Psychologie (Springer-Lehrbuch) (German Edition) [2. erw. u. aktualisierte Aufl.] 9783540790327, 3540790322 [PDF]

Dürfen wir vorstellen: Die Psychologie - ein Fach mit spannenden Fachgebieten und kontroversen Diskussionen, eine fundie

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Psychologie (Springer-Lehrbuch) (German Edition) [2. erw. u. aktualisierte Aufl.]
 9783540790327, 3540790322 [PDF]

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Zitiervorschau

Springer-Lehrbuch

David G. Myers

Psychologie 2., erweiterte und aktualisierte Auflage Übersetzung Matthias Reiss Deutsche Bearbeitung Svenja Wahl, Matthias Reiss Mit Beiträgen von Siegfried Hoppe-Graff und Barbara Keller

Mit 947 Abbildungen und 50Tabellen

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David G. Myers Deutsche Bearbeitung Dr. Svenja Wahl, Dr. Matthias Reiss (2. Auflage) Dr. Christiane Grosser, Dr. Svenja Wahl (1. Auflage)

Übersetzung Dr. Matthias Reiss, Angertorstr. 4, 80469 München, www.dr-reiss.com (2. Auflage) ÜTT - Übersetzerteam Tübingen, Sabine Mehl, Katrin Beckmann, Birgit Pfizer (1. Auflage)

Beiträge von Prof. Dr. Siegfried Hoppe-Graff Universität Leipzig, Erziehungswissenschaftliche Fakultät Karl-Heine-Straße 22b , 04229 Leipzig Dr. Barbara Keller, Universität Bielefeld, Institut für Evangelische Theologie Postfach 10 01 31, 33501 Bielefeld

First published in the United States by WORTH PUBLISHERS, New York and Basingstoke. Copyright 2007 by Worth Publishers. All rights reserved. Erstmals veröffentlicht in den USA von WORTH PUBLISHERS, New York and Basingstoke. Copyright 2007 by Worth Publishers. Alle Rechte vorbehalten. ISBN-13 978-3-540-79032-7 Springer Medizin Verlag Heidelberg Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere die der Übersetzung, des Nachdrucks, des Vortrags, der Entnahme von Abbildungen und Tabellen, der Funksendung, der Mikroverfilmung oder der Vervielfältigung auf anderen Wegen und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. Eine Vervielfältigung dieses Werkes oder von Teilen dieses Werkes ist auch im Einzelfall nur in den Grenzen der gesetzlichen Bestimmungen des Urheberrechtsgesetzes der Bundesrepublik Deutschland vom 9. September 1965 in der jeweils geltenden Fassung zulässig. Sie ist grundsätzlich vergütungspflichtig. Zuwiderhandlungen unterliegen den Strafbestimmungen des Urheberrechtsgesetzes. Springer Medizin Verlag springer.de © Springer Medizin Verlag Heidelberg 2004, 2008 Printed in Germany. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutzgesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürfen. Produkthaftung: Für Angaben über Dosierungsanweisungen und Applikationsformen kann vom Verlag keine Gewähr übernommen werden. Derartige Angaben müssen vom jeweiligen Anwender im Einzelfall anhand anderer Literaturstellen auf ihre Richtigkeit überprüft werden. Planung: Dr. Svenja Wahl Projektmanagement: Michael Barton Layout und Umschlaggestaltung: deblik Berlin Einbandabbildung: Masterfile Satz: Fotosatz-Service Köhler GmbH, Würzburg SPIN: 11968856 Gedruckt auf säurefreiem Papier

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In Erinnerung an Phyllis J. Vandervelde (1939–2005) Vertraute über vier Jahrzehnte hinweg und unverzichtbare Hilfe bei der Texterstellung für alle acht Auflagen dieses Buchs, in tief empfundener Dankbarkeit für ihr Engagement, außerordentliche Leistungen zu zeigen

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Vorwort zur 8. amerikanischen Auflage Seit der Veröffentlichung der ersten Auflage dieses Buchs sind rasch 2 Jahrzehnte im unaufhaltsamen Strom der Zeit vergangen. Und was für aufregende 2 Jahrzehnte es waren. Es geht kaum ein Tag vorüber, an dem ich nicht ein Gefühl der Dankbarkeit für das Vorrecht empfinde, unterstützend bei der Lehre tätig sein zu können, und zwar für so viele Studierende, in so vielen Ländern und in so vielen Sprachen. Dass ich mit der Aufgabe betraut werde, die Weisheit in diesem menschlich bedeutsamen Fach zu erkennen und sie weiterzugeben, ist sowohl eine aufregende Ehre als auch eine große Verantwortung. Was meine Motivation dazu aufrechterhält ist zum einen meine anhaltende Wertschätzung der Psychologie als Wissenschaft und ihrer sich immer stärker erweiternden Erklärungsmöglichkeiten und zum anderen meine Verpflichtung gegenüber den Studierenden und meinen Dozentenkollegen, mit denen ich aufgrund dieses Buchs viele anregende Gespräche führen kann. Ich mag das bewusstseinserweiternde Lernen, das mit meiner täglichen Lektüre der wissenschaftlichen psychologischen Literatur einhergeht, und ich mag es, mit so vielen Menschen Kontakt aufzunehmen (von denen mir einige Hundert geschrieben haben, um mir ihre Erfahrungen mitzuteilen, und mir in höflicher Form Ratschläge gegeben haben). Dieses Lehrbuch wird alle 3 Jahre neu aufgelegt. Doch auch in der Zeit zwischen den Auflagen vergeht kaum ein Tag, an dem ich nicht neues Wissen über das Fach, das mir am Herzen liegt, und dessen Anwendung auf das tägliche Leben erwerben kann. Allwöchentlich stoße ich auf Informationen über neue Entdeckungen, beispielsweise zu den neurowissenschaftlichen Grundlagen unserer Stimmungen und Erinnerungen, über den Einflussbereich des adaptiven Unbewussten und über die formende Kraft unseres sozialen und kulturellen Kontexts. Kein Wunder also, dass sich dieses Buch dramatisch verändert hat seit dem Augenblick, als ich mich vor 23 Jahren an den Schreibtisch setzte und die Arbeit für die 1. Auflage begann. Heute interessiert sich die wissenschaftliche Psychologie v. a. für die Wechselwirkung von Anlage und Umwelt und für geschlechts- und kulturspezifische Unterschiede, für unsere bewusste und unbewusste Informationsverarbeitung sowie für die Biologie, die unserem Verhalten zugrunde liegt. Wir haben jetzt auch nach neuen Wegen für die Darstellung der Informationen gesucht, sowohl im Buch als auch auf der Lernwebsite zum Buch. Diese Veränderungen sind anregend. Wenn ich versuche, bei den neuen Entdeckungen auf dem Laufenden zu bleiben, ist mein Tag damit ausgefüllt, und dies verbindet mich mit vielen Kollegen und Freunden. Die Tausenden von Dozenten und die Millionen von Studierenden auf der ganzen Welt, die dieses Buch gelesen haben, trugen in ungeheurem Maße zu seiner Entwicklung bei. Viel davon findet spontan über Briefe, E-Mails und Unterhaltungen statt. In diese Auflage haben wir über 800 Forscher und Psychologiedozenten, aber auch viele Studierende einbezogen. Dies geschah in dem Bemühen, genaue und aktuelle Informationen über psychologische Inhalte, aber auch über die didaktischen Bedürfnisse von Dozenten und Studierenden eines Einführungsseminars zu sammeln. Zudem freuen wir uns über die ständigen Rückmeldungen, weil es uns in künftigen Auflagen darum geht, ein noch besseres Buch zu entwickeln.

Was ist so geblieben? Meine anfängliche Vision dieses Lehrbuchs zur Psychologie hat sich indessen von der 1. bis zur 8. amerikanischen Auflage (d.h. der 2. deutschen Auflage) nicht verändert: ein Buch zu schreiben, das sich im strengen Rahmen der Wissenschaft bewegt, gleichzeitig jedoch eine umfassende Sicht auf den Menschen bietet und damit Herz und Verstand anspricht. Mein Ziel war es, eine jeweils aktuelle Einführung in die Psychologie zu schreiben, unter besonderer Berücksichtigung der Interessen und Bedürfnisse von Studierenden. Es ist mir ein Anliegen, die Studierenden auf ihrem Weg zum Verständnis der wichtigen Phänomene ihres Lebens helfend und erklärend zu begleiten und sie das Staunen zu lehren. Gleichzeitig will ich aber auch den kritischen Forschergeist vermitteln, mit dem Psychologen in ihrem Fach arbeiten. Es ist meine Überzeugung, dass das Studium der Psychologie dazu befähigt, der Intuition die Zügel des kritischen Denkens anzulegen, Rechthaberei durch Einfühlung abzubauen und Selbsttäuschungen mit Verständnis zu begegnen. Ich halte es mit Thoreau, der sagte, dass » sich alles Lebendige mühelos und ungekünstelt in normaler Sprache ausdrücken lässt«, und versuche deshalb, das akademische Wissen der Psychologie mit spannenden Berichten und lebendigen Geschichten aufzulockern. Ich bin der alleinige Autor dieses Buches und versuche deshalb, die Geschichte der Psychologie einerseits streng wissenschaftlich, andererseits aber auch aus meinem persönlichen Empfinden heraus darzustellen. Ich mache mir sehr gerne Gedanken darüber, in welcher Beziehung die Psychologie zu anderen Wissensbereichen steht, beispielsweise zu Literatur, Philosophie, Geschichte, Sport, Religion, Politik oder Populärkultur. Und es macht mir Spaß, andere zum Nachdenken zu bringen, ich spiele gerne mit Worten, und ich lache gerne. Obwohl diese neue Auflage durch zusätzliche Geschichten ergänzt wurde, wird der Ton der Vorgängerversionen, aber auch viel von ihren Inhalten und ihrer Gliederung beibehalten. Das trifft aber auch für die 8 Ziele – die leitenden Prinzipien – zu, die die vorigen 7 Auflagen mit Leben erfüllt haben: 1. Den Forschungsprozess beispielhaft darstellen. Es ist mir ein besonderes Anliegen, den Studierenden nicht nur Forschungsergebnisse zu präsentieren, sondern sie gewissermaßen am Forschungsprozess teilhaben zu lassen. Viele Stellen des Buches wollen die Neugier des Lesers wecken. Er wird eingeladen, sich als Teilnehmer an klassischen Experimenten zu sehen. In manchen Kapiteln finden sich Erzählungen über die eine oder andere Untersuchung, die anfänglich mysteriös wirkt, dann aber allmählich ihr Geheimnis preisgibt, in dem Maße, wie jedes Mosaiksteinchen seinen richtigen Platz findet. 2. Kritisches Denken lehren. Ich präsentiere Forschungsprozesse gern als intellektuelle Detektivarbeit und möchte damit den fragenden und analysierenden Forschergeist beispielhaft darstellen. Ein Student mag seinen Schwerpunkt auf Entwicklungs- oder Kognitionspsychologie oder auf Statistik legen – in jedem Fall wird er mit kritischem Argumentieren und dessen positiven Wirkungen vertraut gemacht. Er wird auch entdecken, wie man mit Hilfe empi-

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Vorwort zur 8. amerikanischen Auflage

rischer Forschung einander widersprechende Ideen bewerten oder wie man Behauptungen mit hoher Publikumswirkung entkräften kann. Ich denke dabei z. B. an Dinge, von denen man viel in der Regenbogenpresse liest: Das reicht von der subliminalen Beeinflussung, über außersensorische Wahrnehmungen und alternative Therapien bis hin zur Astrologie, zur hypnotischen Rückführung in ein früheres Leben sowie zu verdrängten und wieder aufgedeckten Erinnerungen. Fakten in Konzepte einordnen. Es ist nicht meine Absicht, die intellektuellen Schubladen der Studierenden mit Fakten anzufüllen; stattdessen möchte ich die großen Konzepte der Psychologie aufzeigen und die Studierenden lehren, psychologisch zu denken. Gleichzeitig möchte ich Ihnen die Vorstellungen der Psychologie nahebringen, bei denen sich das Nachdenken lohnt. Dabei bemühe ich mich immer, dem Satz Albert Einsteins zu folgen, der sagte: »Alles sollte so einfach wie möglich gehalten werden, aber nicht einfacher.« So aktuell wie möglich sein. Kaum etwas dämpft das Interesse von Studierenden so sehr wie das Gefühl, überholtes Wissen serviert zu bekommen. Deshalb stelle ich neben den traditionellen Studien und Konzepten auch die wichtigsten neuen Entwicklungen des Fachs dar. Nahezu 500 Literaturangaben in dieser Auflage stammen aus den Jahren 2004 bis 2008. Prinzip und Anwendung gemeinsam darstellen. Mit Hilfe von Anekdoten, Fallgeschichten und der Darstellung hypothetischer Situationen stelle ich im gesamten Buch immer wieder die Verbindung her zwischen der Grundlagenforschung, ihrer Anwendung und den Schlussfolgerungen daraus. In den Bereichen, in denen die Psychologie ein Licht auf drängende Menschheitsfragen werfen kann – seien es Rassismus und Sexismus, Gesundheit und Glück oder Krieg und Gewalt –, habe ich nicht gezögert, den Glanz der Psychologie strahlen zu lassen. Verständnis durch wiederholtes Aufgreifen übergeordneter Themen fördern. Viele Kapitel behandeln eine spezielle Fragestellung oder einen Gedanken, der sich durch das ganze Kapitel zieht und es zusammenhält. Das Kapitel »Lernen« vermittelt den Gedanken, dass kühne Denker zu intellektuellen Vordenkern werden können. »Denken und Sprache« behandelt die menschliche Rationalität und Irrationalität. In »Klinische Psychologie: Psychische Störungen« sollen Empathie und Verständnis für die Lebensläufe der Betroffenen vermittelt werden. Weil das Buch von nur einem Autor geschrieben wurde, ziehen sich bestimmte Themen wie Verhaltensgenetik und kulturelle Unterschiede zusätzlich wie ein roter Faden durch das gesamte Buch. Lernschritte fördern. Beispiele aus dem Alltag und rhetorische Fragen sollen den Studierenden helfen, das Lernmaterial aktiv zu verarbeiten. Bereits eingeführte Konzepte werden häufig in späteren Kapiteln angewandt, wodurch der Vorgang des Erlernens und Behaltens gefestigt wird. In 7 Kap. 5 lernen die Studierenden beispielsweise, dass ein Großteil unserer Informationsverarbeitung außerhalb des Bewusstseins abläuft, ein Konzept, das in den darauf folgenden Kapiteln weiter ausgeführt wird. [Die didaktischen Elemente, die in diesem Buch eingesetzt wurden, um Ihnen das Lernen zu erleichtern, werden im 7 Abschnitt »Erfolgreich lernen«, S. XIII, ausführlich erläutert.]

8. Respekt vor den Gemeinsamkeiten und Unterschieden der Menschen vermitteln. Vor allem im neu überarbeiteten 7 Kap. 3 (»Anlage, Umwelt und die Vielfalt der Menschen«) und darüber hinaus im gesamten Buch wird der Leser auf Stellen im Text stoßen, die von der Menschheit als Familie sprechen: Es geht um das uns allen gemeinsame biologische Erbe, die Mechanismen des Sehens und des Lernens, die Motivation des Hungers, die Art, wie Menschen empfinden, und nicht zuletzt die Gefühle von Liebe und Hass. Dadurch entsteht auch ein besseres Verständnis für die Dimension unserer Verschiedenheit, auch für unsere individuellen Unterschiede in Entwicklung und Fähigkeiten, Temperament und Persönlichkeit, Gesundheit und Krankheit; es geht außerdem um unsere kulturspezifischen Unterschiede, die sich in Einstellungen und Ausdrucksweise, bei der Kindererziehung und der Fürsorge für die ältere Generation zeigen, vor allem aber auch in den Prioritäten, die wir in unserem Leben setzen.

Was ist neu? Trotz der großen Kontinuität gibt es Veränderungen auf jeder einzelnen Seite. Zusätzlich zu den Aktualisierungen überall im Buch und bei den 900 neuen Literaturangaben – das ist nahezu ein Viertel des Literaturverzeichnisses – habe ich bei der 8. Auflage der »Psychologie« die folgenden wesentlichen Veränderungen eingeführt:

Mehr zur kulturellen Vielfalt und zur Vielfalt der Geschlechterrollen Diese Auflage stellt eine sogar noch grundlegendere interkulturelle Sicht der Psychologie dar: Dies zeigt sich in den Befunden aus der Forschung, aber auch in den Text- und Fotobeispielen. Die Behandlung der Psychologie von Frauen und Männern ist gründlich eingearbeitet. Außerdem habe ich vor, für unsere studentischen Leser weltweit eine von einzelnen Ländern unabhängige Psychologie anzubieten. Daher suche ich ständig auf der ganzen Welt nach Forschungsbefunden sowie Textund Fotobeispielen; dies geschieht in dem Bewusstsein, dass meine potenziellen Leser vielleicht in Melbourne, Sheffield, Vancouver oder in Nairobi leben. Beispiele aus Amerika und Europa finde ich leicht, da ich in den Vereinigten Staaten lebe, Kontakt zu Freunden und Kollegen in Kanada habe, mehrere europäische Zeitschriften abonniert habe und zu bestimmten Zeiten in Großbritannien lebe. Diese Auflage beispielsweise enthält 145 Beispiele, die sich klar auf Kanada und Großbritannien beziehen; Australien und Neuseeland werden 82 Mal erwähnt. Aufgrund einer steigenden Zahl von Einwanderern und einer wachsenden Globalisierung der Wirtschaft sind wir alle Bürger einer schrumpfenden Welt. Daher profitieren auch amerikanische Studierende von Informationen und Beispielen, die ein stärker international orientiertes Weltbewusstsein vermitteln. Und wenn die Psychologie versucht, menschliches Verhalten (nicht nur amerikanisches, kanadisches oder australisches) zu erklären, dann ist unser Bild von den Menschen auf dieser Erde umso umfassender, je breiter die Vielfalt der dargestellten Studien ist. Mein Ziel besteht darin, alle Studierenden mit der Welt jenseits ihrer eigenen Kultur zu konfrontieren. Daher sind

IX Vorwort zur 8. amerikanischen Auflage

weiterhin Vorschläge und Empfehlungen in dieser Richtung von allen Lesern herzlich willkommen. Unser überarbeitetes 7 Kap. 3 (»Anlage, Umwelt und die Vielfalt der Menschen«) soll Studierende darin unterstützen, kulturelle und Geschlechtsunterschiede und -gemeinsamkeiten zu schätzen und das Zusammenspiel von Anlage und Umwelt zu berücksichtigen. Die Eingangsseite zu jedem Kapitel enthält neben dem Kapitelinhaltsverzeichnis jetzt einen kurzen literarischen Text aus unterschiedlichen kulturellen Perspektiven. Diese Auszüge aus Büchern von Maya Angelou, Judith Ortiz Cofer, Jhumpa Lahiri, Faiz Ahmed Faiz, Gwendolyn Brooks und anderen bieten bezogen auf das Thema des Kapitels eine andere Perspektive aus einer anderen Kultur. Außerdem zeigen viele neue Fotos die Vielfalt der Kulturen innerhalb Nordamerikas, aber auch auf der ganzen Welt. Zusätzlich zu den bedeutsamen interkulturellen Beispielen und Forschungsbefunden, die in den Texten dargestellt werden, verschönern diese neuen Fotos mit ihren informativen Abbildungsbeschriftungen jedes einzelne Kapitel und verbreitern den Horizont der Studierenden, wenn sie die Psychologie als Wissenschaft auf ihre eigene Welt und die Welten auf der ganzen Erde anwenden wollen.

Ein überarbeitetes und gründlich durchdachtes didaktisches Konzept Zusätzlich zu den neuen literarischen Texten auf der ersten Seite jedes Kapitels enthält diese Auflage die folgenden neuen Lesehilfen: 4 Neu nummerierte Lernziele leiten die einzelnen Abschnitte des Texts ein und können dem Studierenden als Orientierungshilfe beim Lesen dienen. 4 In der neuen Zusammenfassung der Lernziele, die sich jeweils am Ende eines Abschnitts findet, werden die Lernziele wiederholt und in einer gut lesbaren Kurzzusammenfassung dargestellt. 4 Die Zusammenfassung der Lernziele enthält auch mindestens eine Frage in der Rubrik »Denken Sie weiter«, durch die die Studierenden lernen sollen, die gelernten Konzepte auf eigene Erfahrungen anzuwenden. 4 Am Kapitelende stehen jeweils auch 3 bis 5 Fragen in der Rubrik »Prüfen Sie Ihr Wissen« (die Antworten darauf befinden sich unter www.lehrbuch-psychologie.de), durch die erfasst wird, wie gut der Studierende etwas beherrscht, und die ihn dazu ermutigen, in großen Zusammenhängen zu denken.

Ansatz der Analyseniveaus Diese Auflage enthält jetzt eine systematische Behandlung der biologischen, psychologischen und soziokulturellen Einflüsse auf unser Verhalten. Ein wichtiger neuer Abschnitt im Prolog führt in den Ansatz der Analyseniveaus ein; dies schafft die Voraussetzungen für spätere Kapitel, und neue Abbildungen mit den Analyseniveaus helfen den Studierenden in den meisten Kapiteln, die Begriffe im biopsychosozialen Kontext zu verstehen.

Mehr Sensibilität für die klinische Sichtweise Mit hilfreicher Unterstützung durch Kollegen aus der klinischen Psychologie habe ich in dieser Auflage bei verschiedenen Begriffen innerhalb der Psychologie stärker auf die klinische Sichtweise geachtet; davon haben v. a. die Kapitel über »Persönlichkeit«, »psychische Störungen« und »Therapie« profitiert. Beispielsweise behandle ich im Kapitel »Stress und Gesundheit« nun die problemfokussierte und die emotionsfokussierte Bewältigungsstrategie. Und das Kapitel »Intelligenz« enthält jetzt mehrere Bezüge darauf, wie Intelligenztests in klinischen Settings eingesetzt werden.

Psychologie als Beruf Im Anhang finden Sie einen von Jennifer Lento geschriebenen Anhang »Psychologie als Beruf«, der als Ratgeber für Studierende dienen kann, die sich innerhalb des Psychologiestudium oder im Rahmen der beruflichen Fort- und Weiterbildung spezialisieren wollen. Zu den in diesem Anhang behandelten Themen gehören die Vorteile eines Psychologiestudiums und eines Abschlusses in Psychologie, die einem Psychologen zur Verfügung stehenden beruflichen Entwicklungsmöglichkeiten und der Arbeitsmarkt für Studienabsolventen sowie für promovierte Psychologen, Karrieremöglichkeiten innerhalb der Fachgebiete der Psychologie (z. B. klinische Psychologie, Psychologie in Beratung, Verwaltung und Schule, forensische Psychologie und Sportpsychologie) und Tipps zur rechtzeitigen Vorbereitung für diejenigen, die promovieren wollen.

Verbesserte Rubrik »Kritisch nachgefragt« Ich habe mir zum Ziel gesetzt, im gesamten Buch Studierende auf ganz natürliche Weise zum kritischen Denken anzuregen; das gilt sogar noch mehr bei den Geschichten, die dazu ermuntern sollen, die Schlüsselbegriffe der Psychologie aktiv zu lernen. Zusätzlich zu den neuen Lernzielen und der Zusammenfassung der Lernziele, die zum kritischen Lesen ermuntern soll, um ein Verständnis für wichtige Begriffe zu entwickeln, enthält die 8. Auflage die folgenden Möglichkeiten für Studierende, ihre Fähigkeit zum kritischen Denken zu entwickeln und einzuüben. 4 7 Kap. 1 verfolgt bei der Einführung der Studierenden in die Forschungsmethoden der Psychologie einen einzigartigen Ansatz zum kritischen Denken. Dabei werden die Fehlschlüsse unserer Alltagsintuition und des gesunden Menschenverstands hervorgehoben und damit die Notwendigkeit der Psychologie als Wissenschaft betont. Kritisches Denken wird als Schlüsselbegriff für dieses Kapitel eingeführt (7 Abschn. 1.1.2). Die Erörterungen zum statistischen Schlussfolgern sollen Studierende dazu ermutigen, lieber noch einmal nachzudenken und einfache statistische Grundsätze auf derartige Argumentationen anzuwenden (7 Abschn. 1.5). 4 Die Kästen »Kritisch nachgefragt« finden sich überall im Buch und sollen Studierenden ein kritisches Vorgehen bei einigen Schlüsselfragen der Psychologie modellhaft vorführen. Sehen Sie sich beispielsweise den neuen Kasten »Kritisch nachgefragt: ADHS – die Pathologisierung von Wildheit oder eine echte Störung?« an (7 Anfang von Kap. 6).

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Vorwort zur 8. amerikanischen Auflage

4 Geschichten im Stil von Kriminalromanen sollen die Studierenden verstreut über den gesamten Text dazu verleiten, kritisch über Schlüsselfragen der psychologischen Forschung nachzudenken. 4 Aufforderungen im Stil von »Wenden Sie das an« und »Denken Sie darüber nach« sollen die Studierenden in jedem Kapitel aktiv bei der Sache bleiben lassen. 4 Kritisch prüfende Kommentare zur Psychologie in der Regenbogenpresse sollen das Interesse anregen und liefern wichtige didaktische Beiträge, um kritisch über Alltagsthemen nachzudenken.

Danksagung Wenn es stimmt, dass alle, die mit den Weisen gehen, selbst weise werden, kann ich wegen all der Weisheit und der Ratschläge, die ich von meinen Fachkollegen erhalten habe, kaum noch gehen. Aufgrund der Unterstützung, die in den letzten beiden Jahrzehnten von Tausenden Beratern und Gutachtern bekommen habe, ist dieses Buch besser und

genauer geworden, als es ein einzelner Autor hätte verfassen können (ich zumindest). Meine Lektoren und ich behalten immer Folgendes im Hinterkopf: Wir alle zusammen sind klüger als jeder Einzelne von uns. Ich bin weiterhin jedem der Dozenten zu Dank verpflichtet, deren Einfluss ich in den vorigen 7 Auflagen anerkannt habe, und auch den zahlreichen Forschern, die mir so bereitwillig ihre Zeit und ihre Fähigkeiten zur Verfügung gestellt haben, um mir dabei zu helfen, dass ich ihre Forschung genau darstelle. Diese neue Auflage hat auch vom kreativen Input und der Hilfe von Jennifer Peluso (Florida Atlantic University) bei der Überarbeitung der Kap. 9 (»Gedächtnis«) und 10 (»Denken und Sprache«) profitiert. Meine Dankbarkeit erstreckt sich auch auf die vielen Kolleginnen und Kollegen für ihre kritischen Anregungen, Korrekturen und kreativen Ideen zum Inhalt, der Didaktik und dem Format dieser neuen Auflage [detaillierte 7 Danksagung im Anhang]. David G. Myers

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Hinweise zur deutschen Bearbeitung Im Rahmen der deutschen Bearbeitung sollte das Lehrbuch an den Erfahrungsraum und das Hintergrundwissen der deutschen Leser angepasst werden. Deshalb wurden einige Beispiele aus dem amerikanischen Alltagsleben auf deutsche Verhältnisse übertragen. Beispielsweise wurden illustrierende Anekdoten zu amerikanischen Stars wie Michael Jordan durch entsprechende Beispiele deutscher Sportler ersetzt. Aber auch bei der Darstellung von Themenbereichen, die in beiden Ländern sehr unterschiedlich behandelt werden oder denen unterschiedliche nationale Gesetzgebungen zugrunde liegen, wurde die Darstellung um die deutsche Sichtweise erweitert. So wurde beispielsweise bei der Diagnostik psychischer Störungen die in Deutschland verwendete ICD-Klassifikation ergänzt, die David Myers als amerikanischer Autor nicht erwähnt. Statistische Informationen zu Bevölkerungsmerkmalen wurden wenn möglich durch entsprechende deutsche oder europäische Zahlen ergänzt. In den amerikanischen Einführungslehrbüchern zur Psychologie wird meist die Klinische Psychologie als Anwendungsfach in den Vordergrund gestellt. Um der Bedeutung weiterer großer Anwendungsfächer gerecht zu werden, wurden in die deutsche Ausgabe zwei zusätzliche Kapitel aufgenommen: Kapitel 19 »Pädagogische Psychologie« wurde von Siegfried Hoppe-Graff verfasst, Kapitel 20 »Arbeits- und Organisationspsychlogie« von Barbara Keller.

Da es sich bei der von David Myers zitierten Literatur weitgehend um englischsprachige Texte handelt, finden Sie am Ende jedes Kapitels deutschsprachige Literaturhinweise. Dabei handelt es sich meist um Lehrbücher, die einen umfassenden Überblick über das im jeweiligen Kapitel behandelte Thema geben und Ihnen damit einen tieferen Einstieg in die Thematik ermöglichen sollen. Noch ein Hinweis: Wegen der besseren Lesbarkeit wird im Text bei Personenbezeichnungen überwiegend nur die (eher gewohnte) männliche Form verwendet, sie schließt selbstverständlich auch weibliche Personen ein. Die Nennung von Studentinnen und Studenten, Probanden und Probandinnen etc. entspricht zwar gerade in der Psychologie sicherlich besser den realen Verhältnissen, hätte dem Textfluss jedoch geschadet. Ob Sie die Psychologie gerade kennenlernen oder sich schon ein wenig auskennen – wir wünschen Ihnen bei Ihrer Reise durch das spannende Gebiet der Psychologie viel Vergnügen und Erfolg! Matthias Reiss Svenja Wahl

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Erfolgreich lernen Die Psychologie lehrt uns, die richtigen Fragen zu stellen und kritisch zu denken, wenn wir einander widersprechende Vorstellungen oder populärwissenschaftliche Behauptungen überprüfen. Die Psychologie vertieft unser Verständnis dafür, wie wir als Menschen wahrnehmen, denken, fühlen und handeln. Die Psychologie vermittelt Ihnen also weitaus mehr als effiziente Lernmethoden. Trotzdem, der Myers wäre kein gutes Psychologielehrbuch, wenn wir Ihnen nicht auch ein paar Tipps für den optimalen Umgang mit dem Text und zu effektiven Arbeitstechniken geben würden.

Wie lerne ich mit dem Myers? Lernen mit Methode: SQ3R Eine einfache Arbeitstechnik für das Studium umfasst die folgenden Prinzipien: Überblick verschaffen, Fragen stellen, lesen, noch einmal durchsehen, darüber nachdenken (auf Englisch: survey, question, read, review und reflect oder SQ3R). Zuerst verschaffen Sie sich einen Überblick (survey) darüber, was Sie gleich lesen werden, z. B. anhand der Einführung ins Kapitel und Abschnittsüberschriften. Merken Sie sich das Hauptthema eines Abschnitts, wie es im Lernziel zu Beginn angegeben ist. Dadurch konzentrieren Sie sich beim Lesen und Lernen auf etwas. Behalten Sie das Lernziel als eine Frage (question) im Hinterkopf, die Sie beim Lesen (read) des Abschnitts zu beantworten versuchen. In der Regel wird ein einzelner Abschnitt eines Kapitels gerade die Textmenge sein, die Sie aufnehmen können, ohne zu ermüden. Behandeln Sie jeden Abschnitt so, als handele es sich um das gesamte Kapitel. Lesen Sie aktiv und kritisch. Stellen Sie Fragen. Machen Sie sich Notizen. Denken Sie über Schlussfolgerungen daraus nach: Wie stützt das, was Sie gelesen haben, Ihre Vorannahmen bzw. stellt sie infrage. Wie überzeugend sind die Befunde? In welcher Beziehung steht dies zu Ihrem eigenen Leben? Am Ende noch einmal durchsehen (review) und darüber nachdenken (reflect). Um die Gliederung eines Abschnitts stärker in Ihrem Gedächtnis zu verankern, gehen Sie erneut den Text und die Definitionen der Schlüsselbegriffe in der Randspalte durch. Lesen Sie den Text unter der Überschrift »Lernziele« am Ende eines jeden Abschnitts. Stellen Sie sich selbst Fragen anhand des Materials, das Sie unter der Überschrift »Prüfen Sie Ihr Wissen« am Ende jedes Kapitels finden; und nehmen Sie sich vielleicht die Fragen vor, die als Internet-Bonusmaterial unter www.lehrbuch-psychologie.de zu den einzelnen Kapiteln stehen. Werfen Sie einen Blick in Ihre Notizen, und sehen Sie sich das an, was Sie im Text durch Anstreichen hervorgehoben haben. Dann halten Sie inne und lassen es wirken. Besser noch: Fassen Sie die Informationen für einen Freund zusammen, oder halten Sie vor einem fiktiven Publikum eine Vorlesung darüber. Überblick verschaffen, Fragen stellen, lesen, noch einmal durchsehen, darüber nachdenken. Wir haben die Kapitel so gegliedert, dass es Ihnen leichter fallen sollte, die SQ3R-Arbeitstechnik zu verwenden. Die Kapitel sind in 3 bis 5 Abschnitte von lesbarer Länge eingeteilt, die in einer Sitzung bearbeitet werden können.

Lernen mit System: Didaktische Elemente Die im Folgenden aufgeführten didaktischen Elemente sollen Ihnen das Arbeiten mit dem Lehrbuch erleichtern und dazu führen, dass das Lernen Spaß macht. Lernziele. Im gesamten Text werden Sie Lernziele finden, die Ihnen helfen sollen, sich beim Lesen auf das Wesentliche zu konzentrieren. Und am Ende jedes großen Abschnitts wird der Kasten »Lernziele« Sie darin unterstützen, noch einmal zu wiederholen, was Sie gelesen haben. Definitionen. Durch das ganze Buch hindurch finden Sie die Definitionen wichtiger Konzepte in der Randspalte. Im Fließtext ist der Begriff immer blau hervorgehoben. Zusätzlich zum deutschen Fachbegriff ist auch jeweils die englische Übersetzung aufgeführt. Glossar. Am Ende des Buches (blauer Teil) sind alle Definitionen noch einmal in einem Glossar zusammengefasst. Dort haben wir auch die Übersetzungen der Fachbegriffe aufgenommen, so dass Sie ein kleines deutsch-englisches Psychologielexikon zum schnellen Nachschlagen zur Verfügung haben. Zitate. Der Randspalte können Sie neben den Definitionen noch zahl-

reiche andere Informationen entnehmen, u. a. Beispiele, provokante Fragen und Zitate. Zentrale Aussagen und Merksätze. Sie sind mit einem Ausrufezeichen

am Rand versehen und in roter Schrift hervorgehoben. Kritisch nachgefragt. Diese Kästen bieten Ihnen ein Modell für eine kritische Herangehensweise an einige wichtige Themen der Psychologie. Es handelt sich häufig um kontrovers diskutierte Themen. Unter der Lupe. In diesen Kästen werden Ihnen ausgewählte Konzepte der Psychologie näher vorgestellt. Denken Sie weiter. Eine solche anwendungsbezogene Fragestellung am

Ende jeder Lernzielbox soll Ihnen helfen, über die wesentlichen Themen noch einmal nachzudenken und sie in eine Beziehung zu Ihrem eigenen Leben zu setzen. Wenn Sie einen persönlichen Bezug zu den Themen entwickeln, werden Sie sich das Gelernte besser merken können. Hat der Lernstoff eine persönliche Bedeutung, dann erinnert man sich leichter daran. Prüfen Sie Ihr Wissen. Diese Fragen, die Sie immer am Ende des Kapitels finden, sind als Selbsttest gedacht, mit dessen Hilfe Sie feststellen können, ob Sie das Gelesene verstanden haben. Die Antworten zu diesen Fragen finden auf www.lehrbuch-psychologie.de. Zeitleiste: Eine Zeitleiste mit den zentralen Themen der Psychologie und ihrer Geschichte findet sich auf den Innenseiten des Einbandes.

Myers: Psychologie, 2. Auflage Ihr Wegweiser zu diesem Lehrbuch

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Trailer: Mit dieser Einführung startet das Kapitel

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Zitate, Übungen, Zusatzinfo finden Sie in der Randspalte

Wichtig: hervorgehobene Merksätze

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Anschaulich – Abbildungen und Tabellen

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Griffregister: zur schnellen Orientierung

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n Buchinhalte sowohl für Grundstudium/Bachelor-Studiengänge als auch für Hauptstudium/Master-Studiengänge relevant

Gehen Sie aktiv an den Lernstoff heran: Berücksichtigen Sie die Lernziele zu Beginn jedes Abschnitts. Eine Beispiellösung finden Sie am Abschnittsende!

Navigation: mit Seitenzahl und Kapitelnummer

Glossar: in der Randspalte zum Lernen, ab S. 947 zum Nachschlagen

Kritisch nachgefragt: Kontroverse Themen anschaulich dargestellt

Unter der Lupe: Infos für die, die es genau wissen wollen

Denken Sie weiter: Hier wenden Sie Ihr Wissen an!

Fit für die Prüfung? Prüfungsfragen – und die Antworten auf der Myers-Lernwebsite

Lesen Sie mehr: Tipps für die weitere Lektüre

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Erfolgreich lernen

Lernen im Netz: Weiterführende Materialien Im Internet stellen wir Ihnen auf einer interaktiven Lernwebsite Zusatzmaterialien zur Verfügung. Loggen Sie sich einfach mit E-MailAdresse und Passwort unter www.lehrbuch-psychologie.de ein und nutzen Sie die folgenden Tools: 4 »Prüfen Sie Ihr Wissen«: Hier sehen Sie die Beispielantworten auf die Prüfungsfragen, die am Ende jedes Buchkapitels aufgelistet sind. Lagen Sie richtig mit Ihrer Beantwortung? 4 Zusammenfassungen: Verschaffen Sie sich einen schnellen Überblick über die Kapitelinhalte. Kurze Zusammenfassungen stellen die wesentlichen Themen der einzelnen Kapitel verständlich dar. Wiederholen Sie so die Inhalte jeder Lerneinheit. 4 Memocards: Karteikarten sind mühsam zu erstellen, aber extrem hilfreich beim Lernen und zur Wissensprüfung. Auf unseren elektronischen Memocards finden Sie das komplette Glossar des Buchs, auf der einen Seite die Fachbegriffe, auf der anderen deren Definition. Lernen Sie und testen Sie auch gleich selbst, ob Sie die Begriffe parat haben. 4 Deutsch-englische Memocards: Auch Vokabelpauken ist möglich. Es wird auch im Psychologiestudium immer wichtiger, englische Texte lesen zu können – prüfen Sie mit diesen Memocards, ob Sie die Fachbegriffe auch auf Englisch beherrschen. 4 Quizfragen: Und noch ein Instrument, das Ihnen hilft, Ihr Wissen zu überprüfen. In Zeiten von »Wer wird Millionär« und anderen Fernsehquizsendungen wird Ihnen dieses sehr bekannt vorkommen. Zu jedem Kapitel liegen jeweils 2 Multiple-Choice-Quiz vor. Testen Sie sich selbst: Wenn Sie den Myers aufmerksam gelesen haben, sollten Sie die Quizfragen auf jeden Fall beantworten können. Und anhand der vielen Beispiele lernen Sie ganz nebenbei noch die Anwendung der Konzepte. 4 Links zu speziellen Themen: Haben Sie Geschmack an den Inhalten der Psychologie gefunden? Ob Sie mehr zu Psychologie als Wissenschaft und Beruf, zu Emotionen, Persönlichkeit oder Arbeitsund Organisationspsychologie wissen wollen – wir haben für Sie eine ganze Reihe von Links zusammengestellt und kommentiert. Starten Sie bei uns Ihre Suche im Netz.

Effiziente Arbeitstechniken im Studium Die Zeit und Mühe, die Sie für das Psychologiestudium aufwenden, sollte Ihr Leben bereichern und Ihren Horizont erweitern. Obwohl viele der bedeutenden Fragen im Leben über die Psychologie hinausgehen, werden einige recht wichtige sogar schon in einem Seminar zur Einführung in die Psychologie behandelt. Durch sorgfältige Forschung haben Psychologen Einsichten zu Gehirn und Denken, zu Depression und Freude, zu Träumen und Erinnerungen gewonnen. Selbst die unbeantworteten Fragen können unser Leben bereichern, indem sie uns erneut das Gefühl vermitteln, wie geheimnisvoll »Dinge sind, die für uns zu wunderbar sind«, als dass wir sie verstehen könnten. Zudem kann Ihr Psychologiestudium dazu beitragen, dass Sie lernen, wie man wichtige Fragen stellt und beantwortet – wie man kritisch nachfragt, wenn man konkurrierende Gedanken und Behauptungen gegeneinander abwägt. Wenn Sie Ihr Leben bereichern und Ihren Horizont erweitern (und ordentliche Noten bekommen) wollen, müssen Sie auf effektive Weise

studieren. Wie Sie in 7 Kap. 9 sehen werden, müssen Sie Informationen aktiv verarbeiten, wenn Sie sie behalten wollen. Ihr Denken ist nicht so wie Ihr Magen, der nur passiv befüllt werden möchte; es ist eher wie ein Muskel, der durch ein Training kräftiger wird. Zahllose Experimente zeigen, dass Menschen Inhalte besser lernen und erinnern, wenn sie sie in eigene Worte fassen, sie wiederholen und sie sich dann noch einmal durchsehen und erneut wiederholen. Hier sind 5 Tipps, damit Sie diese Erkenntnisse für ein effektives Arbeiten nutzen können.

5 Studientechniken Lernen Sie in Häppchen. Einer der ältesten Befunde der Psychologie

besteht darin, dass über die Zeit verteiltes Üben zu besserem Behalten führt als geballtes Üben. Sie werden Inhalte besser erinnern, wenn Sie Ihre Lektüre auf mehrere Zeitabschnitte aufteilen – vielleicht 1 Stunde pro Tag an 6 Tagen die Woche –, statt alles in einem langen Lektüremarathon abzuarbeiten. Wenn Sie Ihre Lernsitzungen auf mehrere Zeitabschnitte aufteilen, so erfordert das eine disziplinierte Vorgehensweise beim Zeitmanagement. Statt beispielsweise den Versuch zu unternehmen, in einer Lernsitzung ein ganzes Kapitel zu lesen, sollten Sie einfach nur einen Abschnitt lesen und sich dann etwas anderem zuwenden. Hören Sie in Lehrveranstaltungen aktiv zu. Der Psychologe William

James forderte schon vor mehr als 100 Jahren: »Keine Rezeption ohne Reaktion, kein Eindruck ohne ... Ausdruck.« Hören Sie sich in Vorlesungen die Hauptgedanken an. Schreiben Sie sie auf. Stellen Sie während und nach der Veranstaltung Fragen. Verarbeiten Sie die Informationen in einer Lehrveranstaltung, aber auch wenn Sie für sich alleine lernen, aktiv; dann werden Sie sie besser verstehen und behalten. Etwas noch einmal lernen. Die Psychologie sagt uns, dass man etwas besser behält, wenn man es noch einmal lernt. Je häufiger Studierende ein Kapitel lesen und je weniger Veranstaltungen sie verpassen, desto besser sind ihre Prüfungsnoten (Woehr u. Cavell 1993). Studierende schrecken häufig davor zurück, etwas noch einmal zu lernen, und überschätzen, wie viel sie wissen. Echtes Lernen erfordert mehr, als etwas momentan zu verstehen. Sie verstehen ein Kapitel vielleicht in dem Augenblick, in dem Sie es lesen, aber wenn Sie zusätzliche Zeit für die nochmalige Lektüre, für die Überprüfung Ihres Wissen und für die Überprüfung dessen, was Sie zu wissen glauben, einplanen, werden Sie die Inhalte tatsächlich lernen und Ihr neues Wissen länger behalten. Konzentrieren Sie sich auf die Hauptgedanken. Es ist hilfreich, in re-

gelmäßigen Abständen innezuhalten und sich die Hauptgedanken klarzumachen, damit man weiß, wie sich all die Fakten und Forschungsbefunde zu einem großen Bild zusammenfügen. Um die Lektionen, die uns die Psychologie aufgibt, zu verstehen und zu schätzen, ist es z. B. wichtig, etwas über die Forschung zu lesen, die die Informationsgrundlage darstellt. Aber es ist auch wichtig, nach den großen Konzepten und Themen Ausschau zu halten, die die Psychologen aus diesen kleinen Befunden aufbauen. Zu den großen Themen dieses Buchs gehören z. B. die folgenden: 4 Kritisches Denken und wissenschaftliches Überprüfen tragen dazu bei, dass wir über viele Dinge besser nachdenken. 4 Wir erlangen ein tieferes Verständnis, wenn wir ein Phänomen von einem biologischen, einem psychologischen und einem soziokul-

XVII Erfolgreich lernen

turellen Niveau aus sehen. Alles Psychologische ist gleichzeitig biologisch. Doch unser Verhalten steht oft unter dem Einfluss unser Umwelt und unserer Kultur. 4 Anlage (unsere Gene und unsere biologische Ausstattung) und Umwelt (die Kultur und die Welt um uns herum) wirken zusammen und formen dabei unsere Merkmale und Verhaltensweisen. 4 Wir sind Geschöpfe unserer Kultur und unseres Geschlechts; doch wir ähneln uns viel mehr, als wir uns unterscheiden. 4 Ein Großteil unserer menschlichen Informationsverarbeitung erfolgt unwissentlich, jenseits des Radarschirms unseres Bewusstseins. Seien Sie ein geschickter Klausurenschreiber. Wenn in einer Klausur Multiple-Choice-Fragen (MC-Fragen) vorgegeben werden, verwirren Sie sich nicht selbst dadurch, dass Sie sich vorzustellen versuchen, in welcher Weise jede Antwortmöglichkeit die richtige sein könnte. Versuchen Sie stattdessen, die Frage so zu beantworten, als handele es sich um einen Lückentext. Decken Sie zunächst die Antworten zu, rufen Sie sich in Erinnerung, was Sie wissen, und vervollständigen Sie den Satz in Gedanken. Dann lesen Sie sich die in der Klausur vorgegebenen Antworten durch, und finden Sie die Antwortmöglichkeit heraus, die am besten zu Ihrer Antwort passt. Wenn eine Klausur sowohl Multiple-Choice-Fragen als auch freie Antwortmöglichkeiten enthält, wenden Sie sich zunächst Letzteren zu. Lesen Sie die Frage sorgfältig durch, und arbeiten Sie genau heraus, was der Dozent wissen möchte. Notieren Sie auf der Rückseite des Blatts eine Liste von Punkten, über die Sie schreiben wollen, und gliedern Sie sie. Bevor Sie dann zum Schreiben übergehen, überspringen Sie diese Aufgabe, und gehen Sie die MC-Fragen durch. (Während Sie das tun, können Sie weiterhin über die Fragen zum freien Text nachgrübeln.

Manchmal lassen die objektiver auswertbaren MC-Fragen tiefer liegende Gedanken hochkommen.) Lesen Sie sich dann noch einmal die offenen Fragen durch, denken Sie erneut über Ihre Antwort nach, und beginnen Sie mit dem Schreiben. Wenn Sie fertig sind, lesen Sie Ihre Arbeit Korrektur, um Rechtschreib- und Grammatikfehler zu beseitigen, die Sie weniger kompetent erscheinen lassen, als Sie es in Wirklichkeit sind. **** Wenn Sie etwas über Psychologie lesen, werden Sie viel mehr lernen als nur effektive Arbeitstechniken. Die Psychologie zeigt uns, wie wir zu wichtigen Fragen kommen können – wie wir kritisch nachfragen können, während wir konkurrierende Gedanken und populäre Behauptungen gegeneinander abwägen. Wir werden die Art und Weise zu schätzen lernen, wie wir als Menschen wahrnehmen, denken, fühlen und handeln. Dabei erweitert sich unser Verständnis für das Leben und verbessert sich unser Einfühlungsvermögen. Mit Hilfe dieses Buchs hoffen wir, unseren Beitrag zu leisten, dass Sie auf dieses Ziel zusteuern. Der Hochschullehrer Charles Eliot sagte vor einem Jahrhundert: »Bücher sind die ruhigsten und beständigsten Freunde und die geduldigsten Lehrer.« Wir würden uns freuen, wenn dies auch für dieses Lehrbuch gilt und der Myers Ihnen ein wertvoller Begleiter auf Ihrer Reise durch die Psychologie wird. Wir wünschen Ihnen dabei viel Spaß und Erfolg.

Christiane Grosser Matthias Reiss Svenja Wahl

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Kapitelübersicht Prolog: Eine kurze Geschichte der Psychologie – 1 1 Kritisch denken mit wissenschaftlicher Psychologie – 17 2 Neurowissenschaft und Verhalten – 55 3 Anlage, Umwelt und die Vielfalt der Menschen – 101 4 Entwicklung – 149 5 Wahrnehmung: Sinnesorgane

– 213

6 Wahrnehmung: Organisation und Interpretation – 257 7 Bewusstsein 8 Lernen

– 291

– 339

9 Gedächtnis – 379 10 Denken und Sprache – 429 11 Intelligenz

– 467

12 Motivation

– 511

13 Emotion

– 547

14 Persönlichkeit

– 587

15 Sozialpsychologie – 635 16 Stress und Gesundheit – 691 17 Klinische Psychologie: Psychische Störungen – 743 18 Klinische Psychologie: Therapie

– 795

19 Pädagogische Psychologie – 841 20 Arbeits- und Organisationspsychologie – 885

XXI

Inhaltsverzeichnis Prolog: Eine kurze Geschichte der Psychologie . . . . . . Wurzeln der Psychologie . . . . . . . . . . . . . . . . . Vorwissenschaftliche Psychologie . . . . . . . . . . . Geburtsstunde der wissenschaftlichen Psychologie Entwicklung der wissenschaftlichen Psychologie . Moderne Psychologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Große Themen der Psychologie . . . . . . . . . . . . . Drei zentrale Analyseniveaus der Psychologie . . . Arbeitsfelder der Psychologie . . . . . . . . . . . . . .

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. . . . . . . .

. . . . . . . .

1

. . . . . . . .

2 3 5 7 9 10 11 13

1

Kritisch denken mit wissenschaftlicher Psychologie . .

17

1.1 1.1.1

Brauchen wir die wissenschaftliche Psychologie? . . . . . . Grenzen der Intuition und des gesunden Menschenverstandes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wissenschaftliches Denken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wissenschaftliche Methode . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Beschreibung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Einzelfallstudie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Befragung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Beobachtung in natürlicher Umgebung (Feldbeobachtung) Korrelation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Korrelation und Kausalität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Illusorische Korrelationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wahrnehmung von Ordnung bei zufälligen Ereignissen . . Experiment . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ursache und Wirkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Therapieevaluation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Unabhängige und abhängige Variablen . . . . . . . . . . . . Grundlagen statistischer Argumentation . . . . . . . . . . . . Datenbeschreibung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Inferenzstatistik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Häufig gestellte Fragen zur Psychologie . . . . . . . . . . . .

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18

. . . . . . . . . . . . . . . . . . .

18 22 24 26 26 27 29 30 32 34 35 36 36 37 38 40 41 43 45

1.1.2 1.1.3 1.2 1.2.1 1.2.2 1.2.3 1.3 1.3.1 1.3.2 1.3.3 1.4 1.4.1 1.4.2 1.4.3 1.5 1.5.1 1.5.2 1.6

. . . . . . . .

3.1.2 3.1.3 3.1.4 3.1.5 3.1.6 3.1.7 3.2 3.2.1 3.2.2 3.2.3 3.3 3.3.1 3.3.2 3.4 3.4.1 3.4.2 3.4.3 3.4.4 3.5 3.5.1 3.5.2 3.5.3 3.6

Zwillingsstudien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Adoptionsstudien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Studien zum Temperament . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Erblichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anlage-Umwelt-Interaktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Molekulargenetik: Eine neue Herausforderung . . . . . . . Evolutionspsychologie: Wie man die Natur des Menschen versteht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Natürliche Selektion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Evolutionstheoretische Erklärung der menschlichen Sexualität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kritik am evolutionspsychologischen Ansatz . . . . . . . . Eltern und Gleichaltrige . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Eltern und frühe Erfahrungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . Einfluss der Gleichaltrigen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kulturelle Einflüsse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kulturübergreifende Unterschiede . . . . . . . . . . . . . . . Zeitübergreifende Veränderungen . . . . . . . . . . . . . . . Kultur und Selbst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kultur und Kindererziehung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Entwicklung des sozialen Geschlechts . . . . . . . . . . . . Geschlechtsbezogene Ähnlichkeiten und Unterschiede . Biologische Grundlagen des Geschlechts . . . . . . . . . . . Soziale Einflüsse auf das Geschlecht . . . . . . . . . . . . . . Überlegungen zu Anlage und Umwelt . . . . . . . . . . . .

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104 107 109 110 112 112

. . 115 . . 115 . . . . . . . . . . . . . . .

. . . . . . . . . . . . . . .

118 120 122 123 126 128 129 130 131 133 136 136 139 141 145

4

Entwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149

4.1 4.1.1 4.1.2 4.1.3 4.2 4.2.1 4.2.2 4.2.3 4.3 4.3.1 4.3.2 4.3.3 4.3.4 4.4 4.4.1 4.4.2 4.4.3 4.5 4.5.1 4.5.2

Pränatale Entwicklung und erste Lebenswochen . . . . Zeugung und Empfängnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . Pränatale Entwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fähigkeiten des Neugeborenen . . . . . . . . . . . . . . . Kleinkindzeit und Kindheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . Körperliche Entwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kognitive Entwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Soziale Entwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Adoleszenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Körperliche Entwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kognitive Entwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Soziale Entwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Übergang ins Erwachsenenalter . . . . . . . . . . . . . . Erwachsenenalter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Körperliche Entwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kognitive Entwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Soziale Entwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zwei wichtige Themen der Entwicklungspsychologie . Kontinuierliche und stufenweise Entwicklung . . . . . Stabilität und Veränderung . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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150 150 151 153 155 155 158 166 178 179 181 184 187 189 190 196 201 209 210 210

2

Neurowissenschaft und Verhalten . . . . . . . . . . . . . . .

55

2.1 2.1.1 2.1.2 2.1.3 2.2 2.2.1 2.2.2 2.3 2.4 2.4.1 2.4.2 2.4.3 2.4.4

Neuronale Kommunikation . . . . . . . . Neuron . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wie Nervenzellen kommunizieren . . . . Wie uns Neurotransmitter beeinflussen . Nervensystem . . . . . . . . . . . . . . . . . Peripheres Nervensystem . . . . . . . . . . Zentrales Nervensystem . . . . . . . . . . Endokrines System . . . . . . . . . . . . . . Gehirn . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Forschungswerkzeuge . . . . . . . . . . . Ältere Hirnstrukturen. . . . . . . . . . . . . Zerebraler Kortex . . . . . . . . . . . . . . . Zur Zweiteilung des Gehirns . . . . . . . .

57 57 60 60 65 66 66 70 71 72 75 80 90

3

Anlage, Umwelt und die Vielfalt der Menschen . . . . . . 101

5

Wahrnehmung: Sinnesorgane . . . . . . . . . . . . . . . . . . 213

3.1

Verhaltensgenetik: Die Vorhersage individueller Unterschiede . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103 Gene: Unsere Codes für das Leben . . . . . . . . . . . . . . . . . 103

5.1 5.1.1 5.1.2

Grundprinzipien sensorischer Wahrnehmung . . . . . . . . . . 215 Schwellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 216 Sensorische Adaptation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 219

3.1.1

. . . . . . . . . . . . .

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XXII

Inhaltsverzeichnis

5.2 5.2.1 5.2.2 5.2.3 5.2.4 5.3 5.3.1 5.3.2 5.3.3 5.4 5.4.1 5.4.2 5.4.3 5.4.4

Sehen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Reizinput Lichtenergie . . . . . . . . . . . . . Auge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Visuelle Informationsverarbeitung . . . . . . Farbensehen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hören . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Reizinput Schallwellen . . . . . . . . . . . . . Ohr . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Schwerhörigkeit und Gehörlosenkultur . . . Andere wichtige Sinne . . . . . . . . . . . . . Tastsinn . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Geschmackssinn . . . . . . . . . . . . . . . . . Geruchssinn . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Lage und Bewegung des Körpers im Raum

6

Wahrnehmung: Organisation und Interpretation . . . . 257

6.1 6.2 6.3 6.3.1 6.3.2 6.3.3 6.3.4 6.4 6.4.1 6.4.2 6.4.3 6.4.4 6.5 6.5.1 6.5.2 6.5.3

Selektive Aufmerksamkeit. . . . . . . . . . . . . . . . Wahrnehmungstäuschungen . . . . . . . . . . . . . Wahrnehmungsorganisation . . . . . . . . . . . . . Formwahrnehmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tiefenwahrnehmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bewegungswahrnehmung . . . . . . . . . . . . . . . Wahrnehmungskonstanz . . . . . . . . . . . . . . . . Wahrnehmungsinterpretation . . . . . . . . . . . . Sensorische Deprivation und wiederhergestelltes Sehvermögen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wahrnehmungsadaptation . . . . . . . . . . . . . . Wahrnehmungsset . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wahrnehmung und der Faktor Mensch . . . . . . . Gibt es außersinnliche Wahrnehmung? . . . . . . . Was ist außersinnliche Wahrnehmung? . . . . . . . Vorahnungen oder Einbildungen? . . . . . . . . . . Außersinnliche Wahrnehmung auf dem Prüfstand

7

Bewusstsein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 291

7.1 7.2 7.2.1 7.2.2 7.2.3 7.2.4 7.2.5 7.3 7.3.1 7.3.2 7.4 7.4.1 7.4.2 7.4.3 7.5

Bewusstsein und Informationsverarbeitung . . . . . . Schlaf und Träume . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Biologische Rhythmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Schlafrhythmus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wozu brauchen wir den Schlaf? . . . . . . . . . . . . . . Schlafstörungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Träume . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hypnose . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fakten und Fehlinformationen . . . . . . . . . . . . . . Ist Hypnose ein veränderter Bewusstseinszustand? . Drogen und Bewusstsein . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abhängigkeit und Sucht . . . . . . . . . . . . . . . . . . Psychoaktive Substanzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . Welche Faktoren beeinflussen den Drogenkonsum? . Nahtoderfahrungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

8

Lernen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 339

8.1 8.2 8.2.1

Wie lernen wir . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 340 Klassische Konditionierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 343 Pawlows Experimente . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 343

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221 222 223 227 231 235 236 237 240 245 245 250 251 254

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258 261 263 264 265 269 270 275

. . . . . . . .

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275 277 278 282 286 286 286 288

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. . . . . . . . . . . . . . .

. . . . . . . . . . . . . . .

292 295 295 296 302 307 309 315 316 319 322 322 324 331 336

8.2.2 8.2.3 8.3 8.3.1 8.3.2 8.3.3 8.3.4 8.3.5 8.3.6 8.4 8.4.1 8.4.2

Aktuelle Erweiterungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anwendungsbereiche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Operante Konditionierung . . . . . . . . . . . . . . . . Skinners Experimente . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Shaping (Verhaltensformung) . . . . . . . . . . . . . . Bestrafung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Aktuelle Erweiterungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anwendungsbereiche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gegenüberstellung von klassischer und operanter Konditionierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Beobachtungslernen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Banduras Experimente . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anwendungsbereiche . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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348 351 354 354 355 360 362 364

. . . .

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. . . .

367 369 371 372

9

Gedächtnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 379

9.1 9.1.1 9.2 9.2.1 9.2.2 9.3 9.3.1 9.3.2 9.3.3 9.3.4 9.4 9.5 9.5.1 9.5.2 9.5.3 9.6 9.6.1 9.6.2 9.6.3 9.6.4 9.6.5 9.7

Das Phänomen Gedächtnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . Informationsverarbeitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Enkodieren: Information in den Speicher überführen . . Wie wir enkodieren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Was wir enkodieren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Speichern: Information aufbewahren . . . . . . . . . . . . Sensorisches Gedächtnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Arbeitsgedächtnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Langzeitgedächtnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Speicherung von Erinnerungen im Gehirn . . . . . . Abrufen: Informationen auffinden . . . . . . . . . . . . . . Vergessen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Scheitern der Enkodierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Speicherzerfall . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Scheitern des Abrufs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Konstruktion von Erinnerung . . . . . . . . . . . . . . . . . Auswirkungen von Fehlinformationen und Imagination Quellenamnesie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Echte und falsche Erinnerungen . . . . . . . . . . . . . . . Kinder als Augenzeugen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Verdrängte oder konstruierte Erinnerungen an Missbrauch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gedächtnistraining . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

10

Denken und Sprache . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 429

10.1 10.1.1 10.1.2 10.1.3 10.1.4 10.2 10.2.1 10.2.2 10.3 10.3.1 10.3.2 10.4 10.4.1 10.4.2 10.4.3

Denken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Begriffe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Problemlösung . . . . . . . . . . . . . . . . . . Entscheidungsfindung und Urteilsbildung . Überzeugungsbias . . . . . . . . . . . . . . . . Sprache . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sprachstruktur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sprachentwicklung . . . . . . . . . . . . . . . Denken und Sprache . . . . . . . . . . . . . . . Einfluss der Sprache auf das Denken . . . . . Denken in Bildern . . . . . . . . . . . . . . . . . Denken und Sprache bei Tieren . . . . . . . . Können Tiere denken? . . . . . . . . . . . . . . Verfügen Tiere über Sprache? . . . . . . . . . Das Beispiel der Affen . . . . . . . . . . . . . .

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380 382 385 385 388 394 394 395 396 397 404 409 410 411 412 416 417 419 419 421

. . . 422 . . . 426

. . . . . . . . . . . . . . .

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430 431 433 436 442 446 447 448 455 455 458 460 460 462 462

XXIII Inhaltsverzeichnis

11

Intelligenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 467

11.1 Was ist Intelligenz? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11.1.1 Intelligenz als eine umfassende oder als verschiedene spezifische Fähigkeiten? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11.1.2 Intelligenz und Kreativität . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11.1.3 Ist Intelligenz neurologisch messbar? . . . . . . . . . . . 11.2 Intelligenzmessung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11.2.1 Ursprünge der Intelligenzmessung . . . . . . . . . . . . 11.2.2 Moderne Tests der geistigen Fähigkeiten . . . . . . . . . 11.2.3 Prinzipien des Testaufbaus . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11.3 Intra- und interindividuelle Intelligenzunterschiede . 11.3.1 Stabilität oder Veränderung? . . . . . . . . . . . . . . . . 11.3.2 Intelligenzextreme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11.4 Genetische und umweltbedingte Einflüsse auf die Intelligenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11.4.1 Genetische Einflüsse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11.4.2 Umweltbedingte Einflüsse . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11.4.3 Gruppenunterschiede bei Intelligenztests . . . . . . . . 11.4.4 Probleme der Verzerrung in Intelligenztests . . . . . . .

. . . . 468 . . . . . . . . . .

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469 476 478 481 481 484 486 490 490 492

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494 495 497 499 505

12

Motivation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 511

12.1 12.1.1 12.1.2 12.1.3 12.1.4 12.2 12.2.1 12.2.2 12.3 12.3.1 12.3.2 12.3.3 12.3.4 12.3.5 12.4 12.5

Sichtweisen der Motivation . . . . . . . . . . . . . . . . Instinkte und Evolutionspsychologie . . . . . . . . . . Triebe und Anreize . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Optimale Erregung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Maslows Bedürfnishierarchie . . . . . . . . . . . . . . . Hunger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Physiologie des Hungers . . . . . . . . . . . . . . . . . . Psychologie des Hungers . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sexuelle Motivation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Physiologie der Sexualität . . . . . . . . . . . . . . . . . Psychologie der Sexualität . . . . . . . . . . . . . . . . . Sexualität im Jugendalter . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sexuelle Orientierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sexualität und die Wertvorstellungen von Menschen Das Bedürfnis nach Zugehörigkeit . . . . . . . . . . . . Leistungsmotivation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

13

Emotion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 547

13.1 13.2 13.2.1 13.2.2

Emotionstheorien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Emotion und Körper . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Emotionen und das autonome Nervensystem . . . . Physiologische Ähnlichkeiten zwischen spezifischen Emotionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Physiologische Unterschiede zwischen spezifischen Emotionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kognition und Emotion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Emotion und Ausdruck . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Nonverbale Kommunikation . . . . . . . . . . . . . . . Emotionsausdruck im kulturellen Kontext . . . . . . . Mimischer Ausdruck . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Emotion und Erfahrung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Angst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wut . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Glücklichsein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

13.2.3 13.2.4 13.3 13.3.1 13.3.2 13.3.3 13.4 13.4.1 13.4.2 13.4.3

. . . . . . . . . . . . . . . .

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512 513 514 514 515 517 518 520 525 525 528 529 532 539 541 544

. . . . . 548 . . . . . 551 . . . . . 551 . . . . . 552 . . . . . . . . . .

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553 554 560 560 564 566 569 570 573 575

14

Persönlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 587

14.1 14.1.1 14.1.2 14.1.2 14.1.4 14.2 14.2.1 14.2.2 14.2.3 14.2.4 14.3 14.3.1 14.3.2 14.3.3 14.3.4 14.4 14.4.1 14.4.2 14.4.3 14.4.4 14.5 14.5.1 14.5.2 14.5.3

Psychoanalytischer Ansatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . Erforschung des Unbewussten . . . . . . . . . . . . . . . Neofreudianische und psychodynamische Theorien . Erfassung unbewusster Prozesse . . . . . . . . . . . . . . Bewertung des psychoanalytischen Ansatzes . . . . . . Humanistischer Ansatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abraham Maslows Konzept der Selbstverwirklichung Carl Rogers’ personzentrierter Ansatz . . . . . . . . . . . Erfassung des Selbst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bewertung des humanistischen Ansatzes . . . . . . . . Trait-Ansatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Exploration von Merkmalen . . . . . . . . . . . . . . . . . Erfassung von Merkmalen . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Fünf-Faktoren-Modell (»The Big Five«) . . . . . . . . Bewertung des Trait-Ansatzes . . . . . . . . . . . . . . . . Sozial-kognitiver Ansatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Reziproke (wechselseitige) Beeinflussung . . . . . . . . Persönliche Kontrolle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Erfassung von Situationseinflüssen auf das Verhalten . Bewertung des sozial-kognitiven Ansatzes . . . . . . . . Das Selbst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Vorteile des Selbstwertgefühls . . . . . . . . . . . . . Kultur und Selbstwertgefühl . . . . . . . . . . . . . . . . . Selbstwertdienliche Verzerrung . . . . . . . . . . . . . .

15

Sozialpsychologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 635

15.1 15.1.1 15.1.2 15.2 15.2.1 15.2.2 15.3 15.3.1 15.3.2 15.3.3 15.3.4 15.3.5 15.3.6

Soziales Denken . . . . . . . . . Attribution von Verhalten . . . Einstellungen und Handlungen Sozialer Einfluss . . . . . . . . . . Konformität und Gehorsam . . Gruppeneinfluss . . . . . . . . . Soziale Beziehungen . . . . . . Vorurteil . . . . . . . . . . . . . . Aggression . . . . . . . . . . . . . Konflikt . . . . . . . . . . . . . . . Interpersonale Anziehung . . . Altruismus . . . . . . . . . . . . . Frieden stiften . . . . . . . . . . .

16

Stress und Gesundheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 691

16.1 16.1.1 16.1.2 16.1.3 16.2 16.2.1 16.2.2 16.2.3

Stress und Krankheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Stress und Stressoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Stress und Herzkrankheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . Stress und Krankheitsanfälligkeit . . . . . . . . . . . . . . . Gesundheitsförderung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bewältigung von Stress . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Umgang mit Stress . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Änderung gesundheitsschädigender Verhaltensweisen

17

Klinische Psychologie: Psychische Störungen . . . . . . . 743

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589 590 594 595 597 603 603 604 605 605 607 609 610 613 614 619 619 620 625 626 627 628 629 629

636 637 639 644 644 651 658 658 664 673 675 682 685

693 693 698 701 706 707 712 720

17.1 Was sind psychische Störungen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . 745 17.1.1 Definition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 745 17.1.2 Erklärungsansätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 747

XXIV

Inhaltsverzeichnis

17.1.3 17.1.4 17.2 17.2.1 17.2.2 17.2.3 17.2.4 17.2.5 17.3 17.3.1 17.3.2 17.3.3 17.4 17.4.1 17.4.2 17.4.3 17.5 17.6

Klassifikation psychischer Störungen . . . . . . Probleme und Gefahren der Etikettierung . . . Angststörungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Generalisierte Angststörung und Panikstörung Phobien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zwangsstörung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Posttraumatische Belastungsstörung . . . . . . Erklärungsansätze. . . . . . . . . . . . . . . . . . . Affektive Störungen . . . . . . . . . . . . . . . . . Major Depression . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bipolare Störung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Erklärungsansätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . Schizophrenie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Symptome . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Subtypen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Erklärungsansätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . Persönlichkeitsstörungen . . . . . . . . . . . . . Prävalenz psychischer Störungen . . . . . . . .

18

Klinische Psychologie: Therapie . . . . . . . . . . . . . . . . . 795

18.1 18.1.1 18.1.2 18.1.3 18.1.4 18.1.5 18.2 18.2.1 18.2.2 18.2.3 18.2.4 18.2.5 18.3 18.3.1 18.3.2

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Psychotherapien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Psychoanalytische Therapien . . . . . . . . . . . . . . . Humanistische Therapien . . . . . . . . . . . . . . . . . . Verhaltenstherapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kognitive Therapien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gruppen- und Familientherapien . . . . . . . . . . . . . Therapieevaluation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wie wirksam ist die Psychotherapie? . . . . . . . . . . . Welche Therapie für welche Störung? . . . . . . . . . . Was bringen alternative Therapien? . . . . . . . . . . . Gemeinsamkeiten verschiedener Therapieformen . . Kultur und Wertvorstellungen in der Psychotherapie Biomedizinische Therapien . . . . . . . . . . . . . . . . . Medikamentöse Therapien . . . . . . . . . . . . . . . . . Stimulation des Gehirns: Elektrokrampftherapie . . . transkranielle Magnetstimulation . . . . . . . . . . . . 18.3.3 Psychochirurgie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18.4 Prävention psychischer Störungen . . . . . . . . . . . .

19

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749 753 756 757 758 758 759 762 767 767 768 769 779 779 781 782 788 791

797 797 801 802 807 810 813 813 818 819 822 824 826 827 und 832 835 837

Pädagogische Psychologie: Übersicht und ausgewählte Themen . . . . . . . . . . . . . 841

19.1 Überblick über die Pädagogische Psychologie . . . . . . 19.1.1 Gegenstand und Aufgabe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19.1.2 Geschichte der deutschsprachigen Pädagogischen Psychologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19.1.3 Pädagogische Psychologie in der Praxis: Das Arbeitsfeld der Schulpsychologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19.2 Bedeutung der elterlichen Erziehung . . . . . . . . . . . . 19.2.1 Spielt die elterliche Erziehung eine Rolle? . . . . . . . . .

. . . 842 . . . 842 . . . 845 . . . 847 . . . 849 . . . 849

19.2.2 Welcher Erziehungsstil ist am günstigsten? . . . . . . . . . . 19.3 Erziehungseinflüsse auf die Internalisierung . . . . . . . . . . moralischen Regeln und Normen . . . . . . . . . . . . . . . . 19.3.1 Hoffmans Theorie zum Einfluss der elterlichen Erziehung auf die Internalisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19.3.2 Überprüfung, Kritik und Erweiterungen der Theorie Hoffmans . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19.3.3 Pädagogische Schlussfolgerungen . . . . . . . . . . . . . . . 19.4 Aggressionen und Gewalt unter Kindern und Jugendlichen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19.4.1 Gespielte und ernsthafte Aggressionen . . . . . . . . . . . . 19.4.2 Mobbing unter Kindern – eine besondere Form der Gewalt 19.4.3 Das Early-Starter-Modell . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19.4.4 Längsschnittbeobachtungen zu elterlichen Einflüssen auf die Genese von Problemverhalten . . . . . . . . . . . . . . 19.5 Neue Aufgaben und Herausforderungen der Pädagogischen Psychologie . . . . . . . . . . . . . . . . . 19.5.1 Auswirkungen der außerfamiliären Kleinkindbetreuung . . 19.5.2 Modelle zur Erklärung von Schulleistungsunterschieden . .

. 852 . von . 859 . 860 . 863 . 866 . . . .

867 869 870 872

. 874 . 877 . 878 . 880

20

Arbeits- und Organisationspsychologie . . . . . . . . . . . 885

20.1.1 20.1.2 20.2 20.2.1 20.2.2 20.2.3 20.3 20.3.1 20.3.2 20.3.3 20.4 20.4.1 20.4.2 20.4.3 20.5 20.5.1 20.5.2 20.5.3

Arbeitsmotivation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Arbeitszufriedenheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Arbeit und Stress . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Stress und Stressoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Mobbing . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Work-Life-Balance . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Veränderte Arbeitsbedingungen . . . . . . . . . . . . . . . . Neue Technologien: Wann sind Innovationen erfolgreich? Arbeitszeit und Arbeitsplatz: Mehr Flexibilität . . . . . . . . Arbeitslosigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Psychologie in Organisationen . . . . . . . . . . . . . . . . . Organisationsform und Organisationsstruktur . . . . . . . Teams, Gruppen und Qualitätszirkel . . . . . . . . . . . . . . Führung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Arbeit und Persönlichkeit: Auswahl und Auswirkungen . Personalauswahl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wer kommt wann voran? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Arbeit und Persönlichkeitsentwicklung . . . . . . . . . . . .

Anhang . . . . . . . . Psychologie als Beruf Glossar . . . . . . . . Danksagung . . . . . Über den Autor . . . Literaturverzeichnis Quellenverzeichnis . Namenverzeichnis . Sachverzeichnis . . .

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Prolog: Eine kurze Geschichte der Psychologie Wurzeln der Psychologie – 2 Vorwissenschaftliche Psychologie – 3 Geburtsstunde der wissenschaftlichen Psychologie – 5 Entwicklung der wissenschaftlichen Psychologie – 7

Moderne Psychologie

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Große Themen der Psychologie – 10 Drei zentrale Analyseniveaus der Psychologie Arbeitsfelder der Psychologie – 13

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Andere Kulturen, andere Perspektiven Ich träum mir eine Welt, wo kein Mensch den anderen niederdrückt, wo Liebe die Erde segnet und Friede die Wege schmückt. Ich träum mir eine Welt, wo alle wissen, wie süß die Freiheit taugt, wo nicht mehr Gier an den Seelen saugt, kein Geiz unseren Tag wie Mehltau frisst.

Ich träum eine Welt, wo Schwarz und Weiss, gleich, was du bist, teilhat an der Erde Geschenken und frei ist – wo die Niedertracht den Kopf senken muss und Freude, Perlenschimmer, die Menschen in ihren Nöten nicht verlässt. Von dieser meiner Welt träum ich immer.

Langston Hughes, aus »Ich träum mir eine Welt«, Zürich: Althea, 2002 (Original 1945)

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Prolog: Eine kurze Geschichte der Psychologie

Prolog: Eine kurze Geschichte der Psychologie

»Ich habe mich unablässig bemüht, das Handeln der Menschen weder zu verspotten noch zu beklagen oder zu verachten, sondern zu verstehen.« Benedikt Spinoza (»Theologisch-politisches Traktat«, 1677)

> »Wie ist das eigentlich, wenn man mit einem Psychologen verheiratet ist?«, wird meine Frau manchmal gefragt. »Betrachtet er Sie als psychologisches Forschungsobjekt?« Und meine Kinder werden von Freunden häufig gefragt: »Analysiert dich dein Papa oder so was?« »Was denken Sie über mich?«, fragte mich einmal ein Friseur in der Hoffnung auf eine Blitzanalyse seiner Persönlichkeit, als er erfuhr, dass ich Psychologe bin. Wie die meisten Menschen beziehen die, die solche Fragen stellen, ihr Wissen über Psychologie aus Zeitschriften, Fernsehsendungen und Populärliteratur. Ein Psychologe analysiert demnach die Persönlichkeit, bietet Paarberatung an und gibt Ratschläge zur Kindererziehung. Sind das die Arbeitsfelder der Psychologie? Ja, durchaus, und noch viele weitere. Vielleicht haben auch Sie sich schon einmal Gedanken gemacht zu einigen der folgenden Fragen der Psychologie: 4 Haben Sie schon einmal erlebt, dass Sie auf eine Situation genauso reagieren wie Ihre biologischen Eltern reagiert hätten, vielleicht sogar so, wie Sie es nie von sich gedacht hätten? Und haben Sie sich dann gefragt, wie viel von Ihrer Persönlichkeit Sie durch Vererbung mitbekommen haben? Wie stark sind die Persönlichkeitsunterschiede zwischen einer Person und einer anderen von den Genen vorherbestimmt? Und wie stark sind sie durch Umwelt, Elternhaus und Nachbarschaft beeinflusst? 4 Haben Sie je mit einem 5 Monate alten Kind »Guckguck« gespielt und sich gefragt, warum das Baby dieses Spiel so hinreißend findet? Der Säugling verhält sich so, als ob Sie tatsächlich verschwinden, wenn Sie für einen Moment hinter die Tür gehen und dann wie aus heiterem Himmel gleich wieder auftauchen. Was kann ein Baby wahrnehmen? Was denkt es? 4 Sind Sie je aus einem Alptraum hochgeschreckt und haben sich dann erleichtert gefragt, warum Sie so etwas Verrücktes geträumt haben? Warum träumen wir? Und wie oft träumen wir? 4 Haben Sie sich je gefragt, worauf Erfolg in der Schule und im Arbeitsleben beruht? Sind manche Menschen einfach von Geburt an klüger? Wenn manche Menschen reicher werden, kreativer denken oder in Beziehungen einfühlsamer sind als andere: Lässt sich das nur durch Intelligenz erklären? 4 Waren Sie je in depressiver oder ängstlicher Stimmung und haben sich gefragt, ob Sie sich jemals wieder »normal« fühlen können? Wodurch wird eine schlechte – oder gute – Stimmung ausgelöst? 4 Haben Sie sich je Gedanken darüber gemacht, wie Sie sich in Gegenwart von Menschen verhalten sollen, die einem anderen Kulturkreis, einer anderen ethnischen Gruppe oder dem anderen Geschlecht angehören? Wo liegen die Ähnlichkeiten innerhalb der Menschenfamilie? Worin unterscheiden wir uns voneinander? Hier handelt es sich um die Fragen, um die es in der Psychologie geht; denn die Psychologie ist eine Wissenschaft, die nach Antworten auf alle möglichen Fragen sucht, die uns Menschen betreffen: wie wir denken, fühlen und handeln.

Wurzeln der Psychologie Ziel 1: Definieren Sie Psychologie.

In längst vergangenen Zeiten geschah es, dass auf unserem Planeten der Mensch entstand. Bald darauf begannen diese Geschöpfe, sich sehr intensiv für sich selbst und füreinander zu interessieren. Sie fragten: »Wer sind wir? Woher kommen unsere Gedanken? Unsere Gefühle? Unsere

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Wurzeln der Psychologie

Handlungen? Und wie können wir die anderen Geschöpfe, die auch hier leben, verstehen, beherrschen oder kontrollieren?« Die Antworten der Psychologie auf diese Fragen haben ihren Ursprung in vielen Ländern und in vielen Disziplinen: Aus der Philosophie und der Biologie entstand eine Wissenschaft, die beschreibt und erklärt, wie wir denken, fühlen und handeln. Wir definieren die Psychologie heute als die wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Verhalten und den mentalen Prozessen, häufig sagt man auch: vom Verhalten und Erleben. Wir wollen diese Definition etwas ausarbeiten. Verhalten ist alles, was ein Organismus macht – jede Handlung, die wir beobachten und registrieren können. Mentale Prozesse sind innere subjektive Erfahrungen, die wir aus dem Verhalten erschließen: Empfindungen, Wahrnehmungen, Träume, Überzeugungen und Gefühle. Das Schlüsselwort in der Definition von Psychologie ist wissenschaftlich. Bei der Psychologie handelt es sich, wie ich in 7 Kap. 1 und im ganzen Buch betonen werde, weniger um eine Aneinanderreihung einzelner Befunde, sondern um eine Methode, Fragen zu stellen und sie zu beantworten. Als Wissenschaft stellt die Psychologie miteinander konkurrierende Vorstellungen mit Hilfe sorgfältiger Beobachtung und exakter Auswertung auf den Prüfstand. Bei ihrem Versuch, den Kern dessen zu beschreiben und zu erklären, was den Menschen ausmacht, bedient sich die Psychologie als Wissenschaft gerne intuitiver Vorstellungen und plausibel klingender Theorien. Und sie überprüft sie. Wenn die Theorie zutrifft – wenn also die Befunde die Vorhersagen bestätigen –, umso besser für die Theorie. Wenn die Vorhersagen nicht zutreffen, wird man die Theorie überarbeiten oder verwerfen. Mein Ziel in diesem Text besteht dann darin, nicht nur Ergebnisse zu berichten, sondern auch zu zeigen, nach welchen Spielregeln sich die Psychologen richten. Sie werden sehen, wie Forscher einander widersprechende Meinungen und Vorstellungen bewerten. Und Sie werden erfahren, wie wir alle, seien wir nun Wissenschaftler oder nur neugierige Menschen, tiefgründiger denken können, wenn wir die Ereignisse in unserem Leben beschreiben und erklären. Aber lassen Sie uns zunächst auf die Wurzeln der heutigen Psychologie eingehen; dies wird uns dabei helfen, die unterschiedlichen Sichtweisen der Psychologen zu würdigen.

Vorwissenschaftliche Psychologie Ziel 2: Analysieren Sie die vorwissenschaftlichen Wurzeln der Psychologie, vom frühen Verständnis der Seele und des Körpers bis zu den Anfängen der modernen Wissenschaft.

Wir können viele der aktuellen Fragen der Psychologie in der Geschichte des Menschen zurückverfolgen. In diesen frühen Ansätzen fragte man sich: Wie funktioniert unsere Seele? In welcher Beziehung stehen unser Körper und unsere Seele zueinander? Wie viel von dem, was wir wissen, ist angeboren? Wie viel wird durch Erfahrung erworben? In Indien meditierte Buddha darüber, wie sich aus Empfindungen und Wahrnehmungen Vorstellungen bilden. In China betonte Kon-

Ein Lächeln ist überall auf der Welt ein Lächeln In diesem Buch werden Sie immer wieder Beispiele finden, die nicht nur aufzeigen, wie sich Menschen durch Kultur und Geschlechtszugehörigkeit unterscheiden, sondern auch, worin die Ähnlichkeiten bestehen, die die uns allen gemeinsame menschliche Natur kennzeichnen. Gelächelt wird in allen Kulturen, und ein Lächeln hat überall auf der Welt die gleiche Bedeutung, doch wann und wie oft man lächelt, hängt vom jeweiligen Kulturkreis ab

Psychologie (psychology): Wissenschaft vom Verhalten und von den mentalen Prozessen.

Prolog: Eine kurze Geschichte der Psychologie

Bettmann/Corbis

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So stellte man sich die Nervenleitung im 17. Jahrhundert vor In seiner Schrift »Traité de l’Homme« bot Descartes das Prinzip der Hydraulik als Erklärung für die Reflexe an

fuzius die Kraft der Vorstellungen und die Macht eines beherrschten und gezügelten Geistes. Die alten hebräischen Schriften verbanden Emotionen und Geist mit dem Körper und nahmen damit ein Stück moderner Psychologie vorweg. Sie nahmen jedoch noch an, der Mensch denke mit dem Herzen und fühle mit dem Bauch. Im antiken Griechenland kamen der griechische Philosoph und Lehrer Sokrates (469–399 v. Chr.) und sein Schüler Platon (428–348 v. Chr.) zu dem Schluss, dass der Leib nicht von der Seele zu trennen sei und er weiter bestehe, nachdem der Körper abgestorben ist, und dass Wissen angeboren ist. Als Sokrates im Sterben lag, entwickelte in einem anderen Teil Griechenlands Platons künftiger Student, ein Jugendlicher namens Aristoteles (384–322 v. Chr.), einen scharfen Verstand. Sokrates und Platon hatten mit Hilfe der Logik auf Prinzipien geschlossen. Aristoteles jedoch hatte eine Vorliebe für Fakten. Er formulierte Prinzipien aufgrund aufmerksamer Beobachtungen und wurde so zum Begründer der modernen Wissenschaft. Aus Beobachtungen schloss er, dass »die Seele nicht vom Leib zu trennen ist, was auch für einzelne Teile der Seele gilt« (»Über die Seele«). Des Weiteren lehrte Aristoteles – im Gegensatz zu Sokrates und Platon –, dass Wissen nicht angeboren ist, sondern aus der Erfahrung erwächst, die wir in unserem Gedächtnis speichern. Die folgenden 2000 Jahre brachten nur wenige wirklich neue Einsichten in die menschliche Natur. Doch das änderte sich im 17. Jahrhundert, als die Blütezeit der modernen Wissenschaft begann. Ein kränklicher, aber brillanter Franzose namens René Descartes (1595–1650) vertrat wie Sokrates und Platon die Idee von der Existenz angeborener Vorstellungen. Für ihn war »die Seele eine eigene Einheit und vom Körper völlig getrennt« und würde nach dessen Tod weiterleben. Dieses Konzept des »Leib-Seele-Dualismus« führte Descartes – und die Menschen nach seiner Zeit – zwangsläufig zu Vermutungen darüber, in welcher Beziehung die nichtmaterielle Seele und der materielle Körper zueinander stehen. Descartes war Philosoph und zugleich Naturwissenschaftler. Er sezierte Tiere und kam zu dem Schluss, dass die Flüssigkeit in den Hohlräumen des Gehirns »animalische« Energie, d. h. Lebensenergie, enthielte. Diese Lebensenergie, so vermutete er, fließe vom Gehirn durch das, was wir Nerven nennen (die er sich als hohl vorstellte), zu den Muskeln und rufe dort eine Bewegung hervor. Erinnerungen in Form von Erfahrungen öffneten Poren im Gehirn, in die diese Flüssigkeit gleichfalls hineinfließe. Descartes hatte insofern Recht, als die Nervenleitungen bedeutsam sind und durch sie Reflexe erst möglich werden. Er war zwar ein genialer Denker und zog seine Erkenntnisse aus dem Wissen, das die Menschen im Laufe ihrer Geschichte angehäuft hatten. Obwohl jedoch vom heutigen Standpunkt aus bereits 99% der Menschheitsgeschichte hinter ihm lagen, waren zu seiner Zeit viele Fakten, die heute zum Allgemeinwissen zählen, nicht bekannt. Tatsächlich ist die Geschichte der wissenschaftlichen Erforschung unseres Selbst (dem Thema dieses Buches) noch sehr jung; sie wurde gleichsam im gerade vergangenen Augenblick der Menschheitsgeschichte geschrieben. Jenseits des Ärmelkanals nahm die Wissenschaft in England mittlerweile handfestere Formen an; man experimentierte und forschte, sammelte Erfahrungen und urteilte mit gesundem Menschenverstand. Francis Bacon (1561–1626) wurde zu einem der Begründer der modernen Wissenschaft, und sein Einfluss reicht bis hinein in die Experimente der heutigen wissenschaftlichen Psychologie. Auch Bacon war fasziniert vom menschlichen Geist und dessen Fehlleistungen. Er beschrieb damals bereits das, was wir heute als Bedürfnis unseres Geistes kennen, nämlich auch in zufälligen Ereignissen Muster zu erkennen: »Es ist eine Eigentümlichkeit des menschlichen Verständnisses, dass es leichthin einen höheren Grad an Ordnung und Gleichheit in den Dingen anzunehmen geneigt ist, als es tatsächlich vorfindet« (»Novum Organum«). Er nahm auch Inhalte der späteren Forschung zum Wahrnehmen und Erinnern von Ereignissen, die unsere Vorannahmen bestätigen, vorweg. »Alle Formen von Aberglauben sind einander mehr oder weniger ähnlich, sei es Astrologie, Träume, Omen ...: In all dem sieht der verblendete Gläubige die Erfüllung seiner Vorstellungen; erfüllen sich seine Erwartungen jedoch nicht, dann nimmt er dies nicht zur Kenntnis oder übersieht es, obwohl dieser Fall viel häufiger eintritt.« Etwa 50 Jahre nach Bacons Tod schrieb der englische Philosoph und Politiker John Locke (1632–1704) für eine Diskussion mit Freunden einen kurzen Text über »Unsere Fähigkeiten«. Zwanzig Jahre und etliche hundert Seiten später schloss Locke eine Veröffentlichung ab (»Essay

5 Wurzeln der Psychologie

Concerning Human Understanding«, dtsch. »Über das menschliche Verstehen«), die zu den großartigsten und letzten Spätwerken der Geschichte gehört. Darin vertrat er die These, dass der menschliche Geist bei der Geburt eine Tabula rasa sei, ein »unbeschriebenes Blatt«, das von der Erfahrung beschrieben wird. Zusammen mit Bacons Vermächtnis entstand aus diesem Gedanken der moderne Empirismus, d.h. die Ansicht, dass Wissen auf Erfahrung zurückgeht und dass Wissenschaft deshalb auf Beobachtung und Experiment beruhen sollte.

Empirismus (empiricism): philosophische Lehre, dass Wissen (nur) auf Sinneserfahrungen zurückgeht und wissenschaftlicher Fortschritt durch Beobachtung und Experiment erreicht wird.

Geburtsstunde der wissenschaftlichen Psychologie

Bis zur Geburtsstunde der Psychologie, wie wir sie heute kennen, dachten die Philosophen weiterhin über das Denken nach. Es war im Jahr 1879 an einem Dezembertag in einem kleinen Raum im dritten Stock eines unansehnlichen Gebäudes, das zur Universität Leipzig gehörte. Zwei junge Männer halfen einem ernst dreinblickenden Professor mittleren Alters bei der Entwicklung eines Versuchsgeräts: Dieser Mann war Wilhelm Wundt. Eine Versuchsperson sollte die Taste eines Telegrafengeräts drücken, sobald sie den Aufprall eines Balles auf einer Rampe hörte; und das Gerät sollte den zeitlichen Abstand zwischen Hören und Tastendruck messen (Hunt 1993). Später verglichen die Forscher dieses Zeitintervall mit der Reaktionszeit, die für etwas komplexere Aufgaben benötigt wurde. Zu ihrem Erstaunen fanden sie, dass die Versuchsteilnehmer in ungefähr einem Zehntel einer Sekunde reagierten, wenn sie die Taste drücken sollten, sobald das Geräusch auftrat, dass sie aber zwei Zehntel einer Sekunde brauchten, wenn sie die Anweisung erhielten, die Taste erst in dem Augenblick zu drücken, in dem ihnen bewusst wurde, dass sie das Geräusch hörten (sich seiner Bewusstheit bewusst zu sein, dauert etwas länger). Wundt versuchte, »die Elemente des Seelenlebens« zu erfassen, nämlich die einfachsten und am schnellsten ablaufenden seelischen Prozesse. Damit begann das, was von vielen als das erste psychologische Experiment angesehen wird. Unter Wundts Leitung und unter Mitarbeit seiner Studenten war das erste psychologische Labor entstanden. Es dauerte nicht lange, bis sich verschiedene Subdisziplinen und Denkschulen dieser neuen Wissenschaft Psychologie entwickelten – begründet durch Vordenker und Pioniere. Zwei einflussreiche philosophische Schulen, der Strukturalismus und der Funktionalismus, werden im Folgenden beschrieben; auf die Gestaltpsychologie, den Behaviorismus und die Psychoanalyse kommen wir in späteren Kapiteln zurück.

Universitätsarchiv Leipzig

Ziel 3: Erklären Sie, wie die frühen Psychologen die Struktur und die Funktionen des Geistes zu verstehen versuchten, und nennen Sie einige der führenden Psychologen, die auf diesem Gebiet arbeiteten.

Wilhelm Wundt Begründer des ersten psychologischen Labors an der Universität Leipzig; hier als »Versuchsperson« (rechts) neben seinen Mitarbeitern Dittrich und Wirth

Überlegungen zur Struktur der Seele Einer von Wundts Schülern, Edward Bradford Titchener, wurde nach seiner Promotion 1892 Professor an der Cornell University in New York und führte dort den Strukturalismus ein. So wie die Physiker und Chemiker die Struktur der Materie aufdeckten, wollte Titchener die Elemente des Geistes entdecken. Seine Methode bestand darin, Menschen zur Introspektion (Selbstbetrachtung) anzuregen. Er brachte ihnen bei, die Einzelheiten der Erfahrungen zu berichten, die sie machten, wenn sie eine Rose betrachteten, einem Metronom zuhörten, einen Duft rochen oder den Geschmack einer Substanz wahrnahmen. Welches waren ihre unmittelbaren Empfindungen, ihre Bilder, ihre Gefühle? Und welchen Zusammenhang gab es zwischen ihnen? Mit dem englischen Essayisten C.S. Lewis (1960, S. 18–19) teilte Titchener die Auffassung, dass es »nur ein einziges Ding im Universum gibt, über das wir mehr wissen, als wir durch äußere Beobachtung erfahren können«. Dieses einzige Ding, sagte Lewis, sind wir selbst. »Wir haben gewissermaßen Informationen von innen.« Doch der Strukturalismus verschwand und mit ihm die Introspektion. Zur Introspektion braucht man kluge, wortgewandte Menschen. Zudem erwies sich die Introspektion als unberechenbar: Sie führte bei jedem Menschen und bei jeder Erfahrung zu anderen Ergebnissen. Neuere Studien deuten darauf hin, dass die Erinnerung der Menschen häufig fehlerhaft ist. Ebenso verhält es sich mit ihren eigenen Berichten darüber, was sie beispielsweise veranlasst hat, einander

Strukturalismus (structuralism): vor allem in den USA vorherrschende psychologische Strömung, die – im Unterschied zur gleichzeitig vertretenen Richtung des Funktionalismus – die elementare Struktur der menschlichen Seele mit Hilfe der Introspektion (Selbstbeobachtung) erforschte.

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Prolog: Eine kurze Geschichte der Psychologie

»Sie kennen Ihren eigenen Geist nicht.« Jonathan Swift (»Polite Conversation«, 1738)

zu helfen oder zu verletzen (Myers 2002). Oft genug wissen wir einfach nicht, warum wir fühlen, was wir fühlen, und warum wir tun, was wir tun.

Überlegungen zu Funktionen der Seele

Funktionalismus (functionalism): zu Beginn des 20. Jahrhunderts in den USA als Gegenrichtung zum Strukturalismus entstandene psychologische Schule, die hauptsächlich seelische Prozesse und Verhaltensprozesse untersuchte, um eine Antwort auf die Frage zu finden, auf welche Weise diese Prozesse den Organismus befähigen, sich anzupassen, zu überleben und zu gedeihen.

