeitung

fischen Projektionssystem des Thalamus, d. h. sie projizieren uÈber Umwege durch die Stammganglien zu fast allen Rindenfeldern. Der Nucleus limitans vermittelt das zeitlose, alarmierende, dumpfe und schlecht lokalisierbare GefuÈhl des Schmerzes (»es tut weh«, Schmerzerkennung), wodurch die ankommende Afferenz uÈberhaupt erst als Schmerz erkannt wird. Vom Nucleus limitans sowie von den intrathalamischen Kernen projiziert die subkortikale Schmerzleitung zum aÈuûeren Pallidumglied, das als Teil des limbischen Systems, bestehend aus Nucleus amygdalae und Hippocampus, dem Schmerz seinen negativen, bohrenden und quaÈlenden Charakter verleiht (Schmerzemotion). Von hier aus ziehen Fasern zu saÈmtlichen Feldern der Groûhirnrinde. Das Pallidum nimmt hierbei nicht allein die Funktion

eines motorischen Zentrums ein; es ist vielmehr als psychomotorisches Zentrum fuÈr alle BewusstseinsvorgaÈnge anzusehen [52, 53]. Zwischen der nozizeptiven Afferenz zur schnellen Schmerzlokalisation und der nozizeptiven Afferenz zum langsamen SchmerzgefuÈhl besteht eine antagonistische Beeinflussung, wobei das schnellleitende Schmerzsystem im Bereich der Substantia gelatinosa und im Thalamus das langsamer leitende System hemmen kann. Beide Systeme stehen in einem Gleichgewicht zueinander [52]. Im Verlauf des 2. Neurons, dem Tractus spinothalamicus, gehen Kollateralen an spinale Bereiche und den Hirnstamm ab. Dies erklaÈrt komplexe motorische (Fluchtreflex, Abwehrbewegungen) und vegetative Reaktionen (Blutdruck- und Herz-

. Abb. 5-2. Der Tractus spinothalamicus, das 2. Neuron der Schmerzafferenz und seine Umschaltung in den verschiedenen Hirnbereichen

31

5.1  Faktoren, die eine Schmerzempfindung beeinflussen

frequenzanstieg, Schweiûproduktion, Pupillenerweiterung). Kollateralen zur Formatio reticularis regeln den Wachzustand (»der Schmerz als WaÈchter auch waÈhrend des Schlafes«). In der naÈchsten Schaltstelle der Schmerzafferenz, dem Thalamus, entsteht das erste dumpfe, schlecht lokalisierbare SchmerzgefuÈhl, das uÈber Afferenzen zum limbischen System, insbesondere dem Pallidum, die emotionale, affektive Komponente erhaÈlt. Der Schmerzimpuls bekommt hier seinen ihm eigenen negativen Grundcharakter, der von Angst und Dysphorie begleitet ist. Die Weiterleitung der Schmerzafferenz uÈber das 3. Neuron zu den assoziativen Arealen im Frontalbereich fuÈhrt zur »Ich-Besetzung« des Schmerzerlebnisses, waÈhrend die somatotopische Gliederung im Gyrus postcentralis schlieûlich eine Lokalisierung des Schmerzortes ermoÈglicht (. Abb. 5-2). Die Empfindung Schmerz ist deshalb immer eine individuelle Erfahrung, die auch individuell behandelt werden soll, je nachdem, welche SchmerzintensitaÈten der Patient angibt. 5.1

Faktoren, die eine Schmerzempfindung beeinflussen

Es muss somit zwischen Schmerzwahrnehmung, Schmerzlokalisation einerseits und dem Schmerzerlebnis sowie der Schmerzbewertung andererseits differenziert werden. Hierbei beeinflussen folgende Faktoren das Schmerzerlebnis: 4 die aktuelle Situation waÈhrend der SchmerzausloÈsung, 4 die individuellen Erbanlagen, 4 die Erziehung, 4 das soziokulturelle Umfeld, 4 das religioÈse Umfeld, 4 die ethnische Herkunft, 4 die Zivilisationsstufe. Die Schmerzschwelle wiederum kann durch folgende Faktoren erniedrigt werden: 4 Angst und/oder Trauer, 4 Depression, 4 Isolation, 4 Schlaflosigkeit, 4 GruÈbeln, 4 Sorgen. Andererseits kann jedoch die Schwelle, wann der Schmerz empfunden wird, durch folgende Faktoren erhoÈht werden: 4 Zuwendung, 4 Hoffnung, 4 Schlaf,

4 4 4 4 4 4

Ablenkung, Entspannung, aktive BeschaÈftigung mit anderen Dingen, Anxiolytika, Antidepressiva Opioide. Aufgrund dieser Beeinflussbarkeit des Schmerzes durch einen Reihe von Faktoren ist der Schmerz immer ein hoÈchst subjektives Erlebnis. Seine individuelle FaÈrbung erhaÈlt er im limbische System, ein entwicklungsgeschichtlich sehr altes Zentrum, das eine dichte Anreicherung von Opioidrezeptoren aufweist [709]. Mit nichts kommuniziert das Groûhirn so intensiv wie mit dem limbischen System. Denn dort wird die einlaufende Afferenz ausgewertet, bewertet und erhaÈlt ihre individuelle FaÈrbung. Der akute Schmerz erfuÈllt im Rahmen einer GewebeschaÈdigung eine sinnvolle Funktion, indem er als Warnsignal fungiert. FuÈr den behandelnden Arzt ist er gleichzeitig ein wichtiges diagnostisches Hilfsmittel. Der chronische Schmerz dagegen ist Folge einer kontinuierlichen GewebeschaÈdigung wie er z. B. bei einem Tumor oder einer degenerativen Gelenkerkrankung auftritt. Oft lassen sich jedoch keine Ursachen mehr nachweisen, die die Schmerzsymptomatik ausreichend erklaÈren. Der chronische Schmerz hat seine Funktion als Warnsignal verloren, er ist zu einer Krankheit selbst geworden (Schmerzkrankheit).

5

6 Rationale zur Opioidtherapie bei Schmerzen 6.1

Vermittlung der Opioidwirkung uÈber spezifische Rezeptoren ± 33

6.1.1

Opioidrezeptoren im schmerzleitenden und schmerzverarbeitenden System ± 34 Opioidrezeptoren und extrapyramidal-motorisches System ± 36 Opioidrezeptoren und Vigilanz ± 36 Intrathalamische Opioidrezeptoren ± 36

6.1.2 6.1.3 6.1.4

Bei Ûberschreitung einer gewissen Schmerzschwelle setzt der Organismus Endorphine (koÈrpereigene, morphinaÈhnliche Substanzen) frei, die uÈberall dort entstehen, wo Schmerzmediatoren zur Ûbertragung der Schmerzimpulse beteiligt sind. Reicht nach Bindung an spezifische Rezeptoren die Hemmung der Impulsweiterleitung und Herabsetzung der Schmerzempfindung nicht aus, weil der Einstrom von afferenten Schmerzimpulsen zu groû ist, koÈnnen nur von auûen zugefuÈhrte Opioide zu einer ausreichenden UnterdruÈckung der Schmerzleitung und -wahrnehmung fuÈhren. FuÈr die BewaÈltigung von Schmerzen sind somit OpioidabkoÈmmlinge die wirkungsvollsten Medikamente, da sie selektiv an der Schmerzleitung und Schmerzverarbeitung eingreifen. Sie stehen im Mittelpunkt einer jeglichen Schmerztherapie und leiten sich zum groÈûten Teil von Alkaloiden ab, die fuÈr medizinische Zwecke aus dem Schlafmohn (Papaver somniferum; somnus ˆ Schlaf, ferre ˆ bringen) extrahiert werden. Aus der Staude, die vorzugsweise in Kleinasien, China, Japan, Persien und Vorderindien waÈchst, wird durch Ritzen der unreifen Fruchtkapseln einen Milchsaft gewonnen, der nach dem Trocknen das Opium bildet und folgende Hauptalkaloide enthaÈlt: 4 Morphin (10±17 %), das wichtigste Alkaloid, wurde 1803 von dem Apotheker SertuÈrner in Einbeck aus dem Opium isoliert. Er waÈhlte den Namen Morphium nach dem griechischen Gott Morpheus, was schon damals auf die

sedativ-hypnotische und schlafanstoûende Wirkung des Morphins hinwies. 4 Codein (0,7±4 %), chemisch ein Methylmorphin; es wird heutzutage durch Methylierung aus Morphin gewonnen. 4 Thebain (0,5±2 %), ein VorlaÈufer fuÈr viele halbsynthetische Agonisten und Antagonisten wie z. B. Etorphin, Oxymorphon, Naloxon, Naltrexon, Nalbuphin, Buprenorphin, Cyprenorphin und Diprenorphin. 4 Benzylisoquinoline, eine Gruppe ohne Wirkung auf Opioidrezeptoren. Die wichtigsten Vertreter sind Papaverin (0,5±1 %) ein Phosphordiesterasehemmer, der die glatte Muskulatur relaxiert, und Noscapin (2±9 %), das als Antitussivum verwendet wird. Als Opiate werden die natuÈrlichen, aus dem Opium extrahierten Alkaloide mit morphinartiger Wirkung oder dessen Derivate bezeichnet. Als Opioide dagegen werde alle exogen zufuÈhrbaren, halbsynthetischen oder vollsynthetischen Substanzen beschrieben. 6.1

Vermittlung der Opioidwirkung uÈber spezifische Rezeptoren

Die SchmerzunterdruÈckung durch Opioide laÈsst sich dahingehend erklaÈren, dass diese Pharmaka im Bereich der Schmerzleitung uÈber spezielle Bindestellen, die Opioidrezeptoren, ihre Wirkung vermitteln. Øhnlich wie die Hormone und die Katecholamine ist die Gruppe der Opioide in der

34

6

Kapitel 6  Rationale zur Opioidtherapie bei Schmerzen

Lage, nach Bindung nur an den ihnen eigenen Rezeptoren, eine Wirkung auszuloÈsen. Solche Bindungsstellen finden sich schon in der ersten Schaltstelle der Schmerzleitung, der Substantia gelatinosa des RuÈckenmarks [54, 55]. Dort im Hinterhorn, wo die Erregung vom 1. Neutron auf das 2. Neuron umgeschaltet wird, finden sich dicht angereichert Opioidbindungsstellen, die im eigentlichen Sinn fuÈr die koÈrpereigene Modulation des Schmerzreizes uÈber dort frei gesetzte endogene Opioide (Enkephaline, Endorphine) vorgesehen sind [50]. Im weiteren Verlauf der Schmerzleitung finden sich Opioidrezeptoren in den verschiedensten hoÈheren Schaltstellen und Hirnnervenkernen, wodurch die charakteristische Wirkung der Opioide verstaÈndlich wird [14, 50, 54±60].

6.1.1 Opioidrezeptoren

im schmerzleitenden und schmerzverarbeitenden System

Spezifische Opioidbindestellen finden sich, neben der Substantia gelatinosa des RuÈckenmarks, besonders dicht angereichert auch in folgenden Arealen des Organismus (. Abb. 6-1): 4 Im zentralen HoÈhlengrau einschlieûlich des Ductus mesencephali Sylvii uÈber die der Tractus spinothalamicus zieht. 4 In den Thalamuskernen, der Schaltstelle die fuÈr die spezifische und unspezifische (subkortikale) Schmerzleitung verantwortlich sind. 4 Im Pallidum und Teilen des limbischen Systems, wodurch die euphorisierende Komponente der Opioide zu erklaÈren ist. Von allen Teilen des limbischen Systems hat das Pallidum den groÈûten Gehalt an Metenkephalin, einem endogenen Opioid [51]. Dass das Pallidum mit BewusstseinsvorgaÈngen in Beziehung steht, lehren FaÈlle von doppelseitiger PallidumlaÈsion. Die Patienten sind komatoÈs, haben aber nach einiger Zeit einen Schlaf-Wach-Rhythmus. Das Pallidum ist das entscheidende Zentrum fuÈr die lang-

. Abb. 6-1. Zusammenfassung der im Verlauf von Schmerzleitung und Schmerzverarbeitung nachgewiesenen hohen Rezeptordichte fuÈr Opioide

6.1  Vermittlung der Opioidwirkung uÈber spezifische Rezeptoren

samere Schmerzleitung, die das GefuÈhl des anhaltenden Schmerzes vermittelt und steht wiederum uÈber direkte Neuronenverbindungen unter einer foÈrdernden und hemmenden Kontrolle des Striatums. Die Transmitter der hemmenden Neurone sind g-AminobuttersaÈure (GABA) und Substanz P [50]. 4 Im Nucleus amygdalae, dem Mandelkern, der neben dem Pallidum einen wesentlichen Einfluss auf die emotionalen Verhaltensweisen hat. Er ist das an Opioidbindestellen reichste Zentrum [50].

35

4 In der Area postrema im Hirnstamm, von dem Opioide die ihnen eigene Atemdepression sowie Nausea und Erbrechen hervorrufen [710] (. Abb. 6-2).

. Abb. 6-2. Die in der Area postrema lokalisierten Chemorezeptoren, die fuÈr eine durch Opioide ausgeloÈste Emesis und Nausea verantwortlich sind

6

36

Kapitel 6  Rationale zur Opioidtherapie bei Schmerzen

6.1.2 Opioidrezeptoren und

extrapyramidal-motorisches System

6

Des Weiteren befinden sich Opioidrezeptoren im Corpus striatum (Caudatum, Putamen und Fundus striati), das als Teil des extrapyramidal-motorischen Systems eine opioidinduzierte RigiditaÈt (Muskelsteife) vermittelt (. Abb. 6-3). Es ist jedoch auch das Zentrum fuÈr Lokomotion und der Ausgangspunkt fuÈr die Regulierung von Zuwendung, Aufmerksamkeit und Perzeption. Dieses Zentrum hat nach dem Pallidum die hoÈchste Konzentration an Methioninenkephalin [51], wodurch die besondere Bedeutung dieser Areale in der Schmerzverarbeitung unterstrichen wird. 6.1.3 Opioidrezeptoren und Vigilanz Die Opioidrezeptoren im Nucleus Tractus solitarii, der Ausgangsstelle fuÈr das noradrenerge dorsale LeitungsbuÈndel, haben eine Bedeutung fuÈr die Vigilanz. Gleichzeitig daÈmpfen sie, bei entsprechender Besetzung mit einem Opioid, den Hustenreflex, was die antitussive (hustendaÈmpfende) Komponente vieler Opioide verstaÈndlich macht. Des Weiteren werden von hier auch eine orthostatische Hypotonie und eine Hemmung der gastralen Sekretion ausgeloÈst. Er ist aber auch das Kerngebiet, das die sensorischen Afferenzen vom

Nervus vagus und Nervus glossopharyngicus aufnimmt [710]. Weitere Opioidbindestellen finden sich 4 im Locus caeruleus, der als Ausgangspunkt des lateralen Sympathikus im Hirnstamm die Weitstellung der GefaÈûe in der Peripherie reguliert, sodass nach Opioidgabe sich eine Hypotension bemerkbar machen kann, 4 im Nucleus dorsalis nervi vagi im Hirnstamm, der als Ausgangspunkt fuÈr die Vagusstimulierung nach Opioidgabe angesehen wird, wodurch die oÈfters zu beobachtende Bradykardie ihre ErklaÈrung findet, 4 im kaudalen Anteil des N. trigeminus, der fuÈr die Umschaltung sensorischer Afferenzen aus dem Gesichtsbereich verantwortlich ist. 6.1.4 Intrathalamische Opioidrezeptoren Aufgrund der engen Nachbarschaft von Opioidbindestellen zu den Schaltneuronen im lateralen Mesenzephalon, die den Schmerzimpuls zum Nucleus limitans und zum aktivierenden retikulaÈren System (ARS) leiten, wird verstaÈndlich, warum Opioide neben einer analgetischen auch eine hypnosedative Komponente haben, die aufgrund einer Abnahme der ErregungsuÈbertragung zum ARS ihre ErklaÈrung findet.

. Abb. 6-3. Die wichtigsten Kerngebiete des extrapyramidal-motorischen Systems, von denen sich das Striatum durch eine dichte Opioidrezeptorbindung auszeichnet

6.1  Vermittlung der Opioidwirkung uÈber spezifische Rezeptoren

Die vorherrschende Eigenschaft der Opioide, im Wesentlichen den Ûbertritt der Schmerzmeldung in den Nucleus limitans und auf Interneurone zum limbischen System zu blockieren (. Abb. 5-1) resultiert in 4 Schmerzlosigkeit (Analgesie) und 4 fehlender negativer Grundstimmung (Euphorie). Der Schmerz wird nicht mehr als solcher empfunden, die Schmerzafferenz jedoch noch uÈber den Nucleus ventrocaudalis parvocellularis (. Abb. 5-1) zum postzentralen Kortex geleitet, wodurch eine Lokalisation moÈglich ist. Hierdurch wird verstaÈndlich, warum unter Schmerzfreiheit durch Opioide der Reiz noch lokalisiert werden kann. Der Schmerz hat jedoch seinen ihm sonst eigenen negativen Charakter verloren; er wird nicht mehr als solcher erkannt und empfunden.

37

6

7 Opioidwirkung abhaÈngig von AffinitaÈt, intrinsischer AktivitaÈt und Lipophilie

Die hohe Dichte der Opioidrezeptoren besonders im limbischen System, dem Hypothalamus, der Ponsregion, dem Ductus mesencephali Sylvii, dem Nucleus amaygdalae, dem zentralen HoÈhlengrau und der Substantia gelatinosa des RuÈckenmarks (. Abb. 6-1) weist auf die Bedeutung aller dieser Regionen in Schmerzleitung und Schmerzverarbeitung hin. Obgleich eine einfache Zuordnung der Rezeptordichte in den verschiedenen Hirnarealen zu bestimmten WirkungsqualitaÈten der Opioide nur annaÈherungsweise moÈglich ist, laÈsst sich jedoch festhalten, welche Voraussetzungen ein Ligand mitbringen muss, um an den Opioidrezeptoren im ZNS binden zu koÈnnen, damit eine Wirkung vermittelt werden kann: 1. Die fuÈr eine pharmakologische Wirkung noÈtige Dosis eines Opioids haÈngt von der AffinitaÈt (Bindungsbereitschaft) zum Opioidrezeptor ab. Hieraus laÈsst sich die therapeutische WirkungsstaÈrke eines Liganden ableiten. Die StaÈrke der AffinitaÈt eines Opioids zum Rezeptor wiederum steht mit der GroÈûe und der Form des MolekuÈls (der sterischen Konfiguration) und mit der Anpassung von Atomen und Atomgruppen zur OberflaÈche des Rezeptors in Beziehung (. Abb. 7-1). So ist die AffinitaÈt eines Liganden umso groÈûer, je besser er in die Bindungsstelle des Rezeptors passt. Der Ligand muss den »Strukturvorschriften«, die ihm der Rezeptor vorgibt, genuÈgen (. Abb. 7-2). Vereinfacht dargestellt, muss ein Ineinanderpassen von Ligand und

Rezeptor, aÈhnlich dem SchluÈssel-Schloss-Prinzip, vorliegen, bevor eine Wirkung ausgeloÈst werden kann. Eine bessere Passform bedingt eine groÈûere AffinitaÈt des Opioids und schlaÈgt sich klinisch in einer groÈûeren WirkungsstaÈrke nieder (. Abb. 7-2). 2. DaruÈber hinaus vermitteln Opioide jedoch eine weitere wichtige Eigenschaft, nach Bindung am Rezeptor eine KonformationsaÈnderung der transmembranoÈsen Helix des Opioidrezeptors auszuloÈsen. Diese interhelikale Kraft die den Rezeptor zusammenhaÈlt, wird durch den Liganden durchbrochen und es kommt zur Umwandlung des RezeptormolekuÈls in einen funktionellen Zustand, der uÈber Zwischenstufen, in die Úffnung eines Ionenkanals muÈndet. Diese Eigenschaft eines Liganden wird als »intrinsische AktivitaÈt« bezeichnet und kann fuÈr die verschiedenen Opioide recht unterschiedlich sein (. Abb. 7-3). Erst wenn AffinitaÈt und intrinsische AktivitaÈt (Grad der KonformationsaÈnderung) ausreichend hoch sind, wird am Rezeptor ein analgetischer Effekt ausgeloÈst. Aufgrund ihrer unterschiedlichen AffinitaÈt (BindungsstaÈrke) am Rezeptor, als auch ihrer unterschiedlichen intrinsischen AktivitaÈt (KonformationsaÈnderung), weisen die verschiedenen Opioide am Rezeptor auch eine unterschiedliche WirkungsstaÈrke (Analgesie) auf. Von eher untergeordneter Bedeutung ist die IntensitaÈt der Bindung eines Liganden zu sei-

40

Kapitel 7  Opioidwirkung abhaÈngig von AffinitaÈt, intrinsischer AktivitaÈt und Lipophilie

nem Rezeptor. Das heiût, je staÈrker das Opioid am Rezeptor gebunden wird, umso langsamer loÈst es sich auch wieder von seiner Bindung. Dies ist ein Effekt, der sich letztendlich in der Wirkungsdauer niederschlaÈgt. So weist z. B. Alfentanil eine geringe BindungsintensitaÈt auf, waÈhrend einen anderes Opioid aus der gleichen Stoffklasse, das Lofentanil, eine bis zu 24 h anhaltende Wirkung offenbart. GrundsaÈtzlich kann festgehalten werden, dass mit hoÈherer Passform des Liganden zum Rezeptor, d. h. je stabiler der PharmakonRezeptor-Komplex, desto effektiver und »sau-

berer« ist auch seine Wirkung. Hohe AffinitaÈt innerhalb einer Stoffklasse bedeutet niedrige Bindung an andere unerwuÈnschte Bindungsstellen mit einer sich daraus ergebenden geringeren ToxizitaÈt. So hat in der Klinik das Opioid Sufentanil ± aufgrund seiner hohen AffinitaÈt zum Rezeptor ± eine im Vergleich zu anderen Opioiden uÈberdurchschnittlich geringere ToxizitaÈt und eine daraus sich ableitende groûe therapeutische Breite (z. B. Morphin 71, Fentanyl 277; Buprenorphin 7933; Sufentanil 26.716). 3. Die sog. Partialagonisten (z. B. Buprenorphin, Meptazinol) weisen ebenfalls eine hohe Affi-

7

. Abb. 7-1. Die Strukturformel einiger Opioide und die von ihnen ausgehende strukturelle Grundvoraussetzung, damit das Pharmakon mit dem spezifischen Opioidrezeptor (rechter oberer Bildteil) interagiert

7  Opioidwirkung abhaÈngig von AffinitaÈt, intrinsischer AktivitaÈt und Lipophilie

41

. Abb. 7-2. Unterschiedliche VerdraÈngungspotenziale verschiedener Opioide am m-Rezeptor, wobei niedrige Werte auf eine hohe AffinitaÈt und hohe Werte auf eine niedrige AffinitaÈt zum Rezeptor hinweisen. (Mod. nach [61])

. Abb. 7-3. Schematische Darstellung zur »intrinsischen AktivitaÈt« und AffinitaÈt verschiedener Opioide untereinander. Bei aÈhnlicher intrinsischer AktivitaÈt von z. B. Sufentanil und Morphin besteht jedoch eine hoÈhere analgetische Potenz (1000fach), was sich aus der hoÈheren AffinitaÈt ableiten laÈsst

nitaÈt zu dem spezifischen Opioidrezeptor auf. Wegen ihrer speziellen sterischen und physikochemischen Eigenschaften aktivieren die Partialagonisten jedoch nur einen Teil der von ihnen besetzten Rezeptoren (geringere »intrinsische AktivitaÈt«). Ein voller Agonist wird dagegen alle von ihm besetzten Rezeptoren

aktivieren (. Abb. 7-4). Eine partialagonistische Wirkung laÈsst sich dadurch errechnen, dass die maximal erreichbare WirkungsintensitaÈt unter verschiedenen Dosierungen in Prozent gegen die Anzahl der im Gehirn besetzten Rezeptoren (In-vivo-Rezeptorbindungsstudien mit radioaktiv markierten Liganden) bestimmt wird [62]. Vollagonisten wie z. B. das Sufentanil (Typ A in . Abb. 7-4) erreichen ihre maximale Wirkung bei der Besetzung von nur 2±10 % aller Rezeptoren. Steigert man die Dosis, so werden zwar mehr Rezeptoren besetzt, die WirkungsintensitaÈt nimmt aber nicht zu. Hieraus ist zwangslaÈufig zu schlieûen, dass nur ein Teil der vorhandenen Rezeptoren besetzt sein muss, um eine volle Wirkung zu erzielen [63]. Es besteht dann immer noch eine Rezeptorreserve. Beim Partialagonisten wird dagegen eine volle Wirkung erst bei der Besetzung von deutlich mehr Rezeptoren offenbar (Ligand Typ B in . Abb. 7-4), sodass im Vergleich zum Vollagonisten, hoÈhere Wirkstoffkonzentrationen verabreicht werden muÈssen, um eine gleiche Wirkung auszuloÈsen. Eine Ausnahme bei den Partialagonisten macht der Wirkstoff Buprenorphin, der aufgrund seiner hohen AffinitaÈt und intrinsischen AktivitaÈt zum m-Rezeptor bereits bei geringen Dosen eine ausreichend tiefe Analgesie bewirkt. In allen anderen FaÈllen kann die partialagonis-

7

42

Kapitel 7  Opioidwirkung abhaÈngig von AffinitaÈt, intrinsischer AktivitaÈt und Lipophilie

. Abb. 7-4. Beziehung zwischen maximaler Wirkung und prozentualer Besetzung der Rezeptoren durch verschiedene Liganden (A, B und C) mit unterschiedlicher »intrinsischer AktivitaÈt«. (Mod. nach [63, 64])

7

tische Wirkung nur so weit gehen, dass selbst bei Besetzung aller Rezeptoren eine maximale Wirkung nicht zustande kommt (Ceilingeffekt bei Liganden vom Typ C; . Abb. 7-4). 4. Andererseits koÈnnen am Opioidrezeptor auch Liganden binden, die in der Lage sind, die Wirkung eines Agonisten umzukehren (. Abb. 7-5). Solche Antagonisten (z. B. Naloxon, Naltrexon, Nalmefen) unterscheiden sich pharmakologisch nur durch geringe VeraÈnderungen an einer Seitenkette. Allein verabreicht induzieren die Antagonisten keine Wirkung. UrsaÈchlich fuÈr diese antagonistische Wirkung ist ihre hohe AffinitaÈt zum Rezeptor, die in eine kompetitive VerdraÈngung evtl. dort sitzender Agonisten muÈndet, sowie der fehlenden »intrinsische AktivitaÈt« am Rezeptor. 5. Die unterschiedliche Lipophilie der Opioide, d. h. die Tendenz der Liganden, in fettreiche Strukturen einzudringen, schlaÈgt sich in der

Anzahl der MolekuÈle nieder, die innerhalb eines bestimmten Zeitabschnitts in der Lage sind, die physiologische Barriere zum ZNS, die Blut-Hirn-Schranke, zu durchringen. Denn erst nach Durchdringung der Blut-HirnSchranke ist das Opioid in der Lage, am Rezeptor zu binden. So zeichnen sich Opioide mit einer hohen Lipophilie (z. B. Fentanyl, Sufentanil) durch einen gute Penetration durch die Blut-Hirn-Schranke aus, ein Effekt, der sich in einer hohen Anflutung am Rezeptor und schneller Wirkung niederschlaÈgt. Opioide mit einer geringen Lipophilie (z. B. Morphin) haben eine lange Anschlagzeit bis zum Erreichen einer maximalen Wirkung. Buprenorphin macht auch hierbei eine Ausnahme, weil es trotz seiner hoher Lipophilie mindestens 45 min bis zum Erreichen einer maximalen Wirkung benoÈtigt. Ursache hierfuÈr ist die traÈge Rezeptorkinetik, bis das Opioid

. Abb. 7-5. Schematische Darstellung zur Bindung eines Agonisten und eines Antagonisten am Opioidrezeptor, einem 7fach gefalteten transmembranoÈsen Peptid. Aufgrund des unterschiedlichen Bindungsortes am Rezeptor induzieren Agonist und Antagonist auch unterschiedliche Effekte

7  Opioidwirkung abhaÈngig von AffinitaÈt, intrinsischer AktivitaÈt und Lipophilie

voll an den Rezeptor angekoppelt hat und dann erst seine volle intrinsische AktivitaÈt vermittelt. 6. Die Wirkungsdauer eines Liganden ist von der Zeit der Bindung am Rezeptor und von der Anzahl der Bindungen abhaÈngig. Je nach BindungsintensitaÈt loÈst sich der Ligand unterschiedlich schnell vom Rezeptor und spielt die individuelle Konzentration am Rezeptor, die wiederum von der Geschwindigkeit der Umverteilung, der Metabolisierungsrate in der Leber und der Elimination abhaÈngt, eine Rolle. Opioide mit extrem kurzer Wirkungsdauer sind Alfentanil und Remifentanil. Dagegen weist ein Opioid wie das Buprenorphin aufgrund der langen Haftung am Rezeptor (8±10 h) auch eine sehr lange Wirkungsdauer auf. Bei allen diesen Mechanismen zur Rezeptorinteraktion der Opioide, die letztlich in eine unterschiedliche Wirkung der Opioide muÈnden, ist jedoch zusaÈtzlich zu beruÈcksichtigen, dass ein Wirkungsunterschied auch durch unterschiedliche Bindungen an verschiedene Opioidrezeptorsubtypen sowie durch unterschiedliche Rezeptordichten in verschieden Hirnarealen ausgeloÈst wird (NaÈheres s. 7 Kap. 8.2.1 und 7 Kap. 8.3).

43

7

8 Rezeptorinteraktion von Agonisten, Antagonisten und partiellen Agonisten 8.1

WirkungsstaÈrke der Opioidagonisten

8.2

Wirkungsmechanismus der Agonisten/Antagonisten und partiellen Agonisten ± 45

8.2.1

Unterschiedliche Rezeptorpopulationen fuÈr die Wirkungsvermittlung der Opioide ± 47 Opioidsubpopulationen ± 50

8.2.2

Opioide koÈnnen generell in reine Agonisten, Antagonisten, gemischtwirkende Agonisten/Antagonisten und partielle Antagonisten unterteilt werden. Die unterschiedlichen pharmakologischen Eigenschaften der verschiedenen Klassen sind durch ihre Wechselwirkung mit spezifischen Bindungsstellen, den Opioidrezeptoren im Bereich des ZNS zu erklaÈren. Diese Rezeptoren befinden sich besonders in den Strukturen, welche an der Leitung, Verarbeitung sowie der Modulation von schmerzhaften Afferenzen beteiligt sind. 8.1

8.3

Topographische Verteilung der Opioidrezeptoren ± 52

8.4

Klinische Bedeutung der k-Liganden ± 53

± 45

WirkungsstaÈrke der Opioidagonisten

WaÈhrend die analgetische WirkungsintensitaÈt der verschiedenen Agonisten durch ihre unterschiedliche AffinitaÈt zum Rezeptor und ihre FaÈhigkeit, die Konformation des Rezeptor zu veraÈndern (»intrinsische AktivitaÈt«), bestimmt wird, weisen reine Antagonisten (z. B. Naloxon) eine ebenso hohe AffinitaÈt bei jedoch fehlender »intrinsischer AktivitaÈt« am Rezeptor auf (. Abb. 8-1), d. h. sie binden zwar am Rezeptor, sind aber selbst zu schwach, um den Rezeptor in seiner Konformation zu aÈndern. Nimmt man den Vergleich mit SchluÈssel und Schloss, bedeutet dies, dass der Antagonist zwar in das Schloss passt, das Schloss selbst aber nicht gedreht werden kann. Ein Antagonist ist jedoch in der Lage, wegen seiner guten AffinitaÈt zum Rezeptor einen dort sitzenden Agonisten zu verdraÈngen (kompetitive VerdraÈngung); allein

gegeben bewirkt er keine Analgesie und hat auch keine sonstigen opioidtypischen Wirkungen (. Abb. 8-2). ! Generell kann festgehalten werden:

Opioide induzieren mit zunehmender AffinitaÈt und »intrinsischer AktivitaÈt« eine zunehmende analgetische Wirkung. Es kann deshalb folgende Beziehung bezuÈglich der analgetischen WirkungsstaÈrke aufgestellt werden: Pethidin I Piritramid I Morphin I Buprenorphin I Alfentanil I Fentanyl I Sufentanil.

8.2

Wirkungsmechanismus der Agonisten/Antagonisten und partiellen Agonisten

Im Gegensatz zu den Agonisten wie z. B. Morphin, den Antagonisten wie z. B. Naloxon gibt es noch die gemischtwirkenden Agonisten/Antagonisten. Zum einen wirken sie bei vorangegangener Rezeptorbesetzung durch einen Agonisten wie ein Antagonist, d. h. sie verdraÈngen die Substanz von ihrer Bindungsstelle. Zum anderen koÈnnen sie aber auch, allein verabreicht, wie ein reiner Agonist wirken, indem sie Analgesie vermitteln (. Tabelle 8-1). Diese analgetische Wirkung wird jedoch von einer anderen Rezeptorgruppe, den k-Bindestellen, vermittelt. Daneben gibt es noch die partiellen Agonisten, die am m-Rezeptor zuerst eine verdraÈngende Wirkung vermitteln, um anschlieûend, uÈber die glei-

46

Kapitel 8  Rezeptorinteraktion von Agonisten, Antagonisten und partiellen Agonisten

8

. Abb. 8-1. Schematische Darstellung unterschiedlicher AffinitaÈten und »intrinsischen AktivitaÈten« verschiedener Opioide untereinander. Bei aÈhnlicher intrinsischer AktivitaÈt von z. B. Sufentanil besteht jedoch eine 100fach hoÈhere analgetische Potenz im Vergleich zu Morphin, was sich aus der groÈûeren AffinitaÈt des Liganden zum Rezeptor ableiten laÈsst

. Abb. 8-2. Unterschiedliche relative WirkungsstaÈrke verschiedener Opioide, abgleitet aus ihren unterschiedlichen VerdraÈngungspotenzialen am Rezeptor. Liganden mit * sind klinisch durch eine antagonistische Wirkung charakterisiert

8.2  Wirkungsmechanismus der Agonisten/Antagonisten und partiellen Agonisten

. Tabelle 8-1. Die unterschiedliche agonistische

(im Vergleich mit Morphin ˆ 1) und antagonistische Potenz (im Vergleich mit Naloxon ˆ 1) verschiedener Opioide aus der Gruppe der Agonisten/Antagonisten und partiellen Agonisten. (Nach [65]) Produktname

Warenname

Antagonismus

Agonismus

Butorphanol Buprenorphin

Stadol Temgesic, Transtec Lorfan Narcanti Morphin Nubain Fortral Meptid

0,025 0,5

11 30

Levallorphan Naloxon Morphium Nalbuphin Pentazocin Meptazinol

0,2 1 0 0,4 0,04 0,02

1 0 1 0,8 0,4 0,15

che Bindungsstelle, eine agonistisch-analgetische Wirkung auszuloÈsen. Zu den partiellen Agonisten zaÈhlen Buprenorphin (Temgesic, Transtec) und Meptazinol (Meptid). Buprenorphin hat eine 30fach hoÈhere agonistische Wirkung als Morphin waÈhrend Meptazinol eine nur etwa 0,15fache analgetische Potenz im Vergleich zu Morphin inne hat (. Tabelle 8-1). Neben ihrer initialen m-antagonistischen Wirkung geht von ihm auch ein m-agonistischer Effekt aus. Aufgrund der am m-Rezeptor hohen AffinitaÈt und intrinsischen AktivitaÈt verhaÈlt sich der partielle Agonist Buprenorphin im therapeutischen Dosisbereich (bis 10 mg/Tag) wie ein reiner Agonist. Bei Meptazinol entspricht die antagonistische Wirkung nur 0,02fach der von Naloxon bzw. 0,3fach der von Nalorphin. Diese geringe antago-

47

nistische Wirkung ist klinisch nicht von Bedeutung. Meptazinol soll zusaÈtzlich noch uÈber eine Zunahme zentralcholinerger AktivitaÈten deszendiernder Bahnen eine Analgesie vermitteln. Tramadol, das als Razemat vorliegt, nimmt hierbei insofern eine besondere Stellung ein, als seine agonistische (analgetische) Wirkung sowohl uÈber Opioidrezeptoren (m), insbesondere vom (‡)-Enantiomer vermittelt wird, waÈhrend das (±)-Enantiomer dagegen eine Hemmung der Wiederaufnahme von Serotonin und Noradrenalin am synaptischen Spalt bewirken [66]. Letztlich werden hierdurch die deszendiernden-hemmenden Bahnen aktiviert. Somit gehen von beiden Enantiomeren antinozizeptive Eigenschaften aus, die uÈber unterschiedliche Wirkungsmechanismen vermittelt werden. Wegen der engen Beziehung der monaminergen Neurotransmitter in der Schmerzverarbeitung kommt es hierbei in Bezug auf die analgetische Wirkung zu einer synergistischen Wirkung. Die antagonistische Wirkung, die sich im Tierexperiment nachweisen lieû [67] ist klinisch jedoch nicht von Bedeutung. 8.2.1 Unterschiedliche Rezeptor-

populationen fuÈr die Wirkungsvermittlung der Opioide

Die duale Wirkung der klinisch relevanten Agonisten/Antagonisten kann durch die Wechselwirkung mit verschiedenen Untergruppen von Opioidrezeptoren erklaÈrt werden (. Abb. 8-3). Dieses Konzept multipler Bindestellen einer Rezeptorgruppe ist aÈhnlich dem der Katecholamine (b1 bzw. b2), bei denen der jeweilige Subrezeptor fuÈr die Ver-

. Abb. 8-3. Die Prototypen der mit den verschiedenen Opioidsubpopulationen interagierenden Substanzen und die hierdurch

ausgeloÈsten Wirkungseffekte. (Nach [68])

8

48

8

Kapitel 8  Rezeptorinteraktion von Agonisten, Antagonisten und partiellen Agonisten

mittlung ganz bestimmter Effekte verantwortlich gemacht werden kann. So interagieren Morphin und andere wirkungsstarke Opioide wie Fentanyl, Sufentanil, Alfentanil und Piritramid mit dem sog. m-Rezeptor, der sich fuÈr die Vermittlung folgender Opioideffekte verantwortlich zeichnet: 4 tiefe Analgesie, 4 Atemdepression, 4 AbhaÈngigkeitsentwicklung, 4 Bradykardie, 4 Hypothermie sowie 4 Miosis. Sowohl Pentazocin als auch Nalbuphin und Butorphanol vermitteln ihre antagonistische (verdraÈngende) Eigenschaft uÈber den m-Rezeptor. Ihre analgetische (agonistische) Wirkung wird dagegen uÈber den sog. k-Rezeptor ausgeloÈst, fuÈr den das Ketocyclazocin als typischer Ligand angesehen wird (. Abb. 8-3). Im Gegensatz zu den vorzugsweise am m-Rezeptor angreifenden Liganden sind die k-Agonisten durch eine deutlich geringere AbhaÈngigkeitsentwicklung charakterisiert. Dies lies sich durch fehlende Selbstinjektionen beim Affen, einer fehlenden UnterdruÈckung von Abstinenzsymptomen bei morphinabhaÈngiger Hunde oder Affen sowie einer fehlenden Kreuztoleranz zu Morphin nachweisen [711]. Solche Daten werden insofern verstaÈndlicher, wenn der Antagonismus von k-Liganden am m- und d-Rezeptor beruÈcksichtigt wird ist [712]. Weil im Grunde jedes Opioid in unterschiedlichem Masse mit allen bekannten Rezeptorpopulationen (m, d, k) interagiert, klinische jedoch unterschiedliche Wirkungen nachzuweisen sind, kann folgender Leitsatz aufgestellt werden: ! Die AffinitaÈt der verschiedenen Opioide zu den

Rezeptorpopulationen ist unterschiedlich ausgepraÈgt. Erst die PraÈferenz der Bindung manifestiert sich in die jeweiligen klinischen Wirkungen, die einmal einen agonistischen und ein anderes Mal einen antagonistischen Charakter aufweisen.

Neben dem m- und k-Rezeptor ist der sog. d-Rezeptor die Bindestelle, mit der hauptsaÈchlich die endogenen Opioide (Enkephaline) interagieren. Diese spielen eine uÈbergeordnete Rolle bei der Schmerzmodulation (Freisetzung bei Stress p Anheben der Schmerzschwelle), sie sind an der AusloÈsung verschiedener Verhaltensweisen eines Individuums beteiligt und sie regulieren die Freisetzung der Hormone aus der Hypophyse (Prolactin, STH, ACTH, TSH).

Schlieûlich ist noch der s-Rezeptor aufzufuÈhren, fuÈr den das N-Allynormetazocin (SKF 10,047) ein typischer Ligand darstellt (. Abb. 8-3). Diese Rezeptorgruppe ist fuÈr die Vermittlung exzitatorischer Effekte wie Hypertonie, Tachykardie und Dysphorie verantwortlich. Da die gemischtwirkenden Agonisten/Antagonisten, besonders wenn sie im hohen Dosisbereich verabreicht werden, auch partiell mit dieser Rezeptorgruppe interagieren, ist hierin die ErklaÈrung fuÈr die oft zu beobachtenden exzitatorischen Nebenwirkungen bei Dosen uÈber den therapeutischen Wirkungsbereich hinaus, zu suchen. Die s-Rezeptorgruppe ist jedoch streng genommen nicht den Opioidrezeptoren zuzuordnen, da mit ihnen auch Pharmaka wie Phencyclidin (PCP, »angel dust«) [69] und Ketamin [70, 71] interagieren und die Wirkungen sehr schlecht durch Naloxon aufzuheben sind. Insbesondere ist die AffinitaÈt verschiedener BenzomorphanabkoÈmmlinge (z. B. Pentazocin) zum s-Rezeptor in verschiedenen Hirnarealen und in der Peripherie, einzig den (‡)-Isomeren zuzuordnen [713]. Diese StereoselektivitaÈt verhaÈlt sich kontraÈr zur SelektivitaÈt von Liganden, die vornehmlich am Opioidrezeptor binden. Denn mit ihm interagiert vorzugsweise das Levo (±)-Isomer, von dem auch die eigentliche pharmakologische Wirkung ausgeht [714]. Die unterschiedlichen AffinitaÈten der einzelnen Opioide zu den verschiedenen Subpopulationen kann in Bindungs- und VerdraÈngungsstudien an Hirnhomogenaten verdeutlicht werden. Denn je nachdem, ob niedrige oder hohe Konzentrationen einer fraglichen Substanz in der Lage sind, den Prototypen vom jeweiligen Rezeptor zu verdraÈngen, kann auf eine hohe oder niedrige AffinitaÈt der getesteten Substanz geschlossen werden (. Tabelle 8-2). Hierbei wurden folgende radioaktiv markierte Liganden als Prototypen einer selektiven Bindung verwendet: FuÈr den m-Rezeptor das Morphin, fuÈr den d-Rezeptor das D-Ala-D-Leu-Enkephalin, fuÈr den k-Rezeptor das (±)-Ethylketocyclazocin und fuÈr den s-Rezeptor das (‡)-SKF 10,047 (N-AllylNormetazocin). Je geringer die zur VerdraÈngung notwendige Konzentration (nmol/l), desto groÈûer ist die RezeptorselektivitaÈt und vice versa. So interagiert Morphin ausgesprochen stark mit dem m-Rezeptor, weniger stark mit dem d-Rezeptor, sehr schwach mit dem k-Rezeptor und fast gar nicht mit dem s-Rezeptor. Im Gegensatz hierzu bindet das endogene Opioid D-Ala-D-LeuEnkephalin sehr gut mit dem d-Rezeptor, fuÈr den es vermutlich der eigentliche Ligand ist; es bindet

8.2  Wirkungsmechanismus der Agonisten/Antagonisten und partiellen Agonisten

. Tabelle 8-2. BindungsaffinitaÈten [nmol/l] verschiedener Opioide zu den 4 hauptsaÈchlichen Rezeptorsubpopulationen, gemessen an Hirnhomogenaten von Meerschweinchen und an klonierten Opioidrezeptoren des Menschen (k. D. ˆ keine Daten). (Nach Magnan 1996; Magnan, Paterson et al. 1982)

Opioid

Morphin (m) Normorphin Levorphanol Codein Methadon Fentanyl Pethidin Pentazocin Butorphanol Nalbuphin Buprenorphin Naloxon Naltrexon

d

90 310 5,6 i1000 15,1 151 4345 106 13 163 1,3 27 9,4

k

317 149 9,6 k. D. 1628 470 5140 22,2 7,4 66 2,0 17,2 6,5

m

1,8 4,0 0,6 2700 4,2 7,0 385 7,0 1,7 6,3 0,6 1,8 0,46

Klonierte menschliche Opioidrezeptoren 2,0 k. D. 1,9 65 4,2 1,9 k. D. k. D. k. D. k. D. 0,5 1,4 k. D.

schwach mit dem m-Rezeptor und gar nicht mit dem k- und s-Rezeptor. Der Prototyp fuÈr k-Bindung, das Ethylketocyclazocin, bindet sehr stark sowohl mit dem k-Rezeptor, als auch mit dem m-Rezeptor, wobei diese BindungsaffinitaÈt verdraÈngende WirkungsqualitaÈten offenbart. Ethylketocyclazocin, bindet jedoch weniger mit dem d-Rezeptor und fast gar nicht mit dem s-Rezeptor. Der klassische s-Ligand, das (‡)-SKF 10,047 (N-AllylNormetazocin), bindet naturgemaÈû stark mit dem s-Rezeptor und sehr schwach mit allen anderen Subpopulationen. Unter den gemischtwirkenden Agonisten/Antagonisten zeigt Nalbuphin eine besonders starke Bindung an den m-Rezeptor, wo es jedoch antagonistisch wirkt. Es bindet aber auch gut an den k-Rezeptor, wodurch die Analgesie ausgeloÈst wird, maÈûig an den d-Rezeptor und fast gar nicht an den s-Rezeptor. Letzteres weist auf ein geringes psychotomimetisches Potenzial hin. Im Gegensatz hierzu bindet Pentazocin maÈûig stark an den k-Rezeptor, schwach an den d-Rezeptor und stark an den s-Rezeptor, wodurch die gelegentlich zu beobachtenden psychotomimetischen Effekte zu erklaÈren sind. Der Agonist/Antagonist Butorphanol zeigt aÈhnliche AffinitaÈten an den sund den k-Rezeptoren, was auf ein Potenzial fuÈr dysphorische Nebenwirkungen schlieûen laÈsst.

8

49

. Tabelle 8-3. Naloxonbedingte Umkehr der durch

ED50-Dosen bei der Maus ausgeloÈsten Antinozizeption, gemessen mit Hilfe des PhenylchinonKruÈmmungstests (PQW »phenylquinone-writhing«). (Nach [72]) Opioid

m-Agonist: Oxymorphon Morphin Etonitazen Sufentanil Fentanyl

PQW-ED50 nach 20 min (mg  kg 1 subkutan)

Naloxonantagonismus (mg  kg 1 subkutan)

0,032 0,69 0,0014 0,0023 0,032

0,013 0,019 0,027 0,041 0,046

Agonist/Antagonist: Pentazocin 1,9 Butorphanol 0,067 Nalbuphin 1,1 Nalorphin 1,1 k-Agonist: Ethylketocyclazocin Bremazocin U50, 488H Tifluadom

0,039 0,054 0,062 0,063

0,13

0,069

0,0094 1,1 0,27

0,091 0,16 0,36

Von den partiellen Agonisten macht das Buprenorphin insofern eine Ausnahme weil es sowohl zu dem m- und dem k-Rezeptoren, als auch zu den d-Rezeptoren eine hohe BindungsaffinitaÈt aufweist, waÈhrend eine Bindung zum s-Rezeptor nicht nachweisbar ist. Die hohe BindungsaffinitaÈt zum k-Rezeptoren ist jedoch antagonistischer Natur. Die reinen Antagonisten Naloxon, Nalmefen und Naltrexon wirken mit unterschiedlicher AffinitaÈt auf alle 3 Rezeptorpopulationen m, k, und d, bei einer gemeinsamen PraÈferenz fuÈr die m-Gruppe. Hieraus wird verstaÈndlich, dass Naloxon, hinsichtlich seiner antagonistischen WirkungsstaÈrke, bei allen 3 Opioidpopulationen unterschiedliche Dosis-Wirkungs-Bereiche aufweist. Die niedrige Dosis, mit der die analgetische Wirkung von Oxymorphon aufgehoben werden kann (Phenylchinon-KruÈmmungstest bei der Maus) weist auf eine hohe Selektion zu dem m-Rezeptor hin (. Tabelle 8-3). Øhnlich niedrig liegen die Dosen fuÈr Morphin und geringfuÈgig hoÈher fuÈr Fentanyl und Sufentanil. Bei den gemischtwirkenden Agonisten/Antagonisten, insbesondere bei Butorphanol, Nalbuphin und Nalorphin, sind viel hoÈhere Dosen von

50

Kapitel 8  Rezeptorinteraktion von Agonisten, Antagonisten und partiellen Agonisten

. Tabelle 8-4. Der vergleichende analgetische Ceilingeffekt verschiedener gemischtwirkender Agonisten/Antagonisten

und partiellen Agonisten (Mod. nach [74, 75])

8

Produkt

Wirkpotenz im Vergleich zu Morphin ˆ 1

Analgetischer Ceilingeffekt [mg/70 kg]

Øquianalgetische Dosis bezogen auf mg/70 kg

Buprenorphin Nalbuphin Pentazocin Butorphanol Meptazinol

30±40 0,8 0,4 5±8 0,09

i 1,2 240 90 10 600

0,3 20±40 30±60 2±4 100

Naloxon notwendig, um eine uÈber den k-Rezeptor vermittelte Analgesie umzukehren. Dies beruht auf der geringeren AffinitaÈt von Naloxon zum k-Rezeptor. Noch hoÈhere Dosen von Naloxon sind bei der 3. Gruppe von Opioiden, den sog. reinen k-Agonisten (Bremazocin, U50,488H, Tifluadom) notwendig, um eine durch sie ausgeloÈste Antinozizeption aufzuheben. Neben Bremazocin ist besonders Tifluadom, aufgrund seiner intensiven k-Bindung, schlecht durch Naloxon vom Rezeptor zu verdraÈngen. Bei den reinen k-Liganden sind deshalb nur spezifische k-Antagonisten in der Lage, die Effekte aufzuheben [73]. Klinisch ist aus all diesen Daten abzuleiten, dass eine uÈber den k-Rezeptor vermittelte Analgesie der Substanzen Nalbuphin oder Pentazocin in ihrer WirkungsstaÈrke einer uÈber den m-Rezeptor ausgeloÈsten Analgesie der Agonisten Piritramid, Alfentanil, Fentanyl, oder Sufentanil, deutlich geringer ist. Insbesondere kommt es bei Dosissteigerung oberhalb des therapeutischen Bereichs, bei den Agonisten/Antagonisten zu einem »Ceilingeffekt«. Das heisst, die Analgesie nimmt nicht zu, und es wird ein Plateau erreicht (. Tabelle 8-4). Stattdessen nehmen die Nebenwirkungen wie Ûbelkeit, Erbrechen und Dysphorie zu. Eine weitere spezielle Eigenschaft der Agonisten/Antagonisten ist auch ihr Ceilingeffekt hinsichtlich einer Atemdepression sowie die, im Vergleich zu den reinen Agonisten, geringere Inzidenz, eine AbhaÈngigkeit zu induzieren. Dieser Effekt ist von untergeordneter Bedeutung, da beim klinisch indizierten Einsatz von Opioiden eine AbhaÈngigkeitsentwicklung praktisch nicht zu befuÈrchten ist. 8.2.2 Opioidsubpopulationen Nach erfolgreicher Klonierung der 3 Rezeptorsubtypen m, d und k, die laut Nomenklatur der IUPHAR (International Union of Pharmacology) die Bezeichnung OP3 (m), OP2 (k) und OP1 (d) erhalten haben [77], sind im ZNS selektiv am

m-Rezeptor bindende Endomorphine (Endomorphin-1 und Endomorphin-2) nachgewiesen worden (. Tabelle 8-5). Des Weiteren konnte mit Hilfe unterschiedlicher Agonisten und Antagonisten zwischen einem d1- und einem d2-Rezeptor diskriminiert werden [78]; dies, obgleich bis jetzt jedoch nur ein d-Rezeptor kloniert werden konnte. Weiterhin wird postuliert, dass Heroin und der aktive Morphinmetabolit, das Morphin-6-Glucuronid, uÈber unterschiedliche m-Rezeptorsubpopulationen binden, die sich deutlich von der Bindegruppe unterscheiden, mit denen die Muttersubstanz Morphin interagiert [79]. Immunhistochemische Darstellungen von genmodifizierten Varianten des geklonten m-Rezeptors (MOR) haben weitere Hinweise ergeben, dass mindestens 6 verschiedene m-Subpopulationen (genetischer Polymorphismus) existieren [80]. Hieraus ist abzuleiten, dass individuelle Unterschiede in der mRezeptorpopulation existieren, was wiederum die bei gleichen Dosen hoÈchst interindividuellen Reaktionen auf ein und dasselbe Opioid erklaÈren wuÈrden. WaÈhrend der reine k-Ligand, das U50,488H am k1-Subtyp bindet, sind die k2- und k3-Subtypen sowohl pharmakologisch als auch molekulargenetisch noch nicht ausreichend charakterisiert worden [81]. Neu hinzugekommen ist jedoch eine klonierte opioidaÈhnliche Bindestelle mit der Bezeichnung Orphanrezeptor (opiate receptor like = ORL) (. Tabelle 8-5). Da keine der bekannten exogenen oder endogenen Liganden mit diesem Rezeptor eine signifikante AffinitaÈt aufweist, wurde er als opioidaÈhnlich und als Orphanrezeptor bezeichnet. Er weist in der AminosaÈurensequenz eine Ûbereinstimmung bis 65 % in der Homologie mit den anderen klonierten Opioidrezeptoren m, d und k auf. FuÈr diesen Rezeptortypus wurde ein endogener Ligand, das Nociceptin oder Orphanin FQ im Gehirn nachgewiesen, das eine Antiopioidwirkung aufweist. Der Ligand bewirkt, aÈhnlich wie die anderen Opioidrezeptoren, eine Hemmung

8

51

8.2  Wirkungsmechanismus der Agonisten/Antagonisten und partiellen Agonisten

. Tabelle 8-5. Zusammenfassung der wichtigsten Opioidrezeptoren, ihren endogenen Liganden, den selektiv

bindenden exogenen Antagonisten und ihren Funktionen an der Nervenzelle Internationale Nomenklatur

muÈ/m

delta 1/d1

delta 2/d2

kappa/k

Pharmakologische Nomenklatur Klonierter Rezeptor Subtyp Agonisten Subtyp Antagonisten Endogene Liganden

OP3

OP1A

OP1B

OP2

DOR

KOR

ORL1

DSLET Deltorphin Naltriben Naltrindol ICI-17,4864 b-Endorphin Leu-Enkephalin Met-Enkephalin b-CNA Naloxon Naltrexon Cyprodime cAMP-Modulation K-Kanal oÈffnen, CaKanal schlieûen

U-50,488H U-69,593 CI-977 nor-BNI

Nociceptin/ Orphanin FQ

Dynorphin A

Nociceptin/ Orphanin FQ

Selektive Antagonisten Effektor

MOR DAMGO Sufentanil Morphin b-FNA CTAP CTOP b-Endorphin Endomorphin-1 Endomorphin-2 b-CNA Naloxon Naltrexon Cyprodime cAMP-Modulation K-Kanal oÈffnen, CaKanal schlieûen

DPDPE DADLE SNC 80 ICI-17,4864 Naltrindol BNTX DALCE b-Endorphin Leu-Enkephalin Met-Enkephalin b-CNA Naloxon Naltrexon Cyprodime cAMP-Modulation K-Kanal oÈffnen, CaKanal schlieûen

Orphane/ORL1

b-CNA Naloxon Naltrexon Cyprodime cAMP-Modulation K-Kanal oÈffnen, CaKanal schlieûen

cAMP-Modulation K-Kanal oÈffnen, CaKanal schlieûen

b-FNA: b-Funaltrexamine; b-CNA: b-Chlornaltrexamine; CTOP: D-Phe-Cys-Tyr-D-Trp-Arg-Thr-Pen-Thr-NH2; CTAP: D-Phe-Cys-Tyr-D-Trp-Om-Thr-Phe-Thr-NH2; BNTX: (E)-7-Benzylidenennaltrexone; DALCE: [D-Ala2, Leu5,Cys6]-Enkephalin; DAMGO: [D-Ala2, N-Me-Phe4,Gly-ol5]-Enkephalin; DESLET: [D-Ser2, Leu5, Thr6]-Enkephalin; nor-BNI: nor-Binaltorphimine; Endomorphin-1: Tyr-Pro-Trp-Phe-NH2; Endomorphin-2: Tyr-Pro-Phe-Phe-NH2

des Ca2‡-Einstroms in die Nervenzelle und Aktivierung des K‡-Kanals [82, 83], wobei jedoch sein Wirkungsprofil nicht durch Naloxon umkehrbar ist [84]. Im Gegensatz zu den anderen Opioidrezeptoren besteht eine unterschiedliche Verteilung in neuronale Strukturen. Denn er vermittelt im Bereich des RuÈckenmarks eine antinozizeptive, supraspinal dagegen eine hyperalgetische Wirkung [84, 85]. Ûber die physiologische Bedeutung dieses Orphanrezeptors und seiner endogenen Liganden besteht zum jetzigen Zeitpunkt kein Konsens. Der Nachweis eines genetischen Polymorphismus, d. h. die bei jedem Individuum vorliegenden unterschiedlichen Reptoranteile, gelang mit Hilfe genetischer Modifikationen am Opioidrezeptor. Durch sog. genetische spliced Varianten, konnten uÈber die EinfuÈhrung unterschiedlicherer AminosaÈuren in intra- bzw. extrazellulaÈren Anteilen der Rezeptorschleife, genetisch verschiedene IsoRezeptorgruppe hergestellt werden. Die hieraus resultierenden Bindestellen wiesen fuÈr verschiedene Liganden auch unterschiedliche AffinitaÈtskonstanten auf (. Tabelle 8-6). Das heiût, aufgrund der unterschiedlicher Rezeptorstruktur weist ein Ligand auch eine

unterschiedliche Passform auf, woraus sich auch unterschiedliche intensive Wirkungen wie Analgesie oder Atemdepression ableiten lassen. Aufgrund dieser experimentellen Ergebnisse entwickelten Pasternak und Mitarbeiter das Konzept multipler Isorezeptoren. Extrapoliert man solche Daten in die Klinik bedeutet dies, dass bei jedem Patienten eine interindividuell unterschiedliche Verteilungsdichte eines Rezeptortyps vorliegt. Hieraus erklaÈ. Tabelle 8-6. Kompetitionsdaten (Ki-Werte in nM)

verschiedener Liganden an unterschiedlichen genetisch hergestellten m-Isorezeptoren (MOR1-MOR1E). (Mod. nach Pan, Xu et al. 1999) Ligand

MOR-1

MOR-1C

MOR-1D

MOR-1E

Morphin Endomorphin 1 (m) Endomorphin 2 (m) Naloxon (m) DAMGO (m) DADLE (d) DPDPE (d) U50,488H (k)

4,5 1,3

2,5 1,2

1,6 1,6

1,5 2,4

2,7

1,8

1,8

4,4

2,7 0,6 2,8 i 500 i 500

3,6 1,4 6,0 i 500 i 500

8,2 0,7 1,9 i 500 i 500

12,0 0,7 0,6 i 500 i 500

52

Kapitel 8  Rezeptorinteraktion von Agonisten, Antagonisten und partiellen Agonisten

. Tabelle 8-7. Inkomplette Kreuztoleranz bei Opi-

oidgabe bedingt durch den bei Patienten vorliegenden genetischen Polymorphismus mit die daraus resultierenden unterschiedlichen m-Isorezeptoren

8

Rezeptorbesetzung

Toleranz fuÈr Rezeptor 1

Toleranz fuÈr Rezeptor 2

Toleranz fuÈr Rezeptor 3

1, 3 2, 3 1 1, 2, 3

VollstaÈndig Gering VollstaÈndig VollstaÈndig

Keine VollstaÈndig Keine VollstaÈndig

VollstaÈndig VollstaÈndig Gering VollstaÈndig

ren sich auch viele der unterschiedlichen WirkungsintensitaÈten bei Patienten und die bei sowohl akuten als auch chronischen Schmerzen individuell stark divergierende Opioiddosen zur Schmerzlinderung. Auch laÈsst sich hiermit das PhaÈnomen der inkompletten Kreuztoleranz erklaÈren, indem bei einem Wechsel von einem m-Liganden auf das andere, deutlich geringere Dosen zur Schmerzbefreiung notwendig werden (. Tabelle 8-7). 8.3

Topographische Verteilung der Opioidrezeptoren

Es liegt eine topographisch unterschiedliche Verteilung der verschiedenen Rezeptorsubpopulationen im ZNS vor, was auf unterschiedliche Wirkungsmechanismen in der Vermittlung von Analgesie hinweist. So haben die m-selektiven Opioide wie Morphin, Fentanyl, Alfentanil und auch Sufentanil wegen der hohen m-Rezeptordichte ihren primaÈren Wirkungsort im Mittelhirn und Hirnstamm (. Abb. 8-4). Aus der engen Nachbarschaft zu den atem- und kreislaufregulatorischen Zentren ergibt sich eine entsprechende Beeinflussung dieser Vitalfunktionen durch m-Liganden. Anders verhaÈlt sich das Verteilungsmuster fuÈr die k-Liganden. Die dichteste Konzentration von k-Rezeptoren ist im Kortexbereich nachweisbar (Lamina V, VI) [86], sodass weniger eine Atem- und Kreislaufbeeinflussung, als vielmehr ein ausgepraÈgte Sedierung im Vordergrund steht,. Auch die geringere Sucht- und AbhaÈngigkeitsentwicklung der k-Liganden ist dadurch zu erklaÈren, dass ein hierfuÈr in Frage kommendes Areal wie das limbische System nur eine sehr geringe k-Dichte aufweist. Die geringere analgetische Wirkung der im Vergleich uÈber die m-Rezeptoren vermittelten k-Liganden, ist durch die tief im Kortex lokalisierten Rezeptoren zu erklaÈren. In der Lamina VI des Kortex befinden sich die k-spezifischen Zellen, wobei

. Abb. 8-4. Dichteverteilung von m-, k- und d-Rezeptoren im ZNS der Ratte nach VerdraÈngungsstudien mit Morphin (m-selektiv), Ketocyclazocin (k-selektiv) und SKF 10,047 (s-selektiv). (Nach [56])

ihre Dendriten hauptsaÈchlich zum Thalamus ziehen wodurch der sensorische Input vom Thalamus zum Kortex gedaÈmpft wird und als Folge der nozizeptive Input und die Weckfunktion abnehmen. Einige Dendriten der Pyramidenzellen dieser Schicht ziehen auch zum Hirnstamm, wodurch das aktivierende retikulaÈre System (ARS) beeinflusst wird was eine DaÈmpfung der Vigilanz zur Folge hat [14]. Neben den 3 hauptsaÈchlich fuÈr Opioidliganden in Frage kommenden Rezeptorsubpopulationen ist aufgrund der unterschiedlichen Verteilung auch eine funktioneller Unterschied nachweisbar, ein Effekt, der sich in den unterschiedlichen BindungsaffinitaÈten im Gehirn niederschlaÈgt, denn es verteilen sich 22 % auf den m-, 36 % auf den kund 42 % auf den d-Rezeptor [14, 715].

8.4  Klinische Bedeutung der k-Liganden

8.4

53

Klinische Bedeutung der k-Liganden

Ein Nachteil der »reinen« k-Liganden (z. B. U50, 488H, Bremazocin und Tifluadom) ist die von ihnen ausgeloÈste Dysphorie. Erste VertraÈglichkeitsstudien mit dem k-Liganden Bremazocin am Menschen wiesen auf ausgepraÈgte halluzinatorische Wirkungen hin, sodass von einem breiten klinischen Einsatz dieser Substanzgruppe Abstand genommen wurde. Somit sind nur die gemischtwirkenden Agonisten/Antagonisten wie Nalorphin, Pentazocin, Butorphanol und Nalbuphin derzeit klinisch nutzbar, weil sie uÈber den k-Rezeptor Analgesie vermitteln. Aufgrund unterschiedlicher Seitenketten sind hierbei auch unterschiedliche agonistische bzw. antagonistische Wirkungen nachweisbar (. Abb. 8-5).

. Abb. 8-5. Zunehmende agonistische (obere Reihe) und zunehmende antagonistische (untere Reihe) WirkungsstaÈrke verschiedener Agonisten/Antagonisten mit Darstellung der jeweiligen chemischen Struktur. (Nach [87])

8

9 Wirkungen und Nebenwirkungen der Opioide 9.1

Analgetische (antinozizeptive) Wirkung ± 55

9.1.1 9.1.2 9.1.3 9.1.4

OpioidrefraktaÈre Schmerzen ± 56 OpioidnichtrefraktaÈre Schmerzen ± 60 Opioide bei viszeralen Schmerzen ± 60 Schmerzen, die auf Opioide sehr gut ansprechen ± 61

9.2

Opioidbedingte Nebenwirkungen ± 61

9.2.1 9.2.2

Atemdepression ± 61 Bedeutung unterschiedlicher Rezeptoren fuÈr die opioidspezifische Atemdepression ± 63 Vigilanz als FuÈhrungsgroÈûe einer opioidbedingten Atemdepression ± 65

9.2.3

9.2.4

Faktoren, die eine opioidbedingte Atemdepression im Rahmen der AnaÈsthesie beeinflussen ± 66

9.3

Hypnosedative Wirkung der Opioide ± 67

9.3.1

Hypnotischer Anteil der Narkose, obligater Bestandteil eines Narkoseregimes ± 68 k-Opioide und hypnosedative Wirkung ± 69 m-Opioide; Differenzierung zwischen hypnosedativer und analgetischer Wirkung ± 70

9.3.2 9.3.3

9.4

RezeptoraffinitaÈt und RezeptorselektivitaÈt

9.5

9.1

Analgetische (antinozizeptive) Wirkung

Eine medikamentoÈse Schmerzunterbrechung, die schon am Beginn der Schmerzbahn wirkt, beruht auf der ReizunterdruÈckung peripherer Nozizeptoren. Klassisches Beispiel ist die Schmerzunterbrechung mit AcetylsalicylsaÈure, die das zur Synthese von Prostaglandin notwendige Enzym Cyclooxygenase 1 und 2 (COX-1/2) hemmt, sodass die Schmerzrezeptoren geringer auf algetische Stoffe reagieren. LokalanaÈsthetika wiederum hemmen die Weiterleitung der Schmerzafferenz im peripheren Nerv durch unspezifische Blockade der IonenkanaÈle im Nerven (Infiltrations-, Leitungs-, Spinalund PeriduralanaÈsthesie). Letztendlich sind es jedoch die Opioide, die spezifisch in die Schmerzleitung und Schmerzverarbeitung eingreifen, indem sie an den Stellen binden, an denen Rezeptoren im schmerzverarbeitenden System lokalisiert sind. Deshalb besteht die vorrangige Wirkung dieser Substanzgruppe in der Vermittlung einer Analgesie. Hierbei wird je nach AffinitaÈt (Passform zum Rezeptor) und intrinsischer AktivitaÈt (KonformationsaÈnderung des Rezeptors) eine unterschiedliche analgetische WirkungsstaÈrke erreicht (. Tabelle 9-1). Bei Vermittlung der analgetischen Wirkung der verschiedenen Opioide gilt folgender Leitsatz:

± 74

Epileptogene Effekte der Opioide ± 77

. Tabelle 9-1. Die unterschiedliche analgetische

WirkungsstaÈrke verschiedener Opioide, bezogen auf Morphin ˆ1 Analgesie

Opioid

WirkungsstaÈrke

Sehr stark

Sufentanil Fentanyl Remifentanil Alfentanil Buprenorphin Oxymorphon Butorphanol Hydromorphon Diamorphin Dextromoramid Racemorphan Levomethadon Methadon Oxycodon Isomethadon Piminodin Properidin Morphin Piritramid Nalbuphin Dihydrocodein Pentazocin Codein Meptazinol Pethidin Levallorphan Tilidin Tramadol

1000 100±300 100±300 40±50 10±50 12±15 8±11 7±10 1±5 2±4 2,5 4 1,5 1,5±1,8 1,0±1,3 1 1 1 0,7 0,5±0,8 0,2±0,35 0,3 0,2 0,15 0,1 0,07±0,1 0,05±0,07 0,05±0,07

Stark

Schwach

Sehr Schwach

56

Kapitel 9  Wirkungen und Nebenwirkungen der Opioide

! Bei starken bis staÈrksten Schmerzen sind Opioide

die einzigen Pharmaka, die eine ausreichende Analgesie vermitteln.

9

Obgleich viele Opioide in der Lage sind, einen identischen maximalen analgetischen Effekt herbeizufuÈhren, differieren jedoch die hierzu notwendigen Dosen erheblich. Das heisst, ein wirkungsstarkes Opioid wie z. B. Sufentanil braucht zur AusloÈsung analgetischer Effekte weniger Rezeptoren zu besetzen als z. B. ein schwaÈcheres Opioid wie Morphin. Die hoÈhere WirkungsstaÈrke eines Opioids haÈngt letztlich von der groÈûeren AffinitaÈt zum Rezeptor und/oder der intrinsischen AktivitaÈt am Rezeptor ab. Von einer hoÈheren WirkungsstaÈrke kann nicht unbedingt auf eine bessere analgetische EffektivitaÈt geschlossen werden da, in AbhaÈngigkeit von der Schmerzform, einige Opioide besser wirken als andere und z. B. Agonisten/Antagonisten schon fruÈh einen analgetischen »Ceilingeffekt« aufweisen. Anderseits ist zu beruÈcksichtigen, dass nicht alle Schmerzen, die der Patient angibt, erfolgreich mit Opioiden therapiert werden koÈnnen. Deswegen sollte man sich daruÈber klar werden, bei welchen SchmerzzustaÈnden Opioide indiziert sind und die Bereiche ausklammern, bei denen die Gabe von Opioiden keine oder nur eine bedingte Besserung erwarten laÈsst. 9.1.1 OpioidrefraktaÈre Schmerzen Es handelt sich um Schmerzen, die auf Opioide nicht ansprechen. Dazu zaÈhlen Patienten mit: 1. Muskelschmerzen myofaszialer Natur, die durch Verspannungen und KraÈmpfe entstehen. Therapeutisch stehen die physikalische Therapie, die Gabe von Benzodiazepinen sowie die lokale Injektion eines Kortikosteroids und 0,5 % Bupivacain in die sog. Triggerpunkte im Vordergrund (. Abb. 9-1). Die Triggerpunkte befinden sich in typischen Lokalisationspunkten mit denn davon ausgehenden Reflexzonen und Zonen fortgeleiteten Schmerzes. Sie koÈnnen unter dem palpierenden Finger als Knoten oder fester Strang gefuÈhlt werden, der auf dem Muskel hin- und hergleitet. Durch die Injektion eines LokalanaÈsthetikums wird der Circulus vitiosus aus Muskelspannung und myofaszialem Schmerz unterbrochen, die lokale IschaÈmie wird aufgehoben und angehaÈufte Schmerzmediatoren werden ausgeschwemmt. So ist auch der Spannungs-

kopfschmerz, der heutzutage die haÈufigste Form des chronischen Kopfschmerzes darstellt, als Folge einer Dauerspannung bestimmter Muskelgruppen zu verstehen. Er hat seine Ursache im Alltagstress mit emotionalen Faktoren und Øngsten und kann dem psychsomatischen Krankheitsbild zugeordnet werden. 2. Der neurogene oder Deafferenzierungsschmerz nach NervenschaÈdigung (komplexes regionales Schmerzsyndrom, postherpetiforme Neuralgie, Trigeminusneuralgie, Phantomschmerz, diabetische Neuropathie, neuropathischer Schmerz) entsteht proximal der Nozizeptoren und ist ein Ausdruck der Dysfunktion oder LaÈsion im peripheren oder ZNS. Er ist charakteristischerweise mit einem sensiblen Defizit verbunden und weist oft eine brennende, schneidende, zerreiûende oder elektrisierende Symptomatik auf. Der Schmerz setzt nach der LaÈsion ein, ist gegenuÈber alleinigen Opioiden ausgesprochen therapieresistent und hat eine StoÈrung der SensibilitaÈt mit HypaÈsthesie, DysaÈsthesie, Hyperalgesie oder HyperaÈsthesie zur Folge. UrsaÈchlich werden verschiedene Mechanismen diskutiert: ± Ektopische paroxysmale Spontanentladungen im Bereich eines laÈdierten Nerven fuÈhren zu Dauerschmerz und schlieûlich zur zentralen Sensibilisierung mit »wind-up« sowie Spontanentladungen im RuÈckenmark (. Abb. 9-2). ± Partielle Denervierung mit SpontanaktivitaÈten und folgender induzierter Freisetzung eines Nervenwachstumsfaktors (NGF, »nerve growth factor«). Die Einsprossungen in benachbarte afferente Nervenfasern fuÈhren zu einer Weiterleitung von Schmerzen (. Abb. 9-3). ± Normalerweise stehen nozizeptive, exzitatorische Afferenzen im Gleichgewicht mit dem inhibitorischen Anteil lokal deszendierender Neuronen. NervenlaÈsion fuÈhrt zu Verlust inhibitorischer Neurone, sodass jetzt primaÈr afferente nozizeptive Impulse ungehindert eine Reaktion in den Hinterhirnneuronen ausloÈsen koÈnnen, die kortikal als Nozizeption weitergeleitet wird (. Abb. 9-4). ± Beteiligung des sympathischen Nervensystems durch Kurzschluss zwischen afferenten, nozizeptiven und efferenten sympathischen Nervenfasern. Dies fuÈhrt zur Ausbildung verschiedener Formen des sym-

57

9.1  Analgetische (antinozizeptive) Wirkung

±

pathisch unterhaltenen komplexen regionalen Schmerzsyndroms (CRPS). WaÈhrend im Normalzustand die C-Fasern in den oberflaÈchlichen Schichten im Hinterhorn des RuÈckenmarks endigen, kommt es nach Denervierung zur Atrophie und zur Einsprossung der von den Ab-Fasern ausgehenden terminalen Endigungen im Hinterhorn des RuÈckenmarks, die dann Schmmerzleitfunktion uÈbernehmen (. Abb. 9-5). Therapeutisch werden zusaÈtzlich zu den Opioiden Antidepressiva, Neuroleptika

und Antikonvulsiva empfohlen. Gelegentlich kann die Elektrostimulation in Form der transkutanen elektrischen Nervenstimulation (TENS) oder die RuÈckenmarkstimulation (SCS) sichtbare Erleichterung bringen. Hierbei soll es neben einer Freisetzung sog. endogener Opioide (Enkephaline, Dynorphin) im Bereich des Hinterhorns des RuÈckenmarks und im Hypothalamus uÈber deszendierende serotinerge und noradrenerge Bahnen zur Hemmung des nozizeptiven Inputs im RuÈckenmark kommen. Weiterhin kommen

. Abb. 9-1. Die von Triggerpunkten (links) fortgeleiteten Schmerzzonen (rechts)

9

58

Kapitel 9  Wirkungen und Nebenwirkungen der Opioide

als Zusatztherapie Entspannungstechniken in Betracht. 3. Ein weiterer, durch Opioide schlecht therapierbarer Schmerz ist der viszerale Schmerz. Er wird durch die von Eingeweiden ausgehenden viszeralen Afferenzen vermittelt und enthaÈlt zum groÈûten Teil sympathische Nervenfasern (. Abb. 9-6). Der therapeutische Ansatz liegt in der ganglionaÈren Blockade, der chirurgischen Sympathektomie oder der intravenoÈsen LeitungsanaÈsthesie mit Guanethidin. 4. Des Weiteren koÈnnen auch Schmerzen als psychosomatische Schmerzen waÈhrend einer Depression und Schmerzen als Vorboten einer Schizophrenie auftreten, die alle durch Opioide schlecht zu therapieren sind. Insbesondere

kann der Schmerz dann als Symptom eines konversionsneurotischen Syndroms auftreten [716]. Hierbei lassen sich, gleichzeitig neben Angst, phobische, hypochondrische und auch zwangsneurotische Symptome nachweisen [717, 718]. Patienten mit diesen schwer behandelbaren SchmerzzustaÈnden sind von einer somatischen Ursache ihrer Schmerzen fest uÈberzeugt (Organneurose), die Schmerzproblematik ist zum zentralen Inhalt ihres Lebens geworden. Therapeutisch muss im Einzelfall abgewogen werden, ob eine medikamentoÈse Behandlung mit Neuroleptika, Tranquilizern oder eine psychoanalytische Behandlung in Kombination mit einer Verhaltenstherapie angezeigt ist.

9

. Abb. 9-2. Die Entstehung ektopischer Impulse im peripheren Nerv nach einer LaÈsion. (Nach [88])

. Abb. 9-3. Ûbergreifende Spontanentladungen in den peripheren Bereichen eines laÈdierten Nervs auf benachbarte Afferenzen mit daraus resultierender Hyperalgesie. (Nach [88])

9.1  Analgetische (antinozizeptive) Wirkung

59

. Abb. 9-4. Der Untergang hemmender Strukturen im Bereich des RuÈckenmarks fuÈhrt zur ungehinderten Weiterleitung nozizeptiver Afferenzen mit Schmerz. (Nach [88])

. Abb. 9-5. Nach Untergang peripherer C-Fasern kommt es zum Einsprossungen der von den Ab-Fasern ausgehenden terminalen Endigungen im Hinterhorn des RuÈckenmarks

. Abb. 9-6. Verlauf der vom Darm und von der Haut ausgehenden Schmerzafferenzen. Am gemeinsamen Bindeglied Spinalganglion kommt es uÈber die Wirkung von Neurotransmittern (IL-6 und NGF) zur koÈrbchenfoÈrmigen Aussprossung von sympathischen Nervensystem die dort u. a. uÈber Noradrenalin eine pathologische RuheaktivitaÈt erzeugen. Dieser Zustand wird dann als sympathisch unterhaltenes Schmerzsyndrom (»sympathetically maintained pain«) bezeichnet. Ûber das Spinalganglion kann der Schmerz auch auf entsprechende Hautareale (Head-Zonen) ruÈckprojiziert werden

9

60

Kapitel 9  Wirkungen und Nebenwirkungen der Opioide

9.1.2 OpioidnichtrefraktaÈre Schmerzen

9

Diese Gruppe umfasst den Schmerzkomplex, der durch Knochenmetastasen hervorgerufen wird. In solchen FaÈllen sind die besten Ergebnisse mit AcetylsalicylsaÈure (oder einem entsprechenden nichtsteroidalen EntzuÈndungshemmer) und Morphin (bzw. einem entsprechenden Opioid) zu erreichen. Da die meisten osseaÈren Metastasen die Produktion von Prostaglandin induzieren bzw. verstaÈrken, wird die Schmerzschwelle erniedrigt [89]. AcetylsalicylsaÈure und andere nichtsteroidale EntzuÈndungshemmer (NSAR) blockieren die Prostaglandinsynthese, sodass es zur Schmerzverminderung kommt (. Abb. 9-7). Dosen bis zu 3 g und 4 g/Tag mit oder ohne Zusatz eines Opioids koÈnnen bei solchen Schmerzen angezeigt sein. Des Weiteren sind Schmerzen auf der Grundlage einer Nervenkompression in aller Regel nicht allein mit einem Opioid zu beherrschen. In solchen FaÈllen ist die zusaÈtzliche Gabe von Dexamethason in ErwaÈgung zu ziehen (4 mg/Tag), oder es kann bei gleichzeitiger Knochenbeteiligung eine Radiotherapie indiziert sein. Sollten die Schmerzen auf die Kombinationstherapie Opioid plus Dexamethason nicht im erhofften Maûe ansprechen, ist eine Neurolyse angezeigt [90].

Der primaÈre Wirkmechanismus der Kortikoide in der Schmerztherapie ist in deren antioÈdematoÈser und entzuÈndungshemmender Wirkung zu suchen. Speziell bei tumorbedingten Schmerzen, bei denen oft ein Údem und eine EntzuÈndung als SchmerzausloÈser anzusehen sind, erklaÈrt sich die schmerzsenkende Wirkung der Kortikoide aus deren voÈllig anders gearteten Wirkmechanismus, benachbarte Nerven, Venen und Lymphbahnen vor einer Stauung und Kompression zu bewahren. Obgleich Kortikoide die Synthese von Prostaglandin nicht in dem Maû wie AcetylsalicylsaÈure hemmen, wird ihr Wirkeffekt uÈber eine »Stabilisierung« der Zellmembran erklaÈrt. 9.1.3 Opioide bei viszeralen Schmerzen Prinzipiell koÈnnen alle funktionellen Schmerzen, die vom Darm (Reizdarmsyndrom) oder anderen Hohlorganen wie der Gallenblase der Harnblase ausgehen und postoperativ nach Appendektomie, Cholezystektomie oder Hysterektomie auftreten, auch mit einem Opioid behandelt werden. Hierzu zaÈhlen insbesondere kolikartige abdominelle Schmerzen, die mit BlaÈhung und Konstipation sowie Ønderungen der Darmpassage und DefaÈkation einhergehen und als Reizdarmsyndrom (»irri-

. Abb. 9-7. Hemmmechanismus von AcetylsalicylsaÈure auf die Prostaglandinsynthese, die durch lokale Gewebsmediatoren nach SchaÈdigung angeregt wird

61

9.2  Opioidbedingte Nebenwirkungen

table bowl syndrome«, IBS) bzw. als chronisches Urogenitalsyndrom, Rektalschmerz, Orchialgie, chronische Prostatitis, Kokzygodynie und perianaler Schmerz Eingang in die Literatur gefunden haben [91]. UrsaÈchlich wird bei solchen Schmerzen und den sie begleitenden dysfunktionellen StoÈrungen eine Mastzellendegranulation mit EntzuÈndungsbeteiligung sowie Einsprieûen sympathischer Nervenzellen in das Spinalganglion diskutiert (. Abb. 9-6). Der Schmerz wird in solchen FaÈllen durch aÈuûere und/oder intraabdominelle Reize in den sensibilisierten Organen ausgeloÈst. Opioide sind hierbei der zweitbeste therapeutische Ansatz zur Behandlung. Im Falle eines Reizdarmsyndroms ist grundsaÈtzlich primaÈr die Konstipation zu korrigieren. Da intestinale Koliken und Gallengangskoliken in Verbindung mit einer Obstruktion stehen, sind eher Spasmolytika wie Butylscopolamin (Buscopan) indiziert bzw. kann mit Octeotride, einem Somatostatinanalogon, ein therapeutischer Erfolg durch Hemmung der uÈberschieûenden Sezernierung erreicht werden. Flankierende Maûnahmen, die die DarmtaÈtigkeit betreffen, sind die Gabe von Metoclopramid (Paspertin 4-mal 10 mg), Antiflatulanzien und Lactulose (Bifiteral) zur Verbesserung der GleitfaÈhigkeit. Bei kolikartigen Schmerzen des Darms mit Hyperperistaltik sind lokal wirkende Opioide wie Loperamid (Imodium) indiziert, weil keine zentralen Wirkungen mit Sedierung und AbhaÈngigkeitsentwicklung zu erwarten sind. Weil die beschriebenen medikamentoÈsen TherapiemoÈglichkeiten oÈfters jedoch nur begrenzt und nur unspezifisch auf gastrointestinale und urogenitale Einzelsymptome gerichtet sind, wurde aufgrund der unbefriedigenden TherapiemoÈglichkeiten nach neueren Ansatzpunkten gesucht. So haben Forschungsarbeiten gezeigt, dass beim Reizdarmsyndrom StoÈrungen im enterischen Nervensystem (ENS) und dessen Zusammenspiel mit dem ZNS vorliegen und Serotonin dabei eine zentrale Rolle spielt. Dies wird zusaÈtzlich dadurch unterstrichen, dass 95 % des Serotoninvorrats im Gastrointestinaltrakt und nur 5 % im ZNS praÈsent sind. Da im Plexus myentericus Auerbachii das ENS vorliegt, wird dort uÈber eine Stimulation der 5-HT4-Rezeptoren (Tegesarid) eine Modulation der Serotoninrezeptoren erreicht, sodass die viszerale SensibilitaÈt und die MotilitaÈt der MagenDarm-Muskulatur wieder normalisiert wird. Zukunftsweisend sind auch Ergebnisse mit weiteren Somatostatinanaloga, die sich, nach ersten

tierexperimentellen Ergebnissen, beim viszeralen Schmerz als Erfolg versprechend herausgestellt haben. 9.1.4 Schmerzen, die auf Opioide

sehr gut ansprechen

Hierzu zaÈhlen alle Arten von Schmerzen, die auf 4 traumatischer, 4 postoperativer, 4 ischaÈmischer oder 4 tumoroÈser Grundlage beruhen. Rationale fuÈr eine Therapie mit Opioiden ist die Tatsache, dass die Schmerzafferenzen, die uÈber spezifische Leitungsbahnen zu den supraspinalen Schmerzzentren geleitet werden, durch das Pharmakon eine DaÈmpfung bzw. vollstaÈndige Blockade erfahren. Der durch den Reiz ausgeloÈste afferente Impuls wird vor der eigentlichen Bewusstwerdung auf seinem Weg zu den schmerzverarbeitenden Zentren gedaÈmpft bis blockiert. Das Indikationsgebiet stark wirkender Opioide besteht in der Beseitigung mittlerer, schwerer und schwerster SchmerzzustaÈnde. 9.2

Opioidbedingte Nebenwirkungen

9.2.1 Atemdepression Bei der Anwendung von Opioiden ist zu beruÈcksichtigen, dass auch Nebenwirkungen zu erwarten sind. Eine der hauptsaÈchlichsten Nebenwirkung ist die durch Opioide ausgeloÈste zentrale Atemdepression. Diese ist direkt proportional der analgetischen StaÈrke des jeweiligen Opioids. So koÈnnen schon geringe Mengen des potenten Analgetikums Fentanyl oder Sufentanil eine Atemdepression ausloÈsen, waÈhrend wirkungsaÈrmere Opioide, wie Codein oder Tramadol, selbst in Dosen uÈber den therapeutischen Wirkungsbereich hinaus, zu keiner nennenswerten Beeinflussung der Atmung fuÈhren (. Abb. 9-8). Diese Pharmaka zeichnen sich allerdings auch dadurch aus, dass sie eine vergleichsweise geringere analgetische Potenz haben. FuÈr den partiellen m-Agonisten Buprenorphin ist bei hohen Dosen, im Gegensatz zu den reinen m-Liganden wie Morphin, Fentanyl, Sufentanil, die Gefahr einer Atemdepression, wegen des einsetzenden Ceilingeffektes, deutlich geringer. Nach der Injektion eines wirkungsstarken Opioids kann zeitlich nacheinander beobachtet werden:

9

62

Kapitel 9  Wirkungen und Nebenwirkungen der Opioide

. Abb. 9-8. Der durch Opioide ausgeloÈste

unterschiedliche Grad einer Atemdepression nach Verabreichung aÈquianalgetischer Dosen

9

1. Verlangsamung der Atmung (Bradypnoe) mit partieller Kompensation durch VergroÈûerung des Atemzugvolumens, 2. eine Atmung, die nur durch Stimuli wie Hypoxie, Hyperkapnie und periphere Reize (LaÈrm, Schmerz) initiiert werden kann, 3. eine Zeitspanne, in der das Atmen vergessen wird (»oublie respiratoire«), sodass der Patient nur auf Kommando atmet, 4. komplette Apnoe, wo trotz Anruf der Patient nicht mehr spontan atmet und beatmet werden muss. Die zentral ausgeloÈste Atemdepression beruht auf einer Hemmung der atemregulatorischen Zentren in Pons und Medulla oblongata [99] mit verminderter Ansprechbarkeit auf den KohlensaÈurepartialdruck (paCO2) des Blutes [100]. Hierbei erfaÈhrt das aktivierende retikulaÈre System (ARS), als uÈbergeordneter Taktgeber fuÈr das Inspirationszentrum, durch das Opioid eine zusaÈtzlich DaÈmpfung (. Abb. 9-9). Die Atemdepression kann sofort und erfolgreich durch Gabe eines spezifischen Opioidantagonisten (Naloxon) aufgehoben werden. Hierbei verdraÈngt der Antagonist wegen seiner hoÈheren AffinitaÈt zum Rezeptor den Agonisten (kompetitive VerdraÈngung), setzt sich an seine Stelle und der atemdepressive Effekt wird umgekehrt. In der Klinik wird empfohlen, eine opioidinduzierte Atemdepression durch die titrierte Gabe kleiner Dosen von Naloxon zu antagonisieren (. Abb. 9-10), damit:

4 eine wuÈnschenswerte Analgesie erhalten bleibt und 4 ein akutes Entzugssyndrom mit Tachykardie und Hypertonie nicht ausgeloÈst wird. Bei einer Antagonisierung ist daran zu denken, dass die Halbwertszeit von Naloxon zwischen 20±30 min zu veranschlagen ist [102]. Somit ist davon auszugehen, dass nach Beendigung der Wirkung des Antagonisten eine »Remorphinisierung« uÈber die im Organismus noch verbliebenen Restmengen des Opioids moÈglich ist [103]. Deswegen ist nach erfolgreicher Antagonisierung die hierfuÈr benoÈtigte Naloxonmenge intramuskulaÈr zu verabreichen, weil hierdurch ein Depot aufgebaut wird, bzw. ist uÈber eine verduÈnnte Naloxoninfusion der Antagonist kontinuierlich zu verabreichen. Alle diese Massnahmen entbinden jedoch nicht von der Notwendigkeit einer weiteren Ûberwachung in den folgenden Stunden, damit eine sich entwickelnde schleichende Atemdepression rechtzeitig erkannt wird. Die Atemdepression nach Opioidgabe kann auch mit einem Agonisten/Antagonisten therapiert werden. Hierzu eignen sich solche Pharmaka, die ein ausreichendes antagonistisches Wirkungsprofil besitzen. Einer dieser Vertreter ist Nalbuphin (Nubain), das wegen der geringeren antagonistischen WirkungsstaÈrke im Vergleich zu Naloxon (. Tabelle 8-1) einen nicht so bruÈsken Umkehreffekt ausuÈbt und auch eine laÈngere Wirkungsdauer (2- bis 3-mal laÈnger als Naloxon) haben soll [104, 105].

9.2  Opioidbedingte Nebenwirkungen

63

. Abb. 9-9. DaÈmpfung des ARS mit sekundaÈrer Beeinflussung des Inspirationszentrums. (Mod. nach [101])

. Abb. 9-10. Schema zur titrierten Gabe von Naloxon bei

Umkehr einer opioidbedingten Atemdepression in der Klinik

9.2.2 Bedeutung unterschiedlicher

Rezeptoren fuÈr die opioidspezifische Atemdepression

Schon lange wurde vermutet, dass sowohl Opioidanalgesie und Atemdepression durch unterschiedliche Populationen von Rezeptoren vermittelt werden [719]. Dieser Befund erhielt in Bezug auf FentanylabkoÈmmlinge insofern eine BestaÈtigung, als unterschiedliche Subrezeptoren fuÈr die

Vermittlung einer Atemdepression nachgewiesen wurden [720]. ZusaÈtzliche Beweise fuÈr diese Annahme lieferten experimentelle Ergebnisse, bei denen mit einem selektiven Antagonisten (Naloxonazin) die morphinbedingte Analgesie, nicht jedoch die Atemdepression antagonisiert werden konnte [721]. Dies fuÈhrte zu der Annahme, dass Analgesie und Atemdepression durch m-Rezeptorsubpopulationen (m1 bzw. m2) vermittelt werden [722, 723]. Aufgrund dieser Ergebnisse wurde postuliert, dass unter niedrigen Dosen von Sufentanil eine im Vergleich zu Fentanyl groÈûere Analgesie bei geringerer Atemdepression vorliegt [106, 107], ein Effekt, der auf einer vorzugsweisen Bindung am m1- bei niedriger AffinitaÈt zum m2-Rezeptor beruhen soll (. Tabelle 9-2). Andererseits weisen aber auch Ergebnisse mit unterschiedlichen d-spezifischen endogenen Peptidliganden darauf hin, dass dem d-Rezeptor eine die Analgesie und die Atemdepression modulierende Funktion zukommt. So verstaÈrkten subanalgetische Dosen des d-selektiven Peptids D-Ala2-D-Leu-Enkephalin die morphininduzierte Analgesie, waÈhrend D-Ala2-Met-Enkephalinamid die Analgesie verringerte [109]. Diese vom d-Rezeptor ausgehende modulierende Einfluss auf ein uÈber den m-Liganden ausgeloÈste Wirkung (. Abb. 9-11) konnte experimentell auch im Rahmen einer opioidinduzierten Atemdepression nachgewiesen werden [110, 111]. So konnte mit Hilfe eines hochselektiven d-Antagonisten (Naltriben) eine durch Fentanyl und Sufentanil induzierte Atemdepression selektiv umgekehrt werden, ohne dass der analgetische Anteil eine Einbuûe erlitt. Diese Ergebnisse gewinnen dann eine praktische Bedeutung, wenn sich die Atemdepression der scheinbar so selektiven m-Liganden Fentanyl bzw. Sufentanil antagonisie-

9

64

Kapitel 9  Wirkungen und Nebenwirkungen der Opioide

. Abb. 9-11. Schema zur modulierenden Eigenschaft des

d-Rezeptors auf die vom m-Rezeptor ausgehendem Effekte wie Analgesie und Atemdepression. (Nach [109])

9

ren laÈsst, waÈhrend die Analgesie weiter bestehen bleibt. Eine solche Hypothese scheint sich insofern zu bestaÈtigen, weil sowohl Fentanyl als auch Sufentanil in Rezeptorbindungsstudien auch eine geringe AffinitaÈt (sog. niedrigaffine Bindungsstelle) mit dem d-Rezeptor aufweisen [724] (. Tabelle 9-3). Eine gleichzeitige Besetzung von m- und d-Rezeptor scheint darin zu muÈnden, dass von diesem Kopplungsmechanismus nicht nur eine VerstaÈr-

kung der analgetischen Wirkung ausgeht., sondern dass von der d-Interaktion, neben AnalgesieverstaÈrkung, auch eine Zunahme der Atemdepression offenbar wird. Ob im Falle von Fentanyl und Sufentanil der m- und der d-Rezeptor unabhaÈngig voneinander operieren oder ob der d-Rezeptor einen modulierenden bis verstaÈrkenden Effekt auf die vom m-Rezeptor ausgehende Analgesie und Atemdepression ausuÈbt, bleibt noch offen. Immerhin konnte experimentell mit den hochselektiven d-Antagonisten Naltrindol und Naltriben [113, 114, 725] die Bedeutung des d-Rezeptors dadurch dokumentiert werden, dass dosisabhaÈngig eine Umkehr der Sufentanilbedingten Hypoxie und Hyperkapnie erreicht wurde, waÈhrend die analgetische Wirkung voll erhalten blieb (. Abb. 9-12 und 9-13). Solche Wechselwirkungen zwischen m- und d-Rezeptoren erhalten durch die intrathekale Verabreichung selektiver am m- und am d-Rezeptor bindenden Liganden eine BestaÈtigung, weil im Vergleich zur alleinigen Applikation durch beide Substanzgruppen eine synergistische analgetischer Wirkung nachgewiesen werden konnte [115].

. Tabelle 9-2. Die uÈber verschiedene Opioidbindungsstellen vermutete Vermittlung pharmakologischer Wirkungen.

(Nach [108]) m1

m2

k

d

supraspinale/spinale Analgesie

spinale Analgesie

supraspinale/spinale Analgesie

supraspinale/spinale Analgesie Atemdepression

Dysphorie niedriges AbhaÈngigkeitspotential Mitosis

hohes AbhaÈngigkeitspotential

Hyperthermie Diurese

Harnretention

Atemdepression Euphorie niedriges AbhaÈngigkeitspotential

hohes AbhaÈngigkeitspotential ausgepraÈgte Obstipation

Bradykardie Hypothermie Harnretention

geringgradige Obstipation

. Tabelle 9-3. AffinitaÈten verschiedener Opioide zu den 3 Opioidrezeptoren m, k und d, dargestellt an den VerdraÈn-

gungskonstanten Ki (nmoll 1), die notwendig sind, um 50 % eines radioaktiv markierten Liganden vom Rezeptor zu verdraÈngen. Zu beachten sind die niedrigen Ki-Werte von Sufentanil, die auf eine hohe AffinitaÈt zum m-Rezeptor hinweisen. (Nach [112]) Pharmakon

3 H-d-Ala2-Me-Phe4, Gly-ol2-enkephalin (m)

3 H-d-Ala2, D-Leu5enkephalin (d)

3

Morphin Pethidin Pentazocin Fentanyl Sufentanyl

1,80 385 7,0 7,0 1,58

90 4345 106 151 23,4

317 5140 22,2 470 124

e e e e e

0,26 51 1,8 0,83 0,38

e e e e e

16 1183 10 21 7,2

H-Ethyl-keto-cyclazocin (k) e e e e e

68 789 4,1 68 11

9.2  Opioidbedingte Nebenwirkungen

65

9.2.3 Vigilanz als FuÈhrungsgroÈûe einer

opioidbedingten Atemdepression

. Abb. 9-12. Umkehr einer durch Sufentanil ausgeloÈsten Atemdepression am Tier durch einen selektiven d-Antagonisten bei erhaltener antinozizeptiver Wirkung. Aufgrund der bessere Blut-Hirn-GaÈngigkeit weist der d-Antagonist Naltriben (NTB) eine bessere Umkehr der Atemdepression als der d-Antagonist Naltrindol (NTI) auf. (Nach [765])

. Abb. 9-13. Die relativen Ønderungen im somatosensorisch

evozierten Potenzial unter Fentanyl gefolgt von steigenden Dosen des d-spezifischen Antagonisten Naltriben (NTB). Demaskierung einer weiterhin bestehenden m-Bindung durch den hochspezifischen m-Antagonisten Cyprodime, der die m-bedingte sensorische Impulshemmung des Opioids umkehrt und eine RuÈckkehr der nozizeptiven Leitung ausloÈst

Zur Beurteilung einer opioidbedingten Atemdepression sind neben direkten Wirkungen auf das Atemzentrum jedoch auch zentral-induzierte sedative Wirkanteile mit zu beruÈcksichtigen. Bei der Beantwortung der Frage zu solchen moÈglichen Interaktionen kann die pharmakoelektroenzephalographische Registrierung, die grundsaÈtzlich die Wirkung zentral angreifender Substanzen wie die der Opioide nachweisen kann, beitragen. Weil die Opioide uÈber Rezeptoren und folgende Transmitterfreisetzung wirken, ist davon auszugehen, dass klinisch unterschiedlich wirksame Opioide auch qualitativ unterschiedliche VeraÈnderungen der elektroenzephalographischen Parameter ausloÈsen. Solche durch Eingriffe an zentrale Neurotransmittersysteme zu beobachtende EEG-Effekte sind dosisabhaÈngig und erlauben deshalb auch, eine Dosis-Wirkungs-Beziehung zu erstellen. Und letztlich spiegeln die pharmakogen induzierten EEG-VeraÈnderungen die eigentliche Wirkung der zentral angreifenden Substanz wider, aus denen schlieûlich die sog. zentrale BioverfuÈgbarkeit [116] oder die effektive Wirkstoffkonzentration (»effect concentration site«) [117] abgeleitet werden kann. So ist bei intravenoÈsen Pharmaka wie den Opioiden nicht die Blutkonzentration fuÈr den zentralen Effekt verantwortlich zu machen; vielmehr ist es die am Rezeptor befindliche Konzentration, die durch Faktoren wie Umverteilung, Lipophilie, Hirndurchblutung u. a. maûgeblich beeinflusst wird. So ist die Vigilanz und ihre durch Opioide induzierte BeeintraÈchtigung, doppelt von Bedeutung, da sie aus folgenden GruÈnden die Basis fuÈr eine Hemmung der Atmung darstellt: 1. Wachheit ist per se schon ein Faktor fuÈr eine ausreichende Atmung. So konnte an Freiwilligen nachgewiesen werden, dass trotz Hyperventilation und der damit einhergehenden Hypokarbie, im Wachzustand trotzdem eine rhythmische Atmung resultierte. Befanden sich die Probanden jedoch im Schlaf oder in Narkose, folgte der Hyperventilation eine Phase der Apnoe [118]. 2. Am Tier konnte demonstriert werden, dass laryngeale Reizung in Narkose eine Apnoe, jedoch keinen Hustenreflex ausloÈste. Im Wachzustand konnte dagegen ein Hustenstoû, jedoch keine Apnoe induziert werden [119].

9

66

9

Kapitel 9  Wirkungen und Nebenwirkungen der Opioide

Andererseits laÈsst sich eine enge exponentielle Korrelation, wie sie fuÈr physiologische Regulationssysteme charakteristisch ist, bei Antagonisierung einer vorangegangenen Opioidgabe mit steigenden Dosen eines hochselektiven Antagonisten nachweisen. So konnte demonstriert werden, dass nach Sufentanil und einer sich direkt daran anschlieûenden Antagonisierung, die zunehmende Leistungssteigerung im schnellen b-Band (Vigilanz-Steigerung) mit einer Umkehr der vorangegangenen Hypoxie einherging (. Abb. 9-14). Hieraus ist abzuleiten, dass erstens die Vigilanz von sich aus ein wirkstarkes Stimulans fuÈr die Atmung darstellt. Und zweitens gestattet eine ausreichend hohe Vigilanz erst eine ausreichende ventilatorische Reaktion auf einen Reiz wie dem erhoÈhten Kohlendioxydpartialdruck. Auch laÈsst sich aus den oben dargelegten Beobachtungen ableiten, dass das Ausmaû des jeweiligen Vigilanzzustands mit der FaÈhigkeit gekoppelt ist, auf einen physiologischen Reiz adaÈquat zu reagieren. Hieraus wird aber auch verstaÈndlich, warum z. B. nach einer Besetzung der Rezeptoren im retikulaÈren System mit einem Opioid, eine aufgrund der verminderten Vigilanz geringere Reaktion auf einen CO2-Anstieg resultiert, mit einer verminderten Atmung einhergeht. Der mesenzephale retikulaÈre Kontrollmechanismus ist dann nicht mehr in der Lage, adaÈquat auf einen Reiz zu reagieren. Eine ErhoÈhung der AktivitaÈt in diesem Systems und die damit einhergehende Vigilanz-

zunahme, geht auch mit einer gesteigerten Reaktionsbereitschaft einher, auf einen erhoÈhten paCO2 zu reagieren. Und weil bei einer AktivitaÈtszunahme retikulaÈrer Mechanismen auch umliegende Systeme, wie z. B. retikulokortikale RuÈckkopplungsmechanismen aktiviert werden, lassen sich diese Ønderungen im EEG ableiten. Letztlich kann dann im EEG die Vigilanz abgleitet werden, wobei ein inadaÈquates Verhalten der Atmung auf einen erhoÈhten Kohlendioxydpartialdruck als eine inadaÈquate Vigilanzsteuerung mit einem »Vergessen« der Reaktion auf einen physiologischen Reiz interpretiert werden kann [119]. GestuÈtzt wird solche Ûberlegung durch eine in der Klinik oÈfter zu beobachtende Tatsache, dass die zusaÈtzliche Gabe eines Benzodiazepins zu einem Opioid zu einer weiteren Verschlechterung der Atmung fuÈhrt. Die zusaÈtzliche Benzodiazepingabe hat dagegen eine weitere Abnahme in der Reaktion aktivierender, bzw. eine Zunahme daÈmpfender EinfluÈsse auf die Vigilanz zur Folge. Die Bedeutung der individuellen Wachheit im Prozess einer opioidinduzierten Atemdepression wird dadurch noch unterstrichen, dass unter steigenden Dosen von Opioiden nach anfaÈnglicher sedierender Wirkung mit Abflachung der Atmung eine Phase des »Vergessens der Atmung« (»oublie respiratoire« [121]) folgt, in der der Patient nur durch aÈuûere akustische, optische oder nozizeptive Reize, die die Vigilanz wieder anheben, zur Spontanatmung angeregt werden kann, bevor er schlieûlich in die Phase der totalen Apnoe abgleitet. 9.2.4 Faktoren, die eine opioidbedingte

Atemdepression im Rahmen der AnaÈsthesie beeinflussen

. Abb. 9-14. Die enge Korrelation zwischen Desynchroni-

sierung im EEG, dargestellt in den relativen Anteilen im schnellen b-Band, und Ønderungen im arteriellen O2Partialdruck (paO2) waÈhrend der Umkehr einer Sufentanilinduzierten Atemdepression mit steigenden Dosen eines Antagonisten. (Nach [120])

Nach Opioidgabe ist grundsaÈtzlich mit einer verlaÈngerten Atemdepression bei den Patienten zu rechnen, bei denen gleichzeitig folgende Medikamente verabreicht werden: 4 Alle Medikamente, die die Biotransformation der Leber hemmen, wie z. B. Kontrazeptiva, Zytostatika, Antiarrhythmika, Psychopharmaka, systemisch applizierte Antimykotika, Neuroleptika und volatile AnaÈsthetika [122±126]. UrsaÈchlich liegt eine WirkungsverlaÈngerung durch die Hemmung der Konjugation an Glucuronide und der oxydativen Dealkylierung vor, metabolisch Wege, die fuÈr den eigentlichen Abbau und der damit einhergehenden Beendigung einer Wirkung verantwortlich sind.

67

9.3  Hypnosedative Wirkung der Opioide

4 Alle Medikamente die das Opioid aus seiner Proteinbindung verdraÈngen, wie z. B. Phenylbutazon und alle Cumarinderivate, sodass mehr freie Wirksubstanz zur VerfuÈgung steht [127±130]. Auch fuÈhren eine HypoproteinaÈmie und eine Azidose, die eine geringere Bindung des Opioids an Plasmaproteine zur Folge hat, zu einer hoÈheren Konzentration freier Wirksubstanz und einer intensiveren und verlaÈngerten Wirkung. Bei der Azidose wird eine gesteigerte renale RuÈckresorption zusaÈtzlich als Ursache diskutiert, die jedoch von eher untergeordneter Bedeutung ist [123]. Die gastroenterale Rezirkulation als Ursache einer »Remorphinisierung« [103] ist nur bedingt in ErwaÈgung zu ziehen, da selbst nach oraler Gabe hoher Dosen des Opioids Fentanyl (0,3 mg) ein nur sehr geringer Anstieg der Konzentration im Plasma nachzuweisen war [131]. Folgende Faktoren fuÈhren nach einer Narkose mit Opioiden oÈfter dazu, dass ein OpioiduÈberhang oder eine »Remorphinisierung« mit einer daraus resultierenden Atemdepression auftreten kann: 1. exzessive PraÈmedikation mit Opioiden, 2. PraÈmedikation mit einem langwirkenden Benzodiazepin, da hierdurch eine Vigilanzminderung, sowie eine Wirkungspotenzierung und einen WirkungsverlaÈngerung induziert wird, 3. intraoperative Verabreichung hoher Volumenkonzentrationen eines volatilen AnaÈsthetikums, weil hierdurch einen Hemmung der Biotransformation in der Leber ausgeloÈst wird, 4. fraktionierte intraoperative Gabe kleiner Opioiddosen, sodass eine Akkumulation des Opioids in den peripheren Speichern (Fett, Musku-

. Abb. 9-15. Fentanylplasmakonzentration bei Hunden nach wiederholter Verabreichung von je 10mg/kgKG alle 90 min. Es resultiert eine Kumulation in den Gewebekompartimenten mit einer daraus resultierenden WirkungsverlaÈngerung. (Nach [121])

5.

6.

7.

8.

9.

10.

9.3

latur, Haut, innere Organe) mit verlaÈngerten Rezirkulation, hohen Restkonzentationen im Blut und eine VerlaÈngerung der Wirkung induziert wird (. Abb. 9-15), fehlende ausreichend hohe SaÈttigungsdosis des Opioids schon zu Beginn der Narkose, sodass im Verlauf der Operation die Analgesie mit kleinen Opioiddosen aufrecht erhalten werden muss und mit jeder Injektion eine Anreicherung von Opioid in den peripheren Speichern provoziert wird, langfristige kontinuierliche Infusion mit Opioiden, weil hierdurch die tiefen peripheren Speicher mit Gefahr der spaÈten Rezirkulation aufgefuÈllt werden, Kombination von Opioiden mit unterschiedlichen Halbwertszeiten, die sich in unvorhersehbarer Weise in ihrer Wirkung potenzieren, unkritische Gabe von Bicarbonat und/oder THAM, weil eine Alkalose zur Rezirkulation von Opioiden aus den peripheren Speichern fuÈhrt, nichtkorrigierter Blutverlust, weil hierdurch eine Abnahme der Proteinbindung resultiert in deren Folge mehr freie Wirksubstanz zur VerfuÈgung steht, unzureichende BeruÈcksichtigung der Tatsache, dass die Gabe des Antidots Naloxon nicht langfristig einen Ûberhang verhindern kann.

Hypnosedative Wirkung der Opioide

Die sedierende Wirkung der Opioide geht mit der Eigenschaft einher, den Schlaf (hypnos) auszuloÈsen. Diese Wirkung ist besonders bei den gemischtwirkenden Agonisten/Antagonisten ausgepraÈgt, waÈhrend Morphin als reiner Agonist eine Mittelstellung einnimmt (. Abb. 9-16). Die hypnotische Wirkung der Opioide macht man sich in der PraÈmedikation und in der postoperativen Schmerztherapie zu Nutze, weil ein sedierter Zustand des Patienten wuÈnschenswert erscheint. Das stark wirksame Opioid Fentanyl zeichnet sich dagegen durch einen sehr geringen hypnotischen Effekt aus. Ein solches Opioid muss waÈhrend der Narkose, zur Komplettierung des Schlafes, mit einem volatilen AnaÈsthetikum (Halothan, Enfluran, Isofluran, Desfluran, Sevofluran) in Form der balancierten Narkosetechnik, mit einem Benzodiazepin (Diazepam, Midazolam), einem Neuroleptikum (Dehydrobenzperidol oder Haloperidol in Form der klassischen Neuroleptnarkose) oder mit einem reinen Hypnotikum

9

68

Kapitel 9  Wirkungen und Nebenwirkungen der Opioide

WaÈhrend im ersten Fall der Patient jederzeit weckbar ist, bewirken speziell Barbiturate eine dosisabhaÈngige kortikale DaÈmpfung, die uÈber eine verlangsamte Reaktion zu Somnolenz und bei HoÈchstdosen bis hin zum Koma reichen kann. Dies gilt auch fuÈr hohe Dosen von Benzodiazepinen. Aus diesem Zustand ist der Patient selbst mit staÈrksten Reizen nicht zu wecken. 9.3.1 Hypnotischer Anteil der Narkose,

obligater Bestandteil eines Narkoseregimes

. Abb. 9-16. Die hypnotische, schlafanstoûende Wirkung

verschiedener Opioide im Vergleich untereinander. (Mod. nach [132, 133])

9

(Etomidate, Propofol) kombiniert werden, damit es intraoperativ nicht zu Wachphasen kommt. Die hypnotische Wirkung der Opioide ist jedoch nicht zu verwechseln mit dem durch Barbiturate eingeleiteten schlafaÈhnlichen Zustand.

Die hypnosedative Wirkung der Opioide gilt als eine geschaÈtzte Eigenschaft, derer man sich innerhalb der AnaÈsthesie auch gerne bedient. Dies umso mehr, als im Rahmen einer totalen intravenoÈsen AnaÈsthesie (TIVA) die hypnotische Komponente, neben dem analgetischen Anteil, ein integrierter Bestandteil der Narkose ist. FuÈr die AusloÈsung des Schlafverhaltens scheint das unspezifische Aktivierungssystem in der Formatio reticularis mesencephali, das ARS, ein wichtiger Bestandteil zu sein (. Abb. 9-17), denn diese Strukturen im Bereich des Hirnstamms werden in ihrer AktivitaÈt nicht nur durch Afferenzen aus dem akustischen und optischen System angestoûen. Vielmehr werden uÈber den Hirnstamm

. Abb. 9-17. Die topographische Lage des aktivierenden retikulaÈren System (ARS) im Bereich der Formatio reticularis des

Hirnstamms. Externe Reize (z. B. GeraÈusche) werden uÈber Verbindungen zum Kortex in Vigilanz und Bewusstsein umgesetzt. Gleichzeitig werden auch kortikale AktivitaÈten angesteuert, die den Antrieb und die Umsetzung in Motorik modulieren

9.3  Hypnosedative Wirkung der Opioide

auch alle Afferenzen aus der Haut, die auf Druck, TemperaturaÈnderung und Nozizeption ansprechen, geleitet. Eine Zunahme dieser Afferenzen fuÈhrt zu einer Anhebung des AktivitaÈtsniveaus in der Formatio reticularis, es kommt anschlieûend zu einer Vigilanzsteigerung mit einer daraus resultierenden erhoÈhten Wachsamkeit und gesteigerten KonzentrationsfaÈhigkeit. Diese gesteigerte Vigilanz ruÈhrt daher, dass das aktivierende retikulaÈre System (ARS) mit uÈbergeordneten Strukturen im kortikalen frontalen Kortex verbunden ist, die zur AusloÈsung von WillkuÈrhandlungen fuÈr bewusste Empfindungen und zur Nutzung gespeicherter Informationsinhalte eingesetzt werden. Des Weiteren ist das ARS auch auch mit dem limbische System sowie seinen direkten Verbindungen zum LangzeitgedaÈchtnis im Hippocampus angeschlossen, sodass dem Informationsinhalt eine empfindungsmaÈûige FaÈrbung verliehen wird und Erinnerungsinhalte leichter aus dem LangzeitgedaÈchtnis abgerufen werden koÈnnen. 9.3.2 k-Opioide

und hypnosedative Wirkung

Eine opioidbedingte hypnosedative Komponente ist zwar bekannt, ihr Ausmaû, insbesondere wenn sie sinnvoll in das Narkoseregime miteinbezogen werden soll, wird jedoch im Allgemeinen unterschaÈtzt. NaÈhere Einblicke in den Wirkungsmechanismus der von den subkortikalen Arealen ausgehenden und die Hirnrinde steuernden Systemen gelang mit den klassischen Untersuchungen von Moruzzi u. Magoun [134]. Sie konnten einerseits durch selektive Reizung mesenzephaler Areale der Formatio reticularis im Elektroenzephalogramm nicht nur ein Arousalmuster mit b-Aktivierung am Kortex ableiten. Andererseits konnten sie aber auch am Ganztier die gesamte vegetative Reaktion des Erwachens beobachten. Des Weiteren konnte gezeigt werden, dass je nach Ort der elektrischen Reizung, sowohl vom Thalamus und Fornix als auch von der Medulla oblongata, ein die Vigilanz minderndes aszendierendes System angeregt wurde, das uÈber SchlaÈfrigkeit bis hin zum echten Schlaf fuÈhrte [135]. Vorbedingung fuÈr den hypnotischen Anteil einer Narkose ist somit eine AktivitaÈtsminderung einstroÈmender Afferenzen in die Formatio retikularis; eine DaÈmpfung die waÈhrend der Narkose mit unterschiedlichen Pharmaka erreicht werden kann. Im Falle der Opioide ist diese DaÈmpfung und damit auch die Abschirmung des ARS gegen aÈuûerliche Reize jedoch nie so groû, dass langfris-

69

tig auf ein zusaÈtzliches Hypnotikum, sei es intravenoÈser (Propofol, Etomidate) oder volatiler Natur (Halothan, Enfluran, Isofluran Desfluran, Sevofluran) verzichtet werden kann. Das Lachgas macht hierbei eine insofern ruÈhmliche Ausnahme, als von ihm eine sowohl entscheidende analgetische als auch hypnotische Wirkung ausgeht. Hierbei soll der analgetische Anteil etwa dem von 10 mg Morphin entsprechen, wobei als Mittler eine uÈber den k-Opioidrezeptor ausgeloÈste Antinozizeption diskutiert wird [136]. Dass volatile AnaÈsthetika ihre hypnosedativen Effekte ebenfalls uÈber den Opioidrezeptor vermitteln, erscheint insofern moÈglich, als eine LachgasanaÈsthesie beim Menschen [137], bzw. eine Halothannarkose beim Tier [138] sich durch den spezifischen Opioidantagonisten Naloxon umkehren lieûen. Dass Opioide uÈber die ihnen eigenen Bindestellen, den Opioidrezeptoren, ihre hypnotische Wirkung vermitteln, erscheint insofern wahrscheinlich, weil hochselektive k-Liganden wie Bremazocin und Tifluadom [139], im EEG einen ausgepraÈgten dosisabhaÈngigen hypnosedativen Effekt mit d-Aktivierung im EEG vermitteln [73, 139, 140, 141]. Die k-SelektivitaÈt konnte insofern nachgewiesen werden, als der hypnosedative Effekt sich weniger gut mit Naloxon, dagegen sich aber sehr gut dem spezifischen k-Antagonisten Mr 2266 umkehren lieû (. Abb. 9-18). Steigende Dosen der k-selektiven Liganden induzierten eine Leistungszunahme im EEGPowerspektrum, insbesondere in dem langsamen Frequenzbereich d (0,5±3 Hz), der auch im physiologischen Tiefschlaf eine Dominanz aufweist. WaÈhrend der m-spezifische Antagonist Naloxon diese ausgepraÈgte hypnosedative Wirkung nicht umzukehren imstande war, gelang dies mit dem selektiven k-Antagonisten Mr 2266. Auch war die Umkehr der Sedation nur mit dem Levoisomer des Antagonisten, dem Mr 2266 und nicht mit dem Dextroisomer Mr 2267 moÈglich. Hieraus kann konkludent geschlossen werden, dass erst nach ErfuÈllung der Vorbedingung fuÈr StereoselektivitaÈt zu der speziellen Bindestelle, eine spezifische antagonistische Wirkung ermoÈglicht wird. Obgleich der typische k-Ligand Bremazocin am Tier eine doppelt so starke analgetische Wirkung wie Morphin ausloÈst [139], wird durch das Opioid keine Atemdepression induziert [140]. Die fehlende Atemdepression scheint damit zusammenzuhaÈngen, dass reine k-Liganden wie Bremazocin, Tifluadom und auch U50,488H [142] vor-

9

70

9

Kapitel 9  Wirkungen und Nebenwirkungen der Opioide

. Abb. 9-18. Die durch den spezifischen k-Liganden Bremazocin am Hund ausgeloÈste dosisproportionale Zunahme der

Leistungsanteile im langsamen d-Band (0,5±3 Hz) des EEG, die nicht mit Naloxon, jedoch mit dem spezifischen k-Antagonisten Mr 2266 umkehrbar war. (Nach [140])

nehmlich mit Opioidrezeptoren in den tiefen Schichten des Kortex binden [14, 86, 143, 144], waÈhrend sie am m-Rezeptor, der als verantwortlicher Mittler einer Atemdepression angesehen wird [68], ein antagonistisches Profil aufweisen [145, 146]. Ein aÈhnliches Wirkprofil haben auch die gemischtwirkenden Agonisten/Antagonisten, wie Pentazocin und Nalbuphin, die uÈber die k-Bindestelle Analgesie vermitteln und am m-Rezeptor eine antagonistische Wirkung offenbaren [72, 104, 147]. Im Gegensatz zu dem klassischen m-Liganden Morphin, aber auch zu Fentanyl und Sufentanil, wird die analgetische QualitaÈt der k-Liganden dadurch initiiert, dass zentripetal vom Kortex zum Thalamus ziehende Fasern den nozizeptiven Input daÈmpfen [14]. Weil im Kortex eine bis zu 50 % hoÈhere Anreicherung von k-Bindungsstellen als im Hirnstamm nachweisbar ist [56, 148], kann dies als Hinweis fuÈr die nach k-Liganden fehlende Atemdepression, aber auch fuÈr die nach den Agonisten/Antagonisten charakteristische analgetische Wirkung angesehen werden. In der Klinik ist der Einsatz sog. reiner k-Liganden trotz ihrer wuÈnschenswerten ausgepraÈgten hypnosedativen Komponente und der fehlenden Atemdepression nicht moÈglich, da als Nebenwir-

kung starke dysphorische Effekte auftreten. Aufgrund des besonderen Wirkungsmechanismus wird auch verstaÈndlich, warum die am k-Rezeptor bindenden Liganden, im Gegensatz zu den reinen m-Liganden (Morphin, Fentanyl, Sufentanil oder Alfentanil), allein gegeben nicht in der Lage sind, eine tiefe chirurgische Analgesie zu induzieren [72, 149]. Dagegen haben die, ebenfalls uÈber den k-Rezeptor bindenden, gemischtwirkenden Agonisten/Antagonisten Eingang in die Klinik gefunden, weil sie unter anderem bei DurchfuÈhrung einer balancierten Narkosetechnik eine bis zu 70 %ige Verringerung der minimalen alveolaÈren Konzentration (MAC) volatiler AnaÈsthetika bewirken koÈnnen [150±152]. 9.3.3 m-Opioide; Differenzierung zwischen

hypnosedativer und analgetischer Wirkung

Opioide induzieren generell eine dosisabhaÈngige Dominanz langsamer Frequenzen im u- und d-Bereich des EEGs. Eine Dominanz von d-Wellen mit hohen Amplituden ist insbesondere initial bei Gabe hoher Dosen von stark wirksamen Opioiden wie Fentanyl (0,7 mg/kgKG), Alfentanil (50 mg/kgKG), Morphin (3±10 mg/kgKG) oder

9.3  Hypnosedative Wirkung der Opioide

Sufentanil (20±30 mg/kgKG) nachweisbar [153±158]. Andererseits wird jedoch innerhalb der Produktreihe der Fentanyle ein unterschiedlich ausgepraÈgter hypnotischer Effekte ausgeloÈst. So sind bei Gabe aÈquianalgetischer Dosen von Fentanyl (5 mg/kgKG) im Vergleich durch Sufentanil (1 mg/kgKG) staÈrkere hypnosedative Effekte ausloÈsbar, die sich auch in einer zum Ausgangswert vermehrten Leistungszunahme im langsamen d-Band des EEG widerspiegeln (. Abb. 9-19). Die ebenfalls im periaquaÈduktalen HoÈhlengrau nachweisbare hohe Konzentration von k-Bindestellen [159] laÈsst vermuten, dass k-Liganden ihre ausgepraÈgt hypnosedative Wirkung uÈber den Hirnstamm vermitteln. Diese Effekte sind bei aÈquianalgetischen Dosen von m-Liganden wie Morphin, Fentanyl, Sufentanil oder Alfentanil deutlich geringer. Zwar sind dies reine Agonisten, die ihren primaÈren Bindeort im Mesenzephalon haben [160]; sie binden dort jedoch selektiv am m-Rezeptor [161±164], wodurch ihnen auch eine selektive Eigenschaft in der Vermittlung analgetischer WirkungsqualitaÈten zuteil wird. Erst mit EinfuÈhrung stark wirksamer Opioide zu Beginn der NeuroleptaÈra haben nicht nur De Castro, sondern auch Nilsson u. Ingvar [165, 166] feststellen koÈnnen, dass das Opioid Fentanyl anfaÈnglich eine ausgepraÈgte narkotische Komponente beim Patienten ausloÈst. Diese klinischen Beobachtungen sind spaÈter durch Kubicki in direkten elektroenzephalographische Ableitungen bestaÈtigt worden [167]. Er konnte demonstrieren, dass nach alleiniger Gabe des Opioids, ohne Zusatz des Neuroleptikums Dehydrobenzperidol (DHBP), ein narkotischer Zustand herbeizufuÈhren war, der sich im Elektroenzephalogramm in einer typischen Frequenzverlangsamung, bis hin zur d-Dominanz mit Spindelbildung manifestierte. Ein solcher Effekt war jedoch nur kurzfristig, d. h. nach der Bolusapplikation hoher Dosen des Opioids Fentanyl zu erreichen und hielt nur ca. 10 min an. Auf diese d-Dominanz im EEG folgte anschlieûend eine a-Akzentuierung in dem Frequenzbereich 8±13 Hz, ein Effekt, der sich klinisch einem sedierten und nur oberflaÈchlich hypnotischen Zustand zuordnen laÈsst. Dieser dominante a-Rhythmus, der fuÈr die Opioide Phenoperidin [166] und Fentanyl [167] beschrieben wurde, war sehr frequenzstabil und war weder durch nozizeptive noch durch akustische oder optische Reize zu durchbrechen, sodass er als eigentlicher analgetischer Anteil einer Opioidnarkose interpretiert werden konnte. Patienten sind in diesem Zustand

71

. Abb. 9-19. Die durch Fentanyl bzw. Sufentanil bei Patien-

ten zur Einleitung einer Narkose ausgeloÈsten hypnosedativen Effekte, vor und nach Intubation und Laryngoskopie (L&I), die sich in einer relativen Leistungszunahme ( %) im langsamen (0,5±3 Hz) d-Band im Vergleich zum Ausgangswert (100 %) niederschlagen. (Nach [133])

voll analgetisch, aber ansprechbar, d. h. ihr Vigilanzniveau ist nicht so stark gedaÈmpft, dass ein schlafaÈhnlicher Zustand vorherrscht. So sind nach der Gabe hoher Wirkstoffkonzentrationen, nach anfaÈnglich ausgedehnten hemmenden Effekten im Hirnstammbereich (. Abb. 9-20) jetzt nur noch spezielle Funktionen, insbesondere die

. Abb. 9-20. Die im Rahmen der Narkoseeinleitung mit

einem stark wirksamen m-Opioids kurzfristig nachweisbare »narkotische« Phase, die auf eine Blockade der Afferenzen zum ARS beruht. (Mod. nach [168])

9

72

Kapitel 9  Wirkungen und Nebenwirkungen der Opioide

Leitung nozizeptiver Afferenzen gedaÈmpft (. Abb. 9-21). Solche Patienten sind, wenn sie nicht zusaÈtzlich Lachgas erhalten, wach und in der Lage, adaÈquat auf Fragen zu reagieren [166]. Der frequenzstabile a-Rhythmus wird nicht durch nozizeptive Reize, die normalerweise zu einem hochfrequen-

9 . Abb. 9-21. Die durch m-Opioide ausgeloÈste analgetische Komponente, die auf eine Blockade der nozizeptiven Afferenzen zum Nucl. limitans, dem Grenzkern zum limbischen System, beruht. (Mod. nach [168])

. Abb. 9-22. Die Bedeutung von ARS und Nucl. limitans, dem

Grenzkern zwischen Mesenzephalon und Thalamus, zur Vigilanzsteigerung und Schmerzerkennung. Beide neuroanatomisch zu differenzierenden Areale nehmen auch eine zentrale Stellung bei der analgetischen Wirkungsvermittlung der Opioide ein. (Nach [87])

ten Rhythmus im b-Bereich fuÈhren wuÈrden, gesteigert. In dieser Phase uÈbt das autochthone ARS wieder eine, wenn auch durch Schmerzreize nicht weiter modulierbare, aktivierende Funktion auf den Kortex aus. Nozizeptive Reize, die uÈber den Tractus spinothalamicus zur Rinde laufen, koÈnnen jetzt wieder ausgewertet werden, wobei der Patient in der Lage ist, den Ort der LaÈsion anzugeben, ohne jedoch, dass diese als stoÈrend empfunden wird. Der Patient kann den Schmerzreiz lokalisieren, aber nicht qualifizieren, er wird nur noch wie eine BeruÈhrung empfunden. Vorraussetzung fuÈr eine solche selektiv-analgetische Wirkung ist eine opioidbedingte Blockade des Inputs zum limbischen System (. Abb. 9-22), das System, welches fuÈr die Schmerzidentifikation Voraussetzung ist und wo der Schmerzimpuls gleichzeitig ein negatives GefuÈhl ausloÈst [52]. Hinweise fuÈr eine unzureichende hypnosedative Wirkung waÈhrend der Neuroleptanalgesie sind die nicht nur zu Beginn der NeuroleptaÈra beobachteten FaÈlle von Wachwerden, bei weiterhin bestehenden Analgesie waÈhrend der Narkose, in deren Verlauf die autochthonen Funktionen des ARS wieder ihre FunktionsfaÈhigkeit erlangen. Die ungenuÈgende hypnosedative Tiefe offenbart sich in einer Vigilanzsteigerung. Diese bekannte Eigenschaft einer NeuroleptanaÈsthesie mit Fentanyl ist ebenfalls bei der Ausleitung einer Narkose nachweisbar, d. h. nach Abstellen des Lachgases wird der Patient wach und ansprechbar. Es dominieren jedoch jetzt nur noch der analgetische und der antitussive Effekt, was dazu fuÈhrt, dass der Patient weiterhin schmerzfrei ist, den Tubus toleriert, er jedoch adaÈquat auf Fragen reagieren kann. Weil die pharmakologische Beeinflussung der Vigilanz hauptsaÈchlich von den Interaktionen im neuronalen Synzitium des aktivierenden retikulaÈren Systems (ARS) im Mesenzephalons ausgeht, kann dieses System als uÈbergeordneter Taktgeber fuÈr das Wachverhalten des Kortex angesehen werden [134]. Zugleich ist das aktivierende retikulaÈre System auch der Bereich, in dem uÈber Kerngebiete afferente nozizeptive Reize auf das ARS umgeschaltet werden. Des Weiteren erfolgt dort auch eine Umschaltung auf die schmerzverarbeitenden Zentren im limbischen System, was als Voraussetzung fuÈr die Perzeption der Empfindung »Schmerz« angesehen werden kann (. Abb. 9-21). Generell kann somit festgehalten werden, dass bei einer Opioidanalgesie das limbische System der spezifische Wirkort fuÈr die Antinozizeption darstellt. Letztlich konnte dies Annahme durch

9.3  Hypnosedative Wirkung der Opioide

Untersuchungen von McKenzie und Mitarbeitern. [49] am Tier nachgewiesen werde, indem Morphin und Pethidin nicht in der Lage waren, die Schmerzleitung vom Mesenzephalon zum Kortex, die Leitung, die fuÈr die Schmerzlokalisation verantwortlich gemacht werden kann, zu unterbrechen. Dagegen blockieren die Opioide jedoch die Ûberleitung nozizeptiver Afferenzen vom Mesenzephalon zu den hippokampalen Abschnitten des limbischen Systems, der Teil des ZNS, der fuÈr die Schmerzerkennung und die negative FaÈrbung dieser SinnesqualitaÈt verantwortlich gemacht werden kann (. Abb. 9-22). Die BestaÈtigung dieser praÈklinischen Ergebnisse erfolgte am Patienten unter stereotaktischen, schmerzchirurgischen Eingriffen [52]. Weil die Fasern des Tractus spinothalamicus im Nucl. ventrocaudalis parvocellularis thalami umgeschaltet werden und anschlieûend zu den rostralwaÈrts gelegenen kortikalen Anteilen ziehen (. Abb. 9-22), war bei entsprechender Reizung dieses Kerngebiets eine Schmerzlokalisation moÈglich. Der Nucleus ventrocaudalis parvocellularis weist hierbei schon eine strenge somatotopische Gliederung auf, d. h. je nach Lage der Reizelektrode konnten unspezifische Empfindungen in unterschiedlichen Arealen des KoÈrpers empfunden werden. Die eigentliche Dekodierung nozizeptiver Afferenzen erfolgt im benachbarten Ort der Schmerzerkennung und des Schmerzerlebnisses, dem

73

Nucleus limitans. In diesem Grenzkern zwischen Mesenzephalon und Thalamus werden die Fasern des Tractus spinothalamicus umgeschaltet; von wo sie anschlieûend zum limbischen System ziehen weiter (. Abb. 9-22). Bei elektrischer Reizung dieses Kerns konnten unbestimmte und schlecht lokalisierbare, aber sehr intensive Schmerzempfindungen ausgeloÈst werden, die von einer ausgepraÈgten negativen Stimmungslage begleitet waren [169]. Zusammenfassend ist festzuhalten, dass der mesenzephale Bereich unterhalb des IV. Hirnventrikels, der dem ARS zuzuordnen ist, maûgeblich an der Vermittlung hypnosedativer Effekte von Opioiden beteiligt ist. Letztlich konnte dies auch mit Hilfe isolierter Perfusionsstudien am wachen Tier bestaÈtigt werden. So induzierte die Perfusion steigender Dosen des Opioids Fentanyl durch den IV. und nicht durch den III. Hirnventrikel einen dosisabhaÈngigen Schlafzustand beim wachen Hund, der durch eine Dominanz langsamer und hochamplitudiger d-Wellen im Elektroenzephalogramm (. Abb. 9-23) charakterisiert war [170]. Dieser Effekt war durch das linksdrehende Isomer (Levoisomer) von Naloxon, nicht jedoch durch das rechtsdrehende Isomer (Dextroisomer) des Antagonisten umkehrbar [171], wodurch der Nachweis der RezeptorspezifitaÈt gegeben war. Diese Beteiligung von Opioidbindungsstellen, die insbesondere im Bereich des IV. Hirnventrikels

. Abb. 9-23. Die selektive Perfusion des IV. Hirnventrikels beim wachen Hund mit Fentanyl induziert eine dosisabhaÈngige Zunahme langsamer Frequenzen im EEG und einen Schlafzustand. Dieser ist durch auditorische und nozizeptive Stimuli umkehrbar, was auf die vornehmlich analgetische Komponente des Fentanyls hinweist. (Nach [171])

9

74

Kapitel 9  Wirkungen und Nebenwirkungen der Opioide

stark angereichert sind [55], scheint eine maûgebliche Voraussetzung fuÈr die Vermittlung hypnosedativer Wirkungen zu sein. Somit blockieren stark wirkende Opioide, wie Fentanyl oder Sufentanil, neben den Schaltstellen der Schmerzleitung und Schmerzidentifikation, anfaÈnglich auch das benachbarte retikulaÈre Wachsystem (ARS). Diese Blockade kann so ausgepraÈgt sein, dass unmittelbar nach Anflutung hoher Opioidkonzentrationen, wie die Klinik auch zeigt, die Narkoseeinleitung einschlieûlich Laryngoskopie und Intubation, ohne ein zusaÈtzliches Hypnotikum vorgenommen werden kann.

RezeptoraffinitaÈt und RezeptorselektivitaÈt

9.4

9

Ausgehend von der urspruÈnglich von Martin und Mitarbeitern postulierten Arbeitshypothese, dass verschiedene Untergruppen von Opioidrezeptoren auch unterschiedliche Wirkungen vermitteln [68], wurde das Konzept der MultiplizitaÈt von Bindungsstellen fuÈr Opioide abgeleitet (. Tabelle 9-4). WaÈhrend am Tier das Opioid Morphin primaÈr eine Antinozizeption, Miosis, Atemdepression, Bradykardie und Hypotonie ausloÈste, induzierte ein Opioid der Benzomorphanreihe wie z. B. Ketocyclazocin, primaÈr eine Sedierung, bei geringfuÈgiger Atemdepression und einer Analgesie, die entgegen der von Morphin, nicht alle ReizqualitaÈten blockieren konnte. Diesem unterschiedlichen Wirkungsspektrum wurde deshalb eine unterschiedliche Rezeptorinteraktion zugrunde gelegt. So wurde die Bindegruppe der m-Rezeptoren, mit denen hauptsaÈchlich Morphin interagiert, einer k-Population, uÈber die das Ketocyclazocin seine Wirkung vermittelt, gegenuÈbergestellt. Nachdem der Nachweis spezifischer Bindestellen fuÈr Opioide im ZNS gelungen war [54, 55] und auch die natuÈrlichen Liganden solcher Rezeptoren, die

Endorphine und Enkephaline, nachgewiesen wurden, konnte eine weitere Gruppe, die d-Rezeptoren, charakterisiert werden [172, 173]. Aus den zahlreichen Ergebnissen laÈsst sich ableiten, dass die Liganden dieser d-Rezeptoren neben der Vermittlung von Analgesie auch uÈbergeordnete Funktionen, insbesondere regulativ die Sekretion der Hypophysenhormone steuern [174, 175] und bei der Vermittlung des septischen Schockgeschehens bedeutungsvoll sind [176, 177]. Sowohl Rezeptorbindungsstudien [178], als auch Klonierungsergebnisse [179] haben schlieûlich die Existenz dieser 3 unterschiedlichen Rezeptorpopulationen m, d und k voll bestaÈtigen koÈnnen. Andererseits kann aus Rezeptorbindungs- und VerdraÈngungsstudien an Hirnhomogenaten aber auch abgeleitet werden, dass jedes Opioid in einem recht unterschiedlichen Maû mit allen 3 Rezeptorgruppen interagiert. Die PraÈferenz der AffinitaÈt fuÈhrt schlieûlich zu einer klinisch dominanten Wirkung. Bei dieser Wirkungsvermittlung uÈben mehrere Faktoren einen Einfluss aus: 1. die AffinitaÈt (Passform) zum Rezeptor und 2. eine nach der Bindung sich einstellende KonformationsaÈnderung des Rezeptors; 3. die Dauer der Bindung am Rezeptor, die sich unter anderem in der Wirkungsdauer niederschlaÈgt; 4. die PraÈferenz der Bindung innerhalb der 3 Rezeptorgruppen, und schlieûlich 5. die am Rezeptor herrschende Wirkstoffkonzentration. Allgemein kann festgehalten werden, dass die Dominanz von AffinitaÈt und Bindung zu einem Rezeptortyp sich im klinischen Spektrum des jeweiligen PraÈparates niederschlagen wird [180]. Diese Feststellung wird durch die RezeptorverdraÈngungsstudien mit den verschiedensten Opioiden unterstrichen (. Tabelle 9-5). Deshalb sind,

. Tabelle 9-4. Konzept der durch verschiedene Opioidrezeptoren vermittelten klinischen Effekte. (Mod. nach [68])

Opioidrezeptor

Wirkungsmechanismus

Wirkungen

m

Liganden, die an diesen Rezeptor binden, wirken hauptsaÈchlich inhibitorisch (ˆ morphinaÈhnlich) Liganden, die an diesen Rezeptor binden, wirken hauptsaÈchlich hypnosedativ (ˆ ketocyclazocinaÈhnlich) Liganden, die an diesen Rezeptor binden, wirken hauptsaÈchlich regulativ, uÈbergeordnet auf eine Schmerzreaktion (ˆ enkephalinaÈhnlich)

Supraspinale Analgesie, Atemdepression, Bradykardie, Euphorie, Hypothermie, Miosis, hohes AbhaÈngigkeitspotenzial Sedierung, spinale Analgesie, Miosis, fehlende bis geringe Atemdepression, geringes AbhaÈngigkeitspozential Ûbergeordnet-regulativ fuÈr Analgesie, Stressreaktion und Sezernierung der Hypophysenhormone

k

d

75

9.4  RezeptoraffinitaÈt und RezeptorselektivitaÈt

nach vorangegangener AbsaÈttigung von Hirnhomogenaten mit radioaktiv markierten Liganden, auch die zur VerdraÈngung notwendige Konzentration recht unterschiedlich was von der jeweiligen AffinitaÈt des jeweiligen Opioids zum Rezeptor abhaÈngt. So weisen die VerdraÈngungswerte (in nmol/l) die notwendig sind, um 50 % des Liganden vom Rezeptor zu verdraÈngen (»inhibitory concentration« ˆ IC50-Werte) die zu den 3 Rezeptorgruppen unterschiedliche PraÈferenz der AffinitaÈt einer Opioids nach. Hohe VerdraÈngungswerte (in nmol/l) weisen darauf hin, dass hohe Anteil eines Opioids, notwendig sind, um 50 % des radioaktiv markierten Liganden vom Rezeptor zu verdraÈngen (IC50-Wert). Hieraus kann auf eine niedrige AffinitaÈt zur jeweiligen Rezeptorpopulation geschlossen werden. Niedrige Kompetitionswerte dagegen weisen auf eine gute AffinitaÈt zu der jeweiligen Rezeptorgruppe hin. Aus solchen Kompetitionsdaten ist zu entnehmen, dass ein klassisches Opioid aus der AnaÈsthesie, wie z. B. das Sufentanil, eine sehr gute AffinitaÈt zum m-Rezeptor bei vergleichsweise geringerer AffinitaÈt zum d- und k-Rezeptor aufweist. Ein reiner k-Ligand wie Bremazocin hat eine sehr gute AffinitaÈt zum k-Rezeptor, an dem es agonistische

Wirkung vermittelt. Die gleichfalls gute AffinitaÈt zum m-Rezeptor reflektiert jedoch ein antagonistisches Wirkungspotenzial, das dem des Naloxon nicht unaÈhnlich ist (. Tabelle 9-5). Solche gemischten WirkungsqualitaÈten kommen auch bei den Substanzen Pentazocin, Butorphanol und Nalbuphin zum Ausdruck. Der Wert am m-Rezeptor reflektiert ein antagonistisches Potenzial, waÈhrend der Wert am k-Rezeptor die agonistische Wirkpotenz widerspiegelt. Die reinen Antagonisten wie Naloxon und Naltrexon dagegen demonstrieren ihr antagonistisches (verdraÈngendes) Potenzial an allen 3 Rezeptorpopulationen mit einer deutlichen PraÈferenz fuÈr den m-Rezeptor. Aus der . Tabelle 9-5 wird aber auch ersichtlich, dass vornehmlich die sog. reinen k-Liganden Tifluadom, Bremazocin und U-50,488H, die in der Klinik aufgrund ihrer dysphorischen Wirkung nicht zum Einsatz gekommen sind, eine hohe SpezifitaÈt und AffinitaÈt zum k-Rezeptor und nicht zum m-Rezeptor bei einer gleichzeitig ausgepraÈgten hypnotischen Wirkung aufweisen [14, 140±142]. Eine solche hohe k-AffinitaÈt ist auch bei den gemischtwirkenden Agonisten/Antagonisten Nalbuphin, Pentazocin und Butorphanol nachweisbar, deren AffinitaÈt zum m-Rezeptor ein antagonistisches, d. h. verdraÈngendes Potenzial reflek-

. Tabelle 9-5. Die AffinitaÈtskonstanten (Ki-Werte in nmol/l) verschiedener Liganden zu den Opioidrezeptoren, dargestellt an Hirnhomogenaten von Meerschweinchen. Die relative AffinitaÈt eines Pharmakons zum m-, d- bzw. k-Rezeptor spiegelt sich in den verschiedenen InhibitaÈtskonstanten wider. (Nach [72, 181])

Opioide

[3H]-Naloxon m

[3H]-DADL d

[3H]-EKC k

Morphin Fentanyl Sufentanil (±)-Bremazocin (e)-Tifluadom (e)-Pentazocine (e)-U-50,488H Nalbuphin Naloxon Naltrexon (±)-Ethylketazocine DADL-Enkephalin Oxymorphone Butorphanol Alfentanil Lofentanil Buprenorphin Carfentanil Mr 2266 b-Funaltrexamine Cyprodime

1,8 7 1,6 0,62 22 39 435 6,3 1,2 0,37 2,3 150 0,78 1,7 39 0,023 0,77 0,024 1,3 0,40 9,4

90 180 23 0,78 290 467 9200 163 19 9,4 5,2 1,8 50 13 21.200 0,24 2,2 3,3 2,7 18 356

317 63 124 0,075 4,1 87 0,69 61 12 4,8 2,2 i10.000 137 7,4 i10.000 0,60 1,1 43 0,28 2,8 176

9

76

9

Kapitel 9  Wirkungen und Nebenwirkungen der Opioide

tiert. Andererseits ist die AffinitaÈt zum m-Rezeptor der klassischen m-Opioide Morphin, Fentanyl, Sufentanil und Alfentanil ebenfalls recht unterschiedlich. Hierbei scheint eine enge Korrelation zwischen relativer m-AffinitaÈt und einer in der Klinik zu beobachtenden analgetischen WirkungsstaÈrke vorzuliegen (. Abb. 9-24). Es wird deutlich, dass sich aus dem relativen AffinitaÈtspotenzial eines typischen m-Liganden Hinweise auf das innerhalb dieser Gruppe ebenfalls vorliegende Sedations- und insbesondere Analgesiepotenzial ableiten lassen. So weist aufgrund der AffinitaÈtskonstanten das Carfentanil, ein Opioid, das bisher vornehmlich in der VeterinaÈrmedizin zum Einsatz gekommen ist [182], eine im Vergleich mit Morphin und Fentanyl relativ hoÈhere m-AffinitaÈt auf, was auf einen hoÈhere analgetische Potenz hinweist. Das Opioid Ohmefentanyl [183], eine experimentelle Substanz, weist dagegen die hoÈchste AffinitaÈt zum Rezeptor auf, waÈhrend das Lofentanil, ebenfalls eine noch experimentelle Substanz mit einer am Rezeptor bis zu 24 h anhaltenden Haftung (extrem lange Wirkungsdauer), die von allen Fentanylen hoÈchste AffinitaÈt aufweist. Aus diesen Ergebnisse ist abzuleiten, dass Sufentanil eine im Vergleich mit Fentanyl um

den Faktor 4,4 hoÈhere m-AffinitaÈt inne hat, ein Ergebniss, welches auch in der Klinik seinen BestaÈtigung findet. Denn Sufentanil hat in der Klinik eine nicht nur staÈrkere Analgesie, sondern, im Vergleich zum Fentanyl, auch tiefere Sedation, was in klinischen Untersuchungen durch eine hoÈhere Leistungszunahme im langsamen d-Band des EEG gestuÈtzt werden konnte, zur Folge [154, 184, 185]. Solch ausgepraÈgte hypnosedative und analgetische Wirkung kann bei herzchirurgischen Patienten, wo das Opioid aufgrund seiner fast fehlenden kardiodepressiven Wirkung gerne eingesetzt wird, im Rahmen der Einleitung einer Narkose genutzt werden [133]. Indem Sufentanil im Vergleich mit Fentanyl eine um 800 % hoÈhere Leistungszunahme im langsamen d-Band induzierte, war eine anschlieûende Laryngoskopie und Intubation, ganz im Vergleich mit Fentanyl, durch einen fehlende nozizeptiv-bedingte b-Aktivierung im EEG charakterisiert [133]. Zusammenfassend laÈsst sich feststellen, dass Rezeptorbindungs- und VerdraÈngungsstudien an isolierten Hirnhomogenaten schon in vitro Hinweise auf die in der Klinik zu erwartenden Wirkungen geben koÈnnen. Es ist nicht vornehmlich die fuÈr das einzelne Pharmakon im Plasma nachgewiesene Konzentration fuÈr eine Wirkung von

. Abb. 9-24. Logarithmische Darstellung

der relativen AffinitaÈt verschiedener Opioide zum m-Rezeptor, abgeleitet aus den Rezeptorbindungs- und VerdraÈngungsstudien. Opioide mit * weisen auf ein antagonistisches Wirkprofil am m-Rezeptor hin

9.5  Epileptogene Effekte der Opioide

Bedeutung. Vielmehr sind es die am Rezeptor herrschenden Konzentrationen und die nach Wechselwirkung mit dem Opioidrezeptor sich einstellenden analgetischen (antinozizeptiven) als auch hypnosedativen Wirkungen. Die AffinitaÈt zum Rezeptor und eine nach Bindung sich entwickelnde KonformationsaÈnderung des Rezeptors bestimmen letztlich die klinisch notwendige Dosis, um eine gewuÈnschte Wirkung zu erreichen. Es wird hieraus aber auch deutlich, dass neben Antinozizeption, die vornehmlich durch die Interaktion mit dem m-Rezeptor vermittelt wird [63], auch hypnosedative Wirkungen uÈber eine gleichzeitige Interaktion mit anderen Opioidrezeptoren zu erwarten sind. 9.5

Epileptogene Effekte der Opioide

Nach Gabe der Opioide Pethidin, Morphin, Alfentanil, Fentanyl bzw. Sufentanil in Konzentrationen uÈber 20, 180, 5, 4 und 4 mg/kgKG sind beim Hund epileptogene AktivitaÈten im EEG, verbunden mit tonisch-klonischen KraÈmpfen nachweisbar [186]. Weil solche hohen Dosen beim Menschen auûerhalb jeglicher therapeutischen Dosierungen liegen, sind epileptogene Wirkungen in der klinischen AnaÈsthesie und in der Therapie von akuten oder chronischen Schmerzen auszuschlieûen. Zwar wurde in der Literatur vereinzelt uÈber FaÈlle mit tonisch-klonischen KraÈmpfen nicht nur nach einer Fentanyl- [187, 188], sondern auch nach einer Sufentanil-gestuÈtzten Narkose berichtet [189]. Es ist jedoch auffaÈllig, dass bei den klinisch objektivierbaren tonisch-klonischen AktivitaÈten im EEG keine Krampfpotenziale nachweisbar waren [190].

