Reformansätze in der Gesetzlichen Krankenversicherung : Zwischen Solidarprinzip und Wettbewerb 9783834911926, 3834911925, 9783834981097, 3834981095 [PDF]


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Reformansätze in der Gesetzlichen Krankenversicherung : Zwischen Solidarprinzip und Wettbewerb
 9783834911926, 3834911925, 9783834981097, 3834981095 [PDF]

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Zitiervorschau

Martina Samwer Reformansätze in der Gesetzlichen Krankenversicherung

GABLER EDITION WISSENSCHAFT Ökonomische Analyse des Rechts Herausgegeben von Professor Dr. Peter Behrens Professor Dr. Thomas Eger Professor Dr. Manfred Holler Professor Dr. Claus Ott Professor Dr. Hans-Bernd Schäfer (schriftführend) Universität Hamburg, Fakultät für Rechtswissenschaft und Fakultät für Wirtschafts- und Sozialwissenschaft

Die ökonomische Analyse des Rechts untersucht Rechtsnormen auf ihre gesellschaftlichen Folgewirkungen und bedient sich dabei des methodischen Instrumentariums der Wirtschaftswissenschaften, insbesondere der Mikroökonomie, der Neuen Institutionen- und Konstitutionenökonomie. Sie ist ein interdisziplinäres Forschungsgebiet, in dem sowohl Rechtswissenschaftler als auch Wirtschaftswissenschaftler tätig sind und das zu wesentlichen neuen Erkenntnissen über Funktion und Wirkungen von Rechtsnormen geführt hat. Die Schriftenreihe enthält Monographien zu verschiedenen Rechtsgebieten und Rechtsentwicklungen. Sie behandelt Fragestellungen aus den Bereichen Wirtschaftsrecht, Vertragsrecht, Haftungsrecht, Sachenrecht und verwaltungsrechtliche Regulierung.

Martina Samwer

Reformansätze in der Gesetzlichen Krankenversicherung Zwischen Solidarprinzip und Wettbewerb

Mit einem Geleitwort von Prof. Dr. Martin Nell

GABLER EDITION WISSENSCHAFT

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.

Dissertation Universität Hamburg, 2008

1. Auflage 2008 Alle Rechte vorbehalten © Gabler | GWV Fachverlage GmbH, Wiesbaden 2008 Lektorat: Frauke Schindler / Sabine Schöller Gabler ist Teil der Fachverlagsgruppe Springer Science+Business Media. www.gabler.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Umschlaggestaltung: Regine Zimmer, Dipl.-Designerin, Frankfurt/Main Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in Germany ISBN 978-3-8349-1192-6

Geleitwort Das deutsche Gesundheitswesen ist seit Jahrzehnten Gegenstand politischer Reformbemühungen. Ursachen hierfür sind vor allem die massiven Kostensteigerungen im Gesundheitswesen, aber auch die als verbesserungsfähig empfundene Qualität der Gesundheitsversorgung. So nimmt Deutschland nach Studien der WHO und der OECD bei den Gesundheitsausgaben pro Kopf international einen Spitzenplatz ein, während es beim Gesundheitszustand der Bevölkerung unter den Industrienationen im Mittelfeld platziert ist. Bei den früheren Reformen dominierte das Motiv der Kostendämpfung. Dazu wurden sektoral getrennte Vergütungsbudgets eingeführt, grundlegende Reformen der korporativen Struktur fanden dagegen nicht statt. Dies änderte sich erst 1997 mit der Einführung der Kassenwahlfreiheit, die einen Wettbewerb der Kassen um die Nachfrager auslösen sollte. Mit den darauffolgenden Reformen der Jahre 2000, 2004 und 2007 wurde der Weg fortgesetzt, im Gesundheitswesen mehr Wettbewerb zu etablieren. Dabei standen verstärkt die Leistungserbringer im Mittelpunkt. Insbesondere sollte die überkommene Segmentierung der Leistungserstellung durch die Einführung integrierter Versorgungsformen überwunden werden. Um dies zu erreichen, wurde der Abschluss individueller Verträge zwischen Kassen und Leistungsanbietern zur Entwicklung integrierter Versorgungsangebote vereinfacht und gefördert. Für einen Ökonomen erscheint der Ansatz, Ineffizienzen durch eine Stärkung des Wettbewerbs zu beseitigen, grundsätzlich erfolgversprechend. Die Situation im Gesundheitswesen erfordert jedoch eine differenziertere Betrachtung, da a priori nicht davon ausgegangen werden kann, dass ein verstärkter Wettbewerb unter den im deutschen Gesundheitssystem geltenden Rahmenbedingungen in jedem Fall wohlfahrtssteigernd wirkt. Die Ursache hierfür ist, dass unter den geltenden Rahmenbedingungen Wettbewerb vor allem in Form von Selektionswettbewerb stattfindet, da die einzelnen Versicherten erkennbar sehr heterogene Risiken darstellen, ohne dass dies bei den entsprechenden Preisen hinreichend berücksichtigt wird. Daher stellt die Selektion möglichst guter Risiken die erfolgversprechendste Wettbewerbsstrategie für Krankenkassen aber auch für Leistungserbringer bei pauschalierter Entlohnung im Rahmen integrierter Versorgungsverträge dar. Ein solcher ungebremster Selektionswettbewerb wäre aber kontraproduktiv und es bestünde die Gefahr von Wohlfahrtsverlusten, da sowohl Kassen als auch Leistungserbringer davon abgeschreckt würden, schlechten Risiken effiziente Versorgungsangebote zu machen. So wünschenswert daher eine Stärkung des Wettbewerbs und eine Überwindung der überholten Segmentierung im deutschen Gesundheitswesen grundsätzlich sind, so muss bei der Umsetzung sehr sorgsam vorgegangen werden. Insbesondere ist zu prüfen, welche begleitenden Regulierungsinstrumente eingesetzt werden sollten, um die geschilderten negativen Effekte möglichst gering zu halten.

V

Die vorliegende Dissertation von Frau Samwer setzt genau an diesem Punkt an, indem sie Probleme herausgreift, die bei einer verstärkten Wettbewerbsorientierung im deutschen Gesundheitswesen und insbesondere im Bereich der Gesetzlichen Krankenversicherung gelöst werden müssen. Frau Samwer strebt dabei explizit keine Gesamtschau an, sondern betrachtet drei voneinander weitgehend unabhängige Forschungsfragen. Den Hintergrund für die erste Forschungsfrage bildet der verstärkte Einsatz pauschalierter Vergütungssysteme bei den Leistungserbringern im Gesundheitswesen. Pauschalierte Vergütungssysteme haben gegenüber einer Einzelleistungsvergütung den Vorteil, keine Anreize zu einer ineffizienten Ausweitung medizinischer Leistungen zu setzen. Dafür besteht bei ihnen im Gegenteil die Gefahr, dass die Anbieter zu wenig Gesundheitsleistungen erstellen und ein ineffizientes Selektionsverhalten an den Tag legen, indem sie schlechte Risiken überweisen, obwohl sie für die Indikation der effiziente Anbieter sind bzw. gute Risiken therapieren, obgleich eine Überweisung sinnvoll wäre. In einer Reihe von Arbeiten wird das Haftungsrecht als ein wirksames Instrument zur Begrenzung dieser Anreizprobleme angesehen. Frau Samwer zeigt jedoch, dass hier Vorsicht geboten ist, da die Gefahr besteht, dass Ärzte sich auf gut verifizierbare Tätigkeiten konzentrieren und schlecht verifizierbare Tätigkeiten vernachlässigen. Die Vertragsbeziehungen zwischen Krankenkassen und Leistungserbringern im Rahmen der integrierten Versorgung sind Gegenstand der zweiten Forschungsfrage. Konkret wird rechtsökonomisch die Frage untersucht, ob ein Regulierungsbedarf für diese Vertragsbeziehungen besteht, der über die Vorschriften des SGB hinausgeht. Dies wird zutreffend aufgrund der erheblichen Marktmacht der Krankenkassen in Verbindung mit ihrem fehlenden Residualeinkommensinteresse bejaht. Daraufhin werden das Wettbewerbs- und Kartellrecht sowie sehr ausführlich das Vergaberecht als mögliche Regulierungsalternativen untersucht. Die dritte Forschungsfrage befasst sich mit der effizienten organisatorischen Ausgestaltung der integrierten Versorgung. Konkret werden Kooperationsmodelle mit Krankenkassen, Gesellschaftsmodelle mit Risikoübergang zu den Anbietern, sowie verschiedene Einkaufsmodelle, bei denen eine Managementgesellschaft als Risikoträger auftritt, untersucht und klare Kriterien abgeleitet, unter welchen Bedingungen die einzelnen Organisationsformen vorteilhaft sind. Auch dieser Beitrag besticht durchgehend durch eine stringente und ökonomisch fundierte Argumentation. Insgesamt stellt die Dissertationsschrift von Frau Samwer eine überzeugende und weiterführende wissenschaftliche Leistung zu einem schwierigen, interdisziplinären Gebiet dar. Sie kann daher allen Leserinnen und Lesern, die an gesundheitsökonomischen Fragestellungen interessiert sind, nachdrücklich zur Lektüre empfohlen werden. Professor Martin Nell

VI

Vorwort Die vorliegende Arbeit ist als Dissertation im Rahmen eines Promotionsstipendiums durch das Graduiertenkolleg für Recht und Ökonomie der Deutschen Forschungsgemeinschaft zwischen Oktober 2004 und Mai 2007 an der Universität Hamburg und der Columbia University, New York entstanden. Die einzelnen Aufsätze der kumulativen Dissertation wurden auf verschiedenen Konferenzen in Rom, Madrid und Kassel vorgestellt und der erste Aufsatz wird in einer englischen Kurzversion im Review of Law and Economics, forthc. veröffentlicht.

Großer Dank gebührt meinem Doktorvater Herrn Professor Martin Nell, der mir über den gesamten Zeitraum in ausführlichen Gesprächen mit Rat zur Seite gestanden ist. Die Diskussionen über die Arbeit, das Gesundheitswesen im Allgemeinen sowieso seine klare Meinung und Hinweise habe ich sehr geschätzt. Weiterer Dank gilt dem Zweitgutachter und Leiter des Graduiertenkollegs Herrn Professor Hans-Bernd Schäfer, der mit der Organisation des Graduiertenkollegs ein äußerst interessantes und motivierendes Umfeld geschaffen hat. Des Weiteren danke ich Herrn Professor Eberhard Feess für zahlreiche modelltheoretische Diskussionen und Herrn Professor Avery Katz für die Ermöglichung des Aufenthalts an der Columbia University, New York.

Persönlicher Dank gilt meinen Freunden aus dem Graduiertenkolleg sowie allen echten und zugezogenen Hamburgern, die in und außerhalb der Universität für eine aufregende und abwechselungsreiche Zeit gesorgt haben.

Die Arbeit ist meinen Eltern und Großeltern gewidmet. Martina Samwer

VII

Inhaltsverzeichnis Teil 1: Einleitung........................................................................................................1 I)

Strukturen im Gesundheitswesen................................................................................................ 1 Grundmodelle der Gesundheitsversorgung................................................................................. 1 Regulierungsbedarf aufgrund der Eigenschaften von Gesundheitsleistungen ............................ 3 (1) Gesundheitsleistungen als Vertrauensgüter ........................................................................ 3 (2) Gesundheitsleistungen als öffentliche Güter....................................................................... 4 (3) Gesundheitsleistungen als meritorische Güter .................................................................... 5 II) Die Gesetzliche Krankenversicherung .................................................................................... 6 a) Grundlagen.................................................................................................................................. 6 b) Die drei Teilmärkte in der GKV ................................................................................................. 6 (1) Versicherungsmarkt ............................................................................................................ 6 (2) Leistungsmarkt.................................................................................................................... 8 (3) Behandlungsmarkt .............................................................................................................. 9 III) Herausforderungen der Gesetzlichen Krankenversicherung ............................................. 10 a) Demographische Transition ...................................................................................................... 10 b) Epidemiologische Transition .................................................................................................... 11 c) Herausforderungen in der GKV ................................................................................................ 12 IV) Entwicklung der gesundheitspolitischen Reformansätze .................................................... 12 a) Effizienz der Versorgung in der GKV ...................................................................................... 12 b) Kostendämpfungsmaßnahmen und Strukturgesetzgebung ....................................................... 14 c) Zwischen Solidarprinzip und Wettbewerb................................................................................ 16 V) Drei Aufsätze ........................................................................................................................... 19 a) Die Gestaltung von Haftungsstandards in Multitask Prinzipal-Agenten Beziehungen ............ 19 b) Die Anwendung des Vergaberechts auf Integrierte Versorgungsverträge gemäß §140a-d SGB V ..................................................................................................................... 20 c) Die Determinanten der Organisationsformen in der Integrierten Versorgung gemäß §140a-d SGB V ..................................................................................................................... 21 Abkürzungsverzeichnis ...................................................................................................................... 23 a) b)

Bibliographie ....................................................................................................................................... 24

Teil 2: Die Gestaltung von Haftungsstandards in Multitask Prinzipal-Agenten Beziehungen ..............................................................................................................29 I) a) b) c) d) e) f) II) a) b) c) d) e) III)

Einleitung..................................................................................................................................... 29 Hintergrund ............................................................................................................................... 29 Fragestellung............................................................................................................................. 30 Zentrale Ergebnisse................................................................................................................... 33 Abgrenzung gegenüber der bisherigen Kritik ........................................................................... 34 Literatur..................................................................................................................................... 36 Aufbau....................................................................................................................................... 38 Bestandteile des Modellansatzes ............................................................................................ 38 Vergütungssystem..................................................................................................................... 39 Haftungsregime......................................................................................................................... 39 Ärzte.......................................................................................................................................... 42 Krankenkassen/ Versicherte...................................................................................................... 42 Soziale Wohlfahrt ..................................................................................................................... 42 Entwicklung eines optimalen Haftungsregimes ................................................................... 43

IX

a) b) c) d) IV) a) b) V)

Haftungsstandards als Substitut ................................................................................................ 43 Unvollkommene Information.................................................................................................... 44 Multitasking .............................................................................................................................. 45 Second Best Haftungsregime .................................................................................................... 46 Diskussion ................................................................................................................................ 50 Relevanz der Ergebnisse ........................................................................................................... 50 Handlungsimplikationen ........................................................................................................... 52 Ausblick ................................................................................................................................... 53

Abkürzungsverzeichnis ...................................................................................................................... 61 Symbolverzeichnis............................................................................................................................... 61 Bibliographie ....................................................................................................................................... 63

Teil 3: Die Anwendung des Vergaberechts auf Integrierte Versorgungsverträge gemäß §140a-d SGB V ...............................................................................................67 I)

Einleitung..................................................................................................................................... 67 Fragestellung............................................................................................................................. 67 Methodischer Ansatz ................................................................................................................ 70 Zentrale Ergebnisse................................................................................................................... 71 Aufbau....................................................................................................................................... 71 Liberalisierung des Leistungsmarktes .................................................................................. 71 Ausgangslage ............................................................................................................................ 71 Integrierte Versorgung gemäß §140a-d SGB V........................................................................ 73 Bedarf an Regulierungsalternativen ..................................................................................... 74 Regulierungsbedarf zur Sicherstellung einer ökonomisch sachgerechten Nachfrage............... 75 Regulierungsbedarf zur Sicherstellung einer qualitativ hochwertigen Versorgung.................. 79 (1) Adverse Selektion aufgrund unvollständiger Information ................................................ 79 (2) Moral Hazard aufgrund unvollkommener Information..................................................... 81 c) Fazit .......................................................................................................................................... 81 IV) Grundzüge des dt. Vergaberechts ......................................................................................... 82 a) Ursprung und Entwicklung ....................................................................................................... 82 b) Aktuelle Fassung....................................................................................................................... 83 c) Grundsätze des Vergaberechts gemäß §97 Nr. 1-5 GWB......................................................... 83 d) Ökonomisches Rational des Vergaberechts .............................................................................. 85 V) Anwendung des Vergaberechts aus juristischer Perspektive ............................................. 87 a) Hintergrund ............................................................................................................................... 87 b) Anwendungsvoraussetzungen................................................................................................... 87 (1) A priori Ausschluss........................................................................................................... 87 (2) Persönlicher Anwendungsbereich..................................................................................... 88 (3) Sachlicher Anwendungsbereich ........................................................................................ 89 c) Rechtsfolgen ............................................................................................................................. 90 (1) Komponenten des Vergabeverfahrens .............................................................................. 90 (2) Zeitpunkt der Auslösung eines Vergabeverfahrens .......................................................... 93 d) Fazit .......................................................................................................................................... 95 VI) Anwendung des Vergaberechts aus ökonomischer Perspektive ......................................... 95 a) Kosten der Anwendung des Vergaberechts .............................................................................. 95 (1) Direkte Kosten des Vergaberechts .................................................................................... 96 (2) Indirekte Kosten in Folge des Verhaltens der Anbieter .................................................... 96 (i) Regulierung von Innovationstätigkeiten ........................................................................ 96 a) b) c) d) II) a) b) III) a) b)

X

(ii) Kollusionsgefahr ............................................................................................................ 99 (iii) Fluch des Gewinners (Winner’s Curse) ....................................................................... 100 b) Nutzen des Vergaberechts....................................................................................................... 101 (1) Vergaberecht als Kontroll-Mechanismus........................................................................ 102 (i) Materielles Recht ......................................................................................................... 104 (a) Trägheit ................................................................................................................... 104 (b) Korruption............................................................................................................... 105 (c) Oligarchie................................................................................................................ 106 (ii) Rechtsdurchsetzung ..................................................................................................... 106 (2) Vergaberecht als Signal für Versorgungsqualität ........................................................... 108 (i) Die Eigenschaften von Qualitätssignalen..................................................................... 108 (ii) Das Potential des Vergaberechts als Qualitätssignal.................................................... 109 (a) Vergaberecht zur Überwindung adverser Selektionsprozesse ................................ 109 (b) Vergaberecht zur Überwindung opportunistischen Verhaltensspielraums ............. 111 c) Fazit ........................................................................................................................................ 111 d) Ausblick .................................................................................................................................. 112 (1) Klassifikation Integrierter Versorgungsverträge als Dienstleistungskonzession ............ 113 (2) Anwendbarkeit des Wettbewerbs- und Kartellrecht ....................................................... 114 Abbildungsverzeichnis...................................................................................................................... 117 Abkürzungsverzeichnis .................................................................................................................... 117 Zitierte Urteile................................................................................................................................... 118 Bibliographie ..................................................................................................................................... 119

Teil 4: Die Determinanten der Organisationsformen in der Integrierten Versorgung gemäß §140a-d SGB V ........................................................................135 I)

Einleitung................................................................................................................................... 135 Hintergrund ............................................................................................................................. 135 Fragestellung........................................................................................................................... 136 Aufbau..................................................................................................................................... 138 Methodik der Neuen Institutionenökonomie...................................................................... 138 Gegenstand der Neuen Institutionenökonomie ....................................................................... 138 Institutional vs. Contractual Choice........................................................................................ 139 Theory of Ownership: Allokation von Eigentumsrechten ...................................................... 140 Prinzipal-Agenten Ansatz ....................................................................................................... 142 (1) Grundlagen...................................................................................................................... 142 (2) Gesundheitsleistungen im Prinzipal-Agenten Ansatz ..................................................... 143 III) Integrierte Versorgung im deutschen Gesundheitswesen ................................................. 145 a) Regelversorgung ..................................................................................................................... 145 (1) Grundlagen...................................................................................................................... 145 (2) Ursachen der Ineffizienzen in der Leistungserstellung ................................................... 147 b) Institution der Integrierten Versorgung................................................................................... 148 (1) Grundlagen...................................................................................................................... 148 (2) Effizienzpotential der Integrierten Versorgung .............................................................. 149 (3) Wahl der Organisationsform (Contractual Choice) ........................................................ 151 IV) Contractual Choice I: Allokation der Versicherungsfunktion ......................................... 152 a) Alternativen............................................................................................................................. 152 (1) Kooperationsmodell ........................................................................................................ 152 (2) Einkaufsmodell I ............................................................................................................. 153 (3) Einkaufsmodell II............................................................................................................ 154 (4) Gesellschaftsmodell ........................................................................................................ 154 a) b) c) II) a) b) c) d)

XI

b)

Determinanten......................................................................................................................... 154 (1) Kosten der Allokation der Residualrechte ...................................................................... 154 (i) Kosten im Zusammenhang mit dem Kontrollrecht ...................................................... 154 (ii) Kosten im Zusammenhang mit dem Residualeinkommensrecht ................................. 155 (2) Kosten von markt-basierten Verträgen ........................................................................... 156 c) Diskussion............................................................................................................................... 157 (1) Vergleich der Kosten des Kontrollrechts ........................................................................ 157 (i) Delegation der Leistungserstellung.............................................................................. 157 (ii) Eigenerstellung............................................................................................................. 158 (iii) Partielle Delegation...................................................................................................... 160 (2) Vergleich der Kosten des Residualeinkommensrechts ................................................... 161 (i) Kosten der Risikoallokation......................................................................................... 161 (a) Moralisches Risiko durch opportunistisches Verhalten der Versicherten .............. 162 (b) Exogene Umwelteinflüsse ....................................................................................... 162 (c) Technologischer Fortschritt.................................................................................... 163 (d) Inflationsrisiko ........................................................................................................ 163 (ii) Gewährleistung spezifischer Investitionsanreize ......................................................... 163 (3) Vergleich der Kosten für vertraglich beteiligte Akteure................................................. 165 d) Fazit ........................................................................................................................................ 166 V) Contractual Choice II: Gestaltung des Mehragenten-Verhältnis..................................... 167 a) Alternativen............................................................................................................................. 167 b) Determinanten......................................................................................................................... 169 (1) Produktionstechnologie der Leistungserstellung ............................................................ 169 (2) Informationsverteilung zwischen den Leistungsanbietern.............................................. 170 (3) Verlauf der Arbeitsleidfunktionen der Leistungsanbieter............................................... 171 (4) Korrelation der exogenen Einflüsse ................................................................................ 172 c) Diskussion............................................................................................................................... 173 (1) Unabhängige Produktionstechnologie ............................................................................ 173 (i) Individuelle Leistungsbewertung ................................................................................. 173 (ii) Gemeinsame Leistungsbewertung ............................................................................... 174 (iii) Relative Leistungsbewertung ....................................................................................... 175 (2) Abhängige Produktionstechnologie ................................................................................ 177 (i) Individuelle Vergütung bei gemeinsamer Leistungsbewertung................................... 177 (ii) Gemeinsame Vergütung bei gemeinsamer Leistungsbewertung ................................. 180 d) Fazit ........................................................................................................................................ 181 VI) Ausblick ................................................................................................................................. 182 Symbolverzeichnis............................................................................................................................. 184 Bibliographie ..................................................................................................................................... 185

Hinweis: Soweit keine anderen Angaben vorliegen, beziehen sich die Gesetzesparagraphen auf das SGB V.