William James William James, legendärer Lehrer und Autor, war Mentor für Mary Calkins, aus der eine bahnbrechende Gedächtnisforscherin und Präsidentin der American Psychological Association wurde

Der Versuch, die Struktur der Seele einfach aus ein paar Elementen zu konstruieren, ist ungefähr so erfolgreich wie der Versuch, die Funktionsweise eines Autos anhand seiner Einzelteile verstehen zu wollen. Der Philosoph und Psychologe William James versprach sich mehr davon, die Funktionen unserer Gedanken und Gefühle zu betrachten. Riechen ist das, was die Nase macht, und Denken ist das, was der Geist tut. Doch warum tun sie das? Beeinflusst von dem revolutionären Denker Charles Darwin ging James von der Annahme aus, dass sich die Fähigkeit zum Denken – wie die Fähigkeit zum Riechen – entwickelt hatte, weil sie eine Anpassung darstellte und damit zur Überlebensfähigkeit unserer Vorfahren beitrug. Bewusstsein erfüllt eine Funktion: Es versetzt uns in die Lage, unsere Vergangenheit zu bedenken, sie im Licht unserer gegenwärtigen Umstände zu betrachten und unsere Zukunft zu planen. Als Vertreter des Funktionalismus und Pragmatiker forderte James dazu auf, ganz alltägliche Emotionen, Erinnerungen, die Willenskraft, Gewohnheiten und den momentanen Bewusstseinsstrom zu erkunden. Das wichtigste Vermächtnis von William James sind jedoch nicht so sehr die Forschungsergebnisse aus seinem Labor, sondern vielmehr seine Lehrtätigkeit und seine Publikationen. Wenn er nicht unter seinem schlechten Gesundheitszustand und unter Depressionen litt, war er ein nach außen gewandter und fröhlicher Mensch, der sich einmal daran erinnerte, dass »die erste Vorlesung zur Psychologie, die ich je gehört habe, meine eigene war«. Während einer seiner lebendigen und klugen Vorlesungen unterbrach ihn ein Student und bat ihn, wieder mit Ernst bei der Sache zu sein (Hunt 1993). Es wird auch berichtet, dass er einer der ersten amerikanischen Professoren war, der seine Studenten beim Abschluss des Studiums aufforderte, seine Lehrtätigkeit zu bewerten – ein früher Vorläufer der heute üblichen Evaluationen. Er mochte seine Studenten gern, liebte seine Familie und die Welt der Ideen; er verabscheute jedoch die Mühen des Korrekturlesens. »Schicken Sie mir keine Fahnen«, sagte er einmal einem Verleger. »Ich werde den Brief ungeöffnet zurückschicken und nie wieder mit Ihnen sprechen.« (Hunt 1993, S. 145) In ähnlicher Weise erwies sich James 1890 als ein Mann mit Ecken und Kanten, als er – trotz der Einwände des Universitätspräsidenten von Harvard – Mary Calkins in sein Graduiertenseminar aufnahm (Scarborough u. Furumoto, 1987). Als sie kam, gingen alle anderen Studenten. (Damals hatten die Frauen noch nicht einmal das Wahlrecht.) Daher hielt James das Seminar allein mit ihr ab. Später erfüllte sie alle Voraussetzungen für einen Doktortitel in Harvard und war in ihrer Abschlussprüfung besser als die männlichen Studierenden. Trotzdem weigerte sich Harvard, ihr den Doktortitel zu verleihen. Man bot ihr stattdessen einen Abschluss am Radcliffe College an, einer kooperierenden Hochschule, bei der Frauen einen Bachelor-Abschluss machen konnten. Frau Calkins wehrte sich gegen die Ungleichbehandlung und lehnte den Abschluss ab. Mehr als ein Jahrhundert später setzten sich Studierende an der Harvard University dafür ein, dass ihr posthum der Doktortitel verliehen wurde, der ihr eigentlich schon viel früher zugestanden hätte (Feminist Psychologist 2002). Mary Calkins wurde dennoch eine bekannte Gedächtnisforscherin und 1905 die erste Präsidentin der American Psychological Association (APA). Wir haben es heute mit einer ganz anderen Welt zu tun als damals: Zwischen 1996 und 2005 waren mehr als zwei Drittel der frisch Promovierten in der Psychologie Frauen, und fünf von zehn gewählten Präsidenten der wissenschaftsorientierten American Psychological Society waren Frauen. Von 2004 bis 2006 war Hannelore Weber Präsidentin der Deutschen Gesellschaft für Psychologie. Die Psychologin Margret Wintermantel wurde 2006 zur Präsidentin der Hochschulrektorenkonferenz gewählt. In Kanada und in Europa werden in letzter Zeit die meisten Doktortitel an Frauen vergeben. Wenn die Harvard University Mary Calkins auch ihren Anspruch versagte, die erste Frau mit einem Doktortitel in Psychologie zu sein, so fiel diese Ehre Margaret Floy Washburn zu, die später ein einflussreiches Buch mit dem Titel »The Animal Mind« schrieb und 1921 als zweite Frau Präsidentin der APA wurde. Obwohl Wilhelm Wundt Floy Washburns Doktorarbeit als erste ausländische Untersuchung in seiner Zeitschrift veröffentlichte, hatte ihre Geschlechtszugehörigkeit zur Folge, dass sie nicht in die Organisation der Experimentalpsychologen aufgenommen wurde, deren Gründer Edward Titchener, der Betreuer ihrer Doktorarbeit, war (Johnson 1997).

7 Wurzeln der Psychologie

Durch seine zahlreichen, allgemein anerkannten Artikel breitete sich der Einfluss von William James immer weiter aus. Das bewog den Verleger Henry Holt, ihm einen Vertrag für ein Lehrbuch über diese neue Wissenschaft, die Psychologie, anzubieten. James nahm den Auftrag an; aber bald zeigte sich, dass sich die Arbeit an dem Buch unerwartet schwierig gestaltete: Er brauchte 12 Jahre, um es fertigzustellen (eigentlich gar nicht überraschend). Noch heute, mehr als hundert Jahre nach ihrem Erscheinen werden die »Principles of Psychology« immer noch gelesen, und die Leser haben ihre Freude an der brillanten, eleganten Art, mit der William James das gebildete Publikum in die Psychologie einführte. Die erste deutsche Auflage erschien übrigens unter dem Titel »Psychologie« 1909 in Leipzig.

Entwicklung der wissenschaftlichen Psychologie

Die Psychologie ist eine junge Wissenschaft, die sich aus der Philosophie und der Biologie heraus entwickelt hat. Der Deutsche Wilhelm Wundt war Philosoph und Physiologe, der US-Amerikaner William James war Philosoph, der Russe Iwan Pawlow, ein Pionier der Lernpsychologie, war Physiologe. Der Psychoanalytiker Sigmund Freud, der eine einflussreiche Persönlichkeitstheorie entwickelte, war Arzt in Österreich, und der Schweizer Jean Piaget mit seinen bahnbrechenden Beobachtungen an Kindern war Biologe. Die Liste der frühen Psychologen – »Magellane des Geistes«, wie Morton Hunt (1993) sie nannte – macht deutlich, dass die Psychologie ihren Ursprung in vielen Disziplinen und Ländern hat. Die restliche Geschichte der Psychologie – das Thema dieses Buchs – verläuft in vielen Bahnen. Psychologie lässt sich nicht leicht definieren. Denn die Betätigungsfelder reichen von der Psychotherapie bis zur Untersuchung der Aktivität von Nervenzellen. Wundt und Titchener konzentrierten sich auf die inneren Empfindungen, Bilder und Gefühle. Auch James legte seinen Schwerpunkt auf die Introspektion und wollte den Bewusstseinsstrom und die Emotionen untersuchen. Freud beschäftigte sich vor allem mit der Art und Weise, wie emotionale Reaktionen auf Kindheitserfahrungen und unbewusste Denkprozesse unser Verhalten beeinflussen. Somit wurde die Psychologie bis in die 20er Jahre des letzten Jahrhunderts hinein als »die Wissenschaft vom Seelenleben« definiert. Von den 20er bis in die 60er Jahre prägten vor allem zwei Männer die amerikanische Psychologie: der provokative und etwas überspannte John B. Watson und der ebenfalls nicht mit Provokationen geizende Burrhus F. Skinner. Die Introspektion wurde für überflüssig erklärt, die Psychologie wurde neu definiert, und zwar als »die wissenschaftliche Untersuchung des beobachtbaren Verhaltens«. Letztendlich, sagten diese »Behavioristen«, wurzelt die Wissenschaft doch in der Beobachtung. Eine Empfindung, ein Gefühl oder einen Gedanken kann man nicht beobachten; das Verhalten von Menschen und ihre Reaktion auf verschiedene Situationen hingegen ist beobachtbar und beschreibbar. Die humanistische Psychologie war in den 60er Jahren eine weichere Antwort auf die Freud’sche Psychologie und auf den Behaviorismus; für ihre Pioniere Carl Rogers und Abraham Maslow waren diese beiden Schulen zu mechanistisch. Statt Kindheitserinnerungen hervorzulocken und sich auf erlerntes Verhalten zu konzentrieren, betonten sowohl Rogers als auch Maslow die Bedeutung der momentanen Umwelteinflüsse für unser Wachstumspotenzial und die Bedeutung der Tatsache, dass unsere Bedürfnisse nach Liebe und Akzeptanz erfüllt werden. In den 60er Jahren fand die Psychologie allmählich zu ihrem ursprünglichen Interesse an mentalen Prozessen zurück, und zwar durch Untersuchungen zur Informationsverarbeitung. Wie verarbeitet unser Gehirn Informationen, und wie speichert es sie? Durch diese kognitive Wende wurden Vorstellungen gestützt, die von frühen Psychologen entwickelt worden waren, wie etwa die Bedeutung innerer Denkprozesse; aber sie ging über diese Vorstellungen hinaus, indem sie die Art und Weise wissenschaftlich untersuchte, wie wir Informationen wahrnehmen, verarbeiten und erinnern. Wie wir in 7 Kap. 16 sehen werden, haben sich die kognitive Psychologie und in neuerer Zeit die kognitive Neurowissenschaft (die Untersuchung der Wechselwirkung zwischen Denk-

Cinetext Bildarchiv/HBA

Ziel 4: Beschreiben Sie die Entwicklung der Psychologie von den 20er Jahren des letzten Jahrhunderts bis heute.

Sigmund Freud Berühmter Persönlichkeitstheoretiker und Therapeut, dessen kontrovers diskutierte Vorstellungen das Verständnis des Menschen vom Selbst beeinflussten Humanistische Psychologie (humanistic psychology): historisch bedeutsame Auffassung, bei der das Wachstumspotenzial gesunder Menschen betont wird; in der Hoffnung, das Wachstum der Persönlichkeit zu fördern, wurden hier Methoden, die auf die individuelle Person zugeschnitten waren, zur Untersuchung der Persönlichkeit genutzt.

Prolog: Eine kurze Geschichte der Psychologie

Sam Falk/Photo Researchers

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John B. Watson Zusammen mit Rosalie Rayner verfocht Watson die Idee von der Psychologie als der Wissenschaft vom Verhalten und demonstrierte konditionierte Reaktionen an dem »kleinen Albert«

Burrhus F. Skinner Einer der führenden Köpfe der Verhaltenspsychologie. Er lehnte die Introspektion ab und untersuchte, wie Verhalten durch Konsequenzen geformt wird

prozessen und Hirnfunktionen) als besonders vorteilhaft erwiesen, um besser neue Methoden entwickeln zu können, mit deren Hilfe man Störungen, etwa die Depression, erklären und behandeln kann. Um die Vorstellungen der Behavioristen über beobachtbare Verhaltensweisen mit den Vorstellungen über innere Gedanken und Gefühle unter einen Hut bringen zu können, brauchte die Psychologie eine neue Definition: ! Heute verstehen wir unter Psychologie die Wissenschaft vom Verhalten und von den mentalen Prozessen.

Lernziele Wurzeln der Psychologie Ziel 1: Definieren Sie Psychologie. Psychologie ist die Wissenschaft vom Verhalten (alles, was ein Organismus macht) und von den mentalen Prozessen (subjektive Erfahrungen, die wir aus dem Verhalten erschließen). Das Schlüsselwort in dieser Definition ist Wissenschaft. Ziel 2: Verfolgen Sie die vorwissenschaftlichen Wurzeln der Psychologie zurück, vom frühen Verständnis der Seele und des Körpers bis zu den Anfängen der modernen Wissenschaft. Die Wurzeln der Psychologie reichen weit zurück in die geschriebene Geschichte. Sie können zurückverfolgt werden nach Indien, China, in den Mittleren Osten und nach Europa, wo einige gelehrte Menschen ihr Leben lang danach strebten, ihre Mitmenschen zu verstehen. Ein besonderes Anliegen war für sie die Frage, wie unser Geist arbeitet und wie seine Funktionen mit den Funktionen unseres Körpers zusammenhängen.

Vor mehr als 2000 Jahren dachten Buddha und Konfuzius über die Macht des Geistes und die Entstehung von Ideen nach. Die Hebräer im Vorderen Orient, Sokrates, sein Schüler Platon und dessen Schüler Aristoteles in Griechenland gingen der Frage nach, ob Leib und Seele eigenständige Einheiten darstellen oder ob sie miteinander verbunden sind. Sie fragten sich, ob menschliches Wissen angeboren oder durch Erfahrung erworben ist. Im 18. Jahrhundert nahmen René Descartes und John Locke einige dieser alten Fragen wieder auf, und Locke schuf den berühmt gewordenen Begriff vom Geist als einem »unbeschriebenen Blatt«. Die Vorstellungen von Francis Bacon und von John Locke trugen wesentlich zur Entwicklung des modernen Empirismus bei, zur Auffassung also, dass Wissen auf Sinneserfahrung zurückgeht und dass die Wissenschaft auf Beobachtungen und Experimenten beruhen sollte. 6

9 Moderne Psychologie

Ziel 3: Erklären Sie, wie die frühen Psychologen die Struktur und die Funktionen der Seele zu verstehen versuchten, und nennen Sie einige der führenden Psychologen, die auf diesem Gebiet arbeiteten. Die Geburtsstunde der Psychologie, wie wir sie heute kennen, schlug Ende des 19. Jahrhunderts in einem deutschen Laboratorium, in dem Wilhelm Wundt das erste echte psychologische Experiment im ersten psychologischen Labor durchführte. Schon bald bildeten sich Schulen: Edward Bradford Titchener und andere Strukturalisten suchten nach den grundlegenden Elementen der Seele, indem sie Menschen beibrachten, nach innen zu schauen und die kleinsten Einheiten ihres Erlebens zu beschreiben. In dem Versuch, zu verstehen, wie seelische Prozesse und Verhaltensprozesse dazu beitragen, dass wir uns anpassen, überleben und gedeihen, versuchten William James und anderen Funktionalisten, zu erklären, warum wir tun, was wir tun. James schrieb auch das erste Lehrbuch für diese neue Disziplin.

erforscht wurde. Die amerikanischen Behavioristen, angeführt von John B. Watson und später von B.F. Skinner, änderten den Fokus der Psychologie und beschränkten sich auf die Untersuchung beobachtbaren Verhaltens. In den 60er Jahren richteten die humanistischen Psychologen ihre Aufmerksamkeit auf die Bedeutung von Umwelteinflüssen, des persönlichen Wachstums und des Bedürfnisses, geliebt und angenommen zu werden. Auch in den 60er Jahren begann die kognitive Wende erneut den Fokus der Psychologie auf das Interesse an mentalen Prozessen zu legen; besondere Aufmerksamkeit widmete man der Wahrnehmung, der Informationsverarbeitung und dem Gedächtnis. Die kognitiven Neurowissenschaftler erweitern unser Verständnis dieser und weiterer Prozesse in der heutigen Psychologie, die sich selbst als »Wissenschaft vom Verhalten und von den mentalen Prozessen« bzw. »vom Verhalten und Erleben« sieht.

> Denken Sie weiter: Wird sich die Psychologie verändern, wenn Ziel 4: Beschreiben Sie die Entwicklung der Psychologie von den 20er Jahren des letzten Jahrhunderts bis heute. Bis in die 20er Jahren des letzten Jahrhunderts hinein war die Psychologie eine »Wissenschaft vom Seelenleben«, die mit Hilfe der Introspektion

Menschen aus nichtwestlichen Gesellschaften ihre Ideen einbringen?

Moderne Psychologie Die heutigen Psychologen sind wie ihre Pioniere Bürger vieler Staaten. Der International Union of Psychological Science gehören 69 Staaten an, von Albanien bis Zimbabwe. Die nationalen psychologischen Gesellschaften entwickeln sich rapide – die American Psychological Association hatte im Jahr 1945 4183 ordentliche und assoziierte Mitglieder, heute sind es mehr als 160.000; Ähnliches geschah in Großbritannien (von 1100 auf 34.000). Der Berufsverband Deutscher Psychologen hatte 1946 bei seiner Gründung 22 Mitglieder, heute sind es mehr als 13.000 Mitglieder im Berufsverband Deutscher Psychologinnen und Psychologen. Die Deutsche Gesellschaft für Psychologie (Vereinigung der wissenschaftlich tätigen Psychologen) wurde 2004 100 Jahre alt; am 1. Januar 1953 gehörten ihr 118 Mitglieder sowie 13 Ehrenmitglieder an und heute etwa 2000 Mitglieder. In China gab es 1985 an fünf Universitäten psychologische Institute; am Ende des vorigen Jahrhunderts waren es 50 (Jing 1999). 1960 gab es in Deutschland 2000 erwerbstätige Psychologen (2000 Studierende), heute sind es bereits über 45.000. In Bezug auf die Studierenden lauten die Zahlen 2000 im Jahre 1960 und 32.500 im Jahre 2000 (Schneider 2005). Weltweit wurden mehr als 500.000 Menschen als Psychologen ausgebildet, und 130.000 von ihnen gehören europäischen Psychologenorganisationen an (Tikkanen 2001). Dank internationaler Publikationen, gemeinsamer Treffen und dem Internet überschreitet die Zusammenarbeit und die Kommunikation zudem häufiger als je zuvor die Ländergrenzen: »Wir bewegen uns rasch auf eine einzige Welt der Psychologie als Wissenschaft zu«, berichtete Robert Bjork (2000). Die Psychologie wächst und zwar in globalem Maßstab. Heute dreht sich die Debatte der Psychologen um Themen von zeitloser Aktualität. Verhalten wird von verschiedenen Blickwinkeln aus beobachtet. Psychologen lehren, arbeiten und forschen in vielen z. T. sehr unterschiedlichen Bereichen und Unterbereichen der Psychologie.

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Prolog: Eine kurze Geschichte der Psychologie

Große Themen der Psychologie

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Ziel 5: Fassen Sie die Anlage-Umwelt-Debatte in der Psychologie kurz zusammen, und beschreiben Sie das Prinzip der natürlichen Selektion.

Charles Darwin Behauptete, dass Körperformen und Verhaltensweisen durch natürliche Selektion ausgebildet werden Anlage-Umwelt-Debatte (auch: Erbe-UmweltDebatte, nature-nurture issue): alte Kontroverse darüber, wie groß im Vergleich zu Erfahrung und Lernen der Einfluss der Gene auf die Ausbildung psychischer Merkmale und die Entwicklung von Verhaltensweisen ist.

Natürliche Selektion (natural selection): Prinzip, dass aus der Menge der ererbten Merkmalsvarianten diejenigen an die nachfolgenden Generationen weitergegeben werden, die am meisten zur Fortpflanzung und zum Überleben der Lebewesen beitragen.

Von Anfang an hat sich die Psychologie intensiv mit bestimmten zeitüberdauernden Themen befasst, auf die Sie auch in diesem Buch immer wieder treffen werden. Das wichtigste Thema, das uns immer wieder beschäftigt (und mit dem wir uns in 7 Kap. 3 intensiv befassen werden), betrifft die Frage, ob unsere Handlungen stärker von unserer biologischen Ausstattung bestimmt werden oder von unserer Erfahrung. Wir haben bereits gesehen, dass die Anlage-Umwelt-Debatte schon seit der Antike geführt wird. Entwickeln sich die Persönlichkeitsmerkmale eines Menschen durch Lernen und Erfahrung, oder bringen wir sie bereits mit auf die Welt? Diese Debatte wurde schon von den alten Griechen geführt, wobei Platon den Standpunkt vertrat, dass Charakter und Intelligenz weitgehend ererbt und dass sogar manche Ideen angeboren sind. Dagegen ging Aristoteles von der Annahme aus, dass es im menschlichen Geist nichts gibt, was nicht schon zuvor über die Sinne aus der Außenwelt aufgenommen wurde. Die Philosophen des 17. Jahrhunderts nahmen die Debatte wieder auf. Locke lehnte die Vorstellung von angeborenen Ideen ab und trug seine Auffassungen vom Geist als »unbeschriebenes Blatt« vor, das von der Erfahrung beschrieben wird. Descartes war anderer Meinung: Er glaubte, dass bestimmte Gedanken und Ideen angeboren seien. Zwei Jahrhunderte später wurde Descartes’ Auffassung durch einen neugierigen Naturforscher bestätigt. Ein Student, den das Studium langweilte, der jedoch ein leidenschaftlicher Sammler von Käfern, Weichtieren und Muscheln war, brach 1831 zu einer Seereise auf, die sich als historisch erweisen sollte. Der Reisende war der 22-jährige Charles Darwin, der nach seiner Reise darüber grübelte, wie es zu der unglaublichen Vielfalt von Arten gekommen ist, auf die er unterwegs gestoßen war. Wie kam es, dass die Schildkröten auf der einen Insel sich von denen auf einer anderen Insel in derselben Region unterschieden? 1859 erschien Darwins Buch »Origins of Species« (dtsch. »Die Entstehung der Arten«), in dem er darlegte, dass die Mannigfaltigkeit der Lebensformen durch einen evolutionären Prozess zustande gekommen ist. Er glaubte, dass die Natur aus zufällig entstandenen Veränderungen bei einem Lebewesen die Variation auswählt, die zum Überleben und zur Fortpflanzung eines Lebewesens in einer bestimmten Umwelt beiträgt. Darwins Prinzip der natürlichen Selektion – »Die beste Idee, die jemals jemand hatte«, so der Philosoph Daniel Dennett (1996) – ist auch heute noch, 150 Jahre später, ein Ordnungsprinzip der Biologie. Auch für die Psychologie des 21. Jahrhunderts ist das Evolutionsprinzip ein wichtiges Prinzip. Das hätte Darwin sicher gefreut; denn er glaubte, seine Theorie erkläre nicht nur Strukturen bei Lebewesen (z. B. die Frage, warum Eisbären ein weißes Fell haben), sondern auch das Verhalten von Lebewesen (beispielsweise den Ausdruck von Emotionen in Verbindung mit Lust oder Wut). Die Anlage-Umwelt-Debatte zieht sich wie ein roter Faden aus der fernen Vergangenheit bis in unsere Tage. Die Psychologen unserer Zeit führen die Diskussion weiter und stellen folgende Fragen: 4 Auf welche Weise haben die Erbanlagen bzw. die Umwelt einen Einfluss auf individuelle Unterschiede bezüglich Intelligenz, Persönlichkeit und psychischer Störungen? 4 Kommen Kinder i. Allg. mit einer »angeborenen Grammatik« zur Welt, oder wird die Grammatik durch Lernen und Erfahrung erworben? 4 Wird sexuelles Verhalten stärker durch die biologische Veranlagung angetrieben oder mehr durch äußere Anreize hervorgerufen? 4 Sollten wir Depressionen als Krankheit des Gehirns oder als Denkstörung – oder als beides – behandeln? 4 Worin sind wir Menschen uns gleich (dank unserer gemeinsamen Biologie und Evolutionsgeschichte), und worin unterscheiden wir uns (dank unserer unterschiedlichen Umwelten)? 4 Beruhen Geschlechtsunterschiede auf einer biologischen Prädisposition, oder werden sie durch die Gesellschaft hervorgebracht? Die Diskussion geht ständig weiter. Doch immer wieder werden wir herausfinden, dass sich in der modernen Wissenschaft der Gegensatz zwischen Anlage und Umwelt allmählich auflöst: ! Die Umwelt arbeitet mit dem, was durch die Anlage vorgegeben ist.

11 Moderne Psychologie

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Wie ein Ei dem anderen Eineiige Zwillinge haben die gleichen Gene und sind deshalb ideale Versuchspersonen in Untersuchungen zum Einfluss von Anlage und Umwelt auf Temperament, Intelligenz und andere Merkmale. Untersuchungen an eineiigen und zweieiigen Zwillingen liefern ein breites Spektrum an Resultaten (wir kommen später darauf zurück), die die Bedeutung von Anlage und Umwelt unterstreichen

Biologisch ist unsere Spezies mit einer enormen Lern- und Anpassungsfähigkeit ausgestattet. Außerdem ist alles, was sich psychisch abspielt (jeder Gedanke, jedes Gefühl), gleichzeitig auch ein physiologisches Ereignis. Deshalb kann Depression sowohl eine Denkstörung als auch eine Krankheit des Gehirns sein.

Drei zentrale Analyseniveaus der Psychologie Ziel 6: Geben Sie die drei zentralen Analyseniveaus im biopsychosozialen Ansatz an, und erklären Sie, warum sich die diversen Sichtweisen der Psychologie gegenseitig ergänzen.

Jeder von uns ist ein komplexes System, ist aber auch Teil eines größeren sozialen Systems. Doch wir alle bestehen auch aus kleineren Systemen (wie etwa unserem Nervensystem oder den Organen des Körpers), die wiederum aus noch kleineren Systemen bestehen: Zellen, Molekülen und Atomen.

Biologische Einflüsse 5 genetische Prädispositionen 5 genetische Mutationen 5 natürliche Selektion einer angepassten Physiologie und angepasster Verhaltensweisen 5 Gene, die auf die Umwelt reagieren

Psychologische Einflüsse 5 erlernte Ängste und andere erlernte Erwartungen 5 emotionale Reaktionen 5 kognitive Verarbeitung und Wahrnehmungsinterpretationen

Verhalten und mentale Prozesse

Soziokulturelle Einflüsse 5 Anwesenheit anderer 5 Erwartungen der Kultur, der Gesellschaft und der Familie 5 Einflüsse vonseiten der Gleichaltrigen und einer anderen Gruppe 5 Rollenmodelle, denen man nicht widerstehen kann (wie etwa in den Medien)

. Abb. 1. Biopsychosozialer Ansatz Diese integrierte Sichtweise umfasst verschiedene Analyseniveaus und bietet ein vollständigeres Bild des jeweiligen Verhaltens oder mentalen Prozesses

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Prolog: Eine kurze Geschichte der Psychologie

Analyseniveaus (levels of analysis): die unterschiedlichen sich gegenseitig ergänzenden Auffassungen zur Analyse irgendeines vorgegebenen Phänomens, die von der biologischen über die psychologische bis zur soziokulturellen Auffassung reichen. Biopsychosozialer Ansatz (biopsychosocial approach): eine integrierende Sichtweise, die biologische, psychologische und soziokulturelle Analyseniveaus berücksichtigt.

Diese unterschiedlichen Systeme legen nahe, auf unterschiedlichen Analyseniveaus zu arbeiten, die einander ergänzende Sichtweisen liefern. Es ist ein bisschen so, als wolle man erklären, warum Grizzlybären Winterschlaf halten. Tun sie es, weil der Winterschlaf das Überleben und die Fortpflanzung ihrer Vorfahren begünstigte? Oder weil ihre innere biologische Veranlagung sie dazu treibt? Oder weil die Futtersuche wegen der Kälte im Winter schwierig ist? All diese Sichtweisen ergänzen sich gegenseitig, denn »alles hängt mit allem zusammen« (Brewer 1996). Zusammen bilden die unterschiedlichen Analyseniveaus einen integrierten biopsychosozialen Ansatz, bei dem die Einflüsse biologischer, psychologischer und soziokultureller Faktoren berücksichtigt werden (. Abb. 1). Jedes Niveau liefert einen wertvollen Ansatzpunkt zur Beobachtung des Verhaltens; dennoch ist jeder für sich genommen unvollständig. Denken Sie beispielsweise einmal darüber nach, wie sich die unterschiedlichen Sichtweisen der Psychologie, die in . Tabelle 1 beschrieben werden, gegenseitig ergänzen können und wie sie Wut in einem anderen Licht erscheinen lassen. 4 Ein Psychologe mit einem evolutionstheoretischen Ansatz würde analysieren, wie Wut bei unseren Urahnen das Überleben der Gene förderte. 4 Ein Psychologe mit einem verhaltensgenetischen Ansatz würde untersuchen, auf welche Weise Anlage und Erfahrung die jeweils individuellen Temperamentsunterschiede beeinflussen. 4 Ein Psychologe mit einem neurowissenschaftlichen Ansatz würde die Hirnströme untersuchen, die den körperlichen Zustand der Wut hervorbringen: »gerötetes Gesicht« oder »der Kragen wird zu eng«. 4 Ein Psychologe mit einem psychodynamischen Ansatz würde einen Wutausbruch als Ventil für eine unbewusste Feindseligkeit betrachten. 4 Ein Psychologe mit einem verhaltenstheoretischen Ansatz würde den Gesichtsausdruck und die Körperhaltung untersuchen, die mit Wut einhergehen, oder er würde herauszufinden versuchen, welche äußeren Reize zu wütenden Reaktionen oder aggressiven Handlungen führen. 4 Ein Psychologe mit einem kognitiven Ansatz würde untersuchen, wie unsere Interpretation einer Situation unsere Wut beeinflusst und wie die Wut auf unser Denken wirkt.

. Tabelle 1. Aktuelle Ansätze in der Psychologie

Zentrale Fragestellung

Typische Fragen

Neurowissenschaftlicher Ansatz

Auf welche Weise werden durch den Körper und das Gehirn Emotionen, Erinnerungen und sensorische Erfahrungen überhaupt erst möglich?

Wie werden Informationen im Körper weitergeleitet? Welche Verbindung gibt es zwischen der chemischen Zusammensetzung des Bluts und Stimmung bzw. Antrieb?

Evolutionärer Ansatz

Wie fördert die natürliche Selektion von Merkmalen die Weitergabe der eigenen Gene?

Auf welche Weise beeinflusst die Evolution bestimmte Verhaltenstendenzen?

Verhaltensgenetischer Ansatz

Wie stark beeinflussen unsere Gene und unsere Umwelt unsere individuellen Unterschiede?

Wie stark sind psychologische Merkmale wie Intelligenz, Persönlichkeit, sexuelle Orientierung oder Depressionsanfälligkeit genetisch bestimmt? Wie stark werden sie durch die Umwelt geprägt?

Psychodynamischer Ansatz

Wie entwickelt sich Verhalten aus unbewussten Trieben und Konflikten?

Wie können wir die Persönlichkeitsmerkmale oder die Störung eines Menschen in Begriffen wie Sexual- oder Aggressionstrieb oder als maskierten Ausdruck unerfüllter Wünsche und Kindheitstraumata erklären?

Lerntheoretischer Ansatz

Wie erlernen wir beobachtbare Reaktionen?

Wie lernen wir, vor bestimmten Objekten oder Situationen Angst zu haben? Welche wirksamen Methoden gibt es, unser Verhalten zu ändern, etwa abzunehmen oder nicht mehr zu rauchen?

Kognitiver Ansatz

Wie kodieren, verarbeiten und speichern wir Informationen, und wie rufen wir sie wieder ab?

Wie benutzen wir Informationen, wenn wir uns erinnern, argumentieren oder ein Problem lösen?

Soziokultureller Ansatz

Wie variiert Verhalten und Denken je nach Kultur und Situation?

Wir sind Afrikaner, Asiaten, Australier, Europäer oder Amerikaner. Worin gleichen wir uns als Mitglieder der einen menschlichen Familie? Worin unterscheiden wir uns voneinander als Angehörige verschiedener Umwelten?

13 Moderne Psychologie

Dieser Punkt, dass unterschiedliche Ansätze einander ergänzen können, ist wichtig, und gilt auch für unterschiedliche akademische Disziplinen. Jeder wissenschaftliche Ansatz hat seine spezifischen Fragen und seine Begrenzungen. Der Hersteller eines Parfüms braucht die Chemie, um Produkte zu kreieren, die Psychologie, um zu wissen, was sich gut verkauft, und die Betriebswirtschaft, um profitabel zu wirtschaften. Unterschiedliche wissenschaftliche Blickwinkel sind wie verschiedene zweidimensionale Perspektiven beim Betrachten eines dreidimensionalen Gegenstands. Jede der beiden zweidimensionalen Perspektiven ist hilfreich, zeigt jedoch nie das ganze Bild. Vergessen Sie deshalb nicht, dass die Psychologie ihre Grenzen hat. Erwarten Sie nicht, dass die Psychologie so grundsätzliche Fragen beantwortet wie die, die der russische Schriftsteller Leo Tolstoi (1904) gestellt hat: »Warum sollte ich leben? Warum sollte ich irgendetwas tun? Gibt es irgendeinen Lebenszweck, den der unausweichliche Tod, der uns alle erwartet, nicht ungeschehen macht und zerstört?« Stellen Sie sich stattdessen lieber darauf ein, dass die Psychologie Ihnen hilft, zu verstehen, warum Menschen so denken, fühlen und handeln, wie sie es tun. So gesehen werden Sie das Studium der Psychologie faszinierend und hilfreich finden.

Arbeitsfelder der Psychologie Ziel 7: Geben Sie einige der Arbeitsfelder der Psychologie an, und erklären Sie den Unterschied zwischen der Klinischen Psychologie und der Psychiatrie.

Zur Psychologie gehören verschiedene Arbeitsfelder. Als Psychologe können Sie Grundlagenforschung oder angewandte Forschung betreiben oder in den Anwendungsgebieten der Psychologie arbeiten. Wenn Sie sich einen Chemiker vorstellen, dann haben Sie vor Ihrem inneren Auge wahrscheinlich das Bild eines Wissenschaftlers im weißen Kittel, umgeben von Glasgefäßen und Hightechgeräten. Stellen Sie sich einen Psychologen vor, und Sie liegen richtig, wenn Sie folgende Bilder vor Augen haben: 4 einen Wissenschaftler im weißen Kittel, der ein Rattenhirn untersucht; 4 einen Intelligenzforscher, der misst, wie schnell ein Säugling auf ein Bild, das er kennt, mit Langeweile reagiert (indem er wegschaut); 4 einen leitenden Angestellten, der ein neues Programm zum Thema »Lebensstil und Gesundheit« für Angestellte begutachtet; 4 eine Person, die am Computer sitzt und Daten auswertet, um herauszufinden, ob das Temperament von adoptierten Teenagern mehr Ähnlichkeit mit dem Temperament der Adoptiveltern aufweist oder eher dem der biologischen Eltern gleicht; 4 einen Therapeuten, der aufmerksam den depressiven Gedankengängen eines Patienten folgt; 4 einen Reisenden auf dem Weg zu einer anderen Kultur, um dort Daten über die unterschiedlichen Ausprägungen menschlicher Grundwerte und Verhaltensweisen zu sammeln; 4 einen Dozenten oder Autor, der anderen seine Freude an der Psychologie vermittelt. Die verschiedenen Arbeitsfelder, die unter den Begriff »Psychologie« fallen, sind weniger einheitlich, als es in anderen Wissenschaften der Fall ist. Doch das hat seine positiven Seiten: In der Psychologie begegnen sich verschiedene Disziplinen; deshalb ist sie das ideale Feld für Menschen mit weit gespannten Interessen. Im Rahmen der diversen Tätigkeitsfelder der Psychologie, die von biologischen Experimenten bis hin zu kulturvergleichenden Studien reichen, gibt es jedoch eine gemeinsame Fragestellung: die Beschreibung und Erklärung von Verhalten und der mentalen Prozesse, die ihm zugrunde liegen.

M. Barton

4 Ein Psychologe mit einem soziokulturellen Ansatz würde erforschen, welche Situationen die größte Wut bewirken und wie sich der Ausdruck von Wut von einer Kultur zur anderen unterscheidet.

Wut Wie würden die Vertreter der verschiedenen Ansätze in der Psychologie erklären, was hier vorgeht?

Grundlagenforschung (basic research): reine Wissenschaft zur Vermehrung des Wissens und der Kenntnisse.

Psychologen betreiben Grundlagenforschung und vergrößern damit die Wissensbasis der Psychologie. Auf den folgenden Seiten werden wir einige Forschungsgebiete der Grundlagenforschung kennen lernen: 4 Psychophysiologen erforschen die Verbindungen zwischen Gehirn und dem Mentalen. 4 Entwicklungspsychologen erforschen, wie sich unsere Fähigkeiten im Lauf unseres Lebens verändern. 4 Kognitionspsychologen machen Experimente, um festzustellen, wie wir wahrnehmen, denken und Probleme lösen. 4 Differentielle Psychologen untersuchen unsere überdauernden Persönlichkeitsmerkmale. 4 Sozialpsychologen erforschen, wie wir einander wahrnehmen und beeinflussen.

Angewandte Forschung (applied research): wissenschaftliche Untersuchungen zur Lösung konkreter Probleme.

Diese Psychologen können auch angewandte Forschung betreiben, die sich praktischen Problemen zuwendet. Das gilt beispielsweise für Arbeits-, Betriebs- und Organisationspsychologen, die das Verhalten am Arbeitsplatz untersuchen und Verbesserungen vorschlagen. Sie nutzen psychologische Konzepte und Methoden, um Organisationen und Firmen bei der Einstellung von Mitarbeitern zu helfen, und machen Vorschläge für eine wirkungsvollere Ausbildung der dort Beschäftigten. Sie fördern die Arbeitsmoral und die Produktivität, sie entwickeln ein Produktdesign oder führen ein neues Bewertungssystem ein. Die meisten Psychologielehrbücher konzentrieren sich auf die Psychologie als Wissenschaft, doch gehört sie auch zu den helfenden Berufen und berührt damit so konkrete Fragen, wie man

M. Barton

Psychologie: Wissenschaft und Beruf Psychologen beobachten, testen und behandeln Verhalten. Hier sehen wir einen Beobachtungsraum mit Einwegscheibe, hinter der ein Psychologe das Verhalten eines Kindes beobachtet, einen anderen Psychologen, der eine Versuchsperson testet, und eine Psychologin, die ein Therapiegespräch führt

Jürgen Hoyer

Prolog: Eine kurze Geschichte der Psychologie

Jürgen Hoyer

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15 Moderne Psychologie

Psychologische Beratung (counseling psychology): ein Zweig der Psychologie, der Menschen bei Problemen hilft, die sie im Leben (oft in Bezug auf Schule, Arbeit oder Ehe) und beim Erreichen eines besseren Allgemeinzustands haben.

Klinische Psychologie (clinical psychology): Teildisziplin der Psychologie; klinische Psychologen untersuchen, testen und behandeln Patienten mit psychischen Störungen.

Psychiatrie (psychiatry): Teildisziplin der Medizin, wird von Ärzten mit Facharztausbildung (Psychiater) ausgeübt. Psychiater dürfen psychische Störungen mit Psychotherapie, aber auch mit Psychopharmaka behandeln.

»Hat sich der Geist erst einmal der Dimension einer größeren Idee geöffnet, kehrt er nie zu seiner früheren Größe zurück.« Oliver Wendell Holmes (1809–1894)

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eine glückliche Ehe führt oder wie man Ängste oder Depressionen überwindet. Psychologen, die in der Beratung tätig sind, helfen den Menschen dabei, Herausforderungen in ihrem Leben (Probleme beim Studium, im Beruf und in der Ehe) zu bewältigen, indem sie ihre Stärken und Ressourcen erkennen. Diese Fragen betreffen auch das Arbeitsfeld der klinischen Psychologen, die mentale, emotionale und Verhaltensprobleme diagnostizieren und behandeln (APA 2003). Sowohl psychologische Psychotherapeuten als auch klinische Psychologen testen Patienten, werten die Tests aus und kümmern sich um Beratung und Therapie; sie arbeiten aber manchmal auch in der Grundlagen- oder in der angewandten Forschung. Ein Psychiater dagegen, der auch Psychotherapie anbieten kann, ist Arzt und darf Medikamente verordnen und die physischen Ursachen psychischer Störungen auch auf andere Weise behandeln. (Seitens der klinischen Psychologen gibt es Bestrebungen, bei psychischen Störungen ebenfalls Psychopharmaka verordnen zu dürfen. In den USA hat New Mexico 2002 dieses Recht Psychologen mit Spezialausbildung eingeräumt.) Die Psychologie hat einen Bezug zu vielen anderen Disziplinen. Dies umfasst Bereiche von der Biologie bis zur Soziologie; die Palette der Arbeitsplätze für Psychologen reicht vom Labor bis zur Klinik. Immer häufiger kooperiert die Psychologie mit anderen Disziplinen: von der Mathematik über die Biologie bis hin zur Soziologie und Philosophie. Und immer öfter werden die Methoden und Resultate der Psychologie auch von anderen Fachrichtungen genutzt. Psychologen lehren an medizinischen und juristischen Fakultäten und sogar bei den Theologen; sie arbeiten in Krankenhäusern, Fabriken und den Büros der großen Konzerne. Sie arbeiten in interdisziplinären Studien mit (wie z. B. bei der psychologischen Analyse historischer Persönlichkeiten in der Geschichtswissenschaft oder in der Psycholinguistik, wo es um Sprache und Denken geht). Die Psychologie nimmt auch Einfluss auf die moderne Kultur. Wissen verändert die Menschen. Neue Erkenntnisse über das Sonnensystem oder die Theorie der Krankheitserreger verändern die Art, wie Menschen denken und handeln. Auch die Erkenntnisse der Psychologie bewirken Veränderungen bei den Menschen. Psychische Störungen werden nicht mehr so ohne weiteres als moralisches Fehlverhalten abqualifiziert, auf das man mit Bestrafung oder Ausgrenzung reagiert. Auch werden Frauen nicht mehr so oft als Menschen angesehen, die dem Mann unterlegen sind. Und in der Erziehung hält man Kinder nicht mehr unbedingt für willige, aber unwissende Tiere, die gezähmt werden müssen. »In all diesen Beispielen«, vermerkt Hunt (1990, S. 206), »hat Wissen zu einer veränderten Einstellung und damit zu einer Verhaltensänderung beigetragen.« Die Psychologie hat wohl fundierte und gründlich überprüfte Ideen zu bieten: in welcher Beziehung Körper und Geist zueinander stehen, wie sich das Denken eines Kindes allmählich entwickelt, wie wir unsere Wahrnehmungen konstruieren, wie wir uns an unsere Erfahrungen erinnern (und wie wir uns falsch erinnern), wie sich die Menschen dieser Welt voneinander unterscheiden bzw. einander ähnlich sind – und sobald Sie mit diesen Gedanken in Berührung gekommen sind, denken Sie nicht mehr so wie vorher.

Ich seh’ dich! Ein Psychophysiologe könnte in der entzückten Reaktion des Kindes ein Zeichen von Hirnreifung sehen. Ein kognitiver Psychologe sieht darin ein Anzeichen für das wachsende Verständnis des Kindes für seine Umwelt. Der Psychologe aus der kulturübergreifenden Forschung interessiert sich für die Rolle der Großeltern in verschiedenen Kulturen. Sie werden in diesem Buch immer wieder auf verschiedene, einander ergänzende Perspektiven stoßen

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Prolog: Eine kurze Geschichte der Psychologie

Lernziele Moderne Psychologie Die Psychologie breitet sich aus und wird global. In 69 Ländern auf der Erde arbeiten, lehren und forschen Psychologen in vielen Bereichen. Ziel 5: Fassen Sie die Anlage-Umwelt-Debatte in der Psychologie kurz zusammen, und beschreiben Sie das Prinzip der natürlichen Selektion. Bei der wichtigsten der immer wieder diskutierten Fragen geht es um das Gleichgewicht zwischen dem Einfluss von Anlage (der Gene) und Umwelt (alle anderen Einflüsse, denen wir von der Zeugung bis zum Tod ausgesetzt sind). Philosophen haben lange darüber diskutiert, ob die Anlage (wie es Plato und Descartes meinten) oder die Umwelt (wie es Aristoteles und Locke meinten) wichtiger ist. Charles Darwin schlug einen Mechanismus vor – das Prinzip der natürlichen Selektion –, nach dem die Natur zufällige Variationen selegiert, die die Lebewesen in die Lage versetzen, in bestimmten Umwelten zu überleben und sich fortzupflanzen. Psychologen sind heute der Auffassung, dass in den meisten Fällen jedes psychische Ereignis gleichzeitig ein biologisch-körperliches Ereignis ist. Eine ganze Reihe von Forschungsergebnissen (dazu gehören auch Studien über eineiige und zweieiige Zwillinge) lässt die relative Bedeutung der drei Gruppen von Einflüssen auf solche Merkmale wie Persönlichkeit und Intelligenz in einem neuen Licht sehen. Ziel 6: Geben Sie die drei zentralen Analyseniveaus im biopsychosozialen Ansatz an, und erklären Sie, warum sich die diversen Sichtweisen der Psychologie gegenseitig ergänzen. Im biopsychosozialen Ansatz werden Informationen aus dem biologischen, dem psychologischen und dem soziokulturellen Analyseniveau miteinander vereint. Psychologen untersuchen das Verhalten des Menschen und seine mentalen Prozesse von unterschiedlichen Blickwinkeln

aus (dazu gehören die Sichtweise der Neurowissenschaft, der Evolutionstheorie, der Verhaltensgenetik, der Psychodynamik, der Lerntheorie, der Kognitionstheorie und der soziokulturellen Theorie). Wenn man die Informationen, die in diesen vielen Forschungssträngen gesammelt werden, zusammenführt, so ergibt sich ein umfassenderes Verständnis des Verhaltens und der mentalen Prozesse, als dies möglich wäre, wenn man sich auf eine einzelne Sichtweise beschränkte. Ziel 7: Geben Sie einige der Arbeitsfelder der Psychologie an, und erklären Sie den Unterschied zwischen der Klinischen Psychologie und der Psychiatrie. Zur Psychologie gehören verschiedene Arbeitsfelder. Als Psychologe können Sie Grundlagenforschung oder angewandte Forschung betreiben oder in den Anwendungsgebieten der Psychologie arbeiten. Zu den Arbeitsfeldern der Psychologie gehören also Grundlagenforschung (meist ausgeübt von Psychophysiologen, Entwicklungs- und Kognitions-, Differentiellen und Sozialpsychologen), angewandte Forschung (u. a. praktiziert von Arbeits-, Betriebs- und Organisationspsychologen) sowie die klinische Anwendung (die Arbeit von psychologischen Beratern und von klinischen Psychologen). Klinische Psychologen untersuchen, testen und behandeln Menschen mit psychischen Störungen (mit Hilfe der Psychotherapie); Psychiater untersuchen, testen und behandeln ebenfalls Menschen mit Störungen, aber sie sind Mediziner, die sowohl Medikamente verschreiben als auch Psychotherapie anbieten können. > Denken Sie weiter: Als Sie sich für diesen Studiengang einschrieben, was glaubten Sie da, worum es in der Psychologie geht?

Prüfen Sie Ihr Wissen 1. Durch welche Ereignisse wurde die wissenschaftliche Psychologie begründet? 2. Welches sind die Hauptanalyseniveaus der Psychologie.

L Deutsche Literatur zum Thema Geuter, U. (1988). Die Professionalisierung der deutschen Psychologie im Nationalsozialismus. Frankfurt/M.: Suhrkamp. Graumann, C.F. (1985). Psychologie im Nationalsozialismus. Heidelberg: Springer. Lück, H.E. (2002). Geschichte der Psychologie: Strömungen, Schulen, Entwicklungen, 3. Aufl. Stuttgart: Kohlhammer. Lück, H.E., Miller, R. (2002). Illustrierte Geschichte der Psychologie. Weinheim: Beltz. Lück, H.E., Grünwald, H., Geuter, U., Miller, R., Rechtien, W. (1987). Sozialgeschichte der Psychologie: eine Einführung. Opladen: Leske & Budrich. Pongratz, L.J. (1984). Problemgeschichte der Psychologie. München: UTB Francke. Schneider, W. (2005). Zur Lage der Psychologie in Zeiten hinreichender, knapper und immer knapperer finanzieller Ressourcen: Entwicklungstrends der letzten 35 Jahre. Psychologische Rundschau, 56, 2–19. Schönpflug, W. (2000). Geschichte und Systematik der Psychologie. Weinheim: PVU. Volkmann-Raue, S., Lück, H.E. (2002). Bedeutende Psychologinnen. Biographien und Schriften. Weinheim: Beltz.

1 Kritisch denken mit wissenschaftlicher Psychologie 1.1

Brauchen wir die wissenschaftliche Psychologie? –18

1.1.1 Grenzen der Intuition und des gesunden Menschenverstandes 1.1.2 Wissenschaftliches Denken – 22 1.1.3 Wissenschaftliche Methode – 24

1.2

Beschreibung

– 18

–26

1.2.1 Einzelfallstudie – 26 1.2.2 Befragung – 27 1.2.3 Beobachtung in natürlicher Umgebung (Feldbeobachtung) – 29

1.3

Korrelation

–30

1.3.1 Korrelation und Kausalität – 32 1.3.2 Illusorische Korrelationen – 34 1.3.3 Wahrnehmung von Ordnung bei zufälligen Ereignissen

1.4

Experiment –36

1.4.1 Ursache und Wirkung – 36 1.4.2 Therapieevaluation – 37 1.4.3 Unabhängige und abhängige Variablen

1.5

– 35

– 38

Grundlagen statistischer Argumentation –40

1.5.1 Datenbeschreibung – 41 1.5.2 Inferenzstatistik – 43

1.6

Häufig gestellte Fragen zur Psychologie –45

Andere Kulturen, andere Perspektiven I note the obvious differences in the human family. Some of us are serious, some thrive on comedy.

I know ten thousand women called Jane and Mary Jane, but I’ve not seen any two who really were the same.

We seek success in Finland, are born and die in Maine, In minor ways we differ, in major we’re the same.

Some declare their lives are lived as true profundity, and others claim they really live the real reality.

Mirror twins are different although their features jibe, and lovers think quite different thoughts while lying side by side.

I note the obvious differences between each sort and type, but we are more alike, my friends, than we are unalike.

The variety of our skin tones can confuse, bemuse, delight, brown and pink and beige and purple, tan and blue and white.

We love and lose in China, we weep on England’s moors, and laugh and moan in Guinea, and thrive on Spanish shores.

We are more alike, my friends, than we are unalike. We are more alike, my friends, than we are unalike.

I’ve sailed upon the seven seas and stopped in every land, I’ve seen the wonders of the world, not yet one common man. Maya Angelou (geb. 1928), aus Human Family, 1994, The Complete Collected Poems of Maya Angelou

18

Kapitel 1 · Kritisch denken mit wissenschaftlicher Psychologie

Kritisch denken mit wissenschaftlicher Psychologie

1

> Viele Menschen finden »Psychologie« hochinteressant, weil sie neugierig auf andere Menschen sind und weil sie hoffen, mit psychologischem Wissen ihre eigenen kleinen Leiden heilen zu können. Sie hören sich Radiosendungen zu psychologischen Themen an, lesen Artikel über die Kräfte der Seele, nehmen an Hypnoseseminaren zur Raucherentwöhnung teil und verschlingen Selbsthilfebücher über die Bedeutung der Träume, den Pfad zur ekstatischen Liebe und darüber, wie man persönliches Glück erlangt. Andere wiederum fragen sich angesichts mancher psychologischer Wahrheiten: Stimmt es, dass die Bindung zwischen Mutter und Kind in den ersten Stunden nach der Geburt entsteht? Können wir den Erinnerungen an einen sexuellen Missbrauch trauen, die ein Erwachsener in seinem Gedächtnis »freilegt«, und sollen wir daraufhin den angeblichen Täter gerichtlich verfolgen? Sind erstgeborene Kinder stärker leistungsorientiert? Sagt die Handschrift eines Menschen etwas über seine Persönlichkeit aus? Kann Psychotherapie heilen? Wie können wir bei solchen Fragen simple Meinungen, die nicht auf Informationen beruhen, von stichhaltigen Schlussfolgerungen unterscheiden? Wie können wir die Psychologie so sinnvoll einsetzen, dass wir verstehen, warum die Menschen so und nicht anders denken, fühlen und handeln?

»Was für ein Glück für die Regierenden, dass die Menschen nicht denken.« Adolf Hitler, 1889–1945

1.1

Brauchen wir die wissenschaftliche Psychologie?

In dem Maße, wie wir uns die wissenschaftliche Herangehensweise der Psychologie zu Eigen machen und die zugrunde liegenden psychologischen Prinzipien in unser Alltagsdenken integrieren, werden wir scharfsinniger und ideenreicher, einfach cleverer denken. Zwei Phänomene – der Verzerrungseffekt durch nachträgliche Einsicht (Hindsightbias) und die Überschätzung unserer Urteilsfähigkeit – machen deutlich, warum wir uns nicht nur auf Intuition und gesunden Menschenverstand verlassen können. Kritisches Hinterfragen aus einer quasi wissenschaftlichen Haltung heraus, gepaart mit Neugier, Skepsis und Bescheidenheit, hilft uns, Sinn von Unsinn zu unterscheiden.

1.1.1 Grenzen der Intuition und des gesunden Menschenverstandes

M. Barton

Die Grenzen der Intuition Personalchefs neigen dazu, ihren »Bauchgefühlen« bei der Beurteilung von Stellenbewerbern zu sehr zu vertrauen, zum einen, weil sie sich an die Fälle erinnern, in denen sich ihr guter Eindruck als richtig erwies, zum anderen, weil sie nicht wissen, dass ein von ihnen abgelehnter Bewerber in einer anderen Firma erfolgreich war

Manche Menschen sagen, Psychologie sei letztlich nichts anderes als in einen Fachjargon gepresstes Allgemeinwissen. »Gibt es etwas Neues unter der Sonne? Ihr werdet dafür bezahlt, dass ihr mit ausgefallenen Methoden das beweist, was meine Großmutter schon immer wusste.« Andere Menschen glauben an die intuitiven Fähigkeiten des Menschen und blicken voll Verachtung auf eine an der Wissenschaft orientierte Denkweise. Sie machen sich zum Anwalt des »intuitiven Managements« und fordern uns auf, auf die Vorhersagen der Statistik zu verzichten und uns bei Einstellungen, Entlassungen und Investitionen lieber auf unser Gefühl zu verlassen. Sollten wir nicht lieber wie Luke Skywalker in »Star Wars« unserer inneren Kraft vertrauen? Tatsächlich aber schreibt die Schriftstellerin Madeleine L’Engle (1972): »Der bloße Intellekt ist ein ausgesprochen ungenaues Werkzeug.« Unsere Intuition kann uns in die Irre führen.

19 1.1 · Brauchen wir die wissenschaftliche Psychologie?

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? Stellen Sie sich vor (oder bitten Sie jemanden, sich vorzustellen), Sie falten ein Blatt Papier 100-mal. Wie dick würde es dann etwa sein? (7 Antwort 1.1 am Ende des Kapitels) ? Es wird ein Seil am Äquator um die Erde gespannt. Wie viele Meter Seil müsste man hinzugeben, damit es überall 1 m über der Erdoberfläche schwebte? (7 Antwort 1.2 am Ende des Kapitels)

Mit dem gesunden Menschenverstand verhält es sich ebenso. Wir alle sind hinterher immer klüger: Weil wir jetzt wissen, was geschehen ist, gehen wir davon aus, wir hätten vorhersehen können, was geschehen würde.

War das nicht klar? Verzerrung durch nachträgliche Einsicht (Hindsightbias) Ziel 1: Beschreiben Sie den Hindsightbias und erklären Sie, wie er die Menschen zu der Auffassung bringen kann, dass Forschungsbefunde allem Anschein nach nur etwas sind, was man sich mit dem gesunden Menschenverstand schon ausmalen konnte. »Wir leben das Leben vorwärts, aber wir verstehen es rückwärts.« Der Philosoph Søren Kierkegaard, 1813–1855

Hindsightbias (Verzerrung durch nachträgliche Einsicht): Tendenz, nach dem Eintreten eines Ereignisses zu glauben, man hätte es vorhersehen können (auch bekannt als »Rückschaufehler«).

»Geschichte wird mit dem Blick durch den Rückspiegel geschrieben, aber sie entfaltet sich durch eine trübe Windschutzscheibe.« Samuel Berger. Sicherheitsberater von Präsident Clinton vor einer Kommission zum 11. September (Bericht der Kommission, 2004)]

»Alles scheint ein Gemeinplatz zu sein, wenn es erst einmal erklärt ist.« Dr. Watson zu Sherlock Holmes

Tim Boyle/Getty Images

Es ist leicht, schlau zu sein und das Schwarze erst dann um den Pfeil zu malen, wenn er schon getroffen hat. Nach jedem Abwärtstrend der Börse sagen die Investmentgurus, die Börse sei doch ganz offensichtlich überreif für eine Korrektur gewesen. Nachdem am 11. September 2001 der erste Turm des World Trade Centers in New York getroffen worden war, hätten die Menschen im zweiten Turm sofort evakuiert werden müssen – sagten die Kommentatoren hinterher (dabei war zunächst gar nicht klar, dass es sich um einen Terrorangriff und nicht um einen Unfall handelte). Und wenn ein Arzt Informationen über einen Krankheitsfall plus einen Autopsiebericht in der Hand hat, ist seiner Meinung nach die Todesursache absolut eindeutig, und er schließt daraus, er hätte sie anhand der Symptome leicht vorhersagen können. Doch bevor der Pfeil die Scheibe trifft, die Börse einbricht, der Terrorangriff stattfindet oder der Tod eintritt, sind diese Folgen absolut nicht vorhersehbar. Für einen Arzt ist zum Beispiel eine Todesursache nicht so leicht zu erkennen, wenn er nur die Symptombeschreibung kennt, aber keinen Autopsiebericht zur Hand hat (Dawson et al. 1988). Diese nachträgliche Art, die Dinge zu sehen, nennen die Psychologen Paul Slovic und Baruch Fischhoff (1977) den Hindsightbias, auch bekannt als »Rückschaufehler«. Dieses Phänomen ist leicht zu demonstrieren: Geben Sie einer Gruppe einen angeblich wissenschaftlichen Befund, während Sie einer anderen Gruppe das genaue Gegenteil als wissenschaftlichen Befund präsentieren. Zu der ersten Gruppe sagen Sie: »Psychologen haben herausgefunden, dass Trennung die romantische Anziehung abschwächt. Das Sprichwort sagt es ja auch: ›Aus den Augen, aus dem Sinn‹«. Dann bitten Sie die Teilnehmer, darüber nachzudenken, warum das so ist. Die meisten Menschen können und werden an diesem wahren Befund nichts Erstaunliches finden. Der zweiten Gruppe erzählen Sie das genaue Gegenteil, nämlich: »Psychologen haben herausgefunden, dass romantische Anziehung durch Trennung stärker wird. Wie das Sprichwort sagt: ›Trennung lässt die Liebe wachsen‹«. Die Teilnehmer werden auch dieses nicht richtige Resultat mühelos erklären, und die überwiegende Mehrheit wird darin den gesunden Menschenverstand sehen und nicht überrascht sein. Wenn demnach sowohl das eine Ergebnis als auch sein Gegenteil mit dem »gesunden Menschenverstand« erklärt werden kann, dann haben wir hier ganz offensichtlich ein Problem. Derartige Irrtümer bei unserem Erinnerungsvermögen und unseren Erklärungsversuchen machen deutlich, weshalb wir eine psychologische Forschung brauchen. Die Antwort auf die Frage, was ein Mensch gefühlt und warum er so und nicht anders gehandelt hat, kann irreführend sein, und zwar nicht deshalb, weil der gesunde Menschenverstand uns immer in die Irre schickt,

Verzerrung durch nachträgliche Einsicht (Hindsight-Bias) Nach dem Schrecken des 11. September war klar, dass der amerikanische Geheimdienst Warnungen im Vorfeld der Anschläge hätte ernster nehmen sollen, dass der Sicherheitsdienst auf den Flughäfen auch an Terroristen mit Teppichmessern hätte denken müssen und dass die Menschen im zweiten Turm besser auf Nummer Sicher gegangen wären und den Turm verlassen hätten. Im Nachhinein wird alles völlig klar

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Kapitel 1 · Kritisch denken mit wissenschaftlicher Psychologie

sondern weil die Antwort nach dem Ereignis gegeben wird. So sagte der Physiker Niels Bohr angeblich: »Vorhersagen sind recht schwierig, vor allem wenn es um die Zukunft geht.«

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! Der gesunde Menschenverstand erklärt eher, was vorgegangen ist, als dass er vorhersagen könnte, was vorgehen wird.

C. Styrsky

Bei dem Hindsightbias handelt sich um ein weit verbreitetes Phänomen. Es wurde in mehr als 100 Studien sowohl bei Kindern als auch bei Erwachsenen in vielen unterschiedlichen Ländern beobachtet (Bernstein et al. 2004; Guilbault et al. 2004). Dennoch hat der gesunde Menschenverstand häufig Recht. Yogi Berra sagte einmal: »Du kannst vieles beobachten, wenn du genau hinschaust.« Wir alle sind gute Beobachter und beobachten das Verhalten um uns herum. Deshalb wäre es schon erstaunlich, wenn nicht zumindest ein paar Ergebnisse der psychologischen Forschung schon vorher bekannt gewesen wären. Viele Menschen glauben, dass Liebe Glück hervorbringt – und sie haben Recht (wir alle haben ein »Bedürfnis, zu jemandem zu gehören«, wie wir in 7 Kap. 12 erfahren werden). Daniel Gilbert, Brett Pelham und Douglas Krull (2003) merken sogar an: »Gute Ideen aus dem Bereich der Psychologie kommen uns oft seltsam vertraut vor. Und in dem Augenblick, in dem wir auf sie stoßen, meinen wir, sicher zu sein, dass wir schon einmal nahe daran waren, das Gleiche zu denken, und es einfach nur nicht geschafft haben, den Gedanken niederzuschreiben.« Doch manchmal liegt der gesunde Menschenverstand und seine Intuition völlig daneben. Vielleicht sagt uns unsere Intuition, dass Aufdringlichkeit zu Geringschätzung führt, dass Träume die Zukunft vorhersagen oder dass emotionale Reaktionen mit der jeweiligen Menstruationsphase zusammenhängen. Dabei stützen wir uns auf die Informationen, die wir aus unzähligen beiläufigen Beobachtungen gewonnen haben. Wie wir in den späteren Kapiteln sehen werden, zeigen die Forschungsergebnisse, dass unsere Annahmen grundfalsch sind. Wissen Sie, welche populären Vorstellungen in . Tab. 1.1 durch die psychologische Forschung bestätigt und welche widerlegt wurden? Wir werden in diesem Buch immer wieder erfahren, wie die Forschung unsere lieb gewonnenen Vorstellungen vom Altern, von Schlaf und Träumen oder von dem, was wir unter Persönlichkeit verstehen, manchmal über den Haufen wirft und manchmal bestätigt. Wir werden auch sehen, welche Überraschungen uns die Forschung mit ihrer Entdeckung der chemischen Botenstoffe des Gehirns bereitet, die unsere Stimmungen und unsere Erinnerungen steuern, oder mit den Forschungsergebnissen dazu, über welche Fähigkeiten Tiere verfügen und wie sich Stress auf unsere Fähigkeit zur Krankheitsabwehr auswirkt.

. Tabelle 1.1. Wahr oder falsch? Die psychologische Forschung, die in den folgenden Kapiteln behandelt wird, wird jede Einzelne der folgenden Aussagen entweder bestätigen oder widerlegen. (Nach Furnham et al. 2003) 1.

Wenn Sie jemandem eine Gewohnheit beibringen wollen, die er dauerhaft beibehält, sollten Sie das erwünschte Verhalten jedes Mal und nicht nur intermittierend belohnen (7 Kap. 8).

2.

Patienten, deren Gehirn chirurgisch in der Mitte durchtrennt wurde, überleben die Operation und sind weitgehend so funktionstüchtig wie vor der Operation (7 Kap. 2).

3.

Traumatische Erfahrungen wie etwa sexueller Missbrauch oder das Überleben des Holocausts werden typischerweise aus dem Gedächtnis verdrängt (7 Kap. 9 und 15).

4.

Die meisten missbrauchten Kinder werden keine missbrauchenden Erwachsenen (7 Kap. 4).

5.

Die meisten Säuglinge erkennen gegen Ende des ersten Lebensjahrs ihr eigenes Bild im Spiegel (7 Kap. 4).

6.

Adoptierte Geschwister neigen nicht dazu, ähnliche Persönlichkeiten zu entwickeln, obwohl sie von denselben Eltern großgezogen werden (7 Kap. 3).

7.

Die Furcht vor harmlosen Objekten wie Blumen ist genauso schnell erlernbar wie die Furcht vor potenziell gefährlichen Objekten wie Schlangen (7 Kap. 13).

8.

Tests mit einem Lügendetektor sind oft trügerisch (7 Kap. 13).

Anmerkung: Die Antworten auf die Fragen finden Sie am Ende des Kapitels (1.3).

21 1.1 · Brauchen wir die wissenschaftliche Psychologie?

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Übertriebene Selbstsicherheit Ziel 2: Beschreiben Sie, wie übertriebene Selbstsicherheit im Alltag unser Urteil trübt.

Unser Alltagsdenken stößt nicht nur mit dem nachträglichen gesunden Menschenverstand an seine Grenzen, sondern auch mit der allgemeinen menschlichen Tendenz, zu viel Vertrauen in die eigene Urteilsfähigkeit zu haben. 7 Kap. 10 erklärt, wie wir dazu neigen, zu glauben, wir wüssten mehr, als wir tatsächlich wissen. Auf die Frage, wie sicher wir sind, die richtige Antwort auf eine Sachfrage zu wissen (z. B. Liegt Boston weiter nördlich oder weiter südlich als Paris?) antworten wir eher mit Selbstvertrauen als mit korrektem Wissen (Boston liegt weiter südlich als Paris). Schauen Sie sich einmal die drei folgenden Anagramme an: Serwas Tessmy Hartox

o o o

@ Witzige Anagramme von http: //www.anagramme.de: Universitaet = Niveaustreit Albert Einstein = etablierte Sinn Altes Testament = Tatenmesslatte Uli Hoeness = Sushi Leone Wolfgang Amadeus Mozart = A famous German waltzgod

Wasser System Thorax

Denken Sie einen Moment nach: Was glauben Sie, wie viele Sekunden Sie gebraucht hätten, um die Anagramme aufzulösen? Sobald man die Lösung kennt, sorgt die nachträgliche Einsicht dafür, dass sie uns absolut selbstverständlich erscheint. Das führt zu übertriebenem Selbstvertrauen. Wir glauben, wir hätten die Lösung in höchstens 10 Sekunden gefunden, während tatsächlich der Durchschnitt bei 3 Minuten liegt. Und diese 3 Minuten hätten Sie auch gebraucht, wenn Sie die Lösung nicht gekannt hätten. ? Probieren Sie es mit einem weiteren Anagramm aus: ACHENFI (7 Antwort 1.4 am Ende des Kapitels).

Sind wir besser, wenn es darum geht, unser soziales Verhalten vorherzusagen? Valone et al. (1990) ließen Studenten zu Beginn des Semesters vorhersagen, ob sie ein Seminar aus ihrem Plan streichen, sich an einer bevorstehenden Wahl beteiligen, ihre Eltern mehr als zweimal im Monat anrufen würden und dergleichen mehr. Im Durchschnitt fühlten sich die Studenten bei ihren Vorhersagen zu 84% sicher. Spätere Fragen zum tatsächlichen Verhalten ergaben, dass nur 71% ihrer Vorhersagen korrekt waren. Selbst wenn sie angaben, hundertprozentig sicher zu wissen, wie sie sich verhalten würden, lag ihre Irrtumsquote bei 15%. Nicht nur College-Studenten irren sich bei ihren Vorhersagen. Philip Tetlock von der Ohio State University sammelte 12 Jahre lang die Vorhersagen von Experten zur politischen, ökonomischen und militärischen Situation. So forderte er zum Beispiel in den 80er Jahren renommierte Professoren, Analytiker aus Denkfabriken, Regierungsexperten und Journalisten auf, eine Prognose zu stellen, wie die Regierung der UdSSR oder die Situation in Südafrika in 5 Jahren aussehen würde. Dabei sollten sie auch bewerten, wie sicher sie sich ihrer Sache waren. Als die 5 Jahre vergangen waren (und der Kommunismus in der Sowjetunion zusammengebrochen war und Südafrika sich in eine multiethnische Demokratie verwandelt hatte), bat Tetlock die Experten, sich an ihre Vorhersagen, die – wie in den Laborversuchen – weitaus mehr von Selbstsicherheit zeugten als von korrektem Wissen, zu erinnern und sie zu überdenken. Experten, die angegeben hatten, ihrer Sache zu über 80% sicher zu sein, hatten in weniger als 40% der Fälle Recht behalten. Trotz ihrer schlechten Trefferquoten tendierten die Experten mit den falschen Prognosen fast so sehr wie die mit den richtigen Prognosen dazu, sich selbst davon zu überzeugen, dass ihre anfängliche Analyse im Grunde genommen immer noch richtig war. Viele hatten das Gefühl, »beinahe Recht« gehabt zu haben. »Die Hardliner in der sowjetischen Regierung hätten mit ihrem Putschversuch gegen Gorbatschow ›beinahe‹ Erfolg gehabt.« – »Wären nicht gerade De Klerk und Mandela aufeinandergetroffen, wäre der Übergang zur schwarzen Mehrheitsregierung niemals so unblutig verlaufen.« Deshalb ist das übertriebene Selbstvertrauen von politischen Experten (und Börsenanalysten und Sportkommentatoren) schwer zu erschüttern, ganz gleich, wie das Ergebnis lautet. ! Hindsightbias und übertriebene Selbstsicherheit bringen uns dazu, unsere Intuition zu überschätzen. Aber die wissenschaftliche Forschung kann uns in Verbindung mit Skepsis und Bescheidenheit dazu verhelfen, Realität und Täuschung voneinander zu unterschieden.

»Ihr Sound gefällt uns nicht. Gitarrengruppen sind nicht mehr gefragt.« Erklärung von Decca Records, warum sie mit den Beatles 1962 keinen Plattenvertrag schließen wollten

»Die Computer der Zukunft werden wahrscheinlich nicht einmal eineinhalb Tonnen wiegen.« Die Zeitschrift »Popular Mechanics« (1949)

»Für unsere amerikanischen Vettern mag das Telefon ja eine nützliche Erfindung sein, aber nicht für uns. Wir haben genügend Botenjungen.« Urteil einer britischen Expertengruppe über die Erfindung des Telefons

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Kapitel 1 · Kritisch denken mit wissenschaftlicher Psychologie

1.1.2 Wissenschaftliches Denken Ziel 3: Erklären Sie, wie die wissenschaftliche Haltung kritisches Denken fördert.

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»Der Wissenschaftler muss die Freiheit haben, jede Frage zu stellen, jede Behauptung anzuzweifeln, immer um einen Beleg zu fragen, jeden Fehler zu korrigieren.« Der Physiker J. Robert Oppenheimer, »Life« am 10. Oktober 1949

Was aller Wissenschaft in erster Linie zugrunde liegt, sind hartnäckige Neugier und die Leidenschaft, Dinge zu erforschen und zu verstehen. Dabei will man weder Irrtümer in die Welt setzen noch ihnen erliegen. Manche Fragen gehen über die Wissenschaft hinaus (Gibt es ein Leben nach dem Tod?). Die Antwort auf solche Fragen erfordert auch ein Stück Glauben. Wie bei vielen anderen Ideen (Gibt es Menschen mit übersinnlicher Wahrnehmung? Und lässt sich dies nachweisen?) ist auch hier die Frage des Beweises ausschlaggebend. Ganz gleich, wie sinnvoll oder wie verrückt eine Idee auch sein mag: Die hartnäckige Frage lautet: Klappt es? Lässt sich das, was vorhergesagt wird, durch Überprüfung bestätigen? Das wissenschaftliche Denken hat eine lange Geschichte. Schon Moses machte davon Gebrauch. Wie bewertet man einen selbst ernannten Propheten? Seine Antwort lautete: Unterzieht ihn einer Prüfung. Tritt das vorhergesagte Ereignis nicht ein oder kann es nicht bewiesen werden, dann ist das Pech für den Propheten (5. Moses 18, 22). Der Zauberer James Randi bedient sich derselben Methode, wenn er die auf den Prüfstand stellt, die behaupten, die Aura des Menschen sehen zu können. Randi: Sehen Sie eine Aura um meinen Kopf? Aura-Seher: Ja, ich sehe tatsächlich Ihre Aura. Randi: Und wenn ich diese Zeitschrift vor mein Gesicht halte, können Sie die Aura dann immer noch sehen? Aura-Seher: Natürlich. Randi: Wenn ich mich also hinter diese Wand stelle, die kaum höher ist als ich, dann könnten Sie feststellen, wo ich stehe, weil die Aura über meinem Kopf zu sehen ist. Richtig?

»Ein Skeptiker ist ein Mensch, der bereit ist, Wahrheitsbehauptungen in Frage zu stellen. Er fordert eindeutige Definitionen, lückenlose Logik und überzeugende Beweise.« Der Philosoph Paul Kurtz (»The Sceptical Inquirer«, 1994)

Nach Randis Aussage war noch nie ein Aura-Seher bereit, sich dieser Prüfung zu unterziehen Manchmal finden verrückt klingende Ideen Unterstützung, wenn sie einer so genauen Prüfung unterzogen werden. Galileo Galilei, der zu Beginn des 17. Jahrhunderts öffentlich für das heliozentrische Weltbild des Kopernikus eintrat, musste 1633 »seinem Irrtum« abschwören, obwohl er nach der Legende bis zuletzt der Inquisition mit den Worten »Und sie [die Erde] bewegt sich doch« trotzte. Manchmal widerlegt dann die weitere wissenschaftliche Untersuchung die Skeptiker – und 1992 wurde Galileo Galilei schließlich auch von der römisch-katholischen Kirche rehabilitiert.Doch meistens werden verrückt klingende Ideen auf den Müllhaufen der vergessenen Behauptungen geworfen, wo sich bereits das Perpetuum mobile, das Wunderheilmittel gegen Krebs und die körperlosen Reisen in längst vergangene Jahrhunderte befinden! Wenn wir Phantasie von Wirklichkeit und Sinn von Unsinn unterscheiden wollen, brauchen wir die Einstellung eines Wissenschaftlers: Skepsis ohne Zynismus und Offenheit ohne Leichtgläubigkeit. Die wissenschaftlich tätigen Psychologen betrachten Verhalten mit neugieriger Skepsis. Sie stellen ständig zwei Fragen: »Was meinen Sie damit?« und »Woher wissen Sie das?«. Im Geschäftsleben lautet das Motto: »Zeig mir das Geld«, in der Wissenschaft lautet es: »Lass mich den Beweis sehen«. Übt das Verhalten der Eltern einen entscheidenden Einfluss auf die sexuelle Orientierung ihrer Kinder aus? Sagt der Lügendetektor die Wahrheit? Kann ein Astrologe aufgrund der Planetenposition im Augenblick Ihrer Geburt Ihren Charakter analysieren und Ihre Zukunft vorhersagen? In den folgenden Kapiteln werden Sie erfahren, dass eine genaue Überprüfung dieser Behauptungen die meisten Psychologen dazu gebracht hat, sie anzuzweifeln. In der Arena der miteinander konkurrierenden Ideen kann ein skeptischer Test aufzeigen, welche Idee am besten zu den Fakten passt. Ein polnisches Sprichwort sagt: »Wer Gewissheit im Glauben will, muss mit Zweifeln anfangen.« Die praktische Umsetzung dieser wissenschaftlichen Haltung erfordert nicht nur Skepsis, sondern auch Bescheidenheit, denn wir müssen vielleicht auch unsere eigenen Ideen verwerfen. Nicht meine oder Ihre Meinung zählt bei der abschließenden Analyse, sondern die Wahrheiten,

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die die Natur auf unser Forschen hin preisgibt. Wenn sich die Leute nicht so verhalten, wie unsere Vorstellungen das vorhersagen, dann ist das Pech für unsere Vorstellungen. Das ist die bescheidene Einstellung, die in einem frühen Motto der Psychologie zum Ausdruck kommt: »Die Ratte hat immer Recht.« Wissenschaftshistoriker sagen, dass die moderne Wissenschaft überhaupt erst durch diese neugierige, skeptische und gleichzeitig bescheidene Haltung möglich wurde. Viele der »Gründerväter« der modernen Wissenschaft – und dazu gehörten Kopernikus und Newton – waren Menschen, deren religiöse Überzeugungen sie demütig vor der Natur und skeptisch gegenüber menschlicher Autorität machten (Hooykaas 1972; Merton 1998). Tief religiöse Menschen von heute sehen die Wissenschaft, vor allem die wissenschaftliche Psychologie, als Bedrohung. Und doch merkt der Soziologe Rodney Stark (2003a, b) an, die wissenschaftliche Revolution sei meist von tief religiösen Menschen angeführt worden, die nach der religiösen Vorstellung handelten, dass man, »um Gott zu lieben und zu achten, die Wunder seiner Schöpfung auch ganz würdigen muss«. Natürlich haben Wissenschaftler, wie alle Menschen, ein großes Ego und hängen manchmal sehr an ihren vorgefassten Meinungen. Dennoch überprüft die Gemeinschaft der Wissenschaftler immer wieder die Befunde und Schlussfolgerungen der Kollegen. ! Das Ideal, das die Psychologen mit allen Wissenschaftlern teilen, ist die neugierige, skeptische und bescheidene Haltung bei der Prüfung der Gedanken und Vorstellungen, die miteinander konkurrieren.

Mit dieser wissenschaftlichen Haltung bereiten wir uns darauf vor, klüger zu denken. Kluges oder kritisches Denken bedeutet, Argumente und Schlussfolgerungen nicht blindlings zu akzeptieren. Stattdessen werden Vorannahmen einer Prüfung unterzogen, Wertvolles wird von Wertlosem unterschieden, Beweise werden auf ihre Richtigkeit hin überprüft und daraus resultierende Schlussfolgerungen erfasst. Ob beim Lesen eines Berichts oder beim Anhören eines Gesprächs: Ein kritischer Denker stellt Fragen. Er verhält sich wie ein Wissenschaftler: Woher weiß man das, was man da berichtet? Aus welcher Quelle stammt die Information? Beruht die Schlussfolgerung auf persönlichen Gefühlen und anekdotischen Berichten, oder gibt es einen Beweis? Erlaubt dieser Beweis eine Schlussfolgerung auf Ursache und Wirkung? Welche alternativen Erklärungen wären möglich? Wird die gesunde Skepsis jedoch ins Extrem getrieben, dann ist das Ergebnis ein negativer Zynismus, der jeden nicht bewiesenen Gedanken herabsetzt. Besser ist eine kritische Haltung, die zu Bescheidenheit führt, nämlich dazu, dass wir uns unserer eigenen Fehlerhaftigkeit bewusst sind; daraus resultiert eine Haltung der Offenheit gegenüber unerwarteten Ergebnissen und neuen Perspektiven. Kann man sagen, dass die kritischen Fragen und Untersuchungen der Psychologie unerwartete Ergebnisse erbracht haben? Die Antwort ist ein klares Ja, wie auch die folgenden Kapitel zeigen werden. Hier ein paar Beispiele: 4 Ein größerer Verlust von Hirngewebe zu einem frühen Zeitpunkt des Lebens hat evtl. nur minimale Langzeiteffekte (7 Kap. 2). 4 Neugeborene können den Geruch und die Stimme ihrer Mutter innerhalb weniger Tage nach der Geburt erkennen (7 Kap. 4). 4 Nach einer Hirnverletzung kann ein Mensch neue Fähigkeiten erlernen, sich jedoch nicht bewusst sein, dass er sie erlernt hat (7 Kap. 9). 4 Unterschiedliche soziale Gruppen – Männer und Frauen, Alte und Junge, Wohlhabende und Arbeiter, Behinderte und Nichtbehinderte – berichten über ein ungefähr vergleichbares Niveau persönlichen Glücks (7 Kap. 13). 4 Elektrokrampf-(»Elektroschock«-)Therapie (die Verabreichung elektrischer Stromstöße an das Gehirn) ist eine häufig sehr effiziente Therapiemethode bei schweren Depressionen (7 Kap. 17). Und haben die kritischen Fragen der Psychologie verbreitete Annahmen erschüttert? Auch hier lautet die Antwort »ja«, wie wir in den folgenden Kapiteln sehen werden. Es lässt sich nachweisen, dass … 4 Schlafwandler nicht ihre Träume in Handlungen umsetzen und Sprechen im Schlaf keinen Zusammenhang mit dem Trauminhalt hat (7 Kap. 7).

Kritisches Denken (critical thinking): Art zu denken, die Argumente und Schlussfolgerungen nicht einfach blindlings akzeptiert. Stattdessen werden Vorannahmen einer Prüfung unterzogen, Wertvolles wird von Wertlosem unterschieden, Beweise werden auf ihre Richtigkeit hin überprüft und daraus resultierende Schlussfolgerungen erfasst.

»Der eigentliche Zweck der wissenschaftlichen Methode ist es, sich zu vergewissern, ob die Natur einen nicht zu der falschen Annahme verleitet hat, man wüsste etwas, was man in Wirklichkeit nicht weiß.« Robert M. Pirsig, Zen und die Kunst ein Motorrad zu warten, 1978, S. 109

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Kapitel 1 · Kritisch denken mit wissenschaftlicher Psychologie

4 nicht alle Erfahrungen, die wir im Lauf unseres Lebens gemacht haben, als Worte im Gehirn gespeichert sind. Man kann durch Hirnstimulation oder Hypnose nicht einfach »das Tonband zurückspulen« und tief vergrabene oder verdrängte Erinnerungen wieder zum Leben erwecken (7 Kap. 9). 4 die meisten Menschen nicht unter einem unrealistisch geringen Selbstwertgefühl leiden und ein hohes Selbstwertgefühl nicht immer positiv ist (7 Kap. 15). 4 Gegensätze sich i. Allg. nicht anziehen (7 Kap. 18).

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Bei jedem dieser Beispiele und bei weiteren ist das, was man weithin glaubt, durchaus nicht das, was sich als wahr herausgestellt hat.

1.1.3 Wissenschaftliche Methode Ziel 4: Beschreiben Sie, wie sich die wissenschaftliche Forschung von psychologischen Theorien leiten lässt.

Theorie (theory): auf Prinzipien gestütztes Erklärungsmodell, das Beobachtungen in einen Zusammenhang stellt und Vorhersagen erlaubt.

Hypothese (hypothesis): meist aus einer Theorie abgeleitete überprüfbare Vorhersage.

Das Rüstzeug der wissenschaftlich arbeitenden Psychologen sind ihre Kenntnisse der wissenschaftlichen Methoden und deren systematische Anwendung. Sie beobachten und formulieren Theorien, die dann im Licht weiterer Beobachtungen verfeinert werden. In unserer Alltagssprache verwenden wir den Begriff Theorie meist im Sinn von Vorstellung oder Gedanke, doch in der Wissenschaft geht es immer um den Zusammenhang von Beobachtung und Theorie. Eine wissenschaftliche Theorie ist ein Erklärungsmodell, das auf bestimmten Prinzipien basiert. Mit Hilfe einer Theorie können Verhaltensweisen oder Ereignisse in ein System gebracht und Vorhersagen gemacht werden. Eine Theorie stellt Einzelbeobachtungen in einen Zusammenhang und vereinfacht damit die Arbeit. Es ist schwierig, die vielen Faktoren, die wir bei Verhaltensbeobachtungen berücksichtigen müssen, im Gedächtnis zu halten. Eine Theorie schafft einen Zusammenhang, verbindet Einzelfaktoren zu Prinzipien und ist eine hilfreiche Zusammenfassung. Sobald wir die einzelnen Punkte unserer Beobachtung miteinander verbinden, können wir ein kohärentes Bild erkennen. Eine gute Theorie der Depression fasst beispielsweise die unzähligen Beobachtungen in einer Liste zusammen. Stellen Sie sich vor, wir beobachten immer wieder, dass depressive Menschen sich selbst und ihr Leben in schwarzen Farben schildern. Wir könnten also daraus die Theorie ableiten, dass ein geringes Selbstwertgefühl zur Depression beiträgt. So weit, so gut: Ein geringes Selbstwertgefühl ist also durch eine lange Liste von Merkmalen gekennzeichnet, die auf depressive Menschen zutreffen. Doch eine Theorie kann noch so vernünftig klingen – und geringes Selbstwertgefühl scheint eine akzeptable Erklärung für Depression zu sein –, sie muss getestet werden. Eine gute Theorie darf nicht nur überzeugend klingen, sie muss auch zu überprüfbaren Vorhersagen führen, die wir Hypothesen nennen. Die Hypothesen ermöglichen es, die Theorie zu testen und dann entweder zu revidieren oder zu verwerfen und geben dadurch der Forschung die Richtung vor. Die Hypothesen geben an, welche Resultate die Theorie stützen und welche damit nicht vereinbar sind. Wenn wir unsere Theorie eines Zusammenhangs zwischen Depression und Selbstwertgefühl testen wollen, könnten wir das Selbstwertgefühl der betreffenden Menschen erfassen, indem wir fragen, ob sie mit Aussagen wie »Ich habe gute Einfälle« und »Ich bin jemand, mit dem die Leute gerne zusammen sind« übereinstimmen. Dann könnten wir sehen, ob unsere Vorhersage richtig ist, dass nämlich Menschen mit einem eingeschränkten Selbstbild höhere Werte auf einer Depressionsskala erreichen (. Abb. 1.1). Beim Testen unserer Theorie müssen wir darauf gefasst sein, dass die subjektive Beobachtung zu einer Verzerrung der Ergebnisse (Bias, Urteilsfehler) führen kann. Da unsere Theorie lautet, dass die Ursache der Depression ein geringes Selbstwertgefühl ist, lässt es sich nicht ausschließen, dass wir sehen, was wir erwarten zu sehen: Möglicherweise nehmen wir die neutralen Aussagen eines Depressiven als negativ wahr. Der Drang zu sehen, was wir erwarten zu sehen, ist für jeden von uns eine überall lauernde Versuchung. So verleiteten gemäß dem Bericht des parteienübergreifenden U.S. Senate Select Committee on Intelligence (2004) vorgefasste Er-

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. Abb. 1.1. Die wissenschaftliche Methode Eine sich selbst korrigierende Vorgehensweise, bei der Fragen gestellt und die Antworten beobachtet werden, die die Natur gibt

wartungen, dass der Irak Massenvernichtungswaffen besäße, Auswerter der Geheimdienste dazu, mehrdeutige Beobachtungen fälschlich so deuten, dass sie diese Theorie bestätigten; und diese theoriegeleitete Schlussfolgerung führte dann zur präventiven Invasion der USA im Irak. Um diesen Bias zu kontrollieren, veröffentlichen Psychologen ihre Forschungsergebnisse so genau – mit eindeutigen operationalen Definitionen ihrer Konzepte –, dass andere Forscher ihre Beobachtungen replizieren (wiederholen) können. Führt ein anderer Wissenschaftler eine neue Untersuchung mit anderen Teilnehmern und anderem Testmaterial durch und kommt zu ähnlichen Ergebnissen, dann wächst das Vertrauen in die Reliabilität (Zuverlässigkeit) der Ergebnisse. Die erste Untersuchung zum Hindsightbias weckte die Neugier der Psychologen. Heute, nach vielen erfolgreichen Replikationen mit jeweils anderen Menschen und anderen Fragen, können wir die Bedeutung dieses Phänomens genau abschätzen. Unsere Theorie wird letztlich nur dann nützlich sein, wenn man mit ihrer Hilfe zum einen eine Reihe von persönlichen Berichten und Einzelbeobachtungen in eine effiziente Ordnung bringen kann und wenn man zum anderen anhand der Theorie klare Vorhersagen machen kann, die jeder überprüfen oder in der Praxis einsetzen kann. (Wenn wir das Selbstwertgefühl eines Menschen stärken, wird dann die Depression verschwinden?) Vielleicht führt uns die Forschung zu einer revidierten Theorie (7 Abschn. 18.1.4 über kognitive Therapien), die das, was wir über Depressionen wissen, in einen besseren Zusammenhang bringt und genauere Vorhersagen gestattet. ! Eine Theorie ist gut, wenn sie 4 beobachtete Fakten miteinander verbindet und ordnet und 4 Hypothesen impliziert, die überprüfbare Vorhersagen und manchmal praktische Anwendungen ermöglichen.

Wie wir als Nächstes erfahren werden, können wir mit Hilfe deskriptiver Methoden, Korrelationsberechnungen und Experimenten unsere Hypothesen überprüfen und unsere Theorien revidieren. Wenn wir verbreitete Behauptungen mit kritischem Verstand überprüfen wollen, müssen wir mit diesen Methoden vertraut sein und wissen, welche Schlussfolgerungen wir mit ihrer Hilfe ziehen können.

Operationale Definition (operational definition): Festlegung der Vorgehensweise (Operation) bei der Definition der Untersuchungsvariablen. So kann Intelligenz beispielsweise operational definiert werden als das, was ein Intelligenztest misst. Replikation (replication): Wiederholung der wesentlichen Parameter eines Experiments, in der Regel mit anderen Versuchsteilnehmern in anderen Situationen. Mit Hilfe der Replikation kann festgestellt werden, ob sich die Grundannahmen eines Experiments auf andere Versuchsteilnehmer und andere Situationen übertragen lassen.

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Kapitel 1 · Kritisch denken mit wissenschaftlicher Psychologie

Lernziele Abschnitt 1.1 Brauchen wir die wissenschaftliche Psychologie?

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Ziel 1: Beschreiben Sie den Hindsightbias und erklären Sie, wie er die Menschen zu der Auffassung bringen kann, dass Forschungsbefunde allem Anschein nach nur etwas sind, was man sich mit dem gesunden Menschenverstand schon ausmalen konnte. Der Hindsightbias, der Verzerrungseffekt durch nachträgliche Einsicht (»Rückschaufehler«), ist die Tendenz, nachdem wir ein Ergebnis zur Kenntnis genommen haben, zu glauben, dass wir es vorhergesehen hätten. Wenn man also von einem Ergebnis erfährt, kann dies den Anschein erwecken, als hätte man schon mit dem gesunden Menschenverstand darauf kommen können. Die wissenschaftliche Untersuchung und kritisches Denken können dazu beitragen, dieser Tendenz zur Überschätzung unserer bloßen Intuition entgegenzuwirken. Ziel 2: Beschreiben Sie, wie übertriebene Selbstsicherheit im Alltag unser Urteil trübt. Wir sind gewöhnlich viel zu sehr von unseren eigenen Urteilen überzeugt. Dies geht zum Teil auf unseren Bias zurück, nach Informationen zu suchen, mit deren Hilfe sich unsere Urteile als richtig erweisen. Die Wissenschaft mit ihren Methoden zum Sammeln und Sichten von Befunden, schränkt die Irrtumsmöglichkeiten ein, indem sie uns die Grenzen der Intuition und des gesunden Menschenverstands überschreiten lässt.

Ziel 3: Erklären Sie, warum es das kritische Denken fördert, wenn man die Haltung eines Wissenschaftlers einnimmt. Obwohl ein wissenschaftlicher Ansatz auf überprüfbare Fragen beschränkt bleibt, die man mit seiner Hilfe beantworten kann, trägt er dazu bei, zwischen Realität und Täuschung zu unterscheiden. Wissenschaftliches Fragen beginnt mit einer bestimmten Haltung, nämlich einer neugierigen Bereitschaft zur skeptischen Prüfung miteinander konkurrierender Ideen; hinzu kommt eine Offenheit auch gegenüber empirischen Ergebnissen, die den eigenen Vorstellungen widersprechen. Diese Einstellung bringt kritisches Denken auch in unseren Alltag; es überprüft Annahmen, erkennt versteckte Werte, bewertet Befunde und ordnet Ergebnisse kritisch ein. Ideen, selbst wenn sie völlig verrückt klingen, auf den Prüfstand zu stellen, hilft uns, Sinn von Unsinn zu unterscheiden. Ziel 4: Beschreiben Sie, wie sich die wissenschaftliche Forschung von psychologischen Theorien leiten lässt. Psychologische Theorien bringen Ordnung und System in Beobachtungen und führen zu Hypothesen, die eine Vorhersage erlauben. Nachdem die Wissenschaftler präzise operationale Definitionen ihrerVorgehensweisen entwickelt haben, überprüfen sie ihre Hypothesen (Vorhersagen), validieren und optimieren die Theorie und schlagen manchmal praktische Anwendungen vor. > Denken Sie weiter: Wie könnte die wissenschaftliche Haltung uns helfen, die Wurzeln des Terrorismus zu verstehen?

1.2

Beschreibung

Der Ausgangspunkt jeder Wissenschaft ist die Beschreibung. In unserem Alltag beobachten wir unsere Mitmenschen und beschreiben sie; daraus leiten wir ab, warum sie sich so verhalten und nicht anders. Im Wesentlichen tun professionelle Psychologen auch nichts anderes, nur gehen sie dabei systematisch vor und bemühen sich um Objektivität.

1.2.1 Einzelfallstudie Ziel 5: Geben Sie an, welche Vor- und Nachteile es hat, Fallstudien zur Verhaltensbeschreibung einzusetzen. Einzelfallstudie (case study): Beobachtungstechnik, bei der ein Individuum gründlich und intensiv beobachtet wird in der Hoffnung, auf diese Weise universelle Prinzipien entdecken zu können.

»›Nun ja, mein Lieber‹, sagte Miss Marple, ›das Wesen des Menschen ist eigentlich an allen Orten gleich, aber natürlich hat man in einem Dorf bessere Möglichkeiten, es sich genauer anzusehen.‹« Agatha Christie, Der Dienstagabend-Club, 1999, Original 1937

Die Einzelfallstudie gehört zu den ältesten Forschungsmethoden überhaupt. In der Fallstudie wird ein Individuum gründlich studiert, in der Hoffnung, dabei Dinge zu entdecken, die für alle Individuen gelten. Viel von unserem Wissen über das Gehirn und seine Funktionen stammt aus Fallstudien mit Menschen, die nach der Schädigung einer bestimmten Hirnregion in bestimmten Bereichen beeinträchtigt waren. Der Entwicklungspsychologe Jean Piaget beobachtete aufmerksam ein paar Kinder und befragte sie ausführlich; das Ergebnis waren bahnbrechende Informationen über die Art, wie Kinder denken. Untersuchungen, die mit nur wenigen Schimpansen durchgeführt wurden, erbrachten den Beweis, dass die Tiere über die Fähigkeit zum Verstehen von Sprache verfügen. Aus Fallstudien kann man Hypothesen für weitere Untersuchungen ableiten. Sie zeigen uns zudem, was geschehen kann. Im Alltag können uns individuelle Fälle aber auch manchmal in die Irre führen. Vielleicht ist das untersuchte Individuum untypisch. Eine nicht repräsentative Infor-

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mation kann zu irrtümlichen Beurteilungen und falschen Schlussfolgerungen führen. Und auch Folgendes ist zu bedenken: Sobald ein Wissenschaftler einen Befund veröffentlicht (»Raucher sterben jünger: 95% der Männer über 85 sind Nichtraucher«), findet sich jemand, der widerspricht (»Nun, ich habe einen Onkel, der täglich zwei Päckchen rauchte und über 89 wurde«). Solche Einzelfälle – dramatische Geschichten, persönliche Erfahrungen und sogar psychologische Fallbeispiele – entwickeln eine überwältigende Macht und werden für unumstößliche Wahrheiten gehalten. Wenn an einer Schule geschossen wird, dann sorgt so ein Vorfall dank der enormen Publizität für besorgtes Fragen nach der Gewalt an Schulen, sogar zu einem Zeitpunkt, wo an den Schulen die Zahl der gewalttätigen Handlungen abnimmt. Zählen Sie nicht auf Zahlen, sie täuschen oft eine falsche Zuverlässigkeit vor (in einer Untersuchung mit 1300 Berichten über Träume, die das Schicksal eines entführten Kindes betrafen, sahen tatsächlich nur 5% den Tod des Kindes vorher und hatten damit Recht, 7 Kap. 6), und private Berichte wirken oft überzeugender als Statistik (»Aber ich kenne einen Mann, der träumte, dass seine Schwester einen Autounfall hätte, und drei Tage später wurde sie schwer verletzt.«) Der Psychologe Gordon Allport (1954, S. 9) drückte es so aus: »Einen Fingerhut voll dramatischer Ereignisse verallgemeinern wir schleunigst auf Badewannengröße.« ! Was auf uns alle zutrifft, kann man schon am Beispiel eines Einzelnen erkennen, und aus Einzelfällen können fruchtbare Hypothesen abgeleitet werden. Um aber die allgemeinen Wahrheiten in den Einzelfällen zu entdecken, müssen wir andere Methoden anwenden.

Der Fall des sprechenden Schimpansen In intensiven Fallstudien mit Schimpansen sind Psychologen der faszinierenden Frage nachgegangen, ob Sprache ein rein menschliches Phänomen ist. Hier macht Nim Chimpsky das Zeichen für »schmusen«, als sein Trainer, der Psychologe Herbert Terrace ihm die Puppe Ernie zeigt. Ist Nim tatsächlich fähig, Sprache anzuwenden? Wir werden dieses Thema in 7 Kap. 10 näher betrachten

1.2.2 Befragung Ziel 6: Arbeiten Sie heraus, welche Vor- und Nachteile es hat, Befragungen einzusetzen, um Verhalten und mentale Prozesse zu untersuchen, und erklären Sie, warum Formulierungen und Zufallsstichproben wichtig sind.

Bei der Methode der Befragung werden viele Fälle einbezogen, die Fragen bleiben aber eher an der Oberfläche. Bei einer Umfrage werden die Menschen gebeten, Auskunft über ihr Verhalten oder ihre Ansichten zu geben. Thema der Befragung kann alles sein, von sexuellen Praktiken bis hin zu politischen Meinungen. Es gibt wohl keine bedeutsame Frage, die von den Wissenschaftlern noch nicht in einer Umfrage gestellt wurde. So haben beispielsweise Umfragen des Instituts für Demoskopie Allensbach in den Jahren 1998–2002 gezeigt, dass 57% der Deutschen mit ihrem Leben i. Allg. zufrieden sind, 61% glauben, Glück und Geld habe nichts miteinander zu tun, doch 77% sind der Ansicht, Geld mache frei. 72% der Deutschen halten sich für humorvoll und 59% glauben an die große Liebe. Für 79% sind Rechtextremisten die unliebsamsten Nachbarn, 61% der Deutschen glauben an Gott, und 95% der Amerikaner möchten etwas an ihrem äußeren Erscheinungsbild ändern. In Großbritannien sind sieben von zehn der 18- bis 29-Jährigen für die gleichgeschlechtliche Ehe; in der Altersgruppe der Über-50-Jährigen ist in etwa derselbe Prozentsatz dagegen (ein Generationenunterschied, wie man ihn in vielen westlichen Ländern findet). Aber die Fragen richtig zu stellen, ist eine heikle Sache; und die Antworten können auch von Formulierungen und von der Auswahl der Befragten abhängen.