77

Die hohen Fentanyldosen, die bei der Ratte und beim Hund KrampfaktivitaÈten ausloÈsen [186, 191], liegen auûerhalb jeglicher therapeutischen Bereiche. Deshalb kann generell eine epileptogene Wirkung der Opioide vernachlaÈssigt werden. Eine Ausnahme machen hohen Dosen von Pethidin, bei dem das Stoffwechselprodukt Norpethidin ein epileptogenes Muster im EEG mit KraÈmpfen, besonders bei Neugeborenen, initiieren kann [192]. UrsaÈchlich muss in den wenigen FaÈllen, in denen »tonisch-klonische KraÈmpfe« unter therapeutischen Dosen von Opioiden beobachtet wurden, von einer Enthemmung der motorischen Groûhirnzellen ausgegangen werden, ein Effekt, der auch schon fuÈr das Hypnotikum Etomidate diskutiert wurde [193].

9

10 Antitussive Wirkung der Opioide

Opioide fuÈhren auch zu einer Blockade des Hustenzentrums mit einhergehender UnterdruÈckung der Atemwegsreflexe, sodass ein Endotrachealtubus besser toleriert wird. Diesen Teilaspekt macht man sich besonders bei Intensivpatienten und im Rahmen einer chronischen Tracheobronchitis zu Nutze. Die antitussive Wirkung der Opioide entspricht der Eigenschaft, eine hustendaÈmpfende Wirkung zu entfalten. Sie ist nicht auf eine spezielle Rezeptorpopulation beschraÈnkt, weil StereoselektivitaÈt fuÈr diese Wirkung nicht nachgewiesen werden konnte. Auch ist die Umkehrbarkeit mit Naloxon weniger spezifisch [194]. Die Ursache ist eine Blockade des Hustenzentrums in der Medulla oblongata. Von den bekanntesten Opioiden mit hervorstechenden hustendaÈmpfenden Eigenschaften sind Hydrocodon (Dicodid) und Hydromorphon (Dilaudid) zu nennen. Eine aÈhnliche ausgepraÈgte antitussive Wirkung haben auch Opioide wie das Diamorphin (Heroin), Methylmorphin (Codein), Dihydrocodein (Paracodein) sowie Fentanyl und Sufentanil. Fentanyl und Sufentanil werden zur NeuroleptanaÈsthesie und -analgesie im Rahmen der balancierten Narkose sowie bei der Beatmung auf der Intensivstation verwendet, weil der Patient den Endotrachealtubus besser toleriert und eine Anpassung an den Atemrhythmus des Respirators die Beatmung deutlich erleichtert. Morphin ist hinsichtlich seiner antitussiven Wirkung schlechter einzustufen, waÈhrend Pethidin (Dolantin) und alle gemischtwirkenden

Agonisten/Antagonisten eine zu vernachlaÈssigende antitussive Wirkung aufweisen. Generell ist festzuhalten, dass alle stark wirksamen Opioide auch eine ausgesprochen gute antitussive Wirkung haben, waÈhrend die schwaÈcher wirkenden zentralen Analgetika eine geringe HustendaÈmpfung bewirken (. Abb. 10-1). Bei rascher Anflutung stark wirksamer Opioide ist nach i. v.-Gabe, im Rahmen der AnaÈsthesie oÈfters ein Hustenreiz zu beobachten. Dieser Effekt durch eine Stimulierung der Rezeptoren im Hustenzentrum zu erklaÈren, indem zu Beginn der Injektion die Trefferrate des Opioids am Rezeptor hoch ist. Erst nach dessen Besetzung kommt es zu einer KonformationsaÈnderung der Bindungsstelle und einer damit einhergehenden eigentlichen antitussiven Wirkung.

80

Kapitel 10  Antitussive Wirkung der Opioide

10 . Abb. 10-1. Vergleich der antitussiven (hustendaÈmpfenden) Wirkung verschiedener Opioide nach Verabreichung aÈquianal-

getischer Dosen. (Mod. nach [132])

11 Sucht- und AbhaÈngigkeitspotenzial der Opioide 11.1

Neuronal-molekularbiologische VeraÈnderungen bei Suchtund AbhaÈngigkeitsentwicklung

11.2

Sucht und AbhaÈngigkeit bei Schmerzpatienten unter Opioidtherapie ± 83

11.3

Modelle zur Suchtund Toleranzentwicklung

± 82

± 85

Die Eigenschaft der Opioide, Sucht- und AbhaÈngigkeit zu erzeugen, ist zum einen direkt proportional der analgetischen StaÈrke des jeweiligen Pharmakons, zum anderen haÈngt es von der mit dem jeweiligen Liganden interagierenden Rezeptorpopulation und der Kinetik am Rezeptor ab. Buprenorphin z. B. hat wegen der langsamen Dissoziation vom Rezeptor ein geringeres Sucht- und AbhaÈngigkeitspotenzial als andere wirkstarke Opioide [195]. Des Weiteren weisen die reinen k-Liganden als auch die gemischtwirkenden Agonisten/Antagonisten wegen einer uÈber den k-Rezeptor vermittelnden Analgesie ein geringes Suchtpotenzial auf [72, 139, 196]. Weil der im uÈblichen Sprachgebrauch gelaÈufige Begriff »Sucht« unscharf ist, wurde er durch »AbhaÈngigkeit« ersetzt. Unterschieden werden muss jedoch zwischen einer psychischen und einer physischen AbhaÈngigkeit. Unter psychischer AbhaÈngigkeit ist ein seelischer Zustand zu verstehen, der sich aus der Wechselwirkung zwischen Droge und Organismus entwickelt. Es besteht das BeduÈrfnis, einen durch die Droge ausgeloÈsten Zustand von Zufriedenheit und GluÈcksgefuÈhl wiederzuerlangen. Auch besteht die Tendenz, die Droge periodisch oder dauerhaft einzunehmen, um ein GluÈcksgefuÈhl (Lust) zu erzeugen oder Unbehagen (Unlust) zu vermeiden. Eine physische oder koÈrperliche AbhaÈngigkeit liegt dann vor, wenn beim Absetzen der Droge Entzugserscheinungen auftreten [197]. Sie beruhen auf einer Enthemmung im vegetativen Grund-

tonus, wobei Dysphorie, Schwitzen, Tremor, krampfartige Schmerzen in Muskulatur und Intestinuum, anfallsweise Tachykardien und Blutdruckanstieg, eine innere und motorische Unruhe mit Getriebenheit bis hin zu Zwangsvorstellungen auftreten. Dabei stehen eine Mydriasis sowie Ûbelkeit und Erbrechen im Vordergrund. Das Ausmaû haÈngt nicht von der Dosis, sondern von der Dauer der Einnahme des Opioids ab. So koÈnnen selbst bei jahrelanger Einnahme kleiner Dosen beim Absetzen starke Entzugserscheinungen auftreten. Diese Abstinenzsymptome werden in unterschiedliche Grade unterteilt (. Tabelle 11-1), wobei sich nach Absetzen des Opioids unter-

. Tabelle 11-1. Gradeinteilung der Abstinenz-

symptome Grad

Klinische Symptome

0 1

Opiathunger, Øngstlichkeit GaÈhnzwang, Schwitzen, TraÈnenfluss, RhinorrhoÈ, Unruhe, Insomnie ZusaÈtzlich Mydriasis, GaÈnsehaut, Tremor, Glieder-Muskel-Schmerzen, Muskelspasmen, Hitzewallungen, Anorexie ZusaÈtzlich Tachykardie, Blutdrucksanstieg, TraÈnenfluss, Fieber, Nausea, Schlaflosigkeit, Tachypnoe ZusaÈtzlich exzessives Schwitzen, Gliederschmerzen, DiarrhoÈ, Erbrechen, Rubeose

2

3

4

82

Kapitel 11  Sucht- und AbhaÈngigkeitspotenzial der Opioide

. Tabelle 11-2. Unterschiedliche IntensitaÈt von Entzugserscheinungen verschiedener Opioide waÈhrend der ersten 10 Tage nach Absetzen, abgeleitet aus einer Abstinenzskalierung. (Nach [198, 199, 200])

Opioid

Analgetische StaÈrke

Tagesdosis [mg]

GesamtintensitaÈt

Morphin Cyclazocin Nalorphine Butorphanol Nalbuphin Propiram Nalorphin Pentazocin Buprenorphin Placebo

1 20 1 5 0,8 0,13 1 0,25 40 ±

240 13,2 240 48 203 1786 240 580 8 ±

198 e16,3 103 e13,2 129 e10,6 164 e15,2 136 e6,4 130 e32 130 e10,6 106 e9,3 61e4,2 35e3,8

schiedliche IntensitaÈten feststellen lassen (. Tabelle

11-2).

11.1

11

Neuronal-molekularbiologische VeraÈnderungen bei Suchtund AbhaÈngigkeitsentwicklung

Nach der heutigen Vorstellung ist das dopaminerge Belohnungssystem maûgeblich an der Ausbildung einer OpiatabhaÈngigkeit beteiligt. Denn dieses Belohnungssystem dient im eigentlichen Sinne der Arterhaltung, es veranlasst den Menschen, zu essen, zu trinken, zur SexualitaÈt und veranlasst die Mutter zum Pflegeverhalten gegenuÈber dem Neugeborenen. Das Belohnungssystem foÈrdert alle die TaÈtigkeiten, die das Wohlbefinden steigern (. Abb. 11-1). Das dopaminerge Belohnungssystem soll maûgeblich, neben der Entwicklung einer OpiatdabhaÈngigkeit, auch an der VerstaÈrkung der durch Opioide ausgeloÈsten euphorisierenden Wirkung,

an der Ausbildung einer Schizophrenie, an manisch-depressiven StoÈrungen und dem Tourette-Syndrom beteiligt sein. Ein aÈhnlicher Wirkungsmechanismus konnte auch fuÈr den Cocain-, den Alkohol- und Nikotinabusus nachgewiesen werden. Im Gegensatz dazu vermitteln k-Opioide eine dysphorische Wirkung durch direkten Angriff an den dopaminergen Bahnen, wodurch vermindert Dopamin freigesetzt wird [201, 202, 203]. Opioide, aber auch Cocain und Alkohol missbrauchen dieses dopaminerge Belohnungssystem, indem sie darauf einwirken und uÈber das Wohlbefinden verstaÈrkend wirken. Dies geht so lange, bis sich eine AbhaÈngigkeit auf molekularer Ebene mit deutlich erhoÈhter AffinitaÈt zu den Dopaminrezeptoren ausgebildet hat. Hieraus wird auch verstaÈndlich, warum nach langfristiger Abstinenz immer noch VeraÈnderungen im Belohnungssystem nachweisbar sind und langfristig die Suche nach der »belohnenden Droge« erhalten bleibt. Denn nach dem Absetzen der Droge rea-

. Abb. 11-1. Das konditionierende, dopaminerge Belohnungssystem im mesolimbisch-mesokortikalen Bereich, das durch

D4-Rezeptoren reguliert wird

11.2  Sucht und AbhaÈngigkeit bei Schmerzpatienten unter Opioidtherapie

giert das dopaminerge System jetzt um ein Vielfaches sensibler auf Stimuli und Substanzen und bei erneuter Drogenaufnahme kommt es sofort zu einem RuÈckfall [201]. Beim ehemaligen OpiatabhaÈngigen kann jedoch eine psychische AbhaÈngigkeit die physische AbhaÈngigkeit uÈberdauern, sodass selbst nach erfolgreicher Entgiftung noch lange Zeit die Gier nach dem Stoff bestehen bleibt. 11.2

Sucht und AbhaÈngigkeit bei Schmerzpatienten unter Opioidtherapie

Einer Suchtentwicklung beim illegalen Konsum von Drogen steht die medizinisch indizierte Dauereinnahme von Opioiden bei chronischen Schmerzen, insbesondere beim Karzinomschmerz, gegenuÈber. So weisen Patienten, die Opioide wegen Karzinomschmerzen langfristig einnehmen, keine AbhaÈngigkeitsentwicklung oder GewoÈhnung auf [204]. Allerdings ist eine ausreichende und zeitkonstante Dosierung Bedingung dafuÈr, dass sich eine psychische AbhaÈngigkeit, mit dem starken Verlangen nach erneuter Dosis, bei Schmerzpatienten nicht entwickeln kann. Wenn der schmerzausloÈsende Tumor entfernt worden ist, kann vielmehr die Dosis reduziert werden, und gelegentlich wird eine Daueropioidgabe in solchen FaÈllen gar nicht mehr notwendig sein. Die Tatsache, dass Patienten, denen intraoperativ stark wirksame Opioide zur UnterdruÈckung der Schmerzafferenz wiederholt verabreicht worden sind, keine Sucht und AbhaÈngigkeit entwickeln, ist durch die fehlende Perzeption zu erklaÈren, denn die Patienten spuÈren die euphorisierende Wirkung des Medikaments nicht, weil sie waÈhrend der Narkose schlafen. Voraussetzung fuÈr eine Suchtentwicklung ist ein wacher Organismus, dem ohne vorhandene Schmerzen, allein aus GruÈnden des LustgefuÈhls, Drogen zugefuÈhrt werden [205]. Deshalb ist auch bei Patienten mit Schmerzen die Tendenz zur Sucht- und AbhaÈngigkeitsentwicklung, im Vergleich zu Individuen ohne Schmerzen, als sehr gering einzustufen [206]. So kann sich eine psychische AbhaÈngigkeit auch als Folge der physischen AbhaÈngigkeit dadurch entwickeln, indem die immer wiederkehrenden Entzugs- oder Abstinenzsymptome durch erneute Einnahme beseitigt werden. Ein aÈhnlicher Mechanismus kann sich auch bei Schmerzpatienten entwickeln dann, wenn Patienten mit Schmerzen unterdosiert oder nach Bedarf (»pro re nata«) dosiert werden. Werden die Schmerzen nicht ausreichend oder nur zu bestimmten Zeiten gelindert,

83

11

tritt das Verlangen und die Gier nach der naÈchsten Einnahme ein, die so vorprogrammiert sein kann, dass sich eine psychische Bindung an das Analgetikum entwickelt [726]. Erst die ausreichende und zeitkonstante Dosierung fuÈhrt bei Schmerzpatienten dazu, dass sich eine psychische AbhaÈngigkeit mit dem starken Verlangen nach erneuter Dosis nicht entwickelt [727]. Auch scheint bei Schmerzpatienten in den Zeiten, in denen das schmerzhemmende endorphinerge System langfristig nicht in der Lage ist, nozizeptive Afferenzen ausreichend zu unterdruÈcken, ein BeduÈrfnis nach exogen zugefuÈhrten Opioiden zu bestehen. Der Organismus wird dann nicht suÈchtig. Des Weiteren gelten Opioide mit hoher FettloÈslichkeit und kurzer Anschlagzeit als abhaÈngigkeitsfoÈrdernd, ganz im Gegensatz zu den verzoÈgert und lang wirkenden Opioiden, die in der Schmerztherapie Verwendung finden. So stimmen die Ergebnisse, die sich in . Abb. 11-2 niederschlagen und aus Beobachtungen bei opioidnaiven Individuen ohne Schmerzen stammen, nicht mit der Klinik uÈberein. Es hat sich beispielsweise das sehr lipophile Opioid Diamorphin (Heroin) in Groûbritannien in der Schmerztherapie bewaÈhrt, ohne dass die Patienten eine psychische AbhaÈngigkeit entwickelten [728]. Ebenso belegen verschiedene VeroÈffentlichungen, dass es bei Krebspatienten mit langfristiger Opioidgabe extrem selten zu einer AbhaÈngigkeit kommt. Selbst eine Toleranzentwicklung ist bei diesen Patienten nur in seltenen FaÈllen festzustellen [95]. Dosissteigerungen sind eher auf eine SchmerzverstaÈrkung im Rahmen der Erkrankung zuruÈckzufuÈhren. Unterstrichen werden solche SchluÈsse durch die kontinuierliche Gabe von stark wirkenden Opioiden im Rahmen der Intensivmedizin, wo bisher kein Fall einer psychischen AbhaÈngigkeitsentwicklung aufgetreten ist [207]. Obgleich bei Patienten mit chronischen Schmerzen eine potenzielle Sucht- und AbhaÈngigkeitsentwicklung kaum zu erwarten ist, so kann jedoch in einigen FaÈllen diese MoÈglichkeit nicht voÈllig auûer acht gelassen werden. Hierbei muss jedoch klar differenziert werden zwischen den verschiedenen Formen einer AbhaÈngigkeit: 4 Unter einer psychischen AbhaÈngigkeit wird ein Zustand beschrieben, in dem versucht wird, ein durch das Medikament ausgeloÈste Zufriedenheit und GluÈckseligkeit wiederzuerlangen. Hieraus resultiert die Tendenz, das Pharmakon periodisch oder dauerhaft einzunehmen, um ein GluÈcksgefuÈhl (Lust) zu erzeugen oder ein Unbehagen (Unlust) zu vermeiden,

84

Kapitel 11  Sucht- und AbhaÈngigkeitspotenzial der Opioide

. Abb. 11-2. Die Tendenz der Opioide, eine Sucht auszuloÈsen; vergleichende GegenuÈberstellung unterschiedlicher Substanzen mit der Grad ihrer AbhaÈngigkeitsentwicklung. (Nach [198, 208±212])

11

4 Eine physische oder koÈrperliche AbhaÈngigkeit liegt dagegen dann vor, wenn beim Absetzen der Droge Entzugserscheinungen auftreten. Solche Symptome beruhen auf einer Enthemmung des vegetativen Grundtonus, wobei Dysphorie, Schwitzen, Tremor, krampfartige Schmerzen in Intestinuum und Muskulatur, anfallsweisem Blutdruckanstieg und Tachykardie, einer inneren und motorischen Unruhe mit Getriebenheit bis hin zu Zwangsvorstellungen auftreten koÈnnen. Dabei stehen eine Mydriasis mit Ûbelkeit und Erbrechen im Vordergrund. Solche Abstinenzsymptome werden in unterschiedliche Grade unterteilt, die in zeitlicher Reihenfolge nach dem Absetzen an IntensitaÈt auch zunehmen. Das Ausmaû dieser Symptomatik haÈngt nicht von der vorangegangenen Dosis, sondern von der Dauer der Einnahme des Opioids ab. 4 Bei der Pseudosucht dagegen, wie sie urspruÈnglich von Cherny definiert wurde, bietet der unter einer Opioidtherapie stehende Patient dem Therapeuten ein auffaÈlliges Verhalten, mit ± lautstarken, verbalen Forderungen nach dem Opioid,

±

Sistieren der Forderungen nach Opioideinnahme. UrsaÈchlich liegt einer solchen Verhaltensweise eine Unterdosierung des Opioids bei Schmerzen zugrunde, wobei nur aufgrund der auffaÈlligen Verhaltensweise, der Therapeut denn Patienten faÈlschlicherweise als »suÈchtig« einstuft. Es ist deswegen von Bedeutung, eine Pseudosucht von einer echten Sucht zu unterscheiden, um den Patienten nicht ungerechterweise mit einem Adjektiv zu belegen, dass eigentlich nicht vorliegt. Da ein Missbrauch von nichtopioidartigen Analgetika oder eine Kombination eins schwachen Analgetikums mit einem peripher wirkenden Schmerzmittel haÈufiger anzutreffen ist, und insbesondere eine potenzielle Entwicklung zur psychischen AbhaÈngigkeit bei Patienten mit nichtmalignen Schmerzen besteht, sollten bei der Entscheidung zur Opioidtherapie folgende Beobachtungen mit in eine Verschreibungsentscheidung eingehen, um einen moÈglichen spaÈteren Missbrauch von Opioiden auszuschlieûen. Die Verordnung eines Opioids bei starken nicht malignen Scherzen sollte dann nicht erfolgen wenn:

11.3  Modelle zur Sucht- und Toleranzentwicklung

4 Psychisch bedingte, somatoforme Schmerzformen vorliegen. 4 Vorangegangene alternative AnsaÈtze zur Schmerztherapie nicht versucht wurden. 4 Keine Bereitschaft bei der Abfassung eines auf Gegenseitigkeit bestehenden Vertrags besteht. 4 Hinweise auf einen Abusus mit anderen Pharmaka (Benzodiazepine, Alkohol, Nikotin etc.) vorliegen. 4 Medizinische Hinweise auf eine Kontraindikation mit Opioiden bestehen. 4 Hinweise fuÈr eine aufgrund der PersoÈnlichkeitsstruktur, den allgemeinen Verhaltensweisen, der Motivierung und den Lebenszielen abzuleitende AbhaÈngigkeitstendenz vorliegen. 11.3

Modelle zur Suchtund Toleranzentwicklung

Eine Toleranzentwicklung gegenuÈber Opioiden, aber auch die Entwicklung von AbhaÈngigkeit und Sucht, kann in dem von Sadee und Mitarbeitern entwickelte Modell eine weitere ErklaÈrung finden [213]. Hierbei wird auf molekularer Ebene ein fuÈr Opioide typischer Entstehungsmechanismus durch unterschiedliche RezeptorzustaÈnde erklaÈrt. Im opioidnaiven Zustand befinden sich normalerweise die Bindungsstellen fuÈr Opioide in einem ruhenden Zustand. Es besteht in der Beziehung ruhenden zu aktivierten Rezeptoren, eine Relation zu Gunsten des »ruhenden« Rezeptorzustands. Hierbei nehmen die »aktivierten« Rezeptoranteile nur einen geringen Anteil ein (. Abb. 11-3). Eine Opioidgabe, und insbesondere die langfristige Einnahme der Opioide, fuÈhrt im abhaÈngigen Zustand zu einer vermehrten ÛberfuÈhrung in die »aktivierte« Rezeptorform. HierfuÈr ist ein energieuÈbertragendes Enzym, die Proteinkinase C (PKC), die den endstaÈndigen Phosphatrest von Nucleosidtriphosphat auf das Substrat uÈbertraÈgt, notwendig. Die Anzahl »ruhender« Rezeptoranteile ist jetzt in Relation zu den »aktivierten« Anteilen deutlich geringer (. Abb. 11-4). Es muÈssen nun hoÈhere Opioiddosen gegeben werden, um eine wuÈnschenswerte Wirkung zu erreichen, weil weniger »ruhende« Rezeptoren vorhanden sind (Toleranzentwicklung). Andererseits wirkt Naloxon am »aktivierten« Rezeptor jetzt als inverser Agonist, indem es stimulierend wirkt und Abstinenzsymptome induziert. Die aktivierte Rezeptorform ist auch Ursache fuÈr eine verspaÈtet auftretende Abstinenzsymptomatik die, wie aus der Praxis bekannt, selbst

85

11

dann auftritt, wenn keine Opioide im Blut mehr nachweisbar sind und eine Naloxongabe zu starken Entzugserscheinungen fuÈhrt. Wird jetzt verhindert, dass der »ruhende« Rezeptorzustand nicht in eine »aktivierte« Form uÈberfuÈhrt wird, sind Entzugs-, Toleranz- und AbhaÈngigkeitssymptome nicht zu erwarten. So konnten durch Hemmung der zyklischen, nukleoidabhaÈngigen Proteinkinase und der Proteinkinase C mit Hilfe des spezifischen Inhibitors H7 (ˆ 1-[5-Isoquinolinylsulfonyl]-2-Methylpiperazin), nicht nur eine Toleranz, sondern auch die durch Naloxon ausgeloÈsten Abstinenzsymptomatik bei der opioidabhaÈngigen Maus verhindert werden. Prinzipiell kann von allen Opioiden mit groûer WirkstaÈrke eine AbhaÈngigkeit ausgehen. Sie ist

. Abb. 11-3. Die Rezeptorformen beim opioidnaiven Orga-

nismus. Es uÈberwiegt der ruhende Rezeptorzustand, der nach Besetzung u. a. zur Analgesie fuÈhrt

. Abb. 11-4. Der Rezeptorzustand beim opioidtoleranten

Organismus. Die Relation ist zugunsten des aktiven Rezeptorzustands verschoben. Um gleiche Wirkungen zu erhalten, muÈssen hoÈhere Opioiddosen gegeben werden (Toleranzentwicklung)

86

Kapitel 11  Sucht- und AbhaÈngigkeitspotenzial der Opioide

. Abb. 11-5. Schematische Darstellung zur Opioidrezeptorinteraktion beim OpiatabhaÈngigen; beim akuten Entzug kommt es zu einem »Noradrenalinsturm«, der fuÈr die Entzugssymptomatik verantwortlich ist. Naltrexon kann als NuÈchternheitshilfe nach dem akuten Entzug eingesetzt werden

11

nur bei den gemischtwirkenden Agonisten/Antagonisten und bei den partiellen Agonisten (Buprenorphin, Meptazinol) in vermindertem Maûe anzutreffen. Weil jede DrogenabhaÈngigkeit bestimmten psychischen und psychopathologischen sowie koÈrperlichen Merkmalen zuzuordnen ist, muss eine DrogenabhaÈngigkeit vom Morphintyp streng von einer anderen DrogenabhaÈngigkeit, z. B. vom Barbiturat- oder Alkoholtyp, getrennt werden. Langfristig fuÈhrt eine Opioidsucht im Dauerzustand letztlich immer dazu, dass der AbhaÈngige so von der Abstinenzsymptomatik geplagt wird, dass er bestrebt ist, sich nur zur UnterdruÈckung der Symptome ein Opioid zuzufuÈhren. Ein akutes Abstinenzsyndrom kann aber auch durch die kompetitive VerdraÈngung eines Agonis-

ten mit einem Opioidantagonisten vom Typ Naloxon (Narcanti) oder Naltrexon (Nemexin) ausgeloÈst werden. Hierbei stehen die gesteigerte SympathikusaktivitaÈt und die daraus resultierenden kardiovaskulaÈren Effekte im Vordergrund [214]. Der Grad dieser sympathischen HyperaktivitaÈt (. Abb. 11-5) ist von der WirkungsstaÈrke des vorangegangenen Opioids abhaÈngig [215], wobei ursaÈchlich eine durch das Opioid anfaÈnglich ausgeloÈste Enzymhemmung und mit einer folgenden »postinhibitorisch, uÈberschieûenden Enthemmung« diskutiert wird [216, 217]. ! Opioide, allein zum Zwecke einer Schmerzthera-

pie gegeben, fuÈhren im allgemeinen weder zur Toleranz- noch zur AbhaÈngigkeitsentwicklung.

12 Opioide und Nausea ± Emesis

Die wichtigste Aufgabe von Nausea und Emesis ist die Entfernung von Toxinen, wie sie beispielsweise bei einer Lebensmittelvergiftung auftreten. Ûbelkeit und auch Erbrechen sind somit Teil des protektiven Systems des Organismus, wie sie auch nach einer Radiotherapie sowie nach Gabe von Opioiden im Rahmen der AnaÈsthesie und als Folge der Therapie chronischer Schmerzen zu beobachten sind (. Abb. 12-1). So weisen bis zu

. Abb. 12-1. Inzidenz von Nausea und Emesis nach

verschiedenen operativen Eingriffen

20 % aller Opioidpatienten Nausea und/oder Emesis auf. UrsaÈchlich handelt es sich hier um eine durch das Opioid ausgeloÈste Reizung der sensiblen Chemorezeptortriggerzone (CTZ), das mit dem Brechzentrum in engster Verbindung steht. Die Triggerzone liegt am Boden des IV. Hirnventrikels, oberhalb der Area postrema, ist reichlich mit dopaminergen, histaminergen, serotinergen (5-Hydroxytryptamin) und auch cholinergen Endneuronen ausgestattet und ist der Ausgangspunkt fuÈr den medikamentenbedingten und metabolisch induzierten Brechakt [729] (. Abb. 12-2). Im Gegensatz zu den uÈbrigen Bereichen des Gehirns findet man in der Chemorezeptortriggerzone »gefensterte« Kapillaren (. Abb. 12-3). Das heiût, die Chemorezeptortriggerzone besitzt nicht die uÈbliche Blut-Hirn-Schranke. Da das Brechzentrum, welches mehr im dorsalen Anteil der Formatio reticularis lokalisiert ist, sowohl visuellen, kortikalen und limbischen EinfluÈssen unterworfen ist und auch Efferenzen zu den Kernarealen des nahe gelegenen Vasomotorenzentrums sowie dem Zentrum fuÈr Salivation und Atemregulation abgibt, erklaÈren sich hieraus die mit dem Brechakt einhergehenden ReflexablaÈufe. Wird das Brechzentrum uÈber einen der aufgefuÈhrten Wege stimuliert, koordiniert es die verschiedenen, bei Emesis und Nausea ablaufenden VorgaÈnge: 4 Beendigung der rhythmischen Magenkontraktionen mit

88

Kapitel 12  Opioide und Nausea ± Emesis

4 Stau der Nahrung im Magen und einer 4 anschlieûenden ruÈckwaÈrts gerichteten Peristaltik. 4 Durch die koordinierte Kontraktion von Zwerchfell, Interkostalmuskulatur und M. rectus abdominis wird der Magen zusammengepresst und die Nahrung uÈber den erweiterten Úsophagus und die jetzt geoÈffnete Glottis kraftvoll ausgestoûen. Weil die Chemorezeptortriggerzone der Area postrema im Hirnstamm eine hohe Dichte von 5-HT3- (Serotonin-)Rezeptoren aufweist, wird die antiemetische Wirkung des 5-HT3-Antagonisten von z. B. Ondansetron (Zofran) verstaÈndlich [218, 219]. Therapeutisch kann jedoch schon mit Metoclopramid (Paspertin), einem Neuroleptikum

wie z. B. Haloperidol (Haldol), Triflupromazin (Psyquil) oder Alizapridhydrochlorid (Vergentan), eine uÈber die Blockade der dopaminergen D2-Rezeptoren vermittelte Wirkung erreicht werden. Andererseits ist auch mit Hilfe von Dimenhydrinat (Vomex), das uÈber eine Blockade cholinerger und histaminerger Rezeptoren wirkt, eine vorbeugende antiemetische Wirkung zu erreichen. Postoperative Ûbelkeit und Erbrechen (PONV) sind jedoch nicht spezifisch fuÈr eine AnaÈsthesie mit Opioiden. So konnten in einer groûen Ûbersichtsarbeit mit Hilfe der Multivarianzanalyse bei uÈber 2000 Patienten nach einer InhalationsanaÈsthesie folgende Risikofaktoren fuÈr Ûbelkeit und Erbrechen nachgewiesen werden [220]:

12

. Abb. 12-2. Schematische Darstellung der verschiedenen bei Nausea und Emesis beteiligten Rezeptorgruppen, die daran

relevanten anatomischen Areale und die verschiedenen AusloÈser

12  Opioide und Nausea ± Emesis

89

12

4 4 4 4 4

weibliches Geschlecht, junges Alter, Reisekrankheit in der Anamnese, Nichtraucherstatus, lange Narkosedauer. Die Operation an sich, der Zusatz von N2O, das Alter der Patienten bzw. der Zusatz von Opioiden, und die Wahl des Opioids haben gegenuÈber den anderen Risikofaktoren keinen signifikanten Einfluss auf die HaÈufigkeit von Nausea und Emesis [221].

. Abb. 12-3. Die in der Area postrema lokalisierten Chemorezeptoren, die fuÈr eine durch Opioide ausgeloÈste Emesis und/oder Nausea verantwortlich zu machen sind.

13 Opioide und Muskelstarre (RigiditaÈt) 13.1

Biochemische VeraÈnderungen bei opioidinduzierter MuskelrigiditaÈt ± 94

Die durch Opioide ausgeloÈste RigiditaÈt der quergestreiften Muskeln ist durch einen erhoÈhten Tonus charakterisiert, der sich bis hin zu einer Muskelstarre entwickeln kann. Besonders werden davon die quergestreifte Muskulatur von Thorax und Abdomen befallen, ein PhaÈnomen, das nach der schnellen Injektion aller stark wirkenden Opioide zu beobachten ist und letztlich dann in eine ungenuÈgende Ventilation des Patienten muÈn-

det (. Abb. 13-1). Diese StammrigiditaÈt ist durch folgende Eigenschaften charakterisiert: 4 Sie tritt nach der Bolusinjektion eines stark wirksamen Opioids auf. 4 Sie ist besonders bei aÈlteren Patienten (i60 Jahre) nachweisbar. 4 Sie wird durch Stickoxydul verstaÈrkt [222, 223]. Das anatomische Korrelat, uÈber das Opioide eine muskulaÈre RigiditaÈt ausloÈsen, ist zentral im

. Abb. 13-1. Die Tendenz verschiedener Opioide,

eine muskulaÈre RigiditaÈt auszuloÈsen

92

13

Kapitel 13  Opioide und Muskelstarre (RigiditaÈt)

Striatum zu suchen, das reich an Opioidbindungsstellen ist. Hieran sind insbesondere dopaminerge D2- Rezeptoren mit ihren Leitungsbahnen, die eine spezielle Aufgabe in der Lokomotion haben und bei M. Parkinson ein anatomisches Defizit aufweisen, beteiligt. Eine Opioidapplikation fuÈhrt jedoch, zu einem verstaÈrkten Abbau von Dopamin, sodass entgegen dem Morbus Parkinson, letztlich ein funktioneller Mangel in den Synapsen des Striatums vorliegt. Es wird dadurch der vorherige Gleichgewichtszustand zwischen cholinergen und dopaminergen NeuronenverbaÈnden zu Gunsten der cholinergen AktivitaÈten im nigrostriatalen System verschoben [216, 224, 225]. Weil das Striatum als uÈbergeordnetes Zentrum den Muskeltonus reguliert, ist verstaÈndlich, dass eine gesteigerte cholinerge AktivitaÈt auch zu einer Tonuszunahme bis hin zur Muskelsteife fuÈhrt. ZusaÈtzlich kommt dem Nucleus raphe pontis eine Bedeutung bei der Vermittlung der durch Opioide indizierten Muskelstarre zu, da beim Tier nur die Mikroinjektionen von Methylnaloxon (einem quarternaÈren AbkoÈmmling, der sehr schlecht die Blut-Hirn-Schranke passiert) in dieses Kerngebiet, nicht jedoch die systemische Gabe, zu einer Umkehr der durch Alfentanil induzierten RigiditaÈt fuÈhrte [226]. Obgleich die Opioide nicht direkt den Tonus der Muskulatur beeinflussen, kann die RigiditaÈt mit Muskelrelaxanzien vom Typ der depolarisierenden (Succinylcholin) bzw. der nichtdepolarisierenden Blocker (z. B. Curare, Pancuronium, Rocuronium, usw.) aufgehoben werden [227] (. Abb. 13-2). Zwar wird durch das Muskelrelaxans der gesteigerte neuronale Freisetzung an der neuromuskulaÈren Endplatte nicht unterbrochen, jedoch wird durch das jeweilige Muskelrelaxans ein Andocken von Acetylcholin verhindert.

Zentral angreifende Pharmaka, die die hohe cholinerge AktivitaÈt im Striatum reduzieren, koÈnnen zur Umkehr der Wirkung nicht eingesetzt werden, weil wegen der langsamen Penetration durch die Blut-Hirn-Schranke ihre Wirkung viel zu spaÈt einsetzt. Ob die bei einer Narkose mit stark wirksamen Opioiden vorangehende PraÈmedikation mit Atropin einen gewissen Schutz bietet, ist nicht eindeutig bewiesen. Die durch Opioide ausgeloÈste muskulaÈre RigiditaÈt scheint direkt mit der jeweiligen analgetischen Potenz des Pharmakons zu korrelieren. So verursachen schwach wirkende Opioide und gemischtwirkende Agonisten/Antagonisten keine Tonuszunahme der Muskulatur, waÈhrend die Antagonisten diese Wirkung umkehren koÈnnen. Letzteres ist als Hinweis zu deuten, dass die TonuserhoÈhung nach Opioidgabe uÈber Opioidrezeptoren vermittelt wird, die vornehmlich der m-Subpopulation angehoÈren (. Abb. 13-2). Diese zentrale Bedeutung der m-Rezeptorgruppe wurde auch in experimentellen Studien bestaÈtigt, bei denen der hochselektive Antagonist fuÈr den m-Rezeptor, (CTAP), weniger ein Antagonist fuÈr den k-Rezeptor (Nor-binlatorphimine) oder fuÈr den d-Rezeptor (Nalrindole) in der Lage waren, eine Alfentanil-induzierte Muskelsteife umzukehren. Letztlich deuten solche Ergebnisse aber auch auf eine funktionelle Interaktion der drei hauptsaÈchlichsten Rezeptorgruppen bei der AusloÈsung der verschiedenen Opioidwirkungen hin. Der genaue Wirkungsmechanismus, mit dem Opioide die Dopaminkonzentration im Striatum herabsetzen, ist wahrscheinlich aus einer Hemmung des synthesefoÈrdernden Enzyms Tyrosinhydroxylase abzuleiten [216], wobei auch Opioidrezeptoren in der Substantia nigra bei der Wir-

. Abb. 13-2. Wirkung von Alfentanil, als Bolus und

uÈber 30 s verabreicht, auf den Tonus der quergestreiften Muskulatur des Rumpfes, gemessen an der Compliance (Dehnbarkeit) des Thorax unter Beatmung. Sowohl eine langsame Injektionsgeschwindigkeit als auch die anschlieûende Gabe niedriger Dosen von Succinylcholin sind in der Lage, die muskulaÈre RigiditaÈt zu verhindern bzw. aufzuheben. (Nach [228])

13  Opioide und Muskelstarre (RigiditaÈt)

kungsvermittlung eine bedeutende Rolle spielen, zumal sich die RigiditaÈt durch eine lokale Injektion von Naloxon aufheben lies [730, 731]. Weil nach Opioidgabe auch eine uÈber das Putamen ausgeloÈste AktivitaÈtsminderung im Pallidum zu einer verminderten Freisetzung von GABA fuÈhrt, koÈnnen GABAerge Leitungsbahnen auch keine inhibitorische Funktion mehr auf den Thalamus ausuÈben. Die vom Thalamus entspringenden Afferenzen zum praÈmotorischen Kortex werden nicht mehr gehemmt und eine RigiditaÈt wird klinisch manifest. Dieser Wirkungsmechanismus erklaÈrt die nachgewiesene Verringerung einer muskulaÈren TonuserhoÈhung bei gleichzeitiger Benzodiazepingabe, ein Pharmakon, das am GABA-Rezeptor angreift und die GABAergen AktivitaÈten wieder normalisiert. Hierauf verweisen Daten mit einen

93

13

am GABA-Rezeptor angreifenden Benzodiazepin und dessen Wirkumkehr mit dem Benzodiazepinantagonisten Flumazenil [230]. Ein zusaÈtzlicher Wirkmechanismus erfolgt uÈber efferente Neurone vom Pallidums die cholinerger Natur sind. Denn es wird unter einem verminderten dopaminergen Input aus dem Striatum eine Erregbarkeitssteigerung cholinergen Afferenzen im Pallidum resultieren. Von dort ziehen dann Efferenzen zum Vorderhorn des RuÈckenmarks und weiter zur quergestreiften Muskulatur, wo ein erhoÈhter Tonus nachweisbar ist (. Abb. 13-3). Eine zusaÈtzliche enge Nachbarschaft der Substantia nigra zu den a2-Rezeptoren, wird durch die Hemmung einer opioidinduzierten RigiditaÈt durch den selektiven a2-Agonisten Dexmedetomidin unterstrichen [229].

. Abb. 13-3. Bedeutung des Neurotransmitters Dopamin in den Hirnstammganglien fuÈr die Tonusregulierung der quer-

gestreiften Muskulatur. Als Ergebnis einer verminderten Dopaminsynthese in der Substantia nigra entsteht eine AktivitaÈtssteigerung cholinerger Neuronen im Thalamus und Striatum (1 Pallidum externum; 2 Putamen; 3 Nucl. caudatus; 4 Thalamus; 5 Hypothalamus; 6 Lobus parietalis; 7 zentrales HoÈhlengrau; 8 Tractus corticospinalis; 9 hemmendes dopaminerges System; 10 thalamocorticale Neurone; 11 Substantia nigra)

94

Kapitel 13  Opioide und Muskelstarre (RigiditaÈt)

13.1

Biochemische VeraÈnderungen bei opioidinduzierter MuskelrigiditaÈt

Die Pyramidenbahn und das extrapyramidal-motorische System sind nach heutigem Kenntnisstand nicht voneinander zu trennen, da beide Erregungsimpulse vom motorischen Zentrum der Hirnrinde zum RuÈckenmark laufen. WaÈhrend die Pyramidenbahn die efferenten Impulse ohne synaptische Unterbrechung uÈber Neurite an die Segmente des RuÈckenmarks leitet, durchlaufen die Erregungen im extrapyramidal-motorischen System mehrere Synapsen in den Basalganglien. Hierzu gehoÈren das Striatum, das Pallidum, der Nucl. niger, der Nucl. ruber, der Olivenkern, Teile der Formatio reticularis, die Vestibulariskerne und das Kleinhirn. In die vielfaÈltigen Funktionskreise zwischen den einzelnen Basalganglien des extrapyramidalen Systems ist besonders das dopaminerge und das cholinerge System, das vom Striatum und Pallidum ausgeht, eingebunden. Im Sinne des Antriebs verstaÈrkt dieses System die einlaufenden Erregungen, bevor sie zum RuÈckenmark weitergeleitet werden, wobei als Transmitter das Acetylcholin fungiert. Zur Vermeidung einer uÈberschieûenden Bahnung der uÈber das cholinerge System ablaufenden Erregungen greift das dopaminerge System, dessen Ursprung in der Substantia nigra liegt,

13

. Abb. 13-4. Eine Imbalance im dopaminergen-cholinergen

Transmittersystem fuÈhrt zur StoÈrung nigrostriataler AktivitaÈten, gefolgt von Muskelstarre

mit der ÛbertraÈgersubstanz Dopamin hemmend ein. Weil das Enzym Tyrosinhydroxylase der entscheidende Katalysator fuÈr die Umwandlung von Tyrosin in Dopa ist und dessen AktivitaÈt nach Opioidapplikation signifikant abnimmt, kann die EnzymaktivitaÈtsminderung ursaÈchlich fuÈr die opioidbedinge MuskelrigiditaÈt angesehen werden [216]. Die mit dem Opioid korrelierende verminderte TyrosinhydroxylaseaktivitaÈt, insbesondere im Corpus striatum und in der Substantia nigra, geht mit einem daraus resultierenden Dopaminmangel im nigrostriatalen System einher. Es ist somit das Dopamindefizit als das pathogenetische Grundprinzip einer opioidbedingten MuskelrigiditaÈt zu verstehen. Das Dopamindefizit im nigrostriatalen System fuÈhrt in der Folge zu einer Imbalance in den dopaminergen-cholinergen Transmittern und zu einer Enthemmung cholinerger NeuronenaktivitaÈt (. Abb. 13-4). Klinisch imponiert dieses cholinerge Ûbergewicht in einer Plussymptomatik mit Rigor und Tremor. Die Akinese, wie sie gehaÈuft beim Morbus Parkinson zu beobachten ist, kann dagegen als ein Minussymptom durch Ausfall der dopaminerg inhibierenden Funktionen erklaÈrt werden.

14 Opioide und gastrointestinale Hemmung (Obstipation) 14.1

Aufgaben des Intestinums und des enteralen Nervensystems (ENS) ± 95

14.2

Periphere Wirkung der Opioide, die Obstipation ± 96

14.1

Aufgaben des Intestinums und des enteralen Nervensystems (ENS)

Bei der oralen Aufnahme von Opioiden und anderen Medikamenten erfolgt die Resorption vorzugsweise uÈber den Darm. Obgleich dieses Organ bei der Aufnahme auch fuÈr die Nahrungsmittel eine entscheidende Funktion inne hat, ist ihm in der Vergangenheit nur wenig Aufmerksamkeit zuteil geworden. Seine eigentliche Bedeutung ist erst in letzter Zeit zunehmend erkannt worden, zumal dieses nicht nur fuÈr die Resorption von Medikamenten so wichtige System auch andere Aufgaben uÈbernimmt. Denn mit seinen fast 400 m2 OberflaÈche sind die SchleimhaÈute des Darmes auch gleichzeitig der Ort fuÈr die Synthese vieler Transmitter und wichtiger Mittler im immunologischen Geschehen. Des Weiteren steuern uÈber mehr als 100 Mio. Nervenzellen die propulsive Motorik des Darmes, und wegen der hohen Anzahl an Neuronen wird dieser Ort auch als zweites Gehirn, das enterale Nervensystem (ENS) bezeichnet, von dem Empfindungen und Impulse zum zentralen Nervensystem (ZNS) und zuruÈck uÈber den N. vagus laufen. Anatomisch wird der Darm von zwei synzitialen Nervennetzen umgeben. Ein Netz, der Plexus myentericus Auerbachii, liegt zwischen der longitudinalen und der zirkulaÈren Muskelgruppe und ein weiteres Netz, der Plexus Meissneri, liegt zwischen der zirkulaÈren Muskelgruppe und der Sub-

mukosa und verlaÈuft ohne Unterbrechung vom Úsophagus bis hin zum Anus. Ausgestattet mit einer komplexen Anordnung sensorischer Nervenzellen, Interneuronen und motorischen Nervenzellen, bilden alle zusammen ein unabhaÈngiges Nervensystem, dessen primaÈre Aufgabe darin besteht, die Regulation der Verdauung durchzufuÈhren. Die enterischen Neurone stellen jedoch nicht allein nur eine Relaystation des Parasympathicus dar, obgleich einige Effekte uÈber den N. vagus vermittelt werden. Denn neben der Freisetzung von Verdauungsenzymen aus den glandulaÈren Zellen, wird im Gewebe des Darmes eine Reihe von Substanzen mit parakriner und neuroendokriner Transmitterwirkung freigesetzt. Hierzu zaÈhlen u. a. das Gastrin aus der antralen Mukosa, das Sekretin, Cholecystokinin (CCK) und Motilin aus der Duodenalmukosa und das VIP (vasoaktives intestinales Peptid) aus der gastralen und der intestinalen Mukosa. Sie alle dienen dazu, die gastrale und die intestinale MotilitaÈt zu regulieren. Die maûgeblicher Abstimmung der propulsiven Motorik, insbesondere im DuÈnndarm erfolgt uÈber einen Balance zwischen cholinergen und enkephalinergen Neuronen, wobei eine Bindung von extern aufgenommenen Stoffen an der einen oder der anderen Neuronenpopulation zu einer, im Falle von Opioiden, MotilitaÈtshemmung fuÈhrt. Im anderen Fall, z. B. durch die Einnahme von Cholinesterasehemmer, kommt es zu einer ErhoÈhung der Acetylcholinkonzentration, die eine MotilititaÈtssteigerung einleitet. Hieraus wird

96

14

Kapitel 14  Opioide und gastrointestinale Hemmung (Obstipation)

ersichtlich, wie durch aÈuûere Eingriffe, die an sich autonom agierende und fein abgestimmte MotilitaÈt beeinflusst wird, wenn z. B. Analgetika zur Schmerzreduktion eingenommen werden. Andererseits werden mit jeder Medikamentengabe aber auch die im DuÈnn- und Dickdarm an die Billionen lebenden Bakterien beeinflusst. Sie sind fuÈr die Verdauung von entscheidender Bedeutung, indem sie am Ort intensivster biochemischer WechselvorgaÈnge maûgeblich daran beteiligt sind, unverdauliche Nahrung zu spalten. Daneben sorgen diese Bakterien aber auch gleichzeitig fuÈr die Gesundheit, indem sie sekundaÈre Pflanzenstoffe herausloÈsen und bei der Synthese von Vitamin K und den B-Vitaminen einen wichtigen Platz innehaben. Es ist deswegen auch nachvollziehbar, dass der Darm ein Organ darstellt, das auf Stimmungsschwankungen der Psyche empfindlich mitreagiert, indem Hormone freigesetzt werden. Und da der Darm mit bis ca. 80 % an der immunologischen Abwehr beteiligt ist, koÈnnen durch psychische EinfluÈsse maûgebliche Ønderungen ausgeloÈst werden, die als Folge eine StaÈrkung bzw. eine SchwaÈchung der koÈrpereigenen Abwehr zur Folge haben. KoÈrperfremde Keime koÈnnen sich dann, ansonsten in Symbiose und im Gleichgewicht mit den probiotischen Bakterien, uÈbermaÈûig vermehren und eine fuÈr das Wohlbefinden nachtraÈgliche Auswirkung haben. Da die Schleimhaut des Darmes aber auch erkennen kann, was dem Organismus schadet, ist sie in der Lage neben koÈrperfremden Eiweiûstoffen und bakteriellen Giften auch Chemikalien zu erkennen und zu verhindern, dass unerwuÈnschte Stoffe in den KoÈrper gelangen. So werden oral eingenommene Opioide generell als fuÈr den Organismus potenziell schaÈdlich erkannt, indem z. B. schon ein Teil des oral eingenommenen Morphins in der Darmschleimhaut durch Enzyme, aÈhnlich wie in der Leber, uÈber eine Glucuronidierung metabolisiert wird. Wird jedoch diese Immunbarriere und das metabolisch aktive System langfristig durch falsche ErnaÈhrung oder Medikamente geschaÈdigt, koÈnnen unerwuÈnschte Substanzen in die Blutbahn gelangen, die vom koÈrpereigenen Immunsystem erkannt und als Immunkomplex im KoÈrper abgelagert werden. So ist zwar bekannt, dass Antibiotika diese Symbiose von Bakterien empfindlich stoÈren koÈnnen und dass nach einer Antibiose StoÈrungen im Gesamtorganismus auftreten koÈnnen. Es ist jedoch wenig daruÈber bekannt, ob eine langfristige Opioideinnahme allein nur eine primaÈr obstipierende Wirkung uÈber eine Blockade

der im Plexus Myentericus Auerbachii liegenden Opioidrezeptoren ausloÈst oder ob hierdurch auch noch weitere Nebenwirkungen vermittelt werden. So besteht die primaÈre Aufgabe der Opioidrezeptoren im Darm zwar in einer Regulation der propulsiven Motorik und der Sezernierung von Verdauungsenzymen. Weil jedoch kein anderes Organ derart stark auch auf alle psychischen Belastungen mitreagiert, ist es nachvollziehbar, dass jegliches Ungleichgewicht im enkephalinergen System, insbesondere in der Synthese des Hormons Serotonin, einen groûen Einfluss auf die individuelle Stimmung hat. So kommt es auch nicht von ungefaÈhr, dass das Hormon Serotonin maûgeblich an dem schmerzhaften Reizdarmsyndrom beteiligt ist, bei dem ein bis zu vielmal hoÈherer Konzentration des Hormons im Blut nachgewiesen werden kann. Weil bisher nicht bekannt ist, in welchem Ausmaû langfristig oral eingenommenen Opioide EinfluÈsse auf das Immunsystem oder auf andere Teilbereiche des enterischen Nervensystems (ENS) und auf die Psyche und/oder auf die parakrinen und neuroendokrinen Funktionen des Darmes haben, ist zumindest an eine uÈber den Darm vermittelte Nebenwirkung bei Patienten unter langfristiger Opioideinnahme zu denken. Um jegliche nachteilige Wirkungen von Opioiden auf den Darm zu vermeiden, stellt der Einsatz transdermaltherapeutischer Analgetika eine MoÈglichkeit dar, einen direkten Einfluss auf die Darmschleimhaut mit all ihren vitalen Funktionen, wenn nicht zu verhindern, so doch deutlich zu vermindern. Letztlich zeigt sich diese vorteilhaftere Wirkung in der Umgehung des first-pass-Effektes der Leber wodurch geringere Wirkstoffkonzentrationen notwendig werden und in einer, im Vergleich zur oralen Opioideinnahme, geringeren Obstipationsrate. 14.2

Periphere Wirkung der Opioide, die Obstipation

WaÈhrend Analgesie, Atemdepression, Bradykardie, HustendaÈmpfung und Miosis, zentrale Opioidwirkungen darstellen, koÈnnen Opioide auch uÈber periphere Bindestellen Effekte ausloÈsen. Hierzu gehoÈrt insbesondere die durch Opioide induzierte Obstipation [192, 231, 232]. So ist aus der klinischen Anwendung bekannt, dass die chronische Einnahme von Opioiden bei Schmerzpatienten in fast 95 % aller FaÈlle zur Obstipation fuÈhrt [204], die so ausgepraÈgt sein kann, dass routinemaÈûig mit dem Opioid Laxanzien verordnet werden muÈs-

14.2  Periphere Wirkung der Opioide, die Obstipation

sen [180]. Die Ursache dieser obstipierenden Wirkung ist eine Pyloruskonstriktion mit verzoÈgerter Magenentleerung [233]. Besonders jedoch ist unter langfristiger Opioideinnahme eine Hemmung der propulsiven Motorik und eine spastische EinschnuÈrung des DuÈnndarms nachweisbar [232]. Dieser periphere Wirkungsmechanismus wird dann verstaÈndlich, wenn man beruÈcksichtigt, dass Opioide auch an spezifischen Rezeptoren im Plexus myentericus Auerbachii binden, wodurch die Freisetzung von Acetylcholin verhindert wird [232, 234]. Weil Acetylcholin jedoch maûgeblich die Motorik der glatten Muskulatur anregt, sistiert nach Bindung des Opioids am peripheren Rezeptor die propulsive Fortbewegung des Darminhalts. Im Gegensatz zur DuÈnndarmmotorik weist die DickdarmmotilitaÈt keine koordinierten AktivitaÈten auf und sind fuÈr die propulsive Dickdarmpassage spontane (2±4/Tag) oder induzierte Massenbewegungen von Darmabschnitten charakteristisch. Die im DuÈnndarm zu beobachtende Koordination von Erschlaffung und Kontraktion benachbarter Darmabschnitte dagegen sorgt fuÈr eine dauernde propulsive Darmmotorik, die den Darminhalt kontinuierlich weiter befoÈrdert. Dieser physiologische Unterschied zwischen den beiden Darmanteilen zeigt sich auch in anderer Weise. So sind sowohl im Antrum, Duodenum als auch im Ileum hohe Anteile natuÈrlicher Liganden fuÈr Opioidbindungsstellen, die Enkephaline, nachweisbar [235]. Im Kolon sind dagegen nur ca. 10 % der im gesamten Intestinaltrakt nachweisbaren endogenen Opioide vorhanden [236], was auf einen deutlich hoÈheren Anteil von Rezeptoren im Ileum hinweist [237]. Deshalb binden exogen zugefuÈhrte Opioide vornehmlich an diesen Opioidrezeptoren im Antrum, Duodenum und DuÈnndarm, wodurch es nicht nur zu einer Verringerung der Entladungen im neuronalen Synzitium des Plexus myentericus [234, 238, 239], sondern auch zu einer Hemmung der propulsiven Motorik kommt [240, 241±243, 244±247]. Auch ist die Bedeutung der Opioide auf die gastrale Entleerung eindeutig belegt worden [240, 248, 249, 250, 251]. Die Kolontransitzeit dagegen, der ein Anteil von uÈber 90 % der gesamten oroanalen Transits bei ungestoÈrter, durch Pharmaka nicht beeinflussten MotilitaÈt zukommt, mag eine spezielle Bedeutung bei Obstipationen anderer Genese, beispielsweise beim Diabetes mellitus haben [252]. Bei der Vermittlung einer opioidbedingten Hemmung der Propulsion ist sie von eher untergeordneter Bedeutung [253], was auch durch die erfolgreiche

97

14

Hemmung einer morphinbedingten orozoÈkalen TransitzeitverlaÈngerung mit spezifischen, nur peripher wirkenden Opioidantagonisten (Methylnaltrexon) unterstrichen wird. Und schlieûlich wurde die Bedeutung einer opioidbedingten VerlaÈngerung des orozoÈkalen Transits auch durch Untersuchungen an unterschiedlichen Darmabschnitten unterstrichen, bei denen ein Enkephalinderivat die myoelektrische AktivitaÈt im DuÈnndarm daÈmpfte, waÈhrend es im Dickdarm eine Steigerung bewirkte [254]. Diese obstipierende Wirkung der Opioide ist besonders fuÈr Morphin [233, 255±257] nachgewiesen worden und stellt ein obligates BegleitphaÈnomen bei der chronischen Therapie von Schmerzpatienten dar [206, 258]. Weil ursaÈchlich eine Abnahme der Acetylcholinfreisetzung im Plexus myentericus angenommen wird [232], kann die obstipierende Wirkung durch die Gabe spezifischer Antagonisten, wie beispielsweise Naloxon, aufgehoben werden. Erste Ergebnisse von Untersuchungen am Tier [259] und am Menschen [260±262] bestaÈtigen jedenfalls diese Annahme. Denn waÈhrend der gastrozoÈkale Transit durch die Gabe von Naloxon normalisiert werden konnte, blieb die zentral induzierte Analgesie erhalten. Jedoch scheint die individuelle Dosisfindung des Antagonisten Naloxon (bis zu 12 g) bei Morphintherapie problematisch zu sein. Denn es wurde uÈber DarmkraÈmpfe berichtet und wurde die analgetische Wirkung des Opioids reduziert [260, 262, 263]. Erfolgversprechender sind die Ergebnisse mit selektiv peripher wirkenden Opioidantagonisten die eine fehlende zentrale Wirkung haben. Da eine solche selektive Rezeptorwirkung nur von der Gruppe quarternaÈrer Ammoniumantagonisten ausgeht [265], wurde uÈber eine Zusatztherapie mit Methylnaltrexon erfolgreich die Hemmung des gastrointestinalen Transits bei Schmerzpatienten antagonisiert. Dagegen wiesen die N-Methylanaloga von Nalorphin und Naloxon gleichzeitig eine Umkehr der zentral induzierten Analgesie auf, ein Nachteil der mit dem N-Methyllevallorphan [266] und N-Methylnaltrexon [261] nicht beobachtet werden konnte. Dieser Vorteil konnte auch in einem groÈûeren Patientenkollektiv belegt werden, indem eine durch Morphin induzierte verlaÈngerte orozoÈkale Transitzeit mit Methylnaltrexon signifikant verringert werden konnte, ohne dass die Analgesie eine Einbuûe erfuhr [267, 268]. Inwieweit oral verabreichtes Papaverin eine Aufhebung der Obstipation unter Morphinthera-

98

Kapitel 14  Opioide und gastrointestinale Hemmung (Obstipation)

pie eine Alternative zum Naloxon darstellt [264], muss weiteren Untersuchungen am Menschen vorbehalten bleiben. FuÈr das Ausmaû der Obstipation scheint insbesondere die lokale AffinitaÈt eines Opioids zu den Rezeptoren im Plexus myentericus Auerbachii eine entscheidende Rolle zu spielen. So konnte an Probanden fuÈr die Opioide Codein und Tilidin eine dosisabhaÈngige Zunahme der Obstipation nachgewiesen werden, nicht jedoch fuÈr Tramadol [269]. Diese auch von anderen Arbeitsgruppen nachgewiesene geringere Hemmung der gastrointestinalen Propulsion [270] durch Tramadol ist auf eine niedrigere AffinitaÈt zu den Opioidrezeptoren zuruÈckzufuÈhren. So hat Tramadol zum Opioidrezeptor eine um den Faktor 10 geringere AffinitaÈt [271] als die Liganden Codein und der Metabolit Nortilidin. Denn waÈhrend der Ki-Wert fuÈr Tramadol 2,1 nmol/l und der fuÈr Codein 0,2 nmol/l betraÈgt [66], ist fuÈr Tilidin/Naloxon ein Ki-Wert von 0,003 nmol/l nachgewiesen worden [271]. Des Weiteren ist hervorzuheben, dass die analgetische Wirkung von Tramadol nur teilweise durch die Gabe von Naloxon aufgehoben werden kann [66], was auf eine uÈber andere, zusaÈtzliche Wirkung als die von den Opioidrezeptoren vermittelte Analgesie hinweist. Trotz der geringeren AffinitaÈt zum Opioidrezeptor entspricht jedoch die analgetische StaÈrke von Tramadol etwa der von Codein und Tilidin/ Naloxon [272]. Dies beruht darauf, dass Tramadol neben einer Bindung am Opioidrezeptor zusaÈtzlich, insbesondere uÈber sein (±)-Enantiomer, eine Hemmung der Wiederaufnahme von Serotonin und Noradrenalin in den deszendierenden

schmerzmodulierenden Bahnen bewirkt [66]. Aufgrund der zusaÈtzlichen serotinergen und noradrenergen Wirkungsmechanismen laÈsst sich eine fehlende dosisabhaÈngige Zunahme der gastrointestinalen Hemmung erklaÈren. Codein und Tilidin/ Naloxon dagegen vermitteln ihre Wirkung allein uÈber den Opioidrezeptor. Aus dieser Tatsache laÈsst sich die Zunahme des gastrointestinalen Transits nicht nur nach den Opioiden Tilidin/Naloxon und Codein, sondern auch nach allen Opioiden erklaÈren [273]. Bei der AusloÈsung einer opioidbedingten, gastrointestinalen MotilitaÈtshemmung kommt neben den supraspinalen m-Rezeptoren [274], die die eigentliche Analgesie vermitteln, hauptsaÈchlich den im Darm befindlichen m-Bindungsstellen eine zentrale Bedeutung zu [241, 275]. Die k-Rezeptoren sollen hierbei eine eher untergeordnete Rolle spielen [276, 277], waÈhrend die d-Rezeptoren dagegen uÈberhaupt keine motilitaÈtshemmenden Eigenschaften besitzen [274]. ! Opioide vermitteln ihre obstipierende Wirkung

sowohl uÈber eine MagenentleerungsstoÈrung als auch uÈber eine intestinale MotilitaÈtshemmung.

Die obstipierende Wirkung der Opioide wird auch nach einer opioidgestuÈtzten Narkose offenbar. Im Vergleich zu einer Inhalationsnarkose oder einer ketamingestuÈtzten Narkose wird der gastrocoekale Transit nach einer Narkose mit einem Opioid signifikant verlaÈngert (. Abb. 14-1). Die obstipierende Wirkung haÈlt jedoch nicht uÈber 48 h nach Narkoseende an und ist deswegen klinisch von untergeordneter Bedeutung.

14

. Abb. 14-1. Der gastrozoÈkale Transit nach

unterschiedlichen Narkoseformen, in dem die gastrocoekale Transitzeit mit der H2-Exhalationsmethode bestimmt wurde. (Nach [278])

15 Opioide und kardiovaskulaÈre Wirkungen

GrundsaÈtzlich beeintraÈchtigen Opioide, im Vergleich mit anderen Pharmaka, das kardiovaskulaÈre System nicht. Dies spiegelt sich auch in der groûen therapeutischen Breite (LD50/ED50) wider. Diese tierexperimentell abgeleiteten Daten koÈnnen insofern auf den Menschen uÈbertragen werden, als eine groûe therapeutische Breite mit einer geringen bis fehlenden BeeintraÈchtigung des kardiovaskulaÈren Systems einhergeht (. Tabelle 15-1). Carfentanil (2-mal so stark wie Sufentanil) ist bis jetzt nur zur Immobilisierung von Tieren wegen seiner geringen atemdepressorischen Wirkung eingesetzt worden [732]; Lofentanil (20-mal staÈrker wirksam als Fentanyl) hat wegen seiner intensiven Rezeptorbindung uÈber 24 h eine sehr lange Wirkungsdauer. Beide Pharmaka sind fuÈr den praktisch-klinischen Gebrauch nicht vorgesehen. Mit groÈûerer RezeptorspezifitaÈt und intrinsischer AktivitaÈt ist auch eine groÈûere therapeutische Breite zu erwarten, sodass weniger Nebenwirkungen, insbesondere von Seiten des kardiovaskulaÈren Systems, zu erwarten sind [74, 162±164, 182, 186, 196, 279±284]. Die Bradykardie ist primaÈr eine uÈber den Nucleus dorsalis nervi vagi ausgeloÈste zentrale Wirkung, die fuÈr die m-Liganden charakteristisch ist. Erst an zweiter Stelle ist ursaÈchlich eine Verminderung des Sympathikotonus heranzuziehen, waÈhrend zusaÈtzlich noch eine direkte negativ ionotrope Wirkung und/oder eine Potenzierung der Acetylcholinwirkung am Sinusknoten dis-

kutiert wird. Da hierbei ein erhoÈhter vagaler Tonus am Herzen ausgeuÈbt wird, kann es auch zu einem Abfall des arteriellen Mitteldrucks mit Hypotonie kommen. Der erhoÈhte Vagustonus kann sehr gut mit Atropin (0,25±0,5±1,0 mg/ 70 kgKG) aufgehoben werden, sodass sich die . Tabelle 15-1. Therapeutische Breite (LD50/ED50)

verschiedener Opioide untereinander Pharmakon

Therapeutische Breite

Tramadol Tilidin Pentazocin Thiopental Pethidin Piritramid Methohexita Ketamin Methadon Meptazinol Etomidate Butorphanol Morphin Dextromoramid Lofentanil Fentanyl Nalbuphin Alfentanil Buprenorphin Carfentanil Sufentanil Remifentnail

3 3 4 8 6 11 l11 11 12 18 32 45 71 105 112 277 1034 1080 7933 10.000 26.716 33.000

100

Kapitel 15  Opioide und kardiovaskulaÈre Wirkungen

. Tabelle 15-2. Die inhibitorische (vagale) und exzitatorische (sympathikotone) AuspraÈgungen nach unterschiedlichen Opioiddosen. (Nach [132, 186, 285])

Sympathikusdominanz

Parasympathikusdominanz

Hypertonie Tachykardie HyperglykaÈmie HyperlaktaÈmie Akrozyanose Sklereninjektion RoÈtung des Gesichts Antidiurese

Bradykardie Hypotonie Erbrechen Schwitzen Salivation Bronchospasmus Sphinkterenspasmus Miosis

Herzfrequenz und auch der arterielle Mitteldruck wieder normalisieren. Grad und HaÈufigkeit dieser kardialen Nebenwirkung sind nicht vorhersehbar; sie sind jedoch von dem jeweiligen vegetativen Grundtonus des Individuums und der verabreichten Dosis abhaÈngig (. Tabelle 15-2). Die in AbhaÈngigkeit vom Produkt und vegetativen Grundtonus des Patienten ausgeloÈsten exzitatorischen (sympathischen) oder inhibitorischen (vagalen) Wirkungen koÈnnen entweder durch Gabe von Atropin bzw. von a-Blockern (z. B. Phenoxybenzamin), b-Blockern (z. B. Propranolol) oder Ganglienblockern (z. B. Hexamethoniumverbindungen) vermindert werden [186]. Eine Reduktion ist jedoch auch durch eine Dosisangleichung zu erreichen, die fuÈr jedes Produkt charakteristisch ist (. Tabelle 15-3). In der AnaÈsthesie werden vagale bzw. sympathikotone Nebenwirkungen durch folgende Maûnahmen vermindert bzw. eliminiert:

15

1. Die vorangehende Applikation von Atropin (bis zu 1 mg/70 kgKG). 2. Die gleichzeitige Anwendung von InhalationsanaÈsthetika (N2O, Halothan, Enfluran, Isofluran, Desfluran, Sevofluran) in Form der balancierten AnaÈsthesie. 3. Der gleichzeitige Einsatz eines Neuroleptikums (Haloperidol bzw. Dehydrobenzperidol). 4. Die gleichzeitige Gabe eines Benzodiazepins (z. B. Diazepam, Lorazepam, Midazolam). 5. Die gleichzeitige Gabe eines Hypnotikums (Barbiturat, Clomethiazol, Etomidat, Propofol). Alle diese Pharmaka bewirken in unterschiedlichen Bereichen des ZNS (. Abb. 15-1) eine DaÈmpfung, was letztlich in eine neurovegetatives Øquilibrium der Opioidwirkung muÈndet und uÈberschieûende vagale bzw. sympathikotone Wirkungen verhindert. Eine durch das Opioid gleichzeitig zentral ausgeloÈste Verminderung des Sympathikustonus [286] fuÈhrt zu einer Verringerung des peripheren Widerstands, ein Mechanismus der als Poolingeffekt von Bedeutung ist [287, 288]. Die kardiovaskulaÈren Wirkungen (Bradykardie, Senkung des peripheren Widerstands, venoÈses Pooling mit vermindertem RuÈckstrom zum Herzen) sind von Vorteil, wenn: 4 die Vorlast, d. h. der FuÈllungsdruck des Herzens abnehmen soll 4 die Nachlast des Herzens gesenkt werden soll und 4 die Frequenz des Herzens vermindert werden soll. Alle 3 Faktoren haben eine Abnahme des myokardialen O2-Verbrauchs (MVO2) des Herzens zur Folge [214, 289], sodass Opioide gern beim Herz-

. Tabelle 15-3. Dosisbereiche verschiedener Opioide fuÈr die intraoperative Analgesie, in denen es bei alleiniger Applikation zu einer Dominanz vagaler bzw. sympathikotoner Wirkungen kommt. Anzustreben ist ein Zustand, bei dem das Vegetativum im Øquilibrium steht und weder vagale (auûer Bradykardie und Miosis) noch sympathikotone Wirkungen auftreten. (Nach [75, 121])

Opioid

Pethidin Piritramid Morphin Phenoperidin Alfentanil Fentanyl Sufentanil

Vorherrschender Parasympathikus mg/kg i. v.]

Øquilibrium [mg/kg i. v.]

Vorherrschender Sympathikus [mg/kg i. v.]

0,45±32 0,22±1,6 0,15±3,0 0,015±0,3 0,005±0,04 0,001±0,01 0,00025±0,001

± 1,6±3,2 3,0±6,0 0,3±6,0 0,04±1,2 0,01±2,0 0,001±1,0

± ± 6,0±10 6,0±18 1,2±5 2,0±10 1,0±2,0

15  Opioide und kardiovaskulaÈre Wirkungen

101

15

. Abb. 15-1. Angriffspunkte der verschiedenen Pharmaka im ZNS zur Potenzierung der Opioidwirkung. Neuroleptika schuÈtzen

die den Schlaf organisierenden Zentren vor aufsteigenden Afferenzen. Tranquilizer schirmen vor inneren ErregungsstroÈmen ab. Barbiturate, Hypnotika und volatile AnaÈsthetika bewirken eine Blockade der Groûhirnrinde; erst sekundaÈr kommt es zu einer DaÈmpfung subkortikaler Zentren

infarkt und auf der Intensivstation eingesetzt werden. Zu beruÈcksichtigen ist aber auch, dass der Poolingeffekt sich in einem Abfall des arteriellen Blutdrucks besonders dann bemerkbar macht, wenn eine larvierte HypovolaÈmie oder ein Schock vorliegt und der venoÈse RuÈckstrom zum Herzen weiter verringert wird. Aufgrund der Abnahme im Sympathikustonus, kommt es auch auch zu einer peripheren GefaÈûdilatation die an eine Abnahme im peripheren Gesamtwiderstand gekoppelt ist. Dies ist besonders beim Herzinfarkt von Vorteil, weil dann das Herz gegen einen geringeren Widerstand arbeiten muss, ein Effekt der sich, insbesondere in Verbindung mit der Bradykardie, in einer Abnahme des myokardialen Sauerstoffverbrauchs (MVO2) niederschlaÈgt. Die analgetische WirkungsstaÈrke des jeweiligen Opioids ist besonders dann von Bedeutung, wenn es gilt, die Kreislaufreaktionen und eine zusaÈtzliche kardiale Belastung auf einen schmerzhaften Reiz wirksam zu unterdruÈcken. So fuÈhrt die haÈmodynamische Stressantwort mit zusaÈtzlicher Freisetzung von Stresshormonen, insbesondere dem Angiotensin II, dazu, dass die Empfindlichkeit der BlutgefaÈûe fuÈr die Katecholamine aufrechterhalten bleibt. Deshalb ist die hoÈhere analge-

tische WirkungsstaÈrke von Sufentanil, die sich aus einer im Vergleich mit Fentanyl 12- bis 27fach hoÈheren AffinitaÈt zum Opioidrezeptor ableiten laÈsst [290] von Bedeutung, wenn es gilt den schmerzhaften operativen Reiz vollstaÈndig zu unterdruÈcken. In diesem Zusammenhang hat sich besonders das Sufentanil in der Kardiochirurgie als geeignet erwiesen, schmerzhafte Stressreaktionen mit Hochdruckkrisen nach Sternotomie und Sternumspreizung signifikant zu unterdruÈcken [184, 291, 292]. Die gemischtwirkenden Agonisten/Antagonisten fuÈhren bei der Gabe von Dosen oberhalb des therapeutischen Bereichs zu einer wahrscheinlich uÈber den s-Rezeptor induzierten Zunahme des Sympathikustonus. Dies macht sich in einer Tachykardie, einer Zunahme des peripheren Widerstands, einer WiderstandserhoÈhung im kleinen Kreislauf und einer ErhoÈhung des myokardialen O2-Bedarfs bemerkbar (. Tabelle 15-4). Eine Dysregulation der atrioventrikulaÈren ErregungsuÈberleitung mit VerlaÈngerung des PQIntervalls ist ein PhaÈnomen, das besonders bei Patienten mit ErregungsuÈberleitungsstoÈrungen und bei Verwendung stark wirksamer Opioide (z. B. Fentanyl, Sufentanil) zu beobachten ist. Aus-

102

Kapitel 15  Opioide und kardiovaskulaÈre Wirkungen

. Tabelle 15-4. Stimulierende, kardiovaskulaÈre Wirkungen verschiedener Agonisten/Antagonisten und partiellen Agonisten, besonders im hohen Dosisbereich, im Vergleich mit den reinen Agonisten. (Nach [293±295])

15

Pharmakon

Blutdruck

Herzfrequenz

Pulmonalarterieller Druck

Morphin Buprenorphin Butorphanol Pentazocin Meptazinol Nalbuphin Pethidin Piritramid Fentanyl Sufentanil

Abfall Abfall Anstieg±0 Anstieg Anstieg 0 (Abfall) (Abfall) Abfall Abfall

Abfall±0 Abfall±0 0 Anstieg Anstieg Abfall±0 (Anstieg) 0 Abfall Abfall

Abfall±0 0 Anstieg Anstieg Anstieg 0 0 0 0 0

loÈser ist hierbei die Vagusstimulierung, die am Sinusknoten eine vermehrte Acetylcholinfreisetzung bewirkt. Somit sind Patienten mit QT-ÛberleitungsstoÈrungen, sog. Sick-sinus Syndrom (Syndrom des kranken Sinusknotens) gefaÈhrdet, eine extreme Bradykardie bis hin zum Herzstillstand zu entwickeln. Zur Vermeidung extremer Bradykardien sollte deshalb beim vorbelasteten Patienten das Opioid verduÈnnt langsam injiziert werden. Tritt eine extreme Bradykardie doch einmal auf, so kann diese in den meisten FaÈllen durch Atropin (0,5±1,0 mg/70 kgKG) antagonisiert werden. Nur in ExtremfaÈllen ist das Antiarrhythmikum Orciprenalin (Alupent) notwendig, das die atrioventrikulaÈre Ûberleitung verbessert. Eine Ventrikeltachykardie mit »torsades de points« ist unter hohen Dosen von Methadon und fuÈr das SubstitutionspraÈparat Levoacetylmethadol (LAAM) beschrieben worden, sodass bei diesen beiden PraÈparaten eine engmaschige EKG-Ûberwachung indiziert ist. PraÈsdisponierende Faktoren sind eine AV-ÛberleitungsstoÈrung, eine HypokaliaÈmie sowie Medikamente, die die Metabolisierung von Methadon hemmen (trizyklische Antidepressiva, Imidazolderivate, Antimalariamittel, Antihistaminika). Wegen dieser Nebenwirkung ist das Substitutionsmittel Levoacetylmethadol von der Zulassung zuruÈckgenommen worden. Eine direkte, dosisabhaÈngige BeeintraÈchtigung der KontraktilitaÈt des Myokards konnte nur am isolierten Papillarmuskel und am LangendorffHerzen fuÈr unterschiedliche Opioide nachgewiesen werden [296, 297]. Dies ist jedoch von untergeordneter klinischer Bedeutung, weil die Wirkungen erst bei Dosen uÈber den therapeutischen Bereich hinaus auftreten, bzw. im hohen Dosisbereich

Kompensationsmaûnahmen von Seiten des Kreislaufs und des Vegetativums einsetzen. Nach Pethidin koÈnnen bei intravenoÈser Applikation Blutdruckabfall und Synkopen auftreten, wobei sowohl eine Tachykardie (atropinaÈhnliche Grundstruktur) als auch eine Bradykardie beobachtet werden [298]. Dieses Opioid ist somit bei Patienten mit Herzinfarkt zu meiden [192]. Auch wird die MoÈglichkeit diskutiert, dass im Schockzustand, der mit einer Zunahme endogener Opioide einhergeht, die zusaÈtzliche Besetzung myokardialer Opioidrezeptoren mit exogenen Opioiden eine weitere haÈmodynamische BeeintraÈchtigung zur Folge hat [297] (NaÈheres s. 7 Kap. Endorphine im Schockzustand). Die in einigen Arbeiten propagierte direkte negativ-inotrope Wirkung von N2O bei einer Opioidnarkose ist dahingehend zu erklaÈren, dass in hohen Konzentrationen (N2O i50 %) der FIO2 abfaÈllt und es zu einer geringeren myokardialen

. Abb. 15-2. Dosisproportionale Abnahme der durch Adre-

nalin induzierten Extrasystolen mit den Opioiden Morphin und Fentanyl im Vergleich mit dem klassischen b-Blocker Pindolol (Visken). (Nach [304])

15  Opioide und kardiovaskulaÈre Wirkungen

O2-Versorgung kommt. Des Weiteren hat ein hoher Lachgasanteil auch eine direkte vasodilatative Wirkung, die einen verminderten venoÈsen RuÈckstrom zum Herzen zur Folge hat [299, 300]. Somit ist speziell bei kardial vorgeschaÈdigten Patienten darauf zu achten, dass bei einer opioidgestuÈtzten Narkose der FIO2 nicht zu niedrig, am optimalsten in einem Bereich von FIO2 0,5 gewaÈhlt wird. Hohe Opioiddosen haben auch eine antiarrhythmische Wirkung zur Folge. Hierauf verweisen mehrere experimentelle Ergebnisse unter Koronarokklusion [301±304] fuÈr die Opioide Fentanyl, Sufentanil und Carfentanil (. Abb. 15±2). UrsaÈchlich fuÈr diese antiarrhythmische Wirkung wird eine Zunahme des Vagotonus diskutiert [305].

103

15

16 Postoperativer Einsatz von Opioiden 16.8

Unterschiedliche Opioidrezeptorinteraktion von Agonisten und gemischtwirkenden Agonisten/ Antagonisten ± 115

16.9

Patientenkontrollierte Analgesie (PCA) mit Opioiden ± 116

16.10

Opioide »on demand« ohne PCA

16.11

Auswahl des Opioids bei postoperativen Schmerzen ± 110

WuÈrzburger Schmerztropf bei postoperativen Schmerzen ± 119

16.12

Gemischtwirkende Agonisten/ Antagonisten und Partialagonisten bei postoperativen Schmerzen ± 112

Postoperative Schmerztherapie mit dem iontophoretischen Fentanylpflaster (Ionsys)-120

16.13

Patientenkontrollierte intranasale Analgesie (PCINA) ± 123

16.1

GrundsaÈtzliches zum Vorgehen bei postoperativen Schmerzen und deren Therapie mit Analgetika ± 105

16.2

Suchtentwicklung bei Schmerztherapie mit Opioiden ± 109

16.3

Opioiddosierung nach Bedarf ± 109

16.4

Zeitlich konstante Opioidapplikation ± 110

16.5 16.6

16.7

16.1

Nausea und Emesis bei postoperativer Schmerztherapie ± 114

GrundsaÈtzliches zum Vorgehen bei postoperativen Schmerzen und deren Therapie mit Analgetika

Im Konzept der heutigen postoperativen Schmerztherapie bilden Opioide eine zentrale SaÈule, flankiert von den antipyretisch-antiphlogisti-

± 118

schen Analgetika (z. B. Metamizol, Paracetamol), wodurch sich in vielen FaÈllen auch eine Opioideinsparung bis zu 20 % erreichen laÈsst (. Abb. 16-1; . Tabelle 16-1).

Beispiel

Analgetika Spezielle Analgesie mit Opioid In Form epidurale Analgesle + Lokalanästhetikum (Iumbal, thorakal)

Fentanyl, Morphin Clonidin, Sufentanil

Persistierender/verstärkter Schmerz Spezielle Analgesie mit Opioid + Nichtoploldanaigetlkum + PCA

Tramadol, Morphin, Piritramid, Meptazinol, Buprenorphin

Persistierender/verstärkter Schmerz Basisanalgesie mit Nichtopioidanalgetikum, Regionalanalgesie Peripherer Nerven

Metamizol, Paracetamol, Acetylsalicylsäure, lbuprofen, lnfiltration, lnstallation

. Abb. 16-1. Stufenkonzept

in der postoperativen Schmerztherapie

106

Kapitel 16  Postoperativer Einsatz von Opioiden

. Tabelle 16-1. Wissenschaftliche Nachweise zur EffektivitaÈt verschiedener Verfahren und die Besonderheiten unterschiedlicher Pharmaka in der Behandlung postoperativer Schmerzen beim Erwachsenen

Pharmakon

Darreichungsform

EffektivitaÈtsnachweisa

Besonderheiten

NSAID

Oral (allein)

Ib, IV

Ausreichende Wirkung bei schwachen bis mittelstarken Schmerzen. PraÈoperativ beginnen. Relative Kontraindikation bei Patienten mit Nierenerkrankungen und/oder einer Koagulopathie. Kann Fieber maskieren.

Oral als Zusatz zum Opioid

Ia, IV

Potenzierender Effekt mit Opioideinsparung. Verabreichung und praÈoperative Warnhiweise wie bei alleiniger oraler Gabe (s. oben).

Parenteral (z. B. Metamizol, Paracetanol)

Ib, IV

Effektiv bei mitteren bis starken Schmerzen. NuÈtzlich dort, wo Opioide kontraindiziert sind, insbesondere dann, wenn Atemdepression und Sedierung zu vermeiden sind.

Oral

IV

Genauso effektiv wie i.v. bei entsprechenden Dosen. Dann einsetzen, wenn eine orale Gabe moÈglich ist. Verfahren der 1. Wahl!

IntramuskulaÈr

Ib, IV

Ist Standard bei parenteraler Gabe, jedoch sind die Injektionen schmerzhaft und die Absorption ist unsicher. Dieser Weg sollte vermieden werden.

Subkutan

Ib, IV

Vorzug vor i.m. Gabe, weil niedrigere Dosen bei kontinuierlicher Infusion. Die Injektion ist schmerzhaft und die Absorption unzuverlaÈssig. Dieser Weg ist bei (wiederholten) Langzeitgaben zu vermeiden.

IntravenoÈs

Ib, IV

Verfahren der Wahl nach groûen chirurgischen Eingriffen. Anwendung bei Bolusgaben oder kontinuierlicher Verabreichung (inkl. PCA), bedarf jedoch der Ûberwachung. Potenzielles Risiko von Atemdepression bei zu hoher Dosierung.

PCA (systemisch)

Ia, IV

Wird intravenoÈs oder subkutan empfohlen. Gutes, gleichbleibendes Analgesieniveau. Bei Patienten beliebt, bedarf jedoch einer speziellen Infusionspumpe und Ausbildung des Personals. Vorsichtsmaûnahmen wie bei allen Opioiden.

Epidural, intrathekal

Ia, IV

Wenn angebracht, gute Analgesie. Signifikantes Risiko einer verspaÈteten Atmedepression. Bedarf des sorgfaÈltigen Minitorings. Bei Infusionspumpen zusaÈtzliche GeraÈte und Ausbildung des Personals.

Epidural intrathekal

Ia, IV

Limitierte Indikation. Teuer bei zusaÈtzlichem Einsatz von Pumpen. Effektive Regionalanalgesie. Opioideinsparung. Die Zugabe eines Opioids zum LokalanaÈsthetikum verbessert die Analgesie. Risko von Hypotension, MuskelschwaÈche, Infektion. Infusionspumpen beduÈrfen zusaÈtzlicher GeraÈte und Personal.

Periphere Nervenblockaden

Ia, IV

Limitierte Indikation und Dauer von Nervenblockaden. Effektive Regionalanalgesie. Opioideinsparung moÈglich.

Opioide

LokalanaÈsthetika

16

a

SchluÈssel zum EffektivitaÈtsnachweis: Ia ˆ Nachweis durch Metaanalysen randomiserter, kontrollierter Studien. Ib ˆ Nachweis durch wenigstens eine randomisierte, kontrollierte Studie. IV ˆ Nachweis durch Konsensusempfehlungen von Expertenkommmissionen, Meinungen und/oder klinischen Erfahrungen anerkannter Experten.

16.1  GrundsaÈtzliches zum Vorgehen bei postoperativen Schmerzen

Grundregeln der postoperativen Schmerztherapie 4 Das geeignete PraÈparat waÈhlen 4 Die Analgesie intravenoÈs titrieren 4 Die Erhaltungsdosis finden 4 Engmaschige Kontrolle von ± Atmung ± Blutdruck/Herzfrequenz ± Vigilanz ± Blutverlust 4 SchmerzintensitaÈt (VAS) regelmaÈûig dokumentieren 4 Nebenwirkung rechtzeitig behandeln 4 Ein multimodales Therapiekonzept anwenden

Zusammenfassung geeigneter Opioide bei postoperativen Schmerzen 4 Das Opioid Piritramid weist im Vergleich mit Pethidin und Pentazocin eine ausgesprochene KreislaufstabilitaÈt auf. 4 Im Vergleich mit Pethidin ziehen Piritramid und Nalbuphin keine kardiovaskulaÈren Effekte, insbesondere keine Myokarddepression bzw. Zunahme des myokardialen O2-Bedarfs (MVO2) nach sich. 4 Im Vergleich mit Morphin, Pethidin und Pentazocin haben Nalbuphin und besonders Piritramid eine geringere Inzidenz von Nausea und Erbrechen. 4 Piritramid hat eine mittlere Wirkungsdauer von bis zu 6 h; es wirkt somit deutlich laÈnger als Pentazocin (3 h), Pethidin (2±3 h) und Morphin (4±5 h). 4 Piritramid und Nalbuphin loÈsen im Gegensatz zu Pentazocin keine dysphorischen Nebenwirkungen aus. 4 Bei Piritramid ist, selbst uÈber Tage gegeben, eine Sucht- und AbhaÈngigkeitsentwicklung bei Schmerzpatienten nicht zu erwarten [41]. 4 Seltene bis fehlende allergische Reaktionen sind fuÈr Piritramid [298] und Nalbuphin [72] kennzeichnend. 4 Piritramid stammt aus der gleichen Produktreihe wie Fentanyl bzw. Alfentanil und Sufentanil, sodass nach einer NeuroleptanaÈsthesie die unterschwellig noch vorliegende Analgesie eine sofortige VerstaÈrkung erhaÈlt und die Ûbernahme der Analgesie durch ein Pharmakon gleicher Wirkstruktur erfolgt.

107

16

4 Piritramid und Morphin sind, im Gegensatz zu Agonisten/Antagonisten wie Pentazocin und Nalbuphin, reine Agonisten. Nach einer NeuroleptanaÈsthesie ist bei einem Opioid mit antagonistischen WirkqualitaÈten eine unerwuÈnschte Kreislaufstimulierung (Blutdruckund Herzfrequenzzunahme) moÈglich. 4 Ein Teil der schwachwirkenden reinen Agonisten (Codein, Tramadol, Tilidin-N, Dextropropoxyphen) und der groÈûte Teil der gemischtwirkenden Agonisten/Antagonisten und Partialagonisten (Nalbuphin, Pentazocin sowie Meptazinol) unterliegt nicht der BetaÈubungsmittel-Verschreibungsverordnung (BtMVV). 4 Nur eine intravenoÈse Bolusinjektion erlaubt es, die Dosis gegen die Wirkung zu titrieren. Auf diese Weise wird der individuelle Bedarf des Patienten erkannt. Die Erhaltungsdosierung wird je nach Reaktion empfohlen. 4 Die Kombination eines Agonisten (z. B. Piritramid) mit einem Agonisten/Antagonisten (z. B. Nalbuphin, Pentazocin) ist zu vermeiden. 4 Die Verabreichung von Opioiden unterschiedlicher Wirkungsdauer und WirkungsstaÈrke (z. B. Buprenorphin und Piritramid) ist zu vermeiden. 4 Nach der Akutschmerztherapie mit Piritramid in der Aufwachstation, d. h. ausgehend von einer befriedigenden Schmerztherapie (VAS I 3,0), kann auf Station mit dem WuÈrzburger Schmerztropf (s. 7 Kap. 16.11) erfolgreich weiterhin die Schmerzbefreiung aufrechterhalten werden.

Obschon eine groûe Anzahl an PraÈparaten fuÈr eine erfolgreiche Schmerztherapie in der postoperativen Phase zur VerfuÈgung stehen, stellten im Jahr 1980 Cohen et al. [1] in einer Ûbersichtsarbeit fest, dass 75,2 % aller Patienten postoperativ Schmerzen erdulden mussten. Trotz der Erkenntnisse uÈber neuere und wirkungsvolle Schmerzmittel klagten 1983 immer noch 41 % aller Patienten postoperativ uÈber Schmerzsensationen [2]. Unterstrichen wird diese Entwicklung durch die Tatsache, dass selbst in den vergangenen Jahren eine Verbesserung der Schmerzbefreiung nach Operationen nicht gegeben war (. Tabelle 16-2).

108

Kapitel 16  Postoperativer Einsatz von Opioiden

. Tabelle 16-2. HaÈufigkeit postoperativer Schmer-

zen in der Vergangenheit

16

Untersuchungen zum postoperativen Schmerz

Jahr

Postoperative Schmerzen [%]

Papper et al. Lasagna u. Beecher Keats Keeri-Szanzto u. Heaman Cronin et al. Banister Tammisto Cohen Tamsen et al. Donovan Weis et al. Donovan Seers Owen et al. Brasseur

1952 1954 1965 1972 1973 1974 1978 1978 1982 1983 1983 1987 1989 1990 1994

33 33 25±33 20 42 12±26 24 75 38 31 41 58 43 37 46,4

So verlangen nach einer Thorakotomie 74 % der Patienten ein Analgetikum, nach Oberbaucheingriffen sind es 63 %, nach Unterbaucheingriffen 51 % und nach Operationen an den ExtremitaÈten 27 % (. Tabelle 16-3). Allgemeinchirurgische und urologische Operationen dagegen erfordern bei 36 % bzw. bei 49 % der Patienten uÈberhaupt kein postoperatives Analgetikum [5]. Nach Ferrari et al. spielt neben dem Ausmaû und der Lokalisation des operativen Eingriffs auch das AnaÈsthesieverfahren eine entscheidende Rolle. Nach Narkosen mit Methoxyfluran hatten 90 %, mit Halothan 85 %, jedoch nach einer Neuroleptnarkose mit Fentanyl nur 50 % der Patienten in den ersten 8 postoperativen Stunden ein Schmerzmittel benoÈtigt [6]. Besonders ist nach Narkosen mit dem Opioid Sufentanil, im Vergleich mit Fentanyl, nicht nur die postoperative Schmerzfreiheit laÈnger, vielmehr wird auch eine Optimierung der postoperativen Schmerzfreiheit beim Patienten erreicht [7]. Trotz aller dieser Erkenntnisse steht es um die postoperative Schmerztherapie i. allg. nicht gut. Die GruÈnde hierfuÈr sind vielgestaltig. Der AnaÈsthesist, der aufgrund seiner Kenntnisse uÈber die Pharmakologie mit den waÈhrend der Operation sowie der postoperativen Phase eingesetzten Analgetika und den individuellen Reaktionen des Patienten auf das Schmerzmittel am besten vertraut ist, ist fuÈr die Therapie auf der Station nicht mehr verantwortlich. In der »postoperativen Verordnung« ist deswegen oft zu lesen, dass »bei Bedarf« (pro re nata) ein bestimmtes Analgetikum empfohlen wird. Die letztliche Entscheidung uÈber den Einsatz des Schmerzmittels trifft jedoch meist die auf der Station Dienst tuende Schwester, die, auf sich allein gestellt, mit den Anordnungen des AnaÈsthesisten oft nichts anfangen kann und eine Dosierung »pro re nata« (bei Bedarf) nach ihren eigenen Erfahrungen und Kenntnissen durchfuÈhrt.

Solche Ergebnisse lassen keine RuÈckschluÈsse auf ein unzureichendes Angebot von Analgetika in der Schmerztherapie zu. Vielmehr weist diese Entwicklung auf andere Faktoren hin, die zu einer Unterversorgung der Patienten in der postoperativen Phase fuÈhren. Der postoperative Schmerz ist ein Beispiel fuÈr den akuten Schmerz, der eine sofortige Therapie verlangt. Weil waÈhrend der Operation nicht nur Haut- und Muskelnozizeptoren aktiviert werden, sondern auch durch Zug am Peritoneum und an Muskeln viszerale und spastische Schmerzen auftreten, sollten Therapiemaûnahmen zum Einsatz kommen, die alle diese AusloÈser beruÈcksichtigen. Deswegen ist die einfachste und effektivste Methode zur postoperativen Schmerztherapie zu allererst die lokale Instillation der WundraÈnder mit einem LokalanaÈsthetikum [3]. Weil diesem Verfahren jedoch eine, wenn auch nicht eindeutig nachgewiesene VerzoÈgerung im Heilungsprozess nachgesagt wurde [4], wird sie auch heute noch in unzureichendem Maûe genutzt. . Tabelle 16-3. Unterschiedliche operative Eingriffe und die daraus Generell kann festgehalten abzuleitende postoperative Schmerzinzidenz. (Nach [82]) werden, dass die zu erwartenden Schmerzsensationen in Operativer Eingriff SchmerzhaÈufigkeit [%] Schmerzdauer der postoperativen Phase von mittel schwer Tage von bis folgenden Faktoren abhaÈngig Obere Baucheingriffe 30 60 2±6 sind: Thorakotomien 30 65 2±7 4 der Lokalisation des Untere Baucheingriffe 35 45 1±4 operativen Eingriffs und Urologische Eingriffe 25 50 2±7 4 dem verwendeten ExtremitaÈteneingriffe 35 65 2±6 AnaÈsthesieverfahren.

109

16.3  Opioiddosierung nach Bedarf

Angell konnte in einer Untersuchung nachweisen, dass uÈber den Gebrauch und den Einsatz von postoperativen Analgetika eher Unkenntnis als Klarheit herrscht, ein Faktor, der eine Unterdosierung von notwendigen Schmerzmitteln zur Folge hat [7]. Ûberlegungen hinsichtlich 4 moÈglicher Suchtpotenz des Schmerzmittels, 4 potenzieller Nebenwirkungen wie ± Atemdepression, ± Harnretention, ± einer starken Sedierung und ± einer moÈglichen Konstipation fuÈhren dazu, dass der Anwender lieber eine Unterdosierung beim Patienten in Kauf nimmt. Die geringste Dosis stellt jedoch nicht die fuÈr den Patienten beste dar, sodass trotz der MoÈglichkeit, stark wirksame Schmerzmittel einzusetzen, der Patient immer noch Schmerzen ertragen muss. 16.2

Suchtentwicklung bei Schmerztherapie mit Opioiden

In einer groû angelegten Untersuchung konnte schon in den 1980er-Jahren dokumentiert werden, dass Patienten, die ein Opioid gegen postoperative Schmerzen erhalten hatten, mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit davon nicht suÈchtig wurden [8]. Die HaÈufigkeit, eine Sucht durch ein postoperativ verabreichtes Opioid auzuloÈsen, liegt unterhalb von 0,03 %. UrsaÈchlich fuÈr diese ungewoÈhnlich niedrige Inzidenz ist die Tatsache, dass AbhaÈngigkeit und Sucht sich nur dann entwickeln, wenn Analgetika mit Opioidcharakter von Personen ohne Schmerzen eingenommen werden. ! Es scheint eine Besonderheit der Suchtentwick-

lung zu sein, dass bei BeduÈrfnis des Organismus nach einer koÈrpereigenen Schmerzregulation die Tendenz zur Sucht- und AbhaÈngigkeitsentwicklung deutlich erniedrigt ist.

16

Eine Sucht konnte unter chronischer Opioideinnahme bei therapieresistenten Schmerzen nur in 4 FaÈllen nachgewiesen werden; nur in 1 von 1200 FaÈllen wurde eine AbhaÈngigkeit attestiert [9]. Besonders ist eine unzureichende Dosierung von Opioiden bei der Schmerztherapie nichtmaligner Krankheiten die Ursache fuÈr eine psychische AbhaÈngigkeitsentwicklung [10, 11]. Zurzeit existieren keine Daten, die darauf hinweisen, dass eine postoperative Analgesie mit Opioiden Sucht und AbhaÈngigkeit induzieren kann. 16.3

Opioiddosierung nach Bedarf

Bei der »Dosierung nach Bedarf« muss beruÈcksichtigt werden, dass ein Patient generell selbst nicht in der Lage ist, uÈber den Zeitpunkt einer postoperativen Analgetikagabe zu befinden, um eine optimale Schmerzbefreiung zu erreichen. Er muÈsste entscheiden, ob und wann ein Schmerzmittel verabreicht werden soll (den Bedarf aÈuûern), und erst aufgrund dieser WillensaÈuûerung orientiert sich das medizinische Personal. Dies ist jedoch mit einer VerzoÈgerung der Applikation verbunden, sodass Zeiten starker Schmerzempfindung zwischen den Applikationen auftreten (. Abb. 16-2). ! Eine Dosierung von Opioiden nach Bedarf zur

postoperativen Schmerztherapie ist abzulehnen.

Denn es entsteht folgende Schaukeltherapie, die den Patienten stark beeintraÈchtigt: ! Nachlassen der Wirkung des Analgetikums p

Wiederauftreten von Schmerzen, GefuÈhl des Unwohlseins p Angst vor staÈrkeren Schmerzen p Wunsch nach Schmerzbeseitigung p Wunsch nach einem Schmerzmittel p Ruf nach einem Schmerzmittel p Schmerzmittel wird appliziert p RuÈckgang der Schmerzen und des Unwohlseins.

. Abb. 16-2. Schematische Darstellung der wechselnden Konzentration eines Analgetikums im Blut und den daraus resultierenden Zeiten von Schmerz und Schmerzfreiheit. Es besteht eine zeitliche Latenz zwischen Bedarf und Applikation

110

Kapitel 16  Postoperativer Einsatz von Opioiden

16.4

Zeitlich konstante Opioidapplikation

Das Ziel jeglicher postoperativen Schmerztherapie ist es, schon vor dem Auftreten erneuter Schmerzen ein Opioid zu verabreichen (Prinzip der zeitlich konstanten Dosierung; . Abb. 16-3), sodass uÈberlappend eine konstante Konzentration im Blut aufrechterhalten wird und eine gleichmaÈûige Besetzung der Rezeptoren und eine anhaltende Blockade schmerzhafter Afferenzen resultiert. Dies garantiert: 4 eine anhaltend stabile Konzentration im Blut, 4 eine Verminderung stressinduzierter Komplikationen und WundheilungsstoÈrungen, 4 eine Reduktion von Schmerzmitteln (dem Schmerz muss nicht »hinterhergelaufen« werden), 4 keine Entwicklung eines »Wind-up«-PhaÈnomens mit VerstaÈrkung der einschieûenden Schmerzafferenzen (s. 7 Kap. 3), 4 keine Entwicklung einer chronischen Schmerzsymptomatik und schlieûlich 4 einen zufriedenen Patienten. FuÈr den Patienten ist es angenehmer, ein Schmerzmittel groûzuÈgig verabreicht zu bekommen, und zwar zu einem Zeitpunkt, zu dem starke

Schmerzen noch nicht empfunden werden [12] und es noch nicht zu Missempfindungen gekommen ist (. Abb. 16-3). 16.5

Auswahl des Opioids bei postoperativen Schmerzen

Bei der Beantwortung der Frage, welche Schmerzmittel wohl am geeignetsten fuÈr eine postoperative Schmerztherapie sind, muss prinzipiell darauf hingewiesen werden, dass eine UnterdruÈckung postoperativer Schmerzen immer noch am besten mit einem Opioid zu erreichen ist. Hierbei ist nicht so sehr die WirkstaÈrke des jeweiligen PraÈparates von Bedeutung. Vielmehr sind Faktoren wie Wirkungsdauer, Inzidenz von Nebenwirkungen und eine moÈgliche Atemdepression von vorherrschendem Interesse (. Tabelle 16-4). So hat das Opioid Sufentanil zwar die groÈûte analgetische WirkungsstaÈrke. Diese ist jedoch an zu viele Nebenwirkungen, insbesondere an eine potenzielle Atemdepression gebunden. Weitere andere Opioide wie Fentanyl und Alfentanil haben mit im Mittel 20±30 min bzw. 5±10 min eine fuÈr die postoperative Schmerztherapie zu kurze Wirkungsdauer (. Tabelle 16-4).

16

. Abb. 16-3. GegenuÈberstellung von zeitlich unregelmaÈûigen und zeitlich konstanten Dosierungen, dargestellt an den

jeweiligen Konzentrationen des Opioids im Blut. Zielsetzung ist ein sich uÈberlappendes festes Dosierungsregime

16

111

16.5  Auswahl des Opioids bei postoperativen Schmerzen

. Tabelle 16-4. Die fuÈr eine postoperative Analgesie am haÈufigsten eingesetzten Opioide, ihre Wirkungsdauer und moÈglichen Nebenwirkungen

Substanz (PraÈparat)

Dosis [mg/kg]

Morphium (Morphin) i.m. i.v. Pethidin (Dolantin) i.m. i.v. Piritramid (Dipidolor) i.m. i.v. Fentanyl (Fentanyl) i.v. Alfentanil (Rapifen) i.v.

0,2 0,1±0,15 0,5±1,0 0,15±0,7 0,2±0,4 0,1±0,15 0,0015±0,008 0,015±0,08

Analgesie

Atemdepression

Kreislaufdepression

Mittlere Wirkdauer

‡‡ ‡

‡‡ ‡‡

‡ ‡‡

3±5 h 2±3 h

‡‡

‡

(‡)

6h

‡‡‡‡ ‡‡‡

‡‡‡‡ ‡‡

‡ ‡

20±30 min 7±10 min

Andere weit verbreitete Analgetika aus der Gruppe der Opioide, wie das Pethidin (Dolantin) und Morphium (Morphin) haben zwar schon eine mittlere Wirkungsdauer zwischen 2 und 3 bzw. 3 und 5 h, koÈnnen jedoch Nebenwirkungen ausloÈsen, die in der postoperativen Phase nicht wuÈnschenswert sind. So sind die Kreislaufdepression bei Pethidin und eine sie begleitende Herzfrequenzzunahme mit daraus resultierendem myokardialen O2-Mehrbedarf nicht foÈrderlich. Beim Morphin ist die begleitende Histaminfreisetzung, die gelegentlich zu starken BlutdruckabfaÈllen fuÈhren kann, nachteilig. Piritramid (Dipidolor), ein PipiridinabkoÈmmling, hat eine mittlere Analgesiedauer von bis zu 6 h. Hier sind Kreislaufwirkungen nur marginal vorhanden, und eine Atemdepression tritt nur bei Ûberdosierung oder bei Kombination mit einem Benzodiazepin auf. Die analgetische WirkungsstaÈrke entspricht 0,7-mal der von Morphin (. Tabelle 16-4), sodass Piritramid fuÈr die postope-

rative Schmerztherapie als besonders geeignet angesehen wird [13]. Ebenso wie Morphin hat auch Codein eine mittlere Wirkungsdauer von 4 h. Pethidin (Dolantin) ist mit seiner mittleren Wirkungsdauer zwischen 2 und 3 h dem Pentazocin (Fortral) mit einer Wirkungsdauer von bis zu 4 h deutlich unterlegen. Nur Buprenorphin (Temgesic) ist mit einer mittleren Wirkungsdauer von 8 bis zu 10 h (. Abb. 16-4) allen anderen Vertretern uÈberlegen [14, 15]. Hierbei ist jedoch die sehr laÈngere Zeit bis zur Ausbildung der vollen analgetischen Wirkung zu beruÈcksichtigen [16]. WaÈhrend nach parenteraler Gabe die Wirkung innerhalb von 10±30 min einsetzt, koÈnnen bis zu 60 min nach der intravenoÈsen Injektion vergehen, bevor die volle Wirkung erreicht wird. Somit muss nach der Erstinjektion bei offensichtlich ungenuÈgender Analgesie mit einer Zweitinjektion gewartet werden, weil die Analgesie in der Folgezeit noch

. Abb. 16-4. GegenuÈberstellung der analgetischen

Wirkungsdauer verschiedener Opioide in der postoperativen Schmerztherapie

112

Kapitel 16  Postoperativer Einsatz von Opioiden

zunimmt. Repetitive Gaben, die zu fruÈhzeitig vorgenommen werden, koÈnnen (insbesondere bei aÈlteren Patienten) zu einer Atemdepression fuÈhren. Eine einmal induzierte Atemdepression kann dann jedoch durch die wiederholte Gabe hoher Dosen von Naloxon (Narcanti 1±2 mg) antagonisiert werden. Auch kann in solchen FaÈllen versuchsweise mit dem zentralen Atemanaleptikum Doxapram (Dopram) die Atmung angeregt werden [17]. Ansonsten muss bis zur endguÈltigen Dissoziation des Pharmakons vom Rezeptor beatmet werden (ca. 8±9 h). Insbesondere nach ambulanten Eingriffen stellt sich die Frage nach einem sicheren, aber auch wirkstarken Analgetikum. Erste gute Erfahrungen mit dem Einsatz eines oralen Opioids mit Retardwirkung liegen vor. Orales Dihydrocodein in Form einer Retardtablette ist erfolgreich nach kleineren und mittleren chirurgischen Eingriffen, endoskopischen Cholezystektomien, muskuloskelettalen Eingriffen und Kniearthroskopien nach sowohl ambulanten als auch nach stationaÈren Eingriffen eingesetzt worden [16, 18]. Das analgetische Maximum wird mit der oralen Retardzubereitung nach 2±3 h erreicht. Orale Retardzubereitungen fuÈr den postoperativen Schmerz koÈnnen daher nicht zur Linderung ploÈtzlich einsetzender Schmerzen verwendet werden, auch wenn die Wirkungsdauer und damit das Einnahmeintervall zwischen 8 und 12 h betraÈgt. 16.6

Gemischtwirkende Agonisten/ Antagonisten und Partialagonisten bei postoperativen Schmerzen

Neben den »reinen« Agonisten existieren gemischtwirkende Agonisten/Antagonisten die, postoperativ verabreicht, ebenfalls eine UnterdruÈckung der Schmerzen bewirken. In der Theorie besteht

16

ihr Vorteil darin, Analgesie uÈber eine Untergruppe von Opioidrezeptoren, die sog. k-Bindestellen zu vermitteln, waÈhrend uÈber den m-Rezeptor eine antagonistische (verdraÈngende) Eigenschaft ausgeloÈst wird [19, 20]. Einige dieser gemischtwirkenden Agonisten/Antagonisten wie Nalbuphin (Nubain) und Butorphanol (Stadol) koÈnnen deshalb zur Umkehr einer fentanyl- oder morphinbedingten Atemdepression eingesetzt werden (. Tabelle 16-5). Zu den weiteren Vertretern, die zur postoperativen Schmerztherapie in Frage kommen und wegen des geringen Suchtpotenzials der BetaÈubungsmittel-Verschreibungsverordnung (BtMVV) nicht unterworfen sind, zaÈhlen Nalbuphin (Nubain), Tilidin-N (Valoron-N), Dextropropoxyphen (Develin retard) und Meptazinol (Meptid; . Tabelle 16-5). Aus der . Tabelle 16-5 wird ersichtlich, dass je nach agonistischem bzw. antagonistischem Wirkprofil das jeweilige Produkt eine unterschiedliche Indikation fuÈr den klinischen Einsatz hat. Ihnen allen gemeinsam ist jedoch die geringe Suchtund AnhaÈngigkeitsentwicklung sowie bei steigenden Dosen ein »Ceilingeffekt« hinsichtlich einer zentral ausgeloÈsten Atemdepression (. Abb. 16-5; [76]). Einen Ceilingeffekt weisen die Agonisten/Antagonisten jedoch auch hinsichtlich ihrer analgetischen Wirkung auf, d. h. innerhalb eines gewissen Dosisbereichs (dem therapeutischen Bereich) kann die Analgesie durch DosiserhoÈhung verstaÈrkt werden. Wird dann die Dosis in der Hoffnung, eine weitere Zunahme der Analgesie zu erreichen, weiter gesteigert, nehmen nur die Nebenwirkungen wie Dysphorie, Unruhe, Schwitzen, Halluzinationen, Ûbelkeit und Erbrechen zu. Eine VerstaÈrkung der Analgesie ist trotz DosiserhoÈhung nicht zu verzeichnen [21, 22]. Der Dosisbereich, bei

. Tabelle 16-5. GegenuÈberstellung der agonistischen (analgetischen) und antagonistischen (verdraÈngenden) Potenz verschiedener gemischtwirkender Agonisten/Antagonisten und partiellen m-Agonisten. Die jeweilige StaÈrke bezieht sich auf den Agonisten Morphin (ˆ 1) bzw. Antagonisten Naloxon (ˆ 1)

Produkt

Hersteller

Antagonistische Potenz

Agonistische Potenz

Butrophanol Buprenorphin Levallorphan Naloxon Morphin Nalbuphin Pentazocin Meptazinol

Bristol-Myers Essex Pharma Roche Ratiopharm Merk Bristol-Myers, Squibb Sanofi-Synthelabo Riemser

0,025 0,5 0,2 1 0 0,5 0,04 0,02

40 30 1 0 1 0,8 0,4 0,15

113

16.6  Gemischtwirkende Agonisten

16

. Abb. 16-5. Die zentral induzierte Atemdepression

unter steigenden Dosen von Morphin (einem reinen Agonisten) und der Ceilingeffekt, dargestellt an dem gemischtwirkenden Opioid Nalbuphin. Trotz steigender Dosen kommt es ab einem gewissen Dosisbereich von Nalbuphin nicht zu einer Zunahme der Atemdepression

dem ein analgetischer Ceilingeffekt bei den verschiedenen Agonisten/Antagonisten und den partiellen m-Agonisten auftritt, ist recht unterschiedlich (. Tabelle 16-6). Die im Ausland verfuÈgbare nasale Applikationsform von Butorphanol in Form eines Sprays (Stadol NS) zur postoperativen Schmerztherapie soll neben einem niedrigen Suchtpotenzial folgende Vorteile aufweisen: 4 Verbesserung der Schmerztherapie durch eine vom Patienten durchzufuÈhrende Dosierung (Nasenspay!), ganz dem individuellen Schmerzniveau angepasst (aÈhnlich der PCA), 4 einfache Applikationsweise, 4 geringe Nebenwirkungsrate, wobei auûer einer dosisabhaÈngigen Sedierung [23], die allen k-Liganden eigen ist, ein Schwindel bei 30 % aller Patienten auftritt [24], 4 ein moÈglicher Einsatz auch bei Ûbelkeit und Erbrechen, 4 schnelle Resorption uÈber die Nasenschleimhaut mit Spitzenplasmawerten nach 1 h [25],

4 Umgehung des First-pass-Effekts durch die Leber, sodass eine BioverfuÈgbarkeit von 70 % resultiert, 4 Anschlagzeit innerhalb von Minuten, 4analgetische Wirkungsdauer zwischen 4 und 5 h, 4 WirkverlaÈngerung bis zu 10 h bei Patienten mit NierenfunktionsstoÈrungen, weil 70 %±80 % uÈber die Nieren eliminiert werden, 4 eine ausreichende Schmerzbefreiung bei mittelstarken bis starken Schmerzen nach Traumen, Schmerzen nach orthopaÈdischen Eingriffen, nach Schnittentbindung, nach Herniotomie und nach Dammschnitt [23, 24, 26], 4 keine lokale Irritation der Nasenschleimhaut, selbst bei chronischer Anwendung uÈber 16 Tage [25], 4 eine bei MigraÈne und Clusterkopfschmerz befriedigende bis gute Wirkung [27, 28].

. Tabelle 16-6. Der analgetische Ceilingeffekt verschiedener Agonisten/Antagonisten

Opioid

Analgetische StaÈrke zu Morphin = 1

Ceilingeffekt fuÈr Analgesie [mg  kg 1] (parenteral)

Øquianalgetische Dosis [mg  kg 1]

Buprenorphin Nalbuphin Pentazocin Butorphanol Meptazinol

30±40 0,8 0,4 4±5 0,07

i 1,2 240 90 10 400

0,3 20±40 30±60 2±4 100

114

Kapitel 16  Postoperativer Einsatz von Opioiden

16.7

Nausea und Emesis bei postoperativer Schmerztherapie

WaÈhrend fuÈr eine ausreichende postoperative Schmerztherapie die Wirkungsdauer eines Analgetikums von Bedeutung ist, werden bei der Wahl des Pharmakons auch die moÈglichen Nebenwirkungen in die Ûberlegung miteinbezogen (. Tabelle 16-7). Pentazocin verursacht eine Dysphorie, charakterisiert durch Angst, Unruhe und BedraÈngung, insbesondere dann, wenn es im hohen Dosisbereich (i30 mg) verabreicht wird. Diese Nebenwirkungen gehen mit einer DruckerhoÈhung im kleinen Kreislauf und einer Zunahme der Herzfrequenz einher [29]. Nach Nalbuphin ist aufgrund der relativ starken antagonistischen Wirkung nach einer Opioidnarkose mit einer kurzfristigen (bis zu 10 min andauernden) Schmerzinduktion zu rechnen [30]. Erst anschlieûend wirkt die uÈber den k-Rezeptor vermittelte Analgesie. Tramadol muss aufgrund seiner geringen analgetischen Wirkung oft mit einem peripher angreifenden Analgetikum bzw. Spasmolytikum kombiniert werden, um ein ausreichendes Analgesieniveau zu erreichen. Bei rascher intravenoÈser Gabe kann jedoch in bis zu 90 % aller FaÈlle Nausea und Emesis auftreten [31]. Butorphanol weist

gegenuÈber Morphin keine eindeutigen Vorteile auf [32], und wird auf dem deutschen Markt nicht angeboten. Im Gegensatz zu den gemischtwirkenden Agonisten/Antagonisten weist der Partialagonist Meptazinol (Meptid, Fa. Riemser) insofern ein interessantes Profil auf, als aÈquipotente Dosen (100 mg) geringere atemdepressive Effekte [33] und eine geringerer Sedierung im Vergleich zu Pentazocin (60 mg) und Pethidin (100 mg) zur Folge hatten [34, 35]. Insbesondere ist seine vorteilhafte Wirkung beim Geburtsschmerz hervorzuheben [36], weil im Vergleich zu Pethidin dieses Opioid zu einer geringeren BeeintraÈchtigung des Neugeborenen (Apgar-Wert) fuÈhrte [37, 38]. Auch ist eine im Vergleich zu Morphin geringere atemdepressorische Wirkung hervorzuheben [39], die, trotz hoher Emesisrate, den Einsatz von Meptazinol in der postoperativen Phase rechtfertigt. Piritramid dagegen hat, bezogen auf Nausea und Emesis, eine vergleichsweise geringere Inzidenz. Hervorzuheben ist auch die StabilitaÈt des kardiovaskulaÈren Systems [40, 41]. Ein gesteigerter Tonus der glatten Harnleitermuskulatur, sonst charakteristisch fuÈr Opioide mit m-Charakter, ist nicht nachgewiesen worden [42]. Weil dieses Pharmakon, im Vergleich zu den anderen in der postoperativen Phase in Frage kommenden Opioiden,

a

Butorphanola (Stadol)

Pentazocina (Fortral)

Am meisten vorkommend ( i10 %)

16

Nalbuphina (Nubain) (36 %)

Sedierung

Brechreiz Schwindel Erbrechen Euphorie Dermatologische Erscheinungen

Kalter, klebriger Schweiû (9 %) Brechreiz (6 %) Schwindel (5 %) Mundtrockenheit (4 %)

Brechreiz Kalter, klebriger Schweiû Kopfschmerzen Vertigo

Atmung b Dyspnoe Kreislauf b BD b oder v

Seltener vorkommend ( I10 %)

. Tabelle 16-7. Zusammenfassung moÈglicher Nebenwirkungen (in %) bei den gemischtwirkenden Agonisten/ Antagonisten im Rahmen der postoperativen Schmerztherapie (v abnehmend, b zunehmend)

Mundtrockenheit (3 %)

SchwebegefuÈhl SchwindelgefuÈhl Lethargie Verwirrung ¹light headednessª

Sedierung Stimmungswechsel AlptraÈume Verstopfung Mundtrockenheit Urinretention Kopfschmerzen ParaÈsthesie

Physicians Desk Reference (1982) (Nalbuphin n = 1066 Patienten, Butorphanol n = 1250 Patienten).

16.8  Unterschiedliche Opioidrezeptorinteraktion von Agonisten

115

16

. Abb. 16-6. Vergleichendes Wirkprofil verschiedener Opioide untereinander bei Verabreichung aÈquianalgetischer Dosen in der

postoperativen Schmerztherapie

nicht nur eine laÈngere Wirkungsdauer hat, son-

. Abb. 16-7. HaÈugfigkeit von Nausea und postoperativem

Erbrechen nach Nalbuphin- (1066 Patienten), Pethidin(234 Patienten), Morphin- (486 Patienten) und Piritramidgabe (9756 Patienten)

rativ die fraktionierte Gabe nach Bedarf, wobei 1 Ampulle auf 10 ml NaCl 0,9 % verduÈnnt wird und davon fraktioniert 2 ml parenteral verabreicht werden, bis die visuell analoge Schmerzskalierung (VAS) auf I 3,0 abgefallen ist. Soll jedoch ein Opioid aus der Reihe der Agonisten/Antagonisten eingesetzt werden, sind Nalbuphin (Nubain) und von den Partialagonisten Meptazinol (Meptid) die Mittel der Wahl. Insbesondere ist, im Vergleich mit Pethidin und Morphin, bei Piritramid die HaÈufigkeit von Nausea und Emesis deutlich geringer (. Abb. 16-7; [41, 49]). Bei Nalbuphin muss jedoch die Antagonisierung einer evtl. noch vorliegenden Restanalgesie des perioperativ verabreichten Agonisten/Antagonisten beruÈcksichtigt werden [30], wobei die Antagonisierung durch hoÈhere Dosen von Nalbuphin aufgefangen werden kann. Ansonsten kann auf Meptazinol ausgewichen werden, das als partieller m-Agonist keine klinisch relevante Antagonisierung zur Folge hat. 16.8

dern auch die Inzidenz der Nebenwirkungen vergleichsweise niedriger ist, kann es als das Mittel der Wahl bei starken bis staÈrksten postoperativen Schmerzen empfohlen werden (. Abb. 16-6). Aufgrund seiner selektiven m-RezeptoraffinitaÈt ist bei Ûberdosierung jedoch eine Atemdepression zu erwarten. Aus diesem Grunde erfolgt postope-

Unterschiedliche Opioidrezeptorinteraktion von Agonisten und gemischtwirkenden Agonisten/Antagonisten

FuÈr den praktischen Einsatz ist es wichtig zu wissen, dass zwischen der Gruppe der Agonisten (Morphin, Pethidin, Piritramid) und der Gruppe der gemischtwirkenden Agonisten/Antagonisten (Pentazocin, Nalbuphin) unterschieden werden muss. Hierbei gilt folgender Leitspruch:

116

Kapitel 16  Postoperativer Einsatz von Opioiden

! Bei der medikamentoÈsen Therapie mit Opioiden

duÈrfen Substanzen beider Gruppen nicht abwechselnd verabreicht oder sogar gemischt werden! Eine Ausnahme machen die partiellen Agonisten Meptazinol und Buprenorphin, wobei Letzterer sich aufgrund seines Rezeptorverhaltens bei Dosierungen bis zu 10 mg/Tag wie ein reiner m-Agonist verhaÈlt.

16

Diese apodiktische Forderung findet ihre ErklaÈrung in der Tatasche, dass die schmerzstillende Wirkung beider Gruppen uÈber verschiedene Rezeptoruntergruppen vermittelt wird und gemischtwirkende Agonisten/Antagonisten die analgetische Wirkung der reinen Agonisten aufheben koÈnnen [43]. Denn beide Opioidgruppen wirken aÈhnlich wie die Katecholamine, die eine unterschiedliche PraÈferenz fuÈr Bindungsstellen aufweisen, einmal fuÈr den b1-Rezeptor und ein andermal fuÈr den b2-Rezeptor. So interagieren Opioide vom Typ Morphin, aber auch Pethidin (Dolantin), Fentanyl und Piritramid (Dipidolor) vornehmlich mit dem m-Rezeptor [44]. Die m-Rezeptoren befinden sich v. a. in der Medulla oblongata, dem limbischen System, dem Thalamus und dem Striatum [45]. Diese Rezeptorgruppe ist maûgeblich auch an der Vermittlung typischer Opioideffekte, wie tiefer Analgesie, Euphorie, Atemdepression, Konstipation, AbhaÈngigkeitsentwicklung, Bradykardie und Hypothermie beteiligt [46, 47]. Die sog. k-Rezeptoren, fuÈr die Ethylketocyclasozin (Ketazocin) ein typischer Ligand ist, vermitteln vornehmlich eine Sedierung, gefolgt von einer Analgesie. Pharmaka, die hauptsaÈchlich mit diesen Rezeptoren interagieren, weisen ein niedriges AbhaÈngigkeitsniveau und einen Ceilingeffekt auf, was Atemdepression und Analgesie betrifft. Rezeptoren fuÈr diese Gruppe finden sich besonders in den tiefen Schichten des Kortex und im RuÈckenmark, was die besondere Pharmakodynamik dieser Opioide erklaÈrt [45, 48]. Substanzen, die uÈber diese Rezeptoren ihre Wirkung vermitteln, sind die gemischtwirkenden Agonisten/Antagonisten (Pentazocin, Nalbuphin, Butorphanol). Weil einige dieser Substanzen, insbesondere, wenn sie uÈber den therapeutischen Dosierungsbereich hinaus gegeben werden, auch mit der s-Rezeptorgruppe interagieren, von der Dysphorie, Hypertonie, Tachykardie und Halluzinationen ausgehen, muÈssen bei hohen Dosen Nebenwirkungen in Kauf genommen werden [49]. Ein typischer Ligand fuÈr den s-Rezeptor ist Ketamin, was die exzitatorische und halluzinatorische Wirkung bei alleiniger Applikation ohne ein Benzodiazepin erklaÈrt [50].

Bei postoperativ einsetzenden Schmerzen ist es wichtig, dass die Antinozizeption rasch einsetzt. Deswegen sollte ein Opioid postoperativ zunaÈchst moÈglichst intravenoÈs gegeben werden. Denn nur die intravenoÈse Bolusinjektion erlaubt, die Dosis gegen die Wirkung zu titrieren. Ist auf diese Weise der individuelle Bedarf des Patienten festgestellt, kann die Erhaltungsbehandlung auch durch repetitive intramuskulaÈre Gaben in fixen ZeitabstaÈnden durchgefuÈhrt werden, die, dem jeweiligen Wirkungsprofil des Opioids angepasst, eine ausreichende Konzentration im Plasma und eine damit einhergehende ausreichend lange Besetzung der Opioidrezeptoren, gefolgt von Analgesie, garantiert (. Abb. 16-6). Hierbei sollte jedoch stets die MoÈglichkeit der Dosisadaptation offen bleiben. 16.9

Patientenkontrollierte Analgesie (PCA) mit Opioiden

Da jeder Patient ein unterschiedliches Schmerzausgangsniveau in der postoperativen Phase und ein unterschiedliches OpioidbeduÈrfnis hat, waÈre an sich die patientenkontrollierte Opioidmedikation die beste Methode, um Schmerzen zu vermeiden. Hierbei steuert der Patient per Knopfdruck den Zeitpunkt der Applikation einer bestimmten Opioidmenge; eine hoÈchst individuelle Dosierung wird hierdurch ermoÈglicht (. Abb. 16-8). Voraussetzung fuÈr ein solches Vorgehen ist ein Ondemand-System (patientengesteuerte Anforderung), das jedoch zusaÈtzliche Kosten verursacht. Absolute Kontraindikation einer solchen On-demandMethode ist die respiratorische Insuffizienz und eine noch nicht ausgeglichene HypovolaÈmie. Eine relative Kontraindikation fuÈr die On-demandMethode liegt bei den Patienten vor, die postoperativ nicht in der Lage sein werden, das GeraÈt zu bedienen, um das Schmerzmittel per Anforderung uÈber die Infusion zu erhalten [51]. Andererseits ist auch zu beruÈcksichtigen, dass die anfaÈnglich verordnete Opioiddosis, die angefordert werden kann, in eine Ûberdosierung muÈnden kann, wenn postoperativ eine Blutung auftritt [52], die Opioidkonzentration vorher nicht korrekt verduÈnnt worden ist bzw. aufgrund einer fehlgesteuerten Mechanik oder unexakten Bolusabgabe vom System hoÈhere Opioiddosen als urspruÈnglich eingestellt abgegeben werden [53, 54]. Auch bietet die kontinuierliche Hintergrundinfusion eines Opioids im Rahmen einer Ondemand-Analgesie zur postoperativen Schmerzbefreiung gegenuÈber der alleinigen On-demand-

16.9  Patientenkontrollierte Analgesie (PCA) mit Opioiden

117

16

. Abb. 16-8. Vorgehen bei der patientenkontrollierten Analgesie zur Titrierung von postoperativen Schmerzen

Analgesie keine Vorteile [55]. Die PCA muss, wie schon fuÈr die chronische Schmerztherapie nachgewiesen wurde, nicht obligat intravenoÈs erfolgen [56]. Øhnliche Erfolge lassen sich auch mit einer subkutanen PCA erreichen, da auch hier eine fast 100 %ige BioverfuÈgbarkeit besteht, dabei jedoch die typischen Komplikationen einer intravenoÈsen Gabe vermieden werden. Mit Hilfe dieser patientengesteuerten Analgesie kann die Wirkung verschiedener Opioide fuÈr die postoperative Phase uÈberpruÈft werden. Hierbei erwies sich Piritramid, was die UnterdruÈckung der Schmerzen betraf (gemessen an der visuellen analogen Schmerzskalierung), nach Fentanyl und Alfentanil als am effektivsten (. Abb. 16-9; [81]).

Daraus ist abzuleiten, dass von Piritramid, im Vergleich mit anderen langwirkenden Opioiden, in der postoperativen Schmerztherapie eine optimale Schmerzbefreiung zu erwarten ist. Wesentliche Ûberlegungen, bevor eine PCA zum Einsatz gelangt 4 Wahl des Opioids 4 Konzentration des Opioids in der Vorratsspritze 4 Sperrzeit (Lockout-Zeit) 4 Bolusdosis 4 Basalinfusion

. Abb. 16-9. Mittlere Schmerzscores von je 40

Patienten, die unter den Bedingungen der patientengesteuerten On-demand-Analgesie (PCA) individuell ein bestimmtes Opioid anforderten. Darstellung der EffektivitaÈt im Vergleich zu dem peripheren Analgetikum Metamizol (0 keine Schmerzen; 1 leichte; 2 mittelstarke; 3 starke Schmerzen)

118

Kapitel 16  Postoperativer Einsatz von Opioiden

FuÈr die PCA sollte das Opioid gewaÈhlt werden, mit dem die meisten Erfahrungen vorliegen. Eine besondere Eignung besteht trotz der Vielzahl der zur VerfuÈgung stehenden Analgetika nicht. Denn alle Opioide mit hoher WirkungsstaÈrke und kurzer Wirkungsdauer (Fentanyl, Sufentanil, Alfentanil, Remifentanil) sind im Rahmen der PCA schwieriger zu dosieren und haben die Tendenz zu Ûbersdosierungen. Neben der Wahl des Analgetikums spielt die Menge des Einzelbolus fuÈr das Gelingen einer PCA-Therapie eine entscheidende Rolle, wobei zu kleine Dosen keine zufriedenstellende Analgesie bedingen und zu groûe Dosen die Gefahr der Nebenwirkungen, insbesondere einer Atemdepression, zur Folge haben. Die BolusgroÈûe sollte so bemessen sein, dass der Patient eine Schmerzlinderung verspuÈrt, aber keine unerwuÈnschten Nebenwirkungen auftreten (. Tabelle 16-8). Die Lockout-Zeit ist durch das Zeitintervall definiert, in dem der Patient aus der PCA-Pumpe trotz Anforderung keinen weiteren Bolus erhaÈlt. Die Zeit sollte so bemessen sein, dass ein neuerlicher Bolus fruÈhestens nach Wirkungseintritt des vorangegangenen Bolus abgegeben wird. Durch das Sperrintervall laÈsst sich auch die Gesamtmenge des Opioids limitieren, die sich ein Patient innerhalb 1 h zufuÈhren kann. Eine zusaÈtzliche Sicherheit ist durch die zugelassene Maximaldosierung innerhalb von beispielsweise 2 oder 4 h moÈglich. Durch die Einstellung des oberen Grenzwertes ist der Anwender gezwungen, zu uÈberpruÈfen, warum der Patient die vorgewaÈhlte Grenze erreicht hat. Neben BolusgroÈûe und Lockout-Zeit kann auch eine zeitliche BolusgroÈûe und/oder eine kontinuierliche Basalinfusion vorprogrammiert werden. Hierdurch sollten beim Patienten keine laÈngeren Zeitintervalle ohne Analgetikagabe verstreichen. Die Frage der Basalinfusion wird jedoch

. Tabelle 16-8. Analgetikadosierungen bei PCA-

Schmerztherapie Opioid

Bolusmenge

Lockoutzeit [min]

Morphin Piritramid Buprenorphin

2 mg 2 mg 30 mg

15 15 30

kontrovers beurteilt, zumal einige Untersuchungen zeigen konnten, dass hierdurch die Anzahl der Bolusanforderungen nicht reduziert wird, sondern nur die Gesamtmenge des Opioids ansteigt und Nebenwirkungen haÈufiger sind. Die Basalinfusion wird deshalb nicht empfohlen, weil hierdurch das eigentliche Grundkonzept der PCA, ein Analgetikum nur auf Anforderung zu bekommen, wieder umgangen wird und das Opioid dann gegeben wird, wenn ein Bedarf dafuÈr nicht vorliegt. 16.10 Opioide »on demand« ohne PCA Um jedoch auch ohne On-demand-System in der postoperativen Phase eine auf die individuellen BeduÈrfnisse des Patienten abgestimmte Analgesie zu erreichen, ist es notwendig, nach der Narkose im Aufwachraum so lange zu warten, bis die ersten Schmerzsensationen angegeben werden. Anschlieûend erfolgt intravenoÈs unter Kontrolle die Applikation von einer Ampulle Piritramid auf 10 ml NaCl (1,5 mg q ml±1) in fraktionierten Dosen von 3±6±9 mg i.v. (. Abb. 16-10). Hierdurch ist schon innerhalb von wenigen Minuten zu beurteilen, ob eine ausreichende Analgesie erreicht worden ist oder ob eine Zweitinjektion erforderlich ist, oder ob Nebenwirkungen, insbesondere eine Atemdepression, bei Ûberdosierung aufgetreten sind, die dann sofort therapiert werden koÈnnen.

16

. Abb. 16-10. Vorgehen bei der postoperativen Titrierung von Schmerzen mit Piritramid (Dipidolor)

16.11  WuÈrzburger Schmerztropf bei postoperativen Schmerzen

! Liegen nach Opioidmedikation noch Schmerzen

vor, so ist eine Atemdepression nicht zu erwar-

ten. Einer der wirkungsvollsten »Antagonisten« der opioidbedingten Atemdepression ist der Schmerz.

Anschlieûend werden aufgrund der individuellen Reaktion auf diese erste Injektion 4 der Grad der Schmerzbefreiung objektiviert und die 4 vegetativen Parameter fuÈr Schmerzfreiheit wie ± Herzfrequenz, ± Blutdruck, ± Atemfrequenz und ± Schwitzen beurteilt. Danach wird der Patient aufgrund der individuellen ermittelten Dosis mit einer Dosierungsempfehlung, z. B. alle 5±6 h 15 mg Piritramid i. m., auf die Station entlassen, sodass eine angepasste, uÈberlappende Dosierung und damit auch dauerhafte Analgesie gewaÈhrleistet wird. Aus dem Algorithmus zur postoperativen Schmerztherapie mit Piritramid ergibt sich die Frage, ob sich zukuÈnftige moÈgliche BeduÈrfnisse schon aus dem Verhalten in der Aufwachstation ableiten lassen. Hierzu konnte in einer kontrollierten Studie eine kanadische Arbeitsgruppe den Nachweis erbringen, dass bei individueller und intravenoÈser Titrierung von Morphin bis zu einer visuell analogen Schmerzskalierung von VAS I 3,0, die im Aufwachraum ermittelte Dosis, alle 4 h intramuskulaÈr verabreicht, bei der Mehrzahl der Patienten eine suffiziente postoperative Schmerzbefreiung erreichen konnte [57]. ! Da ein individuelles OpioidbeduÈrfnis fuÈr jeden

einzelnen Patienten vorliegt, soll die erste Opioiddosis im Aufwachraum unter Kontrolle intravenoÈs erfolgen. Je nach Wirkung wird fuÈr die

Station eine Dosisempfehlung in festen ZeitabstaÈnden festgelegt.

Zusammenfassend sind fuÈr eine effektive und fruÈhe postoperative Schmerztherapie folgende Faktoren zu beruÈcksichtigen: 4 individuelle Dosierung; 4 moÈgliche Schmerzen und deren Therapie schon vor der Operation mit dem Patienten besprechen; 4 ausreichende Dosen eines wirkstarken Opioids einsetzen;

119

16

4 Kontrolle der Schmerztherapie, indem das Verabreichungsintervall und die Dosis den BeduÈrfnissen des Patienten angepasst werden; 4 regelmaÈûige QualitaÈtskontrolle der Schmerztherapie unter Einbeziehung der Nebenwirkungen. 16.11 WuÈrzburger Schmerztropf bei

postoperativen Schmerzen

Mit dem WuÈrzburger Schmerztropf wird das schwach wirkende Opioid Tramadol mit einem peripheren Analgetikum (Metamizol) und einem Neuroleptikum (Dehydrobenzperidol) fuÈr eine postoperative Analgesie eingesetzt. Hierbei macht man sich die nahezu fehlende atemdepressorische Komponente des Opioids zunutze, muss dabei jedoch gleichzeitig die oft zu geringe analgetische Wirkung mit einem zusaÈtzlichen peripheren Analgetikum, z. B. Metamizol, potenzieren. Tramadol wird dabei in einem festen MischungsverhaÈltnis mit Metamizol verabreicht. ZusaÈtzlich ist der Mischung das Neuroleptikum Dehydrobenzperidol beigefuÈgt, welches die Aufgabe uÈbernimmt, die nach hohen Dosen von Tramadol auftretende Ûbelkeit und Emesis zu unterdruÈcken. Zusammensetzung des WuÈrzburger Schmerztropfs in 500 ml InfusionsloÈsung 4 400 mg Tramadol 4 5,0 g Metamizol 4 2,5 mg Dehydrobenzperidol

Weil der Vertrieb von Dehydrobenzperidol zwischenzeitig von der Firma Jannsen/Cilag eingestellt wurde, kann alternativ ein anderes weniger potentes PraÈparat aus der Gruppe der Neuroleptika, wie z. B. Triflupromazin (Psyquil) eingesetzt werden Nach einer initialen Bolusgabe von 100 ml in 30 min sollen kontinuierlich 2 ml q h±1 (8 gtt q min±1) uÈber einen Perfusor gegeben werden [58]. Die Dosis von Tramadol betraÈgt hierbei 16 mg q h±1, die von Metamizol 200 mg q h±1. Es muss jedoch bei dieser festen Mischung auch an die Kontraindikationen und moÈglichen UnvertraÈglichkeitserscheinungen der einzelnen Medikamente gedacht werden. Die Zuordnung von Nebenwirkungen bei der groûen Anzahl an Einzelsubstanzen in einem festen MischungsverhaÈltnis ist schwierig bis unmoÈglich. So muss der beschriebene Wirkungseffekt den Risiken, die eine solche Dreierkombination einschlieût, gegen-

120

Kapitel 16  Postoperativer Einsatz von Opioiden

uÈbergestellt werden. Auch ist zu erwaÈgen, ob die technischen und organisatorischen Gegebenheiten einer Allgemeinstation ausreichen, diese Methode fuÈr eine chirurgische Normalstation zu empfehlen. Insbesondere muss beruÈcksichtigt werden, dass man sich bei schweren Schmerzen den Weg fuÈr eine suffiziente Analgesie mit einem staÈrker wirkenden Analgetikum versperrt. Sollten unter einer solchen Kombination die Schmerzen weiterhin sistieren, kann theoretisch ein staÈrker wirkendes Opioid zusaÈtzlich gegeben werden. Jedoch befinden sich dann 4 verschiedene Pharmaka im Organismus, die nicht vorhersehbare Interaktionen und Nebenwirkungen mit sich bringen koÈnnen. FuÈr die postoperative Schmerztherapie ist deshalb eine Monotherapie anzustreben. Obgleich ein optimales Opioid fuÈr die postoperative Schmerztherapie noch nicht gefunden wurde, so ist doch unter BeruÈcksichtigung aller Daten dem Piritramid und dem Morphin eine zentrale Stellung einzuraÈumen (. Tabelle 16-9).

. Tabelle 16-9. Zusammenfassung der Eigenschaften von Piritramid im Rahmen der postoperativen Schmerztherapie

Bemerkenswerte KreislaufstabilitaÈt im Gegensatz zu 5 Pentazocin (Kreislaufstimulierung), 5 Pethidin (Myokarddepression, Tachykardie), 5 Morphin (Vasodilatation). Keine dysphorischen Nebenwirkungen wie bei 5 Pantazocin, 5 Butorphanol. Eine lange Wirkungsdauer zwischen 5 und 6 h. 5 Bei Pentazocin zwischen 3 und 4 h, 5 bei Pethidin zwischen 2 und 3 h, 5 bei Morphin zwischen 4 und 5 h. Keine allergischen Reaktionen wie bei 5 Pethidin, 5 Morphin.

16

Niedrige Inzidenz (5 %) an Nausea und Emesis. 5 Bei Tramdol bis zu 90 %, 5 bei Pethidin bis zu 10 %, 5 bei Morphin bis zu 8 %. GuÈnstige Kosten-Nutzen-Relation im Gegensatz zu 5 Nalbuphin, 5 Buprenorphin.

16.12 Postoperative Schmerztherapie mit

dem iontophoretischen Fentanylpflaster (Ionsys)

Die patientenkontrollierten, intravenoÈsen und epiduralen Verfahren zur postoperativen Schmerztherapie haben eindeutig zu einer Verbesserung in der Therapie postoperativer Schmerzen gefuÈhrt. Jedoch wird der akute postoperative Schmerz immer noch unterbehandelt [59]. Zwar stellt die intravenoÈse, patientenkontrollierte Analgesie (PCA) das Standardverfahren in der Therapie postoperativer Schmerzen dar. Dies setzt aber voraus, dass der Patient an eine durch das medizinische Personal vorprogrammierte Pumpe uÈber einen intravenoÈsen Zugang angeschlossen wird. Hieraus resultiert eine invasive Vorgehensweise, die die MobilitaÈt merklich beeintraÈchtigt. Eine innovative, nadelfreie und patientenkontrollierte MoÈglichkeit zur Applikation von Fentanylhydrochlorid bietet das iontophoretische Verfahren mit Fentanyl iPATS (ˆ iontophoretisches patientenaktiviertes transdermales System; . Abb. 16-11). Es hat fu È r die postoperative Schmerztherapie jetzt Marktreife erlangt und besteht aus einem kompakten, in sich geschlossenen, selbstregulierenden System, das am Oberam oder der oberen ThoraxhaÈlfte aufgeklebt wird (. Abb. 16-12b). Hierbei erfolgt die Schmerzlinderung aÈhnlich der standardisierten intravenoÈsen PCA-Morphintherapie, indem jedoch ein Pharmakon mit einer Kinetik aÈhnlich der einer intravenoÈsen Fantanylinfusion verwendet wird. Das patientenaktivierte, transdermale iontophoretische System (Ionsys,) stellt hierbei eine effektive, nichtinvasive Alternative zu den anderen PCA-ModalitaÈten dar. Unter Verwendung der von der Fa. Alza Corp. (Mountain View, Californien/USA) entwickelten iontophoretischen E-Trans-Technologie kann mit Hilfe eines externen elektrischen Stromflusses das Opioid in seiner ionisierten Form transdermal in die Blutbahn eingeschleust werden. WaÈhrend sich die positiv geladenen Medikamentenionen am Pluspol (Anode) konzentrieren, werden sie vom Minuspol (Kathode) angezogen. Negativ geladene Ionen wandern von der Kathode in Richtung Anode. Erst durch diese Wanderbewegung kann ein Strom flieûen, der das Opioid von der HautoberflaÈche in die tieferen Kutisschichten bis zu den Kapillaren schleust, wo es vom systemischen Blutkreislauf aufgenommen wird und nach Passage der Blut-Hirn-Schranke zu den Opioidbindestellen im ZNS gelangt (. Abb.16-12a).

16.12  Postoperative Schmerztherapie mit dem iontophoretischen Fentanylpflaster

121

16

Oberes Gehäuse Dosiertaste Rotes Licht (lichtemittierende Diode LED)

Klebefläche Elektronischer Schaltkreis (intern) Durchsichtige Kunststoffschuzeinlage Hydrogel Anode (Fentanyl HCL) Hydrogel Kathode (kein Wirkstoff )

. Abb. 16-11. Aufsicht und Patientenseite von Ionsys (Fentanyl iontrophoretisches System), wobei mit Hilfe von elektrischem Gleichstrom das Opioid Fentanyl durch die Haut zu den Kapillaren eingeschleust wird

SchweiûdruÈsen und Haarfollikel auf der Haut fuÈhren zu einem Wasserfilm, der nach Anlegen einer niedrigen Gleichspannung den Transfer fuÈr wasserloÈsliche Pharmaka erleichtert. Weil jedoch der Opioidfluss meistens zu gering ist, wird durch Einsatz von zusaÈtzlichen pulsatilen Spannungsspitzen (i 50 Volt) eine Elektroporation (Aufreiûen des oberen Stratum corneum) erreicht. Hierdurch ist die anschlieûende Niedrigspannung in der Lage, das Pharmakon besser in die tiefere Hautschicht einzuschleusen. Im Vergleich zur standardisierten intravenoÈsen PCA bietet das patientenaktivierte transdermale iontophoretische Pflaster (Ionsys) folgende Vorteile: 4 Es ist nadelfrei; ein intravenoÈser Zugang wird nicht benoÈtigt. 4 Es erfolgt eine patientenadaptierte Wirkstoffabgabe.

4 Beim Patienten liegt keine EinschraÈnkung in der MobilitaÈt vor. 4 Eine moÈgliche Fehlerrate bei der Wirkstoffabgabe wird ausgeschlossen. 4 Das elektrische Pflaster ist klein dimensioniert von ScheckkartengroÈûe und fuÈr den Patienten nicht hinderlich. 4 Aufgrund der Verwendung von Fentanyl erfolgt ein schneller Wirkungsanschlag. 4 Der Patient kann die Dosis titriert dem individuellen Schmerzniveau anpassen. 4 Es erfolgt eine Umgehung des First-pass-Effektes der Leber. 4 Fentanyl hat eine mittlere Wirkungsdauer (Eliminationshalbwertszeit 2±5 h), sodass es besonders zur postoperativen On-demandAnalgesie geeignet erscheint.

122

Kapitel 16  Postoperativer Einsatz von Opioiden

Anode (Arzneireservoir)

Kathode

. Abb. 16±12a, b. Iontopho-

retisches Wirkungsprinzip mit Einschleusen des Opioids Fentanyl in die tieferen Kutisschichten. a Schematische Darstellung. b In-situ-Applikation des patientenaktivierten Inosys auf der intakten Oberarmhaut

Epidermis Dermis Fentanyl

Blutgefäße

schleife mit einer StromstaÈrke von 170 mA, die jedoch nicht wahrgenommen wird (. Abb. 16-12). Pro Dosierungsintervall wird eine vorprogrammierte Dosis von 40 mg Fentanyl uÈber einen Zeitraum von 10 min uÈber die Haut in den Kreislauf abgegeben [61]. Innerhalb 1 h kann vom Patienten maximal 6-mal die vorprogrammierte Dosis abgerufen werden, was einer Gesamtmenge von 240 mg/h Fentanyl entspricht [62, 63]. In mehreren Studien konnte nicht nur die PraktikabilitaÈt des Systems unter Beweis gestellt werden [64±66]. Vielmehr war die EffektivitaÈt einer guten bis exzellenten Schmerztherapie mit 74 % zu 77 % und die Nebenwirkungsrate im Vergleich zur standardisierten PCA mit Morphin nicht signifikant erhoÈht (. Tabelle 16-10). Insbebesondere wurde eine Atemdepression bei Fentanyl (iPATS) in keinem der FaÈlle registriert (PCA mit Morphin: 1 Fall). Als weitere Nebenwirkung traten beim Pflaster, wie erwartet, lokale RoÈtungen der Haut am Ort der Applikation auf. Diese Nebenwirkung hatte eine Inzidenz von 54 % aller FaÈlle und sistierte nach Entfernung des Pflasters. . Tabelle 16-10. Nebenwirkungsrate im Rahmen

16

4 Der Wirkstoff Fentanyl hat keine aktiven Metboliten, sodass eine Akkumulation ausgeschlossen ist. 4 Der Wirkstoff hat keinen analgetischen Ceilingeffekt. Die beim Inosys induzierte Wirkstoffabgabe aus dem transdermalen Pflaster basiert auf dem Prinzip der Iontophorese. Eine eingebaute Batterie liefert den Gleichstrom, wobei uÈber Knopfdruck der Stromfluss aktiviert wird. Die AnodenoberflaÈche ist hierbei positiv geladen und bewirkt, dass die ebenfalls positiv geladenen OpioidmolekuÈle abgestoûen und aus dem System in die Haut transportiert werden [60]. Hierbei entsteht zwischen transdermalem System und Patienten eine Strom-

einer Multicenterstudie bei i 600 Patienten zur postoperativen EffektivitaÈt und Sicherheit von iontophoretischem Fentanylhydrochlorid transdermal gegenuÈber intravenoÈser PCA mit Morphinhydrochlorid. (Nach [65]) Nebenwirkung [%]

Fentanyl iPATS (n ˆ 316)

Morphin PCA (n ˆ 320)

Nausea Pruritus Kopfschmerz Erbrechen Fieber Obstipation Hypoxie Schwindel

40,8 8,2 11,4 9,8 3,5 3,8 3,8 1,9

45,9 12,5 7,5 8,4 4,1 2,2 2,2 3,8

123

16.13  Patientenkontrollierte intranasale Analgesie (PCINA)

16.13 Patientenkontrollierte intranasale

Analgesie (PCINA)

WaÈhrend mit dem transmembranoÈs-bukkalen Fentanyl die Mundschleimhaut als Aufnahmeorgan fuÈr ein Opioid erfolgreich eingesetzt wird [67], so laÈsst sich aufgrund der guten Durchblutung ein Opiod auch uÈber die Nasenschleimhaut rasch aufnehmen. Gleichzeitig wird der First-pass-Effekt uÈber die Leber umgangen, es fehlt die Metabolisierung in der Intestinalmukosa mit einem daraus resultierenden fehlenden Abbau uÈber gastrointestinale Enzyme [68], und es kann eine schnelle und gute Wirkung bei ausreichend hohen Konzentrationen im Plasma erreicht werden. Insbesondere wird jedoch diskutiert, dass mit der nasalen Opioidgabe die Blut-Hirn-Schranke umgangen werden kann [69] und das Analgetikum deshalb direkter an die spezifischen Rezeptoren im ZNS ankoppelt (. Abb. 16-13). Hieraus ergeben sich geringere Dosen bis zum Erreichen einer gewuÈnschten analgetischen Wirkung und geringere systemische Nebenwirkungen [70]. Denn gegenuÈber der oralen, der subkutanen oder der intramuskulaÈren Verabreichung besteht

Lamina cribriformis

eine raschere Aufnahme in den systemischen Kreislauf. Realisiert wurde diese Form der Opioidmedikation schon mit dem Butorphanolnasenspray (Butorphanol NS), das erfolgreich als postoperatives Analgetikum und zur Therapie von MigraÈneschmerzen eingesetzt wurde [23, 26, 71]. Schon bei diesem gemischtwirkenden Agonisten/Antagonisten zeigte sich, dass gegenuÈber dem intravenoÈsen Weg die BioverfuÈgbarkeit bis zu 70 % betraÈgt, die Wirkung innerhalb von 15 min einsetzt und maximale Konzentrationen im Plasma nach 60±120 min erreicht werden. Es lag nahe, diese Form der Opioidapplikation auch auf andere hochlipophile Analgetika in der Therapie des postoperativen Schmerzes zu uÈbertragen, zumal als »Standard« der postoperativen Schmerztherapie die intravenoÈse patientenkontrollierte Analgesie (PCA) eingesetzt wird. Weil hierfuÈr jedoch ein intravenoÈser Zugangsweg Voraussetzung ist, der am 2. oder 3. postoperativen Tag nicht mehr vorliegt, und die intravenoÈse PCA bei einigen Patienten Injektionsschmerzen ausloÈst [72], muÈssen alternative Methoden herangezogen werden.