XII

Teil 1:

Einleitung

Die Gesetzliche Krankenversicherung (GKV) stellt einen zentralen Bestandteil des deutschen Modells der Sozialen Marktwirtschaft dar. Aufgrund ihrer als Umlageverfahren organisierten Finanzierungsstruktur ist die GKV seit Beginn der 70er Jahre durch Konjunkturkrisen und den demographischen Wandel1 unter Druck geraten. Weitere Herausforderungen stellen zudem die epidemiologische Transition dar, welche zu einer strukturellen Änderung der nachgefragten Leistungen führt und die Übertragung von Aufgaben aus dem Bereich der Pflege- und Rentenversicherung.2 Die ursprünglich als korporativ konzipierte Selbstverwaltung zur Versicherung und Versorgung der Bevölkerung mit Gesundheitsleistungen wurde seit ihrer Einführung 1883 über 100 Jahre relativ stabil erhalten.3 Seit Mitte der 90er Jahre ist jedoch ein Paradigmenwechsel zugunsten eines wettbewerblichen Steuerungsmechanismus in der Versorgung festzustellen, um die Effizienz und Qualität der Versorgung zu gewährleisten. Der Erhalt des solidarischen Finanzierungsprinzips angesichts einer stärker wettbewerblich ausgerichteten Organisation der Leistungserstellung impliziert, insbesondere bei Berücksichtigung der Besonderheiten von Gesundheitsleistungen, einen erheblichen Regulierungsbedarf. Den Schwerpunkt der vorliegenden Arbeit bilden drei einzelne Aufsätze (ad Teil 2 bis Teil 4), die sich mit spezifischen Teilaspekten der gesetzlichen Regulierung in Folge der wettbewerblichen Neuausrichtung der Leistungserstellung auseinandersetzen. Den drei speziellen Aspekten der gesetzlichen Regulierung ist eine Einleitung über die Merkmale des deutschen Gesundheitswesens vorangestellt (ad Teil 1). Dabei werden zunächst die prinzipiellen Besonderheiten von Gesundheitsleistungen in Abgrenzung zu anderen Gütern und Dienstleistungen hervorgehoben und der daraus resultierende Regulierungsbedarf skizziert (ad I)). Es folgt eine Einführung in die Grundprinzipien der GKV (ad II)), deren Herausforderungen aufgrund der demographischen und epidemiologischen Transition (ad III)) sowie der Reformhistorie durch den deutschen Gesetzgeber (ad IV)). Der Einleitung wird durch eine kurze Einordnung der drei Aufsätze in den aufgezeigten Rahmen des GKV Systems und der bisherigen reformpolitischen Ansätze abgeschlossen (ad V)).

I)

Strukturen im Gesundheitswesen

a) Grundmodelle der Gesundheitsversorgung Die Diskussion über die optimale Ausgestaltung eines Gesundheitswesens basiert in der prinzipiellen Entscheidung über den verwendeten Steuerungsmechanismus zur Entstehung und Allokation der me1

Auch als demographische Transition bezeichnet, vgl. die Darstellung unter Teil 1:III)a). Die Begriffe werden im Folgenden als Synonyme verwendet. 2 Die finanziellen Mehrbelastungen der GKV als Folge von Umstrukturierungen zwischen der Pflege- und Rentenversicherung wurden auch als „Verschiebebahnhof“ bezeichnet. Vgl. Rosenbrock/Gerlinger (2004), S.101ff. 3 Der Erosion der Finanzgrundlagen wurde seit Ende der 70er Jahre zunächst mit Kostendämpfungsmaßnahmen begegnet. Vgl. die Darstellung unter Teil 1:IV)b).

1

dizinischen Leistungen. Während in industrialisierten Ländern im Allgemeinen das Postulat der Überlegenheit des Wettbewerbs4 als primärer Steuerungsmechanismus gilt, ist dies im Bereich der Gesundheitsversorgung äußerst umstritten. Hier sind in ähnlichen Gesellschafts- und Wirtschaftsverfassungen sehr verschieden strukturierte Gesundheitssysteme zu beobachten. Während das USamerikanische Gesundheitssystem in weiten Teilen auf marktwirtschaftlichen Prinzipien basiert, ist in Großbritannien der National Health Service (NHS) als primäre Leistungserstellungsstruktur in staatli5

cher Hand. In Deutschland hat sich in der Folge der Bismarck’schen Sozialgesetzgebung von 1883 dagegen ein korporatives System der GKV herausgebildet, dessen zentrales Merkmal darin besteht, dass der Staat die Aufgaben der Versicherung und der Gewährleistung, Leistungen im Krankheitsfall bereitzustellen, auf nachgelagerte Institutionen überträgt. Die skizzierten Gesundheitssysteme der USA, Großbritanniens und Deutschlands können jeweils als Beispiel für die drei stilisierten Grundmodelle eines Gesundheitssystems (marktwirtschaftlich, staatlich und korporativ) dienen. Diese sind anhand der zwei Dimensionen, der Finanzierung der Versicherungsbeiträge und der Eigentümerstruktur der Leistungserstellung, gegeneinander abzugrenzen. Der Prototyp eines marktwirtschaftlichen Systems sieht eine private Finanzierung der Prämien vor, während die Leistungserbringung durch profitorientierte Anbieter erfolgt. Ein staatliches System basiert dagegen auf einer Steuerfinanzierung; die Leistungserstellung erfolgt durch staatliche Anbieter. In einem korporativ geprägten Modell werden die Beiträge solidarisch auf Basis des Leistungsprinzips erhoben. Die Eigentümerstruktur der Leistungserstellung variiert und wird typischerweise von gemeinnützigen Trägern dominiert.6 Es erscheint zunächst fraglich, warum in ähnlich strukturierten Gesellschaftsverfassungen unterschiedliche Systeme vorherrschen. Die Gründe liegen einerseits in den länderspezifischen historischen Entwicklungen und den daraus hervorgehenden Pfadabhängigkeiten sowie andererseits in der unterschiedlichen Beurteilung von Markt- und Staatsversagen angesichts der besonderen Eigenschaften

4

Vgl. die Regierungsbegründung bei der Einführung des deutschen Wettbewerbsrecht (Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen, GWB 1957): „das Gesetz geht von der durch die wirtschaftswissenschaftliche Forschung erhärteten wirtschaftspolitischen Erfahrungen aus, dass die Wettbewerbswirtschaft die ökonomischste und zugleich demokratischste Form der Wirtschaftsordnung ist und dass der Staat nur insoweit in den Marktablauf lenkend eingreifen soll, wie dies zur Aufrechterhaltung des Marktmechanismus oder zur Überwachung derjenigen Märkte erforderlich ist, auf denen die Marktform des vollständigen Wettbewerbs nicht erreichbar ist.“, Quelle: BT-Drucksache_2/1158 (1957), S.21. 5 Den Ursprung des heute geltenden gesetzlichen Rahmens im Gesundheitswesen markiert die Bismarck’sche Sozialgesetzgebung mit der Einführung des Gesetzes betreffend die Krankenversicherung der Arbeiter (15.06.1883), des Unfallversicherungsgesetzes (06.07.1884) und der Invaliditäts- und Altersversicherung (22.06.1889). Hintergrund war der Versuch des Gesetzgebers, den Forderungen der erstarkenden Arbeiterschicht nach verbesserten Lebensbedingungen teilweise nachzugeben, um die sich abzeichnenden gesellschaftlichen Umwälzungen zu verhindern. In der Kaiserlichen Botschaft zur Eröffnung der 5. Legislaturperiode vom 17.11.1881 heißt es entsprechend: „Zum Schutze vor sozialdemokratischen Bestrebungen solle die Heilung der sozialen Schäden nicht ausschließlich im Wege der Repression, sondern gleichmäßig auf dem Wege der positiven Förderung des Wohles der Arbeiter zu suchen.“, zitiert nach Herder-Dornreich (1994), S.78. 6 Vgl. Simon (2005), S.67ff.

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von Gesundheitsleistungen. Vor einer einleitenden Darstellung der GKV werden daher zunächst die Eigenschaften von Gesundheitsleistungen und der daraus potentiell resultierende Regulierungsbedarf betrachtet.

b) Regulierungsbedarf aufgrund der Eigenschaften von Gesundheitsleistungen Der Regulierungsbedarf in Bezug auf die Erstellung und die Allokation von Gesundheitsleistungen lässt sich aus drei zentralen Merkmalen ableiten, deren Relevanz in den skizzierten Grundmodellen7 teilweise unterschiedlich bewertet wird. Gesundheitsleistungen gelten zum einen als klassische Vertrauensgüter, bei denen die Versicherten den Umfang und die Qualität der Leistungen nicht oder nur sehr eingeschränkt bewerten können (ad (1)). Des Weiteren kann der Konsum einer Gesundheitsleistung eines Individuums einen positiven externen Effekt für die anderen Mitglieder der Gesellschaft begründen. Die daraus folgende Versorgung und Bereitstellung von Gesundheitsleistungen durch den Staat resultiert in dem Risiko des rationalen Desinteresses an einem individuellen Versicherungsschutz (ad (2)). Zuletzt sind Gesundheitsleistungen als meritorische Güter zu klassifizieren, wenn aufgrund von sich im Zeitablauf ändernder, individueller oder gesellschaftlicher Präferenzen ein inkonsistentes Nachfrageverhalten der Versicherten vorliegt (ad (3)). (1) Gesundheitsleistungen als Vertrauensgüter Die Klassifizierung als Vertrauensgut beruht auf einer Differenzierung von Gütern anhand der Informationsmenge über die Qualitätseigenschaften, die dem Konsumenten (Käufer) relativ zum Produzenten (Verkäufer) zur Verfügung stehen. Die Betrachtungsweise wurde ursprünglich von Nelson (1970) eingeführt und unterscheidet zwischen Suchgütern (search good), bei denen beide Marktseiten zu jedem Zeitpunkt über die gleiche Informationsmenge verfügen, und Erfahrungsgütern (experience good), bei denen der Käufer die Qualität des Gutes erst nach dem Kauf beziehungsweise dem Konsum beurteilen kann. Darby/Karni (1973) erweitern den Ansatz um so genannte Vertrauensgüter (credence good), bei denen der Käufer die Qualität des Gutes auch nach dem Konsum nicht erkennen kann. Die überwiegende Mehrheit der Gesundheitsleistungen gilt als klassische Vertrauensgüter.8 Zur Beurteilung des Regulierungsbedarfs, mit dem Ziel für die Versicherten (als Konsumenten) eine ausreichende Qualität und Quantität der Leistungen zu gewährleisten, ist anhand des Zeitpunktes und des Gegenstandes der Informationsasymmetrie zwischen unvollständigen und unvollkommenen Informationen zu differenzieren.

7

Vgl. die Darstellung unter Teil 1: I)a). Im Rahmen der in der Gesundheitsversorgung erbrachten Leistungen ist zwischen Produkten wie Heil- und Hilfsmitteln und klassischen Dienstleistungen im Bereich der Diagnose und Therapie zu differenzieren. Die folgenden Ausführungen beziehen sich im Wesentlichen auf die diagnostischen und therapeutischen Dienstleistungen, die einer Inanspruchnahme von Heil- und Hilfsmitteln im Allgemeinen vorausgehen.

8

3

Es liegen unvollständige Informationen vor, wenn die Informationsasymmetrie sich auf ex ante exogen gegebene Merkmale des Versicherten bezieht. Dabei entsteht dann das Risiko einer Selektion, wenn die Anbieter der Gesundheits- oder Versicherungsleistung trotz bestehendem Behandlungs- und Versicherungszwang ihre Patienten oder Versicherten auswählen können. Selektion umfasst hierbei sämtliche Tätigkeiten, durch die nach bestimmten Kriterien Teilgruppen aus einer Grundgesamtheit sortiert werden. Die Versicherten weisen jeweils individuelle Morbiditätsstrukturen auf, die einen unterschiedlichen Behandlungs- und Versorgungsaufwand implizieren. Es entsteht ein Anreiz für die Krankenkassen und Leistungsanbieter die überdurchschnittlich gut vergüteten Risiken zu sortieren und den jeweils erwarteten Deckungsbeitrag aus der Differenz von Beitragssatz, Behandlungsvergütung und -kosten zu maximieren. Wenn der resultierenden Selektion keine entsprechende Spezialisierung zugrunde liegt, stellen die Aufwendungen zur Selektion der Risiken stets wohlfahrtsmindernde Tätigkeiten dar.9 Aufgrund der Imperfektion des Risikostrukturausgleichs (RSA) sowie der Umstellung zugunsten stärker pauschalierter Vergütungssysteme sind Selektionsbemühungen im Versicherungs- als auch Behandlungsmarkt zu beobachten. Potentielle Regulierungsansätze bestehen zum einen in der Begrenzung der Möglichkeiten für Leistungsanbieter und Krankenkassen, Einfluss auf die Identität ihrer Patienten und Versicherten zu nehmen. Zum anderen kann der Anreiz zur Selektion durch eine beständige Anpassung der Vergütung an das tatsächliche Morbiditätsrisiko reduziert werden. Unvollkommene Informationen treten hingegen vornehmlich zwischen Leistungsanbietern und Patienten auf. Sie beschreiben einen opportunistischen Verhaltensspielraum der Anbieter, die Quantität oder Qualität der Leistung zu reduzieren, um ihren eigenen Nutzen für eine gegebene Vergütung zu maximieren. Die zentralen Hebel eines potentiellen Regulierungsansatzes bestehen in der Gestaltung der Vergütungssysteme der Anbieter, der Ausgestaltung und Durchsetzung von Behandlungspflichten und -leitlinien sowie der Gestaltung der zivil- und strafrechtlichen Haftung. (2) Gesundheitsleistungen als öffentliche Güter Der Konsum einer Gesundheitsleistung durch ein Mitglied einer Gesellschaft kann für die anderen Mitglieder einer Gesellschaft einen Mehrwert darstellen. Dieser Mehrwert besteht zum Beispiel bei Infektionskrankheiten in einer Reduktion der Ansteckungsgefahr oder einer zunehmenden Attraktivität für Kapitalinvestitionen in eine Volkswirtschaft mit besserem Gesundheitszustand der Arbeitskräf-

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Aus normativer Perspektive ist bei der Beurteilung von Selektionsprozessen zwischen der Ursache der Heterogenität zu unterscheiden. Falls die Heterogenität sich aus den unterschiedlichen Spezialisierungen der Akteure ergibt, generieren entsprechende Selektionsprozesse Wohlfahrtssteigerungen. Ausschließlich re-distributive Effekte ergeben sich hingegen, wenn die Akteure keine Effizienzunterschiede in der Behandlung heterogener Teilgruppen aufweisen. In diesem Fall ist Selektion als wohlfahrtsmindernde rent seeking Aktivität zu klassifizieren.

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te.10 Wenn jedoch dem Nutzen für die nicht-konsumierenden Mitglieder einer Gesellschaft keine entsprechenden Zahlungen oder ein Ausgleich zugunsten des konsumierenden Individuums gegenüberstehen, liegen positive externe Effekte vor.11 Arrow (1963) merkt weiterhin an, dass „die persönliche Neigung, die Gesundheit anderer zu verbessern, stärker zu sein (scheint) als das Interesse, andere Aspekte der Wohlfahrt zu verbessern“.12 Die Mitglieder einer Gesellschaft scheinen dem relativen Wohlergehen ihrer Mitmenschen einen intrinsischen Wert zuzuordnen. Wenn eine Grundversorgung an Gesundheitsleistungen für das einzelne Individuum jedoch aufgrund des Vorliegens positiver externer Effekte und dem Interesse der Allgemeinheit, ein Mindestmaß an Versorgung für alle Mitglieder einer Gesellschaft bereitzustellen, ohnehin gewährleistet, sinkt die Zahlungsbereitschaft für eine eigene Versicherung des Krankheitskostenrisikos. Dieser Zustand wird als rationale Apathie oder rationales Desinteresse des einzelnen Individuums bezeichnet. Um ein derartiges Trittbrettfahrerverhalten der Versicherten zu verhindern, kann der Gesetzgeber einen gesetzlich verpflichtenden Mindestversicherungsschutz vorschreiben. (3) Gesundheitsleistungen als meritorische Güter Das Konzept der meritorischen Güter wurde von Musgrave (1957) und Musgrave (1958) im Bereich der Fiskaltheorie eingeführt.13 Im Gegensatz zu einer Differenzierung nach der Informationsverteilung über die Qualitätseigenschaften der Leistung, knüpft das Konzept der meritorischen Güter an die Annahme der Nachfragesouveränität des Konsumenten an, welche in verschiedenen Situationen als eingeschränkt gilt. Dazu zählen die Vernachlässigung der mittel- und langfristigen Perspektive eines auf den kurzfristigen Nutzen fokussierten Individuums sowie seine sich im Zeitablauf und durch gesellschaftliche Einflüsse ändernden Präferenzen. Hinsichtlich des Konsums von Gesundheitsleistungen ist anzunehmen, dass die Präferenz, im Alter einen umfassenden Zugang zu Gesundheitsleistungen zu besitzen, in jungen Lebensjahren systematisch unterschätzt wird.14 Aus Sicht der Wohlfahrtsökonomik ist fraglich, ob eine eingeschränkte Nachfragesouveränität in eine paternalistische Gesetzgebung resultieren sollte, die die Wahlfreiheit des Individuums hinsichtlich seiner Versicherung und seines Konsums von Gesundheitsleistungen einschränkt. Mögliche Regulierungen umfassen beispielsweise eine Ausweitung des gesetzlich vorgeschriebenen minimalen Versicherungsschutzes, so dass aus der kurzfristigen Perspektive des Individuums eine systematische Überversicherung vorliegt. Die konträ10 Vgl. OECD (2007), S.89f. Nach Abschätzungen von Ayres/Binswanger (1999) verursacht eine 10%-ige HIVInfektionsrate bei Erwachsenen einen ca. 30%-igen Rückgang des Bruttosozialprodukts. 11 Die Klassifizierung von Gesundheitsleistungen als öffentliche Güter beruht auf den Kriterien der NichtAusschließbarkeit und der Nicht-Rivalität im Konsum. Vgl. McNutt (1999), S.927f. 12 Quelle: Arrow (1963), S.954. Thurow (1983) unterstreicht diese Überlegungen: „Das Interesse der Gesellschaft an der Verteilung von medizinischer Versorgung resultiert nicht aus unbestimmten externen Effekten, die den privaten, persönlichen Nutzen betreffen, sondern aus unserem individuellen beziehungsweise kollektiven Bedürfnis, dass das Konzept Menschenrechte das gleiche Recht auf medizinische Versorgung beinhaltet.“, Quelle: Thurow (1983), S.93. 13 Für einen Überblick vgl. Andel (1984). 14 Vgl. Herder-Dornreich (1994), S.669f.

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ren Sichtweisen hinsichtlich der Souveränität der individuellen Nachfrage nach Gesundheitsleistungen spiegeln sich in der Argumentation von Breyer/Zweifel (1997)15 und Rice (2004)16 wider.