Formulierungen Schon ganz leichte Abänderungen in der Wortstellung der Frage können eine große Wirkung haben. Sollte Zigarettenwerbung oder Pornographie im Fernsehen erlaubt sein? Die Leute werden viel eher »sollte nicht erlaubt sein« antworten, nicht aber »sollte man verbieten« oder »sollte zensiert werden«. In einer einzelnen landesweiten Befragung sprachen sich nur 27% der Amerikaner für eine »staatliche Zensur« von Sex- und Gewaltdarstellungen in den Medien aus, obwohl 66% für »mehr Restriktionen bei dem, was im Fernsehen gezeigt wird« stimmten (Lacayo 1995). Ebenso sprechen sich Befragte eher für »Hilfe für Bedürftige« aus als für »Sozialhilfe«; sie stimmen weit eher für »Förderung« als für »bevorzugte Behandlung« und befürworten eher eine »Ausweitung der Staatseinnahmen« als »Steuererhöhungen«. Vom Wortlaut der Frage hängt sehr viel ab, des-

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Susan Kuklin/Photo Researchers, Inc.

1.2 · Beschreibung

Befragung (survey): Technik, bei der die von ihnen selbst berichteten Einstellungen oder Verhaltensweisen der Menschen ermittelt werden; i. Allg. wird eine repräsentative Zufallsstichprobe befragt.

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Kapitel 1 · Kritisch denken mit wissenschaftlicher Psychologie

halb hinterfragen kritische Denker immer, auf welche Weise die Fragestellung die Meinung der Befragten beeinflusst haben könnte.

Zufallsstichprobe

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This modern world by Tom Tomorrow, © 1991

Falscher Konsens oder Konsensüberschätzung (false consensus effect): Neigung, zu überschätzen, wie sehr andere unsere Vorstellungen teilen und das gleiche Verhalten zeigen.

In unserer alltäglichen Erfahrung haben wir es meist mit einer verzerrten Stichprobe zu tun, meistens mit Menschen, die unsere Einstellungen teilen und ähnliche Gewohnheiten haben wie wir selbst. Wenn wir uns also fragen, wie viele Menschen einer speziellen Glaubensrichtung anhängen, dann fallen uns zuerst die ein, die so denken wie wir. Diese Tendenz, die Übereinstimmung mit anderen Menschen in wichtigen Fragen zu überschätzen, heißt Verzerrung durch falschen Konsens bzw. Konsensüberschätzung (»false consensus effect«; Ross et al. 1977). So sind Vegetarier häufiger als Fleischesser geneigt, zu glauben, dass es sehr viele Vegetarier gibt, und Konservative sehen mehr Anhänger konservativer Ideen, als es die Liberalen tun. Für die Beschreibung menschlicher Erfahrungen können Sie Ihre Einschätzung anderer Menschen verwenden, die vielleicht durch dramatische Ereignisse und Ihre persönlichen Erfahrungen ergänzt werden. Wenn Sie sich aber ein genaues Bild von den Erfahrungen und Einstellungen einer ganzen Population machen wollen, dann ist die einzige Methode die repräsentative Stichprobe. Das lässt sich auch auf unser Alltagsdenken übertragen; denn wir generalisieren ständig aufgrund der Stichproben, mit denen wir zu tun haben, vor allem, wenn es um Fälle geht, die lebhaft vorgetragen werden. Nehmen wir folgendes Szenario: Dem Verwaltungsdirektor liegt die statistische Zusammenfassung der Bewertung eines Professors durch seine Studenten vor, und gleichzeitig hört er die heftigen Proteste zweier aufgebrachter Studenten, die sich von diesem Professor ungerecht beurteilt fühlen. Da kann der Eindruck des Verwaltungsdirektors ebenso von den beiden Pechvögeln beeinflusst werden wie von den vielen positiven Bewertungen dieses Professors, die in der Statistik aufgeführt sind. Oder Sie stehen im Supermarkt an der Kasse, und die Frau vor Ihnen bezahlt mit einem Warengutschein der Sozialhilfe. Und dann sehen Sie mit Bestürzung, wie dieselbe Frau auf dem Parkplatz in ein tolles Auto steigt. In beiden Fällen kann man der Versuchung, von ein paar intensiven, aber nicht repräsentativen Eindrücken zu verallgemeinern, kaum widerstehen.

Population (population): sämtliche Fälle in einer Gruppe, aus der eine Stichprobe für eine Studie gezogen wird.

Zufallsstichprobe (random sample): Stichprobe, bei der eine Zufallsauswahl aus einer bestimmten Population gezogen wird und die diese Population dann weitgehend repräsentiert.

! Die beste Basis für eine Generalisierung ist eine repräsentative Stichprobe.

Wenn Sie unter den Studierenden Ihrer Hochschule eine Umfrage machen wollen, wie könnten Sie dann eine Stichprobe befragen, die repräsentativ ist für die gesamte studentische Population – die gesamte Gruppe, die Sie untersuchen und beschreiben wollen? Typischerweise würden Sie eine Zufallsstichprobe ziehen, eine Stichprobe, bei der jede einzelne Person in der Gesamtgruppe die gleichen Chancen hat teilzunehmen. Um eine Zufallsstichprobe zu befragen, würden Sie nicht jedem Einzelnen einen Fragebogen zusenden. (Die gewissenhaften Menschen, die ihn zurückschicken, wären keine Zufallsstichprobe.) Stattdessen würden Sie eine repräsentative Stichprobe anstreben, indem Sie etwa eine Tabelle mit Zufallszahlen dazu verwenden, die Teilnehmerinnen und Teilnehmer aus einer Auflistung der Studierenden auszuwählen und dann sicherzustellen, dass so viele wie möglich mitmachen. Große repräsentative Stichproben sind besser als kleine; aber eine kleine repräsentative Stichprobe ist besser als eine nicht repräsentative Stichprobe von 500 Personen. ! Bevor man den Ergebnissen einer Umfrage Glauben schenkt, sollte man sie kritisch hinterfragen: Betrachten Sie die Stichprobe. Man kann die Nachteile einer nicht repräsentativen Stichprobe nicht dadurch wettmachen, dass man einfach weitere Personen hinzunimmt.

Das Prinzip der Zufallsstichprobe gilt auch für landesweite Umfragen. Stellen Sie sich vor, Sie hätten ein Fass voll Bohnen, und zwar 60 Mio. weiße Bohnen vermischt mit 40 Mio. roten Bohnen. Wenn Sie mit einer Schaufel eine Zufallsstichprobe von 1500 Bohnen herausholen und auszählen, dann besteht diese aus ca. 60% weißen und 40% roten Bohnen (±2 oder 3%). Eine Stichprobe für

29 1.2 · Beschreibung

1.2.3 Beobachtung in natürlicher Umgebung (Feldbeobachtung) Ziel 7: Geben Sie einen Vor- und einen Nachteil dafür an, dass man die Beobachtung in einer natürlichen Umgebung dazu nutzt, Verhalten zu untersuchen.

Die dritte beschreibende Forschungsmethode der Psychologie umfasst die Beobachtung und Beschreibung des Verhaltens von Organismen in ihrer natürlichen Umwelt. Beobachtungen in natürlicher Umgebung oder Feldbeobachtungen reichen von der Beobachtung von Schimpansengesellschaften im Dschungel bis zu nichtreaktiven Videoaufnahmen (und der späteren systematischen Auswertung) von Eltern-Kind-Interaktionen in verschiedenen Kulturen oder der Beschreibung der Platzwahl in der Cafeteria einer Schule, die von Schülern verschiedener Kulturen besucht wird. Die Beobachtung in einer natürlichen Umgebung beschreibt Verhalten, erklärt es aber nicht, ebenso wenig wie die Einzelfallstudie oder die Befragung. Trotzdem können die Beschreibungen ein Licht auf bestimmte Dinge werfen. Beispielsweise dachte man lange Zeit, dass nur Menschen Werkzeuge benutzen. Die Beobachtung von Schimpansen in ihrem natürlichen Umfeld hat indessen gezeigt, dass die Tiere manchmal ein Stöckchen in einen Termitenhaufen stecken und dann ablecken. Solche nichtreaktiven Beobachtungen der Tiere in ihrer natürlichen Umgebung, sagt die Schimpansenforscherin Jane Goodall (1998), bereiteten den Weg für spätere systematische Untersuchungen zum Denken und Fühlen der Schimpansen sowie ihrer Möglichkeiten zum Verständnis von Sprache. »Beobachtungen im natürlichen Habitat zeigten, dass Zusammenleben und Verhalten von Tieren weitaus komplexer sind, als wir bislang angenommen haben.« Wir müssen deshalb unser Bemühen um Verständnis auch auf unsere Mitgeschöpfe, die Tiere, ausdehnen. Es zeigte sich auch, dass Schimpansen und Paviane Täuschungsmanöver einsetzen, um ihre Ziele zu erreichen. Die Psychologen Andrew Whiten und Richard Byrne (1988) beobachteten wiederholt, wie ein junger Pavian so tat, als sei er von einem anderen Pavian angegriffen worden, eine Taktik, mit der er seine Mutter dazu brachte, den anderen vom Futter wegzujagen. Auch bei Menschen werden Feldbeobachtungen durchgeführt. Im Folgenden finden Sie drei Beispiele dafür, an denen Sie, glaube ich, Spaß haben werden. 4 Ein witziges Ergebnis. In sozialen Situationen lachen wir Menschen 30-mal öfter, als wenn wir allein sind. (Ist Ihnen schon einmal aufgefallen, wie selten Sie lachen, wenn Sie allein sind?) Wenn wir lachen, verziehen 17 Muskeln unseren Mund und drücken unsere Augen zusammen, und wir stoßen im Abstand von jeweils einer fünftel Sekunde eine Serie von vokalähnlichen Lauten von 75 Millisekunden Dauer aus (Provine 2001). 4 Aushorchen von Studenten. Was sagen und machen Erstsemester der Psychologie eigentlich den lieben langen Tag? Um das herauszufinden, statteten Matthias Mehl und James Pennebaker (2003) 52 Studierende der University of Texas bis zu vier Tage lang mit einem Kassettenrekorder aus, den sie an einem Gürtel trugen und der sich von früh bis spät alle 12,5 Minuten 30 Sekunden lang für eine Aufnahme einschaltete. So waren die Forscher imstande, mehr als 10.000 eine halbe Minute lange Ausschnitte aus dem Leben der Studierenden abzuhören. Was meinen Sie, wie viel Prozent der Zeit Studierende nach diesen Befunden mit jemandem sprachen? Und wie viel Prozent der Zeit befanden sich danach die Studierenden an der Tastatur eines Computers? Die Antwort lautet: 28 bzw. 9 Prozent der Zeit. (Wie viel Prozent der Zeit, in der Sie nicht schlafen, verbringen Sie mit diesen Aktivitäten?) 4 Kultur, Klima, Leben. Mit Hilfe der Feldbeobachtung konnten Robert Levine und Ara Norenzayan (1999) den Lebensrhythmus in 31 Ländern miteinander vergleichen. Zum einen wurde Lebensrhythmus operational definiert als das Tempo, in dem ein Postangestellter eine simple Bitte erfüllte, zum anderen galt die Genauigkeit der Normaluhren als operationale Definition. Die beiden Forscher (Feldbeobachtung) kamen zu dem Ergebnis, dass der Lebens-

Schätzungen mit sehr großen Stichproben sind recht zuverlässig (reliabel). Der Buchstabe E hat schätzungsweise einen Anteil von 12,7% an allen Buchstaben in englischsprachigen schriftlichen Texten. In Melvilles »Moby Dick« stellt E tatsächlich 12,3% der 925.144 Buchstaben des Textes, 12,4% der 586.747 Buchstaben in Charles Dickens’ »A Tale of Two Cities« und 12,1% der 3.901.023 Buchstaben, aus denen Mark Twains Gesamtwerk besteht (»Chance News« 1997).

Beobachtung in natürlicher Umgebung oder Feldbeobachtung (naturalistic observation): Beobachten und Erfassen von Verhalten in natürlichen Situationen unter Verzicht auf Manipulation oder Kontrolle der Situation.

Courtesy of Gilda Morelli

eine landesweite Wählerbefragung ergibt ein ähnliches Bild: 1500 zufällig ausgewählte Leute aus allen Teilen des Landes liefern ein bemerkenswert genaues Bild von den im Land herrschenden Meinungen. Ohne Zufallsstichprobe führen große Stichproben – und dazu gehören auch Telefonbefragungen und Website-Abstimmungen – zu irreführenden Ergebnissen.

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Beobachtung in natürlicher Umgebung (Feldbeobachtung) Die Psychologin Gilda Morelli hat über 20 Jahre mit den Efe in Zentralafrika gelebt und sie beobachtet. Sie studierte das Verhalten von Müttern und Vätern und die Entwicklung der Kinder.

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Kapitel 1 · Kritisch denken mit wissenschaftlicher Psychologie

rhythmus in Japan und Westeuropa am schnellsten ist und langsamer in wirtschaftlich weniger hoch entwickelten Ländern. In einem kühlen Klima leben die Menschen tendenziell in schnellerem Rhythmus (und mehr Menschen sterben an Herzkrankheiten). Die Beobachtung in einer natürlichen Umgebung beschreibt Verhalten eher, als dass sie es erklärt. Aber diese Studie zeigt uns, wie die Feldbeobachtung auch in der korrelativen Forschung, unserem nächsten Thema, angewandt wird.

1 Lernziele Abschnitt 1.2 Die Beschreibung

Ziel 5: Geben Sie an, welchen Vorteil und welchen Nachteil es hat, wenn man Fallstudien einsetzt, um Verhalten zu beschreiben. Forscher, die Fallstudien einsetzen, konzentrieren sich in starkem Maße auf ein Individuum; sie haben dabei die Hoffnung, dass sie universelle Prinzipien zutage fördern. Fallstudien beschreiben Verhalten. Mit ihrer Hilfe kann man zu Hypothesen kommen, aber die Untersuchung eines nicht repräsentativen Individuums kann zu falschen Schlussfolgerungen führen. Ziel 6: Arbeiten Sie heraus, welche Vorteile und welche Nachteile es hat, wenn man Befragungen einsetzt, um Verhalten und mentale Prozesse zu untersuchen, und erklären Sie, warum Formulierungen und Zufallsstichproben wichtig sind. Aufgrund von Befragungen lässt sich Verhalten beschreiben, indem man Informationen bei einer großen Anzahl von Personen sammelt. Diese Technik baut darauf, dass die Menschen ihre Einstellungen oder Verhaltensweisen korrekt selbst beschreiben. Auswirkungen von Formulierungen – subtile Einflüsse durch die Reihenfolge und den Wortlaut der Fragen – können sich auf die Antworten auswirken. Die Ziehung einer Zufallsstichprobe trägt dazu bei, dass die Forscher eine Stichprobe erhal-

1.3

ten, die einigermaßen repräsentativ für die Population ist, die untersucht werden soll. Weil bei einer Zufallsstichprobe Personen zufällig ausgewählt werden, hat jede Person in der Gesamtgruppe die gleiche Chance teilzunehmen. Ziel 7: Geben Sie einen Vorteil und einen Nachteil dafür an, dass man die Beobachtung in einer natürlichen Umgebung dazu nutzt, Verhalten zu untersuchen. Die Beobachtung in einer natürlichen Umgebung ermöglicht es den Forschern, sich das Verhalten in natürlicherweise auftretenden Situationen anzusehen und es aufzuzeichnen. Wie bei anderen Formen der Beschreibung lassen sich Verhaltensweisen bei Beobachtung in einer natürlichen Umgebung nicht erklären. Aber sie kann unser Verständnis vertiefen und kann zu Hypothesen führen, die mit Hilfe anderer Methoden untersucht werden können. > Denken Sie weiter: Können Sie sich an Beispiele für irreführende Befragungen erinnern, die Sie selbst erlebt oder über die Sie gelesen haben? Welche Prinzipien, die für eine gute Befragung unabdingbar sind, wurden dabei verletzt?

Korrelation

Ziel 8: Beschreiben Sie positive und negative Korrelationen und erklären Sie, wie Korrelationsmaße etwas zum Vorhersageprozess beitragen können. Korrelationskoeffizient (correlation coefficient): statistische Maßzahl, die das Ausmaß und die Richtung des Zusammenhangs zwischen zwei oder mehr Merkmalsvariablen angibt. Der Korrelationskoeffizient sagt aus, wie gut eine Variable die Veränderung der anderen Variablen angibt.

Streudiagramm oder Punktdiagramm (Scatterplot): Jeder Punkt in einem Streudiagramm gibt die Werte von zwei Merkmalsvariablen an. Der Verlauf der Verbindungslinie zwischen den Punkten zeigt die Richtung des Zusammenhangs zwischen den beiden Variablen an. Die Konzentration der Punkte verweist auf einen starken Zusammenhang (eng beieinanderliegende Punkte bedeuten hohe Korrelation).

Die Verhaltensbeschreibung ist der erste Schritt zur Verhaltensvorhersage. Zeigt sich bei Befragungen und Beobachtungen, dass ein bestimmtes Merkmal oder ein Verhalten immer mit einem anderen zusammen auftritt, dann sprechen wir von einer Korrelation. Der Korrelationskoeffizient ist ein statistisches Maß für einen Zusammenhang (. Abb. 1.2); er zeigt, wie eng zwei Faktoren miteinander verknüpft sind und sich gemeinsam verändern bzw. wie gut der eine Faktor das Auftreten des anderen vorhersagt. Wenn wir wissen, wie stark ein hoher Punktwert (Score) in einem Eignungstest mit Schulerfolg korreliert, dann wissen wir auch, wie gut diese Punktzahl Schulerfolg vorhersagt. In diesem Buch werden wir immer wieder die Frage stellen, wie stark der Zusammenhang zwischen zwei Variablen ist. Wie eng hängen beispielsweise die Persönlichkeitsscores eineiiger Zwillinge zusammen? Wie genau kann man anhand der Punktzahl in einem Intelligenztest die Leistung vorhersagen? Wie eng hängt Stress mit Krankheit zusammen? . Abbildung 1.3 illustriert perfekte positive und negative Korrelationen, die allerdings in der realen Welt kaum vorkommen. Wir nennen diese Diagramme Scatterplots bzw. Punktoder Streudiagramme, denn jeder Punkt gibt den Wert von zwei Variablen an. Eine positive Korrelation bedeutet, dass zwei Wertereihen wie etwa Körpergröße und Gewicht jeweils gemeinsam größer bzw. kleiner werden. Eine negative Korrelation sagt nichts darüber aus, ob der Zusammenhang zwischen zwei Variablen stark oder schwach ist; zwei negativ korrelierende

31 1.3 · Korrelation

Perfekte positive Korrelation (+1,00)

Kein Zusammenhang (0,00)

Perfekte negative Korrelation (–1,00) . Abb. 1.2. So wird ein Korrelationskoeffizient gelesen

Variablen bedeuten, dass hier ein umgekehrter Zusammenhang vorliegt (die Punktzahl der einen Variable steigt, während die Punktzahl der anderen sinkt). Steigt die Punktzahl auf der Variable »Zähneputzen«, dann sinkt die Punktzahl auf der Variable »Karies«; Zähneputzen und Karies korrelieren (negativ) miteinander. Eine schwache Korrelation mit einem Koeffizienten nahe null zeigt an, dass kein oder fast kein Zusammenhang vorliegt. Im Folgenden finden Sie einige neuere Ergebnisse der korrelativen Forschung. Können Sie sagen, welche Studien über positive Korrelationen berichten und welche über negative: 4 Je mehr Fernsehgeräte sich in einem Haushalt befinden, desto weniger Zeit verbringen Kinder mit Lesen (Kaiser 2003). 4 Je mehr sexuell geprägte Inhalte sich Jugendliche im Fernsehen ansehen, desto wahrscheinlicher ist es, dass sie sexuell aktiv werden (Collins et al. 2004). 4 Je länger Kinder gestillt werden, desto besser ist ihre schulische Leistung (Horwood & Fergusson 1998). 4 Je stärker das Einkommen bei einer Stichprobe armer Familien anwuchs, desto weniger psychiatrische Symptome hatten ihre Kinder (Costello et al. 2003). (Hier handelt es sich jeweils um eine negative, eine positive, eine positive und um eine negative Korrelation.) Mit Hilfe der Statistik können wir Dinge erkennen, die wir sonst nicht sehen würden. Probieren Sie es doch einmal mit einem eigenen Projekt aus. Sie könnten sich fragen, ob hochgewachsene Männer gelassener oder nervöser sind als kleine. Zu diesem Zweck sammeln Sie zwei Datensätze: die Körpergröße der Männer und ihr Temperament. Sie messen die Körpergröße von 20 Männern und bitten einen unbeteiligten Kollegen, das Temperament dieser Männer zu bewerten (dabei bedeutet 0 »sehr ruhig« und 100 »extrem nervös«). Können Sie mit diesen Daten (. Tab. 1.2) vor Augen schon sagen, ob es eine positive oder eine negative Korrelation zwischen Körpergröße und Gelassenheit gibt? Oder ist die Korrelation schwach oder gar nicht vorhanden? Vergleicht man die beiden Zahlenreihen in . Tab. 1.2, dann kann man meistens kaum einen Zusammenhang zwischen Körpergröße und Temperament erkennen. Tatsächlich ist die Korrelation in diesem fiktiven Beispiel leicht positiv, nämlich +0,63. Das erkennen wir, wenn wir die Daten in einem Punktdiagramm anordnen. Verbindet man die Punkte wie in . Abb. 1.4 und verfolgt die gestrichelte nach oben führende Linie von links nach rechts, dann zeigt sich, dass die beiden Variablen (Körpergröße und Temperament) unseres fiktiven Untersuchungsbeispiels einen tendenziell parallelen Verlauf nehmen. Wenn wir schon bei der systematischen Darbietung der Daten in . Tab. 1.2 keinen Zusammenhang erkennen können, dann verstehen wir, dass wir mögliche Zusammenhänge, die

. Abb. 1.3. Streudiagramme (Scatterplots), die verschiedene Korrelationsmuster zeigen Korrelationskoeffizienten variieren zwischen +1,00 (die Werte einer Variablen wachsen direkt proportional mit den Werten der anderen Variablen) und –1,00 (die Werte einer Variablen sinken direkt proportional mit dem Ansteigen der anderen Variablen)

1

Kapitel 1 · Kritisch denken mit wissenschaftlicher Psychologie

32

. Tabelle 1.2. Körpergröße und Temperament von 20 Männern

1

Versuchsperson

Körpergröße in cm

Punkte auf Temperamentskala

1

200

75

2

158

66

3

165

60

4

195

90

5

185

60

6

173

42

7

155

42

8

183

60

9

188

81

10

151

39

11

163

48

12

189

69

13

178

72

14

165

57

15

182

63

16

175

75

17

159

30

18

180

57

19

171

84

20

175

39

. Abb. 1.4. Streudiagramm zum Zusammenhang von Körpergröße und Temperament Die dargestellten Daten von 20 fiktiven Personen (jede Person wird durch einen Punkt dargestellt) zeigen einen nach oben führenden Verlauf und weisen damit auf eine positive Korrelation hin. Die Punkte sind über das ganze Diagramm verstreut; das zeigt, dass die Korrelation deutlich unter +1, 0 liegt

uns im Alltag begegnen, leicht übersehen. Manchmal brauchen wir die Klarheit und Deutlichkeit der Statistik, um zu erkennen, was direkt vor unseren Augen liegt. Mit Hilfe von statistisch aufbereiteten Informationen über das Anforderungsniveau der beruflichen Tätigkeit, Führungspositionen, Leistung, Geschlecht und Einkommen können wir ohne Schwierigkeiten erkennen, wo Geschlechtsdiskriminierung vorliegt. Doch wir nehmen die Diskriminierung häufig nicht wahr, wenn die gleiche Information in Form von Einzelfällen präsentiert wird (Twiss et al. 1989). Die Korrelationsberechnungen der Psychologie sind informativ, trotzdem lassen sich viele Variablen des Zusammenlebens von Menschen nicht vorhersagen. So gibt es, wie wir später sehen werden, eine Korrelation zwischen elterlichem Missbrauch und Kindern, die als Erwachsene gleichfalls ihre Kinder missbrauchen. Doch das bedeutet nicht, dass die meisten Menschen, die als Kinder missbraucht wurden, nun selbst auch ihre Kinder missbrauchen. Die Korrelation zeigt lediglich einen statistischen Zusammenhang. Die meisten Erwachsenen mit Missbrauchserfahrungen in ihrer Kindheit, missbrauchen ihre Kinder nicht. Bei Erwachsenen, die keine eigenen Missbrauchserfahrungen haben, ist die Wahrscheinlichkeit eines Kindesmissbrauchs allerdings noch geringer. ! Der Korrelationskoeffizient kann uns helfen, die Welt dadurch deutlicher wahrzunehmen, dass wir die Stärke des Zusammenhangs zwischen zwei Faktoren erkennen können.

1.3.1 Korrelation und Kausalität Ziel 9: Erklären Sie, warum es durch korrelative Forschung nicht gelingen kann, Belege für UrsacheWirkungs-Beziehungen zu liefern.

Korrelationen sind hilfreich bei der Vorhersage und setzen den illusorischen Vorstellungen unserer fehlbaren Intuition Grenzen. Das Anschauen von Gewaltszenen korreliert mit Aggression (und sagt sie demnach vorher). Bedeutet das aber, dass sie die Ursache für Aggression ist? Wird Depression durch geringes Selbstwertgefühl verursacht? Sollten Sie – aufgrund der evidenten Korrelation – der Meinung sein, dass das der Fall ist, dann befinden Sie sich in guter Gesellschaft. Einer der fast unvermeidbaren Denkfehler ist die Annahme, dass eine Korrelation der Nachweis für einen

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© falkjohann – Fotolia.com

1.3 · Korrelation

. Abb. 1.5. Drei mögliche Zusammenhänge von Ursache und Wirkung Menschen mit geringem Selbstwert werden eher von Depressionen berichten als Menschen mit hohem Selbstwert. Eine mögliche Erklärung für diese negative Korrelation könnte lauten: Ein schlechtes Selbstbild verursacht depressive Gefühle. Doch zeigt das Diagramm, dass auch andere Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge denkbar sind

Kausalzusammenhang ist. Doch ganz gleich, wie stark der Zusammenhang auch sein mag: Korrelation ist kein Beweis für Kausalität. Was ist beispielsweise von der negativen Korrelation zwischen geringem Selbstwertgefühl und Depression zu halten? Vielleicht verursacht geringer Selbstwert tatsächlich Depression. Doch wie aus . Abb. 1.5 ersichtlich ist, bekommen wir dieselbe Korrelation zwischen Selbstwert und Depression, wenn wir davon ausgehen, dass die Depression die Ursache dafür ist, dass die betroffenen Menschen nicht viel von sich halten. Eine weitere denkbare Erklärung für die Korrelation wäre ein dritter Faktor: Eine ererbte Veranlagung oder eine Störung der chemischen Botenstoffe im Gehirn könnte sowohl das geringe Selbstwertgefühl als auch die Depression erklären. Bei Männern korreliert die Dauer ihrer Ehe positiv mit Haarausfall: Beides hängt mit dem Alter als einem dritten Faktor zusammen. Und Menschen mit Hüten bekommen mit größerer Wahrscheinlichkeit Hautkrebs, weil beide Faktoren mit der hellen Haut dieser Menschen zusammenhängen; sie sind aufgrund ihrer Hellhäutigkeit anfälliger für Hautkrebs und tragen deshalb einen Hut als Lichtschutz. Dieser Punkt ist so wichtig und zeigt so grundlegend, wie durch die Anwendung psychologischen Wissens eine genauere Beurteilung möglich ist, dass ich noch das Beispiel einer Befragung von über 12.000 Jugendlichen anführen möchte. Je mehr sich Teenager von ihren Eltern geliebt fühlen, desto geringer ist die Wahrscheinlichkeit, dass sie schädliche Gewohnheiten annehmen: frühe sexuelle Beziehungen, Rauchen, Alkohol- und Drogenmissbrauch oder gewalttätiges Verhalten (Resnick et al. 1997). »Eltern haben großen Einfluss auf das Verhalten ihrer Kinder während der gesamten Highschool-Zeit«, schwärmte daraufhin eine Meldung der »Associated Press« über diese Studie. Doch die Korrelation beinhaltet nicht automatisch einen Ursache-Wirkungs-Zusammenhang. Anders ausgedrückt: Korrelation ist kein Beweis für Kausalität. Man hätte mit ebenso viel Berechtigung titeln können: »Jugendliche, die sich vernünftig verhalten, fühlen sich von ihren Eltern geliebt und anerkannt, während Jugendliche, die zu Grenzüberschreitungen neigen, ihre Eltern für verständnislose Trottel halten.« ! Eine Korrelation weist auf die Möglichkeit eines Ursache-Wirkungs-Zusammenhangs hin, doch sie ist kein Nachweis für einen Kausalzusammenhang. Wenn wir wissen, dass zwei Ereignisse miteinander korrelieren, dann sagt uns das nichts über den Kausalzusammenhang. Behalten Sie dieses Prinzip im Gedächtnis, und Sie werden, wenn Sie Berichte über wissenschaftliche Untersuchungen in den Medien und auch hier in diesem Buch lesen bzw. hören, diese besser beurteilen können.

Korrelation ist nicht gleichbedeutend mit Kausalität Die Dauer einer Ehe korreliert mit dem Verlust von Haaren bei Männern. Bedeutet das, dass die Ehe den Haarverlust verursacht (oder dass kahl werdende Männer die besseren Ehemänner sind)? In diesem Fall – und in vielen anderen – ist offensichtlich ein dritter Faktor für die Korrelation verantwortlich: Goldene Hochzeiten und Kahlheit treten beide im höheren Lebensalter auf

Ein Journalist berichtete in der »New York Times« von einer groß angelegten Umfrage, die folgendes Ergebnis erbrachte: »Bei Jugendlichen, deren Eltern rauchen, ist die Wahrscheinlichkeit für frühe sexuelle Aktivitäten um 50% höher als bei Jugendlichen, deren Eltern nicht rauchen.« Daraus schloss er (würden Sie dem zustimmen?), dass die Studie einen kausalen Zusammenhang aufzeigte, und zwar insofern, als »Eltern aufhören müssten zu rauchen, um die Wahrscheinlichkeit für frühe sexuelle Aktivitäten ihrer Kinder zu reduzieren« (O’Neil, 2002).

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Kapitel 1 · Kritisch denken mit wissenschaftlicher Psychologie

1.3.2 Illusorische Korrelationen Ziel 10: Beschreiben Sie, wie Menschen auf illusorische Korrelationen kommen.

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Illusorische Korrelation (illusory correlation): Wahrnehmung eines nicht existierenden Zusammenhangs.

. Abb. 1.6. Illusorische Korrelation im Alltag Viele Menschen glauben, dass es bei unfruchtbaren Paaren mit größerer Wahrscheinlichkeit zu einer Empfängnis kommt, wenn sie ein Baby adoptieren. Diese Überzeugung entsteht, weil solche Fälle die Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Weniger aufmerksam werden die Fälle registriert, bei denen es trotz Adoption nicht zu einer Empfängnis kommt, oder die Fälle, bei denen es eine Empfängnis ohne Adoption gibt. Um entscheiden zu können, ob es tatsächlich eine Korrelation zwischen Adoption und Empfängnis gibt, brauchen wir die Informationen aus allen vier Zellen der Abbildung (Aus Gilovich 1991)

Korrelationen verdeutlichen Zusammenhänge, die wir andernfalls übersehen würden. Sie bewahren uns auch davor, nicht vorhandene Zusammenhänge zu »sehen«. Eine solche nicht existierende Korrelation, die aber als solche wahrgenommen wird, nennt man illusorische Korrelation. Sobald wir glauben, dass ein Zusammenhang zwischen zwei Faktoren besteht, bemerken wir Anzeichen und erinnern wir uns an Vorfälle, die uns in unserer Vermutung bestätigen (Troller u. Hamilton 1986). So mancher Aberglaube und so manche Fehlannahme lassen sich mit illusorischen Korrelationen erklären, zum Beispiel die Vermutung, dass bei Vollmond mehr Kinder zur Welt kommen oder dass bei ungewollt kinderlosen Paaren, die ein Kind adoptieren, die Wahrscheinlichkeit einer Empfängnis steigt (Gilovitch 1991). Die Paare, bei denen das so ist, erregen unsere Aufmerksamkeit. Die, die ein Kind adoptieren und trotzdem unfruchtbar bleiben, entgehen unserer Aufmerksamkeit. Anders gesagt: Bei einer illusorischen Korrelation verlassen wir uns zu sehr auf die Zelle links oben in . Abb. 1.6 und übersehen die gleichfalls sehr relevanten Informationen in den anderen Zellen. Auf illusorischen Korrelationen basieren zahlreiche Annahmen, an die die Menschen jahrelang geglaubt haben (und manche glauben noch heute daran), beispielsweise die Überzeugung, dass Kinder durch Zucker hyperaktiv werden, dass man sich eine Erkältung holt, wenn man nass und kalt wird und dass ein Wetterwechsel arthritische Beschwerden auslöst. Der Arzt Donald Redelmeier und der Psychologe Amos Tversky (1996) haben 18 arthritische Patienten 15 Monate lang begleitet. Die beiden Wissenschaftler erfassten sowohl die Berichte der Patienten über Schmerzen als auch das tägliche Wetter: Temperatur, Luftfeuchtigkeit und Luftdruck. Trotz der Überzeugungen der Patienten fand sich keine Korrelation zwischen dem Wetter und ihrem Leiden, weder am selben Tag noch an den beiden vorangegangenen oder folgenden Tagen. Aber auch CollegeStudenten sahen eine Korrelation, als man ihnen zufällig zusammengestellte Zahlenkolonnen mit der Überschrift »Arthritische Schmerzen« und »Luftdruck« vorlegte, obwohl es keinerlei Korrelation gab. Wir neigen anscheinend dazu, Muster wahrzunehmen, gleichgültig, ob sie nun vorhanden sind oder nicht. Wir sind empfänglich für dramatische oder ungewöhnliche Vorfälle, deshalb nehmen wir mit großer Wahrscheinlichkeit das Auftreten von zwei solchen Ereignissen hintereinander besonders aufmerksam zur Kenntnis und speichern sie im Gedächtnis. Genauso verhält es sich mit den Krebsheilungen bei positiv denkenden Menschen. Solche Fälle hinterlassen einen starken Eindruck bei Menschen, die glauben, dass eine positive Einstellung Krankheiten entgegenwirkt. Doch um zu erfassen, ob positives Denken tatsächlich eine Wirkung auf Krebs hat, brauchen wir drei weitere Arten von Informationen. Wir brauchen einen Schätzwert darüber, wie viele positiv denkende Menschen nicht geheilt wurden. Dann müssen wir wissen, wie viele Krebspatienten, die sich nicht auf positives Denken stützen, geheilt bzw. nicht geheilt wurden. Ohne diese Vergleichszahlen sagen die Heilungen in einigen wenigen Fällen nichts über die tatsächliche Korrelation zwischen Krankheit und Einstellung aus. (7 Kap. 14 behandelt die Einflüsse von Emotionen auf Gesundheit und Krankheit.) ! Beim zufälligen Zusammentreffen von zwei unabhängigen Ereignissen neigen wir dazu, zu übersehen, dass es sich um einen Zufall handeln kann, und wir nehmen schnell einen Zusammenhang zwischen diesen Ereignissen an. Wir täuschen uns leicht, indem wir einen Zusammenhang sehen, der gar nicht da ist.

35 1.3 · Korrelation

1

1.3.3 Wahrnehmung von Ordnung bei zufälligen Ereignissen Ziel 11: Erklären Sie, warum Menschen dazu neigen, in zufälligen Ereignissen Ordnung wahrzunehmen.

Illusorische Korrelationen haben ihren Ursprung in unserer naturgegebenen Bereitschaft, unserer Welt einen Sinn zu verleihen, eine Eigenschaft, die der Dichter Wallace Stevens unsere »Ordnungswut« nennt. Selbst in zufällig zusammengewürfelten Informationen suchen wir nach Bedeutung und Ordnungsmustern. Und meistens finden wir auch Regelmäßigkeiten, denn eine zufällige Abfolge von Daten sieht häufig nicht zufällig aus. Schauen Sie sich die Ergebnisse beim Münzenwerfen an: Wenn jemand 6-mal eine Münze wirft, welche der folgenden Resultate von Kopf (K) oder Zahl (Z) hat wohl die höchste Wahrscheinlichkeit: KKKZZZ oder KZZKZK oder KKKKKK? Kahneman u. Tversky (1972) fanden, dass den meisten Menschen eine Folge von KZZKZK am wahrscheinlichsten erscheint. Tatsächlich ist die Auftretenswahrscheinlichkeit für alle drei Sequenzen gleich (man könnte auch sagen: sie sind alle gleich unwahrscheinlich). Ein Bridge- oder Pokerblatt durchgehend von 10 bis As (und alles von der Farbe Herz) ist scheinbar ein außergewöhnliches Ereignis, tatsächlich ist es nicht mehr und nicht weniger außergewöhnlich als jede andere Sequenz (. Abb. 1.7). Tatsächlich treten in Zufallssequenzen Muster oder Reihen (wie wiederholte Ziffern) öfter auf, als die Menschen glauben. Um mir das einmal selbst zu demonstrieren – und Sie können das natürlich selbst auch probieren –, habe ich eine Münze 51-mal geworfen. Hier die Ergebnisse: K Z Z Z K K K Z Z

10. 11. 12. 13. 14. 15. 16. 17. 18.

Z Z K K Z Z K Z Z

19. 20. 21. 22. 23. 24. 25. 26. 27.

K K Z Z K Z Z Z K

28. 29. 30. 31. 32. 33. 34. 35. 36.

Z K Z Z Z Z Z Z K

37. 38. 39. 40. 41. 42. 43. 44. 45.

Z Z K Z K K K K Z

46. 47. 48. 49. 50. 51.

K K Z Z Z Z

Beim Anschauen dieser Ergebnisse springen einem Muster in die Augen: Die Würfe 10 bis 22 haben ein fast perfektes Muster von Paaren aus Kopf und Zahl. Von 30 bis 38 hatte ich eine »Pechsträhne« und warf bei acht Würfen nur einmal Kopf. Aber dann war mir Fortuna gnädig, und ich warf bei den nächsten zehn Würfen siebenmal Kopf. Ähnliche Pechsträhnen kommen in etwa so häufig, wie man es bei zufälligen Folgen erwarten würde, beim Basketball, beim Fußball und beim Zusammenstellen eines Portfolios von Kapitalanlagen vor (Gilovich et al. 1985; Malkiel 1989, 1995; Myers 2002). Ob es nun um den Münzwurf, um Basketball oder darum geht, die Leistung eines Anlageberaters zu überprüfen, Zufallsfolgen sehen oft nicht zufällig aus und werden deshalb oft überinterpretiert (»Er hat eine Glückssträhne, lassen wir ihn den Elfmeter ausführen.«). Was beweist nun dieses Muster von Pechsträhnen? Habe ich meine Münze auf irgendeine paranormale Art gesteuert? Bin ich aus meiner Glückssträhne mit Zahlwürfen in eine mit Kopftreffern gerutscht? Aber eine Erklärung ist gar nicht erforderlich, denn das sind genau die Zahlen, die man bei solchen vom Zufall gesteuerten Daten antrifft. Vergleicht man jeden Wurf mit dem nächsten, dann ergibt sich, dass 24 der 50 Würfe jeweils ein anderes Ergebnis erbrachten: Das ist genau das beinahe 50:50-Ergebnis, das beim Münzwurf zu erwarten ist. Trotz des scheinbaren Musters gibt das Ergebnis eines Wurfes keinerlei Hinweis auf das Ergebnis des folgenden Wurfes. Manche Dinge sind jedoch so ungewöhnlich, dass wir nicht ohne weiteres eine zufallsbezogene Erklärung akzeptieren können (wie es beim Münzenwerfen doch der Fall war). Statistiker finden das allerdings weniger geheimnisvoll. Als Evelyn Marie Adams zweimal die New-Jersey-Lotterie gewann, meldeten die Zeitungen, dass die Quote, dieses Kunststück zu vollbringen, bei 1 zu 17 Billionen liegt. Seltsam? Nun, die Chance von 1 zu 17 Billionen ist tatsächlich genau die Chance,

M. Barton

1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9.

. Abb. 1.7. Zwei zufällige Kartenfolgen Die Chancen, das eine oder das andere Blatt zu bekommen, sind genau gleich groß, nämlich 1 zu 2.598.960

Bizarre Sequenz computergenerierter Zufallszahlen Sieht zwar merkwürdig aus, ist aber tatsächlich nicht unwahrscheinlicher als jede andere Zahlenfolge

36

Kapitel 1 · Kritisch denken mit wissenschaftlicher Psychologie

mit der eine bestimmte Person, die zwei Lose der New-Jersey-Lotterie kauft, zweimal gewinnt. Die Statistiker Stephen Samuels und George McCabe (1989) berechneten, dass bei den Millionen Menschen, die ein Los der staatlichen Lotterie kaufen, ziemlich sicher irgendeiner irgendwann zweimal den Jackpot knacken wird. Tatsächlich können die unglaublichsten Dinge geschehen, sagen die Statistiker Persi Diaconis und Frederick Mosteller (1989), »wenn die Stichprobe nur groß genug ist«. »Ein wirklich außergewöhnlicher Tag wäre ein Tag ohne außergewöhnliche Ereignisse«, fügt Diaconis hinzu. Ein Ereignis, das täglich nur einen Menschen aus einer Milliarde betrifft, kommt immerhin sechsmal täglich vor, das heißt, 2000-mal pro Jahr.

1

Lernziele Abschnitt 1.3 Korrelation Ziel 8: Beschreiben Sie positive und negative Korrelationen und erklären Sie, wie Korrelationsmaße etwas zum Vorhersageprozess beitragen können. Der Korrelationskoeffizient ist ein statistisches Maß für die Stärke und Dauerhaftigkeit eines Zusammenhangs zwischen zwei Faktoren. Bei einer positiven Korrelation (von größer als 0 bis +1,00) wachsen die beiden Faktoren zusammen an und nehmen zusammen wieder ab. Bei einer negativen Korrelation (von kleiner als 0 bis –1,00) nimmt eine Variable in dem Maße zu, wie die andere abnimmt. Streudiagramme (Scatterplots) zeigen eine mögliche Korrelation und damit einen Zusammenhang, den wir sonst nicht wahrgenommen hätten. Ziel 9: Erklären Sie, warum es durch Korrelationsforschung nicht gelingen kann, Belege für Ursache-Wirkungs-Beziehungen zu liefern. Eine Korrelation ist ein Hinweis auf einen möglichen Ursache-WirkungsZusammenhang; aber sie ist kein Beweis für Kausalität oder, wenn Kausalität vorhanden ist, für die Richtung des Einflusses. Ursache für die Korrelation kann ein dritter Faktor sein.

1.4

Ziel 10: Beschreiben Sie, wie Menschen auf illusorische Korrelationen kommen. Illusorische Korrelationen sind zufällige Ereignisse, die wir bemerken und bei denen wir einen Zusammenhang zu erkennen glauben. Sie sind aus unserer Anfälligkeit für dramatische oder ungewöhnliche Ereignisse zu erklären. Glauben wir erst einmal, dass zwei Dinge zusammenhängen, dann neigen wir dazu, Beispiele zu beobachten und zu erinnern, durch die diese Überzeugung bestätigt wird. Ziel 11: Erklären Sie, warum Menschen dazu neigen, in zufälligen Ereignissen Ordnung wahrzunehmen. Bei dem Versuch, der Welt um uns herum einen Sinn zu geben, suchen wir nach Mustern. In Mengen zufälliger Daten kommen natürlich Muster und Sequenzen vor, aber wir neigen dazu, diese Muster als bedeutungsvolle Zusammenhänge zu interpretieren. > Denken Sie weiter: Sind Sie in letzter Zeit auf ein Beispiel für Korrelationsforschung gestoßen (Berichte von Freunden oder in den Medien)? Wurde da eine nicht gerechtfertigte oder unhaltbare Schlussfolgerung gezogen?

Experiment

»Glücklich ist, wer die Ursachen der Dinge erkennen kann«, sagte der römische Dichter Vergil. Wir führen endlose Debatten über die Frage, warum wir tun, was wir tun. Warum rauchen Menschen? Warum bekommt ein Mädchen ein Kind, während es selbst noch ein Kind ist? Warum machen wir Dummheiten, wenn wir betrunken sind? Warum gibt es Jugendliche, die so gestört sind, dass sie auf ihre Klassenkameraden schießen? Zwar kann die Psychologie keine direkte Antwort auf solche Fragen geben, doch kann sie helfen zu verstehen, wie es zum Drogenmissbrauch oder zu bestimmten sexuellen Verhaltensweisen kommt, was wir denken, wenn wir uns betrinken, oder wie Aggression entsteht.

1.4.1 Ursache und Wirkung Ziel 12: Erklären Sie, wie Experimente Forschern helfen, Ursache und Wirkung auseinander zu halten.

Viele Faktoren beeinflussen unser Verhalten im Alltag. Um Ursache und Wirkung auseinander zu halten – etwa bei der Suche nach den Ursachen der Depression –, kontrollieren Psychologen andere Faktoren statistisch. Ein Beispiel: Viele Untersuchungen ergaben, dass ge-

37 1.4 · Experiment

stillte Kinder in Intelligenztests etwas besser abschneiden als Flaschenkinder, die mit Kuhmilch ernährt wurden (Angelsen et al. 2001; Mortensen et al. 2002; Quinn et al. 2001). Muttermilch korreliert leicht positiv mit späterer Intelligenz. Bedeutet das, dass klügere Mütter (die häufiger stillen) klügere Kinder haben? Oder liegt es daran, wie manche Wissenschaftler glauben, dass die Nährstoffe in der Muttermilch die Gehirnentwicklung fördern? Um diese Frage zu beantworten, haben Forscher folgende Faktoren »kontrolliert«, d. h. die folgenden Unterschiede statistisch ausgeschaltet: Alter, Bildungsgrad und Intelligenz der Mutter. Und auch da zeigte sich, dass gestillte Kinder im Kleinkindalter eine etwas höhere Intelligenz aufwiesen. Will man Ursache und Wirkung voneinander trennen, dann ist der beste und sauberste Weg immer noch das Experiment. Mit Hilfe eines Experiments kann sich der Forscher auf die möglichen Wirkungen eines oder mehrerer Faktoren konzentrieren, indem er 4 den interessierenden Faktor manipuliert und 4 andere Faktoren konstant hält (»kontrolliert«). Es ist klar, dass bei Korrelationen zwischen der Ernährung des Kleinkindes und späterer Intelligenz nicht alle anderen möglichen Faktoren konstant gehalten (kontrolliert) werden können, deshalb entschloss sich ein britisches Forscherteam unter Alan Lucas zu einem Experiment mit 424 Säuglingen, die als Frühgeburten im Krankenhaus bleiben mussten. Mit Erlaubnis der Eltern wiesen die Wissenschaftler einen Teil der Säuglinge einer Gruppe zu, die mit Fertigmilch ernährt wurde, während die Kinder der anderen Gruppe gespendete Muttermilch erhielten. Im Alter von 8 Jahren wurden die Kinder einem Intelligenztest unterzogen. Dabei erzielten die Muttermilchkinder signifikant höhere Werte als die Kinder, die Fertigmilch erhalten hatten. Natürlich erlaubt ein einzelnes Experiment keine endgültige Schlussfolgerung, doch in diesem Fall konnten die Wissenschaftler durch die Randomisierung der Gruppen alle Faktoren mit Ausnahme der Ernährung konstant halten. Auf diese Weise konnte man andere Erklärungen ausschalten und gleichzeitig die Schlussfolgerung stützen, dass tatsächlich, soweit es um die Entwicklung der Intelligenz bei Frühgeburten geht, Stillen die bessere Art der Ernährung darstellt. (Anmerkung: Den anderen Kindern bei diesem Experiment wurde kein Schaden zugefügt; denn sie erhielten die normale Fertigmilch.) Verändert sich ein Verhalten (beispielsweise die Testleistung), wenn wir den Experimentalfaktor variieren (so wie bei der Ernährung dieser Kinder), dann wissen wir, dass dieser Faktor einen Effekt hat. ! Im Gegensatz zu Korrelationsstudien, die natürlich auftretende Zusammenhänge aufdecken, wird bei einem Experiment ein Faktor manipuliert, um seinen Effekt zu bestimmen. Wenn man sich kritisch mit der Psychologie als Wissenschaft auseinander setzen will, besteht ein zentraler Punkt darin, dass man versteht, was ein Experiment ist (7 die folgenden Experimente).

1.4.2 Therapieevaluation Ziel 13: Erklären Sie, warum unser Vertrauen in experimentelle Befunde auf dem Doppelblindverfahren und der zufälligen Zuweisung von Personen zu Versuchsbedingungen beruht.

Unsere Neigung, nach neuen Heilmitteln zu suchen, wenn wir krank oder niedergeschlagen sind, kann irreführende Belege hervorbringen. Wenn wir am dritten Tag einer Erkältung Vitamin C nehmen und feststellen, dass sich die Symptome bessern, dann führen wir das auf die Tabletten zurück und nicht darauf, dass die Erkältung automatisch nach ein paar Tagen abklingt. Wenn wir bei der ersten Prüfung beinahe durchfallen, daraufhin subliminal dargebotene »SuperlearningKassetten« anhören und in der nächsten Prüfung besser abschneiden, dann werden wir das wahrscheinlich eher der Wirkung der Kassette zuschreiben als der Tatsache, dass wir unser normales Leistungsniveau wiedergefunden haben. Im 18. Jahrhundert schien Aderlass ein wirksames Heilmittel zu sein. Manchmal ging es dem Kranken nach der Behandlung besser; war das nicht der Fall, dann schloss der Arzt daraus, dass die Krankheit schon zu weit fortgeschritten war (wir wissen heute natürlich, dass der Aderlass eine schlechte Form der Behandlung ist). Ganz gleich,

1

Experiment (experiment): Forschungsmethode, bei der der Forscher einen oder mehrere Faktoren (unabhängige Variablen) manipuliert, um die Auswirkung auf eine Verhaltensweise oder einen mentalen Prozess (abhängige Variable) zu beobachten. Durch Zufallszuweisung der Teilnehmer zu verschiedenen Gruppen (randomisierte Gruppen) können andere wichtige Faktoren kontrolliert werden.

38

1

Kapitel 1 · Kritisch denken mit wissenschaftlicher Psychologie

Doppelblindversuch (double-blind procedure): experimentelles Vorgehen, bei dem sowohl die Teilnehmer an dem Versuch als auch die Mitarbeiter des Versuchsleiters nicht wissen (blind sind), ob die Teilnehmer eine Behandlung oder ein Placebo erhalten. Diese Methode wird i. Allg. bei der Evaluation von Studien zur Wirkung von Medikamenten angewandt.

Placeboeffekt (placebo effect): Ergebnis eines Experiments, bei dem die Wirkung ausschließlich durch die Erwartung einer Wirkung zustande kommt. Jede Auswirkung auf das Verhalten, die durch die Verabreichung einer unwirksamen Substanz hervorgerufen wird, von der der Versuchsteilnehmer jedoch annimmt, dass sie wirkt, ist auf den Placeboeffekt zurückzuführen.

Versuchsbedingung (experimental condition): Bedingung eines Versuchs, bei dem die Teilnehmer einer Behandlung unterzogen werden, die in diesem Fall die unabhängige Variable darstellt.

Kontrollbedingung (control condition): Bedingung eines Versuchs, die im Gegensatz zur Versuchsbedingung steht und bei der Evaluation der Wirkung als Vergleich herangezogen wird.

Randomisierung oder Zufallszuweisung (random assignment): Die Teilnehmer an der Versuchs- und an der Kontrollbedingung werden zufällig ausgewählt. Dadurch wird es höchst unwahrscheinlich, dass die beiden Gruppen sich vorher bereits unterscheiden und somit der Effekt nicht eindeutig auf die Versuchsbedingungen zurückgeführt werden kann.

ob ein Heilmittel tatsächlich heilt oder nicht, es wird immer begeisterte Anhänger finden. Um festzustellen, ob es tatsächlich heilt, müssen wir ein Experiment durchführen. In genau dieser Weise werden neue Medikamente und neue psychologische Therapiemethoden evaluiert (7 Kap. 17). Viele dieser Untersuchungen verwenden das Doppelblind-Versuchsdesign, bei dem die Teilnehmer nicht wissen, welche Behandlung sie erhalten oder ob sie überhaupt behandelt werden. Eine Gruppe erhält das Heilmittel, die andere erhält eine Pseudobehandlung, ein wirkungsloses Placebopräparat (z. B. eine Tablette ohne Wirkstoff). Oft wissen weder die Teilnehmer noch die Assistenten des Versuchsleiters, welche Gruppe das Medikament erhält. Mit Hilfe eines solchen Doppelblindversuchs können die Wissenschaftler die tatsächliche Wirkung einer Behandlung prüfen, unabhängig von der Begeisterung der Teilnehmer (oder des Versuchsleiters) für das Medikament oder die Behandlung und unabhängig von der heilenden Kraft des Glaubens. Der Placeboeffekt ist bei Schmerzen, Depression und Angststörungen gut dokumentiert (Kirsch u. Saphirstein 1998). Schon der bloße Gedanke, dass man behandelt wird, kann die Lebensgeister wieder wecken, den Körper entspannen und zu einer Verringerung der Symptome führen. Der Doppelblindversuch ist eine Möglichkeit, eine Versuchsbedingung zu schaffen, bei der die Teilnehmer eine Behandlung oder ein Medikament bekommen, und eine Kontrollbedingung, bei der dies nicht der Fall ist. Da die Zuweisung zu der jeweiligen Gruppe nach dem Prinzip der Randomisierung erfolgt, können die Forscher einigermaßen sicher sein, dass die Gruppen in Bezug auf andere Faktoren – Alter, Einstellung und weitere Merkmale – ansonsten so ähnlich wie möglich sind. Dank einer Randomisierung, wie sie bei dem Versuch mit den Muttermilchbabys vorgenommen wurde, können wir auch gewährleisten, dass eventuelle spätere Unterschiede zwischen den Teilnehmern an der Experimentalgruppe und denen der Kontrollgruppe gewöhnlich das Ergebnis der Behandlung bzw. des Medikaments sind. Ein weiteres Beispiel: Auf den Rat ihres Arztes hin unterzogen sich Millionen von Frauen nach der Menopause einer Hormonersatztherapie. In Korrelationsstudien hatte man gefunden, dass Frauen, die Hormone nahmen, weniger häufig an Herzkrankheiten litten, einen Schlaganfall hatten oder Darmkrebs bekamen. Aber vielleicht waren diese Frauen auch gesundheitsbewusster, gingen öfter zum Arzt, trieben Sport und aßen vernünftig. Die Frage war demnach, ob die Hormone die Frauen gesünder machten oder ob sich gesunde Frauen eher dieser Therapie unterziehen. Die staatliche Gesundheitsbehörde der USA veröffentlichte 2002 das überraschende Ergebnis eines groß angelegten Versuchs, bei dem 16.608 gesunde Frauen per Zufallszuweisung entweder eine Hormontherapie oder ein Placebo erhielten. Das schreckliche Ergebnis war: Beim Vergleich mit den Frauen der Kontrollgruppe zeigte sich, dass die Frauen, die Hormone nahmen, mehr gesundheitliche Probleme hatten (Love 2002).

1.4.3 Unabhängige und abhängige Variablen Ziel 14: Erklären Sie den Unterschied zwischen unabhängiger und abhängiger Variable.

Unabhängige Variable (independent variable): Faktor im Experiment, der manipuliert wird und dessen Wirkung untersucht wird.

Die Viagrastudie ist ein noch überzeugenderes Beispiel. Viagra erhielt die Zulassung, nachdem das Präparat in 21 klinischen Versuchen getestet worden war. Zu diesen Versuchen gehörte auch ein Experiment, bei dem die Wissenschaftler 329 Männer, die an Impotenz litten, entweder einer Experimentalgruppe (die Viagra erhielt) oder einer Kontrollgruppe (die ein Placebo erhielt) zuwiesen. Das Experiment war als Doppelblindversuch angelegt, d. h. weder die Teilnehmer noch die Assistenten, die das Präparat austeilten, wussten, wer Viagra und wer das Placebo erhielt. Das Ergebnis: Mit der Höchstdosis Viagra war der Geschlechtsverkehr in 69% der Fälle erfolgreich; bei den Männern, die das Placebo erhalten hatten, waren es nur 22% (Goldstein et al. 1998). Viagra hatte demnach einen Effekt. Dieses einfache Experiment manipulierte nur das Präparat, also nur einen Faktor. Diesen Experimentalfaktor nennen wir die unabhängige Variable. Unabhängig deshalb, weil wir sie bei randomisierten Gruppen ohne Berücksichtigung anderer Faktoren variieren können wie etwa das Alter der Männer, ihr Körpergewicht oder ihre Persönlichkeit (dies sollte mit Hilfe der Zufallszuweisung kontrollierbar sein). Ein Experiment untersucht die Wirkung von einer oder mehreren

39 1.4 · Experiment

1

. Abb. 1.8. Experiment Um Kausalität festzustellen, weisen Psychologen einige Versuchsteilnehmer einer experimentellen Behandlung zu, andere einer Kontrollbedingung. Durch die Messung einer abhängigen Variable (Intelligenztestwert) wird die Wirkung der unabhängigen Variable bestimmt (Art der Milch)

unabhängigen Variablen auf ein messbares Verhalten. Das, was untersucht und gemessen wird (etwa eine bestimmte Verhaltensweise) wird abhängige Variable genannt, weil es sich unter dem Einfluss des Experiments verändern kann. Beide Variablen werden genauestens operationalisiert. Die operationale Definition der Variablen spezifiziert den Prozess, der die unabhängige Variable manipuliert (bei dem Viagraexperiment war das die Gabe von Viagra oder einem Placebo bzw. die Viagradosis) und die abhängige Variable misst (im Viagra-Experiment die Fragen, mit denen die Reaktionen der Männer erfasst wurden). Diese operationalen Definitionen der Variablen sind die Antwort auf die Frage an den Forscher »Was haben Sie gemacht?«. Sie werden so genau definiert, damit andere die Untersuchung wiederholen (replizieren) können (zu einem weiteren Versuchsdesign . Abb. 1.18). Experimente können auch hilfreich dabei sein, sozialpolitische Programm zu evaluieren. Lassen sich durch Bildungsprogramme für kleine Kinder die Chancen benachteiligter Menschen erfolgreich verbessern? Worin bestehen die Wirkungen unterschiedlicher Kampagnen gegen das Rauchen? Lässt sich durch Sexualerziehung in der Schule die Anzahl der Schwangerschaften unter Mädchen verringern? Um diese Fragen zu beantworten, können wir Experimente entwerfen: Wenn ein Programm allgemein gutgeheißen wird, aber die Ressourcen knapp sind, können wir ein Losverfahren dazu nutzen, einige Personen (oder Regionen) nach zufälligen Kriterien einem neuen Programm zuzuweisen und andere einer Kontrollbedingung. Sollten sich die beiden Gruppen später unterscheiden, wurde der Effekt der Intervention bestätigt (Passell 1993).

Abhängige Variable (dependent variable): Faktor im Experiment, der gemessen wird (in der Psychologie handelt es sich dabei i. Allg. um ein Verhalten oder einen mentalen Prozess). Diese Variable kann sich als Reaktion auf die Manipulationen der unabhängigen Variablen verändern.

! Merken Sie sich die Unterscheidung zwischen Zufallsstichprobe bei Befragungen und Zufallszuweisung bei Experimenten. Mit Hilfe der Zufallsstichprobe können wir die Ergebnisse der Befragung einer größeren Population generalisieren. Mit der Zufallszuweisung können wir äußere Einflüsse gering halten und den Zusammenhang zwischen Ursache und Wirkung deutlicher herausarbeiten.

Lassen Sie uns rekapitulieren: Eine Variable ist ein Faktor, den man variieren (verändern) kann: Säuglingsnahrung, Intelligenz, Fernsehkonsum – alles, was innerhalb der Grenzen des Möglichen und des ethisch Vertretbaren bleibt. Ein Experiment dient dazu, eine unabhängige Variable zu manipulieren, eine abhängige Variable zu messen und alle anderen Variablen zu kontrollieren. Ein . Tabelle 1.3. Forschungsmethoden im Überblick

Forschungsmethode

Forschungsziel

Praktische Durchführung

Manipuliert wird

Mögliches Problem

Beschreibung

Verhalten beobachten und beschreiben

Fallstudien, Befragungen oder naturalistische Beobachtung

Nichts

Nicht repräsentative Stichprobe; Urteilsfehler bei der Beobachtung

Korrelationsstudie

Aufdeckung naturgegebener Zusammenhänge

Statistische Berechnung der Zusammenhänge, dient manchmal zur Auswertung der Ergebnisse einer Befragung

Nichts

Macht keine Aussage über Ursache und Wirkung

Experiment

Erkundung von UrsacheWirkungs-Zusammenhängen

Ein oder mehrere Faktoren werden manipuliert; Zufallszuweisung

Die unabhängige(n) Variable(n)

Manchmal nicht durchführbar; Ergebnisse nicht immer generalisierbar

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Kapitel 1 · Kritisch denken mit wissenschaftlicher Psychologie

Experiment besteht aus mindestens zwei verschiedenen Gruppen: einer Versuchs- oder Experimentalgruppe und einer Vergleichs- oder Kontrollgruppe. Die Zufallszuweisung hat zur Folge, dass die Ausgangsbedingungen in beiden Gruppen so ähnlich wie möglich gehalten werden. Dadurch kann das Experiment Aufschluss über die Wirkung von mindestens einer unabhängigen Variable (dem, was wir manipulieren) auf mindestens eine abhängige Variable (dem Ergebnis, das wir erfassen) geben. In . Tab. 1.3 werden die wichtigsten Merkmale der psychologischen Forschungsmethoden miteinander verglichen.

1

Lernziele Abschnitt 1.4 Das Experiment Ziel 12: Erklären Sie, wie Experimente etwas dazu beitragen, dass Forscher Ursache und Wirkung auseinander halten können. Psychologen führen Experimente durch, um Zusammenhänge zwischen Ursache und Wirkung aufzudecken. Durch die Manipulierung eines oder mehrerer interessierender Faktoren und durch die Kontrolle anderer Faktoren lässt sich feststellen, ob die unabhängigen Variablen ein bestimmtes Verhalten oder einen mentalen Prozess beeinflussen. Ziel 13: Erklären Sie, warum unser Vertrauen in experimentelle Befunde auf dem Doppelblindverfahren und der zufälligen Zuordnung zu Versuchsbedingungen beruht. Beim Doppelblindversuch wissen weder die Forscher noch die Versuchsteilnehmer, ob die Versuchsteilnehmer die Behandlung oder ein Placebo bekommen. Dies wirkt der Möglichkeit entgegen, dass ein Placeboeffekt oder die Erwartungen des Forschers unabsichtlich die Ergebnisse der Studie beeinflussen. Durch eine Zufallszuweisung zu den Bedingungen

1.5

werden die vorher bestehenden Unterschiede zwischen den Gruppen möglichst gering gehalten. Die Teilnehmer werden per Zufall der Experimentalgruppe (der Gruppe, die die Behandlung bekommt) oder der Kontrollgruppe (einer Gruppe, die keine Behandlung oder eine andere Variante der Behandlung bekommt) zugewiesen. Ziel 14: Erklären Sie den Unterschied zwischen unabhängiger und abhängiger Variable. Die unabhängige Variable ist der Faktor, den man manipuliert, um den Effekt zu untersuchen. Die abhängige Variable ist der Faktor, den man misst, um etwaige Veränderungen aufzudecken, die in Reaktion auf diese Manipulationen auftreten. > Denken Sie weiter: Sollten Sie als Psychologe oder Psychologin in der Forschung arbeiten, welche Fragen würden Sie dann gern mit Hilfe von Experimenten näher erforschen?

Grundlagen statistischer Argumentation

Ziel 15: Erklären Sie, warum die Prinzipien der Statistik wichtig sind, und nennen Sie ein Beispiel dafür, wie sie im Alltag genutzt werden.

Nachdem wir die Daten gewonnen haben, müssen sie geordnet und zusammengefasst werden, damit man mit Hilfe statistischer Methoden Schlussfolgerungen ziehen kann. Die statistischen Methoden unserer Zeit sind Werkzeuge, mit deren Hilfe man Ergebnisse sehen und interpretieren kann, die ohne statistische Aufbereitung nicht erkennbar wären. Oft wird die Wirklichkeit durch spontane Schätzungen verfälscht, was wiederum dazu führt, dass die Öffentlichkeit falsche Informationen erhält. Jemand wirft eine große runde Zahl in die Diskussion. Andere nehmen sie auf, und in kürzester Zeit wird aus der großen runden Zahl eine Fehlinformation. Hier ein paar Beispiele: 4 10% der Bevölkerung sind homosexuell (Männer und Frauen). Oder sind es nur 2–3%, wie das Ergebnis verschiedener Befragungen lautet? 4 10% der Deutschen (8 Mio.) haben keine Wohnung. Oder sind es doch nur etwa 345.000, wie die Schätzung der BAG Wohnungslosenhilfe für das Jahr 2004 besagt? 4 Wir nutzen normalerweise nur 10% unseres Gehirns. Oder doch fast 100%? (7 Kap. 2; welche 90% – oder auch nur 10% – würden Sie denn opfern?) 4 Wir erinnern uns an 10% dessen, was wir lesen, an 20% dessen, was wir hören, an 30% dessen, was wir sehen, und an 80% dessen, was wir sagen. Dies berichtet zumindest die British Audio Visual Society (Genovese 2004). Oder sind es, wie es in einem Buch über Lernen heißt, 20% dessen, was wir lesen, 30% dessen, was wir hören, 40% dessen, was wir sehen, und 50% dessen, was wir sagen?

41 1.5 · Grundlagen statistischer Argumentation

! Große runde Zahlen, die nicht belegt sind, sollten Sie immer mit Vorsicht betrachten. Statt solche Angaben einfach zu schlucken, sollten Sie lieber noch einmal nachdenken und einfache statistische Grundsätze auf derartige Argumentationen anwenden.

1.5.1 Datenbeschreibung Ziel 16: Erklären Sie, warum Daten durch Säulendiagramme eventuell irreführend dargestellt werden.

Sind die Rohdaten gesammelt, besteht die erste Aufgabe der Wissenschaftler darin, sie zu ordnen. Eine Möglichkeit dafür ist die Verwendung eines einfachen Säulendiagramms (. Abb. 1.9), das z. B. die Verteilung von Lastwagen verschiedener Marken zeigt, die nach 10 Jahren noch in Betrieb sind. Bei derartigen Diagrammen ist allerdings Vorsicht geboten. Je nachdem, was betont werden soll, kann das Diagramm so gezeichnet werden, dass Unterschiede gering oder groß ausfallen. Das kann man in der Abbildung leicht sehen. ! Lassen Sie sich also nichts vormachen. Wenn Ihnen in Zeitschriften oder im Fernsehen Abbildungen präsentiert werden, lesen Sie die Bezeichnung der Achsen und achten Sie auf den dargestellten Bereich (Variationsbreite, »range«).

Maße der zentralen Tendenz Ziel 17: Beschreiben Sie die drei Maße der zentralen Tendenz und geben Sie an, welches am meisten durch Extremwerte beeinflusst wird.

Der nächste Schritt bei der Bearbeitung der Rohdaten ist die Zusammenfassung mit Hilfe der Maße zur »zentralen Tendenz«, eines einziges Wertes, mit dessen Hilfe die Gesamtmenge der Werte dargestellt wird. Die einfachste Maßzahl ist der Modalwert, das ist der Wert, der am häufigsten auftritt (bzw. die Werte, die am häufigsten auftreten). Die bekannteste Maßzahl ist der Mittelwert, das arithmetische Mittel. Dabei werden sämtliche Werte addiert und durch die Anzahl der Werte dividiert. Der Median teilt die Menge der Daten genau in der Mitte, d. h., wenn Sie die Werte graphisch anordnen, liegt die eine Hälfte unter dem Median, die andere Hälfte darüber. Die Maße der zentralen Tendenz bringen die Daten in eine gewisse Ordnung. Doch achten Sie darauf, was mit dem Mittelwert geschieht, wenn die Verteilung nach einer Seite hängt, also schief ist. Wenn wir Daten betrachten, die das Einkommen beschreiben, dann berichten Median,

Modalwert (mode): der in einer Verteilung am häufigsten auftretende Wert. Mittelwert oder arithmetisches Mittel (mean): wird berechnet durch die Addition sämtlicher Werte; diese Summe wird durch die Gesamtzahl der Werte dividiert. Median (median): teilt die Werte einer Verteilung genau in der Mitte. Eine Hälfte der Werte liegt unterhalb, die andere Hälfte oberhalb des Medianwertes.

. Abb. 1.9a, b. Achten Sie auf die Skaleneinteilung Ein amerikanischer Lastwagenhersteller wollte die Haltbarkeit von Lastwagen verschiedener Marken – einschließlich seiner eigenen – graphisch darstellen (a) und dadurch die bessere Qualität seines Produktes hervorheben. Sie können jedoch leicht erkennen, dass die scheinbaren Unterschiede lediglich auf den dargestellten Skalenausschnitt zurückzuführen sind: Die Unterschiede verschwinden fast völlig, wenn die Skala verändert wird (b)

a

b

1

42

Kapitel 1 · Kritisch denken mit wissenschaftlicher Psychologie

1

1 Familie

Einkommen pro Familie in tausend Euro

. Abb. 1.10. Schiefe Verteilung Diese graphische Darstellung der Einkommensverteilung illustriert die drei Maße der zentralen Tendenz: Modalwert, Median und Mittelwert. Beachten Sie, wie einige wenige hohe Einkommen den Mittelwert – den Dreh- und Angelpunkt, der die Einkünfte oberhalb und unterhalb austariert – nach oben verschieben

Der Durchschnittserwachsene hat einen Eierstock und einen Hoden.

Modal- und Mittelwert jeweils sehr unterschiedliche Geschichten (. Abb. 1.10). Das liegt daran, dass der Mittelwert durch ein paar Extremwerte verfälscht wird. Wenn sich Bill Gates, der Gründer von Microsoft, in ein kleines Café setzt, steigt mit einem Mal das mittlere Einkommen (Mittelwert) der dort Versammelten enorm an: Der Durchschnittsgast wird zum Milliardär. Wenn Sie das verstanden haben, können Sie nachvollziehen, weshalb eine englische Tageszeitung mit folgender Schlagzeile erscheinen konnte: »Das Einkommen von 62% der Bevölkerung liegt unter dem Durchschnitt« (Waterhouse 1993). Weil die untere Hälfte der englischen Arbeitnehmer nur ein Viertel des gesamten Volkseinkommens erhält, liegt das Einkommen der meisten Engländer unter dem Mittelwert. Das gilt aber nicht nur für die Engländer, sondern ist in allen Ländern der Erde so. Auch die Einkommen von Profisportlern bilden eine schiefe Verteilung. So verdienten in der Spielsaison 1998/99 deutsche Fußballer im Durchschnitt 830.000 DM (420.000 EUR), wobei die Gehälter von 50% der Spieler unter 550.000 DM (280.000 EUR) und damit deutlich unter dem Mittelwert lagen (Swieter 2002). Die schiefe Verteilung ergab sich dabei aus den Spitzengehältern einiger Superstars, die damals bis zu 6,5 Mio. DM (3,3 Mio. EUR) verdienten. (Im Jahr 2003 soll laut dem französischen Fußballmagazin »France Football« das Gehalt von Oliver Kahn bereits bei 7,65 Mio. EUR gelegen haben, was sicher nicht zu einer gleichmäßigeren Verteilung geführt haben dürfte.) In den Vereinigten Staaten beschrieben die Befürworter und die Gegner die Steuerbefreiungen im Jahr 2003 mit Hilfe unterschiedlicher Statistiken, die aber beide stimmten. Das Weiße Haus erklärte, dass »92 Millionen Amerikaner eine durchschnittliche Steuerbefreiung von 1083 Dollar bekommen werden«. Die Gegner stimmten zu, merkten jedoch an, dass 50 Millionen Steuerzahler keine Steuerbefreiung bekämen und dass die Hälfte der 92 Millionen, die einen Nutzen von der Steuerreform hätten, weniger als 100 Dollar erhielten (Krugman 2003). Mittelwert und Median besagen beide etwas Wahres, aber eben auch etwas Unterschiedliches. ! Achten Sie immer darauf, welches Maß der zentralen Tendenz einem Bericht zugrunde liegt. Handelt es sich dabei um den Mittelwert, dann schauen Sie nach, ob nicht ein paar untypische Werte den Mittelwert verzerren.

Maße der Variabilität (Dispersionsmaße)

C. Styrsky

Ziel 18: Beschreiben Sie zwei Maße der Variabilität.

»Schatz, die Weltbevölkerung hat sich in den letzten 100 Jahren verdreifacht, während unsere natürlichen Ressourcen kontinuierlich abnehmen…«

Die Maße der zentralen Tendenz können uns bereits eine gewisse Menge an Informationen vermitteln. Es ist allerdings auch hilfreich, über die Variabilität (Streuung) innerhalb der Datenmenge Bescheid zu wissen, beispielsweise, ob die Werte dicht beieinander liegen oder sehr unterschiedlich ausfallen. Der Mittelwert einer Stichprobe mit geringer Variabilität sagt mehr aus als der Mittelwert von Daten mit hoher Variabilität. Nehmen wir einmal die Handballer als Beispiel: Von einer Spielerin, die in den ersten zehn Spielen der Saison jeweils zwischen vier und sechs Treffer erzielte, erwarten wir, dass sie in ihrem nächsten Spiel etwa fünfmal trifft. Hätte ihre Trefferquote zwischen zwei und zehn geschwankt, dann könnten wir unserer Prognose nicht allzu sehr vertrauen.

1

43 1.5 · Grundlagen statistischer Argumentation

. Tabelle 1.4. Die Standardabweichung ist viel informativer als nur der Mittelwert Anmerkung: Beachten Sie bitte, dass die Testwerte in Klasse A und Klasse B denselben Mittelwert (80) aufweisen, aber ganz unterschiedliche Standardabweichungen. Beides zusammen sagt mehr darüber aus, welche Leistungen die Schülerinnen und Schüler in jeder der beiden Klassen wirklich zeigten.

Testwerte in Klasse A

Testwerte in Klasse B

Testwert

Abweichung vom Mittelwert

72

–8

64

60

–20

400

74

–6

36

60

–20

400

77

–3

9

70

–10

100

79

–1

1

70

–10

100

82

+2

4

90

+10

100

84

+4

16

90

+10

100

85

+5

25

100

+20

400

87

+7

49

100

+20

400

Summe der (Abweichungen)2 = 204

Summe = 640

Summe = 640

Quadrierte Abweichung

Testwert

Mittelwert = 640 : 8 = 80

Mittelwert = 640 : 8 = 80

Standardabweichung =

Standardabweichung =

Die Variationsbreite der Daten, d. h. der Abstand zwischen dem höchsten und dem niedrigsten Wert, liefert nur eine grobe Schätzung der Variation, denn schon ein paar »Ausreißer« können eine sonst durchaus einheitliche Gruppe sprengen. Wir haben in . Abb. 1.10 gesehen, wie zwei Einkommen von 475.000 EUR und 710.000 EUR für eine fälschlich viel zu große Variationsbreite sorgen. Ein besserer Standard, um zu erfassen, wie stark die Werte voneinander abweichen, ist die Standardabweichung, die die Streuung der Daten um den Mittelwert angibt. Damit lässt sich besser erkennen, ob die Daten eng beieinander liegen oder über die gesamte Variationsbreite verstreut sind. In die Berechnung der Standardabweichung fließen Informationen über jeden einzelnen Messwert ein (. Tab. 1.4). Ein Beispiel: Wenn eine Universität nur Studenten mit einem bestimmten Intelligenz- und Bildungsniveau aufnimmt, dann wird die Standardabweichung der Ergebnisse eines Intelligenztests mit dieser Population deutlich geringer sein als die Standardabweichung bei einem Intelligenztest, der mit einer beliebigen Population außerhalb der Universität durchgeführt wird.

1.5.2 Inferenzstatistik Daten sind mehrdeutig. Wenn sich das Durchschnittsergebnis einer Gruppe (z. B. die Intelligenztestwerte der Muttermilchbabys) deutlich von dem der anderen Gruppe (der Fertigmilchbabys) unterscheidet: Wie können wir sicher sein, dass der Unterschied tatsächlich besteht und nicht durch zufällige Fluktuationen in der Stichprobe hervorgerufen wurde? Wie viel Vertrauen können wir in unsere Schlussfolgerung setzen, dass die beobachtete Differenz auch der tatsächlichen Differenz entspricht?

Wann ist ein beobachteter Unterschied reliabel (zuverlässig)? Ziel 19: Geben Sie drei Prinzipien an, mit deren Hilfe man über Stichproben hinweg generalisieren kann.

Wenn wir entscheiden müssen, ob unser Ergebnis zuverlässig genug ist, um eine Generalisierung zu erlauben, müssen wir drei Grundsätze beachten.

Abweichung vom Mittelwert

Quadrierte Abweichung

Summe der (Abweichungen)2 = 2000

Variationsbreite (range): Differenz zwischen dem höchsten und dem niedrigsten Wert einer Verteilung.

Standardabweichung (standard deviation): berechnete Maßzahl, die die Streuung der Daten um den Mittelwert angibt.

44

Kapitel 1 · Kritisch denken mit wissenschaftlicher Psychologie

1. Nur repräsentative Stichproben sind aussagekräftig. Nicht die außergewöhnlichen und denkwürdigsten Einzelfälle, die man an den Rändern einer Verteilung findet (denken Sie an das Einkommen von Bill Gates), sind die beste Grundlage für eine Verallgemeinerung, sondern eine repräsentative Stichprobe von Fällen. Keine Studie umfasst eine repräsentative Stichprobe der gesamten Menschheit. Deshalb muss man darauf achten, aus welcher Population eine Studie ihre Stichprobe genommen hat. 2. Beobachtungsdaten mit geringer Streuung sind zuverlässiger als solche mit großer Streuung. Wir haben dazu das Beispiel der Handballspielerin gesehen, deren Punktzahl nur geringfügig variierte: Ein Durchschnittswert vermittelt zuverlässigere Informationen, wenn er aus Scores mit geringer Streuung berechnet wird. 3. Große Stichproben sind besser als kleine. Ein eifriger künftiger Student besucht zwei Universitäten und verbringt an jeder einen Tag. In der ersten Universität besucht er zwei zufällig ausgewählte Vorlesungen und findet die Professoren witzig und anregend. In der zweiten Uni sind die zufällig gewählten Professoren langweilig und wenig anregend. Zu Hause berichtet der Student (er lässt die kleine Stichprobengröße von nur zwei Dozenten in jeder Hochschule außer Acht) dann seinen Freunden von den »tollen Lehrern« der ersten Uni und den »schrecklichen Langweilern« der zweiten. Hier haben wir wieder den Fall, den wir so gut kennen und doch immer wieder vergessen.

1

! Durchschnittswerte, die auf der Grundlage von vielen Einzelfällen berechnet werden, sind zuverlässiger als Durchschnittswerte auf der Basis einiger weniger Fälle. Lassen Sie sich nicht von ein paar Einzelfällen beeindrucken. Verallgemeinerungen auf der Basis einiger unrepräsentativer Fälle sind nicht reliabel.

Wann ist ein Unterschied signifikant? Ziel 20: Erklären Sie, wie Psychologen entscheiden, ob Unterschiede bedeutsam sind.

Statistische Signifikanz (statistical significance): statistische Aussage über die Wahrscheinlichkeit, mit der das Ergebnis einer Untersuchung dem Zufall zuzuschreiben ist.

Statistische Tests helfen uns dabei, zu bestimmen, ob Unterschiede bedeutsam sind. Die Logik, die hinter diesem Vorgehen liegt, ist die folgende: Wenn die Durchschnittswerte (Mittelwerte) von zwei Stichproben reliable (zuverlässige) Maßzahlen für die jeweilige Population sind (wenn also jeder Mittelwert auf vielen Beobachtungen beruht und nur wenig Variabilität aufweist), dann sind die Unterschiede zwischen den Gruppen (auch wenn sie nur geringfügig sind) wahrscheinlich gleichfalls reliabel. (Je geringer die Variabilität bei den jeweiligen Scores zu Aggression bei Männern und Frauen ausfällt, desto sicherer können wir sein, dass der beobachtete Gender- oder Geschlechtsunterschied reliabel ist.) Ist jedoch die Differenz zwischen den Mittelwerten der Stichproben groß, dann können wir noch sicherer sein, dass diese Differenz eine echte Differenz in den jeweiligen Populationen spiegelt. Also: Wenn die Mittelwerte der Stichproben reliabel und die Unterschiede zwischen den Mittelwerten relativ groß sind, dann sagen wir: Der Unterschied ist statistisch signifikant. Das bedeutet nichts anderes, als dass der Unterschied, den wir beobachtet haben, wahrscheinlich nicht auf eine zufällige Variation zwischen den Stichproben zurückzuführen ist. Psychologen sind konservativ, wenn es darum geht, statistische Signifikanz zu bewerten. Sie sind wie ein Geschworenengericht, das so lange von der Unschuld des Angeklagten auszugehen hat, bis die Schuld bewiesen ist. Für die meisten Psychologen fängt der Beweis über einen vernünftigen Zweifel hinaus erst dann an, wenn die Chance, dass das Ergebnis vom Zufall beeinflusst wurde, unter 5% liegt (ein willkürliches Kriterium). Wenn Sie Forschungsberichte lesen, sollten Sie daran denken, dass bei ausreichend großen oder homogenen Stichproben die Differenz zwischen den Stichproben zwar »statistisch signifikant« sein, aber nur wenig praktische Signifikanz haben kann. So ergab zum Beispiel der Vergleich der Werte bei einem Intelligenztest von Hunderttausenden erstgeborenen Kindern und ihren nachgeborenen Geschwistern eine hoch signifikante Tendenz, dass die Erstgeborenen höhere Werte erzielten als ihre jüngeren Geschwister (Zajonc u. Marcus 1975). Da die Scores aber nur um ein bis zwei Punkte differieren, hat dieser Unterschied wenig praktische Bedeutung. Derartige Befunde haben manche Psychologen dazu gebracht, Alternativen zum Signifikanztesten zu befürworten (Hunter 1997). Es wäre sinnvoll, sagen sie, nach Maßen zu

45 1.6 · Häufig gestellte Fragen zur Psychologie

suchen, die die Effektstärke – das Ausmaß und die Reliabilität eines Befundes – besser zum Ausdruck bringen. ! Statistische Signifikanz drückt die Wahrscheinlichkeit aus, mit der ein Ergebnis auf Zufall zurückzuführen ist. Sie sagt nichts über die Bedeutung des Ergebnisses aus.

Mit Hilfe der in diesem Kapitel angesprochenen Prinzipien fällt es uns leichter, kritische Fragen zu stellen, d. h. genauer hinzuschauen und auch das zu sehen, was wir andernfalls übersehen oder falsch interpretiert hätten. Dann können wir unsere Beobachtungen präziser generalisieren. Unser Denken wird tatsächlich kritischer und unser Blick schärfer, wenn wir die Prinzipien der wissenschaftlichen Forschung und der Statistik auf unseren Alltag anwenden (Fong et al. 1986; Lehman et al. 1988; VanderStoep u. Shaugnessy 1997). Das erfordert Training und praktische Anwendung; aber die Entwicklung des klaren und kritischen Denkens gehört zur Ausbildung eines gebildeten Menschen. Lernziele Abschnitt 1.5 Grundlagen statistischer Argumentation Ziel 15: Erklären Sie, warum die Prinzipien der Statistik wichtig sind, und nennen Sie ein Beispiel dafür, wie sie im Alltag genutzt werden. Statistiken helfen uns dabei, Daten zu ordnen, sie zusammenfassen und aus ihnen Schlüsse zu ziehen. Wir müssen uns dabei nicht an komplizierte Formeln erinnern, um klarer und kritischer mit den Daten umzugehen, mit denen wir im Alltag zu tun haben. Wenn wir beispielsweise ein Verständnis für statistische Konzepte entwickelt haben, so lehrt uns das, wie wichtig es ist, Zweifel gegenüber großen runden Zahlen zu haben, die noch dazu undokumentiert sind. Ziel 16: Erklären Sie, warum Daten durch Säulendiagramme eventuell irreführend dargestellt werden. Die Bezeichnungen der Achsen oder die dargestellten Bereiche können bei Säulendiagrammen so gewählt worden sein, dass die Unterschiede möglichst groß bzw. möglichst klein werden.Wenn Ihnen in Zeitschriften oder im Fernsehen Graphiken präsentiert werden, sollten Sie sie mit kritischen Augen betrachten. Ziel 17: Beschreiben Sie die drei Maße der zentralen Tendenz, und geben Sie an, welches am meisten durch Extremwerte beeinflusst wird. Der Median ist der mittlere Wert einer Menge von Daten. Der Modalwert ist der Wert, der am häufigsten auftritt. Der Mittelwert, das arithmetische Mittel, wird berechnet, indem man die Summe der Messwerte durch die Anzahl der Messwerte teilt. Er wird am leichtesten durch einige wenige sehr große oder sehr geringe Werte beeinflusst.

1.6

Ziel 18: Beschreiben Sie zwei Maße der Variabilität. Maße der Variabilität sagen etwas darüber aus, wie ähnlich oder unterschiedlich Daten untereinander sind. Die Variationsbreite gibt den Unterschied zwischen dem größten und dem kleinsten Wert an. Das nützlichere Maß ist die Standardabweichung; sie gibt an, wie stark die Werte um den Mittelwert oder um den durchschnittlichen Wert streuen. Ziel 19: Geben Sie drei Prinzipien an, mit deren Hilfe man über Stichproben hinweg generalisieren kann. 1. Repräsentative Stichproben sind besser als verzerrte Stichproben. 2. Weniger variierende Beobachtungen sind zuverlässiger als jene, die eine größere Variation aufweisen. 3. Mehr Fälle sind besser als wenige. Ziel 20: Erklären Sie, wie Psychologen darüber entscheiden, ob Unterschiede bedeutsam sind. Wenn die Mittelwerte zweier Stichproben jeweils reliable Maße ihrer Populationen sind und die Unterschiede relativ groß sind, können wir annehmen, dass der Unterschied signifikant ist – dass der Unterschied also nicht nur auf den Zufall zurückgeht. Statistische Signifikanz ist ein Indikator für die Wahrscheinlichkeit, mit der ein Ergebnis auftritt, nicht für die Bedeutsamkeit des Ergebnisses. > Denken Sie weiter: Suchen Sie in den Anzeigen einer bekannten Zeitschrift nach einer graphischen Darstellung statistischer Ergebnisse. Wie wird in der Werbung die Statistik genutzt (oder missbraucht), um die dargestellte These in vorteilhaftem Licht erscheinen zu lassen?

Häufig gestellte Fragen zur Psychologie

Wir haben bereits gesehen, wie Verhalten mit Hilfe von Fallstudien, Befragungen und Beobachtungen in einer natürlichen Umgebung beschrieben werden kann. Wir haben auch bemerkt, dass Korrelationsstudien den Zusammenhang zwischen zwei Faktoren erfassen und damit anzeigen, wie gut man einen Faktor aufgrund eines anderen vorhersagen kann. Dann sind wir auf die Logik des Versuchsdesigns mit Kontrollbedingung und Zufallszuweisung der Versuchsteilnehmer eingegangen, bei dem die Wirkung einer unabhängigen Variable auf eine abhängige Variable isoliert

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Kapitel 1 · Kritisch denken mit wissenschaftlicher Psychologie

betrachtet werden kann. Wir haben darüber nachgedacht, wie die Statistik mögliche Urteilsfehler oder Verzerrungen (Biases) im wissenschaftlichen Denken gering halten kann. Dieses Wissen ist die Voraussetzung dafür, die Dinge zu verstehen und kritisch zu betrachten, die Ihnen im Lauf Ihres Psychologiestudiums begegnen werden. Aber auch auf dem Hintergrund dieses Wissens werden Sie vielleicht mit einer Mischung aus Neugier und Vorsicht an die Psychologie herangehen. Wir wollen uns deshalb, bevor wir richtig anfangen, näher mit einigen typischen Fragen beschäftigen.

Was haben Laborversuche mit dem Alltag zu tun? Ziel 21: Erklären Sie, welche Bedeutung vereinfachte Laborbedingungen für die Entdeckung allgemeiner Prinzipien des Verhaltens haben.

Wenn Sie einen Artikel über psychologische Forschung lesen oder etwas darüber hören, fragen Sie sich vielleicht, ob das Verhalten von Menschen im Labor wohl als Vorhersage für ihr Verhalten im realen Leben dienen kann. Kann bei einem Versuch, bei dem das Blinken eines schwachen roten Lichts in einem dunklen Raum wahrgenommen werden soll, irgendetwas Hilfreiches für Nachtflüge herauskommen? Wenn wir uns am besten an das erste und letzte Wort auf einer Liste mit unzusammenhängenden Wörtern erinnern: Sagt diese Tendenz etwas darüber aus, weshalb wir uns an die Namen bestimmter Menschen erinnern, die wir auf einer Party getroffen haben? Oder folgender Versuch: Einem Mann wird ein Film mit sexuellen Gewaltszenen gezeigt, der Mann ist erregt, und seine Bereitschaft steigt, auf einen Knopf zu drücken, mit dem er, wie er glaubt, einer Frau einen Elektroschock verpasst. Sagt so ein Versuch tatsächlich etwas darüber aus, ob Gewaltpornographie bei Männern die Wahrscheinlichkeit erhöht, eine Frau zu vergewaltigen? Doch lassen Sie uns, ehe Sie antworten, über ein paar Dinge nachdenken. Die Absicht des Versuchsleiters ist es, im Labor eine vereinfachte Realität herzustellen, eine Realität, in der wichtige Merkmale des Alltags simuliert und kontrolliert werden. Ein Ingenieur benutzt einen Windkanal, um atmosphärische Kräfte unter kontrollierten Bedingungen zu untersuchen. Genauso kann ein Psychologe beim Laborversuch psychische Kräfte unter kontrollierten Bedingungen untersuchen. Ob im Labor oder draußen: Die Menschen bleiben sich gleich. So hat Cecilia Cheng (2001) in Hongkong beobachtet, dass Erwachsene, die unter Laborbedingungen flexibel mit Stress umgingen, auch auf Stress in ihrer Ehe flexibel reagierten. Was Aggressionsstudien betrifft: Einen Knopf zu drücken, der einen Elektroschock auslöst, ist vielleicht nicht dasselbe, wie jemanden zu vergewaltigen; doch das Prinzip ist das gleiche. Douglas Mook (1983) sagt es so: Es ist nicht Zweck eines Experiments, alltägliche Verhaltensweisen genau zu reproduzieren, sondern die theoretischen Prinzipien zu testen. Es ist das zugrunde liegende Prinzip – nicht der spezifische Befund –, mit dessen Hilfe Alltagsverhalten erklärt werden kann. Wenn Psychologen beispielsweise die Ergebnisse der Aggressionsforschung im Labor auf tatsächliches Gewaltverhalten anwenden, dann verwenden sie ihre Kenntnisse über die theoretischen Grundlagen, auf denen aggressives Verhalten beruht, und damit Prinzipien, die sie in zahlreichen Versuchen getestet und spezifiziert haben. So verhält es sich auch mit den Erkenntnissen zu Grundlagen des visuellen Systems, die mit Hilfe von Experimenten in einer künstlichen Umgebung entwickelt wurden (wie beispielsweise auf rote Lichter in einem dunklen Raum schauen) und dann auf komplexeres Verhalten (Nachtflug) angewandt werden. Zahlreiche Untersuchungen zu diesem Thema haben gezeigt, dass sich die im Labor herausgearbeiteten Prinzipien tatsächlich auf Alltagsbedingungen anwenden lassen (Anderson et al. 1999). ! Als Psychologen interessieren uns weniger bestimmte Verhaltensweisen, uns interessieren die allgemeinen Prinzipien, mit deren Hilfe viele Verhaltensweisen erklärt werden können.

Ist Verhalten kulturabhängig? Ziel 22: Erörtern Sie, ob die psychologische Forschung über Kulturen und Geschlechter hinweg generalisiert werden kann.

Wenn Verhalten kulturabhängig ist, was können dann psychologische Studien, die mit einer Bevölkerungsgruppe – häufig mit weißen Nordamerikanern oder Europäern – über die Menschen

47 1.6 · Häufig gestellte Fragen zur Psychologie

In mancher Hinsicht sind wir wie alle anderen, in mancher Hinsicht sind wir wie manche anderen und in mancher Hinsicht sind wir wie sonst niemand auf der Welt. Die Beschäftigung mit anderen Völkern und Kulturen hilft uns, Ähnlichkeiten und Unterschiede, Gemeinsamkeit und Andersartigkeit zu erkennen. ! Auch wenn Einstellungen und Verhaltensweisen über die kulturellen Grenzen hinweg variieren, wie es häufig der Fall ist, so sind doch die ihnen zugrunde liegenden Prozesse im Wesentlichen die gleichen.

Ist Verhalten geschlechtsspezifisch? Bei Ihrer Geburt war die erste Frage von Familie und Freunden, welchem der beiden Menschentypen Sie angehören, dem männlichen oder dem weiblichen. Angesichts der Bedeutung, die die Geschlechtszugehörigkeit für unsere Identität hat und dafür, wie andere Menschen uns wahrnehmen, brauchen wir da nicht eine Psychologie für Frauen und eine für Männer? Die Themen »Geschlechtsrolle« und »Geschlechtszugehörigkeit« werden in diesem Buch immer wieder angesprochen. Die Wissenschaftler fanden Geschlechtsunterschiede in unseren Träumen, in der Art, wie wir Emotionen ausdrücken und bei anderen erkennen, und in dem Risiko, Alkoholiker zu werden, depressiv zu werden oder eine Essstörung zu entwickeln. Solche Unterschiede zu untersuchen, ist nicht nur interessant, sondern auch potenziell nützlich. So glauben Wissenschaftler beispielsweise, dass Frauen eine Unterhaltung führen, um eine Beziehung herzustellen, Männer dagegen eher, um Informationen und Ratschläge zu geben (Tannen 1990).

Ein kulturspezifischer Gruß Soziales Verhalten wird von der jeweiligen Kultur geprägt, deshalb können Handlungen, die uns ganz normal vorkommen, bei Besuchern aus fremden Ländern Verwunderung hervorrufen. Doch hinter diesen Unterschieden verbergen sich große Ähnlichkeiten. Überall auf der Welt begrüßen sich die Menschen – wenn auch nicht unbedingt so förmlich und respektvoll wie in Japan.

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i. Allg. aussagen? Wir werden es immer wieder erleben: Die Kultur, d. h. die Gemeinschaft von Menschen mit gleichen Vorstellungen und Verhaltensweisen, die von Generation zu Generation weitergegeben werden, ist ein wichtiger Faktor. Unsere jeweilige Kultur beeinflusst unsere Reaktionsschnelligkeit und Offenheit, unsere Einstellung gegenüber vorehelichem Sex und unsere wechselnden Vorstellungen von der Idealfigur, unsere Tendenz zur Förmlichkeit oder zur Formlosigkeit, unser Blickkontakt, unsere Distanz beim Gespräch und vieles andere mehr. Sobald wir uns dieser Unterschiede bewusst sind, können wir uns von der Annahme trennen, dass alle anderen Menschen genauso denken und handeln wie wir. Angesichts der ständig steigenden Durchdringung und Vermischung der Kulturen ist eine bewusste Haltung gegenüber diesen Unterschieden dringend erforderlich. Unser gemeinsames biologisches Erbe macht uns indessen zu einer großen Familie von Menschen. Die biologischen Prozesse sind universell: 4 Bei Menschen, die an Dyslexie (einer Lesestörung) leiden, ist überall auf der Welt dieselbe Hirnfunktion gestört (Paulesu et al. 2001). 4 Unterschiedliche Sprachen – ob gesprochen oder als Gebärdensprache – mögen die Kommunikation über die kulturellen Grenzen hinweg behindern. Doch alle Sprachen gehorchen den Prinzipien der Grammatik, und Menschen aus verschiedenen Erdteilen können sich mit einem Lächeln oder einem Stirnrunzeln verständigen. 4 Menschen verschiedener Kulturen leiden nicht auf die gleiche Art und Weise unter Einsamkeit. Doch über die kulturellen Grenzen hinweg verstärken Schüchternheit, geringes Selbstwertgefühl und Unverheiratetsein die Einsamkeit (Jones et al. 1985; Rokach et al. 2002). 4 Die meisten Japaner essen ihren Fisch am liebsten roh, die meisten Europäer mögen ihn lieber gekocht. Doch wenn wir uns zu Tisch setzen, unterliegen wir alle demselben Prinzip von Hunger und Appetit.