Bulbus olfactorius

N. olfactorius

tractus olfactorius

N. trigeminus

N. maxillaris

16

Nasenschleimhautepithel

. Abb. 16-13. Querschnitt durch den Nasopharynx mit Darstellung der neuronalen, nichtinvasiven direkten Verbindung zwischen den Epithelzellen der Nasenmuscheln uÈber den N. olfactorius zu den basalen Anteilen des ZNS

124

Kapitel 16  Postoperativer Einsatz von Opioiden

Es wurde deshalb Fentanyl, das sich im Vergleich zu Morphin durch eine sehr hohe Lipophilie auszeichnet, in Form der intranasalen Applikationsform zur Therapie postoperativer Schmerzen eingesetzt. In einer klinischen Untersuchung konnte durch die intranasale Fentanylanwendung eine der intravenoÈsen Fentanylgabe vergleichbare Schmerzbefreiung erreicht werden [73]. Bei jedem SpruÈhstoû konnten 27 mg Fentanyl in einer 0,9 %-NaCl-LoÈsung vom Patienten angefordert werden, bei noch ungenuÈgender Analgesie konnte im Abstand von 5 min ein erneuter SpruÈhstoû wiederholt werden. FuÈr das transnasale Fentanyl lag eine BioverfuÈgbarkeit von 76,6 % gegenuÈber der intravenoÈsen Applikation vor. Maximale Konzentrationen konnten im Plasma nach 10 min ± gegenuÈber 5 min nach der intravenoÈsen Gabe ± bei einer vergleichbar guten Schmerzbefreiung erreicht werden. Eine aÈhnlich gute BioverfuÈgbarkeit im Rahmen der intranasalen Anwendung ist auch fuÈr andere lipophile Analgetika wie Sufentanil [74, 75], Pethidin [76] und Alfentanil [77, 78] demonstriert worden. Insbesondere wurde nach Alfentanil und Pethidin ein im Vergleich zur intravenoÈsen Gabe aÈhnlich schneller Wirkungsanschlag in der postoperativen Schmerzbefreiung dokumentiert [76], sodass die intranasale Anwendung dieser Opioide bei Patienten mit Durchbruchschmerzen eine interessante Alternative darstellt [79]. Ob jedoch die sedative Wirkung von intranasal applizierten Substanzen wie Ketamin und Midazolam fuÈr Zahnsanierungen bei unkooperativen Kindern langfristig als erfolgversprechend genutzt werden kann, muÈssen erst weitere Studien zeigen [74]. Die patientenkontrollierte intranasale Analgesie (PCINA) hat sich besonders gegenuÈber der uÈblichen postoperativen Schmerztherapie im Stationsbereich als uÈberlegen erwiesen [80] und stellt deshalb eine weitere Alternative in der Therapieoptimierung postoperativer SchmerzzustaÈnde dar.

16

17 Opioide in der Langzeittherapie chronischer Schmerzen 17.1

GrundsaÈtzliches zum Vorgehen bei chronischen Schmerzen ± 125

17.1.1

Allgemeine Therapiekonzepte bei chronischen Schmerzen ± 127 FahrtuÈchtigkeit unter Opioidmedikation ± 129

17.1.2

17.2

Dosierung ± 129

17.2.1

Einsatz von Opioiden bei Tumorschmerzen ± 129 Koanalgetika bei chronischen Schmerzen ± 132

17.2.2

17.6

Besonderheiten von Oxycodon, Oxycodon/Naloxon und Hydromorphon ± 145

17.6.1

Kombination von Oxycodon mit dem Antagonisten Naloxon ± 150

17.7

Therapie von Durchbruchschmerzen

17.7.1 17.7.2

Schnellfreisetzendes Oxycodon ± 153 Orales transmukosales therapeutisches System (o-TTS) ± 154 Einsatz von oral-transmukosalem Fentanyl (o-TTS) im Rahmen der Narkoseeinleitung ± 157 Neue MoÈglichkeiten zur Therapie von Durchbruchschmerzen ± die Morphinbrausetablette ± 158 Fentanyl-Buccaltablette (Effentora) zur Therapie von Durchbruchsschmerzen ± 159 Fentanylsublingualtablette ± 160 Intrapulmonale Verabreichung von Opioiden ± 160

17.7.3

17.3

Buprenorphin ± Opioid bei chronischen Schmerzen mit besonderer Rezeptorkinetik ± 135

17.4

Nebenwirkungen der langfristigen Schmerztherapie mit Opioiden ± 139

17.7.5

17.4.1 17.4.2

17.7.6 17.7.7

17.4.3 17.4.4 17.4.5

Atemdepression ± 139 Sucht- und AbhaÈngigkeitsentwicklung ± 140 Toleranzentwicklung ± 140 Obstipation, Nausea und Erbrechen Sonstige Nebenwirkungen ± 143

17.5

Opioidwechsel (Opioidrotation) ± 143

17.5.1

Opioidrotation von Morphin auf Buprenorphin oder Levomethadon

17.1

± 142

± 144

GrundsaÈtzliches zum Vorgehen bei chronischen Schmerzen

Bei der Therapie chronischer Schmerzen ist dann ein wirkstarkes Opioid zu geben, wenn im Rahmen der Stufentherapie (. Abb. 17-1) eine ausreichende Schmerzbefreiung mit einem peripheren Analgetikum nicht zu erreichen ist. Jedoch ist auch hierbei die MoÈglichkeit in Betracht zu ziehen, bei Patienten mit Tumorschmerzen und Patienten mit intensiver Schmerzsymptomatik sofort ein Opioid der Stufe 3 (. Tabelle 17-1) einzusetzen, insbesondere dann, wenn aufgrund der SchmerzintensitaÈt, der Ausdehnung und der Progression der Erkrankung von vornherein feststeht, dass peripher wirkende Analgetika und/oder schwach wirkende Opioide nicht ausreichen.

17.7.4

± 152

17.8

Spezielle Verfahren bei Schmerzen im Gesichtsbereich ± ganglionaÈre lokale Opioidanalgesie (GLOA) ± 164

17.9

Opioide bei Schmerzen nichtmaligner Ursache ± 166

Denn ginge man bei solchen Patienten nach dem Stufenschema vor, wird unnoÈtig Zeit bis zum Erreichen einer ausreichenden Schmerztherapie verschenkt, in der die Patienten unnoÈtig leiden muÈssen. ! Wie bei allen Therapien mit Opioiden ist eine

starre Dosierung beim chronischen Schmerz abzulehnen; die Dosis orientiert sich am individuellen Bedarf bis zur Schmerzfreiheit.

Besonders ist jedoch bei der Therapie chronischer Schmerzen eine anhaltende Analgesie durch gleichbleibende Besetzung der Opioidrezeptoren zu erzielen, ein Prinzip, das nur durch eine zeitlich konstante Dosierung erreicht wird. Bei der Verabreichung von Opioiden muss besonders beruÈck-

126

Kapitel 17  Opioide in der Langzeittherapie chronischer Schmerzen

stark-wirksame Opioide Oxycodon/Naloxon Hydromorphon Oxycodon Morphin Nichtopioidanalgetika

schwach-wirksame Opioide

Buprenorphin

Codein

Fentanyl

Tilidin/Naloxon

etc.

NSAR / Cox-2 Paracetamol Tramadol Metamizol etc. Flupirtin / Tolperison

WHO-III

WHO-II

etc.

WHO-I Ko-Therapeutika nichtmedikamentöse Maßnahmen . Abb. 17-1. Prinzip der

schwache Schmerzen (VAS ≤ 30)

mittlere Schmerzen (VAS = 30-70)

sichtigt werden: Die Gruppe der Agonisten (z. B Oxycodon, Hydromorphon, Morphin, Fentanyl) ist streng von der Gruppe der Agonisten/Antagonisten (Nalbuphin, Pentazocin, Butorphanol) zu trennen. ! Cave. Bei der medikamentoÈsen Therapie mit

Opioiden duÈrfen reine Agonisten und gemischtwirkende Agonisten/Antagonisten nicht abwechselnd verabreicht oder sogar gemischt werden.

17

Øhnlich wie bei der postoperativen Schmerztherapie liegt die ErklaÈrung darin begruÈndet, dass die schmerzstillende Wirkung beider Gruppen von Opioiden uÈber verschiedene Rezeptorgruppen vermittelt wird und gemischtwirkende Agonisten/Antagonisten die analgetische. Wirkung der reinen Agonisten aufheben koÈnnen [1]. Eine Ausnahme bildet hier der partielle m-Agonist Buprenorphin. Wegen der bei therapeutischen Dosierungen geringen Anzahl von besetzten Rezeptoren kann problemlos auf ein anderes Opioid gewechselt oder mit diesem kombiniert werden (Rezeptorreserve).

starke Schmerzen (VAS ≥ 70)

Stufentherapie beim chronischen Schmerz

. Tabelle 17-1. Der Stufenplan der WHO

zur medikamentoÈsen Schmerztherapie in der Behandlung nicht nur tumorbedingter chronischer Schmerzen

Stufe I Paracetamol, AcetylsalicylsaÈure oder Metamizol bis zu 4 g/Tag ± Bei ungenuÈgender Schmerzlinderung zusaÈtzlich ein Antidepressivum und/oder Antiepileptikum und/oderUmsetzen auf Diclofenac/Ibuprofen Retard 150/800 mg bzw. Indometacin 200 mg oder Naproxen 500 mg

Stufe II Bei unzureichender Schmerzlinderung zusaÈtzlich ein Antidepressivum/Antiepileptikum und ± Codein bzw. Tramadol 30±50 mg alle 4±6 h oder besser ± Dihydrocodein Retard (DHC) Mundipharma 60/90/120 mg alle 8±12 h ± Dextropropoxyphen (Develin Retard) alle 6±8 h ± Tilidin/Naloxon 50±100±150±200 mg alle 8±12 h ± Niedrigdosis Buprenorphinpflaster 5±10±20 mg/h alle 7 Tage ± Oxycodon-Retardtablette 5 mg alle 12 h

17.1  GrundsaÈtzliches zum Vorgehen bei chronischen Schmerzen

. Tabelle 17-1. Fortsetzung

Stufe III Ist die vorrangegangene Therapie ohne Wirkung: ± Fortsetzung mit peripheren Analgetika und einem Antidepressivum/Antikonvulsivum ± Ersatz von Codein/Tramadol durch Morphin. Dosistitration mit schnellfreisetzendem Morphin (Sevredol-Tbl, MorphinloÈsung oder MSR-ZaÈpfchen) z. B. 5±10 mg alle 4 h bis zur analgetisch effektiven Dosis oder ± Buprenorphin sublingual 1± 2 Tabletten alle 6±8 h

4

Danach Umstellung auf:

4

± ± ± ± ± ± ± ± ±

Orale Morphin-Retardtabletten (MST Mundipharma 10/30/60/100/200 mg) alle 8±12 h oder Fentanyl TTS-Plaster 12/25/50/100 mg/h alle 3 Tage oder MST-Continus-Kapseln (30/60/100/200 mg) alle 12 h oder Capros-Retardkapseln (10/30/60/100) alle 8±12 h oder Buprenorphin-TTS-Pflaster 35/52.5/70 mg/h mit 2 festen Wechseltagen pro Woche Levomethadon 5±10 mg alle 6±8 h oder Oxycodon-Retardtablette (10/20/40/80/160 mg) alle 12 h oder Hydromorphon-Retardtablette 8/16/32/64 mg alle 24 h oder Oxycodon/Naloxon-Retardtablette 10/5 mg bzw. 20/10 mg alle 12 h

17.1.1 Allgemeine Therapiekonzepte bei

chronischen Schmerzen

Akute und chronische Schmerzen erfordern unterschiedliche Therapiekonzepte. Wesentliche Voraussetzung fuÈr den Erfolg einer Schmerztherapie ist die Motivation des Patienten zu Mitwirkung und Mitverantwortung. 4 Der Patient hat ein uneingeschraÈnktes Recht auf eine Schmerzbehandlung; dabei ist der Arzt zu Sorgfalt und AusschoÈpfung des verfuÈgbaren Wissens uÈber die Schmerztherapie verpflichtet. 4 Chronische Schmerzen muÈssen als eigenstaÈndige Krankheit angesehen werden, da sie koÈrperlich und seelisch destruierend wirken. Jeder unzureichend behandelte Schmerzzustand birgt die Gefahr der weiteren Verschlimmerung und Chronifizierung. 4 Alle MoÈglichkeiten, eine Chronifizierung zu verhindern (z. B. durch Nerven- und Sympathikusblockaden, Vermeiden einer Immobilisation), muÈssen ausgeschoÈpft werden. 4 Bei der Schmerztherapie sollen AnsaÈtze auf verschiedenen Wirkungsebenen kombiniert

4

4

4

4

4

4

4

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17

werden, um eine zusaÈtzliche Wirkungssteigerung zu erreichen. Dazu gehoÈren: die Anleitung zu aktiven BewegungsuÈbungen, Entspannungstherapie und SchmerzbewaÈltigung, ferner physikalische Therapie, RegionalanaÈsthesie und medikamentoÈse Therapie. Eine Schmerztherapie soll in einer Erprobungsphase konsequent auf ihre Wirksamkeit gepruÈft werden. Die Bewertung des Therapieerfolges muss sich auch auf die Angaben des Patienten stuÈtzen, z. B. SchmerztagebuÈcher. Die Motivation des Patienten zu Mitwirkung und Mitverantwortung muss gefoÈrdert werden. Dazu sind AufklaÈrung und Wissensvermittlung durch den Arzt notwendig. Wissensvermittlung an die Patienten und Unterweisung in Entspannungsverfahren koÈnnen in Gruppen, aÈhnlich der Diabetikerschulung, organisiert werden. Vorteile: bessere Motivation des Patienten, Nutzung der Gruppendynamik, ZeitoÈkonomie. Die Schmerzanamnese soll in standardisierter Form erfolgen und Angaben uÈber Ort, StaÈrke, Charakter und Begleiterscheinungen der Schmerzen sowie uÈber die schmerzbedingte BeeintraÈchtigung von Befinden und Lebensvollzug einschlieûen. Die Behandlungsstrategien und -ziele sollen gemeinsam mit dem Patienten individuell aufgestellt und, in AbhaÈngigkeit von Behandlungsergebnissen, noÈtigenfalls revidiert werden. Der Therapieerfolg muss durch eine regelmaÈûige Dokumentation der Schmerzen, auch anhand eines vom Patienten gefuÈhrten Schmerztagebuchs, gepruÈft werden. Bei der medikamentoÈsen Schmerztherapie soll eine von dem Patienten selbst applizierbare Medikation bevorzugt werden. Dadurch werden SelbststaÈndigkeit und Eigenverantwortlichkeit des Patienten gestaÈrkt. Bei akut einsetzenden Schmerzen bzw. akut exazerbierenden chronischen Schmerzen soll ein PraÈparat mit schnellem Wirkungseintritt gewaÈhlt werden. Bei Dauerschmerzen duÈrfen die Medikamente nicht erst bei Bedarf gegeben werden, sondern muÈssen nach einem Zeitschema eingenommen werden, um ein staÈndig niedriges Schmerzniveau zu gewaÈhrleisten und die Schwankungen der Medikamentenkonzentration gering zu halten. Bei Dauerschmerzen sollten PraÈparate mit langer Wirkungsdauer bevorzugt werden. Bei langsamer Elimination muss eine Kumulation der Substanz im Plasma vermieden werden.

128

17

Kapitel 17  Opioide in der Langzeittherapie chronischer Schmerzen

4 Medikamente zur Schmerztherapie muÈssen in ausreichend hoher Dosierung angewendet werden; die Dosis ist individuell zu ermitteln. Eine Unterdosierung fuÈhrt zu haÈufigen Schmerzrezidiven und kann ein falsches Einnahmeverhalten zur Folge haben. Dadurch werden die Patienten durch temporaÈre Schmerzen und verstaÈrkte Nebenwirkungen unnoÈtig belastet. 4 Bei ungenuÈgender Wirksamkeit trotz gesteigerter Dosierung muû ein anderes Medikament gewaÈhlt werden. Dabei sollte man moÈglichst nach einem bewaÈhrten Therapieplan (z. B. Stufenschema der Weltgesundheitsorganisation) vorgehen. 4 Analgetika mit unterschiedlichen Wirkungsmechanismen (z. B. zentral und peripher wirksame Substanzen) koÈnnen kombiniert werden, um die Wirksamkeit zu steigern. Analgetika mit gleichem Wirkungsmechanismus, z. B. Opioide, sollten nicht kombiniert werden. Fixe KombinationspraÈparate sollten moÈglichst vermieden werden. 4 Bei besonderen Schmerzen und/oder Begleiterscheinungen koÈnnen zusaÈtzlich zu ± oder anstelle von ± Analgetika auch »adjuvante« Medikamente indiziert sein, die zusaÈtzliche schmerzdaÈmpfende Mechanismen aktivieren (z. B. Antidepressiva oder Antikonvulsiva bei Nervenschmerzen). Die Einsparung von Analgetika sollte dabei aber nicht das primaÈre Ziel sein. 4 Bei jeder Schmerztherapie muû das NutzenRisiko-VerhaÈltnis beruÈcksichtigt werden. Der individuelle Nutzen ergibt sich aus dem Gewinn an LebensqualitaÈt. Die Patienten sollten nicht wegen moÈglicher Nebenwirkungen verunsichert, sondern im Hinblick auf den Nutzen bestaÈrkt werden. 4 Zu erwartende Nebenwirkungen einer Schmerztherapie muÈssen von Beginn an behandelt werden. So sind z. B. Laxanzien und Antiemetika bei der Behandlung mit Opioiden indiziert. 4 Die Patienten muÈssen zur richtigen Anwendung der Medikamente und zu anderen Therapieformen angeleitet werden. Dabei sollen gedruckte laienverstaÈndliche Informationen uÈber Schmerz und Schmerztherapie eingesetzt werden. Beipackzettel von Medikamenten erfuÈllen diesen Zweck nicht. 4 Vorurteile und Øngste gegenuÈber der Schmerztherapie muÈssen uÈberwunden werden, da sie den Erfolg meistens am staÈrksten behindern.

4 In ProblemfaÈllen soll Kontakt mit einem aÈrztlichen und/oder psychologischen Schmerztherapeuten aufgenommen werden. Nach MoÈglichkeit sollen die Patienten auf einer interdisziplinaÈren Schmerzkonferenz vorgestellt werden. Wenn eine orale Therapie nicht mehr moÈglich ist oder nicht mehr ausreicht, kann auf eine invasive Therapie, z. B. mit Hydromorphon (Palladon injekt), umgestellt werden. Eine Dauertherapie mit Palladon injekt kann auch uÈber Pumpen und Ports erfolgen. Die hohe Wirkpotenz ermoÈglicht die Gabe von geringen Mengen. Bei schweren Tumorschmerzen, die mit anderen Methoden nicht zu beherrschen sind, empfehlen einige Autoren eine Morphin-HaloperidolMischung in 4-stuÈndlichen AbstaÈnden, wobei Einzeldosen von 10±40 mg Morphin mit 0,25 mg Haloperidol in destilliertem Wasser auf 5 ml aufgefuÈllt werden. Als letzter Schritt in der Therapie bietet sich noch die MoÈglichkeit der periduralen Analgesie mit Opioiden an. Hierdurch ist eine regionale SchmerzbekaÈmpfung uÈber die im RuÈckenmark lokalisierten Opioidrezeptoren gegeben, wodurch Nebenwirkungen, wie sie bei systemisch verabreichten Opioiden oÈfter zu verzeichnen sind, seltener beobachtet werden. Es wird in 12- bis 15-stuÈndlichen AbstaÈnden entweder Morphin 3±5 mg oder Buprenorphin 0,15±0,3 mg, geloÈst in 10±20 ml KochsalzloÈsung als »singleshot« peridural injiziert, oder es wird eine kontinuierliche peridurale Dauergabe uÈber eine Pumpe (0,2 mg q h±1 Morphin, 0,018 mg q h±1 Buprenorphin) nach anfaÈnglicher Bolusgabe durchgefuÈhrt. Bei neuropathischen Schmerzen und ausgepraÈgten belastungsabhaÈngigen Schmerzen ist die ruÈckenmarknahe Opioidapplikation haÈufig unzureichend. In solchen FaÈllen kann die Kombination mit einem LokalanaÈsthetikum, dem a2-Agonisten Clonidin (20 mg/h), oder mit Ketamin (0,1±0,5 mg/kg KG/Tag) die Schmerzkontrolle deutlich verbessern. FuÈr die Umstellung von einer oralen auf eine intrathekale Opioidgabe wird am 1. Tage mit der spinalen Opioidapplikation von 1/50 der letzten oralen Tagesdosis begonnen, waÈhrend gleichzeitig die orale Dosis um 50 % reduziert wird. Hierbei sollen 25 % der rechnerisch ermittelten Dosis initial verabreicht werden, waÈhrend die restliche Menge uÈber den Tag intrathekal infundiert wird. Eine orale Rescumedikation von ca. 5 % der aktuellen Gesamtmenge des Opioids steht fuÈr evtl. durchbrechende Schmerzspitzen zur VerfuÈgung.

129

17.2  Dosierung

Erste experimentelle Ergebnisse weisen in Kombination mit einem neuroaxialen Opioid auf eine zusaÈtzliche schmerzmodulierende Wirkung von Adenosin am Adenosin-A1-Rezeptor sowie von Neostigmin durch eine Zunahme der intrathekalen Acetylcholinkonzentration hin. FuÈr die praktische Schmerztherapie bestehen hierfuÈr noch keine Empfehlungen. 17.1.2 FahrtuÈchtigkeit unter

Opioidmedikation

Opioide koÈnnen u. a. in unterschiedlichem Maûe, neben einer regelmaÈûig auftretenden Obstipation, MuÈdigkeit, Benommenheit, Schwindel und sogar Halluzination ausloÈsen. Diese Nebenwirkungen treten meist bei Dosisanpassungen auf. Hier ist die Frage einer FahrtuÈchtigkeit generell negativ zu beantworten. Bei stabiler Opioidtherapie unterliegen diese Nebenwirkungen einer Toleranz und koÈnnen ganz verschwinden. In jedem Fall muss der Patient vom behandelnden Arzt aufgeklaÈrt werden, dass er sich immer einer kritischen SelbstpruÈfung unterziehen muss, bevor er ein Fahrzeug lenkt. Mehrere Studien konnten zeigen, dass einzelne Patienten eine zur medikamentenfreien Vergleichsgruppe sogar bessere ReaktionsfaÈhigkeit im Fahrsimulator hatten [91]. Aus diesen Ergebnissen kann der Schluss gezogen werden, dass eine Opioidmedikation nicht zwangslaÈufig zu einer EinschraÈnkung der LeistungsfaÈhigkeit bei komplexen sensomotorischen Handlungen, wie der aktiven Teilnahme am Straûenverkehr, kommen muss. Wegen der groûen interindividuellen Streuung der erhobenen Daten und der groûen Varitionsbreite bei Patienten unter Opioidmedikation ist ein genereller Entzug der Fahrerlaubnis nicht gerechtfertigt. Es wird deshalb empfohlen, dass die FahrtuÈchtigkeit bei Patienten unter Opioidmedikation fuÈr den jeweiligen Einzelfall beurteilt werden muss. FuÈr die taÈglich Praxis koÈnnen deshalb folgende Empfehlungen ausgesprochen werden [92]: 4 GrundsaÈtzliche AufklaÈrungspflicht des behandelnden Arztes uÈber die moÈglichen verkehrsrelevanten Auswirkungen der Opioidtherapie. 4 Schriftliche Fixierung uÈber Art und Umfang der AufklaÈrung mit Gegenzeichnung vom Arzt und Patienten. 4 Aufforderung an den Patienten zur kritischen SelbstpruÈfung. 4 Ausstellen eines Opioidausweis mit der Opioidtherapie.

17

Neben dieser zwischen Arzt und Patienten obligaten Dokumentation ist jedoch beim Patienten eine Fahrerlaubnis nicht indiziert, wenn: 4 eine Einstellungsphase auf ein Opioid vorliegt, 4 eine Dosiskorrektur vorgenommen wird (ErhoÈhung oder Reduktion), 4 ein Opioidwechsel vorgenommen wird, 4 ein schlechter Allgemeinzustand, unabhaÈngig von der Opioidtherapie. vorliegt, 4 eine stabile, wirksame Schmerztherapie nicht vorliegt (Schmerzspitzen), 4 zusaÈtzliche ZNS-wirksame Medikamente/Alkohol eingenommen werden. Im Zweifelsfall sollte die MoÈglichkeit einer neutralen LeistungsuÈberpruÈfung durch den TÛV oder eine aÈhnliche unabhaÈngige Institution erwogen werden. Auch Fahrern von Lastkraftwagen und oÈffentlichen Verkehrsmitteln ist dies anzuraten. Im weiteren Therapieverlauf ist eine Erfolgskontrolle mit schriftlicher Dokumentation obligatorisch. Patienten mit chronischen Schmerzen, die auf ein Opioid eingestellt sind, sollten fuÈr ihre Erkrankung nicht noch zusaÈtzlich bestraft werden. Denn eine VerhaÈltnismaÈûigkeit ist dann nicht gegeben, wenn andererseits Patienten, die auf Antihypertonika oder Antidiabetika eingestellt sind, ohne EinschraÈnkung am Straûenverkehr teilnehmen duÈrfen. So wird auch die LebensqualitaÈt von Patienten, die stabil auf Opioide eingestellt sind, erweitert, wenn ihnen die Teilnahme am Straûenverkehr gestattet wird. ! Eine Opioideinnahme ist kein Grund fuÈr das Ver-

bot der Teilnahme am Strassenverkehr.

Ist ein Patient stabil auf ein Opioid eingestellt und weist eine geichbleibende Schmerzgelinderung auf, besteht weder eine Verringerung der Konzentration durch Schmerzen noch durch die Opioidtherapie. 17.2

Dosierung

17.2.1 Einsatz von Opioiden bei

Tumorschmerzen

WaÈhrend bei akuten Schmerzen nach Verletzungen und waÈhrend Operationen zentralwirksame Analgetika meist parenteral verabreicht werden, ist bei chronischen Schmerzen, wie z. B. beim Tumorschmerz, die orale Gabe zu empfehlen. Denn die orale Medikation entbindet von der Notwendigkeit, sich das Pharmakon applizieren zu lassen und erweitert die SelbststaÈndigkeit des Patienten [2].

130

Kapitel 17  Opioide in der Langzeittherapie chronischer Schmerzen

Galenisch aufbereitete PraÈparate, die eine stetige Wirkstofffreisetzung und damit eine lang anhaltende Wirkkonzentration im Blut garantieren, sind fuÈr die Langzeittherapie von Schmerzen indizieret. Hierzu zaÈhlen alle RetardpraÈparate wie Palladon retard als 4/8/16/24-mg-Kapseln (Hydromorphon), Targin 10/5 mg und 20/10 mg (Oxycodon/Naloxon), retardiertes Morphin in Form von MST-Mundipharma 10/30/60/100/200, Capros 10/30/60/100 oder M-long 10/30/60/100 mg, aber auch eine lang wirkende transdermale Applikationsform wie z. B. Buprenorphin (TranstecPRO). Retardierte Opioide haben die Bedeutung und die MoÈglichkeiten dieser Applikationswege deutlich gesteigert. So betraÈgt die mittlere Dosierung von Hydromorphon zu Beginn 4 mg alle 12 h, von Targin 10/5 mg alle 12 h, und von einer BuprenorphinSublingualtablette alle 8 h. Bei MST-Mundipharma 30 soll 1 Tablette alle 8±12 h, bei M-long 30 mg 1 Tablette alle 12 h und von MST Continus 60 mg 1 Kapsel alle 24 h eingenommen werden. Die Verabreichung eines Wirkstoffes in Form eines transdermalen Systems (z. B. DurogesicSMAT, TranstecPRO) garantiert eine noch laÈngere und konstante Wirkstofffreisetzung uÈber 72 h beim fentanylhaltigen und 96 h beim buprenorphinhaltigen Pflaster. Allerdings sollten transdermale Systeme erst dann eingesetzt werden, wenn eine orale Applikation der Medikamente nicht mehr moÈglich ist (s. 7 Kap. 18.1 »Transdermale Opioide in der Therapie chronischer Schmerzen«). Allgemein muss bei der Dosierung von Opioiden beim Tumorschmerz festgehalten werden: ! Empfehlungen fuÈr Opioiddosen beim Tumor-

schmerz koÈnnen nicht gegeben werden. Die richtige Dosis ist diejenige, die zu einer ausreichenden Schmerzfreiheitlinderung fuÈhrt.

Die Dosis eines Opioids zur Therapie des Karzinomschmerzes muss so lange erhoÈht werden (. Abb. 17-2), bis 4 der Schmerz sistiert oder 4 eine BewusstseinstruÈbung eintritt oder 4 die Atemfrequenz unter 12/min faÈllt. In den beiden letzten FaÈllen sollte eine Reevaluierung des Opioids oder der Dosis erfolgen. Es wird somit die gesamte Tagesdosis jeweils auf die Anzahl der fuÈr die einzelnen PraÈparate entsprechend ihrer Wirkungsdauer notwendigen Einzelgaben verteilt. Unretardierte Formen und eine Dosierung nach Bedarf sind abzulehnen. Erst die regelmaÈûige Gabe in fixen AbstaÈnden, der jeweiligen Pharmakokinetik und der Wirkungsdauer des Opioids angepasst, garantiert eine ausreichende Plasmakonzentration, eine damit einhergehende gleichbleibende Besetzung der Opiatrrezeptoren sowie eine lang anhaltende Analgesie (. Tabelle 17-2). WaÈhrend unretardierte orale oder parenteral zu verabreichende Formen von Opioiden wie Oxycodon, Hydromorphon und Morphin eine Wirkungsdauer von bis zu 4 h haben, werden Pharmaka wie Pethidin (Dolantin) und Codein im Mittel zwischen 2 und 3 h und Pentazocin (Fortral) alle 4 h verabreicht werden. Retardierte orale Formen von Oxycodon (z. B. Targin), Hydromorphon (z. B. Palladon retard) und MST (z. B. MST Mundipharma 30 mg) werden alle 10±12 h gegeben, und Buprenorphin sublingual (Temgesic) alle 8±10 h. Speziell im letzten Fall ist die bukkale Darreichungsform von Vorteil, weil, wie bei der transdermalen Applikation, der First-pass-Effekt durch die Leber, der eine Metabolisierung und Wirkstoffverringerung zur Folge hat, zunaÈchst umgangen wird. Mit einer speziellen Retardtechnik ist die Wirkung von oral verabreichtem Morphin auf 8±12 h

17 . Abb. 17-2. Algorithmus zur

Bestimmung der individuell notwendigen Morphindosen bei Tumorschmerz

17

131

17.2  Dosierung

. Tabelle 17-2. Opioide mit oraler Zubereitungsform, deren WirkungsstaÈrke und Wirkungsdauer

Opioid

PraÈparat

WirkungsstaÈrke zu Morphin

Wirkungsdauer [h]

Morphin

Morphin Merk 0,5 %/2,0 %-LoÈsung Sevredol 10/20 Mundipharma MST 10/30/60/100/200 MST Continus 30/60/100/200 MST Retard-Granulat 20/30/60/100/200 Kapanol 20/50/100 Temgesic L-Polamidon Dolantin Fortral Codeinum Phosphoricum Comp. DHC 60/90/120 Mundipharma Valoron N Valoron N retard Tramal-LoÈsung Tramal long 100/200 Meptid oral 200 Capros 10/30/60/100 Palladon 4/8/16/24 Oxygesic 10/20/40 Jurnista 8/16/32/64 Targin 10/5±20/10

1 1 1 1

4 4 8±12 12±24

1 20 4 1/8 1/6 1/10 2/10

12 6±8 6±8 2±3 2±3 4 12

1/5±1/10 1/5±1/10 1/5±1/10 1/5±1/10 1/10 1 7 2 7 2

3±4 12 3±4 8±12 2±3 8±12 8±12 8±12 24 8±12

Morphin retardiert Morphin, stark retardiert

Buprenorphin Levomethadon Pethidin Pentazocin Codein Dihydrocodein Retard Tilidin/Naloxon Tilidin/Naloxon retardiert Tramadol Tramadol retardiert Meptazinol Morphinsulfat retardiert Hydromorphon retardiert Oxycodon retardiert Hydromorphon Oros-System Oxycodon/Naloxon retardiert

(MST Mundipharma) bzw. auf 24 h (MST Continus) verlaÈngert worden, sodass bei dieser Galenik Einnahmeintervalle von bis zu 24 h resultieren. Weitere Opioide mit einer langen Wirkungsdauer sind retardiertes Oxycodon (Targin und Oxygesic) und retardiertes Hydromorphon (Palladon retard). FuÈr Oxycodon liegt eine orale BioverfuÈgbarkeit zwischen 60 und 80 % und fuÈr Hydromorphon von 40 % vor. Die beiden Opioide Oxycodon (Targin und Oxygesic) und Hydromorphon (Palladon) sind bei Tumorschmerzen gegenuÈber Morphin zu bevorzugen, weil auch bei hohen Dosierungen die Inzidenz und der Schweregrad der opioidbedingten Nebenwirkungen verhaÈltismaÈûig gering sind. Wenn Tumorschmerzen rasch an IntensitaÈt zunehmen, sollte retardiertes Hydromorphon (Palladon retard) eingesetzt werden. Durch die hohe analgetische Potenz und die gute VertraÈglichkeit, auch bei MultimorbiditaÈt und Polymedikation, ist Hydromorphon dem Morphin vorzuziehen. Denn Morphin kann zu gravierenden Nebenwirkungen wie Halluzinationen, Ûbelkeit, Erbrechen, Schwindel fuÈhren. Aktive Metaboliten koÈnnen kumulieren und zu weiteren Nebenwirkungen mit Intoxikationssymptomen fuÈhren. Als Folge kann eine ausrei-

chende Schmerzbefreiung, trotz Dosissteigerung, moÈglicherweise nicht erreicht werden, oder die Analgesie haÈlt nicht ausreichend lange an. Die beiden Substanzen Oxycodon und Hydromorphon haben dagegen eine kurze Anschlagzeit von im Mittel 1 h, waÈhrend es bei Morphin bis zu doppelt so lange dauern kann, bis der Patient schmerzfrei ist. Methadon ± bzw. das wirkungsstaÈrkere Enantiomer Levomethadon ± hat mit einer Halbwertszeit von bis zu 55 h (!) zwar die laÈngste Wirkungsdauer [3]. Aufgrund der bei regelmaÈûiger Gabe auftretenden Kumulation ist die Anwendung in der chronischen Schmerztherapie zur Anfangstherapie nicht zu empfehlen, weil es leicht zu Ûberdosierungen kommen kann. Levomethadon ist wegen der schwierigen Titration aufgrund stark variabler Plasmahalbwertszeiten von 8±80 h kein Opioid der 1. Wahl. Es stellt jedoch eine kostenguÈnstige Alternative zu Morphin und/oder Fentanyl dar, wenn Toleranzentwicklung oder neuropathische Schmerzen hohe Dosierungen dieser ansonsten First-line-Opioide erforderlich machen. Denn vom Methadon gehen auch eine geringe NMDAantagonistische Wirkung und eine Wideraufnahmehemmung von Serotonin aus.

132

Kapitel 17  Opioide in der Langzeittherapie chronischer Schmerzen

Die anfaÈngliche Dosierung von stark wirksamen Opioiden bei Tumorschmerzen haÈngt von der vorausgegangenen Behandlung des Patienten ab. Ist vorher ein schwaches Opioid gegeben worden, kann mit einer Anfangsdosierung von wenigstens 10 mg MorphinaÈquivalent behandelt werden (. Tabelle 17-3). Die Anfangsdosierung ist auch abhaÈngig von der Dosis des verwendeten schwach wirksamen Opioids. Wenn das Stufe-IIPraÈparat schon sehr hoch dosiert war, dann ist eine Anfangsdosis von 5 mg MorphinaÈquivalent alle 12 h als zu niedrig anzusehen. Bei ungenuÈgender Analgesie wird nach 24-stuÈndiger Behandlung die jeweilige Dosis um 25 % erhoÈht. Ist dagegen der Patient nach der ersten Dosis sehr muÈde, jedoch schmerzfrei, sollte die nachfolgende Dosis um 25 % reduziert werden. Der Einsatz von kurzwirkenden intravenoÈs applizierten Opioiden wie Fentanyl oder Alfentanil fuÈr eine chronische Schmerztherapie ist strikt abzulehnen, weil die Wirkung einer Einzeldosis nach der i.v.-Applikation dieser ansonsten sehr stark wirkenden Opioide schon innerhalb von 15±30 min nachlaÈsst. Auch ist bei diesen Opioiden an eine Atemdepression zu denken, die unmittelbar nach einer i.v.-Injektion einsetzt [4]. 17.2.2 Koanalgetika bei chronischen

Schmerzen

17

Als Koanalgetika werden solche Substanzen bezeichnet, die nicht zur Gruppe der Analgetika gehoÈren, in speziellen Situationen aber eine schmerzstillende Wirkung besitzen. ZusaÈtzliche Koanalgetika sind immer dann indiziert, wenn die in AbhaÈngigkeit von dem Grundleiden verursachten Schmerzen eine wichtige Bedeutung erlangen (. Tabelle 17-4; [17]). Zu den Koanalgetika zaÈhlen: 4 Kortikosteroide: Ihre wichtigste Indikation sind Nerven- und RuÈckenmarkkompression, Zephalgien bei erhoÈhtem intrakraniellem Druck, Tumorschmerzen, Schmerzen durch Weichteilschwellung, LymphoÈdem, Arthritis und Tendovaginitis. Die meistverwendete Substanz ist Dexamethason (Fortecortin) initial 8±32 mg/Tag ± Dosis langsam auf 2±4 mg reduzieren. 4 Antikonvulsiva, deren hauptsaÈchlichste Indikation einschieûende Schmerzen, wie Trigeminusneuralgie, (Post-) Zosterneuralgie, aber auch Tumorund Phantomschmerz sind. Die am haÈufigsten eingesetzte Substanz ist Carbamazepin (Tegre-

. Tabelle 17-3. Stark wirkende oral, sublingual und transdermal verabreichbare Opioidanalgetika der Stufe III und ihre Anfangsdosierungen

Opioid

Anfangsdosierung und Einnahmefrequenzen

Morphin

4- bis 6-mal 5±10 mg oder, bei retardierter Galenik, 2- bis 3-mal 30/60 mg Levomethadon 3-mal 5±10 mg Hydromorphon 2- bis 3-mal 8/16 mg (retardiert) Buprenorphin 3-mal 0,2±0,4 mg (sublingual) Oxycodon/ 2-mal 10/5 mg oder 20/10 mg Naloxon (retardiert) Oxycodon 2-mal 10 oder 20 mg (retardiert) Fentanyl TTS 12/25/50/75 oder 100 mg/h alle 3 Tage Buprenorphin TTS 5/10/20/35/52,5 oder 70 mg/h mit 2 festen Wechseltagen pro Woche

tal, Timonil), das in Kombination mit den Opioiden in Dosen von 200±1200 mg/Tag verabreicht wird. Als neue Substanzen aus der Gruppe der Antikonvulsiva ist Gabapentin (Neurontin) oder Pregablin (Lyrica) aufgrund ihrer guten VertraÈglichkeit immer mehr in den Mittelpunkt einer Schmerztherapie getreten, wobei Dosen bis zu 3200 mg/Tag bzw. 900 mg/Tag gegeben werden koÈnnen. 4 Antidepressiva haben ihre hauptsaÈchlichste Indikation bei neuropathischen Schmerzen mit Dys- und ParaÈsthesien, z. B. bei Polyneuropathien im Rahmen eines Diabetes mellitus, bei Zosterneuralgien, bei DruckschaÈdigung von Nerven oder Infiltrationen im Rahmen eines Tumorleidens. Die haÈufig verwendeten Substanzen dieser Klasse sind: ± Amitriptylin (Saroten), das psychmotorisch eine daÈmpfende Wirkung entfaltet. Die Initialdosis betraÈgt 10±25 mg/Tag. Bei der Kombination mit Opioiden wird bevorzugt Amitriptylin als RetardpraÈparat in einer Einzeldosis von 50±75 mg/Tag am Abend verabreicht. ± Imipramin (Tofranil), das eher eine stimmungsaufhellende Wirkung hat, sodass die abendliche Dosis zu vermeiden ist. Initial erfolgt eine einschleichende Dosierung mit 25±50 mg; bei der Kombination mit Opioiden sollen Dosierungen bis zu maximal 50±100 mg/Tag nicht uÈberschritten werden.

133

17.2  Dosierung

17

. Tabelle 17-4. Zusammenfassung der Koanalgetika in AbhaÈngigkeit von der Schmerzursache bei tumorbedingten

Schmerzen Schmerztyp

Koanalgetika

Alternativ-/Zusatzbehandlung

Knochenmetastasen oder InfiltraNichtsteroidale Antirheumatika, tionen Kortikoide Nervenkompression, Nerveninfiltration Kortikoide, Antikonvulsiva, Neuroleptika, Antidepressiva ErhoÈhter intrakranieller Druck Kortikoide, Diuretika, Antikonvulsiva LymphoÈdem Kortikoide, Diuretika

Lokalisiert: Bestrahlung. Diffus: Radionuklide Bestrahlung, chemische Neurolyse, chemische Sympathikolyse Lagerung, Bestrahlung Kompression, Lymphdrainage, Lagerung, Sympathikusblockaden Muskelspasmen, WeichteilinfiltraZentrale Muskelrelaxanzien, nichtsteroi- Physiotherapie, therapeutische tionen dale Antitrheumatika, Kortikoide LokalanaÈsthesie, Entspannungsverfahren Kapseldehnungschmerz (Leber, Milz) Kortikoide ZoÈliakusneurolyse, Bestrahlung Knochenmetastasen Clodronat, Etodronat, Pamidronat Radionuklide Postherpetische Neuralgie Antiepileptika Sympathikolyse DyaÈsthesien Neuroleptika, Antidepressiva Therapeutische LokalanaÈsthesie Abdominelle und glatte Muskelspastik N-Butyl-scopolamin, Atropin, Propulsin WaÈrme, NMDA-Blocker, Gabapentin

±

Bei neuropathischen Schmerzen sind haÈufig Clomipramin und Doxepin zu empfehlen. Die groûe Anzahl der Opiatrezeptoren, aber auch die hohen Endorphinkonzentrationen im limbischen System weisen darauf hin, dass der Schmerz eine morphologische Grundlage besitzt. Es ist von nicht unerheblicher Bedeutung, dass diese in dem fuÈr die emotionale und affektive Verarbeitung verantwortlichen Gehirnabschnitt zu suchen ist. Abgesehen davon, dass Opioide hier eine euphorisierende Wirkung ausuÈben, ist dieser Angriffspunkt nicht nur den Antidepressiva, sondern auch den Neuroleptika und Tranquilizern zugaÈnglich. Weil chronische Schmerzpatienten eher unruhig, gereizt, affektlabil und schlafgestoÈrt als muÈde und antriebslos sind, werden sedierende Antidepressiva eher eingesetzt als anregende Substanzen [5]. Ausgehend von dem unterschiedlichen Wirkungsprofil der einzelnen Neuroleptika und Thymoleptika, sind bestimmte Kombinationen bei der Behandlung spezieller psychischer Verhaltensweisen angezeigt. So sind im Rahmen der Kombinationsbehandlung, insbesondere beim Tumorpatienten mit Schmerzen, Neuroleptika deswegen von Nutzen, weil sie v. a. in das nigrostriatale und das limbische System eingreifen, wodurch die somatomotorische und die emotional-affektive Komponente beeinflusst wird. Es treten Beruhigung und GleichguÈltigkeit ein, obwohl das eigentliche SchmerzgefuÈhl nicht beeinflusst wird. Insbesondere werden die Neuroleptika wegen ihrer potenten antiemetischen Wirkung im Stufenplan

einer Schmerztherapie gern miteingebunden (. Tabelle 17-5). FuÈr die analgetische Wirksamkeit der Antidepressiva gibt es nach dem heutigen Forschungsstand die Vorstellung, dass bei den Schmerzhemmsystemen die Monoamine Serotonin, Noradrenalin, Dopamin, Acetylcholin und die AminosaÈure GABA beteiligt sind, waÈhrend als schmerzvermittelnde Substanzen, speziell im RuÈckenmark, Glutamat und Substanz P als Neurotransmitter eine entscheidende Rolle spielen [5]. Somit aktivieren Antidepressiva schmerzhemmende serotinerge und noradrenerge Bahnen. Zentrale Dopaminantagonisten vom Typ der Neuroleptika wirken dagegen potenzierend. Trizyklische Antidepressiva sollen auch direkt analgetisch uÈber eine . Tabelle 17-5. MoÈglichkeiten der Kombinationstherapie bei chronischen Schmerzen mit Psychopharmaka

Neuroleptika

Thymoleptika

Schmerzen mit gequaÈlter Unruhe Levopromazin Amitriptylin Haloperidol Clomipramin Promethaxin Doxepin Chlorprothixen Trazodon Thioridazin Mianserin Schmerzen mit matt-passivem Verhalten Flupentixol Imipramin Pimozid Mianserin Melpereon Lofepramin Perphenazin Maprotilin Thioridazin Melitracen

134

Kapitel 17  Opioide in der Langzeittherapie chronischer Schmerzen

. Abb. 17-3. Schematische Darstellung der bei der

Schmerzverarbeitung im Hinterhorn des RuÈckenmarks beteiligten Transmittersysteme, die sowohl hemmende als auch schmerzvermittelnde Funktion aufweisen (CCK Cholecystokinin)

Aktivierung der deszendierenden hemmenden Bahnen auf das Hinterhorn des RuÈckenmarks wirken (. Abb. 17-3). ! Die Verordnung einer Begleitmedikation, ins-

besondere fuÈr die Beherrschung der in fast allen FaÈlle auftretenden Obstipation (. Tabelle 17-6)

mit Laxanzien (Lactulose, Sennosid B, Biscodyl, Na-Picosulfat), muss mit der Opioidgabe einhergehen.

Eine einfache und effektive MoÈglichkeit, eine opioidinduzierte Obstipation zu vermeiden, ist die Therapie von Patienten mit starken bis sehr starken Schmerzen von Anfang an mit Targin. Die Fixkombination aus Agonist und Antagonist

17

(Oxycodon/Naloxon) wirkt schmerzlindernd und zusaÈtzlich prophylaktisch lokal gegen die opioidbedingte Obstipation. Naloxon wird in der Leber sofort abgebaut, sodass ausschlieûlich Oxycodon systemisch wirksam ist. Nebenwirkungen, die durch eine zusaÈtzliche Einnahme von Laxanzien verursacht werden, bleiben bei dieser Therapie aus. FuÈr sehr hartnaÈckige Obstipation stehen voraussichtlich fuÈr die Zukunft zusaÈtzlich zwei selektiv peripher wirkende Opioidantagonisten: 4 Methylnaltrexon 0,1±0,3 mg/kg KG s.c (Fa Wyeth/Progenics) [6] und 4 Alvimopan 6 mg oral (Entrareg; Fa. GlaxoSmithKline) [7] zur VerfuÈgumg. Weil beide nicht in der Lage sind, die Blut-Hirn-Schranke zu durchdringen, bleibt eine zentral induzierte Analgesie auch weiterhin erhalten. Bei Ûbelkeit ist Haloperidol indiziert, das uÈber die D2-Rezeptoren in der Chemorezeptortriggerzone (CTZ) seine Wirkung entfaltet. Auch kann der Einsatz eines Antiemetikums vom Typ der 5HT3-(Hydroxytryptamin-) Antagonisten, wie z. B. Odansetron (Zofran), in ErwaÈgung gezogen werden, das direkt uÈber die in der CTZ liegenden Bindungsstellen seine Wirkung vermittelt. Als Second-line-Antiemetikum kommt Metoclopramid als Prokinetikum in Frage, das uÈber die HT4-Rezeptoren des Darmes die MotilitaÈt anregt. Sollten alle Antiemetika ohne Erfolg sein, so koÈnnen Cannabinoide wie z. B. Dronabinol 2,5 mg/Tag als Rezeptursubstanz (Fa. THC Pharm) oder als Fertigsubsubstanz (Marinol, Solvay Pharmaceuticals, USA) eingesetzt werden. Steht dagegen bei ansonsten guter Schmerztherapie die zentral induzierte Sedierung im Vordergrund der Nebenwirkungen und fuÈhrt eine Dosisreduktion nicht zu dem gewuÈnschten Erfolg, so kann ein Analeptikum wie Coffein, Methylphenidat, Pemolin (Tradon) oder Modafinil (Vigil, Fa. Cephalon) zur Vigilanzanhebung eingesetzt werden.

. Tabelle 17-6. Zusammenfassung der mit Opioiden einhergehenden Nebenwirkungen und deren Therapie

Nebenwirkung

Inzidenz [%]

DosisabhaÈngig

Toleranzentwicklung

Therapie

Obstipation Ûbelkeit, Erbrechen Sedierung Verwirrtheit Halluzination

90±100 20 2 2 1

Ja Nein Ja Ja Nein

Nein Nach 5±7 Tagen Nach 3±4 Tagen Nein Nein

Targin, prophylaktisch Laxanzien Prophylaktisch Antiemetika Meist unbedeutend Dosisreduktion, Opioidwechsel Haloperidol

17.3  Buprenorphin

17.3

Buprenorphin ± Opioid bei chronischen Schmerzen mit besonderer Rezeptorkinetik

Die bei der chronischen Schmerztherapie zum Einsatz kommenden Opioide haben eine unterschiedliche AffinitaÈt zu verschiedenen Rezeptortypen, was sich in der Dynamik ihrer Wirkung, aber auch in der HaÈufigkeit moÈglicher Nebenwirkungen niederschlaÈgt (. Tabelle 17-1). Buprenorphin (Temgesic, TranstecPRO) stellt bezuÈglich der Interaktion am Rezeptor insofern eine Besonderheit dar, als im Gegensatz zu den anderen Opioiden: 4 es eine sehr langsame Bindung mit dem Rezeptor eingeht (langsamer Wirkungseintritt), 4 die einmal eingegangene Bindung sehr intensiv ist (keine VerdraÈngung durch andere Opioide), 4 sich die Bindung nur durch einen reinen Antagonisten aufheben laÈsst (Antagonisierbarkeit durch hohe Dosen eines potenten Antagonisten), 4 sich das Pharmakon sehr langsam vom Rezeptor loÈst (lange Wirkungsdauer), 4 das Pharmakon gleichzeitg eine k-antagonistische Wirkung inne hat (geringe Inzidenz von dysphorischen Nebeneffekten), 4 fuÈr eine Analgesie nur wenige Rezeptoren besetzt werden muÈssen (Rezeptorreserve). Aufgrund dieser besonderen Rezeptorkinetik ist in Klinik und in Praxis Buprenorphin durch folgende Eigenschaften charakterisiert: 4 Eine lange Anschlagzeit (bis zu 30 min nach intravenoÈser und nach sublingualer Gab). Nach einer Erstapplikation muss, bei anscheinend ungenuÈgender Analgesie, mit einer Zweitgabe gewartet werden, weil die Analgesie in der Folgezeit noch zunimmt. Repetitive Gaben, die zu fruÈhzeitig vorgenommen werden, koÈnnen (insbesondere bei aÈlteren Patienten) zu einer Atemdepression fuÈhren (m-Rezeptorinteraktion!). 4 Eine einmal induzierte Atemdepression kann mit wiederholten hohen Dosen eines Antagonisten wie Naloxon antagonisiert werden. Hierbei soll mit einer Anfangsdosierung von 0,4/08±2,0 mg intravenoÈs begonnen und fraktioniert die Dosis unter Kontrolle der Vitalparameter (Atemfrequenz, Blutdruckverhalten) langsam gesteigert werden (bis zu 10 mg), um ein akutes Abstinenzsyndrom zu vermeiden. Anschlieûend muss, wegen der kurzen Halbwertszeit von Naloxon, eine Infusion von 5 mg/h uÈber die folgenden 24 h mit Ûber-

135

17

wachung auf der Intensivstation verabreicht werden, damit eine Wiederbesetzung der Rezeptoren mit Buprenorphin verhindert wird [8, 9]. Ein weiterer spezifischer Opioidantagonist, das Nalmefene, ist fuÈr solche ZwischenfaÈlle geeigneter, weil es eine hoÈhere RezptoraffinitaÈt [10] bei deutlich laÈngerer Halbwertszeit als Naloxon aufweist [11]. Alternativ kann auch mit dem unspezifischen Atemanaleptikum Doxapram (Dopram) die Atmung angeregt werden (. Abb. 17-4; [12]), das den Vorteil besitzt, die analgetische Wirkung von Buprenorphin nicht aufzuheben. Besteht keine MoÈglichkeit zur Antagonisierung, so ist bis zur endguÈltigen Dissoziation des Pharmakons vom Rezeptor zu beatmen (ca. 8±9 h). 4 Die intensive und lange Rezeptorbindung von Buprenorphin hat den Vorteil, dass die analgetische Wirkung, neben der von MST Mundipharma, M-long und Capros, von allen anderen in der Medizin angewendeten Opioiden am laÈngsten anhaÈlt (. Abb. 17-5). Eine orale Repetitionsdosis soll deswegen nur in einem Abstand von 8±9 h gegeben werden, was besonders bei chronischen Schmerzen von Vorteil ist. Mit der transdermalen Applika-

. Abb. 17-4. Die Angriffpunkte des Atemanaleptikums

Doxapram am Glomus caroticus und am Aortenbogen zur unspezifischen Anregung der Atmung bei BuprenorphinuÈberdosierung

136

Kapitel 17  Opioide in der Langzeittherapie chronischer Schmerzen

. Abb. 17-5. GegenuÈberstellende analgetische Wirkungs-

dauer verschiedener Opioide in der Therapie chronischer Schmerzen

17

tionsform (TranstecPRO) laÈsst sich sogar eine Wirkungsdauer von 96 h/Pflaster erreichen (s. 7 Kap. 18.1.2). 4 Die langsame LoÈsung (Dissoziation) des Opioids vom Rezeptor bedingt aber auch, dass das Sucht- und AbhaÈngigkeitspotenzial sehr niedrig ist. Auch entwickelt sich eine Tachyphylaxie (GewoÈhnung an das Pharmakon mit der Notwendigkeit, die Dosis zu steigern, um aÈhnliche Wirkeffekte zu erhalten), selbst bei langfristiger Gabe uÈber Wochen, sehr selten. UrsaÈchlich geht die GewoÈhnung an ein Opioid mit einer Abnahme der BindungskapazitaÈt des Liganden zum Rezeptor einher, eine Tatsache, die als »Downregulierung« in die Literatur eingegangen ist [13, 14]. Auch wird ein Abtauchen des Rezeptors in die Zelle (Internalisierung) diskutiert, ein Effekt, der fuÈr Morphin und Fentanyl beschrieben worden ist. Buprenophin zeigt aufgrund seiner besonderen m-partialagonistischen Wirkung sogar eine gesteigerte Endozytose, jedoch gleichzeitig ein ebenso schnelles Wiederauftauchen des Rezeptors an der ZelloberflaÈche [15], sodass die Toleranzentwicklung geringer ausgepraÈgt ist. 4 Aufgrund der hohen AffinitaÈt von Buprenorphin zum Rezeptor genuÈgen schon geringe Dosen (0,3±0,6 mg/70 kg KG), um eine ausreichende Analgesie zu erhalten. Dies bedingt eine Rezeptorreserve, d. h. noch freie Bindungsstellen koÈnnen durch ein anderes Opioid besetzt werden (. Abb. 17-6). 4 Aufgrund der hohen Wirkungspotenz und der daraus resultierenden geringen Anzahl an notwendigen Rezeptorbindungen kann zur Kupierung von Schmerzspitzen der gleichzeitge Ein-

. Abb. 17-6. Proportionale Rezeptorbesetzung durch

Morphin bzw. Buprenorphin, um ein aÈhnliches analgetisches Niveau zu erreichen. Bei Buprenorphin ist aufgrund der hoÈheren KonformationsaÈnderung eine geringere Rezeptorbesetzung notwendig

satz eines schnellfreisetzenden m-Agonisten (z. B. Morphin) erfolgen. Die vorhandene Rezeptorreserve macht eine zusaÈtzliche WirkungsverstaÈrkung moÈglich. 4 Wegen der geringen Anzahl von Rezeptoren, die durch Buprenorphin besetzt werden, kann aber auch auf orales Morphin und vice versa umgestellt werden (ausreichende Rezeptorreserve; . Abb. 17-7; [18]). Wegen dieser Rezeptorreserve kann neben Morphin problemlos auch auf ein anderes Opioid wie Oxycodon oder Hydromorphon umgestellt werden, wobei aÈquianalgetische Dosen zu verwenden sind [16]. Hierbei wird die taÈgliche Buprenorphingesamtdosis mit 70 multipliziert und die erhaltene Morphindosis auf entsprechende Einzeldosen verteilt. Eine VerdraÈngung mit nachfolgender ungenuÈgender Schmerzkupierung findet hierbei nicht statt [17]. 4 Ein analgetischer Ceilingeffekt von Buprenorphin konnte bisher nur bei der Verwendung extrem hoher Dosen im Tierxeperiment nachgewiesen werden [19±21]; . Abb. 17-8; nach [23, 24]). In therapeutischen Dosen von bis zu 10 mg/Tag verhaÈlt sich Buprenorphin dagegen wie ein reiner m-Agonist, und ein Ceilingeffekt steht in Bezug auf die Analgesie im klinischen Einsatz nicht zur Diskussion [22].

137

17.3  Buprenorphin

PET Scan

Rezeptorbindung

17

klinischer Effekt 100%

MRI Bup 0

. Abb. 17-7. Nach PET-Scan-

Bup 2

Untersuchungen beim Menschen fuÈhren nur extrem hohen Dosen von Buprenorphin (i 16 mg) zu einer vollstaÈndigen Besetzung aller Rezeptoren. Bei Patienten mit niedrigeren Dosen verhaÈlt sich Buprenorphin wie ein Vollagonist

Bup 16 Bup 32 DVR

5

4

2

3

1

Effekt ‘freie Rezeptoren’ kein ‘Partialagonist’

. Abb. 17-8. Darstellung des analgetischen Ceilingeffektes

beim Tier unter Verwendung des elektrischen Schock-Titrations-Tests

4 In klinisch therapeutischen Dosen von bis zu 10 mg/Tag verhaÈlt sich Buprenorphin wie ein reiner m-Vollagonist ohne einen anlagetischen Ceilingeffekt [22]. Jedoch weist dieses Opioid, im Gegensatz zu anderen wirkstarken Liganden, einen respiratorischen Ceilingeffekt beim Menschen auf (. Abb. 17-9; [25]). 4 Und letztlich wirkt sich die hohe intrinsische AktivitaÈt von Buprenorphin auch auf eine groûe therapeutische Breite (LD50/ED50) aus (. Abb. 17-10; [26]). Schon eine Besetzung einzelner Rezeptoren fuÈhrt aufgrund der hohen AffinitaÈt und intrinsischen AktivitaÈt von Buprenorphin zu einer Wirkung. Hohe Dosen, die evtl. systemische Effekte ausloÈsen, sind nicht notwendig. Die groûe therapeutische Breite bedeutet aber auch, auf Klinik und Praxis uÈbertragen, dass

Ventilation at peak depression ± SD (litre min–1)

Fentanyl

Buprenorphin

25

25

20

20

15

15

10

10

5

5

Apnoe 0

0 0

a

. Abb. 17-9. Im Gegensatz

2

4

6

Fentanyl Dosis (μg/kg)

8

0

b

2

4

6

8

Buprenorphin Dosis (μg/kg)

zu Fentanyl mit totaler Apnoe kommt es bei Probanden (n ˆ 10) unter steigenden Dosen von Buprenorphin zu einem respiratorischen Ceilingeffekt

138

Kapitel 17  Opioide in der Langzeittherapie chronischer Schmerzen

. Abb. 17-10. GegenuÈberstellende therapeutische Breite

(LD50/ED50) verschiedener Opioide untereinander

Opioid Rezeptor

Volleffekt über Go-Protein

Signalübermittlung

Effektor 1

selbst bei versehentlicher Ûberdosierung keine negativen Auswirkungen von Seiten des kardiovaskulaÈren Systems wie Blutdruckabfall und/oder eine KontraktilitaÈtseinbuûe des Myokards zu erwarten sind. 4 Die intrazellulaÈre SignaluÈbermittlung verlaÈuft bei Buprenorphin uÈber eine Untergruppe von G-Proteinen, die als die Mittler einer Wirkung anzusehen sind (. Abb. 17-11; nach [27]). WaÈhrend Langzeitgabe von sog. reinen m-Liganden in gleichem Maûe bimodal ein sowohl inhibierendes als auch ein exzitatives G-Protein aktivieren, ist unter Buprenorphin nur ein Partialeffekt am exzitativen Gs-Proteinen vorhanden. Im Gegensatz zu anderen wirkstarken Opioiden muÈndet dies in einer geringeren AuspraÈgung von Toleranzentwicklung. 4 Im Gegensatz zu anderen Opioiden weist Buprenorphin einen k-antagonistischen Effekt auf (. Tabelle 17-7; [28]). Diese Besonderheit fuÈhrt zu einer geringeren Inzidenz an dysphorischen Nebenwirkungen, wie sie ansonsten bei der Gabe hoher Dosen anderer Opioide zu beobachten sind (. Abb. 17-12).

. Abb. 17-11. Nach Bindung eines Liganden am Rezeptor kommt es zur intrazellulaÈren SignaluÈbermittlung der Information mit Hilfe des G-Proteins. Hierbei stehen mehrere Untertypen zur VerfuÈgung, wobei das Go-Protein eine inhibierende und das Gs-Protein eine exzitative Komponente ausloÈst. Unter Langzeiteinnahme von Buprenorphin ist der uÈber das Gs-Protein vermittelte exzitative Effekt deutlich geringer

Partialeffekt über Gs-Protein Effektor 2

EFFEKT 2

EFFEKT 1

Agonist am μ-Rezeptor

Agonist am κ-Rezeptor

(Bindung & Signalauslösung)

(Bindung & Signalauslösung)

Agonist

Agonist

μ-Rezeptor

17

κ-Rezeptor

Postsynaptische Zelle

Analgesie Atemdepression Euphorie

Dysphorie Sedierung

. Abb. 17-12. Schematische Darstellung zur Wechselwirkung der Opioide, speziell Oxycodon, an den beiden Bindstellen m und k und die hierdurch ausgeloÈsten Effekte, wobei die k-Interaktion bei viszeralen Schmerzen eine Rolle spielt

17.4  Nebenwirkungen der langfristigen Schmerztherapie mit Opioiden

139

17

. Tabelle 17-7. Rezeptorinteraktionen verschiedener Opioide und ihrer Prototypen, wie sie bei der Therapie chronischer Schmerzen verwendet werden

Opioid

Agonistische Wirkung

Antagonistische Wirkung

Reiner m-Agonist, z. B. Oxycodon, Hydromorphon, Morphin Reiner Antagonist, z. B. Naloxon Gemischter Agonist/Antagonist, z. B. Nalbuphin Partialagonist, z. B. Buprenorphin

m, k , d Kein Effekt k m

Kein Effekt m, k, d m, d k

4 Buprenorphin weist aÈhnlich wie Oxycodon und Hydromorphon, im Gegensatz zu anderen Opioiden (insbesondere Fentanyl und Morphin), keine BeeintraÈchtigung des Immunsystems auf [29±31]. Dies ist insbesondere dann von Bedeutung, wenn bei HIV- oder Tumorpatienten mit Schmerzen eine Opioidtherapie initiiert wird. 17.4

Nebenwirkungen der langfristigen Schmerztherapie mit Opioiden

Bei einer Opioidbehandlung von Tumorschmerzen gibt es entsprechend einer Umfrage einen hohen Grad an Unkenntnis bei den behandelnden Ørzten. Dies duÈrfte die Ursache fuÈr eine unzureichende Behandlung von Tumorpatienten sein. So wurde u. a. von 51 % der befragten Ørzte eine Toleranzentwicklung auf Opioide angenommen, 29 % hielten den adjuvanten Einsatz von Koanalgetika fuÈr nicht gerechtfertigt, 27 % meinten, Opioide nur parenteral verabreichen zu koÈnnen, und 29 % stellten die MorphinabhaÈngigkeit als ein potenzielles Risiko dar [32]. 17.4.1 Atemdepression Eine auch unter oraler Opioideinnahme eintretende zentral induzierte Atemdepression wird gelegentlich als moÈgliches Hindernis der Langzeittherapie angesehen. Jedoch ist der Schmerz der physiologische Antagonist fuÈr eine zentral sich entwickelnde Atemdepression. Daraus kann abgleitet werden, dass sich unter der Voraussetzung einer titrierten Opioidmedikation gegen den individuellen Schmerz des Patienten, eine klinisch relevante Atemdepression nicht entwickelt. Eine Atemdepression ist jedoch dann zu erwarten, wenn der Patient zusaÈtzlich durch eine Neurolyse schmerzfrei wird oder eine relative Ûberdosierung vorliegt oder sich entwickelt. So muss nach jeder anders gearteten schmerzlindernden Intervention (z. B. Neurolyse) die Opioiddosis neu eingestellt oder ganz weggelassen werden.

Alle Zusatzmedikationen wie Sedativa (Phenothiazin) oder Anxiolytika (Diazepam) muÈnden in eine VerstaÈrkung der zentral ausgeloÈsten Analgesie; sie sind jedoch auch mit einer VerstaÈrkung von potenziellen Nebenwirkungen, insbesondere einer Atemdepression, belastet. Deshalb muss bei zusaÈtzlicher medikamentoÈser Sedierung die vorher uÈbliche Opioiddosis um mindestens 25 % verringert werden. Bei einer Nervenblockade muss daran gedacht werden, das Opioid, wenn moÈglich, voÈllig wegzulassen. Obgleich eine relevante Hypoxie bei Patienten nach einer Opioidnarkose moÈglich ist, besteht doch gegenuÈber den Patienten, die Opioide wegen chronischer Schmerzen bekommen, ein grundlegender Unterschied: 4 Die Patienten haben schon seit einiger Zeit ein schwach wirkendes Opioid eingenommen, d. h. sie sind nicht mehr opioidnaiv. 4 Chronische Schmerzpatienten nehmen die Opioide oral ein. Dies bedeutet im Vergleich zur intravenoÈsen Injektion eine langsamere Resorption mit niedrigeren Plasmaspitzenkonzentrationen. 4 Die fuÈr den Schmerzpatienten individuell ermittelte Dosis wird gewoÈhnlich gegen den Schmerz titriert, sodass die MoÈglichkeit einer Ûberdosierung eher unwahrscheinlich ist. 4 Laut einer Ûbersicht aus den vergangenen 30 Jahren wiesen Patienten, die Morphin oral eingenommen hatten, eine Inzidenz von 0 % auf, eine Atemdepression zu entwickeln; nach Fentanyl-TTS betrug die Rate 2,3 % und nach Morphin intravenoÈs 4,5 %. Diese Daten verweisen auf die groûe Sicherheitsbreite von oral eingenommenen Opioiden hin, keine Atemdepression auszuloÈsen. ! Eine Atemdepression ist bei peroraler Opioidgabe

nicht zu befuÈrchten, weil die atemdepressorische Dosis uÈber der analgetischen Dosierung liegt.

140

Kapitel 17  Opioide in der Langzeittherapie chronischer Schmerzen

17.4.2 Sucht- und AbhaÈngigkeitsentwicklung

17

Das Risiko, unter einer langfristigen Opioidmedikation abhaÈngig zu werden, ist eine wiederholt geaÈuûerte BefuÈrchtung, die zu zuruÈckhaltender Dosierung mit ungenuÈgender Schmerzbefreiung fuÈhrt. Die HaÈufigkeit, dass Schmerzpatienten unter chronischer Opioidmedikation suÈchtig werden, ist, wie eine groûangelegte Studie nachweisen konnte, extrem niedrig. Von 1200 FaÈllen wurde nur eine (1) AbhaÈngigkeit beobachtet [33, 34]. Bei der Nachuntersuchung von insgesamt 11.882 Patienten konnte nur in 4 FaÈllen (0,03 %) eine psychische AbhaÈngigkeit beobachtet werden [35, 36]. Auch konnte bei der Langzeittherapie mit Opioiden bei Schmerzen nichtmaligner Natur eine psychische AbhaÈngigkeit nicht nachgewiesen werden [34, 37], zumal die kontrollierte Einnahme verzoÈgert freisetzender PraÈparate eine psychische AbhaÈngigkeitsentwicklung unwahrscheinlich macht. Alle Untersuchungen weisen jedoch darauf hin, dass bei einer therapeutischen Opioideinnahme das Opioid nicht der einzige Faktor einer relevanten Sucht- und AbhaÈngigkeitsentwicklung ist. Andere viel wichtigere Faktoren, wie soziales Umfeld und die zugrunde liegende PersoÈnlichkeitsstruktur, haben eine bedeutendere Auswirkung auf eine AbhaÈngigkeitsentwicklung [38]. Auch wurde in den Nachuntersuchungen deutlich, dass der Missbrauch von Analgetika mit nichtopioidartiger Struktur oder die Kombination von schwachen Opioiden mit peripheren Analgetika bei AbhaÈngigen haÈufiger anzutreffen ist als der Missbrauch stark wirkender Morphinomimetika [39, 40]. Dagegen wird sich eine physische AbhaÈngigkeit innerhalb einer Langzeitterapie mit Opioiden entwickeln; dies rechtfertigt jedoch nicht, die Dosis zu reduzieren oder voÈllig auf ein Opioid zu verzichten. Charakteristische Merkmale einer echten Suchtentwicklung sind: 4 Gebrauch eines Opioids mit nichtmedizinischer BegruÈndung; 4 biologische und/oder umgebungsbedingte EinfluÈsse auf die EinnahmehaÈufigkeit; 4 wiederholte RuÈckkehr auf das Opioid nach Absetzen; 4 unkontrollierte Einnahme; 4 Negieren der Opioideinnahme; 4 Horten von Opioiden; 4 konditionierte Einnahme von Opioiden, d. h. Opioidbedarf nur dann, wenn aÈuûere Faktoren, die als Schrittmacher gelten (Musik,

Freunde, Gesellschaft, aber auch Stress) zur Einnahme fuÈhren; 4 MoÈglichkeiten zu ungehindertem Zugriff auf das Opioid. Hiervon ist streng die sog. Pseudosucht zu trennen, die einige Patienten aufweisen koÈnnen, bei denen: 4 verbale Forderungen nach dem Opioid auftreten; 4 eine Unterdosierung des Opioids bei Schmerzen vorliegt; 4 aufgrund der Verhaltensweise des Patienten und der Einstellung des Arztes der Patient faÈlschlicherweise als suchtgefaÈhrdet eingestuft wird. Weil die echte Sucht ein anderes therapeutisches Konzept als die Pseudosucht erfordert, ist eine strenge Differenzierung notwendig. Der Pseudosucht muss mit einer DosiserhoÈhung des Opioids begegnet werden! ! Eine psychische AbhaÈngigkeit tritt bei Tumor-

patienten, wenn uÈberhaupt, sehr selten auf. Sie ist in keinem Fall ein Argument, die chronische Schmerztherapie mit Opioiden zu unterlassen.

17.4.3 Toleranzentwicklung Eine Toleranzentwicklung unter Opioidgabe ist dadurch charakterisiert, dass der Organismus sich an das Medikament gewoÈhnt und zur AusloÈsung der gleichen Wirkung (Analgesie) immer hoÈhere Dosen verabreicht werden muÈssen. Diese Erkenntnisse basieren jedoch auf Untersuchungen an Freiwilligen und Tieren und entbehren jeglicher klinischen Bedeutung. Denn es fehlen die physiologischen und psychologischen Vorbedingungen, die bei einem Schmerzpatienten gegeben sind. Untersuchungen bei Patienten mit Karzinomschmerzen unter Langzeittherapie mit Opioiden haben offenbart, dass direkt proportional zur Dauer der Therapie die Notwendigkeit der Dosissteigerung entfaÈllt [41]. Vielmehr kann sogar die Dosis reduziert werden, und in einigen FaÈllen ist eine Opioidgabe uÈberhaupt nicht mehr notwendig [17, 42]. Demnach unterliegen Opioide, wenn sie zum Zweck der UnterdruÈckung schwerer Schmerzen eingesetzt werden, selten einer Toleranzentwicklung. Oftmals steht eine bei Tumorpatienten im Verlauf notwendige DosiserhoÈhung auch nicht im Zusammenhang mit einer Toleranzentwicklung, sondern beruht auf einer dem Krankheitsverlauf entsprechenden ErhoÈhung der SchmerzintensitaÈt.

17.4  Nebenwirkungen der langfristigen Schmerztherapie mit Opioiden

Im Gegensatz zur Toleranzentwicklung auf die opioidbedingte Analgesie ist eine Toleranzentwicklung auf die opioidinduzierte MotilitaÈtshemmung des Darms nicht vorhanden. Sollte sich eine Toleranz gegenuÈber der anfaÈnglich gewaÈhlten Dosierung entwickeln, so muss eine Dosisadaptation nach oben erfolgen, oder es muss auf ein anderes Opioid umgestiegen werden. Sollte sich jedoch im Verlauf einer Opioidtherapie eine echte Toleranzentwicklung ausbilden, d. h. die Anpassung des Organismus an die Substanz, einhergehend mit einer zum Erreichen einer ausreichenden Analgesie stetige DosiserhoÈhung, koÈnnen ursaÈchlich viele MoÈglichkeiten vorliegen. So besteht neben psychosozialen und umgebungsbedingten Faktoren die Toleranzentwicklung ursaÈchlich im zellulaÈren und molekularen Bereich. Eine Toleranzentwicklung liegt dann vor, wenn: 4 ein gesteigerter Metabolismus mit erniedrigtem Wirkspiegel des Pharmakons einhergeht, 4 eine gestoÈrte Absorption vorliegt, 4 eine Suchtentwicklung existent wird, 4 eine Wechselwirkung mit anderen Medikamenten mit gesteigertem Abbau durch leberspezifische Enzyme vorliegt. Die Toleranzentwicklung oder Tachyphylaxie ist auch ein Aspekt, der bei langfristiger Gabe im Rahmen der Analgosedierung auf der Intensivstation beobachtet werden kann. Hierbei muss aufgrund der Anpassung und GewoÈhnung des Organismus an das Opioid die Dosis fortlaufend gesteigert werden, um eine gleichbleibende Wirkung zu erreichen. Eine Toleranz muss nicht zwangslaÈufig eintreten. UrsaÈchlich werden fuÈr die verminderte Reaktion eines Liganden Mechanismen auf zellulaÈrer Ebene diskutiert: 4 Eine Desensibilisierung des Rezeptors: Aufgrund einer funktionellen Entkopplung des Rezeptors vom sekundaÈren intrazellulaÈren Mittler, dem G-Protein, wird die Phosphorylierung vermindert, und Proteinkinasen werden in geringerem Maûe gebildet. Dieser Prozess laÈuft innerhalb von Sekunden ab. 4 Wiederholte Opioidbindung fuÈhrt zur Internalisierung (Endozytose); der Rezeptor wird aufgrund wiederholter Bindungsraten in das Innere der Zelle »abtauchen« (sequestrieren), um anschlieûend wieder an der ZelloberflaÈche aufzutauchen und fuÈr eine erneute Bindung zur VerfuÈgung zu stehen. Dieser Prozess laÈuft innerhalb von Minuten ab. Es scheint, dass das Ausmaû dieses Recyclingprozesses einer Toleranzentwicklung entgegenwirkt. Ein ver-

141

17

langsamter Recyclingprozesses nach Internalisierung wurde fuÈr Morphin und Fentanyl beschrieben [43], waÈhrend unter Buprenorphin der Rezeptor intrazellulaÈr schnell abtaucht, um jedoch anschlieûend wieder schnell aufzutauchen und als Bindungsstelle zur VerfuÈgung zu stehen Dieser Effekt war sogar mit einer Zunahme an Rezeptoren vergesellschaftet [15]. 4 Eine Herunterregulierung (Downregulation) des Rezeptors, indem die a-Einheit des SchluÈsselproteins in der SignaluÈbertragung, das G-Protein, uÈber das b-Arrestin 2 weniger synthetisiert und das eingehende Signal schlechter beantwortet wird. Dieser Prozess laÈuft innerhalb von Stunden ab. Die Bedeutung von b-Arrestin 2 konnte dadurch dokumentiert werden, dass durch Ausschalten des entsprechenden Gens ein funktioneller Mangel an b-Arrestin 2 die Analgesie signifikant vertiefen und die Dauer verlaÈngern konnte [44]. 4 Eine Hemmung der Genexpression im Zellinneren, indem das Gen, welches fuÈr die Neubildung (Transkription) von EiweiûmolekuÈlen zu Rezeptoren verantwortlich ist, seine AktivitaÈten reduziert. Dieser Prozess laÈuft innerhalb von Tagen ab. 4 Eine aufgrund der langfristigen Aktivierung des Opioidrezeptors uÈber das G-Protein gesteigerte Synthese von Phosphokinase C (PKC) aktiviert uÈber eine Phosphorylierung den exzitativen NMDA-Rezeptor. Es stroÈmen dann vermehrt Ca2‡-Ionen in die Nervenzelle, die anschlieûend auf alle ankommenden Impulse uÈberreagieren (Antiopioideffekt). Da die Opioide auf den NMDA-Rezeptor keinen Einfluss haben (. Abb. 17-13) muss die zusaÈtzliche Gabe eines unspezifischen NMDA-Antagonisten (z. B. Ketamin, Dextromethorphan, Memantin) in ErwaÈgung gezogen werden. Alternativ kann auf Methadon umgestiegen werden, dass zu einem geringen Teil auch am NMDA-Rezeptor antagonistisch wirkt. Eine Toleranzentwicklung im Rahmen der Opioidtherapie chronischer Schmerzen ist 4 haÈufiger bei juÈngeren als bei aÈlteren Patienten zu beobachten; 4 dann gehaÈuft nachweisbar, wenn kurzwirkende Opioide eingesetzt werden, die zum sog. »Roller-coaster-Effekt« mit durchbrechenden Schmerzen fuÈhren, wobei eine 2-malige Opioideinnahme besser ist als eine 4-malige uÈber den Tag verteilte Dosis;

142

Kapitel 17  Opioide in der Langzeittherapie chronischer Schmerzen

. Abb. 17-13. Interaktion des Opioidrezeptors mit dem NMDA-Rezeptor uÈber Zwischenstufen mit intrazellulaÈrer Ca2‡-Anrei-

cherung, die zu einer opioidresistenten Nozizeption fuÈhren (PKC Proteinkinase C, NMDAˆ N-Methyl-D-Aspartat)

4 besonders bei den Opioiden nachweisbar, die eine geringe intrinsische AktivitaÈt am m-Rezeptor aufweisen; 4 bei den Individuen nachweisbar, die bei fehlender Schmerzsymptomatik Opioide einnehmen; 4 bei den Patienten nachweisbar, die wiederholt und dauerhaft sog. Rescuemedikamente einnehmen muÈssen. Eine Toleranzentwicklung fuÈr die analgetische Wirkung der Opioide ist ansonsten ein seltenes Ereignis ± wuÈnschenswerter waÈre eher eine Toleranzentwicklung auf die Obstipatiopn. waÈhrend andere Nebenwirkungen wie Atemdepression, Ûbelkeit, Erbrechen und Halluzinationen eine GewoÈhnung aufweisen. Der haÈufigste Grund fuÈr eine DosiserhoÈhung ist nicht so sehr eine verminderte Ansprechbarkeit auf das Opioid als vielmehr ein Voranschreiten der Grundkrankheit [45]. ! Eine klinisch signifikante Toleranzentwicklung ist

bei oraler Gabe retardierter Opioide in der Schmerztherapie i. Allg. nicht zu erwarten.

17.4.4 Obstipation, Nausea und Erbrechen

17

Bei der Einnahme von Opioiden, insbesondere wenn sie in hohen Dosierungen benoÈtigt werden, kommt es bei fast 90 % aller Patienten zu einer Obstipation. Wegen der HaÈufigkeit und der HartnaÈckigkeit, mit der eine opioidbedingte Obstipation auftritt und bestehen bleibt, ist eine orale Fixkombination eines Opioides mit einem Antagonisten entwickelt worden, welche dieser Nebenwirkung prophylaktisch vorbeugt.

Targin ist eine neuartige Kombination aus retardiertem Oxycodon und retardiertem Naloxon und steht in den WirkstaÈrken 10/5 mg und 20/10 mg von der Firma Mundipharma zur VerfuÈgung. Beide Wirkstoffe liegen in der Tablette in einer 12-h-Retardierung vor, d. h. die Analgesie sowie die Prophylaxe bzw. Therapie der Obstipation haÈlt 12 h an. Das oral eingenommene Naloxon bindet im Darm an die Opiatrezeptoren des Plexus submucosus und des Plexus myentericus und verhindert aufgrund seiner hoÈheren AffinitaÈt die Bindung des Oxycodons, d. h. Naloxon therapiert die opioidbedingte Obstipation kausal. Zudem hat Naloxon keine intrinsische AktivitaÈt und wird waÈhrend des First-pass-Effektes nahezu vollstaÈndig (i 98 %) abgebaut. Die DarmmotilitaÈt bleibt erhalten und somit auch die normale Darmfunktion. In Studien ist nachgewiesen worden, dass Targin analgetisch genauso wirksam ist wie retardiertes Oxycodon (Oxygesic) allein und dass es sogar die Darmfunktion von obstipierten Patienten verbessert bzw. normalisiert [46]. Andererseits ist die HaÈufigkeit einer Obstipation beim Einsatz transdermaler Opioidsysteme (Fentanyl TTS, Buprenorphin TTS) aufgrund des anderen Applikationsweges ebenfalls geringer [47]. Die uÈblichen Mittel, um diese Unannehmlichkeit zu beseitigen, sind Stuhlregulanzien wie z. B. Flohsamen (Agiolax mite) und Laktulose (Bifiteral, Duphalac). Sollten diese nicht ausreichen, muss eine aggressivere Therapie in Form eines AbfuÈhrmittels (z. B. Dulcolax) oder Macrogolum (z. B. Transipeg, Transipeg forte) eingesetzt werden. Zukunftsweisend ist in solchen FaÈllen der selektiv peripher wirkende Opioidantagonist Alvimopan [48], der kau-

143

17.5  Opioidwechsel (Opioidrotation)

sal die Opiatrezeptoren im Darm antagonisiert. Das Pharmakon (Entrareg, 2-mal 1 mg/Tag Fa. GlaxoSmithKline) soll in den naÈchsten Jahren auf den Markt kommen. ! Oft jedoch gestaltet sich die Beherrschung der

Obstipation schwieriger Schmerztherapie [49].

als

die

eigentliche

Eine opioidbedingte Obstipation kann von Anfang vermieden werden, wenn die orale Fixkombination aus dem retardieren Opioid Oxycodon und dem retardiertem Opioidantagonist Naloxon (Targin) eingesetzt wird. Naloxon verhindert die Bindung des Oxycodons im Darm, ohne den zentralen, analgetischen Effekt des Opioids zu beeintraÈchtigen. ! Wird mit einem anderen Opioid therapiert, so

gehoÈrt von Anfang an in die Behandlung der Obstipation ein Laxanz.

Nausea und Erbrechen treten bei etwa 40±60 % aller Patienten, die starkwirkende Opioide einnehmen, als Nebenwirkungen auf. Sie beruhen auf einer Reizung der Chemorezeptoren in der Area postrema der Medulla oblongata oder auf einer verminderten intestinalen MotilitaÈt [50]. Sollte die Ûbelkeit vom ZNS ausgehen, ist neben der Gabe des motilitaÈtsaktivierden HT4-Rezeptoragonisten Metoclopramid (Paspertin) das zentral am Dopamin-D2-Rezeptor angreifende Haloperidol (Haldol) das Mittel der Wahl fuÈr eine wirkungsvolle Therapie. Alternativ kann auch der zentral am 5-HT3-Rezeptor angreifende Antagonist Odansteron (Zofran) verwendet werden. Beruht jedoch die Ûbelkeit auf einer intestinalen MotilitaÈtshemmung, ist als Gastrokinetikum das PraÈparat Domperidon (Motilium), ein peripherer Dopaminantagonist, von Vorteil. In therapieresistenten FaÈllen kann auch ein Cannabinoid (Dronabinol), das nicht nur eine appetitanregende, sondern auch eine antiemetische Wirkung offenbart, zum Einsatz kommen. Gelegentlich kann es sinnvoll sein, am Anfang einer Opioidtherapie nicht nur ein einzelnes Antiemetikum zu verabreichen, damit mehrere Rezeptoren einbezogen werden. ! Bei oraler Opioidgabe sistieren nach 2±3 Tagen

gewoÈhnlich Ûbelkeit und Erbrechen.

17

17.4.5 Sonstige Nebenwirkungen Weitere opioidbedingte Nebenwirkungen wie eine Vigilanzminderung sistieren gewoÈhnlich im Laufe der Medikation. Sollte die MuÈdigkeit jedoch zu ausgepraÈgt sein, so koÈnnen zusaÈtzlich Psychostimulanzien wie z. B. Pemolin (Tradon), Methylphenidat (Ritalin) oder Modafinil (Vigil, Modasomil) verordnet werden. 17.5

Opioidwechsel (Opioidrotation)

Die Therapie chronischer Schmerzen erfolgt nach dem Stufenprinzip (s. oben), wobei mit peripheren Analgetika begonnen wird. Sollte diese Medikation die Schmerzen nicht beheben, ist keine Zeit zu vergeuden und ein schwaches Opioid zu verabreichen, das spaÈter durch ein staÈrkeres ersetzt werden kann. Hierbei ist zu beruÈcksichtigen, dass aufgrund der unterschiedlichen Rezeptorinteraktion der verschiedenen Opioide die Mischung eines m-Liganden mit einem gemischtwirkenden Agonisten/ Antagonisten, auch in der Langzeittherapie, ein pharmakologischer Fehler ist. Denn die gleichzeitige Applikation eines gemischtwirkenden Opioids mit einem reinen Agonisten fuÈhrt zu einer VerdraÈngung des m-Liganden vom Rezeptor, was mit einer Verringerung der analgetischen Wirkung einhergeht. Soll ein Patient, der unter der Therapie mit einem Agonisten/Antagonisten (z. B. Pentazocin) steht, ein staÈrker wirkendes Opioid mit m-Eigenschaften erhalten (z. B. Oxycodon, Hydromorphon, Morphin), muss die sog. Auswaschphase nach dem AbsaÈtzen des Opioids abgewartet werden. WaÈhrend dieser Zeit wird die Schmerzfreiheit durch Gabe von peripheren Analgetika vom Typ der AcetylsalicylsaÈure oder der nichtsteroidalen Prostaglandinsynthesehemmer (NSAID) aufrechterhalten. Nach dieser Eliminationsphase, die von der Eliminationshalbwertszeit des jeweiligen Produkts abhaÈngt, erfolgt eine langsame Titrierung mit dem neuen Opioid (. Tabelle 17-8). Ein Umsteigen auf ein anderes Opioid ist dann indiziert, wenn extrem hohe Dosen eines wirkstarken Opioids zu keiner ausreichenden SchmerzunterdruÈckung oder zu starken Nebenwirkungen (Halluzinationen, Sedierung, Ûbelkeit) fuÈhren. In solchen FaÈllen ist an einen hyperalgetischen Effekt klassischer m-Liganden zu denken [51±53]. Oft genuÈgt es, nur auf einen anderen m-Liganden umzusteigen, der anschlieûend eine bessere Ansprechrate aufweist. Hierbei ist eine Dosisre-

144

Kapitel 17  Opioide in der Langzeittherapie chronischer Schmerzen

. Tabelle 17-8. Hinweise zu aÈquianalgetischen Dosen verschiedener Opioide im Vergleich mit oralem Morphin

Pharmakon

PraÈparat

Mittlere Wirkungsdauer [h]

Dosis pro Patient

DosisaÈquivalenz zu Morphin oral

Buprenorphin Buprenorphin TTS

Temgesic Transtec PRO Norspan Palladon

6±8 96 96 8±12

3- bis 4-mal 0,2 mg 35±52,5±70 mg/h 5±10±10 mg/h 2-mal 4±8±16 mg

40±60 80±120±160 20±40±60 Morphin/7,5

Palladon 1,3/2,6 Jurnista Oxygesic retard Targin

24 12 12

Oxycodon schnellfreisetzend

Oxygesic Kapseln

4

Morphin/7,5 Morphin/7,5 Morphin/5 Morphin/2 Morphin/2 Morphin/2

Pethidin Tramadol Levomethadon D-L-Methadon Morphin Morphin retardiert

Dolantin Tramal L-Polamidon Methadict

2±4 3±6 3±5 3±5 4±5 8±12

Bei Bearf 4-mal 1,3/2,6 mg 8±16±32±64 1-mal 8±16Ð32±64 mg 2-mal 10±20±40±80±160 mg 2-mal 10/5 mg ±20/10 mg Nach Bedarf 1- bis 4-mal 5 /10/20 mg in Verbindung mit der retardierten Form 6- bis 8-mal 50 mg 6- bis 8-mal 100 mg 6-mal 2,5 mg 6-mal 5,0 mg 6-mal 10±30 mg 2-mal 10±200 mg 1-mal 4- bis 6- bis 6- bis 2- bis

60 30±40 30±40 60±80 60±80

Hydromorphon retardiert Hydomorphon Oros-Technologie Oxycodon retardiert Oxycodon/Naloxon

17

Morphin MST, Capros MST Continus

12±24

Tramadol

Tramal

3±6

Tramadol retardiert

8±12

Tilidin-N

Tramal long, Tramundin retard Valoron-N

Tilidin-N retardiert Dextropropoxyphen

Valoron-N retardiert Develin retard

8±12 5±6

Fentanyl TTS

DurogesicSMAT

72

DHC retardiert

DHC Mundipharma

8±12

3±4

duktion um 30±50 % des neuen Opioids aufgrund einer moÈglichen unvollstaÈndigen Kreuztoleranz anzuraten. Ansonsten muss mit der zusaÈtzlichen Gabe von z. B. Ketamin oder dem a2-Agonisten Clonidin die Gegenregulation aufgefangen werden [54].

30 mg 6-mal 10 mg 8-mal 50 mg 8-mal 100 mg 3-mal 100±200 mg

6- bis 8-mal 50 6- bis 8-mal 100 mg 2- bis 3-mal 50±100 mg 3- bis bis 4-mal 50 mg 3- bis 4-mal 100 mg 12 mg/h 25 mg/h 75 mg/h 100 mg/h 2- bis 3-mal 60±90±120 mg

40±50 75±100 60 120 60±180 40±400

30±40 60±80 30±40 40±50 75±100 180±200

15±30

17.5.1 Opioidrotation von Morphin auf

Buprenorphin oder Levomethadon

Im Gegensatz zu den gemischtwirkenden Agonisten/Antagonisten macht der partielle m-Agonist und k-Antagonist Buprenorphin insofern eine Ausnahme, als dieser Ligand, aufgrund seiner hohen AffinitaÈt, eine geringere Rezeptorbesetzung zur Folge hat. Das bedeutet, dass immer noch eine ausreichende Rezeptorreserve vorliegt, sodass anschlieûend auf einen reinen m-Agonisten (z. B. Morphin, Fentanyl TTS, Oxycodon) umgestiegen werden kann.

17

145

17.6  Besonderheiten von Oxycodon, Oxycodon/Naloxon und Hydromorphon

. Tabelle 17-9. Umrechnungstabelle zum Umsteigen auf transdermales Buprenorphin (Transtec)

Transtec [mg/h] Tilidin/Naloxon Morphin oral Oxycodon oral Hydromorphon oral Fentanyl TTS [mg/h] Buprenorphin sublingual

35 150/300 30/60 30 4/8 2,5 0,4/0,8

52,5 450 90 12 1,2

70 600 120 60 16 50 1,6

Gleiches gilt, wenn von einem reinen m-Agonisten wie Morphin, Hydromorphon oder Oxycodon auf Buprenorphin TTS (TranstecPRO), der transdermalen Applikationsform dieses partiellen Agonisten, umgestiegen wird. Hierbei kann die eine Umrechnungstabelle (. Tabelle 17-9) verwendet werden, wobei die Øquivalenzdosierungen im Einzelfall uÈber- oder unterschritten werden koÈnnen. Die Umrechnungstabelle ist nur als eine grobe Orientierung anzusehen, wobei eine Dosisadaptation immer nach der individuellen Reaktion zu erfolgen hat. Andererseits stellt Methadon eine kostenguÈnstige Alternative zu Morphin oder Fentanyl dar, insbesondere in Form seines Enantiomers Levomethadon, wenn Toleranzentwicklung oder neuropathische Schmerzen vorliegen bzw. extrem hohe Dosierungen der First-line-Opioide erforderlich werden [55±57]. Die Rationale fuÈr den Einsatz von Levomethadon ergibt sich aus der Tatsache, dass von dieser Substanz auch eine NMDA-antagonistische Wirkung und eine Wiederaufnahmehemmung von Serotonin ausgeht [58±60]. Aufgrund der pharmakokinetischen Besonderheit der langen Elimationshalbwertszeit soll nach einer Einstellungsphase eine am Schmerz orientierte Titration erfolgen. Praktisches Vorgehen bei der Opioidrotation von Morphin auf Levomethadon 4 Tag 1: Die Morphingabe wird unmittelbar unterbrochen und unabhaÈngig von der vor dem Opioidwechsel verordneten Morphindosierung mit Levomethadon 2,5±5,0 mg oral alle 4 h begonnen. 4 Tag 2: Bei unzureichender Schmerzreduktion erfolgt eine Dosissteigerung von Levomethadon um bis zu 30 % alle 4 h. Die Bedarfsmedikation der letzten Dosis von Levomethadon erfolgt bis zur suffizienten Schmerzlinderung oder

87,5

105

122,5

140

150

180 90 24 75 2,4

210

240 120 32 100 3,2

20 2,0

28 2,8

bis zum Auftreten von Nebenwirkungen maximal alle 1 h. 4 Tag 3: Nach 72 h wird das Applikationsintervall auf alle 8 h verlaÈngert. Die Gabe einer Bedarfsmedikation von Levomethadon erfolgt analog der Einzeldosis maximal alle 3 h. 4 Tag 4: Bei nicht ausreichender Schmerzlinderung erfolg eine DosiserhoÈhumg von Levomethadon um bis zu 30 % alle 8 h. Die Bedarfsmedikation erfolgt analog der Einzeldosis maximal alle 3 h bis zur suffizienten Schmerzlinderung oder bis zum Auftreten von Nebenwirkungen.

17.6

Besonderheiten von Oxycodon, Oxycodon/Naloxon und Hydromorphon

Obgleich Morphin als Referenzsubstanz einer Schmerztherapie mit Opioiden angesehen wird, ist es nicht das Mittel der 1. Wahl. Denn von den Metaboliten des Morphins, dem Morphin-6-Glucuronid, das zu 4,7±11 %, und dem Morphin-3-Glucuronid, das zu 57±74 % beim Abbau von Morphin entsteht (. Abb. 17-14), kann nicht nur eine im Vergleich zu Morphin deutlich laÈngere Eliminationshalbwertszeit erwartet werden. Vielmehr kann es, besonders bei einer Langzeitanwendung von Morphin, zu einer Akkumulation der aktiven Metaboliten kommen, die zu toxischen Effekten mit Exzitation fuÈhren. Dies gilt es speziell beim aÈlteren Patienten zu beruÈcksichtigen, der aufgrund seiner verringerten Ausscheidung uÈber die Nieren nach einiger Zeit eine von diesen Metaboliten ausgehende Akkumulation und daraus entstehende zunehmende Nebenwirkungen aufweist. So werden durch Morphin-3-Glucuronid Agitation, Myoklonie, Hyperalgesie mit Somnolenz und sogar KrampfanfaÈlle

146

Kapitel 17  Opioide in der Langzeittherapie chronischer Schmerzen

. Abb. 17-14. Der Metabolit von Morphin, das Morphin-6-Glucuronid. Wegen der Doppelbindung von Hydromorphon an der 6er-Position ist eine Glucuronidierung nicht moÈglich, und es entsteht kein pharmakologisch aktiver Metabolit

17

ausgeloÈst [61±63]. Auch wird ein Antiopioideffekt diskutiert [62], waÈhrend nach Morphin-6-Glucuronid Miosis, Schwitzen, Nausea und Erbrechen sowie komatoÈse ZustaÈnde als Nebeneffekte beobachtet werden koÈnnen [64, 65]. Es ist deshalb daran zu denken, bei stark ausgepraÈgten Nebenwirkungen und bei nachlassender Wirkung von Morphin einen Opioidwechsel auf z. B. Oxycodon/Naloxon, Oxycodon oder Hydromorphon vorzunehmen. UrsaÈchlich hierfuÈr werden unterschiedliche m-Rezeptorisoformen diskutiert, wie sie bereits experimentell von Pasternak et al. in genetisch transmutagenen MaÈusen dargestellt werden konnten [66]. Von den fuÈr einen Opioidwechsel zur VerfuÈgung stehenden retardierten LangzeitpraÈparaten sind die Fixkombination von Oxycodon und Naloxon (Targin), Oxycodon retardiert (Oxygesic) bzw. Hydromorphon retardiert (Palladon) insofern von praktischer Bedeutung, als diese PraÈparate folgende vorteilhafte Eigenschaften besitzten: 4 Oxycodon hat einen geringen First-pass-Effekt der Leber; nach oraler Aufnahme stehen bis zu 80 % der urspruÈnglichen analgetischen Wirkdosis im Organismus zur VerfuÈgung. Das in der Fixkombination enthaltene Naloxon wird nahezu vollstaÈndig im First-pass-Effekt (98 %) abgebaut. FuÈr Hydromorphon besteht ein hoÈherer First-pass-Effekt, nach oraler Aufnahme liegt die BioverfuÈgbarkeit bei ca. 36 %. 4 Oxycodon, aber auch Hydromorphon bilden im Gegensatz zu Morphin keine therapeutisch aktiven Metaboliten (Morphin-3- und Morphin-6-Glucuronid). Dies ist besonders bei

4

4

4

4

Patienten mit eingeschraÈnkter Leber- und/oder Nierenfunktion von Bedeutung, da die Metaboliten sonst akkumulieren und wie bei Morphin zu VerwirrtheitszustaÈnden fuÈhren koÈnnen (. Abb. 17-14). Es ist darauf hinzuweisen, dass Targin-Retardtabletten bei Patienten mit mittlerer bis starker LeberfunktionsstoÈrungen kontraindiziert sind. Oxycodon wird zu Oxymorphon, Noroxycodon sowie weiteren glucoronidierten Metaboliten verstoffwechselt. Die Demethylierung am Sauerstoff bzw. am Stickstoff wird uÈber CYP2D6 und CYP3A4 vermittelt. Die Metaboliten von Oxycodon kommen entweder in extrem geringen Mengen frei im Plasma vor oder sind therpeutisch nicht aktiv [67]. FuÈr die Metaboliten von Oxycodon, Oxymorphon und Noroxycodon, besteht eine zur Muttersubstanz parallele Elimination; es kommt deshalb nicht zur Akkumulation der Metaboliten. Hydromorphon wird zu 39 % zu dem pharmakologisch inaktiven Hydromorphon3-Glucuronid metabolisiert, das primaÈr renal elimiert wird. Weder Oxycodon noch Hydromorphon zeigen einen Ceilingeffekt. Eine Dosissteigerung fuÈhrt damit immer zu einer Wirkungssteigerung. Oxycodon und Hydromorphon verursachen weniger zentrale Nebenwirkungen (Nebenwirkungen im Bereich des ZNS). Insbesondere sind, im Vergleich zu Morphin, Halluzinationen, Sedierung und MuÈdigkeit in einem geringeren Prozentsatz nachweisbar [68].

17.6  Besonderheiten von Oxycodon, Oxycodon/Naloxon und Hydromorphon

4 Retardiertes Oxycodon und retardiertes Oxycodon in der Kombination mit retardiertem Naloxon (Targin) erreichen innerhalb von 1 h das Wirkungsmaximum (retardiertes Morphin: bis zu 3 h bis zum Erreichen einer maximalen Wirkung). Unter Hydromorphon retardiert (Palladon) ist eine maximale Wirkung innerhalb von 2 h zu erwarten. 4 Morphin besitzt nach wie vor ein Stigma. Viele Patienten schrecken aufgrund der Assoziation von Morphin und AbhaÈngigkeit vor der regelmaÈûigen Einnahme des Opioids zuruÈck. Oxycodon und Hydromorphon besitzen dieses Stigma nicht, und damit wird die Compliance der Patienten weniger beeintraÈchtigt. 4 Oxycodon und Hydromorphon sind reine m-Agonisten, wobei Oxycodon eine nicht zu vernachlaÈssigende AffinitaÈt zum k-Rezeptor hat und deshalb eine analgetische Wirkung bei viszeralen Schmerzen zeigt. Diese k-Interaktion steht im Gegensatz zu Buprenorphin, das ein partieller m-Agonist und k-Antagonist ist, waÈhrend Morphin mit mehreren m-Isorezeptoren interagiert. So konnte nachgewiesen werden, dass der Metabolit Morphin6-Glucuronid uÈber einen ihm eigenen Rezeptor interagiert, von dem exzitatorische Wirkungen ausgehen [69]. 4 Hydromorphon hat eine im Vergleich zu Morphin geringere, jedoch nach wie vor obstipierende Wirkung [70]. Eine begleitende Laxanzientherapie ist hier zu empfehlen. Eine Ausnahme hinsichtlich der opioidinduzierten Obstipation in der Vielzahl der Opioide ist die orale fixe Kombination aus einem Agonisten und einem Antagonisten. Targin ist die Kombination aus retardiertem Oxycodon und retardiertem Naloxon. Im Gegensatz zu anderen Opioiden erhaÈlt es durch die Bindung des Antagonisten an die Opioidrezeptoren des Darmes die normale Darmfunktion. Im Vergleich zu retardiertem Oxycodon allein verbessert die Kombination sogar die Darmfunktion und erhoÈht die Anzahl laxanzienfreier StuhlgaÈnge bei gleicher Analgesie [46]. 4 Unter Oxycodon bildet sich bei Schmerzpatienten schneller ein Gleichgewicht von Dosis und wuÈnschenswerter Wirkung, zumal die Anschlagzeit bis zum Erreichen einer maximalen Wirkung im Vergleich mit retardiertem Morphin erheblich kuÈrzer ist. 4 Oxycodon ist auch fuÈr die Therapie neuropathischer Schmerzen geeignet, die uÈblicherweise eine Opioidresistenz aufweisen [71, 72].

147

17

4 Als Umrechnungsfaktor von oralem Morphin auf orales Oxycodon oder orales Oxycodon/ Naloxon gilt das VerhaÈltnis 2 : 1. Soll von Anfang an mit retardiertem Oxycodon/Naloxon (Targin) oder retardiertem Oxycodon (Oxygesic) therapiert werden, empfiehlt es sich, anfaÈnglich niedrig zu dosieren, um anschlieûend, dem individuellen Bedarf angepasst, die naÈchst hoÈhere Dosis zu verordnen. Dies ist gut moÈglich, weil die maximale Wirkung schon nach 1 h beurteilt werden kann und der »steady state« nach 24 h erreicht wird. ! Als Umrechnungsfaktor von oralem Morphin auf

orales Hydromorphon gilt das VerhaÈltnis 7,5 : 1. Soll von Anfang an mit retardiertem Hydromorphon (Palladon) bei opioidnaiven Patienten therapiert werden, empfiehlt es sich, mit der niedrigsten Dosis anzufangen, um anschlieûend, dem individuellen Bedarf angepasst, die naÈchsthoÈhere Dosis zu verordnen. Ist eine Opioidtherapie nicht laÈnger angezeigt, sollte die Therapie ausschleichend beendet werden. Hierzu sollte die Tagesdosis taÈglich um 10 % [73] bzw. um 20±30 % [74] reduziert werden. Ein abruptes Absetzen der Medikation birgt das Risiko unangenehmer Entzugssymptome.

4 Bei jedem Opioidwechsel muss hervorgehoben werden, dass die bei einer Opioidrotation zur VerfuÈgung stehenden Umrechnungstabellen aufgrund der sehr groûen interindividuellen Streubreiten nur sehr grobe Anhaltspunkte geben koÈnnen. So ist z. B. bei einem Umsteigen von Morphin auf Oxycodon/Naloxon, Oxycodon oder Hydromorphon oder von Morphin auf Fentanyl-TTS eine Umrechnung der DosisaÈquivalenz nur in einer und nicht in beide Richtungen anwendbar. Das heiût, ein Umsteigen von Oxycodon/Naloxon oder Oxycodon auf Morphin entspricht nicht dem DosisverhaÈltnis bei einem Umsteigen von Morphin auf Oxycodon/Naloxon oder Oxycodon. Deswegen sollte in jedem Fall individuell neu titriert werden, was sich mit retardiertem Oxycodon und der retardierten Fixkombination von Oxycodon/Naloxon aufgrund des schnellen Wirkanschlags von nur 1 h gut erreichen laÈsst. 4 Wegen der pharmakologisch inaktiven Metaboliten ist Hydromorphon besonders im Rahmen einer Schmerztherapie bei aÈlteren Patienten indiziert [75].

148

17

Kapitel 17  Opioide in der Langzeittherapie chronischer Schmerzen

4 FuÈr alte Patienten mit chronischen Schmerzen und einer eingeschraÈnkten Nierenfunktion bietet Hydromorphon nachgewiesenermaûen Vorteile: So lassen die gravierenden Nebenwirkungen (Ûbelkeit, Schwindel, Konfusionen, starke Sedierung) nach Umstellung von Morphin auf Hydromorphon in bis zu 80 % aller FaÈlle nach [68]. Hydromorphon wird von niereninsuffizienten Patienten zwar auch langsamer ausgescheiden mit einem insgesamt hoÈheren Plasmaspiegel, aber es kommt eben nicht zur Akkumulation von analgetisch-wirksamen Metaboliten [76, 77]. 4 GrundsaÈtzlich gilt, dass wegen der bei aÈlteren Patienten haÈufig vorliegenden LeberfunktionsstoÈrung mit der HaÈlfte der empfohlenen Anfangsdosierung begonnen wird. 4 Weil aÈltere, multimorbide und kachektische Patienten ein verringertes Plasmaeiweiû aufweisen, hat bei diesen Patienten das Hydromophon eine besondere Stellung erlangt. Denn von ihm geht eine nur geringe Plasamaeiweiûbindung von 8 % aus. Dies fuÈhrt zu einem konstanten Wirkstoffspiegel und bleibt von einer Multimedikation unbeeinflusst. Fentanyl hat dagegen eine Eiweiûbindung von 90 %, Buprenorphin von bis zu 96 % [78]. 4 Hydromorphon wird im Vergleich zu anderen Opioiden nicht und Oxycodon nur zum Teil uÈber das Cytochrom-P450 3A4-System abgebaut. Weil uÈber dieses Enzymsystem nahezu alle Arzneistoffe metabolisiert werden und das System von vielen, nicht nur medikamentoÈsen Wirkstoffen beeinflusst (inhibiert oder induziert) wird, sollte bei Patienten mit Multimedikation Hydromorphon verordnet werden. Somit bleibt der Abbau des Opioids von anderen Substanzen unbeeinflusst. 4 Letztlich besteht fuÈr die Opioide Oxycodon, auch in der Kombination mit Naloxon, und Hydromorphon keine BeeintraÈchtigung des Immunsystems [30]. Degegen gibt es immer mehr Hinweise, dass z. B. von Morphin eine immunsuppressive Wirkung ausgeht (NaÈheres s. 7 Kap. 32 »Opioide und das Immunsystem«). Als allgemeine Regeln bei einer Opioidumstellung von z. B. Morphin auf Oxycodon oder Hydromorphon sind folgende Punkte zu beachten: 4 Mit der aÈquivalenten Dosis unter BeruÈcksichtigung der Dosisreduktion um 50 % umsteigen, 4 Bis zum Erreichen eines ausreichenden analgetischen Effekts rasch hochtitrieren. 4 GrundsaÈtzlich immer auf das potentere Opioid umsteigen. Speziell bei der Opioidrotation

erweist sich Morphin als ein Opioid mit geringer SelektivitaÈt, d. h. die uÈber den m-Opiatrezeptor vermittelte Analgesie muss als wenig spezifisch eingestuft werden, sodass Opioide mit groÈûerer SelektivitaÈt (wie z. B. Oxycodon, Hydromorphon) geeigneter sind [79]. 4 Mann sollte sich auf die in den allgemein bekannten Umrechnungstabellen aufgestellten Øquivalenzdosen nicht verlassen. Jeder Patient muss individuell eingestellt werden. 4 Bei einer Umstellung von Morphin auf Oxycodon/Naloxon, Oxycodon oder Hydromorphon kann erst nach 2 Wochen mit stabilen Wirkeffekten gerechnet werden, da der Organismus diese Zeitspanne benoÈtigt, um sich der Metaboliten des Morphins, dem Morphin6-Glucuronid und dem Morphin-3-Glucuronid, zu entledigen. Immerhin scheint die fuÈr Oxycodon im Vergleich zu Morphin groÈûere analgetische Potenz auf eine im Tierexperiment nachgewiesene Interaktion mit dem k-Rezeptor bei niedrigerer intrinsischer AktivitaÈt am m-Rezeptor zu beruhen [80]. FuÈr Hydromorphon wird eine hohe AffinitaÈt zum m-Rezeptor bei geringerer k-Interaktion nachgewiesen, sodass dieser Ligand auch eine hoÈhere analgetische Potenz aufweist [81]. Zusammenfassend sind folgende Punkte bei der Langzeittherapie chronischer Schmerzen mit Opioiden zu beruÈcksichtigten: 4 Es bringt keinen Vorteil, gleichzeitig 2 schwach wirkende oder 2 stark wirkende Opioide zu verabreichen. 4 Einem stark wirkenden Opioid sollte jedoch ein Opioid der gleichen Wirkstoffklasse hinzugesetzt werden, wenn Phasen der Schmerzzunahme auftreten. Im Allgemeinen ist der Patient dahingehend zu unterweisen, alle die Schmerzschwelle durchbrechenden Beschwerden mit einer Dosis der schnellwirksamen Bedarfsmedikation mit moÈglichst demselben Wirkstoff, entsprechend der retardierten Dauermedikation, zu kupieren. 4 Kurzwirkende Opioide, wie Pentazocin, Pethidin oder Dextromoramid, sollten vermieden werden, weil die Einnahmefrequenz zu kurz ist. 4 Die gleichzeitige Einnahme eines gemischtwirkenden Agonisten/Antagonisten (z. B. Pentazocin, Nalbuphin) mit einem reinen Agonisten (z. B. Oxycodon, Codein, Morphin) muss vermieden werden. Jedoch ist die simultane Verabreichung des partiellen m-Agonisten ‡ k-Antagonisten Buprenorphin mit einem reinen

17.6  Besonderheiten von Oxycodon, Oxycodon/Naloxon und Hydromorphon

4 4 4

4

m-Agonisten, aufgrund seiner speziellen Rezeptorkinetik, moÈglich. Das Opioid soll in regelmaÈûigen ZeitabstaÈnden, die sich nach der Wirkungsdauer des PraÈparats richten, gegeben werden. Eine zu schwache Wirkung bei ausreichender Wirkungsdauer erfordert eine DosiserhoÈhung um 25 %. Eine ausreichende WirkungsstaÈrke, die aber zu kurz anhaÈlt, erfordert eine VerkuÈrzung der Einnahmefrequenz. Deswegen besser retardiert freisetzende Opioide mit Einnahmeintervallen von 12 h (Targin, Palladon) verschreiben. Hier kann waÈhrend der Dosisfindung die Einnahme auf 3-mal taÈglich angepasst werden. Eine andere MoÈglichkeit bei stabiler Dosierung sind transdermale Opioidsysteme (z. B. DurogesicSMAT, TranstecPRO), wobei Fentanyl eine Wirkungsdauer von bis zu 72 h/Pflaster und Buprenophin eine Wirkungsdauer von bis zu 96 h/Pflaster aufweisen. Aufgrund der langen Wirkdauer der transdermalen Systeme koÈnnen die Dosierungen nur sehr langsam angepasst werden. Die Wahl des Opioids erfolgt nach der vorliegenden SchmerzintensitaÈt. Bei maÈûigen Schmerzen (VAS 1±4) kann mit einem Nichtopioid begonnen werden. Bei starken Schmerzen (VAS 5±6) sind Opioide mit geringer Wirkpotenz wie Codein, Dihydrocodein oder Tramadol indiziert. In solchen FaÈllen kann schon der Wirkstoff Buprenorphin in Form von transdermalem niedrigdosiertem Norspan indiziert sein, denn er ermoÈglicht eine zur notwendigen Analgesie geringe Substanzmenge. Eine solche Applikationsart kann auch dann in ErwaÈgung gezogen werden, wenn die Nichtopioide nicht mehr wirksam sind. MuÈssen Opioide der Stufe II in hohen Dosen gegeben werden und zeigen trotzdem eine unzureichende Wirkung, sollte unbedingt auf ein stark wirksames Opioid umgestellt werden. Insbesondere koÈnnen Nebenwirkungen, die durch hohe Dosen von schwachen Opioiden verursacht werden, so vermieden werden. Dies gilt auch bei der Behandlung von chronischen Schmerzen mit hohen Dosen von Stufe-I-PraÈparaten. Generell sollte deshalb bei starken bis sehr starken Schmerzen (VAS 5±10) von Anfang an gleich mit einem retardierten Opioid der WHOStufe III (Oxycodon/Naloxon, Oxycodon, Hydromorphon, Fentanyl-TTS, Buprenorphin TTS oder Morphin retardiert) begonnen werden.

149

17

4 Schnell mit der Dosis des Opioids nach oben bis zu einer ausreichenden Schmerzbefreiung titrieren (zu beachten: dies ist mit transdermalen Systemen nicht moÈglich). 4 Auf eine gleichzeitige Einnahme von Laxanzien kann bei Verordnung der retardierten Fixkombination aus Oxycodon und Naloxon (Targin) verzichtet werden. Die Kombination aus Agonist und Antagonist therapiert die hartnaÈckigste Opioidnebenwirkung, die opioidbedingte Obstipation, kausal. Bei anderen Opioiden sollte gleichzeitig ein Laxans (Laktulose, Natriumpicosulfat) von Anfang an mit verordnet werden. 4 Bei gleichzeitig vorliegenden neuropathischen Schmerzen (Chemotherapie, Bestrahlung, postchirurgische Schmerzen, Plexopathie, paraneoplastische periphere Neuropathie, Radikulopathie) zusaÈtzlich ein PraÈparat, das am NMDA-Rezeptor angreift, verordnen (Memantin, Dextromethorphan, Ketamin). Alternativ kommt auch ein Antiepileptikum der 2. Generation (Gabapentin, Pregbalin, Lamotrigin, Topiramat) und/oder ein Antidepressivum der NaSSA-Gruppe (noradrenege und spezifisch serotonerge Antidepressiva) wie Mirtazapin (Remergil, Remeron) und weniger trizyklische Antidepressiva der SSRI-Gruppe (»selective serotonin re-uptake inhibitor«) in Frage. Wegen seiner gleichzeitigen NMDA-antagonistischen Wirkung [60] kann auch auf das Opioid Levomethadon (L-Polamidon) umgestiegen werden. Im Rahmen neuropathischer Schmerzen kann auch das 5 % Lidocoinpflaster (Versatis) hilfreich sein. 4 Bei starker Ûbelkeit Haloperidol 0,5±1 mg alle 6±8 h oder Ondansetron 4 mg 4 Bei starker Sedierung evtl. ein Psychoanaleptikum zusaÈtzlich verordnen (Methamphetamin, Methylphenidat, Modafinil). 4 ZusaÈtzliche Kortikoidtherapie bei akuter Nervenkompression, gesteigertem intrakraniellem Druck, Anorexie, Weichteilinfiltration, Ûberdehnung viszeraler Organe und Stimmungsschwankungen. 4 Bei Knochenmetastasen die Gabe von Bisphosphonaten erwaÈgen. 4 FuÈr evtl. Durchbruchschmerzen dem Patienten zusaÈtzlich ein schnell freisetzendes Opioid verordnen, wobei die Dosis zwischen 5 und 15 % der gesamten taÈglichen Opioiddosis betragen und das Dosierungsintervall lang genug sein sollte, um die volle Wirkung beurteilen zu koÈnnen, d. h. bei retardiertem Oxycodon/Nalo-

150

Kapitel 17  Opioide in der Langzeittherapie chronischer Schmerzen

xon (Targin) schnell wirksames Oxycodon (Oxygesic Kapseln), bei Palladon retard unretardiertes Palladon 1,3/2,6 mg, bei retardiertem Morphin eine MorphinloÈsung oder nichtretardiertes Morphin wie Sevredol, bei transdermalem Fentanyl (DurogesicSMAT) den Fentanylstick (Actiq), bei transdermalem Buprenorphin (TranstecPRO) die bukkale Buprenorphintablette (Temgesic). 4 Bei Versagen der oralen Opioidtherapie oder bei zu starken Nebenwirkungen kann auf ein anderes Opioid umgestiegen werden (Opioidrotation.). Die hierbei empfohlenen Umrechnungstabellen (. Tabelle 17-9) dienen nur als Richtschnur, wobei die jeweilige Dosis dem individuellen Bedarf angepasst werden muss. FuÈr ein Umsteigen eignet sich besonders Levomethadon, weil es zusaÈtzlich sowohl durch Blockierung des NMDA-Kanals als auch uÈber eine praÈsynaptische Wiederaufnahmehemmung von Serotonin die analgetische Wirkung verstaÈrkt [82, 83]. Alternativ kann eine subkutane, intravenoÈse oder epidurale Opioidgabe (mit externer oder interner Pumpe) erfolgen. Zur Wirkungspotenzierung der epiduralen Opioidgabe kann dies mit einem LokalanaÈsthetikum oder einem a2-Agonisten (Clonidin) kombiniert werden. 4 Soll jedoch auf ein anderes Opioid umgestiegen werden, wird normalerweise die Dosis des neuen Opioids um 30±50 % reduziert, um anschlieûend nach Bedarf wieder hochzutitrieren. 4 FuÈr die sog. reinen m-Liganden gibt es in der Dosierung keinen Ceilingeffekt. Die Dosistitration sollte so lange nach oben hin vorgenommen werden, bis eine ausreichende Schmerzbeseitigung erreicht ist oder die Nebenwirkungen nicht mehr tolerabel sind.

17.6.1 Kombination von Oxycodon mit dem

Antagonisten Naloxon

Das Opioid Oxycodon kann, wie alle anderen Opioide, potenziell auch missbraÈuchlich verwendet werden. Der Zusatz des Antagonisten Naloxon zu dem oralen MonopraÈparat Oxygesic (Fa. Mundipharma) hat nicht nur die EinschraÈnkung des Missbrauchs zur Folge. Der Zusatz von Naloxon hat einen nachgewiesenen therapeutischen Vorteil: Die fixe Kombination aus retardiertem Oxycodon und retardiertem Naloxon therapiert kausal die gravierendste Nebenwirkung der Opioidtherapie, die opioidinduzierte Obstipation. Die opioidinduzierte Obstipation unterliegt keiner Toleranzentwicklung, im Unterschied zu opioidbedingten Nebenwirkungen wie Ûbelkeit, Erbrechen und Sedierung. Die opioidinduzierte Obstipation kann sich zu einem so groûen Problem entwickelt, dass Schmerzpatienten es vorziehen, ihre Opioidtherapie abzusetzen. Targin ermoÈglicht die Prophylaxe und Therapie der opioidbedingten Verstopfung von Anfang an, ohne eine Beeinflussung der starken Analgesie. Das Naloxon erhaÈlt die normale Darmfunktion, waÈhrend das Oxycodon wie gewohnt stark und schnell analgetisch wirksam ist (s. 7 Kap. 17.4.4). Das oral eingenommene Naloxon bindet an die m-Opiatrezeptoren des Darms, die im Plexus myentericus und Plexus submucosus liegen, und verhindert aufgrund seiner hoÈheren AffinitaÈt die Bindung des Oxycodons an die Rezeptoren. Agonist wie Antagonist werden resorbiert und unterliegen dem First-pass-Effekt in der Leber. Oxycodon hat einen First-pass-Effekt von 68±80 %, Naloxon wird in der Leber nahezu vollstaÈndig abgebaut (i 98 %) und ist somit systemisch nicht verfuÈgbar. Naloxon hat somit nachweislich keinen Einfluss auf die analgetische Wirkung des Oxycodons [46].

. Tabelle 17-10. Parameter zur Bestimmung einer Obstipation unter chronischer Opioidgabe. Der BFI (Bowel Function

Index) ist eine von Mundipharma entwickelte Messmethode zur Beurteilung der DarmtaÈtigkeit

17

Darmfunktion: BFI (Bowel Function Index)

Punktzahl

Leichtigkeit der DefaÈkation waÈhrend der letzten 7 Tage vor Konsultation

NAS ˆ numerische Analogskala 0 ˆ einfach 100 ˆ mit groÈûter Schwierigkeit NAS: 0 ˆ uÈberhaupt nicht 100 ˆ sehr stark NAS: 0 ˆ uÈberhaupt nicht 100 ˆ sehr stark

GefuÈhl der inkompletten Entleerung waÈhrend der letzten 7 Tage vor Konsultation

PersoÈnliche EinschaÈtzung der Obstipation waÈhrend der letzten 7 Tage vor Konsultation Der BFI ist das arithmetische Mittel der genannten 3 Variablen.

17.6  Besonderheiten von Oxycodon, Oxycodon/Naloxon und Hydromorphon

In klinischen Studien wurde das optimale VerhaÈltnis von Oxycodon zu Naloxon von 2 : 1 ermittelt. Die Daten haben gezeigt, dass bei den eingesetzten therapeutischen Dosen der Kombination Targin (bis zu 80 mg Oxycodon/40 mg Naloxon) die starke analgetische Wirksamkeit des m-Agonisten Oxycodon durch den Antagonisten Naloxon nicht beeinflusst wird. ZusaÈtzlich konnte mehrfach gezeigt werden, dass sich die Darmfunktion unter

151

17

Targin im Vergleich zu Oxycodon wie auch im Vergleich zu Placebo bessert. Hierzu wurde der sog. Bowel Function Index (BFI; . Tabelle 17-10) als Beurteilungstool der Darmfunktion entwickelt und validiert. Der BFI ist das arithmetische Mittel der in . Tabelle 17-10 aufgefuÈhrten 3 Parameter. Ergebnisse einer Phase-II-Studie mit i 200 Patienten mit bis zu 80/40 mg/Tag Targin zeigten, dass die Kombination gut vertragen wird, der

Analgetische Wirkung von Oxycodon im ZNS

Wie wirkt Targin ?

4

1 Orale Einnahme von Targin (Oxycodon/Naloxon)

Fast vollständiger Abbau von Naloxon in der Leber

3

2 Blockade der Darmrezeptoren durch Naloxon

. Abb. 17-15a. Wirkmechanismus der Kombination Oxycodon/Naloxon (Targin) beim Menschen

152

Kapitel 17  Opioide in der Langzeittherapie chronischer Schmerzen

1

2 Orale Einnhame von TARGIN® : Oxycodon und Naloxon gelangen in den Darm.

Obstipation entsteht durch Bindung des Opioids an Opioid-Rezeptoren im Darm. Naloxon blockiert diese Rezeptoren. Lokale Prophylaxe oder Therapie der Obstipation!

4 Oxycodon gelangt nach der Leberpassage über den Blutkreislauf in das ZNS und entfaltet dort seine analgetische Wirkung.

TARGIN® 3 Über die Pfortader gelangt Naloxon direkt in die Leber und wird fast vollständig eliminiert (hoher First-Pass-Effekt).

Oxycodon entfaltet seine bewährte

Naloxon wirkt nicht systemisch als Antidot!

starke Analgesie.

. Abb. 17-15b. Wirkmechanismus der Kombination Oxycodon/Naloxon (Targin) beim Menschen

17

analgetische Effekt von Oxycodon nicht beeinflusst wird und sich nach 2 Wochen eine deutliche Verringerung der opioidinduzierten Obstipation, evaluiert mittels BFI, einstellte. Diese Beobachtungen werden durch Daten einer Phase-III-Studie mit uÈber 460 Patienten gestuÈtzt. Hier zeigte sich nicht nur die analgetische WirkaÈquivalenz gegenuÈber Oxycodon allein (Oxygesic), sondern auch die Verbesserung der Darmfunktion (BFI) bei obstipierten Patienten. Bei den Patienten nahm nicht nur der BFI deutlich ab, sondern die Anzahl von spontanen, nicht durch Laxanzien bedingten StuhlgaÈngen (CSBM) nahm auch signifikant zu. Die Einnahme von Laxanzien konnte in der Targin-Gruppe im Vergleich zur Oxycodon-Gruppe deutlich reduziert werden. Obwohl Patienten, die mit dem MonopraÈparat Oxygesic behandelt wurden, mehr Laxanzien einnahmen, verbesserte sich weder ihr BFI noch ihr CSBM. Die Kombination Targin (Fa. Mundipharma) ist aktuell in Form von Retardtabletten in den WirkstaÈrken 10/5 mg und 20/10 mg auf dem deutschen Markt erhaÈltlich. Nach oraler Einnahme der Oxycodon/Naloxon (2 : 1)-Retardtablette gelangen beide Wirkstoffe in den Darm. Bedingt durch die hoÈhere AffinitaÈt von Naloxon besetzt der Antagonist primaÈr die Opiatrezeptoren im Darm, sodass der Agonist Oxycodon dort nicht mehr andocken kann. Die Dosis des resorbierten Naloxons ist nach therapeutischen Dosen jedoch nicht hoch genug, um

den First-pass-Effekt der Leber zu uÈberspringen. Es wird vollstaÈndig abgebaut, und nur der zentral wirksame Agonist Oxycodon gelangt zu den Bindestellen im ZNS, wo er seine schmerzhemmende Wirkung entfaltet (. Abb. 17-15). Die Fixkombination Targin kann bei allen starken und sehr starken opioidbeduÈrftigen Schmerzen eingesetzt werden. Der Opioidagonist Oxycodon ist aufgrund seiner zusaÈtzlichen Interaktion mit dem k-Rezeptor [80] auch bei neuropathischen und viszeralen Schmerzen besonders effektiv (. Abb. 17-16; [46]). Bei Erscheinen dieser uÈberarbeiteten Auflage ist der Einsatz von Targin bis zu einer TageshoÈchstdosis von 40/20 mg zugelassen. Eine Erweiterung der Zulassung von hoÈheren Dosen wird zum aktuellen Zeitpunkt bei der BfArM eingereicht. Eventuell benoÈtigte hoÈhere Dosierungen des Opioids koÈnnen durch zusaÈtzliche Gaben von Oxygesic-Tabletten erzielt werden. 17.7

Therapie von Durchbruchschmerzen

Ein Durchbruchschmerz ist eine ploÈtzlich einschieûende SchmerzverstaÈrkung auf dem Boden eines gering vorliegenden Grundschmerzes bzw. einer ausreichenden Therapie chronischer Schmerzen [98]. Diese meist nicht vorhersehbare SchmerzverstaÈrkung tritt selbst unter einer laufenden Opioidtherapie auf [99]. Als ausloÈsende Faktoren koÈnnen z. B. Husten, Bewegungen, Miktion, DefaÈkation, Verbandswechsel und Schlucken in

153

Naloxon-Anteil (mg)

17.7  Therapie von Durchbruchschmerzen

17

0

10

20

30 0

10

20

30

40

50

60

70

80

90

100

zusammenfassende Wirksamkeitsbewertung sehr schlecht

schlecht

ziemlich schlecht

ziemlich gut

gut

sehr gut

mittelmäßig

. Abb. 17-16. Wirksamkeit und VertraÈglichkeit unterschiedlicher Kombinationen von Oxycodon und Naloxon bei Patienten mit

chronischen Schmerzen. Die Patienten bewerteten die Kombination von Naloxon und Oxycodon wirksamer als die Monotherapie mit Oxycodon

Frage kommen. Oft ist jedoch die ausloÈsende Ursache nicht zu eruieren. Der Durchbruchschmerz ist vom neuropathischen Schmerz streng zu trennen, weil jweils voÈllig andere Therapiekonzepte eingesetzt werden muÈssen. Der Durchbruchschmerz hat eine Inzidenz von im Mittel 4 Attacken pro 24 h und ist von 48 % aller Patienten nicht vorhersehbar [100, 101]. Im Allgemeinen haben 85 % aller Tumorpatienten 1±6 Attacken pro Tag, wobei die maximale StaÈrke nach ca. 3 min erreicht ist und der Schmerz ca. 30 min anhaÈlt [98, 102]. Der Durchbruchschmerz ist auf die zugrunde liegende Pathophysiologie des chronischen Schmerzes zuruÈckzufuÈhren, wobei unterschiedliche KoÈrperteile betroffen sein koÈnnen [100, 103]. Weil der Durchbruchschmerz nicht statisch ist, sondern einen episodischen Charakter hat, sollten Opioidformulierungen eingesetzt werden, die einen schnellen Wirkungsanstieg bei ausreichender WirkstaÈrke haben. Ziel ist es hierbei, diese Schmerzspitzen in zufriedenstellender Weise zu kupieren [100]. ! Wenn moÈglich, sollte zur Therapie von Durch-

bruchschmerzen die gleiche Substanz wie die Opioidbasismedikation, jedoch in schnellfreisetzender Form, eingesetzt werden, weil auf diese Weise zusaÈtzliche Nebenwirkungen, bedingt durch einen weiteren Wirkstoff, vermeiden werden koÈnnen.

DafuÈr stehen unterschiedlichste Opioidformulierungen zur VerfuÈgung. 17.7.1 Schnellfreisetzendes Oxycodon Oxycodon-Kapseln (Oxygesic) koÈnnen zur Behandlung von Durchbruchschmerzen wie auch zur Dosiseinstellung eingesetzt werden. Dies gilt besonders dann, wenn die Basistherapie aus retardiertem Oxygesic bzw. retardiertem Oxycodon/ Naloxon (Targin) besteht. Oxygesic-Kapseln (5, 10 und 20 mg) weisen vorteilhafte pharmakokinetische Eigenschaft auf: 4 Wirkeintritt innerhalb von 15±30 min, 4 maximaler analgetischer Effekt innerhalb von 30±40 min, 4 Wirkdauer ca. 4 h. Die absolute BioverfuÈgbarkeit von Oxycodon betraÈgt auch in der schnellfreisetzenden Formulierung etwa 2/3 (60±85 %) im Vergleich zur intravenoÈsen Gabe. Und weil Oxycodon eine Plasmaeiweiûbindung von nur 38±45 % hat, ist eine Verabreichung auch bei aÈlteren Patienten indiziert, die fast immer eine HypalbuminaÈmie aufweisen [104]. Die Dosierung orientiert sich grundsaÈtzlich an der StaÈrke der Schmerzen und muss der IndividualitaÈt des Patienten angepasst werden. Werden Oxygesic-Kapseln als Bedarfsmedikation zur Beherrschung von Durchbruchschmerzen verordnet, kann orientierend von einer Dosierung von 1/6±1/10 der

154

Kapitel 17  Opioide in der Langzeittherapie chronischer Schmerzen

Tagesdosis des retardierten Basisopioids (Targin oder Oxygesic) ausgegangen werden. Wird die Bedarfsmedikation haÈufiger als 2-mal am Tag benoÈtigt, ist dies ein Anzeichen dafuÈr, dass eine DosiserhoÈhung des Basisopioids erforderlich ist. Das Ziel einer effektiven Schmerztherapie ist eine patientenspezifische Dosierung, die, bei 2-mal taÈglicher Gabe von retardiertem Oxycodon (Oxygesic, Targin) oder Hydromorphon (Palladon), eine adaÈquate Analgesie mit moÈglichst wenigen Nebenwirkungen und moÈglichst geringem Bedarf an Rescue-Medikation gewaÈhrleistet (. Tabelle 17-11). 17.7.2 Orales transmukosales therapeu-

tisches System (o-TTS)

Insbesondere fuÈr die Therapie von Durchbruchschmerzen befindet sich eine oral-transmukosale Zubereitungsform von Fentanylcitrat (o-TFC) auf dem Markt (Actiq; Fa. Cephalon). Bei diesem Arzneimittel handelt es sich um eine Lutschtablette mit integriertem Applikator. Durch Reiben der Tablette an der Mundschleimhaut wird ein hoher Anteil des Wirkstoffs rasch transmukosal resorbiert und fuÈhrt zu einer schnell eintretenden Anal-

gesie (siehe unten). Es ist in sechs verschiedenen WirkungsstaÈrken in Form verschieden farblich gekennzeichneter Dosierungseinheiten erhaÈltlich erhaÈltlich (200-400-600-1200- und 1600 mg Fentanyl). (. Abb. 17-17). Durchbruchschmerzen stellen sich als voruÈbergehende Exazerbation chronischer Schmerzen (sog. Schmerzspitzen oder Schmerzattacken) dar, die unvorhersehbar auftreten und meist eine Dauer von 30 min haben, aber auch bis zu 2 h anhalten koÈnnen. Als AusloÈser kommen das Tragen schwerer Gewichte, schnelles Gehen, langes Sitzen, Essensaufnahme, DefaÈkation, Urinieren, Husten oder Extrembewegungen in Frage. In vielen FaÈllen ist jedoch der AusloÈser nicht mit aller Sicherheit zu eruieren. Weil Durchbruchsschmerzen von einer hohen SchmerzintensitaÈt charakterisiert sind, muss auf der Opioidbasismedikation die Schmerzspitze moÈglichst durch das gleiche Opioid, in schnell wirksamer Form, kupiert werden. Bei der Anwendung von oral-transmukosalem Fentanylcitrat wird das mit Glukose, ZitronensaÈure, StaÈrkehydrolysat, Dinatriumhydrogenphosphat und Beerengeschmack versetzte Fentanyl freigesetzt.

. Tabelle 17-11. Die als Rescue-Medikation in Frage kommenden oralen Opioide, ihre Pharmakokinetik und

Pharmakodynamik

17

Parameter

Oxygesic-Kapseln

Palladon 1,3/2,6

Form Darreichungsform Indikation Analgetische Potenz Dosierung im Alter

Kapseln mit Pulver Kapseln mit Pellets 5/10/20 mg 1,3/2,6 mg Starke bis sehr starke Schmerzen 2 7,5 Initiale Dosis sollte halbiert MoÈglicherweise geringere werden bei Nieren-/LeberDosen auch bei Nieren-/ funktionsstoÈrung LeberfunktionsstoÈrung, langsame Steigerung

Wirkungseintritt Wirkungsdauer Plasmaeiweiûbindung (PEB) BioverfuÈgbarkeit Eliminationshalbwertszeit Metabolisierung

15±30 min 4±6 h 45 %

30 min 4h I10 %

Bis zu 87 % 4±6 h Glucuronidierung CYP450 (CYP2D6)

Ausscheidung

Ûber FaÈzes und renal

32 % 2,64 h (1,68±3,87 h) Glucuronidierung zu HM3-Glucuronid, Dihydromorphin, Dihydroisomorphin und deren Glucuronide und Glukoside HauptsaÈchlich renal

Therapeutisch aktive Metaboliten

Keine

Keine

Sevredol Filmtabletten 10/20 mg 1 Vorsichtig bei aÈlteren (I 75 Jahre) Patienten und bei Patienten mit reduziertem Allgemeinzustand, evtl. laÈngere Dosisintervalle 30±90 min 4±6 h 20±35 % 20±40 % 1,7±4,5 h Glucuronidierung zu M-3-G und M-6-G

HauptsaÈchlich renal, 10 % FaÈzes M-6-G

17.7  Therapie von Durchbruchschmerzen

155

17

. Abb. 17-17a±c. Therapie von Durchbruchschmerzen mit dem oral-transmukosalen Therapiesystem (o-TTS). a Fentanylstick von Actiq. b Der Wirkstoff Fentanylcitrat wird hauptsaÈchlich uÈber die bukkale Schleimhaut resorbiert. c BioverfuÈgbarkeit von transmukosalem Fentanyl, wobei 25 % uÈber die Mundschleimhaut und weitere 25 % intenstinal von den verschluckten Anteilen resorbiert werden

156

Kapitel 17  Opioide in der Langzeittherapie chronischer Schmerzen

Weil die Lipophilie von Fentanyl sehr hoch ist (n-Oktanol/Wasser-Verteilungskoeffizient 816) wird es in Form seiner nicht-ionisierten Form sofort uÈber die Mundschleimhaut resorbiert und uÈber den systemischen Kreislauf zum zentralen Nervensystem transportiert. Dort passiert es rasch die Blut-Hirnschranke und steht damit schnell am eigentlichen Wirkungsort, den m-Rezeptoren zur VerfuÈgung. Aufgrund dieser speziellen Eigenschaften von Fentanyl kann das Analgetikum besonders gut auf die SchmerzintensitaÈt sowie das zeitliche Profil der Durchbruchschmerzepisoden abgestimmt werden.

Ûblicherweise werden beim Anwenden von oraltransmukosalem Fentanylcitrat 25 % der Gesamtdosis uÈber die Mundschleimhaut resorbiert, waÈhrend die restlichen 75 % mit dem Speichel geschluckt werden. Von diesen 75 % sind 25 % nach dem First-Pass-Effekt der Leber systemisch nachweisbar, so dass eine absolute BioverfuÈgbarkeit von 50 % besteht (. Abb. 17-17c). Die Zeitspanne, bis maximale Konzentrationen im Plasma erreicht werden, betraÈgt im Mittel 23 min, wobei anteilsmaÈûig die schnelle Absorption aus der Mundschleimhaut und die langsamere Absorption aus dem Gastrointestinaltrakt beteiligt sind.

Toxischer Dosierungsbereich Ideale Therapie bei Durchbruchsschmerz

Dauermedikation

Dauerschmerz

Zeit Therapie mit ACTIQ ohne Therapie

Therapie mit oralem Morphin [nicht retardiert] Analgesielücke

Dauermedikation Durchbruchschmerz

17 Chronische Schmerzen

Zeit . Abb. 17-18a, b. Optimierung der Therapie von Durchbruchschmerzen durch bedarfsadaptierte Dosierung und schnellen

Wirkungsseintritt

17.7  Therapie von Durchbruchschmerzen

Aufgrund der schnelleren bukkalen Absorption ist schon innerhalb von 5 min ein analgetischer Effekt zu verzeichnen, der, aÈhnlich wie intravenoÈses Morphin, zu einer Schmerzlinderung fuÈhrt [105]. Das Fentanyl-o-TTS steht somit in punkto Schnelligkeit dem intravenoÈsen Morphin nicht nach. Entsprechend der individuellen SchmerzintensitaÈt passt der Patient die Dosis der Wirkung an, indem bei unzureichender Wirkung die naÈchst hoÈhere Konzentration einsetzt wird (Prinzip des titrierten Einsatzes von Fentanylo-TTS gegen den Schmerz; . Abb. 17-18). Eine Atemdepression ist hierbei nicht zu erwarten, weil in den allermeisten FaÈllen solche Patienten nicht mehr opioidnaiv sind, sich das Atemzentrum schon auf einen hoÈheren Opioidspiegel eingestellt hat (ˆ relative Toleranzentwicklung auf die atemdepressorische Wirkung von Fentanyl) und der Patient gegen Schmerz titriert das Opioid aufnimmt. Immerhin konnte fuÈr diese Applikationsform eine im Vergleich zu nichtretardiertem Morphin bessere Schmerzkupierung bei Durchbruchschmerzen nachgewiesen werden [99]. Zur Therapie von Durchbruchschmerzen wird empfohlen, mit der niedrigsten Konzentration (200 mg) zu beginnen, um nach 15 min, entsprechend dem individuellen Bedarf, mit einer weiteren Konzentration von 200 mg zu dosieren. Sollte hiermit der Durchbruchschmerz nicht ausreichend zu kupieren sein, wird bei der naÈchsten Schmerzattacke mit der naÈchst hoÈheren Dosierung von Fentanyl-o-TTS (400 mg) therapiert (. Tabelle 17-12). Voraussetzung fuÈr die Anwendung von oral-transmukosalem Fentanyl (o-TTS) ist eine Basistherapie mit Opioiden bei chronischen Tumorschmerzen. Die Behandlung kann ohne Ausschleichphase abgebrochen werden, wenn Schmerzfreiheit erreicht wurde.

157

17.7.3 Einsatz von oral-transmukosalem

Fentanyl (o-TTS) im Rahmen der Narkoseeinleitung

In den USA wurde in der Vergangenheit ein oraltransmukosales Fentanylcitrat (Fentanyl Oralet) zur PraÈmedikation von Kindern vor operativen Eingriffen eingesetzt. Bei aÈngstlichen Kindern fuÈhrt das Lecken am Fentanylstick dazu, dass aufgrund der einsetzenden zentral-sedativen Komponente mit dem Lutschen aufgehoÈrt wird. Bei dem kleinen Patienten kann anschlieûend eine Vene punktiert und die Narkose eingeleitet werden, waÈhrend erst nach 15±30 min eine maximale BeeintraÈchtigung der Atmung zu erwarten ist. Erste atemdepressive Effekte treten jedoch fruÈher ein, waÈhrend analgetisch-sedative Wirkungen bei Plasmakonzentrationen von 1±2 ng/ml innerhalb von 3±5 min nachweisbar sind. Eine tiefe Analgesie mit Plasmakonzentrationen von 10± 20 ng/ml ist im Mittel nach 20±30 min zu erwarten. Vor Ausbildung einer vollen Atemdepression wird jedoch mit dem Lutschen aufgehoÈrt. Eine durch Fentanyl-o-TTS induzierte Atemdepression haÈlt, aÈhnlich wie die analgetische Wirkung, 2,5± 5 h an. Die anschlieûende Verabreichung allgemeiner AnaÈsthetika verlaÈngert die Wirkung, sodass, je nach Operationsdauer, mit einer lang anhaltenden Wirkung gerechnet werden muss (. Abb. 17-19). Der Einsatz von oral-transmukosalem Fentanyl bei Kleinkindern sollte deshalb nur unter entsprechendem klinischem Monitoring (Atemfrequenz, transkutane SauerstoffsaÈttigung) von einer Person durchgefuÈhrt werden, die mit der klinischen Beurteilung von Opioideffekten und den Methoden zur Aufrechterhaltung der Atmung und der Beatmung

. Tabelle 17-12. Orientierung am KoÈrpergewicht bei der Wahl des richtigen Fentanyllutschers zur Kupierung von Durchbruchschmerzen

KoÈrpergewicht [kg]

5±10 mg/kg KG

10±15 mg/kg KG

I15 15 20 25 30 35 i40

Kontraindiziert Nicht empfohlen 200 200 300 300 400

Kontraindiziert 200 200 300 400 400 400

17

. Abb. 17-19. Die unter steigenden Dosen von Fentanylo-TTS bei Kindern auftretenden Nebenwirkungen

158

Kapitel 17  Opioide in der Langzeittherapie chronischer Schmerzen

vertraut ist. Nur hierdurch ist eine dem klinischen Zustand angepasste individuelle Dosierung moÈglich (. Abb. 17-19), und werden Ûberdosierungserscheinungen vermieden [106]. FuÈr den Einsatz von oral-transmukosalem Fentanyl im Rahmen einer Sedierung [107] und als postoperatives Schmerztherapeutikum [105] wurden fuÈr diese Applikationsform eine im Vergleich zu intravenoÈsem Morphin aÈhnlich schnelle Anschlagzeit in der Schmerzbefreiung von im Mittel 4±5 min nachgewiesen. Im Vergleich zur PCA mit Morphin wies die oral-bukkale Fentanyldosiereinheit von 800 mg eine deutlich laÈngere Schmerzbefreiung von im Mittel 215 min auf. In beiden Indikationsbereichen ist darauf hinzuweisen, dass der Patient nur unter stetiger Beobachtung eines mit dem Gebrauch von Opioiden vertrauten Arztes Fentanyl-o-TTS verwenden sollte. Insgesamt bestehen fuÈr den Einsatz des oral-transmukosalen therapeutischen Systems die in der Ûbersicht angegebenen Indikationen und Kontraindikationen.

17

Zusammenfassung der Indikationen und Kontraindkationen fuÈr den Einsatz von Fentanyl-o-TTS 4 Indikationen: ± Sedierung aÈngstlicher Kinder ± Wache Sedierung von Erwachsenen bei gleichzeitiger Verwendung eines LokalanaÈsthetikums fuÈr ± kurze diganostische Eingriffe ± kieferchirurgische Eingriffe ± Voraussetzungen: ± erhaltene protektive Reflexe ± erhaltene Spontanatmung ± erhaltene Reaktion auf Anruf ± Durchbruchschmerzen im Rahmen einer Opioidtherapie 4 Kontraindikationen: ± ErhoÈhter intrakranieller Druck ± Einnahme von MAO-Hemmern in den letzten 14 Tagen ± Vorbestehende Leber- und/oder Niereninsuffizienz ± KoÈrpergwicht I 15 kg ± Schwangere, GebaÈrende ± Alter i 65 Jahre ± Gleichzeitige Benzodiazepineinnahme ± Existente StoÈrungen (Asthma, Emphysembronchitis) ± Fehlendes Monitoring ± Therapie chronischer oder postoperativer Schmerzen

17.7.4 Neue MoÈglichkeiten zur Therapie von

Durchbruchschmerzen ± die Morphinbrausetablette

Statt einer schnellfreisetzenden Morphintablette besteht jetzt auch die MoÈglichkeit, mit Hilfe einer Morphinbrausetablette (Painbreak, Fa Riemser; . Abb. 17-20) das Opioid in Wasser aufzuloÈsen und in einer trinkbaren Form dem Patienten anzubieten. Die Morphinbrausetablette enthaÈlt 2 Fraktionen, den aktiven Wirkstoff Morphinsulfatpentahydrat (20 mg) und den Brauseanteil. Letzterer besteht aus Natriumchlorid, das als LoÈsungsvermittler dient, und Povidon K25, einem GranulatfluÈssigkeitsbinder. ZusaÈtzlich sind in der Brausetablette Dihydrogenphosphat und Natriumhydrogencarbonat eingebettet, sodass bei BeruÈhrung mit Wasser ein Brauseeffekt zustande kommt. Aspartam ist als SuÈûstoff hinzugesetzt, um den bitteren Geschmack von Morphinsulfat zu uÈberdecken, waÈhrend Makrogel und Magnesiumstearat als Tablettenbinder fungieren. Erste Ergebnisse von Multicenterstudien zur Anwendung der Morphinbrausetablette bei Durchbruchschmerzen wiesen eine im Gegensatz zu der schnell freisetzenden Morphintablette kuÈrzere Anschlagzeit auf (. Abb. 17-21; [108]). UrsaÈchlich hierfuÈr duÈrfte die schnellere Passage durch den Magen und das Duodenum sein, indem die waÈssrige LoÈsung des Analgetikums schneller zu den relevanten Bereichen des Darms zur Resorption und uÈber den Blutkreislauf zu den Opioidbindestellen gelangt. Die Nebenwirkungsrate war erwartungsgemaÈû aÈhnlich den uÈblichen Opioidmedika-

. Abb. 17-20. Die Morphinbrausetablette mit dem Wirkstoff Morphinsulfat zur Therapie von Durchbruchschmerzen

159

17.7  Therapie von Durchbruchschmerzen

35

Obgleich der schnelle Transfer von Fentanyl durch die Mundschleimhaut auch fuÈr den schnellen Wirkungsanschlag von oral-transmukosalem Fentanylcitrat verantwortlich ist, so stellt doch die lipophile Natur von Fentanyl ein Hindernis bei der LoÈsung in Speichel dar, ein erster notwendiger Schritt fuÈr die buccale Aufnahme einer Substanz. Fentanyl hat einen pKa von 8,4 und liegt als schwache Base vor. In dieser Form loÈst sich Fentanyl in einer waÈssrigen Umgebung wie dem Speichel schlecht auf. Nur die ionisierte, weniger lipophile Form, die vorwiegend bei niedrigem pH vorliegt, kann sich in Speichel aufloÈsen. Andererseits wird jedoch die lipophile, nicht-ionisierte Form besser uÈber die Mundschleimhaut resorbiert [112]. Mit Hilfe der OraVescent Technology (Cephalon Inc, Salt Lake City Utah, USA) ist es gelungen, neben einer notwendigen AufloÈsung auch die orale transmukosale Absorption von Fentanyl zu erreichen. Bei dem Opioid, welches als schwache Base vorliegt, wurde mit Hilfe einer chemischen Reaktion, bei der ein leichter Brauseeffekt entsteht, neben einer notwendige pH-Ønderung auch eine Optimierung der Resorption erreicht. Der Brauseeffekt wird bei der Zugabe einer SaÈure und Bikarbonat in waÈssriger LoÈsung mit der Bildung von Kohlendioxid angestoûen. In einem offenen System wie der MundhoÈhle bildet sich bei der Zugabe einer SaÈure auf Bikarbonat KohlensaÈure, die rasch in Kohlendioxid und Wasser dissoziiert. Das Kohlendioxid entweicht in die AtmosphaÈre und aufgrund der Øquilibrierung stellt sich wieder ein basischer pH ein.