II) Die Gesetzliche Krankenversicherung a) Grundlagen Das deutsche Gesundheitswesen ist als ein korporatives System auf der Grundlage einer so genannten gesteuerten Selbstverwaltung organisiert, in dem der Gesetzgeber die Aufgabe der Gewährleistung der Gesundheitsversorgung auf die gesetzlichen Krankenkassen als nachgelagerte Institutionen übertragen hat.17 Als Pendant zum Sicherstellungsauftrag der gesetzlichen Krankenkassen sind zahlreiche Bevölkerungsgruppen zum Beitritt in eine gesetzliche Krankenkasse verpflichtet. Die Mitgliedschaft in einer gesetzlichen Krankenkasse berechtigt die gesetzlich Versicherten zu einem Anspruch auf Sachleistungen im Bedarfs- beziehungsweise Krankheitsfall. Um dem Sachleistungsanspruch zu genügen, schließen die gesetzlichen Krankenkassen Verträge mit Leistungsanbietern ab, auf deren Grundlage die Versicherten Gesundheitsleistungen in Anspruch nehmen können. Daraus ergibt sich eine Dreiecks-Beziehung der beteiligten Akteursgruppen zwischen Krankenkassen, Leistungsanbietern und Versicherten. Die jeweilige Interaktion der verschiedenen Akteursgruppen begründen drei Teilmärkte (Versicherungs-, Leistungs- und Behandlungsmarkt), anhand derer die Struktur der GKV im Folgenden einleitend dargestellt wird.

b) Die drei Teilmärkte in der GKV (1) Versicherungsmarkt Der Versicherungsmarkt wird dominiert durch das Prinzip der solidarischen Finanzierung. Dies bedeutet, dass die Versicherungsprämie auf der Grundlage des sozialversicherungspflichtigen Lohneinkommens des Versicherten anstatt seines individuellen Risikos bemessen wird. Die Ursache liegt in dem anfänglichen Fokus der GKV, die Absicherung der Lohnfortzahlung im Krankheitsfall für die Arbeiterklasse zu gewährleisten. Während der Leistungskatalog der GKV zunächst auf die Lohnfortzahlung und ambulante Gesundheitsleistungen beschränkt war, bestand die Verpflichtung zum Beitritt 15 Breyer/Zweifel (1997), S.155ff. konstatieren im Hinblick auf Gesundheitsleistungen zwar eine eingeschränkt rationale Entscheidungsfähigkeit sowie eine Minderschätzung zukünftiger Bedürfnisse. Sie folgern jedoch, dass „die Irrationalität der Konsumenten die Notwendigkeit staatlicher Eingriffe in die Gesundheitsmärkte nicht stichhaltig rechtfertig(t)“, Quelle: Breyer/Zweifel (1997), S.158. 16 Demgegenüber zweifelt Rice (2004), S.89 ff. an der individuellen Fähigkeit, vorhandene Informationen im eigenen Interesse zu verarbeiten und daraufhin eine individuell optimale Nachfrageentscheidung zu treffen. 17 Die Erkenntnis des Staates, die Durchführung der Sozialversicherungen nicht selbst vorzunehmen, spiegelt sich bereits in der Kaiserlichen Botschaft von 1881 wieder: „Der engere Anschluss an die realen Kräfte dieses Volkslebens und das Zusammenfassen der letzteren in der Form korporativer Genossenschaften unter staatlichem Schutz und staatlicher Förderung werden, (..) die Lösung auch von Aufgaben möglich, denen die Staatsgewalt allein in gleichem Umfang nicht gewachsen sein würde“. Die wesentlichen Vorteile der Selbstverwaltung bestehen aus Sicht des Staates entsprechend in der Entlastung von Verwaltungsaufgaben und der Nutzung von Fachkompetenzen der selbstverwaltenden Organe. Vgl. Simon (2005), S.63f.

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in eine gesetzliche Krankenkasse lediglich für die Arbeiterklasse. Diese umfasste gegen Ende des 19. Jahrhunderts ca. 10% der Bevölkerung. Die Mitgliedschaft richtete sich bis zur Einführung der Kassenwahlfreiheit18 primär nach der Betriebszugehörigkeit oder dem Wohnort des Versicherungsnehmers. Im Verlauf des 20. Jahrhunderts erfolgte der Prozess der doppelten Inklusion. Dabei wurden zum einen die Beitrittspflicht und das Beitrittsrecht auf zahlreiche weitere Bevölkerungsgruppen ausgeweitet (vgl. §5 Abs.1, §9 Abs.1) und zum anderen der Sachleistungsanspruch auf zusätzliche Leistungen ausgedehnt.19 Die systemimmanente Umverteilung als Konsequenz der solidarischen Finanzierung blieb zunächst auf die Gemeinschaft der Mitglieder einer Krankenkasse begrenzt, so dass teilweise signifikante Beitragssatzunterschiede zwischen den Krankenkassen bestanden. Durch die Einführung der Kassenwahlfreiheit gemäß §§173ff. zum 1. Januar 1997 wurde das Solidarprinzip aufgrund der gleichzeitigen Einführung des RSA auf die Gemeinschaft aller gesetzlich Versicherten erweitert. Auf der Grundlage des RSA werden Ausgleichszahlungen zwischen den gesetzlichen Krankenkassen vorgenommen, um den unterschiedlichen Risikoprofilen der Versichertenstruktur Rechnung zu tragen. Weiterhin soll Bemühungen der Kassen vorgebeugt werden, eine Selektion20 überdurchschnittlich guter Gesundheitsrisiken zu betreiben. Trotz der Berücksichtigung chronischer Krankheiten21 und der im Rahmen des GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetz (GKV-WSG)22 2007 geplanten Einführung eines Gesundheitsfonds verbleibt der Anreiz zur Selektion problematisch.23 Im Rahmen des GKV-WSG wurde des Weiteren beschlossen, die Beiträge für die mitversicherten Kinder der gesetzlich Krankenversicherten durch das allgemeine Steueraufkommen zu zahlen und die solidarische Finanzierung der Beiträge damit auf die gesamte Bevölkerung auszuweiten. Dazu wird den gesetzlichen Krankenkassen ab 2009 ein erweiterter Zuschuss aus dem steuerfinanzierten Bun18 Diese erfolgte durch das Gesetz zur Sicherung und Strukturverbesserung der gesetzlichen Krankensicherung (Gesundheitsstrukturgesetz – GSG) vom 21.12.1992 (BGBl. I S.2266), vgl. die Darstellung unter Teil 1:IV)b). 19 Vgl. Alber (1992) und Herder-Dornreich (1994), S.85ff. Durch die Einbeziehung weiterer Arbeitnehmergruppen (1919) sowie Familieangehöriger und Rentner (1941) verfügten 1960 84% der Bevölkerung über Ansprüche aus der GKV. Die Inklusion weiterer Bevölkerungsgruppen wurde Anfang der 70er Jahre schließlich durch die Aufnahme von Freiberuflern, Landwirten und Studenten abgeschlossen. Die Quote der GKV-Versicherten befand sich 1975 mit 91,6% auf ihrem historischen Höchststand und beträgt heute knapp 90%. Die Absicherung im Krankheitsfall wurde zunehmend durch Aufwendungen für Gesundheitsleistungen dominiert. Die Ausweitung des Leistungskatalogs korrelierte in den florierenden 50er und 60er Jahren mit der positiven konjunkturellen Lage. Obwohl sich die Politik ab den 70er Jahren bemühte, das Spektrum der GKVfinanzierten Leistungen zu begrenzen, wurde eine weitere Ausweitung durch den medizinischen Fortschritt in Form von neuen Diagnose- und Therapiemöglichkeiten forciert. Mittlerweile betragen die Lohnfortzahlungen weniger als 3% der Gesamtausgaben der Kassen. Vgl. weiterführend die Darstellung unter Teil 1:IV). 20 Selektion umfasst dabei sämtliche Tätigkeiten, durch die nach bestimmten Kriterien Teilgruppen aus einer Grundgesamtheit sortiert werden. 21 Vgl. die Einführung der Disease Management Programme (DMP) durch Gesetz zur Reform der gesetzlichen Krankenversicherung ab dem Jahr 2000 (GKV-Gesundheitsreformgesetz, GKV-GRG 2000) vom 22.12.1999, (BGBl. I S.2626). 22 Gesetz zur Stärkung des Wettbewerbs in der gesetzlichen Krankenversicherung (GKVWettbewerbungsstärkungsgesetz, GKV-WSG) vom 26.03.2007 (BGBl. I S.378). 23 Vgl. Fußnote 9 die Darstellung unter Teil 1:IV)c).

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deshaushalt gewährt. Gestützt durch den RSA sowie den Steuerzuschuss spiegelt sich das Prinzip der solidarischen Finanzierung des Gesundheitsrisikos in einer Umverteilung von Gesunden zu Kranken, Jüngeren zu Älteren, Einkommensstarken zu Einkommensschwachen, kinderlosen zu kinderreichen Familien sowie nicht gesetzlich krankenversicherten zu gesetzlich krankenversicherten Personen wider. (2) Leistungsmarkt Zur Erfüllung des Sachleistungsprinzips schließen die Kassen Verträge mit den Leistungserbringern der einzelnen Sektoren gemäß den Regelungen des 4. Kapitels des SGB V ab.24 Die Vorgaben des 4. Kapitels des SGB V sind maßgeblich durch die historische Entwicklung der Anbieterstruktur (Pfadabhängigkeit) geprägt. Der Leistungsmarkt weist mit einer Konzentration der auf Verbandsebene abgeschlossenen Verträge und der strikten Trennung der Vertragsschlüsse zwischen den Sektoren zwei charakteristische Merkmale auf. Für das Jahr 2003 weist der Sachverständigenrat im Gesundheitswesen in seinem Jahresgutachten 200525 darauf hin, dass ca. 55% der Gesamtausgaben der gesetzlichen Krankenkassen innerhalb von vollständig kassenübergreifenden Verträgen erfolgen. Dies bedeutet, dass die Spitzenverbände der gesetzlichen Krankenkassen Vereinbarungen mit einheitlichen Konditionen für alle Kassen mit den Verbänden oder Landesvertretern der Leistungsanbieter aus unterschiedlichen Sektoren treffen. Derartigen Vertragsabschlüssen liegen somit - teilweise regional begrenzte - bilaterale Verhandlungsmonopole zugrunde. Dazu gehört die überwiegende Mehrheit der ambulant und stationär erbrachten Leistungen. Weitere ca. 30% der durchschnittlichen Gesamtausgaben einer gesetzlichen Krankenkasse werden auf der Basis von kassenartspezifischen Abkommen getätigt. Dabei vertreten die Verbände der insgesamt sieben Kassenarten26 ihre Mitglieder in den Vertragsverhandlungen gegenüber den Verbänden der Leistungsanbieter. Neben durchschnittlich 6% Verwaltungskosten basieren lediglich ca. 8% der Ausgaben auf kasseneigenen Vereinbarungen, die im Wesentlichen den Bezug von Heilund Hilfsmitteln betreffen. Der Fokus auf gemeinsam und einheitlich verhandelte Vertragsabschlüsse spiegelt die hervorgehobene Stellung von Verbänden innerhalb der Selbstverwaltung wider, die zahlreiche Verwaltungsaufgaben übernehmen, um den Staat zu entlasten.27 Das zweite Merkmal des Leistungsmarktes besteht in der Zersplitterung der Vertragsabschlüsse auf die verschiedenen Sektoren der Versorgung. Bereits in der ursprünglichen Konzeption der GKV, die neben der Lohnfortzahlung im Krankheitsfall lediglich die Versorgung mit ambulanten Gesundheits24

Zur Begriffsdefinition der einzelnen Sektoren vgl. Beule (2003), S.25ff. Vgl. Sachverständigenrat_Gesundheitswesen (2005), Rn.56f. 26 Dazu gehören die Ortskrankenkassen (§143), die Betriebskrankenkassen (§147), die Innungskrankenkassen (§157), die Seekrankenkassen (§165), die Landwirtschaftlichen Krankenkassen (§166), die Bundesknappschaftskasse (§167) und die Ersatzkassen (§168). 27 Vgl. Simon (2005), S73f. 25

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leistungen vorsah, wurde die Trennung der Sektoren angelegt.28 In der Folge entwickelten sich unterschiedliche Verbandsvertretungen für die einzelnen Versorgungsbereiche, die jeweils ausschließlich die Interessen ihrer Mitglieder in den Verhandlungen mit den Verbänden der Kassen vertraten. Systematische Vereinbarungen über sektorenübergreifende Versorgungskonzepte oder zur Behebung der Friktionen an den Schnittstellen der Sektoren wurden dadurch nicht entwickelt. Bereits zu Beginn der 70er Jahre wurde die Notwendigkeit einer über die Sektoren integrierten Versorgung angesichts der sich in Folge der epidemiologischen Transition29 ändernden Nachfrage erkannt. Die Umsetzung einer Integration der Strukturen scheiterte jedoch regelmäßig an den Besitzstandinteressen der Verbände.30 Entsprechend bilanzierte der Sachverständigenrat in seinem Gutachten 2005, dass „das Problem, welches Allokationsinstrument im Konfliktfall auf sektorübergreifender Ebene koordiniert, weiterhin ungelöst (bleibt). Die sektorübergreifende Allokation erfolgt faktisch weitgehend in Form einer additiven Summation der teilweise budgetierten Ausgabenblöcke der einzelnen Behandlungsarten“.31 (3) Behandlungsmarkt Die gesetzlich Krankenversicherten besitzen gemäß §2 Abs.1 einen Anspruch auf Sachleistungen im Bedarfsfall, der dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse zu entsprechen und den medizinischen Fortschritt zu berücksichtigen hat. Der Umfang der Leistungen wird im 3. Kapitel des SGB V geregelt und durch die Vorgaben des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA) spezifiziert. Alternativ zum Sachleistungsprinzip können die Versicherten das Kostenerstattungsprinzip gemäß §13 wählen, welches innerhalb der Privaten Krankenversicherung (PKV) vorherrscht. Zur Beschränkung der Inanspruchnahme medizinischer Leistungen gelten seit dem Gesundheitsstrukturgesetz (GSG)32 1992 in zunehmendem Maße Zuzahlungsbestimmungen. Der Versicherte muss einen Teil der Kosten selbst tragen; dies betrifft vornehmlich die Inanspruchnahme von Medikamenten, die Zahlung von Gebühren im ambulanten und stationären Bereich sowie Ausgrenzungen von Leistungen, die als medizinisch nicht notwendig erachtet oder deren Inanspruchnahme durch grob fahrlässiges Verhalten billigend in Kauf genommen wurde.33 Im Gegensatz zu zahlreichen anderen Gesundheitssystemen besitzen die Versicherten einen Anspruch auf ein freies Wahlrecht der Leistungserbringer. Eine Steuerung der Nachfrage durch die Krankenkassen auf einzelne, bevorzugte Leistungserbringer wird dadurch erheblich erschwert. Seit der Einfüh28

Rosenbrock/Gerlinger (2004) erklären diese Situation damit, „dass im Verlauf von Gesetzgebungsprozessen eine Vielzahl unterschiedlicher Akteure mit jeweils eigenen Interessen und Probleminterpretationen Einfluss auf politische Handlungsprogramme nehmen. (In der Konsequenz können) die dabei üblichen Kompromisse (…) zu einer Inkonsistenz des Steuerungsinstrumentariums führen bzw. eine solche Inkonsistenz verstärken.“, Quelle: Rosenbrock/Gerlinger (2004), S.236. 29 Vgl. Darstellung unter Teil 1:III)b). 30 Vgl. die Darstellung bei Herder-Dornreich (1994), S.89ff. 31 Quelle: Sachverständigenrat_Gesundheitswesen (2005), Rn.43. 32 Vgl. Fußnote 18. 33 Hierunter fällt beispielsweise die Behandlung von Entzündungen in Folge von Piercings.

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rung von Strukturverträgen gemäß §73a durch das 2.GKV-Neuordnungsgesetz (2.GKV-NOG) ist im Rahmen verschiedener Optionen eine freiwillige Beschränkung des Wahlrechts gegen Zusatzleistungen oder die Zahlung von Boni gemäß §65a möglich.34

III) Herausforderungen der Gesetzlichen Krankenversicherung Die verknüpften Phänomene der demographischen und epidemiologischen Transition (ad a) und b)) stellen eine tiefgreifende Herausforderung für die als solidarische Umlageverfahren organisierten, sozialen Sicherungssysteme Deutschlands dar. In Bezug auf die GKV wächst aufgrund der steigenden Lebenserwartung sowohl der Zeitraum als auch die Intensität der Inanspruchnahme von GKVLeistungen; gleichzeitig verändert die epidemiologische Transition die Struktur der Nachfrage und erhöht den Bedarf an ganzheitlichen, sektorenübergreifenden Behandlungsansätzen. Die Kopplung der solidarischen Finanzierung an das sozialversicherungsverpflichtige Lohneinkommen resultiert zudem in einer erhöhten Belastung des Produktionsfaktors Arbeit und koppelt die finanzielle Stabilität der GKV an die konjunkturellen Lage. Gleichzeitig sinkt das demographisch bedingte Verhältnis der „jungen“ Einzahler gegenüber den „alternden“ Begünstigten beständig ab.

a) Demographische Transition Der demographische Wandel ist ein Phänomen industrialisierter Länder und setzt sich aus zwei Entwicklungen zusammen: während die durchschnittliche Lebenserwartung – bisher quasi ohne eine Verlängerung der Lebensarbeitszeit - ansteigt, verbleibt die Geburtenrate seit den 70er Jahren deutlich unterhalb der Reproduktionsrate35. Die Kombination von Geburtenrückgang und steigender Lebenserwartung beschleunigt den demographischen Wandel, den Deutschland nach Japan gemäß international vergleichender Vorausberechnungen am zügigsten durchlaufen wird. Im Ergebnis lässt sich ein sprunghafter Anstieg des Altersquotienten36 für die Jahre 2010 (46) bis 2030 (71) ausmachen.37 Neben einer längeren Lebenserwartung und sinkender Geburtsraten ist in Deutschland ein weiteres, für das Gesundheitswesen relevantes Phänomen zu beobachten: die wachsende Zahl der Ein-PersonenHaushalte (26,2% im Jahr 1972 auf 36,5% im Jahr 200338) resultiert u.a. in einer Verlagerung der pflegerischen Tätigkeiten aus dem familiären Umfeld zur Erstellung der Leistungen durch Dritte.39

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Der Grundsatz der Bedarfsgerechtigkeit bleibt davon unberührt. Vgl. Jaeger (2005), S.32ff. Die Reproduktionsrate beträgt ca. 2,1; vgl. DEMOS (2005). In Deutschland liegt sie seit den 70er Jahre zwischen 1,4 -1,6. Vgl. die 10. Koordinierte Bevölkerungsvorausberechnung, Statistisches_Bundesamt (2005). 36 Der Altersquotient benennt die Anzahl der aufgrund ihres Alters nicht mehr sozialversicherungspflichtig Beschäftigung je 100 sozialversicherungspflichtig Beschäftigten. 37 Im Hinblick auf mögliche Reformen der Sozialversicherungssysteme besteht zurzeit ein so genanntes Opportunitätszeitfenster, bevor der demographische Wandel abgeschlossen ist. 38 Vgl.Bundeszentrale_für_politische_Bildung (2004), S.29ff. 39 Vgl. Breyer, Zweifel et al. (2003), S.403. Neben dem pflegerisch-rehabilitativen Bereich ist die stationäre Versorgung chronisch-erkrankter Versicherter betroffen; vgl. die Diskussion unter dem Begriff der Geriatrisierung der Krankenhäuser. Vgl. Fleßa (2003), S.21. 35

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Der Einfluss einer alternden Gesellschaft auf die GKV wird sowohl theoretisch als auch empirisch kontrovers diskutiert. Gemäß der Medikalisierungsthese40 geht mit der Versorgung älterer Menschen ein höherer Aufwand einher, da die zusätzlich gewonnen Lebensjahre mit einer zunehmenden Anzahl an Krankheitsbildern beziehungsweise einer ansteigenden Morbidität verbracht werden. Die Versorgungskosten wachsen demnach über den Lebenszyklus überproportional an. Die Kompressionsthese41 spiegelt ein differenzierteres Bild wider und fußt auf zwei Annahmen: erstens ist jede nachfolgende Kohorte gesünder als die vorhergehende, welches einen kostensenkenden Effekt hat. Zweitens ist die Höhe der Gesundheitskosten besser durch die Länge der Zeitspanne zwischen Erkrankung und Tod als durch das absolute Lebensalter zu erklären. Dabei sind die Kosten für den Zeitraum zwischen Erkrankung und Tod umso höher je jünger der Patient ist. Die Bi-Modalitätsthese42 kombiniert die beiden Ansätze. Demnach wirkt die Verbesserung des durchschnittlichen Gesundheitszustandes der nachfolgenden Generationen entlastend; gleichzeitig wird die Entlastung durch die Vergrößerung der Kohorte älterer Menschen mit überdurchschnittlich hohen Gesundheitsausgaben überkompensiert. In den Prognosen über den Einfluss des demographischen Wandels spiegeln sich die unterschiedlichen theoretischen Ansätze wider. Das Gutachten der PROGNOS AG diente in der Vergangenheit als Grundlage zahlreicher gesundheits- und sozialpolitischer Entscheidungen43 und errechnete eine Steigerung eines kostendeckenden Beitragssatzes für das Jahr 2040 auf 16,1% gegenüber dem aktuellen, durchschnittlichen Beitragssatz von 12,9%. Dazu wurden altersabhängige Ausgabenprofile definiert und diese mit der für die Zukunft zu erwartenden Besetzung der Altersklassen multipliziert. Die Kritik am PROGNOS-Verfahren basiert zum einen in der fehlenden Berücksichtigung des sich verbessernden Gesundheitszustandes nachfolgender Kohorten, welches in einer Überschätzung der Ausgaben resultiert. Zum anderen wird dem technischen Fortschritt ein kostentreibender Effekt zugeschrieben44, den PROGNOS nicht berücksichtigt.45

b) Epidemiologische Transition Als epidemiologische Transition bezeichnet man die Veränderung der vorherrschenden Krankheiten und Todesursachen von akuten, infektiösen Indikationen zu chronischen, psychosomatischen und psychischen Erkrankungen. Die Ursachen der epidemiologischen Transition werden in der sozioökonomischen Entwicklung, dem demographischen Wandel sowie der Entwicklung des medizinischen Fortschritts gesehen. Omran (1971) analysierte die Krankheitsspektren in Ländern, die sich in unterschiedlichen Phasen des demographischen Wandels befanden. Seitdem ist in zahlreichen Studien eine 40

Vgl. Verbrugge (1984). Vgl. Fries (1987), Fries (1989), Fries (2003). 42 Vgl. Kane, Radoserich et al. (1990). 43 Vgl. Heinzen (2002), S.44. 44 Vgl. Beyer/Ulrich (2000), Kartte, Neumann et al. (2005) und die Darstellung in Teil 1: IV). 45 Zusätzliche Kosten werden lediglich in Höhe der jährlichen Bruttowachstumsraten von gemittelten 1,4% kalkuliert und üben damit keinen Effekt auf die Höhe des Beitragssatzes aus. Vgl. Beyer/Ulrich (2000), S.6. 41