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Kultur (culture): Gesamtheit von Verhaltensweisen, Vorstellungen, Einstellungen und Traditionen einer großen Bevölkerungsgruppe, die von einer Generation zur nächsten überliefert werden.

»Alle Menschen sind gleich, nur ihre Gewohnheiten unterscheiden sich.« Konfuzius (551–479 v. Chr. )

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Kapitel 1 · Kritisch denken mit wissenschaftlicher Psychologie

Wenn uns dieser Unterschied bewusst ist, können wir Konflikte und Missverständnisse in unseren Beziehungen leichter vermeiden. Psychologisch und biologisch sind Frauen und Männer allerdings einander sehr ähnlich. Männliche und weibliche Kinder lernen ungefähr zur gleichen Zeit gehen. Ob Mann oder Frau, wir haben die gleiche Licht- und Klangempfindung. Auch das Gefühl von Hunger, Begehren und Angst ist für beide Geschlechter gleich. Intelligenz und Wohlbefinden sind ähnlich. Und beide Geschlechter zeigen genau das Verhalten, das in ihrem kulturellen Kontext von ihnen erwartet wird. Die Geschlechtszugehörigkeit spielt demnach eine Rolle. Die Biologie legt unser Geschlecht fest, und die Kultur entwickelt die Geschlechtsrolle. Doch in vielerlei Hinsicht sind sich Frauen und Männer als Menschen ähnlich.

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Warum machen Psychologen Experimente mit Tieren? Ziel 23: Erklären Sie, warum Psychologen Tierversuche durchführen, und erörtern Sie, welche ethischen Fragen man beim Experimentieren sowohl mit Menschen als auch mit Tieren beachten muss.

»Ratten und Menschen sind sich ziemlich ähnlich, nur sind die Ratten nicht so dumm, Lotterielose zu kaufen.« Dave Barry (2. Juli 2002)

Viele Psychologen arbeiten mit Tieren, weil sie sie faszinierend finden. Sie wollen verstehen, auf welche Weise die verschiedenen Arten lernen, denken und sich verhalten. Experimente mit Tieren dienen aber auch dazu, mehr über Menschen zu erfahren, denn mit Tieren kann man Versuche machen, die mit Menschen aus ethischen Gründen nicht möglich sind. Die Physiologie des Menschen ist der von vielen Tieren sehr ähnlich. Wir Menschen sind nicht wie Tiere, aber wir sind Lebewesen. Tierversuche haben schon häufig zur Entwicklung von Medikamenten gegen menschliche Krankheiten geführt: Insulin für Diabetiker oder Impfstoffe gegen Polio und Tollwut. Auch Organtransplantationen wurden zunächst an Tieren durchgeführt. Die gleichen Prozesse, die beim Menschen das Sehen, den Ausdruck von Emotionen oder das Dickwerden bedingen, finden wir auch bei Ratten und Affen. Sogar Meeresschnecken werden eingesetzt, um mehr über die Grundlagen des menschlichen Lernens zu erfahren. Wenn Sie wissen wollen, wie ein Verbrennungsmotor funktioniert, sollten Sie lieber den Motor eines Rasenmähers auseinander nehmen als einen Mercedes-Motor. Mercedes-Motoren sind komplexe Gebilde. Menschen auch. Und gerade der einfache Aufbau des Nervensystems der Meeresschnecke macht sie zu einem guten Modell für die neuronalen Abläufe beim Lernen.

Sind Tierversuche ethisch vertretbar?

D. Shapiro, © Wildlife Conservation Society

Forschung mit Tieren nützt Tieren Diese Gorillas im Zoo der Bronx verdanken ihre bessere Lebensqualität teilweise den Untersuchungen zu den positiven Auswirkungen von Anregung, Kontrolle und dem Kontakt mit neuen, unbekannten Dingen

Sollten wir Tiere nicht mehr achten, wenn wir einander doch so ähnlich sind? »Wir können unsere wissenschaftliche Arbeit mit Tieren nicht einerseits mit der Ähnlichkeit zwischen ihnen und uns verteidigen und andererseits moralisch mit der Unterschiedlichkeit rechtfertigen«, sagte Roger Ulrich (1991). Die Tierschutzbewegung protestiert gegen die Verwendung von Tieren in der psychologischen, biologischen und medizinischen Forschung. Die Wissenschaftler erinnern jedoch daran, dass die 30 Mio. Säugetiere, die alljährlich für die Forschung benötigt werden, nur einen Bruchteil von 1% der Milliarden von Tieren darstellen, die getötet werden, um gegessen zu werden (das bedeutet, dass jeder Mensch im Durchschnitt 20 Tiere pro Jahr isst). Während die Forschung jährlich Versuche mit etwa 200.000 Hunden und Katzen unter humanen Bedingungen macht, müssen Tierheime 50-mal so viele Tiere aus humanen Gründen töten (Goodwin u. Morrison 1999). Tierschutzorganisationen wie »Psychologists for the Ethical Treatment of Animals« fordern, die Labormanipulationen durch Beobachtungen in natürlicher Umgebung zu ersetzen. So lehnt auch in Deutschland die Vereinigung »Ärzte gegen Tierversuche«, der ebenfalls Psychologen angehören, Tierversuche aus ethischen, medizinischen und wissenschaftlichen Gründen ab. Viele Wissenschaftler, die mit Tieren arbeiten, halten dem entgegen, dass es hier nicht um die moralische Frage von gut versus böse geht, sondern um Mitgefühl mit Tieren versus Mitgefühl mit Menschen. Wie viele von uns wären gegen Pasteurs Tollwutversuche auf die Straße gegangen, bei denen einige Hunde leiden mussten, durch die aber ein

49 1.6 · Häufig gestellte Fragen zur Psychologie

Impfstoff entwickelt werden konnte, der Millionen von Menschen und Hunden einen qualvollen Tod ersparte? Und möchten wir wirklich auf die Tierversuche verzichten, mit deren Hilfe Trainingsmethoden für geistig behinderte Kinder entwickelt wurden, wir besser verstanden haben, wie man die Probleme des Alterns meistert oder wie Ängste und Depressionen leichter zu ertragen sind und wie man Adipositas, Alkoholismus und durch Stress hervorgerufene Schmerzen und Krankheiten in den Griff bekommt? Die Antworten auf derartige Fragen sind von Kultur zu Kultur unterschiedlich. Nach einer Umfrage von Gallup in Kanada und den Vereinigten Staaten halten sechs von zehn Erwachsenen medizinische Tests an Tieren für „moralisch akzeptabel«. In Großbritannien ist dies nur für 37% der Befragten der Fall (Mason 2003). In dieser hitzigen Debatte zeichnen sich zwei Themen ab. Die grundsätzliche Frage lautet, ob wir berechtigt sind, menschliches Wohlbefinden über das der Tiere zu stellen. Haben wir das Recht, Experimente zu Stress und Krebs zu machen und Mäuse Tumore bekommen zu lassen in der Hoffnung, dass wir Menschen keine bekommen? Dürfen wir ein paar Affen einem HIV-ähnlichen Virus aussetzen, wenn wir nach einem Impfstoff gegen Aids suchen? Wenn wir Tiere für unsere Zwecke opfern, verhalten wir uns da so natürlich wie fleischfressende Falken, Katzen oder Wale? Die, die Tierexperimente verteidigen, argumentieren, dass jeder, der einen Hamburger isst, Lederschuhe trägt, Fischen und Jagen toleriert oder für die Ausrottung von Schadinsekten stimmt, die Ernten vernichten oder Krankheitserreger verbreiten, sich längst damit einverstanden erklärt hat, dass es erlaubt sein muss, Tiere zum Wohl der Menschen zu opfern. Scott Plous (1993) merkt jedoch an, dass unser Mitgefühl sich keineswegs auf alle Tiere erstreckt, ebenso wenig wie wir allen Menschen gegenüber Mitgefühl empfinden. Unser Mitgefühl beruht auf dem, was wir als Ähnlichkeit wahrnehmen. Wie 7 Kap. 15 ausführt, empfinden wir mehr Zuneigung, bieten mehr Hilfe an und handeln weniger aggressiv gegenüber denen, die Ähnlichkeit mit uns haben. Genauso steigen Tiere in unserer Wertschätzung, wenn wir wahrnehmen, dass sie mit uns verwandt sind. Deshalb haben Primaten und Schoßtiere höchste Priorität. (Die Menschen im Westen züchten Nerze oder fangen Füchse für ihre Pelzmäntel, aber Hundeoder Katzenfelle verwenden sie nicht.) Die anderen Säugetiere sitzen auf der zweiten Sprosse der Privilegienleiter, dann folgen Vögel und Fische, während die Reptilien die dritte Sprosse besetzen und die Insekten ganz unten angesiedelt sind. Bei der Entscheidung, welchen Tieren wir Rechte zugestehen, zieht jeder seine eigene Grenzlinie quer durch das Tierreich. Wenn wir dem menschlichen Leben oberste Priorität zugestehen, dann ist das zweite Thema das Wohlergehen der Tiere, mit denen wir Forschung betreiben. Mit welchen Maßnahmen können wir sie schützen? Die meisten Wissenschaftler fühlen sich heute moralisch verpflichtet, für das Wohlergehen von Tieren in Gefangenschaft zu sorgen und ihnen unnötige Qualen zu ersparen. Eine Befragung von Forschern, die mit Tieren arbeiten, besagt, dass fast 100% von ihnen die von der Regierung erlassenen Vorschriften zum Schutz von Primaten, Hunden und Katzen unterstützen; 74% treten dafür ein, den humanen Umgang mit Ratten und Mäusen durch entsprechende Vorschriften zu gewährleisten (Plous u. Herzog 2000). Viele Berufsverbände und Institutionen der Forschungsförderung haben Richtlinien für den humanen Umgang mit Tieren. Auch die Deutsche Gesellschaft für Psychologie (DGPs) und der Berufsverband deutscher Psychologinnen und Psychologen (BDP) haben gemeinsame ethische Richtlinien zum Einsatz von Tieren in Forschung und Lehre formuliert. Sie stellen eine grundsätzliche Verpflichtung der Psychologen zur Achtung des Lebens fest und fordern, Schmerzen, Leiden und Schäden für Versuchstiere soweit möglich zu verhindern. Die Richtlinien der American Psychological Association fordern, dass das »Wohl, die Gesundheit und die humane Behandlung« von Tieren gewährleistet sein muss und dass »Infektionen, Krankheit und Schmerzen bei den Versuchstieren« auf ein Minimum reduziert werden. Humaner Umgang erbringt zudem auch bessere Forschungsergebnisse, denn Schmerz und Stress könnten das Verhalten des Tieres bei einem Experiment verfälschen. Die Tiere selbst sind auch Nutznießer der Tierexperimente. Ein Forscherteam in Ohio maß die Ausschüttung von Stresshormonen bei einer Stichprobe von Millionen von Hunden, die jedes Jahr in ein Tierheim gebracht werden. Die Psychologen entwickelten Methoden, wie man die Tiere behandeln und streicheln müsste, um den Stress zu mildern und ihnen den Übergang in eine neue Familie zu erleichtern (Tuber et al. 1999). Der Verhaltensforschung mit Tieren ist es auch zu verdanken, dass die Zootiere in der Bronx nicht mehr gelangweilt herumsitzen, sondern sich ihre Nahrung selbst beschaffen müssen, so wie ihre frei lebenden Artgenossen (Stewart 2002). Andere

»Vergessen Sie bitte nicht jene von uns, die an unheilbaren Krankheiten oder an Behinderungen leiden und die auf Heilung hoffen; hier hilft eine Forschung, bei der Tiere eingesetzt werden.« Der Psychologe Dennis Feeney, 1987

»Der Gerechte erbarmt sich seines Viehs.« Sprüche 12, Vers 10

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Kapitel 1 · Kritisch denken mit wissenschaftlicher Psychologie

Studien trugen dazu bei, die Betreuung und die Behandlung von Tieren in ihrer natürlichen Umgebung zu verbessern. In Versuchen wurde auch die bemerkenswerte Intelligenz von Schimpansen, Gorillas und anderen Tiere nachgewiesen; ebenso wurde die Ähnlichkeit des Verhaltens bei Mensch und Tier deutlich, was wiederum bei den Menschen zu verstärkter Empathie mit ihren Mitgeschöpfen sowie zu deren Schutz führte. Abschließend können wir sagen, dass eine Psychologie, die Interesse am Menschen und Einfühlungsvermögen für Tiere hat, beiden zugute kommt.

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»Die Größe einer Nation kann man an ihrem Umgang mit Tieren ablesen.« Mahatma Gandhi (1869–1948)

Ist es ethisch vertretbar, Versuche mit Menschen zu machen? Wenn das Bild von Tieren oder Menschen, die Elektroschocks verabreicht bekommen, Sie erschreckt, dann werden Sie erleichtert sein, wenn ich Ihnen sage, dass die meisten psychologischen Untersuchungen ohne derartigen Stress durchgeführt werden. In der Regel geht es bei Versuchen mit Menschen um blinkende Lichter, flackernde Wörter und angenehme soziale Interaktionen. Gelegentlich allerdings müssen die Wissenschaftler die Menschen hinters Licht führen oder sie einem kurzen Stress aussetzen, doch nur, wenn es ihnen zur Klärung einer bestimmten Frage unabdingbar erscheint. Ich denke dabei an Versuche zum Verständnis gewalttätigen Verhaltens oder Untersuchungen zu Stimmungsschwankungen. Solche Experimente erbrächten kein Ergebnis, wenn die Teilnehmer vorher wüssten, was auf sie zukommt. Dann wäre entweder die ganze Prozedur ineffizient, oder die Teilnehmer würden versuchen, die Erwartungen des Versuchsleiters zu erfüllen; dadurch würde das Ergebnis verzerrt und nutzlos. Die von der American Psychological Association wie auch die von der Deutschen Gesellschaft für Psychologie und dem Berufsverband deutscher Psychologinnen und Psychologen erarbeiteten ethischen Grundsätze fordern von den Versuchsleitern, dass sie 1. die potenziellen Teilnehmer informieren und ihre Zustimmung einholen, also die Freiwilligkeit der Teilnahme; 2. die Teilnehmer vor physischen und psychischen schädlichen Einflüssen und Gefährdungen schützen; 3. die Würde und Integrität der teilnehmenden Personen achten und Informationen über einzelne Teilnehmer vertraulich behandeln und 4. hinterher den wissenschaftlichen Zweck der Untersuchung erläutern und die Versuchspersonen aufklären. Außerdem haben viele Universitäten heute einen Ethikrat eingesetzt, um das Wohlergehen eines jeden Teilnehmers sicherzustellen. Forschung findet allerdings zu einem großen Teil außerhalb der Universitätslabors und ohne Kontrolle durch einen Ethikrat statt. Der Einzelhandel fotografiert beispielsweise routinemäßig das Kaufverhalten der Kunden, spürt ihre Kaufmuster auf und testet die Wirksamkeit der Werbung. Erstaunlicherweise erregt diese Art von Forschung weniger Aufmerksamkeit als die wissenschaftlichen Versuche, die zum Zweck der Erweiterung des menschlichen Wissens vorgenommen werden.

Gibt es eine wertfreie Psychologie? Ziel 24: Beschreiben Sie, wie persönliche Werte einen Einfluss auf die psychologische Forschung und ihre Anwendung haben kann, und erörtern Sie das Potenzial der Psychologie zur Manipulation von Menschen. »Es ist völlig unmöglich, an irgendein menschliches Problem mit unverstelltem Blick heranzugehen.« Simone de Beauvoir (»Das andere Geschlecht«, 1953)

Die Psychologie ist eindeutig nicht wertfrei. Unser Wertesystem bestimmt, was wir untersuchen, wie wir es untersuchen und wie wir die Ergebnisse interpretieren. Ein Wissenschaftler kann die Produktivität der Arbeiter oder ihre Arbeitsmoral untersuchen, Geschlechtsdiskriminierung oder Geschlechtsrollenunterschiede, sozial angepasstes oder unabhängiges Verhalten: Die Wahl seines Forschungsgegenstands wird von seinem Wertesystem beeinflusst. Die »nackten Tatsachen« sind auch von unseren Überzeugungen beeinflusst. Wie zuvor erwähnt, können unsere Vorannahmen unsere Beobachtungen und Interpretationen verzerren; manchmal sehen wir genau das, was wir zu sehen erwarten (. Abb. 1.11). Sogar in den Worten, mit denen wir ein Phänomen beschreiben, spiegeln sich unsere Wertvorstellungen. Sexuelle Praktiken, die uns nicht vertraut sind, bezeichnen

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wir als »Perversionen« oder als »Varianten«, Begriffe, die eine Bewertung enthalten. Bewertende Bezeichnungen verwenden wir auch in unserer Alltagssprache: Was wir »rigide« nennen, nennen andere »unbeugsam«; was dem einen als »fester Glaube« gilt, ist für den anderen »Fanatismus«. »Standhaft« oder »stur«, »vorsichtig« oder »mäkelig«, »verschwiegen« oder »heimlichtuerisch«: Unsere Wortwahl sagt viel über unsere Gefühle aus. Mit Bezeichnungen beschreiben wir nicht nur, sondern bewerten gleichzeitig, und das gilt gleichermaßen für Psychologen und Nichtpsychologen. Auch in der praktischen Anwendung enthält die Psychologie verborgene Wertvorstellungen. Wenn Sie zu bestimmten Fragen »professionellen« Rat suchen, etwa, wie Sie Ihr Leben gestalten, Ihre Kinder erziehen, persönliche Erfüllung finden, mit sexuellen Gefühlen umgehen oder mit Ihrer Arbeit vorankommen sollen – in den Antworten auf Ihre Fragen verbergen sich Wertvorstellungen. ! Die Psychologie als Wissenschaft vom Verhalten und von mentalen Prozessen kann uns helfen, unsere Ziele zu erreichen, doch sie kann nicht entscheiden, welche Ziele wir erreichen sollten.

© Roger Shepard

1.6 · Häufig gestellte Fragen zur Psychologie

. Abb. 1.11. Was sehen Sie hier? Doppeldeutige Informationen werden entsprechend den Vorannahmen des Betrachters interpretiert. Haben Sie hier eine Ente oder ein Kaninchen gesehen? Wenn Sie dieses Bild Ihren Freunden zeigen, fragen Sie vorher die einen, ob sie eine Ente sehen, die auf dem Rücken liegt, und die anderen, ob sie ein Kaninchen im Gras sehen (Nach Shepard 1990)

Ist die Psychologie potenziell gefährlich? Manche Menschen halten Psychologie für nichts weiter als gesunden Menschenverstand, doch andere betrachten sie mit Sorge: Sie befürchten, die Psychologie könnte eine gefährliche Macht erlangen. Ist es Zufall, dass die Astronomie die älteste Wissenschaft ist, die Psychologie dagegen die jüngste? Die Erforschung des äußeren Universums ist eine Sache, doch unser eigenes inneres Universum zu erforschen, ist anscheinend eine viel gefährlichere und bedrohliche Angelegenheit. Könnte die Psychologie dazu benutzt werden, Menschen zu manipulieren? Wie jede Macht kann die Macht des Wissens für gute oder schlechte Zwecke eingesetzt werden. Atomkraft wird genutzt, um Städte zu beleuchten – und auch, um sie zu zerstören. Überzeugungskraft dient dazu, Menschen zu erziehen – und dazu, sie zu täuschen. Bewusstseinserweiternde Drogen wurden dazu verwendet, die Gesundheit von Menschen wiederherzustellen – aber auch, um sie zu zerstören. Obwohl die Psychologie die Macht hat zu täuschen, liegt ihr Zweck doch darin aufzuklären. Tag für Tag suchen Psychologen nach neuen Wegen, um Lernen, Kreativität und Menschlichkeit zu fördern. Die Psychologie spricht die großen Probleme unserer Welt an: Krieg, Überbevölkerung, Vorurteile, zerfallende Familien und Verbrechen; denn alle diese Probleme haben mit Einstellungen und Verhaltensweisen zu tun. Und die Psychologie spricht unser tiefes inneres Verlangen an, unser Bedürfnis nach Nahrung, Liebe und Glück. Freilich kann die Psychologie nicht alle großen Lebensfragen ansprechen, wohl aber einige, die uns auf den Nägeln brennen. Lernziele Abschnitt 1.6 Häufig gestellte Fragen zur Psychologie Ziel 21: Erklären Sie, welche Bedeutung vereinfachte Laborbedingungen für die Entdeckung allgemeiner Prinzipien des Verhaltens haben. Wissenschaftler schaffen im Labor eine kontrollierte, vereinfachte Umwelt, die sie kontrollieren können, und testen dort die theoretischen Grundlagen eines bestimmten Verhaltens. Es geht ihnen nicht um das spezielle Verhalten, das sie untersuchen, sondern eher um die zugrunde liegenden allgemeinen Prinzipien, mit deren Hilfe man viele Verhaltensweisen besser erklären kann. Ziel 22: Erörtern Sie, ob die psychologische Forschung über Kulturen und Geschlechter hinweg generalisiert werden kann. Kommen wir in andere Kulturen, stoßen wir scheinbar auf andere Einstellungen und Verhaltensweisen. Doch die Grundlagen sind allen

Menschen gemeinsam; dies liegt zum Teil an ihrem gemeinsamen biologischen Ursprung. Die Biologie bestimmt auch über unser Geschlecht; aber durch die Kultur werden Erwartungen gegenüber dem aufgebaut, was es bedeutet, eine Frau oder ein Mann zu sein. Frauen und Männer unterscheiden sich in vielerlei Hinsicht, aber sie sind in biologischer und psychologischer Hinsicht eher ähnlich als unterschiedlich. Ziel 23: Erklären Sie, warum Psychologen Tierversuche durchführen, und erörtern Sie, welche ethischen Fragen man beim Experimentieren sowohl mit Menschen als auch mit Tieren beachten muss. Psychologen untersuchen Tiere manchmal aus Interesse an ihrem Verhalten, manchmal aber auch, weil die Kenntnis der physiologischen und 6

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Kapitel 1 · Kritisch denken mit wissenschaftlicher Psychologie

psychologischen Prozesse bei Tieren zum besseren Verständnis der ähnlich ablaufenden Prozesse beim Menschen beiträgt. Gemäß den berufsethischen und gesetzlichen Richtlinien darf Tieren bei psychologischen Versuchen nur in seltenen Fällen Schmerz zugefügt werden. Tierschutzgruppen weisen indessen auf eine wichtige Grundsatzfrage hin: Darf man einem Tier zeitweilig Leid zufügen, auch wenn dies letztlich geschieht, um menschliches Leiden zu verringern? Um etwas Wichtiges in Erfahrung zu bringen, werden bei manchen Experimenten die Teilnehmer einem kurzen Stress ausgesetzt oder über den Zweck des Versuchs gar nicht oder falsch informiert. Die berufsethischen Standards für Versuche ergeben Richtlinien für den Umgang mit Versuchsteilnehmern, und die Ethikausschüsse der Universitäten kontrollieren, dass korrekt mit den Versuchsteilnehmern umgegangen wird.

Ziel 24: Beschreiben Sie, wie persönliche Werte einen Einfluss auf die psychologische Forschung und ihre Anwendung haben kann, und erörtern Sie das Potenzial der Psychologie zur Manipulation von Menschen. Psychologie wird nicht wertfrei ausgeübt. Die Wertvorstellungen der Psychologen beeinflussen ihre Wahl des Forschungsthemas, ihre Theorien, Beobachtungen, Verhaltensbezeichnungen und die Ratschläge, die sie als professionelleTherapeuten erteilen.Wie in anderen Bereichen auch ist Wissen eine Macht, die für gute oder schlechte Zwecke benutzt werden kann. Psychologie hat die Macht zu täuschen, bisher jedoch wurde die Psychologie in der Mehrzahl der Fälle für gute Ziele verwendet. Die Psychologie kann dazu beitragen, dass wir unsere Ziele erreichen, aber sie kann nicht darüber entscheiden, um welche Ziele es sich handeln sollte. > Denken Sie weiter: Haben Sie im Abschnitt »Häufig gestellte Fragen« Antworten auf Ihre eigenen Fragen und Bedenken gefunden?Welche Fragen haben Sie darüber hinaus an die Psychologie?

Kritisch nachgefragt

Rassentrennung und die Todesstrafe in den USA – wenn Überzeugungen im Widerspruch zur wissenschaftlichen Psychologie stehen Eine einflussreiche moderne Auffassung, die ironischerweise als Postmoderne bezeichnet wird, stellt die wissenschaftliche Objektivität infrage. Die Vertreter dieser Auffassung behaupten, dass wissenschaftliche Begriffe nicht die reale Welt widerspiegeln, sondern dass es sich hier um sozial konstruierte Fiktionen handelt. Wie alles Wissen seien sie Ausdruck der Kultur, in der sie gebildet wurden. »Intelligenz« z. B. ist ein Begriff, den Psychologen geschaffen und definiert haben. Weil Theorie und Forschung von persönlichen Werten geleitet sind, ist die »Wahrheit«, so sagen die Vertreter der Postmoderne, etwas Persönliches und Subjektives. (Welche Verhaltensweisen sollen wir als »intelligent« bezeichnen?) Bei unserer Suche nach der Wahrheit kommen wir nicht umhin, uns nach unseren Ahnungen, Verzerrungen und kulturellen Neigungen zu richten. Psychologen als Wissenschaftler konzedieren, dass viele bedeutsame Fragen von der Wissenschaft nicht beantwortet werden können. Und sie gestehen auch zu, dass unsere Wahrnehmungen häufig von persönlichen Überzeugungen geformt werden. Aber sie sind auch der Überzeugung, dass es draußen eine reale Welt gibt und dass wir der Wahrheit näher kommen, wenn wir unsere Ahnungen an der Realität überprüfen. Marie Curie konstruierte nicht nur den Begriff des Radiums, sie entdeckte das Radium. Es existiert wirklich. In den Verhaltenswissenschaften mag reine Objektivität (wie ja auch reine Liebe) nicht erreichbar sein. Doch die meisten würden argumentieren, dass es besser ist, sich bescheiden mit reliablen Befunden zufrieden zu geben, als sich an unüberprüfte Vermutungen zu klammern. Sich bescheiden mit Beweisen zufrieden zu geben, das war es, was das oberste Gericht der USA, der Supreme Court, machte, als es 1954 seine historische Entscheidung fällte, dass nach Rassen getrennte Schulen verfassungswidrig sind. Hier handelte es sich um den ersten Fall des Ge-

richts, an dem Sozialpsychologen aktiv beteiligt wurden. Sie taten dies als Experten im Zeugenstand und unter der Leitung von Kenneth Clark (1952) als Autoren eines sozialwissenschaftlichen Gutachtens, das Bestandteil des Falls war, um den es ging. Das Gericht hielt vor allem Folgendes für bemerkenswert: Als Kenneth Clark und Mamie Phipps Clark (1947) afroamerikanischen Kindern die Wahl zwischen schwarzen und weißen Puppen ließen, entschieden sich die meisten von ihnen für die weißen. Dies war ein Hinweis darauf, dass schwarze Kinder unter der Rassentrennung Vorurteile gegenüber Schwarzen internalisierten. Dieser Erfolg der Sozialwissenschaft regte zu Hunderten weiterer Studien an, von denen die Forscher hofften, dass sie künftige Gerichtsentscheidungen beeinflussen würden. In neuerer Zeit jedoch hat sich das Gericht auf die Seite der Postmodernisten gestellt, indem es die verhaltenswissenschaftliche Forschung unberücksichtigt ließ. Es hatte zu entscheiden, ob die Todesstrafe unter das verfassungsmäßige Verbot einer »grausamen und ungewöhnlichen Bestrafung« fällt. Das Gericht rang mit den folgenden Fragen: Definiert die Gesellschaft eine Hinrichtung als grausam und ungewöhnlich? Verhängen die Gerichte die Strafe willkürlich? Fällen sie Urteile mit einer von der Ethnie geprägten Verzerrung? Und schreckt eine Hinrichtung eher von Verbrechen ab als alle andere Bestrafungen, die zur Verfügung stehen? Die Psychologen Craig Haney und Deana Logan (1994) sowie Mark Costanzo (1997) merken dazu an, dass die Verhaltenswissenschaft jede Einzelne dieser Fragen kaum klarer hätte beantworten können. Und dennoch ließ das Gericht bei zweien dieser Problemfelder – Gerechtigkeit der Todesstrafe und ihre Effektivität – die sozialwissenschaftliche Forschung unberücksichtigt. Wird die Todesstrafe in der Praxis gerecht umgesetzt? Untersuchungen zeigen, dass diejenigen, die als Geschworene bei Kapitalverbrechen ausgewählt werden – nämlich jene, die die Todesstrafe akzeptieren – nicht repräsentativ sind für die allgemeine Bevölkerung. Verglichen mit Menschen, die wegen ihrer Vorbehalte gegenüber der Todesstrafe ausge6

53 1.6 · Häufig gestellte Fragen zur Psychologie

schlossen werden, sind jene, die als Geschworene ausgewählt werden, mit geringerer Wahrscheinlichkeit Angehörige von Minderheiten und Frauen. Sie neigen auch stärker dazu, den Argumenten der Anklage Glauben zu schenken und Angeklagte schuldig zu sprechen. Ist die Todesstrafe effektiv – schreckt sie von Verbrechen ab? Die Befunde dazu sind in sich konsistent: In Staaten mit Todesstrafe gibt es nicht weniger Tötungsdelikte. Nachdem die Todesstrafe eingeführt wurde, ging deren Anzahl nicht zurück. Und Tötungsdelikte haben in Staaten, die die Todesstrafe abgeschafft haben, nicht zugenommen. Eine Person, die ein Verbrechen aus Leidenschaft begeht, hält nicht inne, um die Folgen abzuwägen (und wenn das der Fall wäre, würde er oder sie ein Leben in einer Gefängniszelle wahrscheinlich als ausreichenden Abschreckungsgrund ansehen). Dennoch bleibt das Gericht bei seiner

Überzeugung, dass »die Todesstrafe unzweifelhaft ein bedeutsames Abschreckungsmittel« ist. Wahrnehmungen lassen sich von Überzeugungen leiten. Und genau das ist der Grund (sagen die wissenschaftlich tätigen Psychologen als Antwort auf die Vertreter der Postmoderne), warum wir beim Denken klüger sein müssen – unsere Vermutungen, unsere verzerrten Wahrnehmungen und unsere kulturell bestimmten Neigungen außen vor zu lassen, indem wir sie an den verfügbaren Befunden überprüfen. Warum überprüfen wir unsere überprüfbaren Überzeugungen nicht? Wenn sie gestützt werden, umso besser für sie. Wenn sie im Widerspruch stehen zu einer ganzen Reihe von Beobachtungen, umso schlechter für sie. Diese Ideale der skeptischen Überprüfung und der Demut gegenüber der Realität sind die Antriebskraft hinter allen wissenschaftlichen Bestrebungen.

Antworten

1.1

Stellen Sie sich vor (oder bitten Sie jemanden, sich vorzustellen), Sie falten ein Blatt Papier 100-mal. Wie dick würde es dann etwa sein? Antwort: Faltet man ein Blatt mit 0,1 mm Stärke 100-mal, dann beträgt die Stärke des gefalteten Blattes 800 Billionen Mal die Entfernung zwischen der Sonne und der Erde (Gilovich 1991).

1.2

Es wird ein Seil am Äquator um die Erde gespannt. Wie viele Meter Seil müsste man hinzugeben, damit es überall 1 m über der Erdoberfläche schwebte? Antwort: Etwa 6 m Seil. 2. Der Kreisumfang oder der Umfang der Erde ist 2S. Der Umfang eines Seils, das um 1 m angehoben wird, beträgt 2S (r + 1). Somit ist die zusätzliche Länge 2S (r + 1) – 2Sr = 2p oder etwa 6 m.

1.3

Antworten zu . Tab. 1.1: Die Aussagen mit den ungeraden Nummern sind falsch, die mit den geraden Nummern wahr.

1.4

Anagramm für ACHENFI Lösung: EINFACH

Prüfen Sie Ihr Wissen 1. Worin besteht die wissenschaftliche Haltung, und warum ist sie für kritisches Denken unverzichtbar? 2. Worin bestehen die Stärken und Schwächen der drei Methoden, die die Psychologie zur Verhaltensbeschreibung verwendet: Einzelfallstudie, Befragung und Feldbeobachtung? 3. Lesen Sie die folgenden kürzlich veröffentlichten Korrelationen und die Interpretationen der Journalisten. In weiterführenden Untersuchungen, häufig in Verbindung mit Experimenten, fand man in sämtlichen hier zitierten Fällen den Ursache-Wirkungszusammenhang. Können Sie andere mögliche Erklärungen für jeden dieser hier aufgelisteten Fälle finden, wenn Sie nur die jeweilige Korrelation kennen? 4 Es gibt einen Zusammenhang zwischen Alkohol und Gewalt. (Eine mögliche Interpretation: Trinken setzt aggressives Verhalten frei.) 4 Gebildete Menschen haben im Durchschnitt eine höhere Lebenserwartung als weniger gebildete. (Eine mögliche Interpretation: Bildung verlängert das Leben und verbessert die Gesundheit.) 4 Teenager, die eine Mannschaftssportart betreiben, sind mit geringerer Wahrscheinlichkeit anfällig für Drogenkonsum, Rauchen, sexuelle Aktivitäten und Waffenbesitz sowie den Konsum von Junkfood als Teenager, die keiner Sportmannschaft angehören. (Eine mögliche Interpretation: Mannschaftssport fördert eine gesunde Lebensweise.) 4 Jugendliche, die häufig Filme sehen, in denen geraucht wird, werden mit größerer Wahrscheinlichkeit selbst anfangen zu rauchen. (Eine mögliche Interpretation: Jugendliche sind leicht zu beeindrucken und werden deshalb von den Verhaltensweisen der Filmstars beeinflusst.) 4. Ein neues blutdrucksenkendes Mittel soll geprüft werden. Warum würden wir mehr Informationen über die Wirksamkeit dieses Mittels bekommen, wenn wir es der Hälfte der 1000 Teilnehmer verabreichen, als wenn wir es allen 1000 Teilnehmern geben? 5. Denken Sie über eine Frage nach, die Christopher Jepson, David Krantz und Richard Nisbett (1983) von der University of Michigan den Erstsemestern im Studiengang Psychologie gestellt haben:

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54

1

Kapitel 1 · Kritisch denken mit wissenschaftlicher Psychologie

Das Sekretariat der University of Michigan hat festgestellt, dass durchschnittlich 100 Studierende der Geisteswissenschaften am Ende ihres ersten Semesters an der Universität hervorragende Noten haben. Doch nur 10–15 Studenten schließen ihr Studium mit hervorragenden Noten ab. Welches ist Ihrer Meinung nach die wahrscheinlichste Erklärung für die Tatsache, dass es am Ende des ersten Semesters mehr hervorragende Noten gibt als beim Studienabschluss? 6. Wodurch werden Versuchsteilnehmer (Mensch oder Tier) geschützt?

LDeutsche Literatur zum Thema Bortz, J. (2005). Statistik für Human- und Sozialwissenschaftler (6. Aufl.). Heidelberg: Springer. Bortz, J., Döring, N. (2006). Forschungsmethoden und Evaluation für Human- und Sozialwissenschaftler (4. Aufl.). Heidelberg: Springer. DGPs, BDP (2003). Ethische Richtlinien der DGPs und des BDP. http://www.bdp-verband.de/bdp/verband/ethik.shtml. Gesehen 19 Apr 2007. Gadenne, V. (2004). Philosophie der Psychologie. Göttingen: Hogrefe Grewe, W., Wentura, D. (1997). Wissenschaftliche Beobachtung. Eine Einführung (2. Aufl.). Weinheim: Beltz. Herrmann, T., Tack, W. H. (Hrsg). (1994). Methodologische Grundlagen der Psychologie. Enzyklopädie der Psychologie: Bd. 1. Forschungsmethoden der Psychologie. Göttingen: Hogrefe. Moosbrugger, H., Kelava, A. (2007). Testtheorie und Fragebogenkonstruktion. Heidelberg: Springer. Patry, P. (2002). Experimente mit Menschen: Einführung in die Ethik der psychologischen Forschung. Bern: Huber. Pawlik, K. (2006). Handbuch Psychologie. Wissenschaft, Anwendung, Berufsfelder. Heidelberg: Springer. Westermann, R. (2000). Wissenschaftstheorie und Experimentalmethodik. Ein Lehrbuch zur psychologischen Methodenlehre. Göttingen: Hogrefe.

2 Neurowissenschaft und Verhalten 2.1

Neuronale Kommunikation

– 57

2.1.1 Neuron – 57 2.1.2 Wie Nervenzellen kommunizieren – 60 2.1.3 Wie uns Neurotransmitter beeinflussen – 60

2.2

Nervensystem – 65

2.2.1 Peripheres Nervensystem – 66 2.2.2 Zentrales Nervensystem – 66

2.3

Endokrines System

– 70

2.4

Gehirn – 71

2.4.1 2.4.2 2.4.3 2.4.4

Forschungswerkzeuge – 72 Ältere Hirnstrukturen – 75 Zerebraler Kortex – 80 Zur Zweiteilung des Gehirns – 90

Andere Kulturen, andere Perspektiven Weiter als Himmel – ist das Hirn – Leg sie nur – Seit an Seite – Und dieses nimmt leicht jenen auf Und Dich – noch obendrein –

Tiefer als Ozean ist das Hirn – Halt sie nur – Blau an Blau – Und wie mit Eimern – Schwämme – tun – Saugt dieses jenen auf –

Aus Dickinson, Emily, Dichtungen. Ausgew., übertr. und mit einem Nachw. vers. von Werner von Koppenfels. Mainz: Dieterich, 1995.

56

Kapitel 2 · Neurowissenschaft und Verhalten

Neurowissenschaft und Verhalten > Kein Prinzip ist für die heutige Psychologie – und auch für dieses Buch – so zentral wie das folgende: Alles, was psychisch ist, ist gleichzeitig auch biologisch. Jede Idee, die Sie haben, jede Stimmung und jedes Bedürfnis ist ein biologisches Geschehen. Sie lieben, lachen und weinen mit Ihrem Körper. Ohne Ihren Körper, d. h. ohne Ihre Gene, Ihr Gehirn, ohne die inneren chemischen Vorgänge und ohne Ihre äußere Erscheinung, sind Sie einfach niemand, ein »nobody«. Obwohl es für uns üblich ist, die biologische und die psychologische Seite unseres Verhaltens als zwei unterschiedliche Dinge zu sehen, müssen wir Folgendes im Hinterkopf behalten: Körperlos zu denken, zu fühlen oder zu handeln wäre wie laufen ohne Beine. Heute ist die Wissenschaft gefesselt von den aufregendsten Teilen unseres Körpers: von unserem Gehirn, von den neuronalen Netzen, aus denen es besteht, und von der ihnen zugrunde liegenden Genwirkkette. Was könnte die letzte und größte Aufgabe für ein Gehirn sein? Sich selbst zu verstehen. Fragen, die sich uns stellen, sind z. B.: Wie ist unser Gehirn organisiert, und wie kommuniziert es mit sich selbst? Wie wirken sich bei uns Vererbung und Erfahrung zusammen auf das Gehirn aus, und zwar in dem Sinne, dass bestimmte neuronale Bahnen festgelegt werden? Wie verarbeitet unser Gehirn die Informationen, die wir benötigen, um einen Basketball zu werfen? Oder um uns an schöner Musik zu erfreuen? Oder um bei uns die Erinnerung an den ersten Kuss wachzurufen? Seit Urzeiten versuchen die Menschen, zu verstehen, wie in unserem Gehirn Bewusstsein entstehen kann. Schon der griechische Philosoph Platon ging richtigerweise davon aus, dass sich unser Bewusstsein im Kopf befindet. Sein Schüler Aristoteles glaubte dagegen, dass das Bewusstsein seinen Platz im Herzen des Menschen habe, das Wärme und Lebenskraft durch den Körper des Menschen pumpt. Heute steht das Herz zwar noch als Symbol für die Liebe, aber beim Thema »Bewusstsein« hat die Wissenschaft die Philosophie inzwischen eingeholt. Heute ist klar: Es ist Ihr Gehirn, das sich verliebt, und nicht Ihr Herz.

2

Bettmann/Corbis

Ziel 1: Beschreiben Sie die Theorie der Phrenologie, die sich als falsch erwies.

. Abb. 2.1. Eine unglückselige Theorie Obwohl die Annahmen von Gall zunächst weite Verbreitung fanden, ist heute klar, dass Dellen und Unebenheiten des Schädels nichts über die Funktionen des darunter liegenden Gehirns aussagen. Eine Annahme der Phrenologie hat sich jedoch bestätigt: Verschiedene Teile des Gehirns steuern verschiedene Verhaltensaspekte

Seit Anfang des 19. Jahrhunderts hat sich viel verändert. Damals entwickelte der deutsche Physiker Franz Gall die Phrenologie, eine damals beliebte Lehre, die sich aber in der Zwischenzeit als falsch erwiesen hat. Nach dieser Auffassung konnte man aus den Unebenheiten und Einkerbungen im Schädel eines Menschen auf seine Fähigkeiten und Charaktereigenschaften schließen (. Abb. 2.1). Auf dem Höhepunkt der Bewegung gab es in Großbritannien 29 phrenologische Gesellschaften, und Phrenologen reisten nach Nordamerika, um Vorträge über Schädel zu halten (Hunt 1993). Der satirische Schriftsteller Mark Twain nahm einen Phrenologen aufs Korn, als er zur Schädelschau dorthin ging und sich dabei unter einem anderen Namen anmeldete. »Er fand eine Vertiefung und überraschte mich, als er sagte, diese Vertiefung spräche dafür, dass ich überhaupt keinen Sinn für Humor hätte!« Drei Monate später kam Twain zu einer zweiten Sitzung und gab sich diesmal zu erkennen. Jetzt »war die Vertiefung verschwunden, und an seine Stelle trat der am stärksten emporragende Humorhöcker, den er je in seinem Leben gesehen hatte« (Lopez 2000). In einem Punkt jedoch hatten die Phrenologen recht: nämlich darin, dass die einzelnen Gehirnregionen verschiedene festgelegte Funktionen haben. Etwa seit Beginn des letzten Jahrhunderts wissen wir, dass der Körper aus Zellen zusammengesetzt ist, darunter Nervenzellen, die kleinen elektrischen Leitungen ähneln und miteinander »sprechen«, indem sie chemische Botschaften über die winzigen Zellzwischenräume hinweg senden. Man entdeckte, dass bestimmte Gehirnsysteme bestimmte Funktionen haben (jedoch nicht die, die Gall vorschlug) und dass wir durch die Informationen, die in diesen Systemen verarbeitet werden, unsere Erfahrungswelt aufbauen: die Bilder, die wir sehen, die Geräusche, die wir hören, Bedeutungen, die wir erkennen, Erinnerungen, Schmerzen und Leidenschaften. Sie und ich leben in einer besonderen Zeit, in der die Entdeckungen zum Zusammenspiel zwischen Biologie einerseits und den Verhaltens- und Denkprozessen andererseits in atemberaubendem Tempo aufeinander folgen.

57 2.1 · Neuronale Kommunikation

In diesem Buch werden Sie immer wieder Beispiele für dieses Zusammenspiel finden. Durch die Beobachtung biologischer Aktivität und psychischen Geschehens werden in der biologischen Psychologie Erkenntnisse über Schlaf und Träume, über Depressionen und Schizophrenie, über Hunger, Sexualität, Stress und Erkrankungen gewonnen. Deshalb beginnen wir das Thema Psychologie mit einem Blick auf ihre biologischen Wurzeln.

2.1

Neuronale Kommunikation

Ziel 2: Erklären Sie, warum wir das Verhalten des Menschen besser verstehen können, wenn wir jede Person als biopsychosoziales System auffassen, und erörtern Sie, warum Wissenschaftler andere Lebewesen erforschen, um Anhaltspunkte für neuronale Prozesse beim Menschen zu finden.

»Wäre ich heute Student, könnte ich, glaube ich, nicht widerstehen, Neurowissenschaften zu studieren.« Der Schriftsteller Tom Wolfe, 2004

Biologische Psychologie (biological psychology): Teilbereich der Psychologie, der sich mit dem Zusammenspiel von Biologie und Verhalten beschäftigt; auch als physiologische Psychologie bezeichnet.

Das Informationssystem unseres Körpers ist aus Milliarden von miteinander verbundenen Zellen, den Neuronen, aufgebaut. Um unsere Gedanken und Handlungen, Erinnerungen und Stimmungen zu ergründen, müssen wir zunächst verstehen, wie Neuronen funktionieren und untereinander kommunizieren. Jeder von uns ist ein System, das aus Subsystemen besteht, die wiederum aus anderen, noch kleineren Subsystemen bestehen. Kleine Zellen organisieren sich zu Organen wie dem Magen, dem Herz und dem Gehirn. Diese Organe wiederum bilden ein System, das Verdauung, Durchblutung und Informationsverarbeitung erst möglich macht. Und auch diese Prozesse sind Teil eines noch größeren Systems – das Individuum, das seinerseits Teil einer Familie, einer Kultur und einer Gemeinschaft ist. Jeder von uns ist ein biopsychosoziales System. Um das menschliche Verhalten verstehen zu können, müssen wir also untersuchen, wie diese biologischen, psychologischen und soziokulturellen Systeme funktionieren und interagieren. In diesem Buch beginnen wir mit der kleinsten Einheit des Systems und arbeiten uns dann weiter in komplexere Bereiche vor, in diesem Kapitel von den Nervenzellen zum Gehirn, dann in den nächsten Kapiteln zu Umwelt- und kulturellen Einflüssen und ihren Interaktionen mit den biologischen Prozessen. Wir werden aber auch sehen, wie unsere Gedanken und Gefühle die Nervenzellen, ihr Zusammenwirken und ihre Funktionsfähigkeit beeinflussen. In allen Bereichen untersuchen Psychologen, wie Informationen verarbeitet werden, wie sie aufgenommen, organisiert, interpretiert und gespeichert werden und welchen Gebrauch wir letztlich davon machen. Für Wissenschaftler ist es ein glücklicher Umstand der Natur, dass die Informationssysteme von Menschen und Tieren in ihrer Funktionsweise einander ähnlich sind. Dies geht so weit, dass es bei einer kleinen Probe von Hirngewebe nicht möglich ist, zu bestimmen, ob sie vom Menschen oder vom Affen stammt. Diese Ähnlichkeit erlaubt es Wissenschaftlern, anhand einfacherer Lebewesen (Tintenfischen oder Wasserschnecken) herauszufinden, wie unsere neuronalen Systeme funktionieren. Sie ermöglicht es ihnen, anhand von Gehirnen anderer Säugetiere zu erkennen, wie unser Gehirn aufgebaut ist. Jedes Auto ist anders, aber alle Autos haben einen Motor, ein Gaspedal, ein Steuerrad und Bremsen. Ein Marsmensch könnte jedes Einzelne von ihnen untersuchen und die Funktionsprinzipien verstehen. Entsprechend unterscheiden sich die Lebewesen, doch ihre Nervensysteme funktionieren ganz ähnlich. Obwohl das Gehirn des Menschen komplexer ist als das einer Ratte, unterliegen beide den gleichen Funktionsprinzipien.

2.1.1 Neuron Ziel 3: Beschreiben Sie die Bestandteile einer Nervenzelle, und erklären Sie, wie ihre Impulse erzeugt werden.

Das neuronale Informationssystem unseres Körpers ist ein komplexes System, das aus einfachen Bausteinen zusammengesetzt ist. Die Grundbausteine sind Neuronen, also Nervenzellen. Es gibt unterschiedliche Arten von Nervenzellen, aber alle sind Variationen desselben Bauplans (. Abb. 2.2). Jede besteht aus einem Zellkörper und aus davon abzweigenden Fasern. Der Dendritenbaum

Neuron (neuron): Nervenzelle, der Grundbaustein des Nervensystems. Dendriten (dendrites): vielfach verzweigte Erweiterungen einer Nervenzelle, mit denen Botschaften empfangen und Impulse an den Zellkörper weitergegeben werden.

2

58

Kapitel 2 · Neurowissenschaft und Verhalten

. Abb. 2.2. Motoneuron

2

Axon (axon): Erweiterung eines Neurons, das in sich verzweigenden Nervenendigungen (Dendriten) endet. Über sie werden Botschaften an andere Neuronen bzw. an Muskeln oder Drüsen weitergeleitet.

Myelinschicht (auch Markscheide; myelin sheath): Schicht von fettreichem Gewebe, das die Axone vieler Neuronen abschnittsweise umspannt. Durch die Myelinisierung wird die Geschwindigkeit der Informationsvermittlung erhöht, weil die Impulse von einem Knoten (Ranvier-Schnürring) zum nächsten springen.

empfängt die Informationen und leitet sie zum Zellkörper weiter. Von dort aus übermitteln die Axonbündel die Botschaft an andere Neuronen, Muskeln oder Drüsen. Die Axonen sprechen. Die Dendriten hören zu. Anders als die kurzen Dendriten sind die Axone manchmal sehr lang und erstrecken sich über weite Bereiche innerhalb des Körpers. Die Giganten des neuronalen Systems sind die Motoneurone, die die Muskeln steuern. Ein Neuron, das einen Befehl an einen Muskel im Bein weiterleitet, ist wie ein Basketball, der an einem 6 km langen Seil hängt. Eine Schicht aus Fettgewebe, die Myelinschicht, umspannt die Axone einiger Neuronen und beschleunigt so die Weiterleitung der Impulse. Dass diese Myelinschicht sehr wichtig ist, zeigt sich bei der multiplen Sklerose, einer Krankheit, bei der diese Schicht degeneriert. Folge ist eine Verlangsamung der Steuerung der Muskeln bis hin zum vollständigen Verlust der Kontrolle über die Muskeln. Abhängig von der Art des Gewebes, wandert der Nervenimpuls mit Geschwindigkeiten von gemütlichen 3 km/h bis zu halsbrecherischen 350 km/h. Trotzdem ist sogar diese Höchstgeschwindigkeit noch 3 Mio. Mal langsamer als die Geschwindigkeit, mit der sich Elektrizität durch ein Stromnetz bewegt. Gehirnaktivität wird in Millisekunden gemessen (tausendstel Sekunden), Computeraktivität dagegen in Nanosekunden (milliardstel Sekunden). Das erklärt zum Teil, warum menschliche Reaktionen auf ein plötzliches Ereignis, wie z. B. ein vor Ihrem Auto auftauchendes Kind, eine Viertelsekunde oder länger dauern. ! Ihr Gehirn ist einem Computer zwar in der Komplexität der Verarbeitung um ein Vielfaches überlegen, nicht aber, wenn es darum geht, wie schnell einfache Reaktionen ausgeführt werden.

Aktionspotenzial (action potential): Nervenimpuls, also eine kurzfristige elektrische Ladung, die am Axon entlang wandert. Diese Ladung entsteht dadurch, dass sich positiv aufgeladene Atome durch die Kanäle der Membran eines Axons herein- und wieder herausbewegen.

Ruhepotenzial (resting potential): das Membranpotenzial, das vorliegt, wenn kein Nervenimpuls weitergeleitet wird; im Inneren des Axons befinden sich negativ geladene, im Umfeld positiv geladene Ionen. »Ich besinge die Elektrizität des Körpers.« Walt Whitman, Children of Aden, 1855

Eine Nervenzelle löst einen Impuls aus, wenn sie von Sinnesrezeptoren durch Druck, Hitze oder Licht oder von anderen Neuronen durch chemische Botenstoffe stimuliert wurde. Dieser Impuls, Aktionspotenzial genannt, ist eine kurze elektrische Ladung, die das Axon entlangwandert. Neuronen erzeugen durch chemische Prozesse Elektrizität, so wie Batterien es tun. Der Prozess der Umwandlung von Chemie in Elektrizität erfolgt durch den Austausch von elektrisch geladenen Atomen, sog. Ionen. Im Ruhezustand befindet sich im flüssigen Innenraum der Neuronen ein Überschuss an negativ geladenen Ionen, während in der Flüssigkeit außerhalb des Neurons vor allem positiv geladene Ionen enthalten sind. Dieser Zustand eines positiv geladenen Umfelds und eines negativ geladenen Inneren am Axon wird als Ruhepotenzial bezeichnet. Ähnlich wie beim Zugang zu einem gut bewachten Gebäude ist die Oberfläche des Axons sehr wählerisch darin, wen oder was sie durchlässt. Man sagt, die Oberfläche ist semipermeabel. So wird z. B. verhindert, dass positive Natriumionen in ein ruhendes Axon eindringen können. Wenn jedoch die Weiterleitung eines Impulses beginnt – wir reden davon, dass »das Neuron feuert« –, verändert sich die Durchlässigkeit. Diesen Vorgang nennt man Depolarisation. Am

59 2.1 · Neuronale Kommunikation

Beginn des Axons öffnen sich Tore in der Zellmembran, ähnlich wie Kanaldeckel, die von unten aufgedrückt werden, und die positiv geladenen Natriumionen strömen durch die Membran ins Neuron hinein (. Abb. 2.3). So wird die Spannung an diesem Teil des Axons verringert, es wird depolarisiert, und dies bewirkt wiederum, dass sich die Tore in der Membran ein Stück weiter hinten öffnen. Danach öffnen sich die Tore noch ein Stück weiter hinten, und immer so weiter, ähnlich wie bei einer Reihe umfallender Dominosteine. Während einer Ruhepause (der Refraktärphase, ähnlich wie beim Blitz einer Kamera, der nach dem Einsatz eine gewisse Zeit benötigt, um sich wieder aufzuladen) pumpt das Neuron die positiv geladenen Natriumionen aus seinem Inneren wieder heraus. Erst dann kann es erneut depolarisiert werden. In myelinisierten Neuronen wird die Weiterleitung dadurch beschleunigt, dass das Aktionspotenzial von einem sog. RanvierSchnürring (einer ringförmigen Einschnürung an markhaltigen Nervenfasern, jeweils an der Grenze zweier Zellgebiete) zum nächsten springt (. Abb. 2.2). Es ist kaum zu fassen, dass sich diese chemischen Prozesse 100- bis 1000-mal pro Sekunde wiederholen. Doch solch unglaublichen Vorgängen werden wir noch öfter begegnen.

. Abb. 2.3. Aktionspotenzial

! Die Nervenzelle ist ein winziger Computer, der Entscheidungen trifft und dafür sehr komplizierte Berechnungen anstellen muss. An ihrem Zellkörper und an den Dendriten empfängt sie Signale von Hunderten, wenn nicht Tausenden anderen Neuronen.

»Das Neuron erzählt einem anderen nur, wie erregt es ist.« Francis Crick, Was die Seele wirklich ist, 1997

Die meisten dieser Signale sind exzitatorisch (erregend), sie wirken wie das Gaspedal der Nervenzelle, andere sind inhibitorisch (hemmend) und drücken auf die Bremse. Erregende und hemmende Impulse werden gegeneinander aufgerechnet. Übersteigt die bleibende Menge an Erregung eine Mindestintensität, den sog. Schwellenwert, wird ein Aktionspotenzial ausgelöst. (Stellen Sie sich das so vor: Wenn auf einer Party die Anzahl der gut gelaunten Stimmungskanonen größer ist als die Zahl derjenigen, die gelangweilt in der Küche herumsitzen, kann die Party losgehen.) Das Aktionspotenzial bewegt sich am Axon entlang fort, das sich verzweigt und Verbindungen mit Hunderten oder Tausenden anderer Neuronen sowie mit den Muskeln und Drüsen des Körpers herstellt.

Schwellenwert (threshold): Grad an Stimulation, der benötigt wird, um einen neuronalen Impuls auszulösen.

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Kapitel 2 · Neurowissenschaft und Verhalten

Es ist allerdings nicht möglich, durch die Verstärkung des stimulierenden Impulses auch die Stärke des Aktionspotenzials zu vergrößern, das an der Zelle entsteht. Die Reaktion des Neurons ist eine Alles-oder-nichts-Reaktion: Wie eine Pistole feuert es oder feuert nicht. Wie aber spüren wir die Intensität eines Reizes? Wie unterscheiden wir eine leichte Berührung von einer heftigen Umarmung? Ein starker Reiz – eher ein Schlag als eine zarte Berührung – kann insgesamt mehr Neuronen dazu bringen, zu feuern und häufiger zu feuern.

2 2.1.2 Wie Nervenzellen kommunizieren Ziel 4: Beschreiben Sie, wie Nervenzellen miteinander kommunizieren.

»Bei jeder Informationsverarbeitung im Gehirn sprechen die Neuronen an den Synapsen miteinander.« Solomon H. Snyder, Neurowissenschaftler (1984)

Synapse (synapse): Verbindungsstelle zwischen der axonalen Endigung des präsynaptischen Neurons, das Impulse weitergibt, und einem Dendriten oder dem Zellkörper des postsynaptischen Neurons, das die Impulse empfängt. Der winzige Zwischenraum zwischen den beiden Zellen wird als synaptischer Spalt bezeichnet.

Neurotransmitter (neurotransmitter): chemische Botenstoffe, die den synaptischen Spalt zwischen den Neuronen überqueren. Die Stoffe werden vom präsynaptischen Neuron ausgeschüttet und wandern über den Spalt zum postsynaptischen Neuron, wo sie an Rezeptorenmoleküle gebunden werden. Damit haben die Neurotransmitter einen Einfluss darauf, ob in der postsynaptischen Zelle ein neuronaler Impuls entsteht.

Neuronen sind so dicht miteinander verwoben, dass selbst mit einem Mikroskop schwer zu erkennen ist, wo ein Neuron endet und wo das nächste beginnt. Früher glaubten die Wissenschaftler, dass die Axone der Zellen direkt mit den Dendriten der anderen Zellen verbunden sind. Dann aber beschrieb der spanische Anatom Santiago Ramon y Cajal (1852–1934) die kleinen Zwischenräume zwischen den einzelnen Nervenzellen und schloss daraus, dass die einzelnen Zellen im Nervensystem unabhängig voneinander funktionieren. Gleichzeitig entdeckte der britische Physiologe Sir Charles Sherrington (1857–1952), dass neuronale Impulse unerwartet lange brauchen, um sich fortzubewegen. Daraus folgerte Sherrington, dass es bei der Übertragung kurze Unterbrechungen geben musste. Heute wissen wir, dass die axonale Endigung eines Neurons in Wirklichkeit nicht direkt mit der postsynaptischen Zelle verbunden ist, sondern dass sich zwischen beiden Zellen ein Spalt befindet, der nur wenige Nanometer groß ist. Sherrington nannte die Verbindungsstelle Synapse und den Spalt dazwischen den synaptischen Spalt. Für Cajal waren diese Verbindungen der Neuronen, die er als »protoplasmische Küsse« bezeichnete, ein Wunder der Natur. »Vergleichbar mit eleganten Damen, die ihr Make-up nicht ruinieren wollen und nur so tun, als würden sie jemanden küssen, berühren sich die Dendriten und Axone nicht richtig«, merkt Diane Ackerman (2004) an. Wie aber bewerkstelligen die Neuronen diesen protoplasmischen Kuss? Wie gelangen die Informationen über den synaptischen Spalt? Die Antwort auf diese Frage ist eine der wichtigsten wissenschaftlichen Erkenntnisse unseres Zeitalters. Wenn das Aktionspotenzial die Endigung des Axons erreicht, bewirkt es die Ausschüttung von chemischen Botenstoffen; sie werden Neurotransmitter genannt (. Abb. 2.4). Im 10.000sten Teil einer Sekunde überqueren die Neurotransmittermoleküle den synaptischen Spalt und docken an einem Rezeptor am postsynaptischen Neuron an, so präzise, wie ein Schlüssel ins richtige Schloss passt. Für einen Moment öffnen die Rezeptormoleküle dann kleine Kanäle am postsynaptischen Neuron. Dadurch können Ionen in das Neuron strömen und damit die Wahrscheinlichkeit für das Auslösen eines Aktionspotenzials erhöhen oder verringern. Die Neurotransmitter, die sich noch im Spalt befinden, werden vom präsynaptischen Neuron wieder aufgenommen. Dieser Vorgang wird auch als Reuptake (Wiederaufnahme) bezeichnet.

2.1.3 Wie uns Neurotransmitter beeinflussen Ziel 5: Erklären Sie, wie Neurotransmitter das Verhalten beeinflussen, und stellen Sie kurz die Auswirkungen des Acetylcholins und der Endorphine dar. »Beim Gehirn gilt Folgendes: Wollen Sie es in Aktion sehen, dann folgen Sie den Neurotransmittern.« Floyd Broom, Neurowissenschaftler (1993)

Als Wissenschaftler Dutzende verschiedener Neurotransmitter entdeckten, ergaben sich auch neue Fragen: Sind spezielle Transmitter nur in bestimmten Bereichen des Gehirns zu finden? Wie wirken sie bei uns auf Stimmungen, Erinnerungen und geistige Fähigkeiten? Kann man ihre Wirkung dadurch verstärken oder abschwächen, dass man spezielle Medikamente zu sich nimmt oder sich auf eine bestimmte Weise ernährt? In späteren Kapiteln werden wir näher darauf eingehen, welchen Einfluss Neurotransmitter bei der Entstehung von Depressionen und Euphorie, von Hunger, von Gedanken und Sucht haben und welche Rolle sie in der Therapie spielen. Hier wollen wir jedoch schon einmal einen Blick

61 2.1 · Neuronale Kommunikation

darauf werfen, wie Neurotransmitter unsere Motorik und unsere Emotionen beeinflussen. Heute wissen wir, dass in bestimmten Gehirnbahnen jeweils nur ein oder zwei Neurotransmitter vorkommen (. Abb. 2.5) und dass bestimmte Neurotransmitter bestimmte Effekte auf unser Verhalten und unsere Emotionen haben. . Tabelle 2.1 zeigt Beispiele dafür. Acetylcholin (ACh) ist einer der am besten untersuchten Neurotransmitter. Neben der Rolle des Acetylcholins bei Prozessen wie Lernen und Gedächtnis ist ACh auch ein Botenstoff, der in jeder Verbindungsstelle zwischen einem Motoneuron und einem Skelettmuskel vorkommt. Wenn die Bläschen das ACh zu den Muskelzellen hin ausschütten, wird der Muskel kontrahiert. Wird die Übertragung des ACh blockiert, können die Muskeln nicht kontrahiert werden. Eine neue aufregende Entdeckung im Bereich der Neurotransmitter machten Pert u. Snyder (1973), als sie Morphium radioaktiv markierten. Dies lieferte ihnen einen Hinweis darauf, wo dieser Stoff im Gehirn eines Tieres aufgenommen wird. Ihre Entdeckung: Morphium ist eine Droge, ein sog. Opiat mit schmerzlindernder und stimmungsaufhellender Wirkung. Pert u. Snyder fanden heraus, dass diese Droge genau in jenen Gehirnbereichen an Rezeptoren bindet, die mit Stimmung und Schmerzempfindung in Zusammenhang gebracht wurden. Es ist schwer vorstellbar, dass das Gehirn solche »Opiatrezeptoren« bereitstellt, wenn ihm nicht selbst irgendwelche natürlich vorkommenden Opiate, die an diese Rezeptoren andocken, zur Verfügung stünden. Warum sollte das Gehirn ein chemisches Schloss haben, aber keinen dazu passenden Schlüssel besitzen? Die Wissenschaftler bestätigten bald darauf, dass es im Gehirn tatsächlich einige Arten von Neurotransmittern gibt, die Morphinen ähneln. Sie wurden Endorphine genannt [kurz für endogene (im Körper produzierte) Morphine]. Diese natürlichen Opiate werden ausgeschüttet, wenn der Mensch Schmerzen empfindet oder hart trainiert. Das mag auch

. Abb. 2.4. Wie Neurone kommunizieren

Acetylcholin (ACh; acetylcholine): Neurotransmitter, der Lernen möglich macht und Muskelkontraktionen auslöst.

Endorphine (»innere Morphine« ; endorphins): natürliche, den Opiaten ähnelnde Neurotransmitter, die mit Schmerzlinderung und Lust in Zusammenhang gebracht werden.

2

Kapitel 2 · Neurowissenschaft und Verhalten

. Abb. 2.5a, b. Bahnen der Neurotransmitter: dopaminerge (a) und serotonerge (b) Bahnen Die verschiedenen chemischen Botenstoffe sind jeweils in eigenen Transmittersystemen organisiert; dies sind jene Projektionsbahnen im Gehirn, wo die Stoffe vor allem gefunden wurden. Als Beispiel werden hier die Transmittersysteme von Dopamin und Serotonin dargestellt. (Carter 1998)

2

Der Physiker Lewis Thomas über Endorphine: »Da ist er, ein biologisch universeller Gnadenakt. Ich kann ihn nicht erklären, außer vielleicht mit den folgenden Worten: Ich hätte ihn einbauen lassen, wenn ich ganz am Anfang Mitglied des Planungsausschusses gewesen wäre.« The Youngest Science, 1983

b

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. Tabelle 2.1. Einige Neurotransmitter und ihre Funktionen

Neurotransmitter

Funktion

Beispiele für Fehlfunktionen

Acetylcholin (ACh)

Ermöglicht Muskelbewegungen, Lernen und Gedächtnis

Bei der Alzheimer-Krankheit sterben die Neuronen ab, die ACh produzieren

Dopamin

Beeinflusst Bewegung, Lernen, Aufmerksamkeit und Gefühle

Eine übermäßige Aktivität von Dopaminrezeptoren wird mit Schizophrenie in Verbindung gebracht. Wenn zu wenig Dopamin vorhanden ist, kommt es zum Zittern und zur eingeschränkten Beweglichkeit bei der ParkinsonKrankheit

Serotonin

Hat einen Einfluss auf Stimmung, Hunger, Schlaf und Erregung

Eine Unterversorgung ist bei Depressionen zu finden, Antidepressiva wie Fluctin und andere erhöhen den Serotoninspiegel

Noradrenalin

Trägt zur Steuerung von Wachheit und Erregung bei

Eine Unterversorgung kann zu gedrückter Stimmung führen

GABA (J-Aminobuttersäure)

Einer der wichtigsten hemmenden Neurotransmitter

Die Unterversorgung korreliert mit Anfällen, Zittern und Schlaflosigkeit

Glutamat

Einer der wichtigsten anregenden Neurotransmitter; am Gedächtnisprozess beteiligt

Eine Überversorgung kann zu einer Überstimulation des Gehirns führen und Migräne oder Anfälle auslösen (darum vermeiden manche Menschen Natriumglutamat im Essen)

Moleküle und Muskeln Wenn sich Ihr Körper bewegt, geschieht das durch eine Fülle von cholinergen Molekülen, die die Muskelaktivität auslösen

die guten Gefühle erklären, die z. B. beim Joggen aufkommen, ebenso die schmerzlindernde Wirkung von Akupunktur, oder warum manche schwerverletzten Menschen keine Schmerzen mehr spüren, wie David Livingston 1875 in »Missionary Travels« beschrieb:

photos.com

Ich hörte einen Schrei. Als ich aufstand und mich umdrehte, sah ich den Löwen, wie er auf mich zusprang. Ich war auf geringer Höhe, und er bekam meine Schulter zu packen, als er sprang, und wir fielen beide gemeinsam zu Boden. Fürchterlich in mein Ohr knurrend, schüttelte er mich, wie ein Terrier eine Ratte schüttelt. Der Schock machte mich benommen, so wie sich wohl eine Maus fühlt, wenn sie zum ersten Mal von einer Katze durchgeschüttelt wird. Ich fühlte mich wie in einem Traumzustand, in dem es keinen Schmerz und keine Angst gab, obwohl ich mir der Geschehnisse durchaus bewusst war … Diesen merkwürdigen Zustand empfinden wohl alle Tiere, die von Fleischfressern getötet werden; falls ja, ist er eine gnädige Vorkehrung unseres barmherzigen Schöpfers, um den Schmerz des Todes zu erleichtern.

Aus Rita Carter, Mapping the Mind © 1998, University of California Press

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63 2.1 · Neuronale Kommunikation

Wie Drogen und andere chemische Stoffe die neuronale Übertragung verändern Ziel 6: Erklären Sie, wie Drogen und andere chemische Stoffe die neuronale Übertragung beeinflussen, und beschreiben Sie die gegensätzlichen Wirkungen von Agonisten und Antagonisten.

Wenn die Endorphine tatsächlich Schmerzen lindern und die Stimmung heben, warum überschwemmen wir unser Gehirn nicht einfach mit künstlichen Opiaten und verstärken damit die dem Gehirn eigene »Gutfühlchemie«? Ein Problem dabei ist, dass das Gehirn, wenn es mit Opiaten wie Heroin oder Morphium überschwemmt wird, aufhören könnte, die eigenen, natürlichen Opiate zu produzieren. Bei Drogenentzug wären dann im Gehirn plötzlich gar keine Opiate mehr vorhanden. Drogenabhängige erleben diesen Zustand als Qualen, die so lange andauern, bis das Gehirn die Produktion der natürlichen Opiate wieder aufnimmt oder bis mehr künstliche Opiate eingenommen werden. Wie in späteren Kapiteln ausgeführt wird, haben Drogen, die die Stimmung beeinflussen, von Alkohol über Nikotin zu Heroin, alle einen ähnlichen Effekt: Sie führen alle – manche auch erst nach längerfristiger, regelmäßiger Anwendung – zu anhaltenden und oft nicht mehr umkehrbaren negativen Konsequenzen für die Gesundheit des Betroffenen. Wer die Produktion von Neurotransmittern im eigenen Körper unterdrückt, muss also einen hohen Preis dafür zahlen. Viele Drogen beeinflussen die Vorgänge an den Synapsen, oft durch Erregung oder Hemmung der Reizweiterleitung. Agonisten wirken erregend. Ein Molekül eines Agonisten kann einem Neurotransmitter so sehr ähneln, dass es die gleichen Effekte hat (. Abb. 2.6b) oder die Wiederaufnahme des Neurotransmitters verhindert. Manche Opiate beispielsweise machen »high«, indem sie das normale Gefühl von Erregung oder Lust verstärken. Nicht so angenehm sind die

. Abb. 2.6. Agonisten und Antagonisten

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Kapitel 2 · Neurowissenschaft und Verhalten

Auswirkungen des Spinnengifts der Schwarzen Witwe, das die Synapsen mit ACh überschwemmt. Und was hat das zur Folge? Heftige Muskelkontraktionen, Krämpfe und möglicherweise den Tod. Antagonisten dagegen wirken hemmend. Ein Antagonist kann ein Molekül einer chemischen Substanz sein, das die Ausschüttung von Neurotransmittern verhindert. Botulin, ein Gift, das sich in unsachgemäß hergestellten Fertiggerichten in Dosen bilden kann, führt dadurch, dass es die Ausschüttung des ACh beim postsynaptischen Neuron blockiert, zu einer Lähmung (so glätten Botulin- oder Botox-Spritzen Falten dadurch, dass sie die darunter liegenden Gesichtsmuskeln lähmen). Oder ein Antagonist ähnelt dem natürlichen Neurotransmitter so sehr, dass er an die spezifischen Rezeptoren andocken und seine Wirkung blockieren kann (. Abb. 2.6c), jedoch nicht genug, dass er auch den Rezeptor stimulieren könnte (ähnlich ausländischen Münzen, die in einen Zigarettenautomaten zwar hineinpassen, mit denen man aber keine Zigaretten ziehen kann). Curare, ein Gift, das bestimmte Indianer in Südamerika zum Jagen auf die Pfeilspitzen schmieren, besetzt und blockiert die ACh-Rezeptoren, wodurch die Neurotransmitter nicht mehr in der Lage sind, ihren Einfluss auf die Muskeln auszuüben. Wenn ein Tier von einem dieser Pfeile getroffen wird, wird es sofort gelähmt sein. Die Neurotransmitterforschung führt zur Entwicklung von neuen Medikamenten zur Linderung von Depressionen, Schizophrenie und anderen Störungen. Aber das richtige Medikament zu entwickeln ist schwieriger, als man es sich vorstellt. Die Blut-Hirn-Schranke erlaubt es dem Gehirn, ungewollte chemische Stoffe auszuschließen, die im Blut zirkulieren. Wissenschaftler wissen z. B., dass das Zittern, das für die Parkinson-Krankheit typisch ist, aus dem Absterben von Nervenzellen resultiert, die Dopamin produzieren. Jedoch hilft es den Patienten nicht, wenn man ihnen Dopamin verabreicht, da dies die Blut-Hirn-Schranke nicht überwinden kann. Aber einige chemische Substanzen können die Schranke überwinden. Eines davon, L-Dopa, ein Stoff, den das Gehirn in Dopamin umwandeln kann, ermöglicht es vielen Patienten, wieder eine bessere Kontrolle über ihre Muskeln zu erlangen.

2

Lernziele Abschnitt 2.1 Neuronale Kommunikation Ziel 1: Beschreiben Sie die Theorie der Phrenologie, die sich am Ende als falsch erwies. Nach der Theorie der Phrenologie sollte man aus Unebenheiten, Einkerbungen und der Form des Schädels auf Charaktereigenschaften und Fähigkeiten schließen können. Franz Gall unterzog seine Überzeugungen in Bezug auf die Phrenologie keiner wissenschaftlichen Überprüfung. Diese frühe Theorie trug jedoch dazu bei, dass die Wissenschaftler begannen, über die Zusammenhänge zwischen unserer Biologie, unserem Verhalten und unseren seelischen Prozessen nachzudenken. Ziel 2: Erklären Sie, warum wir das Verhalten des Menschen besser verstehen können, wenn wir jede Person als biopsychosoziales System begreifen, und erörtern Sie, warum Wissenschaftler andere Lebewesen erforschen, um Anhaltspunkte für neuronale Prozesse beim Menschen zu finden. Wenn wir jeden Menschen als ein biopsychosoziales System ansehen, so ermöglicht uns dies, das Verhalten auf mehreren Analyseebenen zu untersuchen. Auf der biologischen Ebene setzen sich die Organe aus Nervenzellen und anderen Zellen zusammen und bilden umfassendere Systeme (Verdauung, Kreislauf, Informationsverarbeitung). Auf der soziokulturellen Ebene leben die Menschen zu bestimmten Zeiten und an bestimmten Orten und unterliegen bestimmten Umwelt- sowie gesellschaftlichen und kulturellen Einflüssen. Auf der psychologischen Ebene gehen die Gedanken und Emotionen der Menschen mit ihrer Biologie

und ihrer persönlichen Geschichte eine Wechselwirkung ein; und dadurch entwickelt sich ein einzigartiges Individuum. Viele neue Erkenntnisse gewinnen Wissenschaftler aus der Untersuchung neuronaler Prozesse bei anderen Säugetieren und bei relativ einfachen Lebewesen, weil sich die neuronalen Systeme bei Mensch und Tier ähneln. Ziel 3: Beschreiben Sie die Bestandteile einer Nervenzelle, und erklären Sie, wie ihre Impulse erzeugt werden. Das Nervensystem besteht aus Milliarden einzelner Zellen, die Neuronen genannt werden. Neuronen senden über ihr Axon, das manchmal von einer Myelinschicht umgeben ist, Signale aus. Neuronen erhalten über ein verzweigtes Dendritensystem und den Zellkörper Signale von anderen Neuronen. Wenn diese Signale zusammen stark genug sind, feuert das Neuron und übermittelt entlang seines Axons einen elektrischen Impuls (das Aktionspotenzial). Dies geschieht mit Hilfe eines Prozesses, bei dem chemische Stoffe in Elektrizität umgewandelt und Ionen ausgetauscht werden. Die Reaktion des Neurons ist eine Alles-oder-nichtsReaktion. Ziel 4: Beschreiben Sie, wie Nervenzellen miteinander kommunizieren. Wenn die Aktionspotenziale das Ende des Axons erreichen (die axonale Endigung), führen sie zur Ausschüttung von Neurotransmittern. Diese chemischen Botenstoffe übermitteln eine Botschaft vom präsynaptischen Neuron über eine Synapse an die Rezeptorstellen eines postsyn6

65 2.2 · Nervensystem

aptischen Neurons. Das präsynaptische Neuron absorbiert dann normalerweise bei einem Vorgang, der als Wiederaufnahme bezeichnet wird, den Überschuss an Neurotransmittermolekülen im synaptischen Spalt. Das postsynaptische Neuron erzeugt, wenn die Signale von diesem Neuron und von anderen stark genug sind, sein eigenes Aktionspotenzial und gibt die Botschaft an andere Zellen weiter. Ziel 5: Erklären Sie, wie Neurotransmitter das Verhalten beeinflussen, und stellen Sie kurz die Auswirkungen des Acetylcholins und der Endorphine dar. Jeder einzelne Neurotransmitter bewegt sich auf festgelegten Bahnen im Gehirn und hat einen bestimmten Effekt auf Verhalten und Emotionen. Acetylcholin, einer der Neurotransmitter, über die wir am meisten wissen, hat einen Einfluss auf Muskelbewegungen, Lernen und Gedächtnis. Endorphine sind natürliche Opiate, die in Reaktion auf Schmerz und körperliche Betätigung freigesetzt werden.

2.2

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Ziel 6: Erklären Sie, wie Drogen und andere chemische Stoffe die neuronale Übertragung beeinflussen, und beschreiben Sie die gegensätzlichen Wirkungen von Agonisten und Antagonisten. Drogen und andere chemische Stoffe haben einen Einfluss auf die Kommunikation an der Synapse. Agonisten wirken erregend, indem sie die Rolle von bestimmten Neurotransmittern übernehmen oder ihre Wiederaufnahme verhindern. Antagonisten wie Curare hemmen die Freisetzung eines bestimmten Neurotransmitters oder blockieren seine Auswirkungen. > Denken Sie weiter: Können Sie sich an eine Situation erinnern, in der Sie die Ausschüttung von Endorphinen in Ihrem Gehirn vor starkem Schmerz bewahrt hat?

Nervensystem

Ziel 7: Beschreiben Sie die beiden Hauptkomponenten des Nervensystems und geben Sie drei Arten von Neuronen an, die Informationen über das System hinweg übertragen.

Leben bedeutet, Informationen von der Umwelt und aus dem Körpergewebe aufzunehmen, Entscheidungen zu treffen und schließlich die Informationen und Befehle zurück an das Körpergewebe zu senden. Neuronen sind die Grundbausteine unseres Nervensystems, des elektrochemischen Hochgeschwindigkeitsinformationsnetzes in unserem Körper (. Abb. 2.7). Das Gehirn und das Rückenmark bilden das zentrale Nervensystem (ZNS). Das periphere Nervensystem (PNS) verbindet das zentrale Nervensystem mit den Sinnesrezeptoren, den Muskeln und den Drüsen. Die Axone, die diese Informationen des PNS übertragen, sind zu elektrischen Kabeln gebündelt, die uns als Nerven bekannt sind. Der Sehnerv z. B. ist ein Bündel aus einer Mio. einzelner Axone; sie übertragen die Informationen, die jedes der beiden Augen zum Gehirn sendet (Mason u. Kandel 1991).

Nervensystem (nervous system): elektrochemischesHochgeschwindigkeitskommunikationsnetz in unserem Körper, das aus allen Nervenzellen des peripheren und zentralen Nervensystems besteht. Zentrales Nervensystem (ZNS; central nervous system): Gehirn und Rückenmark. Peripheres Nervensystem (PNS; peripheral nervous system): sensorische Neuronen und Motoneuronen, die das zentrale Nervensystem (ZNS) mit dem Rest des Körpers verbinden, sowie die Neuronen des autonomen Nervensystems, also der Sympathikus und der Parasympathikus. Nerven (nerves): neuronale »Kabel«, die aus vielen Axonen bestehen. Diese gebündelten Axone, die Teil des peripheren Nervensystems sind, verbinden das zentrale Nervensystem mit Muskeln, Drüsen und Sinnesorganen.

. Abb. 2.7. Funktionelle Aufteilung des menschlichen Nervensystems

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Kapitel 2 · Neurowissenschaft und Verhalten

Sensorische Neuronen (sensory neurons): Nervenzellen, die von den Sinnesrezeptoren eingehende Informationen zum Zentralnervensystem übermitteln.

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Motoneurone (motor neurons): Neuronen, die den Muskeln und Drüsen die Informationen vom Zentralnervensystem übermitteln. Interneurone (interneurons): Neuronen des Zentralnervensystems, deren Aufgabe es ist, die interne Kommunikation zu gewährleisten sowie zwischen sensorischem Input und motorischem Output zu vermitteln.

In unserem Nervensystem werden die Informationen mit Hilfe dreier Arten von Neuronen weitergeleitet. Die sensorischen Neuronen schicken Informationen von der Körperoberfläche und den Sinnesorganen in den Körper hinein zum Gehirn und zum Rückenmark, die die eingehenden Informationen verarbeiten. Das ZNS sendet dann Befehle über Motoneurone zum Körpergewebe. Zwischen sensorischem Input und motorischem Output werden Informationen durch die interne Kommunikation des Zentralnervensystems mit Hilfe der Interneuronen verarbeitet. Dass dieser Prozess so komplex ist, liegt vor allem am System der Interneurone. Unser Nervensystem hat einige Millionen sensorischer Neuronen, einige Millionen Motoneuronen sowie Milliarden und Abermilliarden von Interneuronen.

2.2.1 Peripheres Nervensystem

Somatisches Nervensystem (somatic nervous system): Teil des peripheren Nervensystems, der die Skelettmuskulatur kontrolliert.

Ziel 8: Benennen Sie die Bestandteile des peripheren Nervensystems, und beschreiben Sie ihre Funktionen.

Autonomes (vegetatives) Nervensystem (autonomic nervous system): Teil des peripheren Nervensystems, der die Drüsen und Muskeln der Körperorgane (z. B. des Herzens) kontrolliert. Der sympathische Teil sorgt für Erregung, der parasympathische für Beruhigung.

Das periphere Nervensystem hat zwei Komponenten: eine somatische und eine vegetative. Das somatische Nervensystem ermöglicht es, die Bewegungen unserer Skelettmuskulatur unter Kontrolle zu halten. Wenn Sie am Ende dieser Seite angelangt sind, wird das somatische Nervensystem Ihrem Gehirn Informationen über den momentanen Zustand Ihrer Skelettmuskeln übermitteln und daraufhin Instruktionen über die Bewegungen zurücksenden, die erforderlich sind, um die Seite umzublättern. Das vegetative oder autonome Nervensystem übt die Kontrolle über die Drüsen und die Muskeln unserer inneren Organe aus. Wie ein Autopilot wird es gelegentlich bewusst außer Kraft gesetzt, meistens jedoch arbeitet es eigenständig (autonom), um unsere Körperfunktionen zu steuern, z. B. unseren Herzschlag, die Verdauung und die Drüsenaktivität. Das vegetative Nervensystem besteht aus zwei Untersystemen (. Abb. 2.8). Der Sympathikus versetzt uns in Erregung. Das heißt, er bereitet uns in Gefahr- bzw. Stresssituationen oder bei Herausforderungen (wie etwa bei einem heiß ersehnten Vorstellungsgespräch) auf eine angemessene Reaktion vor. Dies geschieht dadurch, dass er die Herzfrequenz zunehmen lässt, den Blutdruck erhöht, die Verdauung verlangsamt, den Blutzuckerspiegel steigen lässt und uns durch Schwitzen abkühlt (Lügendetektoren erfassen solche Stressreaktionen, die manchmal Begleiterscheinungen von Lügen sind). Lässt der Stress nach, ruft der Parasympathikus die umgekehrten Effekte hervor. Neue Energie wird gespeichert, indem der Parasympathikus u.a. durch Verlangsamung des Herzschlags und Senkung des Blutzuckers beruhigend wirkt. In jeder alltäglichen Situation arbeiten Sympathikus und Parasympathikus zusammen, um unseren inneren Zustand stabil zu halten.

Sympathikus (sympathetic nervous system): Teil des vegetativen Nervensystems, der für körperliche Erregung und damit für die optimale Nutzung der Energie in Stresssituationen sorgt. Parasympathikus (parasympathetic nervous system): Teil des vegetativen Nervensystems, der für Beruhigung sorgt und es damit dem Körper ermöglicht, neue Energie zu speichern.

2.2.2 Zentrales Nervensystem Ziel 9: Stellen Sie die Einfachheit der Reflexbahnen und die Komplexität der neuronalen Netze einander gegenüber.

Aus der einfachen Kommunikation der einzelnen Neuronen untereinander entwickelt sich die Komplexität unseres zentralen Nervensystems, die uns erst zu Menschen macht: unsere Gefühle, unsere Gedanken und unser Handeln. Zigmilliarden von Neuronen, jedes davon mit Tausenden anderen verbunden, bieten ein sich ständig veränderndes Schaltbild, das auch einen leistungsstarken Computer in den Schatten stellt. Eines der größten und bislang ungelösten wissenschaftlichen Rätsel ist die Frage, wie sich diese neuronale Maschine in komplexe Schaltkreise organisiert, die Lernen, Fühlen und Denken möglich machen.

Rückenmark und Reflexe Das Rückenmark ist als Teil des Zentralnervensystems die Autobahn, auf der Informationen vom peripheren Nervensystem zum Gehirn reisen. Aufsteigende Nervenfasern übermitteln sensorische

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. Abb. 2.8. Funktionelle Zweiteilung des vegetativen Nervensystems Das vegetative Nervensystem kontrolliert die eher autonomen (oder selbstregulierenden) internen Funktionen. Der sympathische Teil sorgt für Erregung und verbraucht Energie, während der parasympathische Teil für Beruhigung und die Neuaufladung mit Energie sorgt, wobei die normale Erhaltungsaktivität bestehen bleibt. Zum Beispiel erhöht der Sympatikus den Herzschlag, während der Parasympatikus ihn verlangsamt

Informationen nach oben, während absteigende Nervenfasern motorische Informationen zurücksenden. Die Nervenbahnen, die für unsere Reflexe, also für unsere automatischen Reaktionen auf Reize zuständig sind, sind das beste Beispiel für die Aufgaben des Rückenmarks. Ein einfacher Reflexbogen über das Rückenmark besteht aus einem einzigen sensorischen Neuron und einem einzigen Motoneuron. Oft sind diese durch ein Interneuron miteinander verbunden. Der Kniesehnenreflex z. B. besteht aus solch einer einfachen Nervenbahn; er könnte sogar noch ausgelöst werden, wenn die Reizleitung zum Gehirn völlig unterbrochen ist. Ein anderer derartiger Reflexbogen ist für den Schmerzreflex verantwortlich (. Abb. 2.9). Wenn Sie eine Flamme mit dem Finger berühren, wandert die neuronale Aktivität, die durch die Wahrnehmung der Hitze entstanden ist, über sensorische Neuronen zu Interneuronen in Ihrem Rückenmark. Diese Interneurone wiederum reagieren mit einer Aktivierung der Motoneurone und der Muskeln im Arm. Darum hat man den Eindruck, dass die Hand nicht willentlich zurückgezogen wird, sondern von selbst zurückzuckt. Da die einfache Reflexbahn durch das Rückenmark geht, wird die Hand von der Flamme zurückgezogen, bevor das Gehirn die Informationen über den Schmerz erhält und darauf reagieren kann. Informationen bewegen sich über das Rückenmark zum Gehirn und wieder zurück. Wäre der obere Teil Ihres Rückmarks durchtrennt, könnten Sie diesen Schmerz nicht empfinden, genauso wenig wie angenehme Berührungen. Ihr Körper wäre im wörtlichen Sinne außer Reichweite Ihres Gehirns. Es würden bei Ihnen sämtliche Empfindungen und die Willkürmotorik in den Körperregionen ausfallen, die über Neuronen mit den Teilen des Rückenmarks unterhalb der Verletzung verbunden sind. Ihr Knie würde bei der Untersuchung des Kniesehnenreflexes hochschnellen, ohne dass Sie die Berührung des kleinen Gummihammers spüren. Wenn bei einem von der Taille ab gelähmten Mann der Teil der Gehirns vom Rest abgeschnitten ist, der für die Hem-

Reflex (reflex): einfache, automatische, angeborene Reaktion auf einen sensorischen Reiz, wie z. B. der Kniesehnenreflex.

»Ist das Nervensystem zwischen dem Gehirn und anderen Körperregionen unterbrochen, dann sind Erfahrungen dieser anderen Teile für den Geist gar nicht vorhanden. Das Auge ist dann blind, das Ohr taub, die Hand ist empfindungs- und bewegungslos.« William James (»Principles of Psychology«, 1890)

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Kapitel 2 · Neurowissenschaft und Verhalten

. Abb. 2.9. Einfacher Reflex

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mung von Erektionen zuständig ist, erigiert er oft, wenn sein Geschlechtsteil stimuliert wird, da die Erektion ein einfacher Reflex ist (Goldstein 2000). Frauen mit einer ähnlichen Lähmung können auf Stimulation mit vaginaler Lubrikation reagieren. Aber es hängt vom Ort und vom Ausmaß der Verletzung des Rückenmarks ab, ob solcherart gelähmte Patienten überhaupt noch auf erotische Bilder reagieren und ob sie noch Gefühle im Genitalbereich haben (Kennedy u. Over 1990; Sipski u. Alexander 1999). Um körperlichen Schmerz oder körperliche Lust zu verspüren, müssen die sensorischen Informationen bis zum Gehirn vordringen.

Gehirn und neuronale Netze

Neuronale Netze (neural networks): miteinander verbundene Nervenzellen. Die Netze können durch Erfahrung lernen, da die Verbindungen, die zu bestimmten Ergebnissen führen, durch Rückkopplung verstärkt oder geschwächt werden. Mit Computerprogrammen, die neuronale Netze nachbilden, kann diese Art von Lernen simuliert werden.

Der andere Teil des Zentralnervensystems, das Gehirn, erhält Informationen, interpretiert sie und entscheidet über Reaktionen. Dabei funktioniert das Gehirn so ähnlich wie ein Computer. Es erhält von den beiden Augen zwei etwas unterschiedliche Abbildungen eines Objektes, interpretiert den Unterschied und schließt sofort daraus, wie weit das Objekt entfernt sein muss, damit ein solcher Unterschied entsteht. Wenn der Fußballtorwart Jens Lehmann einen Ball auf sich zukommen sieht, stellt sein Gehirn eine unglaubliche Zahl von Berechnungen an, um auf die Distanz, den Winkel und die Geschwindigkeit des Ballflugs mit der passenden Körperhaltung zu reagieren. Wie schafft es Lehmanns Gehirn, diese Berechnungen durchzuführen? Zunächst einmal ist jedes Neuron mit Tausenden anderen verbunden. Um ein Gefühl für die Komplexität dieser Vernetzung zu bekommen, stellen Sie sich einmal Folgendes vor: Sie können zwei Legosteine mit jeweils acht Knöpfen auf 24 Arten aufeinanderstecken, und sechs Stücke auf annähernd 103 Mio. Arten. Bei ungefähr 40 Mrd. Neuronen, die jeweils um die 10.000 Kontaktstellen zu anderen Neuronen haben, kommen wir auf etwa 400 Billionen synaptische Verbindungen, also Orte, an denen die Neuronen auf ihre Nachbarn treffen und sie begrüßen (de Courten-Myers, 2005). Ein sandkorngroßes Stück Ihres Gehirns enthält 100.000 Neuronen und eine Mrd. »sprechende« Synapsen (Ramachandran u. Blakeslee 1998). Um Mensch zu sein, muss man ganz schön viele Nerven haben. Neuronen schließen sich zu Arbeitsgruppen, sog. neuronalen Netzen, zusammen. Zum besseren Verständnis der Tatsache, dass Neuronen dazu neigen, Verbindungen mit benachbarten Neuronen zu schließen, schlagen uns Kosslyn u. Koenig (1992, S. 12) vor, »darüber nachzudenken, warum Städte existieren: Warum verteilen sich die Menschen nicht einfach gleichmäßig auf die ländlichen Gegenden?« Genauso wie sich Menschen zusammenschließen, schließen sich auch Neuronen mit benachbarten Neuronen zusammen, mit denen sie dann schnell Verbindung aufnehmen können. Wie in . Abb. 2.10 zu sehen ist, sind die Zellen in jeder Schicht eines neuronalen

69 2.2 · Nervensystem

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. Abb. 2.10. Vereinfachtes neuronales Netz Neurone bauen Netzwerke mit benachbarten Neuronen auf. In diese Netze aus miteinander verbundenen Nervenzellen ist Ihre eigene Identität und die Wahrnehmung Ihres Selbst mit eingewebt, die sich über die Jahre hinweg erweitert

Netzes mit vielen Zellen aus der nächsten Schicht verbunden. In dem Maße, in dem durch Rückkopplung die Verbindungen, die bestimmte Ergebnisse hervorbringen, verstärkt werden, kommt es zu Lernprozessen. So entstehen beim Üben eines Instrumentes, beispielsweise beim Klavierspielen, immer wieder neue neuronale Verbindungen. Gleich und gleich gesellt sich gern; so ist dies auch bei feuernden Neuronen, die sozusagen verdrahtet werden. Mit Hilfe neuer Computermodelle wird versucht, neuronale Netze zu simulieren, komplett mit erregenden und hemmenden Verbindungen, die durch Erfahrung verstärkt werden: Man imitiert auf diese Weise die Lernfähigkeit des Gehirns. Natürlich sind unsere eigenen neuronalen Netze komplizierter als das in . Abb. 2.10 dargestellte Netz. In unserem Gehirn ist ein neuronales Netz immer mit anderen Netzen verbunden, die für etwas anderes zuständig sind. Wenn man ein Gehirn öffnet, sieht man keine Pfeile, die einem zeigen, wo ein Netz endet und ein anderes beginnt; wir können sie nur durch ihre spezifische Funktion unterscheiden. Jedes ist ein Subnetz, das seinen kleinen Teil von Informationen zu dem großen Informationsverarbeitungssystem beiträgt, das wir als Gehirn bezeichnen. Lernziele Abschnitt 2.2 Nervensystem Ziel 7: Beschreiben Sie die beiden Hauptkomponenten des Nervensystems und geben Sie drei Arten von Neuronen an, die Informationen über das System hinweg übertragen. Eine Hauptkomponente des Nervensystems ist das Zentralnervensystem (ZNS), das aus dem Gehirn und dem Rückenmark besteht. Der andere Bestandteil ist das periphere Nervensystem (PNS), das aus den Neuronen besteht, die das ZNS über Nerven (gebündelte Axone der sensorischen Neurone und der Motoneurone) mit dem übrigen Körper verbindet. Sensorische Neuronen übertragen die über die Sinnesrezeptoren eingehenden Informationen zum ZNS, und die Motoneuronen übertragen die Informationen vom ZNS an die Muskeln und Drüsen. Interneuronen kommunizieren innerhalb des ZNS sowie zwischen sensorischen und Motoneuronen.

Ziel 9: Stellen Sie die Einfachheit der Reflexbahnen und die Komplexität der neuronalen Netze einander gegenüber. Reflexbahnen sind automatische angeborene Reaktionen auf Reize, und sie beruhen nicht auf bewussten Entscheidungen, die im Gehirn getroffen werden. Ein einzelnes sensorisches Neuron, das durch irgendeinen Reiz erregt wird (wie etwa eine Flamme), schickt eine Botschaft an ein Interneuron im Rückenmark. Das Interneuron aktiviert ein Motoneuron, das eine Muskelreaktion auslöst (wie etwa von der Hitzequelle zurückzuzucken). Im Gegensatz dazu sind die neuronalen Netze, die man in Gehirn findet, Gruppen vieler Neuronen, die eine Spezialaufgabe gemeinsam haben. Diese komplexen Netze werden durch ihren Einsatz verstärkt: Lernen durch Erfahrung. Jedes neuronale Netz ist mit anderen Netzen verbunden, die andere Aufgaben ausführen.

Ziel 8: Benennen Sie die Bestandteile des peripheren Nervensystems, und beschreiben Sie ihre Funktionen. Das periphere Nervensystem ist zweigeteilt. Das somatische Nervensystem ermöglicht die willkürliche Steuerung der Skelettmuskulatur. Das autonome (vegetative) Nervensystem kontrolliert durch seine Aufteilung in Sympathikus und Parasympathikus die Muskeln unserer Organe und die Drüsen.

> Denken Sie weiter: Finden Sie es überraschend, wie Ihr Nervensystem aufgebaut ist – mit dem synaptischen Spalt, der von chemischen Botenstoffen in Sekundenschnelle überquert wird? Hätten Sie einen anderen Bauplan für sich entworfen?

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Kapitel 2 · Neurowissenschaft und Verhalten

2.3

Endokrines System

Ziel 10: Beschreiben Sie die Eigenart und die Funktionen des endokrinen Systems sowie seine Wechselwirkung mit dem Nervensystem.

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Endokrines System (endocrine system): »langsames« chemisches Kommunikationssystem des Körpers; es besteht aus einer Reihe von Drüsen, die Hormone ins Blut ausschütten. Hormone (hormones): meist von den endokrinen Drüsen in einem Gewebe hergestellte chemische Botenstoffe, die andere Gewebe beeinflussen.