30 25

p< 0.001

min

17

20 15 10 . Abb. 17-21. Anschlagzeiten der Morphinbrausetablette (links) im Vergleich zur schnell freisetzenden Morphintablette (rechts). Die Morphinbrausetablette zeichnet sich durch kuÈrzere Anschlagzeiten bei Tumorpatienten mit Durchbruchschmerzen aus

tionen (Ûbelkeit, Somnolenz, Juckreiz, MuÈdigkeit), wobei die Patienten wegen des Brauseeffektes eindeutig der waÈssrigen Aufbereitungsform von Morphin den Vorzug gaben. 17.7.5 Fentanyl-Buccaltablette (Effentora) zur

Therapie von Durchbruchsschmerzen

Lipophile Opioide werden i. Allg. von der oralen Schleimhaut leichter aufgenommen als hydrophile Opioide [109]. Andererseits kann eine lipophiles Opioid wie Fentanyl auch schneller aus dem Blut uÈber die Blut-Hirn-Schranke in das zentrale Nervensystem eindringen. So bestehen Øquilibrationszeiten zwischen Blut und ZNS von 6 min fuÈr Fentanyl [110] (fuÈr Morphin ca. 17 min [111]). 0.6 FEBT (200μg)

nicht-brausehaltige Tablette (200μg)

Fentanyl (ng/mL)

0.5

OTFC (200μg)

0.4

0.3

0.2

0.1

0 0

2

4

6 Zeit (h)

8

10

12

. Abb. 17-22. Mittlere Fentanylkonzentrationen im Plasma nach Einnahme von 200 mg Fentanylbrausetabletten (FEBT), von 200 mg Fentanyltabletten ohne Brauseanteile und von 200 mg oralem, transmukosalem Fentanylcitrat (OTFC). Nach [113]

160

Kapitel 17  Opioide in der Langzeittherapie chronischer Schmerzen

Die Fentanylbrausetablette (FBT: fentanyl buccal tablet) besteht aus ZitronensaÈure, Natriumbikarbonat, Natriumkarbonat und Fentanylcitrat. Indem sich die Tablette aufloÈst, senkt die ZitronensaÈure den pH-Wert an der Applikationsstelle. Die entstehenden Wasserstoffionen verbinden sich mit Bikarbonat und es entsteht KohlensaÈure. Diese zerfaÈllt zu Wasser und Kohlendioxid, welches entweicht. Dadurch steigt der pH-Wert wieder an. Bei diesem Prozess bleibt uÈberschuÈssiges Natriumcitrat und uÈberschuÈssiges Natriumbikarbonat in LoÈsung. Klinische Studien zeigen, dass die buccale Fentanylbrausetablette zu einer schnelleren Anschlagzeit und zu hoÈheren Wirkstoffspiegeln im Blut als eine Nicht-Brausetablette und als der transmukosale Fentanylstick fuÈhrt (. Abb. 17-22) Auf Grund der vielversprechenden Ergebnisse will die Fa. Cephalon das Produkt in groÈûerem Rahmen vermarkten. In den USA ist die Fentanyl-Buccaltablette seit September 2006 unter dem Handelsnamen Fentora erhaÈltlich, in Europa ist die MarkteinfuÈhrung fuÈr 2008 geplant. Die orale Bukkaltablette Effentora ist 4 indiziert bei Patienten mit Durchbruchschmerzen, 4 kontraindiziert bei allen opioidnaiven Patienten mit Schmerzen, 4 nicht bei MigraÈne-, postoperativen oder traumatischen Schmerzen indiziert, 4 nicht dosisaÈquivalent zu dem oralen, transmukosalenen Fentanlstick Actiq, 4 kein Ersatz fuÈr alle anderen fentanylhaltigen Schmerzmedikationen (z. B. Fentanylpflaster). 17.7.6 Fentanylsublingualtablette

17

Im Gegensatz zur Fentanylbukkaltablette wird die Fentanylsublingualtabletette unter der Zunge platziert. Der Vorteil soll hierbei in der groûen Speichelmenge zur schnelleren TablettenaufloÈsung unterhalb der Zunge sowie der neuen FAST-Galenik (»fast acting sublingual technology«) liegen. Bei dieser Darreichungsform kommt es zu einer vollstaÈndigen Resorption der Fentanyldosis uÈber die orale Mukosa (. Abb. 17-23; [114]). Im Gegensatz hierzu ist bei der bukkalen Fentanylbrausetablette wegen der zusaÈtzlichen gastrointestinalen absorbierten Fentanylmenge (ca. 52 %) eine breitere Anflutung des Opioids nachweisbar (. Abb. 17-22). Die Plasmafentanylkonzentrationen unter den verschiedensten Dosierungen von sublingualen Fentanyltabletten weisen auf einen kurzzeitigen Peak mit schnellem Abfall im Wirkstoffanteil

hin, ein Effekt, der bei der Therapie von Durchbruchschmerzen als vorteilhaft anzusehen ist (. Abb. 17-24). Vorteile der Fentanylsublingualtablette gegenuÈber dem Fentanylstick Actiq 4 Doppelte BioaÈquivalenz im Vergleich zum Fentanylstick 4 Aufnahme: Fentanylstick 40 %±50 %, entanylsublingualtablette: 70 % 4 Geringere interindividuelle Schwankungen 4 Kurzfristigere Plamaspitzenwerte

17.7.7 Intrapulmonale Verabreichung von

Opioiden

Vernebelung von Morphin, Hydromorphon, Diamorphin oder Anileridin zur Therapie postoperativer Schmerzen oder Dyspnoe bei Patienten mit terminalen Tumorerkrankungen ist schon seit langem bekannt. Einziger Hinderungsgrund fuÈr die breite Anwendung war die unzureichende Administration uÈber eine Gesichtsmaske, bei der ein groûer Anteil des vernebelten Opioids verloren geht [115±117]. Seit 1998 befindet sich ein handtellergroûes elektronisches Inhaliersystem (AERx, Fa. Aradigm, Hayward, USA) in der klinischen Phase II±III, mit dem Morphinsulfat intrapulmonal verabreicht werden kann (. Abb. 17-25). Das System ist dahingehend konzipiert, Durchbruchschmerzen sowie postoperative Schmerzen auf Anforderung zu kupieren. Vorteil der Inhalationsanalgesie ist die in den Lungenalveolen zur VerfuÈgung stehende FlaÈche von der GroÈûe eines Tennisplatzes, die zur Aufnahme des Opioids in den Kreislauf genutzt werden kann. Da die Alveolen nur mit einer duÈnnen Zellschicht ausgekleidet sind, ist die Barriere zum Kreislauf, selbst fuÈr ein relativ groûes OpioidmolekuÈl wie Morphin, verschwindend gering. Die Lunge ist deshalb ein praÈdestiniertes Organ, weil innerhalb kuÈrzester Zeit, bei gleichzeitiger Umgehung des First-pass-Effekts der Leber, ausreichend hohe Wirkstoffkonzentrationen aufgenommen werden und in den Blutstrom uÈbergehen, . Abb. 17-23. Prinzip der sublingualen Fentanyltablette mit n rascher Freisetzung und Absorption, wobei uÈber die Verwendung mukoadhaÈsiver Hilfsstoffe (Kollidon CL) das Pharmakon an der Mukosa haftet und nicht verschluckt wird und mit Mannitol das ansonsten lipidloÈsliche Opioid wasserloÈslich umhuÈllt ist, sodass eine Resorption uÈber die waÈssrige OberflaÈche der Schleimhaut erfolgen kann

161

17.7  Therapie von Durchbruchschmerzen

Große Oberfläche Gute Durchblutung Hohe Permeabilität Einheitliche Temperatur

Tablette

Freisetzung mucoadhäsiver Partikel

Verteilung und Anheftung der Partikel an der gesamten oralen Mucosa

Auflösung der Trägerpartikel und Absorption des freigesetzten Fentanyl über die orale Mucosa

17

162

Kapitel 17  Opioide in der Langzeittherapie chronischer Schmerzen

1.00 0.90 0.80

(ng/ml)

0.70 0.60 0.50 0.40 0.30 0.20 0.10 0.00 0

50 100 150 200 250 300 350 400 450 500 550 600

. Abb. 17-24. Plasmafentanylkonzentrationen unterschiedlicher sublingualer Fentanyldosen bei Tumorpatienten uÈber eine Zeitspanne von 600 min

Indem der Patient uÈber ein elektronisches Identifikationssystem das InhalationsgeraÈt aktiviert und waÈhrend der Inhalationsphase steril abgepackte Blister mit Morphin einsetzt, koÈnnen ausreichend hohe Partikelanteile bis in die Alveolen gelangen. Eine potenzielle Kontamination mit Mikroorganismen kann somit ausgeschlossen werden. Durch Ultraschallvernebelung werden die Partikel so fein zerstaÈubt, dass sie bis in die Alveolen gelangen. Dies setzt einen gleichbleibenden Inhalationfluss voraus, der fuÈr den Patienten dadurch sichtbar wird, dass eine gruÈne Diode aufleuchtet.

Staccato-System zur Vernebelung und Inhalation von Fentanyl bei Durchbruchschmerzen Erste Studien der Phase I mit einem neu entwickelten Staccato-System konnten demonstrieren, dass die Verwendung einer uÈber einen Fingerabdruck aktivierten Aorosolpumpe nach 30 s aÈhnlich hohe Blutplasmaspitzenspiegel an Fentanyl aufweist wie nach einer intravenoÈsen Injektion. Bei einer mittleren PartikelgroÈûe zwischen 1 und 3 mm werden auch tiefere Lungenabschnitte erreicht, und das Pharmakon kann uÈber die Aveolen aufgenommen werden. Das von der Fa. Alexza in Palo Alto/Kalifornien entwickelte handgehaltene, elektrisch aufgeheizte und fuÈr multiple Dosierungen konzipierte Inhalationssystem enthaÈlt eine Soft- und eine Hardware, die eine sichere patientenkontrollierte Abgaberate der in Blister abgefuÈllten Opioidmenge von je 25 mg ermoÈglicht. Weil das Staccato-System mit unterschiedlichsten Abgabraten und Lock-out-Zeiten vorprogrammiert werden kann, sind neben moÈglichen Ûberdosierungen auch Fremdanwendungen ausgeschlossen (. Abb. 17-26).

. Abb. 17-25. Das AERx-Essence-System, ein kostenguÈnstiges Inhaliersystem zur Verneblung von Morphin mit patientenkodiertem SchluÈssel

17

um anschlieûend an die Rezeptoren im ZNS anzudocken und eine sofortige Wirkung auszuloÈsen. FruÈhere Untersuchungen konnten mit dem AREx-Inhalator nicht nur einen der intravenoÈsen Injektion von Morphin und Fentanyl aÈhnlichen maximalen Wirkungsspiegel innerhalb von 2 min bei einer 75 %igen BioverfuÈgbarkeit nachweisen [118±120]. Vielmehr fanden sich fast identische maximale Konzentrationen des Opioids Morphin im Plasma [121].

. Abb. 17-26. Das Staccato-System zur Inhalation von Fentanyl

17.7  Therapie von Durchbruchschmerzen

Inhalation von liposomeingekapseltem Fentanyl Zur Inhalation des Opioids Fentanyl befindet sich ein weiteres System in der klinischen Erprobung (AeroLEF ˆ »aerolized liposome encapsulated fentanyl«, Fa. Delex Therapeutics Inc., Ontario, Kanada), wobei die ROSE-DS-Technologie (»rapid onset sustained effect delivery systems«) zum Einsatz kommt. Hierbei handelt es sich um die Inhalation von in Liposomen eingekapselten FentanylmolekuÈlen, die dazu fuÈhrt, dass es initial zu einer sowohl raschen als auch im Anschluss daran zu einer verzoÈgerte Freisetzung des Opioids mit lang anhaltenden Wirkungsspiegeln im Blut kommt (. Abb. 17-27).

163

17

Erste Ergebnisse konnten in Form eines im Vergleich zur intravenoÈsen Gabe fast ebenso schnellen Anstiegs effektiver Wirkstoffkonzentrationen bei einem jedoch gleichzeitig laÈnger anhaltenden hoÈheren Wirkungsspiegel im Blutplasma dokumentiert werden (. Abb. 17-28). Das in Liposome eingekapselte Fentanyl wird uÈber einen durch die Inspiration aktivierten Maghan-Vernebler in die Lungenalveolen aufgenommen, wobei die groûe AufnahmeflaÈche der Lunge eine gute Resorption des lipophilen Opioids Fentanyl garantiert. Zum zz aktuellen Zeitpunkt zz befindet sich das System in der Phase II der klinischen PruÈfung. Als Indikationssbereiche gelten:

. Abb. 17-27. GegenuÈberstellung von Blutplasmaspiegeln nach intravenoÈser und inhalativer (AeroLEF ˆ »aerolized liposome

encapsulated Fentanyl«) Opioidapplikation. (Mit freundlicher Genehmigung der Fa. Delex Therapeutics Inc., Ontario, Kanada)

. Abb. 17-28. Prinzip der ROSE-DS-Technologie (»rapid onset sustained effect delivery systems«), wobei die aktive Wirksubstanz,

in Liposomen eingehuÈllt, inhaliert bis zu den Alveolen gelangt, wo dann eine sowohl schnelle als auch protrahierte Freisetzung des Pharmakons stattfindet

164

Kapitel 17  Opioide in der Langzeittherapie chronischer Schmerzen

4 akute postoperative Schmerzen nach stationaÈren und auch ambulanten Eingriffen, 4 Durchbruchschmerzen bei Tumorpatienten, 4 chronische benigne Schmerzen. 17.8

Spezielle Verfahren bei Schmerzen im Gesichtsbereich ± ganglionaÈre lokale Opioidanalgesie (GLOA)

Zur Therapie atypischer Gesichtsschmerzen, postzosterischer Schmerzen sowie der postoperativen und posttraumatischen Neuralgie, bei Schmerzsyndromen, die mit Allodynie und HyperaÈsthesie einhergehen (sog. neuropathtische Schmerzen) wird die lokale Injektion in das Ganglion cervicale superius (GCS) mit einem Opioid propagiert [122, 123]. Indikationen einer ganglionaÈren, lokalen Opioidanalgesie (GLOA) mit 0,03 mg Buprenorphin in 10 ml 0,9 % NaCl 4 Ganglion cervicale superius ± Herpes zoster im Gesichtsbereich ± Trigeminusneuralgie ± Atypischer Gesichtsschmerz ± Sympathische Reflexdystrophie im Gesicht ± Zervikogener Kopfschmerz ± Phantomschmerz der oberen ExtremitaÈt ± DurchblutungsstoÈrungen der oberen ExtremitaÈt 4 Ganglion stellatum ± Herpes zoster im Bereich C2±Th4 ± Sympathische Reflexdystrophie C2±Th4 ± Sympathisch unterhaltene Schmerzen im Bereich C2±Th4

17

Das Grenzstrangganglion ist ca. 2,5 cm lang und liegt etwa 2 cm unterhalb der SchaÈdelbasis zwischen dem M. longus capitis und dem Venter posterior des M. digastricus. Zur Punktion mit anschlieûender Applikation des Opioids wird eine atraumatische 25-G-SpinalkanuÈle uÈber eine spezielle FuÈhrungskanuÈle mit Abstandhalter geschoben (. Abb. 17-29). Die Punktion erfolgt intraoral an der Rachenmandel vorbei, unterhalb des Gaumensegels und in HoÈhe des 2. HalswirbelkoÈrpers. Eine Punktion ist aber auch von auûen moÈglich (. Abb. 17-30). ! Cave. Wegen der engen anatomischen NaÈhe zu

den Nn. vagus, glossopharyngicus, hypoglossus und laryngeus superior, aber auch zur A. carotis interna, muss das LokalanaÈsthetikum an dieser Stelle mit groÈûter Vorsicht injiziert werden.

. Abb. 17-29. Die bei der Punktion des Ganglion cervicale superius verwendete SpezialkanuÈle mit FuÈhrungsmandrin

Die charakteristische Symptomatik neuropathischer Schmerzen ist die hohe Resistenz der Beschwerden, unabhaÈngig vom Verlauf der ausgeloÈsten Erkrankung, und die begrenzte Wirksamkeit systemisch verabreichter Opioide. Unter der Annahme, dass solche Schmerzen partiell sympathisch unterhalten werden, wird eine wiederholte Sympathikusblockade empfohlen. Weil diese Maûnahme sich aber nur bei einem Teil der Patienten und nur voruÈbergehend als wirksam erweist, wird mit einer risikoaÈrmeren Methode, der ganglionaÈren, lokalen Opioidanalgesie (GLOA), das Opioid Buprenorphin (0,03 mg) in der NaÈhe von sympathischen Ganglien appliziert. Nach Untersuchungen an 192 Patienten betraÈgt die Erfolgsrate bis zu 80 % [122]. Im Vergleich zur konventionellen Sympathikusblockade mit LokalanaÈsthetika wird auf den langfristigen Therapieerfolg hingewiesen. Weil die Wirkung weder auf einer systemischen Opioidwirkung noch auf einer lokalen Wirkung der VehikelloÈsung beruht, wird die therapeutische Wirksamkeit ursaÈchlich mit einer uÈber periphere Opioidrezeptoren vermittelten Analgesie in Verbindung gebracht, wie sie sich nach intraartikulaÈren Injektionen von Morphin nach Knieoperationen therapeutisch nutzen laÈsst [124]. Die Voraussetzung fuÈr den Therapieerfolg bei neuropathischen Schmerzen scheint die Lipophilie

oberes Halsganglion (rechts/links)

17

165

17.8  Spezielle Verfahren bei Schmerzen im Gesichtsbereich

Halsvene

Blutgefäße

Oberes Halsganglion

Zäpfchen Zunge

Zähne

Injektions nadel

Injektionsspritze Halsschlagader

. Abb. 17-30. Lokale Opioidanalgesie in das Ganglion cervicale superius (GLOA) zur Therapie neuropathischer Schmerzen mit

Zugang uÈber den Mund und seitlich vom Hals aus

. Abb. 17-31. Hypothetische VeraÈnderungen der bei neuropathischen Schmerzen am Ganglion cervicale superius ablaufenden biochemischen Modifikationen, die maûgeblich an der Vermittlung einer ganglionaÈren lokalen Opioidanalgesie (GLOA) beteiligt sind

des Opioids zu sein. Denn Opioide mit einer eher schlechten Lipophilie ± wie das Morphin ± weisen keine therapeutische Wirkung auf [125]. Das stark lipophile Buprenorphin dagegen hat eine deutlich schmerzbefreiende Wirkung. Es ist zu vermuten, dass in den Ganglien Opioidbindestellen gebildet werden, Rezeptoren, die nachgewiesenermaûen auch eine axoplasmatische Wanderung aufweisen [126]und, aÈhnlich wie im Arthritismodell am

Tier, die aus Monozyten und Leukozyten freigesetzten Endorphine binden [127]. Der Beweis, dass sich auch beim neuropthatischen Schmerz zusaÈtzliche Bindungsstellen fuÈr Opioide bilden (. Abb. 17-31), steht noch aus. Immerhin ist die jeweilige Lipophilie eines Opioids, die die jeweilige Penetrationsrate durch das Perineurium zum eigentlichen Nerv und zu den neu gebildeten Rezeptoren beeinflusst, von Bedeutung. Dies

166

Kapitel 17  Opioide in der Langzeittherapie chronischer Schmerzen

macht verstaÈndlich, warum die lokale Morphininjektion in solchen FaÈllen unwirksam ist [125], das stark lipophile Buprenorphin dagegen jedoch eine gute bis sehr gute Wirkung hat. Obgleich der Beweis fuÈr die nach einer laÈngeren Schmerzexposition mit Hilfe radioaktiv markierter Liganden sich darstellenden Opioidbindungsstellen im Ganglion cervicale superius noch aussteht, konnten jedoch opioidsensitive Bindungsstellen nach chronischen EntzuÈndungsreaktionen am Meniskus bei einer Gonarthrose demonstriert werden [128]. 17.9

17

Opioide bei Schmerzen nichtmaligner Ursache

Die Opioidtherapie bei Schmerzen nichtmaligner Ursache (z. B. rheumatische Schmerzen, Schmerzen bei degenerativen Skeletterkrankungen) wurde lange kontrovers beurteilt [34, 84±86]. Es setzt sich jedoch die Meinung durch, dass eine Opioidtherapie nichtmaligner Schmerzen indiziert ist, wenn starke bis sehr starke Schmerzen vorliegen und alle anderen schmerztherapeutischen Maûnahmen versagt haben. Eine vorangehende interdisziplinaÈre Therapie ist auch hier von Bedeutung, die aus einer Kombination unterschiedlicher schmerztherapeutischer Behandlungsmethoden besteht. Wie bei der Therapie von Tumorschmerzen mit Opioiden erfolgt auch hier 4 die Therapie nach einem festen Zeitschema; 4 die fortlaufende Ûberwachung, damit eine Dosisanpassung (ErhoÈhung oder Erniedrigung) jederzeit erfolgen kann; 4 die Indikationsstellung aufgrund der SchmerzstaÈrke und nicht der Diagnose; 4 der Beginn der Therapie mit niedrigpotenten Opioiden oder einem potenten Opioid in niedriger Dosierung (z. B. Oxygesic, Norspan); 4 die Einbettung der Opioidtherapie in eine Begleitmedikation; 4 die gleichzeitige Obstipationsprophylaxe, wenn nicht Targin verordnet wird. Vor Beginn der Therapie mit Opioiden bleibt zu eruieren, ob nicht psychsomatische Aspekte bei der Entstehung und Chronifizierung der Schmerzen die entscheidenden Schrittmacher gewesen sind. Dies setzt den sicheren Ausschluss einer psychogenen Schmerzursache voraus. In solchen FaÈllen stellen Opioide keine angemessene Therapie dar, und der Nutzen gegenuÈber einer moÈglichen Suchtentwicklung sollte abgewogen werden. Eine psychoreaktive Schmerzentwicklung

ist immer dann zu vermuten, wenn der Patient, evtl. unter Hinzuziehen der Familienmitglieder, wortreich seine Beschwerden schildert, ohne dass ein morphologisches Substrat vorliegt oder je vorlag. Allgemein sollte jedoch auch bei Schmerzen nichtmaligner Ursache festgehalten werden: ! Der sonst therapieresistente starke Schmerz auf-

grund einer benignen Grunderkrankung muss als maligne aufgefasst werden und bedarf der Therapie mit Opioiden.

Als besonders effektiv erwies sich die Opioidtherapie bei den durch schwerste degenerative Gelenkerkrankungen ausgeloÈsten Beschwerden [87±89, 90], wobei die Ergebnisse einer chronischen Opioidgabe bei nichtmalignen Schmerzen auf eine fehlende AbhaÈngigkeitsentwicklung hindeuten. Indikationen fuÈr Opioide bei nichtmalignen Schmerzen bei gleichzeitig vorliegender psychosozialer StabilitaÈt 4 Schwere Osteoarthrose (OA) 4 Schwere rheumatoide Arthritis (RA) 4 AusgepraÈgte Osteoporose 4 Spinalkanalstenose 4 Schwere Schmerzsymptomatik bei degenerativem WirbelsaÈulensyndrom 4 Phantom- und Stumpfschmerzen 4 Zentrales Schmerzsyndrom, z. B. nach Apoplex (sog. Thalamusschmerzen) 4 Postnukleotomiesyndrom 4 Neuropathische und viszerale Schmerzen 4 Fibromyalgie

Kontraindikationen fuÈr Opioide bei nichtmalignen Schmerzen 4 MigraÈne- oder Spannungskopfschmerzen 4 Funktionelle intestinale Schmerzen 4 Funktionelle urogenitale Schmerzen 4 M. Crohn 4 Suchtanamnese 4 Psychogene oder somatoforme Schmerzen 4 Fehlende psychosozialen StabilitaÈt 4 Keine Kontrolle der EffektivitaÈt durch den Therapeuten 4 Fehlende EinverstaÈndniserklaÈrung

18 Transdermale Opioide und andere spezielle Applikationsformen von Opioiden bei chronischen Schmerzen 18.1

Transdermale Opioide in der Therapie chronischer Schmerzen ± 169

18.1.1

Transdermales therapeutisches System mit Fentanyl (DurogesicSMAT) ± 170 Transdermales Buprenorphin (TranstecPRO) ± 179 Sufentanil als transdermales Pflaster Transdur ± 182 ZukuÈnftige Entwicklungen transdermaler Opioidsysteme ± 183

18.1.2 18.1.3 18.1.4

18.1

Transdermale Opioide in der Therapie chronischer Schmerzen

Die transdermale Opioidapplikation stellt eine innovative Form der Medikamentenapplikation dar. Dabei ist der Wirkstoff in einem Pflaster gebunden und wird uÈber die Haut aufgenommen. Ziel der transdermalen Arzneimittelapplikation ist die Optimierung der therapeutischen Wirksamkeit und die Minimierung von Nebenwirkungen. So tragen neben der VertraÈglichkeit speziell die einfache Handhabung und die groÈûere UnabhaÈngigkeit zu einer verbesserten Patientencompliance bei. Aus dem transdermalen System der Medikamentenverabreichung ergeben sich folgende Vorteile: 4 UnabhaÈngigkeit von der gastrointestinalen Resorption, 4 Umgehung des first-pass Effektes der Leber, 4 UnabhaÈngigkeit von der Nahrungsaufnahme, 4 Vermeidung von Injektionsschmerz (i.v., .i.m, s.c.) und moÈgliche Folgeinfektionen, 4 geringer Personalaufwand bei der Applikation, 4 praÈzise und konstante Wirkstofffreisetzung uÈber einen langen Zeitraum von 72±92 h, 4 Vermeidung von durch Plasmaspiegelspitzen hervorgerufene Nebenwirkungen (z. B. Atemdepression),

18.2

Weitere spezielle Applikationsformen der Opioide in der Therapie chronischer Schmerzen ± 183

18.2.1

OROS-Tablettensystem mit Opioidabgabe uÈber 24 h ± 183 Remoxy ± Opioid mit missbrauchsresistenter Formulierung ± 185 Kontinuierliche subkutane Infusion (KSKI) ± 186 Rektale Applikation ± 188 IntraventrikulaÈre Applikation ± 189 Duros-Implantat zur Therapie chronischer Schmerzen ± 189

18.2.2 18.2.3 18.2.4 18.2.5 18.2.6

4 geringere Inzidenz an Obstipation, 4 Vermeidung haÈufiger Tabletteneinnahme, 4 erhoÈhter Patientenkomfort und bessere Compliance, 4 breite Indikationsgebiete bei sowohl malignen als auch nichtmalignen Schmerzen. GrundsaÈtzlich gibt es 2 verschiedene transdermale ApplikationsmoÈglichkeiten (. Abb. 18-1): 4 die transdermale Aufnahme nach der Sandwitch-(Reservoir)technologie, 4 die transdermale Applikation nach der Matrixtechnologie. WaÈhrend fruÈher nur die Reservoirtechnologie auf dem Markt war, hat sich heutzutage die Matrixtechnologie durchgesetzt. Die Vorteile der Matrixtechnologie sind die bessere Klebe- und Trageeigenschaften, das duÈnnere Pflaster, das fehlende »dose-dumping« (ˆ die hoÈhere Abgaberate mit Intoxikationserscheinungen bei mechanischer Ûberbeanspruchung oder beim Zerschneiden) und die fehlende missbraÈuchliche Verwendung der Opioidreste im gebrauchten Reservoirsystem (. Tabelle 18-1). Das fehlende unerwuÈnschte »dose-dumping« garantiert eine praÈzisere Freisetzung/cm2 uÈber einen langen Zeitraum mit groÈûerer Sicherheit. Selbst bei BeschaÈdigung bleibt die normale Abgaberate erhalten; eine ploÈtzliche erhoÈhte Freisetzung ist nicht zu befuÈrchten.

170

Kapitel 18  Transdermale Opioide und andere spezielle Applikationsformen

Wirkstoff

transparente Abdeckfolie Klebeschicht mit Wirkstoff Fentanyl so gelangt der Wirkstoff in die Blutbahn

Blutgefäß

Wirkstoff

Oberseite

durchlässige Membran Klebeschicht

so gelangt der Wirkstoff in die Blutbahn

Blutbahn zum Gehirn

. Abb. 18-1. Die beiden unterschiedlichen Technologien bei der transdermalen Applikation von Opioiden: das Matrix- (oben) und das Reservoirsystem (unten)

. Tabelle 18-1. Vergleichende GegenuÈberstellung von Reservoir- und Matrixpflaster bei der transdermalen Verabreichung von Opioiden

Eigenschaften

Reservoirpflaster

Matrixpflaster

Pflasteraufbau Pflasterschichten Klebstoff Wirkstoffschicht

Sandwichsystem mit gallertartigem Inhalt 5 Schichten Silikonklebstoff Opioid suspendiert in Wasser/Ethanol und HydroxyethylstaÈrke Ethanol Polyethylenterephathlat (PET) ohne Schlitzung

Elastischer Matrixaufbau 3 Schichten Polyacrylatklebstoff Opioid direkt geloÈst im Klebstoff

Transportvermittler Abziehfolie

18.1.1 Transdermales therapeutisches

System mit Fentanyl (DurogesicSMAT)

18

Zur nichtinvasiven Einstellung und Aufrechterhaltung konstanter Blutkonzentrationen eines Opioids hat ein neuartiges Wirkungsprinzip, die transdermale Applikation, steigende Bedeutung erlangt. In Analogie zu anderen schon auf dem Markt

Keiner PET, geschlitzt und einseitg silikonisiert

befindlichen transdermalen Systemen (z. B. fuÈr Nitroglycerin, Ústrogen, Clonidin, Nikotin, Scopolamin u. a.) wird uÈber ein Pflaster durch die intakte Haut eine stetige Wirkstoffabgabe erreicht. GrundsaÈtzlich besteht eine groûe VariabilitaÈt im Ausmaû der Penetration in unterschiedlichen Hautarealen verschiedener Individuen und zu unterschiedlichen Zeiten, da lokale Hautirritationen

18.1  Transdermale Opioide in der Therapie chronischer Schmerzen

. Abb. 18-2. DurogesicSMAT mit dem Wirkstoff Fentanyl zur

transdermalen Applikation

durch das Pflaster, wechselnde lokale Temperaturen und eine unterschiedliche HumiditaÈt im Pflaster in unterschiedliche Permeationsgeschwindigkeiten muÈnden. Es wurde deswegen eine Spezialmembran entwickelt, die so aufgebaut ist, dass fuÈr 72 h eine kontinuierliche Abgabe des Wirkstoffs Fentanyl gewaÈhrleistet ist (. Abb. 18-2). Das 0,1 mm dicke und transparente Pflaster ist aus 3 funktionell unterschiedlichen Schichten zusammengesetzt: 4 Die Oberseite, die aus einer 51 mm dicken wasserabweisenden Polyesterabdeckfolie besteht, 4 die Polyacrylatklebeschicht, die das Analgetikum Fentanyl enthaÈlt, 4 die 48 mm dicke, einseitig silikonisierte Polyethylenterephthalatfolie, die vor dem Gebrauch des Pflasters zu entfernen ist (. Abb. 18-2). Pro Quadratzentimeter und pro Zeiteinheit kann eine genau definierte Menge Fentanyl entsprechend dem KonzentrationsgefaÈlle in die Haut diffundieren. WaÈhrend der Diffusion baut sich langsam ein Hautdepot unter dem Pflaster auf. Die weitere Diffusion erfolgt von dort aus in die Zirkulation, und das Fentanyl gelangt mit dem Blutstrom an seinen Wirkungsort an den zentralen Opiatrezeptoren im ZNS. Weil die Abgabemenge durch die Membran weitaus geringer ausgelegt ist als die Menge, die die Haut aufnehmen koÈnnte, ist die Resorptionsrate von Fentanyl somit nur wenig abhaÈngig vom Hauttyp (ethnische Herkunft) und von der Lokalisation des transdermalen Systems. Kurz nach der ersten Applikation des Pflasters auf der Haut steigt die Konzentration des Fentanyls im Plasma graduell an; stabile Konzentrationen im Plasma sind nach etwa 12±24 h zu verzeichnen. Das Pflaster gewaÈhrt uÈber 72 h eine gleichbleibende, effektive Analgesie mit konstan-

171

18

ten Konzentrationen im Plasma, sodass eine konstante Analgesie nach jedem Pflasterwechsel erhalten bleibt. Dies wird durch die kontinuierliche Diffusion von Fentanyl aus dem zuvor aufgebauten Hautdepot gewaÈhrleistet, die nur so lange anhaÈlt, bis sich unter dem Pflaster ein neues Hautdepot aufgebaut hat, von dem weiterhin Fentanyl in den Blutkreislauf diffundieren kann (. Abb. 18-3). Nach Aufkleben des Pflasters geht zuerst Fentanyl aus dem gesaÈttigten Kontaktkleber in die Haut uÈber. In den oberen Hautschichten bildet sich ein lokales Depot, das erst aufgesaÈttigt werden muss, bevor aufgrund der systemischen Resorption messbare Konzentrationen im Plasma erreicht werden. Die Zeitspanne hierfuÈr betraÈgt 2 h. Erst nach voller Ausbildung eines kutanen Depots (im Mittel nach 4 h) steigt die Resorption beschleunigt an; im Mittel werden nach 8±16 h klinisch relevante Konzentrationen und nach 12±24 h das Maximum der klinischen Wirkung bei im Mittel 0,5±1 ng/ml erreicht. Diese Resorptionsrate ist uÈber einen Zeitraum von 24 h ziemlich konstant, wobei ein Variationskoeffizient von 28 % nachgewiesen werden kann [1±4]. Steady-state-Plasmakonzentrationen sind innerhalb von 12±24 h zu erreichen und koÈnnen selbst nach mehrmaliger Applikation waÈhrend 72 h nachgewiesen werden [2, 4, 5]. Hieraus kann geschlossen werden, dass sich die Pharmakokinetik selbst nach mehrmaliger Applikation nicht grundlegend aÈndert und die transdermale Applikation sich pharmakokinetisch aÈhnlich wie die kontinuierliche subkutane oder intravenoÈse Infusion verhaÈlt [6]. Die Abgaberate von Fentanyl aus der D-TRANS-Matrix betraÈgt bis zu einer Applikationszeit von 72 h 2,5 mg/h/cm2. Um den klinischen Erfordernissen zu entsprechen, steht DurogesicSMAT in 5 PflastergroÈûen zur VerfuÈgung (5/10,5/21/31,5 und 42 cm2; . Abb. 18-4). Dies entspricht einer Abgaberaten von 12, 25, 50, 75 bzw. 100 mg/h, wobei die kleinste PflastergroÈûe mit einer Abgaberate von 12 mg/h besonders bei nichtmalignen Schmerzen und Tumorschmerzen beim Kleinkind vorgesehen sind. Es koÈnnen, falls erforderlich, mehrere Systeme simultan eingesetzt werden. Das DurogesicSMAT-Pflaster ist bei allen Patienten mit chronischen Schmerzen indiziert [3, 7, 8]: 4 bei denen Opioidspitzenkonzentrationen im Plasma vermieden werden sollen, 4 die eine wiederholte taÈgliche orale Opioideinnahme ablehnen,

172

Kapitel 18  Transdermale Opioide und andere spezielle Applikationsformen

. Abb. 18-3. Generelles Wir-

kungsprinzip eines transdermalen Opioidpflasters, aus dem das Pharmakon, entsprechend einem DiffusionsgefaÈlle, aus dem Pflaster passiv in die Haut diffundiert

Du r 25 oge μg sic T fen M tan SM yl/ AT h

T MA TM S l/h sic tany e g ro fen Du 0μg 5

91−150 mg/24 h

AT TM SM sic l/h oge entany r u D gf 75μ

151−210 mg/24 h

DurogesicTM SMAT 100μg fentanyl/h

18

211−270 mg/24 h

TM

Durogesic SMAT 125μg fentanyl/h

Bei stärkeren Schmerzen konnen mehrere Pflaster kombinlert werden.

TM

Durogesic SMAT 15μg fentanyl/h

Die Kombination gleicher und verschiedener Pflastergrößen ist möglich

entspricht an oralem Morphin

bis 90 mg/24 h

. Abb. 18-4.

Die verwendeten 5 unterschiedlichen PflastergroÈûen von DurogesicSMAT, die wechselweise auch kombiniert werden koÈnnen; Dosisanpassung ausgehend von einem schwach- oder starkwirkenden Opioid

18.1  Transdermale Opioide in der Therapie chronischer Schmerzen

4 die nicht in der Lage sind, Opioide oral aufzunehmen, 4 die eine enterale ResorptionsstoÈrung fuÈr Opioide aufweisen, 4 die bei oraler Opioideinnahme wiederholt erbrechen, 4 die eine langfristige, bis zu 3 Tage anhaltende Wirkungsdauer wuÈnschen, 4 die eine therapieresistente Obstipation bei oralen Opioiden aufweisen, weil nach transdermalen Opioiden diese Nebenwirkung signifikant geringer ist [9, 10], 4 bei denen der First-pass-Effekt uÈber die Leber umgangen werden soll, 4 bei denen eine verbesserte Compliance erreicht werden soll, 4 bei denen kein Leben »nach der Uhr« und eine Verbesserung der LebensqualitaÈt angestrebt wird. Andererseits muÈssen aber auch die Kontraindikation fuÈr die transdermale Opioidgabe beruÈcksichtigt werden: 4 Tumorkachexie, 4 aÈltere (i 65 Jahren) Patienten, die opioidnaiv sind, 4 Schmerzen, fuÈr die Opioide nicht erforderlich sind, 4 Hauterkrankungen, die eine transdermale Applikation unmoÈglich machen, 4 bekannte allergischen Reaktionen auf Opioide, 4 Schwangerschaft und Stillzeit, 4 instabiles Schmerzniveau. Eine relative Kontraindikation besteht bei allen Patienten mit nachgewiesenen Leber- und/oder NierenfunktionsstoÈrungen. Denn bei Fentanyl erfolgt die Inaktivierung uÈber eine N-Dealkylierung und Hydroxylierung in der Leber, wobei im Normalfall weniger als 10 % unveraÈndert uÈber die Niere ausgeschieden werden. Weil die Fentanylclearance jedoch proportional zur HoÈhe der Harnstoffkonzentration im Blut abnimmt [11], kommt es infolge einer NierenfunktionsstoÈrung zu einer WirkungsverstaÈrkung und -verlaÈngerung bis hin zur Opioidintoxikation. WaÈhrend die Clearance von Fentanyl auch bei einer UraÈmie beeintraÈchtigt ist, soll bei aÈlteren, kachektischen oder geschwaÈchten Patienten mit einer moÈglicherweise reduzierten renalen Clearance als Folge an eine verlaÈngerte terminale Halbwertszeit gedacht werden [12]. Eine VerlaÈngerung der renalen Clearance ist besonders bei aÈlteren Patienten zu erwarten, sodass in der Folge die Halbwertszeit verlaÈngert und aÈltere Patienten empfindlicher auf das Pharmakon als juÈngere reagieren. Es ist deshalb sorg-

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18

faÈltig auf Anzeichen einer Ûberdosierung zu achten, und die Dosis muss ggf. vermindert werden. ! Bei gleichzeitiger Gabe zentral daÈmpfender Phar-

maka wie Sedativa, Hypnotika, AllgemeinanaÈsthetika, Phenothiazinen, Tranquilizern, Antihistaminika, Alkohol und MAO-Hemmern sollte die Dosis der einzelnen Wirkstoffe reduziert werden, weil es sonst zu Ûberdosierungserscheinungen kommen kann.

Nach der Entfernung des DurogesicSMAT-Pflasters sinkt die Konzentration von Fentanyl im Plasma nur langsam, wobei im Mittel zwischen 15±22 h vergehen, bis die Konzentration um 50 % abgefallen ist. Dieser im Vergleich zur parenteralen Applikation langsamere Abfall beruht auf der Persistenz des kutanen Depots, weshalb sich diese neue Methode der Opioidapplikation grundsaÈtzlich von der parenteralen Opioidgabe unterscheidet. ! Transdermales

Fentanyl und transdermales Buprenorphin sind die einzigen nichtinvasiven Opioide, die in der Stufe III des WHO-Stufenplans auch bei SchluckstoÈrungen und gastrointestinalen ResorptionsstoÈrungen angewendet werden koÈnnen.

Die sorgfaÈltige und adaÈquate Dosistitration ist der ausschlaggebende Faktor fuÈr eine erfolgreiche Schmerztherapie. Die Dosistitration orientiert sich immer am Bedarf des Patienten. Bei opioidtoleranten Patienten werden folgende Schritte zur Umrechnung der oralen oder parenteralen Morphingabe auf das DurogesicSMAT-Pflaster empfohlen (. Tabelle 18-2): 4 Berechnung der fuÈr den Patienten in 24 h notwendigen oralen Morphindosis, 4 Umrechnung der Opioidmenge in aÈquianalgetische Morphindosen unter BeruÈcksichtigung einer Umrechnungstabelle (. Tabelle 18-2), 4 Berechnung der DurogesicSMAT-Menge aufgrund der innerhalb der ersten 24 h notwendigen oralen Morphindosis. ! Unter transdermaler Fentanylapplikation ist eine

kurzfristige Steuerung der abgegebenen Opioidkonzentrationen nicht moÈglich. DurogesicSMAT soll grundsaÈtzlich nur bei Patienten mit einem stabilen Schmerzniveau eingesetzt werden.

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Kapitel 18  Transdermale Opioide und andere spezielle Applikationsformen

. Tabelle 18-2. Dosisanleitung bei der Umstellung von oralem, retardiertem Morphin auf DurogesicSMAT

Orales Morphin [mg/Tag]

DurogesicSMAT [Abgaberate mg/h]

PflastergroÈûe [cm2]

Bis 90 91±150 151±219 211±270 Je weitere 60 mg/Tag

25 50 75 100 Je weitere 25 mg/h

10 20 30 40 Je weitere 10 cm2

Das Fentanylpflaster muss alle 72 h ersetzt werden. Sollte die analgetische EffektivitaÈt nicht ausreichen, muss die Dosis nach 2 Tagen in Stufen von 25 mg/h erhoÈht werden (. Abb. 18-4). Øhnlich wie bei der oralen Therapie mit retardierten Opioiden (z. B. MST Mundipharma oder Oxygesic) gilt es auch bei der transdermalen Fentanylanwendung, den sog. Durchbruchschmerz (»breakthrough pain«; s. 7 Kap. 17.7 »Therapie von Durchbruchschmerzen«) zu beruÈcksichtigen (. Abb. 18-5). Das Auftreten solcher ploÈtzlicher Schmerzexazerbationen ist in der Tumorschmerztherapie seit langem bekannt. Da sie in i 50 % aller FaÈlle auftreten koÈnnen, sind zusaÈtzliche Opioiddosen als adaÈquate Therapiemaûnahme unbedingt notwendig [13, 14]. Die Verabreichung von Zwischendosen (»Rescuedosen«) haben den Zweck, auûerhalb des normalen Schmerzniveaus auftretende Schmerzattacken oder -spitzen abzufangen, ohne die Basismedikation sofort zu erhoÈhen. Hierzu sind v. a. Opioide geeignet, die eine kurze Anschlagzeit haben. FuÈr die Behandlung solcher ZustaÈnde steht derzeit die orale MorphinloÈsung zur VerfuÈgung, denn eine parenterale Alter-

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native (intravenoÈs, intramuskuluÈr, subkutan, epidural) ist wegen des zusaÈtzlichen technischen Aufwands nur mit zusaÈtzlicher Belastung und zusaÈtzlichen Wartezeiten verbunden, es sei denn, die Patienten erhalten uÈber einen dieser Applikationswege eine kontinuierliche Medikation mit programmierter Pumpe, bei der die MoÈglichkeit der zusaÈtzlichen »On-top-Bolusgabe« besteht. Durchbruchschmerzen lassen sich gut mit dem schnell wirkenden transmukosalen therapeutischen System des Opioids Fentanyl, dem Fentanyllutscher (Actiq, Fa Cephalon) abdecken. Diese Applikationsform erlaubt es, sehr rasch und individuell dosierbar Schmerzspitzen mit dem gleichen PraÈparat abzudecken (NaÈheres s. 7 Kap. 17.1). Je laÈnger wirksam ein Analgetikum oder seine Applikationsform ist, desto laÈnger dauert es, bis ein Gleichgewichtszustand zwischen Arzneimittelzufuhr und notwendiger Konzentration des Opioids am Rezeptor erreicht ist. Liegt ein 3-maliger Durchbruchschmerz innerhalb von 24 h vor, sollte eine hoÈhere Basismedikation erwogen werden. Insbesondere ist die unter oralem retardiertem Morphin zu beobachtende Obstipation, deren Beherrschung u. U. schwieriger als die eigentliche Therapie der Schmerzen sein kann, nach DurogesicSMAT deutlich geringer. UrsaÈchlich wird eine im Vergleich zu Morphin groÈûere Lipophilie diskutiert, d. h. die Passage des Fentanyls durch die Blut-Hirn-Schranke ist problemloser, sodass daraus eine intensivere Besetzung der Opioidrezeptoren im ZNS mit suffizienterer Analgesie resultiert. Andererseits ist auch die Umgehung der enteralen Resorption uÈber den Darm dafuÈr verantwortlich, dass die Opioidrezeptoren im Darm nicht im gleichen Ausmaû wie bei einer oralen Applikation besetzt werden (. Abb. 18-6). Die durch das Fentanyl-TTS ausgeloÈsten Nebeneffekte entsprechen denen anderer Applika-

. Abb. 18-5. Die waÈhrend chronischer Dauerschmerzen auftretenden Durchbruchschmerzen, die ein Opioid mit kurzem Wirkanschlag erfordern

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18.1  Transdermale Opioide in der Therapie chronischer Schmerzen

Durogesic: transdermal Schmerzadäquate Dosierung - analgetische Wirkung

Morphin: oral Mengen” -äquivalente “ Dosierung zu Fentanyl

18

Morphin: oral Äquianalgetische Dosierung zu Fentanyl

. Abb. 18-6. Schematische GegenuÈberstellung zum unterschiedlichen Ausmaû der Besetzung von Opioidrezeptoren im Darm und im ZNS bei aÈquianalgetischen Dosierungen

tionsmodi mit Morphin. Mit lokalen Irritationen durch das Pflaster ist in EinzelfaÈllen zu rechnen. Diese sistieren jedoch nach der Entfernung sofort wieder. Die Inzidenz von HautroÈtungen liegt bei 4 %. Klinisch relevante Atemdepressionen sind bei den Patienten nachweisbar, bei denen es aufgrund der falschen Indikationsstellung zu einer Ûberdosierung gekommen war. Hierzu zaÈhlen Patienten mit nichtopioidbeduÈrftigen RuÈckenschmerzen, Patienten mit Morphineinnahme und gleichzeitiger Applikation von transdermalen Pflastern und der postoperative Einsatz nach ambulanten Narkosen. DurogesicSMAT ist fuÈr den postoperativen zeitlich begrenzten Einsatz aus folgenden GruÈnden nicht geeignet [15]: 4 Wegen der langen, individuell variablen Latenz bis zur Ausbildung fuÈr die Wirkung ausreichender Konzentrationen im Blut muÈsste das Fentanylpflaster fruÈh, naÈmlich vor der Operation, appliziert werden. Aufgrund der Forderung einer effektiven Ûberwachung ergeben sich hieraus in der Krankenhausroutine jedoch Probleme.

4 Eine kurzfristige und individuelle Analgesietitration mit dem transdermalen Pflaster ist nicht moÈglich. 4 In der postoperativen Phase ist der individuelle Analgetikabedarf nicht vorhersehbar. Bei der Anwendung von DurogesicSMAT kaÈme es dann sowohl zu Unter- als auch Ûberdosierungen. Andererseits ist bei der Anwendung des Fentanylpflasters neben moÈglichen Nebenwirkungen ein Missbrauch nicht auszuschlieûen. Es ist daran zu denken, dass Maûnahmen oder Pathologien, die zu einer ErhoÈhung der KoÈrpertemperatur mit einer vermehrten Durchblutung am Ort der Applikation fuÈhren, hoÈhere Resorptionsraten von Fentanyl zur Folge haben. So wurde uÈber eine vermehrte Resorption von Fentanyl bei der Verwendung einer Heizdecke berichtet. Nach Anwendung einer heiûen Dusche [16] oder eines WaÈrmestrahlers waren Opioidintoxikation [17] mit Atemdepression die Folgen. Es sind FaÈlle bekannt geworden, bei denen es aufgrund einer allergischen Reaktion zu einer reaktiven HyperaÈmie mit vermehrter Hautdurchblutung und einer daraus resultieren-

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18

Kapitel 18  Transdermale Opioide und andere spezielle Applikationsformen

den hoÈheren Fentanylresorption gekommen ist [18, 19]. Besonders relevant ist die missbraÈuchliche Verwendung des Fentanylpflasters, die unter dem Reservoirsystem beobachtet wurde, jedoch auch fuÈr das Matrixsystem zutreffen kann. So berichten Autoren uÈber den Missbrauch eines Totenbestatters, der das Fentanylpflaster bei einem verstorbenen Patienten entnommen hatte [20], es wird auf die missbraÈuchliche intravenoÈse Injektion von 5 mg Fentanyl aus dem noch alten Reservoirpflaster mit Todesfolge hingewiesen [21], und es wird uÈber eine Atemdepression nach der Inhalation von aus dem Pflaster verdampftem Fentanyl berichtet [22]. Zwar ist klinisch die Inhalation von Fentanyl zur postoperativen Analgesie schon vor einigen Jahren beschrieben worden [23, 24]. Hier ist jedoch die Abgabe unter kontrollierten Bedingungen gegen den Schmerz titriert, eine der Voraussetzungen, dass nachteilige Nebenwirkungen von inhaliertem Fentanyl nicht auftreten. Im Rahmen einer missbraÈuchlichen Verwendung des Fentanylpflasters ist auch die bukkale Applikation mit einer daraus resultierenden gesteigerten Resorption beschrieben worden [25], weil aufgrund der Lipophilie und der gut durchbluteten Mundschleimhaut eine gesteigerte Resorption mit hohen Blutplasmaspitzen und rasch euphorische Effekte erreicht werden. Wegen der schnellen und hohen Resorption uÈber die Mundschleimhaut kann selbst uÈber das Kauen eines Fentanylpflasters eine Atemdepression ausgeloÈst werden [26, 27]. Weil das Wissen von AbhaÈngigen uÈber die Resorption und die zusaÈtzlichen Wege, mit einem Opioid einen »Kick« zu erreichen, ausgepraÈgt ist, ist auch ihre Kenntnis uÈber potenzielle Applikationsorte mit erhoÈhter Resorptionsrate und einen damit einhergehenden euphorisierenden Effekt deutlich hoÈher als bei dem verschreibenden Arzt. So wurden z. B. bei einem Opioidintoxikierten zwei Fentanylpflaster am Scrotum ausgemacht, die eine Reanimation notwendig machten [28]. Unterstrichen werden solche ZwischenfaÈlle durch die mit EinfuÈhrung des Fentanylpflasters im Staat Maryland zugenommenen FaÈlle von Fentanylintoxikationen [29]. In 30 FaÈllen wurde, unabhaÈngig von der im Blutplasma nachgewiesenen Fentanylkonzentration (2,2±8,1 mg/l), auf die zusaÈtzlich missbraÈuchlich eingenommnen Drogen wie Benzodiazepine, Kokain und/oder Barbiturate, die als potenzielle Mitverursacher der atemdepressorischen Wirkung von Fentanyl anzusehen sind, hingewiesen [30].

Weil in einem 2,5-mg-Fentanylpflaster nach 3 Tagen immer noch 0,7±1,22 mg Fentanyl und in einem 10-mg-Pflaster nach 72 h immer noch 4,46±8,44 mg Fentanyl nachzuweisen sind [31], stellt ein gebrauchtes Pflastersystem eine potenzielle Quelle fuÈr alle OpiatabhaÈngigen dar. Hierbei koÈnnen bei einer Person von 70 kg mit einen fuÈr Fentanyl charakteristischen Verteilungsvolumen von 4 l/kg letale Konzentrationen von bis zu 10,4 mg erreicht werden, Konzentrationen, die weit uÈber der atemdepressorischen Schwelle von 3,7 mg/l liegen. Weil Fentanyl auch uÈber das gleiche Isoenzym wie andere Medikamente metabolisiert wird, kann die folgende N-Methylierung durch das Isoenzym CYP34A bei gleichzeitiger Einnahme von z. B. Itraconazol in eine verringerte Metabolisierungsleistung der Leber und eine ErhoÈhung des Blutplasmaspiegels mit Fentanyl resultieren. Viele Untersucher propagieren deshalb in allen den FaÈllen, in denen zusaÈtzlich PraÈparate wie Omeprazol, Itraconazol oder Fluvoxamin eingenommen werden, auch an die MoÈglichkeit einer Interaktion uÈber das gleiche Isoenzym zu denken, weil hieraus hoÈhere Plasmafentanylspiegel resultieren [32±34]. Eventuell sollte dann auf Morphin ausgewichen werden, das uÈber eine Glucuronidierung und weniger uÈber eine N-Methylierung metabolisiert wird. Und schlieûlich sind sowohl das Pflegpersonal, das bei bettlaÈgerigen Patienten alle 3 Tage einen Pflasterwechsel vornimmt und den Bereich der vorangegangenen Pflasterlokalisation reinigt [35], als auch Familienmitglieder als potenziell gefaÈhrdet anzusehen, die einen Pflasterverwechsel vornehmen [36]. Auch muss an eine fentanylbedingte Opioidintoxikation bei einer unerklaÈrlichen Atemdepression eines Kindes gedacht werden, wenn ein Pflaster versehentlich von der Mutter auf das Kind uÈberwechselte, das im gleichen Bett schlief [37]. Besonders jedoch ist auf das bei aÈlteren Patienten vorliegende niedrigere Vereilungsvolumen, einen aufgrund der Erkrankung erniedrigten Bluteisweiûspiegel sowie eine vorliegende Exsikkose zu achten. Denn bei der gleichzeitigen Anwendung eines Fentanylpflasters ist wegen hoÈherer Plasmaspiegel an eine moÈgliche Ûberdosierung mit Intoxikation zu denken [38]. Aus diesem Grund sollte bei Einstellung eines opioidnaiven aÈlteren Patienten auf ein anderes Opioid ausgewichen werden.

18.1  Transdermale Opioide in der Therapie chronischer Schmerzen

Richtlinien bei der Verwendung von Fentanylpflastern 4 Es sollte ein stabiles Schmerzniveau vorliegen. 4 Eine ausreichende Zusatzmedikation (Rescuemedikation) ist bei Durchbruchschmerzen bereitstellen. 4 Eine groûzuÈgige Anwendung der Zusatzmedikation ist in den ersten 48 h bei Umstellung auf DurogesicSMAT bereitzustellen. 4 Die mittlere taÈgliche Zusatzmedikation mit einem oralen Opioid dient zur Berechnung einer evtl. hoÈheren Fentanylpflasterkonzentration. 4 Die fuÈr das Fentanylpflaster vorgesehenen Hautareale sind rotierend alle 3 Tage zu wechseln. 4 Der Patient und seine AngehoÈrigen sind bei der ErklaÈrung des Wirkmechanismus mit einzubeziehen. 4 Es ist mindestens ein Applikationsintervall notwendig, um bei der Umstellung von einem oralen Opioid auf DurogesicSMAT eine ausreichende Wirkung beurteilen zu koÈnnen. 4 Zur Entsorgung sollte das benutzte Pflaster an der KlebeflaÈche zusammengelegt werden, sodass es sich nicht mehr auseinanderziehen laÈsst. Das so zusammengelegte Pflaster kann mit dem HausmuÈll entsorgt werden. Falls unbenutzte Pflaster in die Apotheke zuruÈckgegeben werden, beispielsweise, nachdem der Patient verstorben ist, sollten in der Apotheke die ungebrauchten Pflaster aus den Sachets entnommen und anschlieûend wie gebrauchte Pflaster an der KlebeflaÈche aneinander geklebt und entsorgt werden. 4 Wie bei der Verschreibung wirkstarker Opioide ist fuÈr die Verordnung von DurogesicSMAT ein BtM-Rezept notwendig. Hierbei gelten folgende HoÈchstmengen pro Rezept: FuÈr DurogesicSMAT 1000 mg, fuÈr Morphin MST 20.000 mg. Der Patient muss wissen, dass das Rezept nach der Ausstellung nur 7 Tage GuÈltigkeit hat. 4 Bei entsprechender Indikation (sehr starke Schmerzen!) koÈnnen die HoÈchstmengen uÈberschritten werden. Dazu muss das Rezept mit einem »A« gekennzeichnet werden. 4 Auf dem BetaÈubungsmittelrezept darf DurogesicSMAT (und andere Opioidanalgetika) nur fuÈr einen Zeitraum bis zu 30 Tagen ver-

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18

ordnet werden. 4 Im Notfall, beispielsweise bei einem Hausbesuch, ist die Verschreibung von DurogesicSMAT (und die anderer Opioidanalgetika) auf einem Normalrezept oder einem einfachen StuÈck Papier zulaÈssig. Die Verordnung muss mit dem Zusatz »Notfall-Verschreibung« gekennzeichnet sein. Anschlieûend muss ein BtM-Rezept, markiert mit einem »N«, nachgereicht werden. 4 DurogesicSMAT darf mit einem weiteren Opioid auf dem gleichen Rezept verschrieben werden, z. B. Fentanyl-TTS (DurogesicSMAT) und zusaÈtzlich MorphinloÈsung zur Behandlung von Schmerzspitzen. 4 Auf dem BtM-Rezept muÈssen mit Schreibmaschine oder handschriftlich ausgefuÈllt werden: ± Name, Vorname, Geburtsdatum und Anschrift des Patienten, ± Ausstellungsdatum, ± Arzneimittelbezeichnung, StuÈckzahl, Darreichungsform, Gewichtsmenge des BtM pro Darreichungsform, ± Gebrauchsanweisung mit Angabe der Anzahl der jeweiligen Darreichungsform pro Tag. Alternativ kann auch der Vermerk »gemaÈû schriftlicher Anweisung (oder »gem. schriftl. Anw.«) auf dem Rezept vermerkt werden, wenn eine solche dem Patienten ausgestellt wurde.

DurogesicSMAT bietet im Vergleich zu retardiertem oralem Morphin folgende Vorteile: 4 effktive Analgesie, 4 langes Applikationsintervall von 3 Tagen, 4 einfacher Applikationsmodus, 4 weniger gastrointestinale Nebenwirkungen, insbsondere eine geringere Obstipationsrate.

Weniger Fentanyl im Pflaster bei gleicher Schmerzlinderung Momentan sind 9 unterschiedliche Pflastertypen, die mit Fentanyl beladen sind, auf dem Markt. Neben DurogesicSMAT und den Matrixpflastern der Generikahersteller (z. B. Hexal, Ratiopharm, Sandoz, Stada, Riemser, Ribosepharm und Winthrop) zeichnet sich einzig das Pflaster von Nycomed (Matrifen) durch eine im Gegensatz zu den restlichen Pflasterformen zusaÈtzliche Diffusionskontrollmembran unterhalb der Wirkstoffmatrix aus (. Abb. 18-7). Sie sorgt fuÈr eine konstantere

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Kapitel 18  Transdermale Opioide und andere spezielle Applikationsformen

Äußere Abdeckfolie - silikonisierte Polyesterschicht, mit eindeutiger Pflasterbeschriftung

Der besondere Aufbau des Matrixpflasters Matrifen

Patentierte Novo-Matrix − enthält das Fentanyl in Form von Glykoltröpfchen. Fentanyl ist damit quasi emulgiert und kann leichter freigesetzt werden → kontrollierte und hocheffiziente Wirkstofffreisetzung

Diffusionskontrollmembran − stellt eine konstante Fentanyl-Abgabe über 72 h sicher

Silikon-Klebeschicht − Silikonkleber mit sehr guter Hautverträglichkeit für sicheren Halt

Abziehfolie − Schutzfolie mit praktischem S-Schlitz für einfache Applikation . Abb. 18-7. Neue Freisetzungstechnologie von Fentanyl bei einem Matrixpflaster

Wirkstoffabgabe. DaruÈber hinaus besteht die Klebeschicht aus dem hautfreundlicheren Silikon, waÈhrend andere Hersteller Polyacrylat bevorzugen. Durch die Novo-Matrix-Technologie ist bei Matrifen im Vergleich zu herkoÈmmlichen Fentanylpflastern eine effizientere Wirkstoffausnutzung moÈglich, sodass eine geringere Wirkstoffbeladung erforderlich wird. WaÈhrend alle generischen Pflaster zu DurogesicSMAT bioaÈquivalent sind und eine gleichwertige Freisetzungskinetik aufweisen, haben sie doch alle eine unterschiedliche Wirkstoffbeladung [60]. Hierbei weist Matrifen die geringste Beladung sowohl vor als auch nach dem Gebrauch auf (. Tabelle 18-3).

Der geringere RuÈckstand an Fentanyl in benutzten Matrifenpflastern: 4 reduziert das Risiko von Missbrauch durch DrogenabhaÈngige, 4 gibt mehr Sicherheit fuÈr im Haushalt lebende AngehoÈrige, besonders Kinder, 4 reduziert die Gefahr einer Ûberdosierung, z. B. bei Fieber, 4 schont die Umwelt, zumal Fentanyl eine hohe ÚkotoxizitaÈt aufweist.

. Tabelle 18-3. Vergleich verschiedener Fentanylpflaster bezuÈglich Wirkstoffbeladung (Wb) und Restwirkstoff (Rw)

nach 72 h Matrifen

18

12 mg/h 25 mg/h 50 mg/h 75 mg/h 100 mg/h

Wb [mg] 1,38 2,75 5,50 8,25 11,00

Rw [mg] 0,48 0,95 1,90 2,85 3,80

DurogesicSMAT

Fentanyl-ratiopharm MAT

Fentanyl-Hexal MAT

Wb [mg] 2,10 4,20 8,40 12,60 16,80

Wb [mg] ± 4,13 8,25 12,37 16,50

Wb [mg] 2,89 5,78 11,56 17,34 23,12

Rw [mg] 1,20 2,40 4,80 7,20 9,60

Rw [mg] ± 2,33 4,65 6,97 9,30

Rw [mg] 1,99 3,98 7,96 11,94 15,92

(TranstecPRO)

Øhnlich wie beim transdermalen Fantanylpfaster besteht das Buprenorphinpflaster aus einem Matrixsystem. Der Wirkstoff ist direkt in eine Polymermatrix eingebettet, die zugleich adhaÈsive Eigenschaften hat und uÈber das gesamte Pflaster als KlebeflaÈche dient. Hierdurch sind die Klebeeigenschaften des Pflasters besonders gut. Das Buprenorphinpflaster besteht aus einer Polymermatrix, wobei Haftschicht und Arzneistoffvorrat eine Einheit bilden (. Abb. 18-8). Das Opioid Buprenorphin bietet fuÈr die transdermale Applikation insofern optimale Voraussetzungen, weil es 4 hochlipophil ist; es weist somit eine hohe Penetration durch die Haut auf, 4 ein geringes Molekulargewicht aufweist, sodass eine schnelle Penetration durch die Haut garantiert wird, 4 eine hohe m-RezeptoraffinitaÈt hat, sodass nur niedrige Konzentrationen notwendig sind, um eine gute Analgesie selbst bei kleiner HaftflaÈche zu erreichen, 4 eine langanhaltende Bindung am Rezeptor hat, sodass eine lange analgetische Wirkung von bis zu 92 h erreicht wird, 4 in Form der bukkalen Tabelette (Temgesic) die MoÈglichkeit bietet, sog. Durchbruchschmerzen mit dem gleichen Pharmakon zu therapieren.

Zum Erreichen therapeutischer Wirkspiegel sind in der Regel Tagesdosen von 0,8±1,6 mg ausreichend. Durch unterschiedlich groûe Pflaster mit unterschiedlichen Freisetzungsraten von Buprenorphin ist eine individuelle Schmerzkupierung moÈglich. Øhnlich wie bei DurogesicSMAT bedarf es auch bei TranstecPRO einer Anflutungszeit von mindestens 16 h, bis ausreichende Plasmakonzentrationen von 100±150 pg/ml erreicht werden. Aufgrund der traÈgen Kinetik ist die Abflutungszeit nach Entfernen des Pflasters mit einer Zeitspanne von bis zu 35 h als lang anzusehen (. Abb. 18-9). Die Einstellung eines opioidnaiven Patienten oder die Umstellung von anderen Opoiden auf das Buprenorphinpflaster ist problemlos moÈglich. Die Ein- bzw. Umstellung sollte anhand einer Opioidumrechnungstabelle erfolgen, in der empirisch ermittelte NaÈherungswerte dargestellt sind, die im Einzelfall nach oben oder nach unten abweichen koÈnnen. Zur Ein- oder Umstellung werden die aÈquipotenten WirkungsstaÈrken bestimmt (. Abb. 18-10). Bei der Applikation des ersten Pflasters sollte waÈhrend der ersten 12 h weiterhin die Gabe des bisherigen Schmerzmittels erfolgen; Plasmakonzentration (pg/ml)

18.1.2 Transdermales Buprenorphin

18

179

18.1  Transdermale Opioide in der Therapie chronischer Schmerzen

300 TRANSTEC PRO (96 Stunden) 200 100 0

0

24

48

72

98

120

144

. Abb. 18-9. Mittlere An- und Abflutungszeiten von Bupre-

norphin (TranstecPRO) im Blutplasma mit einer Wirkdauer von 96 h

Buprenorphin 100 : 1 Oxycodon

1:2

Morphin

100 : 1

Fentanyl

7,5 : 1 Hydromorphon . Abb. 18-10. Die bei der Umstellung von einem Opioid auf . Abb. 18-8. Das transdermale Buprenorphinpflaster

(TranstecPRO), eine weiteres Opioid der WHO-Stufe III zur Therapie schwerer und schwerster SchmerzzustaÈnde

TranstecPRO verwendeten Umrechnungsfaktoren, wobei die Umrechnung nur als Richtschnur dient und in jedem Fall den individuellen BeduÈrfnissen angepasst werden muss

180

18

Kapitel 18  Transdermale Opioide und andere spezielle Applikationsformen

in den naÈchsten 12 h erfolgt die Dosis bedarfsorientiert. Eine Ausnahme ist die vorangehende Verwendung eines Fentanylpflasters, da Fentanyl bei der Umstellung nicht mehr weiter appliziert wird. Øhnlich wie bei dem Fentanylpflaster DurogesicSMAT sind folgende Punkte beim Buprenorphinpflaster TranstecPRO zu beruÈcksichtigen: 4 Ist eine Umstellung von einem anderen Opioid wegen zu starker Nebenwirkungen vorgesehen, so sollte eine zusaÈtzliche 30 %ige Dosisreduktion von TranstecPRO vorgenommen werden. 4 Bei der Einstellung opioidnaiver Patienten sollte mit der kleinsten PflastergroÈûe (35 mg/h) begonnen werden. In den ersten 24 h ist auch weiterhin das bisherige Nichtopioid zu verabreichen. 4 Bei Bedarf erfolgt die Behandlung von Schmerzspitzen/Durchbruchschmerzen durch die zusaÈtzliche Gabe eines schnell freisetzenden Opioids (z. B. Buprenorphinsublingualtabletten, Morphintropfen, Fentanlylstick, Morphinbrausetablette u. a.; s. 7 Kap. 17.7). 4 Bei unzureichender Analgesie wird die Dosis des Burprenorphinpflasters schrittweise erhoÈht (von 35 mg/h auf 52,5 mg/h), oder es erfolgt die Kombination zweier Pflaster mit 2 festen Wechseltagen in der Woche. 4 Alle 7 Tage ein neues Pflaster rotierend aufkleben. 4 Bei Bedarf erfolgt die Kombination mit Nichtopioiden oder Adjuvanzien. Das Buprenorphinpflaster zeigt eine konstante Analgesie von bis zu 96 h und weist eine hohe Patientenakzeptanz auf. Opioidtypische Nebeneffekte traten in klinischen Studien nur bei einem geringen Anteil der Patienten auf, von denen Ûbelkeit (116,7 %), Schwindel (6,8 %) Erbrechen (9,3 %) sowie Schwitzen (3,7 %) und MuÈdigkeit (5,6 %) dominierten. Hervorzuheben sind die niedrige Obstipationsrate (5,3 %), die im Gegensatz zur oralen Morphineinnahme einen deutlichen Vorzug aufweist, die geringe Gefahr einer Atemdepression (Ceilingeffekt fuÈr Atemdepression) und die bisher nicht beobachtete Toleranzentwicklung. Mit Norspan steht speziell fuÈr die Therapie chronischer Arthroseschmerzen nach erfolgloser Therapie mit NSAID oder Coxiben ein niedrig dosiertes Buprenorphinpflaster mit den WirkstaÈrken 5 mg/h, 10 mg/h und 20 mg/h zur VerfuÈgung. Es bewirkt eine konstante Therapiekontrolle von bis zu 7 Tagen, sodass ein Wechsel des Pflasters nur einmal pro Woche erfolgen kann.

Wegen der Besonderheiten des Opioids Buprenorphin bietet dieses Pharmakon in Form seiner transdermalen Applikation gegenuÈber anderen selektiv am m-Rezeptor bindenden Liganden folgende Vorteile: Buprenorphin weist bei Patienten mit Begleiterkrankungen, speziell bei Leber- und NierenfunktionseinschraÈnkungen, gegenuÈber retardiertem Morphin und transdermalem Fentanyl pharmakokinetische Vorteile auf. So lieû sich bei Dialysepatienten [39] und bei Patienten mit eingeschraÈnkter Nierenfunktion eine fehlende Akkumulation der Muttersubstanz und des Metaboliten Norbuprenorphin nachweisen. Auch kann bei einer eingeschraÈnkten Leberfunktion von einer fehlenden Anreicherung mit moÈglicher WirkungsverstaÈrkung und WirkungsverlaÈngerung ausgegangen werden [40]. Dieser vorteilhafte Effekt liegt deshalb vor, weil Buprenorphin zu 50±70 % als unkonjugiertes Buprenorphin biliaÈr uÈber die FaÈzes und zu 10±30 % renal v. a. als konjugiertes Buprenorphin eliminiert wird [41]. Bei Fentanyl erfolgt die Inaktivierung uÈber eine N-Dealkylierung und Hydroxylierung, wobei im Normalfall weniger als 10 % unveraÈndert uÈber die Niere ausgeschieden werden. Weil die Fentanylclearance jedoch proportional zur HoÈhe der Harnstoffkonzentration im Blut abnimmt [11], kommt es im Rahmen einer NierenfunktionsstoÈrung in der Folge zu einer WirkungsverstaÈrkung und -verlaÈngerung bis hin zur Opioidintoxikation. Die Metabolisierung von Fentanyl ist auch bei UraÈmie beeintraÈchtigt [42], sodass die Fachinformation den Warnhinweis enthaÈlt, dass »aÈltere, kachektische oder geschwaÈchte Patienten mit einer moÈglicherweise reduzierten renalen Clearance als Folge eine verlaÈngerte terminale Halbwertszeit aufweisen«. Es soll deshalb »sorgfaÈltig auf Anzeichen einer Ûberdosierung geachtet und die Dosis ggf. vermindert werden«. GrundsaÈtzlich ist daraus abzuleiten, dass aÈltere opioidnaive Patienten nicht mit transdermalem Fentanyl eingestellt werden sollten [43, 44]. Unterschiede von Buprenorphin transdermal gegenuÈber Fentanyl transdermal 4 Buprenorphin transdermal ist ein Partialagonist. Es liegt deswegen ein respiratorischer Ceilingeffekt vor [45]. 4 Buprenorphin transdermal weist eine geringere Toleranzentwicklung auf als Fentanyl transdermal [46].

18.1  Transdermale Opioide in der Therapie chronischer Schmerzen

4 Buprenorphin transdermal hat eine Rezeptorreserve [47]. Dies erleichtert die Koadministration weiterer Opioide und ermoÈglicht ein schnelles Umsteigen auf ein anderes Analgetikum (NaÈheres s. 7 Kap. 17). 4 Es hat eine geringere spasmogene Wirkung am Spinkter Oddi. Pankreatitis und/oder Gallenwegserkrankung stellen keine Kontraindikation dar [48]. 4 Es ist bei gleichzeitiger Niereninsuffizienz und bei Patienten mit Dialyse [39] sowie bei Lebererkrankungen [40] angezeigt. 4 Aufgrund der intensiven Bindung und der langsamen Dissoziation vom Opiatrezeptor besteht ein geringes AbhaÈngigkeitspotenzial [49]. 4 Buprenorphin transdermal ist auch bei neuropathischen Schmerzen indiziert, einem Schmerzsyndrom, das sich uÈblicherweise als relativ opioidresistent erweist [50]. 4 Es hat keine immunsuppressive Wirkung, sodass eine Schmerztherapie auch bei Patienten mit HIV-Erkrankungen indiziert ist [51]. 4 Ein hyperalgetischer Effekt, wie er sonst bei der Verabreichung von klassischen m-Liganden beobachtet werden kann, ist nicht nachweisbar [52].

Der Metabolit Norbuprenorphin weist eine nur sehr geringe analgetische Wirkung auf. Denn er kann in nur geringem Maûe die Blut-HirnSchranke durchdringen, um an den spezifischen Rezeptoren zu binden und seine Wirkung zu vermitteln. Entgegen der bei Morphin und den anderen Opioiden nachgewiesenen k-antagonistischen Wirkung [53] sind evtl. psychotomimetische Effekte, die uÈber diesen Rezeptor vermittelt werden, nicht zu erwarten. Hervorzuheben ist besonders die fuÈr den Partialagonisten Buprenorphin geringe Toleranzentwicklung, die gerade bei langfristiger Morphintherapie vordergruÈndig von Bedeutung ist und mit einer Abnahme der analgetischen Wirkung bzw. mit einer steigenden Dosierung einhergeht. Es wird besonders dann die Toleranzentwicklung ein Problem, wenn trotz Dosissteigerung eine ausreichende antinozizeptive Wirkung nicht mehr erreicht wird und die Nebenwirkungen die LebensqualitaÈt des Patienten deutlich beeintraÈchtigen. Es sollte dann, den Empfehlungen entsprechend, auf ein anderes Opioid wie z. B. Methadon [54, 55] oder auf Buprenorphin umgestiegen wer-

181

18

den. Letzteres Vorgehen konnte in einer juÈngsten VeroÈffentlichung bei Patienten mit chronischen Schmerzen unterschiedlicher Genese dokumentiert werden. Nach der Umstellung von retardiertem Morphin auf transdermales Buprenorphin wurde die SchlafqualitaÈt von 74 % aller Patienten als gut bezeichnet (fruÈher: 14 %). Auch war die Schmerzlinderung, die vor der Umstellung von nur 5 % der Patienten mit gut bis sehr gut beurteilt wurde, nach der Rotation bei 77 % der Patienten vorhanden [56]. Ein weiterer wichtiger Punkt beim Einsatz von Opioiden ist die Frage nach einer durch das Pharmakon ausgeloÈsten moÈglichen Immunsuppression. Diese Nebenwirkung fuÈhrt gerade bei Schmerzpatienten zu einer Verringerung der Abwehrlage, sodass bei aÈlteren Patienten eine moÈgliche Infektion, insbesondere des Respirationstraktes, TuÈr und Tor geoÈffnet wird [57]. In Tierversuchen wurden die AktivitaÈten der NK-Killerzelle, die Lymphozytenproliferation und die CytokinaktivitaÈt (IL-2 und IFN-g) signifikant durch Fentanyl und Morphin, nicht jedoch durch Buprenorphin beeintraÈchtigt [51, 58], von dem sogar eine geringe immunstimulierende Wirkung ausgehen soll [59]. Zu den hauptsaÈchlichsten Nebeneffekten transdermaler Opioidsysteme zaÈhlen Hautirritationen. In klinischen Studien zeigten sich unter dem Buprenorphinpflaster eine geringe bis mittelgradige lokale Reaktion (Erythem in 25 %, Juckreiz in 22 % und Schwellungen in 1,8 % aller FaÈlle), wobei die HaÈlfte der HautroÈtungen und 1/3 des Juckreizes innerhalb von 24 h sistierten. Das Buprenorphin-TTS-Pflaster wird als Therapeutikum der WHO-Stufe II und III angeboten und ist bei opioidsensiblen, nichtakuten Schmerzen maligner und benigner Genese sowie bei Patienten mit Tumorschmerzen, rheumatischen Erkrankungen, viszeralen Schmerzen und Pathologien des Skelettsystems indiziert. Die Umstellung erfolgt vorzugsweise durch Wechsel auf Buprenorphin sublingual und auf anschlieûende Pflasterapplikation, wobei die in . Abb. 18-10 angefuÈhrten Umrechnungsfaktoren empfohlen werden. Das zur VerfuÈgung stehende NiedrigdosisBuprenorphinmatrixpflaster (Norspan 5/10/20 mg/h; Fa. GruÈnenthal) kommt besonders fuÈr die Patienten in Frage, bei denen ein chronifizierter, nichtmaligner Schmerz, wie z. B. Osteoarthrose oder chronischer RuÈckenschmerz vorliegt. Andererseits koÈnnen aber auch die Patienten von dem neuen Pflaster profitieren, bei denen mit Nichtopioidanalgetika die Dosis ausgereizt wurde, wegen gastrointestinaler Probleme diese Wirkstoffgruppe

182

Kapitel 18  Transdermale Opioide und andere spezielle Applikationsformen

. Tabelle 18-4. UngefaÈhre DosisaÈquivalente bei der Umstellung eines schwachen Opioids auf das NiedrigdosisBuprenorphinpflaster Norspan

TaÈgliche orale Dosis

5 mg/h Norspan

10 mg/h Norspan

20 mg/h Norspan

Tramadol Codein Dihydrocodein

I 30 mg/Tag 30±60 mg/Tag i 60 mg/Tag

50±100 mg/Tag 100±120 mg/Tag i 120 mg/Tag

100±150 mg/Tag 150±180 mg/Tag i 180 mg/Tag

kontraindiziert ist, oder bei denen eine Optimierung der Schmerzbefeiung nicht erreicht werden konnte. Sowohl der Aufbau dieser Pflaster als auch das pharmakokinetische Profil entsprechen denen von TranstecPRO, nur mit dem Unterschied, dass die Pflaster mit einer geringeren Wirkstoffmenge beladen sind. Øhnlich wie bei den anderen Pflastersystemen muÈssen auch bei Norspan folgende Kontraindikationen beruÈcksichtigt werden: 4 bekannte Ûberempfindlichkeit auf den Wirkstoff, 4 gleichzeitig bestehende OpiatabhaÈngigkeit oder Entzug, 4 Pathologien des Atemzentrums oder der Atmungsorgane, 4 Einnahme von MAO-Hemmer aktuell oder in den vergangenen 14 Tagen, 4 bekannte Myastenia gravis, 4 Delirium tremens, 4 Schwangerschaft und Stillzeit. . Tabelle 18-4 gibt Hinweise auf eine ungefaÈhre Øquivalenzdosis, wenn von einem niedrigpotenten Opioid auf Norspan umgestiegen werden soll. Aufgrund des recht divergierenden interindividuellen Dosisbedarfs zwischen den Patienten ist eine solche Tabelle nur als Orientierungshilfe zu verstehen.

marktet werden. Im Vergleich zu den momentan schon verfuÈgbaren 3- und 4-Tages-Pflastern mit Fentanyl bzw. Buprenorphin kann mit dem Sufentanilpflaster eine Wirkungdauer von bis zu 7 Tagen erreicht werden. Aufgrund der hoÈheren Wirkpotenz von Sufentanil entspricht die GroÈûe des Sufentanilpflasters auch nur 1/5 des aktuell auf dem Markt befindlichen Fentanylpflasters. Bei therapeutisch aÈquivalenten Dosierungen kann von einer verbesserten Patientenakzeptanz und hoÈherem Tragekomfort ausgegangen werden. In einer offenen klinischen Studie der Phase II aus dem Jahr 2005 wurde der Wechsel von dem kommerziell verfuÈgbaren Fentanyl- (Duragesic) auf das Transdur-Sufentanilpflaster bei Patienten mit malignen und nichtmalignen chronischen Schmerzen untersucht. Ûber einen Zeitraum von 4 Wochen wurde das Produkt ohne nennenswerte Nebenwirkungen toleriert, und die erwarteten Plasmaspiegel wurden erreicht. Auch war die Umstellung von einem Fentanyl- auf das Sufentanilpflaster insofern problemlos, weil der im Mittel vorangehende niedrige Schmerzlevel nicht beeintraÈchtigt wurde.

18.1.3 Sufentanil als transdermales Pflaster

Transdur

18

Um die Auswirkungen auf das gastrointestinale System zu vermeiden und gleichzeitig den Firstpass-Effekt uÈber die Leber zu umgehen, aber auch, um schwersten Schmerzen mit Opioiden hoÈchster Wirkpotenz entgegenzutreten, hat die Fa. Durect Corporation (Cuppertino, Kalifornien, USA) ein Matrixpflaster mit dem Opioid Sufentanil entwickelt (. Abb. 18-11). Das Materixpflaster weist als Besonderheit eine Wirkungsdauer von bis zu 7 Tagen auf und steht kurz vor Erlangung der Marktreife. Das transdermale Transdur-Sufentanilpflaster soll exklusiv von Endo Pharmaceuticals Inc. ver-

. Abb. 18-11a, b. TransdurTechnologie mit dem Wirkstoff Sufentanil in Form von 2 Konzentrationen: 100 mg/h (A) und 25 mg/h (B) fuÈr die transdermale Applikation

18

183

18.2  Weitere spezielle Applikationsformen der Opioide

. Abb. 18-12. Zusammenfassung verschiedener methodischer Verfahren zur transkutanen Applikation von Wirkstoffen in den systemischen Kreislauf

18.1.4 ZukuÈnftige Entwicklungen

transdermaler Opioidsysteme

Neben dem Prinzip des transdermalen therapeutischen Membranpflasters (. Abb. 18-12.1) und der daraus entwickelten elektronischen Abstoûung des Wirkstoffs Fentanyl aus dem Pflaster in den Organismus mit Hilfe der Iontophorese (Ionsys; . Abb. 18-12.2; Na È heres s. 7 Kap. 16 »Postoperativer Einsatz von Opioiden«), sind weitere Methoden in der Entwicklung, um den Panzer verhornter Zellen des Stratum corneum zu durchdringen und den Wirkstoff zu den Kapillaren zu schleusen. Trotz der nur einige Hunderstel Millimeter dicken, aus Keratin aufgebauten dichten Masse aus abgestorbenen Zellen weist das Stratum corneum in seinem scheinbaren Verbund doch Ritzen auf. Mit Hilfe der Elektroporation, d. h. nur einige Tausendstel Sekunden andauernden starken StromstoÈûen im mA-Bereich, wird die Zellmauer fuÈr kurze Zeit aufgerissen. Es entstehen »LoÈcher«, durch die das Pharmakon dringen kann (. Abb. 18-12.3). Hierdurch soll es moÈglich sein, selbst groÈûere MolekuÈle in die Unterhaut einzuschwemmen, die anschlieûend von der systemischen Zirkulation aufgenommen werden koÈnnen. Nach wenigen Minuten schlieûen sich die Poren wieder, und die Haut wird wie ehemals fuÈr komplexere MolekuÈle kaum zu durchdringen sein. Es liegt nahe, diese an sich feste Barriere des Stratum corneum mit einer weiteren Methode, dem Ultraschall, zu uÈberwinden Durch den Aufprall der Ultraschallwellen auf die Haut werden mikroskopisch kleine GasblaÈschen gebildet, in denen das Pharmakon gleichsam als Carriersystem in die tieferen Subkutisschichten transportiert (. Abb. 18-12.4) und anschlieûend von den Kapil-

laren aufgenommen wird, um im systemischen Kreislauf weiter zu den spezifischen Bindestellen im ZNS transportiert zu werden. 18.2

Weitere spezielle Applikationsformen der Opioide in der Therapie chronischer Schmerzen

18.2.1 OROS-Tablettensystem mit

Opioidabgabe uÈber 24 h

Die meisten bisherigen oralen Opioide von Retardcharakter haben eine Wirkungsdauer von 8±24 h. Die Applikation durch ein Schmerzpflaster ermoÈglicht eine Wirkdauer von 3±4 Tagen. Eine neue orale Darreichungsform von Hydromorphon bedarf dagegen einer taÈglichen Einnahme alle 24 h. Das PraÈparat Jurnista sieht auf den ersten Blick aus wie eine Tablette, ist aber eine kleindimensionierte Schmerzpumpe (. Abb. 18-13). Mit Hilfe eines osmotisch aktiven Systems wird bis zu 24 h kontinuierlich Hydromorphon Freisetzungsöffnung Semipermeable Membran Hydromorphon

Osmotisches Kompartiment drückt nach oben

. Abb. 18-13. Schematische Darstellung zum Prinzip des OROS-Systems unter Verwendung eines Opioids

184

Kapitel 18  Transdermale Opioide und andere spezielle Applikationsformen

tabelle als relativ nuÈtzlich erwiesen (. Tabelle 18-5). Bei einem Wechsel sollte jedoch immer der individuelle, recht unterschiedliche Opioidbedarf beruÈcksichtigt werden, sodass die Tabelle nur als Anhaltspunkt fungieren kann und soll. Im Gegensatz zu RetardpraÈparaten ist dies kein passives System. 80 % der maximalen Plasmawirkstoffspiegel sind nach zirka 6±8 h erreicht. UnabhaÈngig von der gewaÈhlten Dosierung besteht ein gleichbleibender Wirkstoffspiegel uÈber einen Zeitraum von ca. 24 h (. Abb. 18-15; [61]). Ein Steadystate-Spiegel stellt sich innerhalb von 2 Tagen ein, dabei ist der Hydromorphonspiegel unabhaÈngig davon, ob Jurnista nuÈchtern oder nach Nahrungsaufnahme eingenommen wurde [62]. Durch die geringe Plasmaeiweiûbindung und minimale Metabolisierung uÈber das CytochromP450-System bestehen ein geringes Interaktionspotenzial und eine gute Kombinierbarkeit mit

freisgeetzt. Die sog. OROS-Technik (ORales OSmotisches System) hat einen Durchmesser von 7±9,5 mm und besteht aus einer festen semipermeablen AuûenhuÈlle aus Celluloseacetat. Das innere System enthaÈlt unten einen QuellkoÈrper, die obere Schicht besteht aus Hydromorphon (. Abb. 18-14). Nach oraler Einnahme loÈst sich die Ummantelung innerhalb von wenigen Minuten auf, Wasser aus dem Magen-Darm-Trakt dringt ins Innere (Pull-Komponente), der QuellkoÈrper dehnt sich aus und pumpt langsam und kontinuierlich Hydromorphon durch eine kleine lasergebohrte Úffnung durch die HuÈlle nach auûen (Push-Komponente). Die Resorption erfolgt hauptsaÈchlich uÈber den DuÈnndarm. Nach 24 h wird das System inaktiv und wird spaÈter mit dem Stuhl ausgeschieden. Bei einem Wechsel von einem anderen Opioid auf das OROS-System hat sich eine Umrechnungs-

gleichmäßiger Plasmaspiegel lasergebohrte Öffnung (zur Substanzfreisetzung)

18

Konzentration von Hydromorphon im Plasma (ng/mL)

. Abb. 18-14. OROS-System in der Praxis mit kontinuierlicher Freisetzung von Hydromorphon aus der Tablette Jurnista

H

2O

Hydromorphon HCL osmotische Pumpe (Quellschicht) feste Außenschale (semipermeable Membran: lässt Wasser passieren)

O H2 H2O

1 x 8 mg OROS’ Hydromorphon 1 x 16 mg OROS’ Hydromorphon 1 x 32 mg OROS’ Hydromorphon 1 x 64 mg OROS’ Hydromorphon

10,0000

1,0000

0.1000

0.0100

0.0010

0.0001 0

6

12

18

24

30 36 42 48 Dosierungsstunden

54

60

66

72

78

. Abb. 18-15. Plasmaspiegel bei Probanden nach der Gabe unterschiedlicher Dosierungen von Hydromorphon mit der OROS-Technologie

185

18.2  Weitere spezielle Applikationsformen der Opioide

18

. Tabelle 18-5. Bei Umsteigen von einem Opioid auf die OROS-Technologie mit dem Wirkstoff Hydromorphon zu verwendende Umrechnungstabelle

Tagesdosis [mg] bzw. [mg/h]

Jurnista [8 mg]

Jurnista [16 mg]

Jurnista [32 mg]

Jurnista [64 mg]

Orales Morphin Oxycodon Buprenorphin TTS Fentanyl TTS

20±40 10±20 35 12

60±90 40 52.5 25±50

120±160 80 75 75±100

210±320 160

18.2.2 Remoxy ± Opioid mit missbrauchs-

. Tabelle 18-6. Inzidenz an Nebenwirkungen bei Patienten mit Arthroseschmerzen unter der Einnahme von Jurnista

Ereignis

Inzidenz [%]

Obstipation Kopfschmerzen MuÈdigkeit Pruritus

18,6 17,2 8,9 8,4

resistenter Formulierung

anderen Medikamenten. Dies war einer der GruÈnde, warum Hydromorphon fuÈr die Kombination mit dem osmotisch aktiven System ausgewaÈhlt wurde. Die hohe analgetische Wirksamkeit und die gute VertraÈglichkeit von Jurnista wurden in klinischen Studien bei Patienten mit RuÈcken-, Arthrose- und Tumorschmerzen belegt [63]. In einer Studie mit 140 Patienten mit Arthroseschmerzen verbesserten sich zudem Schlaf- und LebensqualitaÈt deutlich, und die Inzidenz an Nebenwirkungen lag nicht hoÈher als bei anderen Opioiden (. Tabelle 18-6).

Der Missbrauch von verzoÈgert freisetzenden wirkstarken Opioiden oder auch Pflastern konnte bisher nicht verhindert werden. Indem die Tablette zerstoûen wird, kann die volle 12-h-Dosis freigesetzt werden und bei Konsum zu akut hohen Plasmaspiegeln fuÈhren, die jedoch verstaÈrkte Nebenwirkungen bis hin zu einer akuten Atemdepression mit Todesfolge bewirken koÈnnen. Laut DAWN (Drug Abuse Warning Network in den USA) war im Jahre 2002 in den USA Oxycodon in uÈber 22.000 FaÈllen an Notfallaufnahmen beteiligt. Dieser dramatische Anstieg ist seit der MarkteinfuÈhrung des Opioids Oxycodon im Jahre 1996 bisher nur in den USA augenfaÈllig (. Abb. 18-16), wo in den Jahren 2002 und 2003 der Missbrauch von Oxycontin von 1,9 Mio. auf 2,8 Mio angestiegen ist. Remoxy stellt eine Neuentwicklung einer nicht zu zerstoÈrenden Gelkapsel mit dem Wirkstoff Oxycodon fuÈr den amerikanischen Markt dar. Diese Entwicklung besteht aus einem Gel, welches auf der Grundlage der Oradur-Technologie von der Fa. Alza Corp. (Menlo Park, Californien/USA) ent-

25,000 Typ unspez.

IR Typ

CR Typ

20,000

15,000

10,000

5,000

0 1994

1995

1996

1997

1998

1999

2000

IR = immediate release CR = controlled release

2001

2002

. Abb. 18-16. Anzahl der Notfallaufnahmen, bei denen ein Missbrauch von Oxycodon vorlag. Die Daten sind nur repraÈsentativ fuÈr den amerikanischen und nicht fuÈr den europaÈischen Markt oder fuÈr Deutschland (Quelle: DAWN, USA)

186

Kapitel 18  Transdermale Opioide und andere spezielle Applikationsformen

. Abb. 18-17. Weichgelkapsel Remoxy, bestehend aus einer klebrigen, hochviskoÈsen Masse, die weder injiziert noch gesnieft werden kann

wickelt wurde. Das Opioid befindet sich in einer leicht zu schluckenden, gelartigen Kapsel, die aus einem hochviskoÈsen Material besteht (. Abb. 18-17). Aus dem hochviskoÈsen Gel Saber wird das Opioid uÈber einen Zeitraum von 12 h langsam freigesetzt. Aufgrund der klebrigen, hochviskoÈsen Formulierung kann das darin enthaltene Opioid weder injiziert noch gesnieft werden. GrundsaÈtzlich ist diese Gelkapsel dazu entwickelt worden, einen evtl. Missbrauch zu verhindern, wobei In-vitro-Untersuchungen dokumentieren konnten, dass weder gruÈndliches Zerkleinern noch vorangehendes Einfrieren bis zu ±80hC in der Lage sind, das Opioid aus dem Gel freizusetzen. Auch ist ein AufloÈsen in hochprozentigem Alkohol uÈber mehrere Stunden in der Lage, nur kleinste Mengen des Wirkstoffs Oxycodon freizusetzen. Die amerikanische GesundheitsbehoÈrde FDA hat die neue Formulierung noch nicht zugelassen. Jedoch hat Remoxy Anfang 2006 die Genehmigung zur vorzeitigen Evaluation fuÈr Studien der 35

Phase III erhalten, damit nach Dateneinreichung eine baldige Zulassung ermoÈglicht wird. In einer randomisierten kontrollierten Phase-II-Doppelblindstudie wurde i 200 Patienten mit mittleren bis schweren Arthroseschmerzen entweder Remoxy 10 mg oder Placebo uÈber einen Zeitraum von 12 Wochen verabreicht (. Abb. 18-18; [64]). Hierbei war die EffektivitaÈt der Geltablette gegenuÈber Placebo signifikant besser. Nach Zulassung werden voraussichtlich Pain Therapeutics Inc. und King Pharmaceuticals die missbrauchsresistente Geltablette Remoxy gemeinsam vermarkten. 18.2.3 Kontinuierliche subkutane Infusion

(KSKI)

Ist ein intravenoÈser Zugang nicht vorhanden, kann uÈber den intramuskulaÈren Weg eine rasche Analgesie erzielt werden. Hierbei ist die intradeltoidale Applikation der intraglutaÈalen vorzuziehen. Im letzten Fall sind, unabhaÈngig vom verabreichten Pharmakon, niedrigere Konzentrationen im Plasma zu beobachten [65]. Auch ist bei der intramuskulaÈren Gabe zu beruÈcksichtigen, dass eine Hypothermie und/oder eine HypovolaÈmie die Resorptionsgeschwindigkeit deutlich beeinflussen koÈnnen. Bei WiedererwaÈrmung und Beseitigung der HypovolaÈmie koÈnnen ploÈtzlich unerwartet hohe Mengen der Substanz resorbiert werden, sodass Nebenwirkungen zu erwarten sind. Aus diesem Grund wird heutzutage statt der intramuskulaÈren Gabe dem subkutanen Zugang der Vorzug gegeben. Diese von einigen Zentren empfohlene Therapie chronischer Schmerzen in Form der »kontinuierlichen subkutanen Infusion« (KSKI) erfolgt uÈber eine Pumpe, wobei subklavikulaÈr, in der vorderen Thoraxwand oder im Abdominalbereich das Opioid kontinuierlich uÈber eine subkutane Nadel

%

30 *p < 0.05 25 20 15

18

10 5

Plazebo

Remoxy

. Abb. 18-18. Prozentuale Schmerzabnahme unter

0 0

1

2

3 Zeit

4

5

Remoxy uÈber einen Zeitraum von 5 Wochen im Vergleich zu Placebo bei Patienten mit Arthroseschmerzen

187

18.2  Weitere spezielle Applikationsformen der Opioide

(Typ Butterfly Nr. 25 oder 27) oder uÈber ein aus der Diabetologie bekanntes Sub-Q-Setsystem (Fa. Baxter) [66] appliziert wird. Vorteil ist die hohe Patientenakzeptanz, der einfache und sichere Applikationsweg bei guter Schmerzbefreiung und die einfache Handhabung der Pumpen (. Abb. 18-19 und . 18-20). Ein Wechsel des Applikationsortes erfolgt bei Schmerzen am Ort der Injektion, bei RoÈtung, Schwellung oder Leckage (im Mittel nach einer Woche). Die Konzentration des Opioids im Blut ist unter dieser Applikationsweise konstant und zeigt keine Schwankungen. Auch sollen unter kontinuierlicher subkutaner Opioidgabe die bei systemischer Gabe auftretenden Nebenwirkungen wie Sedierung, Nausea und Konfusion geringer sein als unter parenteraler Applikation.

18

Wie in vielen FaÈllen ist auch hier der Erfolg von der gestellten Indikation abhaÈngig. Am meisten profitieren von dieser Methode Patienten mit: 4 opioidinduziertem Erbrechen bei oraler oder intravenoÈser Gabe, 4 Nausea und Emesis aus anderen Ursachen, 4 Darmverschluss, 4 Dysphagie bei Kopf- und Halstumoren, 4 Konfusionen unter anderen Applikationen, 4 Notwendigkeit extrem hoher oraler Dosen, 4 sog. Boluseffekt mit ungleichmaÈûigen Konzentrationen des Opioids im Plasma, 4 Wunsch zur Entlassung nach Hause. Opioide mit den stabilsten Konzentrationen im Plasma und einer damit einhergehenden gleichbleibenden hohen Schmerzschwelle sind die Wirkstoffe Morphin, Hydromorphon und Heroin. Phar-

. Abb. 18-19. Kontinuierliche subkutane

Opioidmedikation mit Hilfe einer tragbaren Pumpe

. Abb. 18-20. Das zur kontinuierlichen subkutanen Opioidgabe verwendete Soft-Set-System

188

Kapitel 18  Transdermale Opioide und andere spezielle Applikationsformen

maka mit laÈngerer Halbwertszeit (Levorphanol und Methadon) zeigen eine zu langsame SaÈttigung und die Gefahr der Akkumulation. Ein weiterer Vorteil kurzwirkender Opioide liegt in der schnellen Bolusgabe, um durchbrechende Schmerzspitzen zu kupieren. Die fuÈr eine kontinuierliche subkutane Opioidmedikation notwendigen Øquivalenzdosen lassen sich in vielen FaÈllen aus den vorherigen oralen Opioidmengen pro 24 h errechnen (. Tabelle 18-7). FuÈr die ambulante subkutane Infusionsanalgesie erscheint Piritramid aufgrund seines pharmakologischen Profils deshalb geeignet, weil die Inzidenz von nicht wuÈnschenswerten Nebenwirkungen wie StoÈrung der DarmmotilitaÈt, der Diurese sowie Emesis und Vigilanzminderung geringer ist. WaÈhrend sich bei diesem Verfahren Morphinsulfat im Gegensatz zu Morphinhydrochlorid durch eine geringere Nebenwirkungsrate auszeichnet, erweist sich das Opioid Piritramid als wirksamer bei der Schmerzsymptomatik gastrointestinaler Tumoren. Tramadol ist dagegen besonders beim alten Patienten aufgrund der geringeren Nebenwirkungsrate indiziert. Zusammengefasst sind bei der subkutanen kontinuierlichen Applikation von Piritramid bei schweren Tumorschmerzen, bei denen eine orale Medikation nicht mehr moÈglich ist, folgende Punkte zu beruÈcksichtigen [66]: 4 subkutane Nadelplatzierung, 4 initialer subkutaner Bolus von 5,0±7,5 mg Piritramid, . Tabelle 18-7. Øquivalenztabelle fuÈr unterschiedliche Opioide im Vergleich mit Morphin

18

Opioid

Koeffizient zur Berechnung aÈquivalenter Morphindosen

Morphin (oral) Morphin (parenteral) Levorphanol (oral) Levorphanol (parenteral) Pethidin (oral) Pethidin (parenteral) Meptazinol Oxycodon (oral) Codein (oral) Pentazocin (oral) Pentazocin (parenteral) Hydromorphon (oral) Hydromorphon (parenteral)

q q q q q q q q q q q q q

2,5 1,0 2,5 5,0 30 7,5 30 1,25 20 18 6,0 2,5 5,0

4 Wiederholung der Bolusgabe bis zu einer Schmerzreduzierung von VAS 2,0±3,0 der verbalen Analogskala in 10- bis 15-minuÈtigem Abstand, 4 10-ml-Spritze (Omnifix) mit einer FuÈllung bis zu 75 mg Piritramid; Infusion uÈber 24 h (0,416 ml/h), 4 durch Reduktion der Laufzeit von 24 h auf 12 h kann mit einer SpritzenfuÈhrung die Tagesdosis erhoÈht werden, 4 Kontrollen und, wenn noÈtig, Dosiskorrekturen nach 6, 12 und 24 h. 18.2.4 Rektale Applikation Die rektale Applikation eines bestimmten Medikaments kann effektiver als eine orale Gabe sein. Dies trifft besonders fuÈr die Stoffe zu, die zu einem hohen Prozentsatz in der Leber metabolisiert werden. Der oralen Verabreichung von Opioiden, die beim Tumorschmerz zuallererst anzustreben ist, kann durch patientenbedingte Ursachen, wie SchluckstoÈrungen oder eine Abneigung gegen Tabletteneinnahme, Grenzen gesetzt sein. In solchen FaÈllen muÈssen aufwaÈndigere invasive Verfahren wie die subkutane, intramuskulaÈre, intravenoÈse oder intrathekale Applikationsform eingesetzt werden. Da dies fuÈr den Patienten oft das Ende einer ambulanten Therapie bedeutet, stellt die rektale Verabreichung von Morphin durch Suppositorien eine deutliche Verbesserung auch der Patientencompliance dar. Morphin wird von allen SchleimhaÈuten, auch der Mukosa des Rektums, gut resorbiert. Maximale Konzentrationen im Plasma werden bei rektaler Gabe von 10 mg Morphin nach ca. 50 min erreicht. Die BioverfuÈgbarkeit ist im Vergleich zu der oralen Gabe groÈûer. So erreicht oral aufgenommenes Morphin uÈber die venoÈsen MagenDarm-GefaÈûe und die Pfortader primaÈr die Leber, wo bereits ein Teil der Wirksubstanz metabolisiert wird. Da das venoÈse GefaÈûsystem des Rektums jedoch zu 2/3 direkt in die untere Hohlvene muÈndet, steht mehr Morphin fuÈr die Analgesie zur VerfuÈgung (. Abb. 18-21). Denn nur ein geringer Teil wird uÈber die Pfortader zur Leber geleitet und dort metabolisiert. Pharmakokinetische Studien haben belegt, dass die BioverfuÈgbarkeit des Morphins bei rektaler Applikation (MSR-Suppositorien) verglichen mit oraler Applikation (Morphin gtt. 100 %) um 18 % hoÈher ist.

18.2  Weitere spezielle Applikationsformen der Opioide

189

18

. Abb. 18-21. First-pass-Metabolisierung bei rektaler und oraler Morphingabe

18.2.5 IntraventrikulaÈre Applikation Schmerzen, die bei Kopf- oder Halstumoren auftreten, sind oft sehr schwierig zu therapieren. Da die orale Opioidgabe in vielen FaÈllen wegen der Tumorlokalisation nicht moÈglich ist oder die orale Opioidgabe keine ausreichende Schmerzerleichterung bringt, werden schon seit mehreren Jahren alternative Methoden, wie destruierende Verfahren, die Thermokoagulation oder eine Hirnstimulation propagiert. Alternativ bietet sich jedoch auch die intrazerebroventrikulaÈre Infusion von Morphin an.

Ein solches Vorgehen ist deshalb verstaÈndlich, weil sowohl fuÈr die Schmerzverarbeitung als auch fuÈr die Aktivierung deszendierender schmerzhemmender Bahnen Rezeptoren fuÈr Opioide im Thalamus, in der periventrikulaÈren Region, in dem periaquaÈduktalen HoÈhlengrau, in den intralaminaÈren Thalamuskernen, im Nucleus trigemini, im Nucleus dorsalis nervi vagi, im Nucleus raphe magnus und im Locus caeruleus zu finden sind. Das Opioid kann diese Gebiete bei intrazerebroventrikulaÈrer Gabe direkt erreichen, sodass neben geringen Dosen auch aufgrund der sofortigen und intensiven Rezeptorinteraktion eine gute bis sehr gute analgetische Wirkung erwartet werden kann (. Abb. 18-22). Bei Tagesdosierungen von 0,25 mg Morphin in steigenden Dosen bis zur Schmerzfreiheit ist diese Methode der Opioidapplikation besonders bei folgenden Patienten indiziert: 4 Patienten mit einer angenommenen Lebenserwartung von 2±3 Monaten, 4 Patienten mit Schmerzen bei Tumoren im Gesichts- oder Halsbereich, 4 Patienten, bei denen eine sonstige Opioidtherapie erfolglos ist. 18.2.6 Duros-Implantat zur Therapie

chronischer Schmerzen

. Abb. 18-22. Schematische Darstellung einer implantierten Opioidpumpe mit Seitenventrikelkatheter und OmmayaReservoir

Øhnlich den neuartigen oralen und transdermalen Systemen, die eine kontrollierte und gleichbleibende Freisetzung von Opioiden uÈber Tage und Stunden gewaÈhrleisten koÈnnen, wurde das DurosSystem mit dem Ziel entwickelt, die Vorteile einer kontinuierlichen Therapie uÈber einen Zeitraum von bis zu einem Jahr zu garantieren. Unter Verwendung der DurosTechnologie (»drug dispensing osmotic system«) kann jetzt das Opioid Sufentanil uÈber die von der Fa. Alza Corp. (Menlo Park,

190

Kapitel 18  Transdermale Opioide und andere spezielle Applikationsformen

. Abb. 18-23. GroÈûe des implantierbaren Duros-Systems

fuÈr eine kontinuierliche und konstante Opioidabgabe in das Gewebe

Californien/USA) entwickelte Minipumpe aus Titan uÈber einen langen Zeitraum von bis zu einem Jahr kontinuierlich abgegeben werden (. Abb. 18-23). Das System hat die Ausmaûe eines Streichholzes mit 44 mm LaÈnge und ca. 3,8 mm Durchmesser, wobei die mit NaCl gefuÈllte Kammer auf osmotischem Wege uÈber eine semipermeable Membran Gewebewasser in die Pumpe aufnimmt. Der anschlieûende Quellvorgang bewegt einen Stempel, sodass ein praÈziser und stetiger Strom des Opioids Sufentanil in die Subkutis erfolgt und ein gleichbleibend hoher Opioidplasmaspiegel resultiert (. Abb. 18-24).

18

Das Duros-System wird mit Sufentanil beladen und als Chronogesic mit Hilfe eines Spezialapplikators unter LokalanaÈsthesie subkutan eingefuÈhrt (. Abb. 18-25). Je nach Auslegung kann uÈber den Stempel im Miniaturzylinder ein gleichbleibender Druck mit unterschiedlichen Freigaberaten von 2,5, 10 und 20 mg/h festgelegt werden. Die Umrechnung der erforderlichen individuellen Dosis soll mit Hilfe einer durch vorausgegangene transkutane Fentanyldosierung (Fentanyl-TTS) beim Patienten erreichten Analgesie ermittelt werden. Die Therapie chronischer Schmerzen mit Sufentanil ist, wie bisherige Untersuchungen bei unterschiedlichen Schmerzpatienten zeigen konnten, durchaus vorteilhaft. Denn im Gegensatz zur vorherigen Therapie war die Nebenwirkungsrate niedrig, und es konnte mit dem Opioid Sufentanil eine Optimierung der Schmerzbefreiung erreicht werden [68]. Die Minipumpe befindet sich momentan in der Phase IIII der Erprobung. Das System, das von der Fa. Durect Corporation (Cuppertino, Kalifornien, USA) vermarktet werden soll, weist folgende Vorteile fuÈr chronische Schmerzen bei Patienten mit gleichbleibendem Schmerzniveau auf: 4 kontinuierliche Freisetzung von groÈûter PraÈzision von potenten Wirksubstanzen uÈber einen Zeitraum von bis zu einem Jahr, 4 Zunahme der Patientencompliance bei der Therapie chronischer Schmerzen mit Verbesserung eines Therapieerfolges, 4 verbesserte StabilitaÈt des Pharmakons, weil KoÈrperfluÈssigkeiten keine Auswirkungen auf das Pharmakon im Miniaturzylinder haben (. Abb. 18-26), 4 Applikation und Entfernung des Miniaturzylinders ist ambulant moÈglich.

. Abb. 18-24. Querschnitt durch den Miniaturzylinder aus Titan, der das Opioid Sufentanil enthaÈlt, wobei der Werkstoff Titan das Pharmakon stabil haÈlt und vor Zersetzung schuÈtzt

191

18.2  Weitere spezielle Applikationsformen der Opioide

18

Freisetzungsrate (μg/hr)

. Abb. 18-25. Spezialapplikator zur subkutanen Platzierung des Chronogesic-Miniaturzylinders

15 14 13 12 11 10 9 8 7 6 5 4 3 2 1 0 0

10

20

30

40

50 60 Zeit (Tage)

70

80

90

100

. Abb. 18-26. In-vitro-Daten zur kontinuierlichen Freisetzung unterschiedlicher Abgaberaten aus dem Chronogesic-System

19 Opioide im Rahmen der AllgemeinanaÈsthesie 19.1

Entwicklungen zum Einsatz der Opioide im Rahmen der AnaÈsthesie ± 194

19.5

Sufentanil ± wirkstaÈrkstes Opioid im Rahmen der AnaÈsthesie ± 213

19.1.1

Die klassische Form der NeuroleptanaÈsthesie ± 194 DissoziationsanaÈsthesie, Ataraktanalgesie ± 196 Sequenzialanalgesie (ASS) und Synaptanalgesie (SNA) ± 197

19.5.1 19.5.2

Pharmakologie von Sufentanil ± 213 Analgetische Wirkstoffkonzentration von Sufentanil ± 216 Atemdepression nach Sufentanil ± 217 Hypnosedative Wirkung von Sufentanil ± 218 MuskulaÈre RigiditaÈt nach Sufentanil ± 218 Sufentanil in speziellen operativen Fachdisziplinen ± 219 MedikamentoÈse Interaktionen von Sufentanil ± 221 Praktische Hinweise zur Dosierung von Sufentanil ± 223 Beispiele fuÈr den Einsatz von Sufentanil ± 224

19.1.2 19.1.3

19.2

Vagale und sympathikotone Wirkungen der Opioide ± 199

19.3

Potenzierung der Opioidnarkose ± 201

19.3.1 19.3.2 19.3.3 19.3.4 19.3.5

Hypnotika ± 202 Neuroleptika ± 202 Benzodiazepine ± 202 Volatile AnaÈsthetika ± 202 a2-Agonisten (Clonidin, Dexmedetomidin, Mivazerol)

19.4 19.4.1

19.5.3 19.5.4 19.5.5 19.5.6 19.5.7 19.5.8 19.5.9

± 205

Dosierung der Opioide im Rahmen einer Narkose ± 207

19.6

Remifentanil ± ein Opioid mit ultrakurzer Wirkungsdauer

19.6.1

Dosierung von Remifentanil

± 224

± 226

On-top-Potenzierung der Analgesie mit Alfentanil, Remifentanil ± 208

Das Gebiet der Medizin, in dem sich der Einsatz der Opioide in immer groÈûerem Rahmen durchgesetzt hat, ist die AnaÈsthesiologie. Speziell fuÈr den intraoperativen Einsatz hat die Verwendung starkwirkender, zentraler Analgetika dazu gefuÈhrt, dass die Sicherheit der Narkose zugenommen hat

und stoÈrende Nebenwirkungen von Seiten des kardiovaskulaÈren Systems, wie sie von anderen Narkoseverfahren mit Barbituraten und oder volatilen AnaÈsthetika (Halothan, Enfluran, Isofluran, Desfluran, Sevofluran) bekannt sind (. Abb. 19-1), kaum nachzuweisen sind.

. Abb. 19-1. Die wichtigsten Anteile zur DurchfuÈh-

rung einer Narkose: Hypnotikum, Opioid und Muskelrelaxans. Es resultieren ein stabiler Kreislauf, eine erhaltene vegetative Reaktion, eine gedaÈmpfte Vigilanz, ein aufgehobener Muskeltonus und eine Blockade der Schmerzafferenzen

194

Kapitel 19  Opioide im Rahmen der AllgemeinanaÈsthesie

19.1

Entwicklungen zum Einsatz der Opioide im Rahmen der AnaÈsthesie

Dieser offensichtliche Vorteil der Opioide besteht jedoch erst, seit es in den 1960er Jahren gelungen war, hochselektive und wirkungsstarke Liganden aus der Gruppe der 4-Anilinopiperidine zu synthetisieren. Denn erst mit der EinfuÈhrung solcher wirkungsstarker Opioide wie dem Dextromoramid (2fach Morphin), dem Phenoperidin (10fach Morphin) und schlieûlich dem Fentanyl (200fach Morphin) war es moÈglich, in der klinischen Praxis operative Eingriffe bei kardiovaskulaÈr vorgeschaÈdigten und alten Patienten durchzufuÈhren. Wegbereiter der bis zur totalen intravenoÈsen AnaÈsthesie (TIVA) sich entwickelnden AnaÈsthesieverfahren war die in den 1950er Jahren verwendete klassisch potenzierenden AnaÈsthesie nach Neff, bei der durch den Einsatz hoher Dosen eines Barbiturates der Schlaf vorherrschende Eigenschaft einer AnaÈsthesie mit einer daraus resultierenden neurovegetativen DaÈmpfung war (. Abb. 19-2). Die daraus sich entwickelnden Narkoseformen hatten alle zum Ziel, dass die sonst uÈblichen Nebenwirkungen hoher Barbituratdosen, wie eine Atemdepression oder eine kardiovaskulaÈre Deprimierung, nicht auftraten. Denn auch durch die Verwendung hoher Konzentrationen von volatilen AnaÈsthetika wie z. B. Øther, Methoxyfluran oder Halothan konnte dieses Ziel nicht erreicht werden, weil hierbei der Schlaf und nicht die Analgesie vorherrschendes Charakteristikum sind.

19

. Abb. 19-2. Schematische Darstellung der klassischen Form einer potenzierenden Narkose. Hierbei stellen Bewusstlosigkeit und Schlaf den dominierenden Anteil einer Narkose dar, eine Wirkung, die durch hohe Dosen eines Barbiturates oder hohe Konzentrationen eines volatilen AnaÈsthetikums erreicht wird

Um die Nebenwirkungen einer solchen Allgemeinnarkose, insbesondere die kardiovaskulaÈre Deprimierung, die den allgemeinen AnaÈsthetika gewoÈhnlich inne wohnt, zu minimieren wurden weitere Methoden propagiert. Hierzu zaÈhlte die sogenannte Relaxationsnarkose nach Gray und Geddes der Liverpooler Schule (Geddes, 1959), bei der hohe Dosen von Muskelrelaxanzien eingesetzt wurden (. Abb. 19-3). Eine kuÈnstliche Beatmung mit Hyperventilation und respiratorischer Alkalose fuÈhrt, aufgrund der Freisetzung endogener Opioide, zu einem 3fachen Anstieg der Schmerzschwelle und einer Vertiefung der Narkose. Dies geht auch mit einer verminderten neurovegetativen IrritabilitaÈt einher. Das Prinzip der Relaxationsnarkose basiert auf der Verabreichung hoher Dosen von Muskelrelaxanzien mit gleichzeitiger Hyperventilation (arterieller paCO2 zwischen 20 und 25 mmHg), waÈhrend die anderen Komponenten einer AnaÈsthesie wie Bewusstlosigkeit, Analgesie und neurovegetative DaÈmpfung von untergeordneter Bedeutung waren. Trotz der mit einer Hyperventilation einhergehenden Verminderung der zerebralen Durchblutung ist die Sauerstoffaufnahme, nach Auffassung der Liverpooler Schule, nicht vermindert gewesen, sodass dieses Verfahren die damals optimale Form einer Narkosevertiefung darstellte. 19.1.1 Die klassische Form

der NeuroleptanaÈsthesie

Die hauptsaÈchlichen Nachteile der Relaxationsnarkose sind jedoch, neben einer ungenuÈgenden Analgesie, die mit der Hyperventilation einhergehende zerebrale Perfusionsminderung, die bei Patienten mit marginaler zerebraler Durchblutung von Nachteil ist. Andererseits kann bei falscher Anwendung der Technik eine mit der Hyperventilation einhergehende Abnahme des Herzminutenvolumens zu einem Blutdruckabfall fuÈhren. Auch bedingt ein MuskelrelaxansuÈberhang am Ende der Narkose eine Antagonisierung, die fuÈr sich betrachtet fuÈr den Patienten von Nachteil sein kann. Aus diesen GruÈnden ruÈckte eine andere Komponente der Narkose, die Neuroplegie, in den Mittelpunkt des AnaÈsthesieverfahrens, bei der die neurovegetative Blockade mit einem wirkungsstarken Neuroleptikum den Hauptanteil einer Narkose darstellte. UrspruÈnglich von Laborit und Huguenard als »coctail lytique« ± der lytische Cocktail ± propagiert, werden im Rahmen dieser Narkosetechnik

19.1  Entwicklungen zum Einsatz der Opioide im Rahmen der AnaÈsthesie

hohe Dosen eines Neuroleptikums (Chlorpromazin, Haloperidol, Dehydrobenzperidol) eingesetzt, wobei die Dosis eines Analgetikums, eines Muskelrelaxans oder eines Sedativums reduziert werden kann (. Abb. 19-4). Der Vorteil einer kompletten Neurolepsie liegt in der vollstaÈndigen Eliminierung stoÈrender neurovegetativer Impulse, die uÈblicherweise durch den operativen Eingriff ausgeloÈst werden. Da die Neuroleptika die 3 hauptsaÈchlichen subkortikalen Zentren wie den Thalamus, das aktivierende retikulaÈre System und das limbische System daÈmpfen bis blockieren, resultieren eine mentale und psychische Abschirmung. Weil jedoch Neuroleptika besonders das dopaminerge System im ZNS daÈmpfen bis blockieren, kommt es auch zu einer Imbalance im dopaminergen-cholinergen Gleichgewicht. Hierdurch koÈnnen postoperativ extrapyramidale Symptome auftreten, deren Inzidenz direkt proportional mit der WirkungsstaÈrke des verwendeten Neuroleptikums zunimmt. Diese Symptomatik ist aÈhnlich wie beim M. Parkinson und kann der extrapyramidalen Dyskinesie zugeordnet werden. Hierbei werden folgende Symptome augenfaÈllig: grobschlaÈgiger Tremor, Akinesie, unkoordinierte und einschieûende Bewegungen, maskenhafter Gesichtsausdruck (Salbengesicht), unkontrollierter Speichelfluss, Schluck- und SchlundkraÈmpfe, Tortikollis und fixierte Augen. Und obgleich der Beobachter den Eindruck hat, dass der Patient mental entruÈckt ist, fuÈhlt sich der Patient extrem unruhig bis aÈngstlich, ein Zustand, der als »laufender Motor bei angezogener Handbremse« bezeichnet wird. Die Dyskenisie wird hauptsaÈchlich durch eine Imbalance im cholinerg-dopaminergen Transmittersystem von Striatum und Teilen des extrapyramidal-motorischen Systems ausgeloÈst. Solche Effekte koÈnnen durch eine DaÈmpfung der cholinergen AktivitaÈt vermindert bzw. aufgehoben werden, indem Atropin oder noch besser Akineton verabreicht wird. Letzteres passiert die Blut-HirnSchranke besser, sodass erst mit diesem Pharmakon ausreichend hohe Gewebekonzentrationen im ZNS zur Wirkungsoptimierung erreicht werden konnten. Andererseits induzieren jedoch die Neuroleptika eine a-adrenerge Blockade mit ausgepraÈgter Vasodilatation und Blutdruckabfall. Tritt diese Vasodilatation bei einer maskierten HypovolaÈmie auf bzw. steht der Patient unter Medikation mit einem MAO-Hemmer oder einem Vasodilatator, wurden damals gefaÈhrliche BlutdruckstuÈrze bis

195

19

. Abb. 19-3. Muskelrelaxation mit gleichzeitiger Hyperven-

tilation, der dominierende Anteil einer Relaxationsnarkose

hin zum Herzstillstand ausgeloÈst. Ein weiterer Nachteil war der langsame Wirkungseintritt und die lange Wirkungsdauer von bis zu 12 h, Eigenschaften, die eine Steuerung erschweren. Auch gibt es fuÈr die Neuroleptikawirkung keinen spezifischen Antagonisten, sodass sich die kontrollierte Gabe hoher Dosen von Neuroleptika im Rahmen der NarkosefuÈhrung als recht schwierig gestaltete. Um alle die erwaÈhnten Nachteile der verschiedenen Narkosetechniken zu umgehen, haben erstmals im Jahr 1959 De Castro und Mundeleer die Methode der Neuroleptanalgesie propagiert, die das Hauptaugenmerk auf den analgetischen Anteil der Narkose bei gleichzeitiger Verwendung niedriger Dosen eines Neuroleptikums richtete. Mit EinfuÈhrung dieser Methode wurde zum ersten Mal in der Geschichte der AnaÈsthesie ein Verfahren vorgestellt, das sich als praktikabel erwies (. Abb. 19-5), das im Vergleich zu den fruÈheren Verfahren eine groûe Sicherheitsbreite beinhaltete, bei dem der analgetische Anteil die Hauptkomponente einer Narkose darstellte und bei dem unter alleiniger Verwendung verschiedener AnaÈsthetika eine Narkose allein auf intravenoÈser Basis durchgefuÈhrt werden konnte. Ausgehend von dem Neuroleptikum Haloperidol und dem Analgetikum Dextromoramid bzw. Phenoperidin wurde, basierend auf der engen Zusammenarbeit des Chemikers Dr. Paul Janssen von der Fa. Janssen/Beerse mit dem AnaÈsthesisten und Pharmakologen Dr. De Castro/La LouvieÁre, beide Belgien, ein Verfahren entwickelt, das bald seinen Siegeszug als klassische NeuroleptanaÈsthesie (NLAE) antrat (. Abb. 19-5).

196

Kapitel 19  Opioide im Rahmen der AllgemeinanaÈsthesie

19.1.2 DissoziationsanaÈsthesie,

Ataraktanalgesie

. Abb. 19-4. Neurovegetative Blockade, Hauptkomponente

einer Narkosetechnik, der Neurolepsie, bei der hohe Dosen von Neuroleptika aus der Gruppe der Butyrophenone eingesetzt werden

19

Hierbei wurden das wirkungsstarke Analgetikum Fentanyl (200- bis 300fach Morphin) und das Neuroleptikum Dehydrobenzperidol (DHBP ˆ 50fach Chlorpromazin) eingesetzt, von denen durch Interaktion beider Substanzgruppen ein schlafaÈhnlicher Zustand ausging und bei dem nach Bedarf ein Muskelrelaxans verabreicht wurde. Diese klassische Form der NeuroleptanaÈsthesie, wie sie von De Castro inauguriert und von Henschel weiter entwickelt wurde, war durch folgende Eigenschaften gekennzeichnet: 4 PraÈmedikation mit Thalamonal (festes Gemisch aus 0,25 mg Fentanyl und 5 mg Dehydrobenzperidol). 4 Verwendung von Dehydrobenzperidol als Neuroleptikum und Fentanyl als Analgetikum. 4 Getrennte Anwendung beider Substanzen. 4 Vorgabe eines kompetetiven Muskelrelaxans (2 mg Alcuronium oder 0,75 mg Vecuronium). 4 Initiale Gabe von 15±20 mg/70 kgKG Dehydrobenzperidol. 4 Anschlieûend Gabe von 5±10 mg/kgKG Fentanyl. 4 15±20 mg Etomidate zur Narkoseeinleitung (alternativ auch ein Barbiiturat, z. B. Methohexital). 4 Sauerstoffmaskenbeatmung. 4 50±100 mg Succinylcholin. 4 Intubation. 4 Aufrechterhaltunng der Analgese durch Repititionsdosen von Fentanyl 0,05±0,2 mg/70 kgKG. 4 N2O/O2-Beatmung in der Regel 3:1. 4 Relaxierung nach Bedarf. 4 Postoperative Schmerztherapie mit Piritramid 15 mg i. m. pro re nata.

Auch wenn im Lauf der Zeit die Neuroleptanalgesie mehrere Modifikationen (z. B. Ataraktanalgesie oder deren Kombination mit Ketamin in Form der DissoziationsanaÈsthesie) durchgemacht hat, so ist doch der Grundpfeiler einer AnaÈsthesie mit einem wirkungsstarken Analgetikum vom Typ der Opioide bis zum heutigen Tag erhalten geblieben. Man kann deshalb mit Fug und Recht De Castro nicht nur als den Inaugurator der NLA betrachten. Vielmehr ist er als der Wissenschaftler mit einem Bewusstsein fuÈr die Praxis anzusehen, das fuÈr die gesamte Entwicklung der modernen AnaÈsthesie wegweisend war und schlieûlich die totale intravenoÈse AnaÈsthesie (TIVA) erst moÈglich gemacht hat. WaÈhrend erst 20 Jahre spaÈter der eigentliche Wirkmechanismus des dissoziativ wirkenden Analgetikums Ketamin im ZNS erarbeitet werden konnte, ist die intravenoÈse AnaÈsthesie um eine Variante reicher geworden. Hierbei wird eine pharmakologische Trennung (Dissoziation) von subkortikalen und kortikalen, bewussten nozizeptiven Afferenzen ausgeloÈst, wodurch letztendlich eine pharmakologische Lobotomie mit dem Endergebnis einer Schmerzfreiheit erreicht wurde. Mit EinfuÈhrung der Benzodiazepine, bei gleichzeitiger Verabreichung von einem Opioid,

. Abb. 19-5. Die klassische Neuroleptanalgesie (NLA) mit

Dominanz des analgetischen Anteils. Zur neurovegetativen Blockade wurde neben dem Neuroleptikum Dehydrobenzperidol (DHB) alternativ ein Benzodiazepin (Diazepam, Flunitrazepam ˆ Ataraktanalgesie), zur Schlafinduktion ein volatiles AnaÈsthetikum in niedriger Konzentration (Halothan, Enfluran) bzw. das Sedativum Hemineurin (Distraneurin) eingesetzt. Zur Potenzierung von Analgesie und Hypnose wurde Lachgas verwendet, eine Kombination, die als NeurolepanaÈsthesie (NLAE) in die Geschichte der Narkose eingegangen ist

19.1  Entwicklungen zum Einsatz der Opioide im Rahmen der AnaÈsthesie

ist die Ataraktanalgesie entstanden, die u. a. als Opioid das Pentazocin (oder Piritramid) und als Benzodiazepin das Diazepam verwendete. Hierbei dient das Ataraktikum zur Abschirmung stoÈrender Afferenzen, wobei gleichzeitig die sedativ-hypnotische Komponente der Benzodiazepine einkalkuliert wurde. Basierend auf seinen pharmakologischen Grundkenntnissen und einem Weitblick uÈber die ZusammenhaÈnge der Narkose gepaart mit der Zielsetzung einer immer groÈûeren Sicherheitsbreite entwickelte De Castro u. a. die von ihm inaugurierte Sequenzialanalgesie (»anestheÂsie analgesique sequentielle«, AAS) und eine auf dem Naturprodukt Vitamin B1 beruhende Synaptanalgesie (SNA; . Abb. 19-6). 19.1.3 Sequenzialanalgesie (ASS)

und Synaptanalgesie (SNA)

Bei der Sequenzialanalgesie (. Abb. 19-6) handelt es sich um die primaÈre Verabreichung hoher Dosen eines potenten Opioids: Fentanyl (50±100 mg/kgKG) oder Sufentanil (5±10 mg/kgKG), ohne dass ein Neuroleptikum, ein Barbiturat oder ein Benzodiazepin zusaÈtzlich verabreicht werden mussten. Denn durch die Injektion hoher Dosen eines wirkungsstarken Opioids kommt es zur Blockade des aktivierenden retikulaÈren Systems mit Schlafinduktion, waÈhrend fuÈr die Unterhaltung der Narkose bei Bedarf das Opioid nachinjiziert wurde. Ein Muskelrelaxans wurde nur bei erforderlicher Muskelentspannung gegeben. Der Vorteil dieser Technik wurde insofern augenfaÈllig als eine tiefe Analgesie ausgeloÈst wurde. Durch die alleinige Opioidanwendung bleiben alle Reaktionen des vegetativen Nervensystems erhalten, sodass 4 bei starkem Blutverlust der Organismus kompensatorisch eine periphere Vasokonstriktion induzieren konnte, 4 ein Valsalva-ManoÈver (intrapulmonale Drucksteigerung I40 cm H2O) einen Blutdruckabfall zur Folge hatte, 4 bei einer Hyperkapnie ein Blutdruckanstieg und 4 bei einer Hypokapnie ein Blutdruckabfall auftrat, 4 bei Kopftieflage kompensatorisch eine Vasokonstriktion der abhaÈngigen KoÈrperpartien ausgeloÈst wurde, 4 eine opioidbedingte Bradykardie sofort auf Atropin reagierte sowie

197

19

4 durch Augenbulbusdruck der okkulokardiale Reflex auszuloÈsen war. Weil am Ende der Narkose wegen der hohen Dosen des Opioids immer eine Atemdepression bestand, wurde zum Abschluss (in Sequenz) der spezifische Opioidantagonist Pentazocin (bis zu 120 mg/70 kgKG) bzw. Nalorphin (bis zu 10 mg/70 kgKG) gegeben. Die Dosierung orientierte sich an der RuÈckkehr der Spontanatmung. Da jedoch Pentazocin und Nalorphin einen zu geringen antagonistischen Effekt offenbarten, bestand die Gefahr einer Refentanylisierung mit Atemdepression. Auch war durch den Zusatz von dem wirkungsstarken Naloxon in Dosen von 0,4±1,2 mg/70 kgKG diese potenzielle Gefahr nicht zu umgehen, da die antagonistische Wirkungsdauer zu gering war. Andererseits induzierten hohe Dosen von Pentazocin (i120 mg) epileptische Spike-und-Wave-AktivitaÈten im EEG, sodass ihr Einsatz bei Patienten mit neurologischen Komplikationen kontraindiziert war. Nach Naloxon war, wegen der kurzen Halbwertszeit des Antagonisten, eine wiederholte Gabe notwendig, und es musste eine postoperative Ûberwachung garantiert sein. Die Methode hat wegen fehlender langwirkender Opioidantagonisten keinen Eingang in die praktische AnaÈsthesie gefunden. Bei der Synaptanalgesie (SNA; . Abb. 19-7) werden dagegen hohe Dosen des Vitamins B1 (Thiamin) von bis zu 50 mg/kgKG eingesetzt. Solch hohe Dosen fuÈhren aufgrund ihrer spezifischen Wirkung zu einer Blockade von vornehmlich cholinergen und adrenergen Synapsen und zu einer gleichzeitigen moderaten Supprimierung im

. Abb. 19-6. Schematische Darstellung der Sequenzialanal-

gesie, bei der allein hohe Dosen eines wirkungsstarken Opioids zur Narkoseeinleitung und Aufrechterhaltung bei einem mit Luft oder Sauerstoff beatmeten Patienten eingesetzt werden. Eine Muskelrelaxation erfolgte nur bei Bedarf, und die Narkose wurde mit einem Barbiturat eingeleitet

198

Kapitel 19  Opioide im Rahmen der AllgemeinanaÈsthesie

neurovegetativen System mit neurovegetativer DaÈmpfung. Eine zusaÈtzliche Gabe von Muskelrelaxanzien eruÈbrigt sich, weil bei der neuromuskulaÈren ErregungsuÈbertragung in geringen Mengen Thiamin freigesetzt wird, sodass extern zugefuÈhrte hohe Dosen zu einer Hemmung der neuromuskulaÈren ErregungsuÈbertragung fuÈhren. Auch induzieren hohe Thiamindosen eine starke Sedierung, sodass sich ein zusaÈtzliches Hypnotikum/Sedativum eruÈbrigte. Es musste nur zusaÈtzlich ein Opioid zur AusloÈsung einer tiefen Analgesie gegeben werden. Der offensichtliche Vorteil dieser Methode liegt in der Verwendung eines natuÈrlichen, nicht synthetischen Produktes, das im Rahmen der Energiegewinnung, in den mitochondralen Krebszyklus der Myokardzelle eingeschleust wird und diesen ankurbelt. Des Weiteren sind die geringen Kosten von Vitamin B1 hervorzuheben, seine groûe therapeutische Breite, das Fehlen zusaÈtzlicher Muskelrelaxanzien und eine aufgrund der Synapsenblockade induzierte Vasodilatation mit moderater Hypotension bei verminderter kapillarer Blutung . Tabelle 19-1. Therapeutische Breite verschiedener

Opioide im Vergleich zu anderen AnaÈsthetika. Bei hoÈherer RezeptorspezifitaÈt ist auch eine geringere Inzidenz an Nebenwirkungen, insbesondere von Seiten des kardiovaskulaÈren Systems zu erwarten. (Nach [74, 121, 163, 186, 279, 768])

19

AnaÈsthetikum

Therapeutische Breite LD50/ED50

Tramadol Tilidin Pantazocin Thiopental Pethidin Piritramid Methohexital Ketamin Methadon Meptazinol Etomidate Phenoperidin Butorphanol Morphin Lofentanil Fentanyl Nalbuphin Alfentanil Buprenorphin Carfentanil Sufentanil Remifentanil

3 3 4 6 8 11 11 11 12 18 32 39 45 71 112 277 1034 1080 7933 10.000 26.716 33.000

(optimale OperationsverhaÈltnisse). Dagegen sind aber auch die Nachteile offenkundig, naÈmlich dass die Wirkung sehr schlecht kontrollierbar war (ungenuÈgende Steuerbarkeit), ein drastischer Blutdruckabfall bei lavierter HypovolaÈmie auftreten konnte und ein spezifischer Antagonist zur Umkehr der Wirkung nicht vorlag. Bei allen diesen Verfahren wurde der vorteilhafte Einsatz der Opioide gegenuÈber allen anderen AnaÈsthetika augenscheinlich, indem der durch den operativen Eingriff ausgeloÈste Schmerz direkt blockiert und gleichzeitig das kardiovaskulaÈre System nicht beeintraÈchtigt wurde. Letzteres druÈckt sich in einer groûen therapeutischen Breite aus und ist aus dem jeweiligen Index der verschiedenen Opioide (LD50/ED50) abzulesen. Dieser besagt, dass die Spannbreite von einer Dosis, bei der ein wuÈnschenswerter Effekt (Analgesie) auftritt, und die Dosis, bei der das Kreislaufsystems beeintraÈchtigt wird, sehr breit ist (. Tabelle 19-1). Die therapeutische Breite ist von klinischem Interesse, weil selbst bei einer versehentlichen Ûberdosierung kaum Nachteile von Seiten des kardiovaskulaÈren Systems zu erwarten sind. So weisen klinische und tierexperimentelle Untersuchungen darauf hin, dass mit steigender analgetischer Wirksamkeit der Opioide auch die Sicherheitsbreite zunimmt. Diese Ûberlegung gewinnt insbesondere dann an Bedeutung, wenn Opioide in hohen Dosen als alleiniges AnaÈsthetikum wie z. B. bei der AnaÈsthesie zur Operation am offenen Herzen eingesetzt werden [291, 410±412]. Zusammengefasst gibt es mehrere GruÈnde, Opioide als Basis einer AnaÈsthesie einzusetzen: 4 Volatile AnaÈsthetika und insbesondere Barbiturate beeintraÈchtigen bei hoher Dosierung das kardiovaskulaÈre System (schmale therapeutische Breite). 4 Neuroleptika wie Dehydrobenzperidol und auch Sedativa wie Diazepam, Midazolam koÈnnen keine Analgesie ausloÈsen. 4 Der chirurgische Eingriff ist, fuÈr sich betrachtet, sehr schmerzhaft. Es ist deswegen folgerichtig, nur solche Substanzen gezielt einzusetzen, die speziell die gesteigerte sensorische Afferenz blockieren. 4 Opioide zeichnen sich durch eine groûe therapeutische Breite aus (. Tabelle 19-1). 4 Opioide werden intravenoÈs verabreicht. Sie sind entscheidender Anteil der bei der totalen intravenoÈsen AnaÈsthesie (TIVA) verwendeten Pharmaka. 4 Opioide sind oÈkologisch, weil sie nicht zu einer Belastung der Umwelt fuÈhren.

199

19.2  Vagale und sympathikotone Wirkungen der Opioide

. Abb. 19-7. Schematische Darstellung der Synaptanalgesie

(SNA), indem durch hohe Dosen von Thiamin (Vitamin B1) eine neurovegetative DaÈmpfung, Schlaf und eine Muskelrelaxation ausgeloÈst werden

4 Opioidwirkungen koÈnnen mit selektiv wirkenden Antagonisten umgekehrt werden. 4 Aufgrund der Kenntnisse uÈber Opioide und ihre spezifischen Rezeptoren im ZNS ist ihr Wirkmechanismus verstaÈndlich. 4 Opioide sind wegen der Kosten-Nutzen-Relation als guÈnstig einzustufen. 4 Opioide fuÈhren nicht zu einer BeeintraÈchtigung der inneren Organe (Nieren, Leber, Myokard).

19

4 Eine maligne Hyperthermie ist nach Opioidapplikation, im Gegensatz zu den volatilen AnaÈsthetika, nicht nachgewiesen worden. 4 Postoperative Schmerzen treten, im Gegensatz zu einer Inhalationsnarkose, nach einer Opioidnarkose viel spaÈter auf. Die Zielsetzungen einer modernen Narkose mit Analgesie, Bewusstlosigkeit und Muskelrelaxation werden dadurch erreicht, dass Pharmaka mit selektivem Wirkungsprofil verwendet werden, die die zusaÈtzlichen Forderungen nach KreislaufstabilitaÈt und neurovegetativer Stabilisierung waÈhrend des operativen Eingriffs erfuÈllen. Alle diese Pharmaka sollen neben einer narkotischen Wirkung auch eine groûe therapeutische Breite aufweisen. Auf die Praxis uÈbertragen bedeutet dies, dass sie nicht mit einer BeeintraÈchtigung der Myokardfunktion und des Kreislaufsystems einhergehen duÈrfen. Diese durch die heutigen Narkosemittel zu erreichenden Ziele koÈnnen nach heutigem Kenntnisstand am besten durch den Einsatz der Opioide allein oder in Kombination mit anderen AnaÈsthetika in Form der balancierten AnaÈsthesie erreicht werden (. Abb. 19-8). 19.2

Vagale und sympathikotone Wirkungen der Opioide

Alle Opioide loÈsen je nach 4 Produkt, 4 Dosis, 4 zusaÈtzlichen potenzierenden AnaÈsthetika und 4 vorherrschendem vegetativen Grundtonus beim Patienten exzitatorische und/oder inhibitorische Effekte aus (. Abb. 19-9).

tika a

. Abb. 19-8. Die 4 Narkosekomponenten: Durch das Opioid werden der Schmerz und die vegetativen, humoralen und

metabolischen Reaktionen blockiert. Der Schlaf dient zur Ausschaltung des Bewusstseins. Als Teil der fakultativen Komponente der Narkose dient die Muskelrelaxation zur Erleichterung chirurgischer Arbeiten, und durch die neurovegetative DaÈmpfung wird die Gegenregulation des Hypothalamus auf durchbrechende nozizeptive Reize gedaÈmpft

200

Kapitel 19  Opioide im Rahmen der AllgemeinanaÈsthesie

So koÈnnen Opioide, in niedrigen Dosen verabreicht, zu dem Bild einer uÈberwiegenden vagalen Symptomatik mit unterschiedlicher IntensitaÈt fuÈhren. Es sind allein oder in Kombination folgende Wirkungen zu beobachten: 4 Bradykardie, 4 Hypotonie, bedingt durch Vasodilatation, 4 Nausea und Erbrechen, 4 Miosis, 4 Sphinkterenspasmus, 4 Hyperperistaltik ab dem Cannon-BoÈhm-Punkt, 4 MotilitaÈtshemmung von Magen, Ileum und Jejunum, 4 Transpiration, 4 Salivation, 4 Bronchospasmus und 4 Laryngospasmus.

19

Erst hoÈhere Dosen fuÈhren, allein verabreicht, zu einem Gleichgewicht im vegetativen System. Massive Dosen bedingen eine sympathikotone HyperaktivitaÈt, wobei alle bekannten Symptome, wie sie auch nach Verabreichung von Katecholaminen auftreten, nachzuweisen sind (. Abb. 19-9): 4 Hypertonie, 4 Tachykardie, 4 HyperglykaÈmie, 4 ErhoÈhung des peripheren Widerstands, 4 Zunahme des O2-Verbrauchs, 4 HyperlaktaÈmie, 4 Antidiurese, 4 Rubeose des Gesichts. Selbst massive Dosen fuÈhren beim beatmeten Tier zu keiner kardiovaskulaÈren Deprimierung, sondern zu einer Enthemmung des sympathischen

. Abb. 19-9. Die inhibitorischen (Parasympathikus) und exzitatorischen (Sympathikus) Effekte nach alleiniger Gabe unter-

schiedlicher Opioiddosen. (Nach [65, 186])

19.3  Potenzierung der Opioidnarkose

Nervensystems, einhergehend mit metabolischen (Anstieg der Katecholamine und des myokardialen O2-Bedarfs), kardiozirkulatorischen (Hypertonie, Tachykardie, Anstieg des GefaÈûwiderstands, P-Qund Q-T-ZeitverlaÈngerung, Anstieg des ZVD) sowie neurologischen (epileptogenen Spike-andwave-AktivitaÈten) Auswirkungen [752]. Vagale und sympathikotone Wirkungen der Opioide koÈnnen durch einen Antagonisten (z. B. Naloxon) aufgehoben werden. Dies ist als deutlicher Hinweis fuÈr eine Beteiligung der Opioidrezeptoren an der AusloÈsung der Effekte zu werten. Eine Blockade der parasympathischen Nebenwirkungen durch Atropin fuÈhrt zu einem Ûberwiegen der sympathischen Wirkung; eine Blockade der sympathikotonen Wirkungen durch a- und b-Blocker fuÈhrt zu einer Verminderung [186]. In der Klinik werden sympathikotone und parasympathische Nebenwirkungen durch folgende Maûnahmen vermindert oder eliminiert: 1. die vorangehende Verabreichung einer hohen Dosis von Atropin (bis zu 2 mg) zur Blockade der parasympathischen Nebenwirkungen; 2. die subkutane oder intramuskulaÈre Injektion des Opioids mit einer daraus resultierenden langsamen Resorption; 3. die gleichzeitige Verabreichung eines allgemeinen AnaÈsthetikums (z. B. Barbiturat, Hypnotikum, volatiles AnaÈsthetikum); 4. die gleichzeitige Verabreichung eines Neuroleptikums wie z. B. Dehydrobenzperidol (Droperidol) im Dosisbereich von 5±10 mg/70 kgKG; 5. die gleichzeitige Verabreichung eines Benzodiazepins; 5. die gleichzeitige Verabreichung des Hypnotikums Propofol; 6. die alleinige Verabreichung ausreichend hoher Dosen eines sehr stark wirksamen Opioids (z. B. Sufentanil), um ein vegetatives Gleichgewicht zu erreichen (. Abb. 19-9). Ziel aller genannten Techniken ist es, sympathische und parasympathische Nebenwirkungen der Opioide zu verringern und ein neurovegetatives Øquilibrium zu erreichen. Hierbei halten sich Sympathikus und Parasympathikus die Waage. 19.3

201

19

So kann abhaÈngig davon, ob zur Einleitung ein Analgetikum (z. B. Fentanyl 0,2±0,5 mg/70 kgKG, Alfentanil 2±3 mg/70 kgKG oder Remifentanil 0.5 mg/70 kg KG) zusammen mit dem Hypnotikum (Etomidate, Propofol oder einem Barbiturat) verabreicht wird, eine ausreichende Stabilisierung vegetativer Abwehrreaktionen bzw. eine Destabilisierung nachgewiesen werden. Je nachdem, ob mit oder ohne Analgetikum intubiert wird, kommt es zu einem Anstieg im systolischen Blutdruck und einer Zunahme der Konzentrationen des Noradrenalins im Plasma (. Abb. 19-10).

Potenzierung der Opioidnarkose

Eine ausreichende DaÈmpfung nozizeptiver Afferenzen wird schon bei Einleitung der Narkose notwendig, wenn es gilt, die durch eine Intubation ausgeloÈsten symapthikotonen Abwehrreaktionen in ausreichendem Maûe zu unterdruÈcken und eine Stabilisierung des Kreislaufs zu erreichen.

. Abb. 19-10. Mittelwerte des systolischen (a) und diastolischen (b) Blutdrucks mit den korrespondierenden Konzentrationen von Noradrenalin im Plasma (c), mit (x) und ohne (y) Einleitung mit dem Opioid Fentanyl (0,2 mg/70 kgKG). t1 Zeitpunkt direkt vor Narkoseeinleitung; t2 Zeitpunkt 60 s nach Intubation. (Nach [413])

202

Kapitel 19  Opioide im Rahmen der AllgemeinanaÈsthesie

Um sowohl einen moÈglichen Ûberhang des Opioids nach der Narkose zu verhindern, gleichzeitig jedoch die Narkose ausreichend tief zu halten und moÈgliche Nebenwirkungen des Opioids zu verringern (postoperative Nausea und Erbrechen), als auch bei Patienten mit relativer Opioidtoleranz (Alkoholiker, Analgetika- und/oder Benzodiazepinabusus, starke Raucher) die Narkose zu vertiefen, werden unterschiedliche Pharmaka zur Potenzierung eingesetzt. 19.3.1 Hypnotika Alle hypnosedativ wirkenden Pharmaka, wie z. B. Pentobarbital, Thiopental, Methohexital, Etomidate, Chlomethiazol und Propofol, fuÈhren, in Verbindung mit einem Opioid appliziert, zu einer VerstaÈrkung und einer VerlaÈngerung der Wirkung. Das Ausmaû der VerlaÈngerung ist jedoch nicht vorhersehbar. Von den neueren Hypnotika scheint das Propofol (Disoprivan) aufgrund der schnellen Metabolisierung durch die Leber recht gut steuerbar zu sein, sodass die gleichzeitige Applikation mit einem Opioid, als totale intravenoÈse AnaÈsthesie propagiert wird [414±418]. 19.3.2 Neuroleptika Von den Neuroleptika wird besonders das Dehydrobenzperidol (Droperidol) in niedrigen Dosen (5±10 mg/70 kgKG) eingesetzt, weil es zusaÈtzlich antiarrhythmisch wirkt, die Durchblutung durch a-Blockade foÈrdert und ein potentes Antiemetikum ist, dessen Wirkung noch bis in die postoperative Phase nachweisbar ist [122]. Die fruÈher empfohlenen hohen Dosen im Rahmen der klassischen Neuroleptanalgesie (NLA) von i20 mg/ 70 kgKG, sind in der Folge zugunsten niedrigerer Dosen verlassen worden (5±10 mg/70 kgKG). Da bei hohen Dosen von Dehydrobenzperidol, insbesondere auf der Intensivstation, EKG-VeraÈnderungen in Form von QT-ZeitverlaÈngerungen mit der Gefahr von Kammertachykardien, den sog. »torsades de pointes« und der Gefahr von Herzflimmern beschrieben wurden, hat der Hersteller die Produktion dieses Neuroleptikums und seine Vermarktung eingestellt.