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deutliche Korrelation zwischen der Zunahme chronischer Krankheiten und dem jeweiligen Fortschritt im Prozess des demographischen Wandels festgestellt worden. Während in Industrieländern ~88% der Todesfälle auf eine geringe Anzahl von chronischen Erkrankungen zurückgeführt werden kann, beträgt die Quote in Schwellenländern mit niedrigerem Durchschnittsalter, geringerer Lebenserwartung und höherer Geburtenrate lediglich ca. 40%46. Dagegen verursachen Infektionskrankheiten in Entwicklungsländern 43% der Todesfälle gegenüber lediglich 1% in industrialisierten Ländern.47 Die epidemiologische Transition impliziert eine Verschiebung der Nachfrage von akut-medizinischen Eingriffen und der Behandlung von Infektionskrankheiten zugunsten der Versorgung von chronisch, psychosomatisch und psychisch erkrankter Versicherter. Aufgrund der Dauer und der Multiplizität der Erkrankungen besteht ein Bedarf an ganzheitlichen Behandlungsansätzen, welche die Leistungen aus unterschiedlichen Fachbereichen und Sektoren integrieren und die positiven und negativen Wechselwirkungen der Therapien berücksichtigen. In der akut-medizinischen und punktuell kurativen Versorgung sowie spezifischen Leistungen für jüngere Alterskohorten ist dagegen ein Nachfragerückgang zu verzeichnen.48

c) Herausforderungen in der GKV Angesichts dieser Herausforderungen herrscht ein weit reichender Konsens über die Notwendigkeit eines reformpolitischen Ansatzes, um den Aufbau der Leistungserstellung zu flexibilisieren und die Wirtschaftlichkeit und Qualität der Versorgung zu gewährleisten. Schlette, Knieps et al. (2005) urteilen angesichts der hohen Versorgungskosten für einen relativ geringen Anteil der Versicherten49, dass die „Qualität und Effizienz von Gesundheitssystemen (primär) danach zu beurteilen sein wird, wie die Versorgung chronisch kranker Menschen ausgestaltet ist“.50 Die Instrumente zur Umsetzung einer effizienten Versorgung in der GKV sind jedoch umstritten, so dass die traditionellen Versorgungsstrukturen insgesamt eine hohe Persistenz aufweisen konnten.51

IV) Entwicklung der gesundheitspolitischen Reformansätze a) Effizienz der Versorgung in der GKV Über einen Mangel an Reformversuchen und Gesetzesänderungen im Gesundheitswesen kann man sich seit den 70er Jahren weder bei christlich-liberal noch sozial-demokratisch geführten Regierungen

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Vgl. Europäische Union, FTE_Info (2005), S.1. Vgl. WHO (2000). 48 Vgl. SVRKAiG (1996), S.29ff., Rn.27ff. 49 Vgl. Rosenbrock/Gerlinger (2006), S.259; demnach verursachen die „teuersten“ 10% der Versicherten 80% der Versorgungskosten in der GKV. 50 Quelle : Schlette, Knieps et al. (2005), S.7. 51 Vgl. Arnold, Helou et al. (1999), S.7. Simon (2005) bilanziert im Rückblick auf die Entwicklung der GKV, „Die Grundstrukturen erwiesen sich bislang jedoch (…) als sehr stabil.“, Quelle: Simon (2005), S.48. 47

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beklagen.52 Dennoch existiert im internationalen Vergleich eine deutliche Diskrepanz zwischen dem hohen pro-Kopf Ausgabenniveau und dem dahinter zurückbleibenden, durchschnittlichen Gesundheitszustand der Bevölkerung.53 Die Aussagekraft international vergleichender Studien kann aufgrund einer eingeschränkten Übertragbarkeit lediglich als Indikation dienen; gemäß der Einschätzung des Sachverständigenrats zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen ist die Effizienz und „die Qualität der medizinischen Versorgung im internationalen Vergleich (jedoch) verbesserungswürdig“.54 Im Gegensatz zum Fokus der politisch-öffentlichen Diskussion, die sich aufgrund der verteilungspolitischen Relevanz auf die Finanzierung der Gesundheitsleistungen konzentriert, sieht ein großer Teil der im Gesundheitssektor Beschäftigten das zentrale Problem in der mangelhaften Verwendung der bestehenden Ressourcen.55 Die Bundesregierung bestätigt dies im Rahmen der Gesetzgebung des GKV-WSG 2007; demnach werden „(erstens) die Mittel zur Gesundheitsversorgung nicht überall effizient eingesetzt, so dass es (..) zu Über- und Unterversorgung kommt, (zweitens) die Qualität der Versorgung erheblich variiert und (drittens) die Ressourcen nicht nur an den Schnittstellen suboptimal eingesetzt“.56 Die Ursachen der erstmals durch den Sachverständigenrat 2000/2001 konstatierten Über-, Unter- und Fehlversorgung57 liegen zum einen in den geringen, beziehungsweise teilweise konträren Anreizen für die Anbieter von Gesundheitsleistungen, die Behandlungskosten für ein gegebenes Qualitätsniveau zu reduzieren. Zum zweiten manifestiert die historisch gewachsene Trennung der Sektoren strukturelle Barrieren für einen ganzheitlichen und umfassenden Behandlungsansatz. Dadurch ist die Versorgungsqualität von Patienten gefährdet, die Leistungen aus unterschiedlichen Sektoren beziehen. Weiterhin bestehen keine systematischen Anreize für die Leistungserbringer die Versorgungskosten über

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Seit 1977 wurden über 50 Gesetze und 7.000 Verordnungen im Rahmen der GKV erlassen. Die WHO (2000) vergleicht beispielsweise die pro-Kopf Gesundheitsausgaben mit dem durchschnittlichen Gesundheitszustand unter Berücksichtigung des Gesundheitsniveaus und der Altersverteilung. Deutschland belegte im Jahr 1997 den 3. Platz bei den pro-Kopf Ausgaben gegenüber dem 41.Platz in Bezug auf den Gesundheitszustand. Zu ähnlichen Ergebnissen gelangt die Studie der OECD (2002). 54 Quelle: Sachverständigenrat_Gesundheitswesen (2005), Rn 17. 55 Vgl. Ergebnisse einer Internetumfrage der Universität Witten-Herdecke (2003) unter Beschäftigten des Gesundheitssektors sowie Schlette, Knieps et al. (2005), S.7. Eine entsprechende, vereinfachende Trennung in drei Regulierungsbereiche wird von Porter/Olmsted-Teisberg (2006) für das US-amerikanischen Gesundheitswesens vorgenommen; sie differenzieren: „The first is the cost of and access to health insurance. The second is standards for coverage, or the types of care that should be covered by insurance versus being the responsibility of the individual. The third is the structure of health care delivery itself. (…) While the vast majority of attention has been focused on insurance, we believe that the structure of health care delivery is the most fundamental issue. The structure of health care delivery drives the cost and quality of the entire system, and ultimately the cost of insurance and the amount of coverage that is feasible”. Quelle: Porter/Olmsted-Teisberg (2006), S.3. 56 Quelle: Pressemitteilung BMGS (2006), S.1. 57 Vgl. Sachverständigenrat_Gesundheitswesen (2000/2001), S.25ff. Zur Definition der Begriffe ist zwischen objektiv feststellbarem Bedarf gegenüber subjektiver Nachfrage sowie vorgehaltenen Angebotskapazitäten und deren Inanspruchnahme zu unterscheiden. Überversorgung tritt auf, wenn eine Inanspruchnahme ohne tatsächlichen Bedarf stattfindet oder bei vorhandenem Bedarf der Prozess der Leistungserstellung nicht effizient ist. Unterversorgung entsteht hingegen, wenn vorhandener Bedarf aufgrund de facto beschränkter oder willentlich zurückgehaltener Ressourcen nicht erfolgt. Gesundheitsschäden in Folge nicht fachgerecht erbrachter Leistungen resultieren in einer Fehlversorgung. 53

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die Sektoren hinweg zu minimieren. Die im internationalen Vergleich unübliche Trennung der Leistungserstellung zwischen den Sektoren wird durch die ordnungspolitische Besonderheit der Existenz unterschiedlicher Koordinations- und Allokationsmechanismen in einzelnen Teilmärkten begünstigt.58 Obwohl die Notwendigkeit von Reformen der Versorgungsstrukturen für eine Steigerung der Wirtschaftlichkeit bei der Leistungserstellung und eine verbesserte Zusammenarbeit der Sektoren bereits frühzeitig erkannt worden ist, konzentrierte sich der Gesetzgeber zunächst auf eine Begrenzung des Ausgabenwachstums durch Kostendämpfungsmaßnahmen.59 Diese umfassten unter anderem die Vorgabe von sektoral begrenzten Ausgabenbudgets. Dadurch wurde die sektorale Trennung der Leistungserstellung zementiert und statt effizient tätige Leistungsanbieter zu stärken, eine undifferenzierte, implizite Leistungsrationierung durch die Budgetgrenzen vorgenommen. Mit Beginn der 90er Jahre wurden strukturelle Reformen eingeleitet, die eine stärkere Pauschalierung der Vergütungssysteme enthielten und eine Liberalisierung des Versicherungsmarktes unter Beibehaltung der solidarischen Finanzierung

vorsahen.

Nach

anfänglichen

Gesundheitsreformgesetz (GKV-GRG)

61

Versuchen60

manifestierte

das

GKV-

2000 den ersten Ansatz, die sektoral fragmentierte Leis-

tungserstellung durch eine Liberalisierung der Vertragsbeziehungen zwischen den Krankenkassen und Leistungsanbietern aufzubrechen und die innerhalb der korporativen Ordnung verfestigten sektoralen Schranken zu umgehen. Zur Einordnung der aktuellen Reformansätze seit dem GKV-GRG 2000 werden einleitend die gesetzgeberischen Aktivitäten seit den 70er Jahren betrachtet.

b) Kostendämpfungsmaßnahmen und Strukturgesetzgebung In Folge der Ölpreisschocks und der Ausweitung des Leistungs- und Versichertenumfangs (doppelte Inklusion) in den Zeiten des Wirtschaftswunders der Nachkriegszeit geriet die GKV Anfang der 70er Jahre in die Krise. Innerhalb von 6 Jahren musste der durchschnittliche Beitragssatz zur Kostendeckung von 8,1% (1970) auf 11,3% (1976) angehoben werden.62 Die Reformpolitik sah in der Folge eine Phase der Kostendämpfung vor, deren zentrale Gesetze in dem Kostendämpfungsgesetz (KVKG)63 1977, dem Krankenhaus-Kostendämpfungsgesetz (KHKG)64 1981, der Operation 8265 und 58

Vgl. Sachverständigenrat_Gesundheitswesen (2005), Rn.42 sowie Rosenbrock/Gerlinger (2004), S.236f. Vgl. die WSI-Studie/Sozialforschung (1975), die auf die Ergebnisse eines 1973 vom Wissenschaftlichen Institut des Deutschen Gewerkschaftsbundes initiierten Forums zum Thema „Integrierte medizinische Versorgung, Notwendigkeit – Möglichkeiten – Grenzen“ diskutiert wurden. 60 Vgl. das Zweite Gesetz zur Neuordnung von Selbstverwaltung und Eigenverantwortung in der gesetzlichen Krankenversicherung (2.GKV-Neuordnungsgesetz, 2.GKV-NOG) vom 23.06.1997 (BGBl. I S.1520). 61 Vgl. Fußnote 21. 62 Vgl. Herder-Dornreich (1994), S.138. Die als soziale Errungenschaft gefeierte Erweiterung des Leistungsund Versichertenumfangs wurde verstärkt unter dem Blickwinkel der steigenden Kosten betrachtet. 63 Gesetz zur Dämpfung der Ausgabenentwicklung und zur Strukturverbesserung in der gesetzlichen Krankenversicherung (Krankenversicherungs-Kostendämpfungsgesetzes - KVKG) vom 27.06.1977 (BGBl. I, S.1069). 64 Gesetz zur Änderung des Gesetzes zur wirtschaftlichen Sicherung der Krankenhäuser und zur Regelung der Krankenhauspflegesätze (Krankenhaus-Kostendämpfungsgesetzes - KHKG) vom 22.12.1981 (BGBl. I, S.1568). 65 Der von Helmut Kohl in diesem Zusammenhang initiierte Umbau des Sozialstaates bezog sich insbesondere auf verteilungspolitische Fragen ohne strukturell Änderungen anzugehen. 59

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dem Gesundheitsreformgesetz (GKV-GRG)66 1989 bestanden, ohne die grundlegende Struktur der Gesundheitsversorgung zu verändern.67 Während die Bemühungen zur Dämpfung des Kostenwachstums durch die Einführung von sektoral getrennten Vergütungsbudgets für die ambulante und stationäre Versorgung sowie die Ausgaben für Arznei-, Heil- und Hilfsmittel anhielten, enthielt erst das GKV-GSG 1992 einige strukturelle Reformelemente bezüglich der Vergütungssystematik im stationären Bereich und der Neuausrichtung des Versicherungsmarktes.68 Die Vergütung von stationären Leistungen wurde durch die Einführung der Bundespflegesatzverordnung (BPfleV) zum 1.Januar 1995 stärker pauschaliert gestaltet.69 Des Weiteren sollte mit der Einführung der Kassenwahlfreiheit zum 1.Januar 1997 ein Wettbewerb zwischen den gesetzlichen Krankenkassen um die Nachfrage der Versicherten initiiert werden. Um das Solidarprinzip zu gewährleisten, wurde flankierend der RSA eingeführt und damit die solidarische Umverteilung innerhalb einer Kasse auf die Gesamtheit der gesetzlich Versicherten ausgeweitet. Aufgrund der Imperfektion der RSA-Zahlungen hat sich der Fokus des Wettbewerbs zwischen den Kassen jedoch auf die Selektion überdurchschnittlich attraktiver Gesundheitsrisiken statt eines Wettbewerbs um ein effizientes Leistungsangebot gelegt.70 Ab Mitte der 90er Jahre folgten weitere Gesetzesinitiativen71 unter dem Begriff der Dritten Stufe der Gesundheitsreform, die durch die Erhöhung von Zuzahlungen und die Beschränkung des Leistungskataloges das Ausgabenwachstum verlangsamen sollten und keine weiteren Strukturveränderungen enthielten. Im Gegensatz zur Entwicklung zu Beginn der 70er Jahre konnte eine Kostenexplosion in den 90er Jahren vermieden werden.72 Gleichzeitig blieb das Postulat der Vorfahrt für die Selbstverwal-

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Gesetz zur Strukturreform im Gesundheitswesen (Gesundheits-Reformgesetz – GRG) vom 20.12.1988 (BGBl. I, S.2477). Die Aufnahme des Pflegefallrisikos durch GKV-GRG 1989 stellte eine weitere Ausweitung der Leistungen dar, die bis Einführung der Pflegeversicherung 1995 durch Beiträge zur GKV finanziert wurde. 67 Im Zuge der Wiedervereinigung wurde das System der GKV einseitig auf die Neuen Bundesländer übertragen, ohne die Erfahrungen der in Teilen erheblich stärker integrierten Versorgungsformen der DDR zu berücksichtigen. Eine Ausnahme bildet der eingeschränkte Fortbestand von Polikliniken gemäß §311. Das Vorgehen der einseitigen Ausweitung des GKV-Systems auf die Neuen Bundesländer wurde mitunter scharf kritisiert. Vgl. hierzu Simon (2005), S.42, Wille (1999), S.105. 68 Das Wachstum der Budgets sollte durch die Steigerungsrate der durchschnittlichen beitragspflichtigen Einnahmen begrenzt werden, um dem Grundsatz der Beitragssatzstabilität zu entsprechen. Einen tatsächlichen Effekt erzielten die Budgetbegrenzungen zunächst lediglich im Bereich der ambulanten Versorgung. 69 Die beabsichtigte Entwicklung einer eigenen Pauschalvergütungssystematik wurde jedoch im Rahmen des GKV-GRG 2000 als gescheitert erklärt. Vgl. Darstellung unter Teil 1: IV)c). 70 Vgl. hierzu die Darstellung in Teil 3:III). 71 Die zentralen Gesetze der Dritten Stufe umfassen: Gesetz zur Entlastung der Beiträge in der gesetzlichen Krankenversicherung (Beitragsentlastungsgesetz – BeitrEntlG) vom 01.11. 1996 (BGBl. I S.1631); Gesetz zur Stabilisierung der Krankenhausausgaben 1996 vom 29.04.1997 (BGBl. I S.654); Erstes Gesetz zur Neuordnung von Selbstverwaltung und Eigenverantwortung in der gesetzlichen Krankenversicherung (1.GKVNeuordnungsgesetz – 1.GKV-NOG) vom 23.06.1997 (BGBl. I S.1518) und das Zweite Gesetz zur Neuordnung von Selbstverwaltung und Eigenverantwortung in der gesetzlichen Krankenversicherung (2.GKVNeuordnungsgesetz – 2.GKV-NOG) vom 23.06.1997 (BGBl. I S.1520). 72 Zwischen 1991-2001 wuchsen die Ausgaben je Mitglied um 32,8% und entsprachen damit ungefähr dem Wachstum des Bruttoinlandsproduktes von 28,4%. Aufgrund der Erosion der sozialversicherungspflichtigen

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tung, welches den korporativen Charakter der Allokation der Ressourcen im Leistungsmarkt betont, bis Ende der 90er Jahre quasi vollständig erhalten.73 Erst durch das GKV-GRG 2000 wurde angesichts der abnehmenden Leistungsfähigkeit der korporativen Institutionen ein Paradigmenwechsel zugunsten einer wettbewerblichen Ordnung veranlasst.74

c) Zwischen Solidarprinzip und Wettbewerb Die reformpolitische Gesetzgebung seit dem GKV-GRG 2000 erweiterte die mit der Einführung der Kassenwahlfreiheit initiierte wettbewerbliche Ausrichtung der GKV. Das Ziel bestand einerseits darin, die Wirtschaftlichkeit der Leistungserstellung zu gewährleisten und andererseits die sektoral fragmentierten Versorgungsstrukturen aufzubrechen. Dabei sind die zwei Reformebenen der Forcierung eines Wettbewerbs zwischen Anbietern im Leistungsmarkt und der wettbewerblichen Ausgestaltung des Versicherungsmarktes unter Beibehaltung der solidarisch finanzierten Versicherung des individuellen Gesundheitsrisikos zu unterscheiden. Die Verknüpfung der beiden Ebenen entsteht durch das Nachfrageverhalten beziehungsweise den Einkauf von Gesundheitsleistungen durch die Krankenkassen, um dem Sachleistungsanspruch der Versicherten im Bedarfsfall gerecht zu werden. Dabei ist zu berücksichtigen, dass die Ziele eines Wettbewerbs im Leistungsmarkt - im Sinne einer produktiven Effizienz und einer Flexibilisierung des Versorgungsangebots gemäß dem Bedarf der Versicherten ein effizientes Nachfrageverhalten der Krankenkassen voraussetzen. Seit dem GKV-GRG 2000 umfasst die zentrale Gesetzgebung bisher die RSA-Reform 2001, das FPG 2002, das GKV-GMG75 sowie das GKV-WSG 2007. Die Entwicklung der gesetzlichen Grundlagen wird im Folgenden getrennt für den Leistungs- und Versicherungsmarkt betrachtet. Reformen im Leistungsmarkt Das GKV-GRG 2000 wurde durch die Koalitionsregierung aus SPD und BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN entworfen. Um das Ziel der Überwindung der sektoral fragmentierten Leistungserstellung zu erreichen, sollten die getrennten Budgets der ambulanten und stationären Versorgung zu einem Globalbudget zusammengefasst und das Prinzip des Korporatismus zugunsten einer wettbewerblichen Ausrichtung des Leistungsmarktes aufgebrochen werden. Da die Umsetzung eines Globalbudgets für den ambulanten und stationären Sektor scheiterte, konzentrierte sich der „innovative Kern der Ge-

Arbeitsverhältnisse und der demographischen Entwicklung stiegen die beitragspflichtigen Einnahmen je GKVMitglied im selben Zeitraum dagegen jedoch lediglich um 3,2%. Vgl. Preis (2004). 73 Eine Ausnahme bildeten die Ansätze im 2. NOG 1997, die Integration der Leistungserstellung zwischen den Sektoren durch Modellvorhaben (§§63-65, a.F.) und Strukturverträge (§73a, a.F.) zu forcieren. Trotz inhaltlicher und zeitlicher Vorgaben wurden den Kassen erste, zusätzliche Handlungsspielräume eröffnet. 74 Vgl. Sachverständigenrat_Gesundheitswesen (2005), S.52f., Rn.48. Demnach bestehen die zentralen Schwachstellen der korporativen Koordination in der Nicht-Berücksichtigung der Interessen dritter Parteien, dem Interesse einer Erhaltung des Status Quo, eine auf inkrementelle Veränderungen begrenzte Reformbereitschaft und der Vorgabe der Illusion gegenüber ihren Mitgliedern Risiken durch die Verzögerung von Reformen und Veränderungen minimieren zu können. 75 Gesetz zur Modernisierung der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV-Gesundheitsmodernisierungsgesetz, GKV-GMG) vom 19.11.2003, (BGBl. I S.2190).