. Abb. 2.11. Die wichtigsten endokrinen Drüsen des Körpers

Bisher haben wir uns mit dem schnellen elektrochemischen Informationssystem des Körpers beschäftigt. Es gibt jedoch noch ein anderes Kommunikationssystem, das endokrine System (. Abb. 2.11). Die Drüsen des endokrinen Systems schütten eine andere Art von chemischen Botenstoffen aus, die Hormone. Hormone werden in einem Gewebe gebildet, dann durch die Blutbahn weitergeleitet und beeinflussen andere Gewebe, auch das Gehirn. Wenn sie auf das Gehirn wirken, beeinflussen sie unser Interesse an Nahrung, Sexualität und Aggression. Manche Hormone sind chemisch identisch mit Neurotransmittern (den chemischen Botenstoffe, die in eine Synapse ausgeschüttet werden und die postsynaptische Nervenzelle erregen oder hemmen). Das endokrine System und das Nervensystem sind somit eng miteinander verwandte Systeme: Beide schütten Moleküle aus, um Rezeptoren an einer anderen Stelle im Körper zu aktivieren. Aber im Unterschied zum schnellen Nervensystem, das Botschaften in Bruchteilen einer Sekunde vom Auge zum Gehirn schwirren lässt, werden endokrine Botschaften deutlich langsamer übermittelt. Wenn das Nervensystem Informationen wie per E-Mail übermittelt, ist das endokrine System die Snailmail, die Briefpost. Einige Sekunden oder mehr vergehen, bis ein Hormon über die Blutbahn von einer endokrinen Drüse bis ins Zielgewebe gespült wird. Aber es lohnt sich oft, auf diese endokrinen Botschaften zu warten, da ihre Effekte meist länger anhalten als die einer neuronalen Botschaft. Und dadurch können wir erklären, warum wir manchmal das Gefühl haben, dass da etwas nicht stimmt, wenn unser Bewusstsein von irgendeiner Neuigkeit abgelenkt wird, die einen leichten Stress auslöst. Unter dem Einfluss von Hormonen und nichtverbaler Hirnareale hält das Gefühl länger an als der Gedanke – bis uns die Sache wieder bewusst wird und wir vielleicht ein Gefühl der Erleichterung empfinden, wenn wir uns an den Grund für unser Unwohlsein erinnern. Die Hormone des endokrinen Systems beeinflussen viele Aspekte unseres Lebens – Wachstum, Fortpflanzung, Stoffwechsel und Stimmung – und wirken daran mit, dass unsere Körper-

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71 2.4 · Gehirn

funktionen im Gleichgewicht bleiben, während wir Stress, Anstrengungen und unseren eigenen Gedanken ausgesetzt sind. So gibt das autonome Nervensystem z. B. in einer gefährlichen Situation der Nebenniere den Befehl, Adrenalin und Noradrenalin auszuschütten. Diese Hormone beschleunigen den Herzschlag, erhöhen den Blutdruck und den Blutzuckerspiegel und stellen uns damit einen zusätzlichen Energieschub zur Verfügung. Ist der Notfall dann vorbei, dauert es eine Weile, bis die Hormone wieder abgebaut sind; deshalb bleibt auch das Gefühl der Erregung noch eine Weile bestehen. Die endokrine Drüse mit dem größten Einfluss ist die Hypophyse, eine erbsengroße Struktur im mittleren Teil des Gehirns; dort wird sie von einer angrenzenden Struktur, dem Hypothalamus, gesteuert. Die Hypophyse schüttet Hormone aus, die einen Einfluss auf das Wachstum haben, und kann zusätzlich auch noch die Hormonausschüttung in anderen endokrinen Drüsen beeinflussen. Die Hypophyse ist also so etwas wie die Königsdrüse (deren Kaiser der Hypothalamus ist). Zum Beispiel bringt die Hypophyse unter dem Einfluss des Gehirns die Sexualdrüsen dazu, Sexualhormone auszuschütten. Diese beeinflussen wiederum das Gehirn und das Verhalten. Dieses Rückkopplungssystem (Gehirn oHypophyse oandere Drüsen oHormone oGehirn) ist ein Hinweis auf die direkte Verbindung zwischen Nervensystem und endokrinem System: Das Nervensystem bewirkt die Ausschüttung von Hormonen, die dann wiederum das Nervensystem beeinflussen. Tatsächlich sind die beiden Systeme so eng miteinander verwoben, dass sich die Unterschiede verwischen. Forscher haben herausgefunden, dass auch Neurotransmitter über die Gehirnflüssigkeit in weit entfernte Regionen gelangen können und einen allgemeinen Alarmzustand hervorrufen oder die Stimmung beeinflussen können (Agnati et al. 1992; Pert 1986). In solchen Fällen lassen sich die Neurotransmitter kaum mehr von ihren chemischen Zwillingen unterscheiden, die als Hormone bezeichnet werden, wenn sie von Drüsen ausgeschüttet werden. Und dieses ganze elektrochemische Orchester wird vom großen Maestro, den wir Gehirn nennen, dirigiert und koordiniert.

Nebennieren (adrenal glands): Paar endokriner Drüsen direkt oberhalb der Niere. Sie schütten die Hormone Adrenalin (oder Epinephrin) und Noradrenalin (oder Norepinephrin) aus, die den Körper bei Stresssituationen in Erregung versetzen.

Hypophyse (pituitary gland): wichtigste Drüse des endokrinen Systems. Unter dem Einfluss des Hypothalamus reguliert sie das Wachstum und kontrolliert die Aktivität anderer endokriner Drüsen.

Lernziele Abschnitt 2.3 Das endokrine System Ziel 10: Beschreiben Sie die Eigenart und die Funktionen des endokrinen Systems und seine Wechselwirkung mit dem Nervensystem. Das endokrine System besteht aus einer Gruppe von Drüsen, die Hormone in die Blutbahn ausschütten. Diese chemischen Botenstoffe wandern durch den Körper und beeinflussen andere Gewebe einschließlich des Gehirns. Einige Hormone sind chemisch identisch mit Neurotransmittern. Die Königsdrüse des endokrinen Systems ist die Hypophyse; sie beeinflusst die Ausschüttung von Hormonen in anderen Drüsen.

> Denken Sie weiter: Können Sie sich erinnern, dass Sie nach einem stark Stress auslösenden Ereignis für längere Zeit ein Unwohlsein empfanden? Wie lange hielten diese Gefühle an?

Gehirn

In einem Glas auf einem Regal im Psychologischen Institut der Cornell University wird das gut erhaltene Gehirn von Edward Bradford Titchener aufbewahrt, einem bedeutenden Experimentalpsychologen der Jahrhundertwende und Vertreter der Bewusstseinsforschung. Stellen Sie sich doch einmal vor, vor dieser zerfurchten Masse aus grauem Gewebe zu stehen und sich dabei zu fragen, ob noch etwas von Titcheners Geist darin verblieben ist. Ihre erste Reaktion wäre wahrscheinlich, dass ohne das lebendige Zirpen der elektrochemischen Aktivität nichts mehr von Titchener in seinem konservierten Gehirn zu finden ist. Stellen Sie sich dann ein Experiment vor, von dem der neugierige Titchener selbst geträumt haben mag: Malen Sie sich aus, wie jemand Titcheners Gehirn unmittelbar vor seinem Tod aus dem Körper entfernt und in einen Behälter mit Hirnflüssigkeit gelegt hätte und es durch die Zufuhr von Blut und Sauerstoff am Leben erhalten hätte. Gäbe es Titchener dann noch? Stellen Sie sich vor, jemand hätte das noch lebende Gehirn damals in den Körper eines Menschen mit einem schweren Gehirnschaden transplantiert! In welches Zuhause hätte der Patient nach seiner Erholung zurückkehren sollen?

C. Styrsky

2.4

Durch ein ausgeklügeltes Rückkopplungssystem beeinflusst der Thalamus im Gehirn die Hypophyse, die wiederum einen Einfluss auf andere Drüsen hat, die Hormone ausschütten, die wiederum das Gehirn beeinflussen.

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Kapitel 2 · Neurowissenschaft und Verhalten

»Ich bin ein Gehirn, Watson. Der Rest von mir ist nur ein Anhängsel.« Sherlock Holmes in Arthur Conan Doyles »The Adventure of the Mazarin Stone«

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Dass wir uns diese Fragen stellen können, belegt, wie überzeugt wir davon sind, dass wir in unseren Köpfen »wohnen«. Und dies mit gutem Grund: Schließlich macht das Gehirn Bewusstsein erst möglich – sehen, hören, schmecken, fühlen, erinnern, denken, sprechen und träumen. Das Gehirn ist das, was die Schriftstellerin Diane Ackerman (2004, S. 3) wie folgt bezeichnet hat: »dieses glänzende Hügelwesen, …… diese Traumfabrik, … dieses Wirrwarr von Neuronen, die all diese Spiele einfordern, … dieser launische Vergnügungspark«. Zudem analysiert das Gehirn selbstreflexiv das Gehirn. Wenn wir über unser Gehirn nachdenken, denken wir mit dem Gehirn – indem unsere Synapsen kaum abzählbar millionenmal feuern und Milliarden von Transmittermolekülen ausschütten. ! Tatsächlich ist es so: Das Denken ist, was das Gehirn tut. Das meinen zumindest die Neurowissenschaftler.

Aber wo genau und wie sind die Funktionen des Denkens mit dem Gehirn verknüpft? Wir wollen uns zunächst damit beschäftigen, wie Wissenschaftler solchen Fragen nachgehen.

2.4.1 Forschungswerkzeuge Ziel 11: Beschreiben Sie einige Verfahren zur Untersuchung des Gehirns.

Läsion (lesion): Zerstörung von Gewebe. Eine Hirnläsion ist eine auf natürliche Weise oder durch ein Experiment entstandene Zerstörung von Hirngewebe.

Über Jahrhunderte hinweg hatte man keine Werkzeuge, die leistungsstark, aber behutsam genug waren, um ein noch lebendes menschliches Gehirn zu erkunden. Dies hat sich jetzt innerhalb einer Generation geändert. Im Interesse der Medizin oder der Wissenschaft können wir kleine Zellansammlungen aus gesunden oder krankhaft veränderten Gehirnen entnehmen, am Gehirn also gezielt Läsionen setzen (etwas zerstören), ohne das umliegende Gewebe zu schädigen. Wir können mit kleinen elektrischen Impulsen verschiedene Gehirnteile reizen und die Resultate beobachten. Wir können uns für die Nervenimpulse einzelner Neuronen interessieren oder die Kommunikation von Milliarden Neuronen abhören. Wir können Bilder anschauen, auf denen die energetischen Prozesse im Gehirn in Farbe zu sehen sind. Diese Techniken, um in das denkende und fühlende Gehirn hineinzuschauen, sind für die Psychologie in etwa das, was das Mikroskop für die Biologie und das Fernrohr für die Astronomie war.

Tom Landers, Boston Globe/Landov/InterTOPICS

Klinische Beobachtungen

Die Gehirnbank Francine Benes, Direktorin der McLean Hospital’s Brain Bank, sieht die Sammlung als eine wertvolle Datenbank

Die älteste Methode, um die Verbindung zwischen Gehirn und Geist zu untersuchen, ist es, zu beobachten, welche Folgen bestimmte Krankheiten und Verletzungen des Gehirns haben. Solche Beobachtungen wurden erstmals vor 5000 Jahren gemacht. Doch erst in den letzten zwei Jahrhunderten begannen Mediziner systematisch, die Folgen von Verletzungen an bestimmten Stellen im Gehirn aufzuzeichnen. Einige Forscher stellten fest, dass Verletzungen auf einer Seite des Gehirns oft zu Lähmungen und Taubheitsgefühlen auf der gegenüberliegenden Seite des Körpers führen und folgerten daraus, dass die rechte Seite des Körpers mit dem linken Teil des Gehirns verbunden ist und umgekehrt. Andere leiteten aus ihren Beobachtungen ab, dass eine Verletzung des hinteren Teils des Gehirns zu Störungen der visuellen Wahrnehmung führt und Verletzungen des vorderen linken Teils zu Störungen der Sprache. Nach und nach lokalisierten die frühen Forscher die einzelnen Hirnareale. Heute haben Wissenschaftler der Universität von Iowa mehr als 1500 Patienten mit einer Hirnschädigung im größten bestehenden Verzeichnis der Hirnschädigungen registriert. In der Harvard Brain Bank am McLean Hospital in Boston werden 3000 Gehirne aufbewahrt, sowohl »von gesunden Menschen« als auch von Personen, die unter verschiedenen psychiatrischen oder neurologischen Störungen litten. Die Geschichten dieser Patienten dienen uns als Schlüssel zum Verständnis der inneren Vorgänge in unserem eigenen Gehirn.

Manipulationen am Gehirn Die Wissenschaftler müssen heutzutage nicht auf Gehirnverletzungen warten. Sie sind in der Lage, bestimmte Teile des Gehirns elektrisch, chemisch oder magnetisch zu stimulieren und zu

73 2.4 · Gehirn

beobachten, welche Effekte dadurch hervorgerufen werden. Bei Tieren wird auch Gewebe in bestimmten Gehirnbereichen chirurgisch zerstört. Zum Beispiel führt eine Läsion eines Bereichs des Hypothalamus der Ratte dazu, dass sie weniger isst und verhungert, wenn man sie nicht zwangsernährt. Eine Läsion in einem anderen Bereich führt zu verstärkter Nahrungsaufnahme.

Die elektrische Aktivität des Gehirns Genau in diesem Moment sendet Ihre geistige Aktivität eine Fülle elektrischer, metabolischer und magnetischer Impulse aus, die es einem Neurowissenschaftler erlauben würden, die Aktivität in Ihrem Gehirn zu beobachten. Die Spitzen der modernen Mikroelektroden sind so fein, dass sie die elektrischen Impulse eines einzigen Neurons entschlüsseln können. Damit können erstaunlich präzise Forschungsergebnisse erzielt werden. So können wir z. B. heutzutage genau beobachten, wie die Informationen über die Berührung der Schnurrhaare einer Katze in ihrem Gehirn weitergeleitet werden. Die elektrische Aktivität der Milliarden von Neuronen des Gehirns rauscht in regelmäßigen Wellen über seine Oberfläche. Beim Elektroenzephalogramm (EEG) werden Hirnstromwellen abgeleitet und verstärkt. Ein EEG der Gehirnaktivität zu betrachten ist so, als wolle man den Motor eines Autos anhand seines Motorengeräusches begutachten. Mit Hilfe eines geeigneten Filters ist es jedoch möglich, eine einzelne elektrische Welle, die durch einen Reiz verursacht wird, von den anderen Wellen getrennt zu beobachten (. Abb. 2.12).

Elektroenzephalogramm (EEG; electroencephalogramm): Ableitung und Verstärkung von Hirnstromwellen, also Wellen elektrischer Aktivität, die über die Oberfläche des Gehirns laufen. Diese Wellen werden von Elektroden abgeleitet, die am Schädel befestigt werden.

Bildgebende Verfahren

. Abb. 2.12. Elektroenzephalogramm (EEG) Hier wird die Gehirnaktivität bei diesem vierjährigen Mädchen mit Epilepsie dargestellt

Positronenemissionstomographie (PET; positron-emission tomography): Form der Visualisierung von Gehirnaktivität. Dem Patienten wird radioaktiv markierte Glukose injiziert, deren Verteilung im Gehirn beobachtet werden kann, während er eine vorgegebene Aufgabe ausführt.

Magnetresonanztomographie (MRT, auch Kernspintomographie; magnetic resonance imaging oder MRI): ein Verfahren, das mit Hilfe von Magnetfeldern und elektromagnetischen Wellen computergestützt Bilder vom Körper erstellt, auf denen man zwischen verschiedenen Gewebearten unterscheiden und so die Strukturen innerhalb des Gehirns erkennen kann.

Courtesy of Brookhaven National Laboratories

AJ Photo/Photo Researchers, Inc.

Mit neueren Methoden können wir wie Superman mit seinem Röntgenblick ins lebende Gehirn blicken. Eines dieser Verfahren ist die Positronenemissionstomographie (PET) (. Abb. 2.13), die das Gehirn in Aktion zeigt, indem sie den Glukoseverbrauch jedes Teils des Gehirns sichtbar macht (Glukose ist der »chemische Brennstoff« des Gehirns) (. Abb. 2.33 auf S. 88). Aktive Neuronen verbrauchen große Mengen an Glukose. Injiziert man einer Person schwach radioaktiv angereicherte Glukose, so kann man mit Hilfe der PET, die Radioaktivität misst und lokalisiert, beobachten, wie sich das »Nervenfutter« im Gehirn verteilt. PET-Schichtaufnahmen zeigen, dass die Areale des Gehirns, die aufflackern, wenn Menschen still für sich die Bezeichnung für ein Tier sagen, andere sind als jene, die aufflackern, wenn sie die Bezeichnung für ein Werkzeug sagen (Martin et al. 1996). In etwa so wie ein Wetterradar, das Regenfälle anzeigt, zeigen PET-Schichtaufnahmen anhand so genannter Hot Spots an, welche Areale des Gehirns am stärksten aktiviert sind, wenn der Mensch im Tomographen Rechenaufgaben löst, Musik hört oder Tagträumen nachhängt. Eine weitere neue Möglichkeit, in den Kopf zu schauen, macht sich die Tatsache zunutze, dass sich Atomkerne wie Kreisel drehen, auch im Gehirn. Bei der Kernspintomographie oder Magnetresonanztomographie (MRT) wird der Kopf der Testperson in ein starkes Magnetfeld

. Abb. 2.13. Positronenemissionstomographie (PET) Um ein PET durchführen zu können, injizieren Wissenschaftler freiwilligen Versuchspersonen eine niedrige und harmlose Dosis radioaktiven Zuckers mit kurzer Halbwertszeit. Detektoren rund um den Kopf der Versuchsperson messen den Ausstoß der g-Strahlen des Zuckers, der sich in den aktiven Teilen des Gehirns konzentriert hat. Ein Computer erstellt dann aus diesen Signalen einen Plan vom Gehirn in Aktion (. Abb. 2.33 mit einem Beispiel für PET-Schichtaufnahmen)

2

Kapitel 2 · Neurowissenschaft und Verhalten

Mit freundlicher Genehmigung von Daniel R. Weinberger, MD, CBDB, NIMH

. Abb. 2.14a, b. Magnetresonanztomographie (MRT) eines gesunden Menschen (a) und eines Schizophreniepatienten (b) Auffallend sind die vergrößerten, mit Gehirnflüssigkeit gefüllten Bereiche auf dem rechten Bild

2 a

fMRT (funktionelle MRT; functional MRI): ein Verfahren zum Aufweis von Blutfluss und damit Hirnaktivität, indem man zeitlich aufeinander folgende MRT-Schichtaufnahmen miteinander vergleicht. Mit Hilfe von MRT-Schichtaufnahmen kann man die Anatomie des Gehirns erkennen, mit Hilfe von fMRT-Schichtaufnahmen die Hirnfunktionen.

b

gelegt, das die drehenden Kerne zum Feld hin ausrichtet. Dann wird die Ausrichtung der Kerne kurz durch eine elektromagnetische Welle gestört. Kehren sie daraufhin in ihren ursprünglichen Zustand zurück, senden sie Signale aus, aus denen man ein Bild erstellen kann, wo und in welcher Dichte sie sich konzentrieren. Daraus ergibt sich ein detailliertes Bild vom weichen Gewebe im Gehirn (und im Körper). MRT-Schichtaufnahmen lassen bei Musikern mit dem absoluten Gehör ein größeres neuronales Areal in der linken Hirnhälfte erkennen als bei der Durchschnittsbevölkerung (Schlaug et al. 1995). MRT-Schichtaufnahmen können bei manchen Patienten mit Schizophrenie zeigen, dass die Teile des Gehirns, die mit Hirnflüssigkeit gefüllt sind, erweitert sind (. Abb. 2.14). Mit einer speziellen Anwendung der MRT, der fMRT (der funktionellen MRT), kann man die Funktionsweise, aber auch die Struktur des Gehirns erkennbar machen. Das Blut fließt an die Stellen, wo das Gehirn besonders aktiv ist. Durch den Vergleich von MRT-Schichtaufnahmen, die im Abstand von weniger als einer Sekunde gemacht werden, können die Forscher sehen, wie bestimmte Stellen im Gehirn aufflackern (da mehr sauerstoffreiches Blut fließt), wenn die betreffende Person verschiedene Denkaufgaben löst. Schaut die Person ein Gesicht an, dann weist ein funktionelles MRT Blutfluss in den hinteren Teil des Gehirns auf, in denen visuelle Informationen verarbeitet werden (. Abb. 2.28 auf S. 85). Solche Schnappschüsse der sich verändernden Gehirnaktivität geben Aufschluss darüber, wie das Gehirn seine Aktivität aufteilt. In einer spannenden Untersuchung entdeckten der Neurowissenschaftler Daniel Langleben und seine Kollegen (2002), dass sich mit Hilfe von MRT-Schichtaufnahmen eine erhöhte Hirnaktivität im Zusammenhang mit Lügen lokalisieren lässt. Wenn Versuchsteilnehmer auf die Frage, welche Spielkarten sie hätten, logen, zeigte das fMRT eine erhöhte Aktivität in zwei Hirnregionen an. Bei der einen handelte es sich um die zinguläre Region im vorderen Kortex, ein Gebiet, das typischerweise aktiv ist, wenn wir miteinander in Konflikt stehende Bedürfnisse erleben. Einige Forscher stellten die Vermutung an, dass man eines Tages mit Hilfe leichter, tragbarer Geräte zum Messen der Hirnaktivität Lügen in alltäglichen Situationen aufdecken könne. Heute Neurowissenschaften zu studieren, ist vielleicht vergleichbar damit, in der Zeit, als Magellan die Weltmeere erforschte, Geograph gewesen zu sein. Die Anzahl der Forscher wächst:

S. Wahl

. Abb. 2.15. Im Gehirn lesen Eine fMRT-Schichtaufnahme machte zwei Gehirnareale aus, die besonders aktiv wurden, als ein Versuchsteilnehmer bei der Frage log, ob er eine Kreuz zehn auf der Hand hätte

Lucy Reading-Ikkanda for Scientific American Magazine

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75 2.4 · Gehirn

Die Mitgliederzahl in der interdisziplinären Society for Neuroscience, die 1969 gegründet wurde, ist im Jahre 2004 auf mehr als 36.000 gewachsen. Jedes Jahr werden neue Entdeckungen gemacht, die es auch ermöglichen, ältere Entdeckungen neu zu interpretieren. Wissenschaftler versuchen, die ganze Vielfalt neuer Informationen in Datenbanken zu vereinen. Mit dieser Kartographierung des Gehirns haben alle Wissenschaftler über elektronische Netze direkten Zugriff auf PET- oder MRT-Studien zur Aktivität einzelner Gehirnareale im Zusammenhang mit verschiedenen Aufgaben (z. B. Rechenaufgaben). Eins ist klar: Dies ist das goldene Zeitalter der Neurowissenschaften.

2.4.2 Ältere Hirnstrukturen Ziel 12: Beschreiben Sie die Bestandteile des Hirnstamms, und skizzieren Sie die Funktionen von Hirnstamm, Thalamus und Kleinhirn.

Wenn Sie den Schädel öffnen und hineinsehen könnten, fiele Ihnen als Erstes die Größe des Gehirns auf. Bei Dinosauriern macht das Gehirn nur den 100.000sten Teil des gesamten Körpergewichts aus, bei Walen den 10.000sten Teil, bei Elefanten den 600sten und bei Menschen den 45sten. Es sieht aus, als läge dem ein Prinzip zugrunde. Aber lassen Sie uns weitersehen: Bei Mäusen macht das Gehirn den 40sten Teil des Körpergewichts aus, und bei Krallenaffen den 25sten Teil. Es gibt also Ausnahmen von der Regel, dass das Verhältnis des Gehirngewichts zum Körpergewicht einen Schlüssel für die Intelligenz des Tieres darstellt. Bessere Indikatoren für die Fähigkeiten eines Tieres sind dessen Hirnstrukturen. Bei einfachen Vertebraten (Wirbeltieren) wie z. B. dem Hai, reguliert das Gehirn vor allem die grundlegenden lebenserhaltenden Funktionen: Atmung, Schlaf und Nahrungsaufnahme. Einfachere Säugetiere (wie z. B. Nager) haben ein komplexeres Gehirn, das Gefühle und ein besseres Gedächtnis ermöglicht. Bei weiter entwickelten Säugetieren wie Menschen verarbeitet das Gehirn mehr Informationen, und wir sind deshalb imstande, vorausschauend zu handeln. Um diese zunehmende Komplexität möglich werden zu lassen, haben sich bei den einzelnen biologischen Arten neue Gehirnsysteme über den alten gebildet, ähnlich wie auf der Erde neue Landschaften die älteren bedecken. Wenn man etwas tiefer gräbt, entdeckt man die fossilen Überreste aus der Vergangenheit – Komponenten des Hirnstamms, die noch immer fast genau die gleichen Funktionen haben wie schon bei unseren entfernten Vorfahren. Um das Gehirn zu erkunden, fangen wir mit dem Hirnstamm an und gehen dann weiter nach oben zu den neueren Systemen.

Hirnstamm Das Untergeschoss des Gehirns – sein ältester und innerster Teil – ist der Hirnstamm. Er fängt dort an, wo das Rückenmark in den Schädel eintritt und etwas dicker wird. Dieser Abschnitt wird Medulla oblongata genannt. Von hier aus werden Herzschlag und Atmung kontrolliert. Wird bei einer Katze das obere Ende des Hirnstamms vom Rest des Gehirns abgetrennt, überlebt das Tier; es atmet, rennt, klettert und putzt sogar sein Fell (Klemm 1990). Doch da dieser Teil von den höheren Gehirnbereichen abgeschnitten ist, wird das Tier nicht mehr absichtlich rennen oder klettern, um an Futter zu gelangen. Direkt über der Medulla befindet sich die Brücke (Pons), die dazu beiträgt, die Bewegungen miteinander zu koordinieren. Außerdem ist der Hirnstamm der Kreuzungspunkt, durch den hindurch viele Nerven die eine Hemisphäre des Gehirns mit der anderen Seite des Körpers verbinden. Diese sonderbare Überkreuzverbindung ist nur eine der Überraschungen, die das Gehirn zu bieten hat. Im Inneren des Hirnstamms, zwischen Ihren Ohren, liegt die Formatio reticularis (»vernetztes Gebilde«), ein neuronales Netz, das wie ein Finger geformt ist und vom Rückenmark bis zum Thalamus reicht (. Abb. 2.16). Wenn die sensorischen Informationen vom Rückenmark zum Thalamus weitergeleitet werden, wird ein Teil davon durch die Formatio reticularis geschleust, wo die eingehenden Informationen gefiltert und wichtige Informationen an andere Gehirnbereiche weitergeleitet werden. 1949 stellten Moruzzi u. Magoun fest, dass die elektrische Stimulation der Formatio reticularis einer schlafenden Katze sofort dazu führt, dass sie aufwacht und sehr erregt ist. Als Magoun auch

Hirnstamm (brain stem): ältester Teil und Kern des Gehirns, der dort beginnt, wo das Rückenmark in den Schädel eintritt. Der Hirnstamm ist für die automatische Aufrechterhaltung der Lebensfunktionen zuständig. Medulla oblongata (medulla oblongata): unterer Teil des Hirnstamms, der Herzschlag und Atmung kontrolliert.

Formatio reticularis (reticular formation): neuronales Netz im Hirnstamm, das eine wichtige Rolle bei der Steuerung der Erregung spielt.

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Kapitel 2 · Neurowissenschaft und Verhalten

. Abb. 2.16. Hirnstamm und Thalamus Der Hirnstamm mit der Medulla oblongata ist die Verlängerung des Rückenmarks. Der Thalamus liegt am oberen Ende. Die Formatio reticularis reicht durch beide Strukturen hindurch

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die Verbindung der Formatio reticularis zu den höheren Regionen des Gehirns abtrennte, ohne dabei die umliegenden sensorischen Verbindungen zu zerstören, waren die Auswirkungen ähnlich aufsehenerregend. Das Ergebnis: Die Katze fiel in ein Koma, aus dem sie nie wieder erwachte. Magoun konnte direkt neben dem Ohr der Katze in die Hände klatschen, sie sogar kneifen: Es gab keinerlei Reaktion. Was lässt sich daraus schließen? Die Formatio reticularis ist der Hirnbereich, der für Erregung bzw. Wachzustände zuständig ist. Spätere Untersuchungen ergaben, dass es in anderen Teilen des Gehirns Nervenzellen gibt, deren Aktivität die Voraussetzung für Schlaf ist. (Wie Sie in 7 Kap. 7 sehen werden, ist das Gehirn nicht im Ruhezustand, wenn wir schlafen.)

Thalamus Thalamus (thalamus): Umschaltzentrale für sensorische Signale im Gehirn, die am oberen Ende des Hirnstamms lokalisiert ist. Der Thalamus übermittelt Informationen zu sensorischen Arealen im Kortex und leitet die Reaktionen zum Kleinhirn sowie zur Medulla oblongata weiter.

Über dem Hirnstamm sitzt die Umschaltzentrale für sensorische Signale, ein eng beieinander liegendes Paar eiförmiger Strukturen, das Thalamus genannt wird (. Abb. 2.16). Der Thalamus empfängt Informationen von allen Sinnen mit Ausnahme des Geruchssinns und leitet sie zu den höheren kortikalen Arealen weiter, die für Sehen, Hören, Schmecken und die Empfindung von Berührung und Schmerz zuständig sind. Stellen Sie sich den Thalamus als Knotenpunkt für sensorische Signale vor, so wie London Knotenpunkt für das englische Bahnsystem ist: Alle Züge fahren hindurch und werden zu den verschiedenen Zielen weitergeleitet. Der Thalamus empfängt aber auch die Antworten der höheren Gehirnregionen, die er dann wiederum an die Medulla oblongata und an das Kleinhirn weiterleitet.

Kleinhirn Kleinhirn (Zerebellum; cerebellum): »kleines Gehirn« am hinteren Teil des Hirnstamms, das für die Verarbeitung der sensorischen Signale sowie für die Koordination zwischen motorischen Signalen und dem Gleichgewichtssinn zuständig ist.

Am hinteren Teil des Hirnstamms liegt das Kleinhirn (Zerebellum), das etwa so groß ist wie eine Orange, zwei gefurchte Hälften hat und damit wirklich aussieht wie ein kleines Gehirn (. Abb. 2.17). Wie Sie in 7 Kap. 9 sehen werden, ist das Kleinhirn an einer Form von nonverbalem Lernen und Gedächtnis beteiligt. Neuere Untersuchungen zeigten, dass es auch dazu beiträgt, Zeit abzuschätzen, unsere Emotionen zu regulieren sowie Töne und Muster zu unterscheiden (Bower u. Parsons 2003). Zusätzlich zur Informationsverarbeitung koordiniert das Kleinhirn die Willkürbewegung. Wenn die Tennisspielerin Venus Williams mit einem perfekten Schwung ihres Schlägers ein As schlägt, hat auch ihr Kleinhirn etwas Beifall verdient. Wenn Ihr Kleinhirn verletzt würde, hätten Sie Schwierigkeiten beim Gehen und mit dem Gleichgewicht, oder Ihre Hände würden zittern. Ihre Bewegungen wären ruckartig und überschießend. ! All diese älteren Hirnfunktionen laufen ohne jede bewusste Anstrengung ab. Damit wird eines der immer wiederkehrenden Themen dieses Buches illustriert: Unser Gehirn verarbeitet einen Großteil aller Informationen, ohne dass wir uns dessen bewusst sind.

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. Abb. 2.17a, b. Der für Bewegungen zuständige Teil des Gehirns Hinten am Gehirn liegt das Kleinhirn (a), das unsere Bewegungen koordiniert, z. B. wenn der Fußballspieler den Ball präzise trifft (b)

a b

Wir sind uns zwar bewusst, zu welchen Ergebnissen die Arbeit unseres Gehirns führt (als Beispiel: wir merken ja, dass wir sehen), aber nicht wie wir die visuellen Bilder konstruieren. Genauso übt der Hirnstamm seine lebenserhaltenden Funktionen aus, ganz gleich, ob wir wach sind oder schlafen, so dass die neueren Gehirnregionen den Freiraum bekommen, zu träumen, nachzudenken, zu reden oder einer Erinnerung nachzuhängen.

Limbisches System Ziel 13: Beschreiben Sie die Strukturen und Funktionen des limbischen Systems, und erklären Sie, wie eine dieser Strukturen die Hypophyse kontrolliert.

An der Grenze (lat. »limbus« = Rand, Begrenzung) zwischen den älteren Bereichen des Gehirns und den beiden Hirnhälften liegt das ringförmige limbische System (. Abb. 2.18). In 7 Kap. 9 werden wir sehen, dass ein Teil des limbischen Systems, der Hippocampus, für die Speicherfunktion des Gedächtnisses zuständig ist. (Wenn Tiere oder Menschen ihren Hippocampus durch einen Unfall oder einen chirurgischen Eingriff verlieren, verlieren sie auch die Fähigkeit, neue Fakten und Erlebnisse zu verarbeiten.) An dieser Stelle wollen wir nun einen Blick auf die Verbindung des limbischen Systems zu Gefühlen wie Angst und Wut werfen, außerdem zu den grundlegenden Trieben wie Hunger und Sexualtrieb.

Limbisches System (limbic system): ringförmiges neuronales System zwischen dem Hirnstamm und den zerebralen Strukturen. Die Aktivität des Systems wird in Zusammenhang gebracht mit Gefühlen wie Angst und Aggression sowie dem Nahrungs- und Sexualtrieb. Zum limbischen System gehören der Hippocampus, die Amygdala und der Hypothalamus. Amygdala (auch Mandelkern; amygdala): zwei mandelförmige Neuronenverbände, die Teil des limbischen Systems und an der Entstehung von Emotionen beteiligt sind.

Amygdala Die beiden bohnengroßen Neuronenverbände, die als Amygdala (Mandelkern) bezeichnet werden und innerhalb des limbischen Systems liegen, beeinflussen Aggression und Angst (. Abb. 2.19). 1939 entfernten der Psychologe Heinrich Klüver und der Neurochirurg Paul Bucy bei einem Rhesusaffen einen Teil des Gehirns, der die Amygdala mit einschloss. Als Folge dieses Ein-

. Abb. 2.18. Limbisches System Die limbischen Strukturen formen ein ringförmiges neuronales System zwischen den älteren Teilen des Gehirns und den beiden zerebralen Hemisphären. Obwohl die Hypophyse nicht zum Gehirn, sondern zum Hormonsystem gehört, wird sie durch den Hypothalamus gesteuert, der direkt über ihr liegt und Teil des limbischen Systems ist

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Kapitel 2 · Neurowissenschaft und Verhalten

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. Abb. 2.19. Die Amygdala

Aggression als Gehirnzustand Buckel und gesträubtes Fell: Die zornige Katze ist zum Angriff bereit. Die elektrische Stimulation der Amygdala der Katze provoziert Reaktionen wie die hier gezeigte und zeigt damit die Rolle der Amygdala bei Gefühlen wie Wut. Welcher Teil des autonomen Nervensystems wird durch solch eine Stimulation aktiviert? ( 7 Antwort 2.1 am Ende des Kapitels)

Hypothalamus (hypothalamus): neuronale Struktur, die unterhalb (»hypo«) des Thalamus liegt. Von hier aus werden die lebenserhaltenden Aktivitäten (wie Essen, Trinken und die Körpertemperatur) gesteuert. Außerdem beeinflusst der Hypothalamus über die Hypophyse das endokrine System und wird mit Emotionen in Zusammenhang gebracht.

griffs wurde das vorher eher gereizte Tier die sanfteste aller Kreaturen. Man konnte den Affen stechen, kneifen oder ihm irgendetwas antun, was früher zu einer wütenden Reaktion geführt hätte; jetzt blieb er vollkommen ruhig. Spätere Untersuchungen an anderen Tieren (darunter Luchse, Wölfe und wilde Ratten) führten zum gleichen Ergebnis. Was könnte aber geschehen, wenn wir die Amygdala bei normalen, friedlichen Tieren wie einer Katze elektrisch stimulieren? Machen Sie das Experiment, und Sie werden erleben, wie sich die Katze zum Angriff bereit macht, den Rücken zum Buckel hochdrückt, sich die Pupillen weiten und sich das Fell sträubt. Bewegen Sie die Elektrode in der Amygdala nur ein wenig weiter und sperren Sie die Katze mit einer kleinen Maus in einen Käfig, die Katze wird sich verschreckt ducken. Diese Experimente bestätigen die Rolle der Amygdala bei Prozessen wie Angst und Wut. Außerdem ist eine unversehrte Amygdala auch die Voraussetzung für die Wahrnehmung dieser Emotionen und die Speicherung von emotionalen Erinnerungen (Anderson u. Phelbs 2000; Poremba u. Gabriel 2001). Dennoch müssen wir vorsichtig sein. Das Gehirn ist nicht fein säuberlich in Strukturen aufgeteilt, die sich unmittelbar auf Verhaltenskategorien übertragen lassen. Es ist im Gegenteil so, dass sich bei aggressiven und bei ängstlichen Impulsen immer eine neuronale Aktivität auf allen Ebenen des Gehirns entwickelt, nicht nur in der Amygdala. Sogar im limbischen System gibt es Bereiche außerhalb der Amygdala, deren Stimulation zu solchem Verhalten führen kann. Wenn Sie Ihre leere Autobatterie neu aufladen, können Sie zwar den Motor wieder starten, jedoch stellt die Batterie nur einen Teil des komplexen Systems Motor dar. Wie oben beschrieben kann eine Entfernung der Amygdala gewalttätige Affen in sanfte Äffchen verwandeln. Kann dies dann vielleicht auch bei gewalttätigen Menschen funktionieren? Das könnte man sich jedenfalls vorstellen. Aber diese Art von »Psychochirurgie« hat unterschiedliche Ergebnisse erzielt (Mark u. Ervin 1970; Valenstein 1986). In den wenigen Fällen, in denen entsprechende Eingriffe an Patienten mit Hirnanomalien vorgenommen wurden, hatten diese danach tatsächlich weniger Wutausbrüche, allerdings kam es oft zu starken Nebenwirkungen im alltäglichen Leben der Patienten. Aus ethischen Gründen und wegen der starken Unsicherheiten bei derartigen Operationen werden solche massiven psychochirurgischen Eingriffe nur selten durchgeführt. Vielleicht werden wir jedoch eines Tages mit einem größeren Wissen über die Verbindung zwischen Gehirn und Verhalten in der Lage sein, krankhafte Veränderungen des Gehirns beheben zu können, ohne neue zu schaffen.

Hypothalamus Ein weiterer faszinierender Teil des limbischen Systems liegt direkt unterhalb (»hypo«) des Thalamus und wird deshalb Hypothalamus genannt (. Abb. 2.20). Dadurch, dass Neurowissenschaftler bestimmte Areale verletzten oder stimulierten, fanden sie heraus, dass neuronale Netze innerhalb des Hypothalamus spezielle lebenserhaltende Aufgaben im Körper erfüllen. Einige Neuronencluster beeinflussen das Hungergefühl, andere den Durst, die Körpertemperatur und das Sexualverhalten. Einerseits überwacht der Hypothalamus die chemische Zusammensetzung des Blutes, andererseits erhält er Anweisungen von anderen Teilen des Gehirns. Wenn Sie z. B. an Sex denken (im zerebralen Kortex), können Sie damit Ihren Hypothalamus zur Ausschüttung von Hormonen veranlassen. Über diese Hormone steuert der Hypothalamus wiederum die wichtigste aller Drüsen, die Hypophyse (. Abb. 2.18), die ihrerseits die Hormonausschüttung anderer Drüsen beeinflusst. Bemerkenswert ist dabei das Zusammenspiel von Nerven- und Hormonsystem: Das Gehirn beeinflusst das Hormonsystem; dies wiederum wirkt auf das Gehirn zurück. Die Geschichte einer bemerkenswerten Entdeckung bei Versuchen mit dem Hypothalamus zeigt, auf welche Weise es zu Fortschritten in der wissenschaftlichen Forschung kommt: nämlich wenn neugierige, vorurteilslose Wissenschaftler unerwartete Beobachtungen machen. Zwei junge Neuropsychologen der McGill University, James Olds und Peter Milner, versuchten 1954, Elektroden in der Formatio reticularis von weißen Ratten zu implantieren, machten dabei jedoch einen großen Fehler. Bei einer Ratte implantierten sie die Elektrode versehentlich in einen Bereich, der, wie sich später herausstellte, zum Hypothalamus gehörte (Olds 1975). Interessanterweise lief die Ratte immer wieder zu dem Ort im Käfig zurück, an dem sie durch die falsch eingesetzte Elektrode zum ersten Mal der Stimulation ausgesetzt war, als ob sie immer mehr Stimulation haben wollte. Als Olds und Milner ihren Fehler bemerkten, erkannten sie, dass sie

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! In Tierversuchen fand man heraus, dass es ein generelles Belohnungssystem gibt, das die Ausschüttung des Neurotransmitters Dopamin bewirkt, und zusätzlich spezifische Zentren, die mit der Lust an Essen, Trinken und Sexualität assoziiert sind. Tiere sind anscheinend mit Systemen ausgestattet, die alle lebenserhaltenden Aktivitäten belohnen.

. Abb. 2.20. Der Hypothalamus Dieser kleine, aber wichtige Teil des Gehirns, der auf dieser MRT-Schichtaufnahme rot bzw. orange dargestellt ist, trägt dazu bei, die Lebensfunktionen des Körpers im Gleichgewicht zu halten, indem er Hunger und Durst sowie die Körpertemperatur reguliert. Der Hypothalamus gehört auch zum Belohnungs- bzw. Verstärkungssystem

»Wenn Sie einen mobilen Roboter planen müssten, um in die Zukunft zu reisen und zu überleben, … würden Sie ihn so verdrahten, dass ein Verhalten, das das Überleben der eigenen Person oder der Art gewährleistete – wie etwa Sexualität oder Essen –, auf natürliche Weise verstärkend wäre.« Candace Pert (1986)

Sanjiv Talwar, Sunny Downstate

Bei neueren Experimenten ergaben sich noch weitere Möglichkeiten, die limbische Stimulation zur Verhaltenssteuerung von Tieren zu nutzen. Man kann Ratten dadurch trainieren, dass man sie durch Stimulation entsprechender Hirnareale belohnt, wenn sie sich richtig nach rechts oder links wenden. Dies taten auch Sanjiv Talwar und seine Kollegen, und die Ratten lernten, sich in der natürlichen Umgebung zurechtzufinden, auch wenn sie vorher noch nie im Freien waren (. Abb. 2.22; Talwar et al. 2002). Durch Drücken einer Taste auf einem Laptop konnten die Forscher die Ratten steuern, die einen Empfänger, eine Stromquelle und einen Videorekorder auf dem Rücken trugen. Die Ratten bewegten sich auf Knopfdruck, kletterten auf Bäume, rannten über Äste, drehten sich um und kamen zurück. Aufgrund dieser Forschungsarbeiten kam die Hoffnung auf, dass eine solche Technik irgendwann bei Such- und Rettungsaktionen eingesetzt werden könnte. Aufregende Ergebnisse wie die oben beschriebenen führen zu der Frage, ob auch Menschen ein limbisches Lustzentrum haben. Das ist tatsächlich der Fall. Ein Neurochirurg machte den Versuch, Elektroden zu benutzen, um gewalttätige Patienten zu beruhigen. Die solcherart stimulierten Personen erklärten, leichte Glücksgefühle zu haben, wurden jedoch im Gegensatz zu Olds Ratten nicht zur Raserei getrieben (Deutsch 1972; Hooper u. Teresi 1986). Manche Forscher glau-

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auf einen Teil des Gehirns gestoßen waren, der das angenehme Gefühl vermittelt, belohnt zu werden. In einer sorgfältig geplanten Experimentalreihe versuchte Olds (1958), noch weitere »Lustzentren« im Gehirn auszumachen, wie er sie genannt hatte. (Was die Ratten tatsächlich erleben, wissen nur sie; aber sie erzählen es uns nicht. Deshalb bezeichnen die heutigen Forscher diese Zentren lieber als »Belohnungszentren« oder »Verstärkerzentren«; denn sie wollen den Ratten ja keine menschliche Gefühle andichten.) Als sich die Ratten selbst stimulieren konnten, indem sie einen kleinen Hebel drückten, taten sie dies fieberhaft, bis zu 7000-mal pro Stunde, bis sie vor Erschöpfung umfielen. Darüber hinaus waren sie bereit, alles zu tun, um an diesen Hebel zu kommen, sogar ein elektrisches Gitter zu überqueren, was nicht einmal eine hungernde Ratte täte, um an Futter zu kommen (. Abb. 2.21). Ähnliche Belohnungszentren im oder nahe des Hypothalamus wurden später bei vielen anderen Arten entdeckt, darunter bei Goldfischen, Delphinen und Affen.

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. Abb. 2.21. Ratte mit implantierter Elektrode Mit einer im Belohnungszentrum des Gehirns implantierten Elektrode überquert eine Ratte bereitwillig ein elektrisches Gitter und nimmt dabei die schmerzvollen Schocks in Kauf, nur um danach einen Hebel zu drücken, der dann einen elektrischen Impuls ins »Lustzentrum« sendet

. Abb. 2.22. Roboratte auf Erkundungstour Wenn diese Ratte mit einer Fernsteuerung stimuliert wird, kann sie dazu gebracht werden, über ein Feld zu rennen und sogar auf einen Baum zu klettern

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ben, dass Suchterkrankungen wie Alkoholismus, Drogenabhängigkeit oder Essstörungen mit unkontrollierten Essattacken (Bulimie) von einem Belohnungsdefizitsyndrom stammen könnten, also von einem angeborenen Defizit im Aufbau des Gehirnsystems für Glück und Wohlbefinden. Menschen mit dieser Störung greifen laut dieser Theorie nach allem, was ihnen ein wenig Befriedigung verspricht oder wenigstens die negativen Gefühle vermindert (Blum et al. 1996).

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2.4.3 Zerebraler Kortex Ziel 14: Definieren Sie, was der zerebrale Kortex ist, und erklären Sie, warum er für das Gehirn des Menschen so wichtig ist. Zerebraler Kortex (cerebral cortex): die komplizierte Struktur miteinander verbundener Nervenzellen, die die Hirnhälften abdeckt; das oberste Steuerungs- und Informationsverarbeitungszentrum des Körpers.

. Abb. 2.23. Gehirnstrukturen und ihre Funktionen

Die älteren Netze im Gehirn unterstützen die grundlegenden Lebensfunktionen und machen Gedächtnis, Emotionen und elementare Triebe erst möglich. Die neueren neuronalen Netze in den Hirnhälften bilden spezialisierte Arbeitsgruppen, die es uns ermöglichen, wahrzunehmen, zu denken und zu sprechen. Der zerebrale Kortex ist eine komplizierte Struktur, die aus miteinander verbundenen Neuronen besteht und wie die Rinde eines Baumes als dünne Oberflächenschicht die zerebralen Hemisphären bedeckt. Er ist das oberste Steuerungs- und Informationsverarbeitungszentrum des Körpers. (In . Abb. 2.23 ist dargestellt, wo sich der zerebrale Kortex, aber auch andere Hirnareale befinden, mit denen wir uns in diesem Kapitel beschäftigen.) Mit der Entwicklung des zerebralen Kortex wird der starke Einfluss der Gene abgeschwächt, und die Anpassungsfähigkeit des Organismus wächst. Frösche und andere Amphibien haben

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einen kleinen Kortex und handeln starr nach genetischen Vorgaben. Der größere Kortex der Säugetiere schafft die Voraussetzung für bessere Lern- und Denkfähigkeiten und ermöglicht es ihnen, anpassungsfähiger zu werden. Was uns zum Menschen macht, ist vor allem auf die Komplexität des zerebralen Kortex, der denkenden Krone unseres Gehirns, zurückzuführen.

Struktur des Kortex

Die Menschen, die als Erste das Gehirn präparierten und benannten, benutzten die Sprachen der Gelehrten, Latein und Griechisch. Die Namen sind ein Versuch, das Benannte anschaulich zu beschreiben: Zum Beispiel bedeutet Kortex »Rinde«, Zerebellum bedeutet »kleines Gehirn« und Thalamus »inneres Zimmer«.

Ziel 15: Nennen Sie die vier Hirnlappen des zerebralen Kortex.

Wenn Sie einen menschlichen Schädel öffnen würden und einen Blick auf das darunter liegende Gehirn werfen könnten, würden Sie ein gefurchtes Organ sehen, das ungefähr wie ein riesiger Walnusskern aussieht. Die beiden ballonförmigen Hirnhälften, die vor allem aus axonalen Verbindungen zwischen der Oberfläche und anderen Bereichen des Gehirns bestehen, machen 80% des Gehirngewichts aus. Der zerebrale Kortex – die dünne Oberflächenschicht der Hirnhälften enthält 20–23 Mrd. Nervenzellen (eine Schätzung, die auf der Untersuchung einer Auswahl von quadratmillimetergroßen Säulen aus kortikalem Gewebe beruht [de Courten-Myers 2002]). Diese Milliarden Nervenzellen werden von 9-mal so vielen spinnenförmigen Gliazellen gestützt. Gliazellen sind »Klebezellen«, die neuronale Verbindungen stützen, Mark (oder Myelin) für die Ernährung und Isolierung der Nervenzellen zur Verfügung stellen und Ionen und Neurotransmitter aufnehmen. Neuronen sind wie Bienenköniginnen; auf sich allein gestellt, können sie sich nicht ernähren und ummanteln. Gliazellen sind die »Kindermädchen« der Neuronen. Neue Befunde deuten darauf hin, dass sie auch eine wichtige Rolle beim Lernen und Denken spielen. Sie kommunizieren mit den Neuronen und sind dadurch möglicherweise an der Informationsweiterleitung und am Gedächtnis beteiligt (Travis 1994). Wenn wir die Entwicklung der Lebewesen auf eine höhere Stufe verfolgen, so nimmt der Anteil der Glia gegenüber den Neuronen zu. Bei einer kürzlich an Einsteins Gehirn durchgeführten Untersuchung fand man nicht mehr oder größere Neuronen als gewöhnlich, sondern es zeigte sich eine viel stärkere Konzentration der Glia, als man sie üblicherweise im Kopf eines Menschen findet (Fields 2004). Beim Betrachten des menschlichen Gehirns fiele Ihnen wohl zunächst die gefurchte Oberfläche des zerebralen Kortex auf. Die Furchen verbergen zwei Drittel der Oberfläche und vergrößern dadurch die Gesamtfläche des Gehirns. Zöge man den Kortex auseinander, wäre die Oberfläche etwa so groß wie eine große Pizza. (Um eine dünne Pizza in einem Schädel unterzubringen, müssten wir sie auch etwas verkrumpeln!) Bei Ratten und anderen niederen Säugetieren ist der Kortex dünner und enthält weniger neuronales Gewebe (. Abb. 2.24). Jede Hirnhemisphäre ist in vier Lappen geteilt, sozusagen geographische Unterteilungen, die durch herausragende Furchen (Fissuren) oder Falten getrennt werden (. Abb. 2.25). Wenn man an der Vorderseite des Gehirns beginnt und dann über den Scheitel weitergeht, trifft man zunächst auf die Frontallappen (Stirnlappen; hinter der Stirn), dann auf die Parietallappen (Scheitellappen; oben und hinten), die Okzipitallappen (Hinterhauptslappen; am Hinterkopf) und die Temporallappen (Schläfenlappen; an der Seite Ihres Kopfes, genau über den Ohren). Jeder Lappen hat zahlreiche Funktionen, und viele Funktionen machen es erforderlich, dass mehrere Hirnlappen zusammenwirken.

Funktionen des Kortex Ziel 16: Fassen Sie kurz einige der Befunde über die Funktionen des motorischen und des sensorischen Kortex zusammen, und erörtern Sie die Bedeutung der Assoziationsfelder.

Schon vor mehr als einem Jahrhundert zeigten Autopsien von Menschen, die partiell gelähmt oder stumm waren, dass Teile ihres Kortex geschädigt waren. Trotz dieser etwas unscharfen Befunde glaubten die Wissenschaftler nicht daran, dass bestimmte Teile des Kortex festgelegte Funktionen haben. Es wurde angenommen, dass Sprache und Bewegung auf dem gesamten Kortex repräsentiert sind. Demnach müsste eine Schädigung in fast jedem Teil der Oberfläche zum selben Effekt führen. Wenn man das Stromkabel durchtrennt, wird der Fernsehbildschirm schwarz; aber wir würden uns lächerlich machen, wenn wir deswegen annähmen, die Bilder befänden sich im Kabel. Angesichts dieser Analogie fällt uns auf, wie schnell wir uns irren können, wenn wir meinen, Gehirnfunktionen lokalisieren zu können. An komplexen Aktivitäten wie Sprechen, Malen oder

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Gliazellen (glial cells): Zellen innerhalb des Nervensystems, die die Neuronen stützen, ernähren und schützen.

Frontallappen (frontal lobes): Teil des zerebralen Kortex, der direkt hinter der Stirn liegt. Beteiligt an der Sprache und Willkürmotorik und an der Planung und Urteilsfindung. Parietallappen (parietal lobes): Teil des zerebralen Kortex, der oben und hinten am Kopf liegt. Erhält sensorische Signale für Berührungen und Körperposition. Okzipitallappen (occipital lobes): Teil des zerebralen Kortex, der am Hinterkopf liegt. Umfasst den visuellen Kortex, in dem visuelle Informationen aus dem gegenüberliegenden Blickfeld ankommen. Temporallappen (temporal lobes): Teile des zerebralen Kortex, die etwas oberhalb der Ohren liegen; sie enthalten die auditorischen Areale, die hauptsächlich Informationen vom jeweils gegenüberliegenden Ohr empfangen.]

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Kapitel 2 · Neurowissenschaft und Verhalten

. Abb. 2.24. Zerebraler Kortex Würde man den zerebralen Kortex eines Menschen glatt ziehen, würde er ungefähr vier Seiten dieses Buchs bedecken. Der zerebrale Kortex eines Schimpansen würde etwa eine Seite bedecken, der eines Affen eine Postkarte und der einer Ratte eine Briefmarke. (Aus »Scientific American«, Oktober 1994, S. 102)

. Abb. 2.25. Unterteilung des Kortex

Billardspielen sind viele Gehirnareale beteiligt. Wenn wir z. B. Chormusik hören, sind die Sprachund die Musikzentren unseres Gehirns aktiviert. Besson et al. (1998) konnten dies aufgrund der Untersuchung der Gehirnaktivität bei französischen Musikern, die Opernsoli ohne Instrumentalbegleitung lauschten, nachweisen. Die Gehirne der Musiker verarbeiteten Text und Melodie des Stücks in verschiedenen Gehirnarealen, während sie die Musik als »erlesene Einheit der Vokalmusik« erlebten. Zudem scheinen die prickelnden Nervenkitzel, die Musikliebhabern so viel Freude bereiten, die gleichen Belohnungssysteme im Gehirn zu aktivieren, die durch Sexualität und gutes Essen stimuliert werden (Weinberger 2004). Wie bei anderen komplexen Aktivitäten und Erfahrungen sind bei der Musik mehrere Gehirnareale einbezogen.

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. Abb. 2.26. Zuordnung des Hirngewebes der linken Hemisphäre im motorischen und sensorischen Kortex zu den Körperteilen Wie Sie auf diesem klassischen, aber nicht sehr exakten Bild sehen können, ist die Größe des Kortexabschnitts, der jedem Körperteil zugeordnet ist, nicht proportional zur Größe des Körperteils selbst. Es ist vielmehr so, dass für die Teile, die sehr sensitiv sind oder für die viel motorische Kontrolle benötigt wird, mehr Hirngewebe zur Verfügung steht. Deshalb sind die Finger auf einer größeren Fläche repräsentiert als der Oberarm. Jedoch ist das neuronale Netz sehr komplex. Einzelne Muskeln sind mit Neuronengruppen verbunden, die wiederum mit anderen Muskeln verbunden sein können

Motorische Funktionen Einfachere Gehirnfunktionen konnten jedoch von Wissenschaftlern lokalisiert werden. Die deutschen Ärzte Gustav Fritsch und Eduard Hitzig machten z. B. eine wichtige Entdeckung, als sie 1870 die Kortizes von Hunden leicht elektrisch stimulierten: Sie konnten verschiedene Körperteile dazu veranlassen, sich zu bewegen. Die Effekte traten nur dann auf, wenn eine bestimmte bogenförmige Region am hinteren Teil des Frontallappens stimuliert wurde, die von Ohr zu Ohr über die Spitze des Kopfs reicht, der motorische Kortex (. Abb. 2.26). Darüber hinaus zeigte sich, dass die Stimulation eines Teils dieser Region auf der linken oder rechten Hemisphäre zur Bewegung der Extremität auf der gegenüberliegenden Seite des Körpers führte.

Motorischer Kortex (motor cortex): hinterer Teil des Frontallappens, der die Willkürbewegung steuert.

Kartierung der motorischen Kortex

Vor einem halben Jahrhundert vermaßen die Neurochirurgen Otfrid Foerster aus Deutschland und Wilder Penfield aus Kanada bei Hunderten wacher Patienten die motorischen Kortizes. Bevor sie das Messer ans Gehirn ansetzen konnten, mussten die Chirurgen wissen, welche Nebenwirkungen die Entfernung verschiedener Teile des Kortex haben würde. Sie stimulierten verschiedene kortikale Areale und notierten die Reaktionen des Körpers. Dieser Vorgang ist für die Versuchsperson schmerzlos, da das Gehirn nicht über Schmerzsensoren verfügt. Wie Fritsch und Hitzig fanden sie heraus, dass die Stimulation verschiedener Areale des motorischen Kortex am hinteren Teil des Frontallappens zur Bewegung verschiedener Körperteile führt (Versuchen Sie das nur unter fachkundiger Anleitung. Kinder sollte man vermutlich davon abhalten, das zu machen, wenn sie nicht unter Aufsicht von Erwachsenen sind). Sie waren nun in der Lage, den motorischen Kortex mit Bezug auf die Körperteile darzustellen, die von dort aus gesteuert werden (. Abb. 2.26). Interessanterweise sind die Areale, die Bewegungen präzise steuern müssen, z. B. die der Finger und des Mundes, am größten. Der Neurowissenschaftler José Delgado zeigte mehrfach, welche Mechanismen dem motorischen Verhalten zugrunde liegen. Bei einem Patienten stimulierte er einen Punkt auf dem linken motorischen Kortex und brachte ihn so dazu, die rechte Hand zur Faust zu ballen. Als er gebeten wurde, bei der nächsten Stimulierung die Finger gespreizt zu halten, dies aber nicht schaffte, merkte er an: »Herr Doktor, ich glaube, Ihre Elektrizität ist stärker als mein Wille« (Delgado 1969,

Versuchen Sie, Ihre rechte Hand kreisförmig zu bewegen, als ob Sie einen Tisch polieren wollten. Nun bewegen Sie Ihren rechten Fuß synchron mit Ihrer Hand. Dann bewegen Sie Ihren Fuß rückwärts, aber nicht Ihre Hand. Schwer, oder? Einfacher wird es, wenn Sie den linken Fuß andersherum als Ihre rechte Hand drehen. Die rechten und linken Gliedmaßen sind jeweils mit der gegenüberliegenden Gehirnseite verbunden, deshalb stören sich entgegengesetzte Aktionen von gegenüberliegenden Gliedmaßen weniger.

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Kapitel 2 · Neurowissenschaft und Verhalten

S. 114). Wissenschaftler bewerkstelligten es auch, die Armbewegung eines Affen eine Zehntelsekunde im Voraus vorherzusagen: Sie hatten wiederholt die Aktivität im motorischen Kortex unmittelbar vor spezifischen Bewegungen gemessen (Gibbs 1996). Neuronale Prothetik

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. Abb. 2.27. Sieg des Geistes über die Materie Kann man allein durch Denken dafür sorgen, dass etwas geschieht? Ein Forscherteam am California Institute of Technology, das von Sam Musallam geleitet wurde, implantierte Elektroden in einer Region des Parietallappens und zeichnete die neuronale Aktivität auf, als ein Affe plante, nach etwas zu greifen. Nach Speicherung des Programms in einem Computer machte es diese Aktivität dann möglich, dass der Affe nur, indem er daran dachte, einen Cursor auf dem Bildschirm bewegte

Wenn wir ein Gehirn belauschen könnten, könnten wir es dann vielleicht einem gelähmten Menschen ermöglichen, die Gliedmaßen eines Roboters zu bewegen oder einen Cursor zu steuern, um eine E-Mail zu schreiben oder im Internet zu surfen? Um das herauszufinden, implantierten die Forscher an der Brown University bei drei Affen 100 kleine Elektroden in die motorischen Kortizes (Nicolelis u. Chapin 2002; Serruya et al. 2002). Die Affen benutzten einen Joystick, um ein rotes Zielobjekt zu verfolgen (um Belohnungen zu erhalten); gleichzeitig brachten die Wissenschaftler die Signale aus dem Gehirn mit den Pfotenbewegungen in einen Zusammenhang. Dann speisten sie das gefundene Muster in ein Computerprogramm ein und ließen den Computer den Joystick steuern. Wenn ein Affe nur an eine Bewegung dachte, bewegte der Gedanken lesende Computer den Cursor mit fast derselben Genauigkeit wie der Affe. In der neueren Forschung wurden nicht die Botschaften der Motoneuronen aufgezeichnet, die die Pfote des Affen unmittelbar steuern, sondern die aus einem Gehirnareal, das an Planung und Absicht beteiligt ist (Musallam et al. 2004). Während die Affen auf einen Hinweisreiz warteten, der sie aufforderte, auf einen Punkt zu zeigen (um Saft als Belohnung zu bekommen), der an einer von bis zu acht möglichen Stellen auf dem Bildschirm aufgeblitzt war, zeichnete ein Computerprogramm ihre neuronale Aktivität auf. Dadurch, dass die Gedanken lesenden Forscher die Gehirnaktivität mit der anschließenden Zeigebewegung des Affen in Zusammenhang brachten, konnten sie nun einen Cursor so programmieren, dass er sich in Reaktion auf die Gedanken des Affen bewegte (. Abb. 2.27). Der Affe denkt, der Computer handelt. 2004 erteilte die U.S. Food and Drug Administration die Genehmigung für den ersten klinischen Versuch mit neuronaler Prothetik bei gelähmten Menschen (Pollack 2004). Der erste Patient, ein 25 Jahre alter gelähmter Mann, ist jetzt imstande, mental ein Fernsehgerät zu steuern, auf einem Computerbildschirm Formen zu zeichnen und Videospiele zu spielen – das alles dank eines Chips, der so groß ist wie eine Aspirintablette und auf dem sich 100 Mikroelektroden befinden, die die Aktivität in seinem motorischen Kortex registrieren (Patoine 2005).

Sensorische Funktionen

Sensorischer Kortex (sensory cortex): vorderer Teil des Parietallappens, in dem die Empfindungen für Körperberührungen und Bewegungen registriert und verarbeitet werden.

Der motorische Kortex sendet Informationen zu den Körperteilen. Aber wo im Kortex kommen die eingehenden Nachrichten an? Penfield (1969, 1975) machte einen kortikalen Bereich aus, der darauf spezialisiert ist, Informationen von den Sinnesrezeptoren der Haut und über die Bewegung von Körperteilen zu empfangen. Dieses Gebiet, das sich neben dem motorischen Kortex und direkt dahinter im Parietallappen befindet, wird heute als sensorischer Kortex bezeichnet (. Abb. 2.26). Stimuliert man einen Punkt dieses Teils des Kortex mit Elektroden, berichtet die Versuchsperson vielleicht, dass sie an der Schulter berührt worden sei, bei der Stimulierung eines anderen Punkts fühlt sie möglicherweise eine Berührung im Gesicht. Je sensibler ein Bereich des Körpers ist, desto größer ist der Abschnitt des sensorischen Kortex, der diese Region repräsentiert; so sind Ihre über die Maßen sensiblen Lippen z. B. mit einem größeren Gebiet verbunden als Ihre Zehen (. Abb. 2.26; das ist auch einer der Gründe, warum wir mit den Lippen küssen, statt uns mit den Zehen zu berühren). Ähnlich ist es bei Ratten, bei denen sich ein großer Teil des Gehirns den Berührungsempfindungen der Schnurrhaare widmet, bei Eulen, bei denen es vor allem um die Hörempfindung mit Hilfe der Ohren geht und so weiter. In der Forschung wurden weitere Kortexareale entdeckt, die Signale von den anderen Sinnen als dem Berührungssinn bekommen. In diesem Augenblick erreichen visuelle Informationen Ihren Okzipitallappen im hinteren Teil Ihres Gehirns (. Abb. 2.28). Durch einen Schlag auf diese Stelle könnten Sie, wenn er stark genug ist, blind werden. Würden Sie aber dort stimuliert, sähen Sie Lichtblitze und Farben. (Also ist es doch wahr, wir haben Augen hinten im Kopf!) Von Ihrem Okzipitallappen aus werden die visuellen Informationen nun in andere Gehirnareale weitergeleitet, die darauf spezialisiert sind, Wörter zu buchstabieren, den Gesichtsausdruck zu interpretieren oder ein Gesicht wiederzuerkennen.

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Jedes Geräusch, das Sie in diesem Moment hören, wird im auditorischen Kortex des Temporallappens verarbeitet (. Abb. 2.29). (Wenn Sie sich Ihr Gehirn einmal als geballte Faust vorstellen und sich die Faust vor Augen halten, dann entspricht Ihr Daumen in etwa dem Temporallappen.) Der größte Teil dieser auditorischen Informationen durchläuft einen Halbkreis, wenn er von einem Ohr zum auditorischen Kortex über dem anderen Ohr geleitet wird. Wenn Sie dort stimuliert werden würden, würden Sie wahrscheinlich ein Geräusch hören, das in Wirklichkeit gar nicht existiert. Etwas Ähnliches scheint bei schizophrenen Patienten abzulaufen: MRT-Untersuchungen zeigen, dass ihre auditorischen Kortizes aktiviert sind, wenn sie akustische Halluzinationen haben (Lennox et al. 1999). Sogar die Scheingeräusche, die Menschen mit schlechter werdendem Gehör wahrnehmen, hängen mit einer Aktivität des auditorischen Kortex auf der gegenüberliegenden Seite des betroffenen Ohrs zusammen (Muhlnickel 1998).

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Eigentum von V.P. Clark, K. Keill, J. Ma. Maisog, S. Courtney, L.G. Ungerleider und J.V. Haxby, National Institut

2.4 · Gehirn

. Abb. 2.28. Mit neuen Technologien kann man das Gehirn in Aktion sehen Dieses funktionelle MRT zeigt den visuellen Kortex, also den Okzipitallappen, der aktiviert ist, da die Versuchsperson Gesichter ansieht. Das Gebiet hebt sich farblich ab, da in diesem Bereich der Blutfluss erhöht ist. Wenn die Person das Gesicht nicht mehr ansieht, nimmt die Aktivität in dieser Region langsam ab

. Abb. 2.29. Visueller und auditorischer Kortex Die Okzipitallappen hinten am Gehirn erhalten Input von den Augen. Ein auditorisches Gebiet, das auf dem Temporallappen liegt, erhält Informationen von den Ohren

Bis jetzt haben wir uns mit den kortikalen Arealen befasst, die entweder sensorische Signale empfangen oder Signale an die Muskeln aussenden. Beim Menschen bleiben noch drei Viertel des gefurchten Materials im zerebralen Kortex übrig, die nicht direkt an sensorischer oder Muskelaktivität beteiligt sind. Was geschieht dann in diesem großen Bereich des Gehirns? Die Nervenzellen in diesen Assoziationsfeldern (die hellrosa hervorgehobenen Gebiete in . Abb. 2.30) führen Informationen zusammen. Sie bringen sensorische Signale in einen Zusammenhang mit dem gespeicherten Wissen – ein entscheidender Bestandteil des Denkprozesses. Werden die Assoziationsfelder elektrisch stimuliert, zeigt sich keine beobachtbare Reaktion. Deshalb können wir – im Gegensatz zu den sensorischen und motorischen Arealen – die Funktionen dieser Gebiete nicht so eindeutig angeben. Ihre scheinbare Ruhe führte wohl zu der berühmten Aussage der Populärpsychologie, die ebenso weit verbreitet wie falsch ist: nämlich dass wir normalerweise nur 10% unseres Gehirns benutzen (als wäre die Chance 90%, dass eine Kugel Ihr Gehirn in einem Areal trifft, das Sie nicht nutzen). Dieses Märchen, »eines der hartnäckigsten Unkräuter im Garten der Psychologie«, wie es McBurney (1996, S. 44) formulierte, unterstellt, dass wir, wenn wir es nur schafften, auch die restlichen 90% unseres Kortex zu aktivieren, viel klüger

Assoziationsfelder (association areas): Bereiche des zerebralen Kortex, die nicht an den primären und sekundären motorischen und sensorischen Funktionen beteiligt sind, sondern an höheren geistigen Fähigkeiten wie Lernen, Erinnern, Denken und Sprechen.

Assoziationsfelder

. Abb. 2.30. Kortexareale von vier Säugetieren Intelligentere Tiere haben im Kortex erweiterte »unverbundene« Bereiche oder Assoziationsfelder. Diese ausgedehnten Areale des Gehirns haben die Aufgabe, die Informationen, die von den sensorischen Kortizes aufgeschlüsselt und verarbeitet wurden, zu integrieren und in Handlung umzusetzen

Kapitel 2 · Neurowissenschaft und Verhalten

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. Abb. 2.31. Phineas Gage neu betrachtet Durch das Ausmessen von Gages Schädel, der der Forschung erhalten geblieben war, und mit Hilfe moderner bildgebender Verfahren konnten Damasio et al. (1994) den Weg rekonstruieren, den das Werkzeug vermutlich durch Gages Hirn genommen hatte

sein könnten als jene, die mit nur 10% ihrer Leistungsfähigkeit des Gehirns dahinvegetieren. Aber anhand von chirurgisch läsionierten Tieren und von Menschen mit Hirnschäden wurde nachgewiesen, dass die Assoziationsfelder beileibe nicht schlafen. (Das Gehirn hat keinen »Blinddarm«, es enthält also kein offensichtlich verzichtbares Gewebe.) Wenn man zudem annimmt, dass das Gewebe im Gehirn viel Energie verbraucht, dann würde die Natur keine Energie für ein ungenutztes Gehirn verschwenden. Es ist im Gegenteil so, dass diese Areale die Informationen aus den sensorischen Kortizes zusammenführen, interpretieren und entsprechende Reaktionen veranlassen. Assoziationsfelder finden sich in allen vier Hirnlappen. In den Frontallappen ermöglichen diese Areale es uns, zu urteilen, zu planen und neues Wissen zu verarbeiten. Menschen mit einem verletzten Frontallappen haben zwar vielleicht ein intaktes Gedächtnis, erreichen hohe Werte bei Intelligenztests und sind in der Lage, einen Kuchen zu backen – trotzdem ist es ihnen nicht möglich, so weit im Voraus zu planen, dass sie schon vor der Geburtstagsfeier damit beginnen, einen Kuchen zu backen. Eine Schädigung des Frontallappens kann auch insofern zu einer Veränderung der Persönlichkeit führen, als die natürlichen Hemmungen wegfallen. Dies lässt sich am Fall des Bahnarbeiters Phineas Gage veranschaulichen. Eines Nachmittags im Jahre 1848 war Gage, damals 25-jährig, gerade dabei, Sprengstoff mit einem Eisen in ein Bohrloch zu stopfen. Das Schießpulver wurde durch einen Funken entzündet, und die Explosion katapultierte das längliche Werkzeug durch seinen Schädel. Es trat durch die linke Wange ein, am oberen Teil der Schädeldecke wieder heraus und führte zu einer massiven Verletzung des Frontallappens (. Abb. 2.31). Zur allgemeinen Verwunderung war Gage sofort in der Lage, sich aufrecht hinzusetzen und zu sprechen; nachdem die Wunde geheilt war, kehrte er wieder an seine Arbeitsstelle zurück. Aber obwohl seine Intelligenz und sein Gedächtnis intakt waren, war doch seine Persönlichkeit verändert. Der freundliche, sanfte Gage war nun reizbar, respektlos und unaufrichtig. Am Ende verlor er seinen Arbeitsplatz und endete als Verkäufer in einer Bude auf dem Rummelplatz. Dieser Mensch, so seine Freunde, sei »nicht mehr Gage«. Als sein Frontallappen durchstoßen worden war, war bei ihm die moralische Orientierung nicht mehr mit der Verhaltenssteuerung verbunden. Einen ähnlichen Verlust an moralischer Orientierung erlebten vor kürzerer Zeit zwei Menschen, die als kleine Kinder eine ähnliche Verletzung wie Gage erlitten hatten. Beide wurden wieder gesund, aber sie wuchsen ohne moralische Grundsätze auf, sie stahlen und logen, sie misshandelten und vernachlässigten ihre eigenen unehelichen Kinder, ohne dass sie sich dafür zu schämen schienen (Dolan 1999). Obwohl ihre Entwicklung vor dem Unfall normal verlaufen war, schienen sie danach nicht fähig zu sein, richtig von falsch zu unterscheiden. Auch andere Assoziationsfelder sind die Grundlage für geistige Funktionen. So ermöglichen z. B. Teile des parietalen Kortex, die bei Einsteins ansonsten normalem Gehirn größer und ungewöhnlich geformt waren, rechnerisches und räumliches Denken (Witelson et al. 1999). Ein Gebiet am unteren Temporallappen befähigt uns, Gesichter zu erkennen. Wenn ein Schlag auf den Kopf oder eine Krankheit dieses Gebiet in Ihrem Gehirn schädigen würde, könnten Sie noch immer die Einzelheiten eines Gesichts beschreiben sowie das Geschlecht und das ungefähre Alter der Person nennen, die vor Ihnen steht. Sie wären jedoch plötzlich nicht mehr in der Lage, diese Person als Britney Spears oder gar als Ihre Großmutter zu identifizieren. Aber komplexe geistige Fähigkeiten sind nicht an einen bestimmten Ort im Gehirn gebunden. Es gibt keinen Punkt im kleinen Assoziationskortex einer Ratte, dessen Zerstörung dazu führen würde, dass der Gang durch ein Labyrinth nicht mehr erlernt oder erinnert werden könnte. Komplexe menschliche Fähigkeiten wie das Gedächtnis und die Sprache sind das Ergebnis des engen Zusammenwirkens vieler verschiedener Gehirnareale.

Sprache Aphasie (aphasia): Sprachstörung, die normalerweise durch eine Schädigung der linken Hemisphäre, entweder im Broca-Zentrum (gestörte Sprechfähigkeit) oder im Wernicke-Sprachzentrum (gestörtes Sprachverständnis) entsteht.

Ziel 17: Beschreiben Sie die fünf Gehirnareale, die daran beteiligt sind, dass Sie diesen Satz vorlesen.

Nehmen wir einmal diesen seltsamen Befund: Eine Schädigung vieler verschiedener Gehirnareale kann zur Aphasie führen, bei der Teilfunktionen der gesprochenen Sprache verloren gehen. Noch viel interessanter ist, dass einige Menschen mit Aphasie zwar flüssig reden, aber nicht lesen können

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(obwohl sie auch gut sehen können!), während andere zwar lesen, aber nicht sprechen können. Wieder andere können schreiben, aber nicht lesen, Zahlen erkennen, aber keine Buchstaben, oder singen, aber nicht sprechen. Das ist verwirrend, denn eigentlich glauben wir ja, dass all diese Fähigkeiten, also sprechen und lesen, schreiben und lesen oder singen und sprechen insgesamt Aspekte einer einzigen Fähigkeit sind. Doch auf welche Weise entschlüsselten Wissenschafter das Rätsel, wie wir Sprache verwenden? Hier einige Anhaltspunkte, die so gut zusammenpassen wie die Legobausteine in einem Spielzeughaus: 4 1865 beschrieb der französische Arzt Paul Broca, dass nach der Schädigung eines bestimmten Teils des linken Frontallappens (später als Broca-Zentrum bezeichnet) der betroffene Patient beim Sprechen um jedes Wort ringen muss, während er weiterhin fähig ist, bekannte Lieder zu singen und zu verstehen, was gesprochen wird. 4 1874 entdeckte der deutsche Wissenschaftler Carl Wernicke, dass die Schädigung eines bestimmten Teils des linken Temporallappens (des Wernicke-Sprachzentrums) dazu führte, dass die Patienten nur sinnlose Sätze von sich gaben. Bat man sie, ein Bild zu beschreiben, das zeigte, wie zwei Jungen einer Frau hinter dem Rücken Kekse klauten, sagten sie nur: »Die Mutter ist weg von der Arbeit bei ihrer Arbeit, damit es ihr besser geht; aber wenn sie die beiden Jungen ansieht, schauen die in die andere Richtung. Dann arbeitet sie wieder mal« (Geschwind 1979). 4 Später stellte sich heraus, dass, wenn wir etwas vorlesen, ein dritter Teil des Gehirns beteiligt ist. Der Gyrus angularis erhält visuelle Informationen vom visuellen Kortex und wandelt sie in auditorische Informationen um, die das Wernicke-Sprachzentrum benötigt, um die Bedeutung entschlüsseln zu können. 4 Nervenfasern verbinden diese Gehirnareale miteinander.

Broca-Zentrum (Broca’s area): steuert den sprachlichen Ausdruck; Teil des Frontalkortex, meist in der linken Hemisphäre; steuert die Muskelbewegungen, die an der Lautbildung beteiligt sind. Wernicke-Sprachzentrum (Wernicke’s area): steuert die Aufnahme von Sprache; Bereich des Gehirns, der am Sprachverstehen und am sprachlichen Ausdruck beteiligt ist und sich meist im linken Temporallappen befindet.

Norman Geschwind integrierte all diese Befunde in eine Theorie, die erklärt, wie wir Sprache verwenden. Wenn Sie etwas vorlesen, werden (1.) die Wörter zunächst im visuellen Kortex wahrgenommen (. Abb. 2.32 und 2.33), dann (2.) zu einem zweiten Gehirnareal weitergeleitet, zum Gyrus angularis, der sie in einen auditorischen Code umwandelt. Dieser wird (3.) vom WernickeSprachzentrum empfangen und entschlüsselt und schließlich (4.) zum Broca-Zentrum weitergeleitet, das (5.) den motorischen Kortex stimuliert, wenn er die Aussprache des Wortes hervorbringt. Je nachdem, welches Glied in dieser Kette ausfällt, entsteht eine andere Form der Aphasie. Eine Verletzung des Gyrus angularis beeinträchtigt nur die Lesefähigkeit, nicht aber die Sprachfähigkeit und das Sprachverstehen, während eine Schädigung des Wernicke-Sprachzentrums zur Störung des Sprachverstehens führt. . Abb. 2.32. Sprachliche Spezialisierung und Integration

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Kapitel 2 · Neurowissenschaft und Verhalten

. Abb. 2.33a–c. Hirnaktivität beim Hören (a), Sehen (b) und Sprechen (c) von Wörtern PET-Bilder wie dieses hier zeigen die Aktivierung verschiedener Gehirnareale, indem sie die Verteilung einer kurzzeitig radioaktiven Form von Glukose, dem »Brennstoff« des Gehirns, messen. Diese Reihe von PET zeigt erhöhte Aktivität in verschiedenen Bereichen: a beim Hören eines Wortes – auditorischer Kortex und Wernicke-Sprachzentrum; b beim Sehen eines geschriebenen Wortes – visueller Kortes und Gyrus angularis und c beim Sprechen eines Wortes – Broca-Zentrum und motorischer Kortex. Die roten Flecken zeigen die Stellen, an denen das Gehirn schnell Glukose verbraucht

! Generell gilt: Komplexe Fähigkeiten beruhen auf der engen Koordination vieler Gehirnareale.

Anders gesagt: Das Gehirn funktioniert so, dass seine geistigen Fähigkeiten wie Sprechen, Wahrnehmen, Denken und Erinnern in Unterfunktionen aufgeteilt werden. Dies widerspricht natürlich unserer bewussten Erfahrung, die nicht teilbar erscheint. Gerade jetzt nehmen Sie ein Gesamtbild wahr (wenn Sie nicht blind sind), so als nähmen Ihre Augen eine Szene wie eine Videokamera auf und als projizierten sie diese dann auf eine Leinwand in Ihrem Gehirn. Es ist jedoch so, wie Sie auch in 7 Kap. 5 sehen werden, dass das Gehirn die visuelle Wahrnehmung in spezialisierte Unterfunktionen aufteilt, wie Wahrnehmung von Farbe, Tiefe, Bewegung oder Form. (Nach einem gezielten Schlag, der eines dieser neuronalen Netze zerstört, geht bei den Patienten genau dieser Aspekt der visuellen Wahrnehmung verloren, z. B. die Fähigkeit, eine Bewegung wahrzunehmen.) Jedes dieser spezialisierten neuronalen Netze, die alle ihren Teil der Arbeit ausgeführt haben, speist seine Ergebnisse dann in Netze auf einer höheren Ebene ein, die diese Erfahrungsatome zusammensetzen und wiederum zu Arealen auf einer noch höheren Assoziationsebene weiterleiten, die es uns ermöglichen, die Person vor uns als »Großmutter« zu erkennen. Dasselbe geschieht, wenn Sie ein Wort lesen: Ihr Gehirn entschlüsselt die einzelnen Buchstaben, den Wortlaut und seine Bedeutung in verschiedenen neuronalen Netzen (Posner u. Carr 1992). Studien zeigen anhand einer funktionellen MRT, dass Witze, die eine inhaltliche Pointe haben (»Warum beißen Haie keine Anwälte? – Höflichkeit unter Kollegen«), andere Teile des Gehirns aktivieren als Wortspiele (»Welche Art von Beleuchtung benutzte Noah auf der Arche? – Flutlicht«) (Goel u. Dolan 2001). Denken Sie einmal darüber nach: Was Ihnen als endloser Strom der Wahrnehmung erscheint, ist in Wirklichkeit nur die sichtbare Spitze eines Eisbergs der Informationsverarbeitung, wie sie zum größten Teil unter der Oberfläche Ihres Bewusstseins abläuft. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Subsysteme der geistigen Aktivität in verschiedenen Teilen des Gehirns lokalisiert sind, obwohl das Gehirn als Einheit funktioniert. Die Bewegung Ihrer Hand, das Erkennen eines Gesichts, sogar die Wahrnehmung von Farbe, Bewegung, Tiefe, all diese Fähigkeiten hängen von unterschiedlichen neuronalen Netzen ab. Aber komplexe Fähigkeiten wie zuhören, lernen und lieben beruhen auf dem Zusammenspiel vieler Gehirnareale. Beide Prinzipien – Spezialisierung und Integration – beschreiben die Funktionsweise des Gehirns.

Plastizität des Gehirns Ziel 18: Erörtern Sie die Plastizität des Gehirns nach einer Verletzung oder einer Krankheit. Plastizität (plasticity): Fähigkeit des Gehirns sich anzupassen, wie sie z. B. in der neuronalen Reorganisation nach einer Verletzung (vor allem bei Kindern) oder in Experimenten zur Auswirkung der Erfahrung auf die Gehirnentwicklung deutlich wird.

Das Gehirn bildet sich nicht nur durch unsere Gene, sondern auch durch unsere Erfahrungen. In 7 Kap. 3 werden wir uns stärker darauf konzentrieren, wie die Erfahrung das Gehirn formt. Doch lassen Sie uns jetzt zu Befunden aus Studien kommen, die sich mit der Plastizität des Gehirns befassen, seiner Fähigkeit also, sich nach einer bestimmten Art von Schädigung selbst zu verändern. Die meisten beschädigten Neuronen werden sich nicht wieder neu bilden (wäre z. B. Ihr Rükkenmark durchtrennt worden, würden Sie für immer gelähmt bleiben). Und einige Hirnfunktionen scheinen von vorne herein bestimmten Arealen zugewiesen zu werden. Ein Neugeborenes, das eine Hirnschädigung in Arealen erlitt, die in beiden Temporallappen für die Gesichtserkennung zuständig sind, erlangte nie wieder die normale Fähigkeit, Gesichter zu erkennen (Farah et al. 2000). Doch einige Neuronen können sich nach einer Verletzung reorganisieren. Dies geschieht bei uns allen, wenn sich das Gehirn in Reaktion auf eine Schädigung selbst repariert. Nach einer

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. Abb. 2.34. Gehirnplastizität Wenn bei einem Kind durch eine Verletzung oder eine Operation ein Teil des Gehirns zerstört wird oder wie im Fall dieser 6-Jährigen (zur Vermeidung epileptischer Anfälle) sogar eine ganze Hirnhälfte, gleicht das Gehirn dies aus, indem es andere zusätzliche Areale veranlasst zu arbeiten. Ein medizinisches Team der Johns Hopkins University nahm sich noch einmal alle 58 Hemisphärektomien vor, die man dort an Kindern vorgenommen hatte, und berichtete, dass man »von Ehrfurcht ergriffen« gewesen sei, wie gut die Kinder ihr Gedächtnis, ihre Persönlichkeit und ihren Humor behalten hätten, nachdem bei ihnen eine der beiden Hirnhälften entfernt worden sei (Vining et al. 1997)

C. Styrsky

Joe McNally, Joe McNally Photography

schwerwiegenden Schädigung tritt die Plastizität besonders deutlich in Erscheinung. Wenn man einen Finger verliert, wird der sensorische Kortex, an den dessen Signale weitergeleitet wurden, anfangen, Signale von den benachbarten Fingern zu erhalten, die dann sensibler werden (Fox 1984). MRT-Schichtaufnahmen zeigen, dass erfahrene Pianisten einen entsprechend größeren auditorischen Kortex (hier werden die Klänge des Klaviers enkodiert) als andere Menschen aufweisen (Bavelier et al. 2000; Pantev et al. 1998). Das Gehirn weist die größte Plastizität auf, wenn man ein kleines Kind ist (Kolb 1989; . Abb. 2.34). Die Plastizität des Gehirn ist eine gute Botschaft für diejenigen, die blind oder taub sind. Bei blinden Menschen, die mit ihren Fingern Blindenschrift lesen, vergrößert sich der Abschnitt des sensorischen Kortex, der diese Finger repräsentiert, in dem Maße, in dem der Tastsinn dann auch den visuellen Kortex besetzt, der sonst dem Sehen gewidmet ist. Wenn bei einer von Geburt an blinden Person der visuelle Kortex durch magnetische Stimulation zeitweilig außer Kraft gesetzt wird, wird sie mehr Fehler bei verbalen Aufgaben machen (Amedi et al. 2004). Bei gehörlosen Menschen, die sich normalerweise in Gebärdensprache unterhalten, wartet der auditorische Kortex im Temporallappen sozusagen vergeblich auf Signale, und sucht sich schließlich Stimulation aus anderen Quellen, z. B. vom visuellen System, um sie zu verarbeiten. Dies erklärt auch, warum man bei einigen Untersuchungen herausfand, dass gehörlose Menschen eine bessere Fähigkeit zum peripheren Sehen aufweisen (Bosworth & Dolkins 1999). Wird ein Körperglied amputiert, können sich die Nervenzellen aus den umliegenden Gehirnarealen des Bereiches, der vormals das amputierte Glied repräsentierte, in das Gebiet des fehlenden Körperteils hinein ausbreiten. Wie in . Abb. 2.26 zu sehen ist, liegt das Repräsentationsgebiet der Hand auf dem sensorischen Kortex zwischen dem des Arms und dem des Gesichts. Dies erklärt ein rätselhaftes Phänomen: Wenn man das Gesicht eines Menschen mit amputierter Hand streichelt, fühlt der betreffende Mensch die Berührung nicht nur im Gesicht, sondern manchmal auch auf der nicht mehr existierenden Hand, wie Ramachandran u. Blakeslee (1998) beobachteten. Dasselbe geschah, wenn der Arm dieser Person berührt wurde. Bedenken Sie auch, dass die Zehen (und damit auch der Unterschenkel) neben den Genitalien repräsentiert werden. Was glauben Sie also, fühlte ein anderer Patient von Ramachandran, dessen Unterschenkel amputiert wurde, beim Sex? »Ich fühle meinen Orgasmus jetzt im Fuß. Und dort ist er weitaus stärker als früher, weil er nicht mehr nur auf meine Genitalien beschränkt ist« (Ramachandran u. Blakeslee 1998, S. 36). Obwohl die Veränderung des Gehirns oft die Form der Reorganisation annimmt, zeigen neuere Studien – im Gegensatz zur traditionellen Auffassung der Neurowissenschaftler –, dass in den Gehirnen von erwachsenen Mäusen und Menschen neue Nervenzellen in zwei älteren Hirnregionen nachwachsen können (Kempermann u. Gage 1999; Van Praag et al. 2002). Außerdem bilden sich in Gehirnen von Affen tagtäglich Tausende neuer Nervenzellen. Diese neuen Neuronen entstehen tief im Gehirn und wandern dann zum »denkenden« Frontalkortex, wo sie sich möglicherweise mit benachbarten Neuronen verbinden (Gould et al. 1999). Beim menschlichen Embryo wurden übergeordnete Stammzellen gefunden, die sich in jede Form von Gehirnzellen entwickeln können. Könnten diese neuronalen Stammzellen im Labor nachgezüchtet und vielleicht in verletzte Gehirne injiziert werden, damit sie dort die zerstörten Neuronen ersetzen? Könnten wir so vielleicht eines Tages geschädigte Gehirne wieder aufbauen, so wie wir einen zerstörten Rasen durch neue Samen auffrischen? Könnten neue Medikamente zur Produktion neuer Nervenzellen anregen? Und wollen wir das? – In Deutschland wird die Stammzellenforschung äußerst kontrovers diskutiert. Die Firmen in Bereich der Biotechnologie arbeiten jedenfalls mit vollem Einsatz an diesen Möglichkeiten (Gage 2003).

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Aus Stroh mach Gras Gratulation, Herr Kollege – Ihre Therapie scheint Erfolg zu haben!

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Kapitel 2 · Neurowissenschaft und Verhalten

2.4.4 Zur Zweiteilung des Gehirns Ziel 19: Beschreiben Sie die Forschung zur Trennung der Hemisphären, und erklären Sie, wie sie zu einem besseren Verständnis der Funktionen unserer rechten und linken Hirnhälfte beiträgt.

2 »Mit der rechten Hemisphäre würden Sie nicht so gern ausgehen.« Michael Gazzaniga (2000)

Seit mehr als einem Jahrhundert gibt es Hinweise darauf, dass unsere beiden Gehirnhälften unterschiedliche Funktionen haben. Unfall, Schlaganfall oder Tumor in der linken Hemisphäre bewirken i. Allg. Funktionsstörungen im Zusammenhang mit dem Lesen, Schreiben, Sprechen, Argumentieren bei Rechenaufgaben und im Zusammenhang mit dem Verstehen von Zusammenhängen. Ähnliche Läsionen in der rechten Hemisphäre haben nur selten solche dramatischen Auswirkungen. Um 1960 wurde die linke Gehirnhälfte als die »dominante« oder »überlegene« Hälfte beschrieben, während ihr stiller Begleiter, die rechte Hemisphäre, als »unterlegen« oder »weniger wichtig« galt. Dann fanden die Forscher heraus, dass die »weniger wichtige« rechte Hemisphäre in ihrer Funktion doch nicht so eingeschränkt ist, wie immer angenommen wurde. Die Geschichte dieser Entdeckung ist ein weiteres spannendes Kapitel der Geschichte der Psychologie.

Hemisphärentrennung

Corpus callosum (auch Balken; corpus callosum): breites Band aus Nervenfasern, das die beiden Gehirnhälften miteinander verbindet und über das Informationen weitergeleitet werden.

Split-Brain-Patienten (split-brain patients): Personen, bei denen die beiden Gehirnhälften voneinander getrennt sind (»gespaltenes Gehirn«), nachdem die sie verbindenden Fasern, vor allem die des Corpus callosum, durchgeschnitten wurden.

1961 stellten zwei Neurochirurgen aus Los Angeles, Philip Vogel und Joseph Bogen, die Hypothese auf, dass viele epileptische Anfälle auf eine Veränderung der Gehirnaktivität zurückgehen, bei der es zu einem regen Austausch zwischen den beiden Hemisphären kommt. Sie fragten sich, ob sie die Anzahl der epileptischen Anfälle bei Patienten mit unkontrollierbarer Epilepsie verringern könnten, wenn sie die Verbindung zwischen den beiden Gehirnhälften kappten. Dazu mussten Vogel und Bogen das Corpus callosum durchtrennen, das breite Band aus Axonfasern, durch das die beiden Hemisphären miteinander verbunden sind (. Abb. 2.35). Die Chirurgen hatten Hinweise darauf, dass eine solche Operation für den Patienten keinen Funktionsverlust mit sich bringen würde. Die Psychologen Roger Sperry, Ronald Myers und Michael Gazzaniga hatte Katzen- und Affengehirne durchtrennt, ohne dass sich Anzeichen für Behinderungen zeigten. Also operierten die Chirurgen Vogel und Bogen Menschen. Und was war das Ergebnis? Die Anfälle traten viel seltener auf, und die sog. Split-Brain-Patienten waren überraschend normal; ihre Persönlichkeit und ihr Intellekt schienen kaum betroffen zu sein. Ein Patient konnte sogar nach dem Aufwachen aus der Narkose das Späßchen machen, dass er »geteilte Kopfschmerzen« habe (Gazzaniga 1967). Nur zehn Jahre vorher hatte der Neuropsychologe Karl Lashley den Witz gemacht, dass der Balken nur dazu da sei, »die beiden Hemisphären vor Durchhängern zu bewahren«. Die genialen Experimente von Sperry und Gazzaniga bewiesen jedoch, dass dieses breite Band, das mehr als 200 Mio. Nervenfasern enthält und fähig ist, mehr als eine Mrd. Informationseinheiten pro Sekun-

Courtesy of Terrence Williams, University of Iowa

. Abb. 2.35a, b. Corpus callosum Diese breite Band neuronaler Fasern verbindet die beiden Gehirnhälften. Um das linke Bild (a) erstellen zu können, wurden die Hemisphären durch das Durchschneiden des Corpus callosums und tieferer Gehirnregionen getrennt. Für das rechte Bild (b) hat ein Chirurg den hinteren Teil des Gehirns entfernt, um das Corpus callosum und die aus ihm heraustretenden Fasern zu zeigen

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de zwischen den Hemisphären hin und her zu leiten, eine viel wichtigere Funktion hat. Studien mit SplitBrain-Patienten, den »interessantesten Menschen der Welt«, gaben uns einen Schlüssel zum Verständnis der komplementären Funktionen der beiden Hemisphären. Wie . Abb. 2.36 zeigt, konnten die Forscher dank der seltsamen Verkabelung unseres visuellen Systems in die linke oder in die rechte Hemisphäre des Patienten gezielt Informationen einspeisen. Dazu musste der Patient auf einen Punkt schauen, dann wurde links oder rechts davon ein kurzer Stimulus eingeblendet. Man könnte das auch mit Ihnen machen, aber in Ihrem intakten Gehirn würde die Hemisphäre, die die Information empfängt, der Nachbarin auf der anderen Seite des Tals die Neuigkeit sofort weitererzählen. Doch die Split-Brain-Operation hatte das Telefonkabel zur anderen Talseite gekappt: das Corpus callosum. Dadurch wurde es den Wissenschaftlern möglich, jede Hemisphäre einzeln zu befragen. In einem frühen Experiment bat Gazzaniga die Split-Brain-Patienten, einen Punkt auf einem Bildschirm zu betrachten, und blendete HE•ART ein (. Abb. 2.37). HE erschien im linken Blickfeld (das mit der rechten Hemisphäre verbunden ist) und ART im rechten (verbunden mit der linken Gehirnhälfte). Als die Patienten dann gefragt wurden, was sie gesehen hatten, sagten sie, dass sie das Wort ART gesehen hatten. Wenn sie jedoch gebeten wurden, auf das Wort zu zeigen, waren sie selbst erstaunt darüber, dass ihre linke Hand (von der rechten Hemisphäre gesteuert) auf das Wort HE zeigte. Gibt man jeder Hemisphäre einzeln die Möglichkeit sich auszudrücken, teilt sie nur das mit, was sie wahrgenommen hat. Die rechte Hirnhälfte, die die linke Hand steuert, wusste genau, was »ihre« Hemisphäre gesehen hatte, auch wenn sie es nicht verbal ausdrücken konnte.