19

19.3.3 Benzodiazepine Alle Benzodiazepine (z. B. Midazolam, Diazepam, Flunitrazepam und/oder Lorazepam) fuÈhren zur Potenzierung der Opioidanalgesie. Extrapyramidalmotorische Wirkungen sind nicht zu erwarten und auch die KontraktilitaÈt des Herzens wird nicht beeintraÈchtigt. Ihre Wirkungsdauer ist jedoch recht lang, wovon besonders die opioidbedingte Atemdepression betroffen ist. Midazolam hat, bei einer Halbwertszeit von 1,3±2,3 h, die kuÈrzeste Wirkungsdauer [419], zumal der Metabolit, im Gegensatz zu Diazepam, pharmakologisch nicht aktiv ist. Ein weiterer Vorteil ist der zur VerfuÈgung stehende Antagonist Flumazenil (Anexate), der direkt uÈber den Benzodiazepinrezeptor kompetitiv den Agonisten von seiner Bindung verdraÈngt und die Wirkung umkehrt [420, 421]. Weil Benzodiazepine nicht nur die analgetische Potenz eines Opioids verstaÈrken [422], sondern bei kurzfristiger Verabreichung auch die Ausbildung einer Toleranz- und AbhaÈngigkeitsentwicklung verhindern [423], erscheint die kombinierte Gabe von einem Opioid und einem Benzodiazepin im Rahmen der Analgosedierung auf der Intensivstation nur folgerichtig. Ob jedoch Benzodiazepine bei langfristiger Gabe auch beim Menschen eine im Tierexperiment nachgewiesene antianalgetische Wirkung offenbaren [424±426], bedarf der BestaÈtigung am Patienten auf der Intensivstation. Immerhin wird dieser Mechanismus als einen MoÈglichkeit diskutiert, dass bei langfristiger Opioidgabe eine Toleranzentwicklung zu beobachten ist. 19.3.4 Volatile AnaÈsthetika Der Versuch, die 4 Grundkomponenten der AnaÈsthesie (Analgesie, Hypnose, vegetative DaÈmpfung, Muskelrelaxation) mit einem einzigen gasfoÈrmigen AnaÈsthetikum zu gewaÈhrleisten, fuÈhrt zwangslaÈufig zu einer erheblichen Ûberdosierung. So muÈssen die volatilen AnaÈsthetika bei einer reinen Inhalationsnarkose sehr hoch dosiert werden, da sie eine nur geringe analgetische Eigenschaften aufweisen; der Patient wird eher »betaÈubt«. Ziel der Kombinationsnarkose war es deshalb von jeher, die einzelnen Komponenten der AnaÈsthesie mit spezifischen, hochwirksamen Substanzen auszuloÈsen und von jedem Medikament nur die Hauptwirkung auszunutzen. Insbesondere die analgetische Wirkkomponente ist hierbei immer mehr in den Mittelpunkt geruÈckt. Denn hierdurch

19.3  Potenzierung der Opioidnarkose

. Abb. 19-11. Das limbische System, das nicht mit Logik und Intelligenz ansprechbar ist, hat die Aufgabe, vitale Funktionen, u. a. auch die Schmerzverarbeitung aufrechtzuerhalten. Bei einer opioidgestuÈtzten Narkose werden die StoÈreffekte von Seiten der subkortikalen Zentren eliminiert, ohne dass die Vitalfunktionen beeintraÈchtigt werden

werden gezielt nozizeptive Afferenzen blockiert, sie erreichen nicht das limbische System, gleichzeitig jedoch werden vitale Funktionen kaum beeinflusst (. Abb. 19-11). WaÈhrend der Narkose muss jedoch der Neokortex zum Schlafen gebracht werden, was durch ein volatiles AnaÈsthetikum in unspezifischer Weise zu erreichen ist. Andererseits sollen aber vom Neokortex nicht nur Schmerzempfindung und Bewusstsein getrennt werden, sondern auch alle nozizeptiven EinfluÈsse, die der operative Eingriff ausloÈst und die vom Neokortex nicht beeinflussbar sind, zu den subkortikalen Zentren wie dem limbischen System blockiert werden. Erst hierdurch kann eine Stressreaktion vermieden oder zumindest stark eingeschraÈnkt werden. So kommt es nicht von ungefaÈhr, dass sich speziell diese Hirnregion durch eine Anreicherung von Opioidbindungsstellen auszeichnet [51, 54]. Mittels eines stark wirkenden Opioids werden alle aufsteigenden nozizeptiven Erregungen in den synaptischen Ketten der sensorischen Nervenleitung auf ein Millionstel der urspruÈnglichen AktivitaÈt vermindert. Halothan, Enfluran, Isofluran, aber auch Desfluran und Sevofluran beeintraÈchtigen in mehr oder weniger groûem Ausmaû die KontraktilitaÈt des Myokards. Das einzige Narkosegas, das in Konzentrationen bis zu 50 Vol.- % das gesunde Myokard nicht deprimiert, aber dennoch die Opioidwirkung potenziert, ist N2O [299].

203

19

Wegen der potenziellen negativ-inotropen Wirkung der volatilen AnaÈsthetika wird die Opioidmenge haÈufig erhoÈht, um die fuÈr eine tiefe Narkose notwendige Narkosegaskonzentration herabzusetzen. Dabei wird in niedrigen Konzentrationen die Hauptwirkung der InhalationsanaÈsthetika, naÈmlich die hypnotische Komponente, gezielt ausgenutzt. Es koÈnnen sich sogar Situationen ergeben (Schock, Herzinsuffizienz), in denen aufgrund der schlechten Kreislaufsituation das volatile AnaÈsthetikum vollstaÈndig durch ein Opioid ersetzt wird. Weil das Opioid die Abwehrreaktionen auf einen nozizeptiven Reiz waÈhrend des operativen Eingriffs blockiert, kann, wie Untersuchungen von McLesky zeigen [427], eine uÈblicherweise tiefe Gasnarkose viel oberflaÈchlicher gehalten werden. Andererseits wird, besonders bei Eingriffen am Herzen, ein stark wirkendes Opioid (Sufentanil, Fentanyl) als das Mittel der Wahl fuÈr die Narkose angesehen, wenn es gilt, die den Kreislauf belastenden, sympathikotonen Abwehrreaktionen ausreichend zu unterdruÈcken [152, 291]. Weil durch die Kombination mehrerer AnaÈsthetika vergleichsweise niedrigere Dosierungen gewaÈhlt werden koÈnnen, gewaÈhrleistet dies eine fuÈr den Patienten schonende Narkose bei gleichzeitig guten Arbeitsbedingungen des Operateurs. So zeigen verschiedene Untersuchungen, dass sich der MAC-Wert der InhalationsanaÈsthetika bei Verwendung potenter Analgetika erheblich reduzieren laÈsst (. Abb. 19-12; [150, 428, 429]). Heute wird bei der Kombinations- oder balancierten AnaÈsthesie die Analgesie durch potente Analgetika wie Fentanyl, Sufentanil, Alfentanil und Remifentanil, die Hypnose durch InhalationsanaÈsthetika oder intravenoÈse Hypnotika (Propofol) in niedrigen Konzentrationen, die Muskelrelaxation durch nichtdepolarisierende Muskel-

. Abb. 19-12. Darstellung der MAC-Werte von Enfluran unter

zusaÈtzlichen Fentanyl- bzw. Alfentanil-Gaben. (Nach [150, 429])

204

Kapitel 19  Opioide im Rahmen der AllgemeinanaÈsthesie

. Tabelle 19-2. Durchschnittliche Dosierung von Opioiden bei der Kombinationsnarkose und operativen Eingriffen von mindestens 2 h Dauer

PraÈmedikation: Einleitung:

PraÈcurarisierung:

Bewusstseinsausschaltung:

PraÈoxygenierung: Aufrechterhaltung:

Nachinjektion vor Hautschnitt:

Nachlassende Analgesie: On-top-Gabe I45 min vor AnaÈsthesieende: Postoperative Schmerzbehandlung:

19

1±3 ml Thalamonal bzw. ein Benzodiazepin (z. B. Midazolam 0,2 mg/kgKG oral) 30±60 min vor AnaÈsthesie 0,07±0,1 mg/kgKG Dehydrobenzperidol 2±4 mg/kgKG Fentanyl oder 0,2±0,5 mg/kgKG Sufentanil mite 10 oder 0,5 mg/kgKG Remifentanil Priming mit 0,01 mg/kgKG Vecuronium oder 0,02 mg/kgKG Alcuronium oder 0,02 mg/kgKG Cisatracurium 0,2±0,3 mg/kgKG Etomidate oder 2 mg/kgKG Propofol Vollrelaxierung Sauerstoff-Maskenbeatmung, Intubation Maschinelle Beatmung mit N2O/O2 VerhaÈltnis 3:1 plus 0,3±0,8 Vol.- % Enfluran 2±4 mg/kgKG Fentanyl oder 0,2±0,5 mg/kgKG Sufentanil mite 10 Relaxierung nach Bedarf 0,15±0,7 mg/kgKG Sufentanil mite 10 oder 1±2 mg/kgKG Fentanyl 7,0±25mg/kgKG Alfentanil oder 1±2 mg/kgKG Remifentanil Titration von Piritramid nach Bedarf 3,0±3,0±3,0 mg bis VAS I 3,0

relaxanzien und die neurovegetative DaÈmpfung durch Neuroleptika oder Benzodiazepine erzielt [106, 291, 430±433]. Eine praktikable Vorgehensweise zur balancierten AnaÈsthesie bei einem Patienten zeigt . Tabelle 19-2. Bei dieser Vorgehensweise, die eine ausreichende Blockade aufsteigender nozizeptiver Afferenzen garantiert, werden die Nebenwirkungen hoher Konzentrationen von InhalationsanaÈsthetika wie z. B. Blutdruckabfall und Arrhythmien vermieden. Dabei gewaÈhrleistet die niedrige Konzentration des InhalationsanaÈsthetikums jedoch eine adaÈquate Schlaftiefe (. Abb. 19-13). Die initial hohe Dosis des Analgetikums Fentanyl bzw. Sufentanil schuÈtzt den Patienten vor kardiovaskulaÈren und hormonellen Auswirkungen des Intubationsreizes und erzeugt eine fuÈr die chirurgische Intervention notwendige Basisanalgesie. Dehydrobenzperidol ist vegetativ stabilisierend und aufgrund seiner starken antiemetischen Eigenschaft wirkt es der postoperativen Ûbelkeit und dem Erbrechen entgegen. Postoperativ ist noch eine Restanalgesie zu verzeichnen, sodass die Patienten nicht sofort Schmerzen empfinden. Auch das nach einer Inhalationsnarkose oÈfters zu beobachtende KaÈltezittern (»shivering«) wird

durch eine Kombinationsnarkose deutlich reduziert. Bei den relativ geringen Dosen der einzelnen, gezielt eingesetzten AnaÈsthetika werden die kardiovaskulaÈren Parameter nur gering beeinflusst, die Methode zeichnet sich somit durch eine ausgepraÈgte KreislaufstabilitaÈt aus.

. Abb. 19-13. Kombinierter Einsatz des Opioids Alfentanil mit

volatilen AnaÈsthetika. Es resultiert eine deutliche MAC-Reduktion. Øhnliche Effekte lassen sich auch bei wiederholter intraoperativer On-top-Alfentanilgabe nachweisen. (Nach [428, 434])

19.3  Potenzierung der Opioidnarkose

19.3.5 a2-Agonisten (Clonidin,

Dexmedetomidin, Mivazerol)

Das in der Medizin als Antihypertonikum eingesetzte Clonidin (Catapresan) bewirkt neben seiner zentral induzierten sympathikolytischen, anxiolytischen und sedativen Komponente ebenfalls eine Analgesie. Als Hauptangriffspunkt fuÈr die zentrale Sympathikolyse gelten Neuronen im Bereich der Formatio reticularis der Medulla oblongata. Dort befinden sich pressoregulatorische Zentren, uÈber die der zentrale Sympathikus gesteuert wird. Die Zentren sind uÈber den Nucleus tractus solitarii mit den Barorezeptoren im Karotissinus und Aortenbogen verbunden. Ûber den Nucleus tractus solitarii ziehen Neuronen zum rostralen Anteil der Medulla oblongata und hemmen dort sympathische Bahnen. Weitere Bahnen ziehen zum Nucleus ambiguus und Nucleus dorsalis nervi vagi, uÈber den der Herzvagus aktiviert wird. Da die Neuronen des Nucleus tractus solitarii unter noradrenerger Kontrolle stehen, wird uÈber die a2-Adrenozeptoren einerseits der Herzvagus stimuliert und andererseits der zentrale Sympathikus inhibiert. FuÈr die anxiolytische und analgetische Wirkung wird der Locus coeruleus als Wirkort in Betracht gezogen, denn dort liegen Rezeptoren fuÈr Opioide, Acetylcholin, Serotonin, GABA, Substanz P und Katecholamine. Diese Rezeptoren sind vom a2-Subtyp, sodass eine Bindung die AktivitaÈt efferenter Neuronen verringert (. Abb. 19-14). Ûber die Bindung am a2-Rezeptor hemmt v. a. Clonidin die AktivitaÈt der Neuronen im Locus coeruleus, sodass die Funktionen vieler nachgeordneter Hirnareale wie Groûhirn, Hypothalamus und limbisches System gedaÈmpft werden (. Abb. 19-14). Andererseits ist auch eine Bindung von a2-Adrenoagonisten im Bereich des RuÈckenmarks nachgewiesen worden, wodurch die erfolgreiche epidurale Anwendung von Clonidin in Ver-

205

19

bindung mit Morphin bei chronischen Schmerzen erklaÈrt werden kann [435]. Aufgrund des Wirkprinzips der a2-Agonisten erklaÈrt sich auch die Wirkung einer Clonidinbehandlung im Opiatentzug. Denn Opioide, die die ihnen eigenen Rezeptoren im Locus coeruleus besetzen, hemmen gleichzeitig den noradrenergen Output. Dies wiederum fuÈhrt zur Empfindlichkeitssteigerung (»up-regulation«) noradrenerger Rezeptoren und beim OpiatabhaÈngigen zur Repression der endogenen Opioidsynthese. Beim Entzug faÈllt diese Hemmung am Locus coeruleus weg, es kommt zu einer uÈberschieûenden AktivitaÈt in der noradrenergen Synthese. Clonidin bremst diese HyperaktivitaÈt, der »Noradrenalinansturm« wird vermindert, und die Entzugssymptome werden gemildert. Die Kombination einer opioidgestuÈtzten Narkose mit einem a2-Agonisten fuÈhrt im Allgemeinen zu einer Verminderung der Sedativamenge von bis zu 45 % und der Opioiddosis um 40±70 % bei auffallend kreislaufstabilen VerhaÈltnissen [436±438, 753]. Die empfohlenen Dosen fuÈr Clonidin betragen zwischen 1,5±3,0 mg/kgKG und die fuÈr Dexmedetomidin 0,25±1,0 mg/kgKG. Zwischen den beiden a2-Agonisten Clonidin und Dexmedetomidin besteht hinsichtlich der SelektivitaÈt fuÈr Clonidin ein VerhaÈltnis der a1/a2-Rezeptoren von 200:1 bei einer Halbwertszeit von bis zu 9 h, waÈhrend fuÈr Dexmedetomidin eine hoÈhere SelektivitaÈt von 1600:1 bei einer kuÈrzeren Halbwertszeit von nur 2 h vorliegt. Hieraus ist eine geringere HaÈufigkeit an Nebenwirkungen und eine bessere Steuerbarkeit abzuleiten. Mivazerol hat bei einer RezeptorspezifitaÈt von 119:1 zwar einen hoÈheren Wert als Clonidin, weist jedoch nur 10 % der SpezifitaÈt von Dexmedetomidin auf. Weil die SelektivitaÈt von Mivazerol fuÈr den Imidazolrezeptor a2 A/I1 mit einem Wert von 215 gegenuÈber dem von Dexmedetomidin mit 32 und fuÈr Clonidin mit 16 deutlich hoÈher liegt [439], wird

. Abb. 19-14. Angriffspunkt a2-Agonisten mit daraus resultierender Sympathikolyse im Locus coeruleus

206

Kapitel 19  Opioide im Rahmen der AllgemeinanaÈsthesie

. Abb. 19-15. Die am Locus coeruleus angreifenden efferenten Projektionsbahnen

19

diesem a2-Adrenorezeptoragonisten aufgrund der Datenlage einer groû angelegten Multizenterstudie eine hoÈhere ischaÈmieprotektive Wirkung bei stabileren KreislaufverhaÈltnissen zugesprochen [440]. Nach der intravenoÈsen Gabe von a2-Agonisten sind folgende Nebenwirkungen moÈglich: 1. eine anfaÈngliche Hypertonie durch die Vasokonstriktion, ein vom a1-Rezeptor aus gehender Wirkung, 2. eine anschlieûende Hypotonie durch Vasodilatation, die durch die Gabe von Noradrenalin aufgefangen werden kann, 3. eine starke, zentral induzierte Bradykardie. Hierbei handelt es sich um eine uÈber den Imidazolrezeptor auf den Vagus uÈbergreifende Wirkung. Diese Wirkung kann mit Atropin aufgefangen werden. Aufgrund dieser Nebenwirkungen besteht eine Kontraindikation fuÈr die kombinierte Gabe eines Opioids mit einem a2-Agonisten bei Patienten mit 4 Sinusbradykardie, 4 AV-ÛberleitungsstoÈrung, 4 HypovolaÈmie mit Blutdruckabfall, 4 Sinusknotensyndrom, 4 hypersensitivem Karotissinus, 4 Aortenstenose (Bradykardie!). Zusammenfassend bringt ein a2-Agonist in Kombination mit einem Opioid folgende Vorteile: 1. In einer Dosis von 5 mg/kgKG blockiert es die Kreislaufreaktionen unter Laryngoskopie. 2. Er verlaÈngert peridural die Wirkungsdauer von LokalanaÈsthetika.

3. Es potenziert nicht die atemdepressorische Wirkung der Opioide; vermindert jedoch den Opioidbedarf fuÈr eine suffiziente Analgesie um bis zu 40 %. 4. Es hat eine ihm eigene Sedierung, die der opioidspezifischen Sedierung zugerechnet werden muss. 5. Es verhindert eine intra- und postoperative stressbedingte myokardiale IschaÈmie bei Patienten mit einer koronaren Herzkrankheit (KHK). 6. Es soll nach tierexperimentellen Ergebnissen (10±100 mg/kgKG) eine neuroprotektive Wirkung bei Karotisverschluss haben [441]. 7. Es vermindert, je nach Dosis, die MAC von volatilen AnaÈsthetika um 40±70 %. 8. Es hat eine ihm inne wohnende kardioprotektive Wirkung, da von diesem Pharmakon antiarrhythmische Eigenschaften ausgehen. 9. Es verstaÈrkt peridural (450 mg/24 h) die postoperative Analgesie mit Morphin [442] oder Bupivacain [443]. FuÈr die Zukunft werden a2-Agonisten in der AnaÈsthesie bei folgenden Indikationen vermehrt Verwendung finden [444, 445], zumal ein spezifischer Antagonist, das Atipamezol, zur VerfuÈgung steht: 4 PraÈmedikation zur Sedierung und Anxiolyse, 4 perioperativ zur Verminderung der Opioiddosen, Verminderung der MAC volatiler AnaÈsthetika und Verminderung stressbedingter Kreislaufeffekte,

19.4  Dosierung der Opioide im Rahmen einer Narkose

4 postoperativ im Rahmen einer Schmerztherapie in Kombination mit Opioiden (peridural oder i. v.) zur Verbesserung der Analgesie bei weniger Nebenwirkungen, 4 postoperativ zur Kupierung des KaÈltezitterns, 4 auf der Intensivstation zur Potenzierung der Analgesie, insbesondere der Analgosedierung mit Opioiden, wobei Dexmedetomidin als potenzieller Kandidat mit einer anfaÈnglicher AufsaÈttigung von 6 mg/kgKG/h und anschlieûend in einer Dosierung von 0,2±0,7 mg/ kgKG/h, bei Orientierung am Ramsay-Score, gegeben werden soll, 4 im Rahmen der Therapie chronischer Schmerzen zur VerstaÈrkung der analgetischen Wirkung peridural applizierter Opioide, 4 waÈhrend des Opiatentzug in Narkose als das Mittel der Wahl zur Gegenregulation der bei einem Opiatentzug mit Naltrexon auftretenden Entzugssymptomatik. In der Praxis hat sich der a2-Agonist Clonidin auch zur UnterdruÈckung des Alkoholdelirs bewaÈhrt. Sie beruht auf der Hypothese, dass beim Alkoholabbau morphinaÈhnliche Substanzen entstehen und, wie beim Opiatabusus, unter einem Entzug ein Mangel an endogenen Neurotransmittern entsteht [446, 447]. Letztlich sollen diese alkaloiden Kondensationsprodukte zwischen biogenen Aminen und Azetaldehyd (sog. Tetraisochinoline), die sowohl beim Tier als auch beim Menschen nachgewiesen worden sind [448, 449, 450], am Alkoholentzug beteiligt sein. Ihr Abfall fuÈhrt, aÈhnlich wie bei Opioidmangel, zu einem Noradrenalinsturm, der sich klinisch als Entzugssymptomatik manifestiert. FuÈr diese Hypothese sprechen Befunde, dass beim Alkoholiker die Anzahl der Opioidrezeptoren vermindert bzw. ihre Empfindlichkeit verringert ist (»down-regulation« [451]) und die Syntheseleistung fuÈr die endogenen Opioide abgenommen hat [452, 453]. Letztlich ist hieraus die lebenslang anhaltende MoÈglichkeit eines RuÈckfalls in die Sucht bei Einnahme nur geringer Mengen Alkohol und die beim Alkoholiker perioperativ notwendigen hoÈheren Opioiddosen abzuleiten. 19.4

207

19

der Art und der LaÈnge des geplanten Eingriffs sowie von sekundaÈren Faktoren wie Alter des Patienten, dem Gesamteiweiû, der Leberfunktion u. a. abhaÈngt. WaÈhrend bei der klassischen Neuroleptanalgesie (NLA) das Lachgas eine VerstaÈrkung des analgetischen Effekts bewirkt und zur Bezeichnung NeuroleptanaÈsthesie (NLAE) gefuÈhrt hat, werden die Abwehrreaktionen von Seiten des zentralen Sympathikus und des endokrinen Systems im Allgemeinen mit einem Neuroleptikum (z. B. Dehydrobenzperidol) gedaÈmpft. Als Nachteil dieser Methode ist jedoch die durch das Opioid induzierte Atemdepression anzusehen, die bis in die postoperative Phase reichen kann, wenn bis kurz vor Operationsende starkwirkende Opioide verabreicht worden sind. Anschlieûend kann eine Antagonisierung der Opioidwirkung mit einem spezifischen Antidot (z. B. Naloxon) oder eine verlaÈngerte postoperative Ûberwachung notwendig werden. Um dies zu vermeiden, soll initial eine ausreichend hohe »SaÈttigungsdosis« des Opioids gegeben werden, sodass im Verlauf der Operation eher ZuruÈckhaltung mit seiner weiteren Verabreichung geuÈbt oder bei Bedarf auf ein kurzwirkendes Opioid, wie z. B. Alfentanil oder Remifentanil, ausgewichen werden soll (. Abb. 19-16). Aus diesem Grunde ist man in der klinischen AnaÈsthesiologie dazu uÈbergegangen, gegen Nar-

Dosierung der Opioide im Rahmen einer Narkose

Die fuÈr eine ausreichende Analgesie waÈhrend der Operation zu waÈhlende Dosierung der Opioide ergibt sich aus . Tabelle 19-2, wobei, unter BeruÈcksichtigung einer ausreichend hohen anfaÈnglichen »SaÈttigungsdosis«, die endguÈltige Dosierung von

. Abb. 19-16. Verschiedene Methoden der Opioidverabreichung im Rahmen einer Narkose und das Prinzip der hohen SaÈttigungsdosis

208

Kapitel 19  Opioide im Rahmen der AllgemeinanaÈsthesie

koseende das Analgetikum wegzulassen. Eine daraus resultierende moÈgliche Verringerung der Analgesie kann theoretisch durch niedrige Konzentrationen eines volatilen AnaÈsthetikums wie Halothan, Enfluran oder Isofluran kompensiert werden. Weil das volatile AnaÈsthetikum jedoch mehrere Minuten (i5 min) bis zum Erreichen einer wirksamen Konzentration im ZNS benoÈtigt, ist eine bedarfsadaptierte Blockade nozizeptiver Afferenzen nicht immer voll zu erreichen. Zum anderen verzoÈgern volatile AnaÈsthetika den metabolischen Abbau des Opioids [125], sodass wiederum ein potenzieller Ûberhang mit ungenuÈgendem Atemantrieb in die postoperative Phase einkalkuliert werden muss. Die zusaÈtzliche Applikation eines volatilen AnaÈsthetikums stellt somit, auch unter BeruÈcksichtigung der schnell wirkenden Gase wie Desfluran oder Sevofluran, nicht die optimalste LoÈsung dar. Denn zum einen ist ihre Anschlagzeit zu lang und zum anderen vermitteln sie primaÈr eine hypnotische und nicht eine analgetische Wirkung. Andere, das ZNS daÈmpfende Pharmaka, wie Hypnotika oder Benzodiazepine, koÈnnen ebenfalls dazu verwendet werden, eine nachlassende Analgesie des Opioids waÈhrend der klassischen NeuroleptanaÈsthesie zu vervollstaÈndigen. Aufgrund der langen Anschlagzeit und einer langen Wirkdauer sind jedoch weniger wuÈnschenswerte Reaktionen zu erwarten, die bei Operationsende in einer verlaÈngerten Erholungsphase und in einer verzoÈgert einsetzenden Spontanatmung muÈnden. 19.4.1 On-top-Potenzierung der Analgesie

mit Alfentanil, Remifentanil

Die Forderung, auch im letzten Stadium der Narkose eine ausreichend tiefe Analgesie zu garantieren, gleichzeitig jedoch einen moÈglichen OpioiduÈberhang in die postoperative Phase hinein zu vermeiden, hat zur Entwicklung von Opioiden

gefuÈhrt, die besser steuerbar sind. Aufgrund der pharmakokinetischen und physikochemischen Eigenschaften des Opioids Fentanyl, das am haÈufigsten bei der klassischen NeuroleptanaÈsthesie eingesetzt wird, ist bei unangepasster Dosierungsweise ein postoperativer Ûberhang sowie eine verminderte Vigilanz mit eingeschraÈnkter Spontanatmung moÈglich. Die Ursache hierfuÈr ist das groûe Verteilungsvolumen (Vd) von Fentanyl in den peripheren Kompartimenten des KoÈrpers (Haut, Muskulatur und Fettgewebe), sodass die Biotransformation verzoÈgert ist und die Eliminationshalbwertszeit (t1/2b) verlaÈngert wird (. Tabelle 19-3). Um diesem Nachteil zu begegnen, kann mit dem kurzwirkenden Opioid Alfentanil (Rapifen) oder dem uktrakurzwirkenden Opioid Remifentanil (Ultiva), beides Fentanylanaloga aus der Reihe der 4-Anilinopiperidine, eine Verbesserung der intraoperativen Analgesie erreicht werden. Im Gegensatz zu den anderen starkwirkenden zentralen Analgetika, ist Alfentanil durch ein kleineres Verteilungsvolumen charakterisiert. Es hat hierdurch eine kuÈrzere Eliminationshalbwertszeit (t1/2b) und aufgrund einer groÈûeren metabolischen Abbaurate auch eine kuÈrzere Wirkdauer. Da im Gegensatz zu anderen Opioiden der groÈûte Anteil von Alfentanil in nichtionisierter Form im Blut vorliegt (. Tabelle 19-3), koÈnnen nach Applikation auch mehr MolekuÈle des Pharmakons die Blut-Hirn-Schranke durchdringen und die spezifischen Rezeptoren im ZNS besetzen; eine sofortige und starke Wirkung ist die Folge. Bei dem Opioid Remifentanil liegt eine kurze Halbwertszeit von nur 7 min vor, wobei neben einem aÈhnlich schnellen Wirkungsanstieg, die kurze Wirkungsdauer durch einen leberunabhaÈngigen Abbau uÈber Blut- und Gewebeesterasen zu erklaÈren ist, sodass selbst eine repetitive Gabe zu keinen Ûberhang fuÈhrt.

. Tabelle 19-3. Vergleichende pharmakokinetische Daten verschiedener Opioide untereinander. (Nach [454])

Opioid

19

Fentanyl Alfentanil Sufentanil Morphin Pethidin Meptazinol

Eliminationshalbwertszeit t1/2b [min]

Clearance Cl [ml/min/kg]

Verteilungsvolumen Vd [l/kg]

Proteinbindung

219 94 64 77 92 124

13,0 6,4 12,7 14,7 12,0 132,0

4,0 0,86 2,9 3,2 2,8 4,99

84 92 92 60 ? 27

[ %]

209

19.4  Dosierung der Opioide im Rahmen einer Narkose

Aufgrund dieser vorteilhaften Wirkungsprofile koÈnnen Alfentanil und Remifentanil dann als die Opioide der Wahl angesehen, wenn die Analgesie in der letzten Phase einer Operation verstaÈrkt werden soll, ohne gleichzeitig die Gefahr einer postoperativen Atemdepression in Kauf nehmen zu muÈssen. Die GruÈnde, bei solchen Gelegenheiten ein Opioid wie Alfentanil oder Remifentanil einzusetzen, sind offensichtlicher als diejenigen, die fuÈr Fentanyl sprechen, insbesondere dann, wenn nur kurzfristig eine Vertiefung der Analgesie notwendig wird. Denn im Gegensatz zu Fentanyl, das seine maximale Wirkung bei intravenoÈser Gabe erst nach 5±8 min entwickelt, erreichen Alfentanil oder Remifentanil schon nach 1 min ihre maximale Wirkung (. Tabelle 19-4). Bei einmaliger Bolusinjektion betraÈgt die Dauer bis zur maximalen Wirkung (Anschlagzeit) fast nur eine Kreislaufzeit [455], sodass zu dem Zeitpunkt, an dem der analgetische Effekt am groÈûten sein sollte, auch eine ausreichende Blockade aller nozizeptiven Afferenzen erreicht wird. Der Schmerzreiz wird somit zum Zeitpunkt seiner groÈûten IntensitaÈt blockiert. Im Gegensatz hierzu kann dieses Ziel mit Fentanyl nicht erreicht werden. Das Pharmakon braucht etwa 2 min bis zum Wirkungsbeginn und 5±8 min, bis eine maximale Wirkung erwartet werden kann [158]. Weil der Zeitpunkt der durch die chirurgische Manipulation ausgeloÈsten schmerzhaften Stimuli nicht vorhersehbar ist, sind Alfentanil und/oder Remifentanil die Opioide, die, kurz vorher gegeben, am effektivsten den Schmerz zum Zeitpunkt seiner Entstehung blockieren. Diese Eigenschaften von Alfentanil und/oder Remifentanil sind besonders fuÈr die Klinik von Bedeutung, weil eine einmalige Bolusgabe keinen potenziellen Ûberhang nach sich zieht. Wie aus der . Tabelle 19-3 zu ersehen, hat Alfentanil, im Vergleich mit Fentanyl oder Sufentanil, eine kuÈrzere Eliminationshalbwertszeit. Aufgrund der hohen Lipophilie und des hohen

Anteils nichtionisierter MolekuÈle (. Tabelle 19-8), wird die Blut-Hirn-Schranke nach der Injektion von groûen Mengen des Opioids rasch uÈberwunden. Andererseits faÈllt die Konzentration jedoch auch sehr schnell wieder ab, weil das Opioid eine geringe Rezeptorbindung hat und vom ZNS in das Blut ruÈckdiffundiert. Die Umverteilung zu den unspezifischen Bindestellen, insbesondere den proteinreichen Organen, ist bei Alfentanil geringer als beim Fentanyl. Letztere sind die Anteile des Organismus, wie die Muskulatur, die inneren Organe, aber auch das Fettgewebe, die an der Vermittlung narkotisch-analgetischer Effekte nicht teilnehmen und nur Speicherfunktion ausuÈben (Verteilungsvolumen). Dagegen ist nach der Injektion selbst kleiner Dosen von Fentanyl oder nach einer Fentanylinfusion die Konzentration im Gehirn und Blutplasma oberhalb der Schwelle fuÈr Analgesie und Atemdepression [456]. Zwar ist unter solchen UmstaÈnden die analgetische Wirkung des Fentanyls dauerhafter, weil die abfallende Konzentration im Gehirn und Blutplasma jetzt von der langsameren Eliminationshalbwertszeit bestimmt wird (Opioid-Fundament). Weil die Beendigung der pharmakologischen Wirkung eines Opioids jedoch entscheidend von der Elimination durch die Leber abhaÈngt [456], ist nach einer einmaligen Alfentanilmenge die zu erwartende Wirkdauer, wegen der sofortigen Metabolisierung, besser vorherzusagen. Auch unter Alfentanil kommt es zur Umverteilung. Sie hat jedoch nach einmaliger Gabe des Opioids keinen maûgeblichen Anteil an der Wirkungsdauer. Nur wiederholt verabreichte Alfentanildosen oder eine Alfentanilinfusion fuÈhrt zu einem Wirkungsabfall, der von der Eliminationshalbwertszeit abhaÈngt; unter solchen Vorbedingungen ist die MoÈglichkeit einer lang andauernden Wirkung mit verzoÈgerter Erholung ebenfalls gegeben. Dieser Nachteil, der nur bei wiederholter Gabe offensichtlich

. Tabelle 19-4. Wirkprofile verschiedener Opioide

a

Maximale Wirkung [min] Wirkungsdauer [min]a Relative Potenz zu Alfentanil Sicherheitsindex (LD50/ED50)a Maximale Wirkung im EEG [min]b Spontanatmung nach Infusion [min]a a b

19

Alfentanil

Fentanyl

Morphin

1 11±15 1 1080 1,1 5±10

5 30±40 4 277 6,4 10±15

30 115 0,025 70 ± ±

Daten nach i. v.-Gabe [163]. Vergleichende EEG-Effekte nach 5-minuÈtiger Infusion mit Alfentanil 1500 mg/min bzw. Fentanyl 150 mg/min. (Nach [158]).

210

Kapitel 19  Opioide im Rahmen der AllgemeinanaÈsthesie

wird, ist dagegen bei Remifentanil nicht gegeben, weil dieses Opioid, selbst bei langandauernder Infusion, von Blut- und Gewebeesterasen innerhalb kuÈrzester Zeit inaktiviert wird. Der Nachweis, dass Alfentanil allein eine nur kurze atemdepressorische Wirkung offenbart, konnte mit Untersuchungen uÈber seinen Einfluss auf die CO2-RuÈckatmung nach Read erbracht werden [457]. 10 bzw. 20 mg/kgKG Alfentanil wurden in ihren Wirkungen aÈquianalgetischen Dosen von Fentanyl (2 bzw. 4 mg/kgKG) gegenuÈbergestellt. Fentanyl verursachte eine deutlich laÈngere und intensivere Atemdepression als Alfentanil; die atemdepressorische Wirkung des Fentanyls war etwa 13-mal staÈrker als die des kurzwirkenden Opioids Alfentanil. So weisen die an freiwilligen Probanden mit Hilfe der CO2-RuÈckatmung gewonnenen Daten darauf hin, dass nach 10 mg/kgKG Alfentanil nur innerhalb der ersten 10±20 min eine Empfindlichkeitsverringerung des Atemzentrums auf CO2 auftritt (. Abb. 19-17), wobei der Verlust des Atemzentrums, adaÈquat auf CO2 zu reagieren, von der applizierten Menge des Opioids abhaÈngig war [457]. Eine Dosis von 10 mg/kgKG Alfentanil erscheint somit sinnvoll, wenn eine rasche Vertiefung der Analgesie, aber auch eine schnelle RuÈckkehr zur Spontanatmung gefordert wird. Eine Verdoppelung der Alfentanildosis auf 20 mg/kgKG beeintraÈchtigte noch in der 60. min nach der Applikation die Atemregulation. Bei aÈlteren Patienten (i70 Jahre) erscheint dagegen eine Dosisreduktion auf 5mg/kgKG ratsam, weil auf-

19

. Abb. 19-17. Mittlere endexspiratorische CO2-Konzentration nach Fentanyl bzw. Alfentanil unter RuÈckatmung von 4 % CO2 bei 30 Probanden. (Nach [457])

grund des geringeren Plasmaeiweiûes weniger Opioid gebunden wird und mehr freie Wirksubstanz zur VerfuÈgung steht. FuÈr eine On-top-Gabe von Remifentanil auf das »Opioid-Fundament« Fentanyl oder Sufentanil ist eine Dosis von 1±2 mg/kgKG zu empfehlen.

On-top-Alfentanil bei der NeuroleptanaÈsthesie Theoretisch kann eine zusaÈtzliche Alfentanildosis, »on top« einer NeuroleptanaÈsthesie mit Fentanyl verabreicht, einen Einfluss auf die Atmung ausuÈben. Denn beide Opioide interagieren mit denselben Rezeptoren, sodass die MoÈglichkeit einer WirkungsverlaÈngerung gegeben ist. In einer kontrollierten Untersuchung wurde die Wirkung von Ontop-Alfentanil im Vergleich zu Fentanyl als letzte Opioiddosis waÈhrend der klassischen NeuroleptanaÈsthesie dahingehend untersucht, wie lange und inwieweit sich zentrale Wirkungen im EEG niederschlagen [458]. Diese Form des Nachweises zentraler Wirkungen von Opioiden erscheint insofern von Bedeutung, weil sowohl Fentanyl als auch Alfentanil eine Verlangsamung der EEG-AktivitaÈten zur Folge haben [158, 411] und die verschiedenen EEG-Leistungsspektren (a, b, U, d,) ein Anbzw. Abfluten der Opioide aus dem ZNS offenbaren. Zwei vergleichbare Gruppen von Patienten, die sich abdominellen, orthopaÈdischen oder urologischen Eingriffen unterziehen mussten, erhielten entweder Alfentanil (10 mg/kgKG) oder Fentanyl (1,5 mg/kgKG) dann als Opioid in den letzten 50 min vor Operationsende, wenn nozizeptive Reize unterdruÈckt werden mussten. Da sich eine VigilanzaÈnderung in den schnellen Leistungsanteilen, dem a- (8±13 Hz)- und b-Band (13±30 Hz) des EEG niederschlaÈgt, lieûen sich sowohl die intraals auch die postoperativen zentral induzierten Wirkungen kontinuierlich ableiten und in Form von EEG-Leistungsspektren darstellen. Alle Patienten hatten bei gleicher PraÈmedikation (Atropin, Pethidin und Promethazin) und gleicher Einleitung (Etomidate 0,3 mg/kgKG, gefolgt von Droperidol 140 mg/kgKG) eine initiale Fentanyldosis von 5 mg/kgKG erhalten. Alle Patienten wurden mit Lachgas/Sauerstoff (2:1) normoventiliert, zusaÈtzliche Fentanyldosen wurden bei Bedarf verabreicht. Postoperativ wiesen die Patienten, bei denen Alfentanil als letzte Opioiddosis eingesetzt worden war, ein signifikant hoÈheres Vigilanzniveau auf. Dies wird in . Abb. 19-18 deutlich, wo die mittleren LeistungsveraÈnderungen im schnellen b-Band des EEG sowohl 50 min vor als

19.4  Dosierung der Opioide im Rahmen einer Narkose

211

19

. Abb. 19-19. Konzentrationsverlauf von Fentanyl im Plasma

bei der On-top-Alfentanilgruppe und der Gruppe unter reiner NeuroleptanaÈsthesie. (Nach [458]) . Abb. 19-18. GegenuÈberstellende mittlere Leistung (pW) im schnellen b-Band des EEGs (13±30 Hz) nach On-top-Alfentanil bzw. Fentanyl waÈhrend und nach einer NeuroleptanaÈsthesie (Signifikanzniveau zwischen beiden Gruppen *pI0,05; **pI0,01). (Nach [458])

auch nach Beendigung der Narkose dargestellt sind. Es war eine postoperativ schnellere Zunahme der Leistung im b-Band bei der On-top-Alfentanilgruppe im Gegensatz zur klassischen NeuroleptanaÈsthesie mit Fentanyl nachweisbar. Dieser Anstieg der Leistung im b-Band des EEG wies auf ein hoÈheres Vigilanzniveau hin. Neben diesem im EEG sichtbaren Unterschied zwischen beiden Gruppen, war die On-top-Alfentanilgruppe auch durch eine schnellere Erholung der Atmung charakterisiert, ein Effekt, der sich im Vergleich zur Neuroleptgruppe in einem hoÈheren Atemminutenvolumen niederschlug (. Tabelle 19-5). Obgleich uÈblicherweise die therapeutische Dosis von Alfentanil, die notwendig ist, um

. Tabelle 19-5. Postoperative Atemminutenvolumina (L/min eSEM) bei der »on-top«-Alfentanil- und der NeuroleptanaÈsthesiegruppe (je 10 Patienten)

Postoperativezeit [min]

On-topAlfentanil [l/min]

NeuroleptanaÈsthesie [l/min]

10 20 30 40 50

5,1 6,4 5,9 5,4 5,9

5,4 6,3 5,5 4,6 5,0

e0,5 e0,6 e0,5 e0,5 e0,6

e0,8 e0,8 e1,1 e1,5 e1,5

einen nozizeptiven Reiz ausreichend zu blockieren, bei nicht-praÈmedizierten Erwachsenen im Bereich von 40e20 mg/kgKG liegt [419, 455], so ist doch die On-top-Dosierung von nur 10±15 mg/kgKG als ausreichend anzusehen, weil im Organismus noch Restkonzentrationen von Fentanyl vorliegen und die Analgesie mit Lachgas komplettiert wurde. Auch war, trotz einer On-top-Alfentanilgabe ein zusaÈtzlicher keinen Einfluss auf die Metabolisierung und den damit verbleibenden Plasmafentanylspiegel nicht nachweisbar. Denn in beiden Gruppen ist ein aÈhnlicher Konzentrationsabfall zu objektivieren (. Abb. 19-19). Neben den Wirkungen von Alfentanil auf das EEG konnte auch im somatosensorisch evozierten Potenzial (SEP) die kurze »dynamische Halbwertszeit«, d. h. die Wirkung des Opioids in der »Biophase«, dem eigentlichen Wirkort im ZNS [459], demonstriert werden. Weil das SEP ein zuverlaÈssiger Maûstab fuÈr die individuelle Schmerzverarbeitung eines Patienten darstellt [460], wurde es zur Beurteilung des Ausmaûes einer postoperativen Erholung von afferenten Schmerzimpulsen herangezogen [461, 462]. Ein repraÈsentatives Beispiel (. Abb. 19-20) zeigt die VeraÈnderung der AmplitudenhoÈhe im Peak 5, ca. 100 ms nach dem evozierten Reiz. Nach der Narkoseeinleitung mit Etomidate, gefolgt von Droperidol und Fentanyl, ist die AmplitudenhoÈhe (mV) im Vergleich zum Ausgangswert deutlich abgefallen. Gegen Ende der Narkose steigt, als Zeichen einer ungenuÈgenden Blockade und vermehrt eintreffender afferenter Reizimpulse, die am Kortex abgeleitete Amplitude an, ein Effekt

212

Kapitel 19  Opioide im Rahmen der AllgemeinanaÈsthesie

. Abb. 19-20. Die somatosensorisch-evozierten Potenziale (SEP) bei einer NeuroleptanaÈsthesie vor und nach der On-topAlfentanilgabe. (Nach [463])

19

der durch einen On-top-Gabe von 10 mg/kgKG Alfentanil wieder ruÈckgaÈngig gemacht werden kann. Die Amplitude hat 40 min nach der On-topInjektion fast wieder ihren alten Ausgangswert erreicht, die Wirkung des Analgetikums ist abgeklungen. Der Patient hat jetzt ein Atemminutenvolumen von 9,5 l/min und kann extubiert werden. Aus solchen Daten ist abzuleiten, dass sich sowohl in den EEG-Powerspektren als auch im ereigniskorrelierten evozierten Potenzial (SEP) die wechselnde In-vivo-Rezeptorbesetzung im ZNS widerspiegeln. Speziell das SEP reflektiert hierbei die aktuelle Blockade sensorischer Afferenzen eine Blockade, die von der jeweiligen Anzahl der besetzten Opioidrezeptoren abhaÈngt. Alfentanil ist wegen seines schnellen Wirkungseintritts, seiner kurzen Wirkdauer und seiner WirkungsstaÈrke, die etwa 40- bis 70-mal groÈûer als die des Morphins ist, als ein Analgetikum anzusehen, dass kurzfristig sehr schmerzhafte Eingriffe unterdruÈcken kann (praktische Vorgehensweise s. . Abb. 19-21). Dagegen ist der Einsatz der laÈnger wirkenden Opioide Fentanyl und Sufentanil bei allen den Narkosen indiziert, die

uÈber 1 h und laÈnger andauern. Alfentanil sollte deshalb bei einer klassischen NeuroleptanaÈsthesie mit Fentanyl (dem Opioid-Fundament) nur dann »on top« eingesetzt werden, wenn in den letzten 30±50 min eine Optimierung der Analgesie angestrebt wird. Hierbei gelten die uÈblichen Kriterien fuÈr den Einsatz eines Opioids: 1. Im Gegensatz zur blinden Gabe ist bei einem Anstieg des systolischen Blutdrucks 15 % uÈber den praÈoperativen Ausgangswert die Indikation zur Opioidgabe gegeben. Der praÈoperative systolische Blutdruck entspricht hierbei dem Wert, der bei der Patientenaufnahme vor der PraÈmedikation gemessen wurde, bzw. dem niedrigsten Wert von 3 sukzessiven Messungen im Einleitungsraum. 2. Bei jeglicher Herzfrequenzzunahme uÈber einen Wert von 90/min, vorausgesetzt, dass keine HypovolaÈmie vorliegt; 3. bei Abwehrbewegungen des Patienten, einschlieûlich Schlucken, Husten, Mimik oder Úffnen der Augen; 4. bei vegetativen Zeichen fuÈr eine inadaÈquate Narkosetiefe wie TraÈnenfluss, Rubeose und/ oder Schwitzen.

19.5  Sufentanil ± wirkstaÈrkstes Opioid im Rahmen der AnaÈsthesie

213

19

. Abb. 19-21. Schema zum praktischen Vorgehen bei einer Intubationsnarkose mit dem kurzwirkenden Opioid Alfentanil (Rapifen). (Nach Schenk 1987)

19.5

Sufentanil ± wirkstaÈrkstes Opioid im Rahmen der AnaÈsthesie

Weil die Analgesie die wichtigste Komponente einer Narkose darstellt; sollen naturgemaÈû nur solche Analgetika eingesetzt werden, die sich durch folgende Eigenschaften auszeichnen: 1. hohe analgetische WirkungsstaÈrke, 2. geringe OrgantoxizitaÈt, 3. ausgepraÈgte kardiovaskulaÈre StabilitaÈt, 4. schneller Wirkungseintritt, 5. dosisabhaÈngige Wirkungsdauer, 6. gute Antagonisierbarkeit, 7. keine Histaminfreisetzung, 8. groûe therapeutische Breite, 9. ausgepraÈgte neurovegetative Stabilisierung, 10. geringe Leberbelastung. Ausgehend von der molekularen Struktur des Pethidins, dem 4-Anilinopiperidinring, sind in der Vergangenheit durch unterschiedliche Substitute immer wirkungsstaÈrkere Opioide synthetisiert worden. Diese zeichneten sich gleichzeitig durch eine immer groÈûere therapeutische Breite aus, eine Entwicklung, die in den Struktur-AktivitaÈtsBeziehungen schlieûlich in dem zentralen Analgetikum Lofentanil gipfelte (. Abb. 19-22).

! Bei einer vergleichenden GegenuÈberstellung mit

Morphin (ˆ1) kann folgende analgetische Beziehung aufgestellt werden: Pethidin (0,1fach) i Piritramid (0,7fach) i Morphin (1fach) i Dextromoramid (2fach) i Phenoperidin (10fach) i Alfentanil (40fach) i Fentanyl (200fach) i Sufentanil (900fach) i Carfentanil (4000fach) i Lofentanil (6000fach) (. Abb. 19-22).

Da Carfentanil nur im Rahmen der VeterinaÈrmedizin zugelassen ist und sich Lofentanil durch eine intensive Bindung am Rezeptor von bis zu 24 h auszeichnet, hat fuÈr die klinische AnaÈsthesie nur das Sufentanil eine praktische Bedeutung erlangt. 19.5.1 Pharmakologie von Sufentanil Sufentanil ist eine zentral wirksames Opioid, das aufgrund seiner ausgepraÈgten analgetischen Wirkung sowohl bei allen Narkoseformen, wie z. B. der NeuroleptanaÈsthesie, der Kombinationsnarkose mit volatilen AnaÈsthetika und der totalen intravenoÈsen AnaÈsthesie (TIVA) als auch im Intensivbereich geeignet ist. Die hohe RezeptorspezifitaÈt von Sufentanil, d. h. die optimale Passform

214

Kapitel 19  Opioide im Rahmen der AllgemeinanaÈsthesie

. Abb. 19-22a±h. Ausgehend von dem molekularen GrundgeruÈst des Pethidins, koÈnnen durch Substitution verschiedener

19

Seitenketten unterschiedlich wirkungsstarke Opioide mit unterschiedlich pharmakokinetischen Eigenschaften synthetisiert werden. a Dextromoramid, b Pethidin, c Phenoperidin, d Piritramid, e Fentanyl, f Lofentanil, g Sufentanil, h Carfentanil. (Nach Tollenaere, Moereels et al. 1979)

215

19.5  Sufentanil ± wirkstaÈrkstes Opioid im Rahmen der AnaÈsthesie

19

. Tabelle 19-6. AffinitaÈten verschiedener Opioide zu den 3 Opioidrezeptoren m, k und d, dargestellt an den Ver-

draÈngungskonstanten Ki (nmol/l) die notwendig sind, um 50 % eines radioaktiv markierten Liganden vom Rezeptor zu verdraÈngen. Zu beachten sind die niedrigen Ki-Werte von Sufentanil, die auf eine hohe AffinitaÈt zum m-Rezeptor hinweisen. (Nach [112]) Pharmakon

3 H-d-Ala2-Me-Phe4, Gly-ol2-enkephalin (m)

3 H-d-Ala2, D-Leu5enkephalin (d)

3

Morphin Pethidin Pentazocin Fentanyl Sufentanyl

1,80 e 0,26 385 e 51 7,0 e 1,8 7,0 e 0,83 1,58 e 0,38

90 e 16 4345 e 1183 106 e 10 151 e 21 23,4 e 7,2

317 e 68 5140 e 789 22,2 e 4,1 470 e 68 124 e 11

(AffinitaÈt) zum m-Rezeptor [162] und die hohe intrinsische AktivitaÈt am Rezeptor (Grad der KonformationsaÈnderung) gehen mit einer groûen therapeutischen Breite einher (. Tabelle 19-6). So besteht eine im Vergleich mit Morphin bis zu 1000-mal groÈûere analgetische Wirkpotenz und zu seinem VorlaÈufer, dem Fentanyl, eine 5bis 7fach hoÈhere analgetische WirkungsstaÈrke. Diese groûe analgetische Potenz von Sufentanil (. Abb. 19-22) erklaÈrt sich durch die 4 hohe AffinitaÈt (Passform) zum Opioidrezeptor und die 4 hohe intrinsische AktivitaÈt (Grad der KonformationsaÈnderung) des Rezeptors nach Bindung. Auch liegt, aufgrund der hohen RezeptorspezifitaÈt, eine groûe therapeutische Breite (LD50/ED50) vor, die sich letztlich in einer groÈûeren Sicherheitsbreite des Pharmakons in der Klinik manifestiert. Das heiût, bei hoher intrinsischer AktivitaÈt muÈssen geringere Substanzmengen verabreicht werden, um eine tiefe Analgesie zu erreichen, die OrgantoxizitaÈt ist niedrig, sodass auch die Belastung des Leberstoffwechsels geringer ist. Selbst bei Ûberdosierung sind keine Nebenwirkungen von Seiten des Kreislaufs, wie sie von anderen AnaÈsthetika her bekannt sind, zu erwarten (. Tabelle 19-7). Sufentanil hat eine im Vergleich mit Fentanyl aÈhnliche antitussive, atemdepressorische und bradykarde Wirkung. Es hat jedoch, aufgrund der hoÈheren SelektivitaÈt und AffinitaÈt zum m-Rezeptor, eine 5- bis 10-mal groÈûere analgetische WirkungsstaÈrke. Sufentanil ist eine sehr lipophile Substanz mit einem hohen Oktanol/Wasser-Verteilungskoeffizienten, der im Vergleich mit Fentanyl auf eine hoÈhere LipoidloÈslichkeit hinweist (. Tabelle 19-8). Aufgrund eines doppelt so hohen Anteils nichtionisierter MolekuÈle im Blut, diffundieren nach

H-Ethyl-ketocyclazocin (k)

intravenoÈser Injektion auch groÈûere Mengen des Opioids durch die Blut-Hirn-Schranke in das ZNS [464]. Die maximale Wirkung tritt deswegen doppelt so schnell ein, sodass schon nach 3±4 min einen maximale Wirkung erwartet werden kann. Dagegen liegt beim Fentanyl die Zeitspanne bis zum maximalen Wirkanschlag zwischen 5±8 min, waÈhrend die maximale Anschlagzeit nach Morphin sogar noch laÈnger, d. h. uÈber 15 min betraÈgt.

. Tabelle 19-7. Therapeutische Breite (LD50/ED50)

verschiedener Opioide. Mit groÈûerer RezeptorspezifitaÈt und intrinsischer AktivitaÈt ist auch eine groÈûere therapeutische Breite zu erwarten, ein Effekt, der auf weniger Nebenwirkungen, insbesondere von Seiten des kardiovaskulaÈren Systems hinweist. Carfentanil und Lofentanil sind nicht fuÈr den klinischen Einsatz geplant. (Nach [74, 186, 163, 182, 196, 279, 280, 282, 283, 769]) AnaÈsthetikum

Therapeutische Breite (LD50/ED50 Ratte)

Tramadol Tilidin Pentazocin Pethidin Piritramid Methadon Meptazinol Butorphanol Morphin Dextromoramid Lofentanil Fentanyl Nalbuphin Carfentanil Alfentanil Buprenorphin Sufentanil

3 3 4 6 11 12 18 45 71 105 112 277 1034 8460 1080 7933 26.716

216

Kapitel 19  Opioide im Rahmen der AllgemeinanaÈsthesie

. Tabelle 19-8. Vergleichenden pharmakokinetischen Daten verschiedener Opioide. (Nach [454, 465, 466])

Opioid

Sufentanil

Fentanyl

Alfentanil

Morphin

Remifentanil

Nichtionisierte Anteile [ %] Octanol-Wasser-Verteilungskoeffizient Proteingebunden [ %] (pH 7,4) Verteilungsvolumen [l/kgKG] Eliminationshalbwertszeit [min; t1/2b] Plasmaclearance [ml/kgKG/min]

20 1727 92,5 2,9 164 12,7

8,5 816 84,4 4,0 219 13,0

89 129 92,1 0,86 94 6,4

23 1,4 60 3,2 177 114,7

I50 17,9 70 32,8 9,1 2800

. Abb. 19-23. Vergleichende GegenuÈberstellung der

Anschlagzeiten verschiedener AnaÈsthetika. (Nach [184])

Nach Alfentanil ist neben Remifentanil die Anschlagzeit mit 1,0±1,5 min am kuÈrzesten und entspricht damit der Anschlagzeit eines Barbiturats (. Abb. 19-23). Kurze Anschlagzeiten bedeuten, dass die in den schmerzverarbeitenden Zentren eintreffenden nozizeptiven Impulse besser und rascher unterdruÈckt werden koÈnnen, was sich in einer Optimierung der Analgesie niederschlaÈgt. Weil im Gegensatz zu Fentanyl mit 4,0 l/kgKG das Verteilungsvolumen von Sufentanil mit 2,9 l/kgKG deutlich geringer ist, liegen mehr Anteile im zentralen Blutkompartiment vor, die sich der Biotransformation durch die Leber nicht entziehen koÈnnen. Diese Eigenschaft schlaÈgt sich letztlich in einer schnelleren Plasmaclearance und einer kuÈrzeren Eliminationshalbwertszeit (t1/2b) von 164 min gegenuÈber 219 min nach Fentanyl nieder (. Tabelle 19-8), sodass uÈberhaÈngende atemdepressorische Effekte bei sachgemaÈûer Anwendung praktisch ausgeschlossen werden koÈnnen. 19.5.2 Analgetische Wirkstoffkonzentration

von Sufentanil

19

Wichtige Unterschiede zwischen Sufentanil, Fentanyl und Alfentanil bestehen ebenfalls in den korrespondierenden Konzentrationen im Plasma, bei denen eine chirurgische Analgesie erreicht wird. So betraÈgt die untere Plasmakonzentration,

. Abb. 19-24. Analgetische Konzentrationen verschiedener Opioide im Plasma. (Mod. nach [454])

bei der eine Analgesie auftritt, fuÈr Sufentanil 0,4 ng/ml, fuÈr Fentanyl 2 ng/ml und fuÈr Alfentanil 200 ng/ml. Die analgetische Konzentration im Plasma liegt fuÈr Sufentanil somit um den Faktor 5 niedriger als die von Fentanyl bzw. 5000-mal niedriger als die von Alfentanil (. Abb. 19-24). Letztlich weist diese Tatsache auf die hohe intrinsische AktivitaÈt von Sufentanil am Opioidrezeptor hin. Diese ausgepraÈgte analgetische Wirkung schlaÈgt sich auch in einer besseren UnterdruÈckung der Stressreaktionen auf einen Schmerzreiz nieder. So bleiben die Kreislaufparamter stabil, der pulmonalarterielle Druck aÈndert sich nicht [467] und insbesondere steigen die Stresshormone (Adrenalin, Noradrenalin, ADH, Vasopression II, Glukokortikoide und Mineralokortikoide) selbst zu Zeiten groÈûten nozizeptiven Inputs kaum an [468, 469]. Auch induzierte Sufentanil 0,2 mg/kgKG im Vergleich zu aÈquipotenten Dosen von Fentanyl (2 mg/kgKG) eine laÈnger anhaltende

19.5  Sufentanil ± wirkstaÈrkstes Opioid im Rahmen der AnaÈsthesie

217

19

. Abb. 19-25. Schmerzschwelle und Atemdepression nach aÈquianalgetischen Sufentanil- und Fentanyldosen. (Nach [470])

Analgesie bei kuÈrzer andauernder Atemdepression. Dieser vorteilhafte Effekt tritt aufgrund einer im niedrigen Dosisbereich auftretenden Entkoppelung von Analgesie und Atemdepression auf (. Abb. 19-25). 19.5.3 Atemdepression nach Sufentanil Wie alle stark wirkende Opioide, so unterdruÈckt auch Sufentanil die Atmung dosisabhaÈngig. Eine verminderte Ansprechbarkeit des Atemzentrums auf den CO2-Partialdruck sowie eine Deprimierung pontiner und medullaÈrer Zentren, die die Atemfrequenz und das Atemzugvolumen regulieren, sind die Ursache. Auch kann eine durch das Opioid ausgeloÈste ThoraxrigiditaÈt sekundaÈr die Atmung behindern, indem wegen des erhoÈhten Tonus der quergestreiften Muskulatur Thoraxexkursionen nicht mehr moÈglich sind. Im Gegensatz zu Fentanyl ist jedoch die atemdepressorische Wirkung, bei noch bestehender Analgesie, deutlich kuÈrzer [467, 470]. Wie bei allen stark wirkenden Opioiden, so sind auch nach der Injektion von Sufentanil rasch aufeinander folgende Phasen bei der Spontanatmung zu beobachten: 1. eine Bradypnoe; 2. eine Phase in der die Atmung ist nur durch optische, akustische oder nozizeptive Reize ausloÈsbar ist;

3. eine Kommandoatmung; und schlieûlich 4. eine totale Apnoe, bei der eine Beatmung notwendig wird. Die gemeinsame Anwendung von Sufentanil mit anderen zentral angreifenden Pharmaka wie volatilen AnaÈsthetika, Barbituraten, Neuroleptika, Hypnotika und insbesondere Benzodiazepinen verstaÈrkt und verlaÈngert den atemdepressorischen Effekt. Besonders jedoch ist die atemdepressorische Wirkung beim Neonaten, bei alten Patienten, bei Patienten mit einer kachektischen Erkrankung, bei vorbestehender Lungenerkrankung, bei einer HypoproteinaÈmie, bei Hypothermie, bei Alkalisierung des Blutes mit PufferloÈsungen sowie Gabe von Antihypertonika, Antidepressiva (MAO-Hemmer), Lithium und Zytostatika verlaÈngert [471]. In solchen FaÈllen ist eine Dosisangleichung erforderlich und der Patient bedarf der postoperativen Ûberwachung! Eine durch Sufentanil ausgeloÈste Atemdepression kann in jedem Fall durch Gabe des Opioidantagonisten Naloxon (Narcanti) bzw. des gemischwirkenden Agonisten/Antagonisten Nalbuphin (Nubain) antagonisiert werden. Hierbei ist jedoch zu beruÈcksichtigen, dass die atemdepressorische Wirkung von Sufentanil laÈnger als die Wirkung des Antagonisten ist, sodass, nach anfaÈnglicher Normalisierung der Atmung, ein ReboundphaÈnomen moÈglich ist. Hieraus leitet sich die Forderung ab, dass selbst nach erfolgreicher Antagonisierung

218

Kapitel 19  Opioide im Rahmen der AllgemeinanaÈsthesie

beim Patienten eine postoperative Ûberwachung gesichert sein muss. Um akute, durch den Antagonisten ausgeloÈste Umkehreffekte wie Hypertonie, Tachykardie und Erbrechen zu vermeiden, ist der Antagonist verduÈnnt (z. B. 0,4 mg Naloxon auf 10 ml Kochsalz) und fraktioniert (2 ml der verduÈnnten LoÈsung) zu verabreichen. 19.5.4 Hypnosedative Wirkung

von Sufentanil

Die sedative Wirkung von Sufentanil ist deutlich ausgepraÈgter als unter Fentanyl, wobei mit Hilfe der Leistungsanteile im langsamen d-Band (1±3 Hz) des EEGs sich zuverlaÈssig die hypnosedativen Wirkungen dieses Pharmakons objektiveren lieûen. In mehreren Untersuchungen konnte nachgewiesen werden, dass im Gegensatz zu Fentanyl der d-Anteil im EEG unter Sufentanil viel ausgepraÈgter ist [153, 472]. Dieser fuÈr Sufentanil vorteilhaftere Effekt kann sowohl in der Einleitungsphase als auch im Rahmen der Aufrechterhaltung einer Narkose genutzt werden. So ist, im Gegensatz zu Morphin und Fentanyl, unter Sufentanil uÈber keine intraoperativen Weckreaktionen berichtet worden. AbhaÈngig von der PraÈmedikation und dem Zustand des Patienten liegt die schlafinduzierende Dosis fuÈr Sufentanil bei 3,5 mg/kgKG fuÈr Fentanyl bei 20±50 mg/kgKG und fuÈr Alfentanil bei 120 mg/kgKG [193, 212, 291]. Setzt man fuÈr Sufentanil eine 7fach hoÈhere WirkungsstaÈrke an, so sind nach 1 mg/kgKG, im Vergleich zu Fentanyl 7 mg/kgKG keine vigilanzsteigernden Effekte im EEG nach der Intuba-

19

tion kardiochirurgischer Patienten nachweisbar (. Abb. 19-26). 19.5.5 MuskulaÈre RigiditaÈt nach Sufentanil Øhnlich wie alle anderen wirkstarken Opioide kann auch Sufentanil eine muskulaÈre RigiditaÈt, insbesondere an der quergestreiften Muskulatur des KoÈrperstamms ausloÈsen [473]. Sie ist klinisch in einer verminderten pulmonalen Compliance messbar [228] und erschwert die Beatmung. Der Grad der muskulaÈren RigiditaÈt ist: 4 dosisabhaÈngig, 4 besonders nach einer Bolusinjektion nachweisbar und 4 vorzugsweise beim alten Patienten zu beobachten. Die muskulaÈre RigiditaÈt beruht nicht auf einer epileptogenen AktivitaÈt des Pharmakons, weil im EEG keine »spike-und-wave-AktivitaÈten« nachweisbar sind [154, 474]. Maûnahmen, die ergriffen werden koÈnnen, um das Auftreten einer muskulaÈren RigiditaÈt zu verhindern, sind: 1. eine langsame Injektion, 2. eine PraÈcurarisierung mit einem nichtdepolarisierenden Muskelrelaxans, 3. eine simultane Verabreichung von Sufentanil und einem Muskelrelaxans. Eine einmal eingetretene muskulaÈre RigiditaÈt laÈsst sich sofort durch die Gabe kleiner Menge von Succinylcholin (20±40 mg/70 kgKG) umkehren [228].

. Abb. 19-26. Die zum Kontrollwert (100) relativen VeraÈnderungen in den EEG-Powerspektren im d- und b-Band nach Sufentanil (Suf) (1 mg/kgKG) bzw. Fentanyl (Fe) (7 mg/kgKG) bei herzchirurgischen Patienten (nˆ40). Durch Sufentanil wird eine bessere Blockade des Intubationsreizes erreicht, da nach Fentanyl der nozizeptive Stimulus eine Zunahme im schnellen b-Band des EEG zur Folge hat. (Nach [133])

19.5  Sufentanil ± wirkstaÈrkstes Opioid im Rahmen der AnaÈsthesie

19.5.6 Sufentanil in speziellen operativen

Fachdisziplinen

Neurochirurgie Steigende Dosen von Sufentanil (5, 10, 20, 40 und 80 mg/kgKG) fuÈhren, aÈhnlich wie bei Fentanyl, zu einem signifikanten Abfall der Hirndurchblutung (CBF) und des zerebralen O2-Verbrauchs (CMRO2; . Abb. 19-27). Diese Beziehung zwischen einer Verminderung des O2-Verbrauchs und der Hirndurchblutung entspricht dem einer Isoflurannarkose bei Patienten, die sich einer Karotisendarteriektomie unterziehen [475]. Der vorteilhafte Effekt von Sufentanil auf das Gehirn laÈsst sich insbesondere in einer Turgorabnahme der weiûen Hirnsubstanz bei kraniotomierten Patienten unter Isofluran-N2O/O2-Relaxationsnarkose nachweisen. Sufentanil (0,3 mg/kgKG) mit anschlieûender kontinuierlicher Infusion (0,1 mg/kgKG/h) und einem paCO2 von 28 mmHg, fuÈhrte, im Vergleich zu einer NaCl-LoÈsung, geringeren Protusion von Hirngewebe, vermindertem Hirnzellturgor und geringerer HirngefaÈûfuÈllung. Naloxon als spezifischer Antagonist von Sufentanil ist bei neurochirurgischen Eingriffen kontraindiziert. Naloxon steigert die Hirndurchblutung, hebt den zerebralen O2-Verbrauch signifikant an und steigert uÈber Nausea und Erbrechen den intrakraniellen Druck. Obgleich der zerebrale O2-Verbrauch, die Hirndurchblutung und der intrakranielle Druck am Tier nach Sufentanil eine Abnahme bzw. keine VeraÈnderung aufweisen [477, 478], liegen bei Patienten mit SchaÈdel-Hirn-Trauma (SHT) andere VerhaÈltnisses vor. Insbesondere ist die

. Abb. 19-27. Einfluss von Sufentanil auf den zerebralen

Metabolismus und die Durchblutung; CBF zerebraler Blutfluss; CMRO2 zerebraler O2-Verbrauch. (Nach [476])

219

19

intrakranielle Compliance des Gehirns vermindert und die Autoregulation der HirngefaÈûe auf unterschiedliche paCO2-Werte darf durch das AnaÈsthetikum nicht noch zusaÈtzlich eingeschraÈnkt werden. Somit ist es von auûerordentlicher Bedeutung, welchen Einfluss die AnaÈsthetika, die bei neurochirurgischen Eingriffen angewendet werden, auf die verschiedenen Hirnparameter haben. Nach 1 und 2 mg/kgKG Sufentanil konnten Weinstable et al. [479] bei neurochirurgischen Patienten mit erhoÈhtem intrakraniellem Druck (i20 mmHg), auf der Wachstation eine Abnahme des zerebralen Perfusionsdrucks nachweisen, ein Effekt, der einen engen Zusammenhang zum mittleren arteriellen Blutdruck erkennen lieû. Der intrakranielle Druck wurde dagegen durch das Opioid nicht beeinflusst (. Abb. 19-28). Diese Ergebnisse stehen jedoch im Widerspruch zu den Ergebnissen anderer Autoren [480], die bei neurochirurgischen Intensivpatienten nach 0,6 mg/kgKG Sufentanil eine temporaÈre Zunahme des intrakraniellen Drucks von im Mittel 7,1 mmHg auf 13,2 mmHg beobachteten. Gleichzeitig mit der intrakraniellen DruckerhoÈhung wurde ein signifikanter Abfall des mittleren arteriellen Drucks von im Mittel 92 mmHg auf 82 mmHg beobachtet. Diese widerspruÈchlichen Ergebnisse scheinen auf den unterschiedlichen intrakraniellen AusgangsdruÈcken zu beruhen. So ermoÈglicht ein hoher intrakranieller Ausgangsdruck mit einer

. Abb. 19-28. Auswirkungen steigender Dosen von Sufentanil bei Patienten mit Hirndrucksymptomatik auf den mittleren arteriellen Druck (MAP), den zerebralen Perfusionsdruck (CPP) und den intrakraniellen Druck (ICP) (Mittelwert eSEM)

220

Kapitel 19  Opioide im Rahmen der AllgemeinanaÈsthesie

noch bestehenden geringgradigen intrazerebralen Restcompliance eine Volumen- und Druckzunahme. Ein solcher Effekt ist bei Patienten mit deutlich erhoÈhtem intrakraniellem Druck nicht mehr moÈglich. Das Opioid fuÈhrt jedoch unter solchen UmstaÈnden zu keiner nennenswerten Zunahme des intrakraniellen Drucks; es kommt auch nicht zu einer zusaÈtzlichen GefaÈhrdung neuralen Gewebes [479]. Die beobachteten Auswirkungen von Sufentanil bei neurochirurgischen Patienten machen aber auch deutlich, dass der zerebrale Perfusionsdruck eng mit dem mittleren arteriellen Blutdruck korreliert. Dies ist fuÈr den Patienten mit SchaÈdelHirn-Trauma (SHT), der zur Operation ansteht, von Bedeutung. Das Opioid ist deshalb fraktioniert zu verabreichen, damit ein Abfall des arteriellen Mitteldrucks mit einer fuÈr das Gehirn grenzwertigen Verminderung der zerebralen Perfusion vermieden wird. Beim neurochirurgischen Eingriff ist weiterhin die ReagibilitaÈt der HirngefaÈûe auf unterschiedliche CO2-PartialdruÈcke im Blut von Bedeutung, will man durch eine forcierte Hyperventilation eine Abnahme der Hirndurchblutung und einen damit einhergehenden Abfall des intrakraniellen Drucks therapeutisch nutzen. So zeigten Ergebnisse mit Sufentanil 10 mg/kgKG, gefolgt von 0,15 mg/kgKG/min keine eingeschraÈnkte Reaktion der HirngefaÈûe auf unterschiedliche paCO2-Werte, Befunde, wie sie auch von Fentanyl und Alfentanil her bekannt sind (. Abb. 19-29).

19

. Abb. 19-29. Verhalten hirnphysiologischer Parameter unter Normo-, Hypo- und Hyperkapnie bei Patienten nach Sufentanil (Mittelwerte eSD). Keine EinschraÈnkung der Autoregulation der HirngefaÈûe. (Nach [481])

Kardiochirurgie Bei kardiochirurgischen Eingriffen ist die Phase der Intubation und Sternotomie durch starke vegetative und nozizeptive Reflexe charakterisiert. Da sich eine ungenuÈgende Blockade dieser Nozizeption in einer Stimulierung kardiovaskulaÈrer Parameter niederschlaÈgt (Hypertonie, Tachykardie, Anstieg des pulmomalarteriellen Drucks, Anstieg des peripheren Widerstands, Zunahme des myokardialen O2-Bedarfs), die fuÈr den Herzpatienten von Nachteil sind, besteht die Forderung nach einem AnaÈsthetikum ohne negativ-ionotrope Wirkung, jedoch mit einem ausreichenden analgetischen Wirkprofil und einer groûen therapeutischer Breite. Speziell in solchen FaÈllen ist Sufentanil ein geeignetes AnaÈsthetikum, da es aufgrund seiner vorteilhaften Charakteristika zu stabilen KreislaufverhaÈltnissen unter den verschiedensten anaÈsthesiologischen und chirurgischen Maûnahmen fuÈhrt. So ergab die Einleitung von Patienten mit KHK in der Kombination von Pancuroniumbromid (0,1 mg/kgKG) mit Sufentanil (5 mg/kgKG) im Gegensatz zu Fentanyl (25 mg/kgKG) und anschlieûender maschineller Beatmung (Luft/ Sauerstoff ˆ50/50 %) keine nachteiligen Wirkungen auf den Kreislauf. Eine erneute Dosis von Sufentanil (2,5 mg/kgKG) vor der Hautinzision und vor der Sternotomie war sogar in der Lage, den unter Fentanyl bekannten Anstieg im mittleren arteriellen Drucks (MAP) und im linksventrikulaÈren Schlagvolumenindex (LVSWI) zu verhindern (. Abb. 19-30). Nach Fentanyl (12,5 mg/ kgKG) waren dagegen signifikant hoÈhere Kreislaufwerte nachweisbar, was auf eine ungenuÈgende Blockade der nozizeptiven Afferenzen hinwies.

. Abb. 19-30. HaÈmodynamische VeraÈnderungen vor und waÈhrend einer aortokoronaren Bypassoperation bei Patienten mit Sufentanil- bzw. Fentanylnarkose. (Nach [482])

19.5  Sufentanil ± wirkstaÈrkstes Opioid im Rahmen der AnaÈsthesie

Hypertone Reaktionen nach der Intubation sind speziell bei Herzpatienten nachweisbar und koÈnnen nicht immer erfolgreich mit einem Opioid unterdruÈckt werden. Hierbei zeigte sich, dass die Inzidenz einer Hypertonie (28 % Blutdruckanstieg uÈber den Wachzustand) waÈhrend einer Sufentanilnarkose im Gegensatz zur Fentanylnarkose signifikant geringer war. Dieser vorteilhafte Effekt schlaÈgt sich auch darin nieder, wie oft der Vasodilatator Phentolamin zur Therapie einer Hochdruckkriese intraoperativ eingesetzt werden musste. Denn nach Sufentanil (Gesamtdosis 13 mg/kgKG) brauchen Patienten weniger oft Phentolamin bzw. Nitroprussidnatrium als nach Fentanyl (Gesamtmenge 122 mg/kgKG). Aufgrund dieser Ergebnisse kann dem Sufentanil eine im Gegensatz zum Fentanyl ca. 10fach hoÈhere WirkungsstaÈrke zugeordnet werden, die vegetativen Reflexe auf einen nozizeptiven Reiz ausreichend zu blockieren. 19.5.7 MedikamentoÈse Interaktionen

von Sufentanil

Volatile AnaÈsthetika Bei der Kombination eines Opioids mit einem InhalationsanaÈsthetikum (Halothan, Enfluran, Isofluran, Desfluran, Sevofluran) wird die minimale alveolaÈre Konzentration (MAC) dosisabhaÈngig verringert. Hierbei fuÈhren Dosen von Sufentanil zu einer 60- bis 70 %igen Abnahme der MAC. Beim Tier induzierte Sufentanil (1 mg/kgKG/min) eine bis zu 90 %ige Verringerung des MAC von Halothan [483] und im Vergleich zu Fentanyl bewirkte Sufentanil eine groÈûere Verringerung des MAC von Enfluran (. Abb. 19-31). Werden InhalationsanaÈsthetika mit Sufentanil gemeinsam verabreicht,

. Abb. 19-31. GegenuÈberstellung der MAC-Abnahme von

Enfluran unter zusaÈtzlicher Sufentanil- und Fentanylgabe. (Nach [151, 484])

221

19

so kann die im Allgemeinen die Dosierung der Gase um fast 50 % reduziert werden.

Muskelrelaxanzien Die gleichzeitige Verabreichung von Sufentanil und Pancuroniumbromid fuÈhrt, aufgrund der vagolytischen und sympathikomimetischen Wirkung des Muskelrelaxans, zu einer Gegenregulation der uÈblicherweise nach dem Opioid auftretenden Bradykardie (. Abb. 19-32). Dieser Effekt ist unter der kombinierten Gabe von Sufentanil und Vecuronium nicht nachzuweisen, da dieses Muskelrelaxans keine autonomen Wirkungen ausloÈst. Da die vagolytische Wirkung von Pancuroniumbromid die vagomimetische Wirkung von Sufentanil aufheben kann, ist diese Kombination uÈberall dort indiziert, wo staÈrkere BlutdruckabfaÈlle vermieden werden sollen. Denn bei der Kombination von Sufentanil mit Vecuronium bzw. Atracurium kann ein groÈûerer Abfall des mittleren arteriellen Drucks und der Herzfrequenz als nach der Kombination von Sufentanil mit Pancuroniumbromid nachgewiesen werden (. Abb. 19-32). Insgesamt ist jedoch festzuhalten, dass trotz des Abfalls im mittleren arteriellen Drucks nach Sufentanil, dies nicht als Hinweis fuÈr eine myokardiale IschaÈmie zu deuten ist [754]. Bei der gemeinsamen Gabe von Sufentanil mit Succinylcholin ist die vom Muskelrelaxans ausgehende cholinerge Wirkung mit Bradykardie zu beruÈcksichtigen, sodass bei der gemeinsamen Verabreichung mit Sufentanil staÈrkere bradykarde Wirkungen zu erwarten sind. Eine durch Succinylcholin induzierte Kalium- und Histaminfreisetzung, die von sich aus schon zu Hypotension und Arrhythmie fuÈhren kann, wird bei gleichzeitiger Sufentanilgabe dann noch verstaÈrkt. Im Allge-

. Abb. 19-32. Herzfrequenz nach der Kombination von Sufentanil mit Pancuroniumbromid bzw. Sufentanil mit Vecuronium. (Nach [485])

222

Kapitel 19  Opioide im Rahmen der AllgemeinanaÈsthesie

mein laÈsst sich die Hypotonie nach Sufentanil jedoch durch eine langsame Injektionstechnik uÈber 2 min oder eine fraktionierte Gabe verhindern.

Barbiturate Ein Barbiturat wie Thiopental in Kombination mit Succinylcholin, allein fuÈr die Einleitung und Intubation verabreicht, induziert einen signifikanten Anstieg der Herzfrequenz und des systolischen Blutdrucks. Da das Produkt aus beiden Parametern (»rate pressure product«) als ein Hinweis fuÈr den myokardialen O2-Bedarf (MVO2) angesehen werden kann, wurde er bei Herzpatienten waÈhrend der Einleitungsphase bestimmt. Der myokardiale O2-Bedarf stieg uÈber den wachen Ausgangswert nicht an, wenn vor der Einleitung Sufentanil gegeben wurde. In Dosen von 0,5 mg/kgKG bzw. 1,0 mg/kgKG bewirkte Sufentanil, vor dem Barbiturat in der Einleitungsphase gegeben, eine bessere Blockade autonomer Reaktionen auf den nozizeptiven Reiz einer endotrachealen Intubation. Dies fand dann auch in einem signifikant geringeren Anstieg der haÈmodynamischen Parameter seinen Niederschlag (. Abb. 19-33). Auch kann und muss daran gedacht werden, dass eine gleichzeitige Opioidgabe die fuÈr eine Einleitung notwendige Barbituratdosis verringert. So betrug unter alleiniger Thiopentalgabe die Barbituratdosis bis zum Bewusstseinsverlust im Mittel 4,08 mg/kgKG. Bei zusaÈtzlicher Sufentanilgabe (0,5 bzw. 1,0 mg/kgKG) konnte eine Verringerung der Barbituratdosis auf 1,99 mg/kgKG bzw. 1,32 mg/kgKG erreicht werden [433].

. Abb. 19-33. HaÈmodynamische Auswirkungen waÈhrend der

Narkoseeinleitung unter Thiopental, mit und ohne Sufentanil. (Nach [433])

Eine Narkose kann jedoch auch mit Sufentanil allein eingeleitet werden. Dies ist besonders fuÈr den Koronarpatienten von Vorteil, weil die Koronarsinusdurchblutung (CSBF) als Index der globalen myokardialen Perfusion, der mittlere arterielle Blutdruck und die Herzfrequenz (HR; SchlaÈge/ min) unter Intubation und nach Sternotomie unter der Gabe von 2±8 mg/kgKG Sufentanil nicht negativ beeinflusst werden [288]. Und weil ein Abfall im mittleren arteriellen Blutdruck von einem Abfall im myokardialen O2-Bedarf (MVO2) begleitet wird, kann daraus abgeleitet werden, dass Sufentanil speziell fuÈr die Einleitung des Koronarpatienten von Vorteil ist (. Tabelle 19-9).

. Tabelle 19-9. Zusammenfassung der medikamentoÈsen Interaktionen von Sufentanil mit fehlender (0), geringer (‡) oder ausgepraÈgter synergistischer Wirkung (‡‡), WirkungsverstaÈrkung und WirkungsverlaÈngerung auf den Kreislauf. (Nach [486])

19

Pharmakon

Blutdruck

Herzfrequenz

WirkungsstaÈrke

Wirkungsdauer

Succinylcholin Vecuronium Curare Atracurium Pancuronium Barbiturate Dehydrobenzperidol I 5 mg Benzodiazepine Hypnotika Volatile AnaÈsthetika N 2O b-Blocker Kalziumantagonisten a2-Agonisten MAO-Inhibitoren

Anstieg 0 Abfall Abfall Anstieg Abfall 0 Abfall (Abfall) 0 0 Abfall Abfall (Abfall) 0

Anstieg 0 Abfall Abfall Anstieg Abfall 0 Abfall (Abfall) 0 0 Abfall Abfall (Abfall) 0

0 0 0 0 0 ‡‡ (‡) ‡‡ ‡‡ ‡‡ ‡‡ ‡‡ ‡‡ ‡‡‡ ‡

0 0 0 0 0 ‡‡ 0 ‡‡‡ ‡‡ ‡‡‡ (‡) ‡‡ ‡‡ (‡) ‡‡‡

223

19.5  Sufentanil ± wirkstaÈrkstes Opioid im Rahmen der AnaÈsthesie

19.5.8 Praktische Hinweise zur Dosierung

von Sufentanil

Folgende Dosierungsempfehlungen werden in AbhaÈngigkeit von der Art und der Dauer des chirurgischen Eingriffs angegeben (. Abb. 19-34; . Tabelle 19-10). Wird Sufentanil ohne N2O, nur mit 100 % O2 und einem Muskelrelaxans verabreicht, so werden zur Einleitung Dosen von 0,8±1,0 mg/kgKG empfohlen. Zur Narkoseunterhaltung sind, bei nachlassender Analgesie, 0,35±0,7 mg/kgKG nachzuinjizieren. Bei der totalen intravenoÈsen AnaÈsthesie (TIVA), kombiniert mit einem Hypnotikum und 100 % O2, wird Sufentanil in einer SaÈttigungsdosis von 1 mg/kgKG gegeben und anschlieûend kontinuierlich uÈber einen Perfusor in einer Dosierung von 0,1±0,15 mg/kgKG/min verabreicht. Hierbei ist besonders auf ein Einspareffekt bei dem sonst hoÈher zu dosierenden Hypnotikum (Propofol oder Midazolam) hinzuweisen, eine Reduktion, die sich letztlich auch in einer deutlichen Kostenreduktion niederschlaÈgt. Bei der balancierten AnaÈsthesie mit einem volatilen AnaÈsthetikum soll Sufentanil initial in einer Dosis von 0,5±0,7 mg/kgKG, die erste HaÈlfte

. Abb. 19-34. Schematisierte Darstellung zur Dosierung von Sufentanil bei der balancierten AnaÈsthesie

zur Intubation, die zweite HaÈlfte vor dem Hautschnitt, gegeben werden. Intraoperativ sollte die Volumenkonzentration des Gases deutlich reduziert werden (z. B. Isofluran 0,2 Vol.- %), um am Ende der Operation keinen Ûberhang zu haben. Bei Bedarf wird Sufentanil in Dosen von 0,25 mg/kgKG zur Narkoseaufrechterhaltung gegeben (. Abb. 19-34). Insbesondere ist auf eine zur Narkose mit Sufentanil schon zu Beginn der Operation notwendige und fast obligate SaÈttigungsdosis hinzuweisen, die mehrere Vorteile bietet, denn: 4 Durch die Gabe einer ausreichend hohen SaÈttigungsdosis schon zu Beginn der Narkose wird eine ausreichende Besetzung der Opioidrezeptoren und damit eine tiefe Analgesie schon zu Anfang garantiert, sodass auch der intraoperative Opioidbedarf geringer sein wird. 4 Die Intubation als starker nozizeptiver Reiz wird in genuÈgendem Maûe blockiert. 4 Die AusschuÈttung exzitatorischer Transmitter und eine daraus sich entwickelnde VerstaÈrkung nozizeptiver Afferenzen (mit »wind-up«) wird schon vor dem Eintreffen der ersten Schmerzimpulse vermieden. 4 Der Patient benoÈtigt gegen Ende der Operation, soweit in den letzten 45 min keine weiteren Opioide, am Ende ist eine Antagonisierung nicht notwendig, respektive muss wegen OpioiduÈberhang nicht nachbeatmet werden. 4 Das Opioid wird schon waÈhrend der Operation durch die Leber metabolisiert und inaktiviert. Die in den peripheren Speichern anfaÈnglich sich anreichernden Opioidmengen stroÈmen schon intraoperativ in das Blutkompartiment zuruÈck und entziehen sich somit nicht einer Metabolisierung durch die Leber. 4 Die fuÈr die Einleitung notwendige Dosis des Hypnotikums (Barbiturat oder Propofol) wird bis zu fast 50 % reduziert.

. Tabelle 19-10. Die fuÈr verschiedene Operationen empfohlenen Sufentanildosen bei einer N2O-gestuÈtzten Narkose.

50±70 % der Gesamtdosis von Sufentanil sollten vor der Intubation gegeben werden, der Rest vor dem Hautschnitt. (Nach [153, 291, 292, 467, 481, 487, 488]) Operationsdauer [h]

Operationstyp [mg/kgKG]

Einleitungsdosis [mg/70 kgKG]

Erhaltungsdosis [mg/70 kgKG]

1±2

Hysterektomie, Gallenblasenoperation, Osteosynthese Endarterektomie, Kolektomie, Nephrektomie, Gastrektomie Aortokoronarer Bypass, Klappenersatz

0,55±1,0

AbhaÈngig von den klinischen Zeichen 10±25 AbhaÈngig von den klinischen Zeichen 10±25 Vor Sternotomie 5±10 mg/kgKG; abhaÈngig von den klinischen Zeichen 25±50

2±8 4±8

19

1,0±5,0 4,0±10,0

224

Kapitel 19  Opioide im Rahmen der AllgemeinanaÈsthesie

4 Das bei einer balancierten AnaÈsthesie verwendete Narkosegas wird bis zu 50 % reduziert, weil Sufentanil von sich aus eine hypnotische Wirkung ausuÈbt. 4 Eine ausreichende Analgesie wird nicht mehr durch intermittierende Gaben der Opioids aufrecht erhalten. Es kommt nicht zur unnoÈtigen AuffuÈllung peripherer Speicher (Haut, Muskulatur), aus denen in der postoperativen Phase das Pharmakon in das zentrale Blutkompartiment wieder zuruÈckstroÈmt und zentrale Wirkungen (ReboundphaÈnomen) verursacht. Zusammenfassend sind folgende Hinweise zur Anwendung von Sufentanil zu beruÈcksichtigen: 4 Hohe Einleitungsdosis: weniger Nachinjektionen; 4 TIVA mit Propofol: Dosisverringerung des Hypnotikums; 4 Patienten im Schock: Dosis nach Wirkung titrieren; 4 Patienten mit HypovolaÈmie: geringere Einleitungssdosen bzw. Dosis titrieren; 4 Patienten mit eingeschraÈnkter Myokardfunktion: geringere Dosen geben; 4 Volatile AnaÈsthetika: Abnahme der MAC zwischen 50 und 60 %; 4 hohe Dosen: antiarrhythmische Wirkung.

19.5.9 Beispiele fuÈr den Einsatz

von Sufentanil

1. Balancierte AnaÈsthesie fuÈr abdominalchirurgische Eingriffe (. Tabelle 19-11). 2. Totale intravenoÈse AnaÈsthesie (TIVA) fuÈr herzchirurgische Eingriffe (. Tabelle 19-12). 19.6

Remifentanil ± ein Opioid mit ultrakurzer Wirkungsdauer

Opioide spielen eine zentrale Rolle in der totalen intravenoÈsen AnaÈsthesie (TIVA), in der balancierten AnaÈsthesie und in der NeuroleptanaÈsthesie (NLA). Die Kumulationsgefahr bei Verwendung stark wirksamer Opioide wie Fentanyl, Sufentanil oder Alfentanil schloss die Verwendung hoher Dosen bis zur letzten Hautnaht aus, da es sonst zu einem Ûberhang oder einer »Remorphinisierung« mit Atemdepression kommt. Durch den Einsatz eines esterasemetabolisierten Opioids (EMO), dem Remifentanil (Ultiva), einem Fentanylanalogon aus der Reihe der 4-Anilinopiperidine, das nicht uÈber die Leber metabolisiert wird, koÈnnen diese Nachteile einer Opioidgabe in der AnaÈsthesie erstmals vernachlaÈssigt werden und das Hautaugenmerk »Analgesie bis zur Hautnaht« beruÈcksichtigt werden (. Abb. 19-35). Remifentanil ist chemisch betrachtet ein 3-[4Methoxycarbonyl-4-[ (1-oxopropyl)phenylamino]-

. Tabelle 19-11. Balancierte AnaÈsthesie fuÈr abdominalchirurgische Eingriffe

Medikamente [mg/70 kgKG]

Einleitung

Aufrechterhaltung

Sufentanil Thiopental Vecuronium Beatmung, Isofluran Piritramid

0,03±0,05 70 4±8 100 % O2

0,01±0,02 nach Bedarf

Post op.

2±4 mg/h 0,2±0,4 Vol.- % plus N2O/O2ˆ 50/50

1,5 p 3,0 p 4,5 fraktioniert, bis VAS I3,0

. Tabelle 19-12. Totale intravenoÈse AnaÈsthesie (TIVA) fuÈr herzchirurgische Eingriffe

19

Medikamente [mg/70 kgKG]

Einleitung

Sternotomie

Aufrechterhaltung

Post op.

Sufentanil Midazolam Pancuronium Propofol Beatmung

0,1 5±10 2 p 15 100 % O2

0,1

0,1 mg/h

0,05 mg/h

p 5±10 FIO2 40±50 % nach BGA

Nach Bedarf p 5mg/h FIO2nach BGA

19.6  Remifentanil ± ein Opioid mit ultrakurzer Wirkungsdauer

225

19

. Abb. 19-35. Die neue Richtung in der AnaÈsthesie mit dem Hauptaugenmerk auf die analgetische Komponente kann durch die Vorteile von Remifentanil voll ausgeschoÈpft werden

1-piperidin]propionsaÈuremethylester (. Abb. 19-36), der hauptsaÈchlich am m-Rezeptor bindet. Im Gegensatz zu allen bekannten Opioiden wird der Wirkungsverlust von Remifentanil nicht durch Umverteilung und/oder Metabolisierung in der Leber erreicht. Vielmehr wird es durch unspezifische Blut- und Gewebeesterasen rasch in pharmakologisch unwirksame Metabolite aufspalten [755], sodass unabhaÈngig von der Leber- oder Nierenfunktion die Wirkungsdauer und damit auch die Nebenwirkungen, selbst nach zeitlich langen Infusionen, vorhersehbar sind. Diese fast initiale Metabolisierung des Opioids erfolgt zu 98 % enzymatisch durch hydrolytische Spaltung, wobei der daraus entstehende Metabolit eine nur minimale AffinitaÈt zum Opioidrezeptor aufweist. Nur zu 2 % erfolgt eine N-Methylierung (. Abb. 19-36), wobei der Metabolit unveraÈndert uÈber die Nieren ausgeschieden wird. Die analgetische WirkungsstaÈrke des Hauptmetaboliten ist, im Vergleich zu Remifentanil, 800- bis 2000fach geringer und hat klinisch keine Bedeutung.

. Abb. 19-36. Metabolisierungswege des ultrakurzwirkenden Opioids Remifentanil. (Nach [465])

Diese besondere Eigenschaft von Remifentanil, uÈber unspezifische Blut- und Gewebeesterasen abgebaut zu werden, bedingt eine sehr gute Steuerbarkeit. So weist es gegenuÈber dem ebenfalls kurzwirkenden Opioid Alfentanil einen um den Faktor 7 kuÈrzere terminale Eliminationshalbwertszeit von im Mittel 8,8 min gegenuÈber der des Alfentanils von 60,9 min bei einer therapeutischen Breite von 33.000 auf (. Tabelle 19-13). Nach Abstellen einer Infusion mit Remifentanil erholt sich der Patient innerhalb von 5 min, da pharmakologisch wirksame Konzentration am Rezeptor dann nicht mehr vorliegen. Øhnlich wie Alfentanil erreicht es sein Wirkungsmaximum innerhalb von 1 min. Es hat eine aÈhnliche emetische, bradykarde und blutdrucksenkende Wirkung wie Fentanyl. Auch kann nach Remifentanil eine MuskelrigiditaÈt auftreten [489, 490]. Auf mg-Basis bezogen hat es jedoch eine um das 16- bis 20fach hoÈhere analgetische Potenz und atemdepressorische Komponente wie Alfentanil [117], weswegen die Dosierung nicht nach mg pro kg KoÈrpergewicht, sondern nach zu erwartender Operationsdauer erfolgen sollte. Bei hohen Dosen wird somit eine laÈnger anhaltende effektive Wirkstoffkonzentration am Wirkort, dem Rezeptor, zu erwarten sein. Das Opioid entspricht, was die Analgesie betrifft, etwa der WirkungsstaÈrke von Fentanyl und hat wie dieses auch keine Histaminliberation zur Folge [491]. Die rasche Antagonisierbarkeit mit Naloxon und nicht mit einem d-Antagonisten weist auf eine vorzugsweise Interaktion mit dem m-Rezeptor hin. und 88 % der initial verabreichten Menge wird uÈber die Niere in Form eines sauren Metaboliten, der nur 1/300 der WirkungsstaÈrke von Remifentanil aufweist [492], ausgeschieden.

226

Kapitel 19  Opioide im Rahmen der AllgemeinanaÈsthesie

. Tabelle 19-13. Vergleichende pharmakokinetische Daten verschiedener Opioide

Halbwertszeit Maximale Wirkung Clearance Abstellen der Infusion vor Op.-Ende Abbau WirkungsstaÈrke zu Morphin ˆ1

Remifentanil

Sufentanil

Alfentanil

Fentanyl

10 min 1,5 min 3±4 l/min 5 min Blut/Gewebe-Esterasen 100±200

140 min 4±5 min 140 ml/min 45 min Leber 800±1000

100 min 1,5 min 160 ml/min 30 min Leber 40±50

475 min 5±8 min 574 ml/min 45 min Leber 100±300

19.6.1 Dosierung von Remifentanil Remifentanil kann sowohl als Bolus als auch per Infusion zur Narkoseeinleitung verwendet werden. Die Bolusapplikation von 1 mg/kgKG sollte jedoch uÈber einen Zeitraum von mindesten 30 s erfolgen, damit eine an die Injektionsgeschwindigkeit gebundene MuskelrigiditaÈt klinisch nicht manifest wird. Andererseits kann die Narkose aber auch durch Infusion von 0,25±0,5 mg/kgKG/min in Verbindung mit Etomidat oder Propofol uÈber einen Zeitraum von 15 min eingeleitet werden. Die Zielsetzung der Opioidgabe bei der Narkoseeinleitung ist eine ausreichende Blockade der durch die nachfolgende Laryngoskopie und Intubation ausgeloÈsten nozizeptiven Afferenzen mit Verringerung der nachfolgenden Stressreaktionen. Je nach der individuellen Reaktion auf Remifentanil wird zusaÈtzlich ein Hypnotikum (Etomidate, Propofol, Barbiturat) zur ausreichenden Schlafinduktion verabreicht. Im Anschluss wird eine Erhaltungsdosis von Remifentanil von 0,25 mg/kgKG/min gegeben, wobei alle 5 min eine dem nozizeptiven Input angepasste Dosisadaptation vorgenommen werden soll. Der hypnotische Anteil wird entweder mit Propofol 4±6 mg/

kgKG/min bei Beatmung mit einem SauerstoffLuft-Gemisch bzw. mit einem volatilen AnaÈsthetikum wie z. B. Isofluran in Konzentrationen zwischen 0,4±0,6 Vol.- % erreicht (. Tabelle 19-14). Eine Reduktion der Remifentanildosis ist bei allen Patienten, die aÈlter als 65 Jahre sind indiziert, wobei die Einleitungsdosis auf die HaÈlfte reduziert werden sollte und anschlieûend entsprechend den Erfordernissen dosiert wird. Bei einer vorbestehenden Leber- oder Niereninsuffizienz ist eine Dosisanpassung nicht erforderlich, weil Remifentanil durch unspezifische Blut- und Gewebeesterasen abgebaut wird. Bei uÈbergewichtigen, adipoÈsen Patienten (i30 % uÈber dem Idealgewicht) sollte sich die Dosierung am Idealgewicht (»lean body weight«) orientieren, da die Pharmakokinetik besser mit dem Idealgewicht als mit dem tatsaÈchlichen KoÈrpergewicht korreliert (. Tabelle 19-15). Nach intravenoÈser Injektion wird Remifentanil unabhaÈngig von Leber- und/oder Nierenfunktion durch die ubiquitaÈr vorhandenen unspezifischen Esterasen im Blut und Gewebe hydrolytisch gespalten. Der nach Gabe von 0,05 mg/kgKG/min schnelle Abfall der mittleren Konzentration von Remifentanil im Plasma, im Vergleich zu einer

. Tabelle 19-14. Dosierungsempfehlungen fuÈr die Anwendung von Remifentanil im Rahmen einer balancierten

Narkosetechnik

19

Balancierte Narkosetechnik mit Remifentanil

Remifentanil Anfangsdosierung [mg/kgKG]

Remifentanildosis zur Narkoseaufrechterhaltung [mg/kgKG]

Einleitung 66 % N2O Isofluran 0,5 MAC Propofol 100 mg/kgKG/min Mit Spontanatmung Postoperative Analgesie

1,0 langsam uÈber 30 s 0,5±1 0,5±1 0,5±1 Nicht empfohlen Kein Remifentanil, besser Piritramid 7 mg oder Alternative 0,04±0,07

0,1±2 0,05±2 0,05±2 Nicht empfohlen Kein Remifentanil, besser PiritramidTitration oder Alternative

Adjuvans bei Lokal-/ RegionalanaÈsthesie

227

19.6  Remifentanil ± ein Opioid mit ultrakurzer Wirkungsdauer

19

. Tabelle 19-15. Physikochemische Eigenschaften verschiedener Opioide

und ihre Bedeutung fuÈr die Praxis Opioid

Molekulargewicht

Nichtionisierte Anteile [ %]

Verteilungskoeffizient (Lipophilie)

Morphin Tramadol Pethidin Meptazinol Methadon Alfentanil Fentanyl Sufentanil Buprenorphin Remifentanil

285 300 247 289 309 417 336 387 467 413

24 ? 5 10 1 89 9 20 8 i50

1,0 1,0 32 65 57 129 955 1727 2320 18

. Abb. 19-37. Erholung des Atemminutenvolumens und exponentieller Abfall der Plasmakonzentrationen von Alfentanil bzw. Remifentanil nach der Infusion aÈquianalgetischer Dosen. (Nach [493])

aÈquianalgetischen Dosis von 0,5 mg/kgKG/min Alfentanil, ist in . Abb. 19-37 dargestellt und verdeutlicht die schnelle Inaktivierung der aktiven Wirksubstanz. Dies bedeutet aber auch, dass Remifentanil weniger als Injektion sondern eher als Infusion verabreicht werden sollte, damit eine gleichbleibend hohe Konzentration im Blut und am Rezeptor bestehen bleibt. GrundsaÈtzlich ist die Dosis jedoch den Erfordernissen, d. h. dem jeweiligen nozizeptiven

Input anzupassen, damit eine ausreichend hohe Besetzung der Opioidrezeptoren erreicht wird und nozizeptive Afferenzen nicht zu Stressreaktionen mit Auswirkungen auf den Kreislauf oder auf den Hormonhaushalt fuÈhren. Je nach Konzentration der zusaÈtzlich verwendeten AnaÈsthetika (volatile AnaÈsthetika, Hypnotika, Benzodiazepine) ist die Dosierung von Remifentanil anzupassen, wobei jedoch immer die Analgesie im Vordergrund steht.

228

Kapitel 19  Opioide im Rahmen der AllgemeinanaÈsthesie

Der schnelle Wirkungseintritt wird aufgrund des hohen Anteils nichtionsierter MolekuÈle im Plasma verstaÈndlich (. Tabelle 19-15), der Anteile, der in der Lage sind, die Blut-Hirn-Schranke zu durchdringen, um sofort an den Rezeptor zu binden. Zusammenfassung der Eigenschaften des durch unspezifische Esterasen metabolisierten Opioids (EMO) Remifentanil (Ultiva) 4 Inaktivierung nach Esterspaltung durch nichtspezifische Esterasen 4 Metabolit hat 800- bis 2000fach geringere analgetische Potenz 4 Kontinuierlicher Abbau 4 Abbau unabhaÈngig von Leber- und Nierenfunktion 4 Abbau unabhaÈngig von Pseudocholinesterasemangel 4 Gute Steuerbarkeit 4 Keine Kumulation 4 Halbwertszeit 8±10 min 4 Anschlagzeit 1±2 min 4 Analgetische WirkungsstaÈrke von Fentanyl (200- bis 300fach Morphin) 4 Selektiver m-Rezeptoragonist 4 Keine Histaminfreisetzung 4 Aus der Gruppe der 4-Anilinopiperidine (wie Fentanyl, Alfentanil, Sufentanil) 4 Kein Ûberhang nach Narkoseausleitung 4 Keine postoperative »Remorphinisierung« mit Atemdepression 4 Antagonisierbarkeit mit Naloxon 4 MAC-Reduktion volatiler AnaÈsthetika bis zu 80 % 4 Zeitgerechte und individuelle postoperative Analgesie erforderlich 4 Nebenwirkungen wie bei anderen stark wirksamen Opioiden (Bradykardie, Hypotonie, Atemdepression, RigiditaÈt)

19

Zusammenfassung der Vor- und Nachteile von Remifentanil 4 Vorteile: 1. Intaoperative Beurteilung Dosis vs. Effekt 2. Schnelle Anpassung an den analgetischen Bedarf. 3. Kein postoperativer Ûberhang. 4. Kinetik nicht durch Nieren- und Leberdysfunktion beeintraÈchtigt. 4 Nachteile: 1. PloÈtzlicher Verlust von Analgesie/ Bewusstlosigkeit bei Infusionshindernis. 2. PraÈoperative Vorbereitung der InfusionsloÈsung. 3. HaÈufiges Auftreten von MuskelrigiditaÈt bei Bolusapplikation. 4. Postoperative Schmerzbefreiung schon intraoperativ planen. Nach einer Narkose mit Remifentanil kann die postoperative Schmerzbefreiung, gerade wegen der ultrakurzen Wirkdauer, ein Problem werden. Aufgrund des raschen Analgesieverlustes werden deshalb folgende Vorgehen empfohlen: 4 Hypnotikum reduzieren, Remifentanil bis zur letzten Hautnaht und 4 langwirkendes Opioid 10±20 min vor Operationsende (z. B. Piritramid 0,1 mg/kgKG, Buprenorphin 4 mg/kgKG, Morphin 0,2 mg/kgKG); zweite Dosis, falls erforderlich, im Aufwachraum oder 4 peridural 4 mg Morphin plus 10 ml Bupivacain 0,25 %, oder 4 NSAID intravenoÈs (z. B. Metamizol 1±2,5 g/70 kgKG) aufspritzen 30 min vor Operationsende, oder 4 patientenkontrollierte Analgesie (PCA) mit Piritramid (Bolus 0,03 mg/kgKG), 4 bei Kindern Suppositorien (Paracetamol 1000 mg, Diclofenac 50±100 mg) oder Tramadol bzw. Nalbuphin oder Meptazinol (0,1 mg/kgKG).

20 Pharmakokinetik der Opioide: Bedeutung fuÈr den praktischen Einsatz

Um an den spezifischen Opioidrezeptor im ZNS zu gelangen, muss das Opioid nach einer intravenoÈsen, intramuskulaÈren oder subkutanen Injektion die Blut-Hirn-Schranke durchdringen. Diese Schranke ist eine physiologische Barriere fuÈr alle zentral wirkenden Substanzen. Die jeweilige Lipophilie, d. h. die FettloÈslichkeit, garantiert einen mehr oder weniger schnellen Transfer durch diese Schranke. Nach intravenoÈser Gabe des Opioids Fentanyl z. B. werden ca. 85 % der Gesamtdosis an Plasma- und Organeiweiû gebunden. Von den restlichen 15 % liegen 90 % im zentralen Blutkompartiment in ionisierter Form vor. Da jedoch nur der nichtionisierte Anteil die Blut-HirnSchranke durchdringen kann, erreichen letztlich nur 1 % der initial applizierten Menge die spezifischen Bindungsstellen im zentralen Nervensystem (. Abb. 20-1). Aus dieser Tatsache ist zwangslaÈufig abzuleiten, dass nicht die Konzentration im Plasma fuÈr die Vermittlung der Wirkung entscheidend ist, sondern der Anteil des Opioids in der kritischen Biophase am Rezeptor. So fuÈhrt die Verdoppelung einer Opioiddosis nur zu einem verspaÈteten Konzentrationsabfall im Plasma, der sich parallel zu dem der ersten Dosis verhaÈlt. VoÈllig unterschiedlich ist jedoch der dynamische Effekt, der durch das Opioid in der kritischen Biophase am Rezeptor ausgeloÈst wird. Da die Kinetik der Opioide in diese Biophase hinein und aus ihr wieder heraus recht unterschiedlich ist, sind auch die Anschlagsund Erholungszeiten unterschiedlich. Denn beson-

ders bei der GegenuÈberstellung von Fentanyl und Alfentanil wird offensichtlich, dass nach der Opioidgabe fuÈr die Erholung eines Patienten die Kinetik am Rezeptor und nicht die Kinetik im Plasma entscheidend ist. Alfentanil weist eine sehr kurze Dissoziationszeit vom Rezeptor auf, d. h. die Zeit die vergeht, bis sich das Pharmakon wieder von der Bindungsstelle geloÈst hat. FuÈr Alfentanil ist diese Zeitspanne so kurz, dass sie kaum zu messen ist. Da die pharmakologische Wirkung nur durch eine Rezeptorinteraktion vermittelt wird, kann nach Alfentanil auch eine kurze Wirkungsdauer abgeleitet werden, was auch klinisch nachweisbar ist. Generell faÈllt nach intravenoÈser Injektion die Konzentration des Opioids im zentralen Kompartiment und am Rezeptor ab. Gleichzeitig saÈttigt sich jedoch das periphere Gewebekompartiment langsam auf, was als Umverteilung definiert werden kann (. Abb. 20-2). So wird schon bei der ersten Kreislaufpassage der groÈûte Anteil des Opioids in den proteinreichen Organen wie Muskulatur, Lunge, Niere, Leber, Haut, aber auch im Fettgewebe (im peripheren Gewebekompartiment) abgefangen, die an der eigentlichen Vermittlung der Wirkung nicht teilnehmen [546]. Das periphere Gewebekompartiment gewinnt jedoch fuÈr die spaÈtere Zeit der Erholung an Bedeutung, dann wenn das Pharmakon aus diesen Speichern wieder in das Blutkompartiment zuruÈckstroÈmt (. Abb. 20-3) und je nach Ausmaû der Lipophilie, unterschiedlich schnell in das ZNS eindringt.

230

Kapitel 20  Pharmakokinetik der Opioide: Bedeutung fuÈr den praktischen Einsatz

20

. Abb. 20-1. Nach intravenoÈser Injektion eines Opioids mit ausgepraÈgter Lipophilie, wie z. B. Fentanyl, erfolgt zuerst eine

Umverteilung in die gut durchbluteten Organe. Die entsprechende Liquorkonzentration, der Anteil, der einer Konzentration am Rezeptor am naÈchsten kommt, liegt im Vergleich zum Gewebe um mehrere Zehnerpotenzen niedriger. (Nach [545])

. Abb. 20-2. Die an der Wirkungsvermittlung von Opioiden

teilnehmenden Kompartimente

Weil das ZNS zum groÈûten Teil aus Lipiden besteht, haben lipophile Substanzen auch eine verstaÈrke Tendenz, dorthin zu wandern. Hieraus resultiert ein schnellerer Anstieg der Wirkstoffkonzentration am Rezeptor mit einem daraus sich entwickelnden schnellen Wirkeintritt. Die Lipophilie der Opioide laÈsst sich aus ihren verschiedenen physikochemischen Eigenschaft ableiten und ist recht unterschiedlich (. Tabelle 20-1). Fentanyl und auch Heroin, sind im Gegensatz zu Morphin, durch eine starke Lipophilie gekennzeichnet. Beide koÈnnen deshalb sehr schnell die physiologische Barriere, die Blut-Hirn-Schranke, uÈberwinden und die Wirkung tritt schnell ein. Das hydrophile Morphin braucht dagegen viel mehr Zeit, bis eine ausreichende Besetzung von Rezeptoren erreicht ist, was sich in einem deutlich laÈngeren Zeitintervall (i30 min) bis zur Ausbildung der vollen Wirkung niederschlaÈgt. Fentanyl

20  Pharmakokinetik der Opioide: Bedeutung fuÈr den praktischen Einsatz

231

20

. Abb. 20-3. Umverteilung der Opioide nach intravenoÈser Applikation in die verschiedenen Kompartimente des Organismus und der Opioidtransfer durch die Blut-Hirn-Schranke

erreicht bei intravenoÈser Gabe dagegen seine maximale Wirkung nach 5±8 min, Alfentanil jedoch schon nach 1 min (. Tabelle 20-2). Bei der Injektion von Alfentanil betraÈgt der Wirkanschlag fast nur eine Kreislaufzeit [455], wobei die zentrale analgetische sowie die hypnotische Wirkung und die Konzentration im Plasma eine enge Korrelation aufweisen (. Abb. 20-4a, b).

. Tabelle 20-1. Unterschiedliche Lipophilie von Opioiden, dargestellt am Heptan-Wasser- bzw. Heptan-Phosphatpuffer-Verteilungskoeffizienten. (Nach [545])

Agonist

Heptan-WasserVerteilungskoeffizient

Methylmorphin Normoprphin Dihydromorphin Morphin Levorphanol Etorphin Pethidin Fentanyl Methadon

0,00001 0,00001 0,00001 0,00001 0,0092 1,42 3,40 19,35 44,9

Antagonist

Heptan-PhosphatpufferVerteilungskoeffizient

Naltrexon Naloxon Diprenorphin

0,008 0,02 0,24

Dieser kurze Wirkanschlag von Alfentanil und Remifentanil kann in der sog. spektrale Eckfrequenz im EEG, die die Wirkung am Rezeptor reflektiert, nachgewiesen werden. Fast parallel zur jeweiligen Konzentration im Plasma ist auch ein klinische Wirkung nachzuweisen. Nach den Opioiden Fentanyl und Sufentanil folgt der EEGEffekt jedoch mit deutlichem Abstand der Konzentration im Plasma (. Abb. 20-4c, d). Dies spricht fuÈr einen verzoÈgerten Abfluss aus der zentralen Biophase bzw. weist es auf eine aus den peripheren Speichern in das zentrale Kompartiment nachstroÈmende Opioidmenge hin [117, 158, 547]. FuÈr das Ende der Wirkung eines Opioids ist deshalb nicht nur der Faktor Rezeptorkonzentration von Bedeutung, sondern auch das Verteilungsvolumen (Vd) mitbestimmend, das fuÈr die Opioide recht unterschiedlich ist. Die Opioide, deren Plasma- und Rezeptorkonzentration ziemlich nahe beieinander liegen, sind Alfentanil und Remifentanil. Dies liegt daran, dass das Verteilungsvolumen von Alfentanils sehr klein ist und Remifentanil sofort durch Gewebe- und Blutesterasen abgebaut wird. Diese enge Korrelation zwischen zentral-induzierten pharmakodynamischen Wirkungen und Konzentrationen im Plasma weist auf eine gute Steuerbarkeit sowohl in der An- wie auch in der Abflutung der Medikamente hin [158].

232

Kapitel 20  Pharmakokinetik der Opioide: Bedeutung fuÈr den praktischen Einsatz

20

. Abb. 20-4a, b. Konzentrationen von Fentanyl und Sufentanil im Plasma sowie die dazugehoÈrenden spektralen Eckfrequenzen im EEG nach 5-minuÈtiger Infusion mit Fentanyl (150 mg/min) und Sufentanil (15 mg/min).

. Tabelle 20-2. Der Wirkungseintritt und die Wirkungsdauer verschiedener Opioide wird von der unterschiedlichen Kinetik am Rezeptor, dem Verteilungsvolumen und dem Grad der Metabolisierung bestimmt. (Nach [121, 548])

Pharmakon (Generikum)

Wirkungsbeginn [min]

Maximale Wirkung [min]

Maximale Wirkungsdauer Relative Wirkungsdauer [min] [min]

Sufentanil Fentanyl Phenoperidin Dextromoramid Pethidin Piritramid Morphin Methadon Alfentanil Nalorphin Pentazocin Meptazinol Nalbuphin Buprenorphin

1 1 1,5 2 2 2±5 15 20 1 1 2 2 2 5

4 5±8 10 10 15 10 30 40 1 5 10 15 10 60

30 20±30 30 40 50 240±360 100 180 15 20 60 120 120 480

100±150 60±120 80±150 100±150 120±180 400±500 200±250 300±500 30±60 60±120 150±180 150±180 180±240 480±540

20  Pharmakokinetik der Opioide: Bedeutung fuÈr den praktischen Einsatz

233

20

. Abb. 20-4c, d. Konzentrationen von Alfentanil und Remifentanil im Plasma sowie die dazugehoÈrenden spektralen Eckfrequenzen im EEG nach 5-minuÈtiger Infusion mit Alfentanil (1500 mg/min) und Remifentanil (150 mg/min)

Fentanyl zeigt trotz seiner groÈûeren Lipophilie und damit LiquorgaÈngigkeit eine, gegenuÈber Alfentanil, langsameren Wirkungseintritt. Denn wegen der groûen Lipophilie wird Fentanyl schon bei der ersten Passage durch die Lunge, in nicht unerheblichen Mengen abgefangen, sodass ausreichende Konzentrationen nur verzoÈgert zum eigentlichen Wirkort im Gehirn gelangen. Alfentanil wegen seiner geringeren Lipophilie dagegen nicht in dem gleichen Ausmaû in der Lunge festgehalten; andererseits reicht die Lipophilie jedoch aus, um die Blut-Hirn-Schranke in ausreichendem Maûe zu uÈberwinden. Da jedoch nur die nichtionisierten Anteile des MolekuÈls die Blut-HirnSchranke durchdringen koÈnnen, ein Anteil der bei Alfentanil mit 89 % im Vergleich zu 8,5 % beim Fentanyl deutlich hoÈher liegt, werden auch mehr MolekuÈle innerhalb einer kuÈrzeren Zeitspanne den spezifischen Rezeptor im ZNS erreichen.

Die analgetische Wirkung tritt schneller ein. Das stark hydrophile Morphin passiert zwar ebenfalls die Lunge, aufgrund seiner geringen Lipophilie erweist sich hierbei jedoch die Blut-HirnSchranke als der limitierende Faktor fuÈr einen, im Vergleich mit Fentanyl und Alfentanil, wesentlich spaÈteren maximalen Wirkungseintritt. Die Beendigung der pharmakodynamischen Wirkung eines Opioids wird wesentlich von der Geschwindigkeit bestimmt, mit der die Konzentration im Plasma abfaÈllt und sich das Opioid vom Rezeptor wieder trennt (dissoziiert). Wie auch aus der . Tabelle 20-3 zu ersehen ist, hat das Fentanyl im Vergleich zu Alfentanil eine relativ lange Eliminationshalbwertszeit (t1/2b), die Zeit, in der die Konzentration des Pharmakons im Blut um die HaÈlfte abgefallen ist. Dies ist darauf zuruÈckzufuÈhren, dass sich ein groûer Anteil von Fentanyl in die unspezifischen Bindungsstellen, insbesondere den proteinreichen Organe, umverteilt hat.

234

20

Kapitel 20  Pharmakokinetik der Opioide: Bedeutung fuÈr den praktischen Einsatz

. Tabelle 20-3. Vergleichende pharmakokinetische Daten verschiedener Opioide. (Nach [454, 466, 493])

Opioid

Fentanyl Alfentanil Sufentanil Morphin Remifentanil Pethidin Meptazinol Methadon

Eliminationshalbwertszeit t1/2b [min]

Clearance Cl [ml/min/kgKG]

Verteilungsvolumen Vd [l/kgKG]

Proteinbindung

219 94 64 177 5±14 192 124 50±4500

13,0 6,4 12,7 14,7 30±40 12,0 132 ?

4,0 0,86 2,9 3,2 0,2±0,4 2,8 4,99 3±4

84 92 92 60 70 ? 27 60±90

Letztere sind die Anteile des Organismus, die an der Vermittlung narkotischer Effekte nicht teilnehmen: die Muskulatur, inneren Organe, aber auch das Fettgewebe. Somit findet nach wiederholter Injektion von Fentanyl bzw. nach einer Fentanylinfusion eine AufsaÈttigung der peripheren Speicher statt. Aus diesen Speichern stroÈmt aktive Wirksubstanz nach, wenn die Konzentration im Plasma, aufgrund der metabolischen Leistung der Leber, abfaÈllt bzw. lokale Durchblutungssteigerungen zur einer Ausschwemmung des Opioids aus den Speichern fuÈhren. Letzteres muss insofern in Betracht gezogen werden, weil nach TourniquetloÈsung bei Patienten erhoÈhte maximale Konzentrationen von Opioiden im Plasma nachweisbar

[ %]

waren [549]. Die analgetische Wirkung von Fentanyl ist deshalb aber auch dauerhafter, da die abfallenden Konzentrationen im Blut und Gehirn von der langsameren Eliminationshalbwertszeit bestimmt werden. Besonders ausgepraÈgt ist jedoch die Verteilung und die Speicherung im Gewebekompartiment von Methadon. Diese Tatsache schlaÈgt sich in einer sehr langen Wirkungsdauer, einer sehr schlechten Steuerbarkeit und, bei wiederholten Dosen, auch in einer Kumulation dieser Substanz nieder (. Tabelle 20-3). Die eigentliche Beendigung der pharmakologischen Wirkung eines Opioids wird jedoch entscheidend von der Elimination durch die Leber bestimmt [456] Da jedoch nur die Wirkstoff-

. Abb. 20-5. AbhaÈngigkeit der Opioidelimination von der Konzentration im Plasma und dem hepatischen Plasmafluss.

(Nach [550])

20  Pharmakokinetik der Opioide: Bedeutung fuÈr den praktischen Einsatz

menge, die sich im Blut befindet, abgebaut werden kann, sind besonders nach Fentanyl verlaÈngerte Wirkeffekte moÈglich. Nach Alfentanil, wird der groÈûte Anteil einer Metabolisierung durch die Leber zugefuÈhrt, und wegen der fast sofortigen Dissoziation vom Rezeptor, ist die Wirkungsdauer auch besser vorherzusagen. Ein ReboundphaÈnomen ist nicht zu erwarten, denn die Eliminationsrate des Opioids ist von der Konzentration im Plasma abhaÈngig. Diese ist fuÈr Alfentanil besonders hoch, da sich das Pharmakon nicht in den peripheren Speichern versteckt und somit einer Metabolisierung zugaÈnglicher ist als z. B. Fentanyl (. Abb. 20-5). Weil neben dem virtuellen Verteilungsvolumen (Vd) auch die Leber einen entscheidenden Einfluss auf die Wirkungsdauer hat (. Abb. 20-5), ist im Gegensatz zum »Normalzustand« beim Leberzir-

235

20

rhotiker mit einer Reduktion des hepatischen Plasmaflusses zu rechnen, sodass die Biotransformation vermindert ist. Es resultiert eine verlangsamte Clearance (Elimination) und eine WirkungsverlaÈngerung ist in Betracht zu ziehen (. Abb. 20-6). Beim Kleinkind dagegen wird, im Vergleich zum Erwachsenen, das Opioid vermehrt im zentralen Blutkompartiment festgehalten, weil der relative Anteil der gut durchbluteten Organe in dieser Altersgruppe groÈûer ist, und Kinder im peripheren Kompartiment weniger opioidspeicherndes Fettgewebe aufweisen (. Abb. 20-6). Die dem Abbau durch die Leber entziehen und die gleichzeitig hoÈhere LeberstoffwechselaktivitaÈt im Kindesalter, bedingen eine schnellere Elimination und folglich auch eine kuÈrzere Wirkungsdauer.

. Abb. 20-6. Schematische Darstellung zur Kinetik

des Opioids im Zweikompartimentmodell beim Erwachsenen, Leberzirrhotiker und Kleinkind. (Nach [550])

21 Interaktionen der Opioide mit anderen Pharmaka 21.1

Erkrankungen, die zur WirkungsverstaÈrkung oder Wirkungsverminderung fuÈhren ± 238

21.2

Klinische Bedeutung medikamentoÈser Interaktionen ± 238

21.2.1

Metabolisch bedingte Potenzierung/Antagonisierung Funktionell bedingte Potenzierung/Antagonisierung MedikamentoÈse Wirkungsverringerung ± 241

21.2.2 21.2.3

± 238 ± 240

Eine Interaktion der Opioide mit anderen, gleichzeitig verabreichten Medikamenten kann zu einer unerwarteten VerstaÈrkung und VerlaÈngerung der Wirkung fuÈhren. So ist grundsaÈtzlich eine gleichzeitige Medikation mit MAO-Hemmern, trizyklischen Antidepressiva, Antihypertonika und Antihistaminika mit einer VerlaÈngerung der Wirkung vergesellschaftet [121, 192, 321, 551]. DemgegenuÈber koÈnnen aber auch verschiedene Arzneimittel das Opioid aus seiner Proteinbindung verdraÈngen, wie z. B. Phenylbutazon und alle Cumarinderivate [127±130], sodass relativ mehr freie Wirksubstanz zur VerfuÈgung steht ein Effekt, der sowohl mit einer WirkungsverlaÈngerung als auch mit einer WirkungsverstaÈrkung einhergehen kann. Weil die Opioide durch oxydative Dealkylierung und Konjugation an Glucuronide in der Leber abgebaut werden, kann jegliche Hemmung in der Biotransformation, wie sie z. B. durch Kontrazeptiva, Zytostatika, Antiarrhythmika, Psychopharmaka, systemisch applizierte Antimykotika, volatile AnaÈsthetika, MAO-Hemmer und Disulfiram ausgeloÈst wird, mit einer Zunahme der Wirksubstanz und einer daraus resultierenden VerlaÈngerung der Wirkungsdauer einhergehen (. Tabelle 22-1). Andererseits ko È nnen aber auch eine HypoproteinaÈmie oder einen Azidose zu einer hoÈheren Konzentration an freiem, ungebundenem Opioid fuÈhren, bzw. bedingt ein chronischer Leberschaden einen verlangsamten Abbau des Pharmakons. Andererseits loÈsen einige Medikamente aber auch eine Enzyminduktion in der Leber aus,

sodass das Opioid schneller verstoffwechselt und die Wirkungsdauer verkuÈrzt wird. Zu Pharmaka, die den Leberstoffwechsel ankurbeln gehoÈren Rifampicin, Phenytoin, Phenobarbital, Carbamazepin und auch der Alkohol. DemgegenuÈber kann bei verminderter Leistung der inneren Ausscheidungsorgane (Leber und Nieren) die BioverfuÈgbarkeit von z. B. Morphin zwischen 20 und 60 % schwanken. Entsprechend ist eine VerlaÈngerung der Wirkung bei einem Leberschaden zu erwarten. Da besonders im Alter die metabolische Leistung der Nieren abnimmt, muss bei der obligaten Reduktion des KoÈrperwassers eine VerlaÈngerung der Opioidwirkung erwartet werden. Hierzu zaÈhlt auch die im Alter oft nachweisbare Abnahme von Plasmaeiweiû, die dazu fuÈhrt, dass weniger Opioid gebunden wird und mehr freie Wirksubstanz zur VerfuÈgung steht. ! Je aÈlter der Mensch, desto staÈrker die Wirkung

eines Opioids (Kumulationsgefahr).

Ûber die Interaktion von Phytopharmaka mit chemisch definierten Arzneimitteln wie den Opioiden ist wenig bekannt. Immerhin sind aufgrund der Wechselwirkung zwischen Kava-Kava und Benzodiazepinen FaÈlle mit VerstaÈrkung der Sedation bis hin zum Koma beschrieben worden und muÈndet die Wechselwirkung von Johanniskraut und AnaÈsthetika in eine VerlaÈngerung der Wirkung [552, 553]. Deswegen ist bei der gleichzeitigen Ein-

238

21

Kapitel 21  Interaktionen der Opioide mit anderen Pharmaka

nahme von Johanniskraut und einem Opioid an eine, insbesondere was die sedativ-hypnotische Wirkung betrifft, VerlaÈngerung der Wirkung zu denken. 21.1

Erkrankungen, die zur WirkungsverstaÈrkung oder Wirkungsverminderung fuÈhren

FuÈr die Wirkungsvermittlung von Opioiden sind weniger die gebundenen jedoch die freien Anteile von Bedeutung. Ein Opioid, das in die Blutbahn injiziert wird zeigt, je nach physikochemischen Eigenschaften, unterschiedliche Bindungsneigungen nicht nur am Organeiweiû. Vielmehr wird sofort nach der Injektion auch ein nicht unerheblicher Anteil an Plasmaproteine gebunden, wobei die Bindung an Albumin, saures a1-Glykoprotein und Lipoproteine mit bis zu uÈber 60 % uÈberwiegt. Des Weiteren besteht zwischen den freien Anteilen im Blutplasma und den korpuskulaÈren

. Tabelle 21-1. Pathologische ZustaÈnde, die mit VeraÈnderungen der Plasmaproteine und der Bindung eines Opioids einhergehen. Somit hat eine Abnahme des Albumins und des sauren a1-Glykoproteins eine Zunahme freier Wirksubstanz zur Folge, es kommt zur VerstaÈrkung opioidtypischer Wirkungen. (Nach [554])

Abnahme des Albumins

Zunahme des sauren a1Glykoproteins

Abnahme des sauren a1Glykoproteins

Verbrennungen Chronische Niereninsuffizienz Lebererkrankungen EntzuÈndungen Nephrotisches Syndrom Herzinsuffizienz

Verbrennungen Morbus Crohn

Neonat Orale Kontrazeptiva Schwangerschaft

Postoperative, katabole Phase UnterernaÈhrung Maligne Erkrankungen Neonat Schwangerschaft Greise

Nierentransplantation Infektionen Trauma Chronische Schmerzen Myokardinfarkt

Postoperative Phase Maligne Erkrankungen Rheumatoide Arthritis Colitis ulcerosa

Herz-LungenMaschine

Elementen des Blutes, den Erythrozyten, ein Flieûgleichgewicht, das in nicht unerheblichem Maûe vom pH-Wert und der Temperatur abhaÈngt. Es ist deshalb davon auszugehen, dass neben einer unspezifischen Bindung an den Plasmaproteinen auch betraÈchtliche Mengen eines Opioids von den roten BlutkoÈrperchen »abgefangen« werden. Da jedoch nur die freien Anteile eines Pharmakons die Wirkung vermitteln, koÈnnen je nach den vorherrschenden physiologischen und pathologischen ZustaÈnden (. Tabelle 21-1), auch sehr differierende Anteile freier Wirksubstanz im Blut zirkulieren, die schlieûlich, nach Passage der BlutHirn-Schranke, am Rezeptor eine Wirkung ausloÈsen. 21.2

Klinische Bedeutung medikamentoÈser Interaktionen

Bei der medikamentoÈsen Interaktion von Opioiden mit anderen, simultan eingenommenen Pharmaka muss bei den daraus resultierenden VeraÈnderungen der Wirkung unterschieden werden zwischen einer: 1. metabolisch bedingter Potenzierung/Antagonisierung und 2. funktionell bedingter Potenzierung/Antagonisierung. 21.2.1 Metabolisch bedingte

Potenzierung/Antagonisierung

Weil die Elimination der Opioide letztlich von der metabolischen Leistung der Leber abhaÈngt, werden alle Ønderungen in den AktivitaÈten der Leberenzyme, eine mehr oder weniger schnelle Erholung nach Verabreichung des Opioids zur Folge haben. Dies trifft insbesondere fuÈr die Biotransformation lipidloÈslicher Opioide zu, die v. a. durch das leberspezifische Cytochromisoenzym CYP3A4 der P450-Monooxygenase abgebaut werden. Eine Hemmung oder Aktivierung dieses Enzyms hat eine unterschiedliche und klinisch relevante Eliminationsrate zur Folge. Interaktionen von anderen Pharmaka mit diesem Leberenzym, die mit einer mehr oder weniger ausgepraÈgten Enzymaktivierung einhergehen (. Tabelle 21-2), werden sich letztlich in einer Verringerung pharmakodynamischer Effekte wie Analgesie, Sedierung, Euphorie, Atemdepression, Nausea u. a. niederschlagen [555]. Andererseits ist aber auch daran zu denken, dass Vorbehandlung mit Erythromycin den Metabolismus der Opioide hemmen koÈnnen, waÈhrend

239

21.2  Klinische Bedeutung medikamentoÈser Interaktionen

21

. Tabelle 21-2. Zusammenfassung der Medikamente, die eine Leberenzymaktivierung bzw. -hemmung induzieren; Faktoren, die sich letztlich in einer verminderten oder verstaÈrkten Opioidwirkung niederschlagen. (Nach [556])

Enzymaktivierung

Enzymhemmung

Enzymhemmung

Chronischer Alkoholismus Aminoglutethimid Barbiturate Carbamazepin Glutethimid Griseofulvin Meprobamat Phenytoin Rifampicin

Akuter Akoholexzess Allopurinol Chloramphenicol Chlorpromazine Danazol Disulfiram Diltiazem Erythromycin Fluoxetin Isoniazid Metoprolol Metronidazol Miconazol

Nicardepin Nortriptylin Omeprazol Orale Kontrazeptiva Perphenazin Phenylbutazon Primaquin Propoxyphen Propanolol Chinidin Valproat Verapamil

. Tabelle 21-3. Zusammenfassung der mit den Opioiden interagierenden Pharmaka und die daraus resultierenden klinischen Auswirkungen. (Mod. nach [121, 124, 132, 446, 556, 558, 563, 564])

Pharmakon

Klinische Konsequenzen

H1/H2-Antagonisten (Cimetidin, Ranitidin, Diphenhydramin, Hydroxyzin) Barbiturate (Methohexital, Hexobarbital, Thiopental, Bervimytal) Benzodiazepine (Diazepam, Flunitrazepam, Midazolam, Lormetazepam, Alprazolam) Hypnotika (Etomidate, Propofol, Clomethiazol, Alkohol)

VerstaÈrkung der Atemdepression und Analgesie

a2-Agonisten (Clonidin, Dexmedetomidin) Amphetamine (Dexamphetamin, Methylphenidat) Antiepilepika, Antikonvulsiva (Carbamazepin, Phenytoin) Antihypertensiva (Reserpin, Urapidil, Praziocin) Kokain Trizyklische Antidepressiva und Lithium (Imipramin, Desipramin, Amocapin, Sulpirid, Nomifensin, Amitriptylin, Doxepin Phenothiazin (Chlorpromazin) Antiemetika (Metoclopramid) Volatile AnaÈsthetika (Halothan Enfluran, Isofluran, Desfluran, Sevofluran, N2O) Ca-Antagonisten (Nifedipin, Verapamil) Monoaminooxydase(MAO)-Hemmer (Moclobemid, Maprotilin, Tranylcypromin)

z. B. Antiepileptika eine Enzyminduktion bewirken koÈnnen, sodass es nach Absetzen des Pharmakons es zu einer relativen Ûberdosierung kommen kann.

VerstaÈrkung von Atemdepression und Sedation, Verringerung der analgetischen Wirkung VerstaÈrkung von Atemdepression, kurzfristig VerstaÈrkung der Analgesie, langfristig Verminderung der Analgesie VerstaÈrkung von Atemdepression, VerstaÈrkung der Analgesie VerstaÈrkung der Analgesie, Verminderung der notwendigen Opioiddosis Antagonisiert Atemdepression und Sedation, moÈgliche VerstaÈrkung der Analgesie Bei Methadonsubstitution AusloÈsung eines Abstinenzsyndroms moÈglich. Ansonsten keine Effekte VerstaÈrkung und VerlaÈngerung von Analgesie und Atemdepression Antagonisiert Analgesie und Atemdepression VerstaÈrkung und VerlaÈngerung von Analgesie und Atemdepression VerstaÈrkt Hypotension, Analgesie und Atemdepression VerstaÈrkt Sedierung VerstaÈrkung von Hypotension, Analgesie und Atemdepression VerstaÈrkt Analgesie, Hypotension VerstaÈrkt exzitatorische PhaÈnomene bei Pethidin und Dextrometorphan. Ansonsten Sedierung bis zum Koma; VerstaÈrkung von Atemdepression und Analgesie

Wegen der groûen interindividuellen VariabilitaÈt der unterschiedlichen MetabolisierungsaktivitaÈten der Cytrochrom-P450-Isoemzyme koÈnnen bei Patienten langsame Metabolisierer von den

240

21

Kapitel 21  Interaktionen der Opioide mit anderen Pharmaka

schnellen und den sehr schnellen Metabolisierern unterschieden werden. Zwar kann mit Hilfe einfacher Genotypisierungsmethoden die MetabolisierungskapazitaÈt fuÈr einige Medikamente bestimmt werden. FuÈr den Metabolismus der Opioide bestehen jedoch noch keine klinisch einsetzbaren Tests, sodass nur anhand der klinischen Wirkung auf die EnzymaktivitaÈt ruÈckgeschlossen werden kann. 21.2.2 Funktionell bedingte

Potenzierung/Antagonisierung

Bei dieser Form der Wechselwirkung handelt es sich um eine uÈber andere regulativ-neuronale Zentren laufende VerstaÈrkung bzw. Verminderung der Opioidwirkung. Hierbei sind insbesondere monaminerge (Dopamin, Serotonin), GABAerge, histaminerge und/oder cholinerge Mechanismen von Bedeutung. Andererseits spielt sich die medikamentoÈse Interaktion auch auf der Ebene der Membran im Sinne einer Hyperpolarisation ab (z. B. Kalziumantagonisten), indem m-Opioide indirekt den Ausstrom von K‡-Ionen aus der Zelle und den Einstrom von Ca2‡-Ionen in die Zelle verstaÈrken, waÈhrend die k-Agonisten direkt den Ca2‡-Transfer in die Zelle vermindern. So muss bei jeglicher Dauermedikation mit Pharmaka und Pharmakagruppen an eine Potenzierung oder zumindest an eine additive Wirkung gedacht werden, wobei neben einer wuÈnschenswerten WirkungsverstaÈrkung (Analgesie) auch ein weniger wuÈnschenswerter Effekt wie die Atemdepression, eine WirkungsverlaÈngerung erfaÈhrt. (. Tabelle 21-3). Andererseits ist daran zu denken, dass ca. 10 % der Gesamtpopulation eine Insuffizienz des Cytochromisoenzyms CYP2D6 aufweisen, das die Pharmaka Tramadol, Codein und Dihydrocodein in die eigentlich aktiven Wirksubstanzen O-Desmethyltramadol (M1) bzw. Morphin umwandelt. Aufgrund dieser sog. schlechten Metabolisierungsrate schlagen bei einigen Patienten die Opioide Tramadol, Codein bzw. Dihydrocodein nicht an. Dagegen fuÈhrt die gemeinsame Anwendung aller in der AnaÈsthesie gebraÈuchlichen volatilen AnaÈsthetika wie z. B. 4 Halothan, 4 Enfluran, 4 Isofluran, 4 Desfluran, 4 Sevofluran und insbesondere 4 N 2O

. Abb. 21-1. Reduktion der MAC-Werte durch Opioide bei

der balancierten Narkosetechnik. (Nach [150, 151, 429, 484, 557])

mit einem Opioid zu einer Potenzierung. Umgekehrt kann bei gemeinsamer Anwendung eines Opioids und eines volatilen AnaÈsthetikums die fuÈr eine ausreichende Narkosetiefe notwendige Gaskonzentration, die minimale alveolaÈre Konzentration (MAC), in AbhaÈngigkeit des Opioids und der Dosierung bis zu 95 % verringert werden (. Abb. 21-1). FuÈr Stickoxydul wird die ihm eigene analgetische Wirkung und die Potenzierung einer Opioidwirkung insofern verstaÈndlich, wenn man die im

241

21.2  Klinische Bedeutung medikamentoÈser Interaktionen

Tierexperiment nachgewiesene Interaktion mit dem k-Rezeptor beruÈcksichtigt [136]. Den staÈrksten, wirkungsverlaÈngernden Effekt haben jedoch die Benzodiazepine, wenn sie vor, in Verbindung oder nach einem Opioid gegeben werden [121, 558, 559±561]. Auch wenn diese Wirkung therapeutisch zur Analgosedierung genutzt wird, so muss eine Interaktion besonders dann beruÈcksichtigt werden, wenn Benzodiazepine mit langer Halbwertszeit wie z. B. 4 Diazepam, 4 Lormetazepam, 4 Dikaliumchlorazeptat, 4 Rohypnol zur PraÈmedikation verwendet werden. Hierdurch werden, wegen der langen Eliminationshalbwertszeit von z. B. Diazepam von bis zu 40 h (!), noch in der postoperativen Phase uÈberhaÈngende Effekte, insbesondere eine Atemdepression, nachweisbar sein. Auch ist daran zu denken, dass die Metabolite der Benzodiazepine pharmakologisch aktiv sind. Besonders jedoch ist der Metabolit von Diazepam, das N-Desmethyldiazepam pharmakologisch aktiv und weist eine noch bis zur 90. Stunde anhaltende Wirkungsdauer auf [562].

21

21.2.3 MedikamentoÈse

Wirkungsverringerung

Es muss jedoch auch daran gedacht werden, dass es Medikamente gibt, die die Wirkung der Opioide verringern. Die kompetitiven Antagonisten wie Naloxon, Naltrexon und Nalmefen, und die gemischtwirkenden Agonisten/Antagonisten Nalbuphin, Pentazocin und Butorphanol bewirken eine, uÈber den spezifischen Antagonismus verlaufende dosisabhaÈngige Verminderung bis hin zur Aufhebung der Wirkung. Andererseits gibt es aber auch Gruppen von Medikamenten, die unspezifisch uÈber andere Transmittersysteme eine antagonistische Wirkung ausuÈben. Hierzu gehoÈren alle zentral angreifenden Analeptika wie z. B. 4 Methylphenidat, 4 Tenetrillin, 4 Pemolin. So ist z. B. bei chronischer Pervitineinnahme (Pervitinsucht) ein ausgepraÈgter entgegengesetzter Effekt der durch Opioide ausgeloÈsten Wirkung zu erwarten. Bei solchen Patienten besteht deswegen auch eine relative Opioidresistenz [121]. Eine aÈhnliche, entgegengesetzte Wirkung laÈsst sich auch bei der akuten Cocaineinnahme nachweisen [565].

22 Opioide, Gender, Sex und Schmerz ± geschlechtsspezifische Unterschiede 22.1

PraÈvalenz schmerzhafter Symptome bei der Frau ± 244

22.2

22.3

22.6

Psychosoziale und Gender-relevante Faktoren bei der Schmerzchronifizierung ± 246

Geschlechtsbedingte Unterschiede im Opioidkonsum und der Opioidwirkung ± 249

22.7

Gender-Studies, Schmerzverarbeitung und Opioidwirkung ± neue Forschungsergebnisse ± 246

Unterschiedliche Schmerzbefreiung durch Opioidanalgetika bei Frauen und MaÈnnern ± 250

22.8

Genetische VariabilitaÈt bestimmt Reaktion auf Opioide ± 251

22.9

Geschlechtsspezifische Differenzierung in der Therapie geburtshilflicher Schmerzen ± 252

22.10

Praktische Bedeutung geschlechterbedingter Unterschiede in der Schmerztherapie ± 253

22.4

Einfluss der Steroidhormone auf das Opioidsystem ± 248

22.5

Geschlechtsbedingte Unterschiede in der Schmerzlokalisation ± 249

Haben Frauen mehr Schmerzen als MaÈnner und weisen Opioide unterschiedliche WirkqualitaÈten bei der Frau auf? War die Ørztin und Reformerin Dr. Hope Bridges Adams Lehmann (1855±1916) aus MuÈnchen die erste Frau in Deutschland, die 1880 ein medizinisches Staatsexamen ablegte, so war sie auch die erste Frau, die in MuÈnchen und Bayern als Ørztin praktizierte und 1896 als erste Medizinerin einen vielfach aufgelegten Gesundheitsratgeber fuÈr Frauen schrieb. Weit uÈber das Medizinische hinaus ging es ihr um zukunftsweisende Lebenskonzepte fuÈr das Zusammenleben von Mann und Frau, um ein neues VerhaÈltnis zur SexualitaÈt und um Alltagsreformen. In MuÈnchen entwickelte Hope Bridges Adams Lehmann um 1900 auch ein Aufsehen erregendes Krankenhauskonzept und einen bilingualen Versuchskindergarten. Die von ihr artikulierten AnsaÈtze zu den medizinischen Unterschieden zwischen Mann und Frau haben in letzter Zeit insofern Nahrung bekommen, als zahlreiche epidemiologische Ergebnisse und Ûbersichtarbeiten darauf hinweisen, dass im Gegensatz zu MaÈnnern in der Gesamtpopulation Frauen eine hoÈhere Anzahl schmerzbedingter Symptome aufweisen [1±3]. Dies konnte auch experimentell untermauert werden, indem bei unterschiedlichen schmerzinduzierenden Stimuli Frauen, im Gegensatz zu MaÈnnern, eine niedrigere Schmerzschwelle aufwiesen [4±8].

UrsaÈchlich fuÈr eine solche gesteigerte SensitivitaÈt auf nozizeptive Reize sind die gonadotropen Hormone, die die Weiterleitung nozizeptiver Informationen sowohl im peripheren [9] als auch im zentralen Nervensystem steigern. So werden im Rahmen des Ústrogenzyklus sog. »stille« Afferenzen aktiviert, wobei Ústrogene z. B. die GroÈûe rezeptiver Felder der vom Uterus ausgehenden primaÈren Afferenzen aktivieren [10±13]. Andererseits fuÈhren Schwangerschaft und Progesteron sowohl zu einer Zunahme der Nervenleitungsgeschwindigkeit als auch zu einer Senkung der Reizschwelle somatischer und viszeraler Nervenbahnen, wobei die Ansprechrate von LokalanaÈsthetika [14, 15] und volatiler AnaÈsthetika [16] vermindert wird. Im zentralen Nervensystem dagegen beeinflussen gonadotrope Hormone das endogene Opioidsystem [17], indem die AktivitaÈt von Neuromodulatoren wie Substanz P [18], g-AminobuttersaÈure, Glutamat und der Neurotransmitter Serotonin, Dopamin und Norepinephrin [19], die alle an der nozizeptiven Verarbeitung beteiligt sind, gesteigert wird.

22

244

Kapitel 22  Opioide, Gender, Sex und Schmerz ± geschlechtsspezifische Unterschiede

22.1

PraÈvalenz schmerzhafter Symptome bei der Frau

Weil vor allem in den angloamerikanischen LaÈndern die Forschung vom GeschlechtsverhaÈltnis in der Gesellschaft in Form sog. »gender studies« gefoÈrdert wird, liegen hier auch die meisten epidemiologischen Ergebnisse zu Schmerz und Gender vor. Abgesehen von den typischen Menstruations- und Geburtsschmerzen kann bei Frauen haÈufiger eine Chronifizierung von Schmerzen als bei MaÈnnern nachgewiesen werden. So sind z. B. bei der Frau vermehrt muskuloskelettale Schmerzen im Halsbereich, der Schulter und den oberen ExtremitaÈten als beim Mann anzutreffen [4, 5, 20]. Des Weiteren weisen Pathologien, die mit Schmerzen einhergehen, auf eine PraÈvalenz bei der Frau hin, wobei ursaÈchlich eine hormonelle Beteiligung diskutiert wird (. Tabelle 22-1). Letztlich wird diese Annahme durch neue Forschungsergebnisse unterstrichen, in denen Ústrogenrezeptoren auf Mastzellen nachgewiesen werden konnten [21]. Denn diese Rezeptoren fuÈhren dazu, dass bei der Frau eine gesteigerte EntzuÈndungsbereichtschaft vorliegt, eine Bereitschaft, die beim Mann nicht nachweisbar ist. Weil die Mastzellen als Speicher fuÈr viele neurotrope Substanzen dienen, sind sie auch die vorherrschende Quelle fuÈr EntzuÈndungsprozesse [22]. So koppelt bei steigendem Ústrogenspiegel das Hormon an den Mastzellen, die anschlieûend fuÈr einen EntzuÈndungsreiz sensitiviert werden. Bei einem entsprechenden Reiz wird eine schlagartige Freisetzung von EntzuÈndungsmediatoren wie z. B. . Tabelle 22-1. Geschlechtsspezifische Unterschiede bei klinischen Schmerzsyndromen

VerhaÈltnis

Weiblich : MaÈnnlich

MigraÈne Spannungskopfschmerz Chronischer Spannungskopfschmerz Clusterkopfschmerz TemporomandibulaÈrer Schmerz Gesichtsschmerz Muskuloskeletale Schmerzen Fibromyalgie Schleudertrauma Rheumatoide Arthritis Syndrom des irritablen Darms Pankreatitis Gallensteine

2,5 : 1 3,0 : 1 10 : 1 1,0 : 3,5* 1,5 : 1 1,9 : 1 ca. 1,5 : 1 3,2 : 1 1,3 : 1 6,0 : 1 4,0 : 1 1,8 : 4,0* 3,4 : 1

* HoÈherer Anteil an maÈnnlichen Patienten.

dem Nervenwachstumsfaktor (»nerve growth factor«; NGF) [23] ausgeloÈst, was in der Produktion und der Freisetzung anderer wichtiger Schmerzmediatoren (Substanz P, vasoaktives, intestinales Peptid) muÈndet. Beide Neurotransmitter sind bedeutende Mittler im schmerzleitenden System, sodass bei der Frau mehr Neuromodulatoren als beim Mann freigesetzt werden, es zu einer gesteigerten EntzuÈndungsbereitschaft und einer staÈrkeren Schwellung im entzuÈndeten Gewebe kommt. Dass bei der Frau die oÈstrogeninduzierte Freisetzung von EntzuÈndungsmediatoren aus den Mastzellen mit gesteigerter Schmerzperzeption ein vorherrschender Faktor ist, hierauf deutet die Dominanz von Frauen bei MigraÈnekopfschmerzen, von myofaszialen Schmerzen und die PraÈvalenz von Spannungskopfschmerzen innerhalb der GesamtbevoÈlkerung hin. Es sind besonders Kopfschmerzen (MigraÈneund Spannungskopfschmerzen), temperomandibulaÈre Schmerzen, die Fibromyalgie (FMS), die rheumatoide Arthritis und das irritable Darmsyndrom (»intestinal bowel syndrom«; IBS) bei der Frau als haÈufigster Schmerzverursacher zu identifizieren [20]. Dagegen ist epidemiologisch die PraÈvalenz von Frauen, die uÈber chronische RuÈckenschmerzen klagen, im Vergleich zu MaÈnnern nicht hoÈher [5]. HaÈufiger sind jedoch Frauen, die unter Schmerzen im Rahmen einer multiplen Sklerose [24] oder Krebs [25] leiden, betroffen. Eine PraÈvalenz von neuropathischen Schmerzen mit hoÈheren Schmerzindizes fand sich dagegen nicht bei 7.379 untersuchten Verletzungen des RuÈckenmarks [26], wobei ursaÈchlich ein aÈhnliches Verletzungsmuster im zentralen Nervensystems heranzuziehen war. FuÈr das bei der Frau hoÈhere Schmerzmuster scheint eine hormonell bedingte unterschiedliche Strukturierung und Beteiligung von speziellen Hirnarealen in der fruÈhen Entwicklungsphase verantwortlich zu sein. So konnten z. B. Fillingham et al. nachweisen, dass im Gegensatz zum Mann bei der Frau der perzeptiv-emotionelle Anteil von Schmerzen und die sich anschlieûende Reaktion im Vordergrund stehen, waÈhrend der Mann dem Schmerz eher analytisch begegnet [5]. So konnten die Autoren nicht nur geschlechtsbedingte Unterschiede in der Anzahl afferenter Impulse und der anschlieûenden Weiterleitung zum zentralen Nervensystem feststellen. Sie konnten auûerdem im Gewebe eine hoÈhere Dichte peripherer Rezeptoren nachweisen, Vorbedingungen fuÈr eine gesteigerte nozizeptive Afferenz und eine gesteigerte Perzeption von Schmerzsensationen aus der Peripherie.