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sundheitsreform 2000 (auf) die Einführung so genannter integrierter Versorgungsformen“.76 Nach den letztendlich erfolglosen Versuchen, die Fragmentierung der Leistungserstellung innerhalb der korporativen Ordnung zu überwinden, sollte den Krankenkassen und Leistungsanbietern eine erheblich erweiterte Vertragsfreiheit gewährt werden, um sektorenübergreifende Versorgungsangebote selbstständig zu entwickeln. Dadurch wurden die Reformebenen der Integration der Versorgungsstrukturen und der Stärkung des Wettbewerbsprinzips im Leistungsmarkt erstmals miteinander verknüpft.77 Weiterhin wurde der Wettbewerb zwischen den Anbietern in der stationären Versorgung durch den Beschluss verschärft nach dem Scheitern der Entwicklung eines eigenen pauschalierten Vergütungssystems auf der Basis der BPfleV die Vergütung auf ein international anerkanntes Fallpauschalensystem umzustellen.78 Die zentrale Zielsetzung der Vergütungsreform bestand darin, die Anreize für Krankenhäuser zu minimieren, angebotsinduzierte Leistungsausweitungen vorzunehmen und bestehende Überkapazitäten im stationären Sektor mittelfristig abzubauen. Das GKV-GMG 2004 wurde in der zweiten Legislaturperiode der rot-grünen Regierungskoalition zusammen mit der CDU/CSU Fraktion entwickelt. Es bestärkte die ursprüngliche Absicht des Gesetzgebers, einen Wettbewerb zwischen Leistungsanbietern zu generieren. Dazu wurde die gesetzliche Grundlage für individuelle Vertragsschlüsse zwischen Kassen und Leistungsanbietern zur Entwicklung integrierter Versorgungsangebote erheblich vereinfacht, da die neuen Versorgungsformen bis dato kaum praktische Relevanz aufwiesen.79 Die Möglichkeiten der Krankenkassen, einzelne Verträge mit Leistungsanbietern abzuschließen, wurden zudem durch die Hausarztzentrierte Versorgung (§73b), besondere Vergütungsaufträge (§73c), Medizinische Versorgungszentren (§95), die Teilöffnung der Krankenhäuser zur ambulanten Versorgung (§§116a, 119) und die Versorgung mit Hilfsmitteln (§127) maßgeblich erweitert.80 Das GKV-WSG 2007 entstammt der großen Koalition aus CDU/CSU und SPD, die im vorangegangen Wahlkampf 2005 die Frage der Finanzierung von Gesundheitsleistungen sehr kontrovers thematisiert hatten. Der Wille zum Ausbau des Wettbewerbs im Leistungsmarkt durch die Liberalisierung der

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Quelle: Simon (2005), S.45. Vgl. Jacobs/Schultze (2004), S.8. Die Krankenkassen sollten die Möglichkeit des selektiven Vertragsabschlusses nutzen, um einerseits ihren Versicherten eine sektorenübergreifende Versorgung anzubieten und andererseits einen Wettbewerb zwischen den Leistungsanbietern, um einen Vertragsschluss mit einer oder mehreren Krankenkassen zu forcieren. 78 Die ursprüngliche Intention des GSG 1993, ein eigenes System pauschalierter Entgelte auf der Grundlage der Bundespflegesatzverordnung zu entwickeln, wurde durch das GRG 2000 verworfen. Die Spitzenverbände der gesetzlichen Krankenkassen und der Krankenhausträger wurden beauftragt, ein für die GKV optimales, in anderen Ländern bewährtes System zu identifizieren. Mitte des Jahres 2000 einigten sich die Spitzenverbände daraufhin auf das australische Diagnos-Related Group (DRG) System. Das Gesetz zur Einführung des diagnoseorientierten Fallpauschalensystems für Krankenhäuser (Fallpauschalengesetz- FPG) vom 23.04.2002 (BGBl. I S.1412) spezifiziert die Einzelheiten der Konvergenzphase bis 2009. 79 Aufgrund restriktiver Vorgaben und der Einbeziehung der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV) erwies sich die Option für die Kassen und Leistungsanbieter, eine integrierte Versorgung gemäß §140a-d anzubieten, zunächst als nicht attraktiv. Vgl. Simon (2005), S.45 und Rosenbrock/Gerlinger (2004), S.230ff. 80 Vgl. Orlowski/Wasem (2003), S.69ff. und Jaeger (2005), S.37ff. 77

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Vertragsbeziehungen zwischen Anbietern und Kassen wurde insbesondere in Bezug auf die Integrierte Versorgung bestätigt. Des Weiteren wird durch verschiedene Maßnahmen und Veröffentlichungspflichten versucht, die Transparenz der Qualität der Versorgung zu erhöhen, um die Nachfragesouveränität der Versicherten angesichts der wachsenden Anzahl an Vertragsoptionen zu stärken. Reformen im Versicherungsmarkt Die Forcierung des Wettbewerbs zwischen den Anbietern im Leistungsmarkt wurde teilweise als Pendant zu dem 1997 eingeführten Wettbewerb zwischen den Krankenkassen bewertet, die durch die Liberalisierung der Vertragsabschlüsse mit den Leistungsanbietern einen erheblich erweiterten Einfluss auf die beiden zentralen Wettbewerbsparameter des Preises (Beitragssatz) und des Produktangebots erhalten sollten. Die Frage, ob ein Wettbewerb zwischen den Krankenkassen angesichts des Prinzips der solidarisch finanzierten Versicherungsleistung tatsächlich wünschenswert ist, wurde in der politischen Diskussion oftmals vorschnell übergangen. Der Spagat zwischen Solidarprinzip und Wettbewerb besteht darin, dass die solidarische Finanzierung der Gesundheitsrisiken eine Umverteilung zwischen den Kassen gemäß der Risikostruktur der jeweiligen Versicherungspopulation vorsieht. Der Umverteilungsmechanismus soll dabei theoretisch so ausgestaltet sein, dass die Krankenkassen indifferent gegenüber dem Risikoprofil ihrer Versicherten sind und über die Bereitstellung eines effizienten Leistungsangebotes konkurrieren. Der Anreiz zur Selektion attraktiver Versicherungsrisiken sollte ursprünglich durch den RSA ausgeschaltet werden, wobei die Höhe der Ausgleichszahlungen ausschließlich anhand der Kriterien Alter und Geschlecht berechnet wurden. Die RSA-Reform 2001 sah eine Verfeinerung der unzureichenden Berechnung der Ausgleichszahlungen durch die Einbeziehung von chronischen Krankheiten im Rahmen von Disease-Management-Programme (DMPs) vor. Die Berücksichtigung der Teilnahme an den DMPs bei der Berechnung der RSA-Zahlungen ist jedoch fragwürdig, da die Ausgleichszahlungen nicht mehr an objektivierbare Kriterien, sondern an das Verhalten der Versicherten geknüpft werden. Dadurch erhalten die Krankenkassen zusätzliche Anreize, in rent seeking Aktivitäten zu investieren, durch die möglichst viele Versicherte unabhängig von ihrem tatsächlichen Gesundheitszustand zum Beitritt in die DMPs motiviert werden. Durch das GKV-WSG 2007 wurde schließlich die Einführung des Gesundheitsfonds ab dem 1.Januar 2009 beschlossen, durch den die Ausgleichszahlungen des RSA ersetzt werden sollen. Dazu sollen die Versicherungsbeiträge zentral durch den Gesundheitsfond erhoben und Prämien an die Krankenkassen für ihre Versicherten ausgezahlt werden, die entkoppelt von den Beiträgen auf der Grundlage mehrerer Morbiditätskriterien zu berechnen sind. Es verbleibt fraglich, ob die Selektionsanreize der Krankenkassen dadurch vollständig reduziert und ein Wettbewerb um ein effizientes Versorgungsangebot induziert werden kann.81 Zusammenfassend ist festzuhalten, dass die Neuausrichtung des Gesundheitswesens mit erheblichen Problemen behaftet ist. So ist es bisher nicht gelungen, das Gleichgewicht zwischen dem Prinzip der 81

Vgl. hierzu die Diskussion in Teil 3: III).

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solidarischen Finanzierung und der Verwendung eines wettbewerblichen Steuerungsansatzes zur Erstellung der Gesundheitsleistungen zu wahren, und gleichzeitig den Besonderheiten von Gesundheitsleistungen im Rahmen eines wettbewerblich organisierten Marktes gerecht zu werden. Rosenbrock/Gerlinger (2004) merken entsprechend an: „Der Ausbau von Wettbewerbsmechanismen (…) liegt im politischen Trend. Aber die politischen Entscheidungsträger werden ohne ein gehöriges Maß an flankierender Regulierung nicht auskommen, wenn sie verhindern wollen, dass der Wettbewerb zu massiven Verwerfungen in der medizinischen Versorgung führt. Ein erheblicher Teil gesundheitspolitischer Energien dürfte sich künftig darauf richten, das widersprüchliche Verhältnis von wettbewerblichen Steuerungslogiken und öffentlich-rechtlicher Verantwortung für eine am Bedarf orientierte Versorgung auszutarieren“.82 Die drei folgenden Aufsätze diskutieren die Notwendigkeit einer flankierenden Regulierung im Leistungs- und Versicherungsmarkt. Dabei knüpft der erste Aufsatz an den Regulierungsbedarf in Bezug auf die zivilrechtliche Haftung der Ärzte als Folge der Einführung des DRG-Vergütungssystems durch das FPG 2002 an. Die beiden weiteren Aufsätze beziehen sich auf die Institution der Integrierten Versorgung gemäß §140a-d. Der zweite Aufsatz untersucht die Frage, wie beim Einkauf integrierter Versorgungsleistungen ein effizientes Nachfrageverhalten der Krankenkassen angesichts des durch die solidarischen Ausgleichszahlungen verzerrten Wettbewerbs sichergestellt werden kann, um eine effiziente Allokation der Produktionsfaktoren im Leistungsmarkt zu gewährleisten. Der dritte Arbeitsansatz prüft angesichts der schleppenden Entwicklung neuer Organisationsformen im Leistungsmarkt, welche Faktoren den ökonomischen und medizinischqualitativen Erfolg der neuen Organisationen im Rahmen der Institution der Integrierten Versorgung determinieren.

V) Drei Aufsätze a) Die Gestaltung von Haftungsstandards in Multitask Prinzipal-Agenten Beziehungen Die Logik, die Vergütungssysteme zugunsten pauschalierter Formen umzustellen, besteht darin, das ökonomische Kalkül der Leistungserbringer bei ihren Behandlungsentscheidungen zu stärken. Pauschalierte Vergütungssysteme zielen darauf ab, den Umfang einer angebotsinduzierten Nachfrage im Sinne einer Überversorgung zu reduzieren. Die damit einhergehende Gefahr einer Unterversorgung an Leistungen soll unter anderem durch eine Verschärfung der geltenden Haftungsstandards kompensiert werden. Im vorliegenden Ansatz wird die Forderung nach strikteren Haftungsvorschriften im Zusammenhang mit der ärztlichen Behandlung als eine Aufgabe mit mehreren Dimensionen (Multitasking) diskutiert. Der grundlegende Ansatz von Holmstrom und Milgrom (1991) zur Gestaltung der Anreizstruktur im Rahmen einer positiven Vergütung wird für die optimale Ausgestaltung eines Haftungssystems verwendet, indem die drohenden Schadensersatzzahlungen als eine negative Vergütung be82

Quelle: Rosenbrock/Gerlinger (2004), S.260.

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trachtet werden. Dadurch gelangt man zu einer Handlungsempfehlung, die der klassischen Logik einer Verschärfung der Haftungsstandards bei einer zunehmenden Pauschalierung der Vergütung widerspricht. Es wird argumentiert, dass ein strikteres Haftungsregime zu einer Reallokation der Anstrengung der Ärzte zugunsten der gerichtlich besser beobachtbaren Aufgabendimensionen führt und dadurch die Gesamtqualität der Behandlung gegebenenfalls mindert. Der Argumentation liegt die Intuition zugrunde, dass Ärzte aufgrund einer hohen Arbeitsbelastung durch haftungsrechtlich nachvollziehbare, administrative Aufgaben weniger Zeit für originär ärztliche, gerichtlich kaum nachvollziehbare Tätigkeiten, wie beispielsweise beratende und betreuende Gespräche, aufwenden. Empirische Anhaltspunkte bieten hierzu die Proteste der stationär tätigen Ärzte im Jahr 2006, deren Streik ein Novum in der Geschichte der GKV darstellte, sowie verschiedene Studien aus den USA.

b) Die Anwendung des Vergaberechts auf Integrierte Versorgungsverträge gemäß §140a-d SGB V Im Zuge der wettbewerblichen Ausrichtung des Leistungsmarktes hat der Gesetzgeber den gesetzlichen Krankenkassen und Leistungsanbietern verschiedene Optionen zum Abschluss von individuellen Verträgen eröffnet. Eine zentrale Komponente dieses Ansatzes stellt die Integrierte Versorgung gemäß §140a-d dar, durch die speziell fach- und sektorenübergreifende Angebote gefördert werden sollen. Durch die Institution der Integrierten Versorgung können umfassende Versorgungsangebote zwischen einzelnen Kassen und Leistungsanbietern vereinbart werden, so dass die bisherigen sozialrechtlichen Regelungen des 4. Kapitels des SGB V zum Abschluss der gemeinsam und einheitlich auf Verbandsebene verhandelter Vereinbarungen zunehmend an Bedeutung verlieren. Zunächst ist daher fraglich, ob ein alternativer Regulierungsbedarf hinsichtlich eines an Effizienz ausgerichteten Nachfrageverhaltens der Krankenkassen vorliegt, welches die zentrale Voraussetzung für eine produktive Effizienz im Leistungsmarkt bildet. Es wird argumentiert, dass aufgrund der bisher widersprüchlichen Anreize einer gesetzlichen Krankenkasse, eine effiziente und qualitativ hochwertige fach- und sektorenübergreifende Versorgung anzubieten, Regulierungsbedarf besteht. Als mögliche Regulierungsansätze werden das Wettbewerbs- und Kartellrecht sowie das Vergaberecht diskutiert. Da die Anwendbarkeit des Wettbewerbs- und Kartellrechts aufgrund der fehlenden Eigenschaft der gesetzlichen Krankenkassen als funktionale Unternehmen i.S.d. Art. 81, 82 und 86 EG-Vertrag in der europäischen Rechtssprechung bisher ausgeschlossen wurde, fokussiert der vorliegende Arbeitsansatz auf die Funktionsfähigkeit des Vergaberechts, einen effizienten Vertragswettbewerb im Leistungsmarkt zu gewährleisten. Nach der Prüfung der Anwendbarkeit aus juristischer Sicht erfolgt die rechtsökonomische Untersuchung im Rahmen einer Kosten-Nutzen Analyse. Im Ergebnis ist die Anwendung des Vergaberechts sowohl aus juristischer als auch ökonomischer Perspektive zu bejahen. Als problematisch sind dabei die bisher zu geringen Anreize für nicht berücksichtigte Bieter zu beurteilen, die Durchsetzung des Vergaberechts durch die Wahrnehmung ihrer Schutzrechte in einem Nachprüfungsverfahren zu gewährleisten.

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c) Die Determinanten der Organisationsformen in der Integrierten Versorgung gemäß §140a-d SGB V Der dritte Aufsatz beschäftigt sich mit den Verträgen und Organisationsformen, welche die Akteure der Selbstverwaltung zur Durchführung integrierter Versorgungsangebote begründet haben. Bisher wurden die Angebote im Rahmen von vier verschiedenen Organisationsformen entwickelt; diese umfassen das Gesellschaftsmodell, das Kooperationsmodell sowie die Einkaufsmodelle I und II. Sie können anhand von zwei zentralen Dimensionen differenziert werden: Zum einen ist fraglich, welche der möglichen Vertragsparteien (gesetzliche Krankenkasse, Managementgesellschaft oder eine Gemeinschaft von Leistungsanbietern) die Aufgabe der Versicherung des Krankheitskostenrisikos übernimmt. Zum zweiten ist zu prüfen, wie durch die Gestaltung der Vergütungssystematik und potentieller Kooperationsverträge die Zusammenarbeit zwischen den Anbietern gewährleistet wird. Nach der Einführung durch das GKV-GRG 2000 hat die Liberalisierung der Vorgaben durch GKVGMG 2004 zu einem starken Wachstum von Vertragsabschlüssen geführt, so dass zum 31.03.2007 3.671 Verträge mit einem Vergütungsvolumen von ~663 Mio € gegenüber 613 Verträgen mit einem Vergütungsvolumen von ~254 Mio € zum 31.03.2005 bestanden.83 Der Gesamtumfang des im Rahmen des §140a-d organisierten Versorgungsgeschehens verbleibt trotz des erheblichen Wachstums vergleichsweise gering und entspricht lediglich ~0,5% der geschätzten Gesamtausgaben der gesetzlichen Krankenkassen für das Jahr 2007. Das Potential der Integrierten Versorgung ist damit aus Sicht der Bundesregierung, des Sachverständigenrates sowie zahlreicher Experten nur unzureichend ausgeschöpft.84 Als eine der zentralen Ursachen für die bisherige Zurückhaltung der Akteure der Selbstverwaltung gilt die Komplexität der Vertragsentwürfe sowie die Unsicherheit über den ökonomischen und medizinisch-qualitativen Erfolg der Angebote aufgrund einer hohen Intransparenz der bestehenden Verträge. Eine Zuordnung der bisher geschlossenen Verträge gemäß den zwei zentralen Dimensionen der Allokation des Krankheitskostenrisikos und der Vergütungssystematik der teilnehmenden Anbieter ist bisher nicht möglich, da die beschränkte Informationspflicht der teilnehmenden Krankenkassen und Leistungsanbieter an die Registerstelle der Bundesgeschäftsstelle für Qualitätssicherung (BQS)85 keine relevanten Rückschlüsse auf die Vertragsstrukturen erlaubt. So beklagt der Sachverständigenrat im Gesundheitswesen, dass die in der Praxis gewonnenen Erkenntnisse „oftmals nicht, 83

Quelle: BQS (2005a), S.1, BQS (2007a), S.1. Vgl. beispielsweise BT-Drucksache_16/3100 (2006), S.152ff, Rosenbrock/Gerlinger (2006), S.262f. Roland_Berger_Strategy_Consultants (2002). 85 Die Bundesgeschäftsstelle für Qualitätssicherung gGmBH (BQS) wurde im Jahr 2000 von den Akteuren der Selbstverwaltung als gemeinnützige Organisation zur Umsetzung der externen vergleichenden Qualitätssicherung gemäß §137ff. gegründet. Die Gesellschafter sind die Bundesärtzekammer, die Deutsche Krankenhausgesellschaft (DKG), die Spitzenverbände der Krankenkassen sowie der Verband der Privaten Krankenversicherung. Eine der Aufgaben besteht in der Umsetzung einer gemeinsamen Registrierungsstelle gemäß §140d Abs.1 Satz 5. Die Registrierungsstelle arbeitet seit Dezember 2003 und veröffentlicht Quartalsberichte über die Anzahl der Verträge und teilnehmenden Versicherten sowie das erwartete Umsatzvolumen. Durch das GKV-WSG sind die Informationspflichten für Vertragsabschlüsse nach dem 01.04.2007 erweitert worden. 84

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verzögert oder nur partiell transparent gemacht werden, um sich Wettbewerbsvorteile gegenüber anderen Leistungsanbietern und Kostenträgern zu sichern“.86 Das Ziel des Aufsatzes besteht darin, diejenigen Indikationsgebiete und Umweltzustände zu beschreiben, für welche die verschiedenen Organisationsformen jeweils optimal sind und dadurch die Entwicklung der Verträge in der Praxis zu fördern. Aufgrund der fehlenden Daten über die Vertragsstrukturen beschränkt sich die Analyse weitgehend auf eine theoretische Herangehensweise: Zunächst wird mit Hilfe des verfügungsrechtlichen Ansatzes untersucht, welche Vertragspartei (gesetzliche Krankenkasse, Managementgesellschaft oder eine Gemeinschaft von Leistungsanbietern) das Krankheitskostenrisiko für verschiedene Indikationsgebiete und Umweltzustände übernehmen sollte. Daraufhin wird auf der Grundlage eines Mehragentenmodells aus der ökonomischen Vertragstheorie untersucht, welche Faktoren die optimale Vergütungsform determinieren und wiederum unterschiedliche Indikations- und Anwendungsbereiche identifiziert.87

86

Quelle: Sachverständigenrat_Gesundheitswesen (2002), S.262f.; vgl. Rosenbrock/Gerlinger (2006), S.259. Die verschiedenen Organisationsformen werden dabei quasi als „personifizierte Kehrseite“ (vgl. Richter/Furubotn (1998), S.25.) der Institution der Integrierten Versorgung betrachtet. 87

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Abkürzungsverzeichnis

BPfleV

Bundespflegesatzverordnung

BeitrEntlG

Beitragsentlastungsgesetz

DRG

Diagnosis Related Groups

DMP

Disease Management Programm

FPG

Fallpauschalengesetz

G-BA

Gemeinsamer Bundesausschuss

GKV

Gesetzliche Krankenversicherung

GMG

Gesundheitsmodernisierungsgesetz

GRG

Gesundheitsreformgesetz

GWB

Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen

KHKG

Krankenhaus-Kostendämpfungsgesetz

KVKG

Kostendämpfungsgesetz

KV

Kassenärztliche Vereinigung

NOG

Neuordnungsgesetz

NHS

National Health Service

OECD

Organisation for Economic Cooperation and Development

PKV

Private Krankenversicherung

RSA

Risikostrukturausgleich

SVRKAiG

Sachverständigenrat für Konzertierte Aktion im Gesundheitswesen

WHO

World Health Organisation

WSG

Wettbewerbstärkungsgesetz

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Teil 2: I)