. Abb. 2.36. Informationsbahnen vom Auge zum Gehirn Die Informationen aus der linken Hälfte Ihres Blickfeldes werden in der rechten Gehirnhälfte repräsentiert und die aus der rechten Hälfte des Blickfelds in der linken Gehirnhälfte, wo normalerweise auch die Sprache repräsentiert ist. (Trotzdem ist es so, dass jedes Auge Informationen aus dem rechten und linken Blickfeld erhält.) Die Daten, die in einer Hemisphäre ankommen, werden dann sehr schnell über das Corpus callosum zur anderen Hemisphäre übermittelt. Dies geschieht allerdings nicht mehr, wenn das Corpus callosum bei einem Menschen beschädigt ist

. Abb. 2.37. Untersuchungen am geteilten Gehirn Wenn man in einem Experiment das Wort HEART ins Blickfeld eines Split-Brain-Patienten einblendet, berichtet der Patient, nur den Teil des Wortes zu sehen, der die linke Hemisphäre erreicht hat. Zeigt er jedoch mit der linken Hand auf das Wort, das er gesehen hatte, zeigte er auf das, welches die rechte Hemisphäre erreicht hatte. (Aus Gazzaniga 1983)

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Kapitel 2 · Neurowissenschaft und Verhalten

BBC

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. Abb. 2.38. Versuchen Sie das mal! Joe, ein Split-Brain-Patient, kann gleichzeitig zwei verschiedene Formen malen

»… lass deine linke Hand nicht wissen, was deine rechte tut.« Matthäus 6, Vers 3

Wer sieht glücklicher aus? Schauen Sie zuerst auf den Mittelpunkt eines der beiden Gesichter, dann auf den des anderen. Sieht eines glücklicher als das andere aus? Die meisten Menschen sagen, das rechte sähe glücklicher aus. Manche Forscher erklären das damit, dass die rechte Hemisphäre, mit der Gefühle wahrgenommen werden, die Informationen über das linke Auge und damit in erster Linie zum vom Betrachter aus linken Teil des zu betrachtenden Gesichts erhält, wenn der Mittelpunkt des Gesichtes fokussiert wird

Als man der rechten Gehirnhälfte der Patienten das Bild eines Löffels »zeigte«, konnten die Patienten nicht sagen, was sie gesehen hatten. Doch konnten sie den Löffel, der in einem Haufen verschiedener Gegenstände versteckt war, mit der linken Hand ertasten und herausziehen. Wenn der Versuchsleiter den Patienten dann lobte, hätte die Antwort lauten können: »Was? Richtig? Wie ist es möglich, dass ich den richtigen Gegenstand aufnehme, wenn ich nicht einmal weiß, was ich gesehen habe?« Hier spricht natürlich die linke Hemisphäre, die sich darüber wundert, was die nonverbale rechte Hemisphäre weiß. Einige Menschen, die sich einer Split-Brain-Operation unterzogen hatten, waren für einige Zeit von der ungewöhnlichen Unabhängigkeit ihrer linken Hand beunruhigt. Es konnte ihnen passieren, dass die linke Hand ein Hemd aufknöpfte, das die rechte Hand gerade zugeknöpft hatte, oder im Supermarkt Sachen wieder ins Regal stellte, die von der rechten Hand gerade in den Wagen gelegt worden waren. Es erschien, als ob jede Hemisphäre unabhängig für sich dachte: »Ich meine zur Hälfte, dass ich heute mein blaues (oder eben zur anderen Hälfte: mein grünes) Hemd tragen sollte.« Es ist laut Sperry (1964) tatsächlich so, dass die Split-Brain-Chirurgie Menschen mit »zwei einzelnen Gehirnen« erschafft. Mit voneinander abgetrennten Hirnhälften können beide Hemisphären eine Anweisung verstehen und ihr folgen, dass sie – gleichzeitig – unterschiedliche Figuren mit der linken und mit der rechten Hand nachzeichnen sollen (Franz et al. 2000; . Abb. 2.38). (Als ich diese Berichte las, stellte ich mir vor, wie ein Split-Brain-Patient mit sich allein das Spiel »Schere – Stein – Papier« spielt, und zwar linke gegen rechte Hand.) ? Dazu folgende Frage: Wenn wir der rechten Hemisphäre eines Split-Brain-Patienten ein rotes Licht zeigen und der linken ein grünes Licht, würde dann jede Hemisphäre ihre eigene Farbe wahrnehmen? Wüsste der Betreffende, dass sich die Farben unterscheiden? Was würde diese Person antworten, wenn sie gefragt würde, was sie gesehen hat? (7 Antwort 2.2 am Ende des Kapitels)

Wenn die »beiden Gehirne« voneinander getrennt sind, versucht die linke Gehirnhälfte verzweifelt, die Geschehnisse zu erklären, die das Gehirn nicht verstehen kann. Wenn der Patient also einer Anweisung folgt, die der rechten Hemisphäre gegeben wurde (»Geh!«), wird sich die linke Hemisphäre eine Erklärung ausdenken (»Ich möchte ins Haus gehen, um mir eine Cola zu holen«). Daraus schloss Gazzaniga (1988), dass das Bewusstsein in der linken Hemisphäre als »Interpret« immer wieder Theorien aufstellt, die unser Verhalten erklären sollen. Im Gegensatz zum unbewussten Teil unseres Denkens, der unser Leben steuert, wie ein Autopilot, der einen Jumbojet fliegt, handelt das Bewusstsein wie der Pilot, der nur ab und an das Steuer ergreift. Es handelt aber auch eher wie die Pressestelle des Denkens (und manchmal auch als Geschichtenerzähler) – also die Stelle, die nach außen Entscheidungen erklärt, die hinter verschlossenen Türen getroffen wurden (Wegner 2002; Wilson 2002). Diese Berichte veranschaulichen ein Kernkonzept, auf das wir im ganzen Buch immer wieder zurückkommen werden. Das unbewusste Gehirn kann unser Verhalten steuern – ohne unser bewusstes Zutun und unseren bewussten Willen. Diese Experimente zeigen, dass die linke Hemisphäre aktiver ist, wenn eine Person über Entscheidungen nachdenkt (Rogers 2003). Die rechte Hemisphäre versteht einfache Anweisungen und nimmt Gegenstände problemlos wahr; sie ist stärker beteiligt, wenn es um schnelle, intuitive Reaktionen geht. Die rechte Seite des Gehirns übertrifft die linke auch beim Nachzeichnen von Bildern, und auch beim Erkennen von Gesichtern, bei der Wahrnehmung von Unterschieden und Gefühlen sowie auch darin, Gefühle auszudrücken (mit der linken Gesichtshälfte). Wenn die rechte Hirnhälfte geschädigt ist, ist die Verarbeitung von Emotionen und das Sozialverhalten in starkem Maße beeinträchtigt (Tranel et al. 2002). Die meisten Organe, die im Körper doppelt existieren, also Nieren, Lungen, Brüste, haben dieselbe Funktion, sodass es immer Ersatz gibt, wenn eine Seite ausfallen sollte. Bei den beiden Gehirnhälften ist das nicht so. Bei ihnen kann jede Hälfte unterschiedliche Funktionen erfüllen, ohne dass die Anstrengung wirklich verdoppelt werden muss. Das Ergebnis ist ein biologisch seltsames, aber schmuckes Paar, bei dem jede Hälfte anscheinend ihren eigenen Willen hat.

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Unterschiede der beiden Hemisphären im intakten Gehirn Aber was ist mit den mehr als 99,99% der Menschen, die ein ungeteiltes Gehirn haben? Sind auch unsere Gehirnhälften ähnlich spezialisiert wie die der Split-Brain-Patienten? Die Antwort lautet ja. Dabei ist jedoch die Warnung angebracht, dass diese Befunde nicht überschätzt werden sollten (7 Kritisch nachgefragt: Über das linke und das rechte Gehirn). Wenn eine Versuchsperson z. B. eine Aufgabe ausführt, die etwas mit Wahrnehmung zu tun hat, zeigen die Gehirnwellen, der Blutfluss und der Glukoseverbrauch eine verstärkte Aktivität der rechten Gehirnhälfte; wenn sie aber spricht oder rechnet, ist vor allem die linke Hemisphäre aktiviert. Wenn man magnetische Stimulierung einsetzt, um die Aktivität der linken oder der rechten Hirnhälfte zeitweilig zu unterbrechen (Knecht et al. 2002), oder eine ganze Hemisphäre kurzzeitig sediert, kann man die hemisphärische Spezialisierung (die man als Lateralisierung bezeichnet) noch klarer veranschaulichen. Um vor einer Operation festzustellen, wo im Gehirn eines Patienten die Sprache repräsentiert ist, kann ein Arzt Sedativa in die Nackenarterie des Patienten injizieren, die die Hemisphäre auf ihrer Seite mit Blut versorgt. Bevor das Medikament gegeben wird, legt sich der Patient hin und streckt die Arme in die Luft, dabei unterhält er sich mit den Anwesenden. Sie können wahrscheinlich vorhersagen, was passiert, wenn das Medikament zu wirken beginnt und es in die linke Gehirnhälfte strömt. Schon nach wenigen Sekunden fällt der rechte Arm des Patienten herab. Falls die Sprache in seiner linken Hemisphäre repräsentiert ist, verstummt er, bis die Wirkung des Medikaments abnimmt. Wird das Medikament aber in die Arterie injiziert, die die rechte Hemisphäre versorgt, fällt der linke Arm herunter, aber der Patient kann immer noch sprechen. »Schläft« die rechte Hemisphäre, ist es für die meisten Patienten schwerer, sich selbst auf einem verzerrten Foto zu erkennen, als mit einer betäubten linken Hemisphäre (Keenan 2001). Noch weitere Experimente bestätigen die Spezialisierung der Hemisphären. Zum Beispiel erkennen die meisten Menschen ein Bild schneller und sicherer, wenn es direkt (über das linke Gesichtsfeld) in ihre rechte Hemisphäre geleitet wird. Wörter dagegen werden besser mit der linken Hemisphäre erkannt. Wird das Wort aber in ihre rechte Gehirnhälfte geleitet, braucht die Wahrnehmung einige Bruchteile von Sekunden länger, genau die Zeit, die benötigt wird, um eine Information über das Corpus callosum in die auf Sprache spezialisierte linke Gehirnhälfte weiterzuleiten. Welche Hemisphäre ist Ihrer Meinung nach für die Gebärdensprache zuständig, die gehörlose Menschen verwenden? Die rechte, weil sie der linken im bildlich-räumlichen Denken überlegen ist? Oder die linke, weil sie für die Verarbeitung von Sprache zuständig ist? Studien zeigen, dass ebenso wie Hörende gewöhnlich ihre linke Hemisphäre für das Sprachverstehen nutzen, Gehörlose ihre linke Gehirnhälfte für das Verstehen von Zeichen nutzen (Corina et al. 1992; Hickok et al. 2001). Ein Schlaganfall in der linken Hemisphäre würde die Zeichensprache eines gehörlosen Menschen genauso beeinträchtigen wie die Sprechfähigkeit eines hörenden Menschen. Das BrocaZentrum ist am Hervorbringen sowohl der gesprochenen Sprache als auch der Gebärdensprache beteiligt (Corina 1998). Für das Gehirn ist Sprache Sprache, ganz gleich, ob gesprochen oder in Gebärden. Obwohl es die linke Hemisphäre ist, die Sprache schnell und wörtlich versteht, wird sie von der rechten darin übertroffen, ausgeklügelte Schlussfolgerungen zu ziehen (Beeman u. Chiarello 1998; Bowden u. Beeman 1998; Mason & Just 2004). Wenn man der linken Hemisphäre das Wort »Fuß« nur für den Bruchteil einer Sekunde als Prime (Reiz, der Erwartungen weckt) darbietet, gelingt es ihr sehr schnell, das Wort »Ferse« zu erkennen, das mit »Fuß« eng assoziiert ist. Aber wenn man kurzzeitig die Wörter »Fuß«, »Schrei« und »Glas« einblendet, erkennt die rechte Gehirnhälfte schneller als die linke das Wort »Schnitt«, das mit den drei ersten nur entfernt assoziiert ist. Gibt man den Versuchspersonen ein Verstehensproblem – welches Wort lässt sich mit den folgenden verbinden: »hoch«, »Bezirk«, »Gebäude«? – kommt die rechte Hemisphäre schneller auf die Lösung (»Schule«). Ein Patient, bei dem die rechte Hemisphäre verletzt wurde, erklärte: »Ich verstehe die Wörter, aber nicht ihre subtile Bedeutung.« Die rechte Gehirnhälfte hilft uns auch, die Wörter so zu betonen, dass die Bedeutung erkennbar wird. Dies geschieht z. B., wenn wir sagen: »Ich möchte so klug wie Einstein sein!« Dies könnte sonst auch verstanden werden als: »Ich möchte so klug wie ein Stein sein!« (abgewandelt bei Heller 1990)

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Kapitel 2 · Neurowissenschaft und Verhalten

Wenn man die beiden Hemisphären betrachtet, die für das bloße Auge genau gleich aussehen, vermutet man nicht, dass sie beide in ihrer eigenen Art zur Harmonie des Ganzen beitragen. Wenn man sich jedoch die Fülle der heute vorliegenden Beobachtungen – bei Split-Brain-Patienten und bei Menschen mit einem normalen Gehirn – ansieht, lässt sich zweifellos daraus schließen, dass unser Gehirn ein Ganzes mit spezialisierten Teilen ist. Kritisch nachgefragt

Linkshemisphärisch/rechtshemisphärisch? – Zur populärwissenschaftlichen Darstellung von Forschungsergebnissen »Ein Irrtum fliegt von Mund zu Mund, von Feder zu Feder, und es dauert Jahrhunderte, ihn auszumerzen.« Voltaire (1694–1778) Sie haben bestimmt Hunderte Male gehört, dass manche Menschen typische Benutzer der linken Gehirnhälfte sind, also rational denkend und logisch, andere dagegen ein Paradebeispiel für den »rechtshemisphärischen« Menschen, der kreativ und gefühlvoll ist. Aber Neurowissenschaftler hissen eine Warnflagge: Hüten Sie sich davor, solch komplexe menschliche Fähigkeiten wie Wissenschaft oder Kunst in einer Hemisphäre zu vermuten! Roger Sperry sagte 1982 dazu: »Die Links-rechts-Dichotomie der Kognition ist eine Vorstellung, die sich ausbreitet wie Unkraut.« Warum werden aber in populärwissenschaftlichen Darstellungen die Ergebnisse zur Hemisphärenspezialisierung dermaßen aufgebauscht? In »The Left-Hander Syndrome« beschreibt Coren (1983), Psychologe an der University of British Columbia, wie und warum Journalisten häufig wissenschaftliche Ergebnisse vereinfachen und ausschmücken. Er erinnert sich daran, einen Vortrag von Doreen Kimura, damals Psychologin an der University of Western Ontario in London, Ontario, gehört zu haben. Kimura führte darin aus, dass Melodien, die mit dem linken Ohr gehört werden, schneller erkannt werden, als wenn sie mit dem rechten Ohr gehört werden. Da das linke Ohr ja einen Großteil der Informationen an die rechte Hemisphäre sendet, schloss sie daraus, dass bei ihren rechtshändigen Studenten die rechte Gehirnhälfte Melodien besser erkennen konnte. Einige Tage später war in der »New York Times« Folgendes zu lesen: »Doreen Kimura, Psychologin aus London, Ontario, fand heraus, dass die Musikalität eines Menschen ihren Sitz in der rechten Gehirnhälfte hat« (Kursivsetzung nicht im Original, sie hebt die schlimmste Übertreibung hervor). Offensichtlich von diesem Bericht abgeschrieben, berichtete eine andere Zeitung kurz darauf, dass »die Londoner Psychologin Dr. Doreen Kimura sagt, dass Musiker rechtshemisphärisch sind«. (Kimura untersuchte doch Studenten, nicht Musiker!) Später stellte ein Folgeartikel die Befunde noch verzerrter dar: »Eine britische Psychologin erklärt endlich, warum so viele Musiker Linkshänder sind.« Mit Blick darauf, dass Kimura nicht aus England kommt, keine Musiker untersuchte und vor allem keine Linkshänder, wiederholte Coren die Worte eines amerikanischen Redakteurs: »Alles, was Sie in der Zeitung lesen, ist absolut wahr, bis auf den seltenen Fall einer Geschichte, von der Sie aus erster Hand wissen«. Was geschehen kann, ist Folgendes: Wenn die Information vom Wissenschaftler zum Leser weitergeleitet wird, wird sie vereinfacht und ausgeschmückt, genauso wie alles, was von einem Mensch zum nächsten weitergetratscht wird. Ein Fernsehsender stößt auf eine interessante

Neuigkeit und reduziert sie auf einen 30-Sekunden-Spot, mit 11 Sekunden Inhalt. Das bringt eine Zeitung darauf, den Gedanken zu übernehmen und eine ähnliche Geschichte daraus zu machen, die wiederum von einem populärwissenschaftlichen Magazin übernommen wird und schließlich auf den Titelseiten der Boulevardzeitungen landet. Bei jedem Schritt werden die Ideen »spekulativer und weichen immer mehr vom tatsächlichen Forschungsergebnis ab. … Nach einer Weile kann man das, was der Neuropsychologe ursprünglich gesagt hat, in der Kommunikationskette gar nicht mehr erkennen«, bemerkte Cohen. Gerüchte schießen ins Kraut und werden zu wissenschaftlichem Pseudowissen, das »als Wahrheit akzeptiert« und in Gesprächen immer wieder mit den Sätzen wiederholt wird, die mit den Worten »Wie jeder weiß …« oder »Wie Wissenschaftler herausgefunden haben …« beginnen. Und am Ende, so befürchtet Coren, sind die Stimmen, die diese öffentlichen Mythen verbreiten, lauter als die der Wissenschaftler, die ihnen widersprechen. Die Moral aus der Geschichte ist nun aber nicht, dass Sie alles gering schätzen sollten, was Sie lesen. Aber seien Sie wachsam! Reporter wollen natürlich, dass ihr Artikel veröffentlicht wird. Im Idealfall haben sie dabei das Ziel vor Augen, das darzustellen, was an einem Thema wesentlich ist – also etwas einfach und verständlich darzustellen, ohne zu vereinfachen. Im schlimmsten Fall machen sie aus einem Ereignis von der Größe einer Mücke eine Geschichte vom Format eines Elefanten: Einige Menschen sind linkshemisphärisch, die anderen rechtshemisphärisch …

S. Wahl

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Linkshemiphärisch – rechtshemisphärisch Ist die Künstlerin »rechtshemisphärisch«? Solche Annahmen ignorieren die Forschungsergebnisse zum Thema Gehirnhälften. Manche Bereiche der rechten Hemisphäre sind auf einzelne Aufgaben spezialisiert, doch die beiden Hälften des Gehirns arbeiten zusammen, damit der Mensch das tun kann, was er tun will

95 2.4 · Gehirn

2

Organisation des Gehirns und Händigkeit Ziel 20: Erörtern Sie die Zusammenhänge zwischen der Organisation des Gehirns, der Händigkeit und der Mortalität.

Fast 90% der Menschen sind primär Rechtshänder (Medland et al. 2004). Etwa 10% (etwas mehr bei Männern, etwas weniger bei Frauen) sind Linkshänder. (Einige wenige Menschen schreiben mit der rechten Hand und werfen einen Ball mit der linken Hand oder umgekehrt.) Nahezu alle (95%) Rechtshänder verarbeiten die Sprache in der linken Gehirnhälfte, die gewöhnlich etwas größer zu sein scheint als bei Linkshändern (Springer u. Deutsch 1985). Bei Linkshändern ist es etwas komplizierter. Bei mehr als der Hälfte ist die Sprache in der linken Hemisphäre repräsentiert, genauso wie bei Rechtshändern. Bei etwa einem Viertel wird sie in der rechten Hemisphäre abgebildet; das restliche Viertel nutzt dazu beide Hemisphären.

Die meisten Menschen nehmen den rechten Fuß zum Treten, schauen mit dem rechten Auge durch ein Mikroskop und küssen, indem sie Kopf und Nase nach rechts drehen (Güntürkün 2003)

Wird die Händigkeit vererbt?

C. Styrsky

Rückschlüsse aus prähistorischen Höhlenzeichnungen, den Werkzeugen und den Hand- und Armknochen deuten schon früh auf die Bevorzugung der rechten Hand (Corballis 1989; Steele 2000). Rechtshändigkeit überwiegt in allen Kulturen. Darüber hinaus scheint sich die Händigkeit zu entwickeln, bevor kulturelle Einflüsse wirksam werden können: Ultraschalluntersuchungen von fötalen Daumenlutschern zeigen, dass 9 von 10 Föten den rechten Daumen im Mund haben (Hepper et al. 1990, 2004). Die Bevorzugung der rechten Hand ist etwas Einzigartiges, was man vor allem bei den Menschen und den Primaten findet, die uns am ähnlichsten sind: den Schimpansen (Hopkins et al. 2005) und den Gorillas (von ihnen sind nur etwa 35% Linkshänder). Bei anderen Primaten ist das Verhältnis von Links- und Rechtshändern gleichmäßiger verteilt. Michel (1982) konnte die Beobachtung machen, dass zwei Drittel von 150 Babys, die er während ihrer ersten beiden Lebenstage beobachtete, es vorziehen, so zu liegen, dass ihr Kopf nach rechts geneigt ist. Als er die Babys im Alter von 5 Jahren nochmals untersuchte, benutzten fast alle der »Kopf-nach-rechts«-Babys bevorzugt ihre rechte Hand, um nach etwas zu greifen, während die »Kopf-nach-links«-Babys lieber ihre linke Hand benutzten. Diese Ergebnisse (zusammen mit der Tatsache, dass weltweit Rechtshändigkeit häufiger vorkommt) sind Hinweise darauf, dass die Händigkeit erblich ist oder durch pränatale Faktoren beeinflusst wird.

Also ist es in Ordnung, Linkshänder zu sein? Aus dem, was wir so bei Gesprächen im Alltag mitbekommen, könnte man schließen, dass es nicht in Ordnung ist, Linkshänder zu sein. Wer sich »link verhält« oder eine »linke Zecke« ist, ist nicht gerade beliebt. Viel eher sollte man doch »das rechte Verhalten« zeigen, oder? Linkshänder sind unter den Menschen mit Leseschwächen, mit Allergien und mit Migräne häufiger vertreten (Geschwind u. Behan 1984). Aber im Iran, wo Studierende bei der Hochschuleingangsprüfung angeben müssen, mit welcher Hand sie schreiben, zeigen die Linkshänder in allen Fächern bessere Leistungen als die Rechtshänder (Noroozian et al. 2003). Ebenso sind unter Musikern, Mathematikern, Profi-Basketballern und Kricketspielern, Architekten und Künstlern mehr Linkshänder zu finden als unter den übrigen. Auch Leonardo da Vinci und Picasso benutzten die linke Hand, um den Pinsel zu führen. Die Tatsache, dass es im Sport einen höheren Prozentsatz von Linkshändern gibt als sonst, lässt sich durch strategische Faktoren erklären. Beispielsweise ist es für eine Fußballmannschaft hilfreich, wenn sie auf dem linken Spielfeld einen Spieler hat, der bevorzugt seinen linken Fuß einsetzt (Wood u. Aggleton 1989). Beim Golf jedoch hat bis 2003 kein Linkshänder das American Masters gewonnen; erst der Kanadier Mike Weir schaffte es. Obwohl Linkshänder damit klarkommen müssen, bei Dinnerpartys häufiger mit dem Ellenbogen angestoßen zu werden, und Scheren und Schreibtische für Rechtshänder nicht ohne Schwierigkeiten benutzen können, scheinen sie doch in puncto Chancengleichheit nicht benachteiligt zu sein. Aber Forscher haben etwas entdeckt, was doch mehr Beachtung verdient: Linkshänder scheinen mit dem Alter zu verschwinden!

Ein Rätsel für die Wissenschaft: Der Fall der verschwindenden Linkshänder Während er sich mit dem Thema Linkshändigkeit beschäftigte, stieß der Psychologe Stanley Coren (1993) auf eine recht erstaunliche Tatsache: Mit dem Alter nimmt der Prozentsatz an Linkshän-

Ein Befund, der eine genetische Erklärung der Händigkeit in Frage stellt: Händigkeit ist eines der wenigen Merkmale, das eineiige Zwillinge nur mit geringer Wahrscheinlichkeit gemeinsam haben (Halpern u. Coren 1990)

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Kapitel 2 · Neurowissenschaft und Verhalten

. Abb. 2.39. Immer weniger Linkshänder Der Anteil der Linkshänder nimmt in Stichproben älterer Menschen deutlich ab. (Nach Coren 1993b)

2

»Um die Wahrheit zu finden, müssen wir uns der Mühe unterziehen, das Unwahre zu eliminieren. Wenn das Unmögliche eliminiert ist, muss das, was bleibt, die Wahrheit sein, auch wenn sie uns unwahrscheinlich dünkt.« Sherlock Holmes in Arthur Conan Doyles »The Sign of the Four« (1890)

dern stark ab. In seiner ersten Stichprobe mit 5147 Personen waren 15% der 10-Jährigen, 5% der 50-Jährigen und weniger als 1% der 80-Jährigen Linkshänder (. Abb. 2.39). Forscher überall auf der Welt bestätigten dieses Ergebnis. Voller Faszination angesichts solcher Befunde versuchten Coren u. Halpern (1991; Halpern u. Coren 1988, 1991, 1993) eine Antwort auf die Frage zu finden, warum dies so ist. (Wenn Sie damals an ihrer Stelle gewesen wären, welche Erklärungen wären Ihnen eingefallen?) Vielleicht dachten Coren und Halpern zunächst daran, Umerziehung, die viele ältere Linkshänder erlebt hatten, sei der Grund dafür, dass in der älteren Generation weniger Linkshänder zu finden sind. Viele ältere Menschen können sich daran erinnern, wie ihre linke Hand geschlagen, angebunden oder sogar mit Heftpflaster zu einer Faust verklebt wurde, wenn sie versuchten, sie zu benutzen. Da die Eltern und Lehrer heutzutage immer mehr dazu neigen, Linkshändigkeit zu akzeptieren, könnte dies erklären, warum mehr jüngere Menschen Linkshänder sind. Aber laut amerikanischen und europäischen Studien gab es im 20. Jahrhundert nur eine Steigerung der Linkshänderquote von 6 auf 10% der Bevölkerung (Porac et al. 1980); diese Steigerung ist aber zu klein, um den großen Unterschied in der Häufigkeit von alten und jungen Linkshändern zu erklären. Coren und seine Mitarbeiter fanden darüber hinaus noch weitere Belege dafür, dass die Häufigkeit von Linkshändigkeit stabil ist: Bei Kunstwerken aus der Zeit von 15.400 bis 3000 v. Chr. wurden 10% der abgebildeten Menschen als Linkshänder dargestellt. In der modernen Kunst sind es 11%. Könnte das Verschwinden der Linkshänder schlicht durch Lernen erklärt werden? Könnte die Welt, die für Rechtshänder entworfen ist, die Linkshänder dazu bringen, nach und nach den Gebrauch ihrer rechten Hand zu erlernen? Wiederum nein. Vorschüler, die noch ihre Händigkeit wechseln, tun dies, bevor sie in die Pubertät kommen. Die Händigkeit wechselt nur selten nach dem 8. oder 9. Lebensjahr, und selbst wenn es vorher geschieht, bezieht sich die Veränderung meist nur auf bestimmte Handlungen wie Schreiben oder Essen. Aber was bleibt dann noch? Coren und Halpern wagten, das Undenkbare auszusprechen: Linkshänder sterben früher. »Das kann nicht wahr sein«, erklärten skeptische Kollegen, als Coren diese Idee zum ersten Mal aussprach. »Wenn das wahr wäre, müsste das schon einmal irgendjemandem aufgefallen sein. Und außerdem, meine Großmutter väterlicherseits war Linkshänderin und wurde 91.« Solche Anekdoten, so sehr sie auch aus dem Leben gegriffen sein mögen (»ich kenne jemanden, der …«), können jedoch keine Ergebnisse ersetzen, die in Studien mit großen Stichproben gefunden werden. Ein einzelnes Beispiel kann eine Theorie nicht bestätigen oder widerlegen. Also entschlossen sich Coren und Halpern, ihre makabre Idee weiterzuverfolgen. Sie dachten zunächst über die bekannten Gesundheitsrisiken bei Linkshändern nach. So findet man bei Linkshändern häufiger eine schwierige Geburt (wie Frühgeburt oder Atmungsprobleme während der

97 2.4 · Gehirn

. Abb. 2.40. Vom gefährlichen Leben eines Linkshänders Im Buch »The Left-Hander Syndrome« zeigt Stanley Coren anschaulich die Risiken, die sich durch eine für Rechtshänder geschaffene Welt ergeben. Wenn Linkshänder eine Bohrmaschine benutzen, kann es sein, dass ihnen ihr linker Arm die Sicht nimmt

Geburt). Außerdem haben Linkshänder öfter Kopfschmerzen, mehr Unfälle (zum Teil durch Geräte, die für Rechtshänder entwickelt wurden; . Abb. 2.40), haben mehr Knie- und Gelenkprobleme, rauchen mehr, trinken mehr Alkohol und leiden öfter unter Problemen des Immunsystems (darunter Allergien wie Asthma, Ekzeme und Heuschnupfen). Diese Unterschiede zwischen Links- und Rechtshändern sind nicht so bedeutsam (die individuellen Unterschiede sind viel größer). Aber könnte auf sie, genauso wie bei den Geschlechtsunterschieden in Bezug auf Gesundheitsrisiken, die unterschiedlich lange Lebensspanne zurückgehen? Coren und Halpern untersuchten eine Zufallsstichprobe von kürzlich verstorbenen Menschen und fanden heraus, dass Rechtshänder tatsächlich durchschnittlich 8 oder 9 Jahre länger leben. Dieser Unterschied nahm etwas ab, als Coren, Halpern und ihre Kollegen Kinder ausschlossen. Als sie Linkshänder und Rechtshänder verglichen, die früher einmal Baseball- oder Kricketspieler waren, fanden sie in Bezug auf die Lebensspanne einen kleineren Unterschied (3 Jahre, schätzte Coren); aber er war noch immer vorhanden (Aggleton et al. 1993; Rogerson 1994). Dieses bestürzende Ergebnis schlug ein wie ein Blitz und erregte viel Interesse in der Öffentlichkeit. Meist wurde das Thema verzerrt dargestellt, was wiederum zu unfairen Reaktionen führte: »Lieber Herr Professor … wir möchten Ihnen raten, sich in Zukunft vor finsteren und missgünstigen Linkshändern in Acht zu nehmen – und vor Kettensägen« und »Ihr Rechtshänder denkt, dass ihr länger lebt als wir Linkshänder – aber das wird nicht der Fall sein, wenn wir euch vorher umbringen!« (Halpern et al. 1996). Die Ergebnisse führten auch zu Folgestudien, bei denen keine Unterschiede in Bezug auf die Lebenserwartung von Rechts- und Linkshändern nachgewiesen werden konnten (Harris 1993). Eine Forschergruppe des National Institute of Aging in den Vereinigten Staaten verfolgte das Leben von 3800 Erwachsenen aus Boston über 6 Jahre hinweg und fand, dass die Linkshänder zu keinem Zeitpunkt mit größerer Wahrscheinlichkeit starben (Salive et al. 1993). Coren (1993) jedoch widersprach diesen Ergebnissen, da der Zeitraum von 6 Jahren zu kurz sei, um in einer so kleinen Stichprobe einen signifikanten Unterschied festzustellen. Dieser ungelöste Fall der verschwindenden Linkshänder zeigt anschaulich, was Wissenschaft im Kern ist – wie Forscher es wagen, alle Fragen zu stellen, die erforscht werden können, auch wenn sich aus den Antworten vielleicht unerfreuliche Schlussfolgerungen ergeben. Es ist wie vor Gericht: Die Forscher dürfen gerne neue Ideen aussprechen, aber sie müssen sich den Kreuzverhören der Gegenseite und heißen Debatten stellen. Im Laufe der Zeit hat die Wissenschaft damit einen Weg gefunden, Fehler aufzudecken und der Wahrheit einen Schritt näher zu kommen (und damit oft auch einer besseren Welt). Wenn eine Erklärung für das Verschwinden der Linkshänder gefunden wird, kann man daraus vielleicht Schlussfolgerungen ziehen, die es uns erlauben, die Welt für Linkshänder angenehmer zu gestalten. In diesem Kapitel konnten wir einen Eindruck von der Wahrheit gewinnen, die in folgendem grundlegenden Prinzip dieses Kapitels liegt: Alles, was psychisch ist, ist gleichzeitig auch biologisch. Wir haben uns damit beschäftigt, wie unsere Gedanken, Gefühle und Handlungen aus der Aktivität unseres spezialisierten, aber auch ganzheitlichen Gehirns entstehen. In den folgenden Kapiteln werden wir darauf eingehen, welche Bedeutung die biologische Revolution in der Psychologie hatte. Wir werden z. B. sehen, wie

Linkshänder, die lange lebten: Benjamin Franklin (84) Charlie Chaplin (88) Albert Schweitzer (90) Pablo Picasso (92) Queen Mum (101) Linkshänder, die nicht so lange lebten: Aristoteles (38) Marilyn Monroe (36) Wolfgang Amadeus Mozart (35) Alexander der Große (33) Kurt Cobain (27)

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98

Kapitel 2 · Neurowissenschaft und Verhalten

4 die Gene und die Erfahrungen gemeinsam unsere Persönlichkeit, unsere Gefühle und unsere Intelligenz beeinflussen; 4 die Entwicklung des Gehirns die Grundlage für die geistige Entwicklung ist; 4 unsere Sinnesorgane es uns ermöglichen, zu sehen und zu hören; 4 das Gehirn unsere Erinnerungen speichert; 4 Gehirn und Körper zusammenwirken, um unsere Empfindung von Hunger und Sexualität, von Angst und Wut sowie von Schlaf und Träumen hervorzurufen; 4 unser Geist und unser Körper gemeinsam unsere Anfälligkeit gegenüber Krankheiten und unsere Fähigkeit zur Selbstheilung steuern; 4 unsere eigene evolutionäre Entwicklung uns dazu bringt, andere zu verletzen, ihnen zu helfen oder sie zu lieben.

2

Geist und Gehirn als holistisches System Nach Roger Sperrys Ansicht erschafft das Gehirn den Geist und ist auch sein Steuerorgan, doch beeinflusst der Geist wiederum das Gehirn. (Stellen Sie sich lebhaft vor, in eine Zitrone zu beißen – vermehrte Speichelabsonderung?)

Es war ein langer Weg von der Phrenologie des 19. Jahrhundert bis zur heutigen Neurowissenschaft. Trotzdem stellt das, was wir nicht wissen, noch immer unser Wissen in den Schatten. Wir können das Gehirn beschreiben. Und wir können versuchen, zu verstehen, wie die einzelnen Teile miteinander kommunizieren. Aber wie kann unser Geist aus diesem Zellhaufen entstehen? Wie kann ein elektrochemisches Aufleuchten in einem Knäuel von der Größe eines Kopfsalats zu einer kreativen Idee, zur freudigen Erregung vor dem Geburtstag und zur Erinnerung an unsere Großmutter führen? Ähnlich wie aus Gas und Luft etwas Neues entstehen kann, nämlich Feuer, so könnte auch das komplexe menschliche Gehirn etwas Neues erschaffen: das Bewusstsein. Davon war zumindest Sperry überzeugt. Der Geist, argumentierte er, entsteht aus dem Tanz der Ionen im Gehirn, kann jedoch nicht auf ihn reduziert werden. Zellen können nicht allein durch die Bewegung von Atomen erklärt werden, ebenso wenig kann der Geist durch die Aktivität von Zellen erklärt werden. Die Psychologie hat ihre Wurzeln in der Biologie, die wiederum auf der Chemie beruht, die ihrerseits auf der Physik basiert. Trotzdem ist die Psychologie mehr als angewandte Physik. Die Bedeutung der Rede Richard von Weizsäckers am 8. Mai 1985 zum 40. Jahrestag der Beendigung des Zweiten Weltkrieges lässt sich nicht auf neuronale Aktivität reduzieren. Sexuelle Liebe ist mehr als verstärkte Blutzufuhr in den Genitalien. Moral und Verantwortungsbewusstsein lassen sich erst erklären, wenn wir unseren Geist als »holistisches System« verstehen, wie Sperry (1992) feststellte. Wir sind mehr als plappernde Roboter. Der Geist versucht, das Gehirn zu verstehen; dies ist in der Tat eine der größten Herausforderungen der Wissenschaft. Und das wird immer so sein. Um es mit den Worten des Kosmologen John Barrow zu sagen: Ein Gehirn, das so einfach ist, dass man es verstehen kann, ist zu einfach, um einen Verstand hervorzubringen, der es versteht.

Lernziele Abschnitt 2.4 Das Gehirn Ziel 11: Beschreiben Sie einige Verfahren zur Untersuchung des Gehirns. Bei klinischen Beobachtungen waren Forscher schon seit langem auf die Folgen von Schädigungen verschiedener Bereiche des Gehirns gestoßen. Aber mit Hilfe von Bildern, die mit dem MRT erstellt werden, kann man heute die genauen Hirnstrukturen erkennen und die Gehirnaktivität mit EEG, PET und fMRT (funktionellem MRT) beobachten. Indem Neurowissenschaftler bestimmte Teile des Gehirns chirurgisch läsionieren und mit Hilfe von Elektroden stimulieren, die elektrische Aktivität auf der Oberfläche des Gehirns messen und die neuronale Aktivität mit Hilfe von Computern darstellen, versuchen sie, die Zusammenhänge zwischen Gehirn, Denken und Verhalten des Menschen zu erforschen.

Ziel 12: Beschreiben Sie die Bestandteile des Hirnstamms, und skizzieren Sie die Funktionen von Hirnstamm, Thalamus und Kleinhirn. Der Hirnstamm ist der älteste Teil des Gehirns und ist für automatische Überlebensfunktionen zuständig. Er besteht aus der Medulla, die Herzschlag und Atmung steuert, der Brücke, die zur Koordinierung der Bewegungen beiträgt, sowie der Formatio reticularis, die die Erregung des Nervensystems und damit das Bewusstsein beeinflusst. Über dem Hirnstamm liegt der Thalamus, die zentrale Schaltstelle des Gehirns. Das Kleinhirn, hinten am Hirnstamm lokalisiert, koordiniert die Muskelbewegungen und trägt dazu bei, die sensorischen Informationen zu verarbeiten. 6

99 2.4 · Gehirn

Ziel 13: Beschreiben Sie die Strukturen und Funktionen des limbischen Systems, und erklären Sie, wie eine dieser Strukturen die Hypophyse steuert. Zwischen dem Hirnstamm und dem zerebralen Kortex liegt das limbische System, das mit dem Gedächtnis, den Gefühlen und Trieben des Menschen in Zusammenhang gebracht wird. Ein Teil des limbischen Systems ist die Amygdala (Mandelkern), die an aggressiven oder ängstlichen Impulsen beteiligt ist. Ein anderer Teil ist der Hypothalamus, der verschiedene lebenserhaltende Funktionen des Körpers steuert, z. B. das Belohnungs- und das Hormonsystem. Der Hippocampus, der auch Teil des limbischen Systems ist, verarbeitet Gedächtnisinhalte.

Ziel 17: Beschreiben Sie die fünf Gehirnareale, die daran beteiligt sind, dass Sie diesen Satz vorlesen. Die Sprache ist das Ergebnis der Integration vieler spezifischer neuronaler Netze, die spezialisierte Unteraufgaben erfüllen. Wenn Sie etwas vorlesen, nimmt der visuelle Kortex des Gehirns Wörter als visuelle Reize auf, der Gyrus angularis transformiert diese visuellen Repräsentationen in auditorische Codes, das Wernicke-Zentrum interpretiert diese Codes und schickt die Botschaft an das Broca-Zentrum, das den motorischen Kortex dabei steuert, wie er die gesprochenen Wörter hervorbringt.

Ziel 14: Definieren Sie, was der zerebrale Kortex ist, und erklären Sie, warum er für das Gehirn des Menschen so wichtig ist. Der zerebrale Kortex ist die dünne Oberflächenschicht miteinander verbundener Neuronen, von der die Hemisphären des Gehirns bedeckt sind. Der Kortex des menschlichen Gehirns ist größer als der anderer Lebewesen; er ermöglicht Lernen, Denken und andere komplexe Formen der Informationsverarbeitung, zu denen nur wir Menschen fähig sind.

Ziel 18: Erörtern Sie die Plastizität des Gehirns nach einer Verletzung oder einer Krankheit. Wenn eine Gehirnhälfte früh im Leben eines Menschen Schaden nimmt, kann die andere Hälfte die meisten ihrer Funktionen mit übernehmen. Diese Plastizität nimmt jedoch mit dem Alter ab, obwohl bei einem Schlaganfall oder einer anderen Hirnverletzung die umliegenden Neuronen eventuell einen Teil der Funktionen der geschädigten Zellen übernehmen.

Ziel 15: Nennen Sie die vier Hirnlappen des zerebralen Kortex. Jede Hemisphäre des zerebralen Kortex wurde zur besseren Orientierung in vier Teile aufgeteilt: Der Frontallappen (direkt hinter der Stirn) ist am Sprechen, an den Muskelbewegungen, dem Planen und dem Urteilen beteiligt. Die Parietallappen (im oberen und hinteren Teil des Kopfes) erhalten sensorische Signale zu Berührungen und zur Körperposition. Zu den Okzipitallappen (am Hinterkopf ) gehört die Sehrinde. Die Temporallappen (direkt über den Ohren) enthalten die Hörrinde. Jeder Gehirnlappen erfüllt viele Funktionen und tritt mit anderen Arealen des Kortex in Interaktion.

Ziel 19: Beschreiben Sie die Forschung zur Trennung der Hemisphären, und erklären Sie, wie sie zu einem besseren Verständnis der Funktionen unserer rechten und linken Hirnhälfte beiträgt. Klinische Beobachtungen zeigten schon vor langer Zeit, dass die linke Hemisphäre für die Sprache unverzichtbar ist. In der Forschung zum Thema Split Brain (Experimente mit Patienten, deren Corpus callosum durchtrennt wurde) zeigte sich, dass bei den meisten Menschen die linke Hemisphäre eher verbale Fähigkeiten hat, während die rechte bei der visuellen Wahrnehmung und dem Erkennen von Emotionen brilliert. Untersuchungen an Menschen mit intaktem Gehirn bestätigen, dass jede Gehirnhälfte auf ihre Art dazu beiträgt, dass das Gehirn in integrierter Weise seine Funktion erfüllen kann.

Ziel 16: Fassen Sie kurz einige der Befunde zu den Funktionen des motorischen und des sensorischen Kortex zusammen, und erörtern Sie die Bedeutung der Assoziationsfelder. Einige Areale des Gehirns haben spezielle Funktionen (. Abb. 2.23). Ein solches Areal ist der motorische Kortex, eine Region, die wie ein Bogen geformt ist. Er befindet sich im hinteren Teil der Frontallappen und steuert die willkürlichen Bewegungen. Ein anderes Areal ist der sensorische Kortex, eine Region im vorderen Teil der Parietallappen, die die Körperempfindungen aufnimmt und verarbeitet. In diesen Regionen belegen Körperteile, die besonders präzise gesteuert werden müssen (im motorischen Kortex), und jene, die besonders sensibel sind (im sensorischen Kortex), am meisten Raum. Den größten Bereich des Kortex – den größten Teil jedes Einzelnen der vier Hirnlappen – nehmen die nicht spezialisierten Assoziationsfelder ein; sie führen die Informationen zusammen, die im Zusammenhang mit dem Lernen, dem Erinnern, dem Denken und anderen höheren Funktionen anfallen.

Ziel 20: Erörtern Sie die Zusammenhänge zwischen der Organisation des Gehirns, der Händigkeit und der Mortalität. Etwa 10% der Menschen sind Linkshänder. Nahezu alle Rechtshänder verarbeiten die Sprache in der linken Hirnhälfte, wie dies bei etwas mehr als der Hälfte der Linkshänder der Fall ist. Die übrigen Linkshänder teilen sich nahezu zu gleichen Teilen in solche auf, die Sprache in der rechten Hirnhälfte verarbeiten, und in solche, die dies in beiden Hirnhälften tun. Der Prozentsatz der Linkshänder nimmt mit dem Alter stark ab, von etwa 15% im Alter vom 10 Jahren auf weniger als 1% im Alter von 80 Jahren. Diese Abnahme könnte Folge einer höheren Gefährdung durch Unfälle sein. > Denken Sie weiter: Wie würden Sie sich fühlen, wenn Sie zwei getrennte Gehirnhälften hätten, die beide Ihre Gedanken und Handlungen steuern, von denen aber nur eine die Vorherrschaft über Ihr Bewusstsein und Ihre Sprache hätte? Was würde das für Ihr Selbstbild als unteilbare Person bedeuten?

2

100

Kapitel 2 · Neurowissenschaft und Verhalten

Antworten

2

2.1

Die Katze wird über ihren Sympathikus erregt.

2.2

Ja. Nein. Grün.

Prüfen Sie Ihr Wissen 1. Wie kommunizieren Neuronen miteinander? 2. Wie fließen die Informationen durch ihr Nervensystem, wenn Sie eine Gabel in die Hand nehmen? Fassen Sie diesen Vorgang kurz zusammen. 3. Warum wird die Hypophyse als »Königsdrüse« bezeichnet? 4. In welcher Region des Gehirns wäre es am wahrscheinlichsten, dass eine Hirnschädigung die Fähigkeit zum Seilhüpfen beeinträchtigt? Ihre Fähigkeit, Berührungen oder Klänge zu empfinden? In welcher Region des Gehirns würden Sie bei einer Schädigung möglicherweise ins Koma fallen? Ganz ohne Atmung und den Herzschlag des Lebens? 5. Wenn Sie geradeaus nach vorne gucken, wie werden die visuellen Informationen an Ihre beiden Hirnhälften weitergeleitet?

LDeutsche Literatur zum Thema Birbaumer, N., Schmidt, R.F. (2006). Biologische Psychologie, 6. Aufl. Heidelberg: Springer. Dudel, J., Menzel, R., Schmidt, R.F. (2001). Neurowissenschaften. Vom Molekül zur Kognition, 2. Aufl. Heidelberg: Springer. Elbert, T., Birbaumer, N. (Hrsg). (2002). Biologische Grundlagen der Psychologie. Bern: Huber. Jäncke, L. (2005). Methoden der Bildgebung in der Psychologie und den kognitiven Neurowissenschaften. Stuttgart: Kohlhammer. Kandel, E.R., Schwartz, J.H., Jessel, T.M. (1995). Neurowissenschaften. Eine Einführung. Heidelberg: Spektrum. Lautenbacher, S., Güntürkün, O., Hausmann, M. (2007). Gehirn und Geschlecht. Heidelberg: Springer. Markowitsch, H.J. (Hrsg). (1996). Grundlagen der Neuropsychologie. Enzyklopädie der Psychologie: Biologische Psychologie, Bd. 1. Göttingen: Hogrefe. Springer, S.P., Deutsch, G. (1998). Linkes/rechtes Gehirn. Heidelberg: Spektrum. Thompson, R.F. (2001). Das Gehirn. Von der Nervenzelle zur Verhaltenssteuerung, 3. Aufl. Heidelberg: Spektrum.

3 Anlage, Umwelt und die Vielfalt der Menschen 3.1

Verhaltensgenetik: Die Vorhersage individueller Unterschiede

– 103

3.1.1 3.1.2 3.1.3 3.1.4 3.1.5 3.1.6 3.1.7

Gene: Unsere Codes für das Leben – 103 Zwillingsstudien – 104 Adoptionsstudien – 107 Studien zum Temperament – 109 Erblichkeit – 110 Anlage-Umwelt-Interaktion – 112 Molekulargenetik: Eine neue Herausforderung

3.2

Evolutionspsychologie: Wie man die Natur des Menschen versteht

– 112

– 115

3.2.1 Natürliche Selektion – 115 3.2.2 Evolutionstheoretische Erklärung der menschlichen Sexualität – 118 3.2.3 Kritik am evolutionstheoretischen Ansatz – 120

3.3

Eltern und Gleichaltrige

– 122

3.3.1 Eltern und frühe Erfahrungen – 123 3.3.2 Einfluss der Gleichaltrigen – 126

3.4

Kulturelle Einflüsse

– 128

3.4.1 3.4.2 3.4.3 3.4.4

Kulturübergreifende Unterschiede – 129 Zeitübergreifende Veränderungen – 130 Kultur und Selbst – 131 Kultur und Kindererziehung – 133

3.5

Entwicklung des sozialen Geschlechts

– 136

3.5.1 Geschlechtsbezogene Ähnlichkeiten und Unterschiede 3.5.2 Biologische Grundlagen des Geschlechts – 139 3.5.3 Soziale Einflüsse auf das Geschlecht – 141

3.6

Überlegungen zu Anlage und Umwelt

– 136

– 145

Andere Kulturen, andere Perspektiven Als ich als junges Mädchen um die Aufmerksamkeit meines Vater buhlte, erfand ich ein Spiel, das ihn dazu brachte, aufzuschauen von seiner Lektüre und seinen Kopf zu schütteln, als wäre er verblüfft, aber auch amüsiert. Im Schrank meines Bruders zog ich seinen Arbeitsanzug an – der rauhe Stoff presste mich in die Gestalt eines Jungen; ich versteckte mein langes Haar unter einem Stahlhelm, den ihm mein Vater gegeben hatte, und kam wieder hervor, gewandelt in den legendären Che der Erwachsenengespräche. Im Zimmer umherstolzierend erzählte ich von meinem Leben in den Bergen, vom Gemetzel und Strömen aus Blut, und von

Aus Judith Ortiz Cofer (geb. 1952), »The Changeling«, 1992

Männerfesten mit Rum und Musik, um die Siege para la libertad zu feiern. Mit einem Lächeln hörte er meinen Geschichten von Schlachten und Brüderlichkeit zu, bis Mutter uns zum Essen rief. Sie war nicht amüsiert von meinen Verwandlungen und streng verbat sie mir, mich als Mann zu ihnen zu setzen. Sie schickte mich zurück in die dunkle Kabine, die nach Abenteuer roch, um mein Kostüm abzulegen, mein Haar stürmisch mit blinden Händen zu flechten und wieder unsichtbar zu werden, als ich selbst, für die reale Welt ihrer Küche.

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Kapitel 3 · Anlage, Umwelt und die Vielfalt der Menschen

Anlage, Umwelt und die Vielfalt der Menschen > Was macht den Menschen zum Menschen? In wichtigen Aspekten sind wir jeder für uns einzigartig. Wir sehen unterschiedlich aus. Wir hören uns anders an. Was die Persönlichkeit, die Interessen, den kulturellen und familiären Hintergrund angeht, unterscheiden wir uns erheblich. Wir sind aber auch wie Blätter am selben Baum. Die Familie Mensch hat nicht nur ein gemeinsames biologisches Erbe – wir alle bluten, wenn wir uns schneiden –, sondern auch gemeinsame Verhaltenstendenzen: Der uns allen gemeinsame Aufbau des Gehirns legt von vornherein fest, wie wir mit Hilfe der gleichen Mechanismen die Welt über unsere Sinnesorgane wahrnehmen, unsere Sprache entwickeln und Hunger empfinden. Ganz gleich, ob wir nun in der Arktis oder den Tropen leben, wir bevorzugen süße Geschmacksrichtungen gegenüber sauren. Wir teilen das Farbspektrum in die gleichen Farben ein. Und wir fühlen uns zu Verhaltensweisen hingezogen, die Nachkommenschaft hervorbringen und schützen.

3

M. Barton

Ziel 1: Geben Sie Beispiele an für Unterschiede und Ähnlichkeiten innerhalb der großen Familie Mensch.

Die Umwelt der Anlage Überall auf der Welt fragen sich die Menschen: Wird mein Baby später ein friedlicher oder ein aggressiver Mensch? Wird er erfolgreich sein, oder wird er um jeden einzelnen Schritt kämpfen müssen? Was ist angeboren, und was beruht auf Erziehung? Und wie funktioniert das? Die Forschung zeigt, dass Anlage und Umwelt gemeinsam unsere Entwicklung prägen: für jeden Schritt auf diesem Weg

Unsere Verwandtschaft zeigt sich auch in unserem Sozialverhalten. Ganz gleich, ob unser Familienname Wong, Nkomo, Meier, Smith oder Gonzales lautet, wir beginnen mit ungefähr 8 Monaten zu fremdeln, während wir als Erwachsene die Gesellschaft von Menschen suchen, deren Einstellungen und Merkmale den unseren ähnlich sind. Auch wenn wir aus unterschiedlichen Teilen der Erde stammen, so wissen wir doch das Lächeln und das Stirnrunzeln der anderen einzuschätzen. Als Angehörige einer Spezies schließen wir uns mit anderen Menschen zusammen, passen uns an, tauschen Gefälligkeiten aus, bestrafen Vergehen, organisieren Statushierarchien und betrauern den Tod eines Kindes. Ein außerirdischer Besucher könnte irgendwo auf der Erde landen und würde immer Menschen finden, die tanzen und Feste feiern, singen und beten, Sport treiben und spielen, lachen und weinen, in Familien leben und Gruppen bilden. Zusammenfassend lässt sich sagen: Universelle Verhaltensweisen verweisen auf unsere gemeinsame Eigenart als Mensch. Was ist die Ursache für die erstaunliche Unterschiedlichkeit der Menschen und die allen eigene menschliche Natur? Das folgende Kapitel beschäftigt sich mit dieser komplexen Frage: Wir beginnen mit der Verhaltensgenetik, in der untersucht wird, welche Auswirkungen unsere Gene (Anlage) und unsere Umwelt (äußere Einflüsse) auf die individuellen Unterschiede beim Verhalten und bei den geistigen Prozessen haben. Gemeinsam formen unsere Gene und die Umwelt unser einzigartiges Körper-Geist-System und legen das fest, was uns zu unterschiedlichen Menschen macht. Gene sind durchaus bedeutsam. Aber auch die Kultur ist wichtig und alles, was wir auf unserem Weg vom Mutterleib bis ins Grab erleben. Wir werden uns damit beschäftigen, wie uns Anlage und Umwelt formen, und konzentrieren uns dabei auf folgende Punkte: 4 Die Evolutionspsychologie. Sie untersucht die Verhaltensweisen, Emotionen und Denkfähigkeiten, die es unseren entfernten Vorfahren ermöglichten, zu überleben, sich fortzupflanzen und ihre Gene an künftige Generationen weiterzugeben. Wir Menschen neigen dazu, Angst vor Schlangen und Spinnen zu haben, hoch gelegene Stellen und bitter schmeckendes Essen zu meiden, weil solche Ängste und Verhaltensweisen unseren Vorfahren dabei geholfen haben zu überleben. 4 Eltern, Gleichaltrige und Kultur. Sie haben einen Einfluss auf Überzeugungen und Wertvorstellungen, unsere Interessen und Geschmacksvorlieben sowie unsere Sprache und unser Äußeres. Noch bevor wir Franzosen und ihre Sprache hören, können wir sie an ihrer Gestik und Mimik erkennen.

103 3.1 · Verhaltensgenetik: Die Vorhersage individueller Unterschiede

4 Geschlechtszugehörigkeit und alle damit zusammenhängenden Erwartungen. Beides hat einen Einfluss darauf, wie andere uns wahrnehmen und wie wir uns selbst sehen. Trotz aller Unterschiede, von denen man liest, sind wir, wie wir noch ausführen werden, einander eher ähnlich als voneinander verschieden.

3.1

Verhaltensgenetik: Die Vorhersage individueller Unterschiede

Ziel 2. Beschreiben Sie die Art von Fragen, für die sich die Verhaltensgenetiker interessieren.

Wie sehr werden unsere Verhaltensunterschiede von unseren genetischen Unterschieden beeinflusst? Und wie sehr durch unsere Umwelt, die auf unsere genetischen Merkmale reagiert? Es geht also um jeden äußeren Einfluss, angefangen mit der Ernährung im Mutterleib bis hin zur sozialen Unterstützung kurz vor dem Tod. Genauer: Wie stark werden wir durch äußere Einflüsse geformt? Durch unsere Kultur? Durch unsere momentanen Lebensumstände? Wenn sich Jaden Agassi, Sohn der früher sehr erfolgreichen Tennisspieler Andre Agassi und Steffi Graf, später zu einem Tennisstar entwickelt, sollten wir dann seine Begabung seinen Grand-Slam-Genen zuschreiben? Der Tatsache, dass er in einer Umwelt aufgewachsen ist, in der es immer um Tennis ging? Den hohen Erwartungen? Oder alles zu gleichen Teilen? Die Verhaltensgenetik untersucht die Unterschiede zwischen uns und versucht, herauszufinden, welches Gewicht Anlage und Umwelt bei den relativen Auswirkungen zukommen.

Umwelt (environment): jeder nichtgenetische Einfluss, von der pränatalen Ernährung bis zu den Menschen und Dingen in unserer Umgebung.

Verhaltensgenetik (behavior genetics): die Untersuchung der relativen Gewichte von genetischen und Umwelteinflüssen auf das Verhalten.

3.1.1 Gene: Unsere Codes für das Leben Ziel 3: Definieren Sie, was ein Chromosom ist, was ein Gen und was ein Genom. Beschreiben Sie die Beziehungen dieser Begriffe zueinander.

Hinter der Geschichte unseres Körpers und unseres Gehirns steckt die Vererbung, die mit unseren Erfahrungen interagiert und so sowohl unsere universelle Eigenart als Menschen hervorbringt als auch unsere individuelle und soziale Vielfalt. Vor kaum mehr als einem Jahrhundert hätte keiner geglaubt, dass jeder Zellkern in unserem Körper den gesamten genetischen Code für den ganzen Körper enthält. Das ist so, als befände sich in jedem Raum des Empire State Buildings ein Buch, in dem die Baupläne für das ganze Gebäude aufbewahrt werden. Diese Pläne umfassen – um bei dem Vergleich zu bleiben – 46 Kapitel, 23 stammen von der Mutter (von ihrer Eizelle) und 23 vom Vater (von seiner Samenzelle). Diese Kapitel, die sog. Chromosomen, sind jeweils aus einer spiralförmig zusammengerollten Kette des Moleküls DNA (Desoxyribonukleinsäure) zusammengesetzt. Die Gene, die kleinen Segmente dieser gigantischen DNA-Moleküle, bilden sozusagen die Wörter in diesen Chromosomenbüchern (. Abb. 3.1). Man kann davon ausgehen, dass jeder von uns ungefähr 30.000 Gene besitzt. Dabei ist jedes Gen eine Einheit, die sich selbst kopieren kann und zudem in der Lage ist, Proteine zu synthetisieren. Wenn sie »angeschaltet« werden, stellen sie einfach den Code bereit, um die Proteinmoleküle, die Bausteine für unsere körperliche Entwicklung, aufzubauen. Genetisch gesprochen ist jedes menschliche Wesen nahezu unser eineiiger Zwilling. Sogar die Person, die man am wenigsten mag, ist nicht weit davon entfernt, unser Klon zu sein; und mit ihr haben wir ungefähr 99,9% unserer DNA gemeinsam (Plomin u. Crabbe 2000). Zusammen mit der Wechselwirkung zwischen Anlage und Umwelt entscheidet dieser Unterschied von 0,1% jedoch darüber, ob wir es mit Nelson Mandela oder Adolf Hitler zu tun haben werden. Genomforscher haben die gemeinsame Sequenz innerhalb der menschlichen DNA entdeckt. Genau dieses gemeinsame genetische Profil macht uns zu Menschen und nicht zu Schimpansen oder Tulpen. Wir unterscheiden uns eigentlich gar nicht so sehr von einem Schimpansen, mit dem wir je nachdem, wie wir es quantifizieren, mindestens 96% unserer DNA-Sequenzen gemeinsam haben (Mikkelsen et al. 2005). An »funktional wichtigen« Stellen der DNA, so berichtet ein Team von Molekulargenetikern, beträgt die DNA-Ähnlichkeit zwischen Menschen und Schimpansen 99,4% (Wodman et al. 2003). Dieser winzige Unterschied ist allerdings von Bedeutung. Trotz

Chromosomen (chromosomes): im Zellkern liegende fadenähnliche Strukturen aus DNA-Molekülen, die Gene enthalten. DNA/DNS (desoxyribonucleic acid; Desoxyribonukleinsäure): komplexes Molekül, das die genetische Information enthält und letztlich die Chromosomen bildet. Gene (genes): biochemische Bausteine für die Vererbung, aus denen die Chromosomen bestehen. Gene sind Segmente der DNA, die an der Proteinsynthese beteiligt sind.

Genom (genome): enthält die vollständigen Informationen, um einen Organismus herzustellen; besteht aus dem gesamten genetischen Material in den Chromosomen des Organismus.

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Kapitel 3 · Anlage, Umwelt und die Vielfalt der Menschen

. Abb. 3.1. Die Gene: Ihre Lokalisation und Zusammensetzung Die Chromosomen befinden sich im Zellkern jeder Einzelnen der Billionen von Körperzellen. Jedes Chromosom enthält eine spiralförmige Kette aus DNA-Molekülen. Gene wiederum sind DNA-Segmente, die Schablonen für die Produktion von Proteinen bilden. Die Gene bestimmen unsere individuelle biologische Entwicklung, indem sie die Herstellung von Proteinen steuern

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»Die Banane und wir haben 50% unserer Gene gemeinsam.« Robert May, Evolutionsbiologe und Präsident der britischen Royal Society (2001)

einiger bemerkenswerter Fähigkeiten geben Schimpansen nur Laute von sich. Shakespeare dagegen hat zur Erschaffung seiner Meisterwerke etwa 24.000 Wörter auf eine komplexe Weise kombiniert. Und selbst kleine Unterschiede zwischen Schimpansen sind durchaus von Bedeutung. Zwei Arten, die sich in Bezug auf ihr Genom weniger als 1% unterscheiden, weisen offensichtliche Unterschiede in ihrem Verhalten auf. Gewöhnliche Schimpansen sind aggressiv und von den Männchen dominiert. Bonobos sind friedvoll und werden von den Weibchen angeführt. Genetiker und Psychologen sind an den zufälligen Veränderungen interessiert, die man an bestimmten Genorten in der DNA findet und die in ihren vielfältigen Kombinationen die Einzigartigkeit eines Menschen bestimmen. Geringe interpersonelle Abweichungen vom gemeinsamen Muster geben Hinweise darauf, warum der eine unter einer Krankheit leidet und der andere nicht, warum eine Person klein ist und die andere groß, warum jemand glücklich ist und ein anderer depressiv. Die Persönlichkeitsmerkmale des Menschen werden meist von Genkomplexen beeinflusst, einer Vielzahl gemeinsam agierender Gene. Wie groß ein Mensch ist, kommt letztendlich auch in der Länge seines Gesichts, der Ausdehnung der Wirbelsäule, der Länge der Beinknochen etc. zum Ausdruck – wobei jeder Größenindikator durch verschiedene Gene in ihrer Wechselwirkung mit der Umwelt beeinflusst werden kann. Ähnlich werden komplexe menschliche Eigenschaften wie Intelligenz, Fröhlichkeit und Aggressivität durch Gruppen von Genen beeinflusst. ! Unsere genetischen Prädispositionen tragen dazu bei, sowohl unsere gemeinsamen Merkmale als Menschen als auch die Vielfalt der Menschen zu erklären.

3.1.2 Zwillingsstudien Ziel 4: Erklären Sie, wie sich eineiige und zweieiige Zwillinge unterscheiden, und beschreiben Sie die Methoden, die die Verhaltensgenetiker verwenden, um die Auswirkungen von Anlage und Umwelt zu verstehen.

Um das Knäuel aus Vererbung und Umwelt zu entwirren, benutzen Verhaltensgenetiker oft zwei Arten von Pinzetten: Zwillingsstudien und Adoptionsstudien. Eineiige Zwillinge (identical twins): Zwillinge, die sich aus einer einzigen befruchteten Eizelle entwickeln, die sich dann in zwei Eizellen teilt und somit zwei genetisch identische Organismen bildet.

Eineiige und zweieiige Zwillinge im Vergleich Um Umwelt- und Vererbungseinflüsse wissenschaftlich voneinander trennen zu können, müssten wir die häusliche Umgebung kontrollieren können, während wir die Vererbungsfaktoren variieren. Glücklicherweise hat uns die Natur zwei Arten fertiger Untersuchungsobjekte zur Verfügung gestellt: eineiige und zweieiige Zwillinge. Eineiige Zwillinge sind genetisch identisch

105 3.1 · Verhaltensgenetik: Die Vorhersage individueller Unterschiede

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und entwickeln sich aus einer einzigen befruchteten Eizelle, die sich in zwei Eizellen aufteilt (. Abb. 3.2). Es handelt sich um natürliche Klone, die nicht nur dieselben Gene, sondern auch die Empfängnis, die Gebärmutter, das Geburtsdatum und für gewöhnlich den gleichen kulturellen Hintergrund gemeinsam haben. Zweieiige Zwillinge, die sich aus separaten befruchteten Eizellen entwickeln, sind sich genetisch nicht ähnlicher als gewöhnliche Geschwister. So hat ein Mensch, dessen eineiiger Zwilling an der Alzheimer-Krankheit leidet, ein 60%iges Risiko, auch daran zu erkranken; wenn der Betroffene ein zweieiiger Zwilling ist, beträgt das Risiko nur noch 30% (Plomin et al. 1997). Ein derartiger Unterschied weist auf einen genetischen Einfluss hin. Aber die Verhaltensgenetiker arbeiten auch daran, die Einflüsse der individuellen Erfahrungen der Geschwister und der gemeinsamen Umwelt (wie etwa das Aufwachsen in derselben Familie, Nachbarschaft und Schule) genau voneinander zu trennen (. Abb. 3.3).

Adrian Dennis/AFP/Getty Images

. Abb. 3.2. Dieselbe befruchtete Eizelle, die gleichen Gene; unterschiedliche Eizellen, unterschiedliche Gene Eineiige Zwillinge entwickeln sich aus einer einzelnen befruchteten Eizelle, zweieiige Zwillinge aus zwei Eizellen

Eineiig und gleich? Bei Morgan und Paul Hamm, beides Turner von Weltrang, handelt es sich um eineiige Zwillinge; doch ihre sportlichen Leistungen sind nicht gleichrangig. Paul erhielt mehr Medaillen als sein Zwillingsbruder, mit dem zusammen er aufwuchs. Dieser kleine Unterschied deutet sowohl auf den Einfluss geringfügig unterschiedlicher Umwelten (vielleicht sogar pränataler Umwelten) als auch auf den Einfluss individueller Interaktionen mit der jeweiligen Umwelt nach der Geburt hin

Zweieiige Zwillinge (fraternal twins): Zwillinge, die sich aus separaten Eizellen entwickeln. Sie sind sich genetisch nicht näher als Geschwister, aber sie haben als Föten eine Umwelt gemeinsam.

! Verhaltensgenetiker wie Bouchard (2004) erforschen, ob eineiige Zwillinge als genetische Klone mehr Verhaltensähnlichkeiten aufweisen als zweieiige Zwillinge.

Studien mit 13.000 schwedischen, 7000 finnischen und 3810 australischen Zwillingspaaren liefern übereinstimmende Ergebnisse: In Bezug auf Extraversion und Neurotizismus (emotionale Instabilität) sind sich eineiige Zwillinge ähnlicher als zweieiige. Auf der Suche nach Erklärungen für individuelle Unterschiede spielen die Gene also eine Rolle. Wenn sich Gene auf Persönlichkeitsmerkmale wie emotionale Instabilität auswirken, könnten sie dann auch die sozialen Auswirkungen dieser Persönlichkeitsmerkmale beeinflussen? McGue u. Lykken (1992) untersuchten die Scheidungsraten bei 1500 gleichgeschlechtlichen Zwillingspaaren im mittleren Lebensalter. Sie kamen zu folgenden Ergebnissen: Wenn man einen zweieiigen geschiedenen Zwilling hat, liegt die eigene Scheidungsrate um das 1,6-fache höher, als wenn man einen nicht geschiedenen Zwilling hat. Hat man einen eineiigen geschiedenen Zwilling, erhöht sich

Interessanterweise unterscheidet sich die Häufigkeit von Zwillingsgeburten bei unterschiedlichen ethnischen Gruppen. So ist die Häufigkeit bei Weißen nahezu 2-mal so hoch wie bei Asiaten und nur halb so groß wie bei Afrikanern. In Afrika und Asien sind die meisten Zwillinge eineiig. Im Westen sind die meisten Zwillinge zweieiig. Außerdem nimmt die Anzahl zweieiiger Zwillinge mit dem Einsatz von Medikamenten im Rahmen von Fertilitätsbehandlungen zu (Hall 2003; Steinhauer 1999).

. Abb. 3.3. Zwillingsstudien Verhaltensgenetiker führten Zwillingsstudien durch, um die Einflüsse der Gene, der gemeinsamen Umwelt und der einzigartigen oder nicht gemeinsamen Umwelt voneinander zu trennen. Nach Lisa Legrand, William Iacono und Matt McGue, 2005

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Kapitel 3 · Anlage, Umwelt und die Vielfalt der Menschen

die Rate entsprechend auf das 5,5-fache. McGue u. Lykken schlossen aus diesen Daten, dass die Scheidungsraten zu ungefähr 50% auf genetische Faktoren zurückzuführen sind. Auch andere Dimensionen weisen auf genetische Einflüsse hin. So unterzogen Loehlin u. Nichols (1976) 850 amerikanische Zwillingspaare mehreren Tests und stellten fest, dass sich eineiige Zwillinge in vielen Aspekten wie beispielsweise Fähigkeiten, persönlichen Merkmalen und Interessen ähnlicher waren als zweieiige. Allerdings berichteten die eineiigen Zwillinge auch häufiger als zweieiige, gleich behandelt worden zu sein. Sind demnach eher ihre Erfahrungen als ihre Gene für diese Ähnlichkeit verantwortlich? Loehlin u. Nichols verneinen dies: Eineiige Zwillinge, die von ihren Eltern nahezu gleich erzogen wurden, waren sich psychologisch nicht ähnlicher als unterschiedlich behandelte eineiige Zwillinge.

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© Bob Sacha Photography, www.bobsacha.com

Schweden hat das größte staatliche Zwillingsregister – mit über 140.000 lebenden und verstorbenen Zwillingspaaren –, die Bestandteil eines riesigen europäischen Registers mit 600.000 Zwillingen sind. Aus ihm werden im Moment die Teilnehmer an der größten Zwillingsstudie der Welt nach dem Zufall ausgewählt (Wheelwright 2004). 7 www.genomeutwin.org

Eineiige Zwillinge sind Doppelgänger Die eineiigen Zwillinge Gerald Levey and Mark Newman wurden nach der Geburt getrennt und wuchsen in verschiedenen Familien auf. Bei einem Wiedersehen im Alter von 31 Jahren entdeckten sie, dass sie beide zur freiwilligen Feuerwehr gehörten. In der Forschung konnte man bemerkenswerte Ähnlichkeiten bei den Lebensentscheidungen getrennt aufgewachsener eineiiger Zwillinge nachweisen; dies liefert gute Argumente für genetische Einflüsse auf die Persönlichkeit

»In einigen Bereichen sieht es so aus, dass sich unsere Zwillinge, die zusammen aufwuchsen, … einander genauso ähnlich sind wie die getrennt aufwachsenden Zwillinge. Das ist nun aber ein erstaunlicher Befund, und ich kann Ihnen versichern, dass keiner von uns diesen Grad an Ähnlichkeit erwartet hätte.« Thomas Bouchard (1981)

Getrennt aufwachsende Zwillinge Stellen Sie sich folgendes Sciencefiction-Experiment vor: Ein skrupelloser Wissenschaftler beschließt, eineiige Zwillinge nach der Geburt voneinander zu trennen und sie dann in verschiedenen Umwelten aufzuziehen. Aber halten wir uns lieber an eine wahre Geschichte: An einem kühlen Samstagmorgen in Ohio wachte im Februar 1979 Jim Lewis in seinem kleinen mittelständischen Haus neben seiner zweiten Frau Betty auf. Er war vor einiger Zeit von seiner ersten Frau Linda geschieden worden. Jim, der ein romantischer und leidenschaftlicher Typ ist, hatte sich vorgenommen, dass diese Ehe nun halten sollte, und hatte es sich zur Gewohnheit gemacht, für Betty überall im Haus Zettelchen mit Liebesbezeugungen zu hinterlassen. Als Jim so im Bett lag, dachte er an die Menschen, die er geliebt hatte, besonders an seinen Sohn James Alan und seinen treuen Hund Toy. Jim hatte sich in einer Kellerecke einen Arbeitsplatz eingerichtet und freute sich darauf, einige Stunden seinem Schreinerhobby zu widmen. Beim Anfertigen von Möbeln, Bilderrahmen, einigen anderen Gegenständen und vor allem einer runden weißen Bank um einen Baum in seinem Vorgarten hatte er viele zufriedene Stunden verbracht. Jim fuhr in seiner Freizeit auch gerne seinen Chevy durch die Gegend, sah sich Formel-1-Autorennen an und trank Bier der Marke »Miller Lite«. Im Großen und Ganzen konnte man Jim als gesund bezeichnen. Nach einer Vasektomie konnte er keine Kinder mehr zeugen, und sein Blutdruck war etwas hoch, was vielleicht auf sein Kettenrauchen zurückzuführen war. Er kaute exzessiv Fingernägel. Außerdem hatte er Migräne – Kopfschmerzen, die jeweils einen halben Tag andauerten – »das ist so, als schlüge dir jemand mit einer Holzlatte ins Genick«. Vor einer Weile schon war er etwas übergewichtig geworden, hatte aber schon wieder einige Pfunde abgenommen. Das Ungewöhnliche an Jim Lewis war (und das ist jetzt keine Erfindung!), dass es zur selben Zeit einen anderen Mann gab, der auch Jim hieß und für den all diese Dinge einschließlich des Namens, den er seinem Hund gegeben hatte, ebenfalls zutrafen. (Mit einem kleinen Unterschied: Jim Lewis nannte seinen Sohn James Alan. Jim Springer fügte in den Namen ein weiteres L ein und nannte seinen Sohn James Allan.) Der andere Jim – Jim Springer – war 38 Jahre zuvor sein Mitbewohner im Mutterleib gewesen. 37 Tage nach ihrer Geburt wurden diese genetisch gleichen Zwillinge voneinander getrennt, jeweils von einer Arbeiterfamilie adoptiert und wuchsen ohne Kontakt miteinander und ohne Wissen über den Verbleib des anderen auf – bis an einem Februartag Jim Lewis’ Telefon klingelte. Der Anrufer war sein genetischer Klon (der sich auf die Suche nach ihm gemacht hatte, nachdem ihm von seinem Zwilling erzählt worden war). Einen Monat nach diesem schicksalsträchtigen Zusammentreffen wurden die Brüder als erstes Zwillingspaar von Thomas Bouchard und seinen Kollegen an der Universität von Minnesota getestet. So entstand eine Studie mit getrennt aufgewachsenen Zwillingen, die bis heute fortgesetzt wird (Holden 1980a; 1980b; Wright 1998). Nachdem man Persönlichkeit, Intelligenz, Herzfrequenz und Gehirnwellen untersucht hatte, stellte man fest, dass sich die Zwillinge trotz ihrer 38 Jahre andauernden Trennung praktisch so ähnlich waren, als wäre dieselbe Person 2-mal getestet worden. Intonation und Modulation der Stimme ähnelten sich derartig, dass Jim Springer sagte: »Das bin ich«, als er hörte, wie ein Interview mit seinem Bruder auf Tonband vorgespielt wurde. Die eineiigen Zwillinge Oskar Stohr und Jack Yufe wiesen genauso erstaunliche Ähnlichkeiten auf. Der eine wurde im nationalsozialistischen Deutschland von der Großmutter als Katholik aufgezogen, der andere hingegen von seinem Vater als Jude in der Karibik. Trotzdem haben sie

107 3.1 · Verhaltensgenetik: Die Vorhersage individueller Unterschiede

jede Menge gemeinsamer Merkmale und Gewohnheiten. Sie mögen scharfes Essen und süße Liköre, haben die Gewohnheit, vor dem Fernseher einzuschlafen, betätigen die Toilettenspülung, bevor sie die Toilette benutzen, bewahren Gummibänder am Handgelenk auf und tunken Toast in ihren Kaffee. Stohr tritt als Pascha gegenüber Frauen auf und schreit seine Frau an, wie dies auch Yufe vor seiner Scheidung tat. Beide heirateten eine Frau namens Dorothy Jane Scheckelburger. Gut, das Letzte war nur ein Witz. Wie jedoch Judith Rich Harris (2006) anmerkt, ist es kaum verrückter, als einige andere Zufälle, die berichtet werden. Mit Hilfe von Zeitungsannoncen haben Bouchard et al. (1990; DiLalla et al. 1996; Segal 1999) 80 nicht gemeinsam aufgewachsene Zwillingspaare ausfindig gemacht und untersucht. Sie fanden Gemeinsamkeiten, die sich nicht nur auf Geschmack und Körpermerkmale bezogen, sondern auch auf die Persönlichkeit, Fähigkeiten, Einstellungen, Interessen und sogar Ängste. In Schweden stießen Pedersen et al. (1988) auf 99 getrennt lebende eineiige und mehr als 200 getrennt lebende zweieiige Zwillingspaare. Im Vergleich zu einer Stichprobe aus gemeinsam aufgewachsenen eineiigen Zwillingen hatten die getrennt aufgewachsenen eineiigen Zwillinge eher voneinander abweichende Persönlichkeiten – charakteristische Muster des Denkens, Fühlens und Handelns. Dennoch waren sich die getrennt aufgewachsenen, genetisch gleichen Zwillinge immer noch ähnlicher als zweieiige. Eine Trennung kurz nach ihrer Geburt (im Gegensatz zu beispielsweise im Alter von 8 Jahren) bewirkte keine Zunahme ihrer Persönlichkeitsunterschiede. Bouchards Kritiker, die uns daran erinnerten, dass »der Plural von Anekdote nicht Belege heißt«, ließen sich von den aufregenden Geschichten über die Ähnlichkeiten der Zwillinge nur wenig beeindrucken. Sie behaupten, dass zwei beliebige, einander unbekannte Menschen, die stundenlang ihre Verhaltens- und Lebensgeschichten vergleichen müssten, mit hoher Wahrscheinlichkeit viele zufällige Ähnlichkeiten entdecken würden. Würden denn Paare, die zu einer von den Forschern gebildeten Kontrollgruppe aus biologisch nicht verwandten Paaren des gleichen Alters, des gleichen Geschlechts und der gleichen ethnischen Gruppe gehörten und nicht zusammen aufgewachsen waren, sich aber bezüglich ihres wirtschaftlichen und kulturellen Hintergrundes genauso ähnlich wären wie viele der getrennt aufgewachsenen Zwillinge, nicht genauso frappierende Ähnlichkeiten aufweisen (Joseph 2001)? (Bouchard entgegnet darauf, dass sich getrennt aufwachsende zweieiige Zwillinge in Bezug auf ihre Ähnlichkeiten nicht mit getrennt aufwachsenden eineiigen Zwillingen vergleichen lassen. Und Nancy Segal (2000) merkt an, dass »virtuelle Zwillinge« – biologisch nicht verwandte Stief- oder Adoptivgeschwister des gleichen Alters – auch viel unähnlicher sind). Selbst die besonders eindrucksvollen Befunde aus der Persönlichkeitsdiagnostik werden davon überschattet, dass sich viele der Zwillinge bereits einige Jahre vor Durchführung der Tests wiedergefunden hatten. Sie haben dasselbe Aussehen und können mit denselben Reaktionen darauf rechnen. Die Stellen, die über Adoptionen entscheiden, versuchen, voneinander getrennte Zwillinge in ähnlichen familiären Verhältnissen unterzubringen. Trotz dieser Kritik haben die erstaunlichen Ergebnisse der Zwillingsstudien dazu geführt, dass genetischen Einflüssen in wissenschaftlichen Theorien immer mehr Bedeutung beigemessen wird.

3.1.3 Adoptionsstudien Ziel 5: Beschreiben Sie, wie Verhaltensgenetiker Adoptionsstudien nutzen, um die Auswirkungen von Anlage und Umwelt besser zu verstehen.

Ein weiteres praktisches, realitätsnahes Experiment, die Adoption, führt zu zwei Gruppen von Verwandten: den genetischen Verwandten (biologische Eltern und Geschwister) und denjenigen, mit denen die Adoptivkinder eine gemeinsame Umwelt teilen (Adoptiveltern und -geschwister). Bei der Untersuchung von Persönlichkeitsmerkmalen kann man daher immer danach fragen, ob Adoptivkinder eher ihren Adoptiveltern gleichen (die Teil der Familienumwelt sind) oder ihren biologischen Eltern (die die Gene beisteuerten). Können adoptierte Kinder, die gemeinsam mit den leiblichen Kindern eines Paares aufwachsen und demnach denselben familiären Bedingungen ausgesetzt sind, auch dieselben Persönlichkeitsmerkmale entwickeln wie die biologischen Kinder?

Zufälle sind nicht nur Zwillingen vorbehalten. Patricia Kern aus Colorado wurde am 13. März 1941 geboren und Patricia Ann Campbell genannt. Patricia DiBiasi aus Oregon wurde ebenfalls am 13. März 1941 geboren und ebenfalls Patricia Ann Campbell genannt. Beide hatten Väter, die den Namen Robert trugen, als Buchhalter arbeiteten und zu dieser Zeit Kinder im Alter von 19 und 21 Jahren hatten. Beide machten eine Ausbildung als Kosmetikerin, hatten Ölmalerei als Hobby und heirateten in einem Abstand von 11 Tagen Männer, die beim Militär arbeiteten. Im genetischen Sinne gibt es zwischen den beiden keine Verwandtschaft. (Aus einem AP Bericht vom 2. Mai 1983)

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Kapitel 3 · Anlage, Umwelt und die Vielfalt der Menschen

Das völlig überraschende Forschungsergebnis aus Untersuchungen, die an Hunderten von Adoptivfamilien durchgeführt wurden, lautet, dass sich zusammen aufwachsende Menschen wenig in Bezug auf ihre Persönlichkeitsmerkmale ähneln, und zwar unabhängig von ihrer biologischen Verwandtschaft (McGue u. Bouchard 1998; Plomin et al. 1998; Rowe 1990).

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! Adoptivkinder haben in ihren Persönlichkeitsmerkmalen (Extraversion, Verträglichkeit etc.) mehr Ähnlichkeiten mit ihren biologischen Eltern als mit den für sie sorgenden Adoptiveltern.

Familienbande Studien über Adoptivfamilien lieferten neue Erkenntnisse zu Erb- und Umwelteinflüssen. Adoptierte Kinder teilen mit ihren Adoptiveltern viele Werte und Einstellungen, doch neigen die Persönlichkeiten adoptierter Kinder dazu, das genetische Vermächtnis ihrer biologischen Eltern in den Vordergrund treten zu lassen

»Mag sein, dass Mama ein ›Full House‹ auf der Hand hat und Papa einen ›Straight Flush‹: Wenn der Junior von jedem eine Zufallshälfte bekommt, mag sein Pokerblatt dennoch das Blatt eines Verlierers sein.« David Lykken (2001)

Das Ergebnis ist so bedeutsam, dass man es noch einmal wiederholen sollte: Die Umweltfaktoren, die für die Kinder innerhalb einer Familie die gleichen sind, haben praktisch keinen Einfluss. Zwei in derselben Familie aufgewachsene, adoptierte Kinder haben in Bezug auf ihre Persönlichkeitsmerkmale ebenso wenig miteinander gemein wie mit irgendeinem Kind, das nur in derselben Gegend wohnt. Die Anlagen formen die Persönlichkeit auch bei anderen Primaten. So etwa bei Schimpansen: Die Anlage formt die Persönlichkeit und weniger die Tatsache, dass sie im selben Zoo aufwachsen (Weiss et al. 2000). So zeigen Makaken, die von Pflegemüttern großgezogen werden, ein Sozialverhalten, das eher dem ihrer biologischen Mütter ähnelt als dem ihrer Pflegemütter (Maestripieri 2003). Dies sollte zusammen mit dem Befund gesehen werden, dass sich eineiige Zwillinge so ähnlich sind, wie wir es aufgrund ihrer gemeinsamen Gene erwarten würden, ob sie nun zusammen oder getrennt aufwachsen; und die Auswirkung einer Umwelt, in der sie gemeinsam groß werden, scheint bestürzend gering zu sein. Pinker (2002) behauptet, dass wir hier vielleicht »auf das wichtigste Puzzle in der Geschichte der Psychologie« gestoßen sind: Warum sind Kinder aus derselben Familie so unterschiedlich? (Sogar biologische Geschwister sind oft auffallend unterschiedlich.) Warum haben die gemeinsamen Gene und die gemeinsame Umwelt (soziale Schicht, Persönlichkeit der Eltern, gemeinsam oder allein erziehend, Erziehung in Ganztagesstätten oder zu Hause, Wohngegend) so wenig deutlich erkennbare Auswirkungen auf die Persönlichkeiten der Kinder? Liegt es daran, dass jedes Kind dennoch verschiedene Erfahrungen macht und verschiedenen Einflüssen durch Altersgenossen und Lebensereignisse unterliegt? Oder ist es eher darauf zurückzuführen, dass die Beziehungen zwischen Geschwistern zur Entfremdung führen, was wiederum ihre Unterschiede verstärkt? Geht es darauf zurück, dass Geschwister, obwohl sie die Hälfte der Gene gemeinsam haben, sehr unterschiedliche Genkombinationen aufweisen? Wirkt sich der elterliche Einfluss deshalb auf ein gelassenes Kind anders aus als auf ein Kind, das stark emotional reagiert? »Kindererziehung ist nichts, was die Eltern einem Kind antun«, bemerkt Harris (1998). »Es ist etwas, was Eltern und Kinder zusammen machen ... Ich wäre bei meinem ersten Kind als nachgiebige und bei meinem zweiten Kind als herrische Mutter abgestempelt worden.« Ist die Erziehung von Adoptivkindern somit ein sinnloses Unterfangen? Nein. ! Die genetischen Vorgaben begrenzen den Einfluss der Familienumwelt auf die Persönlichkeit, aber die Eltern beeinflussen Einstellungen, Werte, das Benehmen, Vorstellungen in Glaubensfragen und politische Auffassungen ihrer Kinder (Brodzinsky u. Schechter 1990).

Die größere Einheitlichkeit von Adoptivfamilien – meist gesunde, positiv auf die Kinder einwirkende Familien – trägt zur Erklärung der Tatsache bei, dass es nicht so viele auffallende Unterschiede gibt, wenn man die Ergebnisse bei unterschiedlichen Adoptivfamilien miteinander vergleicht (Stoolmiller 1999).

Zwei adoptierte Kinder oder eineiige Zwillinge verfügen über ähnlichere religiöse Vorstellungen, wenn sie dasselbe Zuhause haben, vor allem solange sie als Jugendliche noch im Elternhaus wohnen (Kelley u. deGraaf 1997; Rohan u. Zanna 1996). Die Erziehung hat also durchaus eine Bedeutung! Darüber hinaus sind Vernachlässigung, Misshandlung und Missbrauch von Kindern und sogar Ehescheidungen bei Adoptiveltern selten. (Adoptiveltern werden im Gegensatz zu leiblichen Eltern sorgfältig überprüft.) Es überrascht folglich nicht, dass sich die meisten Adoptivkinder trotz eines größeren Risikos für psychische Störungen gut entwickeln, vor allem wenn sie als Kleinkinder adoptiert wurden (Benson et al. 1994; Wierzbicki 1993). In Intelligenztests erreichen sie höhere Werte als ihre biologischen Eltern. Sieben von acht Kindern berichten, dass sie sich einem oder beiden Adoptivelternteilen stark verbunden fühlen. Als Kinder von sich selbst aufopfernden Eltern wachsen sie so auf, dass sie sich auch selbst mehr einbringen und altruistischer verhalten als der Durchschnitt (Sharma et al. 1998). Und im Allgemeinen werden sie glücklicher und stabiler, als sie es in einer gestressten und vernachlässigenden Umgebung geworden wären. In einer schwedischen Studie wuchsen adoptierte Kleinkinder mit weniger Problemen auf als Kinder, de-

109 3.1 · Verhaltensgenetik: Die Vorhersage individueller Unterschiede

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ren biologische Mütter sie zuerst zur Adoption freigeben wollten und sich dann doch anders entschieden hatten (Bohman u. Sigvardsson 1990). Gleichgültig wie groß die Persönlichkeitsunterschiede zwischen Eltern und ihren Adoptivkindern sind, die Kinder profitieren von der Adoption.

3.1.4 Studien zum Temperament Ziel 6: Erörtern Sie, dass die relative Stabilität unseres Temperaments zeigt, wie stark der Einfluss der Vererbung auf die Entwicklung ist.

Die meisten Eltern mit zwei Kindern berichten, dass sich Babys bereits vor ihrem ersten Atemzug voneinander unterscheiden. Wir wollen uns nun mit einem früh erkennbaren Aspekt der Persönlichkeit beschäftigen: Das Temperament eines Kindes drückt sich in seiner angeborenen emotionalen Erregbarkeit aus – ob es aufbrausend und intensiv reagiert, herumzappelt oder ob es Dinge eher leicht nimmt, ruhig und gelassen ist. Schwierige Babys sind bereits in den ersten Lebenswochen irritierbarer, reagieren heftiger und weniger vorhersagbar. Dagegen gelten »einfache« Babys als vergnügt, entspannt und in Bezug auf Füttern und Schlafen als besser vorhersagbar (Chess u. Thomas 1987). Eltern, die besonders sensibel für die Unterschiede zwischen ihren Kindern sind, nehmen deren Temperament sogar als noch unterschiedlicher wahr, als es ist (Saudino et al. 2004). Doch es gibt tatsächlich Temperamentsunterschiede, und sie bleiben bestehen. Schauen Sie sich die folgenden Ergebnisse an: 4 Die Neugeborenen, die am stärksten emotional reagieren, zeigen diese Reaktionsbereitschaft auch im Alter von 9 Monaten (Wilson u. Matheny 1986; Worobey u. Blajda 1989). 4 Vier Monate alte Säuglinge, die auf wechselnde Situationen mit einem gekrümmten Rücken, strampelnden Beinen und Schreien reagieren, sind in ihrem 2. Lebensjahr gewöhnlich ängstlich und gehemmt. Jene, die mit einem entspannten Lächeln reagieren, erweisen sich dagegen als angstfrei und kontaktfreudig (Kagan 1990). 4 Extrem gehemmte und furchtsame 2-Jährige sind oft auch als 8-Jährige noch relativ schüchtern; ungefähr die Hälfte davon entwickelt sich zu introvertierten Erwachsenen (Kagan et al. 1992, 1994). 4 Die meisten der heftig reagierenden Vorschulkinder zeigen auch als junge Erwachsene vergleichsweise vehemente Reaktionen (Larsen u. Diener 1987). Eine immer noch laufende Langzeitstudie mit 900 Neuseeländern ergab, dass stark emotional reagierende und impulsive Kinder sich zu noch impulsiveren, aggressiveren und konfliktsuchenden 21-Jährigen entwickelten (Caspi 2000). Vergleicht man ein- und zweieiige Zwillinge, so sind sich die eineiigen Zwillinge bezogen auf das Temperament ähnlicher. Dies deutet darauf hin, dass die Anlage möglicherweise zu Temperamentsunterschieden prädisponiert (Emde et al.1992; Gabbay 1992; Robinson et al. 1992). Ein weiteres Befundmuster geht auf physiologische Tests zurück, die zeigen, dass ängstliche, gehemmte Kinder einen erhöhten und unregelmäßigen Herzschlag sowie ein leicht erregbares Nervensystem haben und dass sie mit einer stärkeren physiologischen Erregung reagieren, wenn sie mit neuen und fremden Situationen konfrontiert werden (Kagan u. Snidman 2004). Derartige Befunde führen ebenfalls zu der Schlussfolgerung, dass unser in der Biologie verankertes Temperament an der Bildung unserer überdauernden Persönlichkeit beteiligt ist (McCrae et al. 2000; Rothbart et al. 2000).

Temperament (temperament): charakteristische emotionale Reaktionsbereitschaft und Reaktionsstärke eines Menschen.

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Kapitel 3 · Anlage, Umwelt und die Vielfalt der Menschen

3.1.5 Erblichkeit Ziel 7: Erörtern Sie, wie sich das Konzept der Erblichkeit auf Individuen und Gruppen anwenden lässt, und erklären Sie, was damit gemeint ist, wenn wir sagen, dass Gene selbstregulierend sind.

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Erblichkeit (heritability): Ausmaß, in dem individuelle Unterschiede auf Gene zurückgeführt werden können. Die Erblichkeit eines Persönlichkeitsmerkmals kann in Abhängigkeit von der ausgewählten Population und den untersuchten Umweltbedingungen variieren.

Anhand von Zwillings- und Adoptionsstudien können Verhaltensgenetiker die Erblichkeit eines Persönlichkeitsmerkmals mathematisch berechnen, d. h. das Ausmaß, in dem die Unterschiede zwischen Individuen auf ihre unterschiedlichen Gene zurückgeführt werden können. Wenn die Erblichkeit von Intelligenz z. B. 50% beträgt, so bedeutet das nicht, dass die Intelligenz eines Menschen zu 50% genetisch bedingt ist (7 Kap. 11). (Wenn der Erblichkeitsgrad für die Körpergröße 90% beträgt, heißt dies nicht, dass eine 1,70 m große Frau 153 cm ihren Genen und die restlichen 17 cm ihrer Umwelt zuschreiben kann). Es bedeutet vielmehr, dass wir 50% der beobachteten Variation unter Menschen genetischen Einflüssen zuschreiben können. Es ist unsinnig, zu sagen, Ihre Persönlichkeit gehe zu x Prozent auf Ihre Anlagen und zu y Prozent auf Ihre Umwelt zurück. Dieser Punkt wird so häufig missverstanden, dass ich es wiederholen möchte: ! Wir können nicht sagen, zu welchem Prozentsatz die Persönlichkeit oder Intelligenz einer bestimmten Person vererbt ist. Bei prozentualen Angaben zur Erblichkeit geht es vielmehr um das Ausmaß, in dem die Unterschiede zwischen Menschen allgemein in Hinblick auf ein bestimmtes Merkmal auf Gene zurückzuführen sind.

Sogar diese Schlussfolgerung muss differenziert werden, da die Erblichkeit von einer Studie zur anderen variieren kann. Würden wir dem Vorschlag des für seine sarkastischen Beschreibungen bekannten Schriftstellers Mark Twain (1835–1910) folgen, Jungen bis zum Alter von 12 Jahren in Fässern aufzuziehen und sie durch ein Loch zu füttern, würden sie einen vergleichsweise geringen Intelligenzquotienten aufweisen. Da sie alle unter den gleichen Umweltbedingungen leben, könnte man dann jedoch die individuellen Unterschiede bezüglich ihres Intelligenzquotienten als 12-Jährige ausschließlich auf Vererbungsfaktoren zurückführen. Mit anderen Worten: Die intellektuellen Unterschiede zwischen ihnen wären zu fast 100% anlagebedingt. ! Je ähnlicher die Umweltbedingungen sind, desto größer wird der Stellenwert der Vererbung als Erklärung für die Unterschiede.

Hätten alle Schulen die gleiche Qualität, alle Familien eine gleich liebevolle Atmosphäre und funktionierte das Leben in allen sozialen Gemeinschaften gleichermaßen gut, so würde die Erbanlage – also die genetisch bedingten Unterschiede – mehr Gewicht bekommen (da Unterschiede, die auf die Umwelt zurückgeführt werden könnten, abnehmen). Andererseits wäre der Einfluss der Erbanlage relativ gering, wenn alle Menschen ähnliche Erbfaktoren hätten, aber in drastisch unterschiedlichen Umgebungen aufwüchsen (z. B. einem Fass im Gegensatz zu einer gut situierten Familie).

Gruppenunterschiede Wenn genetische Einflüsse zur Erklärung der individuellen Vielfalt bei Persönlichkeitsmerkmalen wie Aggressivität beitragen, stellt sich die Frage, ob das nicht auch auf Gruppenunterschiede zwischen Männern und Frauen und zwischen Angehörigen verschiedener ethnischer Gruppen zutrifft. Die Antwort lautet: nicht notwendigerweise. Individuelle Unterschiede z. B. in Bezug auf Körpergröße und Gewicht sind zu einem Großteil vererbt. Will man erklären, warum die Gruppe der Erwachsenen heute größer und kräftiger ist als im letzten Jahrhundert, so muss man jedoch eher Ernährungs- als genetische Einflüsse heranziehen. Die beiden Gruppen unterscheiden sich nicht etwa, weil sich die menschlichen Gene innerhalb dieser winzigen Zeitspanne von einem Jahrhundert verändert hätten. Was für die Größe und das Gewicht zutrifft, gilt auch für Werte in Persönlichkeits- und Intelligenztests: Vererbbare Unterschiede zwischen Individuen müssen keine vererbbaren Gruppenunterschiede mit sich bringen. Auch wenn einige Menschen eine stärkere genetische Disposition für die Entwicklung von Aggressivität haben, erklärt das nicht, warum sich einige Gruppen aggressiver

111 3.1 · Verhaltensgenetik: Die Vorhersage individueller Unterschiede

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verhalten als andere. Versetzt man Menschen in einen neuen sozialen Kontext, kann sich dadurch ihre Aggressivität verändern. Die friedvollen Skandinavier von heute tragen viele Gene in sich, die ihnen von ihren Wikingervorfahren vererbt wurden.