245

22.1  PraÈvalenz schmerzhafter Symptome bei der Frau

Pornix

Gyrus Cingulae

Corpus mamillare Bulbus olfactorius Trigonum olfactorium Nucleus amygdalae Uncus

22

. Abb. 22-1. Das limbische

Hippocampus Lobus temporalis

Diese biologischen und genetischen Unterschiede konnten durch Tierstudien gestuÈtzt werden, bei denen nach langfristigen und dauerhaften Schmerzen mit Stress unterschiedliche geschlechtsbedingte immunologische Reaktionen im Hippocampus und im Septum beobachtet wurden [27, 28]. Die Autoren spekulieren, dass hormonelle und verhaltenbedingte Unterschiede zwischen den Geschlechtern zu einer unterschiedlichen PraÈformierung im limbischen System fuÈhren, dem System im Gehirn, welches auf Schmerz die daran sich anschlieûenden Emotionen und negativen Stimmungen vermittelt (. Abb. 22-1). Es kann deshalb als gegeben angenommen werden, dass MaÈnner zwar »haÈrter im Nehmen« sind. Denn setzt man Frauen und MaÈnner den gleichen Schmerzsignalen aus, reagiert in Studien mit Hilfe der Positronemisssionstomographie (PET) das Gehirn bei Frauen im limbischen, gefuÈhlsbetonten Bereich, waÈhrend es bei den MaÈnnern zu erhoÈhten GehirnaktivitaÈten im kognitiven Bereich im Frontalhirn kommt. Auch haben andere Forschungsgruppen im menschlichen Gehirn geschlechtsbedingte Unterschiede bei Patienten mit irritabalen Darmsyndrom nachweisen koÈnnen. Unter rekto-sigmoider Dehnung mit Hilfe eines Ballons, sind im Gegensatz zu maÈnnlichen bei weiblichen Patienten mit irritablen Darmsyndrom unterschiedliche perzeptive Areale mit Hilfe bildgebender Verfahren wie der Positronemisssionstomographie (PET) nach-

Gyrus ParaHippocampus

System des Menschen, Sitz fuÈr die Verarbeitung von Afferenzen mit AusloÈsung von Emotionen

STG, Insula, Putamen . Abb. 22-2. Positronemissionstomographie (PET) bei weib-

lichen Patienten mit induzierten Schmerzen und FMS mit geschlechtsspezifischer Aktivierung schmerzrelevanter Areale (STG gyrus temporalis superior). (Mod. nach [31])

gewiesen worden [29]. Auch wiesen Frauen, im Gegensatz zu MaÈnnern, in PET±Untersuchungen [30] eine gesteigerte Reaktion auf Hitzestimuli mit einer signifikanten Durchblutungszunahme im kontralateralen prefrontalen Kortex, der kontalateralen Insel und im Thalamus auf (. Abb. 22-2).

22

246

Kapitel 22  Opioide, Gender, Sex und Schmerz ± geschlechtsspezifische Unterschiede

22.2

Psychosoziale und Gender-relevante Faktoren bei der Schmerzchronifizierung

Nachgewiesenermaûen haben psychosoziale Faktoren auf den Umgang mit affektivem Stress Auswirkungen auf geschlechtsbedingte Unterschiede in der Schmerzerfahrung. Psychosoziale Symptome wie z. B. Depression und Angst stehen bei der Frau mehr im Vordergrund als beim Mann und sind deswegen auch mit einem gesteigerten Schmerzempfinden und anderen physischen Symptomen vergesellschaftet [2, 32, 33]. Die psychische Bedeutung konnte bei experimentell induziertem Stress mit Schmerz dokumentiert werden, indem affektive EinfluÈsse maûgeblich das Schmerzempfinden steigerten [34±36]. Hieraus ist zwanglos abzuleiten, dass die Erwartungshaltung des Individuums zu schmerztherapeutischen AnsaÈtzen die noch existenten KontrollmoÈglichkeiten und die Angst das Schmerzempfinden der Frau mehr kontrollieren als beim Mann. Andererseits werden von der Frau aber auch eingefahrene Verhaltensweisen, von der Gesellschaft ratifiziert, uÈbernommen. Diese Wahrnehmungsschemata spielen eine entscheidende Rolle bei der Schmerzwahrnehmung [37] und beinhalten stereotypische Geschlechterrollen, dass z. B. beim Mann eine hoÈhere Schmerztoleranz als bei der Frau vorliegt. Und selbst bei Korrektur des geschlechterbedingten Rollenspiels spielt dies bei der Artikulation von Schmerzen weiterhin eine Rolle, wobei alle Voraussetzungen, die von Bedeutung sind, noch nicht eindeutig geklaÈrt werden konnten. 22.3

Gender-Studies, Schmerzverarbeitung und Opioidwirkung ± neue Forschungsergebnisse

Im Gegensatz zum Begriff Sex, der das Geschlecht im biologischen Sinne zum Ausdruck bringt, weist der parallele Begriff »Gender« (lat. generare ˆ erzeugen) auf das Geschlecht als Ergebnis eines dynamischen Prozesses hin. Denn wie die Frau oder der Mann zu sein hat, muss immer wieder erarbeitet und abgeleitet werden. Die Unterscheidung zwischen biologischem und soziokulturellem Geschlecht sowie deren theoretische Konzeptualismen ermoÈglichen es, Fragen nach dem Zustandekommen von Bedeutungen hierarchischer GegensaÈtzlichkeiten in Gesellschaft, Kultur und Wissenschaft zu erarbeiten.Wurden bisher alle Ergebnisse zu den Wirkungsmechanismen der Opioide verallgemeinert

und ausschlieûlich auf den Mann bezogen, so musste jetzt erkannt werden, dass in naturwissenschaftlichen Forschungsbereichen mit ihren Untersuchungen und Schlussfolgerungen in jeder Phase die geschlechtliche Differenz zu beruÈcksichtigen und zu dokumentieren ist. Durch die EinfuÈhrung der Gender-Studies (Geschlechterforschung) wird ein Rahmen geschaffen, in dem geschlechtsspezifische Wirkungen und Auswahlprozesse bei wissenschaftlichen Untersuchungen mit einflieûen und die Bedeutung unterschiedlicher Wirkungen von Pharmaka im Allgemeinen und denen von Opioiden im Speziellen uÈberhaupt erst moÈglich wird. Der Vorteil der Gender-Kategorie liegt, im Vergleich zu den Begriffen »Weiblichkeit« und »MaÈnnlichkeit«, darin, dass aus Frauengeschichte Geschlechtergeschichte wird, problematische Trennungen ihre Bedeutung verlieren und dass durch die Gestaltung flieûender ÛbergaÈnge sich gewichtigere Unterschiede zwischen Mann und Frau herausarbeiten lassen. Gender-Studies ermoÈglichen es, im Rahmen von Schmerz und Opioidwirkung Querverbindungen aufzuzeigen, bei denen Gender-bezogen auf Rasse, Klasse und andere Kategorien grundlegende kulturelle Reflexionen und Gesellschaftskritik erfolgen koÈnnen. So gab es schon seit dem 18. Jahrhundert viele Hinweise, dass sich MaÈnner und Frauen in der Empfindlichkeit ihrer Sinne unterscheiden. Bereits damals wurde offenkundig, dass Frauen besser als MaÈnner zwischen zwei nebeneinander liegenden BeruÈhrungsreizen differenzieren koÈnnen. Jedoch erst im 19. Jahrhundert lieferten Studien erste Hinweise fuÈr die fruÈher als Klischee angesehene groÈûere weibliche Schmerzempfindlichkeit. So war dann auch in den vergangenen Jahrzehnten die Entwicklung und Testung von Narkose- und Schmerzmitteln, wo ein augenfaÈlliger geschlechtsspezifischer Unterschied von zentraler Bedeutung gewesen waÈre, nur an maÈnnlichen Versuchspersonen vorgenommen worden, und erst im Jahre 1970 lieferten erste Ergebnisse Hinweise auf eine tiefere Schmerzschwelle bei der Frau. Hiermit wurde auf einmal auch verstaÈndlich, warum einige Krankheiten nicht nur mit einer frauenspezifischen KrankheitshaÈufung, sondern auch mit einer hoÈheren Schmerzsymptomatik einhergingen. Ganz zu schweigen von Menstruation und Schwangerschaft ist eine haÈufigere KrankheitsanfaÈlligkeit von Rheuma, MigraÈne, Fibromyalgieund Reizdarmsyndrom mit den damit einhergehenden Schmerzen bei der Frau offenkundig. So leiden mehr Frauen als MaÈnnern unter chro-

22.3  Gender-Studies, Schmerzverarbeitung und Opioidwirkung

nischen, uÈber den gesamten KoÈrper verteilten Schmerzen, wobei eine starke AltersabhaÈngigkeit mit deutlicher Progredienz im geschlechtsfaÈhigen Alter, eine VerstaÈrkung waÈhrend der zweiten ZyklushaÈlfte und eine Abnahme zwischen dem 50. und 70. Lebensjahr zu verzeichnen ist. Auch ist die im Rahmen der Schwangerschaft eintretende Schmerzschwellenzunahme von Bedeutung, die mit einer Zunahme im Progesteronspiegel einhergeht und uÈber eine vermehrte Produktion koÈrpereigener, endogener Opioide ± den Enkephalinen und Endorphinen ± verlaufen soll. Wie subtil jedoch die Frau ihre Schmerzwahrnehmung beeinflussen kann, darauf verweisen Ergebnisse am Tier, wo Druck auf Vagina oder GebaÈrmutter schmerzmindernd wirkt, wobei Nervenimpulse im Gehirn Botenstoffe zur SchmerzunterdruÈckung freisetzen. Solcher Schutz vor schmerzhafter mechanischer Behandlung der Sexualorgane hat auch einen Sinn, beruÈcksichtigt man nicht nur die Wehen waÈhrend der Geburt, sondern auch den schon mit ungestuÈmen Bewegungen einhergehenden Geschlechtsverkehr. So eindruÈcklich diese Hinweise auf biologische Faktoren beim unterschiedlichen Schmerzempfinden von Mann und Frau auch sind, so bedeutsam sind auch die sozialen und kulturellen EinfluÈsse, die, den aktuellen Stereotypien entsprechend, in der fruÈhen Kindheit anerzogen werden. Nicht nur, dass Knaben den Schmerz weniger artikulieren sollen, es spielt auch das Schmerzgeschehen innerhalb der Familie eine Rolle. Je hoÈher die Anzahl schmerzgeplagter Famienmitglieder, desto haÈufiger werden Schmerzen im spaÈteren Leben angegeben. MaÈnner und Frauen scheinen deshalb nicht nur geschlechtspezifisch auf Schmerz zu reagieren, vielmehr spielen gleichzeitig auch biologische und psychosoziale Faktoten in sehr komplexer Weise eine Rolle. Und indem MaÈnner aufgrund der gesellschaftlichen Norm Schmerzen eher tolerieren, neigen Frauen zu staÈrkerem Schmerzerleben, das sie auch ausdruÈcken; sie nutzen hierbei eher die Chance selbstheilender Prozesse. Aus diesen ersten offensichtlichen Unterschieden ist abzuleiten, dass viele der mit Pharmaka gewonnenen Untersuchungsergebnisse den geschlechtsspezifischen Wirkungen nicht gerecht werden. Durch die EinfuÈhrung der Gender-Studies (sive Geschlechterforschung) wird ein weiter gefasster kultureller und historischer Rahmen geschaffen, in dem auch die geschlechtsspezifischen Wertungen und Auswahlprozesse bei wissenschaftlichen Untersuchungen beruÈcksichtigt werden und die Bedeutung unterschiedlicher Wir-

247

22

kungen von Pharmaka im Allgemeinen und denen von Opioiden im Speziellen uÈberhaupt erst erkannt werden kann. Hierdurch koÈnnen zum einen die eigentlichen geschlechtsbedingten Wirkungsunterschiede, zum anderen aber auch die soziokulturellen Begriffe zu den anerzogenen maÈnnlichen- und/oder weiblichen Reaktionsweisen differenzierter dargestellt werden. Der Vorteil der Gender-Kategorien liegt darin begruÈndet, im Vergleich zu der aus der Forschung uÈbernommenen »Weiblichkeit« und »MaÈnnlichkeit« beide Geschlechter einzuschlieûen, eine problematische Trennung aufzugeben, ÛbergaÈnge flieûend zu gestaltet und echte Unterschiede zwischen Mann und Frau herauszuarbeiten. Deswegen ermoÈglicht es die Gender-Forschung auch, alle Querverbindungen aufzuzeigen, denn sie hat nicht die ungute Teilung zum Ziel, wie sie in den verschiedenen Texten feministischer Frauenforschung vermittelt wird. Somit dienen Gender-Studie im Rahmen von Schmerz und Opioidwirkung auch dazu, interdisziplinaÈre Fakten aufzuzeigen, in denen Gender mit Rasse, Klasse und anderen Kategorien ein Instrumentarium kultureller Reflexionen und gesellschaftlicher Kritik bilden. Dass Schmerzen bei Frauen oft anders interpretiert werden als bei MaÈnnern, liegt an der Ûberzeugung, MaÈnner sind eher als Stoiker und Frauen als Hypochonder anzusehen. Zum anderen finden viele der Analgetika keine Erprobung an Frauen. Vor allem aber haben geschlechtsspezifische Auswertungen bei den Opioiden eher einen Seltenheitswert. Dies macht keinen Sinn, denn nicht nur der Hormonzyklus und der Stoffwechsel unterscheiden sich zwischen Mann und Frau erheblich. Ferner sind auch Unterschiede in der Psyche und im Gesundheitsverhalten nachweisbar, sodass z. B. den Geschlechterrollen, kognitiven, affektiven und biologischen Faktoren bei der Schmerzempfindung und -aÈuûerung Gewicht beigemessen wird (. Abb. 22-3). Kein Faktor fuÈr sich allein betrachtet kann als relevant fuÈr den Unterschied verantwortlich gemacht werden. Das Wissen um die Ûberlappung mehrerer Faktoren beim Schmerzgeschehen, sollte die Wahl eines Analgetikums bestimmen. WaÈhrend Erkrankungsformen wie z. B. die MigraÈne, das intestinale Schmerzsyndrom (»intestinal bowel syndrome«; IBS), das chronische urogenitale Schmerzsyndrom und die Fibromyalgie eine geschlechtsbedingte HaÈufung und PraÈvalenz bei der Frau aufweisen [39, 40], steht die allgemein angenommne hoÈhere Schmerzempfindung beim

248

Kapitel 22  Opioide, Gender, Sex und Schmerz ± geschlechtsspezifische Unterschiede

22.4

22

. Abb. 22-3. Schematische Darstellung verschiedener Fak-

toren, die bei geschlechtsbedingten SchmerzaÈuûerungen eine Rolle spielen. Die Wechselbeziehungen weisen auf eine gegenseitige Beeinflussung hin. (Mod. nach [38])

weiblichen Geschlecht in der westlichen Kultur in Zusammenhang mit soziokulturellen Faktoren. Beispielsweise werden die Geburtsschmerzen bei einigen Ethnien in der SuÈdsee von den MaÈnnern uÈbernommen, und es wird in den baÈuerlichen Betrieben in Russland schon Stunden nach einer Geburt wieder auf dem Feld gearbeitet. Das weist auf die Bedeutung von Kultur, KoÈrper und Gehirn hin, an deren Schnittpunkten der Schmerz entsteht. Speziell waÈhrend der Gestationsperiode ist eine deutliche Zunahme der Schmerztoleranz nachweisbar ein Effekt, der erwiesenermaûen auf einen mit zunehmender Schwangerschaftsdauer steigenden endogenen Opioidspiegel im Blutplasma einhergeht. Dieser faÈllt kurz nach der Geburt wieder auf einen Kontrollwert ab. Der Glaube, dass Frauen schmerzempfindlicher seien als MaÈnner, hat sich zwar hartnaÈckig uÈber Jahrhunderte gehalten. Jetzt gibt es aber den Beweis, dass es stimmt. Eine neuere Studie lieferte erstmals plausible GruÈnde, warum Frauen sensibler insbesondere auf Schmerzen im Gesicht reagieren. Forscher der American Society of Plastic Surgeons (ASPS) fanden heraus, dass die Frauen im Vergleich mehr Schmerzrezeptoren in der Gesichtshaut hat. WaÈhrend es die Frau im Durchschnitt auf 34 Nervenfasern pro cm2 bringt, sind es beim Mann gerade mal 17 ± also gerade die HaÈlfte [41]. Das beweist, dass die niedrigere Schmerztoleranzgrenze bei Frauen physischer Natur ist.

Einfluss der Steroidhormone auf das Opioidsystem

Die gonadotropen Hormone beeinflussen nachweisbar das endogene Opioidsystem. Die Bildung von b-Endorphin und Enkephalin wird dadurch verstaÈrkt, dass als Reaktion auf Steroidhormone im Tier eine signifikante Zunahme immunreaktiver b-endorphinerger Zellen im Nucleus arcuatus des Hypothalamus nachgewiesen werden konnte [42]. Diese Zunahme verlaÈuft uÈber intrazellulaÈre Ústrogenrezeptoren, die direkt an das Enkephalingen binden und hierdurch die Transkriptionsrate Enkephalin bildendender Gene aktiviert [43]. Auch konnte eine entscheidende Rolle des hormonellen Status in den verschiedenen Phasen des weiblichen Zyklus am Tier an der Zunahme von m-Opioidrezeptoren aufgezeigt werden. Indem ein zunehmender Ústrogenspiegel eine Zunahme an Bindungsstellen zur Folge hatte, konnte gleichzeitig eine vermehrte Bindung des Opioids Dihydromorphin im Hippocampus und im Hypothalamus dokumentiert werden [44]. Diese Beobachtungen werden durch an Affen gewonnenen Daten unterstrichen, indem waÈhrend der Menstruation eine signifikante Abnahme des Plasmaendorphinspiegels auftrat, waÈhrend zwischen den Menstruationszyklen erneut ein deutlicher Anstieg registriert wurde [45]. Hieraus ist abzuleiten, dass die Schmerzschwelle bei der Frau, in AbhaÈngigkeit vom Zyklus, stark schwankt. Solche Erkenntnisse haben bisher in Schmerzstudien keinerlei ausreichende BeruÈcksichtigung gefunden. Dass aber hormonelle Effekte auch eine praktische Bedeutung haben, wird besonders waÈhrend der Schwangerschaft offensichtlich, wo eine Zunahme von 17-b-Estradiol mit einer signifikanten Zunahme der Schmerzschwelle einhergeht. UrsaÈchlich hierfuÈr wird eine hormonell induzierte Aktivierung von d- und k-Rezeptoren im RuÈckenmark, nicht jedoch von supraspinalen Opioidbindestellen diskutiert. Diese Annahme konnte durch eine Hemmung der Antinozizeption mit hochselektiven d- und k-Antagonisten (NTB und nor-BNI) unterstrichen werden [46].

22.6  Geschlechtsbedingte Unterschiede im Opioidkonsum und der Opioidwirkung

22.5

Geschlechtsbedingte Unterschiede in der Schmerzlokalisation

Nachweislich haben Schmerzen im Thorax und im Abdomen beim Mann bzw. bei der Frau unterschiedliche Ursachen. So lassen sich aufgrund psychischer Faktoren bei der Frau haÈufiger eine RefluxoÈsophagitis, ein peptisches Ulkus, eine GallenblasenentzuÈndung mit oder ohne Steine, ein Postcholezystektomiesyndrom, eine chronische Obstipation und viszerale Schmerzen nachweisen. Beim Mann tritt dagegen ein Pancoast-Tumor, eine Pankreatitis, ein Duodenalulkus oder eine abdominelle MigraÈne haÈufiger auf [4]. Noch groÈûere Unterschiede in der Schmerzlokalisation sind jedoch in der mit einer akuten KoronarischaÈmie einhergehenden Nozizeption zu verzeichnen. Da die PraÈvalenz dieser Erkrankung bei der Frau erst jenseits der Menopause rasant zunimmt, sind die damit einhergehenden KomorbiditaÈten auf Diabetes und Hypertonie beschraÈnkt. Beim Mann dagegen konnten extreme Stresssituationen und Ûbergewicht als Risikofaktoren identifiziert werden [47]. Die mit dem Ereignis eines Koronarinfarktes einhergehende Schmerzsymptomatik ist bei der Frau entweder uÈberhaupt nicht vorhanden (sog. »silent angina«) bzw. die Schmerzen treten vermehrt im RuÈcken, im Abdomen und/ oder im temporomandibulaÈren Bereich auf. Dagegen laÈsst sich beim Mann die bekannte Schmerzlokalisation im Thorax mit Ausstrahlung in den linken Oberarm als hinweisender Faktor einer akuten Koronarstenosierung interpretieren. Aufgrund der bei der Frau unterschiedlichen Schmerzlokalisation wird haÈufig bei einer akuten Stenosierung der HerzkranzgefaÈûe die richtige Diagnose einer koronaren Herzerkrankung (KHK) entweder uÈberhaupt nicht gestellt, oder sie geht mit einer zeitlichen VerzoÈgerung einher, sodass eine adaÈquate Therapie erst verspaÈtet eingeleitet wird [48]. 22.6

Geschlechtsbedingte Unterschiede im Opioidkonsum und der Opioidwirkung

Bei den in der Schmerztherapie einzusetzenden Opioiden wird i. Allg. keine Differenzierung zwischen Mann und Frau gemacht. Dabei ist ein offensichtlicher Unterschied in der schmerzmodulierenden Wirkung der Hormone bei der Frau zu beruÈcksichtigen, und es sind die Auswirkungen der Hormone bei der Auswahl der fuÈr eine suffiziente Schmerztherapie verwendeten Opioide mit

249

22

einzubeziehen. Denn aus mehreren Studien ist zu entnehmen, dass im Rahmen einer patientenkontrollierten Analgesie (PCA) der maÈnnliche Patient eindeutig mehr Opioide (Diamorphin, Fentanyl, Morphin) als die Frau benoÈtigte und einen groÈûeren Schmerzlinderungseffekt aufwies [49]. Hieraus ist abzuleiten, dass ein m-Ligand beim Mann bessere Wirkungen zeigt. Bei der Frau hingegen muÈssen, wegen der schlechteren antinozizeptiven Wirkung dieser am m-Rezeptor angreifenden Opioide, zusaÈtzliche Strategien zur SchmerzbewaÈltigung eingesetzt werden. Diese Ergebnisse weisen auf erhebliche Unterschiede zwischen den Geschlechtern hin, und es sollten in der Schmerztherapie adaÈquatere Strategien zur Anwendung kommen [50]. Neu ist weiterhin, dass Opioide mit k-spezifischem Spektrum (z. B. Pentazocin, Nalbuphin, Butorphanol) bei der Frau eine hoÈhere WirkungseffektivitaÈt aufweisen als beim Mann [51]. Diese eindeutig hoÈhere EffektivitaÈt der am k-Rezeptor bindenden Opioide beruht nicht auf einer unterschiedlichen Pharmakokinetik. Vielmehr wird eine unter den weiblichen Hormonen bessere Ansprechrate der k-Bindungsstellen in ErwaÈgung gezogen [52]. Zum anderen zeigen die Untersuchungen, dass die Wirkungsunterschiede zwischen Mann und Frau bei postoperativen Schmerzen unter Nalbuphin fuÈr den Dosierungsbereich zwischen 5 und 10 mg gelten (. Abb. 22-5). Eine hoÈhere Dosis von 20 mg wies erst in der spaÈten postoperativen Phase (i 110 min) einen signifkanten Wirkungsunterschied auf [53]. Andererseits sind festsitzende, stereotypische Wahrnehmungsschemata auch ein Grund dafuÈr, dass Frauen postoperativ weniger schmerzorientiert therapiert werden als MaÈnner. Denn selbst das Krankenpflegepersonal, direkter Ansprechpartner bei postoperativen Schmerzen, stuft den postoperativen Schmerz bei der Frau geringer als beim Mann ein. Gerade weil die Frau den Schmerz eher und glaubwuÈrdiger als der Mann artikuliert, wird trotz augenfaÈlliger Pathologie und unter der Annahme einer vorherrschenden psychischen Komponente bei der Patientin eine geringere Schmerztoleranz angenommen. So konnte z. B. in einer Untersuchung nachgewiesen werden, dass Frauen bei postoperativen Schmerzen eher Sedativa als MaÈnner erhalten und letztlich verspaÈtet ein effektives Schmerzmittel appliziert bekommen. UrsaÈchlich spielen, wenn auch unbewusst, die gesellschaftlich implementierten Vorurteile eine Rolle, wobei die AttraktivitaÈt einer Patientin sogar in eine verminderte SchmerzberuÈcksichti-

250

22

Kapitel 22  Opioide, Gender, Sex und Schmerz ± geschlechtsspezifische Unterschiede

gung muÈndet. Dieses gegenuÈber Frauen unterschiedliche Verhalten von Ørzten und Pflegepersonal haÈngt von eingefahrenen Vorurteilen ab, dass Frauen mehr uÈber Schmerzen klagen als MaÈnner, Frauen in der Schilderung ihrer Schmerzen weniger gruÈndlich, sondern eher emotional gefaÈrbt sind, Frauen besser Schmerzen tolerieren und besser in der Lage sind, mit dem Schmerz umzugehen [54]. Und weil MaÈnner ihren Schmerzen viel gleichmuÈtiger gegenuÈberstehen, werden ihre SchmerzaÈuûerungen als realer eingestuft. Auch wird unabhaÈngig von der Erfahrung und rein deduktiv angenommen, dass attraktive Patientinnen den Schmerz besser tolerieren, Unterschiede, die bei maÈnnlichen Patienten weniger ins Gewicht fallen [55]. Letztlich weisen alle diese Untersuchungen darauf hin, dass psychologische und soziokulturelle Faktoren bei der Schmerzbeurteilung ebenso von Bedeutung sind wie bei der Auswahl des Analgetikums, mit dem der postoperative Schmerz bei einer Patientin behandelt wird [56, 57].

22.7

Unterschiedliche Schmerzbefreiung durch Opioidanalgetika bei Frauen und MaÈnnern

WaÈhrend klinische Studien mit nichtsteroidalen Analgetika (NSAID) bei Frauen eine geringere WirkeffektivitaÈt als bei MaÈnnern nachweisen konnten [58] und auch andere Nichtopioidanalgetika bei Frauen weniger effizient sind [9, 59], weisen Opioidanalgetika dagegen bei Frauen eine bessere Wirksamkeit auf. So konnte bei experimentellen Schmerzen und m-spezifischen Opioiden eine bessere WirkqualitaÈt bei weiblichen Probanden nachgewiesen werden [60, 61]. Als Ursache fuÈr diese bessere Analgesie wird eine vom Ústrogenspiegel abgaÈngige hoÈhere Ansprechrate des Opioidrezeptors diskutiert [13]. Denn im Rahmen von PET-Untersuchungen bei der Frau und dem Mann konnte eine oÈstrogenabhaÈngige Opioidrezeptoraktivierung in den schmerzrelevanten Arealen des zentralen Nervensystems dokumentiert werden (. Abb. 22-4).

. Abb. 22-4. Ústrogeninduzierte Zunahme der Opioidrezeptoraktivierung in schmerzrelevanten Arealen (Cingulum, Thalamus, Amygdalae) des zentralen Nervensystems, dargestellt mit Hilfe der Positronemissionstomographie. (Nach [62])

22.8  Genetische VariabilitaÈt bestimmt die Reaktion auf Opioide

Dieser Effekt und eine damit einhergehende bessere Ansprechrate auf m-spezifische Opioide sind jedoch zyklusabhaÈngig. Denn mit der Menstruation oder nach der Menarche liegt diese verstaÈrkte Reaktion auf ein Opioid nicht mehr vor. Dieser fuÈr Opioide typische Effekt scheint besonders fuÈr die Gruppe der mit dem k-Rezeptor interagierenden Liganden (Nalbuphin, Butorphanol, Pentacozin) von Relevanz zu sein [49]. So konnten z. B. die nach oralchirurgischen Eingriffen auftretenden Schmerzen bei der Frau besser und anhaltender mit den Opioiden Nalbupin [63] und Pentazocin [64] als beim Mann unterdruÈckt werden (. Abb. 22-5). ! Aufgrund der aktuellen Datenlage laÈsst sich fuÈr

die im Rahmen der postoperativen Schmerztherapie in der Klinik eingesetzten Analgetika ableiten, bei weiblichen Patienten vorzugsweise gemischtwirkende Agonisten/Antagonisten einzusetzen, die ihre analgetische Wirkung uÈber den k-Rezeptor vermitteln. Der postoperative Schmerz beim Mann laÈsst sich dagegen wirkungsvoller mit m-selektiven Liganden (z. B. Piritramid) behandeln.

22.8

251

22

Genetische VariabilitaÈt bestimmt die Reaktion auf Opioide

Die genetische Konstitution spielt eine Rolle bei der AusloÈsung pharmakodynamischer Effekte unter besonderer BeruÈcksichtigung von Schmerzbefreiung und Opioidgabe. So weisen rothaarige, hellhaÈutige Frauen einen signifikanten Unterschied zu dunkelhaÈutigen, blonden oder schwarzhaarigen Frauen auf. Aufgrund einer genetischen Besonderheit in der AllelveraÈnderung im Melanocortin-1-Rezeptorgen konnte sowohl beim weiblichen Tier als auch bei rothaarigen Frauen eine objektivierbare hoÈhere Empfindlichkeit auf Opioide nachgewiesen werden [65]. Das Gen, welches den Wechsel der Melaninsynthese sowohl im Haar als auch in der Haut von Rot/gelb-Pheomelanin auf Schwarz-Eumelanin einleitet, fuÈhrt bei doppelter AllelveraÈnderung in der AminosaÈurensequenz zu roten Haaren und einer hellen Haut. Der Prozentsatz von Frauen, bei dem diese Variante vorliegt, betraÈgt ca. 7 %, wobei diese Frauen eine verminderte Reaktion auf elektrisch induzierte Schmerzen und eine staÈrkere Reaktion auf

. Abb. 22-5. Unterschiedliche WirkeffektivitaÈt und Wirkungsdauer von Nalbuphin auf die postoperative Schmerzbefreiung bei

Mann und Frau. (Mod. nach [53])

252

den m-spezifische Opioidliganden Morphin-6-Glucuronid um bis zu 49 % aufwiesen (. Abb. 22-6). FuÈr die Tatsache, dass Frauen oÈfter und heftiger auf Schmerzen als MaÈnner reagieren, koÈnnte ein G-Protein verantwortlich sein, das eine wichtige Rolle bei der Ûbertragung von Neurotransmittersignalen auf die Nervenzellen und die Regulation zwischen den Nervenzellen spielt. Zwei amerikanische Forschergruppen kamen den Eigenschaften dieses Proteins unabhaÈngig voneinander bei Versuchen mit MaÈusen auf die Spur. Fehlt das Protein GIRK2 (G-protein coupled inward rectifying potassium channel) bei gentechnisch veraÈnderten MaÈuse-MaÈnnchen, so sinkt ihre Schmerzschwelle auf die der weiblichen Tiere. Das Fehlen des Proteins GIRK2 hatte bei weiblichen MaÈusen dagegen keine Auswirkungen [67]. Die Menge des Proteins GIRK2 beeinflusst aber auch die Wirksamkeit von Schmerzmitteln. Schmerzmittel, wie Morphin, zeigten bei den gentechnisch veraÈnderten MaÈusen nur noch eine abgeschwaÈchte Wirkung und auch Clonidin, das auch als Schmerzmittel eingesetzt wird, zeigte keine Wirkung, Auch die schmerzmildernde Wirkung von anderen Analgetika verschwand bei Schmerzschwelle auf einen elektrischen Reiz 24

22

0/1 Variante 2+ Variante

*

20 Schmerztoleranz (mA)

22

Kapitel 22  Opioide, Gender, Sex und Schmerz ± geschlechtsspezifische Unterschiede

18

den MaÈusen ohne GIRK2. Im hot-plate Test fand ein weiteres Forscherteam starke Unterschiede zwischen den Geschlechtern [68]. MaÈnnliche Mutanten litten unter der Hitze mehr als die Weibchen ± trotz Alkohol, Nikotin oder Cannabis. Auch wird diskutiert, dass MaÈnner, zumindest was Schmerzen betrifft, wegen des maÈnnlichen Hormons Testosteron die Schmerzafferenz ausblenden koÈnnen und deswegen weniger sensibel als Frauen reagieren. Der Hormoneffekt hilft den MaÈnnern, ihre Ausdauer bei KaÈmpfen zu behalten, wo das Testosteronniveau hoch ist [69]. Weil MaÈnner weniger empfindlich auf Schmerz reagieren, ist die Bereitschaft zu kaÈmpfen groÈûer. Das Forschungsteam hatte maÈnnlichen Spatzen Testosteron implantiert und ihre Reaktionszeit auf Schmerz gemessen. Sie bestimmten die normale Reizschwelle fuÈr Schmerz bei maÈnnlichen Spatzen, in dem sie ein Beinchen in einen Becher mit heiûem Wasser hielten. Es wurde gemessen, wie lange es dauert, bis der Vogel sein Bein wieder zuruÈckzog. Das Testosteron erlaubte es den Tieren, den Hitzereiz laÈnger auszuhalten, Auch wurde der Effekt eines Medikaments getestet, das die Wirkung von Testosteron blockierte. Hierauf reagierten die Tiere doppelt so sensibel auf einen Reiz, der uÈblicherweise zu keiner Reaktion fuÈhrte. Es wird vermutet, dass Testosteron zu einem Anstieg in den natuÈrlichen Schmerzmitteln, den sog. Enkephalinen fuÈhrt. Das gilt wahrscheinlich auch fuÈr Menschen, sodass Testosteron einen Effekt auf das Schmerzempfinden von Menschen hat und das Hormon bei MaÈnnern mit chronischen Schmerzen verabreicht werden koÈnnte. Dies umso mehr, weil maÈnnliche Schmerzpatienten oft Medikamente einnehmen, die das normale Testosteronniveau senken, sodass von einer Abnahme der Schmerzschwelle ausgegangen werden kann. 22.9

16

14

12

10 . Abb. 22-6. Zunahme der Schmerztoleranz auf einen elek-

trischen Reiz bei Probandinnen mit einer doppelten AllelveraÈnderung im Melanocortin-1-Rezeptorgen. (Mod. nach [66])

Geschlechtsspezifische Differenzierung in der Therapie geburtshilflicher Schmerzen

WaÈhrend im Rahmen einer groû angelegten Untersuchung von uÈber 2000 Patienten zur Therapie postoperative Schmerzen Frauen signifikant weniger Morphin benoÈtigten als MaÈnner [70], weisen andere Untersuchungen auf eine hoÈhere postoperative Schmerzrate und mehr Analgetikaverbrauch bei Frauen hin [71, 72]. Dagegen sind die geburtshilflichen Schmerzen Gender-spezifisch und werden primaÈr durch nozizeptive Afferenzen unter Dehnung der Zervix ausgeloÈst. Bei dieser Form eines viszeralen Schmerzes zeigte sich, dass sich

22.10  Praktische Bedeutung geschlechterbedingter Unterschiede

sowohl mit dem m-spezischen Opioid Morphin als auch mit dem k-spezifischen Liganden U-50,488H experimentell eine ausreichende Blockade der nozizeptiven Afferenzen erreichen lieû [73]. Hierbei scheint im Gegensatz zu anderen intraoperativen Schmerzen die Wirkung uÈber eine Untergruppe von k-Bindestellen vermittelt zu werden. Denn trotz gleichzeitiger Gabe der spezifischen k-Antagonisten, war mit dem k-Liganden eine suffiziente Analgesie, gemessen mit Hilfe elektromyographischer AktivitaÈten, zu erreichen (. Abb. 22-7). Solche Ergebnisse geben Hinweise dafuÈr, eine Optimierung der Schmerztherapie waÈhrend der Geburt mit Hilfe einer Untergruppe von Analgetika zu erreichen. Weitere Hinweise fuÈr die Bedeutung unterschiedlicher Opioidbindestellen im Rahmen einer geburtshilflichen Schmerzlinderung ist der Wechsel von dem fruÈher haÈufig verwendeten Pethidin (Dolantin) zu dem Partialagonisten Meptazinol (Meptid). So konnte bei geburtshilflichen Schmerzen mit Meptazinol nicht nur eine bessere VertraÈglichkeit, sondern auch eine Optimierung der Schmerzlinderung nachgewiesen werden [74, 75]. Solche Ergebnisse sind insofern von Bedeutung, weil die in der heutigen Zeit oft propagierte sog. schmerzfreie Geburt mit Hilfe einer KatheterperiduralanaÈsthesie kritisch hinterfragt werden muss. Denn in Langzeituntersuchungen war eine hoÈhere Inzidenz von Analeinrissen mit spaÈteren Schmerzen zu verzeichnen, und, aÈhnlich wie beim Kaiserschnitt, war dies mit einer hoÈheren Inzidenz chronischer Schmerzen vergesellschaftet [76, 77]. 50 (-)U50,488 alone (-)U50,488 after norBNI

Δ EMG Activity (Hz)

40 30

*

20 10

* *

*

*

0 control 0.01

0.03

0.1

* *

0.3

*

*

*

1

3

NLX

(-)U50,488 (mg/kg IV) . Abb. 22-7. Trotz gleichzeitiger Gabe eines spezifischen

Antagonisten (norBNI) fuÈhrt der k-Ligand U50,488 zu einer dosisproportionalen Minderung der Schmerzafferenz bei Zervixdilatation der Ratte. Erst der unspezifische Antagonist Naltrexon (NLX) hebt die Schmerzblockade wieder auf

253

22

22.10 Praktische Bedeutung geschlechter-

bedingter Unterschiede in der Schmerztherapie

WaÈhrend bis zum Jahre 1970 der generelle Trend darin bestand, bezuÈglich der Schmerzempfindung zwischen Mann und Frau keinen Unterschied zu machen, ging der anschlieûende Trend dahin, dass Frauen eine niedrigere Schmerzschwelle, eine geringere Schmerztoleranz und eine hoÈhere Schmerzbewertung als MaÈnner aufweisen [78]. So gehen Frauen mehr auf ihre Schmerzen ein, diskutieren intensiver daruÈber, begegnen dem Schmerz konstruktiv und suchen auch nach alternativen, ganzheitlichen Verfahren einer Schmerztherapie [79, 80]. Dagegen neigt der Mann eher zur Schmerztolerierung, er sucht eher den Weg der Selbstbehandlung (z. B. Alkohol) bzw. duldet eher eine ungenuÈgende Schmerzbeseitigung [81]. Und obgleich Frauen wegen ihrer Schmerzen viel eher einen Arzt aufsuchen, so werden sie doch unzureichend durch das Fachpersonal therapiert. Zumindest initial werden die verbalen SchmerzaÈuûerungen weniger auf biologische Unterschiede in der SchmerzausloÈsung bezogen, und es wird der emotionalen und psychischen Mitbeteiligung der Schmerzen mehr Bedeutung zuteil. Aufgrund von ForschungsaktivitaÈten auf dem Gebiet von Gender und Schmerz sind auch in naher Zukunft weitere wichtige Erkenntnisse zu frauenspezifischen Schmerzen und ihrer Behandlung zu erwarten [82, 83], wobei die Ergebnisse dann auch ihren Weg in die Praxis finden sollten. So koÈnnen z. B. die geschlechtsspezifischen Unterschiede zu einer maûgeschneiderten Behandlung mit Opioiden [57] und nichtopioidartigen Analgetika [9, 59] fuÈhren. Und obgleich aktuell noch viele Fragen unbeantwortet bleiben, z. B. wie im Detail das Geschlecht und der Schmerz miteinander verbunden sind, so ist doch die zukuÈnftige Entwicklung auf diesem Gebiet recht hoffnungsvoll. WaÈhrend geschlechterbedingte Unterschiede nur einen Teil nichtpsychosozialer Variablen im Schmerzempfinden, in der SchmerzaÈuûerung und der Wirkung von Schmerzmittel ausmachen, ist das Ausmaû anderer geschlechtsunabhaÈngiger Faktoren auf das Schmerzempfinden wie z. B. Alter, Rasse und FaÈhigkeit, mit Stress umzugehen, noch nicht eindeutig geklaÈrt (. Abb. 22-3). Jedoch weisen Untersuchungen zu geschlechterbedingten Unterschieden im Schmerzempfinden auf mehrere Gebiete hin, die von praktischer Bedeutung sind:

254

22

Kapitel 22  Opioide, Gender, Sex und Schmerz ± geschlechtsspezifische Unterschiede

1. Untersuchungen zu geschlechterbedingten Unterschieden erweiterten das VerstaÈndnis zu den pathophysiologischen VorgaÈngen bei besonderen Schmerzsyndromen. So konnten z. B. Untersuchungen zur Schmerzsymptomatologie von Frauen waÈhrend des Menstruationszyklus die Bedeutung gonadotroper Hormone im Rahmen spezifischer und nichtspezifischer pathophysiologischer Prozesse unterstreichen. 2. Geschlechtsbedingte Unterschiede im Schmerzempfinden und der Schmerzartikulation haben Auswirkungen auf eine patientenadapatierte Schmerztherapie. Dies wird besonders durch die Ergebnisse mit unterschiedlichen Opioidanalgetika deutlich [57], die RuÈckschluÈsse auf unterschiedliche Prozesse bei akuten und chronifizierten Schmerzen zulassen. 3. Untersuchungen zu geschlechtsabhaÈngigen Beziehungen von Schmerzreaktion und psychosozialen Variablen (mit dem Schmerz fertig werden, Grundstimmung, familiaÈre Belastung usw.) deuten darauf hin, dass kognitiv-verhaltenstherapeutische Behandlungen bei Mann und Frau unterschiedlich wirken.

4. Forschungsergebnisse zu einer geschlechtsspezifischen Schmerztherapie koÈnnen zu neuen hormonellen Behandlungsstrategien fuÈhren. So scheint z. B. die AntioÈstrogentherapie mit Tamoxifen auch bei der Therapie der zyklisch bedingten Mastopathie [84, 85] und bei der Gynekomastie des Mannes [86] wirksam zu sein. Es ist deshalb plausibel, dass eine AntioÈstrogentherapie auch bei der Therapie anderer chronischer Schmerzsyndrome, die hormonell beeinflussbar sind, wie z. B. die rheumatoide Arthritis, das temporomandibulaÈre Schmerzsyndrom oder die Fibromyalgie, wirksam sind. Andererseits koÈnnte eine AntioÈstrogentherapie auch die Wirkung anderer Analgetika potenzieren, woraus sich ein guÈnstigeres Wirkprofil ableiten lieûe. ! Deshalb ist der Einsatz unterschiedlicher sexueller

Steroidhormone im Rahmen einer Therapie chronischer Schmerzen ein wichtiges und noch unzureichend erschlossenes Forschungsgebiet, das besonders im Rahmen einer geschlechtspezifischen Schmerztherapie das therapeutische Armentarium in Klinik und Praxis bereichern kann.

23 Schmerz und Opioide bei Kindern und Neugeborenen 23.1

Entwicklung der Schmerzempfindung beim Neonaten und Kleinkind ± 255

23.3

Ontogenese des Opioidsystems beim Neu- und FruÈhgeborenen ± 261

23.2

Langzeitauswirkungen wiederholter Schmerzen beim Neonaten ± 256

23.4

Ontogenese der Opioidrezeptorpopulationen

23.2.1 23.2.2

23.2.3

Nozizeption beim Neugeborenen Folgen ungenuÈgender intraoperativer Schmerzblockade beim Neugeborenen ± 259 Pronozizeptive Bahnung beim Neonaten ± 261

± 256

Neugeborene koÈnnen ihre Schmerzen nicht schildern. Personen, die sich mit ihnen beschaÈftigen, sind zur Evaluierung und EinschaÈtzung moÈglicher Leiden auf die Auswertung koÈrperlicher Parameter wie etwa den Status verschiedener Stresshormone und auf die subtile Auswertung von VerhaltensaÈnderungen angewiesen. Die UnfaÈhigkeit, sich sprachlich auszudruÈcken, war daher mit verantwortlich dafuÈr, dass man den SaÈuglingen lange Zeit ein bewusstes Schmerzempfinden abgesprochen hat. Diese PraÈmisse wurde auch wissenschaftlich begruÈndet, indem man davon ausging, dass das Nervensystem noch nicht weit genug entwickelt sei, um ein dem Erwachsenen aÈhnliches Schmerzempfinden zu erlauben. Andererseits nahm man aber auch an, dass der Neonat den erlittenen Schmerz wieder vergessen wuÈrde. Diese Sichtweise hat sich jedoch in den vergangenen Jahren grundlegend geaÈndert, und die Schmerzbehandlung von SaÈuglingen und Kleinkindern ist zu einem eigenen, wichtigen Gebiet innerhalb der Medizin geworden. 23.1

Entwicklung der Schmerzempfindung beim Neonaten und Kleinkind

Schon in der 22. Woche nach der Konzeption ist das nozizeptive System voll ausgebildet und funktionsfaÈhig [504]. Und obgleich eine Myelinisierung zum Zeitpunkt der Geburt noch nicht vollstaÈndig ist, deutet dies, im Vergleich zum Erwachsenen, nur auf eine verlangsamte Leitung

± 262

23.5

Praktische Ûberlegungen zum Einsatz der Opioide bei Neugeborenen ± 265

23.5.1

Postoperative Analgesie beim Neugeborenen ± 267 Schlussfolgerungen zum Einsatz der Opioide beim Neonaten ± 268

23.5.2

nozizeptiver Impulse hin. Diese verlaÈngerte Impulsleitung wird jedoch vollstaÈndig durch die kuÈrzeren Wege des schmerzleitenden Systems zu den hoÈheren schmerzmodulierenden Zentren kompensiert, sodass ein FruÈh- oder Neugeborenes in gleichem Maûe wie der Erwachsene Schmerzen empfindet, diese jedoch nur anders ausdruÈckt [505, 506]. So ist der Neonat und das Kleinkind zwischen dem 1. und 3. Jahr nicht in der Lage, seine subjektiven Schmerzempfindungen ausreichend zu artikulieren. Es ist jedoch zwischenzeitig anerkannte Lehrmeinung, dass es wie der Erwachsene Schmerzsensationen empfinden kann. Letztlich koÈnnen solche Schmerzreaktionen nicht nur an einem Anstieg der Hormonkonzentrationen, insbesondere von Glukagon, Kortikosteroiden, Adrenalin, Noradrenalin, ACTH und STH abgelesen werden [494±496]. Vielmehr werden, wenn das nozizeptive Bombardement uÈber eine laÈngere Zeit anhaÈlt, auch andere Teilfunktionen des Organismus beeinflusst. Es herrscht ein Hypermetabolismus mit gesteigerter Glukogenolyse vor, eine HyperglykaÈmie und HyperlaktaÈmie sowie ein gesteigerter Stickstoffumsatz mit erhoÈhten Anteilen freier FettsaÈuren im Plasma. Von Seiten des Kreislaufs kommt es zu einer Zunahme der Herzfrequenz, des Blutdrucks und insbesondere des pulmonalarteriellen Druckes [497, 498] sowie einer verminderten O2-SaÈttigung des arteriellen Blutes und einer Abnahme der Hautdurchblutung [499].

256

23

Kapitel 23  Schmerz und Opioide bei Kindern und Neugeborenen

Langfristig fuÈhren solche insbesondere in der postoperativen Phase auf der Intensivstation sich wiederholenden nozizeptiven Insulte beim Neugeborenen (Absaugen, Insertion eines Magenschlauches, Punktion der Ferse, mechanische Beatmung u. a.) nicht nur zu Verminderung der Hirndurchblutung und der zerebralen O2-Versorgung [500], sondern auch zu einem erhoÈhten Risiko intraventrikulaÈrer Blutungen und periventrikulaÈrer Leukoplakien [500, 501]. Auch muss von einer Zunahme von Infekten sowie einer verzoÈgerten postoperativen Heilung ausgegangen werden, Faktoren, die letztlich Outcome und MorbiditaÈt maûgeblich beeinflussen [502, 503]. Besonders hervorzuheben ist jedoch die Tatsache, dass das Schmerzhemmsystem beim Neugeborenen noch nicht voll ausgebildet ist, sodass nozizeptive Impulse ungebremst zu den schmerzverarbeitenden Zentren geleitet werden. Es konnte nachgewiesen werden, dass besonders Schmerzreize beim Neugeborenen noch schneller als beim Erwachsenen empfunden werden, weil das Schmerzleitsystem anders als das der Erwachsenen arbeitet. So weisen Neugeborene einen staÈrkeren und laÈnger anhaltenden Schutz- und Wegziehreflex als Erwachsene auf. Des Weiteren nehmen die Nervenendigungen, die den Schmerz in der Haut aufnehmen, beim Neugeborenen ein groÈûeres Areal ein, und es liegen Schmerz- und BeruÈhrungsbahnen im RuÈckenmark, im Gegensatz zum Erwachsenen, dicht beieinander. Dies bedeutet, dass ein nozizeptiver Reiz auf einen kleinen Hautbezirk vom Neonaten als groûflaÈchigerer Schmerz empfunden wird. Unterstrichen werden solche aus experimentellen Ergebnissen abgeleiteten Annahmen durch die Beobachtung, dass das Neugeborene sowohl auf einfache BeruÈhrung als auch auf einen Schmerzreiz mit einem uÈblichen Reflex, d. h. dem Wegziehen des betroffenen KoÈrperteils, reagiert (. Abb. 23-1). 23.2

Langzeitauswirkungen wiederholter Schmerzen beim Neonaten

23.2.1 Nozizeption beim Neugeborenen Obgleich alle im Rahmen von tierexperimentellen Untersuchungen gewonnenen Daten zur Schmerzverarbeitung beim Neonaten nicht ohne Weiteres auf den Menschen uÈbertragen werden koÈnnen, so weisen sie doch gewisse Parallelen auf und geben ErklaÈrungen fuÈr viele der in der Klinik zu beobachtenden Besonderheiten. So ist in der

. Abb. 23-1. Sensibles Nervensystem vom Neugeborenen im

Vergleich zum Erwachsenen

22. Woche nach der Konzeption beim Tier das nozizeptive System schon voll ausgebildet, und es sind auch die Projektionsbahnen vom Thalamus zum sensorischen Kortex funktionsfaÈhig. Jedoch ist zu diesem Zeitpunkt die Entwicklung des neuronalen Netzes im RuÈckenmark noch nicht voll abgeschlossen. Es entwickeln sich zuerst die Motorneuronen im Vorderhorn des RuÈckenmarks, gefolgt von ihren synaptischen Verbindungen zu den Interneuronen. Erst anschlieûend werden die Neurone der Lamina I und II sowie die fuÈr die

23.2  Langzeitauswirkungen wiederholter Schmerzen beim Neonaten

nozizeptive Weiterleitung verantwortlichen Verbindungen gebildet. In der 1. postpartalen Woche entstehen schlieûlich Synapsen zwischen dem afferenten Neuron und Interneuronen, die fuÈr eine nozizeptive Weiterleitung und einer an dieser ersten Schaltstelle stattfindenden VerstaÈrkung und besonders einer DaÈmpfung verantwortlich gemacht werden koÈnnen. Somit ist es auch nicht verwunderlich, dass bei neugeborenen Tieren und bei der ihnen eigenen Unreife synaptischer Verbindungen zwischen primaÈrer Afferenz und Hinterhornneuron, bei Reizung sensibler Nervenfasern, starke Schwankungen in der Latenz der jeweilige Reizantwort auftreten. Øhnlich solcher beim Tier nachgewiesenen unzureichenden Ausreifung von Afferenzen zu Interneuronen sind beim FruÈh- und Neugeborenen besonders die Mechanismen der Schmerzhemmung noch nicht voll entwickelt, weil hemmende Interneurone erst nach der Geburt gebildet werden. Niederschwellige, von den Ab- und Ad-Fasern ausgehende Reize werden sofort an die oberflaÈchlichen, im Hinterhorn liegenden nozizeptiven Neurone weitergeleitet, wobei die wiederholte Reizung eine Sensibilisierung des nozizeptiven Systems zur Folge hat. Und weil sich zusaÈtzlich die deszendierenden, antinozizeptiven erst viel spaÈter als die nozizeptiven Bahnen entwickeln, ist der koÈrpereigene Schutzmechanismus bzw. die Schmerzabwehr noch unzureichend bzw. liegt uÈberhaupt noch nicht vor. Es ist deshalb davon auszugehen, dass Neugeborene auf eine sonst harmlose BeruÈhrung mit einen Reflex wie auf einen Schmerz reagieren. Ein echter Schmerzreiz auf eine kleine HautoberflaÈche wird, wegen der GroÈûe und der Ûberlappung rezeptiver Felder, als groûflaÈchiger Schmerz empfunden. Schmerz nach Trauma oder Verletzung haÈlt deshalb auch laÈnger an, und alle Impulse werden ungebremst zu den hoÈheren schmerzverarbeitenden Zentren weitergeleitet. In der Folge dieser ungebremsten Nozizeption werden uÈber eine Expression sog. »immediate early genes« UmbauvorgaÈnge in der Zelle angestoûen, die zu einer Sensibilisierung auf alle zukuÈnftigen Reize fuÈhren. Es resultiert eine Abnahme der Schmerzschwelle, verbunden mit einer gesteigerten Empfindlichkeit auf alle spaÈteren sensorischen Reize. Solche direkt nach der Geburt im RuÈckenmark ablaufenden ontogenetischen Entwicklungen haben nichts mit der supraspinalen Schmerzverarbeitung zu tun. Untersuchungen bei Neugeborenen konnten dokumentieren, dass eine eindeutige

257

23

Gestik auf einen schmerzhaften Reiz wie Grimassieren erst nach der 26.±31. Woche post partum nachweisbar ist, waÈhrend vegetative Reaktionen schon ab der 22. Gestationswoche voll entwickelt sind. Zwar sind die fuÈr eine affektive Komponente notwendigen supraspinalen nozizeptiven Areale wie Thalamus, Gyrus cynguli, somatosensorischer Kortex und ihre thalamokortikalen Verbindungen schon mit der Geburt vorhanden. Weil sie aber, aÈhnlich wie bei den schmerzhemmenden Neuronen im RuÈckenmark, zum Zeitpunkt der Geburt noch unvollstaÈndig ausgebildet sind, kommt der Sinneseindruck »Schmerz« viel spaÈter zustande. Des Weiteren weisen die Neuronen des somatosensorischen Kortex groÈûere rezeptive Felder als beim Erwachsenen auf, sodass alle sensorischen Reize von sowohl nichtnozizeptivem als auch nozizeptivem Charakter in der Folge verlaÈngert und verstaÈrkt empfunden werden. Daraus resultiert eine Bahnung nozizeptiver Afferenzen, die fuÈr das spaÈtere Leben eine Abnahme der Schmerzschwelle zur Folge hat. Eine solche Sensibilisierung bei menschlichen FruÈh- und Neugeborenen fuÈhrt zu einer Hyperalgesie und Allodynie. Im Gegensatz zum Erwachsenen sind hierfuÈr die niederschwelligen Ab-Fasern verantwortlich, und das FruÈhgeborene wird bei repetitiven BeruÈhrungsreizen ein gesteigertes Abwehrverhalten und/oder zunehmende Agitationen aufweisen. Aufgrund solcher Erkenntnisse wird nicht nur die Forderung nach einer ausreichenden Blockade bei Schmerzen verstaÈndlich. Vielmehr laÈsst sich hieraus auch die Forderung nach einer praÈemptiven Analgesie ableiten, d. h. einer noch vor dem eigentlichen eintreffenden nozizeptiven Reiz ausreichenden Schmerzblockade. Dieses Konzept ist insbesondere fuÈr das FruÈh- und Neugeborene, das sich einem operativen Eingriff unterziehen muss, von Bedeutung. Dies nicht deshalb, weil bei ihm die Ausreifung des antinozizeptiven Systems noch nicht abgeschlossen ist. Vielmehr wird bei einer ungenuÈgenden Analgesie beim Neugeborenen, aufgrund der PlastizitaÈt neuronaler Strukturen, der Grundstein fuÈr ein spaÈter gesteigertes Schmerzverhalten gelegt. Aus diesem Grunde sollte, insbesondere in der Neonatologie, bei Schmerzen eine suffiziente Analgesie angestrebt werden, bzw. es sind fuÈr das FruÈh- und Neugeborene unangenehme oder auch nur wenig schmerzhafte Manipulationen auf ein Minimum zu beschraÈnken.

258

23

Kapitel 23  Schmerz und Opioide bei Kindern und Neugeborenen

Unterstrichen werden solche experimentellen Ergebnisse durch kontrollierte Untersuchungen, bei denen die Langzeitauswirkungen einer ohne Analgesie/AnaÈsthesie ausgefuÈhrten Zirkumzision bei termingerechten Neugeborenen untersucht wurden. Hierbei zeigten sich, neben gesteigerter IrritabilitaÈt, verminderter Aufmerksamkeit und Orientierung, eine verminderte Kontrolle des Verhaltens und der Motorik sowie ein veraÈndertes Schlaf- und Saugverhalten bis zum 7. postoperativen Tag. Nach dem schmerzhaften Ereignis war noch bis zum 6. Monat eine gesteigerte Schmerzreaktion nachweisbar [507]. Zwar sind Langzeitauswirkungen wiederholter schmerzhafter Reize bei Neugeborenen auf das spaÈtere Verhaltensmuster groÈûtenteils noch unbekannt, jedoch weisen Vergleichsuntersuchungen bei FruÈhgeborenen auf eine gesteigerte Reaktion des kardiovaskulaÈren Systems bei einem gleichzeitig abgeschwaÈchten Verhaltensmuster hin; hierbei korrelierte die Gesamtzahl invasiver Maûnahmen sehr eng mit den VerhaltensauffaÈlligkeiten [508]. Wiederholte schmerzhafte Impulse scheinen deshalb speziell beim FruÈhgeborenen neurobiologische Mechanismen innerhalb der verschiedensten Ebenen des Schmerzsystems zu veraÈndern. So muÈndeten wiederholte schmerzhafte Insulte beim FruÈhgeborenen, im Vergleich zu Termingeborenen, in lokale VeraÈnderungen und eine Verminderung der Schmerzschwelle sowie eine Zunahme neuraler Innervationen der Haut [509]. Auch belegen mehrere Untersuchungen, dass fruÈhe Lernerfahrungen von Kleinkindern das spaÈtere Schmerzerleben und -verhalten insofern praÈgen, als sie sich im Erwachsenenalter in den verschiedensten gastrointestinalen StoÈrungsbildern niederschlagen. So fuÈhren wiederholte Schmerzafferenzen beim Neonaten zu einer Sensibilisierung peripherer Nervenstrukturen [510], die sich im 4. Lebensjahr in einer zur Vergleichsgruppe hoÈheren Somatisierung von Beschwerden unklarer Genese manifestiert [511]. Auch fielen Kinder mit wiederholter Schmerzexposition durch soziale Isolierung und schlechtere schulische Leistungen [512] sowie durch ausgepraÈgte emotionale Reaktio-

nen auf [513]. Solche Daten weisen auf die Bedeutung der durch fruÈhe nozizeptive Einwirkungen ausgeloÈsten VeraÈnderungen im spaÈteren Verhaltensmuster hin. Diese durch die Summe der Nozizeption gepraÈgten Programmmuster, der Neuromatrix, schlagen sich in der spaÈteren Kindheit und im Erwachsenenalter in veraÈnderten hormonellen Reaktionsmustern und einem gestoÈrten Lernverhalten nieder [514]. Solche aus der Klinik abgeleiteten Daten konnten experimentell an der Ratte in einer verminderten Exploration der neuen Umgebung, das fruÈhzeitige Auftreten kognitiver Defekte und einen damit einhergehenden Verlust von NeuronenverbaÈnden im Hippokampus [515, 516] untermauert werden. Auch konnten eine geschwaÈchte immunologisch-endokrinologische Reaktion auf Stress, eine auf nozizeptive Reize gesteigerte AlkoholpraÈferenz und eine Verminderung der c-fos-Expression im sensorischen Kortex [517] nachgewiesen werden. Solche LangzeitveraÈnderungen, die insbesondere die PlastizitaÈt des Hypothalamus, des Vorderhirns und des Hippocampus beim Neugeborenen betreffen, scheinen mit der gesteigerten Expression der Glucokortikoide und einer damit einhergehenden verminderten Bindung am Rezeptorsystem, das das autonome Nervensystem, die Hypothalamus-Hypophsen-NNR-Achse und das spaÈtere Stressverhalten reguliert, einherzugehen [518, 519]. Obgleich eine Extrapolation auf den Menschen der in dieser fruÈhen Stufe der Entwicklung unter Nozizeption an der Ratte nachgewiesenen VeraÈnderungen nur mit Vorsicht vorgenommen werden sollte, so verweisen die Ergebnisse doch auf die Bedeutung der durch nozizeptive Reize eingeleiteten VeraÈnderungen beim Neonaten, die fuÈr das spaÈtere Verhalten im Erwachsenenalter maûgeblich sind [520]. Solche erst spaÈter sichtbaren VerhaltensaÈnderungen werden insofern verstaÈndlicher, wenn man das Ausmaû der Aufzweigungen und die GesamtlaÈnge der Dendriten im Laufe der Entwicklung vom Neonaten uÈber das Kleinkind bis hin zum Erwachsenen beruÈcksichtigt. Denn es sind die synzitialen Verzweigungen die durch

. Tabelle 23-1. Zunahme einiger neuronaler Parameter waÈhrend der postnatalen Entwicklung menschlicher Neuronen

aus der mittleren Frontalfurche. (Nach [521]) Dendriten

Neonat

6 Monate

24 Monate

Erwachsener

Anzahl der Verzweigung (n) GesamtlaÈnge [mm]

3,1 4203

15,6 2367

16,7 3259

40,8 6836

23.2  Langzeitauswirkungen wiederholter Schmerzen beim Neonaten

259

23

. Abb. 23-2. Ontogenese fusiformer Zellen des ZNS beim Menschen. Die erste Zelle links repraÈsentiert die Aufzweigungen

bei einem 2-jaÈhrigen Kind, die letzte Zelle (ganz rechts) die synzytiale Verzweigung einer Nervenzelle bei einem Erwachsenen. (Nach [521])

den stetigen neuronalen Input nach der Geburt praÈfomiert werden und die fuÈr das spaÈtere Verhalten praÈdestinierend sind (. Abb. 23-2; . Tabelle 23-1). FuÈr die im Rahmen einer Narkose verwendeten AnaÈsthetika spielen die Opioide, nach neueren Erkenntnissen, insofern eine bedeutsame Rolle, als die uÈblichen im Rahmen der AnaÈsthesie verwendeten Narkotika wie z. B. Isofluran, Midazolam und Lachgas experimentell bei neugeborenen Ratten zu spaÈten Lerndefekten mit ausgedehnten apoptotischen Neurodegenerationen (insbesondere im Hippocampus, anteriore Thalamuskerne, MamilllarkoÈrper und hintere Kortexanteile) gefuÈhrt haben. Dies zumal die Phase der Synptogenese mit einer gesteigerten VulnerablitaÈt auf NMDA-Antagonisten und GABAerge Mimetika einhergeht, einer Phase, die bei der Ratte 2 Tage vor der Geburt beginnt und bis zu 2 Wochen post partum anhaÈlt. Beim Menschen beginnt dagegen diese Phase gesteigerter neuronaler VulnerabilitaÈt mit dem

3. Trimenon und endet erst mehrere Jahre nach der Geburt. Da die Opioide an eine andere Rezeptorgruppe angreifen, ist hieraus die Forderung abzuleiten, im Rahmen der Neugeborenen- und KinderanaÈsthesie bzw. bei gynaÈkologischen Operationen von Schwangeren eine vorzugsweise durch Opioide vermittelte Narkosetechnik einzusetzen. ! Eine suffiziente Analgesie und eine AnaÈsthesie

mit einem Opioid sind beim Neugeborenen deshalb Voraussetzung fuÈr die Vermeidung von Langzeiteffekten und spaÈteren Lerndefiziten.

23.2.2 Folgen ungenuÈgender

intraoperativer Schmerzblockade beim Neugeborenen

Aufgrund mehrerer FehleinschaÈtzungen und Fehlinformationen sind Neugeborene im Vergleich zum Erwachsenen bei schmerzhaften Eingriffen lange Zeit unzureichend therapiert worden [494]:

260

23

Kapitel 23  Schmerz und Opioide bei Kindern und Neugeborenen

1. »Neugeborene haben weniger Schmerzrezeptoren in der Haut.« Diese Behauptung kann neurohistologisch nicht bestaÈtigt werden. 2. »Die schmerzleitenden Fasern beim Neugeborenen haben keine Myelinschicht und sind deswegen funktionslos.« Diese Behauptung trifft neurofunktionell nicht zu, weil die Ad-Fasern im Vergleich zu den Ab-Fasern auch beim Erwachsenen nur eine duÈnne Myelinschicht aufweisen und die wichtigen schmerzleitenden C-Fasern uÈberhaupt keine Myelinschicht haben. 3. »Das ZNS und insbesondere der Kortex sind unterentwickelt. Eine Schmerzperzeption kann nicht stattfinden.« Neurofunktionell werden die Schmerzafferenzen in subkortikalen Zentren umgeschaltet, wodurch hormonelle und neurovegetative Abwehrmechanismen ausgeloÈst werden. Kortikale Hirnareale sind hierfuÈr nicht notwendig. 4. »Die hohen koÈrpereigenen Endorphinkonzentrationen schuÈtzen den Neugeborenen vor Schmerzen.« Zum einen ist das endorphinerge System beim Neugeborenen noch nicht voll ausgebildet, und zum anderen wird eine koÈrpereigene Endorphinproduktion erst durch den Schmerz angeregt. Diese reicht jedoch bei starken und staÈrksten Schmerzen zur alleinigen Schmerzkupierung nicht aus. 5. »Neugeborene haben noch keine Erinnerung an Schmerzreize.« Diese Behauptung trifft ebenso fuÈr den Erwachsenen zu, weil die Reaktion auf einen Schmerzreiz nicht unbedingt angelernt werden muss. Es ist deshalb ein Aberglaube zu meinen, dass SaÈuglinge und Kleinkinder keine oder nur wenig Schmerzen unter einer Operation empfinden. Zwar koÈnnen Neugeborene und Kleinkinder ihr subjektives Schmerzempfinden nur vage ausdruÈcken, die objektive nozizeptive Komponente kann aber sehr wohl als Nervenimpuls und humorale Reaktion quantifiziert werden. So reagieren SaÈuglinge auf einen nozizeptiven Reiz mit Wegziehen der betroffenen ExtremitaÈt und mit Schreien [522]. Auch sind schon in der 22. Gestationswoche die fuÈr Empfindung von Schmerzen notwendigen Nervenbahnen und Organe entwickelt und funktionstuÈchtig. Obgleich bei Neugeborenen weder die Myelinisierung der Nervenbahnen noch die Reifung der Hirnrinde abgeschlossen sind, verzoÈgert

der unvollstaÈndige Myelinmantel allenfalls die Leitungsgeschwindigkeit. DafuÈr sind jedoch beim Neugeborenen die Nervenbahnen zum Gehirn viel kuÈrzer. Die objektiven nozizeptiven Komponenten sind beim Neugeborenen besonders anhand der humoralen Faktoren abzulesen. So wird sich eine fehlende oder inadaÈquate Analgesie nicht nur in Form von definierten kardiorespiratorischen VeraÈnderungen, besonders einem Anstieg im pulmonalarteriellen Druck und Widerstand, niederschlagen, sondern auch in speziellen hormonellen und metabolischen VeraÈnderungen [523]. Wenn Neonaten uÈberhaupt etwas wahrnehmen, dann am staÈrksten den Schmerz, der zur Freisetzung von Stresshormonen (ACTH, Adrenalin, Noradrenalin, Kortikosteroiden, Wachstumshormonen, Glukagon, Aldosteron) fuÈhrt. ACTH stimuliert die Synthese und Sekretion der Glukokortikoide Kortikosteron, Kortisol und Kortison aus der Nebennierenrinde. Des Weiteren steigern waÈhrend und nach der Operation die Katecholamine, Glukokortikoide und eine verminderte Insulinsekretion die Gykogenolyse und Glukoneogenese bei einer gleichzeitig im peripheren Gewebe herabgesetzten Glukoseaufnahme [494]. Es resultieren deshalb bei unzureichender intraoperativer Stressabschirmung beim Neu- und insbesondere beim FruÈhgeborenen eine HyperglykaÈmie, eine HyperlaktaÈmie sowie ein gesteigerter Eiweiûabbau. ! Durch die vermehrte Substratmobilisation von

Glukose aus Glykogen (Gykogenolyse), Proteinen und Fettreserven (Lipolyse) mit folgender HyperglykaÈmie, HyperlaktaÈmie, gesteigerter Stickstofffreisetzung und Zunahme der freien FettsaÈuren im Blut geraÈt der Organismus in einen mehrere Tage anhaltenden hyperglykaÈmischen Hypermetabolismus. Dieser zehrt an der KoÈrpersubstanz, schwaÈcht die Infektionsabwehr und hat eine HyperkoabilitaÈt zur Folge.

Nicht ausreichend anaÈsthesierte SaÈuglinge befinden sich noch 3 Tage nach einem operativen Eingriff in einem katabolen Zustand [495]. Solche hormonellen und metabolischen Reaktionen auf Schmerz sind besonders im fruÈhen Lebensalter ausgepraÈgt, wobei die unzureichende intraoperative Analgesie beim Neonaten sich durch nachweisbare Stressreaktionen manifestiert, die sich u. a. auch in einer pathologischen ErhoÈhungen des pulmonalarteriellen Drucks widerspiegelt [497, 498].

23.3  Ontogenese des Opioidsystems beim Neu- und FruÈhgeborenen

So ist auch der klinische Verlauf von Neonaten, die mit Fentanyl oder Sufentanil behandelt werden, hinsichtlich postoperativer Komplikationen eindeutig besser. Als besonderer Hinweis kann die Tatsache gewertet werden, dass trotz Fentanylgabe postoperativ weniger haÈufig eine Respiratortherapie erforderlich war [497, 498]. 23.2.3 Pronozizeptive Bahnung

beim Neonaten

Obgleich durch die Zunahme nozizeptiver Reize VeraÈnderungen in der Entwicklung des ZNS schon vor 30 Jahren vermutet wurden, konnten erst in den letzten Jahren mehrere Untersuchungen dokumentieren, dass ein sowohl uÈbermaÈûiger als auch ein mangelnder Input an Reizen bei neugeborenen Ratten zu dauerhaften Ønderungen in der hormonellen und immunologischen Reaktion auf Stress fuÈhrt. Einhergehend mit diesen Ønderungen ist eine waÈhrend der Entwicklung nachweisbare verminderte Expression von Neurotransmittern, den dazugehoÈrigen Rezeptoren und zellulaÈren VeraÈnderungen [29, 48]. Aufgrund dieser Datenlage wird vermutet, dass die Verbindung zwischen perinatalen, sensorischen Empfindungen, Trauma und dem spaÈteren Verhaltensmuster im Erwachsenenalter uÈber den N-Methyl-D-Aspartat (NMDA)-Rezeptor verlaÈuft. Bekannt ist, dass uÈbermaÈûige Aktivierung sensorischer Schmerzbahnen eine Freisetzung exzitatorischer Neurotransmitter mit der Bindung von Glutamat an metabotrope und NMDA-Rezeptoren zur Folge hat. Hierdurch kommt es zu einem vermehrten Einstrom von Ca2‡-Ionen, die zu VeraÈnderungen sekundaÈrer Messenger fuÈhren und eine Genexpression induzieren, zellulaÈre Reaktionen, die maûgeblich an einem »wind up« und einer zentralen Sensitivierung beteiligt sind (. Abb. 3-2). Diese Auswirkungen einer zentralen Sensitivierung, gekoppelt mit einem »wind up«, sind besonders in einem sich entwickelnden neuronalen System verstaÈrkt und verlaÈngert nachweisbar. Sie gehen mit einer gesteigerten NMDA-AktivitaÈt und einer daraus resultierenden Erregbarkeit der Neurone einher, wobei die Zunahme von NMDARezeptoren zu intrazellulaÈren VeraÈnderungen fuÈhrt, in deren Folge sich eine Hyperalgesie auf sensorische Reize einstellt. Die Zunahme an NMDA-Rezeptoren beim Neonaten ist besonders in einer kritischen Phase der Entwicklung nach der Geburt charakterisiert, einer Zeit, die auch durch eine rapide Zunahme in Hirnnervenzellen charakterisiert ist.

261

23

Da die gesteigerte Synthese von NMDA-Bindestellen, sowohl im RuÈckenmark als auch in den supraspinalen Regionen, mit einer NMDA-Aktivierung und einer Zunahme des intrazellulaÈren Ca2‡-Ionenflusses einhergeht, muÈndet dies schlieûlich in einer gesteigerten Empfindlichkeit von Hirnnervenzellen. So weisen spezielle neonatale Hirnzellen aufgrund der von den NMDARezeptoren ausgehenden erregenden Wirkung (. Abb. 3-2) eine veraÈnderte molekulare Reaktion auf Ca2‡-induzierte Signale auf, wodurch ein Ûberleben oder ein Untergang (Apoptose) neuronaler Zellen eingeleitet wird. 23.3

Ontogenese des Opioidsystems beim Neu- und FruÈhgeborenen

Damit solche Auswirkungen im spaÈteren Leben nicht manifest werden, muss eine ausreichende Analgesie als unumgaÈnglich gefordert werden, eine Schmerzhemmung, die auch beim Neonaten durch Opioide erreicht werden kann. Jedoch sind zum Geburtstermin noch nicht alle Opioidrezeptoren voll ausgebildet und differenziert. Ihre Anzahl nimmt erst im weiteren Verlauf der Entwicklung stetig zu und betraÈgt beim Tier das 16fache des Ausgangswertes (. Abb. 23-3). Insbesondere kommt es hierbei zur einer regional unterschiedlichen Ausbildung der Rezeptordichte, die eine klinische Bedeutung fuÈr den Einsatz der Opioide beim Neonaten hat. Aus der

. Abb. 23-3. Stereospezifische Bindung von radioaktiv

markiertem 3H-Naloxon an Rattenhirnhomogenaten in unterschiedlichen Entwicklungsstadien (MW eSD). (Nach [524])

262

Kapitel 23  Schmerz und Opioide bei Kindern und Neugeborenen

. Tabelle 23-2. Regionale Verteilungsdichtenzunahme von Opioidbindestellen im ZNS von neugeborenen und erwachsenen Ratten (fmol/mg Feuchtgewicht). (Nach [524])

23

Region

Neonat

Erwachsener

Zunahme ( %)

Parietaler Kortex Hippokampus Striatum Thalamus Hypothalamus Pons-Medulla

1,0 1,3 7,4 3,7 5,4 3,9

7,12 10,73 22,40 23,30 20,70 10,50

612 725 202 530 283 169

naten, wegen der noch geringen Anzahl moÈglicher Bindestellen, Opioide mit hoher AffinitaÈt zum Rezeptor (z. B. Fentanyl, Sufentanil) gewaÈhlt werden sollten, um eine ausreichend tiefe Analgesie zu erreichen, denn die BindungsaffinitaÈt der Opioide korreliert eng mit der jeweiligen analgetischen WirkstaÈrke [162]. So ist bei einer hohen Wirkungspotenz eine geringere Anzahl an Bindungen notwendig, um eine ausreichende Analgesie zu erreichen. FuÈr Sufentanil sind z. B. nur ca. 2 % aller Bindungen notwendig, um eine analgetische ED50 zu erreichen [63]. 23.4

. Tabelle 23-2 ist ersichtlich, dass die Pons-Medul-

la-Region, im Gegensatz zu den mehr rostralwaÈrts gelegenen Arealen, die geringste Zunahme aufweist. Dies weist darauf hin, dass schon zur Geburt Pons und Medulla mit einer Anzahl von moÈglichen Opioidbindestellen ausgeruÈstet sind, die der des Erwachsenen nahe kommen (. Tabelle 23-2). Somit werden systemisch verabreichte Pharmaka der Opioidklasse vornehmlich und zuallererst in diesem Bereich gebunden. Hippokampus und Kortex weisen im Laufe der Entwicklung dagegen eine Zunahme an Opioidbindestellen um 725 % bzw. 612 % auf, ein Faktor, der fuÈr die Pons-Medulla-Region mit nur 169 % zu Buche schlaÈgt. Dieser Unterschied in der Zunahme von Opioidbindestellen laÈsst eine enge Beziehung zu neuroanatomischen, neurophysiologischen und neurochemischen Daten erkennen [525], Fakten, die alle darauf hindeuten, dass die kaudalen Anteile des ZNS viel eher ausdifferenziert sind als die mehr rostral gelegenen Anteile. Diese experimentell am Tier erhobenen Daten machen aber auch verstaÈndlich, warum unter einer Opioidgabe klinisch beim Neugeboren eine Atemdepression und eine Bradykardie viel oÈfter und auch ausgepraÈgter zu beobachten sind, Effekte, die von den in der Pons-Medulla-Region verankerten atem- und kreislaufregulatorischen Zentren ausgehen. Andererseits machen solche Daten aber auch verstaÈndlich, warum gerade beim Neo-

Ontogenese der Opioidrezeptorpopulationen

Die im klinischen Alltag oft zu beobachtende Eigenschaft der Opioide, beim Neugeborenen zuerst eine Atemdepression und anschlieûend erst eine Analgesie auszuloÈsen, erhaÈlt durch die an neugeborenen und erwachsenen Ratten abgeleiteten Ergebnisse eine moÈgliche ErklaÈrung [526]. So induzierte Morphin als Prototyp eines Opioids bei 2 Tage alten Ratten eine Deprimierung der Atemfrequenz um 75 %. In keinem Fall war jedoch eine ausreichende Analgesie (gemessen mit dem Schwanz-RuÈckzieh-Reflex) zu erreichen (. Tabelle 23-3). Erwachsene Tiere wiesen unter der gleichen Dosis Morphin eine komplette Analgesie bei einer nur 33 %igen Verminderung der Atemfrequenz auf. Diese Beobachtungen stuÈtzen die ebenfalls in der Klinik zu beobachtende Eigenschaft der Opioide, beim Neugeborenen zuerst immer eine Atemdepression auszuloÈsen, deren IntensitaÈt und Dauer ausgepraÈgter ist als beim Erwachsenen [527]. Als moÈgliche Ursache einer beim Neugeborenen unterschiedlichen Ansprechbarkeit auf Opioide kann die differierende Entwicklung der Rezeptorsubpopulationen m, d bzw. k sein. Denn mit Hilfe von Rezeptorbindungs- und VerdraÈngungsstudien konnte nachgewiesen werden, dass Morphin in niedrigen Konzentrationen innerhalb der ersten Tage nach der Geburt radioaktiv markierte und an eine spezifische Population bindende Liganden, das 3H-Naloxon fuÈr den m-Rezep-

. Tabelle 23-3. Atemfrequenz und Analgesie nach 5 mg/kgKG Morphin bei 2 und 14 Tage alten Ratten (MW e SD).

(Mod. nach [526]) Alter (Tage)

Atemfrequenz vor Opioid

Atemfrequenz nach Opioid

Atemfrequenzabnahme [ %]

Analgesie [ %]

2 14

140e9 135e8

37e4 91e7

74 33

0 100

23.4  Ontogenese der Opioidrezeptorpopulationen

tor und das 3H-D-Ala-D-Leu-Enkephalin (DADL) fuÈr den d-Rezeptor, verdraÈngen kann. Aus . Abb. 23-3 wird ersichtlich, wie in den ersten Lebenstagen Morphin an beiden Rezeptorgruppen ein aÈhnliches Ausmaû an VerdraÈngung bewirkt. Dies ist als Hinweis zu deuten, dass eine Ausdifferenzierung der Rezeptorpopulationen in m und d noch nicht stattgefunden hat. Mit zunehmendem Alter setzt jedoch eine stetige Ausdifferenzierung der Opioidrezeptoren ein. Weil Morphin eine schlechte AffinitaÈt zu der dRezeptorsubpopulation besitzt, wird immer mehr Morphin notwendig, um das am d-Rezeptor bindende Enkephalin DADL zu verdraÈngen. Morphin zeigt hinsichtlich der VerdraÈngungskapazitaÈt am m-Rezeptor im Laufe der Entwicklung dagegen gleichbleibende verdraÈngende Eigenschaften. Das heiût, die m-Rezeptoren nehmen weiterhin nicht zu, jedoch erfahren die d-Bindestellen eine weitere Ausdifferenzierung. In Verbindung mit den Ergebnissen der Arbeitsgruppe Pasternak und Mitarbeiter am Tier [58] unterstreichen diese Daten die Bedeutung einer wechselseitigen Beeinflussung von Opioidbindestellen im Sinne einer Wirkungspotenzierung. Dies ist schon von Martin und Mitarbeitern postuliert [68] und von Sadee weiterentwickelt worden ([529]; . Abb. 23-4). Erst nach Bildung von d-Rezeptoren und einer daraus resultierenden Interaktion mit den m-Rezeptoren erfolgt eine Kopplung und allosterische KonformationsaÈnderung des m-Rezeptors, was letztlich in eine Vertiefung der Analgesie muÈndet ([530]; . Abb. 23-5). Diese Daten weisen aber auch darauf hin, dass fuÈr eine ausreichende Analgesie beim Neugeborenen, im Vergleich zum Erwachsenen, relativ hoÈhere Dosen eines Opioids eingesetzt werden muÈssen. Erst mit zunehmendem Alter wird eine Optimierung der Analgesie durch die gleiche Opioiddosis erreicht. Andererseits muss beim Neonaten zuallererst mit einer Atemdepression gerechnet werden, und es sind, bezogen auf das KoÈrpergewicht, fuÈr eine ausreichende Analgesie relativ hohe Dosen notwendig. Eine solche vom Funktionszustand des d-Rezeptors abhaÈngige Vertiefung der Analgesie wird durch experimentelle Ergebnisse mit unterschiedlichen d-spezifischen Peptidliganden gestuÈtzt. So konnte mit subanalgetischen Dosen des d-Peptids D-Ala2-D-Leu-Enkephalin eine morphininduzierte Analgesie verstaÈrkt werden, wohingegen ein anderes Peptid, das D-Ala2-Met-Enkephalinamid, die Analgesie verringerte [109]. Zusammenfassend ist festzuhalten, dass aufgrund der ungenuÈgenden Metabolisierungsrate

263

23

der Leber, einer leichteren Durchdringung der Opioide durch eine noch nicht voll ausgereifte Blut-Hirn-Schranke [531] sowie einer noch nicht abgeschlossenen Ausdifferenzierung der Opioidrezeptorsubpopulationen [532] eine staÈrkere Atemdepression und eine relative Resistenz zur AusloÈsung analgetischer Effekte beim Neonaten und FruÈhgeborenen zu erwarten sind. Eine tiefe Analgesie ist somit nur mit Dosen zu erreichen, die, bezogen auf das KoÈrpergewicht, nicht uÈblich sind. Die noch nicht voll ausgereiften Opioidbindestellen beim Neugeborenen haben naturgemaÈû auch Folgen in der Geburtshilfe, bei der das relativ schwache Pethidin zur DaÈmpfung der Wehen-

. Abb. 23-4. Morphinkonzentrationen (nmol/l), die not-

wendig sind, um 50 % radioaktiv markierte Liganden aus ihrer Bindung im Kortexgewebe der Ratte zu verdraÈngen. (Nach [528])

. Abb. 23-5. Die Bedeutung der Koppelung von m- und d-Rezeptoren fuÈr die Vermittlung einer tiefen analgetischen Wirkung. (Mod. nach [530])

264

23

Kapitel 23  Schmerz und Opioide bei Kindern und Neugeborenen

schmerzen eingesetzt wird. Trotz der geringen analgetischen Potenz von Pethidin ist in solchen FaÈllen postpartal beim Neugeborenen oÈfter eine Atemdepression zu verzeichnen. In solchen FaÈllen werden gern Opioide aus der Gruppe der Agonisten/Antagonisten (z. B. Nalbuphin) oder partiellen Agonisten (z. B. Meptazinol) unter dem Gesichtspunkt eingesetzt, dass diese Pharmaka eine geringere Atemdepression ausloÈsen, weil ihr analgetisches Potenzial uÈber eine weitere Subpopulation von Rezeptoren, die k-Bindestellen, vermittelt wird [180] bzw. ihr atemdepressorisches Potenzial von sich aus deutlich geringer ist. Obgleich die Gruppe der Agonisten/Antagonisten, was die Atemdepression beim Erwachsenen betrifft, durch einen Ceilingeffekt, charakterisiert ist [76, 533], kann doch ein solches Opioid die Atmung beim Neugeborenen beeintraÈchtigen (. Tabelle 23-4). UrsaÈchlich ist eine von den k-Bindestellen ausgehende Sedierung, Bindestellen, die funktionell schon zu 65 % zum Geburtstermin vorhanden sind [535], sodass ihre Wirkung besonders beim Neonaten in den Vordergrund tritt. Schlieûlich sind die sog. s-Rezeptoren, die streng genommen nicht den Opioidbindestellen zuzurechnen sind, weil mit ihnen auch Substanzen wie das Ketamin interagiert [70], in der praÈ- und postpartalen Entwicklung von Bedeutung. Diese Gruppe ist besonders im Hippokampus lokalisiert, der Region, die langfristig eine Erinnerung von sensorischen Afferenzen und die hierdurch ausgeloÈsten emotionalen Empfindungen speichert. Weil die GefuÈhlsverarbeitung und die Speicherung von Empfindungen im GedaÈchtnis des Neugeborenen, v. a. die schmerzhaften Erlebnisse, fuÈr das spaÈtere Sozialverhalten eine wichtige Rolle spielen [69], ist diese Rezeptorgruppe nicht ohne Bedeutung. Bis zum 18. Gestationstag sind s-PCP (Phencyclidin)-Bindestellen bei der Ratte nicht nachweisbar. In den folgenden Tagen der Schwangerschaft nehmen sie bis kurz vor dem Geburtstermin stetig zu und bleiben anschlieûend auf einem gleichbleibend hohen Niveau (. Abb. 23-6; [536]).

. Abb. 23-6. Die Zunahme von s- (3H-Phencyclidin) Binde-

stellen in Rattenhirnhomogenaten in AbhaÈngigkeit vom Alter (MW eSEM). (Nach [536])

Die Bedeutung dieser in der Ontogenese fruÈh einsetzenden Differenzierung von s-spezifischen Bindestellen ist noch nicht eindeutig geklaÈrt. Die s-Rezeptoren sind vornehmlich im Frontalhirn und im Hippokampus des Menschen nachweisbar [69], den Arealen, in denen das SchmerzgedaÈchtnis und die damit verbundenen Emotion angesiedelt sind. Es wird deswegen angenommen, dass diese Rezeptorgruppe eine bedeutsame Rolle bei der sensorischen Informationsverarbeitung von BeruÈhrung und Nozizeption spielt, wodurch Empfindungsinhalte und Emotionen ausgeloÈst werden, die fuÈr die spaÈtere Entwicklung von Bedeutung sind. Jedenfalls ist bekannt, dass andere an dieser Rezeptorgruppe bindende Liganden, wie Ketamin [26, 537] und sein VorlaÈufer, das Phencyclidin (PCP), nicht nur negative Empfindungsinhalte vermitteln wie sie von der AnaÈsthesie her bekannt sind [538], sondern auch RauschzustaÈnde mit positiven Inhalten, wie sie von DrogenabhaÈngigen geschaÈtzt werden, vermitteln.

. Tabelle 23-4. Endexspiratorische CO2- ( %) und arterielle pO2-Werte [mmHg] bei Neugeborenen von MuÈttern, die vorher Nalbuphin bzw. Pethidin gegen den Wehenschmerz erhalten hatten. (Nach [534])

Minuten post partum

Nalbuphin 10 mg i. m.

Pethidin 100 mg i. m.

Parameter

1 5 6

4,63 4,59 35,8

6,08 5,56 50,8

Endexsp. CO2 Endexsp. CO2 paO2

23.5  Praktische Ûberlegungen zum Einsatz der Opioide bei Neugeborenen

23.5

Praktische Ûberlegungen zum Einsatz der Opioide bei Neugeborenen

Obgleich die Gruppe der Opioide Substanzen umfasst, die eine Nozizeption am effektivsten unterdruÈcken, so ist jedoch ihre Kinetik beim Neonaten und Kleinkind im Vergleich zum Erwachsenen durch gewissen Unterschiede charakterisiert: 4 Opioide weisen beim Neonaten ein relativ groÈûeres Verteilungsvolumen mit einer laÈngeren Eliminationshalbwertszeit auf (. Abb. 23-7). Insbesondere dann, wenn Opioide repetitiv gegeben werden, muÈndet die verlaÈngerte Eliminationshalbwertszeit in eine Kumulation mit verlaÈngerter Wirkdauer und einem postoperativen Ûberhang mit Atemdepression. Denn ein relativ groûes Verteilungsvolumen fuÈhrt insofern zu einer verlaÈngerten Elimationshalbwertszeit, weil aus einem groÈûeren Verteilungsvolumen mehr von dem Pharmakon, wie aus einem Reservoir, in das ZNS nachstroÈmt. Die Folge ist eine verlaÈngerte Wirkungsdauer. 4 Opioide treffen beim Neonaten auf eine geringere EnzymaktivitaÈt der Leber. Da die Leber das Organ ist, welches den Abbau eines Opioids und damit seine Inaktivierung garantiert, bedeutet eine verminderte Metabolisierungsrate eine verlaÈngerte Clearance. Innerhalb der ersten Monate nach der Geburt kommt es jedoch zu einem signifikanten Anstieg der Metabolisierungsrate, was sich z. B. im Rah-

. Abb. 23-7. Die Eliminationshalbwertszeiten (t1/2b) und Verteilungsvolumina (Vd) von Sufentanil bei unterschiedlichen Altersgruppen. (Nach [542])

265

23

men einer Analgosedierung in einer ploÈtzlichen Zunahme der notwendigen Opioiddosen niederschlaÈgt (. Abb. 23-7). 4 Opioide passieren beim Neonaten leichter die Blut-Hirn-Schranke, da diese Barriere in den ersten Lebenstagen noch nicht voll ausgebildet und somit leichter passierbar ist. Dieser Punkt erscheint jedoch von untergeordneter Bedeutung. So stellt die Blut-Hirn-Schranke zwar eine physiologische Barriere fuÈr alle zentral wirkenden Pharmaka und speziell die im AnaÈsthesiebereich eingesetzten Pharmaka dar. Auch die Opioide machen hierbei keine Ausnahme, weil sie aus dem BlutgefaÈûsystem erst nach Ûberwinden dieser Schranke ihre Wirkung an der Nervenzelle entfalten koÈnnen. Weil jedoch fuÈr die lipophilen Opioide wie z. B. Fentanyl oder Sufentanil die Blut-HirnSchranke keine eigentliche Barriere darstellt, ist dieser Punkt beim termingeborenen Neugeborenen von untergeordneter Bedeutung, weil dann die Schrankenfunktion voll ausgereift und funktionsfaÈhig ist. Dieser Punkt gewinnt nur dann an Bedeutung, wenn wie beim FruÈhgeborenen die Blut-Hirn-Schranke eine eindeutige Unreife aufweist. Hierauf verweisen tierexperimentelle Daten, die dokumentieren konnten, dass in diesem fruÈhen Zustand der Zusammenhang der Zellen in den Kapillaren nur locker und somit fuÈr Pharmaka durchgaÈngiger ist. Erst in der spaÈteren Entwicklungsphase festigt sich der Zellverband. Diese in der fruÈhen Entwicklungsphase anfaÈnglich hoÈhere SchrankengaÈngigkeit fuÈhrt dazu, dass mehr OpioidmolekuÈle als uÈblich die Rezeptoren erreichen und eine verstaÈrkte Wirkung vermitteln. 4 Opioide treffen beim Neonaten auf ein noch nicht ausdifferenziertes Opioidrezeptorsystem. Zum Geburtstermin sind erst 40 % aller Opioidrezeptoren ausgebildet [543]. Diese im Vergleich zum Erwachsenen geringere Anzahl zur Zeit der Geburt bedeutet, dass mehr aktive Wirksubstanz benoÈtigt wird (. Tabelle 23-5). Andererseits ist bekannt, dass Morphin und seine halbsynthetischen Derivate wie Codein und Dihydromorphin den groÈûten Teil ihrer Wirkung erst nach ihrer Umwandlung in einen Metaboliten vermitteln. Aufgrund der noch geringen EnzymaktivitaÈt der Leber ist beim Neonaten die Produktion von Metaboliten und damit die Bereitstellung der eigentlichen aktiven Wirksubstanz unvorhersehbar.

266

23

Kapitel 23  Schmerz und Opioide bei Kindern und Neugeborenen

Dies wird durch die groûe interindividuelle pharmakokinetische VariabilitaÈt dieser Pharmaka beim Neugeborenen unterstrichen [50]. Morphin wird in der Leber hauptsaÈchlich zu Morphin-3- und Morphin-6-Glucuronid metabolisiert. Die Glucuronidierung erfolgt uÈber eine Familie von Isoenzymen, den Uridindiphosphat-Glucuronyltransferasen. Morphin6-Glucuronid ist jedoch ein wirkungsstarkes Analgetikum mit ausgepraÈgter Atemdepression [49, 50], waÈhrend von dem Morphin-3-Glucuronid, dem hauptsaÈchlichen Metaboliten, eine antagonistische pharmakodynamische Wirkung ausgeht. Verantwortlich fuÈr die eigentliche analgetische Wirkung ist jedoch das VerhaÈltnis von Morphin-6- zu Morphin-3-Glucuronid, sodass verstaÈndlich wird, warum je nach Reifezustand der Leberenzyme nach Morphin beim Neonaten ein interindividuell stark divergierender analgetischer Effekt beobachtet werden kann. Auch bei FruÈhgeborenen korreliert das VerhaÈltnis von Morphin-6- zu Morphin-3-Glucuronid reziprok zum Geburtsgewicht und nimmt mit zunehmendem Geburtsgewicht und Entwicklungsalter zu. Die im Jahr 1960 von Kupferberg und Way beschriebene hoÈhere atemdepressorische Komponente von Morphin bei neugeborenen Tieren wurde der in diesem Alter noch unzureichenden Blut-Hirn-Schrankenfunktion und der daraus resultieren hoÈheren Wirkstoffkonzentration im ZNS zugeschrieben. Klinische Untersuchungen durch Purcell-Jones stuÈtzen jedoch diese Vermutung nicht. Denn in nur 13 % der von ihm untersuchten Neugeborenen wurde eine Atemdepression bzw. eine Apnoe nachgewiesen. Auch waren nach Herzoperationen bei Neugeborenen und Kindern unterschiedlicher Altersklassen, unter aÈhnlichen Opioidplasmakonzentrationen von Morphin auch aÈhnliche CO2-RuÈckatmungskurven abzuleiten. Hieraus kann geschlossen werden, dass bei der Verabreichung aÈquianalgetischer Dosen und nicht von Dosierungen, die sich am KoÈrpergewicht orientieren, das Risiko einer Atemdepression beim Neugeborenen nicht groÈûer ist als beim Kleinkind, sodass als Richtschnur der Anwendung von Opioiden eine individuelle Dosistitration zu empfehlen ist. Codein, ein Methylmorphin, wird zu 10 % in der Leber zu Morphin metabolisiert, von dem die eigentliche analgetische Wirkung ausgeht. Der Rest von Codein wird zu dem nichtaktiven Norcodein methyliert, das entweder konjugiert

oder unveraÈndert uÈber den Urin ausgeschieden wird. Ûber den Einsatz von Codein in der KinderanaÈsthesie gibt es wenig Daten zur Kinetik und Dynamik. Es wurden jedoch, unabhaÈngig von der verabreichten Dosis, FaÈlle von akuter Atemdepression nach intravenoÈser und intramuskulaÈrer Gabe berichtet. Da die Unreife des metabolischen Abbaus in der Leber ursaÈchlich zu einer verlaÈngerten Halbwertszeit von sowohl Codein als auch dem aktiven Metaboliten Morphin abhaÈngt, ist dies der Grund, warum sowohl die vom Codein ausgehende Analgesie als auch die beobachtete Atemdepression schlecht vorhersehbar sind. In vermehrtem Maûe werden intraoperativ auch beim Neonaten die synthetischen Opioide Fentanyl und Alfentanil eingesetzt, waÈhrend Sufentanil eher ein Nischendasein fuÈhrt. Aufgrund ihrer starken analgetische Wirkung und eine von den Metaboliten ausgehenden fehlenden pharmakologischen Wirkung weisen sie Vorteile bei der Anwendung beim Neugeborenen auf. FuÈr alle drei 4-Anilinopiperidinderivate erfolgt der hauptsaÈchliche Abbau uÈber das Cytochrom P450. Wegen des engen therapeutischen Fensters sind jedoch, was die Atemdepression betrifft, diese Opioide nur fuÈr eine intraoperative Analgesie anzuwenden. Ein zusaÈtzliches Einsatzgebiet ist die Intensivstation, wo zum Zweck der Sedierung, insbesondere fuÈr Fentanyl (2±3 mg/kgKG/h) und Sufentanil, eine fruÈhzeitige Toleranzentwicklung mit der Notwendigkeit zur Dosissteigerung beobachtet werden kann. UrsaÈchlich wird sowohl eine Desensibilisierung des Opioidrezeptors als auch eine Zunahme der Metabolisierungsleistung der Leber diskutiert. Ein besonderer Vorteil dieser wirkungsstarken Opioide liegt in dem Verzicht von Muskelrelaxanzien. Obgleich nach Alfentanil, in hoÈherem Maûe als nach Fentanyl, uÈber eine MuskelrigiditaÈt berichtet wurde, wird diesem weniger potenten Analgetikum bei der Sedierung von Neugeborenen auf der Intensivstation, trotz der nicht nachweisbaren Vorteile von Fentanyl, ein nur geringer Indikationsbereich eingeraÈumt. VollstaÈndig ist jedoch von der Anwendung von Pethidin abzuraten, weil der Metabolit Nor-Pethidin, speziell beim Neugeborenen, ausgepraÈgte exzitatorische Wirkungen mit epileptiformen Erscheinungen im EEG, verbunden mit Agitationen und Dysphorie, ausloÈst. Letzteres erhaÈlt eine ErklaÈrung in der physiologischen Unreife der Niere, die speziell beim FruÈh- aber auch zu einem geringeren Teil beim Neugeborenen vorliegt.

23.5.1 Postoperative Analgesie

beim Neugeborenen

Ist eine Nachbeatmung wegen der geringen GroÈûe des operativen Eingriffs nicht erforderlich, sind fuÈr eine postoperative Schmerztherapie Pharmaka mit geringerer AffinitaÈt zum Opioidrezeptor als Fentanyl oder Sufentanil angezeigt. Hierzu zaÈhlt Tramadol, das in Dosen von 0,05±0,1 mg/kg i. v. und bei kontinuierlicher Applikation von 0,25 mg/ kgKG/h bis zu maximal 5 mg/kgKG/Tag verabreicht wird. Bei kleineren Eingriffen reicht auch Paracetamol, schon mit Beginn des Eingriffs appliziert, in Dosierungen von 20±30 mg/kgKG rektal aus. Nach einer inguinalen Herniotomie kann z. B. auch Codein als Analgetikum der Stufe 2 in Dosen von 1±2 mg/kgKG per os eingesetzt werden. Erst bei staÈrkeren Schmerzen kann Morphin in Dosen von 0,02±0,05 mg/kgKG in 5minuÈtigen AnstaÈnden i. v. titriert indiziert sein, das jedoch wegen des hoÈheren PONV-Risikos und der im Vergleich zu Piritramid kuÈrzeren Wirkungsdauer kaum Verwendung findet. Nicht nur wegen der zu vernachlaÈssigenden Bildung pharmakologisch aktiver Metaboliten, sondern eher wegen seiner lang anhaltenden Wirkungsdauer von 5±6 h,

23

267

23.5  Praktische Ûberlegungen zum Einsatz der Opioide bei Neugeborenen

einer fehlende kardiovaskulaÈre BeeintraÈchtigung, einem fehlenden Spasmus der glatten Muskulatur und einer geringeren Inzidenz an PONV [40] wird dagegen das Opioid Piritramid (0,05±0,1 mg/ kgKG i. v.) bei starken Schmerzen empfohlen. Eine auf das KoÈrpergewicht bezogenen Dosierung hat sich hierbei als praktikabel erwiesen (. Tabelle 23-6). Sowohl nach Morphin als auch nach Piritramid (. Tabelle 23-6) ist es wichtig, dass eine Ûberwachung unter Pulsoxymetriekontrolle erfolgt, da bei allen Kindern unter dem 6. Lebensmonat, wegen der verminderten hepatischen Metabolisierungsrate eine hoÈheres Risiko fuÈr eine sich schleichend entwickelnde Atemdepression besteht. Die zum Erreichen einer befriedigenden Analgesie notwendigen Dosierungen bei Neugeborenen orientieren sich an bestimmten Verhaltensmustern und an Ønderungen der Vitalparameter. Von den in der Klinik gebraÈuchlichen Beobachtungsparametern erreichten 13 nach einer Untersuchung von BuÈttner eine ausgesprochene SpezifitaÈt und ReagibilitaÈt. Von den mimischen VeraÈnderungen wie Gesichtsausdruck, Stirnfalten, KoÈrperhaltung (Arme, Beine, Finger, Zehen, Rumpf), motorische Unruhe und Weinen spiegeln die Vitalparameter (Atem-, Herzfrequenz, Blutdruck, SauerstoffsaÈtti-

. Tabelle 23-5. Die fuÈr eine Analgesie von Neugeborenen verwendeten Opioide auf der Intensivstation. Im Vergleich

zum Erwachsenen sind hoÈhere Dosen von Fentanyl notwendig, die auch gut vertragen werden. (Mod. nach [541]) Opioid

Einzeldosis

Infusion

Morphin Tramadol Pethidin Meptazinol Fentanyl Alfentanil

0,05±0,1 mg/kgKG (4- bis 8-stuÈndlich) 0,5±2,0 mg/kgKG 0,25±0,5 mg/kgKG (8- bis 12-stuÈndlich) 0,5±1,5 mg/kgKG (8- bis 12-stuÈndlich) 10 mg/kgKG (4- bis 6-stuÈndlich) 20 mg/kgKG

0,005±0,015 mg/kgKG/h Nicht zu empfehlen (Ûbelkeit) Nicht zu empfehlen (Norpethidin!) 2±3 mg/kgKG/h 5 mg/kgKG/h

. Tabelle 23-6. Applikation von Piritramid zur postoperativen Schmerztherapie mit Hilfe des Perfusors (4 Amp. Dipidolor ˆ 8 ml ˆ 60 mg auf 50 ml; 1 ml entspricht 1,2 mg). (Nach Helms, persoÈ nl. Mitteilung)

KoÈrpergewicht (kg)

Operationstag 0,038 mg  kg 1  h 1 (mg  h 1) Stufe

1. postoperativer Tag 0,024 mg  kg 1  h 1 (mg  h 1) Stufe

2. postoperativer Tag 0,019 mg  kg 1  h 1 (mg  h 1) Stufe

30 40 50 60 70 80 90

1,14 1,52 1,9 2,26 2,66 3,04 3,42

0,72 0,96 1,2 1,44 1,68 1,92 2,16

0,57 0,76 0,95 1,33 1,33 1,52 1,71

1,0 1,3 1,6 1,9 2,2 2,5 2,9

0,6 0,8 1,0 1,2 1,4 1,6 1,8

0,5 0,6 0,8 1,0 1,2 1,3 1,4

268

23

Kapitel 23  Schmerz und Opioide bei Kindern und Neugeborenen

gung) in erster Linie VeraÈnderungen wider, die auf einen allgemeinen Disstress hinweisen. Da diese Vitalparameter mannigfachen EinfluÈssen wie kardialen, pulmonalen, zentralnervoÈsen oder haÈmatologischen VeraÈnderungen unterliegen, koÈnnen sie letztendlich nur in Verbindung der Verhaltensmuster als klinisch brauchbare Scores wie z. B. dem »premature infant pain profile« oder der KUSS (Kindliche Unbehagens- und Schmerzskala) eingesetzt werden. WaÈhrend bei 5 Items eine Einteilung von 0±2 vorgenommen wird, beginnt ein Therapiebedarf bei 4 Punkten. Mit steigender Punktzahl nimmt die Dringlichkeit einer Schmerztherapie zu. 23.5.2 Schlussfolgerungen zum Einsatz

der Opioide beim Neonaten

Zusammenfassend ist festzuhalten, dass sich eine Analgesie mit Opioiden, wie sie intraoperativ bei ausgedehnten operativen Eingriffen erforderlich ist, auch beim Neonaten erreichen laÈsst. Es wird jedoch beim FruÈh- und Neugeborenen, wegen der ungenuÈgenden Metabolisierungsrate der Leber und einer noch nicht abgeschlossenen Bildung von Opioidsubpopulationen, eine fruÈh einsetzende Atemdepressionen zu erwarten sein. Die fuÈr groÈûere operative Eingriffe notwendige Analgesie orientiert sich dabei nicht an einer Dosierung in mg/kgKG, sondern an der Wirkung, die in AbhaÈngigkeit von der Rezeptorreifung und in Bezug auf das Kleinkind und den Erwachsenen uÈber dem uÈblichen Rahmen liegen kann. Hinzuweisen ist in diesem Zusammenhang auf einen vor der eigentlichen intraoperativen SchmerzunterdruÈckung auftretenden klinisch relevanten gestoÈrten Gasaustausch, der auf einer muskulaÈre RigiditaÈt beruht. FuÈr groÈûere Operationen (Duktusligatur, Zwerchfellhernien, Omphalozele, nekrotisierende Enterokolitis) sind wegen der hoÈheren RezeptorspezifitaÈt zentralwirksame Opioide aus der Reihe der 4-Anilinopiperidine (Fentanyl, Sufentanil) zu empfehlen. Eine dabei auftretende postoperative Atemdepression ist dabei unerheblich, weil sich automatisch eine postoperative Ûberwachung mit evtl. Nachbeatmung auf der Intensivstation anschlieût. Ist eine Nachbeatmung wegen der geringen GroÈûe des operativen Eingriffs nicht erforderlich, so sind Pharmaka mit geringer AffinitaÈt zum Opioidrezeptor (z. B. Tramadol 0,075±0,1 mg/ kgKG) oder ein RepraÈsentant aus der Gruppe gemischtwirkender Agonisten/Antagonisten (z. B. Nalbuphin 0,15±0,2 mg/kgKG) bzw. ein mittel-

starkwirkender partieller Agonist wie z. B. Meptazinol (0,5±1,0 mg/kgKG) indiziert, weil diese Opioide sich durch eine nur maÈûige bzw. fehlende Atemdepression auszeichnen [539]. Auch ein Opioid mit retardierter Freisetzung wie das Dihydrocodein (DHC) kommt in Frage [540], da diese Substanz sich durch eine nur geringe atemdepressorische Komponente auszeichnet. Ganz aus dem therapeutischen Konzept sollte jedoch das Pethidin gestrichen werden, da sein Stoffwechselprodukt, das Norpethidin, insbesondere beim Neugeborenen KrampfanfaÈlle ausloÈsen kann [192]. Bei Erwartung nicht allzu groûer Schmerzen kann mit einem peripher wirkenden Analgetikum begonnen werden. Hierbei stellen AcetylsalicylsaÈure und Paracetamol bzw. Metamizol (10±20 mg/ kgKG), intravenoÈs oder als Tropfen bzw. Suppositorium verabreicht, die Mittel der Wahl dar. FuÈr die postoperative Phase ist die einfachste und auch am haÈufigsten praktizierte Methode der Schmerztherapie bei Kindern die intravenoÈse Applikation eines Analgetikums. Eine subkutane oder intramuskulaÈre Injektion ist aufgrund der individuell unterschiedlichen ResorptionsverhaÈltnisse abzulehnen, weil sich daraus zeitlich und quantitativ nicht vorhersehbare Konzentrationen im Plasma entwickeln. Die intravenoÈse Injektionen bietet, auch beim Neugeborenen, aus folgenden GruÈnden eine Reihe von Vorteilen: 4 die Wirkung tritt schnell ein; 4 die maximale Wirkung tritt fruÈher auf; 4 die Konzentration im Plasma nimmt progressiv ab. Weil es schwierig ist, Schmerzen im praÈverbalen Alter zu objektivieren, sind unterschiedliche Skalierungen entwickelt worden, anhand derer man die IntensitaÈt der Beschwerden, unter denen ein Neugeborenes nach einem operativen Eingriff leidet, abschaÈtzen kann. Eine »objektive Schmerzskalierung« beruht auf 5 Beobachtungen, die, in bestimmten Intervallen registriert, einen Anhaltspunkt uÈber den vorliegenden Schmerzzustand geben [505]. Jeder Faktor wird mit 1 oder 2 bewertet, wobei im schlimmsten Fall die Punktzahl 10 erreicht wird: 1. Kreislauf: Der Blutdruckanstieg liegt 10 %, 20 % oder 30 % uÈber dem praÈoperativen Wert. 2. Verbale Øuûerung: Das Kind ist still; es schreit und laÈsst sich beruhigen; es schreit und laÈsst sich nicht beruhigen.

23.5  Praktische Ûberlegungen zum Einsatz der Opioide bei Neugeborenen

3. GemuÈtszustand: Das Kind schlaÈft; es ist unruhig; es geraÈt in Panik. 4. KoÈrpersprache: Das Kind schlummert und scheint schmerzfrei zu sein; es hat leichte Schmerzen und zeigt auf die befallene Stelle; es hat starke Schmerzen und zieht den betroffenen KoÈrperteil bei BeruÈhrung zuruÈck. Schlieût sich jedoch nach groÈûeren Operationen eine postoperative Ûberwachung mit Nachbeatmung auf der Intensivstation an, so sind

269

23

reine m-Liganden zur postoperativen Analgesie (Piritramid, Morphin, Fentanyl, Alfentanil) indiziert. Hier stellt die Analgesie oft die Indikation zur Nachbeatmung dar. Muskelrelaxanzien sind unter dem angegeben Schema (. Tabelle 23-5) oft nicht notwendig. Sedativa (Benzodiazepine) sind nur vereinzelt zu verabreichen, da wegen der verlaÈngerten Elimantionshalbwertszeit, bei kontinuierlicher Gabe, mit einem mehrere Tage anhaltenden Ûberhang zu rechnen ist. Die pharmakologischen Vergleichsdaten verschiedener Opioide bei Kindern und Neugeborenen zeigt . Tabelle 23-7.

. Tabelle 23-7. Pharmakokinetische Vergleichsdaten verschiedener Opioide bei Kindern und Neugeborenen unterschiedlicher Altersstufen. (Nach [544])

Alter

Eliminationshalbwertszeit t1/2b [min]

Clearance Cl [ml/kgKG/min]

Verteilungsvolumen Vd [l/kgKG]

Neonat 0.±8. Tag Neugeborene 20.±28. Tag 0.±1. Monat 1. Monat bis 2 Jahre 2±12 Jahre 12±16 Jahre

635 217 737 214 140 209

4,2 17,3 6,7 18,1 16,9 13,1

2,7 3,4 4,15 3,09 2,73 2,75

24 Einsatz der Opioide bei alten Patienten 24.1

Morphologische, physiologische und biochemische VeraÈnderungen des Gehirns im Alter ± 271

24.2

Opioide in der AnaÈsthesiologie des alten Patienten: praÈ-, intraund postoperativ ± 272

24.3

Nebenwirkungen der Opioide im Alter ± 277

24.4

Opioide beim alten Patienten mit chronischen Schmerzen ± 279

Aufgrund des Anstiegs der durchschnittlichen Lebenserwartung in den westlichen LaÈndern ruÈckt der aÈltere Patient immer mehr in den Mittelpunkt aÈrztlicher Handlungen. Denn es kann davon ausgegangen werden, dass mehr als die HaÈlfte der BevoÈlkerung mit uÈber 65 Jahren mindestens einen operativen Eingriff uÈber sich ergehen lassen muss. So nimmt auch das mittlere Alter aller hospitalisierten Patienten uÈberproportional zum mittleren Alter der restlichen BevoÈlkerung zu. Heutzutage kann schon davon ausgegangen werden, dass mindestens 30 % der Patienten i65 Jahre einen Anteil von 40 % aller Operationen ausmacht (Ergina, Gold et al. 1993). Diese in den vergangenen Jahren zunehmende Tendenz aÈlterer Patienten, sich einem operativen Eingriff und damit auch einer AnaÈsthesie zu unterziehen, stellt fuÈr den praktisch taÈtigen AnaÈsthesisten eine besondere Herausforderung dar, denn die aÈlteren Patienten unterscheiden sich, bezogen auf Struktur und Funktion der Organe, grundlegend von den juÈngeren Patienten. So ist das hoÈhere Alter gleichbedeutend mit einem erheblichen Umbau der KoÈrpergewebe, einer VeraÈnderung ihrer Durchblutung und einer EinschraÈnkung ihrer funktionellen Reserven. Auch wird ein nicht unerheblicher Anteil metabolisch aktiven Gewebes in Fett umgewandelt. So nimmt beim Mann der Fettanteil am KoÈrpergewicht von im Schnitt 18 % auf 36 % zu, waÈhrend bei der Frau sogar eine Steigerung von 33 % auf 48 % nachzuweisen ist.

Das intrazellulaÈre Wasser nimmt dagegen von 42 % auf 33 % ab, waÈhrend der ExtrazellulaÈrraum unveraÈndert bleibt (Greenblatt, Sellers et al. 1982; Sellers, Frecker et al. 1983). Das Herzzeitvolumen nimmt dagegen um fast 40 % ab, waÈhrend die Verteilung zugunsten von Herz und Gehirn auf Kosten von Leber und Nieren zugenimmt (Bender 1965). Bezogen auf das Exkretionsorgan Niere liegt im Alter eine Abnahme der glomerulaÈren Filtrationsrate von bis zu 35 % vor, waÈhrend die metabolische Leistung der Leber kaum eingeschraÈnkt ist. 24.1

Morphologische, physiologische und biochemische VeraÈnderungen des Gehirns im Alter

Mit zunehmendem Alter nimmt auch das mittlere Gehirngewicht und die Anzahl der Neuronen stetig ab (Brody 1992; Selkoe 1992). Dieser Abbau beginnt schon in der fruÈhen Jugend und wird besonders ab dem beginnenden 6. Lebensjahrzehnt augenfaÈllig. So verliert eine gesunde Normalperson 2±3 g Gehirngewicht/Jahr, eine Abnahme, die zum groÈûten Teil auf eine Verringerung der weiûen Hirnsubstanz, insbesondere im Bereich des Frontalhirns, beruht. Deswegen verringert sich auch das VerhaÈltnis von Hirnvolumen zu SchaÈdelvolumen, das im Normalfall 95 % betraÈgt und nach dem 60. Lebensjahr bis auf 80 % abfaÈllt, waÈhrend sich das Ventrikelvolumen verdreifacht. Diese Volumenabnahme in den einzelnen HemisphaÈren beruht hauptsaÈchlich auf einem Ver-

272

24

Kapitel 24  Einsatz der Opioide bei alten Patienten

lust von Interneuronen, der sich zu einem nur geringen Teil auf die kortikale graue Substanz beschraÈnkt, waÈhrend der groÈûte Anteil die subkortikale weiûe Substanz erfasst. Hieraus ist abzuleiten, dass der Verlust altersbedingter neuronaler Verbindungen geringer ausfaÈllt, als mit 50 % in fruÈheren Untersuchungen errechnet worden war (Brody 1992). Das Alter hat jedoch einen Einfluss auf die mit den Pharmaka interagierenden Anteile eines Neurons, die Dendriten und die Synapsen, an denen u. a. auch die Opioide binden. So ist zwar eine altersabhaÈngige Abnahme der NeuronengroÈûe, der Anzahl komplexer Verzweigungen und der Anzahl von Synapsen nachzuweisen (Brody 1992; Selkoe 1992). Diese Abnahme ist jedoch regionspezifisch, d. h. die Abnahme ist besonders im limbischen System und im Kortex nachzuweisen. Diese VeraÈnderungen koÈnnen eher als pathologisch denn als normal angesehen werden. FuÈr das Ausmaû solcher VeraÈnderungen spielt z. B. der Stress eine besondere Rolle, zumal stressbedingte metaplastische VeraÈnderungen histologisch im Hippocampus nachzuweisen sind (Kim u. Yoon 1998). Weil eine enge Korrelation zwischen der bei alten Patienten nachgewiesenen Atrophie im Hippocampus und einem erhoÈhten Cortisolplasmaspiegel besteht, erklaÈrt sich hieraus auch zwanglos der mit Stress einhergehende Verlust an ErinnerungsvermoÈgen (Lupien, Leon et al. 1998). Andererseits gibt es jedoch Hinweise, dass selbst bei 80-JaÈhrigen noch eine Zunahme synzitialer Verzweigungen und ein Wachstum von Neuronen auftreten koÈnnen. Hieraus ist abzuleiten, dass neuronale Mechanismen, die mit einer Zunahme des Erinnerungs- und LernvermoÈgens einhergehen, bei einem ansonsten gesunden ZNS auch im Alter erhalten bleiben (Selkoe 1992). Im Gegensatz zu den Neuronen weisen dagegen Astrozyten und Neuroglia mit zunehmendem Alter eine Proliferation auf (Mrak, Griffin et al. 1997), wobei die Bedeutung dieser Proliferation noch nicht eindeutig geklaÈrt ist. Die im Alter nachweisbare Abnahme des globalen, zerebralen Blutflusses (CBF) zwischen 10 und 20 % beruht nicht auf einer arteriosklerotisch bedingten Perfusionsabnahme der zum Gehirn fuÈhrenden Arterien. Vielmehr resultiert diese Durchblutungsabnahme auf einer Verringerung der zu durchblutenden Hirnmasse (Davis, Ackerman et al. 1983). Denn die zerebrale Durchblutung passt sich den erforderlichen metabolischen BeduÈrfnissen an. So liegt, bezogen auf die Durch-

blutung pro Gramm Hirngewicht, eine pathologische Durchblutungsabnahme im Alter nicht vor. Vielmehr ist die zerebrale Durchblutung bei gesunden aÈlteren und juÈngeren Personen recht aÈhnlich. Des Weiteren weist auch die zerebrale Durchblutung und der zerebral-metabolische Umsatz eine enge Beziehung auf, und die Autoregulation liegt auf einem erhoÈhten CO2-Spiegel oder auf einer HypoxaÈmie beim alten Menschen im Normbereich. Im Alter sind dagegen VeraÈnderungen in den verschiedenen Transmittersystemen zu beobachten (Mrak, Griffin et al. 1997). So faÈllt z. B. der Dopaminspiegel und die Anzahl der dazugehoÈrigen Bindungsstellen ab, und die serotonergen, a1-, b1und GABAergen Bindestellen weisen im Groûhirn eine signifikante Verringerung auf. Des Weiteren ist die Anzhal der cholinergen Rezeptoren verringert, und der Cholintransferasespiegel ist vermindert, Faktoren, die eine Bedeutung bei der cholinergen Ûbertragung haben, sodass sich dann auch zwanglos die Symptome einer AlzheimerErkrankung ableiten lassen (Francis, Palmer et al. 1999). Solche eindeutigen Nachweise fuÈr den AktivitaÈtsabfall von cholinergen Bindungsstellen koÈnnen jedoch nicht einfach auf die Opioidrezeptoren uÈbertragen werden. Obgleich Studien zur Verteilung der Opioidbindungsstellen bei alten Patienten nicht vorliegen, so weisen doch klinische Untersuchungen von Lemmens et al. darauf hin, dass die Opioidgabe im Alter nicht mit einer veraÈnderten pharmakodynamischen Wirkung einhergeht. So war, bezogen auf die Pharmakodynamik von Alfentanil, kein Unterschied zwischen einer alten und einer jungen Patientenpopulation nachzuweisen (Lemmens, Bovill et al. 1988), ein Faktor, der besonders fuÈr aÈltere weibliche Patienten offensichtlich wurde (Lemmens, Burm et al. 1990). 24.2

Opioide in der AnaÈsthesiologie des alten Patienten: praÈ-, intra- und postoperativ

Aufgrund des Umbaus der KoÈrpergewebe und einer VeraÈnderung ihrer Durchblutung koÈnnte davon ausgegangen werden, dass die Kinetik der fuÈr den AnaÈsthesisten relevanten Pharmaka und im besonderen die der Opioide deutliche Ønderungen aufweist. Dass dies im Alter nicht in jedem Fall zutreffen muss, machten Helmers et al. deutlich. Bei einem Vergleich von juÈngeren mit aÈlteren Patienten konnte keine signifikante VerlaÈngerung der Eliminationshalbwertszeit, keine Ver-

24.2  Opioide in der AnaÈsthesiologie des alten Patienten: praÈ-, intra- und postoperativ

minderung der Clearance und keine Abnahme des Verteilungsvolumens fuÈr die Opioide Alfentanil und Sufentanil nachgewiesen werden (Helmers, van Peer et al. 1984; Helmers, van Leuwen et al. 1994). Solche Ergebnisse wurden von anderen Forschungsgruppen untermauert, die ebenfalls keinen Unterschied in der Pharmakokinetik von Fentanyl, Alfentanil (Scott u. Stanski 1987) und Sufentanil (Matteo, Schwartz et al. 1990) beobachteten. Auch in einer weiteren Untersuchung konnte fuÈr das Opioid Sufentanil keine signifikante Korrelation der Halbwertszeiten, dem Verteilungsvolumen oder der Clearance zum Alter oder zum Gewicht von Patienten gefunden werden (Lehmann, Sipakis et al. 1993). Selbst fuÈr das Opioid Remifentanil ist die regelmaÈûig zu beobachtende WirkungsverstaÈrkung nicht durch eine Clearanceabnahme zu erklaÈren (Westmoreland, Hoke et al. 1993). Dagegen ist als Ursache der WirkungsverlaÈngerung eine Abnahme des initialen Verteilungsvolumens heranzuziehen, sodass bei alten im Gegensatz zu juÈngeren Patienten initial hoÈhere Blutplasmakonzentrationen zu erwarten sind, die letztlich auch in eine WirkungsverstaÈrkung muÈnden. Zusammenfassend kann deshalb als Ursache fuÈr eine bei aÈlteren Patienten oÈfter zu beobachtende WirkungsverstaÈrkung und WirkungsverlaÈngerung der Opioide eine Abnahme des initialen Verteilungsvolumens und weniger eine Verringerung der Clearance angenommen werden. FuÈr eine ausreichende intraoperative Analgesie sind dagegen, aÈhnlich wie bei juÈngeren Patienten, auch aÈhnlich hohe Plasmawirkspiegel notwendig. So konnten Lemmens et al. fuÈr Alfentanil keine altersbedingten Unterschiede in den Plasmakonzentrationen und den Reaktionen auf Intubation, Hautinzision sowie der Notwendigkeit, am Operationsende Naloxon zu verabreichen, feststellen (Lemmens, Bovill et al. 1988). Dagegen stellten sie jedoch eine bei weiblichen Patienten signifikant negative Korrelation zwischen der Plasmaalfentanilclearance und dem Alter fest. Hieraus wurde abgeleitet, dass wegen der bei weiblichen Patienten groÈûeren Zunahme der Fettanteile von 33 % auf 48 % die Clearance verlaÈngert ist. Wegen der in einigen Studien fehlenden Differenzierung zwischen weiblichen und maÈnnlichen Patienten erklaÈrt diese Zunahme auch einige der in der Literatur kontraÈren Aussagen zur altersbedingten Dynamik der Opioide. Bezogen auf die durch die Opioide Fentanyl und Alfentanil ausgeloÈste und im EEG nachweisbare Sedierung konnten dagegen Stanski u. Scott

273

24

eine fuÈr aÈltere Patienten signifikante Abnahme der Dosis um fast 50 % dokumentieren. Hieraus wurde abgeleitet, dass die SensitivitaÈt des Gehirns auf Opioide mit steigendem Alter zunimmt (Scott u. Stanski 1987). Da es sich jedoch hierbei um den sedativen Effekt handelt, koÈnnen solche Daten nicht ohne Weiteres auf eine analgetische Wirkung extrapoliert werden. Denn unter einer gesteigerten Nozizeption wie der Intubation, dem Hautschnitt oder dem Wundverschluss war unter Alfentanil eine Beziehung zwischen Alter und Pharmakodynamik nicht nachzuweisen (Ausems, Stanski et al. 1985). Auch konnte fuÈr eine Sedierung mit dem Opioid Remifentanil bei aÈlteren Patienten eine Reduktion der Dosis um fast 50 %, eine Abnahme der Clearance um 34 % (Minto, Schnider et al. 1997) bei jedoch unveraÈndertem Verteilungsvolumen (Minto, Schnider et al. 1997) beobachtet werden. Solche Daten sind fuÈr eine zunehmende Empfindlichkeit von Opioidbindestellen im Alter nicht beweisend, weil im Gegensatz zur Sedierung die anderen opioidtypische Effekte wie Atemdepression und Analgesie im Alter durch aÈhnliche Dosen wie beim jungen Organismus ausgeloÈst werden (Shafer u. Varvel 1991). FuÈr die beobachtete WirkungsverlaÈngerung der Opioide im Alter spielt die charakteristische Zunahme der Fettanteile keine Rolle. Denn obgleich sich Opioide mit hoher Lipohilie und einer hohen AffinitaÈt zu fettaÈhnlichen Strukturen in den Fettanteilen »verstecken« und sich somit einer Inaktivierung durch die Leber entziehen koÈnnen (. Tabelle 24-1), ist hieraus nicht zwangsweise eine Zunahme im Verteilungsvolumen der Opioide im Alter abzuleiten. Denn im gleichen Maûe, wie der Fettanteil zunimmt, nimmt auch die Muskelmasse ab, sodass eine generelle Zunahme des Verteilungsvolumens im Alter nicht nachzuweisen ist. WuÈrde dagegen im Alter nur der Fettanteil zunehmen, so muÈssten sich fuÈr die Opioide hoÈhere Verteilungsvolumina ableiten lassen, die dann in einer deutlich verlaÈngerten Wirkungsdauer zu Buche schlagen. Bezogen auf eine WirkungsverlaÈngerung der Opioide beim alten Patienten spielt auch die Lipophilie der Opioide keine Rolle. FuÈr eine WirkungsverlaÈngerung der Opioide ist vielmehr die altersbedingte Abnahme der Durchblutung peripherer Verteilungsvolumina in Betracht zu ziehen, zumal die Gesamtsumme der Verteilungsvolumina im Alter kaum eine VeraÈnderung erfaÈhrt (Christensen, Andraesen et al. 1982; Scott u. Stanski 1987; Bentley, Borel et al. 1982).

274

Kapitel 24  Einsatz der Opioide bei alten Patienten

. Tabelle 24-1. Vergleichende relative LipoidloÈslichkeit und die Anteile nichtionisierter MolekuÈle verschiedener Opioide untereinander. (Nach Bullingham, McQuay et al. 1980; Cookson 1983; Hug 1984; Parab, Coyle et al. 1987; Egan, Lemmens et al. 1993; Schenk, Ensink et al. 1993; PoÈyhiaÈ u. SeppaÈlaÈ 1994)

24

Opioid

WirkungsstaÈrke bezogen auf Morphin ˆ 1

Lipophilie; Oktanol-WasserVerteilungskoeffizient

Nichtionisierte Anteile ( %)

Pethidin Morphin Oxycodon Hydromorphon Alfentanil Buprenorphin Fentanyl Remifentanil Sufentanil Lofentanil

0,1 1 2 7 50 10±50 200±300 200 1000 2000

39 1,4 0,7 8,1 129 2320 860 18 1727 4571

7,4 23 ? 7,0 89 9 8,5 90 20 28

Nur aufgrund der verminderten Durchblutung der peripheren Speicher entzieht sich das Opioid einer Metabolisierung und Inaktivierung durch die Leber. Die Lipophilie der Opioide ist dagegen, aÈhnlich wie bei einem jungen Patienten, der entscheidende physikochemische Parameter fuÈr die HirngaÈngigkeit, d. h. das PenetrationsvermoÈgen durch die physiologische Barriere, die Blut-HirnSchranke. Diese physiologische Barriere stellt einen entscheidenden Hemmfaktor fuÈr viele Medikamente dar, und weil von allen EinleitungsanaÈsthetika ein schneller Wirkungseintritt erwartet wird, ist eine gute HirngaÈngigkeit Voraussetzung fuÈr eine schnelle Ansprechrate. Diese Annahme wird auch dadurch gestuÈtzt, dass sich alle im Rahmen der AnaÈsthesie benutzten Opioide wie Alfentanil, Fentanyl, Remifentanil und Sufentanil durch eine relativ hohe Lipophilie auszeichnen (. Tabelle 24-1). Dagegen benoÈtigt ein mehr hydrophiles Opioid wie das Morphin zum Erreichen einer maximalen Wirkung bis zu 45 min, ein Effekt der durch die langsame Penetration durch die Blut-HirnSchranke zu erklaÈren ist (Beaver, Wallentein et al. 1976). Weil fuÈr den Kliniker nicht der Wirkungsbeginn, sondern die Zeit bis zum Erreichen des maximalen Effektes von Bedeutung ist, muss neben der physikochemischen Eigenschaft Lipophilie auch die verabreichte Dosis beruÈcksichtigt werden. Denn ein zentral induzierter Effekt wird durch die Anzahl der vom Liganden besetzen Rezeptoren bestimmt. Diese Anzahl wiederum ist abhaÈngig von der Anzahl der durch die Blut-HirnSchranke gewanderten OpioidmolekuÈle pro Zeiteinheit.

Weil nur die nichtionisierten MolekuÈle durch die Blut-Hirn-Schranke wandern koÈnnen, sind es die beiden Opioide Alfentanil und Remifentanil, die sich auch im Alter durch den initial schnellsten Wirkungsanstieg bis zur Ausbildung einer maximalen Wirkung von nur 1 min auszeichnen. Der Anteil nichtionisierter MolekuÈle im Blut betraÈgt bei Alfentanil 89 %, waÈhrend bei Remifentanil bis zu 90 % in nichtionisierter Form vorliegen (. Tabelle 24-1). Dies bedeutet, dass im Vergleich zu allen anderen Opioiden in kurzer Zeit groûe Mengen beider Wirksubstanzen an die spezifischen Rezeptoren gelangen, wo sie dann einen Effekt ausloÈsen (s. unten). Da im Rahmen einer AnaÈsthesie die Wirkung der Opioide von den freien Anteilen des Pharmakons im Blut und nicht von den proteingebundenen ausgeht, fuÈhren alle VeraÈnderungen in der Proteineinbindung auch zu Ønderungen in der Dynamik. So binden Opioide besonders an Albumin und a1-Glykoprotein (. Tabelle 24-2), wobei die Bindung an Lipoproteine mit bis zu i60 % uÈberwiegt (Olson, Bennett et al. 1975; Romach, Piafsky et al. 1981; Meuldermans, Hurkmans et al. 1982; Meuldermans, Wostenborghs et al. 1986). Andererseits besteht zwischen den freien Anteilen im Blutplasma und den korpuskulaÈren Elementen des Blutes, den Erythrozyten, ein Flieûgleichgewicht, das vom pH-Wert und der Temperatur abhaÈngt. Es ist deshalb in der Klinik davon auszugehen, dass neben einer unspezifischen Bindung an den Plasmaproteinen auch betraÈchtliche Mengen des Opioids von den roten BlutkoÈrperchen »abgefangen« werden. Weil im Alter, besonders im Rahmen einer postoperativen Katabolie oder bei einer Herzinsuffzienz eine

24.2  Opioide in der AnaÈsthesiologie des alten Patienten: praÈ-, intra- und postoperativ

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24

. Tabelle 24-2. Pathologische ZustaÈnde aÈlterer Patienten, die mit einer Abnahme von Albumin und einer Zunahme von saurem a1-Glykoprotein einhergehen, sodass vermehrte bzw. verminderte Anteile freier Opioidmengen im Plasma vorliegen. Die Zunahme freier Wirksubstanz geht mit einer Zunahme opioidtypischer Wirkungen einher. (Nach Wood 1986)

Albuminabnahme

Zunahme von saurem a1-Glykoprotein

Verbrennungen Chronische Niereninsuffizienz Lebererkrankungen EntzuÈndungen Nephrotisches Syndrom Herzinsuffizienz Postoperative Katabolie UnterernaÈhrung Marasmus bei Tumorerkrankung

Verbrennungen M. Crohn Nierentransplantation Infektionen Trauma Chronische Schmerzen Myokardinfarkt postoperative Phase MalignitaÈt Rheumatoide Arthritis Colitis ulcerosa

Albuminabnahme vorherrscht, kommt es letztendlich einer Zunahme freier Wirksubstanz und einer daraus resultierenden WirkunsgverstaÈrkung (. Tabelle 24-2). Aus allen, teilweise auch widerspruÈchlichen pharmakokinetischen Daten zur Opioidwirkung im Alter laÈsst sich eine zum Erreichen des analgetischen Effekts bei aÈlteren Patienten notwendige Dosisreduktion des Opioids nicht zwingend ableiten. Vielmehr ist zu pruÈfen, ob die beschriebenen pharmakokinetischen VeraÈnderungen altersspezifisch sind und ob diese VeraÈnderungen auch tatsaÈchlich eine praktische Relevanz bezuÈglich der Dosisfindung besitzen. So haben schon 1985 mehrere Forschungsgruppen zeigen koÈnnen, dass der geringere Bedarf von InduktionsanaÈsthetika wie z. B. Thiopental (Christensen, Andraesen et al. 1982), Etomidat (Arden, Holley et al. 1986) und Propofol (Kirkpatrik, Cockshott et al. 1988) beim aÈlteren Menschen nicht auf einer zunehmende Empfindlichkeit der Neurone im zentralen Nervensystem beruht. Auch kann fuÈr eine oÈfters zu beobachtende WirkungsverlaÈngerung bei aÈlteren Patienten nicht einzig und allein das kleinere initiale Verteilungsvolumen verantwortlich gemacht werden (Homer u. Stanski 1985). Vielmehr muss davon ausgegangen werden, dass alle intravenoÈs verabreichten AnaÈsthetika zuallererst eine Passage durch die Lunge machen, um anschlieûend uÈber den arteriellen Blutstrom zu dem eigentlichen Wirkort im ZNS zu gelangen. Dieser hohe initiale Firstpass-Effekt der Opioide ist fuÈr die Lunge und alle weiteren gut durchbluteten Organe nachgewiesen worden (Meuldermans, Hurkmans et al. 1982).

So werden z. B. 65 % der verabreichten Dosis von Pethidin durch Lungengewebe abgefangen, waÈhrend nach Fentanyl 75 % in der initialen Passage von Lungengewebe aufgenommen wird (Roerig, Kotrly et al. 1987). Es ist deshalb davon auszugehen, dass nicht nur beim alten Patienten zuallererst Opioide unspezifisch an den Proteinen im Lungengewebe und anderen gut durchbluteten Organen gebunden werden. Diese Opioidanteile werden im weiteren Verlauf einer AnaÈsthesie wieder in das Blutkompartiment zur Wirkungsvermittlung freigegeben (. Abb. 20-1 und . 20-2). FuÈr die WirkungsverlaÈngerung spielt eine Abnahme des Herzzeitvolumens, wie es beim alten Menschen vorliegt, eine entscheidende Rolle, indem es zu einem verzoÈgerten Auswaschen von aktiver Substanz kommt. Gleichzeitig ist jedoch das Alter durch eine charakteristische Abnahme der Muskelmasse, eine Zunahme der Fettanteile, eine Verringerung des Herzzeitvolumens sowie eine Verringerung der Redistribution charakterisiert (Taeger, Lueg et al. 1986). Insbesondere fuÈhrt die altersbedingte Abnahme des Herzzeitvolumens zu einer VerlaÈngerung der Redistribution aus den inerten Speichern wie z. B. Haut, Muskulatur und Fettgewebe zuruÈck in das Blutkompartiment (. Abb. 20-1 und . 20-2). Als Folge der verringerten peripheren Durchblutung wird mehr Zeit benoÈtigt, um das Opioid wieder aus den peripheren KoÈrperkompartimenten zu spuÈlen, wodurch ein laÈnger anhaltender hoher Blutplasmaspiegel und eine WirkungsverlaÈngerung resultieren. Die Leber ist das Organ, in dem das Opioid uÈber eine Glukuronidierung und N-Methylierung

276

24

Kapitel 24  Einsatz der Opioide bei alten Patienten

seine eigentliche Wirkung verliert, wobei die Opioidelimination von der Konzentration im Plasma und dem hepatischen Plasmadurchfluss abhaÈngt (Schenk, Ensink et al. 1987). Obgleich die mikrosomale EnzymaktivitaÈt der Leber fuÈr den Abbau aller Pharmaka verantwortlich gemacht werden kann und im Alter eine verminderte Leberperfusion zu beobachten ist, muss hieraus nicht notwendigerweise auch eine Abnahme der Clearance resultieren, zumal die Clearanceleistung der Leber im Alter nur mit einer Verringerung von 3 % zu Buche schlaÈgt (Vestal, Norris et al. 1975). Somit ist auch die Clearanceleistung der Leber fuÈr die Opioide Pethidin (Herman, McAllister et al. 1985) und Fentanyl (Tucker 1988) uÈber die verschiedenen Altersstufen gleich, waÈhrend von anderen Autoren fuÈr das Opioid Fentanyl eine altersabhaÈngige Abnahme der Clearance beobachtet wurde (Bentley, Borel et al. 19882). Diese im Alter nur marginal verminderte hepatische Clearance, d. h. das Plasmavolumen, das pro Zeiteinheit von dem Pharmakon befreit wird, ist somit nicht der entscheidende Faktor fuÈr eine WirkungsverlaÈngerung der Opioide. Und weil die Opioideliminationsrate maûgeblich von der Plasmakonzentration und dem hepatischen Plasmafluss bestimmt wird, kann bei einer verminderten Redistribution aus den peripheren Verteilungsvolumina auch nur eine geringere Menge des Opioids metabolisiert werden. Es resultiert hieraus ein aus den peripheren Kompartimenten verzoÈgerter Nachschub und eine daraus resultierende verlaÈngerte pharmakodynamische Wirkung. Auch ist der Anteil der Proteinbindung eines Opioids im Blut (. Tabelle 24-3) kein wesentlicher

Faktor fuÈr den beim alten Patienten oft zu beobachtenden verzoÈgerten Wirkungsanstieg und die verlaÈngerte Wirkungsdauer. Denn der maûgebliche Faktor fuÈr den verzoÈgerten Wirkungseintritt eines Opioids ist die altersbedingte Abnahme des Herzzeitvolumens. Es ist der Parameter, der beim alten Patienten eine Abnahme von bis zu 40 % aufweist, sodass aufgrund der reduzierten Umverteilung auch dem ZNS nur verzoÈgert zur Wirkungsvermittlung ausreichende Anteile des Pharmakons zugefuÈhrt werden (Bender 1965). Die nach Bindung am Rezeptor ausgeloÈsten Effekte erleiden dagegen im Alter keine IntensitaÈtseinbuûe; vielmehr ist eine WirkungsverstaÈrkung festzustellen. Als wesentliche Ursache fuÈr diese WirkungsverstaÈrkung der Opioide beim alten Menschen ist die Umverteilung zugunsten von Gehirn und Herz aufzufuÈhren. Weil das Gehirn einen groÈûeren Anteil des Herzzeitvolumenens mit den darin enthaltenen Pharmaka als die anderen Organe erhaÈlt, resultieren auch hoÈhere Wirkstoffkonzentrationen an den Neuronen. Es ist deswegen die zum Gehirn transportierte Opioidmenge, die als der entscheidende Faktor fuÈr eine WirkungsverstaÈrkung beim alten Patienten anzusehen ist. Diese Annahme konnte durch Taeger et al. mit verschiedenen EinleitungsanaÈsthetika untermauert werden. Sie wiesen naÈmlich nach, dass im Alter eine geringere AffinitaÈt des Lungengewebes fuÈr intravenoÈse AnaÈsthetika vorliegt, sodass im Rahmen der initialen Umverteilung das Gehirn des alten Patienten einen groÈûeren Anteil des intravenoÈsen AnaÈsthetikums als der juÈngere Patient erhaÈlt (Taeger 1981).

. Tabelle 24-3. Vergleichende Proteinbindung sowie pharmakokinetische Daten verschiedener Opioide untereinander. (Nach Vallner, Stewart et al. 1981; Gourlay, Wilson et al. 1982; Hug 1984; Monk, Beresford et al. 1988; Hill, Coda et al. 1991; Egan 1995; McQuay u. Moore 1995; PoÈyhiaÈ, SeppaÈlaÈ et al. 1992)

Opioid

Proteinbindung ( %)

Verteilungsvolumen (Vd) [l/kgKG]

Clearance (Cl) [ml/min/kgKG]

Pethidin Codein Morphin Oxycodon Hydromorphon Alfentanil Buprenorphin Fentanyl Remifentanil Sufentanil Methadon Levomethadon

70 I10 30 38 40 92,1 96 84,4 70 92,5 60±90 85±90

4,4 3,5 3,0±4,0

8±18 12,2 10±23 7±8 26,3 3±8 18,8 10±22 9,1 9±14 ? 0,3

1,22 0,4±1,0 2,7 4,0 0,2±0,4 1,4±2,5 3,0±4,0 3,8

277

24.3  Nebenwirkungen der Opioide im Alter

Zusammenfassend ist festzuhalten, dass aufgrund des verminderten Herzzeitvolumens und der Abnahme der peripheren Durchblutung im Alter die Wirkung der Opioide verzoÈgert auftritt und generell eine WirkungsverlaÈngerung zu erwarten ist. Diese WirkungsverlaÈngerung kann dadurch umgangen werden, dass Opioide mit einem verringerten Verteilungsvolumen (z. B. Sufentanil gegenuÈber Fentanyl) oder ein Opioid wie Remifentanil Verwendung finden. Wegen der Metabolisierung von Remifentanil uÈber unspezifische Blut- und Gewebeesterasen (Egan 1995) erlangt speziell dieses Opioid fuÈr die intraoperative Analgesie dann Bedeutung, wenn von einer Basisanalgesie ausgehend eine kurzfristige Vertiefung der Analgesie angestrebt wird. FuÈr die beim alten Patienten zu beobachtende anfaÈngliche WirkungsverstaÈrkung ist ursaÈchlich die hoÈhere Umverteilung zu Gunsten des ZNS anzufuÈhren, sodass auch eine hoÈhere Konzentration an das Neuron gelangt. Wegen der vermehrt aktiven Wirksubstanz bindet ein Mehr von dem Opioid an dem Rezeptor. Deswegen ist die hierdurch ausgeloÈste Pharmakodyamik intensiver. Praktisch sollte deshalb bei einer Opioiddosierung zu Anfang einer AnaÈsthesie die Ladungsdosis von Fentanyl oder Sufentanil bis auf 50±75 % der klinisch uÈblichen Dosierung reduziert werden. Nachinjektionen sind wegen des AuffuÈllens der peripheren Speicher zu vermeiden; es kann die Zeit der Operation zur Metabolisierung genutzt werden. LaÈsst im Narkoseverlauf die Analgesie nach, so erfolgt die »On-top-Gabe« mit einem kurzwirkendem Opioid, wobei wegen der besonderen Metabolisierung vorzugsweise Remifentail oder Alfentanil zum Einsatz kommen. Um auch im Alter eine suffiziente postoperative Analgesie zu erreichen, sind aÈhnliche Wirkstoffkonzentrationen eines Opioids wie beim juÈngeren Patienten notwendig. Letztlich konnte dies durch die Ergebnisse im Rahmen einer Untersuchung mit der patientenkontrollierten Analgesie (PCA) bestaÈtigt werden. So war zwar eine inverse Korrelation zwischen Verbrauch und Alter bei den Opioiden Fentanyl, Morphin und Pethidin festzustellen. Eine hoÈhere SensitivitaÈt auf diese Pharmaka war jedoch nicht nachzuweisen (Woodhouse u. Mather 1998). Damit jedoch der aÈltere Patient, trotz der interindividuell recht unterschiedlichen VariabilitaÈt der analgetischen Wirkung, ausreichend mit einem Opioid versorgt wird, haben im Rahmen der postoperativen PCA Macintyre u. Jarvis eine

24

Empfehlung bei einer Morphindosierung herausgearbeitet. Hierbei ist das Alter des Patienten maûgeblicher Nominator, der in die Berechnung einer mittleren Morphindosis in den ersten 24 postoperativen Stunden eingeht. Aus der Beziehung »Morphindosis in mg ˆ 100 minus Alter« laÈsst sich ein Anhaltspunkt fuÈr die in den ersten postoperativen Stunden zu verabreichende Dosis errechnen, ein Wert, der den jeweiligen Gegebenheiten angepasst werden sollte (Mcintyre u. Jarvis 1995). 24.3

Nebenwirkungen der Opioide im Alter

Obgleich die WirkungsverlaÈngerung der Opioide im Alter, im Vergleich mit einer juÈngeren Patientenpopulation, nicht mit einer intensiveren Rezeptorinteraktion in Einklang zu bringen ist, so ist doch die Inzidenz an Nebenwirkungen beim alten und beim jungen Patienten recht aÈhnlich (Aubrun, Monsel et al. 2002). Andere Untersucher heben dagegen eine deutlich hoÈhere Inzidenz an Nebenwirkungen hervor (Lavand'Homme u. De Kock 1998), wobei neben Ûbelkeit insbesondere die »klassischen« Nebenwirkungen der Opioide wie die Konstipation aufgefuÈhrt werden. Diese spezielle Nebenwirkung gilt es, beim alten Patienten im Auge zu behalten, zumal sie mit Laxanzien leicht zu korrigieren ist (Forman 1996). Dagegen ist die Entwicklung einer Opioidtoleranz beim alten und beim jungen Patienten recht aÈhnlich. Wie in einer vergleichenden Studie bei Patienten auf der Intensivstation mit dem Opioid Sufentanil gezeigt werden konnte, wurde nach 72 h eine zum Ausgangswert signifikante Zunahme der zur Sedierung notwendigen Sufentanildosis in beiden Gruppen offenkundig. Solche Daten sind auch als ein zwingender Hinweis zu werten, dass rezeptorbedinge Ursachen fuÈr einen Wirkungsunterschied der Opioide beim alten und beim jungen Patienten nicht vorliegen (Hofbauer, Tesinsky et al. 1999). Andere bei alten Patienten auftretende Nebenwirkungen der Opioide sind dagegen immer unter dem Gesichtspunkt einer moÈglichen medikamentoÈsen Interaktion zu beurteilen. So wird z. B. bei dem nach Opioidgabe sich entwickelnden Delir automatisch an eine Nebenwirkung des Analgetikums gedacht. Jedoch sollte bei jedem medikamentenbedingten Delir, wie es besonders im Rahmen einer langfristigen Gabe auftreten kann, immer der Frage einer moÈglichen medikamentoÈsen Interaktion [88] nachgegangen werden (. Tabelle 24-4).