Die Gestaltung von Haftungsstandards in Multitask Prinzipal-Agenten Beziehungen88

Einleitung

a) Hintergrund Die demographische und epidemiologische Transition stellt für die solidarisch getragenen, sozialen Sicherungssysteme in zahlreichen industrialisierten Ländern eine hohe finanzielle Belastung dar. Die reformpolitischen Ansätze, das Wachstum der Gesundheitsausgaben zu dämpfen, setzen häufig bei einer Reform der Anreizsysteme der Ärzte an. Diese agieren als so genannte doppelte Agenten89 im Sinne der Versicherten und der gesetzlichen Krankenkassen und verfügen aufgrund der Informationsasymmetrien bei der Erstellung von Erfahrungs- und Vertrauensgütern90 über einen signifikanten opportunistischen Verhaltensspielraum in Bezug auf den Umfang und die Qualität der erbrachten Gesundheitsleistungen. Das System der Leistungsvergütung stellt für den Gesetzgeber beziehungsweise die Krankenkassen ein zentrales Instrument der Verhaltenssteuerung der Ärzte dar. Mögliche Vergütungsformen umfassen das Kontinuum zwischen einer auf Einzelleistungen basierenden Fee for Service (FFS) Entlohnung bis hin zu einer prospektiv kalkulierten Pauschalzahlung (Prospective Payment System, PPS). Beide Vergütungsformen weisen spezifische Vor- und Nachteile auf, so dass als theoretische Second Best Lösungen lineare Kombinationen der beiden Vergütungssysteme (Mixed Payment Systems) identifiziert wurden.91 Der zentrale Nachteil einer FFS – basierten Vergütung besteht darin, dass die Ärzte von einer Ausweitung des Leistungsumfangs profitieren und grundsätzlich kein Anreiz besteht, die Versorgungskosten einer Behandlungsentscheidung relativ zu dem medizinisch indizierten Bedarf zu berücksichtigen.92 Demgegenüber steht die Vergütungslogik eines PPS, innerhalb derer für jedes Krankheitsbild unter Berücksichtigung individueller Versichertencharakteristika ex ante eine pauschale Vergütung berechnet wird. Die Kosten einer zusätzlichen Leistung, für die ein Arzt keine zusätzliche Vergütung erhält, bezeichnen den Anteil des Supply-Side Cost Sharing. Im Fall einer vollständig prospektiv kal88

Für hilfreiche Diskussionen und Kommentare danke ich Jochen Bigus, Dominique Demougin, Eberhard Feess, Luigi Franzoni, Nuno Garoupa, Fernando Gomez, Frank Müller-Langer, Martin Nell, Guiliana Palumbo, Steven Shavell, Eva-Maria Steiger, Thomas Ulen, Stephan Wittig, den Teilnehmern der 23. EALE Konferenz 2006 (Madrid) und der 2. ISLE Konferenz 2006 (Rom) sowie zwei anonymen Referees. 89 Vgl. die Sichtweise von Blomqvist (1991). 90 Gemäß der Differenzierung durch Nelson, (1970) sowie Darby (1973) entsprechen Gesundheitsleistungen dem klassischen Beispiel von Vertrauensgütern. Sie unterscheiden die Güter anhand der den Vertragspartnern zur Verfügung stehenden Informationen. Vgl. die Darstellung unter Teil: I)b)(1). 91 Für einen Überblick vgl. Newhouse (1996), S.1240ff. 92 Der opportunistische Verhaltensspielraum eines Arztes wird angesichts der versicherten Nachfrage des Patienten als externes moralisches Risiko beschrieben. Vgl. Fritsch, Wein et al. (1998), S.271ff. sowie Nell (1992), S.144ff. Im Rahmen der folgenden Analyse wird die im Gesundheitswesen bestehende Dreiecksbeziehung vereinfacht. Divergierende Interessen zwischen Krankenkassen und Versicherten bleiben unberücksichtigt. Vgl. die Argumentation unter Teil 2:II)d).

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kulierten Pauschale trägt der Arzt die Kosten zusätzlicher Leistungen selbst, so dass er einen maximalen finanziellen Anreiz besitzt, den Aufwand durch zusätzliche, nicht separat vergütete Leistungen zu minimieren.93 Im Gegensatz zum Risiko der Leistungsausweitung bei einer FFS-basierten Vergütung besteht die Gefahr, dass die Ärzte im Rahmen ihres opportunistischen Verhaltensspielraums, den Umfang und die Qualität der Leistungen reduzieren und eine systematische Unterversorgung auftritt. Das Ausmaß des opportunistischen Verhaltensspielraums ist abhängig von der vertraglichen Spezifizierbarkeit des Umfangs und der Qualität der Leistungen sowie von der Durchsetzung der vertraglichen Vereinbarungen durch Monitoringaktivitäten und Sanktionsmaßnahmen durch den Prinzipal. Im Folgenden wird davon ausgegangen, dass der beobachtbare und damit vertraglich durchsetzbare Umfang der Tätigkeiten ti stets unterhalb des, durch den Prinzipal gewünschten Umfangs von tˆi liegt, so dass gilt ti  tˆi  i

1, 2,...n . Ein weiterer problematischer Aspekt einer PPS-Vergütung ergibt sich aus der

Heterogenität der Versicherungsrisiken, die sich nicht vollständig in den prospektiv festgelegten Preisen widerspiegeln. Aus Sicht der Ärzte existieren dann attraktive (gute) und unattraktive (schlechte) Risiken, durch deren Selektion eine Steigerung der Profitabilität möglich ist.

b) Fragestellung In der Praxis wird eine Umsetzung der theoretisch optimalen, gemischten Vergütungssysteme aufgrund bestehender Informationsdefizite des Gesetzgebers erschwert. So konnte in den letzten 20 Jahren weltweit ein einseitiger Trend zugunsten stärker pauschalierter Vergütungsformen beobachtet werden. Bereits 1984 führte Medicare94 in den USA als erstes Krankenversicherungssystem vollpauschalierte Vergütungen für stationäre Leistungen ein. Diesem Beispiel folgten sukzessive Australien (1991), Singapur (1999), Neuseeland (2000), Deutschland (2003) sowie Schweiz (geplant für 2009). Die Umstellung der Vergütungssystematik geht mit einer Diskussion über die Notwendigkeit flankierender, gesetzlicher Regulierungsmaßnahmen einher, um die erwähnten, negativen Effekte pauschalierter Vergütungssysteme in Form von Selektion und Unterversorgung zu kompensieren.95 Selektion In Bezug auf das Selektionsverhalten der Ärzte ist bei einer Beurteilung nach den Ursachen des Selektionsanreizes zu differenzieren. Falls der unterschiedlichen Attraktivität einzelner Risiken eine Spezialisierung der Ärzte zugrunde liegt, führt Selektion zu Wohlfahrtssteigerungen, wenn die mit dem Selektionsprozess verbundenen Kosten nicht den Effizienzgewinn der spezialisierten Leistungserstellung übersteigen. Ein Selektionsprozess, der ohne eine Spezialisierung der Ärzte auf die Behandlung überdurchschnittlich hoch vergüteter Risiken zielt, verursacht dagegen rent-seeking Aufwendungen 93 Shleifer (1985), S.321 beschreibt den Mechanismus allgemein, der für entsprechend vergütete Produzenten einen Anreiz zur effizienten Erstellung von Leistungen generiert. 94 Medicare ist die staatlich finanzierte Krankenversicherung in den USA für Rentner und ältere Personen. 95 Vgl. BT-Drucksache_14/6893 (2001), S.31f.

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und resultiert in Wohlfahrtsverlusten. Die aus wohlfahrtsökonomischer Perspektive unerwünschte Selektion96 soll durch eine Anpassung und Verfeinerung der Pauschalvergütungen im Zeitablauf an die tatsächlichen Behandlungskosten minimiert werden. Das Ziel der Weiterentwicklung der Pauschalvergütung ist es, das individuelle Risiko eines Patienten möglichst vollständig in der Fallpauschale widerzuspiegeln. Eine Übersicht über die Entwicklung fallpauschalierter Vergütungssysteme zur Minimierung des Selektionsrisikos bieten Ellis und Van de Ven (2000).97 Unterversorgung Zur Begrenzung der Gefahr einer Unterversorgung bei einer vollständig pauschalierten Vergütung werden drei Mechanismen diskutiert, die als Substitut für den Anreizeffekt der Einzelleistung fungieren können. Diese umfassen Reputation, intrinsische Motivation sowie die Gestaltung der zivilrechtlichen Haftung, welche den Schwerpunkt des vorliegenden Ansatzes bildet.98 Reputationseffekte können als Substitut für direkte, finanzielle Anreize zur Erbringung von Tätigkeiten entweder durch soziale oder indirekte, finanzielle Impulse wirken.99 Eine gute Reputation impliziert für einen Arzt einen signifikanten Nutzengewinn durch soziale Anerkennung und lässt diesen ein Interesse an der Gesundheit und Zufriedenheit seiner Patienten entwickeln, welches unabhängig von finanziellen Leistungsanreizen seine Wirkung entfaltet. Daneben entstehen indirekte, finanzielle Anreize, wenn eine überdurchschnittlich hohe Reputation zu einer verstärkten Nachfrage der Versicherten führt. In diesem Fall liegen qualitätsabhängige Nachfragefunktionen der Versicherten vor. Die Nachfragesouveränität der Patienten beim Kauf von Gesundheitsleistungen als Vertrauensgüter ist jedoch im Vergleich zu klassischen Suchgütern äußerst umstritten.100 Des Weiteren ist zu befürchten, dass bei einer Diskrepanz zwischen wahrgenommener und tatsächlicher Qualität durch die Versicherten Verzerrungen in der Anreizstruktur der Ärzte entstehen.101

96 Newhouse (1996) definiert unerwünschte Selektion als „actions of economic agents on either side of the market to exploit unpriced economic risk heterogeneity and break pooling arrangements". Quelle: Newhouse (1996), S. 1236. 97 Unerwünschte Selektion als Konsequenz der Verwendung einer PPS Vergütung wird in der weiteren Analyse nur am Rand betrachtet werden. 98 Der Bereich des Strafrechts wird ausgeklammert, da die im Folgenden angenommene Normalverteilung der Beurteilung des ärztlichen Verhaltens aufgrund exogener Umwelteinflüsse oder fehlerhafter Gerichtsentscheidungen nur für den zivilrechtlichen Bereich realistisch ist. Vgl. die Argumentation unter Teil 2: III)d). 99 Vgl. hierzu die Darstellungen von Pope (1989), Allen (1991), Rogerson (1994) und Chalkley (1995). 100 Rice (2004) bestreitet die Fähigkeit der Versicherten rationale Nachfrageentscheidungen zu treffen mit dem Verweis auf empirische Untersuchungen. Vgl. Rice (2004), S.89 und die empirischen Arbeiten von (Hibbard und Jewett,1996), (Hibbard und Jewett, 1997) sowie die Diskussion unter Teil 1: I)b)(2). 101 Ein Wettbewerb um wahrgenommene Qualität anstelle von tatsächlicher Qualität kann zu erheblichen Ineffizienzen führen. In den USA spiegelt sich dies in der Diskussion um das so genannte medical arms race. In Deutschland sind ähnliche Phänomene durch die Aufrüstung von Facharztpraxen mit technisch-apparativer Medizin zu beobachten.

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Alternativ generieren Berufsethik und intrinsische Motivation Anreize zur Erstellung vertraglich nicht spezifizierbarer Leistungen.102 Diese unterscheiden sich in Bezug auf die soziale Anerkennung durch den Empfänger des Signals hinsichtlich der Qualität der Gesundheitsleistung. Während im Fall der Berufsethik die Wahrnehmung einer superioren Behandlungsqualität durch Dritte notwendig ist, stellt für die Wirkung intrinsischer Motivation das Wissen des Arztes über die Qualität der Arbeit eine hinreichende Bedingung dar. Eine qualitativ hochwertige und umfassende Behandlung eines Patienten bedeutet für den Arzt dann einen zusätzlichen Nutzen, der unabhängig vom Empfangshorizont Dritter ist. In den formalen Darstellungen der intrinsischen Motivation generiert das Wohlergehen des Patienten einen zusätzlichen Nutzen für den Arzt, wobei dieser in der Regel unterhalb des Nutzens durch den Patienten selbst liegt.103 Intrinsische Motivation kann gegenüber Leistungsimpulsen aufgrund sozialer Anerkennung daher durch die notwendigen Voraussetzungen an die Transparenz der Behandlungsleistungen abgegrenzt werden. Zuletzt können durch die Präventionswirkung des Haftungs- beziehungsweise Schadensersatzrechtes Anreize für die Ärzte implementiert werden, vertraglich ex ante nicht kontrahierbare Leistungen zu erbringen. Eine notwendige Voraussetzung ist die Möglichkeit, die Tätigkeit der Ärzte ex post vor Gericht direkt oder anhand von Signalen beurteilen zu können. Das grundsätzliche informationsökonomische Problem, welches die Funktionsfähigkeit eines Marktes für Gesundheitsleistungen beschränkt, besitzt auch bei der Umsetzung von Haftungsvorschriften seine Gültigkeit. So konstatiert Danzon (1991), dass "just as imperfect information undermines the efficient functioning of the market, imperfect information undermines the efficient functioning of the liability system".104 Aufgrund der unterschiedlichen Anforderungen an die notwendigen Informations- und Transparenzvoraussetzungen ist zur Kompensation der Gefahren pauschalierter Vergütungsformen grundsätzlich eine Kombination der genannten Ausgleichsmechanismen anzustreben. Reputationseffekte entstehen, wenn eine hinreichende Transparenz bezüglich der Arbeitsanstrengungen und der individuellen Qualität der Ärzte aus Sicht der Versicherten und der Krankenkasse besteht, diese Informationen verarbeitet und glaubwürdig gegenüber Dritten vermittelt werden können. Intrinsische Motivation besitzt die geringsten Anforderungen an die Transparenz der Behandlungsentscheidungen, da bereits das Wissen des Arztes um die Qualität seiner Arbeit hinreichend ist. Die Wirkung des Haftungsregimes ist dagegen abhängig von den ex post verfügbaren und vor Gericht verifizierbaren Informationen. Der vorliegende Arbeitsansatz konzentriert sich auf das Zusammenspiel von intrinsischer Motivation und der Präventionswirkung eines Haftungsregimes durch den Abschreckungseffekt105. Dabei besteht die Ge102

Vgl. Arrow (1963), Newhouse (1970) sowie Pauly (1980). Vgl. Ellis/McGuire (1986) und Ellis/McGuire (1990). 104 Quelle: Danzon (1991), S.68. 105 Der Abschreckungseffekt (deterrence effect) eines Haftungsregimes basiert auf der Annahme eines rational nutzenmaximierenden Arztes. Dieser kalkuliert bei der Behandlungsentscheidung die optimale Investition in präventive Maßnahmen gemäß dem Erwartungswert einer Schadensersatzzahlung, dem Grad seiner Risikoaversion sowie den Kosten einer zusätzlichen Präventionseinheit. Im Fall konstanter, unbeeinflussbarer Präventions103

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fahr, dass eine Verschärfung des Haftungsregimes die intrinsische Motivation der Ärzte reduziert und so genannte Verdrängungseffekte auftreten.106 Wenn die negativen Verdrängungseffekte (crowding out) die positiven Effekte einer Haftungsverschärfung überwiegen, kann eine Reduzierung der Haftungsstandards oder der Haftungssumme in einer Verbesserung der Versorgungsqualität resultieren.

c) Zentrale Ergebnisse Das zentrale Argument basiert auf der Annahme, dass die Aufgabe eines Arztes aus einer mehrdimensionalen Tätigkeit (Multitasking) besteht.107 Der Begriff Multitasking bezieht sich dabei auf zwei Aspekte. Zum einen konkurrieren die verschiedenen Tätigkeiten beziehungsweise Dimensionen einer Aufgabe um die Aufmerksamkeit eines Arztes.108 Zum anderen wird angenommen, dass die Beobachtbarkeit und Verifizierbarkeit des Arbeitseinsatzes eines Arztes über die verschiedenen Dimensionen der Aufgabe hinweg variiert. Im Zusammenhang mit der Beurteilung eines Haftungsregimes ist der Begriff der Beobachtbarkeit und Verifizierbarkeit dabei jeweils aus der ex post Perspektive eines Gerichts zu betrachten. Die Verschärfung eines Haftungsregimes resultiert beim Vorliegen einer mehrdimensionalen Tätigkeit eines Agenten in mindestens zwei, aus wohlfahrtsökonomischer Perspektive gegenläufigen Effekten. Zum einen investiert der Arzt aufgrund der Präventionswirkung des Haftungsrechts in zusätzliche Arbeitsanstrengungen auf die gerichtlich beobachtbaren und verifizierbaren Aufgabenbereiche, wovon der Versicherte profitiert. Zum anderen steigen die Opportunitätskosten des Arztes, Arbeitsanstrengungen für die nicht oder relativ schlecht beobachtbaren Tätigkeiten aufzuwenden.109 Diese gestiegenen Opportunitätskosten des Arztes „verdrängen“ die intrinsisch motivierten Arbeitsanreize für schlecht beziehungsweise nicht beobachtbare Tätigkeiten. Der gesamte Effekt auf das Wohl eines Versicherten ist abhängig vom relativen Verhältnis der beiden Effekte zueinander, welches sich aus dem marginalen Nutzen der Tätigkeiten für den Patienten sowie dem relativen Unterschied, die beiden Tätigkeiten ex post zu beobachten, ergibt. Angesichts der epidemiologischen Transition und der damit einhergehenden Verschiebung des Bedarfs von Leistungen aus dem Bereich der akut-medizinischen Versorgung zugunsten der Behandlung

kosten wächst für den potentiellen Schädiger der Anreiz in zusätzliche Präventionsmaßnahmen zu investieren, wenn der Erwartungswert des Schadensersatzanspruchs als Produkt der Wahrscheinlichkeit einer Anspruchdurchsetzung sowie der Höhe der Schadensersatzzahlung ansteigt. 106 Das Risiko der Verdrängung intrinsischer Motivation wurde bisher nur im Zusammenhang mit der Ausgestaltung von auf positiven Anreizen basierenden Vergütungssystemen untersucht. Vgl. hierzu die experimentellen und empirischen Studien von Frey (1993), Frey/Oberholzer-Gee (1997), Frey/Goette (1999) und Gneezy/Rustichini (2000). 107 Eggleston (2005) beschreibt, dass Multitasking bei der Erstellung von Gesundheitsleistungen in erheblichen Umfang auftritt. Vgl. Eggleston (2005), S.211. 108 Formal spiegelt sich dies in den positiven Kreuzableitungen der Arbeitsleidsfunktion. 109 Die Ursache für die steigenden Opportunitätskosten besteht dabei in der zentralen Annahme, dass die Tätigkeiten um die Aufmerksamkeit des Arztes konkurrieren.

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chronischer und psychosomatischer Erkrankungen ist die Entwicklung einer Verschärfung potentieller Haftungsstandards äußerst kritisch zu beurteilen. Während Leistungen im Rahmen einer akutmedizinischen Versorgung grundsätzlich relativ gut beobachtbar und verifizierbar sind, besteht ein erheblich erweiterter, gerichtlich kaum nachvollziehbarer Verhaltensspielraum der Ärzte bei der Behandlung chronisch und psychosomatisch erkrankter Patienten. Aufgrund des stark zunehmenden Versorgungsbedarfs dieser Patientengruppen gewinnt das Argument gegenüber einer Verschärfung der Haftungsstandards erheblich an Relevanz. Für die USA zeigen McGlynn, Asch et al. (2003) im Rahmen einer empirischen Auswertung, dass die größte Diskrepanz zwischen medizinisch und ökonomisch sinnvollen gegenüber tatsächlich erbrachten Gesundheitsleistungen in den Bereichen der Beratung und Anleitung zum Umgang mit chronischen und psychosomatischen Erkrankungen bestehen.110

d) Abgrenzung gegenüber der bisherigen Kritik Die bisherigen Argumente gegen die Verwendung eines strikteren Haftungsregimes stammen weitestgehend aus den USA, wo das geltende Malpractice Liability System zum Teil für die hohen pro-Kopf Gesundheitsausgaben verantwortlich gemacht wird. Die Kritik zielt dabei nicht auf eine vollständige Abschaffung des Haftungsregimes, sondern eine Reform der bestehenden Vorschriften, und basiert im Wesentlichen auf fünf Argumenten, die die Abschreckungs- und Kompensationseffekte des Haftungsregimes in Frage stellen. Erstens, die einseitige Allokation der Haftungsverantwortung auf die Ärzte vernachlässigt den Einfluss der Patienten auf die Wirksamkeit und Produktivität von Gesundheitsleistungen. Dadurch erhält der Patient als Co-Produzent seiner Gesundheit einen zu geringen Anreiz, Gefahren für seine Gesundheit zu vermeiden. Zweitens, es besteht lediglich eine abgemilderte Präventionswirkung, wenn die Ärzte sich umfassend gegen Haftungsansprüche versichern können. Die Versicherungsprämien werden in den USA anhand der Schadenshistorie für einen Spezialisierungsbereich anstelle der individuellen Fälle kalkuliert, um den Anreiz zur Risikoselektion zu senken. Dadurch können die negativen Konsequenzen von Schadensfällen in Form steigender Versicherungsprämien größtenteils externalisiert werden.111 Drittens, die Kompensationsfunktion des Haftungsregimes wird nur unzureichend erfüllt. Gemäß umfangreicher, empirischer Studien klagt lediglich ein geringer Prozentsatz der Patienten, die durch iatrogenische Fehler oder unterlassene diagnostische und therapeuti-

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McGlynn, Asch et al. (2003) teilen die Gesundheitsleistungen dazu in Gruppen gemäß der Natur der Leistungen ein. Vgl. hierzu auch Porter/Olmsted-Teisberg (2006), S.21ff. 111 Quinn (1998) findet zwar im Rahmen empirischer Untersuchungen für spezielle Fachbereiche, dass die negativen Reputationseffekte erfolgreicher Schadensersatzklagen opportunistisches Verhalten der Anbieter teilweise effektiv begrenzen. Vgl. „Reputational loss lessens (or even eliminates) this moral hazard problem, thus allowing insurance companies to continue community rating without fear that the physician will behave in a more risky, dangerous way", Quelle: Quinn (1998), S.468. Es ist jedoch fraglich, inwieweit seine Ergebnisse auf andere Fachbereiche und Gesundheitssysteme anderer Länder allgemein übertragbar sind.