Anlage und Umwelt Die wichtigste gemeinsame Eigenschaft der Menschen ist ihre enorme Anpassungsfähigkeit. Sie ist zugleich ein untrügliches Verhaltenskennzeichen unserer Art. Einige menschliche Merkmale wie z. B. die Tatsache, dass wir zwei Augen haben, entwickeln sich praktisch in jeder Umwelt gleich. Doch die psychologisch interessantesten Merkmale kommen erst in einer spezifischen Umwelt zum Ausdruck. Wir kennen alle das Verlangen nach Essen, doch je nach unserem kulturell erlernten Geschmack stürzen wir uns auf Fischaugen, schwarzen Bohnensalat oder Hühnerbeine. Gehen Sie einen Sommer lang barfuß, dann bekommen Sie zähe, mit Schwielen bedeckte Füße; dies ist eine biologische Anpassung an die Reibung. Gleichzeitig wird Ihr Schuhe tragender Nachbar seine zarten Füße behalten. Der Unterschied zwischen Ihnen beiden ist natürlich umweltbedingt. Gleichzeitig ist er auch das Ergebnis eines biologischen Mechanismus. Unsere gemeinsame biologische Ausstattung ermöglicht uns die Entwicklung unserer Vielfalt (Buss 1991). Eine Analogie kann dies weiter veranschaulichen: Die Gene und die Umwelt – Vererbung und äußere Einflüsse – arbeiten mit vereinten Kräften wie zwei Hände beim Klatschen. Gene geben nicht nur den Code für bestimmte Proteine vor, sie reagieren auch auf ihre Umwelt. Ein afrikanischer Schmetterling, der im Sommer grün ist, ändert im Herbst aufgrund eines genetischen Schalters, der von der Außentemperatur gesteuert wird, seine Farbe: Er wird braun. »Das Genom lässt dem Schmetterling die Wahl zwischen zwei Dingen, zwischen zwei verschiedenen Möglichkeiten. Es diktiert sie ihm nicht auf: ›Du musst diese Form annehmen‹«, erklärt Gary Marcus (2004). »Es sagt: ›Wenn du in dieser Situation bist, kann du diese Form annehmen; wenn du in einer anderen Situation bist, kannst du diese andere Form annehmen.‹« Gene sind also selbstregulierend. Statt als Planvorgaben zu handeln, die egal in welchem Kontext immer zu demselben Ergebnis führen, reagieren die Gene. Menschen mit denselben Genen, aber einem unterschiedlichen Erfahrungshintergrund haben somit eine ähnliche, aber nicht dieselbe psychische Ausstattung. Ein Zwilling kann sich in eine Person verlieben, die ganz anders ist als die, in die sich der Zwillingsbruder verliebt. Wie wir in 7 Kap. 16 erfahren werden, wird mindestens ein Gen, das wir kennen, in Reaktion auf bedeutsame stressvolle Lebensereignisse den Code für ein Protein bereitstellen, das die Neurotransmitterfunktionen steuert, die der Depression zugrunde liegen. Für sich genommen ist das Gen nicht die Ursache der Depression, aber es ist Bestandteil des Rezeptes für die Depression. Somit ist die Frage, ob Ihre Persönlichkeit eher ein Produkt Ihrer Gene oder Ihrer Umwelt ist, vergleichbar damit, dass man darüber rätselt, ob die Nässe des Wassers auf seine Wasserstoff- oder Sauerstoffmoleküle zurückzuführen ist oder ob sich die Fläche eines Feldes eher aus seiner Länge oder seiner Breite ergibt. Wir könnten jedoch die Frage stellen, ob die unterschiedlichen Flächen verschiedener Felder eher das Ergebnis von Unterschieden in der Länge oder in der Breite sind und ob die Unterschiede zwischen einer Person und einer anderen eher durch die Anlage oder die Umwelt beeinflusst werden. ! Betrachtet man psychologische Phänomene, so sind die Unterschiede zwischen Menschen nahezu immer sowohl auf genetische Einflüsse als auch auf Einflüsse der Umwelt zurückzuführen.

So sind auch Essstörungen genetisch beeinflusst (um schon einmal einen Ausblick auf interessante Themen zu geben, mit denen wir uns später noch eingehender beschäftigen werden): Bestimmte Menschen haben ein größeres Risiko als andere. Im Übrigen trägt auch die Kultur ihren Teil dazu bei; denn Essstörungen gelten momentan in erster Linie als ein Phänomen westlicher Kulturen.

»Die Gene sind für das Gehirn so wichtig wie die Zündkerze für den Motor eines Autos. Doch es gibt einen großen Unterschied zwischen dem Notwendigen und dem Hinreichenden. Das Potenzial einer Zündkerze wird nur umgesetzt, wenn man sie in einen Motor einbaut, wenn sich der Motor in einem Auto befindet und wenn es einen Fahrer hat.« Die Neurowissenschaftlerin Susan Greenwald in »Alcohol on the Brain« (2002)

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Kapitel 3 · Anlage, Umwelt und die Vielfalt der Menschen

3.1.6 Anlage-Umwelt-Interaktion »Die Erbanlage verteilt die Karten, die Umwelt spielt das Blatt aus.« Charles L. Brewer (1990)

Ziel 8: Nennen Sie ein Beispiel für ein genetisch beeinflusstes Persönlichkeitsmerkmal, das bei anderen Reaktionen hervorrufen kann, und ein weiteres Beispiel für eine Umwelt, die eine Genaktivität auslösen kann.

Anlage-Umwelt-Interaktion Die Menschen reagieren nicht in gleicher Weise auf einen Rowan Atkinson (Mr. Bean) wie auf seinen Schauspielerkollegen Orlando Bloom

Wenn man sagt, dass sowohl die Gene als auch Erfahrungen wichtig sind, ist das nicht falsch. Präziser ausgedrückt müsste man jedoch sagen, dass sie interagieren. Stellen Sie sich zwei Babys vor, von denen das eine genetisch prädisponiert ist, attraktiv, kontaktfreudig und unbeschwert zu sein, während das andere nur eine geringe Prädisposition für diese Eigenschaften mitbringt. Nehmen Sie weiter an, dass das erste Baby mehr liebevolle und anregende Fürsorge erhält als das zweite und sich insofern zu einer warmherzigeren und offeneren Person entwickelt. Wenn es älter wird, sucht sich das von Natur aus offenere Kind häufiger Aktivitäten und Freunde, die zum Aufbau weiteren sozialen Zutrauens ermutigen. Was führte nun am Ende zu den Persönlichkeitsunterschieden? Weder die Vererbung noch die Erfahrung haben für sich genommen einen Einfluss. Umwelten lösen eine Genaktivität aus. Und unsere genetisch beeinflussten Persönlichkeitsmerkmale rufen bedeutsame Reaktionen bei anderen hervor. Bei einem Lehrer z. B., der sonst eher freundlich auf vorbildliche Klassenkameraden des Kindes reagiert, löst die Impulsivität und Aggressivität eines Kindes möglicherweise Ärger aus. Auch Eltern verhalten sich gegenüber ihren Kindern unterschiedlich; ein Kind verleitet sie dazu, es zu bestrafen, das andere nicht. In diesen Fällen interagieren die Anlage des Kindes und die Erziehung durch die Eltern. Keins von beiden funktioniert unabhängig vom anderen. Anlage und Umwelt agieren gemeinsam. Beziehungsreiche Interaktionen helfen uns dabei, zu verstehen, warum sich in unterschiedlichen Familien aufgewachsene, eineiige Zwillinge an die Herzlichkeit ihrer Eltern in bemerkenswert ähnlicher Weise erinnern – fast so ähnlich, als hätten sie dieselben Eltern gehabt (Plomin et al. 1988, 1991, 1994). Zweieiige Zwillinge erinnern sich an erhebliche Variationen in ihrem frühen Familienleben – sogar dann, wenn sie in der gleichen Familie aufgezogen wurden. »Je nachdem, welche Eigenschaften Kinder selbst haben, erleben sie uns als andere Eltern«, merkt Sandra Scarr (1990) an. Außerdem suchen wir uns mit zunehmendem Alter die Umweltbedingungen, die gut zu uns passen. So sind wir vom Augenblick unserer Entstehung an das Ergebnis einer Kaskade von Interaktionen zwischen unseren genetischen Prädispositionen und den uns umgebenden Umweltbedingungen. Cinetext/Allstar

Cinetext/Allstar

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Interaktion (interaction): Die Auswirkung eines Faktors (z. B. der Umwelt) hängt von einem anderen Faktor ab (z. B. den Anlagen).

! Unsere Gene bewirken, wie Menschen auf uns reagieren und uns wiederum beeinflussen. Biologische Phänomene haben soziale Konsequenzen.

Die Frage, ob Gene oder Erfahrungen wichtiger sind, ist deshalb ähnlich wie die Frage, ob das Lenkrad oder der Motor wichtiger für das Autofahren ist. Lassen Sie uns also die Debatte »Anlage oder Umwelt« vergessen; wenden wir uns lieber der Frage zu, wie äußere Einflüsse vermittelt über die Erbanlagen wirken.

3.1.7 Molekulargenetik: Eine neue Herausforderung Ziel 9: Geben Sie im Einzelnen an, worin die potenziellen Möglichkeiten und Gefahren der molekulargenetischen Forschung bestehen.

Molekulargenetik (molecular genetics): Teilgebiet der Biologie, das sich mit der Untersuchung der molekularen Struktur und Funktion von Genen befasst.

Verhaltensgenetiker sind mittlerweile über die Frage »Beeinflussen Gene unser Verhalten?« hinweg. Die neue Herausforderung in der verhaltensgenetischen Forschung ist die »Bottom-up«Suche (konzeptgeleitete Suche) der Molekulargenetik, um die spezifischen Gene zu identifizieren, die letztlich das Verhalten beeinflussen. So stellte der Psychologe Plomin (1997) fest: »Der DNAZug verlässt den Bahnhof« – und die Psychologen springen schnell auf.

113 3.1 · Verhaltensgenetik: Die Vorhersage individueller Unterschiede

Wie wir bereits gesehen haben, werden beim Menschen die meisten Merkmale durch Gruppen von Genen beeinflusst. So wird zwar aus Zwillings- und Adoptionsstudien berichtet, dass sich die Vererbung auf das Körpergewicht auswirkt; doch es gibt nicht ein einzelnes »Übergewichtsgen«. Wahrscheinlicher ist, dass einige Gene Einfluss darauf ausüben, wie schnell der Magen dem Gehirn mitteilt: »Ich bin voll.« Andere Gene geben möglicherweise vor, wie viel Energie die Muskeln verbrauchen, wie viele Kalorien durch Herumzappeln verbrannt werden und wie wirkungsvoll der Körper zusätzliche Kalorien in Fett umwandelt (Vogel 1999). ! Das Ziel der molekularen Verhaltensgenetik besteht darin, einige der vielen Gene zu finden, die normale Merkmale des Menschen beeinflussen, wie etwa das Körpergewicht, die sexuelle Orientierung und die Extraversion.

Mit Hilfe genetischer Tests lässt sich jetzt bei mindestens einem Dutzend Krankheiten herausfinden, für welche Unterpopulation ein Erkrankungsrisiko besteht. In Laboren rund um die Welt, in denen Molekulargenetiker mit Psychologen zusammenarbeiten, geht die Suche weiter. Sie wollen Gene ausfindig machen, die für bestimmte Menschen ein Risiko für solche genetisch beeinflussten Störungen wie Lernstörungen, Depression, Schizophrenie, Aggressivität und Alkoholismus darstellen. In 7 Kap. 17 werden wir z. B. auf die weltweiten Forschungsanstrengungen zur Entdeckung von Genen hinweisen, auf die die erhöhte Anfälligkeit für die emotionalen Schwankungen der bipolaren Störung zurückgeht (früher als manisch-depressive Störung bekannt). Um herauszufinden, welche Gene daran beteiligt sind, suchen Molekulargenetiker Verbindungen zwischen spezifischen Genen oder Chromosomsegmenten und bestimmten Erkrankungen. Zuerst suchen sie Familien, in denen eine bestimmte Störung über mehrere Generationen hinweg bestanden hat. Anschließend entnehmen sie Blutproben oder Speichelabstriche sowohl bei betroffenen als auch bei nicht betroffenen Familienmitgliedern und untersuchen ihre DNA auf Unterschiede. »Das stärkste Potenzial der DNA«, so Plomin u. Crabbe (2000), »liegt in der Vorhersage eines Risikos, so dass entsprechende Schritte eingeleitet werden können, um bestimmte Probleme gar nicht erst entstehen zu lassen.« Mit Hilfe neuer, erschwinglicher DNA-Scan-Techniken (optisches Abtasten) werden die Mediziner bald in der Lage sein, werdenden Eltern mitzuteilen, wie stark die Gene ihres Fötus vom normalen Muster abweichen und welche Bedeutung das hat. Dieser Vorteil ist jedoch auch mit Risiken verbunden. Könnte es z. B. zu einer Diskriminierung führen, wenn man einen Fötus als »lernstörungsgefährdet« abstempelt? Die pränatale Diagnostik führt zu ethischen Problemen. Für werdende Eltern ist es bereits leicht möglich, das Geschlecht ihres Kindes zu erfahren. In China und Indien, wo Jungen einen hohen Stellenwert haben, hat der Test, mit dem die Geschlechtszugehörigkeit des Nachkommen untersucht wird, selektive Abtreibungen ermöglicht und zu Millionen (!) »fehlender Frauen« geführt. Eine neue Technik, mit deren Hilfe sich Spermien mit männlichen oder weiblichen Chromosomen sortieren lassen, könnte es künftigen Eltern ermöglichen, mit einigermaßen guten Erfolgschancen das Geschlecht eines Kindes bereits vor seiner Zeugung auszuwählen. Die Möglichkeiten zur Schaffung von »Designer-Babys« werden natürlich eingeschränkt durch die Tatsache, dass man viele Gene benötigt, um das mit komplexen Umwelten interagierende Verhalten zu beeinflussen. Aber nehmen wir einmal an, es wäre möglich: Sollten dann künftige Eltern ihre Eizelle und seine Samenzellen in einem gentechnischen Labor untersuchen lassen, bevor sie verschmelzen und ein Embryo entsteht? Bevor Sie sich spöttisch über diese Möglichkeit äußern, erinnern Sie sich daran, wie entsetzt die Menschen noch vor einem viertel Jahrhundert über die In-vitro-Fertilisation (»Zeugung im Reagenzglas«) waren. Heute ist es üblich, dass unfruchtbare Paare diese Behandlung verlangen. Vor einem halben Jahrhundert regten sich die Menschen über die Art von Kontrolle auf, die Aldous Huxley in seinem Roman »Brave New World« (»Schöne neue Welt«) ausmalt: Regierungsbeauftragte konstruieren eine Gesellschaft, indem sie Babys in Treibhäusern ausbrüten, die je nach ihrem genetischen Design Rollen wie kluge »Alphas« und schwachköpfige »Epsilons« zugewiesen bekommen. Wright (1999) meint, dass in der heutigen, einsichtigeren neuen Welt Millionen von Eltern, wenn sie die Wahl hätten, nach Gesundheit und vielleicht nach Denkvermögen, Schönheit und Sportlichkeit auswählen würden. ! Fortschritt ist ein zweischneidiges Schwert: Er führt sowohl zu hoffnungsvollen Möglichkeiten als auch zu schwierigen Problemen.

»Unsere Vorhersage lautet, dass die DNA die psychologische Forschung und Therapie schon sehr früh im 21. Jahrhundert revolutionieren wird.« Robert Plomin und John Crabbe (2000)

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Kapitel 3 · Anlage, Umwelt und die Vielfalt der Menschen

Indem wir bestimmte Persönlichkeitsmerkmale einfach durch Selektion verschwinden lassen, werden wir vielleicht verhindern, dass künftig Händels, van Goghs, Hölderlins und Nietzsches, Churchills und Lincolns, Tolstois und Dickinsons auf die Welt kommen – sie waren allesamt Menschen mit großen Problemen. Lernziele Abschnitt 3.1 Verhaltensgenetik: Vorhersage individueller Unterschiede

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Ziel 1: Geben Sie Beispiele an für Unterschiede und Ähnlichkeiten innerhalb der großen Familie Mensch. Wir Menschen unterscheiden uns auf vielerlei Weise voneinander und ähneln uns gleichzeitig. Wir unterscheiden uns in Bezug auf die Persönlichkeit, die Interessen, das Äußere, den Familienhintergrund, die Kultur und die Muttersprache. Zu unseren Ähnlichkeiten gehören die biologischen Anlagen und Bedürfnisse, der uns allen gemeinsame Aufbau des Gehirns, unsere Fähigkeit, Sprache zu verwenden, die Sinne, mit denen wir die Welt um uns herum erkunden und unser Sozialverhalten.

sam; deshalb sind sie genetisch einander nicht ähnlicher als alle anderen Geschwister. Wenn bei beiden eineiigen Zwillingen ein Merkmal vorhanden ist (wie etwa Extraversion), aber nur bei einem der zweieiigen Zwillinge haben die Forscher einen Hinweis darauf, dass Vererbung eine wichtige Rolle bei der Entwicklung dieses Merkmals spielen könnte. Solche Vergleiche sind eine reichhaltige Informationsquelle, wenn die Zwillinge nach der Geburt (oder kurz danach) voneinander getrennt wurden; denn dadurch können die Forscher klarer erkennen, welche Auswirkungen die Vererbung in unterschiedlichen Umwelten hat.

Ziel 2. Beschreiben Sie die Art von Fragen, für die sich die Verhaltensgenetiker interessieren. Verhaltensgenetiker interessieren sich vor allem für das Ausmaß, in dem die Genetik und die Umwelt unser Verhalten beeinflussen und dabei individuelle Unterschiede bewirken. In diesem Kontext umfasst Umwelt jeden äußeren nichtgenetischen Aspekt unseres Lebens, von der pränatalen Ernährung bis zu den uns momentan umgebenden Menschen und Dingen.

Ziel 5: Beschreiben Sie, wie Verhaltensgenetiker Adoptionsstudien nutzen, um die Auswirkungen von Anlage und Umwelt zu verstehen. Adoptierte Kinder bringen die genetischen Anlagen ihrer biologischen Eltern in eine Umwelt ein, die von ihren Adoptivfamilien geschaffen wird. Ähnlichkeiten zwischen dem Kind und den biologischen Verwandten sind ein Indikator dafür, welchen Einfluss die Vererbung hat. Ähnlichkeiten zwischen dem Kind und den Adoptivverwandten sind ein Hinweis darauf, welchen Einfluss die Umwelt hat. Adoptierte Kinder neigen dazu, ihren biologischen Eltern in ihrer Persönlichkeit zu ähneln (den für sie charakteristischen Mustern des Denkens, Fühlens und Handelns) und ihren Adoptiveltern in ihren Wertvorstellungen, Einstellungen, ihrem Benehmen, ihrem Glauben und ihren politischen Tendenzen.

Ziel 3: Definieren Sie, was ein Chromosom ist, ein Gen und ein Genom. Beschreiben Sie die Beziehungen dieser Begriffe zueinander. In jeder Zelle haben wir 46 Chromosomen – 23 von der Mutter und 23 vom Vater. Chromosomen sind fadenartige Strukturen, die aus DNA bestehen, ein spiralförmiges komplexes Molekül, das die Gene enthält. Unsere etwa 30.000 Gene sind DNA-Segmente, die, wenn sie angeschaltet werden, Schablonen für die Schaffung verschiedener Proteinmoleküle bilden, den Bausteinen für unsere körperliche Entwicklung und für die Entwicklung des Verhaltens. Ein Genom ist das genetische Profil eines Organismus – der vollständige Satz an Instruktionen zum Aufbau dieses Organismus; es besteht aus dem gesamten genetischen Material in seinen Chromosomen. Kombinationen von Variationen an bestimmten Genorten tragen dazu bei, die Unterschiede zwischen uns festzulegen. Die meisten Merkmale des Menschen werden von vielen zusammenwirkenden Genen beeinflusst und kommen nicht durch den Einfluss eines einzelnen allein agierenden Gens zustande. Ziel 4: Erklären Sie, wie sich eineiige und zweieiige Zwillinge unterscheiden, und geben Sie die Methoden an, die die Verhaltensgenetiker verwenden, um die Auswirkungen von Anlage und Umwelt zu verstehen. Eineinige Zwillinge entwickeln sich aus einer Eizelle, die sich nach der Befruchtung in zwei Zellen teilt. Sie haben den gleichen Satz an Genen gemeinsam, eine ähnliche pränatale Umgebung und gewöhnlich dieselbe Familie und Kultur nach der Geburt. Zweieiige Zwillinge entwickeln sich aus voneinander getrennten befruchteten Eizellen und haben eine Familie sowie eine soziokulturelle Umgebung nach der Geburt gemein-

Ziel 6: Erörtern Sie, dass die relative Stabilität unseres Temperaments zeigt, wie stark der Einfluss der Vererbung auf die Entwicklung ist. Das Temperament, also das charakteristische Niveau und die Intensität der emotionalen Reaktionsbereitschaft, kommt schon bald nach der Geburt zum Ausdruck und bleibt gewöhnlich bis ins Jugendalter relativ unverändert. Dies deutet darauf hin, dass bei der Entwicklung des Temperaments die Anlage eine viel größere Rolle spielt als die Umwelt. Ziel 7: Erörtern Sie, wie sich das Konzept der Erblichkeit auf Individuen und Gruppen anwenden lässt, und erklären Sie, was damit gemeint ist, wenn wir sagen, dass Gene selbstregulierend sind. Erblichkeit beschreibt das Ausmaß, in dem die Unterschiedlichkeit der Individuen den Genen zugeschrieben werden kann. Dies ist nur auf Unterschiede zwischen Individuen anwendbar – nicht auf eine einzelne Person. In einem imaginären Experiment, mit dem sich identische Umwelten schaffen ließen, wären alle beobachteten Unterschiede zwischen Menschen (z. B. in Bezug auf das Gewicht) das Ergebnis von Vererbung, und in Bezug auf dieses Merkmal wäre die Erblichkeit hundertprozentig. Vererbbare individuelle Unterschiede in Bezug auf Merkmale wie Größe oder Intelligenz müssen nicht notwendigerweise eine Erklärung für Gruppenunterschiede sein. Gene erklären vor allem, warum manche größer sind als andere, aber nicht, warum die Menschen heutzutage 6

115 3.2 · Evolutionspsychologie: Wie man die Natur des Menschen versteht

größer sind als vor einem Jahrhundert. Wenn man sagt, Gene seien selbstregulierend, bedeutet dies, dass die Gene keine Baupläne sind; sie können auf unterschiedliche Umwelten unterschiedlich reagieren. Ziel 8: Geben Sie ein Beispiel an für ein genetisch beeinflusstes Persönlichkeitsmerkmal, das bei anderen Reaktionen hervorrufen kann, und nennen Sie ein weiteres Beispiel einer Umwelt, die eine Genaktivität auslösen kann. Einige Merkmale des Menschen (wie etwa zwei Augen zu haben) entwickeln sich in jeder Umwelt, aber viele wichtige psychologische Merkmal ergeben sich aus der Interaktion zwischen unseren genetischen Prädispositionen und der uns umgebenden Umwelt. Beispielsweise kann eine stressreiche Umwelt Gene zur Aktivität bringen, die die Produktion von Neurotransmittern beeinflussen, die ihrerseits zu einer Depression beitragen. Und eine genetische Prädisposition, die ein Kind dazu bringt, unruhig und hyperaktiv zu sein, kann bei Eltern und Lehrern Ärgerreaktionen auslösen.

3.2

Ziel 9: Geben Sie im Einzelnen an, worin die potenziellen Möglichkeiten und Gefahren der molekulargenetischen Forschung bestehen. Molekulargenetiker untersuchen die molekulare Struktur der Gene und ihre Funktion; dabei suchen sie nach jenen Genen, die Verhaltensweisen beeinflussen. Psychologen und Molekulargenetiker arbeiten zusammen bei der Suche nach bestimmten Genen – oder häufiger Gruppen von Genen –, durch die Menschen anfällig für bestimmte Krankheiten sind. Das Wissen über derartige Zusammenhänge wird es Medizinern möglich machen, werdende Eltern darüber zu informieren, dass ihr Fötus von den normalen Mustern abweicht. Man wird über die ethischen Fragen sprechen müssen, die mit solchen Wahlmöglichkeiten verbunden sind, wenn sich Eltern dafür entscheiden können, ein Kind abzutreiben, das nicht mit ihrem Bild von einem idealen Kind übereinstimmt. > Denken Sie weiter: Würden Sie genetische Tests an Ihrem ungeborenen Kind in der Gebärmutter durchführen lassen? Was täten Sie, wenn Sie wüssten, Ihr Kind wäre zu einer Hämophilie (Bluterkrankheit), einer Schizophrenie oder einer Lernstörung verdammt? Wäre es von Vorteil oder Nachteil für die Gesellschaft, wenn solche Kinder abgetrieben würden?

Evolutionspsychologie: Wie man die Natur des Menschen versteht

Ziel 10: Beschreiben Sie den Teilbereich der Psychologie, für den sich die Evolutionspsychologen interessieren.

Bei der Molekulargenetik geht es um eine hier und jetzt angewendete Methode, um Verhaltensweisen und Merkmale zu identifizieren, die Individuen zu etwas Charakteristischem machen. Die Vertreter der Evolutionspsychologie konzentrieren sich meist darauf, was uns Menschen einander so ähnlich macht. Um zu verstehen, wie diese Prinzipien wirken, lassen Sie uns zunächst auf ein einfaches Beispiel eingehen: auf Füchse.

3.2.1 Natürliche Selektion Ziel 11: Erklären Sie das Prinzip der natürlichen Selektion, und geben Sie einige mögliche Auswirkungen der natürlichen Selektion auf die Entwicklung der Merkmale des Menschen an.

Ein Fuchs ist ein unbändiges und misstrauisches Tier. Wenn Sie einen Fuchs einfangen und versuchen, sich mit ihm anzufreunden, rate ich Ihnen, auf der Hut zu sein. Stecken Sie Ihre Hand in den Käfig und der scheue Fuchs kann nicht fliehen, so wird er wahrscheinlich Ihre Finger verspeisen. Dmitri Belyaew vom Institut für Zytologie und Genetik der Russischen Akademie der Wissenschaften fragte sich, wie unsere Vorfahren es bewerkstelligt haben, die Hunde, die von genauso wilden Wölfen abstammen, zu zähmen. Er überlegte, ob er es schaffen würde, in einer vergleichsweise kurzen Zeitspanne ein ähnliches Kunststück zu vollbringen, und einen furchtsamen Fuchs in einen kontaktfreudigen Fuchs verwandeln könnte. Dieses Ziel vor Augen begann Belyaew, mit 30 männlichen und 100 weiblichen Füchsen zu arbeiten. Von ihren Nachkommen wählte er die zahmsten 5% der männlichen und die zahmsten 20% der weiblichen Füchse aus und paarte sie (er erforschte die Zähmbarkeit durch die Reaktion der Füchse auf Fütterungs- und Berührungsversuche wie Anfassen und Stoßen). Über 30 Fuchsgenerationen hinweg wiederholten Belyaew und seine Mitarbeiterin Lyudmilla Trut diese einfache

Evolutionspsychologie (evolutionary psychology): die Untersuchung der Evolution des Verhaltens und des Denkens mit Hilfe der Prinzipien der natürlichen Selektion.

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Kapitel 3 · Anlage, Umwelt und die Vielfalt der Menschen

L. N. Trut, American Scientist (1999) 87: 160–169

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»Zahm wie ein Fuchs« Nach 40 Jahren Experimenten mit der Aufzucht von Füchsen sind die meisten Nachkommen treu, anhänglich und dazu fähig, starke Bindungen an den Menschen aufzubauen

Natürliche Selektion (natural selection): Prinzip, dass von den unterschiedlichen vererbten Merkmalen eher diejenigen an nachfolgende Generationen weitergegeben werden, die zu vermehrter Reproduktion und zum Überleben führen. Mutation (mutation): Zufallsfehler bei der Genreplikation, der zu einer Veränderung führt.

Vorgehensweise. Heute, mehr als 40 Jahre und 45.000 Füchse später, haben sie eine neue Aufzucht von Füchsen, die nach Trut (1999) »sanftmütig und kontaktfreudig sind und unzweifelhaft als gezähmt gelten können. … Da das aggressive Verhalten des wilden Rudels (Vorfahren) vollständig verschwand, verwandelte sich das wilde Tier vor unseren Augen in ein zahmes Haustier.« Sie sind derart zugänglich und versessen auf menschliche Kontakte – sie lieben es zu winseln, um Aufmerksamkeit zu erregen, und lecken Menschen ab wie anhängliche Katzen –, dass das mittellose Institut dazu überging, seine Füchse als Haustiere zu vermarkten, um sich zusätzliche finanzielle Mittel zu erschließen. Wie Belyaew und Trut zeigen konnten, können bestimmte Merkmale selektiert werden und nach einer gewissen Zeit überwiegen, indem man einem einzelnen Lebewesen oder einer Art einen Vorteil bei der Fortpflanzung einräumt. So können wilde Wölfe über viele Generationen hinweg zu gezähmten Haushunden werden und misstrauische Füchse anhängliche Nachfahren haben. Plomin et al. (1997) erinnern uns daran, dass auch Hunde für spezielle Aufgaben gezüchtet wurden: z. B. Hirtenhunde zum Hüten der Schaf- oder Rinderherden, Apportierhunde, Such- und Spürhunde für die Jagd. Psychologen züchteten ebenfalls Hunde, Mäuse und Ratten, deren Gene sie dazu prädisponierten, gelassen oder schnell zu reagieren und schnelle oder langsame Lerner zu sein. Im Leben außerhalb des Labors verschafft derselbe Selektionsprozess bestimmten Lebewesen einen Vorteil gegenüber anderen. Vor langer Zeit war tief unten im Meer ein mutierter Hai mit einem schärferen Geruchssinn in der Lage, mehr Beute zu finden, was ihm ein längeres Leben und mehr Nachwuchs ermöglichte. Da die Natur über unzählige Generationen hinweg immer wieder die Haie begünstigte, die am besten an ihre ökologische Nische angepasst waren, entwickelte sich ein ausgesprochen effektives Raubtier. Während Ihrer Lebenszeit hat sich ein viel kleineres Raubtier entwickelt: Bakterien, die im Krankenhaus eine Resistenz gegen Antibiotika entwickelt haben, vermehrten sich schneller, während die weniger resistenten Bakterien ausstarben. Mit der Zeit war die natürliche Folge, dass viele Krankenhäuser unter einer Plage antibiotikaresistenter Bakterien zu leiden haben. Kann die natürliche Selektion auch die menschliche Entwicklung erklären? Die Natur hat tatsächlich vorteilhafte Variationen unter den Mutationen (Zufallsfehler in der Genkopie) und unter den mit jeder Empfängnis entstehenden neuen Genkombinationen selektiert. Neigen wir, wie zuvor vermutet, zur Furcht vor Schlangen und Höhen, da unsere Vorfahren wegen ebendieser Furcht mit größerer Wahrscheinlichkeit überlebt und ihre Gene weiterverbreitet haben? Vielleicht. Aber die spezifischen genetischen Anlagen, die Ameisen zum Bau eines Hügels oder Hunde zum Schnüffeln prädisponieren, sind wie eine straff geführte Leine: Sie geben einen engen Korridor für ein bestimmtes Verhalten vor. Anders beim Menschen: Unsere Gene, die im Lauf der Geschichte unserer Vorfahren selektiert wurden, sind weitaus mehr als eine lange Leine, an der wir uns bewegen: Sie statten uns mit einer großen Lernfähigkeit und somit einer Fähigkeit aus, uns an ein Leben unter verschiedenen Umweltbedingungen anzupassen – von der Tundra bis hin zum Dschungel. Sowohl die Gene als auch Erfahrungen beeinflussen die Nervenverbindungen in unserem Gehirn. ! Evolutionspsychologen betonen, dass unsere Flexibilität bei der Anpassung der Reaktionen auf verschiedene Umweltbedingungen zu unserer Leistungsfähigkeit beiträgt – und somit zu unserer Überlebens- und Reproduktionsfähigkeit.

Insgesamt betrachtet sind die Lebensweisen über alle Kulturen hinweg dennoch verblüffend ähnlich. Schauen Sie sich im internationalen Ankunftsbereich des Frankfurter Flughafens um, wo Passagiere aus der ganzen Welt eintreffen und von ihren freudig erregten Angehörigen erwartet werden. Sie werden sehen, dass die Gesichter aller Großmütter aus Jamaika, aller chinesischen Kinder und aller heimkehrenden Briten genauso vor Freude strahlen. Obwohl es eher die Unterschiede zwischen Menschen sind, die unsere Aufmerksamkeit auf sich ziehen, müssen auch die großen Ähnlichkeiten erklärt werden. Der Evolutionspsychologe Steven Pinker (2002, S. 73) glaubt, dass die gemeinsamen Merkmale der Menschen »durch die natürliche Selektion geformt wurden, die im Laufe der Evolution des Menschen wirksam war«. Dann ist es kein Wunder, dass unsere Emotionen, Triebe und Denkfähigkeiten »über die Kulturen hinweg einer gemeinsamen Logik unterliegen«.

117 3.2 · Evolutionspsychologie: Wie man die Natur des Menschen versteht

Diese Ähnlichkeiten in Bezug auf Verhalten und Biologie sind das Resultat unseres gemeinsamen menschlichen Genoms. Nicht mehr als 5% der genetischen Unterschiede zwischen Menschen gehen auf Unterschiede zwischen den Gruppen in der Population zurück. Mehr als 95% der genetischen Variation tritt innerhalb einer Population auf (Rosenberg et al. 2002). Der spezifische genetische Unterschied zwischen zwei isländischen Dorfbewohnern oder zwischen zwei Kenianern ist viel größer als der durchschnittliche Unterschied zwischen diesen beiden Gruppen. Der Genetiker Lewontin (1982) wies deshalb darauf hin, dass, selbst wenn nach einer weltweiten Katastrophe nur Isländer und Kenianer überleben würden, die menschliche Spezies lediglich eine im Grunde »belanglose Reduktion« ihrer genetischen Vielfalt hinnehmen müsste. Warum sind wir einander so ähnlich? In den Anfängen der menschlichen Geschichte waren unsere Vorfahren mit bestimmten Fragen konfrontiert: Wer ist mein Verbündeter, wer mein Gegner? Welche Nahrung soll ich zu mir nehmen? Mit wem soll ich Nachkommen zeugen? Manche Individuen beantworteten diese Fragen mit mehr Erfolg als andere. Beispielsweise prädisponiert manche Frauen das Erlebnis, dass ihnen in den wichtigen ersten drei Monaten der Schwangerschaft schlecht wird, dazu, bestimmte bittere, intensiv schmeckende und neuartige Nahrungsmittel zu meiden. Die Meidung dieses Essens hat einen Sinn fürs Überleben, da es sich gerade um jene Nahrungsmittel handelt, die am häufigsten Gift für die embryonale Entwicklung sind (Schmitt u. Pilcher 2004). Diejenigen, die es schafften, gesunde anstelle von giftiger Nahrung zu sich nehmen, überlebten und konnten ihre Gene an spätere Generationen weitergeben; diejenigen, die Leoparden für nette Streicheltiere hielten, überlebten oft nicht. Ähnlich erfolgreich waren jene, die sich einen Partner suchten, mit dem sie sich fortpflanzen und ernähren konnten. Über Generationen hinweg gingen gewöhnlich die Gene der Individuen, die diese Disposition nicht hatten, dem menschlichen Genpool verloren. Als sich weitere Mutationen ereigneten, wurden jene Gene selektiert, die einen Vorteil für die Anpassung mit sich brachten. Nach den Aussagen der Evolutionspsychologen ergaben sich daraus Verhaltenstendenzen und ein Denk- und Lernvermögen, das schon unsere Vorfahren im Steinzeitalter zum Überleben, zur Fortpflanzung und damit zur Weitergabe ihrer Gene an zukünftige Generationen befähigte. Die Natur entschied sich für die überlebensfähigsten Anpassungsmuster, die auch die Unterschiedlichkeit des Menschen berücksichtigen und es somit Bewohnern des Äquators und der Antarktis ermöglichen, in ihren unterschiedlichen Umwelten zu gedeihen. ! Als Erbträger unseres prähistorischen genetischen Vermächtnisses sind wir zu Verhaltensweisen prädestiniert, die bei unseren Vorfahren die Fähigkeit förderten, zu überleben und sich fortzupflanzen.

Wir lieben den Geschmack von Süßem und Fettem, Dinge, die einst schwer zu bekommen waren, aber unsere Vorfahren dazu befähigten, in Hungersnöten zu überleben. Da Hungersnöte in westlichen Kulturen selten auftreten und Süßigkeiten und Fette uns ständig aus den Geschäftsregalen, Imbisstheken und Verkaufsautomaten anlachen, entbehrt es nicht einer gewissen Ironie, dass Dickleibigkeit bei uns zu einem immer größeren Problem geworden ist. Unsere natürlichen Dispositionen, die tief in unserer Geschichte verwurzelt sind, passen einfach nicht zu unserer heutigen Umwelt mit all ihrem Fastfood (Colarelli u. Dettman 2003). In gewisser Weise sind wir biologisch für eine Welt konzipiert, die es gar nicht mehr gibt. Seit langem ist die Evolution als organisierendes Prinzip der Biologie anerkannt. Jared Diamond (2001) merkt an, dass »praktisch kein zeitgenössischer Wissenschaftler glaubt, Darwin habe sich grundlegend geirrt«. Darwins Theorie lebt weiter als Organisationsprinzip für die Biologie und erst vor kurzem durch die »Zweite Darwinsche Revolution« für die Psychologie. Charles Darwin (1859) nahm die Anwendung der Evolutionstheorien auf die Psychologie vorweg: In der Zusammenfassung seines Werkes »The Origin of Species« (dtsch. »Der Ursprung der Arten«) sah er »offene Felder für weitaus wichtigere Forschungen voraus. Die Psychologie wird auf einer neuen Grundlage basieren« (S. 346). Und Darwin hatte Recht: Evolutionspsychologen interessieren sich dabei heute beispielsweise für folgende Fragen: 4 Warum beginnen Kinder zu fremdeln, sobald sie sich fortbewegen können? 4 Warum ist es bei biologischen Vätern sehr viel unwahrscheinlicher, dass sie ihre Kinder missbrauchen und ermorden, als bei nicht verwandten Partnern, die mit den Kindern zusammenleben?

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Kapitel 3 · Anlage, Umwelt und die Vielfalt der Menschen

4 Warum kümmern sich die meisten Eltern so hingebungsvoll um ihre Kinder? 4 Warum haben so viel mehr Menschen Angst vor Spinnen und Schlangen als vor Waffen und Elektrizität, die eigentlich gefährlicher sind? 4 In welcher Hinsicht ähneln sich Männer und Frauen? Wie und warum unterscheiden sich Männer von Frauen? Warum deuten Männer z. B. Freundlichkeit im Vergleich zu Frauen schneller als sexuelles Interesse, initiieren eher sexuelle Beziehungen und geraten schneller vor Eifersucht in Wut, wenn ihre Partnerin sexuelle Beziehungen zu einer anderen Person hat? Lassen Sie uns eine kurze Pause machen und dieser letzten Frage nachgehen, um zu sehen, wie Evolutionspsychologen denken und argumentieren: Wie und warum unterscheiden sich aus der Sicht der Evolutionspsychologen die weibliche und die männliche Sexualität?

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3.2.2 Evolutionstheoretische Erklärung der menschlichen Sexualität Sozial beeinflusste Geschlechtsunterschiede in Bezug auf die Sexualität Ziel 12: Nennen Sie einige sozial beeinflusste Geschlechtsunterschiede in Bezug auf die Sexualität.

Geschlecht (sex bzw. gender): in der Psychologie Bezeichnung für die biologisch (sex) oder sozial (gender) beeinflussten Charakteristika, die Menschen als männlich oder weiblich definieren.

»Das heißt nicht, dass Schwule ein übersteigertes sexuelles Interesse haben; sie sind einfach nur Männer, deren männliche Bedürfnisse mit anderen männlichen Bedürfnissen statt mit weiblichen Bedürfnissen zusammentreffen.« Steven Pinker, »Wie das Denken im Kopf entsteht« (1998, S. 587)

Angesichts vieler ähnlicher Herausforderungen in ihrer Geschichte haben Männer und Frauen ähnliche Vorgehensweisen entwickelt, um damit umzugehen. Ob wir nun männlich oder weiblich sind, wir essen das Gleiche, haben Angst vor den gleichen Höhen, meiden dieselben Raubtiere, nehmen ähnlich wahr, lernen auf ähnliche Weise und erinnern uns ähnlich. Die Evolutionspsychologen sagen, dass wir uns nur in jenen Bereichen unterscheiden, in denen wir mit unterschiedlichen Voraussetzungen zur Anpassung konfrontiert waren – am offensichtlichsten bei Verhaltensweisen, die etwas mit Fortpflanzung zu tun haben. Und da unterscheiden wir uns wirklich, berichten Baumeister et al. (2001). Die Autoren gehen der Frage nach, ob Frauen oder Männer ein stärkeres sexuelles Verlangen haben. Wer von beiden wünscht sich häufiger Sex, denkt mehr daran, masturbiert häufiger, ergreift eher die Initiative, um sexuelle Kontakte zu haben, und bringt mehr Opfer, um Sex zu bekommen? Die Antworten, von denen sie berichten, lauten immer: »die Männer«. In der Tat sind sich Segal et al. (1990, S. 244) darin einig, dass Männer – bis auf wenige Ausnahmen – mit höherer Wahrscheinlichkeit als Frauen sexuelle Aktivitäten initiieren. Dies ist einer der größten Unterschiede zwischen den Geschlechtern – doch es gibt noch mehr: 4 In einer 2004 durchgeführten Befragung von 289.452 amerikanischen Studienanfängern stimmten 60% der Männer und nur 35% der Frauen der Aussage zu, »dass zwei Menschen, die sich ehrlich zueinander hingezogen fühlen, miteinander schlafen sollten, selbst wenn sie sich erst sehr kurz kennen« (Sax et al. 2004). Bei einer weiteren Befragung von 4901 Australiern (Bailey et al. 2000) berichteten 48% der Männer und 12% der Frauen: »Ich kann mir vorstellen, Gelegenheitssex mit verschiedenen Partnern zu genießen.« 4 In einer sorgfältig angelegten Befragung von 3432 US-Bürgern im Alter zwischen 18 und 59 Jahren nannten 48% der Frauen – im Gegensatz zu nur 25% der Männer – Zuneigung als Grund für ihren ersten Geschlechtsverkehr. Doch wie oft denken beide an Sex? 19% der Frauen und 54% der Männer bekannten: »jeden Tag« oder »mehrmals am Tag« (Laumann et al. 1994). 4 In einer in Deutschland im Auftrag der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (2001) von TNS EMNID wiederholt durchgeführten Befragung zum Sexualverhalten von Jugendlichen wurden fast 5000 Mädchen und Jungen im Alter von 14–17 Jahren befragt. Es kamen Geschlechtsunterschiede dabei in verschiedenen Bereichen zum Vorschein. So legen Mädchen (66%) im Vergleich zu Jungen (48%) nach wie vor größeren Wert darauf, den ersten Geschlechtsverkehr nur mit jemandem zu haben, mit dem sie fest befreundet sind. Und nur 25% der 15-jährigen Mädchen, aber 44% der gleichaltrigen Jungen geben an, dass der erste Geschlechtsverkehr »völlig ungeplant und überraschend« kam. 4 Derartige Geschlechtsunterschiede sind sowohl bei hetero- als auch bei homosexuellen Menschen zu finden. Im Gegensatz zu lesbischen Frauen berichten schwule Männer über ein stärkeres Interesse an reinem Sex, ein vermehrtes Ansprechen auf visuelle sexuelle Stimuli und eine größere Bedeutung der körperlichen Attraktivität des Partners (Bailey et al. 1994). Bei

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amerikanischen Lesben ist es doppelt so wahrscheinlich (47%), dass sie in einer Partnerschaft leben, wie bei schwulen Männern (24%) (Doyle 2005). C. Styrsky

! Geschlechtsunterschiede in den Einstellungen gehen auch mit Verhaltensunterschieden einher.

So haben Männer mit traditionellen männlichen Einstellungen am häufigsten impulsiven Gelegenheitssex (Pleck et al. 1993). Clark u. Hatfield (1989) beobachteten diesen auffallenden Geschlechtsunterschied, als sie 1978 einige durchschnittlich aussehende männliche und weibliche studentische Hilfskräfte zu einem Spaziergang über den Campus der Florida State University schickten. Wer eine/n Angehörige/n des anderen Geschlechts sah, musste zu ihm oder ihr hingehen und sagen: »Du bist mir aufgefallen auf dem Campus, und ich finde dich sehr attraktiv. Würdest du heute Nacht mit mir schlafen?« Alle Frauen lehnten ab, einige davon waren offensichtlich irritiert (»Was ist los mit dir, du Widerling? Lass’ mich bloß in Ruhe«). Doch 75% der Männer stimmten bereitwillig zu und antworteten oft mit solchen Kommentaren wie »Warum müssen wir bis heute Nacht warten?« Clark u. Hatfield waren erstaunt über diese Ergebnisse und wiederholten ihre Studie 1982 und noch 2-mal in den späten 80er Jahren, als die Aids-Problematik in den USA allgemein bekannt war (Clark 1990). Jedes Mal willigte keine einzige Frau, wohl aber die Hälfte oder mehr als die Hälfte der Männer ein, mit einer/m Unbekannten ins Bett zu gehen. Es zeigte sich auch, dass Männer herzliche Reaktionen schneller als sexuelle Avancen deuten. In zahlreichen Studien attribuieren Männer Freundlichkeit häufiger auf sexuelles Interesse als Frauen (Abbey 1978; Johnson et al. 1991). Diese Fehlattribution der von Frauen ausgehenden Herzlichkeit als Anmache trägt zur Erklärung der größeren sexuellen Selbstsicherheit bei Männern bei, entschuldigt sie aber nicht (Kenrick u. Trost 1987). Die negativen Konsequenzen können von sexueller Belästigung bis hin zur Vergewaltigung bei einer Verabredung reichen. Ohhhh no! Das wird wieder nix…

Natürliche Selektion und Vorlieben bei der Partnerwahl Ziel 13: Geben Sie evolutionstheoretische Erklärungen für Geschlechtsunterschiede bei der Sexualität.

Biologen erklären das Paarungsverhalten zahlreicher Arten mit der natürlichen Selektion. Diese dient auch den Evolutionspsychologen als Erklärung dafür, dass Frauen beim Sex eher Beziehungsaspekte wichtig finden, während bei Männern die sexuelle Entspannung im Vordergrund steht. In der Zeit, in der eine Frau normalerweise ein einziges Kind austrägt und stillt, kann ein Mann seine Gene über viele andere Frauen weiterverbreiten. Unser natürliches Verlangen ist die Methode, wie sich unsere Gene reproduzieren. Bereits bei unseren Vorfahren gaben Frauen ihre Gene durch kluge Partnerwahl an zukünftige Generationen weiter. Männer dagegen suchten sich viele Partnerinnen. »Menschen sind lebende Fossilien – eine Ansammlung von Mechanismen, die durch früheren Selektionsdruck entstanden sind«, so der Evolutionspsychologe Buss (1995). Was finden heterosexuelle Männer und Frauen denn nun attraktiv am anderen Geschlecht? Einige Aspekte der Attraktivität scheinen unabhängig von Zeit und Ort zu sein. In 37 Kulturen – von Australien bis Sambia – bewerten Männer Frauen mit einer jugendlichen Ausstrahlung als attraktiver. Nach Ansicht der Evolutionspsychologen hatten Männer, wenn sie sich deshalb zu gesunden Frauen hingezogen fühlten, die fruchtbar wirkten und mit ihrer weichen Haut und jugendlichen Figur viele kinderreiche Jahre versprachen, eine höhere Wahrscheinlichkeit, ihre Gene an zukünftige Generationen weiterzugeben. Ganz unabhängig von kulturell unterschiedlichen Vorstellungen über das Idealgewicht fühlen sich Männer überall auf der Welt am meisten von Frauen angezogen, deren Taille gut ein Drittel schmaler ist als ihre Hüften; denn dies wird als Zeichen künftiger Fruchtbarkeit interpretiert (Singh 1993). Auch Frauen fühlen sich zu gesund aussehenden Männern hingezogen, wenn auch insbesondere zu jenen, die reif, dominant, kühn und wohlhabend aussehen (Singh 1995). Nach Ansicht der Evolutionspsychologen stehen solche Attribute für die Fähigkeit zu Versorgung und Schutz (Buss 1996, 2000; Geary 1998). Ca. 150 Studien über Geschlecht und Risikoverhalten demonstrierten, dass Männer in 14 von 16 Bereichen (einschließlich intellektuellem Risikoverhalten, physischen Herausforderungen, Rauchen und Sex) eher dazu bereit sind, ein Risiko einzugehen (Byrnes et al. 1999). Wenn es um den Aktienmarkt geht, neigen sie auch dazu, optimistischer zu sein und offensiver mit Aktien zu handeln (Jacobe 2003; Myers 2002). Als Erklärung dafür, warum 16–24 Jahre

Der berühmte kanadische Bulle Starbuck Holstein zeugte mehr als 200.000 Nachkommen.

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. Abb. 3.4. Weltweite Vorlieben bei der Partnerwahl Wenn Männer stärker als Frauen attraktive körperliche Merkmale, die auf Jugend und Gesundheit – und auf ein Fortpflanzungspotenzial – hindeuten, und wenn Frauen stärker als Männer Partner mit finanziellen Rücklagen und einem höheren sozialem Status bevorzugen, können wir das der natürlichen Selektion zurechnen (oder ihr die Schuld daran geben). Die roten Punkte geben an, in welchen 37 Kulturen die Untersuchung durchgeführt wurde (Buss 1994)

With kind permission of American Scientist.

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Kapitel 3 · Anlage, Umwelt und die Vielfalt der Menschen

alte Männer mehr Wagemut zeigen und deshalb nahezu mit 3-mal höherer Wahrscheinlichkeit bei Autounfällen ums Leben kommen als junge Frauen, spekulierte Nell (2002), dass sich »die jungen Männer genau so verrückt aufführen wie der Pfau und der Rehbock, die beim Nahen des Löwen herumtänzeln und sagen: ›Schau mich an! Ich verfüge über so viel Kraft und Fähigkeiten, dass ich furchtlos sein kann – ich werde überleben, ganz gleich, wie viel ich trinke oder wie schnell ich fahre‹«. Evolutionspsychologen merken an, dass Frauen Partner bevorzugen, die ein Potenzial für eine lange Partnerschaft haben und sich für ihre gemeinsamen Nachkommen einsetzen (Gangestad u. Simpson 2000). Sie wollen lieber einen Mann haben, der zu Hause bleibt, als einen, der ständig ausgeht. Langzeitpartner tragen zum Schutz und zur Versorgung bei, wodurch die Kinder größere Überlebensaussichten haben. Letztlich müssen Männer einen genetischen Kompromiss finden zwischen dem Wunsch nach einer weiten Verbreitung ihrer Gene und der Bereitschaft, die Elternrolle zu übernehmen. ! Nach Meinung der Evolutionspsychologen gilt folgendes Prinzip: Die Natur wählt Verhaltensweisen aus, die es wahrscheinlicher werden lassen, dass sich die eigenen Gene künftig ausbreiten (. Abb. 3.4).

Als mobile Gentransportmaschinen sind wir dafür ausgestattet, solchen Verhaltensweisen den Vorzug zu geben, die auch für unsere Vorfahren innerhalb ihrer Umwelt nützlich waren. Sie waren dazu prädisponiert, so zu handeln, dass sie Enkel und Urenkel bekommen; wären sie es nicht gewesen, dann gäbe es uns gar nicht. Als Träger ihres genetischen Erbes haben wir ähnliche Prädispositionen.

3.2.3 Kritik am evolutionspsychologischen Ansatz Ziel 14: Fassen Sie die Kritik an evolutionspsychologischen Erklärungen menschlicher Verhaltensweisen zusammen, und stellen Sie die Antworten der Evolutionspsychologen auf diese Kritik dar.

Es gibt auch kritische Stimmen zur Evolutionspsychologie, wobei die natürliche Selektion von Persönlichkeitsmerkmalen und ihr Einfluss auf das Überleben der Gene nicht in Frage gestellt werden. ! Es wird kritisiert, dass von einem bestimmten Effekt (z. B. dem unterschiedlichen Verhalten der Geschlechter in der Sexualität) im Nachhinein auf eine Erklärung geschlossen wird.

Stellen Sie sich vor, wir machen eine ganz andere Beobachtung und schließen zurück. Wenn sich alle Männer ihren Partnerinnen gegenüber gleichermaßen loyal verhielten, müssten wir dann

121 3.2 · Evolutionspsychologie: Wie man die Natur des Menschen versteht

nicht schlussfolgern, dass die Kinder von engagierten, sie umsorgenden Vätern häufiger überlebt und deren Gene weitergegeben haben? Täten Männer nicht besser daran, wenn sie mit nur einer Frau zusammen wären, um die ansonsten geringe Anzahl an Befruchtungen zu erhöhen und die Frau von Avancen konkurrierender Männer abzuschirmen? Könnte nicht eine ritualisierte Verbindung wie die Ehe die Frauen auch vor männlichen Belästigungen bewahren? Tatsächlich werden solche Argumente als evolutionstheoretische Erklärung der menschlichen Vorliebe für monogame Beziehungen herangezogen. Nach Miller et al. (2002) sind die Eigenschaften, die Männer und Frauen bei einem Partner suchen, »bemerkenswert ähnlich«, obwohl der Wunsch nach zahlreichen Sexualpartnern bei Männern stärker ausgeprägt ist als bei Frauen. Doch wie kommt es dann, dass sich bei Arten wie den gewöhnlichen Bonobo-Schimpansen die leidenschaftlichen Weibchen mit zahlreichen Männchen paaren? Führt dieses Verhalten dazu, dass die Männchen, die nicht wissen, wer wirklich der Vater der Nachkommen ist, diese gemeinsam tolerieren und beschützen? Man kommt kaum über Erklärungen hinaus, die auf Rückschlüssen basieren, und mit denen man meist auf der sicheren Seite ist. Wie der Paläontologe Stephen Jay Gould (1997) anmerkt, handelt es sich eher »um Spekulation [und] Raterei, wie sie auf Partys üblich ist«. Einige machen sich Sorgen über die sozialen Folgen der Evolutionspsychologie. Wird hier ein genetischer Determinismus propagiert, der progressive Bestrebungen zur Veränderung der Gesellschaft im Kern trifft (Rose 1999)? Ist diese Lehre die Totengräberin für ethische Überlegungen und moralische Verantwortlichkeit? Könnte sie dazu genutzt werden, um zu rechtfertigen, dass »Männer mit einem hohen Status eine Reihe junger, fruchtbarer Frauen heiraten« (Looy 2001)? Ein Großteil dessen, was wir sind, ist nicht in uns angelegt – und das bestreiten die Evolutionspsychologen auch gar nicht. So unterliegen die Definitionen der Geschlechtsrollen kulturellen Erwartungen, und auch die Ansichten über Attraktivität sind je nach Ort und Zeit variabel. Das üppige Marilyn-Monroe-Ideal der 50er Jahre wurde in den folgenden Jahrzehnten durch das Bild der schlanken, sportlichen Frau ersetzt. Darüber hinaus könnte man vermuten, dass Männer, die dazu erzogen wurden, lebenslangen Verpflichtungen einen hohen Stellenwert zu geben, Sexualbeziehungen mit nur einer Partnerin pflegen. Im Unterschied dazu werden Frauen, deren Sozialisation Gelegenheitssex nicht mit einem Tabu belegte, möglicherweise sexuelle Beziehungen mit vielen Partnern eingehen. In gewisser Weise sind Geschlechtsrollenunterschiede bei den Vorlieben für einen Partner kulturübergreifend. Aber auch hier sind derartige Unterschiede teilweise durch die sozialen und familiären Strukturen in einer Kultur mitbedingt. Wenn Eagly u. Wood (1999; Wood u. Eagly 2002) in ihren Studien auf eine Kultur mit ungleichen Geschlechterrollen stießen – in der Männer die Versorgerrolle und Frauen die Rolle am Herd einnehmen –, so handelte es sich dabei auch um eine Kultur, in der Männer nach potenziellen Partnerinnen mit jugendlichem Aussehen und häuslichen Fähigkeiten verlangen, während sich Frauen Männer mit einem ansehnlichen Status und einem potenziell hohen Verdienst suchen. Fanden Eagly u. Wood dagegen eine Kultur, in der die Geschlechter gleichgestellt waren, so konnten sie dort im selben Maße auch die Existenz von weniger ausgeprägten Geschlechtsunterschieden bei der Partnersuche belegen. Sie zogen ihre Schlussfolgerungen aufgrund einer Analyse anhand derselben 37 Kulturen, die zuvor von David Buss (1994) untersucht worden waren. Evolutionspsychologen versichern uns, dass die Geschlechter weitaus ähnlicher sind als unterschiedlich. Sie betonen, dass Menschen über eine ausgeprägte Fähigkeit zum Lernen und damit für sozialen Fortschritt verfügen. (Wenn wir auf die Welt kommen, dann sind wir für die Anpassung und das Überleben ausgestattet, ganz gleich ob wir in Iglus oder in Baumhäusern leben). ! Evolutionspsychologen betonen die Kohärenz und die starken Argumente der Evolutionstheorien, vor allem jener, die überprüfbare Vorhersagen liefern (z. B. dass wir andere in dem Maße bevorzugen, in dem sie Gene mit uns gemeinsam haben oder unsere Zuneigung später erwidern können).

Und sie erinnern uns daran, dass die Suche danach, wie wir so geworden sind, wie wir es jetzt sind, nicht notwendigerweise eine Anweisung dafür ist, wie wir handeln sollen. Manchmal trägt es, wenn wir unsere Vorlieben verstehen, schon dazu bei, sie zu überwinden.

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Kapitel 3 · Anlage, Umwelt und die Vielfalt der Menschen

Lernziele Abschnitt 3.2 Evolutionspsychologie Ziel 10: Beschreiben Sie den Teilbereich der Psychologie, für den sich die Evolutionspsychologen interessieren. Evolutionspsychologen versuchen, zu verstehen, wie die natürliche Selektion Verhaltenstendenzen geprägt hat, die man bei der gesamten Spezies Mensch vorfindet.

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Ziel 11: Erklären Sie das Prinzip der natürlichen Selektion, und geben Sie einige mögliche Auswirkungen der natürlichen Selektion auf die Entwicklung der Merkmale des Menschen an. Das Prinzip der natürlichen Selektion besagt Folgendes: Unter der Vielfalt der möglichen Variationen für ein angeborenes Merkmal sind die Variationen, die mit der größten Wahrscheinlichkeit an künftige Generationen weitergegeben werden, diejenigen, die die Wahrscheinlichkeit für die Fortpflanzung und für das Überleben größer werden lassen. Für unsere Vorfahren hatten die Gene, die die Fähigkeit, zu lernen und sich anzupassen, ermöglichten, einen Wert für das Überleben, wie dies auch bei jenen der Fall war, die die Menschen darauf vorbereiteten, unter Bedingungen eines Zyklus von Nahrungsmittelknappheit und -überfluss zu überleben. Dank zivilisatorischer Errungenschaften leiden wir heute nicht mehr so oft unter den Auswirkungen von Hunger. Doch bei einer genetischen Anlage, die uns dazu veranlasst, Fett zu speichern, werden wir fettleibig, wenn wir uns nicht mehr so häufig sportlich betätigen. Charles Darwin, dessen Evolutionstheorie lange Zeit ein strukturierendes Element für die Biologie war, nahm die Anwendung von Evolutionsprinzipien in der Psychologie vorweg. Ziel 12: Nennen Sie einige sozial beeinflusste Geschlechtsunterschiede in Bezug auf die Sexualität. Geschlecht bezieht sich auf die biologisch und sozial beeinflussten Charakteristika, über die wir männlich und weiblich definieren. Männer und Frauen unterscheiden sich in ihrer Einstellung zur Sexualität: Männer stimmen eher sexuellen Gelegenheitsbekanntschaften zu, denken häufiger an Sex und neigen eher dazu, Freundlichkeit als sexuelles Interesse fehlzuinterpretieren. Frauen neigen eher dazu, Zuneigung als Grund für den ersten Geschlechtsverkehr anzugeben und bei sexueller Aktivität eine Beziehungsperspektive einzunehmen. Ähnliche Unterschiede scheint es beim Sexualverhalten zu geben. Männer masturbieren öfter,

3.3

initiieren häufiger eine sexuelle Aktivität und bringen mehr Opfer, um Sex zu bekommen. Ziel 13: Geben Sie evolutionstheoretische Erklärungen für Geschlechtsunterschiede bei der Sexualität. Wenn Evolutionspsychologen die Prinzipien der natürlichen Selektion anwenden, interpretieren sie das Sexualverhalten des Menschen in dem Sinne, welchen Wert es für das Überleben hat – die Tendenz, dass Verhaltensweisen ausgewählt werden, wenn sie die Wahrscheinlichkeit erhöhen, dass die eigenen Gene an künftige Generationen weitergegeben werden. Wenn sich Männer zu mehreren gesunden, offenbar fruchtbaren Partnerinnen hingezogen fühlen, so vergrößert dies ihre Chancen, sich fortzupflanzen und ihre Gene weiterzugeben. Weil Frauen Babys in sich reifen lassen und ernähren, vergrößern sie ihre eigenen Überlebenschancen und die ihrer Babys, indem sie sich Partner aus guten finanziellen Verhältnissen und mit hohem sozialen Status suchen, die das Potenzial haben, mit ihnen eine langfristige Partnerschaft aufzubauen und in die gemeinsame Nachkommenschaft zu investieren. Ziel 14: Fassen Sie die Kritik an evolutionspsychologischen Erklärungen menschlicher Verhaltensweisen zusammen, und stellen Sie die Antworten der Evolutionspsychologen auf diese Kritik dar. Eine Kritik lautet, dass Evolutionspsychologen mit einem Effekt beginnen und dann im Nachhinein auf eine Erklärung schließen. Eine weitere besagt, dass der evolutionstheoretische Ansatz kulturelle Erwartungen und die Sozialisation in ihrer Bedeutung unterschätzt. Eine dritte besteht darin, dass die Evolutionstheorie die Menschen davon befreit, die ethische und moralische Verantwortung für ihr Sexualverhalten zu übernehmen. Evolutionspsychologen entgegnen dem, dass, wenn wir Prädispositionen verstehen, dies dazu beiträgt, sie zu bewältigen. Sie argumentieren auch mit dem Wert überprüfbarer Vorhersagen, die auf Evolutionsprinzipien beruhen, aber auch mit der Kohärenz und der Erklärungskraft dieser Prinzipien. > Denken Sie weiter: Welche Argumentation finden Sie überzeugender: die der Evolutionspsychologen oder die ihrer Kritiker? Warum?

Eltern und Gleichaltrige

Wir haben erfahren, wie unsere Gene, die in bestimmten Umwelten zum Ausdruck kommen, einen Einfluss auf Entwicklungsunterschiede haben. Aber was ist mit dem Teil von uns, der nicht in uns angelegt ist? Wenn wir durch unsere Anlagen über die Erziehung geformt werden, was sind dann die wirkungsvollsten Elemente dieser äußeren Einflüsse? Wie wird unsere Entwicklung durch die pränatale Entwicklung, die frühen Erfahrungen, die Familie, die Freunde und die Kultur geleitet, und wie trägt all dies zur Vielfalt bei?

123 3.3 · Eltern und Gleichaltrige

3

3.3.1 Eltern und frühe Erfahrungen Die formende Umwelt, die mit den Anlagen zusammenwirkt, fängt bei der Empfängnis mit der pränatalen Entwicklung an. Nach der Geburt weitet sie sich auf unsere Familie, auf die Beziehungen zu den Gleichaltrigen (engl. »peers« oder »peer group«) und auf all unsere sonstigen Erfahrungen aus.

Pränatale Umwelt Ziel 15: Beschreiben Sie einige der Bedingungen, die die Entwicklung vor der Geburt beeinflussen können.

Umweltunterschiede gibt es bereits im Mutterleib, wenn Embryos – entsprechend den Ernähungsgewohnheiten der Mütter – verschiedene Arten von Nahrung bekommen und in unterschiedlichem Maße toxischen Substanzen ausgesetzt sind (mehr darüber in 7 Kap. 4). Selbst eineiige Zwillinge sind möglicherweise nicht derselben pränatalen Umwelt ausgesetzt. Zwei Drittel der eineiigen Zwillinge haben eine gemeinsame Plazenta und insofern eine ähnlichere pränatale Umgebung (obwohl vielleicht dem einen eine bessere Blutversorgung zuteil wird und er folglich bei der Geburt mehr wiegt). Andere eineiige Zwillinge haben separate Plazenten (. Abb. 3.5). Bei dieser Anordnung sitzt eine Plazenta manchmal für den einen Zwilling an einer vorteilhafteren Stelle als für den anderen. Dies schafft Möglichkeiten für eine bessere Ernährung und für eine bessere Plazentaschranke gegen Viren. Es gibt Hinweise darauf, dass eineiige Zwillinge in separaten Plazenten im Vergleich zu eineiigen Zwillingen, die in einer gemeinsamen Plazenta heranreifen, in ihren psychologischen Merkmalen wie Selbstkontrolle und soziale Kompetenz etwas weniger Ähnlichkeiten aufweisen (Phelps et al. 1997; Sokol et al. 1995).

Frühe Erfahrungen und Gehirnentwicklung Ziel 16: Beschreiben Sie, wie Erfahrung das Gehirn verändern kann.

Aus »Brain changes in response to experience« by M. R. Rosenzweig, E. L. Bennett and M. C. Diamond. Copyright 1977 Scientific American, Inc.

Die Unterschiede in der Umwelt setzen sich außerhalb des Mutterleibs fort, wenn unsere frühen Erfahrungen die Entwicklung des Gehirns fördern. Die Erfahrung trägt zur Ausbildung der Nervenverbindungen im Gehirn bei. Dieses frühe Lernen bereitet unser Gehirn auf das Denken und den Spracherwerb und auch auf spätere Erfahrungen vor. Doch wie hinterlassen diese frühen Erfahrungen ihre Spuren im Gehirn? Rosenzweig und Krech zogen einige junge Ratten jeweils getrennt in einem Einzelkäfig auf und andere auf einem allen zugänglichen »Rattenspielplatz« (. Abb. 3.6). Als im Anschluss daran ihre Gehirne untersucht wurden, hatten die Ratten mit dem meisten Spielzeug einen Vorteil. Diejenigen, die in einer gut ausgestatteten Umwelt lebten, die eine natürliche Umgebung simulierte, entwickelten für gewöhnlich einen stärkeren und dickeren Kortex (Großhirnrinde). Rosenzweig (1984; Renner u. Rosenzweig 1987) war von seiner Ent-

. Abb. 3.5. Verschiedene Formen der Plazentaorganisation bei eineiigen Zwillingen Eineiige Zwillinge können wie alle zweieiigen Zwillinge eine separate Plazenta und Blutversorgung haben (a), oder sie können eine gemeinsame Blutversorgung über die Plazenta haben (b). Forscher befassen sich nun damit, inwieweit sich aufgrund dieser Variation spätere Unterschiede zwischen eineiigen Zwillingen vorhersagen lassen. (Aus Davis et al. 1995)

. Abb. 3.6. Erfahrung wirkt sich auf die Gehirnentwicklung aus Rosenzweig und Krech zogen Ratten entweder in einer Umwelt ohne Spielzeug allein auf oder zusammen mit anderen in einer Umwelt, die mit täglich wechselndem Spielzeug ausgestattet war. In 14 von 16 Wiederholungen dieses grundlegenden Experiments entwickelten die Ratten in der gut ausgestatteten Umwelt signifikant mehr Gewebe in der Großhirnrinde (im Vergleich zum restlichen Hirngewebe) als jene, die der reizarmen Umwelt ausgesetzt waren. (Aus Rosenzweig et al. 1972)

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Kapitel 3 · Anlage, Umwelt und die Vielfalt der Menschen

deckung so überrascht, dass er vor der Veröffentlichung seiner Ergebnisse das Experiment einige Male wiederholte. Die Effekte waren so deutlich, dass man beim Ansehen eines kurzen Videoclips allein aufgrund der Aktivität und Neugier der Ratten sagen konnte, ob sie in einer reizarmen oder gut ausgestatteten Umwelt aufgezogen worden waren (Renner u. Renner 1993). Nach 60 Tagen der Aufzucht in einer gut ausgestatteten Umwelt, so berichten Kolb u. Whishaw (1998), nimmt das Gewicht des Gehirns um 7–10% zu, und die Anzahl der Synapsen vermehrt sich um ungefähr 20% – was »eine außergewöhnliche Veränderung« ist. Derartige Ergebnisse waren Anlass dafür, dass die Lebensbedingungen für Tiere in Labors, auf Bauernhöfen und auch im Zoo verbessert wurden – aber auch für Heimkinder. Mehrere Forscherteams fanden heraus, dass sich eine Stimulation durch Berührung oder Massage sowohl auf junge Ratten als auch auf frühgeborene Babys positiv auswirkt (Field 2001; Field et al. 2004). Beide, Ratten und Kinder, die häufig berührt werden – nehmen rascher an Gewicht zu und weisen eine schnellere neurologische Entwicklung auf. Intensivstationen in Entbindungskliniken nutzen diesen Befund so, dass die Frühgeborenen mit Massagetherapie behandelt werden, so dass sie sich schneller entwickeln und die Klinik rascher verlassen können. Greenough et al. (1987) entdeckten zudem, dass wiederholte Erfahrungen das Nervengewebe einer Ratte genau an dem Ort im Gehirn verändern, der für die Verarbeitung von Erfahrungen zuständig ist. Das reifende Gehirn stattet uns mit einer Fülle von Nervenbahnen aus. Die Erfahrung trägt zum Erhalt unserer aktivierten Nervenverbindungen bei, während sie unsere nicht genutzten Nervenverbindungen degenerieren lässt. In der Pubertät kommt es dann zu einem massiven Verlust an nicht genutzten Verbindungen (dieser Prozess wird im Englischen als Pruning bezeichnet, dt. von Überflüssigem befreien). Hier an der Schnittstelle von Umwelt und Anlage aktiviert und bewahrt die gut ausgestattete Umwelt eines Kindes jene Nervenbahnen, die im Falle spärlicher Erfahrungen aufgrund von mangelndem Gebrauch abgestorben wären. Es gibt also eine biologische Realität der Früherziehung. Während der frühen Kindheit können die Kleinen am leichtesten die Grammatik und den Akzent einer Fremdsprache meistern, solange nämlich noch das Übermaß an Verbindungen abrufbereit ist. Kommt es jedoch vor der Adoleszenz nicht zu irgendeiner Auseinandersetzung mit einer geschriebenen Sprache oder Zeichensprache, so wird ein Betroffener nie irgendeine Sprache beherrschen (7 Kap. 10). Entsprechend entwickeln Menschen, die wegen eines grauen Stars während der Kindheit mit unzureichenden visuellen Erfahrungen aufwuchsen, keine normale Wahrnehmung, selbst wenn ihr Sehvermögen durch die Entfernung des grauen Stars wiederhergestellt wird (7 Kap. 6). Die Hirnzellen, die normalerweise für das Sehen zuständig sind, sterben ab oder werden für andere Zwecke umfunktioniert. Für eine optimale Gehirnentwicklung ist die normale Stimulation während der ersten Jahre von entscheidender Bedeutung.

U. Conrad-Willmann

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Neuronale Differenzierung durch frühe Spezialisierung Spieler von Streichinstrumenten, die vor dem Alter von 12 Jahren mit dem Spielen beginnen, weisen größere und komplexere Nervenschaltkreise auf, die die Finger der linken Hand kontrollieren, mit denen die Tonhöhe kontrolliert wird, als Streicher, die später mit dem Unterricht angefangen haben

»Gene und Erfahrungen sind nur zwei Arten, dasselbe zu machen – Synapsen miteinander zu verbinden.« Joseph LeDoux, »The Synaptic Self« (2002)

! Beim reifenden Gehirn scheint eine Regel besonders wichtig zu sein: Nutz es, sonst geht es verloren.

. Abb. 3.7. Ein trainiertes Gehirn Eine gut gelernte Fingerklopfaufgabe aktiviert mehr Nervenzellen im motorischen Kortex (b, orangefarbene Fläche), als vor dem Training im selben Gehirn aktiv waren (a). (Aus Karni et al. 1998)

a

b

Eigentum von Avi Kami, Leslie Ungerleider, National Institute of Mental Health

Die Hirnentwicklung endet allerdings nicht mit der Kindheit. Unser Nervengewebe verändert sich das ganze Leben hindurch. Sowohl die Umwelt als auch unsere Erbanlagen formen unsere

125 3.3 · Eltern und Gleichaltrige

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Synapsen. Anblicke, Gerüche, Berührungen und Stöße aktivieren und stärken unsere Nervenbahnen, während die übrigen mangels Benutzung schwächer werden, so wie wenig begangene Waldwege allmählich verschwinden und belebte Wege sich verbreitern. Unsere Gene geben unsere generelle Hirnstruktur vor, doch die Erfahrung weist den Weg zu den Details. Wenn ein Affe mehrere tausend Mal am Tag übt, mit einem Finger einen Hebel zu drücken, verändert sich das Hirnareal, das den Finger steuert, und es bildet auf diese Weise die Erfahrung ab. Menschliche Gehirne funktionieren ähnlich. Ob wir nun lernen, auf einem Keyboard zu spielen oder Skateboard zu fahren, wir verbessern in dem Maße unsere Fähigkeiten, in dem unser Gehirn den Lernprozess verinnerlicht (. Abb. 3.7).

Wie viel Lob (oder Tadel) haben die Eltern verdient? Ziel 17: Erklären Sie, warum wir uns dabei zurückhalten sollten, Erfolg und Versagen von Kindern dem Einfluss der Eltern zuzuschreiben.

Zwei Männer, die eineiige Zwillinge und jetzt 30 Jahre alt sind, wurden nach der Geburt voneinander getrennt und in unterschiedlichen Ländern von ihren jeweiligen Adoptiveltern aufgezogen. Beide waren ausgesprochen ordentlich und sauber bis hin zu dem Punkt, wo es ins Pathologische geht. Ihre Kleidung war makellos, Verabredungen hielten sie exakt ein, die Hände schrubbten sie regelmäßig, so dass sie schon wund gerieben und rot waren. Als der eine gefragt wurde, warum er das Bedürfnis habe, so sauber zu sein, war seine Antwort klar: ›Meine Mutter. Als ich bei ihr aufwuchs, hielt sie das Haus perfekt in Ordnung. Sie bestand darauf, dass jeder noch so kleine Gegenstand an seinen Platz zurückkam. Die Uhren – wir hatten Dutzende davon – waren alle darauf eingestellt, um 12 Uhr mittags zu läuten. Wissen Sie, sie bestand darauf. Ich lernte von ihr. Was hätte ich anderes machen sollen.‹ Der Zwillingsbruder des Mannes war genauso ein Perfektionist, wenn es um Wasser und Seife ging, und erklärte sein eigenes Verhalten folgendermaßen: ›Der Grund ist ganz einfach. Ich reagierte auf meine Mutter, die wirklich schlampig war.‹«

Auch bei Schimpansen ist es so: Wird ein Junges von einem anderen verletzt, dann greift dessen Mutter oft die Mutter des Schuldigen an (Goodall 1968).

© Ricardo Azoury/Corbis

Es kann Angst auslösen, wenn man erkennt, wie riskant es ist, Kinder zu haben und sie großzuziehen. Wie beim Kartenspiel mischen Frau und Mann bei der Fortpflanzung ihre Genkarten. Sie geben ein lebensentscheidendes Blatt an ihr künftiges Kind aus, das dann zahllosen Einflüssen ausgesetzt sein wird, die ihrer Kontrolle entzogen sind. Trotzdem sind Eltern i. Allg. sehr zufrieden mit den Erfolgen ihrer Kinder, entwickeln aber auch Schuld- und Schamgefühle, wenn diese versagen. Angesichts eines Kindes, das gerade eine Auszeichnung erhalten hat, strahlen sie vor Freude. Andererseits fragen sie sich, was sie mit ihrem Kind falsch gemacht haben, wenn sie mehrmals hintereinander ins Dienstzimmer des Schulleiters gebeten werden. Psychoanalytische Ansätze in der Psychiatrie und Psychologie ließen die Vorstellung aufkommen, »unzureichende mütterliche Fürsorge« sei die Ursache für Probleme von Asthma bis Schizophrenie. Die Gesellschaft verstärkt diese Kritik an den Eltern noch: Wer glaubt, dass Eltern ihre Nachkommen formen wie ein Töpfer den Ton, ist schnell dabei, Eltern für die Tugenden ihrer Kinder zu rühmen und sie für ihre schlechten Angewohnheiten zu tadeln. Die öffentlichen Medien schrieben immer wieder über den psychischen Schaden, den »Rabeneltern« ihren zarten, schwachen Kindern zufügen. So sah Bradshaw (1990) das »vernachlässigte, verletzte Kind« in jedem von uns als »Hauptursache für das menschliche Elend«. Ist es denn wirklich so, dass zu gutmütige – oder unbeteiligte – Eltern zukünftige Erwachsene mit einem »inneren verwundeten Kind« produzieren? Oder sind es die Eltern, die ihre Kinder zu sehr antreiben, oder die, die sich nicht durchsetzen können? Liegt das Problem vielleicht bei den überbehütenden oder etwa bei den zu distanzierten Eltern? Sind Kinder tatsächlich so leicht verwundbar? Wenn dem so ist: Ist es dann richtig, unsere Eltern für unsere Fehler und uns selbst für das Versagen unserer Kinder verantwortlich zu machen? Sollten wir Strafzettel verteilen und die Eltern für die Missetaten ihrer Kinder belangen? Oder ist es denkbar, dass durch das ganze Gerede über verletzte, schwache Kinder normaler Eltern die Brutalität einer wirklichen Misshandlung trivialisiert wird? Neubauer u. Neubauer (1990, S. 20–21) zeigen anschaulich, wie wir im Nachhinein unsere Eltern vielleicht unangemessenerweise loben oder tadeln:

Wer ist schuld? Diese Jugendlichen gehen ein großes Risiko ein, wenn sie auf dem Dach von Hochgeschwindigkeitszügen mitfahren. Warum nur? Die überraschenden Unterschiede zwischen Kindern, die in derselben Familie aufgewachsen sind, deuten auf die Grenzen des elterlichen Einflusses hin. Auch die genetischen Prädispositionen und sozialen Einflüsse prägen das Leben der Kinder

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Kapitel 3 · Anlage, Umwelt und die Vielfalt der Menschen

»Wenn Sie Ihre Eltern für Ihre eigenen Probleme als Erwachsener verantwortlich machen wollen, dann haben Sie ein Anrecht darauf, den Genen, die Sie von ihnen haben, die Schuld dafür zu geben; Sie haben aber kein Anrecht darauf, Ihre Eltern für die Art und Weise, wie sie Sie behandelt haben, verantwortlich zu machen ... Wir sind keine Gefangene unserer Vergangenheit.« Martin Seligman, »What You Can Change and What You Can’t« (1994)

! Die gemeinsamen Umwelteinflüsse, einschließlich der von Geschwistern gemeinsam erlebten familiären Einflüsse, können generell nur weniger als 10% der Unterschiede zwischen den Kindern in Persönlichkeitstests erklären.

In den Worten der Verhaltensgenetiker Plomin u. Daniels (1987) heißt das: »Zwei Kinder aus derselben Familie sind im Durchschnitt so unterschiedlich wie zwei Kinder, die zufällig aus einer Population ausgewählt werden.« Die Entwicklungspsychologin Scarr (1993) zieht daraus die Schlussfolgerung, dass »Eltern für Kinder, die sich großartig entwickeln, weniger gelobt, und für Kinder, bei denen das nicht der Fall ist, weniger gescholten werden sollten«. Obwohl die Umwelt einen Einfluss hat, »ist es unbarmherzig, den Einfluss der Umwelt zu sehr zu betonen«, behauptet Gazzaniga (1992). Warum wohl? »Weil es bei den Eltern so ankommt, als sei ihr Kind durch etwas, was sie getan – oder unterlassen – haben, verbogen worden.« Die Erziehung durch die Eltern ist vergleichbar mit der Ernährung. Es macht keinen großen Unterschied, ob wir unser Eiweiß daher bekommen, dass wir Huhn oder dass wir Rindfleisch essen, aber wir müssen Nahrung bekommen. Entsprechend macht es keinen großen Unterschied, ob wir bei Eltern aufwuchsen, die uns früh oder spät aufs Töpfchen gesetzt haben, aber es ist ganz gewiss hilfreich für uns, jemanden zu haben, zu dem wir uns als zugehörig empfinden, jemanden, der sich um uns kümmert.

C. Styrsky

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Eltern sind wirklich wichtig (Collins et al. 2000; Eisenberg et al. 1998a, b; Vandell 2000). In Extremsituationen wird die Macht des elterlichen Einflusses am deutlichsten. In 7 Kap. 4 werden wir die prägnantesten Beispiele dafür anführen: Missbrauchte Menschen, die selbst missbrauchen, vernachlässigte Menschen, die ihre Kinder vernachlässigen, die geliebten, aber streng erzogenen Kinder, die selbstbewusst und sozial kompetent werden. Welch starke Wirkung die Familie hat, zeigt sich auch häufig in den politischen Einstellungen der Kinder, ihren religiösen Überzeugungen und in ihrem Benehmen gegenüber anderen Menschen. Und sie kommt zum Vorschein in den bemerkenswerten schulischen und beruflichen Erfolgen der Kinder von Flüchtlingen, die man Boat People nannte und die aus Vietnam und Kambodscha geflohen waren – Erfolge, die man auf die eng miteinander verbundenen, unterstützenden, ja sogar fordernden Familien zurückführt (Caplan et al. 1992).

3.3.2 Einfluss der Gleichaltrigen

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Ziel 18: Schätzen Sie die Bedeutung des Einflusses von Gleichaltrigen auf die Entwicklung ein.

Die Macht der Gleichaltrigengruppe Während wir uns entwickeln, spielen wir mit unseren Altersgenossen, wir arbeiten und gehen freundschaftliche Beziehungen mit ihnen ein. Es ist deshalb kein Wunder, dass Kinder und Jugendliche so sensibel auf die Einflüsse der Gleichaltrigengruppe reagieren

Welche Rolle spielen äußere Einflüsse, wenn die Kinder heranwachsen? Wir sind auf allen Altersstufen in dem Maße Gruppeneinflüssen ausgesetzt (7 Kap. 15), in dem wir versuchen, uns selbst zu etablieren und in unterschiedlichen Gruppen akzeptiert zu werden, sei es nun in der Schule oder anderswo. Das Konformitätsverhalten von Kindern, die bestrebt sind, sich in verschiedene Gruppen einzupassen, ist ein wichtiger Einflussfaktor bei Verhaltensweisen im Alltag. Beispielsweise: 4 Kleinkinder, die trotz elterlichen Drängens eine bestimmte Mahlzeit verschmähen, essen sie, wenn andere Kinder dabei sind, die dieses Essen mögen. 4 Ein Kind, das zu Hause seine Muttersprache mit einem bestimmten Akzent hört und gleichzeitig einen anderen Akzent in seiner Nachbarschaft und Schule, nimmt unweigerlich den Akzent der Altersgenossen an und nicht den der Eltern. 4 In Hinblick auf das Rauchen ist der direkte Einfluss der Eltern weniger bedeutsam, als viele Menschen annehmen. Jugendliche, die anfangen zu rauchen, haben vielmehr Freunde, die ihnen das Rauchen vormachen, ihnen seine Vorzüge vorgaukeln und ihnen Zigaretten anbieten (Rose et al. 1999, 2003). Zum Teil mag die Ähnlichkeit unter Gleichaltrigen auch auf einen »Selektionseffekt« zurückzuführen sein. Denn Kinder suchen sich Altersgenossen aus, die ähnliche Einstellungen und Interessen haben wie sie selbst. Die Raucher (oder Nichtraucher) suchen sich Freunde, die ebenfalls rauchen (oder eben nicht).

127 3.3 · Eltern und Gleichaltrige

Wenn man weiß, dass das Leben teils durch Einflüsse jenseits der Kontrolle von Eltern abläuft, ist Vorsicht angebracht, wenn man Eltern wegen der Leistungen ihrer Kinder lobt oder ihnen für die besorgniserregenden Merkmale ihrer Kinder die Schuld gibt. Und wenn unsere Kinder sich nicht so einfach durch die elterliche Erziehung formen lassen, können wir Eltern uns vielleicht ein wenig entspannt zurücklehnen und unsere Kinder so lieben, wie sie nun einmal sind. Ein starker Einfluss der Eltern kann jedoch auch indirekt wirksam werden. Eine Gruppe von Eltern kann durchaus auf das soziale Umfeld einwirken, das einen Einfluss auf die Gruppe der Gleichaltrigen hat. Bildung und Kultur werden über Generationen hinweg zum Teil über das weitergegeben, was Judith Rich Harris (2000b) »die Effekte der Elterngruppe auf die Kindergruppe« nennt. Wenn dem so ist, so äußert sich der elterliche Einfluss beispielsweise darin, dass die Eltern ihren Kindern bei der Wahl einer Wohngegend und von Freunden helfen. In diesem Zusammenhang ist der Einfluss der Wohngegend wichtig (Kalff et al. 2001; Leventhal u. BrooksGunn 2000). Deshalb zielen Interventionsprogramme für Jugendliche am besten auf die ganze Schule und das gesamte Wohnviertel ab und nicht nur auf Einzelne. Wenn ein schlechtes allgemeines Klima kennzeichnend für die Umgebung eines Kindes ist, muss dieses Klima – und nicht das Kind – geändert werden. Gardner (1998) kommt zu dem Schluss, dass Eltern und Freunde komplementär sind:

»Mehr als ihren Vätern gleichen die Menschen ihrer Zeit.« Altes arabisches Sprichwort

»Man braucht ein Dorf, um ein Kind großzuziehen.« Afrikanisches Sprichwort

Eltern sind wichtig, wenn es um Bildung und Ausbildung, Disziplin, Verantwortung, Ordnung, Hilfsbereitschaft und die Art des Umgangs mit Autoritätspersonen geht. Freunde sind wichtig, um Zusammenarbeit zu lernen, zu erfahren, wie man sich beliebt macht und welcher Stil für die Interaktionen mit Altersgenossen der richtige ist. Die jungen Menschen finden ihre Freunde vielleicht interessanter, verlassen sich aber auf ihre Eltern, wenn sie an ihre Zukunft denken. Außerdem wählen die Eltern die Wohngegend und die Schule der Kinder aus, in der ihre Altersgenossen die Freunde sein werden.

Lernziele Abschnitt 3.3 Eltern und Gleichaltrige Ziel 15: Beschreiben Sie einige der Bedingungen, die die Entwicklung vor der Geburt beeinflussen können. Pränatale Umwelten unterscheiden sich im Hinblick auf die Ernährung und das Vorhandensein von Giftstoffen. Selbst eineiige Zwillinge, die sich eine Plazenta teilen, können wegen der unterschiedlichen Lage im Mutterleib einen ungleichen Zugang zu Nährstoffen und zum Schutz vor Viren haben. Ziel 16: Beschreiben Sie, wie Erfahrung das Gehirn verändern kann. In der Reifungsphase nehmen die neuronalen Verbindungen eines Kindes in Arealen zu, die etwas mit sich wiederholenden Aktivitäten zu tun haben (z. B. visuelle Wahrnehmung). Nicht genutzte Synapsen degenerieren, wie dies im Kortex von Kindern mit einem angeborenen und nicht behandelten grauen Star bei den Gehirnzellen geschieht, die normalerweise Aufgaben bei der visuellen Wahrnehmung haben. Obwohl der Vorgang am deutlichsten in den Gehirnen kleiner Kinder zutage tritt, setzen sich Wachstum und Befreiung von Überflüssigem während des gesamten Lebens fort. Ziel 17: Erklären Sie, warum wir uns dabei zurückhalten sollten, Erfolg und Versagen von Kindern dem Einfluss der Eltern zuzuschreiben. Die an Freud orientierte Psychiatrie und eine extreme Betonung des Einflusses der Umwelt trugen in der Psychologie zu dem Gedanken bei, dass Eltern die Zukunft ihrer Kinder formen. Eltern beeinflussen einige

Bereiche des Lebens ihrer Kinder wie das Benehmen und die politischen und religiösen Überzeugungen. In anderen Bereichen jedoch wie etwa der Persönlichkeit erklärt die Umwelt, die den Geschwistern in der häuslichen Umgebung gemeinsam ist, weniger als 10% ihrer Unterschiede. Ziel 18: Bewerten Sie die Bedeutung des Einflusses von Gleichaltrigen auf die Entwicklung. Kinder versuchen, sich wie Erwachsene durch Konformität in Gruppen einzupassen. Aber Kinder sind auch darauf aus, andere zu finden, die ihre Einstellungen und Interessen teilen; dieser Auswahleffekt trägt zur Uniformität in der Peergroup bei. Eltern und Gleichaltrige sind komplementäre Einflüsse auf das Leben von Kindern. Eltern sind wichtige Rollenmodelle für Bildung, Disziplin, Verantwortung, Ordnung, Hilfsbereitschaft und die Art und Weise des Umgangs mit Autoritätspersonen. Gleichaltrige haben einen Einfluss in Bereichen wie kooperieren, mit anderen lernen, Beliebtheit erreichen und einen angemessenen Interaktionsstil mit Menschen des gleichen Alters finden. Indem die Eltern für ihre Kinder eine Wohngegend suchen, in der sie leben werden, können Eltern einen gewissen Einfluss auf die Kultur der Gleichaltrigen ausüben, die dazu beiträgt, die Kinder zu formen. > Denken Sie weiter: In welchem Ausmaß und auf welche Weise haben bei Ihnen Gleichaltrige und Eltern dazu beigetragen, aus Ihnen die Person zu machen, die Sie sind?

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Kapitel 3 · Anlage, Umwelt und die Vielfalt der Menschen

3.4

Kulturelle Einflüsse

Ziel 19: Erörtern Sie die Vorteile der Kultur für das Überleben.

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Kultur (culture): überdauernde Verhaltensweisen, Vorstellungen, Einstellungen, Werte und Traditionen, die von einer großen Gruppe von Menschen geteilt und von einer Generation an die nächste weitergegeben werden.

Kevin R. Morris/Bohemian Nomad Picturemakers/Corbis

Zwang zur Uniformierung Menschen aus individualistischen westlichen Kulturen empfinden die traditionelle japanische Kultur als sehr einschränkend. Doch aus der Sicht der Japaner drückt diese Tradition die »Gelassenheit von Menschen, die genau wissen, was sie voneinander zu erwarten haben«, aus. (Weisz et al. 1984)

Im Vergleich zu dem schmalen Grat, auf dem sich Fliegen, Fische und Füchse bewegen, hat die Natur für uns eine längere und breitere Straße gebaut, auf der uns die Umwelt vorantreibt. Die Fähigkeit, zu lernen und uns anzupassen, ist das Kennzeichen unserer Spezies und damit das größte Geschenk der Natur an uns. Wir kommen zur Welt, ausgestattet mit einer riesigen zerebralen Festplatte, und sind bereit, viele Gigabytes kultureller Software aufzunehmen. Kultur umfasst die Verhaltensweisen, Vorstellungen, Einstellungen, Werte und Traditionen, die von einer Gruppe von Menschen geteilt und von einer Generation an die nächste weitergegeben werden (Brislin 1988). Baumeister (2005) merkt an, dass die Eigenart des Menschen für die Kultur gemacht zu sein scheint. Wir sind soziale Lebewesen, aber noch mehr. Wölfe sind soziale Lebewesen; sie leben und jagen in Rudeln. Ameisen sind unaufhörlich sozial und nie allein. Doch Baumeister schreibt: »Kultur ist eine bessere Methode, sozial zu sein.« Die Kultur trägt viel dazu bei, dass wir überleben und uns fortpflanzen; dies geschieht mit Hilfe sozialer und ökonomischer Systeme, die uns in die Lage versetzen, im Winter Früchte zu essen, im Internet zu surfen und Informationen zu sammeln. In etwa leben Wölfe noch genauso, wie sie es vor 10.000 Jahren taten. Sie und ich kommen in den Genuss von Dingen, die den meisten unserer Vorfahren vor 100 Jahren unbekannt waren; und dazu gehören Elektrizität, sanitäre Einrichtungen und Antibiotika. Die Kultur funktioniert. Wie wir in 7 Kap. 10 erfahren werden, weisen Primaten rudimentäre Elemente von Kultur auf; dies umfasst auch die lokal angepassten Gewohnheiten beim Werkzeuggebrauch, die Körperpflege und das Werben um das andere Geschlecht. Kleinere Schimpansen und Makaken entwickeln manchmal Gewohnheiten – in einem bekannten Beispiel das Waschen von Kartoffeln – und geben sie an Gleichaltrige und an Nachkommen weiter. Aber bei der Kultur des Menschen geschieht mehr. Dank der Tatsache, dass wir die Sprache beherrschen, wissen wir Menschen nicht nur, wie man Nahrungsmittel reinigt, sondern wir verfügen auch über das Hauptmerkmal der Kultur: die Bewahrung der Innovation. Aufgrund unserer Kultur standen mir heute Post-it-Klebezettel, Google und ein Latte macchiato zur Verfügung; das alles hatte für mich einen Nutzen. Wir haben es auch dem gesammelten Wissen der Kultur zu verdanken, dass sich im letzten Jahrhundert unsere Lebenserwartung von 47 auf 76 Jahre erhöhte. Außerdem ermöglichte die Kultur eine kosteneffiziente Arbeitsteilung. Obwohl eine Person das Glück hat, dass ihr Name auf dem Umschlag dieses Buchs steht, ist das Produkt eigentlich das Ergebnis der Koordinierung und des Engagements eines Teams von Frauen und Männern, von denen keiner allein in der Lage ist, es hervorzubringen. Über die Kulturen hinweg unterscheiden wir uns in Bezug auf die Sprache, das Währungssystem, die Sportarten, darin, mit was für einer Gabel – wenn überhaupt – wir essen und auf welcher Seite der Straße wir Auto fahren. Doch hinter diesen Unterschieden steckt eine ganz große Ähnlichkeit – unsere Fähigkeit zur Kultur, zu gemeinsamen und überlieferten Sitten und Gebräuchen sowie zu Überzeugungen, die uns in die Lage versetzen, zu kommunizieren, Geld gegen Dinge einzutauschen, zu spielen, zu essen und Auto nach Regeln zu fahren, auf die wir uns geeinigt haben, und dabei nicht miteinander zu kollidieren. Diese gemeinsame Fähigkeit zur Kultur macht unsere Unterschiede erst möglich. Die Eigenheit des Menschen zeigt sich in der Vielfalt der Menschen. Lebten wir alle in homogenen ethnischen Gruppen in voneinander getrennten Regionen dieser Welt, wie es mancherorts noch der Fall ist, wäre die kulturelle Vielfalt weniger relevant. In Japan z. B. sind 99% der dort lebenden 126 Mio. Menschen japanischer Abstammung. Die kulturellen Unterschiede innerhalb des Landes sind dort folglich minimal, verglichen mit Los Angeles, wo an öffentlichen Schulen 82 verschiedene Sprachen unterrichtet werden, oder im Vergleich zu Toronto oder Vancouver, wo jeweils ein Drittel der Bevölkerung aus Minderheiten besteht, unter ihnen viele Immigranten (so sind 17% der Kanadier und 24% der Australier Immigranten) (Iyer 1993; Statistics Canada 2002; Trewin 2001). Auch in Deutschland

129 3.4 · Kulturelle Einflüsse

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beträgt der Ausländeranteil im Durchschnitt 8,8%, allerdings mit großen Unterschieden je nach Bundesland: Hamburg 14,2%, Baden-Württemberg 11,9%, Thüringen und Sachsen-Anhalt 1,9% (Angaben des Statistischen Bundesamtes zum Anteil der ausländischen Bevölkerung vom 18.10.2007). Ich kann mir auch vorstellen, dass die Leser der englischsprachigen Ausgabe dieses Buchs aus einer Vielfalt von Kulturen kommen, z. B. aus der Türkei oder aus Spanien, aus den USA oder aus Kanada.