278

Kapitel 24  Einsatz der Opioide bei alten Patienten

. Tabelle 24-4. Zusammenfassung der mit den Opioiden interagierenden Medikamenten und die daraus resultierenden klinischen Auswirkungen. (Nach Becker, Briggs et al. 1974; Blum, Zsigmond et al. 1982; De Castro u. Parmentier 1975; Maurer u. Bartkowski 1993)

Interagierender Wirkstoff

Effekt

H1/H2-Antagonisten (Cimetidin, Ranitidin, Diphenhydramin, Hydroxyzin) Barbiturate (Methohexital, Hexobarbital, Thiopental)

VerstaÈrkung der Atemdepression und Analgesie

Benzodiazepine (Diazepam, Midazolam, Lorazepam)

24

Hypnotika (Clomethiazol, Alkohol) Antihypertensiva (Reserpin, Urapidil, Prazocin) Trizyklische Antidepressiva, Lithium (Imipramin, Desipramin, Amocapin, Sulpirid, Nomifensin, Amitriptylin, Doxepin) Phenothiazine (Chlorpromazin) Antiemetika (Metoclopramid) Volatile AnaÈsthetika (Enfluran, Isofluran, Desfluran, Sevofluran, N2O) Kalziumantagonisten (Nifedipin, Verapamil) MAO-Hemmer (Moclobemid, Maprotilin, Tranylcypromin)

So muÈssen z. B. fuÈr ein im Rahmen der perioperativen AnaÈsthesie auftretendes Delir bei alten Patienten die Pharmaka Ketamin, Benzodiazepine und sogar Propofol in Betracht gezogen werden (Levron u. Marchetti 1989; Parikh u. Chung 1995). Insbesondere jedoch muÈssen die Anticholinergika Atropin und Scopolamin als Verursacher solcher Nebenwirkung herangezogen werden (Inouye 1993). Diese Ûberlegung ist von klinischer Bedeutung, weil Atropin gern zur Behebung einer opioidbedingten Bradykardie eingesetzt wird. Eine Ausnahme bei den Anticholinergika macht das Glycopyrrolat, das die Blut-HirnSchranke nicht passieren kann und deshalb auch keine deliranten Wirkungen, wie die der anderen Anticholinergika, auszuloÈsen imstande ist. Weil pharmakabedingte Nebenwirkungen bei alten Patienten eine bis 56 %ige Inzidenz aufweisen (Levkoff, Bresdine et al. 1986; Francis, Strong et al. 1988), ist immer zu uÈberpruÈfen, ob anstatt des Opioids nicht ein anderes Medikamente als AusloÈser des deliranten Verhaltens in Frage kommt (. Tabelle 24-4). Eine durch die medikamentoÈse Interaktion ausgeloÈste WirkungsverlaÈngerung der Opioide ist immer dann zu erwarten, wenn neben dem Analgetikum gleichzeitig Erythromycin verabreicht wird. Weil dieses Antibiotikum die metabolischen

VerstaÈrkung der Atemdepression, Sedation, Verringerung von Analgesie VerstaÈrkung der Atemdepression, kurzfristig AnalgesieverstaÈrkung VerstaÈrkung der Atemdepression und Analgesie VerstaÈrkung und VerlaÈngerung von Atemdepression und Analgesie VerstaÈrkung,VerlaÈngerung von Atemdepression und Analgesie VerstaÈrkung von Atemdepression, Analgesie und Hypotension VerstaÈrkung der Sedierung VerstaÈrkung von Atemdepression, Analgesie und Hypotension VerstaÈrkung vonAnalgesie und Hypotension VerstaÈrkung von Atemdepression, Analgesie; Sedierung bis hin zum Koma

Prozesse der Leber inhibiert, wird auch der Abbau eines Opioids verzoÈgert. Hieraus kann sich, wie fuÈr Alfentanil gezeigt wurde, eine verzoÈgerte Erholung und eine laÈnger als uÈblich anhaltende Atemdepression entwickeln (Bartkowski, Golber et al. 1989; Bartkowski u. McDonnell 1990). Andererseits kann eine VerstaÈrkung der Opioidwirkung auch uÈber andere neuronale Transmittersysteme induziert werden, wobei besonders das monaminerge (Dopamin, Serotonin), das GABAerge, das histaminerge und/oder das cholinerge System von Bedeutung sind (Bergmann, Wynn et al. 1988; . Tabelle 24-4). Auch kann sich eine medikamentoÈse Interaktion auf Membranebene im Sinne einer Hyperpolarisation abspielen, wie dies z. B. nach der Einnahme von Kalziumantagonisten moÈglich ist. Weil m-Liganden den zellulaÈren Ausstrom von K‡-Ionen verstaÈrken, waÈhrend sie den Ca2‡-Transfer in die Zelle verhindern, resultiert eine Wirkungspotenzierung. Deshalb fuÈhrt speziell beim aÈlteren Patienten die Dauermedikation solcher Pharmaka oder Pharmakagruppen zu einer Wirkungspotenzierung oder zumindest zu einer additiven Wirkung, wobei neben einer wuÈnschenswerten WirkungsverstaÈrkung (Analgesie) auch weniger wuÈnschenswerte Effekte wie Atemdepression und Sedierung eine VerstaÈrkung und/oder eine WirkungsverlaÈngerung erfahren.

24.4  Opioide beim alten Patienten mit chronischen Schmerzen

24.4

Opioide beim alten Patienten mit chronischen Schmerzen

Øltere kognitiv eingeschraÈnkte Patienten mit chronischen Schmerzen sind dadurch charakterisiert, dass sie, anstatt uÈber Schmerzen zu klagen, eher eine stoische Haltung einnehmen und als Folge einer Schmerzzunahme in sich gekehrter sind. Sie untertreiben oÈfter ihre Schmerzen und artikulieren sie seltener (Ward, Goldberg et al. 1993). Um eine aufgrund von Schmerzen sich entwickelnde VerhaltensaÈnderung zu erkennen, kann speziell das fuÈr alte Patienten entwickelte DOLOPLUS-Skalierungssystem zur Schmerzbeurteilung eingesetzt werden (Michel, Capriz et al. 2000), in dem auf die somatischen, psychomotorischen und psychsozialen Auswirkungen von Schmerzen eingegangen wird. Denn speziell bei aÈlteren dementen Patienten gibt er Hinweise auf Ønderungen in der aktuellen Schmerzsymptomatik. Alternativ kann auch das von Morello u. Alix entwickelte ECDPA-Skalierungssystem (»eÂchelle comportementale de la douleur pour personnes ageÂes non communicantes«) eingesetzt werden, das ebenfalls auf VerhaltensaÈnderungen waÈhrend und innerhalb der Pflege sowie auf Ønderungen der koÈrperlichen und kommunikativen AktivitaÈten eingeht. Weil beim aÈlteren Patienten neben einer malignen Erkrankung oÈfter zusaÈtzlich weitere schmerzrelevante ZustaÈnde wie z. B. eine Osteoporose, eine Osteoarthritis und/oder Frakturen als Folge von StuÈrzen vorliegen, sollte eine Optimierung der Schmerztherapie mit einem Opioid erfolgen. Andererseits sind solche Patienten meistens auch durch multiple Organerkrankungen und durch die Einnahme mehrerer Medikamente charakterisiert (Ferrell, Ferrell et al. 1995). Von allen zur VerfuÈgung stehenden Analgetika ist die Gruppe der Opioide dadurch gekennzeichnet, dass sie die wenigsten Nebenwirkungen aufweist, zumal NSAID beim alten Patienten ein 4fach hoÈheres Risiko fuÈr ein peptisches Ulkus inne haben (Griffin, Piper et al. 1991). Weil jedoch, aufgrund der verminderten Metabolisierung von Opioiden, beim alten Patienten mit chronischen Schmerzen die Schmerzmittel laÈnger und in hoÈheren Konzentrationen im Organismus verbleiben, ist ihre Wirkungsdauer anhaltender und ihr Wirkungseffekt intensiver. Solche Ûberlegungen fuÈhren meistens dazu, dass in der Opioidtherapie alter Patienten ZuruÈckhaltung geuÈbt wird. Hierzu besteht jedoch keine Veranlassung, wenn trotz einer laÈngeren Wirkungsdauer

279

24

die Opioidtherapie mit 1/2 bis 1/3 der uÈblichen Erwachsenendosis begonnnen und anschlieûend die Dosis dem gewuÈnschten Wirkungsoptimum angepasst wird. Unter einer Opioidtherapie sollten jedoch die Nieren- und auch die Leberfunktion kontrolliert werden, weil beide Ausscheidungssysteme im hohen Alter kritische Parameter fuÈr eine Wirkungsoptimierung ohne Nebenwirkung darstellen (Jacox, Carr et al. 1994). Von den Opioiden wird das PraÈparat genommen, das die wenigsten Nebenwirkungen aufweist. Hierbei bietet Propoxyphen, was die analgetische Wirkung betrifft, gegenuÈber Aspirin oder Paracetamol keine Vorteile. Pentazocin ist wegen des haÈufig mit dem Pharmakon einhergehenden Delirium und der Agitation zu vermeiden, und von Pethidin geht, insbesondere bei einer renalen AusscheidungsstoÈrung, eine Akkumulation des aktiven Metaboliten Norpethidin mit Delirium und KraÈmpfen aus. Unter Methadon kommt es wegen der langen terminalen Eliminationshalbwertszeit zur Akkumulation, waÈhrend bei opioidnaiven aÈlteren Patienten ZuruÈckhaltung mit dem transdermalen Fentanyl (Fentanyl TTS) geboten ist (Portenoy 1992). Denn wegen der mit der transdermalen Applikationsform einhergehenden verlaÈngerten Halbwertszeit kann es hierbei schnell zu Ûberdosierungen mit einer Atemdepression kommen [27, 29]. Im Rahmen der Schmerztherapie werden beim alten Patienten haÈufiger das Opioid Morphin (Forman 1996; Shimp 1998) und die semisynthetischen Derivate Codein und Dihydrocodein eingesetzt. Da Codein und Dihydrocodein den groÈûten Teil ihrer Wirkung erst nach ihrer Umwandlung in den aktiven Metaboliten Morphin aufweisen, sind, insbesondere bei langfristiger Einnahme und aÈhnlich wie nach Morphin, nach beiden Opioiden Nebenwirkungen zu erwarten. So wird Morphin in der Leber hauptsaÈchlich zu Morphin-3- und in nicht unerheblichen Mengen zu Morphin-6-glucuronid metabolisiert (Boerner, Abbott et al. 1975), das schon 30 min nach Einnahme in signifikanten Mengen im Blutplasma nachweisbar ist (Osborne, Joel et al. 1986) und dessen Glukuronidierung uÈber eine Familie von Isoenzymen, den Uridindiphosphat-Glucuronosyltransferasen, erfolgt (Lawrance, Michalkiewicz et al. 1992). Weil Morphin-6-Glucuronid ein wirkungsstarkes Analgetikum mit ausgepraÈgter Atemdepression ist (Hanna, Peat et al. 1990), kann aufgrund der langsamen Penetration in das ZNS erst nach 1 h und spaÈter eine Atemdepression auftreten (Pelligrino, Riegler et al. 1989). Hiervon betroffen

280

24

Kapitel 24  Einsatz der Opioide bei alten Patienten

sind besonders Patienten mit Niereninsuffizienz, bei denen eine durch Morphin-6-glucuronid ausgeloÈste WirkungsverlaÈngerung mit Intoxikationszeichen eintreten kann (Osborne, Joel et al. 1986). Von dem anderen Metaboliten des Morphins, dem Morphin-3-Glucuronid, geht dagegen eine antagonistische Wirkung aus (Smith, Watt et al. 1990). Es ist somit immer das VerhaÈltnis von Morphin-6- zu Morphin-3-Glucuronid von Bedeutung, das fuÈr die eigentliche analgetische Wirkung, aber auch fuÈr die Inzidenz evtl. Nebenwirkungen verantwortlich zu machen ist (Lawrance, Michalkiewicz et al. 1992). So kann eine Akkumulation von Morphin-3-Glucuronid zu Nebenwirkungen fuÈhren, die sich erst nach Tagen in Form von deliranten ZustaÈnden offenbaren (Galer, Coyle et al. 1992). In solchen FaÈllen ist die MoÈglichkeit einer Opioidrotation in ErwaÈgung zu ziehen (de Stoutz, Bruera et al. 1995), wobei dann vorzugsweise auf ein Opioid mit fehlenden aktiven Metaboliten wie z. B. Hydromorphon zuruÈckzugreifen ist (McCaffery u. Pasero 1999). Obgleich Morphin das Opioid ist, welches am besten untersucht wurde, so stellen doch die Opioide Hydromorphon und Oxycodon, aufgrund ihrer geringeren Plasmaeiweiûbindung, dem Fehlen pharmakologisch aktiver Metaboliten und einer kurzen Halbwertszeit, eine echte Alternative dar (McCaffery u. Pasero 1999). Beim alten Patienten ist die Inzidenz opioidtypischer Nebenwirkungen, speziell die Sedierung, groû. Substanzen, die solche Nebenwirkungen verhindern sollen, koÈnnen selbst Nebenwirkungen besitzen. Somit liegt die effektivste Strategie einer opioidbedingten Sedierung in einer Dosisreduktion. Sollte bei dem Patienten eine ausreichende Schmerzreduktion vorliegen, so kann die Dosis in Schritten fraktioniert um 1±25 % reduziert werden (McCaffery u. Pasero 1999). Ist ein solches Vorgehen nicht erfolgreich, koÈnnen ZNSStimulanzien wie Koffein, Methylphenidat, Pemolin oder Modafinil zur Vigilanzanhebung eingesetzt werden. Auch kann bei dieser Patientenpopulation eine Opioideinsparung durch die Kombination mit einer Verhaltenstherapie angestrebt werden (Rhiner, Ferrell et al. 1993), denn eine Opioideinsparung ist im Alter immer dann anzustreben, wenn die vielen zusaÈtzlich eingenommenen Medikamente (z. B. Antihypertonika, Ca-Antagonisten) eine Interaktion mit Opioiden erwarten lassen. Exemplarisch sollen in diesem Kontext nur einige der PraÈparate aufgefuÈhrt werden [28], die uÈber neuronale Mechanismen letztlich zu einer Wir-

kungsverstaÈrkung bzw. einer WirkungsverlaÈngerung fuÈhren (. Tabelle 24-4). Besonders wird bei der Schmerztherapie aÈlterer Patienten mit Opioiden eine Atemdepression befuÈrchtet. Der Patient weist gegenuÈber dieser Nebenwirkung im Laufe einer Opioidtherapie jedoch eine zunehmende Toleranzentwicklung auf. Die Nebenwirkung wird meistens nur dann manifest, wenn das Opioid intravenoÈs gegeben wurde oder wenn zur abrupten Schmerzbefreiung der stimulierende Effekt des Schmerzes nicht mehr die sedative Wirkung des Opioids antagonisiert und eine Hypoventilation resultiert. Eine opioidbedingte Atemdepression ist deswegen meistens nur bei opioidnaiven aÈlteren Patienten und alten Patienten mit pulmonalen Erkrankungen zu beobachten (Schmidt-Luggen 2000). Zusammenfassend ist festzuhalten, dass alte Patienten mit chronischen Schmerzen weniger oft ihre Schmerzen artikulieren, was zu einer Unterversorgung mit Analgetika fuÈhrt. Andererseits werden solche Patienten, wegen der hoÈheren Inzidenz moÈglicher Nebenwirkungen, mit zu schwachen Opioiden versorgt, bzw. es werden staÈrker wirkende Opioide unterdosiert. Generell ist jedoch bei einem alternden Organismus ein zerebraler Umbau und eine damit einhergehende kognitiver EinschraÈnkung nicht in jedem Fall zu erwarten, sodass es nicht immer zu einer WirkungsverstaÈrkung des Opioids kommt. Denn der zerebrale Um- und Abbau verlaÈuft im Alter recht unterschiedlich und weist eine groûe interindividuelle VariabilitaÈt auf (Morris u. McManus 1991). Die effektivste protektive Maûnahmen gegen einen zerebralen Abbau stellen physische AktivitaÈten dar, wodurch sich ein altersbedingtes, zerebrales Leistungsdefizit verhindert laÈsst (Light 1990). Belegt wurde diese Annahme durch physisch aktive 80-JaÈhrige, die in Tests zur Bestimmung der kognitiven LeistungsfaÈhigkeit, im Gegensatz zu juÈngeren Individuen, deutlich bessere Ergebnisse aufwiesen (Keefover 1998). Bei einem physisch aktiven aÈlteren Patienten ist deshalb auch keine hoÈhere Inzidenz an opioidbedingten Nebenwirkungen zu erwarten Dagegen weisen generell alte Patienten in Altenheimen haÈufig eine unzureichende Schmerztherapie auf, weil geschultes Personal fehlt, das eine individuelle Opioidmedikation kontrolliert bzw. Nebenwirkungen rechzeitig erkennt. Hier waÈre ein maûgeblicher Ansatzpunkt in Richtung auf eine Schmerzreduktion zu sehen, weil mit Opioiden langfristig auch eine Verbesserung der LebensqualitaÈt der alten Patienten zu erreichen ist.

25 Analgesie mit Opioiden bei Unfallverletzten 25.1 25.2

Welches Opioid bei welchem Notfall

± 282

Opioidnarkose im Rettungsdienst ± 283

Noch bis vor kurzem bestand die Forderung, nach einem Bauchtraum keine Analgetika zu geben, um eine akute Symptomatik nicht zu verschleiern und eine erweiterte Diagnostik nicht zu erschweren. Diese Forderung hat heute nicht mehr die gleiche GuÈltigkeit, da invasive (Peritoneallavage) und nichtinvasive bildgebende Verfahren zur erweiterten Diagnostik (RoÈntgen, Sonographie, CT) zur VerfuÈgung stehen, ohne dass eine aktive Mitarbeit vom Patienten notwendig ist. Die Furcht vor potenziellen Nebenwirkungen ist jedoch der Grund dafuÈr, dass in vielen FaÈllen bei Verletzten mit starken Schmerzen oft keine oder nur schwach wirksame Analgetika verabreicht werden. Akute SchmerzzustaÈnde, besonders bei Notfallpatienten, sind dadurch gekennzeichnet, dass die sie begleitende vegetative Dysregulation (sympathoadrenerge Gegenregulation) zusaÈtzliche Folgen am kardiovaskulaÈren System bedingt. So kann beispielsweise bei einem Myokardinfarkt ein gesteigerter Sympathikustonus ein Kammerflimmern ausloÈsen. Weiterhin muss ein neurohumural bedingter Verlust der alveolokapillaÈren IntegritaÈt mit Stauung und FluÈssigkeitsansammlung und einer daraus resultierenden Complianceabnahme der Lunge bedacht werden, wenn Verletzungen des Thorax und seiner Organe bereits zu einer respiratorischen Insuffizienz fuÈhren oder Frakturen, ein stumpfes Thorax- und/oder ein Bauchtrauma, Verbrennungen und Weichteilquetschungen vorliegen [624, 625].

Im Notfall ist eine Analgesie besonders dann von Bedeutung, wenn ein drohender oder manifester Schock durch schwere Schmerzen verstaÈrkt oder unterhalten wird, bzw. Schmerzen eine ausreichende Atmung verhindern. Da Unruhe und Dysregulation allein nicht durch ein Analgetikum aufgehoben werden koÈnnen, und das folgende »Transporttrauma« eine wesentliche Rolle bei der Verschlechterung des Notfallpatienten spielt, werden zusaÈtzlich Sedativa zur Stressprotektion empfohlen [626]. Das ideale Analgetikum fuÈr den Notfalleinsatz sollte 4 eine hohe analgetische Potenz besitzen, 4 einen schnellen Wirkungseintritt haben, 4 keine zu lange Wirkdauer haben, 4 nicht kumulieren und gut steuerbar sein, 4 keine Nebenwirkungen auf Herz, Kreislauf und Atmung haben. Weil es derzeit noch kein Medikament gibt, das alle Forderungen erfuÈllt, muss je nach vorliegendem Notfall das Opioid mit dem guÈnstigsten Wirkungsspektrum herausgesucht werden (. Tabelle 25-1): FuÈr die Wahl der Dosierung muÈssen Faktoren wie Volumenmangel, Schweregrad der Verletzung, Alter und Grad der Alteration des Patienten beachtet werden. ! GrundsaÈtzlich wird immer mit 50 % der uÈblichen

Einzeldosis begonnen und anschlieûend nach Wirkung titriert.

282

Kapitel 25  Analgesie mit Opioiden bei Unfallverletzten

. Tabelle 25-1. Dosierung von Opioiden bei der Schmerzbehandlung im Notfall (PAD pulmonalarterieller Druck). (Mod. nach [627, 628])

25

Opioid

Dosierung [mg  70 kg 1]

Wirkungseintritt Wirkungsmaximum [min] [min]

Wirkungsdauer [min]

Bemerkung

Morphin

2,5±5,0

3±5

20

240±360

Fentanyl Alfentanil Ketamin

0,05±0,1 0,7±1,5 10±30

1±2 1 1±3

5 2 5

25±35 5±10 15

Nalbuphin Tramadol

10±20 50±100

5 5±8

10 20

120±180 120±240

Pethidin

25±50

1±2

15

120±180

Meptazinol Pentazocin

50±100 30±60

2 2±6

15 20

120±180 180±240

Piritramid Buprenorphin

7,5±15 0,15±0,3

2±5 10±15

15 45

240±360 360±480

Atemdepression, Histaminfreisetzung, Emesis Atemdepression Atemdepression Dysphorie, kardiovaskulaÈre Stimulierung Sedierung Schwache Wirkung, Ûbelkeit, Emesis Kreislaufdepression, Tachykardie Schwindel Tachykardie, PAD-ErhoÈhung Sedierung VerspaÈtete Atemdepression

Der Applikationsweg der Wahl ist die intravenoÈse Injektion, da besonders im Schock eine subkutane oder intramuskulaÈre Injektion, wegen des verminderten Resorptionsverhaltens, zu zeitlich und quantitativ nicht vorhersehbaren Wirkungen fuÈhrt. Peripher wirkende Analgetika, die intravenoÈs applizierbar sind, beispielsweise Metamizol (Novalgin 1,25 mg), und. ASS-Lysin (Aspisol 0,5±1,0 g), haben beim Notfallpatienten eine eingeschraÈnkte Bedeutung. Ihr Indikationsgebiet ist vorwiegend der Wundschmerz. Sie sollten langsam uÈber 2±3 min injiziert werden, um BlutdruckabfaÈlle zu vermeiden. Die von AcetylsalicylsaÈure ausgehende Thrombozytenaggregationshemmung begrenzt jedoch den Einsatz bei Patienten mit SchaÈdel-Hirn-Trauma wegen einer verstaÈrkten intrakraniellen Blutungsneigung. Hierbei kann eine Kombination von einem schwachen Opioid wie Tramadol mit Metamizol die Vorteile beider Substanzen (Blockade von SchmerzuÈbertragung und Schmerzempfindung ohne Atemdepression) im Sinne einer Potenzierung nutzen. AcetylsalicylsaÈure ist jedoch ein Analgetikum der ersten Wahl bei Patienten mit einem Herzinfarkt, weil hierdurch thrombolytische Eigenschaften des PraÈparates genutzt werden koÈnnen.

25.1

Welches Opioid bei welchem Notfall

Nicht nur aus pharmakologischen, sondern auch aus pragmatischen GruÈnden ist beim Notfallpatienten bei der BekaÈmpfung von Schmerzen, in AbhaÈngigkeit von der Art der Verletzung oder der Erkrankung folgende Medikation zu empfehlen: 1. Bei Frakturen der ExtremitaÈten, isolierten Traumen und einer unklaren Diagnose ist erfahrungsgemaÈû ein rasch angreifendes peripheres Analgetikum angezeigt, u. U. kombiniert mit einem schwachen Opioid wie z. B. Tramadol oder dem mittelstark wirkenden partiellen Agonisten Meptazinol. 2. Bei schweren, durch Traumen oder durch Verbrennung ausgeloÈste Schmerzen ist erfahrungsgemaÈû mit peripher angreifenden Analgetika keine ausreichende Schmerzbefreiung zu erreichen. Neben einem peripher angreifenden Analgetikum (z. B. Metamizol) ist ein Opioid wie z. B. Tramadol oder Meptazinol oder bei staÈrkeren Schmerzen das Opioid Piritramid einzusetzen. Meptazinol weist Vorteile bei haÈmorrhagischen Schock auf, weil es neben einer kreislaufstabilisierenden Wirkung im Vergleich zu Morphin keine nennenswerte atemdepressorische Effekte aufweist. 3. Bei staÈrksten Schmerzen, polytraumatisierten und/oder bewusstlosen Patienten ist alternativ

283

25.2  Opioidnarkose im Rettungsdienst

Morphin oder Piritramid das Mittel der Wahl. Unter UmstaÈnden ist schon eine notfallmaÈûige Narkose einzuleiten. Hierbei ist dem sehr starken Opioid Fentanyl oder Alfentanil in Verbindung mit Intubation und kontrollierter Beatmung der Vorzug zu geben, wobei je nach KreislaufverhaÈltnissen zusaÈtzlich ein Neuroleptikum oder ein Benzodiazepin wie Midazolam gegeben wird (. Tabelle 25-1). ! In AbhaÈngigkeit von der Notfallsituation ist auch

die Indikation fuÈr das eine oder das andere Analgetikum recht unterschiedlich [629, 630]: 1. Traumatischer Unfall 5 Opioide und Sedativa 5 Ketamin und Sedativa 2. Akutes Abdomen 5 Metamizol, Spasmolytika, Ketamin 3. Herzinfarkt 5 Sedativum, AcetylsalicylsaÈure, Opioide 4. Status asthmaticus, Status epilepticus und zerebrale KrampfanfaÈlle 5 Ketamin, Benzodiazepin

25.2

25

Opioidnarkose im Rettungsdienst

Eine Narkose im Rettungsdienst ist immer dann einzuleiten, wenn ausgedehnte Verletzungen vorliegen, die eine sofortige und ausreichende Analgetikagabe erfordern und wenn zur Sicherung der Atmung eine Beatmung notwendig ist. 4 Einleitung: Fentanyl 0,1±0,3 mg i. v. oder ± Remifentanil 0,1±0,3 mg/kgKG/min ± Etomidate 0,2±0,3 mg/kgKG i. v. oder ± Propofol 2±3 mg mg/kgKG/h 4 Intubation nach PraÈoxygenisierung 4 WeiterfuÈhrung der Analgesie je nach KreislaufverhaÈltnissen mit ± Fentanyl 0,1±0,3 mg oder ± Alfentanil 1±3 mg oder ± Remifentanil 0,1±0,3 mg/kgKG/min 4 Achten auf: ± kontinuierliche Analgesie ± Kontinuierliche Sedierung ± Ausreichende Volumensubstitution ± Beatmung je nach Trauma (PEEP, Hyperventilation) ± Rechtzeitige Katecholamingabe (Dopamin/ Dobutamin) Zusammenfassend ist festzuhalten, dass von den stark wirkenden Analgetika vom Opioidtyp, aufgrund des Wirkungsspektrums und der moÈglichen Nebenwirkungen, letztlich nur Meptazinol, Piritramid und Morphin zur Behandlung schwerer SchmerzzustaÈnde beim Notfallpatienten geeignet sind. Bei leichteren Schmerzen sind Nalbuphin oder Tramadol zu empfehlen [626, 628]

26 Opioide in der Intensivmedizin 26.1

Sufentanil zur Analgosedierung ± 289

26.2

Nebenwirkungen der Analgosedierung ± 292

26.2.1

Dosisfindung der Opioide im Rahmen der Sedierung ± 292 Toleranzentwicklung der Opioide im Rahmen der Sedierung ± 292 Entzugssymptomatik der Opioide im Rahmen der Analogsedierung ± 293

26.2.2 26.2.3

Ein einheitliches Konzept fuÈr den Einsatz der Opioide in der Intensivmedizin besteht nicht. Befragungen von Patienten zeigen jedoch, dass nicht so sehr die Angst im Vordergrund der BefindlichkeitsstoÈrungen steht, als vielmehr Schmerzen, die mit uÈber 40 % einen betraÈchtlichen Teil einnehmen. Aufgrund einer Befragung werden von Patienten folgende EinfluÈsse als unangenehm empfunden [631]: 4 UnmoÈglichkeit, bequem zu liegen: 55 %. 4 Schmerzen: 41 %. 4 Angst: 18 %. 4 Tragen einer Maske: 17 %. 4 StoÈrung durch pflegerische Maûnahmen: 11 %. 4 Licht, auch waÈhrend der Nacht: 11 %. 4 GeraÈusche durch Pflegepersonal: 10 %. 4 GeraÈusche durch andere Patienten: 7 %. 4 GeraÈusche durch GeraÈte: 7 %. Es steht offenbar nicht die Angst im Mittelpunkt, weshalb ein Anxiolytikum nicht als das Mittel der ersten Wahl fuÈr den Intensivpatienten anzusehen ist. Vielmehr sind es Schmerzen, die es gilt, bei einem Patienten mit ausreichenden Mitteln, ohne seine lebenswichtigen KoÈperfunktionen zusaÈtzlich weiter zu beeintraÈchtigen, zu unterdruÈcken. Die Schwierigkeit fuÈr die Erstellung eines in allen FaÈllen geeigneten Therapieschemas resultiert dabei aus der Tatsache, dass Intensivpatienten aus den unterschiedlichsten Fachdisziplinen und wegen der verschiedensten therapeutischen Zielsetzungen behandelt werden muÈssen. Dabei stehen

jeweils bestimmte Aspekte der Therapie im Vordergrund, so z. B. in der Neurochirurgie und Neurologie, wo die Protektion der zerebralen Funktionen bei noch erhaltener MoÈglichkeit zur Beurteilung des neurologischen Status im Vordergrund steht. Oder in der Kardiochirurgie, wo die SchmerzunterdruÈckung zur Elimination schaÈdigender sympathikotoner Stimuli und die UnterdruÈckung aller Faktoren gefordert wird die zu moÈglichen negativen Auswirkungen auf das kardiovaskulaÈre System und einen myokardialen O2-Mehrbedarf verhindern. Auch haben die Patienten unterschiedlich stark ausgepraÈgte StoÈrungen der HaÈmodynamik und des SaÈure-Basen-Haushalts und sind die Funktionen unterschiedlicher Organe in einem nicht zu definierendem Ausmaû eingeschraÈnkt. Zu denken ist aber auch an eine medikamentoÈse Polypragmasie, die zu einer nicht vorhersehbaren Arzneimittelinteraktion fuÈhrt. Deshalb koÈnnen die an Gesunden ermittelten Halbwertszeiten, und damit auch die Aufwachzeiten nach den im Rahmen der Intensivmedizin gegebenen Opioiden, bei langfristiger und hochdosierter Anwendung recht unterschiedlich sein, weil nicht nur die metabolische Leistung der Leber, sondern auch die ProteinbindungskapazitaÈten (mehr freie ungebundene und damit wirksame Substanz) stark differieren. So gehen viele Krankheiten und die Operation per se auf der Intensivstation mit einer herabgesetzten Proteinbindung einher, wie z. B.

286

4 4 4 4 4 4 4 4 4 4

26

Kapitel 26  Opioide in der Intensivmedizin

Verbrennungskrankheit, chronische Bronchitis, Diabetes mellitus, Herzinsuffizienz, MangelernaÈhrung, UraÈmie, Karzinom, chronische EntzuÈndungen, Sepsis, Enteropathie Insbesondere koÈnnen aufgrund der mehrere Liter betragenden Verschiebung von FluÈssigkeiten vom Intra- zum ExtrazellulaÈrraum auch entsprechende Dosisschwankungen der Medikamente fuÈr die Analgosedierung auftreten. Auch kann die Funktion der Blut-Hirn-Schranke gestoÈrt sein, wodurch die an den Rezeptor zentral angreifenden Substanzen in ihrer Konzentration am Wirkort erhoÈht sind. Messungen der Serumspiegel zur Beurteilung einer Opioidwirkung sind ungeeignet, da die Halbwertszeiten im Hirngewebe, ein Mehrfaches der Serumeliminationshalbwertszeiten betragen koÈnnen [459], sodass die Effekt-Kompartiment-Konzentration langsamer abfaÈllt als die Plasmakonzentration. Dennoch lassen sich allgemein anerkannte GrundsaÈtze fuÈr die Anwendung bei Intensivpatienten herauskristallisieren. So sind Opioide in der Intensivmedizin dann indiziert, wenn eine Analgosedierung erforderlich wird. Am haÈufigsten wird dies der Fall sein, wenn der Patient: 1. beatmet werden muss; trotz moderner BeatmungsgeraÈte und -methoden ist eine ausreichende Adaptation des Patienten an den Respirator ohne zusaÈtzliche medikamentoÈse Therapie oÈfters nicht moÈglich; 2. aufgrund schmerzhafter ZustaÈnde zu therapieren ist, und zwar solcher, die auf der Grunderkrankung selbst basieren (posttraumatischer oder postoperativer Schmerz) oder im Umfeld therapeutischer Maûnahmen auftreten (Physiotherapie, Verbandswechsel). In beiden FaÈllen bleibt eine befriedigende analgetische und sedative Wirkung meist dann versagt, wenn eine Monotherapie betrieben wird, d. h. wenn nur ein Opioid oder nur ein Medikament aus der Gruppe der Hypnotika, Neuroleptika oder Sedativa allein verabreicht wird (. Tabelle 26-1). Bessere Ergebnisse sind aus Kombinationen von einem Analgetikum und einem Sedativum zu erwarten, wobei die einzelnen Komponenten nicht in fest vorgegebenen MischungsverhaÈltnissen angewendet werden muÈssen, sondern zusaÈtzliche Boli der einen oder der anderen Substanz,

entsprechend den jeweiligen Erfordernissen, gegeben werden koÈnnen. HauptsaÈchlich kommen die in . Tabelle 26-1 aufgefuÈhrten Wirkstoffkombinationen oder Monotherapien in Betracht [559, 632±635]. BezuÈglich der Applikation stellt hierbei die kontinuierliche intravenoÈse Gabe die guÈnstigste MoÈglichkeit dar, einen konstanten Wirkungsspiegel der verabreichten Pharmaka bei langfristiger Gabe zu erzielen. Eine sich am Schmerz orientierende Analgesie und damit Opioidgabe ist dagegen bei der Langzeitanwendung nicht zu empfehlen. Vorzugsweise ist auch hier oberstes Therapieziel, aÈhnlich wie beim postoperativen Schmerz, die Aufrechterhaltung eines konstanten Wirkungsspiegels und einer damit einhergehenden genuÈgenden Rezeptorbesetzung, sodass die Schmerzschwelle nie uÈberschritten wird. Eine Bolusgabe ist ausnahmsweise dann angezeigt, wenn besonders schmerzhafte therapeutische Maûnahmen kurzfristig getroffen werden (Verbandwechsel, Absaugen, Umlagern, Tracheotomie u. a.). Von den zahlreichen eingesetzten Pharmaka fuÈr die Analgosedierung stehen somit an erster Stelle alle diejenigen Opioide, die sich im Idealfall asuzeichen durch: 1. eine hohe analgetische Potenz, 2. eine ausreichende antitussive Wirkung, 3. eine groûe therapeutische Breite, 4. eine fehlende OrgantoxizitaÈt, 5. keinerlei BeeintraÈchtigung des kardiovaskulaÈren Systems, 6. eine zu vernachlaÈssigende Kumulation bei Langzeitanwendung, 7. eine nur geringe Auswirkungen auf die DarmtaÈtigkeit,

. Tabelle 26-1. Zusammenstellung der Pharmaka, die fuÈr eine Analgosedierung verwendet werden

Wirkstoff

Dosierung

Fentanyl/Midazolam Alfentanil/Midazolam Fentanyl/ Dehydrobenzperidol Sufentanil/ Dehydrobenzperidol Fentanyl/Alfentanil/ Sufentanil mit Propofol Sufentanil

30ml/18mlˆ1,5mg/90mg 30ml/18mlˆ15mg/90mg 40 ml/10 ml ˆ 2 mg/25 mg

Methohexital pur Ketamin/Midazolam

20ml/10mlˆ1000mg/25mg

20 ml ˆ 400 mg auf 30 ml Kochsalz 500 mg/50mg

26  Opioide in der Intensivmedizin

8. eine nicht nachweisbare Kumulation und Interaktion mit anderen Medikamentengruppen, 9. eine MoÈglichkeit der Bolusgabe zur Vertiefung der Analgosedierung, 10. eine moÈglichst geringe Beeinflussung des endokrinen Systems. Es werden zahlreiche Analgosedierungschemata fuÈr den intensivmedizinischen Bereich empfohlen [634, 636±639, 640±646]. In den meisten FaÈllen wird jedoch der Wirkstoffkombination mit einem Opioid der Vorzug gegeben. Hierbei sind es speziell die stark wirkenden Opioide, die im Gegensatz zu den schwaÈcher wirkenden zentralen Analgetika (Piritramid, Tramadol, Pethidin) Vorteile aufweisen. So sind zum einen Anstiege des intrakraniellen Drucks nach Ketamin/Flunitrazepam als auch Anstiege des pulmonalarteriellen Drucks unter der Kombination Piritramid/ Promethazin, Pethidin/Flunitrazepam und Tramadol/ Methohexital beschrieben worden [637]. Besonders jedoch ist nach diesen Medikametenkombinationen das Aufwachverhalten durch einen vergleichsweise laÈngeren Ûberhang charakterisiert. Andererseits koÈnnen unter einer Analgosedierung mit Ketamin/Midazolam bei katecholaminpflichtigen Patienten Vorteile im Sinne einer verminderten exogenen Katecholaminzufuhr erreicht werden [640]. Dehydrobenzperidol wurde fruÈher auch gerne verabreicht, um die unter einem Opioid auftretende Drucksteigerung in den GallengaÈngen sowie Cholestase entgegenwirken [647, 648]. Auch war es beim Alkoholiker in der Therapie des Delirs eine recht wirkungsvolle Alternative im Sinne einer antipsychotischen Wirkung [649]. Neben dieser antipsychotischen Wirkung wurde seine antiarrhythmische, antihistaminerge und antiemetische EffektivitaÈt hervorgehoben. Da jedoch unter diesem Neuroleptikum, insbesondere bei der Verwendung hoher Dosen, in einigen FaÈllen eine QT-ZeitverlaÈngerung im EKG mit der Gefahr von »torsade de pointes« (tachykarde HerzrhyhmusstoÈrungen) beobachtet wurde, ist der Vertrieb eingestellt worden und steht dieses Butyrephenon zur Therapie nicht mehr zur VerfuÈgung. Alternativ wird momentan der a2-Agonist Clonidin (Catapresan, Paracefan) eingesetzt, weil er folgende Vorteile aufweist: 4 suffiziente Delirbehandlung beim Alkoholiker, 4 eine Senkung des Noradrenalinspiegels, 4 Einsparung von Opioiden und/oder Benzodiazepinen, 4 VerkuÈrzung der Beatmungszeiten, 4 Verringerung des Durchgangssyndroms,

287

26

4 Verringerung eines medikamentoÈsen Ûberhangs. Bei dem Einsatz von Sedativa beim Intensivpatienten schwanken die Eliminationshalbwertszeiten selbst bei dem sonst sehr kurzwirkenden Midazolam um den Faktor 30 [650]. Einige Autoren geben deshalb, unter anderem aus der ErwaÈgung einer langfristigen Applikation, dem Flunitrazepam den Vorzug [651]. Auûerdem wird diesem Benzodiazepin im Vergleich zu Diazepam eine 10- bis 15fache Potenzierung der Analgesie, eine 10fach staÈrkere amnestische Wirkung und eine 14- bis 25fach hoÈhere antikonvulsive Wirkung zugesprochen [652]. Diese auf der Intensivstation zusaÈtzlich zur Analgesie notwendige Sedierung dient dazu, den Patienten in kritischen Phasen abzuschirmen. Die Basis einer Sedierung muss jedoch die Schmerzfreiheit sein. Die Rationale fuÈr den Einsatz eines Opioids im Rahmen der Intensivstation ist die Tatsache, dass 4 Patienten postoperativ Schmerzen haben, 4 polytraumatisierte Patienten Schmerzen haben, 4 viele beatmungspflichtige Patienten wegen primaÈr schmerzhaften OrganschaÈden (z. B. einer nekrotisierenden Pankreatitis u. a.) therapiert werden muÈssen, 4 Schmerzen laut Patientenumfragen weit haÈufiger als unangenehm empfunden werden (41 %) als z. B. AngstphaÈnomene (18 %), 4 eine bessere Abschirmung gegen kardiovaskulaÈre, renale und hepatische Komplikationen sowie hormonelle und vegetative Entgleisungen moÈglich ist. ! Eine suffiziente Analgesie gehoÈrt heutzutage zur

Standardtherapie auf der Intensivstation.

Zur Applikation einer analgetischen und sedativhypnogenen Wirkstoffkomponente koÈnnen theoretisch EinwaÈnde gegen eine fixe Kombination gemacht werden. Aufgrund der kurzen Wirkungsdauer der beiden Analgetika Alfentanil bzw. Fentanyl mit einem ebenfalls kurzwirkenden Sedativum wie z. B. Midazolam erscheint ein solches Vorgehen jedoch praktisch sinnvoll, zumal die MoÈglichkeit der individuell angepassten Dosierung besteht [653]. Auch kann unter der Therapie auf einen unterschiedlichen Medikamentenbedarf sowie die unterschiedlichen Reaktionen der Patienten in ausreichendem Maûe eingegangen werden. Vom Praktischen her hat sich in den meisten Zentren die individuell angepasste Dosierung unter Zuhilfenahme des Ramsay-Scores

288

Kapitel 26  Opioide in der Intensivmedizin

26

. Abb. 26-1. Die mit einem modernen Beatmungskonzept einhergehende Wiederherstellung der Spontanatmung mit

flieûenden Ûbergang von totaler zu partieller ventilatorischer UnterstuÈtzung durch assistierte Beatmungsformen (z. B. BIPAP) und einer von Anfang an anzustrebenden RespiratorentwoÈhnung

. Tabelle 26-2. Die zur Bestimmung der Sedierungstiefe verwendete Ramsay-Skalierung im Rahmen einer Anal-

gosedierung Ramsay-Score

Sedierungstiefe

Beurteilung

R0 R1 R2 R3 R4 R5 R6

Wach und orientiert Agitiert, unruhig, Angst Kooperativ, Reaktion auf Ansprache, Beatmungstoleranz Sediert, Reaktion auf starke nozizeptive Reize, bedingt ansprechbar Tief sediert, traÈge Reaktion auf starke nozizeptive Reize Narkosezustand, keine bis traÈge Reaktion auf nozizeptive Reize Tiefes Koma

Wach Zu flach AdaÈquat AdaÈquat AdaÈquat Tief Zu tief

26.1  Sufentanil zur Analgosedierung

bewaÈhrt [654], wobei die Tiefe R2±R4 als adaÈquat betrachtet werden kann (. Tabelle 26-2, . Abb. 26-1). 26.1

Sufentanil zur Analgosedierung

Weil die Analgesie heutzutage ein wichtiger und integrierter Bestandteil der Therapie auf der Intensivstation darstellt, wird die Analgosedierung mit einem Opioid als ein entscheidender Faktor angesehen. Dies gilt auch im Hinblick auf die Tatasche, dass die alleinige Verabreichung von Hypnotika und Sedativa, insbesondere vom Typ der Barbiturate, eine Hemmung des Immunsystems bewirken [655], ein Effekt, der bei den Opioiden mit hoher AffinitaÈt zum Rezeptor nicht nachgewiesen werden konnte [656]. Andererseits muss ein Analgosedierungsregime immer auf die erforderliche Beatmungstherapie fein abgestimmt werden, damit dem Patienten Schmerz und Angst genommen werden, gleichzeitig jedoch der Einfluss auf die Vitalparameter gering ist. Ein solches bedarfsadaptiertes Analgosedierungsregime muss den unterschiedlichen Phasen der Beatmung, der Intensivbehandlung und insbesondere den in letzter Zeit neu entwickelten Formen der Beatmung Rechnung tragen, sodass der Respirator sich den BeduÈrfnissen des Patienten anpasst und nicht umgekehrt. So ist insbesondere die lungenphysiologische Spontanatmung waÈhrend einer maschinellen druckkontrollierten Beatmung zu foÈrdern. Durch BIPAP- (»biphasic positive airway pressure«) Beatmung, einer Kombination von zeitgesteuerter und druckkontrollierter Beatmung mit superpositionierter Spontanatmung uÈber den gesamten Beatmungszyklus hinweg, ist es moÈglich geworden, selbst bei schweren pulmonalen GasaustauschstoÈrungen die Spontanatmung zu erhalten. NaturgemaÈû erfordert dieser Ansatz ein besonderes Analgosedierungskonzept, das die Spontanatmung nicht voÈllig unterdruÈckt, sondern bei Dosisreduktion die QualitaÈt der Analgesie erhaÈlt und dennoch die spontane AtmungsaktivitaÈt wieder aufkommen laÈsst. Die Standardmedikation zur Analgosedierung war bisher meist die Kombination eines Opioids wie Morphin, Piritramid, Alfentanil oder Fentanyl und einem Benzodiazepin. Inzwischen ist Sufentanil vermehrt in das Analgosedierungsregime aufgenommen worden, weil es 4 das derzeit staÈrkste analgetisch wirksame Opioid auf dem Markt ist,

289

26

4 eine vergleichsweise groûe therapeutische Breite aufweist, 4 ausgepraÈgt hypnosedativ wirkt, 4 eine partielle Entkoppelung von Analgesie und Atemdepression erkennen laÈsst, 4 eine stabile HaÈmodynamik zur Folge hat, 4 eine gute vegetative DaÈmpfung bewirkt sowie 4 eine gute Steuerbarkeit ermoÈglicht. So ist v. a. die nachgewiesene Entkoppelung von Analgesie und Atemdepression [762] einer der GruÈnde dafuÈr, dem Sufentanil als Analgetikum gegenuÈber anderen Opioiden den Vorzug in einem Analgosedierungsregime zu geben. Denn es erreicht in ausreichendem Maûe Schmerz- und Angstfreiheit, ohne gleichzeitig die spontane Atmung unnoÈtig einzuschraÈnken. In der WeaningPhase ist bei der Anwendung von Sufentanil besonders die schnellere RuÈckkehr der Spontanatmung von Bedeutung, eine Eigenschaft, die nicht nur von Bailey [470], sondern auch von Kalenda [657], Clark [106] und Cheour [658] nachgewiesen worden ist. Zwar kann eine schnellere RuÈckkehr der Spontanatmung generell aus dem Eliminationsverhalten einer Substanz abgeleitet werden, wozu meistens die terminale Eliminationshalbwertszeit t1/2b herangezogen wird. Diese bei chirurgischen Patienten abgeleiteten kinetische Daten haben jedoch bei der Dauerinfusionen von Opioiden zur Analgosedierung auf der Intensivstation keine Bedeutung. Denn bei allen uÈber einen laÈngeren Zeitraum infundierten Pharmaka muss auch die Infusionsdauer mitberuÈcksichtigt werden. Hughes et al. [763] entwickelten hierfuÈr das Modell der kontextsensitiven Halbwertszeit, d. h. der Zeit, innerhalb der nach Beendigung der Infusion die Konzentration eines Opioids im Zentralnervensystem, die Effektkompartiment-Konzentration, auf die HaÈlfte abfaÈllt. Aufgrund von Computersimulationen konnte fuÈr Sufentanil eine kurze kontextsensitive Halbwertszeit nachgewiesen werden, ein Wirkungsverhalten, das sich praktisch in einer guten Steuerbarkeit bei Dauerinfusionen niederschlaÈgt (. Abb. 26-2). Hierdurch kann in jeder Phase der Beatmung adaÈquat auf die BeduÈrfnisse des Patienten reagiert werden, sodass sich gegenuÈber Fentanyl, dem bisherigen Standardopioid, deutliche Vorteile ergeben. So liegt z. B. nach 1 h Infusionsdauer die kontextsensitive Halbwertszeit von Sufentanil mit etwa 25 min nur kurz unterhalb der von Fentanyl. Doch schon nach 8 h Infusionsdauer wird der Unterschied offensichtlicher. Denn waÈhrend die kontextsensitive Halbwertszeit von Sufentanil nur knapp

290

Kapitel 26  Opioide in der Intensivmedizin

40 min betraÈgt, ist die des Fentanyls auf fast 5 h angestiegen, eine Wirkung, die sich letztlich in einer schlechteren Steuerbarkeit niederschlaÈgt (. Abb. 26-2). Sowohl die Entkoppelung von Analgesie und Atemdepression als auch die kurze kontextsensitive Halbwertszeit von Sufentanil resultieren in einer schnelleren RespiratorentwoÈhnung und in einer geringeren Liegezeit sowie Verweildauer auf der Intensivstation. ! Die gute Eignung von Sufentanil zur Analgosedie-

26

rung ist im Wesentlichen auf drei pharmakologische Besonderheiten zuruÈckzufuÈhren: 1. Die kurze kontextsensitive Halbwertszeit, die auch bei Langzeitinfusionen eine schnelle bedarfsgerechte Dosisanpassung erlaubt. 2. Die staÈrkere Entkoppelung von Analgesie und Atemdepression, sodass in allen Phasen der Beatmung, insbesondere in der Phase der EntwoÈhnung vom Respirator, die Patienten schmerzfrei sind, ohne dass die Atmung wie bei anderen Opioiden beeintraÈchtigt wird [659] und schnell auf einen Spontanatmung uÈbergegangen werden kann. Dieser Vorteil schlaÈgt sich letztendlich in einer geringeren Inzidenz pulmonaler Infektionen und der Entwicklung von Atelektasen nieder, sodass, wenn immer moÈglich, im Rahmen eines modernen Beatmungsregimes fruÈhzeitig auf eine Spontanatmung umgestiegen werden soll. 3. Die zu anderen Opioiden mit m-agonistischen Eigenschaften vergleichsweise staÈrkere sedative Komponente, sodass bei 1/3 der Patienten keine zusaÈtzlichen Sedativa wie Midazolam gegeben werden muÈssen [660].

Auch ist der Zusatz eines Benzodiazepins wie Midazolam nur dann notwendig, wenn eine VerstaÈrkung der Sedation angestrebt wird, wobei sich das Pflegepersonal am physiologischen TagNacht-Rhythmus orientieren sollte. Denn die zusaÈtzliche Sedation mit einem Benzodiazepin sollte vorzugsweise nur intermittierend erfolgen, da es Hinweise dafuÈr gibt, dass die kontinuierliche und langfristige Applikation eines Benzodiazepins uÈber Tage und Wochen die Wirkung eines Opioids vermindert (antianalgetische Wirkung). Das Analgetikum muss dann, zur Aufrechterhaltung seiner Wirkung, in seiner Dosierung gesteigert werden. Diese scheinbar sich entwickelnde Tachyphylaxie scheint auf einer indirekten antagonistischen Wirkung des Benzodiazepins zu beruhen [661, 662]. Als Ursache werden einerseits eine partielle Hemmung deszendierender monoaminerger Schmerzbahnen und eine »down-regulation« (verminderte Ansprechrate) des Opioidrezeptors durch das Benzodiazepin angenommen. Andererseits muss bei einer scheinbaren Toleranzentwicklung auf Opioide bei der Analgosedierung auf der Intensivstation auch daran gedacht werden, dass 1. die metabolische Rate der Leber zugenommen hat; 2. die ProteinbindungskapazitaÈt des Blutes sich veraÈndert hat; 3. die FluÈssigkeitsverschiebungen zwischen dem Intra- und ExtrazellulaÈrraum bis zu mehreren Litern betragen koÈnnen; 4. die ehemals gestoÈrte Blut-Hirn-Schrankenfunktion sich wieder normalisiert hat; 5. das Opioid durch eine gleichzeitige HaÈmofiltration entfernt worden ist; 6. eine unspezifische Antagonisierung durch andere zentral wirksame Medikamente erfolgt

. Abb. 26-2. Die verschiedenen kontextsensitiven Halbwertszeiten der Opioide Fentanyl, Alfentanil und Sufentanil im Vergleich

untereinander. (Nach [116])

26.1  Sufentanil zur Analgosedierung

7. 8. 9.

10. 11.

12.

(siehe hierzu 7 Kapitel 22 »Interaktionen der Opioide«); sich der ExtrazellulaÈrraum (Vd) bei begleitender Leber- und/oder Niereninsuffizienz vergroÈûert hat; der Opioidrezeptor herrunterreguliert wurde, sodass der Rezeptor eine geringere KonformationsaÈnderung nach Bindung aufweist; bei gleichzeitig bestehenden neuropathischen Schmerzen es uÈber die Glutamatfreisetzung zu einer Aktivierung der exitativen NMDARezeptoren gekommen ist; aufgrund einer langfristige Opioidgabe uÈber die Phosphokinase-C (PKC) eine sekundaÈre Aktivierung des NMDA-Rezeptors erfolgt ist; bei langfristiger Morphingabe es zu einer Anreicherung des Metaboliten Morphin-3-Glucuronat kommt, von dem ein antinozizeptiver Effekt ausgeht; im Rahmen der Chronifizierung von Schmerzen nozizeptive Afferenzen uÈber Ab-Fasern vermittelt werden. Dies beruht auf eine PhaÈnotypaÈnderung, indem sich Ad- zu Ab-Fasern umwandeln, auf die Opioide weniger gut ansprechen. Deswegen gilt:

! Sowohl Pharmakokinetik als auch Pharmakodyna-

mik eines Opioids auf der Intensivstation sind von den im operativen Bereich bekannten Werten grundsaÈtzlich verschieden.

291

26

FuÈr eine Analgosedierung mit Sufentanil auf der Intensivstation mit Hilfe einer motorangetriebenen 50 ml-Spritzenpumpe gelten folgende Kriterien (. Abb. 26-3), wobei unter Zugabe des a2-Agonisten Clonidin (Catapresan, Paracefan) eine Einsparung von Sufentanil erreicht werden kann. Die individuelle Dosierung passt sich hierbei der von Ramsay erarbeiteten Sedierungsskalierung an (. Tabelle 26-1). Hierzu werden Spritzenpumpen gefuÈllt mit 1. 4 Ampullen Sufentanil (ˆ 20 ml) ‡ 0,9 % NaCl 30 ml ˆ 50 ml (1 ml ˆ 20 mg Sufentanil) oder 2. 4 Ampullen Sufentanil (ˆ 20 ml) ‡ 0,9 % NaCl 30 ml ˆ 50 ml (1 ml ˆ 20 mg Sufentanil) plus 2 Amp Clonidin auf 35 ml NaCl (2,25 mg/50 ml), oder 3. 4 Ampullen Sufentanil (ˆ 20 ml) ‡ 0,9 % NaCl 30 ml ˆ 50 ml (1 ml ˆ 20 mg Sufentanil) plus Propofol 2 % (1000 mg/50 ml) eingesetzt. Ûblicherweise erweist sich der klassische Alkoholpatienten gegenuÈber dem uÈblichen Sedierungsregime aÈuûerst resistent. Dies beruht auf ein Zugrundegehen von GABA-Rezeptoren mit einer daraus resultierenden verminderten Wirkung der Benzodiazepine bei gleichzeitiger verminderter Ansprechrate der Opioidrezeptoren. In solchen FaÈllen empfiehlt sich grundsaÈtzlich die Supplementierung mit dem a2-Agonisten Clonidin. Hierdurch lassen sich eine bis zu 45 %ige Ver-

. Abb. 26-3. Analgosedierung mit Sufentanil auf der Intensivstation unter BeruÈcksichtigung der klinischen Wirkung

292

Kapitel 26  Opioide in der Intensivmedizin

ringerung der Dosis des Sedativums und eine bis zu 70 %ige Verringerung der Dosis des Opioids erreichen. Als vorteilhaft werden unter der ErgaÈnzung mit Clonidin, besonders beim Alkoholpatienten eine bessere Adaptation an den Respirator, eine deutliche Reduktion der alkoholbedingten Entzugssymptomatik und eine leichtere EntwoÈhnung vom Respirator beschrieben [663]. Ob sich mit dem spezifischeren a2-Agonisten Dexmedetomidin, aufgrund seiner ausgepraÈgteren analgetischen Wirkung, noch mehr an Opioiden einsparen laÈsst [664, 665], muÈssen zukuÈnftige Untersuchungen zeigen. Immerhin konnte mit diesem a2-Agonisten eine ausgepraÈgtere sympathikolytische Wirkung als mit Clonidin erreicht werden [666].

26

26.2

Nebenwirkungen der Analgosedierung

Die Nebenwirkungen der Opioide, die in Kombination mit anderen zentral daÈmpfenden Substanzen oftmals verstaÈrkt werden (z. B. Bradykardie, Atemdepression, MuskelrigiditaÈt), sind leicht zu erkennen und zu therapieren. Von besonderer Bedeutung ist hingegen die oft starke EinschraÈnkung der gastrointestinalen MotilitaÈt, die mit hohen EinlaÈufen, Metoclopramid oder Prostigmin meist recht gut zu beherrschen ist. Andererseits entstehen im Rahmen der Analgosedierung mit Opioiden auf der Intensivstation jedoch folgende Probleme: 1. eine Dosisfindung (Pharmakodynamik/Pharmakokinetik), 2. eine Toleranzentwicklung, 3. eine Entzugssymptomatik nach Absetzen der Sedierung. 26.2.1 Dosisfindung der Opioide

im Rahmen der Sedierung

Die Dosisfindung hat sich individuell an der Ramsay-Skalierung zu orientieren, da pharmakokinetische Daten, wie sie fuÈr die Opioide im Rahmen der operativen Medizin abgeleitet werden, auf den Intensivpatienten nicht ohne weiteres uÈbertragen werden koÈnnen. Denn es besteht keine Korrelation zwischen Plasmaspiegeln und klinischer Wirkung, weil die Elimination ganz entscheidend von der Hypo-und/oder der Hyperperfusion der Leber abhaÈngt, bei einem gestoÈrten enterohepatischen Kreislauf eine verlaÈngerte Wirkungsdauer zu erwarten ist, kuÈnstliche Eliminiationsverfahren den Wirkspiegel des Opioids abrupt aÈndern koÈn-

nen und sich beim Intensivpatienten das Verteilungsvolumen innerhalb kuÈrzester Zeit ganz entscheidend aÈndern kann. So geht bei der Sepsis eine Hypo- oder eine HypervolaÈmie und massiver Zunahme des ExtrazellulaÈrraumes und sog. »capillary leaks« einher. In der Erholungsphase kommt es dann zu einem RuÈckshift der sequestrierten FluÈssigkeiten inklusive den Opioiden, sodass daraus stark differierende Plasmaspiegel mit daraus resultierenden unterschiedlichen Besetzungen des Opioidrezeptors resultieren. Andererseits konkurrieren die Opioide mit anderen Pharmaka um das meist verminderte Albumin oder es liegt eine Enzymhemmung bzw. eine Enzyminduktion mit verlaÈngerter oder verkuÈrzter Wirkungsdauer des Opioids vor. 26.2.2 Toleranzentwicklung der Opioide

im Rahmen der Sedierung

Eine echte Toleranzentwicklung oder GewoÈhnung laÈsst sich, soweit sie auftritt [667], in den allermeisten FaÈllen durch eine DosiserhoÈhung auffangen. Hierbei muss, um die gleiche Wirkung zu erreichen, die Dosis des Opioids stetig gesteigert werden. UrsaÈchlich liegt eine Verminderung der koÈrpereigenen Opioide (Endorphine) oder eine veraÈnderte Kinetik am Rezeptor vor, wobei folgende Besonderheiten am Rezeptor auftreten koÈnnen: 4 eine Desensitivierung des Rezeptors aufgrund einer funktionellen Entkoppelung des Rezeptors vom sekundaÈren intrazellulaÈren Mittler, dem G-Protein; 4 eine aufgrund wiederholter Bindungsraten anschlieûende Internalisierung (Endozytose) des Rezeptors in das Innere der Zelle. Der Rezeptor »taucht« in die Zelle ab (sequestriert), um anschlieûend wieder an der ZelloberflaÈche aufzutauchen und fuÈr eine erneute Bindung zur VerfuÈgung zu stehen; 4 eine Herrunterregulierung (»down regulation«) des Rezeptors, indem die a-Einheit des SchluÈsselproteins in der SignaluÈbertragung, das G-Protein, weniger synthetisiert und das eingehende Signal schlechter beantwortet wird; 4 eine Hemmung der Genexprimierung im Zellinneren, wobei das Gen, das fuÈr die Neubildung (Transkription) von EiweiûmolekuÈlen zur Rezeptorneubildung verantwortlich ist, seine AktivitaÈten reduziert; 4 eine durch die langfristige Opioidgabe innerhalb der Zelle gesteigerte Phosphokinase-

26.2  Nebenwirkungen der Analgosedierung

C-Aktivierung, die in eine gesteigerte Empfindlichkeit (»up regulation«) des NMDARezeptors muÈndet. Da der NMDA-Rezeptor auf Opioide nicht reagiert, werden die uÈber den NMDA-Rezeptor geleiteten Schmerzimpulse verstaÈrkt empfangen. Andererseits kann auch eine scheinbare Toleranzentwicklung vorliegen, bei der aufgrund der Ønderungen in Kinetik und Dynamik mehr von dem Opioid benoÈtigt wird (Enzyminduktion mit gesteigertem Abbau), bzw. muss bei gleichzeitiger Benzodiazepingabe eine Antagonisierung des analgetischen Anteils des Opioids durch das Benzodiazepin angenommen werden, ein Antagonismus, wie er von mehreren Autoren diskutiert wird [661, 662, 668±671]. Eine Toleranzentwicklung im Rahmen der Intensivtherapie ist unabhaÈngig vom Alter der behandelten Patienten. So wurde bei Patienten unterschiedlicher Altersstufen eine nach 72 h einsetzende aÈhnliche Zunahme der notwendigen Sufentanildosis bis zum Erreichen einer ausreichenden Sedierungstiefe (Ramsay R2±R4), beobachtet (. Abb. 26-4; [672]). Ob sich die im Rahmen der AnaÈsthesie nachgewiesene Toleranzentwicklung unter Remifentanil auch auf den intensivmedizinischen Bereich uÈbertragen laÈsst, bleibt noch unbewiesen. Immerhin befuÈrworten einige Anwender den Einsatz des ultrakurzwirkenden Opioids im Rahmen einer 72 h dauernden intensivmedizinischen The-

. Abb. 26-4. Steigende Sufentanildosen bei Patienten unter

einer Analgosedierung mit Sufentanil/Midazolam. (Nach [672])

293

rapie, wobei Anfangsdosierungen 6±9 mg/kgKG/h empfohlen werden.

26 von

26.2.3 Entzugssymptomatik der Opioide

im Rahmen der Analogsedierung

Eine Entzugssymptomatik nach Absetzen des Opioids entwickelt sich in mehr oder weniger ausgepraÈgter IntensitaÈt insbesondere dann, wenn das Opioid uÈber mindestens 20 Tage verabreicht worden ist. Hierbei treten die Entzugssymptome 4±6 h nach Absetzen eines stark wirkenden Opioids vom Typ Fentanyl oder Sufentanil auf [673] auf, steigern sich in den folgenden 10±12 h, erreichen ihren HoÈhepunkt nach 2±3 Tagen, um in den folgenden 7±10 Tagen abzuklingen. Hierbei handelt es sich vornehmlich um vegetative Reaktionen mit 4 anfallsweisen Tachykardien, 4 einer Hyperhydrosis, 4 ploÈtzlich einsetzenden »septischen« Temperaturen, 4 einer agitierten Unruhe, 4 einer bilateralen Mydriasis und 4 einer Tachypnoe. Da aÈhnliche Zustandsbilder auch durch die Grunderkrankung selbst ausgeloÈst werden koÈnnen, muss der Zeitpunkt, zu dem das Opioid abgesetzt worden ist, festgehalten werden. Solche vegetativen Abstinenzsymptome, die nicht in jedem Fall auftreten muÈssen, koÈnnen durch Ausschleichen der Opioidgabe gegen Ende der Intensivbehandlung bzw. durch uÈberlappende Therapie mit niedrigen Dosen eines Neuroleptikums (z. B. Haloperidol 5±10 mg alle 8 h) bzw. durch eine Clonidininfusion (150 mg/kgKG als Bolus, gefolgt von 600 mg in 50 ml mit einer Perfusionsgeschwindigkeit von 2±8 ml/h) kupiert werden. Der a2-Agonist Clonidin stellt deshalb nicht nur in der intensivmedizinischen Therapie von Alkoholikern, sondern speziell in der WeaningPhase nach langfristiger Opioidinfusion eine sinnvolle Bereicherung dar. Seine besondere Bedeutung liegt in der PraÈvention und Behandlung vegetativer Entgleisungen, die sowohl nach chronischer Alkoholeinnahme oder chronischem Medikamentenabusus, als auch nach langfristiger Zufuhr eines stark wirkenden Opioids in hohen Dosen, auftreten koÈnnen. Ein a2-Agonist kann deshalb nicht nur die QualitaÈt von Sedierung und Analgesie beim Intensivpatienten aufgrund seiner synergistischen Wirkung verbessern, sondern sowohl die WeaningPhase abkuÈrzen als auch die Toleranzentwicklung gegenuÈber Opioiden und Benzodiazepinen auf

294

Kapitel 26  Opioide in der Intensivmedizin

der Intensivstation, wenn nicht immer verhindern, so doch hinauszoÈgern. Die hierfuÈr verwendeten Clonidindosen liegen oft uÈber denjenigen, die zur Therapie einer Hypertension notwendig sind. Die Dosen sind der jeweiligen klinischen Situation anzupassen. Als brauchbare Indizes fuÈr die Dosierung haben sich die Herzfrequenz und der Blutdruck erwiesen. Sie weisen darauf hin, wann eine ausreichende Konzentration des a2-Agonisten am Rezeptor erreicht ist, sodass individuell dosiert werden kann.

26

27 Neuroaxialer, ruÈckenmarknaher Einsatz von Opioiden 27.1

Nebenwirkungen periduraler Opioidgabe ± 298

27.2

Lipophile oder hydrophile Opioide fuÈr die neuroaxiale Applikation ± 299

27.3

Kombination von Opioid und LokalanaÈsthetikum ± 300

27.4

Patientengesteuerte epidurale On-demand-Analgesie ± 301

27.5

Intrathekale Opioide ± 302

Die Opioidrezeptoren, die fuÈr die Vermittlung der analgetischen Wirkung verantwortlich sind, befinden sich nicht nur im Gehirn, sondern auch im RuÈckenmark, der ersten Schaltstelle der sensorischen Afferenz (. Abb. 27-1). Werden Opioide in der NaÈhe dieser RuÈckenmarkrezeptoren (intrathekal oder peridural) appliziert, kommt es zu einer Besetzung der dort lokalisierten Bindungsstellen und einer daraus resultierenden DaÈmpfung bis zur Blockade der Schmerzafferenz. RuÈckenmarknahe Opioide bewirken eine gute Analgesie bei verschiedenen chirurgischen und nichtchirurgischen SchmerzzustaÈnden. Im Gegen-

. Abb. 27-1. Lokalisation der Substanz P, Metenkephalin und Opioidrezeptoren in der Lamina I und II im Hinterhorn des RuÈckenmark, wobei anteilmaÈûig auf den m-Rezeptor 90 %, auf den d-Rezeptor 7 % und auf den k-Rezeptor 3 % entfallen. (Nach [570])

27.6

Agonisten/Antagonisten und a2-Agonisten zur neuroaxialen Applikation ± 303

27.7

Kontinuierliche peridurale Opioidinfusion

± 304

satz zur alleinigen epiduralen Gabe von LokalanaÈsthetika oder der alleinigen parenteralen Opioidapplikation treten dabei weniger zentrale und systemische Nebenwirkungen auf. So bewirken ruÈckenmarknahe Opioide keine sensorischen, sympathischen oder motorischen Ausfallserscheinungen. Es kommt nicht zu einer orthostatischen Hypotonie und es besteht kein Risiko motorischer KoordinationsstoÈrungen. Die Vorteile ruÈckenmarknaher Opioide kommen insbesondere Risikopatienten zugute, die sich einer groûen Operation unterziehen muÈssen: Patienten mit schlechter pulmonaler oder kardiovaskulaÈrer Funktion sowie extrem adipoÈse und aÈltere Patienten [566]. Zwar bewirkt die epidurale Applikation von Morphin eine weitaus laÈngere Analgesie mit erheblich geringeren Dosen als die intramuskulaÈre oder die intravenoÈse Gabe, es gibt jedoch keinen Beweis dafuÈr, dass epidural oder intrathekal applizierte Opioide eine bessere AnalgesiequalitaÈt zur Folge haben, zudem LiquorunvertraÈglichkeiten und eine damit einhergehende moÈgliche NeurotoxizitaÈt beruÈcksichtigt werden muÈssen, sodass sich der ruÈckenmarknahe Einsatz der Opioide Piritramid, Opium und Remifentanil verbietet [567, 568]. Die haÈufigste Indikation fuÈr die Anwendung ruÈckenmarknaher Opioide sind postoperative Schmerzen nach orthopaÈdischen Eingriffen sowie nach Operationen im abdominalen, thorakalen und perinealen Bereich. Auf der Intensivstation scheint bei Patienten mit Rippenserienfrakturen

296

27

Kapitel 27  Neuroaxialer, ruÈckenmarknaher Einsatz von Opioiden

und polytraumatisierten Patienten, bei denen die regelmaÈûige EinschaÈtzung der Bewusstseinslage von Bedeutung ist, eine Analgesie uÈber ein ruÈckenmarknah appliziertes Opioid gegenuÈber einer systemischen Analgesie mit Sedierung Vorteile zu bieten [569]. Der Vorteil einer zur Schmerzunterbrechung periduralen Applikation von Opioiden liegt in 4 einer weitgehend nur die Schmerzfasern betreffenden Blockade, 4 einer erhaltenen Motorik sowie Tiefen- und TemperatursensibilitaÈt, 4 einer langen Wirkungsdauer, 4 einer ausgepraÈgten WirkungsstaÈrke, 4 einer weitgehend regionalen Begrenzung, 4 einer zur systemischen Applikation vergleichsweise geringeren Inzidenz an Nebenwirkungen, 4 einer zur systemische Applikation vergleichsweise geringeren Dosierung (. Tabelle 27-1). Die Indikation fuÈr eine peridurale Opioidapplikation im Rahmen der Therapie akuter und chronischer Schmerzen ist unter folgenden Bedingungen gegeben (. Abb. 27-2):

4 4 4 4

im terminalen Tumorstadium, bei hohem Analgetikaverbrauch, bei Unwirksamkeit oraler Opioide, bei zu starken Nebenwirkungen der oralen Opioide, 4 zur langfristigen postoperativen Schmerzbefreiung, . Tabelle 27-1. Zusammenfassung der fuÈr eine peridurale Opioidapplikation am haÈufigsten verwendeten Pharmaka. (Nach [571])

Substanz

Warenname

Mittlere Dosis [mg/70 kgKG]

Buprenorphin Diamorphin Fentanyl Hydromorphon Methadon Pethidin Phenoperidin

Temgesic Heroin Fentanyl Janssen Dilaudid Polamidon Dolantin Phenoperidin Janssen Morphin Sufenta

0,15±0,3 5 0,1±0,35 1 5 210±100 1

Morphin Sufentanil

2±5 0,01±0,05

. Abb. 27-2. Nach periduraler Opioidapplikation wandert das Opioid bis zur Lamina V. Hier besteht eine prozentuale Opioidrezeptorverteilung fuÈr m ˆ 70 %, d ˆ 28 % und kˆ 2 %. Um den Zentralkanal differiert die Rezeptorverteilung mit m ˆ 65 %, dˆ 33 % und k ˆ 2 % nur geringgradig. (Mod. nach [570])

27  Neuroaxialer, ruÈckenmarknaher Einsatz von Opioiden

4 zur Potenzierung periduraler LokalanaÈsthetika, 4 zur WirkungsverlaÈngerung der LokalanaÈsthetika. Um fuÈr die ruÈckenmarknahe Applikation in Frage zu kommen, sollte das Opioid folgende physikochemische und pharmakokinetische Eigenschaften aufweisen [571]: 4 eine hohe AffinitaÈt zum Rezeptor und damit eine hohe analgetische Potenz, 4 eine hohe Lipophilie (FettloÈslichkeit) mit einer damit resultierenden leichten Passage durch die Dura mater und Anreicherung im RuÈckenmark, 4 eine geringe Hydrophilie und daraus resultierende geringere Verweildauer im Liquor, 4 ein hohes Molekulargewicht und einen damit einhergehende gute Absorption in das umliegende Gewebe [572], 4 eine lange Rezeptorbindung und damit einhergehende eine lange Wirkungsdauer, 4 einen geringe Toleranzentwicklung und eine damit einhergehende geringe GewoÈhnung. Die unterschiedlichen Wirkungsmechanismen der Opioide im Rahmen der neuroaxialen Applikation beruhen auf ihre unterschiedlichen physikochemischen Eigenschaften. Da die Diffusionsrate vom Epiduralraum in das RuÈckenmark und in den Blutstrom groÈûtenteils von der Lipophilie abhaÈngt, weist Fentanyl gegenuÈber Morphin einen kuÈrzeren Wirkungsanstieg, aber auch eine kuÈrzere Wirkungsdauer auf. Denn Morphin ist ein Pharmakon, das ausgesprochen hydrophil ist und es zeigt eine sehr traÈge Diffusion in und aus dem RuÈcken-

297

27

mark. Dies erklaÈrt den sehr langsamen Wirkungsanstieg aber auch eine laÈngere Wirkungsdauer, weil Morphin nur langsam wieder aus das RuÈckenmark hinausdiffundiert (. Abb. 27-3). WaÈhrend die lange Wirkungsdauer von Morphin auf seine hydrophilen Eigenschaft beruht, liegt bei Buprenorphin eine sehr intensiven Rezeptorbindung und eine daraus resultierende lange Wirkungsdauer vor, sodass das Opioid auch nur verzoÈgert abtransportiert wird. Die lange Wirkungsdauer von Morphin ist dadurch zu erklaÈren, dass es bei einem physiologischen pH-Wert zu 75 % als hydrophiles Hydrochlorid (Mo-HCl) vorliegt, das schlecht diffundieren kann. Die restlichen 25 % liegen dagegen als freie Base vor, die gut durch die Dura mater und in die Substantia grisea des RuÈckenmark, dem eigentlichen Wirkort, diffundieren koÈnnen. Nach der Diffusion stellt sich ein neues Gleichgewicht ein. Weil das hydrophile Hydrochlorid schwer aus dem Liquor herausdiffundieren kann, verbleibt es dort, ein Umstand, der ursaÈchlich fuÈr die lange Wirkungsdauer von Morphin anzusehen ist (. Abb. 27-4). ! Von allen Opioiden sind nur Morphin und Sufen-

tanil fuÈr eine peridurale bzw. intrathekale Applikation zugelassen. Werden andere Opioide peridural oder intrathekal appliziert, geschieht dies auf Verantwortung des behandelnden Arztes!

. Abb. 27-3. Vergleichende Anschlagzeiten und Wirkungs-

. Abb. 27-4. Der Weg peridural applizierten Morphins

dauer verschiedener Opioide fuÈr eine peridurale Analgesie. (Mod. nach [571, 573])

durch die Dura Mater zum Hinterhorn des RuÈckenmark (Lamina I und II)

27

298

Kapitel 27  Neuroaxialer, ruÈckenmarknaher Einsatz von Opioiden

27.1

Nebenwirkungen periduraler Opioidgabe

Folgende Nebenwirkungen, die jedoch in den seltensten FaÈllen bedrohliche Ausmaûe annehmen, sind bei der neuroaxialen Opioidapplikation als typisch anzusehen: 1. ein Blutdruckabfall in 11,5 % aller FaÈlle, 2. eine Bradykardie in 1,6 % aller FaÈlle, 3. einen Muskelrelaxation in 7 % aller FaÈlle, 4. eine spaÈte (i8 h) Atemdepression. Die Atemdepression ist die am haÈufigsten vorkommende und gefaÈhrlichste Nebenwirkung nach einer periduralen Opioidapplikation. Sie ist besonders nach Morphingabe zu beobachten, weil das Pharmakon vom Applikationsort rostralwaÈrts nach oben steigt und direkt auf das Atemzentrum am Boden des IV. Hirnventrikels einwirkt. Der Liquor benoÈtigt etwa 6±10 h, um vom lumbalen intrathekalen Raum bis zum IV. Hirnventrikel aufzusteigen [574, 575]. Aufgrund der groÈûeren Hydrophilie von Morphin ist davon auszugehen, dass relativ mehr Wirksubstanz im Liquor verbleibt und sich intrathekal ausbreiten kann. Und insbesondere ist daran zu denken, dass bei intrathekaler Opioidgabe ein postoperativer Blutverlust mit Hypotonie das Risiko einer Atemdepression deutlich erhoÈht [576]. Die Zeit, nach der eine morphinbedingte Atemdepression eintreten kann, ist zum groÈûten Teil von dem Applikationsweg abhaÈngig. So ist nach intravenoÈser Gabe von Morphin innerhalb von 5 min eine Atemdepression zu erwarten; diese Zeitspanne kann dagegen nach periduraler oder intrathekaler Gabe im Mittel zwischen 4 und 12 h betragen ([577]; . Tabelle 27-2). Im Gegensatz zu Morphin ist Buprenorphin dagegen sehr lipophil, sodass die Wirksubstanz schnell in das RuÈckenmark eindringt. Bei diesem Opioid ist dagegen eine spaÈt einsetzende Atemdepression nicht zu befuÈrchten,

weil die einmal applizierte Dosis lange am Rezeptor haftet. Buprenorphin vermittelt jedoch eine tiefe Analgesie, eine Eigenschaft die auch dem Sufentanil, wegen der hohen AffinitaÈt zum Opioidrezeptor, unter periduraler Applikation zugeschrieben wird [579]. Beide Substanzen sollen jedoch, auch wegen der hohen Lipophilie, eine geringere Inzidenz an Atemdepression aufweisen Daneben bewirken jedoch viele andere Faktoren eine Atemdepression, von denen die gewaÈhlte Dosierung am wichtigsten ist (. Tabelle 27-3). Ist nach neuroaxialer Opioidgabe eine Atemdepression eingetreten, kann diese mit Naloxon 0,1±0,2 mg i. v. als Bolus oder in Form einer Infusion 5±10 mg/h, Nalbuphin 5±10 mg i. v. [147, 580] oder Naltrexon 3±6 mg oral antagonisiert werden. Diese Dosis genuÈgt, um eine ausreichende Spontanatmung wieder herzustellen, ohne die analgetische Wirkung wesentlich einzuschraÈnken. Jedoch muss dann eine VerkuÈrzung der Analgesiedauer in Kauf genommen werden. Gelegentlich sind wiederholte Nachinjektionen von Naloxon notwendig, um die opioidbedingte Atemdepression langfristig aufzuheben. 5. Eine weitere haÈufige Nebenwirkung ist der Juckreiz, der zwischen 5±50 % betragen kann und vegetativen Ursprungs ist. UrsaÈchlich handelt es sich um Alterationen der sensorischen Modulationen im oberen Zervikalmark. Weil der Pruritus relativ verspaÈtet auftritt, ist als Ursache eine Histaminfreisetzung auszuschlie-

. Tabelle 27-3. Zusammenfassung der Faktoren, die

die Nebenwirkungen epiduraler Opioide verringern bzw. verstaÈrken

Zunahme der Nebenwirkungen

5 5 5 5 5

. Tabelle 27-2. Atemdepression nach Morphin in AbhaÈngigkeit vom Injektionsort. (Nach [192, 577, 578])

Applikationsweg

Beginn der Atemdepression nach

IntravenoÈs IntramuskulaÈr Epidural Intrathekal

7 min I30 min i8 h i8 h

Verringerung an Nebenwirkung

5 5 5 5 5 5 5

Dosissteigerung Wiederholte Injektionen ZusaÈtzliche parenterale Injektionen Fortgeschrittenes Alter Geringe Lipophilie des Opioids Aortenabklemmung Liegende Position Aufrechte Position Hyperbare LoÈsung Hohe Lipophilie des Opioids Dosisreduktion Volumenreduktion

27.2  Lipophile oder hydrophile Opioide fuÈr die neuroaxiale Applikation

ûen [581]. Wie die Atemdepression, so laÈsst sich auch der Pruritus mit Naloxon (0,2±0,8 mg titriert) antagonisieren, eine Tatsache, die auf eine Beteiligung von Opioidrezeptoren hinweist. Empfohlen werden zur Linderung des Juckreiz auch Diphenhydramin oder Propofol 10 mg i. v. 6. Eine Harnretention ist sowohl nach epiduraler als auch nach intrathekaler Morphingabe beschrieben [582] und kann bei bis zu 14 % aller Patienten auftreten. UrsaÈchlich wird eine uÈber den Opioidrezeptor vermittelte Hemmung der Acetylcholinfreisetzung von efferenten postganglionaÈren Neuronen, die die Blasenmuskulatur innervieren, diskutiert (583). Andererseits werden dafuÈr aber auch die den Opioiden beigefuÈgten Stabilisatoren mitverantwortlich gemacht. Auch hier kann Naloxon (0,2±0,8 mg titriert) oder der a2-Agonist Phenoxybenzamin die Harnretention umkehren. 7. Nausea und Emesis nach neuroaxialer Opioidgabe werden uÈber das Brechzentrum und die Chemorezeptoren in der Medulla oblongata ausgeloÈst. Die Zeit des Auftretens stimmt sehr gut mit der rostralen Ausbreitung des Pharmakons im Spinalkanal uÈberein [581]. Auch hier kann Naloxon, intravenoÈs gegeben, die Nebenwirkung aufheben, ohne dass die Analgesie wesentlich beeintraÈchtigt werden soll [584]. Alternativ wird ein Neuroleptikum (z. B. Haloperidol 5.0 mg) oder Scopolamin transdermal empfohlen [585]. Andere Nebenwirkungen, die oft nach LokalanaÈsthetika auftreten, sind jedoch weit weniger zu beobachten. Zusammenfassend koÈnnen nach der periduralen Opioidapplikation folgende Nebenwirkungen auftreten, deren HaÈufigkeit

. Abb. 27-5. ZeitabhaÈngige, rostrale Ausbreitung des

schmerzfreien Niveaus nach epiduraler Morphingabe und die dabei auftretenden Nebenwirkungen. (Mod. nach [575])

299

27

jedoch deutlich geringer als die nach intravenoÈser Applikation ist [586±590] 1. Sofort nach der Injektion: ± Atemdepression. 2. Durch »Remorphinisierung«: ± Vertigo, ± Kopfschmerzen, ± Pruritus, ± Dysurie, ± Harnretention, ± Euphorie, Desorientiertheit, ± muskulaÈre RigiditaÈt, ± Somnolenz, ± Nausea, Erbrechen. 27.2

Lipophile oder hydrophile Opioide fuÈr die neuroaxiale Applikation

Die Vorstellung, dass nach neuroaxialer Verabreichung lipophiler Opioide die Inzidenz einer Atemdepression geringer sein soll (lipophiles Opioid lokale Wirkung weniger Atemdepression), besteht zu Unrecht, denn 1. Pruritus und Nausea sind sowohl nach dem hydrophilen Morphin als auch nach dem lipophilen Fentanyl nachweisbar. 2. Fentanyl kann nach lumbaler Applikation auch im Zervikalbereich nachgewiesen werden. Hieraus resultiert die Forderung: ! Sowohl nach Morphin als auch nach den lipo-

philen Opioiden Fentanyl und Sufentanil muss ein Monitoring der Atmung erfolgen.

Denn einige Studien konnten demonstrieren, dass nach lumbaler Applikation des lipophilen Fentanyls schon nach 30 min hohe Fentanylkonzentrationen in der zervikalen SpinalfluÈssigkeit nachweisbar waren [591]. Der Mechanismus fuÈr diese schnelle Ausbreitung ist nicht eindeutig zu erklaÈren; jedoch ist hiermit die nach der periduralen Gabe lipophiler Opioide auftretende Atemdepression mit einer HaÈufigkeit von 0,6 % nachzuvollziehen [592]. Die Inzidenz ist nicht geringer als nach Morphin und in einigen FaÈllen trat die Atemdepression sogar erst nach 17 h bei einer uÈber 5 h laufenden kontinuierlichen neuroaxialen Fentanylgabe (125 mg/h) auf. Somit kann aufgrund einer rostralen Ausbreitung, aÈhnlich wie in der klassischen Studie mit Morphin von Bromage demonstriert wurde ([575], . Abb. 27-5), auch nach dem lipohilen Opioid Fentanyl einen Atemdepressionen moÈglich sein. Als Ursache kann auch die bei periduraler Applika-

300

27

Kapitel 27  Neuroaxialer, ruÈckenmarknaher Einsatz von Opioiden

tion, in Relation zum hypdrophilen Morphin, hoÈhere Dosis lipophiler Opioide zur Initiierung einer ausreichenden Analgesie (z. B. Sufentanil 30±50 mg) mitverantwortlich gemacht werden. Der angebliche Vorteil der lipophilen Opioide im Rahmen einer periduralen Applikation, ist keine Atemdepression auszuloÈsen deshalb nicht gegeben. Andererseits besteht die Relation zwischen einer analgetisch wirkenden intravenoÈsen Dosis und einer periduralen Dosis eher zu Gunsten des hypdrophilen Opioids Morphins. Denn eine deutliche Dosisverringerung und eine damit einhergehende Verringerung der Nebenwirkungen ist bei periduraler Opioidgabe, fuÈr das Morphin offensichtlicher als fuÈr Fentanyl. Hierauf verweisen nicht nur Ergebnisse am Tier, die eine bessere analgetische Wirkung von den hydrophilen Opioiden Morphin und Dihydromorphin im Vergleich mit Fentanyl demonstrieren [756], sondern auch klinische Ergebnisse die zeigen konnten, dass zur AusloÈsung einer ausreichenden periduralen Analgesie relativ hohe Dosen von lipophilen Opioiden verabreicht werden muÈssen (. Abb. 27-6). Es sprechen folgende GruÈnde dafuÈr, dass lipophile Opioide aufgrund der Dosis-WirkungsBeziehung epidural weniger wirksam sind als nach systemischer Applikation: 1. Die nichtspezifische Bindung an peridurales Fett (lokales Depot) ist besonders hoch fuÈr lipohile Opioide. Hierdurch erklaÈrt sich auch, dass fuÈr Sufentanil effektive Dosen zwischen 30±50 mg als Bolus notwendig sind.

. Abb. 27-6. Antinozizeptive WirkungsstaÈrke verschiedener

Opioide nach intravenoÈser bzw. periduraler Applikation. Bei dem hydrophilen Opioid Morphin besteht die guÈnstigste Beziehung zugunsten einer neuroaxialen Applikation. (Nach [766])

2. Lipophile Opioide weisen eine schnelle Penetration durch die Dura Mater in das RuÈckenmark auf. Genauso schnell erfolgt aber auch die Resorption in den Venenplexus, der das RuÈckenmark umgibt. 3. Es besteht im Gegensatz zu der uÈber supraspinale Rezeptoren ausgeloÈsten analgetischen Wirkung eine schwaÈchere Interaktion mit den Bindungsstellen im RuÈckenmark. WaÈhrend fuÈr Fentanyl nur eine additive Wirkung von supraspinalen und spinalen Rezeptoren besteht ist dagegen fuÈr Morphin eine synergistische Wirkung anzunehmen,. 27.3

Kombination von Opioid und LokalanaÈsthetikum

Die Rationale, Opioide mit einem LokalanaÈsthetikum zu kombinieren, ist damit zu begruÈnden, dass zwei Substanzgruppen den Schmerz an verschiedenen Stellen blockieren. WaÈhrend das LokalanaÈsthetikum direkt am Axon des afferenten Schenkels angreift, blockieren Opioide die nozizeptive Transmission im RuÈckenmark. So koÈnnen durch die kombinierte Gabe von einem LokalanaÈsthetikum und einem Opioid mehrere Vorteile erzielt werden [594, 595, 596]: 1. die QualitaÈt der Analgesie wird verbessert, 2. die Anschlagzeit wird verkuÈrzt, 3. die Wirkungsdauer wird verlaÈngert, 4. das Dosis des LokalanaÈsthetikums kann um die HaÈlfte verringert werden und 5. die Entwicklung einer Tachyphylaxie auf das LokalanaÈsthetikum kann hinausgeschoben werden. Im Gegensatz zur postoperativen Schmerztherapie hat sich diese Kombination als sehr vorteilhaft zur Kupierung geburtshilflicher Schmerzen erwiesen, da sich der Geburtsschmerz nicht durch eine alleinige epidurale Opioidgabe beheben laÈsst. Neben der Kombination von Morphin und Bupivacain (0,25 %) wird auch die Kombination mit Fentanyl (50 mg) empfohlen. Von den lipophilen Opioiden ist jedoch nur Sufentanil zur epiduralen Anwendung einer Schmerztherapie in der Geburtshilfe zugelassen, zumal dieses Opioid wegen seiner groûen Lipophilie und seiner hohen AffinitaÈt zum Opioidrezeptor im RuÈckenmark offensichtliche Vorteile bietet. Denn Sufentanil peridural appliziert, diffundiert wegen seiner hohen Lipophilie sehr rasch durch die Dura Mater in den Liquor und erreicht von dort das Hinterhorn des RuÈckenmark. Es bindet anschlieûend mit hoher AffinitaÈt an die Opioidrezeptoren

301

27.4  Patientengesteuerte epidurale On-demand-Analgesie

. Abb. 27-7. Die Beziehung zwischen Lipophilie und

Anschlagzeit verschiedener Opioide. (Mod. nach [571, 597, 598, 599])

in der Substantia gelatinosa und innerhalb von 4 min kommt es zur Ausbildung einer Analgesie, fuÈr die das hydrophile Morphin immerhin fast 60 min benoÈtigt (. Abb. 27-7). Aufgrund der hoÈheren RezeptoraffinitaÈt von Sufentanil kann die Dosis des LokalanaÈsthetikums so weit reduziert werden, dass sich eine Kombination von 0,125 % Bupivacain mit 10±30 mg Sufentanil auf 10 ml NaCl 0,9 % unter Adrenalinzusatz (1:200.000, . Tabelle 27-4) bei der Geburtshilfe als sehr vorteilhaft erweist [593, 600, 601]. Es koÈnnen durch die kombinierte Gabe

. Tabelle 27-4. Herstellung des zur epiduralen Schmerztherapie waÈhrend der Geburt verwendeten Gemisches von Bupivacain (0,125 %) mit Sufentanil (0,75 mg/ml)

PraÈparat

Anteile [ml]

Anteile [ml]

Bupivacain 0,5 % (fakultativer Adrenalinzusatz 1:200.000) Sufentanil 5 mg/ml NaCl 0,9 % Gesamt

5,0

7,5

3,0 12,0 20

4,5 18,0 30

27

4 die Schmerzen waÈhrend der EroÈffnungsperiode bei der Geburt effektiver kupiert werden, 4 mit dem LokalanaÈsthetikums und Sufentanil die Dosen des LokalanaÈsthetikums deutlich reduziert werden, 4 eine Verringerung des LokalanaÈsthetika mit einer daraus resultierenden geringeren motorischen Blockaden erreicht werden, 4 die Notwendigkeiten zur instrumentellen Entbindung deutlich reduziert werden, 4 beim Neugeborenen keine Hinweise auf einen OpioiduÈberhang (APGAR- und NAC-Scores ˆ »neurologic« und »adaptive capacity score«) nachgewiesen werden. Zur geburtshilflichen Analgesie wird peridural eine Dosis von initial 10 ml (Sufentanilgehalt 7,5 mg) als Bolus, der gleichzeitig die Testdosis darstellt, empfohlen. Bestehen die Schmerzen weiter, kann nach 10 min eine erneute 10-ml-Gabe, bis zu einer Gesamtmenge von 40 ml (Gesamtmenge Sufentanil 30 mg), gegeben werden. 27.4

Patientengesteuerte epidurale On-demand-Analgesie

Aufgrund der zunehmenden PopularitaÈt der intravenoÈsen PCA-Technik im Rahmen der postoperativen Schmerztherapie, wurde dazu uÈbergegangen, den Patienten selbst die Menge des peridural applizierten Opioid-LokalanaÈsthetika-Gemisches bis zur ausreichenden Analgesie bestimmen zu lassen. Hiermit erhofft man sich die FlexibilitaÈt und Annehmlichkeiten der PCA mit den guten analgetischen Eigenschaften epidural applizierter Opioide kombinieren zu koÈnnen. Nach einer initialen Bolusgabe (z. B. 200±300 mg Fentanyl) erwies sich die Kombination von Bupivacain 0,125 % mit einer anschlieûenden basalen Infusionsrate von Fentanyl 5 mg/h bei einer individuellen Anforderungsdosis von 50 mg und einer 10-minuÈtigen Injektionssperre als klinisch praktikabel. Neben Fentanyl sind aber auch die Opioide Alfentanil und Sufentanil zur epiduralen PCA eingesetzt worden. FuÈr Sufentanil sind Bolusgaben zwischen 20±30 mg mit anschlieûender basaler Infusionsrate von 0,5 mg/h, einer individuellen Anforderungsdosis von 5 mg und einer 10- bis 20-minuÈtigen Injektionssperre angegeben worden. Wie bei allen Empfehlungen sind Fragen zur basalen Infusionsrate, zur Dosierung bei unterschiedlichen chirurgischen Eingriffen, zur Wahl des Opioids und schlieûlich zur Kosten-NutzenRelation noch nicht eindeutig geklaÈrt.

302

Kapitel 27  Neuroaxialer, ruÈckenmarknaher Einsatz von Opioiden

Obgleich viele Untersucher in der periduralen PCA einen Vorteil sehen [566], darf jedoch nicht uÈbersehen werden, dass hinsichtlich AnalgesiequalitaÈt, Nebenwirkungsrate und Konzentration des Opioids im Plasma ein klinisch relevanter Unterschied zwischen der intravenoÈsen und der periduralen Gabe fuÈr die Opioide Fentanyl und Alfentanil nicht nachgewiesen werden konnte. Auch muss hierbei, insbesondere wenn eine basale Infusionsrate gewaÈhlt worden ist, an die MoÈglichkeit einer selbst bei den lipophilen Opioiden auftretenden spaÈten Atemdepression gedacht werden [591, 592]. ! Die epidurale Opioid-PCA ist keine etablierte

Methode. Fragen zur Wirkung, Dosierung, Wahl des Pharmakons sowie Art und HaÈufigkeit der Nebenwirkungen sind noch zu klaÈren.

27.5

27

Intrathekale Opioide

Die intrathekale Opioidgabe ist ein direkter Weg, das Analgetikum am Wirkort, der Substantia gelatinosa im Hinterhorn des RuÈckenmark, zu applizieren, ohne dass die Dura mater vom Pharmakon durchdrungen werden muss. Neben der fehlenden Durapenetration wird hierbei die bei der epiduralen Opioidapplikation obligat auftretende Verteilung durch unspezifische Bindung in den epiduralen Fettdepots sowie die intravasale Aufnahme uÈber die epiduralen Venengeflechte [598] umgangen (. Abb. 27-8).

. Abb. 27-8. Mittlere Anteile von Sufentanil, die bei der

periduralen Applikation im periduralen Fettgewebe, die an der Wirkvermittlung nicht teilnehmendem Substantia grisea und Substantia alba des RuÈckenmark gebunden werden. (Nach [585])

. Abb. 27-9. Visuelle analoge Schmerzskalierung bei

Patientinnen nach unterschiedlichen Sufentanilapplikationen beim Geburtsschmerz (*p I0,001). (Nach [602])

Es kann deshalb davon ausgegangen werden, dass z. B. eine intrathekale Morphingabe besser vorhersehbar ist, intensiver wirkt und laÈnger anhaÈlt. Vereinzelte Untersuchungen zur intrathekalen Sufentanil- und Morphingabe weisen darauf hin, dass 10 mg Sufentanil waÈhrend der Geburt eine ausreichende Analgesie mit einer Dauer zwischen 1±2 h bewirkt, eine Wirkung, die mit der gleichen epiduralen oder intravenoÈsen Sufentanildosis nicht erreicht werden kann (. Abb. 27-9; [602]). Zahlreiche Untersucher weisen darauf hin, dass speziell die stark lipophilen Opioide wie Fentanyl, Sufentanil, Butorphanol, Pethidin und Alfentanil einen zwischen der intrathekalen und der intravenoÈsen Applikation nur geringen DosisWirkungs-Unterschied aufweisen [603]. Bei GegenuÈberstellung der intrathekalen und der epiduralen Applikation muss dagegen der intrathekalen Gabe der Vorzug gegeben werden, weil die epidurale Dosis, um aÈhnliche Liquorkonzentrationen zu erreichen um den Faktor 5 hoÈher liegt [604]. FuÈr Morphin und Fentanyl gelten aÈhnliche Dosisunterschiede, wobei 0,2 mg Morphin und 25 mg Fentanyl in Kombination mit Bupivacain einen gute Analgesie bei der Entbindung bewirken. Trotz dieser ermutigenden Ergebnisse liegt keine umfangreiche Dokumentation wie fuÈr die epidurale Opioidapplikation, vor. Bis die Methode der intrathekalen Opioidgabe generell als Alternative zur epiduralen Opioidapplikation empfohlen werden kann, muÈssen noch weitere Daten gesammelt werden, zumal die schon unter der epiduralen Anwendung bekannten Nebenwirkungen, wie Pruritus und eine fruÈhe Atemdepression, nach einem intrathekalen Opioid noch fruÈher auftreten [605]. Naloxon soll auch hier eine Atemdepression auf-

27.6  Agonisten/Antagonisten und a2-Agonisten zur neuroaxialen Applikation

heben koÈnnen, ohne jedoch den analgetischen Effekt massgeblich zu vermindern [606] Die Vorteile einer intrathekalen im Vergleich zur periduralen Opioidgabe sind offensichtlich, weil hierbei: 4 eine geringere systemische Absorption erfolgt; 4 eine unspezifische Absorption in das peridurale Fett nicht erfolgt; 4 niedrigere Dosen verwendet werden koÈnnen, sodass geringere Nebenwirkungsraten resultieren; 4 der analgetische Effekt ausgepraÈgter ist [607]. Folgende GruÈnde sprechen jedoch dafuÈr, gegenwaÈrtig noch die epidurale der intrathekalen Injektion den Vorzug zu geben[608, 609]: 4 die hierfuÈr notwendige Kathetertechnologie ist noch nicht ausgereift; 4 es besteht das Risiko eines postspinalen Kopfschmerzes; 4 lipophile Opioide fuÈhren nicht unbedingt zu einer laÈngeren Analgesie als das hydrophile Morphin; 4 es besteht ein hoÈheres Risiko an Nebenwirkungen, insbesondere einer Atemdepression; 4 es ist die Frage der NeurotoxizitaÈt im RuÈckenmarkbereich noch nicht ausreichend geklaÈrt. 27.6

Agonisten/Antagonisten und a2-Agonisten zur neuroaxialen Applikation

Aufgrund der auch im RuÈckenmark nachweisbaren k-Rezeptoren koÈnnen auch gemischtwirkende Agonisten/Antagonisten wie Nalbuphin, Butorphanol und Pentazocin fuÈr die peridurale Applikation eingesetzt werden. Erste Untersuchungen mit 10 mg Nalbuphin peridural waren insofern recht erfolgversprechend, als eine postoperative Schmerzbe freiung uÈber 13 h bestand und im Vergleich mit Morphin die Inzidenz an Nebenwirkungen deutlich geringer war [610]. Weil das Opioid jedoch einen LoÈsungsvermittler enthaÈlt, der moÈglicherweise neurotoxisch ist, wird von der periduralen Applikation abgeraten. Auch konnten Daten aus einer Multizenterstudie in Kanada zur periduralen Applikation von Nalbuphin keine ausreichende postoperative Schmerzbefreiung dokumentieren. Obgleich dem Pentazocin [611] und dem Butorphanol [612] ein wechselnder Erfolg bei periduraler Applikation attestiert wird, hat sich die neuroaxiale Anwendung der gemischtwirkenden Agonisten/Antagonisten zur SchmerzbekaÈmpfung nicht durchgesetzt.

303

27

Weitere Pharmaka, die bisher nur versuchsweise in der ruÈckenmarknahen Schmerztherapie eingesetzt worden sind, sind die Benzodiazepine, das Somatostatin und a2-Agonisten. Auch hat sich gezeigt, dass die Koadministration eines Opioids mit Midazolam, Somatostatin oder dem k-spezifischen Peptid Dynorphin zur WirkungsverstaÈrkung und WirkungsverlaÈngerung, aufgrund einer am Tier nachgewiesenen NeurotoxizitaÈt, zu vermeiden ist [613]. Mit dem wirkstarken Opioid Lofentanil kann aufgrund seiner hohen AffinitaÈt und SpezifitaÈt bei epiduraler Applikation eine vergleichsweise optimale Dosis-Wirkungs-Beziehung erreicht werden (. Abb. 27-10). Obgleich dieses Opioid, aufgrund seiner pharmakokinetischen Eigenschaften, fuÈr eine neuroaxiale Applikation gute Voraussetzungen bietet, sind weitere klinische Untersuchungen nicht durchgefuÈhrt worden Eine fehlende NeurotoxizitaÈt und Vorteile im Hinblick auf eine WirkungsverstaÈrkung und WirkungsverlaÈngerung bietet jedoch die peridurale Koadministration von einem Opioid und dem a2-Agonisten Clonidin, wobei z. B. Morphin 2 mg mit Clonidin 450 mg uÈber 24 h verabreicht wird. Selbst die alleinige Gabe von Clonidin mit oder ohne LokalanaÈsthetikum fuÈhrt als Bolus (75±150 mg in 6±7 ml KochsalzloÈsung) oder in Form der kontinuierlichen Applikation uÈber einen Perfusor (750 mg in 50 ml KochsalzloÈsung) durch Aktivierung der a2-Rezeptoren im Bereich der Substantia gelatinosa des RuÈckenmark [557, 614, 615] zu einer postoperativen nebenwirkungs-

. Abb. 27-10. Antinozizeptive Wirkung mit unterschiedlichen

Dosen epidural verabreichter Pharmaka. (Nach [17])

304

Kapitel 27  Neuroaxialer, ruÈckenmarknaher Einsatz von Opioiden

armen Analgesie. Dieses Verfahren ist besonders fuÈr die Therapie beim Tumorschmerz angezeigt ist [616, 617]. So konnte erst durch den Zusatz von Clonidin (30 mg/h) zu epiduralen Morphin bei 45 % aller Patienten mit Tumorschmerz eine ausreichende Analgesie erreicht werden und war bei neuropathischen Schmerzen erst mit der Kombination Morphin/Clonidin bei 56 % aller Patienten eine erfolgreiche Schmerzblockade moÈglich [435]. 27.7

27

Kontinuierliche peridurale Opioidinfusion

Die kontinuierliche Infusion von Opioiden in den Periduralraum bei Schmerzpatienten weist eine Reihe von Vorteilen auf: 4 An erster Stelle steht die UnterdruÈckung der Schmerzinformation bei erhaltenem Temperatur-, Lage- und Drucksinn. 4 Die SchmerzdaÈmpfung bleibt regional begrenzt, sodass zentrale Nebenwirkungen wie Sedierung und Atemdepression weniger ausgepraÈgt sind. 4 Die Analgesie ist staÈrker ausgepraÈgt und laÈnger anhaltend als nach systemischer Gabe. 4 Durch die kontinuierliche Zufuhr eines Opioids mit niedriger Flussrate wird das Risiko einer Atemdepression vermindert. Bei diesem Verfahren ist besonders die Auswahl der Patienten fuÈr eine kontinuierliche Opioidinfusion Voraussetzung fuÈr den Erfolg. Hierbei gelten folgende Kriterien:

4 Die Schmerzen koÈnnen konventionell nicht mehr gelindert werden. 4 Die systemisch applizierten Opioide fuÈhren zu massiven Nebenwirkungen. 4 Die Patienten haben diffuse Schmerzen auf beiden Seiten. Die Applikation des Opioids erfolgt uÈber ein externes oder implantierbares Pumpensystem, das uÈber einen liegenden Peridural- (Spinal-) Katheter angeschlossen wird [618]. Der Katheter wird hierzu stationaÈr, moÈglichst nahe an das vom Schmerz betroffene Segment platziert. Die individuelle Dosierung wird anschlieûend unter Mitarbeit des Patienten festgelegt. Die Pumpe erhaÈlt ein Reservoir mit der LoÈsung des Analgetikums. Aus diesem Reservoir wird kontinuierlich die vorher ermittelte Dosis infundiert. Die Steuerung erfolgt automatisch, wobei eine Korrektur der Dosis moÈglich ist, weil das Reservoir innerhalb von 1±4 Wochen, je nach Verbrauch, aufgefuÈllt werden muss. Bei den externen Pumpen ist eine Ûberwachung und Hilfestellung durch FamilienangehoÈrige oder Pflegepersonal notwendig. Im letzten Fall stellt die Implantation eines Portsystems einen Kompromiss dar (. Abb. 27-11). Hierbei wird der Katheter untertunnelt und mit der subkutan liegenden Kammer verbunden. Die perkutan auffuÈllbare Pumpe wird in eine subkutane Tasche im Oberbauchbereich platziert und mit dem vom RuÈckenmark kommenden, subkutan vorgezogenen Periduralkatheter verbunden. Auch ist es moÈglich, eine extern tragbare Pumpe von auûen uÈber eine Spezialnadel (Huber-Schliff

. Abb. 27-11. Portsystem zur kontinuierlichen periduralen Opioidaufnahme

27.7  Kontinuierliche peridurale Opioidinfusion

ohne Stanzeffekt) mit dem Port zu verbinden. Diese MoÈglichkeit, den Patienten abzukoppeln, laÈsst ihn mobiler werden; die Therapie kann ambulant erfolgen und die Arztbesuche koÈnnen reduziert werden. Die Auswahl des Pumpensystems haÈngt von der Lebenserwartung ab. Ist diese groÈûer als 1/2 Jahr bzw. werden vorher bettlaÈgerige Patienten durch die Schmerzbefreiung wieder mobil, wird ein implantierbares System empfohlen. Bei der perkutanen Pumpe besteht nur ein geringes Risiko der Kontamination von Katheter und Pumpe. DemgegenuÈber stehen jedoch der relativ hohe Aufwand fuÈr die Implantation und die Kosten dieses Systems.

305

27

28 Opioidantagonisten, gemischtwirkende Agonisten/ Antagonisten und partielle Agonisten 28.1

Praktischer Einsatz der Opioidantagonisten ± 307

28.1.5

28.1.1

Opioidantagonisten in der AnaÈsthesie ± 307 Opioidantagonisten in der Notfallmedizin ± 309 Langzeittherapie ehemaliger OpioidabhaÈngiger ± 309 NuÈchternheitshilfe beim AlkoholabhaÈngigen ± 310

28.1.6

28.1.2 28.1.3 28.1.4

Weil Opioide ihre Wirkung uÈber Rezeptoren vermitteln, sind spezifische Antagonisten auch in der Lage, diese Wirkungen kompetitiv, durch VerdraÈngung des Liganden vom Rezeptor wieder aufzuheben. Neben dem klassischen Opioidantagonisten Naloxon gibt es eine Reihe weiterer sog. reiner und gemischtwirkender Antagonisten, die klinisch und im Notfall einsetzbar sind (. Tabelle 28-1; . Abb. 28-1). Neben dem »reinen« Opioidantagonisten Naloxon wird der doppelt so stark wirkende Antagonist Naltrexon (Nemexin) in der Medizin eingesetzt. . Tabelle 28-1. Vergleichende GegenuÈberstellung der analgetischen und antagonistischen WirkungsstaÈrke verschiedener Agonisten/Antagonisten, partieller Agonisten und reiner Antagonisten beim Menschen. (Nach [121, 329, 674±677])

Internationaler Freiname Levallorphan Pentazocin Nalbuphin Butorphanol Nalorphin Buprenorphin Naloxon Naltrexon Nalmefen Diprenorphin

Agonistische StaÈrke (zu Morphin ˆ1)

Antagonistische StaÈrke (zu Naloxon ˆ1)

0,1 0,3 0,5±0,8 3,5±5,0 1,0 30 0 0 0 0

0,02 0,03 0,3 0,1 0,15 0,5 1,0 2,5 2,5 2,5

Durch Endorphine ausgeloÈste Pathologie ± 311 Neue Opioidantagonisten ± 311

28.2

Praktischer Einsatz der gemischtwirkenden Agonisten/Antagonisten und der partiellen Agonisten ± 312

28.3

Praktischer Einsatz peripher wirkender Opioidantagonisten ± 316

Beide Pharmaka stammen, chemisch betrachtet, von dem Agonisten Oxymorphon (Numorphan) ab, bei dem durch Substitution der endstaÈndigen N-Methylgruppe durch eine Allyl- bzw. Cyclopropylmethylgruppe das Naloxon bzw. das Naltrexon entstehen (. Abb. 28-1). Der Antagonist Diprenorphin (Revivon) wird nur in der VeterinaÈrmedizin zur Umkehr einer durch den stark wirkenden Agonisten Etorphin (Immobilon) ausgeloÈsten Immobilisierung eingesetzt; waÈhrend der Antagonist Nalmefen (Revex) nur in den USA auf den Markt eingefuÈhrt worden ist [678, 679]. Bei den Antagonisten kann folgende Beziehung nachgewiesen werden: Je staÈrker die agonistische Wirkung der Muttersubstanz, desto hoÈher ist auch die antagonistische StaÈrke des AnkoÈmmlings. Es gilt deswegen folgende Beziehung: Codein I Morphin I Levorphanol I Oxymorphon ˆ N-Allyl-Norcodein I Nalorphin I Levallorphan I Naloxon. 28.1

Praktischer Einsatz der Opioidantagonisten

28.1.1 Opioidantagonisten in der AnaÈsthesie Alle spezifischen Antagonisten vermitteln ihre Wirkung durch kompetitive VerdraÈngung des am Rezeptor sitzenden Agonisten, wodurch alle Opioidwirkungen umgekehrt werden. Insbesondere wird Naloxon fuÈr die Umkehr der durch stark wirksame Opioide ausgeloÈsten Atemdepression

308

Kapitel 28  Opioidantagonisten, gemischtwirkende Agonisten/Antagonisten und partielle Agonisten

28

. Abb. 28-1. Durch EinfuÈhrung einer Cyclopropylmethylgruppe am endstaÈndigen Stickstoffatom von Oxymorphon wird, mit oder ohne zusaÈtzliche Methylierung in der 6er-Position, aus einem Agonisten ein reiner Antagonist

nach einer Opioidnarkose eingesetzt. Es sollte hierbei jedoch schrittweise antagonisiert werden (. Abb. 28-2), damit ein »akutes Abstinenzsyndrom« mit erhoÈhtem Sympathikotonus und einem evtl. LungenoÈdem [680] vermieden wird. Aufgrund der relativ kurzen Wirkungsdauer des Antagonisten Naloxon (ca. 20±30 min [681] ist nach erfolgreicher Antagonisierung in der

Klinik mit der MoÈglichkeit einer spaÈteren Remorphinisierung und einer erneut einsetzenden Atemdepression zu rechnen. Aus diesem Grunde wird nach erfolgreicher Antagonisierung empfohlen, neben der intravenoÈsen Titrierung eine zusaÈtzliche intramuskulaÈre Gabe von Naloxon bzw. eine langsam laufende intravenoÈse Tropfinfusion.

309

28.1  Praktischer Einsatz der Opioidantagonisten

28

Injektion des Antagonisten ist insofern von Bedeutung, weil einige Opioidliganden wie z. B. Pentazocin, Propoxyphen, Buprenorphin und Methadon (!) hoÈhere Konzentrationen des Antagonisten erfordern, um eine VerdraÈngung am Rezeptor zu erreichen. Ein Abstinenzsyndrom ist bei Opioidintoxikation und deren Antagonisierung mit fraktionierten Naloxongaben nicht zu erwarten, da bei ausreichender Stabilisierung der Atmung von einer weiteren Bolusgabe Abstand genommen wird. Reagiert der Patient jedoch auf eine Gesamtmenge von 10 mg Naloxon nicht, muss eine andere Ursache fuÈr das Koma angenommen werden. Bei erfolgreicher Antagonisierung muss jedoch eine Naloxoninfusion uÈber die folgenden 12 h verabreicht werden, weil die Halbwertszeit einiger Agonisten (insbesondere des Methadons) sehr lang ist. Hierbei koÈnnen Dosen bis zu 5 mg/24 h notwendig werden [682]. 28.1.3 Langzeittherapie ehemaliger

OpioidabhaÈngiger

. Abb. 28-2. Schema zur titrierten Gabe von Naloxon bei

Umkehr einer opioidbedingten Atemdepression

28.1.2 Opioidantagonisten

in der Notfallmedizin

Eine weitere wichtige Indikation fuÈr den Einsatz von Naloxon ist die OpioiduÈberdosierung im Rahmen von NotfaÈllen. Eine Intoxikation mit Opioiden sollte immer dann vermutet werden, wenn der Patient bei der Aufnahme eine Atemdepression (Bradypnoe, paO2 I10 kPa), ein Koma und stecknadelkopfgroûe Pupillen (sog. Opioidtrias) aufweist. Neben der initial einsetzenden Sicherung der Atemwege mit einem Guedel- oder Endotrachealtubus, mit oder ohne assistierte bzw. kontrollierte Beatmung, werden uÈber eine liegende intravenoÈse Infusion (5 % Dextrose) versuchsweise 0,4±2 mg Naloxon verabreicht. Diese Menge des Antidots kann auch bei einer nur vermuteten OpioiduÈberdosierung gegeben werden, da selbst bei Vergiftungen aus anderen Ursachen (Benzodiazepine, Barbiturate u. a.) Nebenwirkungen nicht zu befuÈrchten sind (. Abb. 28-3). Der intravenoÈse Bolus wird alle 3 min, unter Beobachtung der Pupillenweite, der Atemfrequenz und der Bewusstseinslage, bis zu einer Gesamtdosis von 10 mg wiederholt. Diese wiederholte

Naltrexon ist im Gegensatz zu Naloxon ein laÈnger wirkender Antagonist mit einer WirkungsstaÈrke von etwa 2,5-mal der von Naloxon [681, 684]. Dieser Antagonist hat seinen Indikationsbereich in der Langzeittherapie ehemaliger OpiatabhaÈngiger nach erfolgreicher Entgiftung. Eine Entgiftung, die im Mittel 7 Tage nach Heroin- und 10 Tage nach Methadonabusus [685, 686] dauert, wird anschlieûend, zur UnterstuÈtzung der Reintegration und Resozialisierung, mit Naltrexon therapeutisch gestuÈtzt. Der Antagonist hat hierbei die Aufgabe eine Langzeitblockade der Opioidrezeptoren herbeizufuÈhren, sodass eine erneute Heroineinnahme keinen »Kick« verursachen kann. Auch soll der ehemalige OpiatabhaÈngige hiermit einer erneuten Versuchung besser widerstehen koÈnnen. Indiziert ist Naltrexon beim ehemaligen OpiatabhaÈngigen, der zum RuÈckfall neigt und der fuÈr eine Methadonerhaltungstherapie nicht in Frage kommt. Ein RuÈckfall in die Drogenszene kann jedoch nur durch eine regelmaÈûige Einnahme verhindert werden [687]. Voraussetzung ist ein opioidfreier Organismus, der durch Urinproben und eine provokative Naloxongabe (0,2 mg) nachgewiesen werden kann. Eine Tablette von 50 mg/Tag garantiert die Besetzung aller Opioidrezeptoren fuÈr 24 h. Da das Pharmakon nur als Tablette zur VerfuÈgung steht, ist der Einsatz von Naltrexon in der AnaÈsthesiologie nicht

310

Kapitel 28  Opioidantagonisten, gemischtwirkende Agonisten/Antagonisten und partielle Agonisten

28

. Abb. 28-3. Fluss-

diagramm zur praktischen Anwendung von Naloxon bei der Opioidintoxikation. (Nach [683])

moÈglich. Erste Versuche mit einem subkutan implantierten Naltrexonpellet, weisen darauf hin, dass die Haltequote, d. h. die Anzahl der im Vergleich zur oralen Naltrexoneinnahme ruÈckfaÈllig gewordenen ehemaligen AbhaÈngigen, signifikant hoÈher ist.

28.1.4 NuÈchternheitshilfe

beim AlkoholabhaÈngigen

Ausgehend von Ergebnissen aus der Grundlagenforschung, dass beim AlkoholabhaÈngigen 1. das endorphinerge System aktiviert wird und hohe b-Endorphinkonzentrationen im Plasma von alkoholabhaÈngigen Patienten nachweisbar sind,

28.1  Praktischer Einsatz der Opioidantagonisten

2. die endogenen Abbauprodukte des Alkohols (i. e. Tetrahydroisoquinoline) direkt mit dem Opioidrezeptor binden [447], 3. die AffinitaÈt endogener Opioide am Opioidrezeptor alkoholabhaÈngiger Ratten gesteigert ist, wurde in klinischen Untersuchungen eine langfristige Blockade des Opioidrezeptors bei alkoholabhaÈngigen Patienten mit Naltrexon versucht. Hierbei konnte durch eine Naltrexontherapie (50 mg/Tag oral) erreicht werden, dass im Vergleich zu einer Kontrollgruppe, der Zwang, die Droge Alkohol einzunehmen, signifikant geringer war [688]. Des Weiteren war im Vergleich zur Kontrollgruppe, die RuÈckfallquote der mit Naltrexon behandelten Alkoholiker signifikant niedriger [689, 690]. Obgleich diese Ergebnisse auf die Bedeutung der Opioidrezeptoren im Rahmen der Alkoholkrankheit hinweisen, hat sich diese MoÈglichkeit einer Therapie bisher noch nicht durchgesetzt. 28.1.5 Durch Endorphine ausgeloÈste

Pathologie

Neben einer experimentell nachgewiesenen unspezifischen, nicht uÈber Rezeptoren vermittelten positiv-inotropen Wirkung von Naloxon auf das Myokard [691] kann Naloxon versuchsweise klinisch beim Autismus des Kindes [692] und bei der Hyperlaktation der Frau [693]eingesetzt werden. In beiden FaÈllen soll direkt oder indirekt die nachgewiesene erhoÈhte b-Endorphinkonzentration fuÈr die autistische Reaktion bzw. gesteigerte Prolaktinsezernierung mitverantwortlich sein, wodurch der Angriffspunkt des Opioidantagonisten Naloxon verstaÈndlich wird (naÈheres siehe unter dem 7 Kapitel 32 »endogene Opioide«). Ob Naloxon einen therapeutischen Nutzen beim Schlaganfall und seinen Folgen hat [694], kann bis heute nicht eindeutig beantwortet werden. Experimentell sind hohe Dosen des Antagonisten (2±5 mg/kgKG) notwendig, bis ein therapeutischer Nutzen nachweisbar wird. Bei solch hohen Dosierungen muss jedoch auch ein unspezifischer Effekt der Substanz (Beeinflussung des Kalziumtransfers und »Abfangen« toxischer freier Sauerstoffradikale [695]) diskutiert werden. Klinisch sind bei solchen hohen Dosen Nebenwirkungen wie Nausea und Erbrechen zu beobachten, wobei die relativ gute Toleranz der hohen Naloxondosen (4 mg/kgKG, initial gefolgt von 2 mg/kgKG/h) beim vorzugsweise aÈlteren Schlaganfallpatienten hervorgehoben wird [696].

311

28

28.1.6 Neue Opioidantagonisten Nalmefen, ein neuerer »reiner« Opioidantagonist (. Abb. 28-1) weist interessante QualitaÈten sowohl in seiner verdraÈngenden Wirkpotenz (2,5fach von Naloxon) als auch in der Wirkungsdauer, die uÈber mehrere Stunden andauern soll, auf [675]. Hervorzuheben ist die besonders lange Eliminationshalbwertszeit, die im Vergleich zu Naloxon mit 1,1 h fuÈr Nalmefen 10,8 h betraÈgt. Hierdurch wird insbesondere die Gefahr einer Remorphinisierung gebannt, da der Antagonist lange genug den Rezeptor kompetitiv besetzt und ein erneutes Andocken zirkulierender Opioide nicht moÈglich ist. Diese lange Wirkungsdauer wird durch die Anzahl der blockierten Bindestellen reflektiert. Nach Gabe von 1 mg Nalmefen waren nach 8 h noch 77 % der Rezeptoren und nach 24 h noch 38 % der Rezeptoren besetzt. Die Vergleichswerte fuÈr 2 mg Naloxon betrugen 33 % nach 8 h und nach 24 h keine nachweisbare Besetzung mehr (. Abb. 28-4). Solche Ergebnisse werden zusaÈtzlich dadurch unterstrichen, dass bei der RuÈckatmung mit 60 mmHg paCO2, welches einen Reiz fuÈr das Atemzentrum darstellt, intermittierende Fentanyldosen (2 mg/kgKG) von der 1. bis zur 8. Stunde, im Vergleich zur Placebogabe, keine nachweisbare Atemdepression ausloÈsen konnten [675]. Aufgrund der im Vergleich mit Naloxon doppelt so starken antagonistischen Potenz von Nalmefen sollte eine Antagonisierung titriert vorgenommen werden, damit kein akutes Abstinenzsyndrom mit uÈberschieûendem Sympathikotonus provoziert wird. Øhnlich wie Naloxon eignet sich Nalmefen auch fuÈr den Einsatz auf der Ver-

. Abb. 28-4. Die vergleichsweise Blockade von Opioid-

rezeptoren durch die Antagonisten Naloxon und Nalmefen. Prozentuale Bindung 2, 4, 8 und 24- h nach der Injektion, gemessen mit Hilfe der Positronemissionstomographie und Verwendung des hochselektiven Liganden 11C-Carfentanil

312

Kapitel 28  Opioidantagonisten, gemischtwirkende Agonisten/Antagonisten und partielle Agonisten

giftungsstation wenn die Verdachtsdiagnose Opioidintoxikation vorliegt, bzw. kann es als Antidot bei dem Opiatentzug in Narkose (naÈheres siehe 7 Kapitel 36 »Opiatentzug in Narkose«) eingesetzt werden. Trotz der langen Wirkungsdauer muss bei einer Ûberdosierung mit langwirkenden Opioiden wie Methadon oder Levoa-Acetylmethadol (LAAM), trotz anfaÈnglich erfolgreicher Antagonisierung, auch hier an die MoÈglichkeit der Remorphinisierung gedacht werden. Der Antagonist Diprenorphin wird schon seit mehreren Jahren erfolgreich in der VeterinaÈrmedizin unter dem Namen Revivon zur Umkehr einer durch den Agonisten Etorphin (Immobilon) ausgeloÈsten Katalepsie bei der Groûwildjagd verwendet. Ein Einsatz beim Menschen ist nicht geplant. 28.2

28

Praktischer Einsatz, der gemischtwirkenden Agonisten/Antagonisten und der partiellen Agonisten

Zu den fuÈr die Praxis relevanten gemischtwirkenden Agonisten/Antagonisten zaÈhlen Pentazocin, Nalbuphin und Butorphanol. WaÈhrend das Pentazocin (Fortral) im Lauf der Zeit als Analgetikum fuÈr die postoperative Schmerztherapie und fuÈr die Therapie chronischer Schmerzen an Bedeutung verloren hat und Butorphanol (Stadol) nur im angloamerikanischen Sprachbereich vertrieben

. Abb. 28-6. Umkehr einer opioidbedingten Narkose durch

. Abb. 28-5. GegenuÈberstellung der CO2-RuÈckatmungskurven bei Probanden nach kumulativen Dosen des klassischen m-Liganden Morphin im Vergleich mit dem gemischtwirkenden Agonisten/Antagonisten Nalbuphin. Unter Nalbuphin kommt es zu einem Ceilingeffekt der Atemdepression im hoÈheren Dosisbereich. (Nach [76])

Nalbuphin und seine Auswirkungen auf das Elektroenzephalogramm bei Patienten. Im Vergleich zur fentanylbedingten Leitungszunahme im langsamen d- (0,25±4 Hz) und u(4,1±8 Hz) Bereich induziert Nalbuphin am Ende der Narkose einen Weckeffekt, der durch die Zunahme der Leistung im mittelschnellen a- (8±12 Hz) und insbesondere im schnellen b(20±32 Hz) Band charakterisiert ist. (Nach Freye et al. 1982)

28.2  Praktischer Einsatz

wird, steht nur noch Nalbuphin zur VerfuÈgung. Seine Indikationsbereiche sind 4 postoperative Schmerzen, 4 Antagonisierung einer durch m-Liganden bedingten Atemdepression, 4 Basisanalgetikum im Rahmen einer balancierten, opioidgestuÈtzten Narkosetechnik. Der Indikationsbereich in der postoperativen Phase erklaÈrt sich zum einen aus der m-antagonistischen und k-agonistischen Wirkung (s. S. 47, . Tabelle 8-1), sodass ein evtl. atemdepressoricher Ûberhang antagonisiert, dabei jedoch gleichzeitig eine uÈber den k-Rezeptor vermittelte Analgesie erreicht wird. Im Gegensatz zu den klassischen m-Liganden besteht fuÈr die gemischtwirkenden Agonisten/Antagonisten ein analgetischer und atemdepressorischer Ceilingeffekt, der sowohl fuÈr den Liganden Butorphanol als auch fuÈr Nalbuphin nachgewiesen werden konnte (. Abb. 28-5) Die Besonderheit dieser Opioidgruppe erklaÈrt sich durch eine Antagonisierung der anlaÈsslich der Operation gegebenen Opioidmenge noch uÈberhaÈngenden Atemdepression und einer gleichzeitigen, uÈber den k-Rezeptor vermittelten Analgesie. Hierbei wies Nalbuphin fuÈr den postoperativen Bereich eine bessere Effizienz und weniger Nebenwirkungen als die Vergleichssubstanz Pentazocin auf. FuÈr eine Umkehr der narkosebedingten Hypnose durch Nalbuphin konnte ebenfalls der Nachweis im EEG erbracht werden, indem als Zeichen einer Vigilanzanhebung die schnellen Leistungsanteile im b-Band signifikant zugenommen haben (. Abb. 28-6).

313

28

Auch wurde fuÈr diese Gruppe der Opioide ein vergleichsweise geringerer Spasmus der Hohlorgane, insbesondere ein fehlender Spasmus des Oddi-Spinkters beschrieben (. Abb. 28-7a, b), sodass selbst bei gallensteinbedingten Schmerzen und bei Nierenkoliken diese Opioidgruppe nicht kontraindiziert ist. Im Rahmen einer opioidgestuÈtzten Narkosetechnik weist der gemischtwirkende Agonist/Antagonist Nalbuphin insofern eine interessante Wirkung auf, als die simultane Gabe mit einem reinen m-Liganden zu einer fehlenden Toleranzentwicklung fuÈhrte bzw. hierdurch eine AbhaÈngigkeitsentwicklung verhindert werden konnte. FuÈr die Praxis bedeutet dies, dass bei einer opioidgestuÈtzten Narkose, nach anfaÈnglicher Gabe von 20 mg/70 kgKG Nalbuphin, anschlieûend mit einem reinen m-Liganden wie z. B. Remifentanil die Narkose unterhalten werden kann. Hierdurch kann eine geringere Toleranzwicklung mit der Notwendigkeit einer DosiserhoÈhung erreicht werden. UrsaÈchlich wird eine durch den antagonistischen Teil des gemischtwirkenden Agonisten/Antagonisten bedingte deutliche Zunahme der Rezeptoranzahl diskutiert, die der durch den reinen m-Liganden induzierten Internalisierung entgegengesteuert (ˆ sog. Upregulation von m-Rezeptoren). Denn der m-Rezeptor wird durch den antagonistischen Anteil von Nalbuphin in einen Konformationszustand versetzt, der fuÈr eine Internalisierung keine guÈnstigen Voraussetzungen darstellt. Øhnliche Ûberlegungen gelten auch fuÈr die partiellen Agonisten, von denen 2 Substanzen

. Abb. 28-7a. Gallenwegsdruck

[cm H2O] nach den gemischtwirkenden Agonisten/Antagonisten Butorphanol und Nalbuphin im Vergleich zu dem m-Liganden Fentanyl, intraoperativ gemessen uÈber einen im Gallengang liegenden T-Drain. (Nach Murphy et al 1987)

314

Kapitel 28  Opioidantagonisten, gemischtwirkende Agonisten/Antagonisten und partielle Agonisten

. Abb. 28-7b. Gallenfluss (ml/min) nach den gemischtwirkenden Agonisten/Antagonisten Butorphanol und Nalbuphin im Vergleich zu dem m-Liganden Fentanyl, intraoperativ gemessen uÈber einen im Gallengang liegenden T-Drain. (Nach Murphy et al 1987)

28

zur VerfuÈgung stehen, das Buprenorphin und das Meptazinol. Buprenorphin kommt sowohl in der postoperativen Phase (Temgesic) und im Rahmen der Therapie chronischer Schmerzen als transtherapeutisches System (Transtec) zum Einsatz (NaÈheres hierzu s. 7 Kap. 17.3 und 7 18.4.3). Die initiale m-verdraÈngende Wirkung von Buprenorphin konnte klinisch durch die Umkehr eines FentanyluÈberhangs dokumentiert werden (. Abb. 28-8). FuÈr die postoperative Schmerztherapie ist die sublinguale oder intravenoÈse bzw. neuroaxiale Applikationsform zu waÈhlen, weil 4 das Pharmakon eine hohen first-pass-Metabolismus uÈber die Leber mit Inaktivierung aufweist, sodass bei oraler Gabe eine nur geringe BioverfuÈgbarkeit besteht, 4 aufgrund der hohen Lipophilie die bukkale, neuroaxiale oder transdermale Applikationsform Vorteile aufweist, 4 aufgrund der intensiveren Rezeptorbindung eine lange Wirkungsdauer zu erwarten ist, 4 wegen der hohen RezeptoraffinitaÈt auch eine intensive Analgesie ausgeloÈst wird, 4 wegen der partiell agonistischen Wirkung es einer Internalisierung und einer damit einhergehenden Toleranzentwicklung entgegenwirkt. Der partielle Agonist Meptazinol (Meptid) zeichnet sich dagegen durch folgende Eigenschaften aus: 4 eine mittelstarke analgetische Potenz entsprechend der 0,1fachen von Morphin, 4 eine im Vergleich zu anderen Opioiden nur geringe VigilanzeinschraÈnkung,

4 eine fehlende AbhaÈngigkeitsentwicklung, 4 eine minimale Plasmaeiweiûbindung von nur 27 %, 4 eine bei oraler Gabe hohe BioverfuÈgbarkeit von bis zu 98 %, 4 eine maÈûige kreislaufstimulierende, adrenerge Wirkung, 4 eine experimentell nachgewiesene antiarrhythmische Wirkung, 4 einen schnellen Wirkungseintritt von 2 min bei einer maximalen Wirkung nach 15 min, 4 eine fehlende obstipierende Wirkung, 4 eine fehlende Atemdepression, 4 eine sehr geringe antagonistische Wirkung (0,3fach Nalorphin, 0,02fach Naloxon), 4 eine zusaÈtzliche uÈber cholinerge Mechanismen vermittelte, zentral-induzierte Analgesie, 4 eine fehlende oxidative Metabolisierung, sodass pharmakologisch aktive Metaboliten nicht nachweisbar sind. Aufgrund dieser Eigenschaften hat Meptazinol seine primaÈren Einsatzbereiche in folgenden Gebieten: 4 als postoperatives Analgetikum bei schwachen bis mittelstarken Schmerzen, wobei wegen der fehlenden Atemdepression eine besondere Indikation fuÈr das Kleinkind und den Neugeborenen vorliegt, 4 als Basisanalgetikum im Rahmen einer opioidgestuÈtzten Narkose, 4 wegen der minimalen BeeintraÈchtigung des Neugeborenen als Analgetikum zur Kupierung von Wehenschmerzen,

28.2  Praktischer Einsatz

315

28

. Abb. 28-8. Nach einer fen-

tanylbasierten AnaÈsthesie ist Buprenorphin (0,4 mg i. v.) in der Lage, die langsamen EEGFrequenzen (b±d) insofern umzukehren, als jetzt eine hoher Anteil schneller Frequenzen vorherrscht, (e±f) der mit einem Erwachen einhergeht. Anschlieûend kommt es nach 30 min jedoch wieder zu einem Vorherrschen von langsamen d- bis u-AktivitaÈten, die mit einer Vigilanzminderung beim Patienten einhergehen. (Mod. nach De Castro 1978)

. Abb. 28-9. HaÈufigkeit von

Nebenwirkungen bei 1167 Patienten nach oraler/intravenoÈser Gabe von Meptazinol. (Nach Price 1982)

316

Kapitel 28  Opioidantagonisten, gemischtwirkende Agonisten/Antagonisten und partielle Agonisten

4 wegen der minimalen bis fehlenden Atemdepression als Analgetikum bei akuten, traumatischen Schmerzen im Rahmen der Notfallmedizin, 4 wegen der fehlenden VigilanzbeeintraÈchtigung und einer nur 27 %igen Proteinbindung als Analgetikum in der Schmerztherapie des alten Patienten, 4 wegen der geringen kreislaufstimulierenden adrenergen Wirkung bei allen Schmerzsituationen mit gleichzeitig starken Blutverlusten, 4 wegen der antiarrhythmischen Wirkung bei einer gleichzeitig geringen VigilanzbeeintraÈchtigung und einer minimalen Proteinbindung als das Analgetikum der Wahl bei mittelstarken Schmerzen alter und sehr alter Patienten (z. B. Osteoarthrose, rheumatoide Arthritis, Spondylarthrose). An Nebenwirkungen imponiert besonders der Schwindel, der kurz nach der Applikation auftritt (. Abb. 28-9).

28

28.3

Praktischer Einsatz peripher wirkender Opioidantagonisten

Die Gruppe der Opioide repraÈsentiert hauptsaÈchlichen Analgetika im Rahmen einer Therapie von akuten und chronischen Schmerzen. Mit dem Einsatz von Opioiden treten jedoch oÈfter auch Nebenwirkungen auf, die sich insbesondre im Rahmen einer Langzeittherapie niederschlagen koÈnnen in Form von: 4 Atemdepression, 4 Sedierung, 4 Pruritus, 4 Nausea und Erbrechen, 4 Obstipation, 4 verzoÈgerter Magenentleerung, 4 Harnretention, 4 RigiditaÈt der quergestreiften Muskulatur des Thorax, 4 Spinkterenspasmus, 4 Suppression des Immunsystems. So tritt ein Pruritus besonders nach neuroaxialer und parenteraler Opioidgabe auf, und es limitiert Harnrentention, Nausea, Erbrechen sowie eine verzoÈgerte Magenentleerung die Opioiddosis oder eine langfristige Opioidgabe. Insbesondere ist jedoch die Obstipation haÈufig der limitierende Faktor bei dem Einsatz von Opioiden, wenn im Rahmen einer Langszeittherapie chronische Schmerzen behandelt werden. Deswegen soll mit jeder Opioidverschreibung auch gleichzeitig ein Laxans mitverordnet werden, zumal nach

Sistieren eines Opioids der obstipierende Effekt noch laÈngere Zeit bestehen bleibt. UrsaÈchlich sind neben einer von den Opioidrezeptoren im ZNS ausgehenden Hemmung der Propulsion hauptsaÈchlich die im Plexus myentericus Auerbachii des Darms lokalisierten peripheren Opioidrezeptoren verantwortlich dafuÈr, dass die gastrointestinale AktivitaÈt und der Transit verlaÈngert ist. Im Vergleich zu den reinen m-Agonisten vom Typ Morphin machen hierbei die gemischtwirkenden Agonisten/Antagonisten keine Ausnahme, sodass selbst nach Nalbuphin eine VerzoÈgerung der gastrointestinalen MotilitaÈt beobachtet werden kann. Die Hemmung der intestinalen Propulsion ist besonders im perioperativen Bereich bedeutungsvoll, dann wenn neben einer ausreichenden Schmerztherapie auch Faktoren wie die fruÈhzeitige orale ErnaÈhrung einen maûgeblichen Einfluss auf die postoperative Erholung haben. Denn ein postoperativer Ileus sowie Nausea und Emesis sind Faktoren, die einer Erholung im Wege stehen, sodass eine Umkehr dieser opioidbedingten Nebenwirkungen, bei weiterhin bestehender ausreichender Analgesie wuÈnschenswert waÈre. Zu diese Zweck werden in naher Zukunft 2 selektiv an peripheren Opioidrezeptoren angreifende Opioidantagonisten zur VerfuÈgung stehen, die imstande sind nachweislich die uÈber periphere Opioidrezeptoren ausgeloÈste Opioideffekte umzukehren. Einer dieser peripher wirkenden Antagonisten ist Methylnaltrexon (MNTX, Progenics Pharmaceuticals Wyeth), bei dem im Gegensatz zum Naltrexon am Stickstoffatom eine Methylgruppe substituiert wurde (. Abb. 28-1). UrspruÈnglich von Goldberg entwickelt, weist der quarternaÈre AbkoÈmmling am isolierten Meerschweinchendarm nur 1/3 der antagonistischen Wirkungspotenz der Muttersubstanz Naltrexon auf. Das Pharmakon ist aufgrund seiner quarternaÈren Ladung nicht in der Lage, die Blut-Hirn-Schanke zu durchdringen, sodass zentrale analgetische Effekte nicht antagonisiert werden. Und weil die obstipierende Wirkung der Opioide im Gegensatz zur opioidbedingten Sedierung und Atemdepression keine Toleranzentwicklung aufweist und hauptsaÈchlich uÈber die im Darm vorhandenen Opioidrezeptoren vermittelt wird, stellt diese Substanz eine ursaÈchliche Behandlung in der Therapie einer opioidbedingten Verstopfung dar. Deswegen geht der Einsatz eines peripher wirkenden Opioidantagonisten im Rahmen der Langzeittherapie chronischer Schmerzen, nach einer

28.3  Praktischer Einsatz peripher wirkender Opioidantagonisten

opioidgestuÈtzten Narkose respektive im Rahmen der postoperativen Schmerztherapie mit Opioiden, wo Obstipation, BlaÈhungen und eine verzoÈgerte Darmentleerung Hindernisse in der Erholung darstellen, mit eine Verbesserung der LebensqualitaÈt sowie einer schnelleren postoperativen Erholung einher. Es konnte mit Methylnaltrexon (MNTX; Wyeth) neben einer Verhinderung der Obstipation bei der Langzeittherapie methadonsubstituiertier Patienten auch die morphinduzierte VerlaÈngerung der gastrozaÈkalen Transitzeit bei Probanden nachgewiesen werden. Auch konnte bei Probanden mit Methylnaltrexon eine opioidinduzierte Harnretention aufgehoben und Nausea und Emesis erfolgreich verringert werden, ohne dass zentrale Effekte wie die Analgesie aufgehoben wurden. Erste In-vitro-Ergebnisse an Monozyten weisen darauf hin, dass die durch das Opioid Methadon induzierte Zunahme von CCR5-Bindungsstellen, der Eintrittspforte fuÈr das HIV-Virus in die Zelle, durch MNTX verhindert werden kann. Hieraus ist abzuleiten, dass die von einigen Opioiden ausgehende Hemmung des Immunsystems durch einen peripher wirkenden Opioidantagonisten aufgehoben werden kann, ein Effekt, aus dem sich in der Zukunft moÈglicherweise weitere Indikationsbereiche ableiten lassen. Mit einem weiteren peripher wirkenden Opioidanatagonisten, dem Alvimopan (Entrareg, GlaxoSmithKline), konnte in mehreren Studien ebenfalls die obstipierende Wirkung der Opioide bei Probanden antagonisiert werden. Insbesondere konnte der obstipierende Effekt bei solchen Patienten aufgehoben werden, die wegen chronischer Schmerzen bzw. unter einer Methadonsubstitution langfristig Opioide eingenommen hatten. Durch Alvimopan wurde weder eine Umkehr der Analgesie noch ein durch den Antagonisten induziertes Abstinenzsyndrom nachgewiesen. Bei einer Dosis von 2-mal 6 mg Alvimoran oral war der Antagoist in der Lage, nicht nur eine im Rahmen der postoperativen, patientenkontrollierten Schmerztherapie mit Morphin oder Pethidin ausgeloÈste intestinale Hemmung aufzuheben. Vielmehr waren auch weitere opioidtypische Nebenwirkungen wie Nausea und Emesis, im Vergleich zur Kontrollgruppe, signifikant geringer ausgepraÈgt, und die Patienten der Alvimopangruppe konnten im Mittel um 1,4 Tage fruÈher entlassen werden. UrsaÈchlich fuÈr die vorteilhafte Wirkung von Alvimopan auf eine opioidbedingte Ûbelkeit und Ernesis sind die Opioidrezeptoren in der Chemo-

317

28

rezeptortriggerzone (CTZ), die im Gegensatz zu den Opioidrezeptoren im zentralen Nervensystem durch gefensterte Kapillaren versorgt werden, sodass die ansonsten fuÈr den selektiv-peripheren Antagonisten undurchlaÈssige Blut-Hirn-Schranke teilweise uÈberwunden werden kann. Zwischen Methlynaltrexon (MNTX) und Alvimopan bestehen insofern Unterschiede, als das MNTX parenteral verabreicht werden kann, waÈhrend Alvimopan nur als orale Medikation zur VerfuÈgung steht. Hieraus ist abzuleiten, dass Alvimopan vorzugsweise bei ambulanten Patienten eingesetzt werden kann, waÈhrend mit MNTX sich auch zusaÈtzliche systemische Nebenwirkungen der Opioide wie Harnretention und Pruritus verhindern lassen. Denn es konnte demonstriert werden, dass sich mit MNTX Pruritus verhindert lieû, waÈhrend die Umkehr einer weiteren Nebenwirkung bei neuroaxialer Opioidgabe, die Harnretention, im klinischen Test noch nachgewiesen werden muss. Auch muss die potenziell vorteilhafte antagonistische Wirkung peripherer Antagonisten auf die nachweislich durch Opioide induzierte Zunahme der Apoptose von Lymphozyten mit erhoÈhter InfektanfaÈlligkeit, im Rahmen der Therapie postoperativer Schmerzen mit Opioiden, bei der Opioidtherapie von Tumorpatienten und bei der Schmerztherapie von Patienten mit AIDS noch weiter untermauert werden.

29 Toleranzentwicklung und Hyperalgesie unter chronischer Opioideinnahme 29.1

Molekulare Ursachen fuÈr die Entwicklung einer Toleranz ± 319

29.6

Praktisches Vorgehen bei einer Toleranzentwicklung auf Opipoide ± 329

29.1.1

Ligandenbedingte »Internalisierung« des Rezeptors ± 322 Toleranzentwicklung auf dem Boden einer Desensibilisierung des Rezeptors ± 323

29.6.1

Opioidtoleranz im Rahmen der Intensivmedizin ± 329 Strategien einer Toleranzentwicklung im Rahmen der Therapie chronischer Schmerzen ± 329 Toleranzentwicklung in der perioperativen AnaÈsthesie ± 330

29.1.2

29.2

Bedeutung verschiedener Opioidrezeptoren im Rahmen der Toleranzentwicklung ± 323

29.3

Funktioneller Antagonismus ± Ursache einer Toleranzentwicklung ± 324

29.4

Interaktion von Opioid-BenzodiazepinBindestellen ± Ursache einer Toleranzentwicklung ± 327

29.5

Toleranzentwicklung im Rahmen einer Opioidnarkose ± 328

WaÈhrend bei den verschiedenen Formen von Schmerzen erfolgreich die Opioide als wirkungsstarke Analgetika eingesetzt werden, gehen von ihnen jedoch auch Nebenwirkungen wie Atemdepression, Obstipation, Nausea und AbhaÈngigkeitsentwicklung aus. Unsicherheit besteht bei Beantwortung der Fragestellung, ob und in welchem Ausmaû unter langfristiger Gabe sich eine Toleranzentwicklung auf den analgetischen Effekt der

29.6.2

29.6.3

29.7

Analgetischer versus hyperalgetischer Effekt der Opioide ± 331

29.7.1 29.7.2 29.7.3

Nozizeption ± 331 Pronozizeptive Mechanismen ± 332 Bedeutung des G-Proteins bei der Induktion einer opioidbedingten Hyperalgesie ± 332

29.8

Oxytrex: Kombination aus Ultraniedrigdosen von Naltrexon mit Oxycodon (in der Entwicklung) ± 334

Opioide einstellt. Denn eine Toleranzentwicklung ist durch eine Abnahme in der Wirkdauer, durch eine verminderte WirkungsstaÈrke sowie durch eine Zunahme der letalen Dosis des Pharmakons charakterisiert. Auf eine solche Toleranzentwicklung verweisen sowohl experimentelle als auch klinische Daten, da unter wiederholter oder kontinuierlicher Opioidgabe eine WirkungsabschwaÈchung beobachtet werden konnte (. Abb. 29-1). ! Im Rahmen der Therapie chronischer Schmerzen

Toleranz

Wirkung

ist eine Toleranzentwicklung fuÈr die analgetische Wirkung kein limitierender Faktor, die Therapie einzustellen.

Therapeutischer Bereich Dosis . Abb. 29-1. Toleranzentwicklung mit Rechtsverschiebung

der Dosis-Wirkungs-Kurve, wodurch das Opioid seine WirkungsstaÈrke verliert

Denn in den meisten FaÈllen beruht eine Dosiseskalation bei Patienten mit chronischen Schmerzen auf einem zunehmenden Input nozizeptiver Afferenzen wie z. B. bei einer Tumorprogression [1±6]. Es sind deshalb immer mehrere Faktoren zu beruÈcksichtigen, wenn trotz Opioideinnahme eine Zunahme von Schmerzen auftritt. Dies trifft insbesondere fuÈr Patienten mit einer Karzinomerkrankung zu, bevor von einer echten Toleranzentwicklung gesprochen werden kann.