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sche Leistungen geschädigt wurden.112 Viertens, die geltenden Haftungssysteme verursachen hohe Kosten. In den USA erhalten die klagenden Geschädigten schätzungsweise lediglich 50% der für Haftpflichtversicherungen bezahlten Prämien ausgezahlt, während die verbleibende Prämiensumme für Rechtsberatungshonorare, administrative Aufwendungen und Gewinne der Versicherungen anfällt.113 Fünftens, der Begriff Defensive Medicine beschreibt nicht erwünschte Verhaltensänderungen des Arztes, die durch die institutionelle Gestaltung des Haftungsregimes verursacht werden.114 Bisher wurden im Rahmen theoretischer und empirischer Arbeiten darunter vor allem zwei Aspekte subsumiert. Zum einen investieren Ärzte Ressourcen in Vorsichtsmaßnahmen ohne medizinischen Mehrwert, um sich vor Haftungsfällen zu schützen. Die empirische Prüfung dieser Hypothese ist in den USA zu unterschiedlichen Ergebnissen gelangt, da eine Trennung der Effekte angebotsinduzierter Nachfrage (Supplier Induced Demand) und Defensive Medicine bei Vergütungssystemen mit signifikanten FFS Komponenten schwierig ist. Zum anderen werden riskante, diagnostische und therapeutische Verfahren trotz einer bestehenden Nachfrage aufgrund zu hoher Haftungsrisiken nicht mehr angeboten. Ein derartiger Zusammenbruch von Marktsegmenten führt dann zu einer Minderung der Gesamtwohlfahrt, wenn die Versicherten es bevorzugen würden, das Behandlungsrisiko selbst zu tragen, aber eine rechtlich wirksame Aufgabe der Haftungsansprüche nicht möglich ist.115 Die hier vorgestellte Argumentation der Gestaltung des Haftungsregimes unter Berücksichtigung der Multitasking Problematik knüpft an die bisher diskutierten Aspekte der Defensive Medicine Hypothese an und stellt ebenfalls eine unerwünschte Verhaltensänderung des Arztes aufgrund der Gestaltung des Haftungsregimes dar. Die traditionelle Defensive Medicine Hypothese beschränkt sich auf die Aspekte, in denen zusätzliche Leistungen ohne medizinischen Mehrwert für den Patienten erbracht oder medizinisch sinnvolle Leistungen aufgrund zu hoher impliziter Haftungsrisiken unterlassen werden. Im Rahmen des Multitasking Ansatzes wird ein weiterer Effekt verdeutlicht. Die Verschärfung der Haftungsvorschriften für bestimmte, beobachtbare Tätigkeiten ruft eine Verschiebung des Anstrengungsniveaus der Ärzte hervor und erfolgt zu Lasten von weniger gut verifizierbaren Tätigkeiten. So beschreibt bereits Danzon (1991) die informationsökonomischen Probleme der Haftungsregimes als "if certain mistakes are easier than others to discover and prove to a jury (...) then the malpractice system will impose uneven penalties on different types of error and may distort the delivery of care".116 112

Vgl. die Untersuchungen von California_Medical_Association (1977), Harvard_Medical_Practice_Study (1990) und Localio, Lawthers et al. (1991); demnach klagten in den USA lediglich zwischen 2% bis maximal 10% der durch unzureichende Sorgfalt verletzten Patienten auf Entschädigung. 113 Vgl. Feldstein (2003), S.157. 114 Vgl. die Definition von Danzon (1991): "Defensive medicine - (can be) defined as liability induced changes in practice that would not be desired by an informed patient.", Quelle: Danzon (1991), S.52. 115 Arlen (2005) untersucht in diesem Zusammenhang, inwieweit eine Rekonstruktion zwingender Haftungsvorschriften durch den Abschluss privat-rechtlicher Verträge möglich ist. Entsprechend könnten strikte Haftungsvorgaben als dispositives Recht gestaltet werden und die Marktsegmente hochriskanter Verfahren durch den Haftungsverzicht der Versicherten entwickelt werden. Arlen (2005) bestätigt jedoch die Unmöglichkeit der vollständigen privat-rechtlichen Reproduktion zwingender Haftungsvorschriften. 116 Quelle: Danzon (1991), S56.

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Die daraus resultierenden, gegenläufigen Effekte und Implikationen für die Gestaltung eines Haftungsregimes wurden jedoch bisher nicht berücksichtigt.

e) Literatur Der vorliegende Aufsatz greift auf die Arbeiten zur Gestaltung eines optimalen Haftungsregimes sowie der Bearbeitung der Multitasking Problematik bei der Strukturierung optimaler Vergütungssysteme zurück. Die Grundlagen basieren auf Danzon (1985), die die Ergebnisse der Arbeiten zur Gestaltung eines Haftungsregimes von Calabresi (1968), Calabresi (1970), Shavell (1980) und Shavell (1982) systematisch auf den Bereich der Gesundheitsleistungen überträgt. Im Rahmen eines Simulationsmodells untersucht Danzon (1994) die Gestaltung eines optimalen Haftungsregimes in Abhängigkeit der geltenden Vergütungssystematik und bestätigt das substituive Verhältnis von Haftungsstandards und dem Umfang pauschalierter Vergütungsformen zur Sicherstellung eines hinreichenden Versorgungsumfangs. Für gegebene Parameterkonstellationen findet sie Verdrängungseffekte intrinsischer Motivation, so dass eine Erhöhung des Haftungsstandards zu gegenläufigen Effekten beziehungsweise einer Reduktion des erbrachten Qualitätsniveaus führen kann.117 Während die Existenz von Verdrängungseffekten in der empirischen und experimentellen Literatur bereits bearbeitet und bestätigt wurden, bestehen formale Ansätze für Verdrängungseffekte intrinsischer Motivation durch monetäre Anreize bisher nur im Zusammenhang mit der Umstellung der Vergütungssysteme von FFS auf PPS. Die Entwicklung des Multitasking Ansatzes wurde ursprünglich motiviert durch die Diskrepanz zwischen den theoretischen Vorhersagen über optimale Vergütungssysteme, basierend auf dem Trade-Off zwischen Anreizsetzung und Risikoaversion, und den empirisch beobachteten hohen Fixvergütungskomponenten. Diese konnten durch Risikoaversion als alleinige Variable nicht hinreichend erklärt werden.118 Kerr (1975) entwickelte in seinem Aufsatz On the Folly of Rewarding for A while Hoping for B einen zusätzlichen Erklärungsansatz. Wenn für ein anreizorientiertes Entlohnungsschema lediglich Signale zur Verfügung stehen, die sich nicht vollständig mit den Interessen des Prinzipals decken, ergeben sich potentiell verzerrende Effekte.119 In diesen Fällen kann für gegebene Parameterkonstellationen eine Reduktion der Anreizintensität dazu führen, dass der Agent verstärkt im Interesse des Prinzipals handelt. Baker (1992) und Baker (2002) formalisiert diesen Effekt und nimmt zur Abgrenzung gegenüber traditionellen Erklärungsmustern Risikoneutralität des Agenten an. 117

Vgl. „For a physician caring only about own wealth and leisure, the model confirms conventional conclusions. But for a partially altruistic physician, increasing physician liability can decrease patient care and increase injury rates.", Quelle: Danzon (1994), S.219. 118 Vgl. Prendergast (2000). 119 In Bezug auf ärztliches Verhalten argumentiert Kerr (1975) beispielhaft, dass soziale und finanzielle Anreiz bestehen, einen Fehler des Typ I zugunsten einer Reduktion eines Fehler des Typ II in Kauf zu nehmen. "Fellow physicians and the general public therefore are really rewarding type I errors (healthy persons are identified as ill) and at the same time hoping fervently that doctors will try not to make them.", Quelle: Kerr (1975), S772.

36

Holmstrom/Milgrom (1991) erweitern den Ansatz imperfekter Vergütungsindikatoren durch die Einführung der Mehrdimensionalität der Aufgabe eines Agenten.120 Dabei variiert der Informationsgehalt der Signale hinsichtlich des Anstrengungsniveaus und des Erreichens einzelner Aufgabendimensionen. Sie gelangen zu dem Ergebnis, dass für die Erfüllung von Aufgaben, die um die Aufmerksamkeit des Agenten konkurrieren, der Anreiz für eine Teilaufgabe schwächer zu gestalten ist als im Rahmen einer eindimensionalen Betrachtung. Die zugrunde liegende Intuition zeigt, dass durch einen stärkeren Anreiz einer Tätigkeit die Opportunitätskosten für die Erbringung weiterer, weniger gut beobachtbarer Tätigkeiten ansteigen. Ein realer Einkommensverlust für den Prinzipal entsteht dann, wenn der zusätzliche Nutzen durch die stärkere Anreizsetzung für eine Tätigkeit kleiner ist als der marginale Nutzenverlust durch die geringere Ausübung einer weniger gut beobachtbaren Tätigkeiten aufgrund gestiegener Opportunitätskosten. Ma (1994) überträgt die Multitasking Problematik explizit auf die Vergütungssystematik bei der Erstellung von Gesundheitsleistungen und vergleicht die beiden grundlegenden Vergütungssysteme der Prospektiv- und der Einzelleistungsvergütung. Demnach kann ein Arzt bei der Ausübung seiner Tätigkeit entweder die Steigerung der Versorgungsqualität oder die Senkung der Kosten in den Vordergrund seines Behandlungskalküls stellen.121 Bei Ma (1994) beschreibt Multitasking das Problem, dass bei zunehmender Realisierung des einen Versorgungsziels (z.B. Steigerung der Versorgungsqualität) die privaten Kosten des Arztes zur Umsetzung des anderen Versorgungsziels ansteigen. Formal kann

§ w 2c © wti t j

dies mit Hilfe der Kreuzableitung der Kostenfunktion des Agenten ¨ ¨

· ¸¸ dargestellt werden. Im ¹

§ w 2c · ! 0 ¸ , da die Anstrengungen zur Steigerung der Versorgungsqualität und ¸ t t w © i j ¹

vorliegenden Fall gilt ¨ ¨

zur Senkung der Behandlungskosten Substitute darstellen und um die Aufmerksamkeit des Arztes konkurrieren.122 Während stark pauschalierte Vergütungsformen den Anreiz zur Kostensenkung setzen, werden Reputationseffekte, intrinsische Motivation und die Gestaltung des Haftungsregimes als Kompensationsmechanismen zur Stärkung der Qualitätsbemühungen untersucht. Feess/Ossig (2004) betrachten das Zusammenspiel von intrinsischer Motivation, Haftungsstandards und Vergütungssystematik. Sie bestätigen das konventionelle Ergebnis, demnach eine Gefährdungshaftung (strict liabili120

Falls die delegierte Aufgabe jedoch nicht mehrdimensional ist, zeigen Holmstrom (1979) und Holmstrom (1982) mit Hilfe des Informationsprinzip (Stochastic Sufficiency Theorem), dass bei Risikoaversion des Agenten jedes verfügbare Signal zur Vergütungsgestaltung verwendet werden sollte, wenn dessen Informationsgehalt noch nicht durch weitere zur Vergütung verwendete Signale abgedeckt wurde. Dabei ist die Stärke des Vergütungsanreizes abhängig vom Informationsgehalt des Signals. 121 Innerhalb der klassischen Dreiecksbeziehung zwischen Arzt, Krankenkasse und Patient verfolgen dabei die Kassen primär das Ziel, die Kosten zu senken während die Patienten eine Maximierung der Versorgungsqualität bevorzugen. 122 In Bezug auf die Verwendung eines zusätzlichen, diagnostischen Verfahrens wird die kurzfristige Gegensätzlichkeit zwischen Qualitätssteigerung und Kostensenkung deutlich. Dies ist jedoch bei mittel- und langfristiger Betrachtung über den Lebenszyklus eines Versicherten nicht notwendigerweise der Fall.

37

ty) die optimale Haftungsregel für vollpauschalierte Vergütungsformen darstellt.123 Eggleston (2005) differenziert in Bezug auf die Mehrdimensionalität der ärztlichen Leistung ebenfalls zwischen den Bemühungen zur Kostensenkung und Qualitätssteigerung. Ihr Fokus liegt auf dem Zusammenspiel zwischen pauschalierten Vergütungsformen (supply-side cost sharing) als Anreiz zur Kostensenkung und der Zahlung zusätzlicher Boni in Abhängigkeit von Qualitätsindikatoren (pay-for-performance) als Anreiz zur Steigerung der Versorgungsqualität. Sie reproduziert das Ergebnis von Holmstrom/Milgrom (1991) und ergänzt das Plädoyer für gemischte Vergütungssysteme um ein zusätzliches Argument: Da aufgrund der Unvollständigkeit qualitätsbezogener Indikatoren kein vollständiger Vertrag möglich ist, kann durch die Kombination von supply-side cost sharing und pay-forperfomance eine optimale Balance zwischen den Anreizen für verschiedene Qualitätsdimensionen erreicht werden.124 Im Gegensatz zur bisherigen Diskussion steht der Pauschalierungsgrad des Vergütungssystems im vorliegenden Ansatz nicht zur Disposition, so dass der maximale Anreiz des Arztes zur Reduktion der Kosten gewährleistet ist. Die Mehrdimensionalität der ärztlichen Aufgabe bezieht sich daher nicht auf die Zweiteilung zwischen den Zielen einer Reduktion der Kosten und einer Steigerung der Versorgungsqualität, sondern auf verschiedene, qualitätssteigernde Aktivitäten.

f) Aufbau Die Arbeit ist wie folgt strukturiert: Kapitel II stellt die Komponenten des formalen Ansatzes vor, bevor in Kapitel III das optimale Haftungsregime unter Berücksichtigung der Multitasking Problematik und der Risikoaversion der Ärzte hergeleitet wird. Kapitel IV diskutiert die Ergebnisse der formalen Darstellung vor dem Hintergrund der Ärzteproteste angesichts aktueller Reformansätze in Deutschland.

II) Bestandteile des Modellansatzes Im Folgenden werden die Bestandteile des Modells spezifiziert. Diese beinhalten das Vergütungssystem (ad a)), das Haftungsregime (ad b)) sowie die interagierenden Parteien der Ärzte (ad c)) und die gesetzlichen Krankenkassen als Agenten ihrer Versicherten (ad d)). Das Ziel ist es, ein aus wohlfahrtsökonomischer Sicht, optimales Haftungsregime (ad e)) zu beschreiben.

123

Vgl. die Darstellung unter Teil 2:II)b). Vgl. Eggleston (2005) „This paper adds the following argument: since pay-for-performance incentives are imperfect for rewarding service-specific quality, using mixed payment helps to balance incentives for quality effort across services. In other words, when some dimensions of quality are noncontractible and costly to provide, payers should reimburse some of the marginal costs of care as well as pay a fixed amount per patient or per case.", Quelle: Eggleston (2005), S.220.

124

38

a) Vergütungssystem Die Behandlung besteht aus zwei Tätigkeiten ti  i systeme

YLE

wird

durch

eine

lineare

Kombination

ß  O w(t1 , t2 ) charakterisiert. Für ß *

1, 2 . Das Kontinuum der möglichen Vergütungsvon

Einzel-

und

Pauschalvergütung

0 š O ! 0 liegt eine reine Einzelleistungsvergütung *

(FFS) gemäß der Entlohnungsfunktion w(t1 , t2 ) vor, bei der jede zusätzliche Leistungseinheit entsprechend des Vektors O * vergütet wird. Für ß ! 0 š O *

0 besteht ein vollpauschaliertes System

(PPS), in dem zusätzliche Leistungseinheiten nicht separat vergütet werden. Im Rahmen eines vollpauschalierten Vergütungssystems können Mindestmengen von t1 , t2 vertraglich spezifiziert werden, die zur Zahlung des Pauschalentgelts erbracht werden müssen. Es wird angenommen, dass die vertraglich kontrahierbare Menge tˆi für beide Tätigkeiten strikt kleiner als die optimale Menge ti fb ist, so dass tˆi  ti fb  i

1, 2 . Vereinfachend werden im Folgenden tˆ1 , tˆ2 sowie die dadurch entstehenden

Kosten c(tˆ1 , tˆ2 ) und der Nutzen b(tˆ1 , tˆ2 ) auf 0 normalisiert.

b) Haftungsregime Die Gestaltung der zivilrechtlichen Haftung wird in Deutschland im Rahmen des Schadensersatzrechts geregelt und umfasst sämtliche Normen, die sich mit einer Schadensverlagerung des Geschädigten auf die schädigende Partei befassen. Rechtsdogmatisch können diese in Haftungs- und Schadensrecht im engeren Sinne untergliedert werden. Das Haftungsrecht befasst sich mit der Begründung eines Schadensersatzanspruches auf vertraglicher oder deliktischer Grundlage, während das Schadensrecht den Umfang und die Höhe der Ansprüche vorgibt. Zur Begründung eines Schadensanspruches sind drei Bedingungen zu prüfen. Voraussetzung ist zunächst das Vorliegen eines tatsächlichen Schadens des Klägers, der diesen vor Gericht nachzuweisen hat. Weiterhin ist die Ursächlichkeit des Schadeneintritts im Zusammenhang mit dem Verhalten des Angeklagten zu prüfen. Wenn das Verhalten des Angeklagten als Schadensursache bejaht wird, ist zu begutachten, ob die schädigende Handlung eine Unterschreitung des gültigen Verhaltensstandards darstellt. Anhand dieser dritten Bedingung lassen sich die zwei grundsätzlichen Haftungsregime einer Verschuldenshaftung (negligence rule) und Gefährdungshaftung (strict liability) differenzieren. Bei einer Gefährdungshaftung ist die Existenz eines Schadens sowie dessen Verursachung durch die Tätigkeit des Beklagten, unabhängig von dessen Vorsichtsmaßnahmen, hinreichend für die Begründung eines Schadensersatzanspruches. Trotz zahlreicher Diskussionen über so genannte No-fault Systeme, die im Hinblick auf die klassische Kompensationsfunktion ähnlich einer Gefährdungshaftung strukturiert sind, gilt quasi weltweit das Prinzip der Verschuldenshaftung bei der Erbringung von Gesund-

39

heitsleistungen.125 Demnach mündet die Verursachung eines Schadens lediglich dann in einen Schadensersatzanspruch, wenn ein vorgegebenes Sorgfaltsniveau von der schädigenden Partei bei der Ausübung der Tätigkeit unterschritten wird. Bei dieser Unterscheidung ist zu berücksichtigen, dass eine unbegrenzte Anhebung des Sorgfaltsniveaus einer Verschuldenshaftung letztendlich in einer Gefährdungshaftung resultiert. Wenn ein Schadensersatzanspruch bejaht wird, regelt im zweiten Schritt das Schadensrecht im engeren Sinne die Höhe des Anspruchs beziehungsweise den Umfang der zu erstattenden Leistungen. Im deutschen Recht gilt gemäß §§249ff. BGB der Grundsatz der Naturalrestitution, gemäß dem materielle und immaterielle Schäden erstattet werden. Die Gestaltung des Schadensersatzrechts umfasst somit zunächst die Frage, welche der Parteien die Beweislast für das Vorliegen eines Schadens sowie den ursächlichen Zusammenhang mit dem Verhalten des Beklagten trägt. Im Fall einer Verschuldenshaftung ist weiterhin ein Verhaltensstandard abzugrenzen, nach dem die potentiell Beklagten ihre Entscheidung über die Ausübung der gefährdenden Tätigkeit richten können. Zuletzt sind im Rahmen des Schadenrechts der Umfang und die Höhe der erstattungsfähigen Schäden festzulegen. Für den Gesetzgeber bestehen durch die Gestaltung des Haftungs- und Schadensrecht drei Optionen, die erwartete Schadensersatzzahlung zu erhöhen und in diesem Sinne das Haftungsregime zu verschärfen. Erstens, die Wahrscheinlichkeit einer erfolgreichen Haftungsklage kann durch eine Verlagerung der Beweislast auf den Arzt126 oder zweitens, durch eine Verschärfung des minimal geforderten Verhaltensstandards erhöht werden.127 Drittens steigert eine Ausdehnung der zu erstattenden Leistungen den Erwartungswert der Schadensersatzzahlungen.128

125 Feldstein (2003), S.159f. weist daraufhin, dass eine Gleichsetzung von No-fault Regelungen mit einer Gefährdungshaftung nicht richtig ist, da anstelle einer gerichtlichen Verhandlung eine administrative Verwaltung der Schäden tritt, die beispielsweise durch das allgemeine Steueraufkommen gedeckt werden. Während die Vorteile in der Erfüllung der Kompensationsfunktion und der erheblichen Kostenreduktion zur Durchsetzung der Ansprüche liegen, entfällt andererseits die Präventionsfunktion sowie die positive Selektion überdurchschnittlich qualifizierter Ärzte. Bisher existieren No-fault Systeme nur für vereinzelte Indikationen wie beispielsweise für schwere neurologische Schäden bei der Geburt in den US-Staaten Florida und Virginia. 126 Die Schwierigkeit, die Ursächlichkeit des schädigenden Verhaltens (causation) nachzuweisen, steigt für Versicherte mit dem Grad und Umfang der asymmetrischen Informationsverteilung gegenüber den Ärzten an. Durch eine Reduktion der Beweislast bis zu einer vollständigen Beweislastumkehr steigt die Wahrscheinlichkeit einer erfolgreichen Schadensersatzklage aus Sicht der geschädigten Versicherten. Bisher bestehen im deutschen Recht für Versicherte partielle Beweiserleichterungen, wenn grobe Behandlungsfehler vorliegen, Kontrollbefunde nicht erhoben wurden oder Dokumentationsmängel bestehen. 127 Theoretisch existiert bei einer Verschuldenshaftung ein ex ante determinierter Verhaltensstandard, der einen potentiellen Schädiger bei der Einhaltung von Schadensersatzansprüchen exkulpiert. Eine Verschärfung des Verhaltensstandard bedeutet somit eine Inklusion von zusätzlichen (Vorsichts-) Maßnahmen. Aufgrund des Einflusses der Natur sowie dem diskretionären Spielraum der Gerichte bei der Auslegung eines allgemeinen Verhaltensstandards im Einzelfall können potentielle Schädiger durch die Erbringung zusätzlicher Maßnahmen lediglich die Wahrscheinlichkeit eines Schadensersatzanspruches senken. Vgl. hierzu die Argumentation der Modellierung des Haftungsregimes als Vague Negligence Standard. 128 Im Rahmen des Schadensrechts kann der Umfang der zu erstattenden Leistungen und damit die Höhe der erwarteten Schadensersatzzahlung ausgeweitet werden. Während die Berechnung von materiellen Schäden durch verhältnismäßig objektiv vorgegebene Kriterien beschränkt wird, wird die Kalkulation von Schadensersatzansprüchen für immaterielle Schäden maßgeblich durch den Gesetzgeber beeinflusst. Formal wird die Ausweitung

40

Im vorliegenden Modell wird das Haftungsregime als Vague Negligence Standard modelliert, dessen Konzept ursprünglich im Rahmen der Wirtschaftsprüferhaftung entwickelt wurde.129 Es spiegelt die Tatsache wider, dass die Gerichte ex ante nicht für jeden Behandlungsfall einen Standard definieren können, der zu einem Haftungsausschluss des beklagten Arztes führt.130 Stattdessen existiert für jede Indikation eine maximale Schadenssumme Lmax 131. Der Erwartungswert der Schadensersatzzahlung für den Leistungsanbieter kann durch die Erbringung von t1 , t2 ! 0 reduziert werden kann. Den Gerichten steht ein Signal g (t1 , t2 )

g (t1 )  g (t2 )  I über den durch den Arzt erbrachten Leistungsum-

fang t1 , t2 zur Verfügung, das über die vertraglich spezifizierbare Menge tˆ1 , tˆ2 hinausgeht. Es gilt

I ~ N (0, V I2 ) .132 Mit Hilfe dieses Signals kann die erwartete Schadensersatzzahlung als Funktion der vom Arzt erbrachten Leistungen gemäß der Form L(t1 , t2 )

Lmax  D * g (t1 , t2 ) spezifiziert werden.

Mit zunehmendem Leistungsumfang t1 , t2 sinkt die erwartete Schadensersatzzahlung mit abnehmender Grenzrate gemäß

wL(.) w 2 L(.) ! 0,  0 . D * stellt einen Vektor D * wti wti 2

(D1 , D 2 ) dar, durch dessen

Gestaltung der Gesetzgeber den Effekt einer zusätzlichen Leistungseinheit einer einzelnen Tätigkeit auf die erwartete Schadensersatzhöhe definieren kann. D1,2 ! 1( 1) bedeutet dabei, dass eine zusätzliche Leistungseinheit einen höheren (niedrigeren) Effekt auf die erwartete Schadensersatzzahlung besitzt als die zusätzliche Leistungseinheit auf die Wohlfahrt des Patienten.133 Damit liegt für

D1,2 ! 1( 1) eine strikte (schwache) Vague Negligence Rule vor. Inwieweit eine Steigerung von t1 , t2 die Wahrscheinlichkeit oder die Höhe eines Schadensersatzanspruches (oder beides) reduziert, wird für die vorliegende Gestaltung der Haftungsregel explizit nicht vorgegeben. Der Vorteil der vereinfachten Darstellung besteht darin, die drei dargestellten Optionen des Gesetzgebers zur Verschärfung des Haftungsregimes durch einen einzelnen Parameter (D * ) abbilden zu können.

der Schadensersatzansprüche im deutschen Recht durch das Bereicherungsverbot gemäß §249 BGB begrenzt. Vgl. MünchKommentar BGB Oetker, Bd.2a, 4.Aufl. 2003, §249 Rn.20. 129 Vgl. Schwartz (1998), S.192. 130 Vgl. Danzon (1994)"...in practice, the negligence rule is not a clear threshold standard, because courts lack perfect information in defining the standard of due care and in evaluating the care actually provided.", Quelle: Danzon (1994), S.220. 131 Die maximale Haftungssumme ist dabei so zu wählen, der Erwartungswert der Behandlung für den Arzt positiv ist. Ansonsten ist es rational das Leistungssegment nicht mehr zu bedienen. Dies entspricht der Argumentation des partiellen Marktzusammenbruchs des Defensive Medicine Arguments. Vgl. Darstellung unter Teil 2: I)d). 132 Vgl. hierzu die Argumentation unter Teil 2: III)d). 133 Mögliche Skaleneffekte zwischen dem Signal g (t1 , t2 ) und der Nutzenfunktion des Patienten b(t1 , t2 ) werden nicht berücksichtigt. Baker (2002), S.734 differenziert bei der Bestimmung des optimalen Anreizparameters zwischen einem Skalen - und Anreizeffekt. Der Skaleneffekt spiegelt dabei lediglich die Maßeinheit des Signals relativ zur Nutzenfunktion des Prinzipals und beeinflusst die Qualität des Signals nicht.

41

c) Ärzte Den Ärzten entstehen Kosten c(t1 , t2 ) durch die Behandlung, die für t1 , t2 ! 0 konvex und symmetrisch verlaufen, dass heißt

wc A (.) w 2 c A (.) wc (.) ! 0,  0, A wti wti 2 wti

wc A (.) . Die Nutzenfunktion setzt sich wt j

aus der Vergütung, den Behandlungskosten sowie der erwarteten Schadensersatzzahlung zusammen. Da vereinfachend zunächst Risikoneutralität angenommen wird, ergibt sich für einen repräsentativen Arzt eine Nutzenfunktion gemäß

U A (.)

ß  O * w(t1 , t2 )  c(t1 , t2 )  ª¬ Lmax  D * g (t1 , t2 ) º¼

(1)

d) Krankenkassen/ Versicherte Im Rahmen der folgenden Analyse wird die Komplexität der Dreiecksbeziehung zwischen Ärzten, Krankenkassen und Versicherten reduziert. Divergierende Interessen zwischen Krankenkassen und Versicherten bleiben unberücksichtigt, so dass sich das Geflecht von Prinzipal-Agenten Beziehungen134 zu einer einfachen Prinzipal-Agenten Beziehung zwischen einer Krankenkasse als Prinzipal und Nachfrager der Leistungen gegenüber einem Arzt als Agent vereinfacht. Die Krankenkasse agiert gegenüber dem Arzt als vollkommener Agent der Versicherten und profitiert von der Erbringung von Leistungen t1 , t2 ! 0 gemäß b(t1 , t2 ) im gleichen Umfang wie der Versicherte. Die Nutzenfunktion der Krankenkasse (beziehungsweise des Versicherten) wird als b(t1 , t2 ) ziert. Es gilt H ~ N (0, V H2 ) sowie

wb(.) w 2b(.) w 2b(.) ! 0,  0, 2 wti wti wti wt j

b(t1 )  b(t2 )  H spezifi-

0 . Die Nutzenfunktion einer reprä-

sentativen Krankenkasse lautet entsprechend

U KK (.) b(t1 , t2 )  ß  O * w(t1 , t2 )  ª¬ Lmax  D * g (t1 , t2 ) º¼

(2)

e) Soziale Wohlfahrt Unter Vernachlässigung externer Effekte ergibt sich die soziale Wohlfahrt als Summe der Nutzenfunktionen als

U SW (.) U A (.)  U KK (.) b(ti , t j )  c(ti , t j ) Die First Best Lösung beinhaltet entsprechend die folgenden, optimalen Mengen t1fb , t2fb für

134

Vgl. Amelung/Schuhmacher (2004), S.29.

42

(3)

max U SW

wb(ti , t j )

wc(ti , t j )

wti

wti

ti

 i 1, 2 š i z j

(4)

III) Entwicklung eines optimalen Haftungsregimes Im Folgenden wird die Argumentation gegen eine einseitige Verschärfung des Haftungsregimes als Kompensation des Anreizes zur Unterversorgung bei einer zunehmenden Pauschalierung der Vergütung entwickelt. Dazu wird einleitend die traditionelle Logik dargestellt, demnach bei einer Umstellung von einem FFS-basierten auf ein vollpauschaliertes Vergütungssystem eine Verschärfung der Haftungsstandards unter restriktiven Annahmen zu einer First Best Lösung führen kann (ad a)). Sukzessive werden daraufhin die restriktiven Annahmen aufgehoben und die resultierende Second Best Lösung charakterisiert. Zunächst wird der Fall unvollkommener Information betrachtet (ad b)) und in die Problematik des Multitaskings eingeführt (ad c)), bevor die Second Best Lösung beim Vorliegen von unvollkommener Information, Multitasking und Risikoaversion des Agenten identifziert wird (ad d)).

a) Haftungsstandards als Substitut Proposition 1 Die Verschärfung eines Haftungsregimes kann als perfektes Substitut für eine Reduktion von Einzelleistungsvergütungskomponenten  verwendet werden. Für ein Haftungsregime gemäß der Vague Negligence Rule können bei vollpauschalierter Vergütung für D1,2

1 optimale Anreize

zur Erbringung der wohlfahrtsmaximierenden Mengen von t1fb , t2fb implementiert werden, wenn

1. ein unverzerrtes Signal g (t1 , t2 ) vorliegt, für welches

wg (ti , t j )

wb(ti , t j )

wti

wti

 i 1, 2 š i z j ,

2. die Kostenfunktion des Arztes additiv-separabel ist und 3. der Arzt risikoneutral ist. Alle Beweise sind im Appendix enthalten.

Interpretation Die Bedingungen erster Ordnung für ein wohlfahrtsökonomisches Optimum lauten

wb(ti , t j ) wti

Oi

ww(ti , t j ) wti

 Di

wg (ti , t j ) wti

 i 1, 2 š i z j

(5)

Für Oi o 0 , dass heißt einer Umstellung von einem FFS basierten oder gemischten Vergütungssystemen

auf

ein

vollpauschaliertes

System,

43

muss

Di

ansteigen,

so

dass

gilt

wb(ti , t j ) wti

Di

wg (ti , t j ) wti

 i 1, 2 š i z j . Damit kann der sinkende Einzelleistungsvergütungsanteil

durch eine Verschärfung des Haftungsregimes kompensiert werden und für D i o 1 i

1, 2 gemäß

der Annahme (1) eine First Best Lösung implementiert werden. Im Folgenden soll die optimale Gestaltung des Haftungsregimes durch den Vektor D * untersucht werden, wenn die restriktiven Annahmen aufgehoben werden.

b) Unvollkommene Information Ursprünglich wurde angenommen, dass ein Gericht ex post ein vollständiges und unverzerrtes Signal

g (t1 , t2 )

g (t1 )  g (t2 )  I über die Tätigkeiten des Arztes erhält. Tatsächlich variiert die Beobacht-

barkeit der einzelnen ärztlichen Tätigkeiten oder Tätigkeitsbereiche signifikant. So ist beispielsweise die Erbringung von bildgebenden, diagnostischen Verfahren gerichtlich wesentlich einfacher zu verifizieren als vergleichbare, gesprächsbasierte Leistungen. Um die Varianz der unterschiedlichen Beobachtbarkeit zu berücksichtigen, soll im Folgendem der Fall untersucht werden, in dem das Signal

g (t1 , t2 )

g (t1 )  I lediglich eine Tätigkeit umfasst und das Gericht keine (ausreichenden) Informa-

tionen über die Tätigkeit t2 erhält, um eine Schadensersatzzahlung daran zu knüpfen. Trotz der Unmöglichkeit einen Anreiz für die Tätigkeit t2 im Rahmen des Schadensersatzregimes zu schaffen, ist anzunehmen, dass Ärzte aufgrund von Reputation und intrinsischer Motivation ein Tätigkeitsniveau von t2 wählen, welches mindestens marginal >0 ist.135 Proposition 2

g (t1 , t2 )

Das Second Best Haftungsregime bei Vorliegen eines unvollkommenen Signals

g (t1 )  I sieht D1sb

1 š D 2sb

0 vor.

Interpretation Mit Hilfe des Haftungsregimes kann für die beobachtbare Tätigkeit t1 ein Anreiz zur Erbringung des optimalen Umfangs implementiert werden, wenn Risikoneutralität des Agenten vorliegt. Ohne das Vorliegen eines Signals über die Tätigkeit t2 ist eine Anreizsetzung für diesen Aufgabenbereich im Rahmen eines Haftungsregimes nicht möglich. Da bei einer additiv-separablen Kostenfunktion des Agenten die Kosten zur Erbringung der einen Tätigkeit vollkommen unabhängig von den Produktionskosten der anderen Tätigkeit sind, besitzt die Veränderung der Anreize für Tätigkeit t1 keine Relevanz für die Entscheidung des Agenten über den Umfang von t2 . Diese Annahme wird im Folgenden aufgelöst.

135

Vgl. hierzu die experimentellen und empirischen Studien von Frey (1993), Frey/Oberholzer-Gee (1997), Frey/Goette (1999) und Gneezy/Rustichini (2000).

44

c) Multitasking Durch die Erstellung von Gesundheitsleistungen entstehen Kosten, an denen die menschliche Arbeitskraft des Arztes einen maßgeblichen Anteil hat. Für einen Arzt steigen aufgrund von Erschöpfung sowie Freizeitbedürfnissen die Grenzkosten einer zusätzlichen Leistungseinheit mit dem Umfang der bereits erbrachten Leistungen an. Dabei ist anzunehmen, dass die zunehmenden Grenzkosten zunächst unabhängig von der Art der Tätigkeit sind, so dass gilt

w 2 c A (.) w 2 c A (.) ! 0 . Allgemein spiegelt z0 wti wt j wti wt j

die Multitasking Eigenschaft einer Kostenfunktion wider, demnach die ärztlichen Tätigkeiten für

§ w 2 c A (.) · w 2 c A (.) ! 0¨  0 ¸ Substitute (Komplemente) darstellen. Da anzunehmen ist, dass der Arzt ¨ wti wt j ¸ wti wt j © ¹ eine Abwechselung von Tätigkeiten gegenüber der Erbringung von einer einzelnen Tätigkeit bevorzugt, gilt

w 2 c A (.) w 2 cA (.) . Die Annahme ist realistisch für Situationen, in denen Skalen- und Lern wti wt j wti2

effekte durch die Spezialisierung auf eine Tätigkeit entweder nicht bestehen oder bereits realisiert werden konnten. Potentiell verbleibende Skalen- und Lerneffekte einer Spezialisierung werden stattdessen durch Verbundeffekte und den Nutzen aus einer abwechslungsreicheren Beschäftigung überwogen. Das grundsätzliche Gestaltungsproblem des Gesetzgebers besteht darin, einerseits Anreize für gut beobachtbare Tätigkeiten zu generieren, ohne andererseits die Opportunitätskosten für weniger gut beobachtbare Tätigkeiten übermäßig zu erhöhen.136 Zunächst soll für eine allgemeine Parameterkonstellation der Einfluss untersucht werden, den die Gestaltung des Haftungsregimes D * auf die Erbringung der Leistungsmengen t1 , t2 besitzt. Proposition 3 Die Verschärfung des haftungsrechtlichen Standard für eine Tätigkeit dD1 ! 0 resultiert in gegenläufigen Effekten für die Gesamtwohlfahrt U SW , da zum einen der positive Leistungsanreiz des Arztes zur Erstellung von t1 gemäß Erstellung von t2 gemäß

dD1 ! 0 erhöht wird und zum anderen der Anreiz zur dt1

dD1  0 aufgrund steigender Opportunitätskosten sinkt. dt2

136

Newhouse (2002) erläutert die Problematik im Zusammenhang mit positiven Vergütungselementen folgendermaßen: „Payment on specific process measures of quality, such as beta-blockers after a heart attack, can distort resource allocation to the measured areas and away from unmeasured areas (the Multitasking problem or teaching to the test). It is therefore hard to know whether on balance patients are better off.", Quelle: Newhouse (2002), S.203.

45

Interpretation

Die vorliegende Lösung spiegelt die Reproduktion des klassischen Ergebnisses von

Holmstrom/Milgrom (1991) für die Gestaltung eines Haftungsregimes wider.137 Die Verwendung eines stärkeren Anreizes für eine Tätigkeit steigert zum einen deren Grenzertrag für den Agenten und erhöht gleichzeitig die Opportunitätskosten zur Erbringung einer weiteren Leistung, wenn die Tätigkeiten um die Aufmerksamkeit des Agenten konkurrieren. Die praktische Relevanz des Ergebnisses für die Gestaltung der Haftungsstandards ergibt sich aus der häufig geäußerten Befürchtung, dass die Qualität der Versorgung chronisch Kranker zugunsten der Versorgung im akut-medizinischen Bereich leidet, da die relative Beobachtbarkeit der Behandlungsqualität bei chronischen Erkrankungen deutlich hinter dem akut-medizinischen Bereich zurückbleibt. Bereits bei der Einführung der auf den Diagnosis Related Groups (DRG) basierenden Vergütung138 wurde die Sorge geäußert, dass eine zunehmenden Konzentration der Behandlung auf die rein somatische Versorgung der Patienten zulasten der psychosozialen Betreuung sowie rehabilitativen Maßnahmen von chronisch erkrankten Patienten entstehen könnte.139 Eine derartige Gefahr wird durch eine Verschärfung der Haftungsvorschriften verstärkt, da eine Beurteilung akut-medizinischer Behandlungen vor Gericht einfacher durchgeführt werden kann als im Fall von betreuungsintensiven sowie rehabilitativen Leistungen.140 Ein Second Best optimales Haftungsregime müsste die gegenläufigen Effekte einer Verschärfung des Haftungsregime austarieren, so dass gilt

wU SW wt1 * wt1 wD1



wU SW wt2 * . Ein derartiges Haftungsrewt2 wD1

gime wird unter Berücksichtigung der Risikoaversion der Ärzte im Folgenden hergeleitet.

d) Second Best Haftungsregime Die Second Best Lösung für die Gestaltung eines Haftungsregimes wird für eine Situation mit einem unvollkommenen Signal und dem Vorliegen einer mehrdimensionalen Aufgabe skizziert. Zusätzlich wird die Annahme der Risikoneutralität der Ärzte aufgehoben. Aufgrund der vereinfachten Modellierung des Haftungsregimes durch den Parameter D * muss in diesem Zusammenhang von einer Argumentation über die Maximierung der Nutzenfunktion des Arztes ( U A ) abgesehen werden. Die Verwendung einer Nutzenfunktion ist problematisch, da der Arzt bei einer Erhöhung der Risikowahrscheinlichkeit im Gegensatz zu einer Erhöhung der Schadenssumme unterschiedlich reagiert. Diese 137

Vgl. Holmstrom/Milgrom (1991), S.32. Vgl die gesetzlichen Grundlagen, die das GKV-GRG 2000 sowie das FPG 2002; die vollständige, budgetwirksame Umstellung erfolgt ab 2009 umfassen sowie die Darstellung unter Teil 1: IV)c). 139 Vgl. die Einschätzung der Deutschen Gesellschaft für Verhaltenstherapie (DGVT): "Es sollte unbedingt vermieden werden, dass der erhöhte Wettbewerbsdruck in den Krankenhäusern zu einer noch stärkeren Konzentration der Behandlung auf die rein somatische Versorgung der Patienten führt und die psychosoziale Betreuung sowie frührehabilitative respektive frühmobilisierende Maßnahmen weiter reduziert werden.", Quelle: http://www.dgvt.de/Einfuehrung_der_DRG (Download vom 23.02.06). 140 Eggleston (2005) beschreibt diesen Effekt im Zusammenhang mit positiven Vergütungselementen als "using high-powered pay-for-performance will distort provider updating clinical skills and other investments away from chronic care quality toward acute care quality.", Quelle: Eggleston (2005), S.220. 138

46

Differenzierung ist jedoch in der vereinfachten Darstellung des Haftungsregimes141 nicht möglich. Daher wird im Folgenden mit Hilfe einer Präferenzwertfunktion des Arztes ) A argumentiert, im Rahmen derer Handlungsalternativen anstelle einzelner Ergebniswerte in der Nutzenfunktion bewerten werden.142 Als Entscheidungsprinzip wird das Erwartungswert-Varianz-Prinzip143 ( P , V ) verwendet und die Präferenzfunktion unter Berücksichtigung der Risikoaversion des Arztes (r) als

) A (.)

1 2

P  r *V 2 spezifiziert.144 Die Präferenzwertfunktion des Arztes lautet entsprechend ) A (.)

1 ß  c(t1 , t2 )  Lmax  D * g (t1 , t2 )  rD *