320

Kapitel 29  Toleranzentwicklung und Hyperalgesie unter chronischer Opioideinnahme

Verschiedene Ursachen fuÈr eine Dosiseskalation von Opioiden bei Patienten mit Schmerzen maligner Ursache 4 Zunahme des nozizeptiven Inputs aufgrund der Tumorprogression 4 EntzuÈndungsreaktionen peripherer oder zentraler Natur 4 Neuropathische Schmerzen durch Ummauerung von Nerven 4 Depression und Angst des Patienten 4 Reaktionen der Familie auf die Schmerzen des Patienten

29

Die Bedeutung einer Toleranzentwicklung hat jedoch in der Klinik zunehmend an Bedeutung gewonnen. Schon experimentell wies die mehrstuÈndige Alfentanilinfusion bei Ratten eine sich rasch entwickelnde Toleranzentwicklung mit einer DosiserhoÈhung von bis zu 50 % auf [7]. Und im klinischen Bereich benoÈtigten Patientinnen mit einer intraoperativen Fentanyldosierung von 100 mg/h im Gegensatz zu Patientinnen nach einer reinen InhalationsanaÈsthesie postoperativ signifikant hoÈhere Opioiddosen bis zu einer suffizienten Schmerzbeseitigung [8]. Selbst bei intrathekaler Gabe von 2 ml Bupivacain 0,5 % mit oder ohne 25 mg Fentanyl waren bis zu einer ausreichenden postoperativen Analgesie hoÈhere Morphindosen bei der Fentanylgruppe notwendig. Dieser Effekt lieû sich signifikant von der 6. bis zur 23. postoperativen Stunde nachweisen [9]. Solch eine Toleranzentwicklung war selbst bei neuroaxial verabreichten Opioiden experimentell sowohl fuÈr somatische als auch fuÈr viszerale Schmerzformen nachweisbar[10] und konnte nur durch die zusaÈtzliche Gabe eines LokalanaÈsthetikums verhindert werden [11]. Besonders im Rahmen der klinischen AnaÈsthesie wurde speziell mit dem ultrakurzwirkenden Opioid Remifentanil eine Toleranzentwicklung beobachtet. So benoÈtigten Patienten unter DesflurananaÈsthesie und hohen Remifentanildosen (0,3 mg/kg/min), im Gegensatz zu Patienten mit einer niedrigen Dosierung (0,1 mg/kg/min), signifikant mehr Morphin in der postoperativen Phase [12]. Hieraus wurde abgeleitet, dass eine Toleranzentwicklung insbesondere fuÈr das Opioid Remifentanil charakteristisch ist, die sich schnell bei kontinuierlicher Gabe entwickelt. Diese Annahme wurde durch Daten gestuÈtzt, die auf eine unter 0,1 mg/kg/min auftretende Toleranz auf sowohl thermische als auch mechanische nozizeptive

Reize schon 4 h nach Remifentanilgabe hinweisen [13]. Andererseits ist aber auch bekannt, dass Patienten, die regelmaÈûig vor der Operation ein Opioid eingenommen haben, hoÈhere Fentanyldosen waÈhrend der Narkose benoÈtigten, ein Effekt, der auf eine Kreuztoleranz hinweist [14]. Alle diese Daten weisen auf eine enge Beziehung zwischen den verschiedenen Schmerzformen, den zur Schmerzbefreiung verwendeten Opioiden und das Ausmaû einer Toleranzentwicklung hin. Obgleich bisher keine eindeutigen biochemischen ZusammenhaÈnge zwischen adaptiven zellulaÈren Prozessen und einer klinisch relevanten Opioidtoleranz nachgewiesen werden konnten, so koÈnnen doch aufgrund von Rezeptorbindungsstudien mehrere moÈgliche molekular-induzierte Mechanismen ursaÈchlich vermutet werden [15]. 29.1

Molekulare Ursachen fuÈr die Entwicklung einer Toleranz

Nach der Entdeckung der Opioidrezeptoren in den 1970er-Jahren [16, 17], wurde eine unter langfristiger Opioidexposition beobachtete Toleranzentwicklung mit der Abnahme von Rezeptoren in Verbindung gebracht. Diese Ûberlegung konnte jedoch experimentell nicht bestaÈtigt werden. Heutzutage werden deshalb nichtfunktionelle Opioidrezeptoren angenommen, d. h. Bindestellen, die trotz Bindung mit einem Liganden nicht mehr in der Lage sind, eine Wirkung zu vermitteln. Denn erst mit der Klonierung des Opioidrezeptors in den 1990er-Jahren [18, 19] konnte der molekulare Wirkungsmechanismus, der zur Ausbildung solcher nichtfunktionellen Bindestellen fuÈhrt, geklaÈrt werden. Zwar sind die verschiedenen molekularen Mechanismen, die zur Opioidtoleranz fuÈhren, sehr komplex. Auch widersprechen sich viele der vorliegenden Studien, sodass kein einheitliches Bild abzuleiten ist. Jedoch koÈnnen aus den Ergebnissen die Folgen verschiedener molekularer Prozesse einer Toleranzentwicklung verstaÈndlicher gemacht werden. So gehoÈren die Opioidrezeptoren zur Gruppe der Guaninnukleotid bindenden Proteine (G-Proteine). Indem der aus 7 Eiweiûketten bestehende transmembranoÈse Opioidrezeptor mit seiner intrazellulaÈren C-Endigung mit dem G-Protein interagiert [20], kommt es zur Wirkungsvermittlung. Solche nur uÈber das G-Protein vermittelten Wirkungen benoÈtigen keinen direkten Kontakt mit dem endguÈltigen EffektormolekuÈl, denn es erfolgt

29.1  Molekulare Ursachen fuÈr die Entwicklung einer Toleranz

der Prozess der SignaluÈbermittlung uÈber den Mediator G-Protein, das die Information an das Effektorprotein weiterleitet (. Abb. 29-2). Das G-Protein stellt ein heterotrimerisches, membrangebundenes Protein dar, das aus einer a-, einer b- und einer g-Untereinheit besteht. Nach Bindung des Liganden an den Rezeptor erfolgt die Abspaltung von Guanidindiphosphat (GDP) und die Bildung von Guanintriphosphat (GTP), wodurch eine Trennung der a- von der b,g -Untereinheit eingeleitet wird (. Abb. 29-3). Beide getrennte Untereinheiten bewirken dann intrazellulaÈr, sowohl direkt als auch indirekt und in AbhaÈngigkeit von der Region im ZNS und der verwendeten Dosierung, entweder eine Zu- [21], meistens jedoch eine Abnahme der AdenylylcyclaseaktivitaÈt. Aufgrund der Tatsache, dass 12 Isoformen fuÈr die a-, 7 fuÈr die b- und 5 fuÈr die g-Untereinheit vorliegen, werden uÈber das G-Protein auch unterschiedliche intrazellulaÈre Systeme (Adenylylcyclase, zyklisches Adenosinmonophosphat, Phospholipase, Inositol-1,4,5-triphosphat) aktiviert.

321

29

Ûber das zyklische Adenosinmonophosphat (c-AMP) wird schlieûlich auch die eigentliche analgetische Wirkung der Opioide vermittelt. Denn mit dem Abfall der cAMP-Produktion wird ein Verschluss spannungsabhaÈngiger Ca2‡-KanaÈle sowie ein verminderter Ionenstrom in den K‡-KanaÈlen ausgeloÈst. Es resultiert eine Hyperpolarisation der Zelle, die eine Weiterleitung nozizeptiver Afferenzen nicht ermoÈglicht und eine Analgesie zur Folge hat (. Abb. 29-3). WaÈhrend dieser Zeit intrazellulaÈrer VeraÈnderungen weist der Rezeptor eine verminderte Ansprechbarkeit auf weitere Gaben des Liganden auf. Dieser Effekt, der eine physiologische Reaktion darstellt, dauert jedoch nur einige Sekunden. Erst nachdem mit Hilfe einer GTPase das GTP wieder zu GDP hydrolisiert wurde, erfolgt eine Inaktivierung der a-Untereinheit des G-Proteins. Die a-Untereinheit dissoziiert vom Effektor und vereinigt sich anschlieûend wieder mit der b, g-Untereinheit. Die Wirkung des Opioids ist beendet und der Rezeptor erhaÈlt wieder seine alte Bindungseigenschaft. So konnten an klonierten Opioidrezeptoren die Langzeiteffekte der durch das Opioid induzierten Adenylylcyclasehemmung untersucht werden [24±26]. Hierbei wurde festgestellt, dass die AdenylylcyclaseaktivitaÈt mit ihren 8 Isoformen die entscheidenden intrazellulaÈren Schritte in Richtung Toleranzentwicklung einleitet. Durch eine Opioidgabe wird nicht nur aus Adenosintriphosphat (ATP) die Bildung des zykli-

. Abb. 29-2. Schematische Darstellung des Opioidrezeptors

mit seinem sekundaÈren Mittler, dem G-Protein, bestehend aus den 3 Untereinheiten, a, b und g. Nach Bindung am Rezeptor kommt es zur Koppelung mit dem G-Protein. Anschlieûend wird das G-Protein-abhaÈngige Guanidindiphosphat (GDP) durch Guanidintriphosphat (GTP) ausgetauscht, sodass sich die a-Untereinheit von der b, g-Untereinheit trennt

. Abb. 29-3. Nach der Opioidbindung erfolgt uÈber das

G-Protein eine Aktivierung der Proteinkinase A mit anschlieûender Phosphorilisierung und Úffnung der IonenkanaÈle. Es resultiert ein verstaÈrkter Kaliumausstrom bei gleichzeitiger Hemmung des Kalziumeinstroms. (Mod nach [22, 23])

322

Kapitel 29  Toleranzentwicklung und Hyperalgesie unter chronischer Opioideinnahme

schen Adenosinmonophosphats (cAMP) und die Bildung von Phospholipase 3C (PLC) eingeleitet. Vielmehr werden auch eine cAMP-abhaÈngige Proteinkinase A (PKA) [27] und eine Proteinkinase C (PKC) aktiviert [28]. Diese Enzyme, insbesondere die Proteinkinase C, fuÈhren zu einer Phosphorylierung spezifischer glutaminerger NMDA-Rezeptoren, die ein EinstroÈmen von Ca2‡-Ionen ermoÈglichen. Es sind dann die Ca2‡-Ionen, die anschlieûend sowohl eine Transkription von Eiweiûstoffen mit der Bildung neuer exzitatorischer Rezeptoren als auch die Synthese des funktionellen Opioidantagonisten Nitritoxid (NO) ankurbeln. Im Einzelnen lassen sich bei der Toleranzentwicklung deshalb mehrere Mechanismen nachweisen: 29.1.1 Ligandenbedingte »Internalisierung«

des Rezeptors

29

Unter langfristiger Opioidgabe weisen die hierfuÈr relevanten Rezeptoren Adaptationsmechanismen auf, die sowohl in eine Desensibilisierung als auch in eine Internalisierung muÈnden. Diese Prozesse koÈnnen als eine physiologisch relevante zellulaÈre Reaktion auf eine Akut- bzw. Langzeittherapie mit Agonisten angesehen werden. Denn aÈhnlich wie andere an das G-Protein gekoppelte Rezeptoren koÈnnen Opioidbindestellen auch in das Innere der Zelle »abtauchen« (internalisieren), wenn sie von Liganden besetzt werden. So demonstrieren mehrere Autoren mit Hilfe zytometrischer Methoden an heterologen, artfremden Zellen, wie Opioidrezeptoren schon 6 min nach Bindung mit wirkungsstarken Liganden zu ca. 50 % in das Innere der Zelle wandern [29±31]. Diese agonisteninduzierte Internalisierung ist homolog, d. h. d-Opioidrezeptoren tauchen nur dann in die Zelle ab, wenn d-selektive Liganden und nicht m- oder k-Liganden verabreicht werden und vice versa [30, 32]. Auch sollte in diesem Zusammenhang festgehalten werden, dass im Gegensatz zu den mund d-Bindestellen die k-Rezeptoren keine schnelle Internalisierung aufweisen, wenn ein hochaffiner k-Ligand wie Etorphin verabreicht wird [33], sodass fuÈr den praktischen Einsatz von den k-Liganden eine geringere Rate einer Toleranzenetwicklung zu erwarten ist. Somit kommt als eine der Ursachen fuÈr die experimentell nach Opioidagonisten zu beobachtende Toleranzentwicklung ein intrazellulaÈres »Abtauchen« oder eine Internalisierung (sive Rezeptorendozytose) in Frage. In der Folge steht

der Rezeptor fuÈr eine Bindung nicht mehr zur VerfuÈgung. Diese Eigenschaft kann insbesondere unter hochaffinen Opioidliganden beobachtet werden [34], wobei der Rezeptor nach der Internalisierung anschlieûend wieder an die ZelloberflaÈche zuruÈckwandert. Diese RuÈckwanderung manifestiert sich dann auch in einer alten Empfindlichkeit(Resensitivierung). Immerhin scheint dieser Prozess der Internalisierung direkt an die intrinsische AktivitaÈt des Liganden gekoppelt zu sein, d. h. mit zunehmender WirkungsstaÈrke des Opioids erfolgt auch eine nach Bindung sich anschlieûende Zunahme der Internalisierung. Gleichzeitig wird auch eine Steigerung der G-Protein-abhaÈngigen Rezeptorkinase (GIRK-Aktivierung) eingeleitet [35], die maûgeblich an der Desensibilisierung des Opioidrezeptors beteiligt ist [36]. Die Bedeutung dieser fuÈr die Entwicklung einer Opioidtoleranz nachgewiesenen Internalisierung scheint besonders bei einer neuroaxialen Opioidgabe relevant zu sein. So induzierten aÈquieffektive Dosen intrathekal verabreichter niedrigaffiner Liganden (z. B. Morphin, Pethidin) im Gegensatz zu hochaffinen Opioiden (z. B. Fentanyl, Etorphin) weniger rasch eine Toleranz [37±40]. Andererseits ist die Geschwindigkeit der Internalisierung bei den verschiedenen Rezeptortypen recht unterschiedlich. Denn ein gleichzeitig am m- und k-Rezeptor bindender Ligand wie z. B. Etorphin bewirkt eine nicht gleich schnelle Internalisierung des m-Rezeptors wie z. B. Morphin, das vornehmlich mit dieser Rezeptorgruppe interagiert. Aus diesen Daten ist abzuleiten, dass das Ausmaû der Internalisierung des m-Rezeptors eng an die intrinsische AktivitaÈt eines Agonisten gekoppelt ist, ein Effekt, der klinisch bei der neuroaxialen Opioidgabe Bedeutung erlangen kann. FuÈr eine klinisch relevante Toleranzentstehung hat der Prozess der Internalisierung bei systemischer Opioidgabe jedoch eine eher untergeordnete Bedeutung, zumal eine gesteigerte Internalisierung auch mit einem schnelleren Recycling von Rezeptoren an die ZelloberflaÈche einhergeht.

323

29.2  Bedeutung verschiedener Opioidrezeptoren

29

29.1.2 Toleranzentwicklung auf dem Boden

29.2

Des Weiteren wird eine Toleranzentwicklung auf Opioide einer verminderte Syntheserate der messenger-RibonucleinsaÈure (mRNA) zugeschrieben, das System, welches maûgeblich an der Bildung von Rezeptoren beteiligt ist [41]. So konnte eine Abnahme in der AktivitaÈt der mRNA waÈhrend langfristiger Opioidgabe sowohl im Ganztier, in neuronalen Zellkulturen als auch in genetisch klonierten Zellen beobachtet werden [32, 34, 42, 43]. Ob jedoch die mRNA allein den Hauptanteil einer verminderten Syntheserate ausmacht, ist aufgrund der widerspruÈchlichen Datenlage nicht eindeutig bewiesen [44, 45]. Bewiesen ist dagegen eine Desensibilisierung, d. h. eine Abnahme der Empfindlichkeit des Rezeptors, die bei wiederholter Bindung mit einem Agonisten auftritt. Als Folge dieser Desensibilisierung tritt eine klinisch geringere Reaktion auf das Opioid auf. Dieser Vorgang der Desensibilisierung ist als ein weiterer adaptiver Mechanismus der Nervenzelle zu verstehen, der in eine klinisch relevante Toleranzentwicklung muÈnden kann. Trotz Dosiszunahme kann die unzureichende Wirkung dann nicht mehr kompensiert werden, und trotz intensiver Bindung des Liganden mit dem Rezeptor resultiert eine geringere pharmakodynamische Wirkung. So ist der Prozess der Desensibilisierung weder durch einen Verlust von sowohl an der ZelloberflaÈche befindlichen als auch im Inneren der Zelle gewanderten Rezeptoren noch durch eine verminderte Syntheserate von Bindestellen charakterisiert. Vielmehr liegt dem Prozess der Desensibilisierung eine Entkoppelung des Rezeptors von seinem Mittler, dem G-Protein, zugrunde. Es ist deshalb der Prozess der Entkopplung, der fuÈr die Desensibilisierung maûgeblich verantwortlich zu machen ist [46, 47]. Als Ursache fuÈr diese Entkoppelung kommen eine gesteigerte Phosphorylierung der G-ProteinabhaÈngigen Rezeptorkinasen (GIRK) und der cAMP-abhaÈngigen Kinasen in Frage. Denn sie leiten maûgeblich die Desensibilisierung des Opioidrezeptors ein [36], die im Rahmen einer Langzeitapplikation von Opioiden schlieûlich eine klinische Bedeutung erlangt.

Neben dem m-Rezeptor liegen im Zentralnervensystem zusaÈtzliche Bindestellen fuÈr Opioide vor, die mit den zentralen Analgetika in unterschiedlicher Weise interagieren[48]. In juÈngerer Zeit wurden die als m, k, d klassifizierten Opioidrezeptoren durch die International Union of Pharmacology auf die Terminologie OP1 (d), OP2 (k) und OP3 (m) umgestellt [49]. Es konnten zwischenzeitig auch alle 3 Rezeptortypen geklont werden, die alle pharmakologischen Charakteristika mit endogenen Bindestellen aufweisen [19, 50±52]. So weisen pharmakologische Ergebnisse auf multiple Isoformen fuÈr jede der 3 Haupttypen hin (z. B. m1, m2, k1, k2 sowie d1 und d2) hin [53, 54]. Dieses Konzept konnte insofern bestaÈtigt werden, als genetisch modifizierte Opioidrezeptoren auch unterschiedliche AffinitaÈten mit Opioidliganden aufwiesen. So z. B. sind fuÈr den m-Rezeptor bis zu 7 Subtypen nachgewiesen worden [54, 55], die sich theoretisch in unterschiedlicher Verteilung bei Patienten finden lassen und ursaÈchlich fuÈr die groûe interindividuell unterschiedliche Wirkung der Opioide verantwortlich zu machen sind. Zwar werden solche Ergebnisse noch kontrovers diskutiert, da keiner der Subtypen bisher mit Hilfe molekularbiologischer Methoden nachgewiesen werden konnte. Die Bildung solcher Subtypen erscheint insofern jedoch naheliegend, als eine Modifikation des gemeinsamen Genprodukts erst nach der Ûbersetzung stattfindet [45]. Immerhin ist die Bedeutung multipler Opioidrezeptoren im Rahmen der Toleranzentwicklung schon vor mehreren Jahren in den klassischen Experimenten von Martin et al. postuliert worden, indem die vermittelten Effekte wie Analgesie, Atemdepression und gastrointestinale Hemmung auf eine unterschiedliche Interaktion mit verschiedenen Rezeptoren bei gleichzeitig unterschiedlichen Raten einer Toleranzentwicklung hinwiesen [56]. Diese sowohl in klinischen als auch in experimentellen Daten nachgewiesene unterschiedlich schnelle Manifestation einer Toleranzentwicklung verschiedener Opioideffekte hat zu dem Begriff der selektiven Toleranzentwicklung gefuÈhrt [57]. So erfolgt eine Toleranzentwicklung auf die von einem Opioid ausgehende Ûbelkeit, Sedierung, Atemdepression und Euphorie sehr rasch, waÈhrend eine Toleranzentwicklung auf Obstipation und Miosis fast nie auftritt [58±60].

einer Desensibilisierung des Rezeptors

Bedeutung verschiedener Opioidrezeptoren im Rahmen der Toleranzentwicklung

324

29

Kapitel 29  Toleranzentwicklung und Hyperalgesie unter chronischer Opioideinnahme

Im Rahmen der Rezeptorpharmakologie von Opioiden wird speziell die k-Bindestelle dafuÈr verantwortlich gemacht, eine sedative Komponente zu vermitteln[61]. Und weil Morphin eine groÈûere AffinitaÈt zum k-Rezeptor als Methadon aufweist [62], findet diese Eigenschaft in einer nach Methadon zu beobachtenden geringeren Sedierung ihre klinische BestaÈtigung. Diese Beobachtung hat jedoch auch eine Bedeutung fuÈr die unter Morphin sich entwickelnde analgetische Toleranz. Denn nach Morphin konnte gleichzeitig auch eine Toleranzentwicklung fuÈr den reinen k-Liganden U-50,488H nachgewiesen werden. Hieraus kann unter Morphin auf eine Interaktion mit der m- als auch mit der k-Bindestelle geschlossen werden [63]. Solche Daten geben nicht nur Hinweise auf eine Wechselwirkung der verschiedenen Rezeptorpopulationen untereinander. Vielmehr kommt im Rahmen einer Toleranzentwicklung der Interaktion von m- und k-Rezeptoren eine besondere Bedeutung zu [64]. Diese Annahme wurde noch dadurch unterstrichen, dass der synthetische k-Ligand U-50488H und der spezifische endogene k-Ligand Dynorphin A-(1-13) in der Lage waren, nicht nur eine Toleranzentwicklung unter Morphin, sondern auch eine Abstinenzsymptomatik nach Morphin zu verhindern [65±68]. Auch konnten die Verabreichung des gemischten k-Agonisten/m-Antagonisten Nalbuphin bzw. die Gabe niedriger Dosen des »reinen« m-Antagonisten Naloxon zu Morphin eine Toleranzentwicklung am Tier verhindern [69]. Aufgrund solch einer Datenlage ist davon auszugehen, dass sich die Toleranzentwicklung letztendlich in der Reaktion des m-Rezeptors auf einen m-Agonisten niederschlaÈgt. Denn nicht nur Naloxon, sondern auch der irreversible spezifische m-Antagonist b-FNA (b-Funaltrexamin) waren in der Lage, eine Toleranzentwicklung auf intrathekales Morphin zu verhindern [70±72]. Auch ist in molekulargenetischen Spliced-Experimenten ein halbes Dutzend unterschiedlicher Isoformen des m-Rezeptors mit unterschiedlichen BindungsaffinitaÈten nachgewiesen worden [55], woraus sich eine unterschiedlich schnelle Toleranzentwicklung ableiten laÈsst. Denn solche Daten geben nicht nur eine ErklaÈrung fuÈr die individuell stark variierenden Opioiddosen fuÈr eine ausreichende Schmerztherapie. Es laÈsst sich hiermit auch die sich unter verschiedenen m-Liganden unterschiedlich schnell entwickelnde Toleranz erklaÈren. Aufgrund experimenteller Befunde ist ein weiterer Opioidrezeptor, der Orphanrezeptor (ORL1),

kloniert worden. Im Gegensatz zu den anderen bekannten Bindestellen (m, k, d) offenbart er in supraspinalen Strukturen eine antiopioidartige Wirkung [73], im spinalen Bereich jedoch einen analgetischen Effekt. Da diese Analgesie durch keinen Opioidantagonisten antagonisierbar ist [74] und mit dem Orphanrezeptor auch keiner der bekannten exogenen oder endogenen Liganden bindet [73], ist seine eigentliche Bedeutung noch recht unklar. Immerhin erscheint es im Rahmen einer Toleranzentwicklung doch erwaÈhnenswert, dass der endogene Ligand des Orphanrezeptors, das Orphanin FQ/Nociceptin, in der Lage ist, eine morphinbedingte Toleranzentwicklung beim Tier wenn nicht zu verhindern, so doch deutlich zu vermindern [75]. 29.3

Funktioneller Antagonismus ± Ursache einer Toleranzentwicklung

Eine weitere Besonderheit langfristiger Opioidgabe, verbunden mit einer Toleranzentwicklung, ist ein durch das Opioid ausgeloÈster funktioneller Antagonismus. Dieser Antagonismus ist unabhaÈngig von intrazellulaÈren AdaptationsvorgaÈngen und beruht sowohl auf der Bildung von Cholecystokinin (CCK) [76], der Synthese des endogenen Antagonisten und k-Liganden Dynorphin 1-13 als auch der Bildung des kurzlebigen Neurotransmitters Nitritoxid (NO) [77, 78]. NO uÈbernimmt hierbei die Rolle eines dem Opioid entgegengesetzt agierenden funktionellen Antagonisten. Denn eine Hemmung der Synthese von NO durch L-NitroL-Arginin-Methylester (L-NAME) konnte sowohl eine Toleranzentwicklung verhindern als auch eine morphinbedingte Analgesie beim Tier verstaÈrken und verlaÈngern [79±82]. Hinweise fuÈr einen funktionellen Antagonismus von Cholecystokinin liefert der spezifische Cholecystokininantagonist Proglumid, der in der Lage ist, die Wirkung von Morphin bei nicht tumorbedingten Schmerzen zu verstaÈrken [83]. Die groÈûte Bedeutung von allen opioidinduzierten funktionellen Antagonismen hat jedoch der N-Methyl-D-Aspartat-(NMDA-) Rezeptor erlangt. So ist diese Bindestelle nicht nur bei der zentralen Sensitivierung und Chronifizierung von Schmerzafferenzen maûgeblich beteiligt [84, 85]. Vielmehr konnte seine Bedeutung auch im Rahmen einer sich entwickelnden Toleranzentwicklung dokumentiert werden [86]. In diesem Fall sollen uÈber eine Stimulierung der intrazellulaÈren Proteinkinase C (PKC) Opioide eine Phosphorylierung des NMDA-Rezeptors induzieren (. Abb. 29-4).

29.3  Funktioneller Antagonismus ± Ursache einer Toleranzentwicklung

325

29

. Abb. 29-4. Interaktion des

Opioid- mit dem NMDA-Rezeptor. Ûber die Zwischenstufen G-Protein und Proteinkinase C (PKC) erfolgt die Phosphorylierung des N-Methyl-D-Aspartat(NMDA-) Rezeptors mit anschlieûendem intrazellulaÈrem Ca2‡Ioneneinstrom. (Mod. nach [78])

Durch diese Aktivierung resultiert eine funktionell antagonistische Wirkung [48], wobei unter langfristiger Opioidgabe diese Aktivierung eng an eine funktionelle Toleranzentwicklung sowie an eine nach Absetzen des Opioids ausgeloÈste Entzugssymptomatik gekoppelt ist. Es resultieren eine gesteigerte Neurotransmission mit Hyperalgesie und/oder eine Allodynie [86] mit Aktivierung des NMDA-Rezeptors. Eine damit einhergehende Toleranzentwicklung wird dadurch unterstrichen, dass unter intrathekaler Morphingabe eine sich entwickelnde Toleranz am Tier durch den spezifischen NMDA-Antagonisten MK-801 verhindert werden konnte [87, 88]. Andererseits lieû sich mit dem unspezifischen NMDAAntagonisten Ketamin eine Toleranzentwicklung nicht nur verhindern, sondern sogar umkehren [89]. Ein weiterer Hinweis fuÈr die Bedeutung des NMDA-Rezeptors im Rahmen einer Toleranzentwicklung konnte durch die simultane intrathekale Verabreichung von Magnesiumsulfat und Morphin am Tier beobachtet werden. Da das Magnesiumion eine Blockade des NMDA-Rezeptors bewirkt (. Abb. 29-5), kann erst nach Entfernung des Mg2‡-Blocks eine Bindung mit Glutamat erfolgen und wird eine EmpfindlichkeitsverstaÈrkung des NMDA-Rezeptors eingeleitet [90]. Eine Verhinderung der Toleranzentwicklung lieû sich klinisch dokumentieren, indem durch die epidurale Zugabe des NMDA-Antagonisten Ketamin eine fuÈr die postoperative Schmerzbefei-

ung notwendige Opioiddosis reduziert werden konnte [91]. Auch konnte die Bedeutung der Mg2‡-Ionen auf den Opioidbedarf sowohl im Rahmen einer intra- und postoperativen Schmerzblockade [92] als auch bei der Schmerztherapie von Tumorpatienten unterstrichen werden. ! Denn erst durch die Zugabe von Magnesium oder

Ketamin konnte eine signifikante Dosisreduktion von intrathekal verabreichtem Morphin bei Tumorschmerzen erreicht werden [93]. Und im Rahmen einer postoperativen Schmerztherapie konnten Niedrigdosen von Ketamin die Opioidwirkung potenzieren, eine Toleranzentwicklung verhindern und eine zentrale Sensitivierung hemmen [94, 95].

Der Nachweis fuÈr eine direkte Interaktion zwischen dem Opioid- und dem NMDA-Rezeptor wird nicht nur durch die Vorgabe eines NMDAAntagonisten und eine sich daran anschlieûende Dosisreduktion von Morphin unterstrichen [96]. Auch konnte eine VerstaÈrkung der Opioidwirkung durch den spezifischen NMDA-Antagonisten MK-801 [96] und durch einen weiteren kompetitiven Antagonisten, naÈmlich LY-274614, dokumentiert werden [97, 98]. Opioide scheinen somit nach Bindung an den ihnen eigenen Rezeptor sekundaÈr uÈber die Proteinkinase C (PKC) das glutaminerge NMDARezeptorsystem zu aktivieren [28]. Hierdurch kommt es zum vermehrten Einschleusen von

326

Kapitel 29  Toleranzentwicklung und Hyperalgesie unter chronischer Opioideinnahme

Ca++

Na+

Mg++ Zn++

Glycin Polyamin NMDA pH OffenerKanal-Blocker (MK-801/PCP)

Redox Mg++ etc.

Phosphorylierung

P

K+

29

Abb. 29-5. Schematische Darstellung des NMDA-Rezeptorkomplexes. Erst nach vorausgegangener kurzfristigen Depolarisierung der neuronalen Membran uÈber die Substanz P (SP) wird das den Rezeptor blockierende Mg2‡-Ion entfernt, und es koÈnnen die exzitatorischen Neurotransmitter Glyzin (Gly) und N-Methyl-D-aspartat (NMDA) am Rezeptor binden. Letzteres loÈst einen Kationenfluss aus, der in eine VerstaÈrkung nozizeptiver Afferenzen bzw. in eine pronozizeptive, antiopioidartige Wirkung muÈndet. Durch Ca2‡-Ionen kommt es zur Aktivierung intrazellulaÈrer Mechanismen mit einer uÈber Nitritmonoxidsynthetase (NOS) Zunahme des gasfoÈrmigen Transmitters Stickstoffmonoxid (NO) und anschlieûender Aktivierung der Zielgene cFOS, VeraÈnderungen, die alle in eine Schmerzaktivierung muÈnden. Die experimentelle Substanz MK-801und das PCP (Phencyclidin) sowie sein AbkoÈmmling Ketamin verhindern uÈber eigene Bindestellen eine Aktivierung des Rezeptors, wodurch ein funktioneller Antagonismus der Opioidwirkung verhindert wird. (Mod. nach [22, 85])

Ca2‡-Ionen, wodurch sowohl die Transkription von Eiweiûstoffen mit der Bildung neuer exzitatorischer Rezeptoren als auch die Synthese des funktionellen Antagonisten Nitritoxid (NO) angekurbelt werden (. Abb. 29-4) Interessanterweise sind solche bei der Opioidtoleranz ausgeloÈsten Mechanismen auch bei neuropathisch-nozizeptiven Schmerzen nachzuweisen, zumal in beiden FaÈllen sowohl ein vermehrter Ca2‡-Ioneneinstrom und eine Aktivierung der Proteinkinase C an der Zellmembran als auch eine daraus resultierende Empfindlichkeitszunahme der dort lokalisierten NMDA-Rezeptoren nachgewiesen werden konnte [99]. Dieser gemeinsame Entwicklungsweg bei neuropatischen Schmerzen und bei der Opioidtoleranz weist auch auf einen gemeinsamen Ansatz bei der The-

rapie hin. So konnte mit Hilfe einer Blockade des NMDA-Rezeptors nicht nur experimentell, sondern auch klinisch eine bei neuropathischen Schmerzen vorherrschende Opioidresistenz durchbrochen werden [100, 101]. Auch lieû sich eine mit der Opioidexposition einhergehende Toleranzentwicklung durch die simultane Verabreichung eines NMDA-Antagonisten verhindern, und die Analgesie konnte optimiert werden. Sowohl experimentelle [86] als auch klinische Ergebnisse [102, 103] einer solchen Simultantherapie weisen auf die richtige Annahme einer NMDA-Aktivierung bei chronischen und postoperativen Schmerzen hin. In diesem Kontext hat auch ein weiterer NMDA-Antagonist, der sich im Gegensatz zu Ketamin durch keine nennenswerten psychomimeti-

29.4  Interaktion von Opioid-Benzodiazepin-Bindestellen

327

29

schen Nebenwirkungen auszeichnet und als Antitussivum bekannt wurde, eine gewisse Bedeutung erlangt. Mit Hilfe des NMDA-Antagonisten Dextromethorphan konnte bei simultaner Gabe mit Morphin (VerhaÈltnis 1:1) neben einer Verringerung der Nebenwirkungsrate auch eine Optimierung postoperativer SchmerzzustaÈnde erreicht werden [104]. Diese zahlreichen Ergebnisse am Tier und aus der Klinik weisen darauf hin, dass es im Rahmen einer chronischen Opioidexposition zu einer verminderten Wirkung des Opioids kommen kann. Dieser Effekt wird maûgeblich durch die gleichzeitige Aktivierung des glutaminergen NMDA-Rezeptors ausgeloÈst, indem nicht nur eine Zunhame der Empfindlichkeit des NMDA-Rezeptors induziert wird. Es werden durch Morphin auch exzitatorische, am NMDA-Rezeptor bindende Liganden freigesetzt, die letztlich einen hyperalgetischen Effekt zur Folge haben [105]. 29.4

Interaktion von Opioid-Benzodiazepin-Bindestellen ± Ursache einer Toleranzentwicklung

Die langfristige Gabe von Opioiden auf der Intensivstation ist regelmaÈûig mit einer Toleranzentwicklung vergesellschaftet. Dieser sich entwickelnde Effekt muss jedoch streng von einem bei Intensivpatienten gesteigerten Metabolismus der Leber und einer Umverteilung der aktiven Substanzmengen unterschieden werden. Denn speziell bei Intensivpatienten koÈnnen Volumenverschiebungen bis zu mehreren Litern vorliegen, bei denen sich innerhalb von Stunden eine scheinbare Toleranzentwicklung aufgrund einer veraÈnderten Pharmakokinetik offenbart. Diese scheinbare Toleranzentwicklung beruht jedoch auf einem Abflieûen von FluÈssigkeiten und Pharmaka in den extrazellulaÈren Raum, wo sie dann fuÈr die Wirkungsvermittlung nicht mehr zur VerfuÈgung stehen [106]. Eine pharmakodynamisch bedingte Toleranzentwicklung wird dagegen nicht sofort mit Beginn einer Analgosedierung offenkundig (. Abb. 29-6). Denn bei beatmungspflichtigen Patienten auf einer medizinischen Intensivstation konnte eine signifikante Dosissteigerung fuÈr das Opioid Sufentanil erst ab der 48. Stunde nachgewiesen werden [107]. Als eine weitere Ursache fuÈr die im Rahmen der Analgosedierung zu beobachtende Toleranzentwicklung wird eine uÈber den Benzodiazepinrezeptor vermittelte Reaktionsabnahme der Opio-

. Abb. 29-6. Zunehmende Dosissteigerung von Sufentanil

bei beatmungspflichtigen Patienten auf einer internistischen Intensivstation (Mittelwerte e SD). Die Analgosedierung erfolgte unter einer fixen Midazolamdosierung, wobei die Sufentanildosis, entsprechend der Ramsey-Skalierung, angepasst wurde. (Nach [107])

idbindestelle diskutiert [108]. Deshalb kommt dem zusaÈtzlich verabreichten Sedativum/Anxiolytikum eine gewisse Bedeutung bei der Toleranzentwicklung zu. So weisen, was die hypnotische und analgetische Wirkung betrifft, bei gemeinsamer Applikation Benzodiazepine und Opioide einen synergistischen Effekt auf [109, 110]. Bei einer langfristigen systemischen Verabreichung wird diese Wirkung dagegen nicht immer offenbar. Denn Midazolam kann, insbesondere dann, wenn es im Rahmen der Intensivtherapie verabreicht wird, eine antiopioidartige Wirkung offenbaren [111, 112]. Eine ErklaÈrung fuÈr diese scheinbar kontraÈre Wirkung des Benzodiazepinliganden findet sich in experimentellen Untersuchungen am Tier. Denn bei spinal verabreichtem Midazolam wurde eine Potenzierung, bei supraspinaler Verabreichung jedoch ein inhibitorischer Effekt von Morphin nachgewiesen [108]. Unterstrichen wird diese gegensaÈtzliche Wirkungsmechanimus durch intrathekal verabreichtes Midazolam am Tier, wodurch eine alfentanilinduzierte Toleranzent-

328

Kapitel 29  Toleranzentwicklung und Hyperalgesie unter chronischer Opioideinnahme

ranzentwicklung nicht nachweisbar [117]. Ursache fuÈr diese ausbleibende Toleranzentwicklung sind zusaÈtzliche freie Rezeptoren, die als Rezeptorreserve fuÈr eine weitere Wirkungsvermittlung zur VerfuÈgung stehen; eine Toleranzentwicklung auf dem Boden einer Desensibilisierung tritt am Ganztier nicht so schnell zutage. Eine zusaÈtzliche Rezeptorreserve trifft besonders fuÈr Opioide mit hoher AffinitaÈt zum Rezeptor zu. Denn es wird eine geringere Anzahl an Bindungen benoÈtigt, um eine ausreichende Wirkung (Analgesie) zu induzieren. So sind z. B. fuÈr das wirkungsstarke Opioid Sufentanil, das auf mgBasis eine ca. 1000-fach hoÈhere analgetische WirkungsstaÈrke als Morphin aufweist [118], nur ca. 2 % der Opioidrezeptoren fuÈr eine analgetische ED50 notwendig [119]. Weil eine hohe AffinitaÈt zum m-Rezeptor auch mit einer guten Passform zum Rezeptor einhergeht (. Tabelle 29-1), weist ein anderer Ligand mit aÈhnlicher intrinsischer AktivitaÈt, jedoch geringerer AffinitaÈt, auch eine geringere Wirkung auf [118]. Deshalb benoÈtigen Opioide mit geringerer AffinitaÈt zum Rezeptor ein Vielfaches mehr an Bindungsstellen, um die gleiche Wirkung zu offenbaren [117]. Im Vergleich zu Sufentanil muÈssen fuÈr Morphin bis zu 15 % mehr an Opioidrezeptoren besetzt werden, um eine aÈhnliche analgetische ED50 zu erreichen [120]. Klinisch laÈsst sich hieraus ableiten, dass ein Opioid mit hoher AffinitaÈt zum Rezeptor (z. B. Fentanyl, Sufentanil, Etorphine) zur Vermittlung einer ausreichenden analgetischen Wirkung, weniger Bindestellen benoÈtigt. Aufgrund der zusaÈtzlich freien Bindestellen wird sich eine klinisch relevante Toleranzentwicklung auch weniger schnell manifestieren. Solche Schlussfolgerungen aus experimentellen Studien konnten durch klinische Daten unterstrichen werden. So wiesen Patienten unter einer »target-controlled« Infusion (TCI) von Remifentanil eine Toleranzentwicklung auf [13]. Wurde

wicklung verhindert werden konnnte [113, 114]. Hieraus ist abzuleiten, dass intrathekale Benzodiazepine einer opioidinduzierten AktivitaÈtssteigerung des NMDA-Rezeptors entgegenwirken [115]. Dieser Effekt trifft jedoch nur fuÈr die intrathekale Benzodiazepingabe zu und wird einer gegenseitigen Beeinflussung beider Rezeptorpopulationen zugeschrieben [110, 116]. Aus diesen experimentellen Daten und den klinischen Beobachtungen ist abzuleiten, dass spinale und supraspinale Benzodiazepinrezeptoren ein unterschiedliches Wirkungsprofil aufweisen, indem die Toleranzentwicklung unter Opioidgabe einmal gefoÈrdert, ein anderes Mal jedoch verhindert wird. 29.5

29

Toleranzentwicklung im Rahmen einer Opioidnarkose

WaÈhrend einer opioidgestuÈtzten Narkose ist die Zeitspanne von Bedeutung, in der sich eine Toleranz offenbart. So betraÈgt z. B. beim Tier die Zeitspanne, in der sich unter einer langfristigen intravenoÈsen Alfentanilgabe eine Toleranz ausbildet, 200 min. Nach dieser Zeit werden sowohl thermisch als auch mechanisch ausgeloÈste nozizeptive Reize wieder verstaÈrkt empfunden [115]. Andererseits koÈnnen die nach einer Opioidbindung ablaufenden intrazellulaÈren Prozesse, die in vitro nachweislich zu einer Empfindlichkeitsabnahme (Desensibilisierung) des Rezeptors und zu einer Verringerung funktioneller Rezeptoren fuÈhren, nicht ohne Weiteres auf die VerhaÈltnisse in vivo uÈbertragen werden. Denn die langfristige Gabe von Opioiden mit hoher AffinitaÈt zum Opioidrezeptor, wie z. B. Fentanyl oder Etorphin, induziert am Ganztier weniger schnell eine Rezeptordesensibilisierung als z. B. Morphin. Auch ist nach intermittierender Gabe wirkungsstarker Opioide, im Vergleich zu einer einmaligen hohen Dosisapplikation, eine signifikante Tole-

. Tabelle 29-1. Unterschiedliche AffinitaÈten verschiedener Opioide zu den 3 hauptsaÈchlichen Rezeptorbindestellen m, d und k. Dargestellt ist die VerdraÈngungskonstante Ki, die darauf hinweist, welche Konzentration [nmol/l] eines unbekannten Opioids notwendig ist, um 50 % des radioaktiv markierten und selektiv bindenden Liganden (3H-D-Ala2Me-Phe4-Gly-ol5-Enkephalin fuÈr den m-Rezeptor, 3H-D Ala2-Leu5-Enkephalin fuÈr den d-Rezeptor und 3H-EthylketoCyclazocin fuÈr den k-Rezeptor) von der Bindestelle zu verdraÈngen. Hohe Ki-Werte [nmol/l] weisen auf eine niedrige BindungsaffinitaÈt, niedrige Ki-Werte auf eine hohe BindungsaffinitaÈt hin. (Nach [122])

Opioid

3

H-D-Ala2-Me-Phe4-Gly-ol5-Enkephalin (m)

3

H-D-Ala2-Leu5-Enkephalin (d)

3

Normorphin Fentanyl Sufentanil

3,98e0,03 7,0e0,83 1,58e0,38

310e35 151e21 23,4e7,2

149e13 470e68 124e11

H-Ethylketo-Cyclazocin (k)

29.6  Praktisches Vorgehen bei einer Toleranzentwicklung auf Opipoide

Remifentanil dagegen bedarfsadaptiert nur bis zu dem Punkt einer ausreichenden postoperativen Analgesie infundiert, war eine Toleranzentwicklung nicht nachzuweisen [121]. ! Hieraus ist abzuleiten, dass jegliche Ûberdosie-

rung uÈber den eigentlichen wuÈnschenswerten analgetischen Effekt hinaus einer Toleranzentwicklung Vorschub leistet.

29.6

Praktisches Vorgehen bei einer Toleranzentwicklung auf Opipoide

29.6.1 Opioidtoleranz im Rahmen der

Intensivmedizin

Øhnlich wie Benzodiazepine werden auch a2-Agonisten gern zur Potenzierung einer Opioidwirkung eingesetzt, da sie die atemdepressorische Wirkung nicht verstaÈrken, jedoch den Opioidbedarf um bis zu 40 % vermindern koÈnnen [123, 124]. Diese Pharmaka koÈnnen auch eine Toleranzentwicklung hinauszoÈgern, indem die fuÈr eine Wirkung notwendige Opioiddosis verringert werden kann. Ein a2-Agonist wie z. B. Clonidin oder Dexmedetomidin kann deshalb, aufgrund seiner synergistischen Wirkung, nicht nur die QualitaÈt von Sedierung und Analgesie beim Intensivpatienten verbessern. Vielmehr wird auch eine Toleranzentwicklung gegenuÈber Opioiden und Benzodiazepinen wenn nicht immer verhindert, so doch hinausgezoÈgert. Gleichzeitig kann hierdurch eine in der Weaning-Phase sich entwickelnde Abstinenzsymptomatik unterdruÈckt werden. Als Wirkort wird der Locus caeruleus diskutiert, vom dem aus die Funktionen vieler nachgeordneter Hirnareale wie Groûhirnrinde, Hypothalamus und limbisches System gedaÈmpft werden. Gleichzeitig mit der Verringerung des Opioidbedarfs stellt sich jedoch eine Toleranzentwicklung auf die sedative Wirkung des Opioids ein. In viel geringerem Maûe gilt dies fuÈr die Entwicklung einer analgetischen Toleranz. Denn durch die zusaÈtzliche Gabe des a2-Agonisten Dexmedetomidin konnte eine Kreuztoleranz fuÈr den hypnotischen, nicht jedoch fuÈr den antinozizeptiven Effekt von Morphin dokumentiert werden [125]. Im Rahmen der Intensivmedizin stellen deshalb a2-Agonisten eine Alternative dar, eine sich entwickelnde Opioidtoleranz zu vermindern [126]. Neben dem Clonidin weist der neue a2-Agonist Dexmedetomidin ebenfalls diese Vorteile auf, indem eine Dosiseinsparung des Opioids, eine

329

29

Einsparung an Sedativa und gleichzeitig eine fruÈhere EntwoÈhnung vom Respirator ermoÈglicht wird [127]. Im Rahmen einer langfristigen und kontinuierlichen Applikation von Opioiden bei Beatmungspatienten, insbesondere dann, wenn nicht gegen den Schmerz titriert wird, entwickelt sich oÈfters eine Toleranzentwicklung. Um dies zu vermeiden, wird von einigen Autoren die intermittierende Verabreichung empfohlen, eine Maûnahme, die weniger schnell zu einer Opioidtoleranz fuÈhren soll [128]. Andererseits kann aber auch das simultan verabreichte Benzodiazepin einer Toleranzentwicklung Vorschub leisten. Diese scheinbar antiopioidartige Wirkung der Benzodiazepine beruht auf einer partiellen Hemmung deszendierender, monaminerger Schmerzbahnen und einer durch Benzodiazepine induzierten verminderten Ansprechbarkeit der Opioidrezeptoren [129, 130]. Aufgrund dieser Tatsache wird von anderen Arbeitsgruppen der Intensivmedizin das Konzept einer taÈglich intermittierenden Unterbrechung der Benzodiazepine propagiert. Immerhin konnten mit dieser Maûnahme im Vergleich zu einer Kontrollgruppe signifikant kuÈrzere Beatmungs- und Intensivaufenthaltszeiten erreicht werden [131]. Andererseits weisen experimentelle Daten am Tier darauf hin, dass die im Rahmen einer kombiniert Opioid- und Benzodiazepingabe auftretende Dosissteigerung gedrosselt, wenn nicht sogar verhindert werden kann, wenn zusaÈtzlich ein am NMDA-Rezeptor angreifender Antagonist verabreicht wird. FuÈr solche Zwecke erscheint zum momentanen Zeitpunkt Ketamin ein geeigneter Kandidat zu sein, in niedriger Dosierung eine sonst uÈbliche und notwendige DosiserhoÈhung des Opioids zu verhindern. 29.6.2 Strategien bei Toleranzentwicklung

im Rahmen der Therapie chronischer Schmerzen

Vom klinischen Standpunkt aus ist es eher als vorteilhaft anzusehen, wenn sich bei Patienten mit chronischen Schmerzen im Laufe der Zeit eine Toleranzentwicklung auf die opioidbedingte Atemdepression, Ûbelkeit und Sedierung entwickelt. Dagegen sind jedoch Obstipation und Miosis, selbst nach einer laÈngeren Opioidexposition, im gleichen Ausmaû nachweisbar; eine Toleranz entwickelt sich fuÈr diese beiden opioidtypischen Effekte nicht [57, 59, 60]. FuÈr die von dem Opioid ausgehende Sedierung wird dagegen von einer angelernten Toleranzent-

330

29

Kapitel 29  Toleranzentwicklung und Hyperalgesie unter chronischer Opioideinnahme

wicklung ausgegangen. Hierbei kommt es von Seiten des Organismus zu physiologischen Kompensations- und Anpassungsmechanismen. So steht bei anfaÈnglicher Opioidgabe z. B. eine starke Sedierung im Vordergrund, die mit wiederholter Exposition immer mehr an Bedeutung verliert, indem motorische und/oder angelernte Verhaltensweisen wieder voll erlangt werden. Diese »selektive Toleranzentwicklung« ist in fast allen FaÈllen, selbst bei fehlender Eskalation der Opioiddosis, nachweisbar. Solche Patienten koÈnnen jedoch bei einer neuen Schmerzform, z. B. postoperativen Schmerzen, eine Toleranz auf Opioide aufweisen, sodass dann zur Schmerzbefreiung schnell steigende Dosen verabreicht werden muÈssen [132]. Andererseits ist zu beruÈcksichtigen, dass von dem Metaboliten des Morphins, dem Morphin3-Glucuronid, eine pronozizeptive, exzitatorische Wirkung ausgeht [133]. Bei einer sich entwickelnden Morphintoleranz bzw. zu starken Nebenwirkungen kommt zur Optimierung einer Analgesie dann die Opioidrotation in Frage [134]. Hierbei wird von Morphin auf Oxycodon, Hydromorphon, Fentanyl TTS oder Methadon umgestiegen [135]. Diese Vorgehensweise erklaÈrt sich aus der unterschiedlichen Ansprechrate der verschiedenen Opioide auf die 3 bekannten Opioidbindestellen m, d, k. FuÈr ein Umsteigen auf Methadon spricht zum einen die im Vergleich zu Morphin hoÈhere AffinitaÈt zum Opioidrezeptor [117, 136]. Andererseits hemmt Methadon neben dem Opioidrezeptor auch die Wiederaufnahme von Noradrenalin und 5-Hydroxytryptamin. Letztlich wird durch diese Wiederaufnahmehemmung eine Wirkpotenzierung der Opioidwirkung erreicht [137]. Um jedoch bei einem geplanten Opioidwechsel (Opioidrotation) die richtige Menge zu verabreichen, empfiehlt es sich, mit 50 % der errechneten Øquivalenzdosis des neuen Opioids zu beginnen, um anschlieûend nach Bedarf rasch hochzutitrieren. Dieses Vorgehen erscheint insofern sinnvoll, weil die vorliegenden Øquivalenztabellen nur auf den opioidnaiven Patienten zugeschnitten sind [134] und die DosisaÈquivalenz aufgrund der Toleranzentwicklung individuell stark variiert. Des Weiteren sind bei periduraler Gabe a2-Agonisten auch in der Lage, die analgetische Wirkung eines Opioids zu potenzieren. Hiermit kann neben einer Wirkoptimierung eine Dosisreduktion fuÈr das Opioid erreicht werden [138, 139]. Bei neuroaxialer Verabreichung werden die im RuÈckenmark nachweisbaren spezifischen a2-Rezeptoren besetzt, was dazu fuÈhrt, dass weni-

ger Substanz P freigesetzt und die AktivitaÈt afferenter Neurone vermindert wird. Øhnlich wie bei Anwendung auf der Intensivstation handelt es sich bei der periduralen Gabe um eine funktionelle Potenzierung der Opioidwirkung [140]. 29.6.3 Toleranzentwicklung in der periope-

rativen AnaÈsthesie

Schon mit Beginn der ersten Opioidapplikation werden, wie oben dargestellt, Adaptationsprozesse initiiert, die nach einiger Zeit zu einer klinisch relevanten Toleranzentwicklung fuÈhren koÈnnen. Eine Strategie, die intraoperativ sich entwickelnde Toleranzentwicklung hinauszuzoÈgern, kann durch eine bedarfsadaptierte Verabreichung des Opioids erreicht werden. Hierbei wird nur zu dem Zeitpunkt zunehmender nozizeptiver Stimuli das Opioid gegeben, wobei den wirkungsstarken Pharmaka der Vorzug zu geben ist. Wird jedoch eine Toleranz auf Opioide offensichtlich, kann dies durch die simultane Gabe zusaÈtzlicher, an anderen Bindungsstellen angreifenden Pharmaka die Toleranzentwicklung nicht vollstaÈndig verhindert werden. Mit Hilfe der »multimodalen Analgesie« kann jedoch eine Toleranzentwicklung hinausgezoÈgert werden [3, 99, 141]. Hierbei kommen neben einem a2-Agonist wie Clonidin, einem NMDA-Antagonisten wie Ketamin oder Dextromethorphan auch ein Pharmakon aus der Gruppe der Pyrazolderivate wie Metamizol oder ein Anilinderivat wie das Paracetamol in Frage. Letzteres steht jetzt auch als parenterale Applikationsform zur VerfuÈgung. Aus der Gruppe der COX-2-Hemmer, die sich von den bekannten nichtsteroidalen Analgetika (NSAID) durch fehlende Auswirkungen auf die Blutgerinnung und gastrointestinale Effekte auszeichnen, kaÈme fuÈr eine perioperative Analgesie Celecoxib (Celebrex) in Betracht. Immerhin konnten durch die praÈoperative Gabe von COX-2-Hemmern postoperativ nach arthroskopischen Knieoperationen signifikant weniger Schmerzen und ein um 25±50 % geringerer Opioidbedarf dokumentiert werden [142]. ZukuÈnftige klinische Erfahrungen werden zeigen muÈssen, ob im Rahmen der postoperativen Analgesie die COX-2-Hemmer gegenuÈber den schon lang benutzten nichtsauren antipyretischen Analgetika Vorteile aufweisen. Insgesamt weisen zwar alle experimentellen Daten darauf hin, dass mit jeder Opioidgabe adaptive Prozesse einsetzen, die einer analgetischen Toleranzentwicklung Vorschub leisten. Klinisch

29.7  Analgetischer versus hyperalgetischer Effekt der Opioide

29.7

Analgetischer versus hyperalgetischer Effekt der Opioide

29.7.1 Nozizeption Ein verstaÈrktes Schmerzempfinden auf bestimmte Stimuli (z. B. mechanische oder thermische Reizung) wird als Hyperalgesie bezeichnet. Besteht eine Hyperalgesie nicht im direkten Verletzungsoder Wundgebiet, spricht man von sekundaÈrer Hyperalgesie. Die Entstehung einer solchen sekundaÈren Hyperalgesie nach Opioiden erfolgt hoÈchstwahrscheinlich durch zentrale SensibilisierungsvorgaÈnge [143], wobei vermutet wird, dass es bei der zentralen Sensibilisierung zu einer gesteigerten Erregbarkeit sowie einer erhoÈhten SpontanaktivitaÈt von Second-order-Hinterhornneuronen im RuÈckenmark kommt. WaÈhrend die im Rahmen von AllgemeinanaÈsthesien bei operativen Eingriffen stattfindenden Sensibilisierungsprozesse die Grundlage fuÈr die Entstehung postoperativer Schmerzen sind, kann es durch eine Vielzahl von physiologischen Anpassungsreaktionen des Organismus auf ein Opioid zu einer Toleranzentwicklung mit »GewoÈhnung« kommen, die letztlich mit einem erhoÈhten Bedarf an dem Opioid einhergeht [144]. Die Toleranzentwicklung durch laÈngere Opioidzufuhr bewirkt somit ein Nachlassen des analgetischen Effekts oder erfordert, um weiterhin eine ausreichende Analgesie zu gewaÈhrleisten, eine Dosissteigerung (. Abb. 29-7). Die Abnahme der analgetischen Wirkung der Opioide ist nicht allein durch das Nachlassen der antinozizeptiven Potenz des Analgetikums zu erklaÈren. Sie beruht vielmehr auf der Aktivierung koÈrpereigener pronozizeptiver Gegenregulationsmechanismen. So kann nach Gabe eines Opioidantagonisten zur Unterbrechung der Opioidwirkung nicht nur ein Nachlassen der Analgesie, sondern auch eine gegensaÈtzliche Reaktion, eine Hyperalgesie beobachtet werden. Die Vermutung liegt nahe, dass ein kompensatorischer oder

29

Hyperalgesie Schmerzempfindung

tritt diese Toleranzentwicklung wegen des genetischen Polymorphismus jedoch bei jedem Patienten unterschiedlich fruÈh oder spaÈt und in unterschiedlichem Ausmaû in Erscheinung. Trotz einer moÈglichen Toleranzentwicklung sollte jedoch auf eine Opioidgabe nicht verzichtet werden. Um eine Toleranzentwicklung zu vermeiden, ist fruÈhzeitig das Konzept der multimodalen Analgesie mit zusaÈtzlichen, an anderen Bindestellen angreifenden Analgetika anzuwenden.

331

Schmerzschwelle Reizstärke . Abb. 29-7. Verschiebung der Reiz-Empfindungs-Kurve auf

einen schmerzhaften Reiz nach links, d. h. ein vormals nicht schmerzhafter Reiz wird jetzt als schmerzhaft empfunden

gegensaÈtzlicher Mechanismus hierfuÈr verantwortlich ist. Dies steht im Einklang mit der aus der Physiologie bekannten Theorie der Gegenregulation, wobei eine aktive von auûen ausgeloÈste VeraÈnderung eine Gegenregulation bewirkt. Bezogen auf die Pharmakologie besagt diese Theorie, dass durch die Wirkung eines Pharmakons mit analgetischer Wirkkomponente uÈber zentral gesteuerte und/oder intrazellulaÈre Mechanismen eine gegenregulatorische Reaktion ausgeloÈst wird. In seinem Bestreben, eine HomoÈostase aufrecht zu erhalten, kommt es zu einer Abnahme der Wirkung, die in eine Hyperalgesie muÈndet. Dieser Prozess setzt zeitlich verzoÈgert nach der Medikamentenzufuhr ein, weist eine laÈngere Wirkungsdauer als die eigentliche Analgesie auf und klingt nach Einsetzen nur langsam wieder ab (. Abb. 29-8). Die Summe dieser beiden gegensaÈtzlichen Mechanismen entspricht dann der eigentlichen analgetischen Potenz eines Opioids, wobei eine rasche Anpassungsreaktion auf ein Opioid waÈhrend der Erstzufuhr einer akuten Toleranzentwicklung entspricht, die sich im Unterschied zur herkoÈmmlichen Toleranzentwicklung auch ohne wiederholte Opioidzufuhr entwickelt [145].

332

Kapitel 29  Toleranzentwicklung und Hyperalgesie unter chronischer Opioideinnahme

a - Prozess a - Prozess

a + b Prozess

a+b Prozess

Analgesie

Hyperalgesie b - Prozess

Opioid

b - Prozess

Opioid

Opioid

. Abb 29-8. Prinzip der Gegenregulation, wobei nach anfaÈnglicher Analgesie ein im Organismus induzierter Ausgleich pronozizeptive Prozesse anstoÈût, die neben einer Abnahme der Analgesie schlieûlich in eine Hyperalgesie muÈnden. (Mod. nach [146, 147])

29.7.2 Pronozizeptive Mechanismen

29

Die VeraÈnderung der analgetischen Opioidwirkung basiert allem Anschein nach auf unterschiedlichen Sensibilisierungsprozessen, die alle als sog. pronozizeptive Mechanismen eingestuft werden koÈnnen (. Abb. 29-9). Die Prozesse sind in AbhaÈngigkeit von Pharmakodynamik und -kinetik des eingesetzten Opioids in unterschiedlichem Maû nachweisbar. An der Entstehung und Erhaltung solcher zentralinduzierter hyperalgetischer ZustaÈnde, die zu schmerzfoÈrdernden Ereignissen wie Hyperalgesie, Allodynie und Spontanschmerz fuÈhren, sind v. a. die den N-Methyl-D-Aspartat- (NMDA-) Rezeptor aktivierenden AminosaÈuren wie Glutamat entscheidend beteiligt [148], wobei eine Aktivierung spinaler NMDA-Rezeptoren die Entwicklung schmerzfoÈrdernder Prozesse verursacht [147, 149]. So fuÈhrt die Stimulation eines m-Opioidrezeptors durch einen spezifischen Agonisten uÈber eine Proteinkinase-C-(PKC)-abhaÈngige Phosphorylierung und Internalisierung zur Rezeptordesensibilisierung. Des Weiteren bewirkt Proteinkinase C durch Phosphorylierung des NMDA-Rezeptors eine anhaltende Aktivierung NMDA-abhaÈngiger Schmerzsensibilisierungsprozesse mit anschlieûender Hypersensibilisierung [145, 146]. ZusaÈtzlich wird uÈber eine Aktivierung der neuronalen Stickstoffmonoxidsynthase (nNOS1) die Bildung von NO induziert und dadurch die antinozizeptive Potenz der m-Agonisten vermindert [150]. Nach laÈngerfristiger Opioidanwendung werden im zentralen Nervensystem auûerdem vermehrt Neuropeptide synthetisiert und freigesetzt, die

analgetische Wirkungen durch Bindung an spezifische Rezeptoren abschwaÈchen (sog. Antiopioide). Hierzu gehoÈren die gut charakterisierten Peptide Cholecystokinin (CCK), das Neuropeptid FF (NPFF) und Nociceptin (Orphanin FQ/OFQ). Daneben verfuÈgt auch Dynorphin uÈber relevante pronozizeptive Eigenschaften, die teilweise durch Aktivierung des NMDA-Rezeptorsystems erklaÈrbar sind [151]. Andererseits foÈrdern solche pronozizeptiven Peptide die Entstehung einer Hyperalgesie durch eine Faszilitierung der synaptischen Ûbertragung in den Hinterhornneuronen [152±154]. ! Die Schmerzwahrnehmung und -bewertung wird

dann letztendlich durch die Balance zwischen dem pro- und dem antinozizeptiven Prozessen bestimmt.

29.7.3 Bedeutung des G-Proteins bei der

Induktion einer opioidbedingten Hyperalgesie

Langfristige Opioidgabe ist schon seit geraumer Zeit in Zusammenhang mit exzitatorischen Effekten in Verbindung gebracht worden [156]. Den letztendlichen Beweis fuÈr eine mit Opioidtoleranz und Abstinenzentwicklung einhergehende exzitative Reaktion ist Forschern im Albert Einstein College of Medicine gelungen [156, 157]. Sie konnten den Beweis dafuÈr liefern, dass es nach anfaÈnglicher Aktivierung des intrazellulaÈren Mittlers G-Protein (Gi/o) zu einem Wechsel von einem hemmenden zu einem exzitativen Gs-Protein kommt.

333

29.7  Analgetischer versus hyperalgetischer Effekt der Opioide

Normal

Zeit

29

Toleranzentwicklung

0

1

30

120

min

Analgesie

Hyperalgesie

CCK

NMDA

Analgesie

Hyperalgesie

SP

. Abb. 29-9. Schematischer Ablauf des Ungleichgewichtes zwischen antinozizeptiven und pronozizeptiven Faktoren im Laufe einer Opioidtherapie, wobei die pronzizeptiven Faktoren hauptsaÈchlich durch eine gesteigerte Synthese von CCK (Chlecyctokinin), einer Aktivierung des NMDA- (N-Methyl-D-aspartat-) Rezeptors und durch eine vermehrte Synthese von Substanz P (SP) charakterisiert sind. (Mod. nach [155])

Dies ist ein Effekt, der sich durch Ultraniedrigdosen von Naloxon verhindern laÈsst [157]. Diese nach Bindung eines Liganden am Rezeptor fuÈr SaÈuger charakteristische bimodale Aktivierung des G-Proteins fuÈhrt einmal zur Aktivierung hemmender Impulse mit Analgesie und zum anderen zur Induktion eines erregenden Effektes, der der Analgesie entgegengesetzt gerichtet ist. Dieser Antiopioideffekt ist verantwortlich fuÈr opioidtypische Nebenwirkungen und maûgeblich an der Vermittlung einer opioidbedingten Toleranz- und AbhaÈngigkeitsentwicklung beteiligt. So konnte bei Nervenzellen, die in vitro langfristig Morphin ausgesetzt waren, ein Wechsel

der AktivitaÈt des fuÈr die Vermittlung von Analgesie wichtigen G-Proteins von Go zu Gs demonstriert werden, ein Effekt, der sich durch die simultane Gabe von ultraniedrigen Dosen von Naltrexon verhindern lieû. WaÈhrend das Go-Protein nachweislich die AdenylylzyklaseaktivitaÈt hemmt, wird sie durch das Gs-Protein aktiviert, wobei uÈber die Anreicherung des Endproduktes c-AMP der Nachweis der fuÈr die Aktivierung relevanten a- und b/g-Untereinheit von Gs-Protein gelang. Crain und Sheng waren die ersten, die am Modell des isolierten Spinalganglions sowohl inhibitorische als auch exzitatorische Aktionspotenziale nach Langzeitapplikation von Morphin beob-

334

29

Kapitel 29  Toleranzentwicklung und Hyperalgesie unter chronischer Opioideinnahme

achten konnten [156]. Der Nachweis, dass der exzitatorische Effekt, der immer mit einer VerlaÈngerung in den Aktionspotenzialen einherging, sich durch Choleratoxin (einem Stoff, der selektiv das G-Protein hemmt) verhindert lieû, konnte als zwingender Beleg fuÈr eine uÈber den Mittler G-Protein ablaufende Exzitation gewertet werden. Dieser uÈber den Opioidrezeptor ausgeloÈste Erregungsweg fuÈhrt auch zu einer Toleranzentwicklung. Denn Niedrigdosen des Opioidantagonisten Naltrexon (im Pico- oder Nanomolbereich) verhinderten in vivo eine nach hohen Opioiddosen nachweisbare Toleranz- und AbhaÈngigkeitsentwicklung [158, 159]. Dieser nach Rezeptorbesetzung bimodale uÈber den sekundaÈren Mittler G-Protein vermittelte exzitatorische Effekt laÈsst sich dadurch erklaÈren, dass zum einen Niedrigdosen eines Agonisten exzitative Effekte induzierten und hohe Dosen einen hemmenden Effekt hatten [156]. Ein solcher Switch von einem hemmenden zu einem exzitativen G-Protein ist die Rationale fuÈr die gleichzeitige Verabreichung eines Agonisten mit einem Antagonisten [157]. Und weil dieser Switch Konsequenzen auf die unterschiedlichsten Signalkaskaden nach Opioidexposition nach sich zieht, kann jeder fuÈr sich an einer bei Langzeiteinnahme auftretenden Opioidnebenwirkung teilhaben, wobei neben Toleranz insbesondere die Vermeidung einer AbhaÈngigkeitsentwicklung neue MoÈglichkeiten in der Therapie eroÈffnet [160]. 29.8

Oxytrex: Kombination aus Ultraniedrigdosen von Naltrexon mit Oxycodon (in der Entwicklung)

Oxytrex enthaÈlt eine Kombination von Oxycodon mit Ultraniedrigdosen des Antagonisten Naltrexon. In Aktionspotenzialen der Hirnterhornwurzel des RM bei der Maus konnte von einer Forschungsgruppe am Albert Einstein College of Medicine demonstriert werden, wie waÈhrend der langfristigen Opioidapplikation nach anfaÈnglich Inhibition auf eine Exzitation umgeschaltet wird [156]. Es resultierte eine Toleranzentwicklung mit der Notwendigkeit steigender Dosen bis zur ausreichenden Opioidwirkung. Wurde jedoch die Opioideinnahme gestoppt, benoÈtigte das ZNS weiterhin das Pharmakon, damit es nicht zu Entzugserscheinungen kam. Die Forscher konnten demonstrieren, dass die Kombination von Ulltraniedrigdosen des Opioidantagonisten Naltrexon mit einem Opioidagonisten die physiologischen Adaptionsmechanismen unterdruÈcken konnte [156, 157]. Sie wiesen nach,

dass diese exzitatorischen Mechanismen, die eine Toleranzentwicklung und Abstinenzsymptomatik einleiteten, auf einen Wechsel des sekundaÈren Mittlers am Opioidrezeptor, dem G-Protein von Gi/o auf Gs beruhen und dass dieser Wechsel durch Ultraniedrigdosen von Naltrexon im Picobis Nanomolarbereich bzw. durch Niedrigdosen im Mikromolarbereich verhindert werden konnte [157]. Weil die Untereinheit der G-Proteine das Go das Enzym Adenylylcyclase hemmt, waÈhrend eine andere Untereineinheit, das Gs, das Enzym aktiviert, wird langfristig durch ein Opioid ein AktivitaÈtswechsel von dem Go-Protein auf das Gs-Protein eingeleitet. In-vitro-Daten an striatalen Hirnschnitten konnten diesen Wechsel unter Opioidlangzeiteinwirkung dokumentieren, ein Effekt, der sich durch Naltrexon verhindern lieû. Hierbei war jedoch die Dosis des Antagonisten der entscheidende Faktor, eine solche Entwicklung zu verhindern. Indem hohe Dosen die analgetische Wirkung umkehrten, konnten Ultraniedrigdosen die agonistische Wirkung eher verstaÈrkten. Diese im Labor gemachten Erkenntnisse muÈndeten in der Entwicklung von Oxytrex, einer Kombination aus Oxycodon und einer Niedrigdosis Naltrexon, wobei eine VerstaÈrkung der Analgesie [161] bei gleichzeitiger Verringerung einer Entzugssymptomatik [162] nachgewiesen werden konnte. Aufgrund dieser praÈklinischen Daten wurde Oxytrex, die naÈchste Generation eines Schmerzmittels, entwickelt, das Oxycodon (10 mg) und Naltrexon (0,001 mg) enthaÈlt (Pain Therapeutics, South San Francisco, Kalifornien/USA) und zur Therapie mittlerer und schwerer Schmerzen eingesetzt werden soll. Erste klinische Ergebnisse an 700 Patienten mit schwerer Arthritis dokumentierten waÈhrend einer 3-Monats-Therapie eine um 55 % geringere AbhaÈngigkeitsentwicklung. Weitere Studien werden zeigen muÈssen, ob dieses Konzept auch von klinischer Relevanz ist. Obgleich sich die Wirkung von Ultraniedrigdosen von Naltrexon primaÈr am m-Rezeptor abspielt, so sind doch zusaÈtzliche vorteilhafte Effekte beobachtet worden [163]. Zum einen konnte die analgetische Wirkung verlaÈngert werden, und es war ein Einspareffekt der zur Analgesie notwendigen Dosis nachweisbar. Zum anderen konnte der therapeutische Index gesteigert werden, indem die Inzidenz an Nebenwirkungen wie z. B. Obstipation, Pruritus, Somnolenz und Atemdepression verringert war [162]. Die hierbei verwendete Dosierung entscheidet uÈber die Wirkwiese, indem hohe Dosen des Anta-

29.8  Oxytrex: Kombination aus Ultraniedrigdosen von Naltrexon mit Oxycodon

gonisten den hemmenden Effekt eines Opioids, wie z. B. eine Atemdepression, umkehren, waÈhrend eine Ultraniedrigdosierung in der Lage ist, die exzitative, uÈber das Gs-Protein vermittelte Hyperalgesie zu verhindern. Solche im praÈklinischen Bereich nachgewiesenen vorteilhaften Effekte (. Abb. 29-10) fuÈhrten zur Anwendung bei Patenten, wobei erste klinische Ergebnisse der Phase II insofern ermutigend sind, als bei Patienten mit schwerer Osteoarthritis unter Oxytrex eine Verringerung der physischen Toleranz um 55 % erreicht wurde, waÈhrend bei den Patienten i50 Jahre die physische Toleranzentwicklung auf das Opioid um den Faktor 5 vermindert werden konnte.

*

Antinozizeption (M.P.E)

100

*

*

*

335

29

WaÈhrend die eigentliche Wirkung der Ultraniedrigdosierung von Naltrexon dahin zielt, einen Wechsel des G-Proteins in Richtung exzitative Wirkungsvermittlung, wie sie sich waÈhrend einer Toleranzentwicklung manifestiert, zu verhindern, konnten zusaÈtzlich Ønderungen in den Verhaltensweisen durch die Komedikation beobachtet werden. So war zum einen durch die gleichzeitige Antagonisteneinnahme eine VerlaÈngerung der analgetischen Wirkung zu beobachten. Zum anderen nahm die therapeutische Breite des Agonisten insofern zu, als Nebenwirkungen wie die gastrointestinale Obstipation oder der atemdepressorische Effekt deutlich geringer ausgepraÈgt waren.

*

*

80 *

60

Kochsalz Morphin (15ug) Morphin + Naltrexon (0,005ng) Morphin + Naltrexon (0,05ng) Naltrexon (0,05ng)

*

40 20 0 1

2

3

4 Zeit (Tage)

5

*

*

*

a

7

*

*

*

100 Antinozizeption (M.P.E)

6

80 60

Kochsalz Morphin (15mg) Morphin + Naltrexon (0,005ng) Morphin + Naltrexon (0,05ng) Naltrexon (0,05ng)

40 20 0 1

2

3

b

Antinozizeption (M.P.E)

100

4 Zeit (Tage)

5

6

7

*

80 60 *

40

*

* *

Kochsalz Morphin (15ug/kg) Morphin + Naltrexon (10ng/kg) Naltrexon (10ng/kg)

20 0 1

c

2

3

4 Zeit (Tage)

5

6

7

Fig. 29-10a±c. Zeitliche Ønderungen nach intrathekaler (a, b) oder systemischer (c) Naltrexongabe auf die Entwicklung einer Toleranz unter langfristiger (7 Tage) Opioidgabe auf den SchwanzruÈckziehreflex (a, c) und den Pfotendrucktest (b). Mittelwert eSEM von je 7 Tieren. Signifikanzniveau gegenuÈber alleiniges Morphin *p I0,05 (MPE maximaler prozentualer Effekt)

Kapitel 29  Toleranzentwicklung und Hyperalgesie unter chronischer Opioideinnahme

Daneben war auch die HaÈufigkeit von opioidbedingtem Pruritus und Somnolenz signifikant geringer, als es von dem opioideinsparenden Effekt der zusaÈtzlichen Niedrigdosis Naltrexon eigentlich erwartet werden konnte. ZusaÈtzlich lieû sich in einer randomisierten Pilotstudie bei Patienten mit nichtmalignen Schmerzen, die langfristig intrathekal Morphin erhielten, durch Naltrexon oral 100 mg BID eine Verbesserung der Schmerzbefreiung dokumentieren (. Abb. 29-11). In weiteren Studien soll Oxytrex einer weiteren PruÈfung der Phase III bei Patienten mit Nichttumorschmerzen unter der Zielsetzung einer Zulassung unterzogen werden.

7

PID Score

336

6

Plazebo

5

Naltrexon 100 mcg

4 3 2 1 0 0

1

2

3

4 5 Stunden

6

7

8

. Abb. 29-11. Verbesserung im medianen SchmerzaÈn-

derungsscore PID (»pain intensity difference«) bei Patienten unter Morphin mit (100 mg) und ohne zusaÈtzlicher Naltrexoneinnahme. (Nach [164])

29

30 Opioide mit peripherem Angriffsort ± klinische Bedeutung 30.1

Opioide bei intestinaler HypermotilitaÈt ± 337

30.2

Opioidantagonisten zur Umkehr der Obstipation im Rahmen der Therapie chronischer Schmerzen ± 340

30.2.1

Peripher selektive Opioidantagonisten zur Umkehr opioidbedingter Nebenwirkungen ± 340

Periphere Opioidrezeptoren sind in den verschiedenen Organen am Tier und am Menschen nachgewiesen worden, woraus ihre Bedeutung bei den unterschiedlichsten physiologischen und pathologischen ZustaÈnden, insbesondere bei der Entwicklung chronischer Schmerzsyndrome, abgeleitet werden kann. In folgenden peripheren Geweben finden sich in unterschiedlicher Dichte Opioidrezeptoren [1, 2]: 4 MeerschweinchenduÈnndarm, 4 sympathische Ganglienzellen, 4 Vas deferens (Maus, Ratte, Hase), 4 Ohrenarterie (Hase), 4 Nervi splanchnici, 4 Nickhaut (Katze), 4 HerzvorhoÈfe (Hase), 4 Uterus (Mensch), 4 Nebennierenrinde, Nebennierenmark (Mensch), 4 Pankreas (Hund). Unterstrichen wird die Bedeutung peripherer Opioidrezeptoren durch die Auswirkungen systemisch verabreichter Opioide und Opioidpeptide auf die Funktionen verschiedener Organe. So sind als Auswirkung auf die Funktion von Magen, DuÈnndarm, Nebennierenrinde, Nebennierenmark, Uterus, Pankreas und Vas deferens u. a. dokumentiert worden: 4 Hemmung der Somatostatinfreisetzung, 4 Hemmung der Acetylcholinfreisetzung, 4 Hemmung der Kortikosteroidfreisetzung, 4 Hemmung der Propulsion, 4 Hemmung der Insulinfreisetzung,

30.3

Bedeutung peripherer Opioidrezeptoren bei chronischen EntzuÈndungen ± 343

4 Hemmung der Glukagonfreisetzung, 4 Hemmung der Noradrenalinfreisetzung. 30.1

Opioide bei intestinaler HypermotilitaÈt

Besonders jedoch sind Opioidrezeptoren im Intestinaltrakt des Menschen von Bedeutung. Er stellt ein Organsystem dar, das sich durch Krampfen, Grimmen, Zwicken und Grummeln bemerkbar machen kann. Gleichzeitig flieûen aber zu 90 % mehr Informationen vom Bauchraum zum Gehirn als umgekehrt, wobei v. a. unbewusste Botschaften zum ZNS flieûen. Die Bedeutung dieses Organs wird besonders dann offenkundig, wenn man die vergleichsweise aÈhnliche Anzahl an Neuronen wie im zentralen Nervensystem (ZNS) beruÈcksichtigt, die in Form von 2 hauchduÈnnen Netzen als Plexus submucosus und Plexus myentricus Auerbachii den Verdauungstrakt umgeben. Dem Intestinaltrakt kann deshalb eindeutig die Bedeutung eines »zweiten Gehirns« oder eines enteralen Nervensystems (ENS) zugesprochen werden (. Abb. 30-1), wobei das weitgehend autonom arbeitende Bauchhirn in Aufbau und Arbeitsweise Øhnlichkeiten mit dem ZNS aufweist: 4 Nahezu alle Transmitter, die im ZNS Steuerfunktionen ausuÈben, sind auch im ENS anzutreffen; so etwa sind die Neurotransmitter Serotonin, Dopamin, Acetylcholin, Glutamat und Noradrenalin im enteralen Hirn des Verdauungstraktes nachweisbar.

338

30

Kapitel 30  Opioide mit peripherem Angriffsort ± klinische Bedeutung

. Abb. 30-1. Das Gehirn in der LeibeshoÈhle oder das enterische Nervensystem (ENS). Die Kontrolle der auûen liegenden LaÈngsund der innen liegenden Ringmuskulatur erfolgt durch Nervengeflechte, den submukoÈsen Plexus (sive plexus submucosus Meissneri) und den myenterischen Plexus (sive plexus myentericus Auerbachii), an den sich die fingerfoÈrmig ausgestuÈlpte Schleimhaut anschlieût. Das myenterische Nervengeflecht reguliert die Schleimhautfunktion wie Durchblutung und Sekretion. Die in den beiden Geflechten angesiedelten synzytialen Nervengeflechte bilden ein dicht verkabeltes Informationsnetz, das eine nur sehr lockere Verbindung zum zentralen Nervensystem aufweist. Da speziell im myenterischen Plexus Opioidbindungsstellen nachweisbar sind, wird erklaÈrlich, warum alle aufgenommenen Opioide auch auf den Darm eine Funktion in Form einer Hemmung ausloÈsen

4 2 Dutzend Eiweiûstoffe werden im Darmhirn produziert, von denen eine groÈûere Anzahl an Enkephalinen und nach ersten Ergebnissen auch erhebliche Mengen psychoaktiver Substanzen synthetisiert werden. 4 Wie im Kopfhirn, so gibt es auch zwischen den beiden Muskelschichten des Darmhirns, die fuÈr die Bewegung der Nahrung durch Magen und Darm verantwortlich sind, ein spezielles synzytiales Netzwerk an Nervenzellen. 4 Auch das Bauchhirn verfuÈgt, wie das Kopfhirn, uÈber eine »Blut-Hirn-Schranke«, die die dort wichtigen Nervenzellen gegen toxische Substanzen abschirmt. 4 Øhnlich wie im Kopf nehmen auch im Bauchhirn selektive Zellpopulationen bestimmte Aufgaben wahr. Als spezielle Sensoren fuÈr Zucker, SaÈuren, Eiweiûe und andere Stoffe vermag das Nervensystem im Bauch die Stoffe

zu analysieren und ihre Aufbereitung einzuleiten. 4 In dem baÈuchlings gelegenen enterischen Nervensystem (ENS) sind, aÈhnlich wie im ZNS, rund 100 Mio. Nervenzellen angesiedelt, mehr als beispielsweise im nervenreichen RuÈckenmark. 4 FuÈr die im Kopf ablaufenden Steuer- und Kontrollfunktionen des Darms stehen eine nur sehr geringe Anzahl an Nervenfasern zur VerfuÈgung, die uÈber den N. vagus zum Darm verlaufen. 4 Der autonom pulsierende Darm nimmt Reize uÈber sensorische Nervenfasern auf, leitet diese uÈber Interneuronen weiter, die ihrerseits uÈber Neuronen in verschiedenen Regionen des Verdauungstraktes die AktivitaÈten von Muskeln, SchleimhaÈuten oder Immunzellen regulieren.

30.1  Opioide bei intestinaler HypermotilitaÈt

4 Die urspruÈngliche Entwicklung des ENS liegt, aÈhnlich wie die des ZNS, in der Neuralleiste des Embryos, die sich spaÈter in ein StuÈck vom Kopf und ein weiteres StuÈck, das in den Bauchraum wandert, differenziert. 4 Eine RuÈckmeldung aus dem Bauch- zum Kopfhirn erfolgt uÈber sensorische Fasern des N. vagus, waÈhrend das Kopfhirn eine »Einbahnstraûe« uÈber motorische Fasern benutzt. 4 Der zweiseitige Informationsfluss zwischen Darm und Hirn wird in vielen Krankheitsbildern sichtbar: Alzheimer- und Parkinson-Patienten leiden gleichzeitig unter DarmstoÈrungen. Ihre Nerven im Darm sind so krank wie die im Kopf. 4 Øhnlich wie Kopf liegen im Darm Zellstrukturen vor, die die AktivitaÈt anregen, waÈhrend andere sie lahmlegen. So sind z. B., aÈhnlich wie im ZNS, einige Zellen in der Lage, den gasfoÈrmigen Transmitter NO als Botenstoff auszusenden, der normalerweise den Darm ruhig stellt, waÈhrend Acetylcholin die VerdauungsativitaÈt anregt. 4 Øhnlich wie im ZNS fuÈhren Enkephaline im Plexus myentericus zu einer »Beruhigung« der DrammotilitaÈt, waÈhrend Serotonin im Plexus submusosus das Darmhirn anregt. Aus dem genannten GruÈnden ist nachvollziehbar, dass das, was im Kopf geschieht, auch Auswirkungen auf den Darm hat. Hieraus ist auch zwanglos abzuleiten, dass viele Pharmaka mit zentralem

339

30

Angriffspunkt gleichzeitig auch im Darm angreifen. So geht die Wirkung aller Opioide auf den Darm mit einer Hemmung der Propulsion und des Ionentransports einher, die schlieûlich in eine Obstipation muÈndet, eine Wirkung die therapeutisch bei der DiarrhoÈ genutzt wird (. Abb. 30-2). Da periphere Opioidrezeptoren im Bereich des Plexus myentericus Auerbachii nachzuweisen sind [3±5], wird verstaÈndlich, warum Opioide in einer mehr oder weniger sstark ausgepraÈgten IntensitaÈt die DarmmotilitaÈt hemmen. Hierbei ist ursaÈchlich die uÈber Opioidrezeptoren gesteuerte Acethylcholinfreisetzung aus dem intramuralen Nervenplexus heranzuziehen., die nach der Opioidgabe heruntergefahren wird. Lange wurde zur BekaÈmpfung einer DiarrhoÈ die Opiumtinktur (Tinctura opii) eingesetzt, wobei jedoch neben der wuÈnschenswerten peripheren Wirkung auch nicht wuÈnschenswerte zentral-induzierte Nebenwirkungen in Kauf zu nehmen waren. Heutzutage gibt es dagegen Liganden mit vorwiegend peripherem Angriffspunkt. Zwei Vertreter dieser Klasse, das Diphenoxylat (Reasec) und das Loperamid (Imodium) weisen, im therapeutischen Dosisbereich eingesetzt, eine ausgesprochen schlechte Bluthirn-Passage auf, sodass zentrale Wirkungen, wie sie sonst allen anderen Opioiden eigen sind, nicht nachzuweisen sind. Die Wirkung erstreckt sich nur auf eine Hemmung der intestinalen HypermotilitaÈt und Hypersekretion.

. Abb. 30-2. Schematische Darstellung der Wirkung peripher wirkender Opioide im Rahmen Therapie von Durchfall

30

340

Kapitel 30  Opioide mit peripherem Angriffsort ± klinische Bedeutung

30.2

Opioidantagonisten zur Umkehr der Obstipation im Rahmen der Therapie chronischer Schmerzen

Eines der vorherrschenden Probleme bei der Therapie chronischer Schmerzen mit Opioiden ist die Obstipation. Sie unterliegt, im Gegensatz zur Ûbelkeit, zum Schwindel und zur Sedierung, im Laufe einer langfristigen Therapie keiner Toleranzentwicklung [6]. Dies bedeutet, dass mit einer Opioidtherapie gleichzeitig auch ein Laxans verabreicht werden sollte. Obgleich die Obstipation durch eine Besetzung der Opioidrezeptoren im Plexus myentericus Auerbachii und die daraus resultierende Propulsionshemmung zu erklaÈren ist, hat sich der Einsatz eines oralen Opioidantagonisten wie z. B. Naloxon nicht bewaÈhrt. Weil hiermit gleichzeitig die wuÈnschenswerte Analgesie verringert wurde [7, 8] und der antiobstipierende Effekt sehr uneinheitlich war [9, 10], ist die praktische Anwendung aufgegeben worden. Eine LoÈsung dieses Problems stellte die Entwicklung von nur peripher wirkenden Opioidantgonisten dar, die nicht in der Lage sind, die BlutHirn-Schranke zu durchdringen und die Analgesie umzukehren [11]. In der Entwicklungsphase II bzw. III befinden sich 2 selektiv-peripher wirkende Opioidantagonisten, die nicht in der Lage sind, die Blut-Hirn-Schranke zu durchdringen und die die Analgesie nicht antagonisieren koÈnnen. Aus der Entwicklung sind 2 m-selektive und peripher wirkende Opioidantagonisten, die nach ersten Untersuchungen erfolgreich die Umkehr einer opioidbedingten Obstipation einleiten konnten, hervorgegangen. Diesen Vorteil wies nicht nur Methylnaltrexon [12], sondern auch der PiperidinabkoÈmmling Alvimopan auf [13, 14]. Aufgrund ihrer polaren Ladung und ihres hohen molekularen Gewichts sind beide Substanzen nicht in der Lage, einerseits die Blut-Hirn-Schranke zu durchdringen und andererseits uÈber den Gastrointestinaltrakt resorbiert zu werden. In beiden FaÈllen zeigten pharmakokinetische Daten, dass der Umkehreffekt lokal im Darm stattfindet und nicht uÈber das ZNS vermittelt wird. Zwischen beiden Substanzen besteht insofern ein Unterschied, als dass Methylnaltrexon auch parenteral verabreicht werden kann, waÈhrend Alvimopan nur als orale Formulierung zur VerfuÈgung steht und systemisch fast keine Wirkung entfaltet [15]. Aus diesen pharmakologischen Unterschieden koÈnnten sich auch einige Unterschiede in den Indikationsbereichen ergeben. Bei systemischer Resorption koÈnnen auch einige der sonst unter

Opioidgabe auftretenden Wirkungen wie Pruritus und Harnretention antagonisiert werden. Beide Pharmaka befinden sich in der Zulassungsphase fuÈr den postoperativen Einsatz [12] und zur Therapie der Obstipation bei Schmerzpatienten, die unter langfristiger Opioidtherapie stehen. 30.2.1 Peripher selektive Opioidantago-

nisten zur Umkehr opioidbedingter Nebenwirkungen

WaÈhrend Pruritus nur eine unangenehme Nebenwirkung darstellt, ist die Obstipation eine stark beeintraÈchtigende Folge der Opioidbehandlung. Es konnte in einer Metaanalyse bei uÈber 2500 Patienten mit langfristiger oraler Opioideinnahme eine morphinbedingte Obstipation bei 48 % der Patienten mit terminalen Schmerzen und gleichzeitig begleitenden VerwirrtheitszustaÈnden beobachtet werden [17]. Diese Nebenwirkungen veranlassten die Patienten, eine ErhoÈhung ihrer Morphindosis bis zur ausreichenden SchmerzunterdruÈckung abzulehnen [18]. Hieraus kann gefolgert werden, dass periphere Opioidantagonisten ein groûes therapeutisches Potenzial haben, weil ein solches Pharmakon in der Lage ist, diese den Patienten in seiner LebensqualitaÈt stark einschraÈnkende Nebenwirkung vollstaÈndig zu eliminieren. In der Folge lieûe sich neben einer Einsparung zusaÈtzlicher Behandlungskosten und Behandlungszeiten [19] insbesondere die Compliance des Patienten steigern [20]. Weiters ist ein postoperativer Ileus eine schwerwiegende postoperative Komplikation bei Patienten nach abdominellen Eingriffen. Intra- und/oder postoperativ verabreichte m-spezifische Opioide, die am peripheren Opioidrezeptor binden, steigern diese Komplikationsrate. Naloxon als Antagonist ist hierfuÈr keine ausreichende LoÈsung, weil es uÈber die Blut-Hirn-Schranke in das ZNS eindringt und eine Analgesie umkehrt. Deswegen stellen Alvimopan (Entrareg, Fa. GlaxoSmithKline) und Methylnaltrexon (Progenics/Wyeth Pharmaceuticals) als selektiv-periphere Antagonisten eine echte Alternative dar [21], die in naher Zukunft Marktreife erlangen sollen. Der selektiv-peripher wirkende Opioidantagonist Methylnaltrexon (. Abb. 30-2) ist ein quarternaÈrer AbkoÈmmling der Opioidantagonisten Naltrexon, der aufgrund seiner zusaÈtzlichen Methylgruppe nicht in der Lage ist, die Blut-HirnSchranke zu uÈberwinden [22] Die Substanz ist bei der amerikanischen und der europaÈischen ZulassungsbehoÈrde nach Abschluss der Phase-III-

341

30.2  Opioidantagonisten zur Umkehr der Obstipation

a

b N

CH3

CH2

+

HO

O

O

Studien zur Genehmigung eingereicht. UrspruÈnglich von Leon Goldstein fuÈr die Umkehr einer bei Krebspatienten opioidinduzierten Obstipation entwickelt, steht sie bald fuÈr alle Patienten zur VerfuÈgung, die Opioide zur Therapie akuter und/oder chronischer Scherzen erhalten. In mehreren randomisierten, doppelblinden, Placebo-kontrollierten Studie konnte die orale Gabe von Methylnaltexon die morphinbedingte VerlaÈngerung der gastrozaÈkalen Transitzeit dosisabhaÈngig verkuÈrzen, ohne dass der analgetische Effekt beeintraÈchtigt wurde (. Abb. 30-4). Obgleich der akute Effekt von Opioiden auf die gastrointestinale MotilitaÈt vollstaÈndig durch Methylnaltrexon aufgehoben werden konnte, stellen die moÈglichen Auswirkungen bei OpiatabhaÈngigen ein anderes Problem dar. Hierzu wurde 22 Patienten, die sich zur Therapie ihrer OpiatabhaÈngigkeit einem Substitutionsprogramm mit Methadon unterzogen und die unter einer chronischen Obstipation litten, Methylnaltrexon intra-

140 130 120 110

Kontrolle

Morphin

+ MNTX 19.2

+MNTX 6.4

+MNTX 21

+MNTX 0.7

%-Änderung der oro-cökalen Transitzeit

150

90

A

B

C

D

E

F

80

CH2

O

HO

O

100

N

HO

HO

30

. Abb. 30-4. Dosispropotionale Abnahme der morphinbe-

dingten MotilitaÈtshemmung des Darms durch Methylnaltrexon (0,7, 2,1, 6,4, oder 19,2 mg/kg KG) zur Kontrolle (ˆ100), dargestellt an der orozaÈkalen Transitzeit bei Probanden. (Nach [25])

. Abb. 30-3a, b. Molekulare Struktur des Opioidantagonisten Naltrexon (a) and seines AbkoÈmmlings Methylnaltrexon (b), einem selektiv-peripheren Antagonisten, der nicht in der Lage ist de Blut-Hirn-Schranke zu uÈberwinden

venoÈs verabreicht. Obwohl sich die orozaÈkale Transitzeit nach der Injektion deutlich verkuÈrzte, zeigte keiner der Probanden Anzeichen eines akuten Entzugs, wie er normalerweise nach Verabreichung eines potenten Opioidantagonisten wie Naltrexon auftreten wuÈrde [12]. Die unterschiedlichen Angriffspunkte von Methylnaltrexon (0.4 mg/kg KG) konnten zusaÈtzlich bei Probanden dokumentiert werden, indem der Antagonist die morphinbedingte Obstipation vollstaÈndig umkehrte, jedoch eine uÈber zentrale Bindungsstellen ausgeloÈste Analgesie (»cold-pressure test«) nicht aufhob [23, 24]. Hieraus kann abgleitet werden, dass die gastrointestinale Hemmung der MotilitaÈt durch Opioide beim Menschen besonders spezifisch auf Methylnaltrexon reagiert. Auch konnte hiermit gezeigt werden, dass der Applikationsweg von Bedeutung ist. Denn nach intravenoÈser Gabe trat der antagonistische Effekt schon nach 15 min auf, waÈhrend nach oraler Gabe bis zu 5 h bis zur Aufhebung der Obstipation vergingen [22]. Erste Untersuchungen zur moÈglichen Umkehr weiterer peripherer Opioidwirkungen wie Juckreiz und Harnretention durch Methylnaltrexon nach intrathekaler Opioidgabe bei Patienten sind noch nicht abgeschlossen. Auch fuÈr den weiteren peripher wirkenden Opioidantagnisten Alvimopan (Entrareg, . Abb. 30-5) konnten klinische Ergebnisse eine selektive Hemmung am gastrointestinalen Opioidrezeptor dokumentieren. Klinische Daten wiesen fuÈr Alvimopan insofern eine selektive Hemmung am gastrointestinalen Opioidrezeptor nach, indem die HaÈufigkeit eines postoperativen Ileus signifikant gesenkt werden konnte [26]. Des Weiteren konnte bei Probanden nach intravenoÈser Gabe von Morphin (0,05 mg/kg KG) eine im Vergleich zur Kontrollgruppe nachweisbare VerlaÈngerung des oro-coÈkalen Transits durch 4 mg Alvimopan erfolgreich verhindert werden. WaÈhrend Morphin die Transitzeit von 69e33 auf 103e37 min (pˆ0,005) ver-

342

Kapitel 30  Opioide mit peripherem Angriffsort ± klinische Bedeutung

CH3 HO

O

H N

N

OH

H3C O . Abb. 30-5. Molekularstruktur des selektiv-peripheren

Opioidantagonisten Entereg, der als PiperidinabkoÈmmling eine hohe AffinitaÈt zum Opiat-m-Rezeptor hat; aufgrund seiner groûen molekularen Struktur kann er jedoch die Blut-HirnSchranke nicht uÈberwinden

laÈngerte, konnte Alvimopan diese wieder zu Kontrollwerten fuÈhren (. Abb. 30-6). In einer randomisierten kontrollierten Studie an 78 Patienten nach Abdominaleingriffen (15 Patienten mit partieller Kolektomie; 63 Patientinnen nach Hysterektomie) konnten sowohl die Zeit bis zum Einsetzen der ersten DefaÈkation als auch die Zeit bis zur Entlassung nach der Gabe von 1 bzw. P = 0,005

P = 0,004 N = 14

100 80 60

. Tabelle 30-1. Unterschiedliche BindungaffinitaÈten

verschiedener Opioidantagonisten nach ihren VerdraÈngungspotenzen, wobei ein hoher Ki-Wert auf eine niedrige AffinitaÈt und ein niedriger Ki-Wert auf eine hohe AffinitaÈt hinweisen. (Nach [28])

40 20 0 Kontrolle

Morphin + Plazebo

Morphin + Alvimopan

. Abb. 30-6. Verhinderung einer morphininduzierten Ver-

laÈngerung der orozaÈkalen Transitzeit durch Alvimopan, dargestellt mit Hilfe des Laktulose-H2-Exhalationstests. (Nach [13])

Antagonist

Ki [nM]

Alvimopan MNTX Naltrexon

0,44 26 3.3

Nausea

Emesis

70% 60%

30%

P = 0,003

40% 30% 20%

Inzidenz

25%

50% Inzidenz

30

oro-cökale Transitzeit (Min ± SEM)

120

6 mg Alvimopan signifikant verkuÈrzt werden [16]. ZusaÈtzlich wurde, neben einer Umkehr der Obstipation, die HaÈufigkeit von potsoperativer Ûbelkeit und Erbrechen (PONV) bei den Patienten, die zur postoperativen Schmerztherapie ein Opioid erhalten hatten, signifikant verringert (. Abb. 30-7). Beide selektiv wirkenden peripheren Opioidantagonisten unterscheiden sich deutlich bezuÈglich ihrer AffinitaÈt zum Opioidrezeptor (. Tabelle 30-1). FuÈr Alvimopan koÈnnte, wegen seiner hoÈheren BindungsaffinitaÈt zum Rezeptor, schon die Verabreichung vor der Gabe von wirkpotenten Opioiden wie Buprenorphin oder Sufentanil Vorteile bringen. Hierdurch lieûen sich periphere Nebenwirkungen schon im Vorfeld erfolgreich blockieren. Andererseits weisen erste In-vitro-Daten auf moÈgliche zukuÈnftige Anwendungsgebiete fuÈr MNTX hin. Denn waÈhrend nachweislich Morphin ein Tumorwachstum bei der Maus foÈrdert [29], konnte dieser Effekt durch Methylnaltrexon erfolgreich gehemmt werden. UrsaÈchlich wird hierfuÈr der fuÈr ein Tumorwachstum relevante Wachstumsfaktor (»vascular growth factor«; VEGF) gehemmt (. Abb. 30-8), ohne den eine GefaÈûversorgung zu weiterem Tumorwachstum nicht moÈglich ist. Nach Zusatz von MNTX wies der fuÈr die Angiogenese notwendige Mediator VEGF eine Hemmung

20%

P = 0,026

15% 10% 5%

10% 0%

0% Plazebo

1 mg

6 mg

Plazebo

1 mg

6 mg

. Abb. 30-7. Verringerung der HaÈufigkeit von Ûbelkeit und Erbrechen bei Patienten nach Hysterektomie oder Kolektomie durch den peripheren Opioidantagonisten Alvimopan. (Nach [27])

343

30.3  Bedeutung peripherer Opioidrezeptoren bei chronischen EntzuÈndungen

30

VEGF Morphin DAMGO 1

VEGF Rezeptor 1

MNTX

(-)

Mu Opioid Rezeptor Src

2

pY

pY

Transaktivierung

MNTX

VEGF Rezeptor 2

(-) 3

RhoA

MNTX 4

Angiogenese

(-)

. Abb. 30-8. Schema zur Wechselwirkungen von Methylnaltrexon (MNTX) nach Opioidgabe auf eine Tumorangiogenese.

Morphin induzieret nach Bindung am Rezeptor (1) uÈber die Zwischenstufe Src (2), die AktivitaÈt der Tyrosinkinase pY und den fuÈr eine Zellsprossung notwendige VEGF (»vascular growth factor«) mit Expression des kleinen G-Proteins RhoA (3). Diese Angiogenese (4) kann durch den Antagonisten MNTX gehemmt werden. (Nach [30])

auf, ein Effekt der auf zellulaÈrer Ebene stattfindet und der unabhaÈngig von der Vorausgabe eines Opioids stattfindet [30]. 30.3

Bedeutung peripherer Opioidrezeptoren bei chronischen EntzuÈndungen

Die Beteiligung peripherer Opioidrezeptoren an der Vermittlung von Schmerzafferenzen konnte im chronischen EntzuÈndungsmodell der Rattenpfote dokumentiert werden [31, 32]. So war eine durch Opioide unterdruÈckbare und durch Naloxon antagonisierbare Schmerzafferenz, die uÈber periphere Opioidrezeptoren vermittelt wird, am EntzuÈndungsmodell auch immunhistochemisch nachweisbar. Es ist nachgewiesen, dass bei peripheren EntzuÈndungen Peptide mit Opioidcharakter aus den Immunzellen freigesetzt werden, die anschlieûend an peripheren Rezeptoren sensorischer Nerven in der Synovia binden und entzuÈndungsbedingte Schmerzen hemmen. Es lag nahe, diese Ergebnisse auch auf den postoperativen Schmerz nach Arthroskopie zu uÈbertragen. Hierbei induzierte Morphin, in den Gelenkspalt appliziert, eine im Vergleich zur Kontrolle gute Analgesie, waÈhrend die intraartikulaÈre Naloxoninjektion zu einem hoÈheren Schmerzscore fuÈhrte [33].

Diese Ergebnisse konnten von anderen Arbeitsgruppen nicht bestaÈtigt werden [34]. Auch brachte die intraartikulaÈre Injektion einer Kombination von Bupivacain mit Morphin keine eindeutigen Vorteile [35]. Zum gegenwaÈrtigen Zeitpunkt stellt die routinemaÈûige Installation von Morphin in das Gelenk nach Operationen nur eine MoÈglichkeit dar; eine generelle Empfehlung laÈsst sich hieraus nicht ableiten. Andererseits ist zu vermuten, dass es bei einer Applikation eines Opioids in das Gelenk zu einer Resorption mit Verteilung im Organismus kommt, sodass eine zentral induzierte analgetische Wirkung nicht voÈllig auszuschlieûen ist. Weil jedoch periphere Opioidbindungsstellen bei chronischen EntzuÈndungen, wie z. B. bei allen Erkrankungen des rheumatischen Formenkreises, entstehen, muss die Vorbedingung einer chronischen EntzuÈndung vorliegen, damit sich uÈberhaupt opioidaÈhnliche Rezeptoren ausbilden. So sind Opioidrezeptoren in entzuÈndetem Gewebe und auf Immunzellen (Lymphozyten, Mastoidzellen, Monozyten) sowie im peripheren sensorischen Nerv nachgewiesen worden, EntzuÈndungszellen, die auch bei der Bildung endogener Opioidpeptide beteiligt sind (. Abb. 30-9). Es sind die EntzuÈndungszellen, aus denen Peptide mit opioidaÈhnlicher Wirkung nach Bindung mit EntzuÈndungsmediatoren (Interleukin) freige-

344

Kapitel 30  Opioide mit peripherem Angriffsort ± klinische Bedeutung

. Abb. 30-9. Bildung endogener Opioide aus EntzuÈndungszellen, die an im Spinalganglion gebildeten Opioidrezeptoren

± nach Wanderung entlang peripherer Nervenfasern zu ihren Endaufzweigungen ± binden

30

setzt werden, sodass hierdurch eine analgetische Wirkung zu erklaÈren ist. Voraussetzung fuÈr eine periphere Opioidwirkung ist somit immer die vorangegangene EntzuÈndung, die maûgeblich an der Expression peripherer Opioidbindungsstellen beteiligt ist. Erst dann kann uÈber diese Bindungsstellen eine Analgesie ausgeloÈst werden. Ob die analgetische Wirkung zusaÈtzlich noch uÈber eine lokale Hemmung der Prostaglandinsynthese vermittelt wird, bleibt noch zu klaÈren. Immerhin konnte am EntzuÈndungsmodell der Rattenpfote die lokale antinozizeptive Wirkung verschiedener

m- und k-spezifischer Opioide gezeigt werden (. Tabelle 30-2), wobei in AbhaÈngigkeit vom Liganden eine unterschiedliche WirkstaÈrke nachzuweisen war [36]. Obgleich klinische Ergebnisse zur peripheren Anwendung von Opioiden recht widerspruÈchlich sind [37]und periphere Opioide klinisch zum momentanen Zeitpunkt keine Bedeutung haben [38], hat jedoch die bei EntzuÈndungsprozessen nachgewiesene Manifestation einer Opioidwirkung eine Bedeutung, der es gilt, mit selektiv peripher wirkenden Liganden Eingang in die Klinik zu verschaffen.

. Tabelle 30-2. Die bei der Freisetzung peripherer endogener Opioide beteiligten Vorstufen endogener Opioide, die

daran beteiligten Immunzellen und die unterschiedlichen BindungsaffinitaÈten von Liganden an den EntzuÈndungszellen. (Mod. nach [36])

Chronifizierte EntzuÈndung p Aktivierung ruhender Immunzellen wie T- und B-Lymphozyten Monozyten und Makrophagen

induzieren die Freisetzung von Vorstufen endogener Opioide wie Proenkephalin p Enkephalin (m-spezifisch) Prodynorphin p Dynorphin (k-spezifisch)

mit folgender abnehmender BindungsaffinitaÈt synthetischer Liganden DAMGO p Tifluadom p Morphin p DPDPE, U50,488H p (‡)Morphin, (±)Tifluadom

und mit folgender Antagonisierbarkeit Naloxon (m-, d-, k-Rezeptorantagonist) CTOP (selektiver m-Antagonist) Nor-BNI (selektiver k-Antagonist) DAMGO selektiver Agonist fuÈr den m-Rezeptor; DPDPE selektiver Agonist fuÈr den d-Rezeptor; U50,488H selektiver Agonist fuÈr den k-Rezeptor.

31 Endogene Opioide (Endorphine, Enkephaline) sowie Exorphine (exogene Opioidpeptide) und b-Caseomorphine 31.1

Endogene Opioide: Endorphine, Enkephaline ± 345

31.1.1

NatuÈrliche Liganden der Rezeptorsubpopulationen ± 347 Kontrolle der Hypophysenhormone uÈber Endorphine ± 348 Endorphine in der Schmerztherapie ± 349 Endorphine und psychische/neurologische StoÈrungen ± 351

31.1.2 31.1.3 31.1.4

31.1

Endogene Opioide: Endorphine, Enkephaline

Die endogenen Opioide haben aller Wahrscheinlichkeit nach eine entwicklungsgeschichtlich entscheidende Bedeutung beim Ûberlebenskampf erlangt. Denn bei den unter einer Belastungssituation ausgeloÈsten Reaktionen des protektiven Systems sind endogene Opioide in der Lage, diese zu blockieren, wenn sie zum Ûberleben (Flucht oder Kampf) des Individuums nur hinderlich sind: Schmerzen Husten Stuhldrang Harndrang Hyperventilation Hypertonie Hyperthermie Angst (Blockade des Intellekts) Mydriasis Tachykardie

Analgesie Hustenblockade Obstipation Harnretention Bradypnoe Hypotonie Hypothermie Euphorie Miosis Bradykardie

Opioidpeptide sind als die natuÈrlichen Liganden der Opioidrezeptoren anzusehen. Die Enkephaline koÈnnen als eine Art von Neurotransmitter eingestuft werden, die, neben der Verhaltensregulation und der Sezernierung von Hypophysenhormonen, eine wichtige Rolle bei der Verarbeitung von Schmerzimpulsen spielen. Øhnlich wie die klassischen Opioide setzen sie sich an die ihnen zugedachten Rezeptoren, wodurch es zu einer Blockade in der Weiterleitung der sensorischen Afferenz

31.2

Exorphine (exogene Opioidpeptide) und b-Caseomorphine ± 354

kommt. Trotz der scheinbar so differenten chemischen Struktur der Opioidpeptide wird bei entsprechender raÈumlicher Faltung erkennbar, dass z. B. das Metenkephalin mit der AminosaÈurensequenz Tyrosin-Glycin-Glycin-Phenylalanin-Methionin Øhnlichkeiten mit Morphin und dem Antagonisten Naloxon aufweist. So ist der endstaÈndige Parahydroxyphenylrest von Tyrosin dem aromatischen Ring des Morphins recht aÈhnlich. Der freie Stickstoff des Tyrosins liegt dem Ring ebenfalls gegenuÈber, wie dies beim basischen Stickstoff der Morphinomimetika eine Vorbedingung fuÈr ihre Opioidwirkung ist. Auch ist der freie Ring des Phenylalanins dem Ring starkwirkender Analgetika wie Fentanyl und Buprenorphin recht aÈhnlich (. Abb. 31-1). Hieraus kann gefolgert werden, dass AminosaÈuresequenzen, wie sie bei den Opioidpeptiden anzutreffen sind, mit der gleichen Rezeptorgruppe wie die Alkaloide interagieren (. Tabelle 31-1). Die Peptide weisen nur den groûen Unterschied auf, dass sie sofort nach ihrer Entstehung durch Aminopeptidasen abgebaut werden, wodurch eine Tachyphylaxie und AbhaÈngigkeitsentwicklung verhindert werden. Ein weiteres endogenes Opioid ist das aus 31 AminosaÈuren bestehende b-Endorphin. Es ist TeilstuÈck des in der Hypophyse nachweisbaren, aus 91 AminosaÈuren bestehendem b-Lipotropins, das eine Rolle beim Fettmetabolismus spielt. Bemerkenswert ist hierbei, dass b-Lipotropin in seiner Sequenz 61±91 das b-Endorphin repraÈsen-

346

Kapitel 31  Endogene Opioide sowie Exorphine und b-Caseomorphine

. Abb. 31-1. Molekulare Struktur des Agonisten Morphin, des Antagonisten Naloxon und des endogenen Opioids Metenke-

phalin. Zu beachten ist die bei allen 3 Substanzen wiederkehrende Ringstruktur mit den Doppelbindungen, die in Parastellung am Ring haÈngende Hydroxylgruppe und das im konstanten Abstand zum Ring stehende Stickstoffatom

31

. Abb. 31-2. AminosaÈuresequenzen verschiedener endogener Opioide im Vergleich zu ACTH, das ebenfalls aus einer

gemeinsamen Vorstufe, dem Proopiomelanocortin (POMC), stammt

. Tabelle 31-1. Relative AffinitaÈt ( %) einiger Opioidpeptide zu den verschiedenen Rezeptorpopulationen. (Nach [247])

Opioid

m

d

k

Leu-Enkephalin Met-Enkephalin b-Endorphin Dynorphin 1±8 Dynorphin 1±9 Dynorphin1±17

56 9 52 22 6 13

94 91 47 17 6 4

± ± 1 61 88 83

tiert, ein endogenes Opioid das vornehmlich mit dem m-Rezeptor interagiert (. Abb. 31-2). b-Endorphin hat im Vergleich zu den Enkephalinen eine ausgepraÈgtere analgetische Wirkung beim Tier. Die AminosaÈurensequenz von Lipotropin 61±76 findet sich beim a-Endorphin, das ebenfalls analgetische WirkqualitaÈten besitzt, waÈhrend die Sequenz 61±65 mit dem Metenkephalin identisch ist. Metenkephalin findet sich in nachweisbaren Konzentration im Gehirn, im RuÈckenmark und Intestinum. Schlieûlich ist noch die Sequenz

347

31.1  Endogene Opioide: Endorphine, Enkephaline

41±58 zu erwaÈhnen, die als b-Melanotropin in der Hautpigmentierung eine Rolle spielt. Weil die endogenen Opioide mit unterschiedlicher AffinitaÈt auch an den verschiedenen Opioidrezeptoren binden (. Tabelle 31-1), wird ihnen eine unterschiedliche physiologische Bedeutung zuteil, die im Einzelnen jedoch noch nicht geloÈst ist. Im Normalfall liegt ein niedriger endorphinerger Basaltonus im Organismus vor, d. h. dass unter Normalbedingungen nur wenig oder kein Endorphin ausgeschuÈttet wird. Das schmerzmodulierende System wird erst bei Stress und Schmerz aktiviert. 31.1.1 NatuÈrliche Liganden der Rezeptor-

subpopulationen

Øhnlich den synthetischen Opioiden koÈnnen den unterschiedlichen Rezeptorpopulationen m, d, k auch gesondert endogene Liganden zugewiesen werden, die sich in ihrer Funktion voneinander unterscheiden (. Tabelle 31-2). Die in die Rezeptoren der Zellmembran (das SchluÈsselloch) sich einlagernden ProteinmolekuÈle (der SchluÈssel) passen nur dann, wenn eine entsprechende Raumstruktur vorliegt. Hierbei zerfallen die endogenen Opioide in drei strukturell verwandte Gruppen, naÈmlich das b-Endorphin, die Enkephaline und die Dynorphine. Alle drei gehen aus drei laÈngeren KettenmolekuÈlen, dem Proopiomelanocortin, Proenkephalin und dem Prodynorphin hervor, die enzymatisch auf die endguÈltige LaÈnge gekuÈrzt werden. Mit Hilfe von radioimmunologischen und immunhistochemischen Methoden wurden in den

31

verschiedenen Arealen des ZNS aber auch in KoÈrperorganen unterschiedliche Konzentrationen von endogenen Opioidpeptiden nachgewiesen. So konnten hohe Konzentrationen von b-Endorphin im Vorder- und Hinterlappen der Hypophyse nachgewiesen werden [163]. Des Weiteren fanden sich hohe Konzentrationen im Nucleus amaygdalae und im periaquaÈduktalen Grau, dessen ZellkoÈrper sich im Hypothalamus befinden. Dies weist auf die Bedeutung endogener Opioide in der nozizeptiven Verarbeitung afferenter Schmerzimpulse hin. Auûer im zentralen Nervensystem findet sich eine ImmunreaktivitaÈt im Pankreas, in der SchilddruÈse, in den Mastzellen und im Gastrointestinaltrakt [164]. Die Verteilung der Enkephaline in den verschiedenen Organsystemen dagegen ist breiter gestreut. Im Gastrointestinaltrakt sind hohe Konzentrationen, insbesondere im Duodenum und Ileum nachweisbar, waÈhrend im ZoÈkum und Kolon die Konzentrationen geringer sind [165]. Leu- und Metenkephalin finden sich aber auch in der Mukosa des Magens und im Pankreas des Menschen [166], in den sympathischen Ganglien, in den Zellen des Glomus Caroticus [167] und in der Nebenniere [168, 167]. Das k-selektive Peptid Dynorphin weist dagegen eine hohe Konzentration im ventralen und dorsalen Horn des RuÈckenmarks auf. Dies wird durch die unterschiedliche Verteilung der Opioidrezeptoren bei der periduralen Applikation von Opioiden unterstrichen, von denen 40 % auf den m-Typ, 50 % auf den k-Typ und 10 % auf den d-Typ entfallen [169, 170]. Immunhistochemische Nachweise fuÈr Dynorphin liegen aber auch fuÈr den Hypothalamus, das zentrale HoÈhlengrau, den Nucleus amygdalea, den

. Tabelle 31-2. Die Opioidrezeptorpopulationen, ihre endogenen Liganden und die dazugehoÈrigen synthetischen Agonisten und Antagonisten. (Nach [158±164, 259±264])

Opioidrezeptor

Endogener Ligand

Agonist

Antagonist

m

b-Endorphin Met-Enkephalin

k

Dynorphin (1±17)

Morphin Fentanyl Sufentanil Alfentanil U-50,488H Bremazocin U-69,593

d

Leu-Enkephalin

s

Sigmaphen b-Endopsychosin

Naloxon Naltrexon Nalmefen b-Funaltrexamin Mr 2266 Naloxon Win 44,441±3 Nor-Binaltorphimin ICI 174,864 Naltrindol Naltriben ?

DPDPE BW-373U86 Deltorphin II SKF 10,047 Phencyclidin Ketamin

348

Kapitel 31  Endogene Opioide sowie Exorphine und b-Caseomorphine

Raphekernen, das limbische System und die Nebenniere vor [171, 172]. Auf eine moÈgliche physiologische Funktion von Dynorphin bei der Regulation des Blutdrucks weisen der unterschiedliche Konzentrationen in Hirnnervenkernen und Hypophyse bei normotonen und spontan hypertonen Ratten hin [173]. 31.1.2 Kontrolle der Hypophysenhormone

uÈber Endorphine

31

Da sowohl die b-Lipotropin-produzierenden Zentren im Hypothalamus als auch die Hypophyse durch eine dichte Anreicherung von Opioidbindestellen charakterisiert sind [174], ist es nicht verwunderlich, dass sowohl Endorphine als auch die synthetischen Opioide die Sezernierung einer Reihe von Hormonen beeinflussen. Alle die Hormone wie FSH, LH, STH und TSH haben ihren Ausgangsort in der Hypophyse [175±177]. Ein gemeinsamer VorlaÈufer aller dieser Opioidpeptide ist das Proopiomelanocortin (POMC), das aus 256 AminosaÈuren besteht und aus dem sich der Organismus nach Bedarf, mit Hilfe von Peptidasen, unterschiedliche Peptidketten herausbricht. So ist z. B. ACTH, b-Endorphin, Corticotropin, a-Lipotropin, b-Lipotropin, und das a-b-Melanozyten-stimulierendes Hormon im POMC enthalten, wobei einige dieser Peptidketten fuÈr den normalen Schlaf-Wach-Rhythmus von Bedeutung sind (. Abb. 31-3). Die langkettige Ausgangssubstanz, das POMC, das in speziellen Zellen des Hypothalamus und der Hypophyse gespeichert wird, ist der Pool, aus

dem Untergruppen von Opioidpeptiden entnommen werden. Und weil die Verteilung der verschiedenen Opioidpeptide sowohl im ZNS als auch in den sympathischen Ganglienzellen, dem Gastrointestinaltrakt und in den Nebennieren recht unterschiedlich ist, kann daraus die Regulierung der verschiedensten physiologischen Funktionen abgeleitet werden. Die Forschung ist dagegen noch nicht so weit, um den einzelnen Peptiden gewisse physiologische Funktionen zuordnen zu koÈnnen. Neben dem POMC existieren noch 2 weitere PeptidpraÈkursorsysteme (. Tabelle 31-3), die nach ihrer Bildung in Neuronen gespeichert und auf Reize wie Stress, Schmerz und Verletzung freigesetzt werden, um den Schmerz zu daÈmpfen und verschiedene Verhaltensanpassungen zu bewirken. Neben der analgetischen Wirkung besitzen diese Endorphine aber auch euphorisierende und sedative Eigenschaften, wie sie von den exogenen Opioiden her bekannt sind. WaÈhrend die analgetische Wirkung von b-Endorphin aller Wahrscheinlichkeit nach durch Bindung am m-Rezeptor erreicht wird, binden die Derivate von Proenkephalin B, das Dynorphin am k-Rezeptor. FuÈr die selektive Bindung am d-Rezeptor zeichnen sich dagegen die Enkephaline Met- und Leu-Enkephalin verantwortlich. Die Bedeutung der hypophysaÈren Neuropeptide zeigt sich nicht nur in einer Zunahme bei der Akupunktur und einer daraus resultierenden schmerzlindernden Wirkung; auch scheinen konventionelle Analgetika, wie z. B. die nichtsteroidalen Analgetika neben ihren peripheren Wirkung, zusaÈtzlich das endogene Opioidsystem zu aktivieren.

. Abb. 31-3. Die Beziehung zwischen Hypothalamus,

Hypophyse, Hypophysenhormonen und Opioidpeptiden (ACTH adrenokortikotropes Hormon, LPH lipotropes Hormon, EP b-Endorphin, MSH melanozytenstimulierendes Hormon, STH somatotropes Hormon, GH gonadotropes Hormon, LH luteotropes Hormon, FSH follikelstimulierendes Hormon, TRH »thyreotropin releasing hormone«, GHRF »growth hormone releasing factor«, b-ERF »b-endorphin releasing factor«, PRL Prolaktin, CRF »corticotropin releasing factor«)

31.1  Endogene Opioide: Endorphine, Enkephaline

349

31

. Tabelle 31-3. Die verschiedenen PraÈkursorsysteme und die daraus freigesetzten aktiven endogenen Opioide

Propeptid

Aktives Neuropeptid

Anzahl der AminosaÈuren

Proopiomelanocortin Proenekphalin A

b-Endorphin g-Endorphin Leu-Enkephalin Met-Enkephalin Dynorphin a-Neoendorphin Rimorphin

31 17 5 5 17 10 13

Proenkephalin B

31.1.3 Endorphine in der Schmerztherapie Die physiologische Bedeutung der Opioidpeptide ist ihre bei der Flucht- und/oder Kampfreaktion einsetzende protektive Wirkung, indem bei Stress oder bei Schmerz die Achse Kortex-Hypothalamus-Nebenniere aktiviert wird, und es zu einer Freisetzung von ACTH und b-Endorphin kommt [178]. Die Bedeutung von b-Endorphin in der Schmerzverarbeitung wird durch erhoÈhte bEndorphinkonzentrationen und Schmerzbefreiung unter elektrischer Reizung des zentralen HoÈhlengraus [179, 180, 248] und durch intrathekale bEndorphinapplikation (3 mg) mit einer im Mittel 33 h lang anhaltenden Analgesie bei chronischen Schmerzen unterstrichen [181]. Neuere AnsaÈtze in der Therapie von Tumorschmerzen unter Aktivierung des endorphinergen Systems induzieren eine Hemmung des Enkephalinabbaus. Da die Enkephaline nur eine kurze Lebensdauer haben (Abbau durch Peptidasen),

. Abb. 31-4. Angriffsorte der 3 Enzyme, die das Methionin-

Enkephalin abbauen (Tyr Tyrosin, Gly Glyzin, Phe Phenylalanin)

wurden Substanzen entwickelt, die die enkephalinabbauenden Enzyme hemmen (. Abb. 31-4). Hierdurch wird die Wirkung des koÈrpereigenen antinozizeptiven Systems verstaÈrkt. Bekannte Wirkstoffe sind z. B. Thiorphan, welches die Enkephalinase hemmt, Bestatin das die Aminopeptidase hemmt und Kelartorphan, das die neutrale Endopeptidase, die Dipeptidyl-Aminopeptidase und die Aminiopeptidase M hemmt. Erste Ergebnisse einer intrathekalen Thiorphan/Bestatin-Applikation bei Tumorpatienten weisen jedenfalls auf eine im Vergleich zur Placebogabe bis zu 80 %igen Verbesserung der Schmerzfreiheit hin [249]. Praktisch hat sich im Rahmen der Schmerztherapie eine unter transkutaner elektrischer Nervenstimulation (TENS) induzierte Endorphinsezernierung bewaÈhrt. Hierbei wird eine nach Han entwickelte selektive »dense disperse« Stimulation eingesetzt, bei der unterschiedliche, dicht aufeinander folgende Impulse von 2 Hz und 100 Hz alternierend im 3-Sekunden-Rhythmus appliziert werden. Auf diese Weise entsteht eine Ûberschneidung, bei der endogene Neuropeptide unterschiedlicher RezeptorselektivitaÈt mit anschlieûender

. Abb. 31-5. NeuropeptidausschuÈttung und Rezeptorinteraktion unter einer sich uÈberschneidenden hoch- und niederfre-

quenten transkutanen Elektrostimulation (EM Endomorphin; ENK Enkephalin; bEP b-Endorphin; DYN Dynorphin A). Bei einer Stimulation mit 15 Hz werden sowohl nieder- als auch hochfrequente Eigenschaften mit Freisetzung von Endorphinen ausgeloÈst. (Mod. nach Han 1990 und 1991)

350

Kapitel 31  Endogene Opioide sowie Exorphine und b-Caseomorphine

unterschiedlicher Aktivierung koÈrpereigener antinozizeptiver Systeme freigesetzt werden (. Abb. 31-5). So konnte sowohl am Tier als auch beim Menschen eine Sezernierung der Neuropeptide Enkephalin, Endomorphin und b-Endorphin fuÈr den m- und d-Rezeptor unter einer 2-Hz-Stimulation nachgewiesen werden, wobei zusaÈtzlich Serotonin ausgeschuÈttet wurde. Unter einer Stimulation mit 100 Hz konnte dagegen die Freisetzung von Dynorphin A, einem selektiven Liganden fuÈr den k-Rezeptor, bei gleichzeitiger Aktivierung von Serotonin und Noradrenalin im ZNS nachgewiesen werden.

Endorphine und MigraÈne

31

Auch fuÈr die MigraÈne sind ZusammenhaÈnge mit dem endorphinergen System nachgewiesen worden. So konnte im Anfall, im Vergleich zum anfallsfreien Intervall, eine erhoÈhte AktivitaÈt der Enkephalinase im Plasma, jedoch nicht im Liquor, sowie eine erniedrigte b-Endorphinkonzentration im Liquor nachgewiesen werden. Es bestand eine Korrelation zwischen der b-Endorphinkonzentration und der Schwere des Zustandsbildes. Daher wurde vermutet, dass mit zunehmender Dysfunktion endorphinerger Neuronen eine HaÈufung und IntensitaÈtssteigerung von MigraÈneattacken zu erwarten ist [182, 183]. Diese Befunde stuÈtzen die Hypothese eines defizitaÈren Opioidsystems in der Pathogenese der MigraÈne. Denn in ihren Symptomen unterscheidet sich die MigraÈne, wie die Autoren feststellen, kaum von denen eines akuten Opioidentzugsyndroms [184]. Die Øhnlichkeit der Symptome eines idiopathischen Kopfschmerzes und eines akuten Opioidentzugs deuten darauf hin, dass ein MonoaminuÈberempfindlichkeit, ausgehend von einer Dysfunktion dopaminerger Neuronen, die im Belohnungssystem mit dem Opioidsystem gekoppelt sind, ursaÈchlich zu vermuten ist. So koÈnnen dopaminverwandte Substanzen, wie L-Dopa, Fenfluramin, Apomorphin und Bromocriptin, Symptome wie bei MigraÈnepatienten mit Brechreiz, Schmerz und einer orthostatischen Hypotonie ausloÈsen [185]. Da Endorphine und Serotonin mit im antinozizeptiven System als Transmitter eingebunden sind, loÈsen BeeintraÈchtigungen im Dopaminsystem Fehlsteuerungen im verwandten monoaminergen und endorphinergen System aus. Auch haÈngen die wetterabhaÈngigen, migraÈneartigen Kopfschmerzen mit einer meteorologisch verursachten Inaktivierung des endogenen schmerzhemmenden Systems zusammen. So zeigte

sich bei Probanden, in AbhaÈngigkeit vom Luftdruck und elektrischer AktivitaÈt der AtmosphaÈre, eine enge Beziehung zwischen AnfallshaÈufigkeit von Kopfschmerzen und einem Konzentrationsabfall von b-Endorphin im Plasma. UngeklaÈrt ist, ob sich wetterbedingte Kopfschmerzen besonders dann einstellen, wenn der Organismus bereits vorgeschaÈdigt ist, wie z. B. durch chronisch-entzuÈndliche Prozesse, ein Schlafdefizit bzw. der Organismus unter psychischer Anspannung steht [250]. Letztlich wird von einigen Arbeitsgruppen das Prinzip einer endorphinergen Mangelsituation beim MigraÈneanfall als Ansatz einer Therapie angesehen. So wird in den USA das transnasale Butorphanol (Stadol NS) als Therapie bei MigraÈneschmerzen angeboten. Immerhin weisen die Ergebnisse mit dem am k-Rezeptor angreifenden Liganden auf eine gute Kupierung von mittelstarken, starken und sehr starken MigraÈneschmerzen hin. Bei einer Wirkungsdauer von bis zu 4 h betrug die Rate der Nebenwirkungen 38 %, wobei Schwindel und Ûbelkeit im Vordergrund standen [186, 187].

Endorphine und Stress Die analgetische Wirkung der endogenen Opioide macht sich der KoÈrper besonders in Zeiten ausgedehnter Verletzungen zunutze, damit der Schmerz nicht die nach einer Verletzung einsetzende Flucht- oder Kampfreaktion laÈhmt. Dieser Stress- und Schutzmechanismus kann jedoch in einigen seltenen FaÈllen so uÈberreagieren, dass, wie bei den synthetischen Opioiden, eine Atemdepression eintritt, die mit Naloxon umkehrbar ist [188]. Aus diesem Grunde wird die Bestimmung der Konzentration des Opioidpeptids im Plasma auch gerne zum Nachweis von Stressreaktionen und deren medikamentoÈser Beeinflussung [189, 190, 191] bzw. zum Nachweis einer ausreichenden vegetativen Stabilisierung und ausreichenden Analgesie waÈhrend der Narkose herangezogen [192, 193]. Ein Neurotransmitter, dem eine besondere Aufgabe in der Schmerzverarbeitung zukommt, ist Substanz P, ein Peptid aus 11 AminosaÈuren (. Abb. 31-2). Es befindet sich in zahlreichen NeuronenverbaÈnden des ZNS und in den sensorischen Fasern peripherer Nerven. Einige dieser Neuronen liegen in den sensorischen Ganglien beiderseits der WirbelsaÈule; bei Reizung wird Substanz P an ihren Endigungen im Hinterhorn des RuÈckenmarks freigesetzt. Obgleich Enkephalin und auch die synthetischen Opioide in der Lage sind, die Freisetzung von Substanz P an dieser ersten

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31.1  Endogene Opioide: Endorphine, Enkephaline

Schaltstation der sensorischen Nervenleitung zu hemmen, so sind auch andere Transmitter (Angiotensin, Somatostatin, Cholecystokinin und GlutaminsaÈure) in sensorischen Neuronen nachgewiesen worden. Es wird weiterhin vermutet, dass Neuropeptide und Peptide mit Opioidcharakter, die unter anderem Analgesie induzieren, auch Boten des Gehirns fuÈr besondere Funktionen wie den Wasserhaushalt, das Sexualverhalten, das Schmerzempfinden, die Stimmung und sogar das GedaÈchtnis sind [156]. 31.1.4 Endorphine und psychische/

neurologische StoÈrungen

Dass Endorphine bei psychiatrischen Zustandbildern moÈglicherweise eine entscheidende Rolle spielen, hierauf verweisen nicht nur die experimentellen Ergebnisse am Tier, bei denen b-Endorphin eine naloxon-reversible kataleptische Starre ausloÈste [194]. bzw. am Patienten, bei dem Naloxon Halluzinationen aufhob [195]. Auch konnte bei Patienten der katatone Schub einer Schizophrenie mit hohen Dosen des Opioidantagonisten Naloxon (bis zu 16 mg!) erfolgreich durchbrochen werden [196]. Hieraus wurde abgeleitet, dass ein mit der katatonen Schizophrenie einhergehender massiv erhoÈhter Endorphinspiegel eine RigiditaÈt, aÈhnlich wie wirkungsstarke synthetische Opioide ausloÈst. Denn neben der Sedierung vermitteln Opioide eine muskulaÈre Starre, aus der er sich der Patient von alleine nicht loÈsen kann.

Endorphine im Rahmen psychiatrischer/ neurologischer Erkrankungen DaruÈber hinaus soll auch eine erniedrigte bzw. eine erhoÈhte b-Endorphinkonzentration mit einer Reihe manisch-depressiver ZustaÈnde und Verhaltensweisen gekoppelt sein [195±197]. Denn bEndorphin ist kein Endprodukt, sondern nur eine aktive Zwischenstufe im Zerfall von Proopiomelanocortin (POMC). Es entstehen aus POMC weitere SpaltstuÈcke wie a- und g-Endorphin, von denen das a-Endorphin dem b-Endorphin recht aÈhnlich ist. Das g-Endorphin dagegen, das nicht an den Opioidrezeptor bindet, ist aufgrund seiner Wirkungsweise eher den Neuroleptika zuzuordnen [198]. Hieraus lassen sich ÛbergaÈnge zu bestehenden Theorien uÈber die verschiedenen Formen der Schizophrenie herstellen, weil diese Krankheit schon seit einiger Zeit mit dem dopaminabhaÈngigen System in Verbindung gebracht wird. Auch ist ein Zusammenhang mit der Parkinson-Krankheit nicht auszuschlieûen, der als

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pathophysiologisches Substrat ein funktioneller Dopaminmangel im nigrostriatalen System zugrunde liegt. DaruÈber hinaus ist eine verminderte b-Endorphinkonzentration als Reaktion auf einen Stressor mit einer Reihe von emotionalen ZustaÈnden und Verhaltensweisen in Zusammenhang gebracht worden, die von depressiver Verstimmung uÈber Euphorie bis hin zur Ekstase reichen [199].

Endorphine und Bulimie Endogene Opioide und andere Peptide fuÈhren nicht nur zur Freisetzung lokaler Hormone oder Transmitter im Gehirn, sie haben auch eine Aufgabe im Gastrointestinaltrakt, in dem sie ein SaÈttigungsgefuÈhl vermitteln und hierdurch regulativ in die Nahrungsaufnahme eingreifen. Es wird deshalb vermutet, dass Adipositas und Bulimie die Folge einer AbhaÈngigkeit von koÈrpereigenen Opioiden sind, wobei ein Zuviel an endogenen Enkephalinen und/oder ein Zuwenig an Enkephalinase, einem Enzym, welches das Opioid inaktiviert, vorliegt. Der Rezeptor-Ligand-Komplex, der im Normalzustand nicht aktiv ist, unterliegt in solchen FaÈllen, aÈhnlich wie beim SuÈchtigen, einer dauernden Besetzung. Nahrung, die Antrum und Pylorus passiert, fuÈhrt zur lokalen Freisetzung von endogenen Opioiden, und uÈber enkephalinerge Bahnen im RuÈckenmark bzw. den N. vagus wird das »SaÈttigungszentrum« im limbischen System aktiviert, worauf ein SaÈttigungsgefuÈhl einsetzt, die Nahrungseinnahme wird eingestellt gefolgt von postprandialer VoÈlle und SchlaÈfrigkeit. Damit keine Abstinenzsymptome auftreten, muss der EsssuÈchtige wiederholt seine endorphinergen AktivitaÈten uÈber den Magen-Darm-Kanal stimulieren, damit eine stetige Enkephalinproduktion ausgeloÈst wird. Forschungsergebnisse, die diese Hypothese stuÈtzen, weisen mehrere ZusammenhaÈnge auf: 1. Enkephaline und/oder Endorphine besetzen im ENS des Darms und im ZNS die gleichen Rezeptoren wie Morphin. 2. Besonders im limbischen System, wo Hungerund SaÈttigungsgefuÈhl vermittelt werden, finden sich hohe Konzentrationen endogener Opioide [200]. 3. Im Gastrointestinaltrakt, besonders Ileum und Jejunum, sind hohe Konzentrationen von Enkephalinen nachgewiesen worden. 4. Endorphine machen, bei chronischer Applikation, ebenso suÈchtig wie Morphin und seine AbkoÈmmlinge.

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Kapitel 31  Endogene Opioide sowie Exorphine und b-Caseomorphine

5. FettsuÈchtige sind besonders schmerzempfindlich, weil sie auf ihre eigenen Opioide suÈchtig sind. 6. Zur ausreichenden Schmerzunterbrechung sind bei FettsuÈchtigen hoÈhere Opioiddosen notwendig, damit eine hoÈhere Besetzung der Opioidrezeptoren erreicht wird. 7. Der Opioidantagonist Naloxon kann beim Tier voruÈbergehend den Appetit reduzieren. Aus diesen Ergebnissen wurde die Therapie der Adipositas mit starkwirkenden Opioidantagonisten wie Naloxon, Naltrexon und Nalmefen abgeleitet [201, 202], die als pharmakologische ZusaÈtze in der Behandlung von EssstoÈrungen eingesetzt wurden. In einigen Studien konnte eine Abnahme der Essenaufnahme von bis zu 30 % bzw. eine Ønderung der Essgewohnheiten nachgewiesen werden [203]. Ein neuerer Opioidantagonist, der speziell bei EssstoÈrungen entwickelt wurde, ist der PhenylperidinabkoÈmmling LY 255±582, der im Vergleich zu den klassischen Opioidantagonisten beim Tier eine noch effektivere Abnahme des Verlangens nach Essen zur Folge hat [204]. Diese ersten klinischen Ergebnisse haben jedoch noch nicht zu einer Vermarktung von Opioidantagonisten im Rahmen der Therapie von EssstoÈrungen gefuÈhrt.

Endorphine und Autismus

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Beim Tourette-Syndrom und beim kindlichen Autismus wird ebenfalls eine enge Beziehung zum endorphinergen System angenommen [205]. Denn die beim Autismus charakteristische Symptomatik mit 4 fehlendem sozialem Kontakt, 4 einer geringeren Schmerzempfindung, 4 einer verzoÈgerten geistigen und physischen Entwicklung, 4 einer verminderten Artikulation, 4 einer verminderten imaginativen FaÈhigkeit, 4 einer verringerten Neugierde gegenuÈber der Umgebung wird von einigen Arbeitsgruppen einer erhoÈhten endogenen OpioidaktivitaÈt im ZNS zugeschrieben. Hieraus leitet sich die Therapie mit dem langfristig wirkenden Antagonisten Naltrexon ab, durch die einige Symptome des kindlichen Autismus vermindert wurde und eine gesteigerte Zuwendung zur Umgebung erreicht werden konnte. Des Weiteren konnte durch Naltrexon eine Beeinflussung erhoÈhter Konzentrationen von b-Endorphincarboxyl nachgewiesen werden [206, 207] und konnten im EEG-Powerspektrum die vorherrschenden langsamen AktivitaÈten durch eine Dominanz im

schnellen a-Band (8,0±12,0 Hz) dokumentiert werden. Diese durch Naltrexon indizierte kortikalen VeraÈnderungen koÈnnen im Sinne einer Arousalreaktion mit Deaktivierung interpretiert werden wobei eine damit gleichzeitig einhergehende emotionelle Aktivierung beobachtetet wurde.

Endorphine und Suchtentwicklung Des Weiteren scheint das endorphinerge System, das eng mit dem schmerzleitenden Nervensystem gekoppelt ist, auch bei der Entstehung der Sucht eine entscheidende Stellung einzunehmen. Trotz jahrzehntelangen BemuÈhens ist es bis jetzt nicht gelungen, Opioide ohne ein nennenswertes Suchtpotenzial zu synthetisieren. Und auch Endorphine koÈnnen, wie am Tier nachgewiesen worden ist, bei wiederholter Verabreichung zu Toleranz und koÈrperlicher AbhaÈngigkeit fuÈhren [208, 209]. Das limbische System scheint hierbei nicht nur fuÈr die emotionelle Verarbeitung des Schmerzes, sondern auch fuÈr die Ausbildung suÈchtigen Verhalten bedeutsam zu sein (. Abb. 31-6). Denn in sog. Selbstreizversuchen am Tier hatten hohe Reizfrequenzen uÈber Elektroden in den zum limbischen System gehoÈrenden Strukturen eine Zunahme der Reizfrequenz zur Folge, die durch niedrige Morphindosen noch weiter zunimmt, durch Naloxon jedoch verringert wurde [210]. Auch konnte nach mehrmonatiger Morphinbehandlung bei der Ratte eine z. T. starke Abnahme des Enkephalin- bzw. Endorphingehalts im limbischen System beobachtet werden [17]. Des Weiteren waren nach chronischer Gabe selektiver Liganden in spezifischen Hirnregionen am Tier einer Abnahme in der Anzahl von m- und d-Bindungsstellen nachweisbar [211, 212]. Aus den Ergebnissen wurde geschlossen, dass uÈber RuÈckkopplungsmechanismen, aÈhnlich wie bei anderen Transmittersystemen, es zu einer Verminderung der Endorphinsynthese kommt.Der daraus resultierende Endorphinmangel koÈnnte somit der wesentliche Faktor fuÈr den Opioidhunger des HeroinsuÈchtigen sein und die Ursache fuÈr eine, uÈber den akuten Entzug hinaus, nachweisbare protrahierte Abstinenzsymptomatik [213]. Eine Insuffizienz des endorphinergen Systems waÈre dann ein praÈdisponierender Faktor fuÈr suchtgefaÈhrdete Personen. Dass am AbhaÈngigkeitsgeschehen nicht nur der m-Rezeptor, sondern auch der d-Rezeptor beteiligt ist, belegen Studien, bei denen die selektive Blockade der d-Rezeptors sowohl eine Toleranz als auch eine Sucht- und AbhaÈngigkeitsent-

31.1  Endogene Opioide: Endorphine, Enkephaline

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31

. Abb. 31-6. Das limbische System, ein entwicklungsgeschichtlich alter Teil des ZNS, in dem die GefuÈhlswelt des Individuums, seine Øngste und Freuden lokalisiert sind und der Schmerz seine negative FaÈrbung erhaÈlt. Letzteres wird dadurch unterstrichen, dass im limbischen System, insbesondere im Nucleus amygdalea, Opioidbindungsstellen dicht angereichert sind

wicklung bei der Maus verhinderten [214]. Die BemuÈhungen gehen deswegen dahin, ein synthetisches Opioid ohne Peptidstruktur zu entwickeln, das bei einer uÈber den m-Rezeptor vermittelten Analgesie und AbhaÈngigkeit, bei gleichzeitiger d-Rezeptorinteraktion, eine AbhaÈngigkeitsentwicklung verhindert. Ein erster Schritt in diese Richtung ist die Synthese des d-Rezeptoragonisten BW 373U86, ein synthetisches Opioid, das beim morphinabhaÈngigen Affen eine durch Naloxon induzierte Abstinenzsymptomatik unterdruÈcken konnte [215].

Endorphine im Schockzustand Ein weiterer Bereich, in dem Endorphine eine moÈgliche klinische Bedeutung haben, ist der septische Schock. Denn im septischen Schock sollen mit zunehmender Verschlechterung der Kreislaufsituation vermehrt Endorphine frei gesetzt werden. Das durch Endotoxine induziert freigesetzte endogene Opioid soll im Bereich des Hypothalamus besonders die dort nachweisbaren d-Rezeptoren besetzen, wodurch wie vermutet wird, der ansonsten notwendig hohe Sympathikotonus abnimmt (. Abb. 31-7) und die Freisetzung der aus dem Nebennierenmark stammenden Hormone

Adrenalin und Noradrenalin abnimmt [216, 217]. Weitere Hinweise fuÈr die Beteiligung von Endorphinen im Endotoxinschock sind zum einen die erhoÈhten Endorphinkonzentrationen [218] und zum anderen die im Tierexperiment nachgewiesene kreislaufstabilisierende Wirkung von Adrenalin, die durch Naloxon eine weitere Potenzierung erfaÈhrt [219]. Ansatzpunkt fuÈr die Therapie beim septische Schock ist die Blockade des endorphinergen Rezeptors mit einem Antagonisten. Da das sympathoadrenerge System intakt sein muss, um im septischen Schock einen therapeutischen Effekt mit einem selektiven d-Antagonisten zu erreichen [220] und Naloxon den kreislaufstimulierenden Effekt der Katecholamine steigert [221], kann eine Interaktion zwischen dem sympathoadrenergen System und Opioidbindungsstellen vermutet werden. Des Weiteren wird eine Beteiligung von m- und k-Rezeptoren an den durch Toxine ausgeloÈsten KreislaufveraÈnderungen diskutiert, weil die lokale Applikation von Naltrexon und Nalmefen in den Nucleus tractus solitarii beim Tier eine Hypotonie umkehren konnte [222]. Der letzte Beweis fuÈr die Beteiligung des endorphinergen Systems im septischen Schock

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Kapitel 31  Endogene Opioide sowie Exorphine und b-Caseomorphine

. Abb. 31-7. Hemmung exzitatorischer sympathischer NeuronenverbaÈnde durch eine pathologisch gesteigerte Freisetzung endogener Opioide. Es resultiert eine AktivitaÈtsdeprimierung kreislaufregulatorischer Zentren. Erst durch die Applikation eines Antagonisten kommt es zur VerdraÈngung der Endorphine mit nachfolgender funktioneller Erholung

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ist jedoch nur durch klinische Daten am Menschen zu erbringen. WaÈhrend beim haÈmorrhagischen Schock sowohl zentrale als auch periphere kund d-, nicht jedoch m-Opioidbindungsstellen fuÈr die Hypotonie mitverantwortlich gemacht werden [223, 224], wird beim anaphylaktischen Schock eine durch Histamin und den blutplaÈttchenaktivierenden Faktor (»platelet activating factor«; PAF) bedingte Hypotonie diskutiert, bei der ein Opioidantagonist die zentrale SympathikusaktivitaÈt wieder steigern kann [225, 226]. Beim neurogenen Schock dagegen verursacht der nach traumatischer Unterbrechung des Sympathikus gesteigerte zentrale Parasympathikotonus uÈber den Nervus vagus am Herzen eine Deprimierung. Opioidantagonisten fuÈhren zu einer VerdraÈngung der Endorphine am hemmenden Interneuron im Parasympathikuszentrum, sodass die Hypotonie aufgehoben wird [227] (. Abb. 31-8). Obwohl nach einer spinalen IschaÈmie der folgende Anstieg von b-Endorphins im Plasma auf eine Beteiligung von m-Rezeptoren hinweist, sind in den benachbarten Grenzgebieten der IschaÈmie zusaÈtzlich hohe Konzentrationen von Dynorphin, dem endogenen k-Liganden, nachzuweisen [228]. Untersuchungen zur Beteiligung des endorphinergen Systems beim Schlaganfall sind dagegen widerspruÈchlich, sodass nicht von einem einheitlichen Pathomechanismus im Rahmen der zerebralen IschaÈmie ausgegangen werden kann [229]. Zusammengefasst weisen alle Untersuchungen

zur KlaÈrung des endorphinergen Systems bei Schock- und IschaÈmieformen darauf hin, dass Endorphine in einem mehr oder weniger starken Ausmaû die Auswirkungen mit beeinflussen [230]. Der im Rahmen einer IschaÈmie ablaufende Wirkungsmechanismus ist, je nach Ursache, recht unterschiedlich bzw. liegt ein komplexer Mechanismus vor, bei dem, neben dem endorphinergen System, auch andere Mediatoren beteiligt sind. 31.2

Exorphine (exogene Opioidpeptide) und b-Caseomorphine

Aus einer Reihe von Vorstufen endogener Opioide, den Muttersubstanzen, werden zahlreiche Opioidpeptide, die schlieûlich am Opioidrezeptor binden, abgespalten: Es werden enzymatisch aus dem Proenkephalin A u. a. die MolekuÈle Metund Leu-Enkephalin, aus dem Proenkephalin B wird die Gruppe der Dynorphine und aus dem Proopiomelanocortin (POMC) werden das b-Endorphin, das Hormon b-Lipotropin, das melanozytenstimulierende Hormon (MSH) und das adrenocorticotrope Hormon (ACTH) abgespalten. Eine weitere 4. Familie von Opioidpeptiden, die ebenfalls die fuÈr eine Opioidbindung erforderliche 4 AminosaÈurensequenzen Tyrosin-Glycin-GlycinPhenylalanin beinhalten, ist die Gruppe der sog. exogenen Opioide, die Exorphine. In Analogie zu den koÈrpereigenen Endorphinen binden die Exorphine an koÈrpereigenen

31.2  Exorphine (exogene Opioidpeptide) und b-Caseomorphine

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. Abb. 31-8. Modell zu den Kreislauffolgen beim spinalen Schock und deren Umkehr durch einen Opioidantagonisten

Opioidbindestellen, wodurch sie die von den Endorphinen her bekannten Wirkungen vermitteln. Jedoch entstehen die Exorphine durch Bakterien in der Milch und im Darm des Menschen, indem aus Milcheiweiû abgespalten; sie ebenfalls analgetisch wirken koÈnnen. Diese Wirkung ist ebenfalls durch Naloxon umkehrbar, wobei die Exorphine ebenfalls imstande sind, eine physische AbhaÈngigkeit und ein Entzugssyndrom auszuloÈsen [239]. Des Weiteren ist ein opioidartiges Fragment des Milchproteins b-Casein, das b-Casomorphin, in der Milch aller SaÈugetiere nachzuweisen [240], das intensiv mit Opioidrezeptoren bindet [241]. Als moÈgliche physiologische Bedeutung wird, insbesondere beim Neugeborenen, ein durch Bindung am peripheren Opioidrezeptor im Darm verbesserter FluÈssigkeitstransport und Ionenaustausch sowie eine Optimierung der Darmperistal-

tik angenommen. Zentrale Wirkungen des b-Casomorphin beim Neugeborenen beziehen sich auf eine Herzaktionsverlangsamung, einer VerhaltensaÈnderung mit sedierend-euphorisierender Wirkung, sowie einer modulierenden Wirkung auf die Hirnentwicklung [241]. Letztlich wird durch dieses exogene Opioidpeptid auch eine VerstaÈrkung des Nahrungswunsches sowie eine Stimulation des Wohlbefindens uÈber das Belohnungssystem erreicht, die den SaÈugling veranlasst, den Nahrungswunsch nicht nur bei Hunger, sondern auch durch ein begleitendes LustgefuÈhl zu befriedigen. Beim Milchtrinker hat das b-Casomorphin dagegen eine eher nutritive Aufgabe, indem es die Freisetzung von Pankreashormonen foÈrdert [243]. Die Exorphine konnten auch im Klebereiweiû von Getreide, als Verdauungsprodukt von Fleisch und in der Schokolade nachgewiesen werden, wobei es Hinweise

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Kapitel 31  Endogene Opioide sowie Exorphine und b-Caseomorphine

gibt, dass bei der Fermentation von Kakao Exorphine freigesetzt werden, die das suÈchtige Verhalten nach Schokolade erklaÈren koÈnnen. Inwieweit dieser Gruppe von Opioiden jedoch eine Bedeutung beim Kinderkrippentod mit Atemstillstand (»sudden infant death syndrome«; SIDS) zukommt [242], ist noch offen und hat bisher nur spekulativen Charakter. Nachgewiesen ist jedoch, dass die abnorme Synthese von b-CasomorphinaÈhnlichen Peptiden bei der Mutter eine postpartale Psychose herbeifuÈhren kann. Diese anfaÈngliche Vermutung wurde durch die nach den Ergebnissen mehrerer Forschungs