3.4.1 Kulturübergreifende Unterschiede Ziel 20: Beschreiben Sie einige Aspekte, in denen sich Kulturen unterscheiden.

Den Grad unserer Anpassungsfähigkeit erkennt man an kulturellen Unterschieden in unseren Überzeugungen und Wertvorstellungen, daran, wie wir unsere Kinder erziehen und unsere Toten begraben, sowie daran, welche Kleidung wir tragen (sofern wir überhaupt bekleidet sind). Das Mitschwimmen in einer von Normen geprägten Kultur ist vergleichbar mit dem Radfahren in Windrichtung: Während wir fortgetragen werden, spüren wir kaum einen Widerstand. Wenn wir allerdings versuchen, gegen den Wind zu fahren, bemerken wir, wie stark er ist. Erst im Augenblick der Konfrontation mit einer bestimmten Kultur werden uns die kulturellen »Strömungen« bewusst. So fallen den meisten Amerikanern bei einem Besuch in Europa z. B. die kleineren Autos, der linkshändige Gebrauch der Gabel und das ungehemmte Aus- und Anziehen an den Stränden auf. Europäische und amerikanische Soldaten merkten erst, als sie in Irak, Afghanistan und Kuwait stationiert waren, wie liberal ihre heimatlichen Kulturen waren. Nachdem sie 10 Jahre lang mit Flüchtlingen gearbeitet hatte, wurde die Psychologin Pipher (2002) für ihre eigene Kultur sensibilisiert: Wie die meisten Amerikaner spreche ich fließend nur Englisch. Ich schätze die Freiheit und meinen persönlichen Raum. Ich halte mich an zeitliche Vereinbarungen. Ich fühle mich nur mit bestimmten Formen von Berührung wohl. Eine bestimmte Anzahl von Augenkontakten und eine gewisse Distanz zwischen zwei Menschen fühlen sich für mich korrekt an. Einige Dinge erscheinen viel genießbarer als andere. Ich fühle mich am besten, wenn ich eine bestimmte Form der Kleidung wie Jeans und TShirts trage. Ich gehe ohne Kopfbedeckung aus und trage innerhalb des Hauses Schuhe. Ich unterhalte mich gerne.

Für die in Nordamerika ankommenden Besucher aus Japan und Indien ist es schwer zu verstehen, warum Menschen im Haus schmutzige Straßenschuhe tragen, andere wundern sich, warum es ihnen Vergnügen bereitet, im Wald inmitten von Ameisen und Fliegen ein Picknick zu machen.

Norm (norm): allgemein verstandene Regel für akzeptiertes und erwartetes Verhalten. Normen schreiben ein »angemessenes« Verhalten vor. Persönlicher Raum (personal space): Pufferzone, die wir gerne um unseren Körper herum aufrechterhalten.

So benutzen viele Menschen aus Südasien zum Essen nur die Finger ihrer rechten Hand. Die Briten haben die Norm, sich ordentlich in einer Reihe anzustellen. Manchmal wirken soziale Normen einengend: »Warum sollte es von Bedeutung sein, wie ich mich anziehe?« Andererseits ölen Normen die soziale Maschinerie. Vorgeschriebene, gut gelernte Verhaltensweisen machen es unnötig, uns ausschließlich mit uns selbst zu beschäftigen. Wenn wir wissen, wann wir klatschen oder uns verbeugen sollen, welche Gabel wir bei einer Einladung zum Abendessen als erste benutzen sollen und welche Komplimente und Gesten angemessen sind, können wir uns entspannen und die Gesellschaft anderer ohne Angst vor Verlegenheit oder Kränkungen genießen. Genauso ist es, wenn es innerhalb einer Kultur eine allseits akzeptierte Begrüßungsnorm wie z. B. das Händeschütteln oder den Wangenkuss gibt – ausgenommen einmal die unangenehmen Momente der Unentschlossenheit, ob man jemanden mit der Hand oder mit einem Wangenkuss begrüßen soll. Wenn Kulturen aufeinander treffen, sorgen die verschiedenen Normen häufig für Verwirrung. Wenn jemand z. B. unseren persönlichen Raum verletzt, jene transportable Pufferzone, die wir um unseren Körper herum aufrechterhalten möchten, fühlen wir uns unwohl. Skandinavier, Bri-

C. Styrsky

! Jede kulturelle Gruppe entwickelt eigene Normen, Regeln für akzeptiertes und erwartetes Verhalten.

Das neue Au-Pair-Mädchen

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Kapitel 3 · Anlage, Umwelt und die Vielfalt der Menschen

Jason Reed/Reuters/Corbis

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Kulturen unterscheiden sich Verhalten, das in einer Kultur angemessen zu sein scheint, kann die Normen einer anderen Kultur verletzen. In arabischen Ländern, aber nicht in westlichen Kulturen begrüßen sich Männer oft mit einem Kuss oder halten als Zeichen der Freundschaft Händchen, wie es US-Präsident George W. Bush 2005 tat, während er mit dem saudischen Kronprinz Abdullah spazieren ging

ten, Deutsche und Nordamerikaner haben gerne einen größeren persönlichen Raum als Lateinamerikaner, Araber und Franzosen (Sommer 1969). Einem Mexikaner, der bei einem sozialen Ereignis eine ihm angenehme Distanz für eine Unterhaltung herzustellen versucht, passiert es vielleicht, dass ein Amerikaner am Ende ständig vor ihm zurückweicht. (Sie können diese Erfahrung bei einer Party machen, wenn Sie während einer Unterhaltung »Verletzer des persönlichen Raumes« spielen.) Dem Amerikaner mag der Mexikaner aufdringlich erscheinen, während der Mexikaner den Amerikaner als hochnäsig wahrnimmt. Kulturen unterscheiden sich ebenfalls in der Art, wie sie sich ausdrücken. Personen, die ihre Wurzeln in nordeuropäischen Kulturen haben, nehmen Menschen aus der Mittelmeerregion als herzlich und charmant wahr, aber auch als ineffizient (bei der Arbeit). Die Bewohner der Mittelmeerregionen dagegen sehen die Nordeuropäer als effizient an, nehmen sie aber gleichzeitig auch als kalt und pünktlichkeitsbesessen wahr (Triandis 1981). Kulturen variieren auch in der Geschwindigkeit, mit der sich der Alltag abspielt. Ein britischer Geschäftsmann wird sich über einen lateinamerikanischen Klienten ärgern, der 30 Minuten nach der vereinbarten Zeit zum Mittagessen kommt. Dagegen bemerken Menschen aus dem zeitbewussten Japan – wo die Uhren der Banken immer die exakte Zeit anzeigen, die Fußgänger flott gehen und Postangestellte Wünsche in Höchstgeschwindigkeit erfüllen – vielleicht, dass sie bei einem Besuch in Indonesien zunehmend ungeduldiger werden. Dort geben die Uhren die Zeit weniger genau an, und das Tempo ist i. Allg. langsamer (Levine u. Norenzayan 1999). Die ersten Freiwilligen des US-Friedenscorps berichteten darüber, dass es, nachdem sie die Sprache des Gastlands gelernt hatten, zwei große Kulturschocks bei der Anpassung an ihre Gastländer gab: das andere Lebenstempo und den anderen Umgang mit Pünktlichkeit (Spradley u. Phillips 1972).

3.4.2 Zeitübergreifende Veränderungen Ziel 21: Erklären Sie, warum Veränderungen im Genpool des Menschen nicht als Erklärung für eine kulturelle Veränderung über die Zeit hinweg herangezogen werden können.

Denken Sie doch einmal daran, wie schnell sich Kulturen über die Zeit hinweg verändern können. Der englische Dichter Geoffrey Chaucer (1342–1400) ist von einem modernen Briten nur 20 Generationen entfernt, doch die beiden würden nur unter größten Schwierigkeiten eine Unterhaltung führen können. In dem kürzeren Kapitel der Geschichte seit 1960 haben sich die meisten westlichen Kulturen mit bemerkenswerter Geschwindigkeit verändert. Menschen aus der Mittelschicht fliegen an Orte, über die sie einst höchstens gelesen hatten, schreiben E-Mails an jene, denen sie einst Briefe im Schneckentempo schickten, und genießen die Bequemlichkeit einer klimatisierten Arbeitsumgebung, während sie einst vor Hitze fast umgekommen wären. Sie kommen in den Genuss der bequemen Urlaubsbuchung per Internet und des mobilen Telefonierens; sie essen – ermöglicht durch ihr deutlich höheres Realeinkommen – mehr als zweimal so oft im Restaurant wie ihre Eltern in den 60ern. Bedingt durch größere ökonomische Unabhängigkeit heiraten die Frauen von heute eher aus Liebe und müssen mit geringerer Wahrscheinlichkeit aus ökonomischer Notwendigkeit heraus Beziehungen ertragen, in denen sie misshandelt oder missbraucht werden. Viele Minderheitengruppen profitieren von einer zunehmenden Umsetzung der Menschenrechte. Doch manche Veränderungen waren durchaus nicht positiv. Wären Sie im Jahre 1960 in den USA eingeschlafen und ein Viertel Jahrhundert später aufgewacht, hätten Sie Ihre Augen in einer Kultur geöffnet, die doppelt so hohe Scheidungsraten, 3-mal so hohe Suizidraten bei den unter 20-Jährigen und eine 4-mal so hohe Rate gemeldeter Gewaltverbrechen durch Jugendliche aufweist (Myers 2000). Zudem verbringen Amerikaner mehr Stunden bei der Arbeit, weniger Stunden mit Schlaf und weniger Stunden mit Freunden und der Familie (Frank 1999; Putnam 2000). Gottlob begannen die Selbstmordraten bei Jugendlichen und die Kriminalitätsraten nach 1993 wieder abzunehmen. Ähnliche kulturelle Veränderungen fanden in Kanada, England, Australien und Neuseeland statt. Und obwohl nach den Angaben des Statistischen Bundesamtes die allgemeine Suizidrate im gleichen Zeitraum in Deutschland sogar rückläufig ist und die Deutschen in Umfragen angeben, im Vergleich zu den 50er Jahren heute deutlich mehr Freizeit zu haben, zeig-

131 3.4 · Kulturelle Einflüsse

ten sich auch negative Entwicklungen: Im Vergleich zu den 70er Jahren hat sich laut Bundesministerium des Inneren die Anzahl der Raubüberfälle auf Straßen, Wegen und Plätzen mehr als verdoppelt und die Anzahl der Drogentoten stieg um das 15-fache. Die Arbeitslosigkeit, die 1960 zu Zeiten der Vollbeschäftigung überhaupt keine Rolle spielte, ist inzwischen zu einem der zentralen gesellschaftspolitischen Probleme geworden, wenn sie auch zeitweilig zurückging. Ganz gleich, ob uns diese Veränderungen gefallen oder nicht: Ihr atemberaubendes Tempo ist beeindruckend. Sie lassen sich nicht durch Veränderungen im menschlichen Genpool erklären, da sich dieser für solche kulturellen Hochgeschwindigkeitstransformationen viel zu langsam entwickelt. ! Kulturen sind unterschiedlich, Kulturen verändern sich, und sie geben unserem Leben eine bestimmte Form.

3.4.3 Kultur und Selbst Ziel 22: Geben Sie einige Aspekte an, in denen sich eine vorwiegend individualistische Kultur von einer vorwiegend kollektivistischen Kultur unterscheidet, und vergleichen Sie die Auswirkungen auf die personale Identität.

Kulturen unterscheiden sich dadurch, wie sehr der Erziehung und dem Ausdruck der eigenen personalen Identität bzw. der Identität der eigenen Gruppe Priorität beigemessen wird. Um den Unterschied zu verstehen, sollten Sie sich einmal vorstellen, Sie würden aus Ihren sozialen Bezügen herausgerissen und wären ein allein lebender Flüchtling in einem fremden Land: Wie viel von Ihrer Identität würde intakt bleiben? Die Antwort würde zu einem großen Teil davon abhängen, ob Sie dem unabhängigen Selbst, das den Individualismus kennzeichnet, Priorität einräumen oder eher dem wechselseitig abhängigen (interdependenten) Selbst, das typisch für den Kollektivismus ist. Wären Sie als unser allein lebender Flüchtling Individualist, dann bliebe ein Großteil Ihrer Identität intakt: Der innerste Kern Ihres Seins, Ihr Ich-Gefühl, wäre nicht berührt, auch nicht Ihre Überzeugungen und Wertvorstellungen. Der Individualist räumt seinen persönlichen Zielen eine relativ hohe Priorität ein, und seine Identität definiert sich über persönliche Merkmale. Er strebt nach persönlicher Kontrolle und individueller Leistung. In der amerikanischen Kultur mit ihrer relativ starken Betonung des Ich und dementsprechend einer geringen Betonung des Wir lautet die Aussage von 85% der Menschen, es sei möglich, »mehr oder weniger das zu sein, was du sein willst« (Sampson 2000). Der im Wesentlichen auf sich selbst bezogene Individualist wechselt leichter seine soziale Gruppe. Er empfindet es als seine Entscheidung, eine Arbeitsstelle aufzugeben und eine andere anzunehmen oder sogar die Großfamilie zu verlassen und sich an einem anderen Ort anzusiedeln. Eine Ehe hält häufig nur so lange, wie beide Partner es wollen. Individualismus variiert in jeder Kultur von einer Person zur anderen. Im Film »Antz« verlieh Woody Allen einer individualistischen Ameise eine Stimme, die sich gegen den extremen Kollektivismus in der Kultur ihrer Kolonie auflehnte: »Es geht um dieses ganze enthusiastische Loyalitätsgetue, diese Sache mit dem Superorganismus, die ich einfach nicht verstehe. Ich verstehe es nicht. Ich versuche es, aber ich verstehe es einfach nicht. Was ist das eigentlich? Man erwartet von mir, dass ich alles für die Kolonie mache? Und – und was ist mit meinen Bedürfnissen? Was ist mit mir?« Wenn man als Kollektivist in einem fremden Land hilflos ausgesetzt wird, würde man wahrscheinlich einen sehr viel schlimmeren Identitätsverlust erleben als ein Individualist. Abgeschnitten von der Familie, von Gruppen und loyalen Freunden, würde man die Verbindungen verlieren, die darüber bestimmten, wer man ist. In einer kollektivistischen Kultur verschafft dem Betreffenden die Identifikation mit der Gruppe ein Zugehörigkeitsgefühl, sie bietet einen Satz von Wertvorstellungen, ein Netz von Personen, die sich um die eigene Person kümmern und die Sicherheit gewährleisten. Im Gegenzug geben die Kollektivisten den Zielen ihrer Gruppe Priorität; die Gruppe ist oft die Familie, der Clan oder die Firma. Sie definieren ihre Identität entsprechend nicht als »ich«, sondern als »wir«. In Korea z. B. legen die Menschen weniger Wert darauf, ein konsistentes einzigartiges Selbstkonzept zum Ausdruck zu bringen, sondern betonen eher die Tradition und die gemeinsam praktizierten Handlungsweisen (Choi u. Choi 2002).

Individualismus (individualism): Die Priorität für die eigenen Ziele ist höher als die für Gruppenziele; die eigene Identität definiert sich eher über persönliche Eigenschaften als über Gruppenmerkmale.

Kollektivismus (collectivism): Die Ziele der Gruppe (oft die Großfamilie oder die Arbeitsgruppe) haben Priorität, die Definition der eigenen Identität richtet sich an ihnen aus.

Wie die Sportler, die sich mehr über den Sieg der Mannschaft als über ihre eigene Leistung freuen, empfindet der Kollektivist eine Befriedigung darin, die Interessen seiner Gruppe zu fördern, selbst auf Kosten seiner persönlichen Bedürfnisse.

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Kapitel 3 · Anlage, Umwelt und die Vielfalt der Menschen

action press/Kyodo News

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Kollektivismus Diese pakistanischen Kinder und Frauen identifizieren sich mit ihrer Familie und mit anderen Gruppen; daraus gewinnen sie ein »Wir«-Gefühl, feste Wertvorstellungen und ein Netz für gegenseitige Hilfe. Das kollektivistische Unterstützungssystem hat diesen Menschen vielleicht dabei geholfen, mit den Verwüstungen fertig zu werden, die im Oktober 2005 durch ein Erdbeben in Kaschmir hervorgerufen wurden und die das Haus im Hintergrund des Bildes dem Erdboden gleichmachten

»Man muss den Geist kultivieren, bei dem man das kleine Ich opfert, um an die Vorteile des großen Ichs zu gelangen.« Chinesisches Sprichwort

Individualistisches Sprichwort: »Das Rad, das am meisten quietscht, wird geschmiert.« Kollektivistisches Sprichwort: »Die Kugel trifft die Ente, die quakt.«

Der Kollektivist verhält sich in einer neuen Gruppe schüchtern und gerät leichter in Verlegenheit als sein individualistisches Gegenstück (Singelis et al. 1995, 1999). Verglichen mit Menschen aus dem Westen zeigen Personen in der japanischen oder chinesischen Kultur eine größere Schüchternheit gegenüber Fremden, und sie kümmern sich mehr um soziale Harmonie und Loyalität (Bond 1988; Cheek u. Melchior 1990; Triandis 1994). Ihre Bindung an die Familie und an vertraute Gruppen ist tiefer und beständiger. Die Verpflichtung gegenüber der eigenen Familie kann wichtiger sein als die eigenen beruflichen Vorlieben. Verglichen mit Studierenden in den USA neigen Studierende in Japan, China und Indien viel weniger dazu, den Satzanfang »Ich bin ...« mit Persönlichkeitsmerkmalen zu vervollständigen (»Ich bin ehrlich«, »Ich bin zuversichtlich«), und viel mehr dazu, ihre soziale Identität preiszugeben (»Ich bin Student an der Universität von Keio«, »Ich bin der dritte Sohn in meiner Familie«) (Cousins 1989; Dhawan et al. 1995; Triandis 1989a,b). »Meine Eltern werden von mir enttäuscht sein« war eine Sorge, die von 7% der Jugendlichen in den USA und in Italien sowie von 14% der australischen Jugendlichen zum Ausdruck gebracht wurde, aber nahezu von 25% der Jugendlichen auf Taiwan und in Japan (Atkinson 1988). Beziehungen, die der Kollektivist eingeht, sind auf Dauer angelegt. Zwischen Chef und Angestelltem herrscht eine starke Loyalität. Es ist daher nicht verwunderlich, dass die Kolonialisierung der Welt in der Neuzeit nicht von Asiaten angeführt wurde, die nur ungern die Aufrechterhaltung sozialer und familiärer Bindungen gefährden wollen, sondern von den eher individualistischen Europäern. Und es ist auch nicht verwunderlich, dass die Länder, die von Europäern – Menschen, die bereitwillig Freunde und Familie aufgeben – kolonialisiert wurden, heute ausgesprochen individualistisch sind (Triandis 1989b). Wer sich in einem anderen Land ansiedeln will, ist mehr an Arbeit und Leistung interessiert als an Familie und Freunden; die, die bleiben wollen, haben mehr Interesse an Bindungen (Boneva u. Frieze 2001). Individuen innerhalb einer Kultur unterscheiden sich, und in Kulturen leben die verschiedensten Untergruppen (Oyserman et al. 2002a, b). Dennoch haben die interkulturellen Psychologen einige Variationen über die Kulturen hinweg entdeckt; diese reichen vom Individualismus in den USA (mit Ausnahme der Südstaaten) bis zum Kollektivismus in den ländlichen Gebieten Asiens (Hofstede 1980; Triandis 1994; Vandello & Cohen 1999). Menschen in kollektivistischen Kulturen legen Wert auf Gemeinschaft und Solidarität, deshalb ist es ihnen sehr wichtig, die Harmonie aufrechtzuerhalten und darauf zu achten, dass andere nie ihr Gesicht verlieren. Was jemand sagt, drückt sowohl aus, was er fühlt (seine innere Einstellung), als auch, was er annimmt, dass der andere es fühlt (Kashima et al. 1992). Man zollt Älteren und Vorgesetzten Respekt. Um das Gruppengefühl zu bewahren, werden die direkte Konfrontation, schonungslose Ehrlichkeit und kontroverse Themen vermieden, man beugt sich den Wünschen anderer, man ist höflich und demütig und vermeidet es, Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen (Markus u. Kitayama 1991). Deshalb hört sich der individualisierte Kaffeewunsch – großer Latte macchiato mit Karamell und besonders heiß –, den man bei uns als etwas ganz Spezielles ansieht, in Seoul eher als selbstsüchtiges forderndes Auftreten an, bemerken Kim u. Markus (1999). Und in koreanischen Werbeanzeigen betont man auch weniger die persönliche Wahlmöglichkeit, die Freiheit und die Einzigartigkeit, und es werden viel häufiger Menschen zusammen dargestellt (Markus 2001). In kollektivistischen Kulturen erinnert man sich daran, wer einem einen Gefallen getan hat, und Reziprozität wird zur gesellschaftlichen Kunst erhoben. Das Selbst des Kollektivisten ist nicht unabhängig, sondern wechselseitig abhängig (interdependent) (. Tabelle 3.1). In kollektivistischen Gesellschaften, besonders in denen, die von Konfuzius’ Vorstellung von einem »in ein Netz wechselseitiger Beziehungen« eingebetteten Selbst beeinflusst sind, ist niemand eine Insel (Kim u. Lee 1994). Glück ist, sich auf andere Menschen einzustellen (Kitayama u. Markus 2000). ! Beide Formen des Zusammenlebens, sowohl der Individualismus als auch der Kollektivismus, haben ihren Nutzen und sind mit Kosten verbunden.

Individualistische Kulturen bieten mehr persönlichen Freiraum, erlauben mehr Stolz auf die eigene Leistung; ihre Mitglieder sind geographisch weniger an die Familie gebunden und haben mehr Privatsphäre. Unterschiede werden betont, und dem Einzelnen bietet sich eine reichhaltige Aus-

133 3.4 · Kulturelle Einflüsse

. Tabelle 3.1. Entgegengesetzte Wertvorstellungen bei Individualismus und Kollektivismus. (Nach Schoeneman 1994; Triandis 1994)

Konzept

Individualismus

Kollektivismus

Selbst

Unabhängig (Identität durch individuelle Merkmale)

Wechselseitige Abhängigkeiten (Identität durch Zugehörigkeit)

Lebensaufgabe

Die eigene Einmaligkeit entdecken und ausdrücken

Beziehungen aufrechterhalten, sich einpassen, eine Rolle ausfüllen

Wichtig ist

Ich: persönliche Leistung und Erfüllung; Rechte und Freiheiten; Selbstwertgefühl

Wir: Gruppenziele und Solidarität; soziale Verantwortung und soziale Beziehungen; Pflichten innerhalb der Familie

Methoden

Die Realität verändern

Sich der Realität anpassen

Moral und Ethik

Vom Einzelnen definiert (Basis: das eigene Selbst)

Von sozialen Netzen definiert (Basis: Pflichtgefühl)

Beziehungen

Zahlreiche, häufig kurzfristige oder Gelegenheitsbeziehungen; Konfrontation akzeptabel

Wenige, enge und beständige Beziehungen; Harmonie hoch bewertet

Attributionsverhalten

Bringt Persönlichkeit und Einstellungen zum Ausdruck

Bringt soziale Normen und Rollen zum Ausdruck

wahl an Lebensstilen; der Einzelne ist aufgefordert, sich eine eigene Identität zu schaffen, Innovation und Kreativität werden hoch gehalten und die individuellen Menschenrechte geachtet. Das mag dazu beitragen, den Befund von Diener et al. (1995) zu erklären, dass die Menschen in individualistischen Kulturen einen höheren Grad an Glück angeben als die Menschen in kollektivistischen Kulturen. Wenn Individualisten ihre eigenen Ziele verfolgen und sie Erfolg dabei haben, kann das Leben durchaus lohnend sein. Es ist jedoch erstaunlich, dass innerhalb einer individualistischen Gesellschaft gerade die Menschen mit den stärksten sozialen Bindungen die größte Zufriedenheit mit ihrem Leben zum Ausdruck bringen (Bettencourt u. Door 1997). Außerdem gehen die scheinbar positiven Wirkungen des Individualismus möglicherweise auf Kosten von mehr Einsamkeit, mehr Scheidungen, mehr Morden und mehr stressbedingten Krankheiten (Popenoe 1993; Triandis et al. 1988). Menschen in individualistischen Kulturen bringen in stärkerem Maße einen auf sich selbst fokussierten »Narzissmus« zum Ausdruck, indem sie z. B. der folgenden Aussage zustimmen: »Ich finde es einfach, Menschen zu manipulieren« (Foster et al. 2003). Individualisten erwarten von einer Ehe auch eher romantische Liebe und mehr persönliche Erfüllung; das setzt die eheliche Beziehung einem größeren Druck aus (Dion u. Dion 1993). In einer Umfrage wurde »romantische Liebe lebendig halten« von 78% der amerikanischen Frauen als wichtig für eine gute Ehe bewertet, aber nur 29% der japanischen Frauen vertraten diese Auffassung (»American Enterprise« 1992: ). In China geht es in Liebesliedern häufig um eine lebenslange Bindung und um Freundschaft (Rothbaum u. Tsang 1998). In einem Lied heißt es: »Wir werden von nun an zusammen sein … ich werde von nun an für immer die Gleiche sein.«

3.4.4 Kultur und Kindererziehung Ziel 23: Beschreiben Sie einige Aspekte, in denen sich die Kindererziehung in individualistischen und in kollektivistischen Kulturen unterscheiden.

Auch in den Erziehungspraktiken zeigen sich die je nach Ort und Zeit unterschiedlichen kulturellen Werte. Hätten Sie lieber selbstständige Kinder, die unabhängig sind? Oder möchten Sie Kinder, die sich dem anpassen, was andere denken? Wenn Sie in einer westlichen Kultur leben, sind die Chancen dafür hoch, dass Sie sich für die erste Wahlmöglichkeit entscheiden. In westlichen Gesellschaften möchten die meisten Eltern selbstständig denkende Kinder haben. Westliche Familien und Schulen brachten ihren Kindern Prinzipien bei wie: »Du bist für dich selbst verantwortlich. Folge deinem Gewissen. Sei ehrlich zu dir selbst. Entdecke deine Fähigkeiten. Denk an deine persönlichen Bedürfnisse.« Doch auch diese kulturellen Werte unterliegen einer zeitbedingten Veränderung. Vor einem halben Jahrhun-

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Kapitel 3 · Anlage, Umwelt und die Vielfalt der Menschen

© Steve Reehl

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Kulturen unterscheiden sich In Stromness, einer Stadt auf den britischen OrkneyInseln, macht es das Vertrauen in die soziale Gemeinschaft möglich, Kinderwagen samt Kleinkindern vor einem Geschäft abzustellen

dert legten die Eltern im Westen Wert auf die Vermittlung von Eigenschaften wie Gehorsam, Respekt und Sensibilität gegenüber anderen (Alwin 1990; Remley 1988). Sie lehrten ihre Kinder: »Bleibt euren Traditionen treu« und »Seid loyal gegenüber eurem kulturellen Erbe und eurem Land. Habt Respekt vor euren Eltern und Vorgesetzten.« Im Gegensatz zu vielen Menschen aus westlichen Kulturen, die ihre Kinder zur Unabhängigkeit erziehen, leben viele Asiaten und Afrikaner in dörflichen Kulturen, die auf den Aufbau emotionaler Nähe ausgerichtet sind. Anstatt ein eigenes Schlafzimmer zu haben und einer Tagesmutter anvertraut zu werden, schlafen die Kinder und Kleinkinder üblicherweise bei ihren Müttern und verbringen ihre Tage in der Nähe eines Familienmitglieds (Morelli et al. 1992; Whiting u. Edwards 1988). Kinder aus traditionsbewussten Kulturen wachsen mit einem stärkeren Sinn für das Familien-Selbst auf. Damit ist ein Gefühl gemeint, das sich darin äußert, dass die Schande des Kindes auch die Schande der Familie ist. Andererseits bringt das, was der Familie zur Ehre gereicht, auch dem Selbst des Kindes Ehre ein. Kinder haben sich unabhängig von Ort und Zeit unter den verschiedensten Erziehungssystemen gut entwickelt. Britische Eltern aus der Oberschicht überließen die alltägliche Erziehung traditionell einem Kindermädchen und schickten ihre Kinder schon mit etwa 10 Jahren auf ein Internat. Diese Kinder sollten sich zu den tragenden Säulen der britischen Gesellschaft entwickeln, wie es ja auch bei ihren Eltern und ihren Mitschülern im Internat der Fall ist. In der afrikanischen Gesellschaft der Gusii wachsen die Babys ziemlich frei auf, verbringen aber die meiste Zeit des Tages auf dem Rücken ihrer Mutter. Somit haben sie viel Körperkontakt, aber wenig direkte und sprachliche Interaktion. Wenn die Mutter wieder schwanger wird, wird das Kleinkind entwöhnt und jemand anderem, oft einem älteren Geschwister, übergeben. Angehörige westlicher Kulturen fragen sich vielleicht, welche negativen Effekte diese mangelnde verbale Interaktion haben könnte. Auf der anderen Seite würden sich die afrikanischen Gusii über westliche Mütter wundern, die ihre Babys im Kinderwagen umherschieben und sie in Laufställchen und Autositze setzen (Small 1997).

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! Kulturelle Vielfalt bei der Kindererziehung sollte uns davon abhalten, einfach zu unterstellen, dass die Kindererziehung in unserer Kultur die einzig erfolgversprechende ist. Elterliches Engagement fördert die Entwicklung In jeder Kultur helfen Eltern ihren Kindern, die Welt zu entdecken. Allerdings unterscheiden sich die Kulturen darin, was sie als wichtig erachten. Im Vergleich zum nordamerikanischen und europäischen Kulturkreis liegt in asiatischen Kulturen die Betonung in stärkerem Maße auf Schule und harter Arbeit. Dies mag als Erklärung dafür dienen, dass japanische und taiwanesische Kinder bessere Werte in mathematischen Leistungstests erzielen

Gruppenübergreifende Ähnlichkeiten in der Entwicklung Ziel 24: Beschreiben Sie einige Aspekte, in denen sich Menschen trotz ihrer kulturellen Unterschiede ähnlich sind.

Da wir uns so sehr auf unsere Unterschiede konzentrieren, vernachlässigen wir häufig die Ähnlichkeiten, die durch unsere gemeinsame biologische Ausstattung bereits im Voraus angelegt sind. Die kulturübergreifende Forschung kann dazu beitragen, dass wir beides anerkennen: unsere kulturelle Unterschiedlichkeit und unsere Ähnlichkeit als Menschen. ! Im Vergleich zu den Unterschieden zwischen Personen innerhalb einer Gruppe sind die Unterschiede zwischen Gruppen nur gering.

»Wir erkennen klar und deutlich, dass wir aus vielen Kulturen, Traditionen und Erinnerungen hervorgegangen sind, dass wir von anderen Kulturen lernen können, wenn wir einander achten. Die Verbindung von Fremdem und Eigenem macht uns stark.« Der damalige UNO-Generalsekretär Kofi Annan in seiner Rede bei der Entgegennahme des Friedensnobelpreises (2001)

Ganz unabhängig von unserer Kultur – und gerade die Kultur ist etwas, was uns alle formt und steuert – unterliegen wir als Menschen alle demselben Lebenszyklus. Wir alle reden ähnlich mit unseren Kindern, reagieren ähnlich auf ihr Brabbeln und ihr Schreien (Bornstein et al. 1992a, b). Überall auf der Welt entwickeln die Kinder von warmherzigen und helfenden Eltern ein besseres Selbstbild und verhalten sich weniger feindselig als die Kinder von Eltern, die häufig mit Bestrafung arbeiten und sich ablehnend verhalten (Rohner 1986; Scott et al. 1991). Innerhalb einer Kultur verhalten sich die ethnischen Untergruppen möglicherweise unterschiedlich, obwohl sie ähnlichen Einflüssen ausgesetzt sind. Unterschiede, die manchmal auf die Zugehörigkeit zu einer Ethnie attribuiert werden, können daher oft die Folge anderer Faktoren sein. Rowe et al. (1994,

135 3.4 · Kulturelle Einflüsse

1995) illustrieren dies durch folgende Analogie: Schwarze Männer haben gewöhnlich einen höheren Blutdruck als weiße Männer. Nehmen Sie an, dass zum einen in beiden Gruppen der Salzkonsum mit dem Blutdruck korreliert und zum anderen der Salzkonsum bei schwarzen Männern höher ist als bei weißen Männern. Was würden wir dann erwarten? Ein Unterschied zwischen den beiden ethnischen Gruppen in Bezug auf den Blutdruck wäre dann – zumindest teilweise – eigentlich ein Ernährungsunterschied. Rowe et al. sehen hierzu auch eine Parallele bei psychologischen Forschungsergebnissen: Wie Blutdruckunterschiede können Verhaltensunterschiede die Folge von verschiedenen Einflüssen auf denselben Prozess sein. Allerdings stellten sie auch fest, dass, obwohl sich spanischsprachige Amerikaner, Asiaten, schwarze und weiße ethnische Gruppen in den Schulleistungen und in der Kriminalität unterscheiden, diese Unterschiede im Grunde kaum der Rede wert sind. Aufgrund der Einflüsse von Familienstruktur, Freunden und Altersgenossen und aufgrund der elterlichen Erziehung kann man das Verhalten für eine bestimmte ethnische Gruppe genauso gut oder schlecht vorhersagen wie für alle anderen Gruppen. Deshalb mögen wir uns zwar an der Oberfläche unterscheiden, doch scheinen wir als Angehörige einer Spezies denselben psychologischen Zwängen unterworfen zu sein. Da wir zu verschiedenen ethnischen und kulturellen Gruppen gehören, unterscheiden sich unsere Sprachen – und doch beruhen sie auf universellen grammatikalischen Prinzipien (7 Kap. 10). Unser Geschmack ist unterschiedlich, dennoch liegt ihm als gemeinsames Prinzip der Hunger zugrunde (7 Kap. 12). Unser Sozialverhalten variiert, doch spiegelt es die überall wirkenden Prinzipien des menschlichen Einflusses wider (7 Kap. 15).

»Sollte jemand herausfinden, warum die Männer in der Bond Street schwarze Hüte tragen, dann würde er im gleichen Moment den Grund dafür entdecken, dass die Männer in Timbuktu rote Federn tragen.« G. K. Chesterton (»Heretics«, 1908)

Lernziele Abschnitt 3.4 Kulturelle Einflüsse Ziel 19: Erörtern Sie die Vorteile der Kultur für das Überleben. Kultur ist eine Anzahl überdauernder Verhaltensweisen, Auffassungen, Einstellungen, Wertvorstellungen und Traditionen, die eine Gruppe von Menschen gemeinsam hat und die von einer Generation an die nächste weitergegeben wird. Kultur und verbale Fähigkeiten ermöglichen es uns, Innovationen zu bewahren und sie an die nächste Generation weiterzugeben, ein Prozess, der die Vielfalt zwischen den Gruppen fördert. Trotz der kulturellen Unterschiede ist unsere gemeinsame Kulturfähigkeit eine Gemeinsamkeit, die sich wie ein roter Faden durch die Entwicklung der Spezies Mensch hinweg verfolgen lässt. Ziel 20: Beschreiben Sie einige Aspekte, in denen sich Kulturen unterscheiden. Kulturen variieren bezüglich Auffassungen, Einstellungen, Wertvorstellungen und Traditionen. Diese Traditionen sind in die Normen der jeweiligen Kultur sowie in die Regeln für akzeptiertes und erwartetes Verhalten eingebettet. Fremde oder Besucher erleben einen Kulturschock, wenn sie in eine ganz andere Kultur kommen: Verwirrung oder Frustration aufgrund ihres mangelnden Verständnisses für die Normen bei der Beachtung des eigenen persönlichen Raums, beim Ausdruck persönlicher Gefühle, bei der Aufrechterhaltung eines langsameren oder schnelleren Takts im Alltag oder bei der Kindererziehung und -pflege. Ziel 21: Erklären Sie, warum Veränderungen im Genpool des Menschen nicht als Erklärung für eine kulturelle Veränderung über die Zeit hinweg herangezogen werden können. Kulturen verändern sich rasch. Westliche Kulturen haben sich in dem Maße verändert, in dem wir neue Formen der Technologie entdeckt und

uns an sie angepasst haben. Kulturen verändern sich auch in Bezug auf ihre Wertvorstellungen, Einstellungen und Verhaltensweisen. Die Geschwindigkeit, mit der solche Veränderungen vonstatten gehen, ist viel größer als die Allmählichkeit der evolutionären Veränderungen im Genpool des Menschen. Ziel 22: Geben Sie einige Aspekte an, in denen sich eine vorwiegend individualistische Kultur von einer vorwiegend kollektivistischen Kultur unterscheidet, und vergleichen Sie die Auswirkungen auf die personale Identität. In Kulturen, die auf einem selbstbewussten Individualismus beruhen, wie großenteils bei jenen in Nordamerika und Westeuropa, wird viel Wert auf persönliche Unabhängigkeit und individuelle Leistung gelegt. Beziehungen sind gewöhnlich eher zeitlich begrenzt und flüchtig, die Konfrontation wird akzeptiert, und die Moralvorstellungen sind Sache jedes Einzelnen. In individualistischen Kulturen neigt man dazu, Identität mit Bezug auf das Selbstwertgefühl, auf persönliche Merkmale und Ziele sowie mit Bezug auf persönliche Rechte und Freiheiten zu definieren. In Kulturen, die auf einem von sozialen Bindungen geprägten Kollektivismus beruhen, wie jene in vielen Teilen Asiens und Afrikas, legt man Wert auf Interdependenz, Tradition und Harmonie. Beziehungen sind hier überschaubar, eng und andauernd, und Moralvorstellungen beruhen auf der Pflicht gegenüber dem eigenen sozialen Netz. In kollektivistischen Kulturen neigt man dazu, Identität mit Bezug auf Gruppenziele und -verpflichtungen sowie mit Bezug auf die Zugehörigkeit zur eigenen Gruppe zu definieren.

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Kapitel 3 · Anlage, Umwelt und die Vielfalt der Menschen

Ziel 23: Beschreiben Sie einige Aspekte, in denen sich die Kindererziehung in individualistischen und in kollektivistischen Kulturen unterscheiden. Individualistische Kulturen erwarten von ihren Mitgliedern, dass sie unabhängig sind und eigenständig denken; die Praktiken der Kindererziehung in diesen Kulturen bringen das zum Ausdruck. In kollektivistischen Kulturen, in denen das Gefühl eines Familienselbst stärker betont wird, neigt man eher dazu, sich auf die Entwicklung eines Gefühls der emotionalen Nähe zu konzentrieren.

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Ziel 24: Beschreiben Sie einige Aspekte, in denen sich Menschen trotz ihrer kulturellen Unterschiede ähnlich sind. Obwohl sich Menschen verschiedener Kulturen unterscheiden, haben sie dasselbe genetische Profil gemeinsam, den Kreislauf des Lebens, die

3.5

verbalen Fähigkeiten, die biologischen Bedürfnisse und das Bedürfnis nach Zugehörigkeit zu einer Gruppe. In dem Maße, wie sich Verhalten aufgrund biologischer Gegebenheiten und sozialer Einflussfaktoren für Individuen in einer Gruppe vorhersagen lässt, lassen sich oft ähnliche Verhaltensweisen auch für andere Gruppen vorhersagen. > Denken Sie weiter: Mit welchem Konzept kann man Sie am besten beschreiben, mit dem des Kollektivisten oder dem des Individualisten? Kann man Sie vollständig in eine Kategorie einordnen, oder sind Sie manchmal ein Kollektivist und manchmal ein Individualist?

Entwicklung des sozialen Geschlechts

Wie wir in 7 Kap. 10 über Denken und Sprache erfahren werden, haben wir Menschen einen unwiderstehlichen Drang, unsere Welt in einfachen Kategorien zu ordnen. Unter den Arten, wie wir Personen (und uns selbst) klassifizieren – als groß oder klein, schlank oder fett, klug oder dumm –, stechen zwei besonders hervor: ethnische Zugehörigkeit und vor allem Geschlechtszugehörigkeit. Bei der Geburt wollen die Menschen insbesondere eins wissen: »Junge oder Mädchen?« Unser biologisches Geschlecht trägt dazu bei, das soziale Geschlecht (gender; 7 Abschn. 3.2.2) zu definieren, also die charakteristischen Merkmale, von denen man annimmt, dass sie weiblich oder männlich sind. Wenn man sich Gedanken darüber macht, wie Anlage und Umwelt zusammen zu sozialer Vielfalt führen, ist das soziale Geschlecht ein gutes Beispiel dafür. Zuvor haben wir uns mit einem bedeutsamen Unterschied im Hinblick auf das soziale Geschlecht beschäftigt: Geschlechtsunterschiede bei sexuellen Interessen und Verhaltensweisen. Lassen Sie uns noch einmal das zentrale Thema dieses Kapitels durchgehen – nämlich dass bei uns Anlage und Umwelt in ihrem Zusammenspiel zu Unterschieden und Gemeinsamkeiten führen –, indem wir andere Variationen in Bezug auf das soziale Geschlecht behandeln.

3.5.1 Geschlechtsbezogene Ähnlichkeiten und Unterschiede Ziel 25: Geben Sie einige biologische und psychologische Unterschiede zwischen Männern und Frauen an.

In den meisten Aspekten sind sich Männer und Frauen, die ja mit ähnlichen adaptiven Herausforderungen konfrontiert waren, sehr ähnlich. Männer und Frau stammen nicht von unterschiedlichen Planeten – etwa von Mars und Venus –, sondern vom Planeten Erde. Wenn Sie mir sagen, dass Sie eine Frau oder ein Mann sind, geben Sie mir praktisch keine Hinweise auf Ihren Wortschatz, Ihre Intelligenz, Ihr Selbstwertgefühl, Ihre Zufriedenheit oder auf die Mechanismen, mit deren Hilfe Sie sehen, hören, lernen und sich erinnern. Das »andere« Geschlecht ist in Wahrheit ein sehr ähnliches Geschlecht. Und ist das wirklich so eine Überraschung? 45 Chromosomen von den 46 Chromosomen sind für beide Geschlechter gleich. Aber es gibt einige Unterschiede, und das sind Unterschiede, die wir bemerken. Vielfalt ruft Aufmerksamkeit hervor. Bitten Sie Menschen, sich selbst zu beschreiben, und dann werden ihnen ihre einzigartigen Merkmale einfallen. Rothaarige werden ihre Haarfarbe erwähnen. Große Menschen werden ihre Körpergröße angeben. In Situationen, in denen Sie die einzige Person Ihrer Ethnie oder Ihres Geschlechts sind, werden Sie auf ebendiese einzigartigen Merkmale achten (McGuire et al. 1978).

137 3.5 · Entwicklung des sozialen Geschlechts

Einige Unterschiede zwischen Männern und Frauen sind offensichtlich. Im Vergleich zum Durchschnittsmann ist die Durchschnittsfrau mit 70% mehr Fett ausgestattet, verfügt über 40% weniger Muskeln und ist etwa 13 cm kleiner. Auch kommt sie 2 Jahre früher in die Pubertät und wird ihr männliches Gegenstück um 5 Jahre überleben. Es ist aber auch erwähnenswert, dass heute bei den Frauen die Weltrekorde im 400-Meter-Lauf und im Marathon im 10%-Bereich an die Weltrekorde der Männer herankommen (Leonhardt 2004). Im gesamten Buch werden wir es auch mit einigen weniger offensichtlichen Geschlechtsunterschieden zu tun haben. Bei Frauen ist es wahrscheinlicher, dass sie gleich lange von Männern und von Frauen träumen, dass sie unmittelbar nach dem Orgasmus erneut sexuell erregt sind, dass sie auch schwache Gerüche riechen, dass sie Emotionen frei zum Ausdruck bringen und dass ihnen in bestimmten Situationen Hilfe angeboten wird. Sie sind auch doppelt so anfällig für Depressionen und Ängste und haben ein 10-mal höheres Risiko für Essstörungen. Bei Männern dagegen ist es 4-mal so wahrscheinlich, dass sie Selbstmord begehen oder unter Alkoholismus leiden; es ist weitaus wahrscheinlicher, dass sie die Diagnose Autismus, Farbenblindheit, Hyperaktivität (bei Kindern) und Antisoziale Persönlichkeitsstörung (bei Erwachsenen) bekommen. Entscheiden Sie sich für ein Geschlecht, dann entscheiden Sie sich auch für dessen Anfälligkeit für diese Störungen bzw. Krankheiten. Lassen Sie uns nun näher auf das soziale Geschlecht und das Sozialverhalten eingehen. Forscher fanden Unterschiede bei der Aggression, der sozialen Macht und der sozialen Einbindung. Welchen Einfluss hat die Biologie auf das soziale Geschlecht, und welcher Anteil an den Unterschieden ist sozial bedingt – durch Geschlechtsrollen, die die Kultur uns zuweist, und durch die Art und Weise, wie wir als Kinder sozialisiert werden?

Soziales Geschlecht und Aggression Ziel 26: Beschreiben Sie den Geschlechtsunterschied in Bezug auf Aggression.

In Umfragen geben mehr Männer als Frauen zu, Aggressionen zu haben, und Experimente bestätigen, dass Männer dazu neigen, sich aggressiver zu verhalten, z. B. etwas zu verabreichen, was sie als schmerzvollere elektrische Stromstöße ansehen (Bettencourt u. Kernahan 1997). Der Geschlechtsunterschied in Bezug auf Aggression, bei der es mehr um körperliche als um verbale Aggression geht, zeigt sich auch im Alltag in unterschiedlichen Kulturen und Altersgruppen (Archer 2004). Die Häufigkeiten von Gewaltverbrechen veranschaulichen den Unterschied. Beispielsweise werden Männer in den USA 9-mal so häufig und in Kanada 7-mal so häufig wegen Mordes festgenommen als Frauen (FBI 2004; Statistics Canada 2003). Überall auf der Welt sind Jagen, Kämpfen und Kriegführung vorwiegend Aktivitäten von Männern (Wood u. Eagly 2002). Männer bringen auch eher ihre Unterstützung für einen Krieg zum Ausdruck. Bei einer Umfrage im Jahre 2005 gaben 51% der amerikanischen Männer an, dass sie der Irakinitiative von George Bush zustimmten, aber nur 34% der amerikanischen Frauen (Gallup 2005).

Soziales Geschlecht und soziale Macht Ziel 27: Beschreiben Sie einige Geschlechtsunterschiede in Bezug auf soziale Macht.

Überall auf der Welt, von Nigeria bis Neuseeland, nehmen Menschen Männer als dominanter wahr, als kräftiger und unabhängiger, Frauen hingegen als rücksichtsvoller, emotional unterstützender und geselliger (William u. Best 1990). Und tatsächlich sind Männer in den meisten Gesellschaften sozial dominant. Wenn Gruppen gebildet werden, sei es nun bei Geschworenengerichten oder bei Firmen, so werden sie gewöhnlich von Männern geleitet (Colarelli et al. 2005). In leitenden Positionen neigen Männer stärker dazu, direktiv, ja sogar autokratisch zu sein; Frauen neigen dazu, demokratischer zu sein und die Mitwirkung von Mitarbeitern an Entscheidungen zu fördern (Eagly u. Johnson 1990; van Engen u. Willemsen 2004). Wenn Menschen miteinander interagieren, äußern Männer eher Meinungen, Frauen dagegen bringen Unterstützung zum Ausdruck (Aries 1987; Wood 1987). Im alltäglichen Verhalten handeln Männer eher, wie es mächtige Menschen oft tun: selbstbewusst reden, unterbrechen, Berührungen initiieren, weniger lächeln, starren (Hall 1987; Major et al. 1990).

Aggression (aggression): jedes körperliche oder verbale Verhalten, das mit der Absicht ausgeführt wird, jemanden zu verletzen.

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Kapitel 3 · Anlage, Umwelt und die Vielfalt der Menschen

»In den vielen langen Jahren müssen sie einander ähnlicher werden; der Mann muss mehr wie eine Frau werden, sie mehr wie ein Mann.« Alfred Lord Tennyson (»The Princess«, 1847)

Derartige Verhaltensweisen tragen dazu bei, die Ungleichheiten sozialer Macht aufrechtzuerhalten. Wenn Politiker gewählt werden, handelt es sich gewöhnlich um Männer, die im Jahre 2005 84% der Sitze in den Parlamenten der Welt einnahmen (IPU 2005). Dabei reichte die Repräsentation von Frauen in den nationalen Parlamenten 2005 von 7% in den arabischen Staaten bis 40% in Skandinavien (IPU 2005). In den traditionell männlichen Beschäftigungsbereichen sind die Gehälter der Männer höher. Die Geschlechtsunterschiede in Bezug auf Macht scheinen jedoch mit steigendem Alter geringer zu werden, weil sich Frauen im mittleren Alter besser behaupten und sich Männer dann besser in andere Personen einfühlen können (Maccoby 1998).

Soziales Geschlecht und soziale Einbindung

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Ziel 28: Erörtern Sie die Geschlechtsunterschiede in Bezug auf die soziale Einbindung bzw. die Fähigkeit, aufeinander zuzugehen und Freundschaften zu schließen.

Frage: Warum braucht man 200 Millionen Samenzellen, um eine Eizelle zu befruchten? Antwort: Weil sie nicht anhalten, um nach dem Weg zu fragen.

Nach Carol Gilligan et al. (1982, 1990) beschreibt der »normale« Kampf darum, eine eigene getrennte Identität zu entwickeln, eher individualistische Männer als beziehungsorientierte Frauen. Gilligan ist der Auffassung, dass sich Frauen von Männern sowohl dadurch unterscheiden, dass sie weniger damit beschäftigt sind, sich selbst als separate Individuen zu sehen, als auch dadurch, dass sie sich mehr darum kümmern, »Beziehungen aufzubauen«. Diese Geschlechtsunterschiede zeigen sich schon früh, nämlich beim Spiel von Kindern. Jungen spielen typischerweise in großen Gruppen mit einem Fokus auf Aktivitäten und weniger auf Gesprächen im kleinen Kreis. Mädchen spielen gewöhnlich in kleineren Gruppen, oft nur mit einer Freundin. Ihr Spiel ist weniger wettbewerbsorientiert als bei Jungen und, was die sozialen Beziehungen angeht, imitativer. Sowohl beim Spiel als auch in anderen Situationen sind Mädchen offener und reagieren stärker auf Rückmeldungen als Jungen (Maccoby 1990; Robert 1991). Wenn man Fragen wie diese stellt (»Hast du irgendeine Vorstellung davon, warum der Himmel blau ist?« oder »Hast du irgendeine Vorstellung davon, warum kleine Menschen länger leben?«), wagen Männer eher als Frauen eine Antwort, statt zuzugeben, dass sie es nicht wissen. Hier handelt es sich um ein Phänomen, das Guiliano et al. (1998a, b) als das männliche Antwortsyndrom bezeichnen. Als Jugendliche verbringen Mädchen mehr Zeit mit Freundinnen und Freunden und weniger Zeit alleine (Wong u. Csikszentmihalyi 1991). Der Geschlechtsunterschied in Bezug auf die soziale Einbindung setzt sich bis ins Erwachsenenalter fort. Weil Frauen in stärkerem Maße interdependent sind, nutzen sie Gespräche eher dazu, Beziehungen zu erkunden; Männer nutzen sie, um Lösungen mitzuteilen (Tannen 1990). Neuere Untersuchungen aus zahlreichen Ländern bestätigen, dass es Geschlechtsunterschiede in Bezug auf die Kommunikation gibt: 4 Neuseeland: Wenn man Menschen eine Auswahl von E-Mail-Notizen von Studierenden gibt, dann raten sie das Geschlecht des Verfassers in 66% der Fälle korrekt (Thomson u. Murachver 2001). 4 USA: Wenn man Mädchen einen Computer zur Verfügung stellt, dann verbringen sie weniger Zeit damit, Spiele zu spielen, und mehr Zeit damit, E-Mails an Freundinnen und Freunde zu schicken (Crabtree 2002). 4 Frankreich: Frauen führen 63% der Telefongespräche; und wenn sie mit einer Frau sprechen, dann bleiben sie im Durchschnitt länger (7,2 Minuten) am Telefon, als dies Männer machen, wenn sie mit anderen Männern sprechen (4,6 Minuten) (Smoreda u. Licoppe 2000). Frauen betonen, dass sie sich um Leute kümmern, und dabei geht es in den meisten Fällen um die ganz Kleinen und um die ganz Alten. Frauen kaufen auch 85% der Grußkarten (nach der Zeitschrift Time 1997). Obwohl 69% der Menschen angeben, dass sie eine enge Beziehung zu ihrem Vater haben, empfinden 90% der Menschen Nähe zu ihrer Mutter (Hugick 1989). Wie Menschen mit Macht allgemein betonen Männer gerne Freiheit und Selbstsicherheit. Das kann zu einer Erklärung der Tatsache beitragen, dass Männer aller Altersgruppen weltweit der Religion und dem Beten weniger Bedeutung beimessen als Frauen (Benson 1992; Stark 2002). Bei einer Gallup-Umfrage sagten 2003 53% der Männer und 69% der Frauen, Religion sei in ihrem Leben »etwas sehr Wichtiges« (Saad 2003). Auch unter den Berufsskeptikern nehmen Männer eine dominierende Stellung ein. Nach einer Umfrage waren 80% der Befragten einer Skeptics Society Männer (Shermer 1999). Entsprechend waren die zwei Dutzend Gewinner und Zweit-

139 3.5 · Entwicklung des sozialen Geschlechts

Ziel 29: Erklären Sie, wie das biologische Geschlecht festgelegt wird, und beschreiben Sie die Rolle, die die Sexualhormone bei der biologischen Entwicklung und bei den sozialen Geschlechtsunterschieden spielen.

Wodurch lässt sich die Vielfalt des sozialen Geschlechts erklären? Ist die Biologie unser Schicksal? Werden wir von unserer Kultur geformt? Nach der biopsychosozialen Auffassung ist beides richtig; und dies geht auf das Zusammenspiel zwischen unserer momentanen Situation und dem zurück, was Wood u. Eagly (2002) als »den durch die Evolution entstandenen Charakter der Geschlechter« bezeichnen. In Bereichen, in denen Männer und Frauen mit ähnlichen Herausforderungen konfrontiert waren (wie z. B. der Regulierung des Wärmehaushalts durch die Schweißproduktion oder der Entwicklung des Geschmacksinns zum Erkennen von Nahrung), sind sich die Geschlechter ähnlich. Sowohl Männer als auch Frauen setzen bei der Beschreibung des idealen Partners Persönlichkeitsmerkmale wie freundlich, aufrichtig und intelligent an die Spitze ihrer Prioritätenliste. Evolutionspsychologen behaupten allerdings, dass Männer in Bereichen, die mit dem Paarungsverhalten in Zusammenhang stehen, ein typisch männliches Verhalten zeigen – ganz gleich, ob es sich um Elefanten, See-Elefanten, einfache Leute vom Lande oder Vorsitzende eines großen Unternehmens handelt. Solche sozialen Geschlechtsunterschiede können durch die Geschlechtschromosomen beeinflusst werden und sind folglich genetisch bedingt. Physiologisch können sie durch die Unterschiede in der Konzentration von Sexualhormonen erklärt werden. Männer und Frauen sind Variationen eines einzigen Wesens. Nach der Zeugung gibt es sieben Wochen lang keine anatomischen Unterschiede zwischen den Geschlechtern. Dann erst beginnen die Gene, das biologische Geschlecht zu determinieren. Dies geschieht durch das 23. Chromosomenpaar, die Geschlechtschromosomen. Von der Mutter erhält man ein X-Chromosom. Vom Vater kommt das Einzige der 46 Chromosomen, das nicht bei beiden Geschlechtern vorhanden ist. Dabei handelt es sich entweder um ein X-Chromosom, was die Entwicklung eines Mädchens zur Folge hat, oder um ein Y-Chromosom, wodurch ein Junge entsteht. Das Y-Chromosom enthält ein einzelnes, alles entscheidendes Gen, das das Hodenwachstum und die Produktion des wichtigsten männlichen Hormons, des Testosterons, auslöst. Dadurch kommt es wiederum ungefähr in der 7. Schwangerschaftswoche dazu, dass die äußeren männlichen Geschlechtsorgane ausgebildet werden. Auch Frauen haben Testosteron, nur weniger. Eine weitere kritische Phase der sexuellen Differenzierung stellen der 4. und 5. Schwangerschaftsmonat dar, wenn sich nämlich unter dem Einfluss des bei Männern stärker vorhandenen Testosterons und der weiblichen

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3.5.2 Biologische Grundlagen des Geschlechts

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platzierten auf der Liste der Zeitschrift Skeptical Inquirer, in der herausragende rationalistische Skeptiker des 20. Jahrhunderts aufgeführt werden, Männer. In der Rubrik »Die Naturwissenschaft und das Paranormale« beim Verlag Prometheus Books (dem führenden Haus für Skeptizismus) zählte ich im Prospekt für 2004 und 2005 104 Autoren und nur vier Autorinnen. Frauen sind anscheinend offener für Spiritualität (und sie sind auch mit weitaus größerer Wahrscheinlichkeit Autoren von Büchern über Spiritualität als über Skeptizismus). Auch Bindungen und Gefühle der Unterstützung sind bei Frauen stärker als bei Männern (Rossi u. Rossi 1993). Die Verbindungen zwischen den Frauen – als Mütter, Töchter, Schwestern, Kusinen und Großmütter – sind das gemeinsame Band der Familie. Als Freundinnen sind Frauen vertrauter miteinander als Männer; sie reden häufiger und offener miteinander (Berndt 1992; Dindia u. Allen 1992). Wenn Männer Spaß an Aktivitäten haben, die sie Seite an Seite machen, haben Frauen mehr Vergnügen daran, von Angesicht zu Angesicht miteinander zu reden (Wright 1989). Und wenn Frauen Stress bewältigen, wenden sie sich wegen Unterstützung häufiger an andere – sie gehen auf andere zu und schließen Freundschaft (Tamres et al. 2002; Taylor 2002). Sowohl Männer als auch Frauen berichten darüber, dass ihre Freundschaft mit Frauen intimer, vergnüglicher und hilfreicher ist (Rubin 1985; Sapadin 1988). Wenn sie Verständnis haben wollen und eine Person brauchen, mit der sie über Sorgen und Verletzungen sprechen können, wenden sich gewöhnlich sowohl Männer als auch Frauen an Frauen.

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Konkurrenz oder Miteinander? Zu Geschlechtsunterschieden bezogen darauf, wie wir mit anderen interagieren, kommt es schon in einem sehr frühen Alter

X-Chromosom (X chromosome): Geschlechtschromosom, das sowohl bei Frauen als auch bei Männern vorhanden ist. Aus jeweils einem XChromosom von beiden Elternteilen entsteht ein Kind mit weiblichem Geschlecht. Frauen haben also zwei X-Chromosomen, Männer dagegen ein X-Chromosom und ein Y-Chromosom. Y-Chromosom (Y chromosome): Geschlechtschromosom, das nur bei Personen männlichen Geschlechts vorhanden ist. Wenn es mit einem X-Chromosom der Mutter zusammentrifft, entsteht daraus ein Kind mit männlichem Geschlecht. Testosteron (testosterone): wichtigstes der männlichen Sexualhormone. Es ist bei Frauen und Männern vorhanden, allerdings stimuliert die zusätzliche Menge an Testosteron bei Männern die Entwicklung männlicher Sexualorgane im Fötus sowie das Wachstum der männlichen Geschlechtsmerkmale während der Pubertät.

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Kapitel 3 · Anlage, Umwelt und die Vielfalt der Menschen

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»Gene sind für sich genommen wie Samen, die man auf dem Bürgersteig fallen lässt: nicht imstande, irgendetwas hervorzubringen.« Primatologe Frans B. M. de Waal (1999)

Ovarialhormone unterschiedliche neuronale Mechanismen im Gehirn entwickeln (Hines 2004; Udry 2000). Was passiert Ihrer Meinung nach, wenn Drüsenfehlfunktionen oder Hormoninjektionen einen weiblichen Embryo einer übermäßigen Testosteronkonzentration aussetzen? Diese genetisch weiblichen Kinder werden mit männlich aussehenden Genitalien geboren, die chirurgisch umgewandelt werden können. Solche Mädchen tendieren bis zur Pubertät dazu, sich aggressiver und jungenhafter zu verhalten als die meisten anderen Mädchen und sich auch so anzuziehen und zu spielen, dass es eher der Art eines Jungen als der eines Mädchens entspricht (Berenbaum u. Hines 1992; Ehrhardt 1987). Haben sie die Möglichkeit, zwischen verschiedenen Spielsachen auszuwählen, so spielen sie (wie Jungen) lieber mit Autos und Spielzeugwaffen als mit Puppen und Zeichenstiften. Einige davon entwickeln sich zu lesbischen Frauen, doch die meisten entwickeln sich – wie nahezu alle Mädchen mit traditionell weiblichen Interessen – heterosexuell. Zudem kehren die Hormone ihre Geschlechtsidentität nicht um; sie sehen sich selbst als Mädchen, nicht als Jungen (Berenbaum u. Bailey 2004). Kann das wilde Verhalten dieser Mädchen auf die pränatale Hormongabe zurückgeführt werden? Wenn dem so ist, können wir dann daraus schließen, dass biologische Geschlechtsunterschiede auch zu Unterschieden im Geschlechtsverhalten führen? Wie bei den Menschen verbringen die männlichen Exemplare der äthiopischen Grünmeerkatze, einer Affenart, mehr Zeit mit »männlichem« Spielzeug wie Lastwagen als mit »weiblichem« Spielzeug wie Puppen. Und Experimente an vielen Arten, von Ratten bis Affen, bestätigen, dass weibliche Embryos, denen man männliche Hormone gab, später ein atypisches maskulines Aussehen hatten und sich auch aggressiver verhielten (Hines u. Green 1991). Aber bei uns Menschen sehen entsprechende Mädchen oft maskulin aus, und sie werden als »anders« wahrgenommen, deshalb werden sie vielleicht auch eher wie Jungen behandelt. Eine frühe Gabe von Sexualhormonen wirkt sich demnach unmittelbar auf unser biologisches Aussehen aus, wirkt zugleich jedoch auch indirekt durch den Einfluss des Aussehens auf prägende soziale Erfahrungen. Somit wirken Anlage und Umwelt zusammen wie die beiden Hände eines Bildhauers, der aus einem Klumpen Ton eine Skulptur formt. Weitere Belege dafür, dass die Biologie die Entwicklung des sozialen Geschlechts beeinflusst, stammen aus Untersuchungen an Personen, die von den Genen her Männer waren, die aber trotz eines normalen Sexualhormonspiegels und trotz Hoden ohne oder mit einem sehr kleinen Penis geboren wurden. In einer Studie mit 14 Betroffenen, die sich zu einem frühen Zeitpunkt einer Operation zur Geschlechtsumwandlung unterzogen und als Mädchen aufwuchsen, erklärten sich 6 später zu Männern, 5 lebten als Frauen, und bei 3 Personen war die Geschlechtsidentität unklar (Reiner u. Gearhardt 2004). Bei einem bekannten Fall folgten die Eltern eines kanadischen Jungen, der seinen Penis bei einer misslungenen Beschneidung verlor, dem Rat der Fachleute und zogen ihn als Mädchen auf, nicht als beschädigten Jungen. Aber »Brenda« war nicht wie die anderen Mädchen. »Sie« mochte Puppen nicht. Sie zerriss beim wild herumtollenden Spielen ihre Kleider. In der Pubertät wollte sie keine Jungen küssen. Am Ende erklärten Brendas Eltern, was geschehen war. Daraufhin legte Brenda sofort ihre weibliche Identität ab, ließ sich die Haare kurz schneiden, nahm einen Männernamen an und heiratete schließlich eine Frau; sie wurde Stiefvater und brachte sich traurigerweise später um (Colapinto 2000). Obwohl das soziale Geschlecht sozial beeinflusst ist, wird es nicht auf ein im biologischen Sinne unbeschriebenes Blatt geschrieben. Die Geschlechtschromosomen steuern die Sexualhormone, von denen das Gehirn des Fötus benetzt wird, und haben einen Einfluss auf die neuronale Verdrahtung. Die neuere Forschung bestätigt, dass es während der Entwicklung in Hirnarealen mit sehr vielen Rezeptoren für Sexualhormone Unterschiede zwischen männlichen und weiblichen Wesen gibt (Cahill 2005). Im Erwachsenenalter sind Teile des Frontallappens, eines Gebiets, das etwas mit der Wortflüssigkeit zu tun hat, bei Frauen dicker. Ein Teil des parietalen Kortex, eines Schlüsselareals für die räumliche Wahrnehmung, ist dagegen bei Männern dicker. In anderen Studien wird darüber berichtet, dass es Geschlechtsunterschiede gibt im Hippocampus, in der Amygdala und beim Volumen der grauen Substanz im Gehirn, wenn man es mit der weißen Substanz vergleicht. Obwohl noch weitere Forschung nötig ist, um diese Befunde zu bestätigen und die richtigen Schlussfolgerungen daraus zu ziehen, scheint nach Berichten der National Academy of Sciences eins klar zu sein: »Das Ge-

141 3.5 · Entwicklung des sozialen Geschlechts

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schlecht ist wichtig.« Zusammen mit der Umwelt führen geschlechtsbezogene Gene und die damit zusammenhängenden physiologischen Prozesse »zu Verhaltensunterschieden und zu kognitiven Unterschieden zwischen Männern und Frauen«.

3.5.3 Soziale Einflüsse auf das Geschlecht © picture-alliance/dpa/dpaweb

Ziel 30: Erörtern Sie die Bedeutung der Umwelt bei der Entwicklung von Geschlechtsrollen, und beschreiben Sie die beiden Theorien der Geschlechtstypisierung.

Das Geschlecht unterliegt nicht nur dem biologischen Einfluss, es ist auch ein soziales Konstrukt. Die Kultur akzentuiert, was die Biologie initiiert hat.

Geschlechtsrollen Die Geschlechtszugehörigkeit ist wichtig. Aber aus einer biopsychosozialen Perspektive sind auch die Kultur und die unmittelbare Situation wichtig. Wie bereits erwähnt ist Kultur alles, was einer Gruppe gemeinsam ist und was über die Generationen hinweg weitergegeben wird. Die formende Kraft der Kultur kann man an den sozialen Erwartungen erkennen, von denen das Verhalten von Männern und Frauen geleitet wird. Wie im Theater versteht man in der Psychologie unter einer Rolle eine Reihe vorgeschriebener Handlungen bzw. Verhaltensweisen, die wir von denen erwarten, die eine bestimmte soziale Position einnehmen. Eine Anzahl von Normen definiert die in unserer Kultur geltenden Geschlechtsrollen – d. h. Erwartungen zu der Art und Weise, wie sich Frauen und Männer verhalten sollen. Vor 30 Jahren ergriffen die Männer die Initiative für ein Rendezvous, fuhren das Auto und tätigten die Bankgeschäfte; Frauen dagegen sorgten dafür, dass es zu Hause schön war, kümmerten sich um die Kinder, kauften Kleidung für sie ein und suchten die Hochzeitsgeschenke aus. Geschlechtsrollen gibt es auch außerhalb der eigenen vier Wände. In den USA verbringen berufstätige Männer etwa 1 Stunde mehr pro Tag bei der Arbeit als berufstätige Frauen sowie etwa 1 Stunde weniger mit Aktivitäten im Haushalt und bei der Kinderbetreuung (Bureau of Labor Statistics 2004). In Australien verbringen Frauen 54% mehr von ihrer Zeit mit unbezahlter Hausarbeit und 71% mehr Zeit mit der Kindererziehung als Männer (Trewin 2001). In den USA waschen verheiratete Mütter zu 90% die Wäsche und nur 13% kümmern sich um das Auto (Acock u. Demo 1994). Auch in Deutschland findet sich eine ähnliche Tendenz: Für 72% ist Fensterputzen Frauensache, doch nur 8% der Frauen führen kleinere ständig anfallende Reparaturen im Haushalt aus (Noelle-Neumann u. Köcher 2002). Ich denke, ich muss Ihnen nicht sagen, welcher Elternteil zu ungefähr 90% der Zeit mit einem kranken Kind zu Hause bleibt, einen Babysitter organisiert oder den Arzt anruft (Maccoby 1995). Geschlechtsrollen können wie ein Gleitmittel in sozialen Beziehungen wirken, weil man sich lästige Diskussionen darüber spart, wer diese Woche die Wäsche macht und wer den Rasen mäht. Oft sind sie jedoch auch mit Nachteilen verbunden: Es kann ängstigend sein, von solchen Konventionen abzuweichen. Sind Geschlechtsrollen Ausdruck dessen, was für Männer und Frauen von der Biologie her natürlich ist? Oder werden sie durch Kulturen konstruiert? Die Vielfalt der Geschlechtsrollen über die Kulturen und über die Zeit hinweg deutet darauf hin, dass die Kultur hier einen starken Einfluss hat. In nomadischen Hirtengesellschaften gibt es kaum eine geschlechtsspezifische Arbeitsteilung. Jungen und Mädchen wachsen nahezu gleich auf. In Ackerbaugesellschaften hingegen bleiben die Frauen nahe beim Haus, arbeiten auf den Feldern und bleiben bei den Kindern; Männer ziehen oft ungebunden von einem Ort zum anderen und hüten die Rinder oder Schafe. Derartige Gesellschaften sozialisieren ihre Kinder normalerweise in deutlicher voneinander unterschiedenen Geschlechtsrollen (Segall et al. 1990; Van Leeuwen 1978). Doch innerhalb der Industrieländer variieren die Geschlechtsrollen und Einstellungen beträchtlich. Würden Sie sagen, dass es befriedigender ist, wenn beide Eheleute arbeiten und sich beide um die Kinderbetreuung kümmern? Bei der Umfrage Pew Global Attitudes (2003) kam heraus, dass die meisten Menschen in 41 von 44 Ländern der Aussage zustimmten, Berufstätigkeit für beide und gemeinsame Kinderbetreuung bringe am meisten Zufriedenheit (im Gegensatz

Der geschlechtsspezifische Tsunami In Sri Lanka, Indonesien und Indien trägt die Arbeitsteilung zwischen den Geschlechtern dazu bei, zu erklären, warum beim Tsunami im Jahre 2004 mehr Frauen als Männer starben. In einigen Dörfern waren 80% der Getöteten Frauen, die sich meist im Hause befanden, während die Männer eher auf dem Meer beim Fischen waren oder Arbeiten außerhalb des Haushalts machten (Oxfam 2005)

Rolle (role): Reihe von Erwartungen (Normen) an eine soziale Position. Sie definiert, wie sich jemand in dieser Position verhalten sollte. Geschlechtsrolle (gender role): gesellschaftliche Erwartungen an das Verhalten von Männern und Frauen.

142

Kapitel 3 · Anlage, Umwelt und die Vielfalt der Menschen

. Abb. 3.8. Geschlechtsrolle und Kultur Die Einstellungen gegenüber traditionellen Geschlechtsrollen variieren von einem Land zum anderen. (International Social Survey Program 1994)

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dazu, dass die Frauen zu Hause bleiben, während der Mann für den Unterhalt sorgt). Aber die Unterschiede von Kultur zu Kultur sind gewaltig, angefangen mit Ägypten, wo doppelt so viele die Aussage ablehnten, wie ihr zustimmten, bis Vietnam, wo ihr 11-mal so viele zustimmten. Geschlechtsrollen variieren auch über die Zeit hinweg: 4 Zu Beginn des letzten Jahrhunderts gewährte nur ein Land den Frauen das Wahlrecht, nämlich Neuseeland. Am Ende des letzten Jahrhunderts gab es nur ein Land, das dies nicht tat: Kuweit (Briscoe 1997). 4 In den späten 60er und frühen 70er Jahren nahm die Anzahl von amerikanischen Collegestudentinnen, die sich ein Leben als Vollzeithausfrauen erhofften, rapide ab – der Wind der Zeit trug die Hausfrauenschürze davon. 1960 war im Fach Jura einer von 10 Studienanfängern weiblich, zu Beginn des 21. Jahrhundert stellten Frauen bereits die Hälfte der Jurastudenten (Glater 2001). In Deutschland lag der Anteil weiblicher Studierender 1960 sowohl in der Bundesrepublik als auch in der DDR bei etwa einem Vierteil: 28 bzw. 25%; inzwischen hat sich der Frauenanteil verdoppelt (Geißler 2002, . Abb. 3.8). Dennoch gilt nach wie vor: je höher die Position innerhalb der beruflichen Hierarchie, desto kleiner der Anteil der Frauen. 4 Über die Jahrzehnte seit 1930 hat das Selbstbewusstsein der Frauen zusammen mit ihrem sozialen Status zugenommen und ist dann wieder zurückgegangen – es wurde stärker bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs, dann schwächer bis Mitte der 60er Jahre und dann wieder stärker (Twenge 2001). Es ist »für ein Mädchen in Ordnung, einen Jungen anzurufen, um sich mit ihm zu verabreden«; dieser Aussage stimmten nach einer Gallup-Umfrage 1950 29% der Amerikaner zu und ein halbes Jahrhundert später 70%. Die Vorstellungen von der Rolle der Geschlechter variieren auch zwischen den Generationen. Wenn asiatische Familien nach Kanada und die USA emigrieren, wachsen die Kinder der Einwanderer oft mit Altersgenossen auf, die Geschlechtsrollen übernehmen, die sich von denen der Immigranten-Eltern unterscheiden. Vor allem die Töchter fühlen sich zwischen verschiedenen Normen hin und her gerissen (Dion u. Dion 2001). Dies zeigt sich auch bei türkischen Mädchen in Deutschland, die sich häufig innerhalb der Familie in das traditionelle muslimische Rollenbild einfügen müssen und in der Schule mit westlichen Normvorstellungen konfrontiert sind (SchmalzJacobsen u. Hansen 1995). Geschlechtsidentität (gender identity): das Gefühl einer Person, Mann oder Frau zu sein. Geschlechtstypisierung (gender-typing): bezeichnet den Erwerb einer traditionell männlichen oder weiblichen Rolle. Theorie des sozialen Lernens (social learning theory): besagt, dass wir Sozialverhalten lernen, indem wir etwas beobachten und nachahmen und indem wir dafür belohnt oder bestraft werden.

Geschlecht und Kindererziehung Die Gesellschaft weist einem jeden von uns die soziale Kategorie männlich oder weiblich zu. Als unvermeidliche Folge davon kommt es bei uns zu einer stark ausgeprägten Geschlechtsidentität (wie sehr man sich als Mann oder Frau fühlt). In unterschiedlichem Maße findet dabei auch eine Geschlechtstypisierung statt. Darunter versteht man, dass manche Jungen überdurchschnittlich viele traditionell männliche Persönlichkeitseigenschaften und Interessen zeigen, während sich manche Mädchen im Unterschied zu anderen merklich weiblicher entwickeln. In der Theorie des sozialen Lernens wird angenommen, dass Kinder geschlechtsspezifisches Verhalten lernen, indem sie etwas beobachten und dies nachahmen und dafür belohnt bzw. bestraft werden. »Nicole, du bist so eine gute Puppenmutter«; »Große Jungen weinen nicht, Alex«.

143 3.5 · Entwicklung des sozialen Geschlechts

. Abb. 3.9. Veränderung des Frauenanteils an deutschen Hochschulen Der Anteil weiblicher Studierender an deutschen Hochschulen ist seit 1960 stark angewachsen. (Geißler 2002)

Allerdings sind nicht nur die Eltern für Belohnungen und Rollenmodelle verantwortlich. Das zeigt sich daran, dass die Unterschiede im geschlechtsspezifischen elterlichen Erziehungsstil nicht ausreichen, um geschlechtsspezifisches Verhalten zu erklären (Lytton u. Romney 1991). Tatsächlich ist es so, dass sich Kinder selbst dann, wenn ihre Familien versuchen, geschlechtsspezifisches Verhalten zu vermeiden, von selbst in »Jungen- und Mädchenwelten« organisieren, die jeweils regeln, wie man sich als Junge oder Mädchen zu verhalten hat. Die Geschlechtsschematheorie kombiniert die Theorie des sozialen Lernens mit Kognitionen: In Ihrer Kindheit haben Sie sich – wie andere Kinder – bemüht, die Welt zu verstehen, Sie haben Konzepte oder Schemata einschließlich eines Schemas zum eigenen Geschlecht entwikkelt (Bem 1987, 1993). Das Geschlecht ist dann vergleichbar mit einer Linse, durch die man auf seine Erfahrungen blickt (. Abb. 3.9). Vor dem Alter von 1 Jahr beginnen Kinder, männliche und weibliche Stimmen und Gesichter zu unterscheiden (Martin et al. 2002). Nach dem Ende des 2. Lebensjahres zwingt die Sprache die Kinder, damit zu beginnen, ihre Welt auf der Grundlage von Geschlechtsrollen zu organisieren. Es werden z. B. die Pronomina »er« und »sie« benutzt, viele Sprachen klassifizieren Objekte als männlich (»der Zug«) oder weiblich (»die Gabel«). Durch Sprache, Kleidung, Spielzeuge und Lieder trägt das soziale Lernen zur weiteren Entwicklung von Geschlechtsschemata bei. Im weiteren Verlauf vergleichen sich Kinder dann selbst mit ihrem Geschlechterkonzept (»Ich bin ein Junge und deswegen männlich, stark und aggressiv« oder »Ich bin ein Mädchen und deshalb weiblich, süß und hilfsbereit«) und passen ihr Verhalten dem an. Kleine Kinder sind Detektive in Fragen des sozialen Geschlechts, erklären Martin u. Ruble (2004). Haben sie erst einmal begriffen, dass es zwei Sorten von Menschen gibt – und dass sie

Geschlechtsschematheorie (gender schema theory): besagt, dass Kinder ein kulturabhängiges Konzept dazu lernen, was es bedeutet, Mann oder Frau zu sein, und ihr Verhalten danach ausrichten.

Foto: photos.com

. Abb. 3.10. Zwei Theorien der Geschlechtstypisierung In der Theorie des sozialen Lernens wird angenommen, dass sich die Geschlechtstypisierung durch Nachahmung und Verstärkung entwickelt. Die Geschlechtsschematheorie dagegen geht davon aus, dass das personenspezifische Konzept von Männlichkeit und Weiblichkeit die Wahrnehmung und das Verhalten beeinflusst

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144

Kapitel 3 · Anlage, Umwelt und die Vielfalt der Menschen

selbst zu einer dieser Sorten gehören –, suchen sie nach Hinweisreizen für das Geschlecht. Mädchen, so könnten sie entscheiden, sind die mit den langen Haaren. Nachdem sie die Welt in zwei Hälften eingeteilt haben, sind 3-Jährige lieber mit ihren eigenen Geschlechtsgenossen zusammen und wählen sich ihre eigene Gruppe zum Spielen aus. Die Rigidität der Stereotype über Jungen und Mädchen erreicht im Alter von etwa 5 oder 6 Jahren ihren Höhepunkt. Wenn der neue Nachbar ein Junge ist, nimmt ein 6-jähriges Mädchen vielleicht schlichtweg an, dass er keine gemeinsamen Interessen mit ihr hat. Bei kleinen Kindern spielen Geschlechtsschemata eine große Rolle.

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Lernziele Abschnitt 3.5 Entwicklung des sozialen Geschlechts Ziel 25: Geben Sie einige biologische und psychologische Unterschiede zwischen Männern und Frauen an. Der hauptsächliche Aspekt, in dem sich Männer und Frauen ähneln, ist ihre genetische Ausstattung, bei der 45 von 46 Chromosomen für beide Geschlechter strukturell gleich sind. Männer und Frauen unterscheiden sich biologisch in Bezug auf das Körperfett, die Muskeln, die Körpergröße, das Alter beim Einsetzen der Pubertät und die Lebenserwartung. Sie unterscheiden sich auch in psychologischer Hinsicht, z. B. in ihrer Anfälligkeit für bestimmte Störungen: Frauen bekommen häufiger die Diagnose Depression, Männer eher die Diagnose Antisoziale Persönlichkeitsstörung. Ziel 26: Beschreiben Sie den Geschlechtsunterschied in Bezug auf Aggression. Mehr Männer als Frauen verhalten sich aggressiv und beschreiben sich selbst als aggressiv. Der Geschlechtsunterschied in Bezug auf die Aggression, vor allem körperliche Aggression, ist in vielen Kulturen und in unterschiedlichen Altersgruppen zu finden. Ziel 27: Beschreiben Sie einige Geschlechtsunterschiede in Bezug auf soziale Macht. In den meisten Gesellschaften sind Männer sozial dominant und werden auch so wahrgenommen. Männer neigen dazu, mehr Leitungspositionen einzunehmen, und ihr Führungsstil ist direktiver als der von Frauen. Ziel 28: Erörtern Sie die Geschlechtsunterschiede in Bezug auf die soziale Einbindung bzw. die Fähigkeit, aufeinander zuzugehen und Freundschaften zu schließen. Frauen kümmern sich stärker darum, Verbindungen mit anderen aufzunehmen. Dieser Unterschied zeigt sich bereits, wenn kleine Kinder miteinander spielen, und setzt sich bis ins Jugend- und Erwachsenenalter fort. Frauen gehen auf andere zu und bauen Freundschaften auf; sie betonen, dass sie sich um andere kümmern, und sind häufig für die ganz Jungen und die ganz Alten verantwortlich. Die Bindungen zwischen Frauen scheinen stärker und unterstützender zu sein als die zwischen Männern. Männer neigen dazu, Freiheit und Selbstbewusstsein zu betonen. Ziel 29: Erklären Sie, wie das biologische Geschlecht festgelegt wird, und beschreiben Sie die Rolle, die die Sexualhormone bei der biologischen Entwicklung und bei den sozialen Geschlechtsunterschieden spielen. Das biologische Geschlecht wird durch das 23. Chromosomenpaar festgelegt. Bei diesem Chromosomenpaar besteht der Beitrag der Mutter

immer aus dem X-Chromosom. Der Beitrag des Vaters, der darüber bestimmt, ob ein Kind männlich oder weiblich sein wird, kann entweder ein X-Chromosom oder ein Y-Chromosom sein. Bei einer Kombination aus X und X wird daraus ein Mädchen, bei einer Kombination von X und Y ein Junge. Das Y-Chromosom enthält einen wichtigen Schalter für die Produktion des Hormons Testosteron, das in der 7. Woche der pränatalen Entwicklung das Wachstum der äußeren männlichen Geschlechtsorgane in Gang setzt (auch Frauen produzieren Testosteron, nur in geringerer Menge). Der 4. und 5. pränatale Monat ist eine zweite Schlüsselperiode für die Geschlechtsdifferenzierung; sie wird dadurch beeinflusst, dass der männliche Fötus mehr Testosteron hervorbringt und der weibliche Fötus mehr Ovarialhormone. Gender (soziales Geschlecht) wird definiert als die Menge biologischer und sozial beeinflusster Charakteristika, anhand derer Menschen männlich und weiblich definieren. Die Gene, die etwas mit dem Geschlecht zu tun haben, beeinflussen Unterschiede im Verhalten, indem sie möglicherweise einen Einfluss auf die Gehirnentwicklung haben; doch viele Geschlechtsunterschiede werden gelernt. Ziel 30: Erörtern Sie die Bedeutung der Umwelt bei der Entwicklung von Geschlechtsrollen, und beschreiben Sie die beiden Theorien der Geschlechtstypisierung. Unsere Biologie beeinflusst unser soziales Geschlecht, aber Kulturen formen Geschlechtsrollen – Erwartungen dazu, wie sich Männer und Frauen verhalten sollten. Geschlechtsrollen können von einem Ort zum anderen und von einer Zeit zur anderen innerhalb derselben Kultur unterschiedlich sein. Das Gefühl einer Person, männlich oder weiblich zu sein, wird als Geschlechtsidentität bezeichnet; und einige Menschen zeigen in stärkerem Maße geschlechtstypisiertes Verhalten (traditionell weiblich bzw. männlich) als andere. In der Theorie des sozialen Lernens wird angenommen, dass wir geschlechtsbezogenes Verhalten genauso wie anderes Verhalten lernen: durch Verstärkung, Bestrafung und Beobachtung. In der Geschlechtsschematheorie wird die Auffassung vertreten, dass wir uns ein kulturelles »Rezept« dafür aneignen, wie man weiblich oder männlich ist; dies wiederum beeinflusst unsere Verhaltensweisen und Wahrnehmungen in Bezug darauf, was für »Leute wie uns« angemessen ist. > Denken Sie weiter: Meinen Sie von sich, dass Sie sich stark geschlechtsspezifisch verhalten oder eher nicht? Welche Faktoren haben Ihrer Meinung nach zu Ihrem Gefühl von Männlichkeit bzw. Weiblichkeit beigetragen?

145 3.6 · Überlegungen zu Anlage und Umwelt

3.6

Überlegungen zu Anlage und Umwelt

Ziel 31: Beschreiben Sie den biopsychosozialen Ansatz der Entwicklung.

»Es gibt triviale Wahrheiten und große Wahrheiten«, so die Überlegungen des Physikers Niels Bohr zu einigen Paradoxa der modernen Wissenschaft. »Das Gegenteil einer trivialen Wahrheit ist einfach falsch. Das Gegenteil einer großen Wahrheit kann allerdings auch wahr sein.« Wahr zu sein scheint jedenfalls, dass die Geschichte unserer Vorfahren einen wesentlichen Beitrag zu unserer Entwicklung als Spezies leistete. Dort, wo es Veränderung, eine natürliche Selektion und Vererbung gibt, hat – zumindest in einem bestimmten Ausmaß – ebenfalls eine Evolution stattgefunden. Als sich die Eizelle der Mutter mit der Samenzelle des Vaters vereinigte, trug die dabei entstandene einzigartige Genkombination auch bei uns zur Entwicklung bei – nämlich zu der als Individuum. Gene prädisponieren uns sowohl zu unseren Gemeinsamkeiten als Menschen als auch zu unseren individuellen Unterschieden. Dies ist eine große Wahrheit über die menschliche Natur. Gene prägen uns. Genauso wahr ist allerdings, dass unsere Erfahrungen einen wesentlichen Beitrag zu unserer Entwicklung leisten. Wir lernen schon im Mutterleib und später in der Familie und in den sozialen Beziehungen zu den Menschen unserer Generation, wie wir denken und handeln sollen. Sogar anlagebedingte Unterschiede können durch äußere Einflüsse und Erfahrung verstärkt werden. Wenn die genetische Ausstattung und die Hormone Männer dazu prädisponieren, sich körperlich aggressiver zu verhalten als Frauen, mag die Kultur diesen Geschlechtsunterschied noch verstärken. Dies geschieht anhand von Normen, die Männer zu einem Machoverhalten und Frauen zu der Rolle als Repräsentantinnen des freundlicheren und sanfteren Geschlechts ermutigen. Wenn Männer stärker in Rollen gedrängt werden, die körperliche Kraft erfordern, und Frauen zu Rollen, die mit der Erziehung von Kindern zu tun haben, dann zeigen vielleicht beide Geschlechter genau das Verhalten, das von den jeweiligen Rolleninhabern erwartet wird. Dabei mögen sie feststellen, dass sie entsprechend beeinflusst werden. Die Rollen definieren ihre Rolleninhaber. Präsidenten verhalten sich während ihrer Präsidentschaft zunehmend präsidentenhaft, während sich Bedienstete immer stärker als Bedienstete geben. In ähnlicher Weise prägen uns Geschlechtsrollen. Aber die Unterschiede zwischen den Geschlechtsrollen schwinden. In dem Maße, in dem die rohe Kraft für Macht und Status immer irrelevanter geworden ist (denken Sie etwa an Bill Gates), sind »sowohl Männer als auch Frauen in vollem Umfang dazu fähig, auf allen Ebenen einer Organisation Rollen zu übernehmen«, so Wood u. Eagly (2002). Und in dem Maße, in dem die Beschäftigung von Frauen in früher männlichen Berufen zunahm, sind die Geschlechtsunterschiede in Bezug auf Männlichkeit bzw. Weiblichkeit und in Bezug auf das, was man bei einem Partner sucht, . Abb. 3.11. Der biopsychosoziale Ansatz zur Entwicklung

3

146

Kapitel 3 · Anlage, Umwelt und die Vielfalt der Menschen

geringer geworden (Twenge 1997). In dem Maße, in dem sich Rollen mit der Zeit verändern, verändern wir uns mit ihnen. Wenn uns nun beides prägt, Anlage und Umwelt, sind wir dann nichts anderes als ein »Produkt« aus Anlage und Umwelt? Sind wir rigide auf etwas festgelegt? Wir sind das Produkt aus Anlage und Umwelt (. Abb. 3.10), doch darüber hinaus sind wir auch ein offenes System. Gene durchdringen alles, sind aber nicht allmächtig. Manchmal trotzen Menschen ihrem genetischen Drang zur Fortpflanzung und entscheiden sich für das Zölibat. Auch die Kultur durchdringt alle Bereiche, sie ist aber nicht allmächtig. Manchmal widerstehen Menschen dem Erwartungsdruck ihres Freundeskreises, indem sie auf ihrer Freiheit bestehen und das Gegenteil von dem tun, was man von ihnen erwartet. Wenn die Masse in eine Richtung geht, erinnern sich die Menschen daran, wer sie sind, und gehen einen anderen Weg. Der Philosoph und Schriftsteller Jean-Paul Sartre nannte die Angewohnheit, Anlage und Umwelt als Rechtfertigung für unser Versagen heranzuziehen, einen »Irrglauben«: Damit ist gemeint, dass man die Verantwortung für das eigene Schicksal nicht selbst übernimmt, sondern schlechten Genen oder schlechten Einflüssen anlastet. Tatsächlich sind wir sowohl Geschöpfe als auch Schöpfer unserer je eigenen Welt. Wir sind – und das ist eine unumstößliche Wahrheit – Produkte unserer Gene und unserer Umwelten. Dennoch – und das ist eine andere große Wahrheit – sind an der Kausalkette, die unsere Zukunft bestimmt, unsere momentanen Entscheidungen beteiligt. Unsere Entscheidungen von heute beeinflussen unsere Umwelt von morgen. Dafür haben wir den Verstand. Die menschliche Umwelt ist nicht wie das Wetter, das sich einfach ereignet. Vielmehr sind wir die Architekten unserer Umwelt. Unsere Hoffnungen, Ziele und Erwartungen wirken sich auf unsere Zukunft aus. Genau dies führt dazu, dass sich Kulturen so stark unterscheiden und so rasch verändern.

3

Lernziele Abschnitt 3.6 Überlegungen zu Anlage und Umwelt Ziel 31: Beschreiben Sie den biopsychosozialen Ansatz der Entwicklung. Die Biologie stattet uns mit bestimmten Fähigkeiten aus und begrenzt uns in anderen. Dies geschieht bei uns als Mitgliedern der Spezies Mensch durch natürliche Selektion und durch unsere einzigartige Genkombination zum Zeitpunkt der Empfängnis. Die Menschen und die Gebräuche in unserer sozialen Umwelt leiten uns in Richtung auf bestimmte Rollen und belohnen uns, wenn wir uns als konform gegenüber den kulturellen Erwartungen erweisen (oder bestrafen uns, wenn wir uns nicht als konform erweisen). Unsere individuellen biologischen und psychologischen Charakteristika lösen zugleich bei jenen Menschen in unserer Umgebung, die unser Verhalten beeinflussen, Reaktionen aus. Aber auch unsere Handlungsfreiheit ist wichtig. Wir können die Entwick-

lung an jedem Punkt entlang dieses biopsychosozialen Kontinuums untersuchen. Die Wissenschaft kann dafür sorgen, dass unser Wissen über uns selbst und unsere Wertschätzung gegenüber der Welt um uns herum größer und nicht geringer wird. > Denken Sie weiter: Sind Sie der Auffassung, dass bei Ihnen durch Vererbung und Umwelt festlegt wurde, wer Sie heute sind, oder dass Vererbung und Umwelt nur einen Einfluss darauf hatten, wer Sie heute sind? Können Sie sich an einen wichtigen Zeitpunkt in Ihrem Leben erinnern, als Sie Ihr eigenes Schicksal in einer Weise selbst in die Hand nahmen, dass es Ihrer Anlage und Ihrer Umwelt widersprach?

Prüfen Sie Ihr Wissen 1. Was ist Erblichkeit? 2. Welches sind die drei Hauptkritikpunkte an der evolutionstheoretischen Erklärung der menschlichen Sexualität? 3. Um vorherzusagen, ob ein Jugendlicher rauchen wird, fragen Sie einfach, wie viele seiner Freunde im gleichen Alter rauchen. Eine Erklärung für diesen Zusammenhang ist der Einfluss der Gleichaltrigen. Welche andere Erklärung könnte es geben? 4. Wie unterscheiden sich individualistische und kollektivistische Kulturen? 5. Was sind Geschlechtsrollen, und was verrät uns ihre Variation über die Lern- und Anpassungsfähigkeit des Menschen?

147 3.6 · Überlegungen zu Anlage und Umwelt

LDeutsche Literatur zum Thema Hennig, W. (2002). Genetik. Heidelberg: Springer. Kasten, H. (2003). Weiblich – männlich: Geschlechterrollen durchschauen. München: Reinhardt. Lautenbacher, S., Güntürkün, O., Hausmann, M. (2007). Gehirn und Geschlecht. Heidelberg: Springer. Petermann, F., Niebank, K., Scheithauer, H. (2004). Entwicklungswissenschaft. Entwicklungspsychologie – Genetik – Neuropsychologie. Heidelberg: Springer. Plomin, R., DeFries, J., McClearn, G., Rutter, M. (1999). Gene, Umwelt und Verhalten. Einführung in die Verhaltensgenetik. Bern: Huber. Rowe, D. C. (1997). Genetik und Sozialisation: die Grenzen der Erziehung. Weinheim: Beltz PVU. Wink, M. (Hrsg). (2001). Vererbung und Milieu. Heidelberg: Springer.

3

4 Entwicklung 4.1

Pränatale Entwicklung und erste Lebenswochen

– 150

4.1.1 Zeugung und Empfängnis – 150 4.1.2 Pränatale Entwicklung – 151 4.1.3 Fähigkeiten des Neugeborenen – 153

4.2

Kleinkindzeit und Kindheit

– 155

4.2.1 Körperliche Entwicklung – 155 4.2.2 Kognitive Entwicklung – 158 4.2.3 Soziale Entwicklung – 166

4.3

Adoleszenz

– 178

4.3.1 4.3.2 4.3.3 4.3.4

Körperliche Entwicklung – 179 Kognitive Entwicklung – 181 Soziale Entwicklung – 184 Übergang ins Erwachsenenalter – 187

4.4

Erwachsenenalter

– 189

4.4.1 Körperliche Entwicklung – 190 4.4.2 Kognitive Entwicklung – 196 4.4.3 Soziale Entwicklung – 201

4.5

Zwei wichtige Themen der Entwicklungspsychologie – 209

4.5.1 Kontinuierliche und stufenweise Entwicklung 4.5.2 Stabilität und Veränderung – 210

– 210

Andere Kulturen, andere Perspektiven Ashima Ganguli … liegt in den Wehen … Jetzt ist sie allein, durch Vorhänge von den drei anderen Frauen im Zimmer getrennt… Zum ersten Mal in ihrem Leben schläft sie allein, von Fremden umgeben; ihr Leben lang hat sie entweder im Zimmer ihrer Eltern oder neben Ashoke gelegen. Sie wünscht, die Vorhänge wären offen und sie könnte mit den amerikanischen Frauen reden. Vielleicht hat eine von ihnen schon einmal ein Kind bekommen und könnte ihr sagen, was auf sie zukommt. Aber sie hat gehört, dass die Amerikaner großen Wert auf ihre Privatsphäre legen, trotz ihrer öffentlichen Sympa-

thiebekundungen, trotz ihrer Miniröcke und Bikinis und obwohl sie auf der Straße Händchen halten und auf dem Cambridge Common aufeinander liegen. Sie spreizt die Finger auf der riesigen, strammen Trommel, zu der ihr Bauch geworden ist. Wo die Füße und Hände des Babys im Moment wohl sind? Es ist jetzt nicht mehr unruhig; in den vergangenen Tagen hat es, von einem gelegentlichen Flattern abgesehen, nicht mehr gestoßen, geboxt oder sich gegen ihre Rippen gedrückt. Sie fragt sich, ob sie die einzige Inderin im Krankenhaus sei, doch dann erinnert ein leichtes Zucken des Babys sie da-

ran, dass sie genau genommen ja nicht allein ist. Es ist seltsam, denkt sie, dass ihr Kind an einem Ort geboren wird, an dem man normalerweise leidet oder stirbt… In Indien, denkt sie, gehen die Frauen zu ihren Eltern, wenn sie ein Kind zur Welt bringen, fort von Ehemann, Schwiegereltern und Hausarbeit, ziehen sich für eine Weile in die Kindheit zurück, wenn das Baby kommt. Jhumpa Lahiri. Der Namensvetter, S. 11–12, 2003, München: Blessing

150

Kapitel 4 · Entwicklung

Entwicklung Entwicklungspsychologie (developmental psychology): Teildisziplin der Psychologie, die die im Verlauf des Lebens auftretenden Veränderungen auf der physischen, kognitiven und sozialen Ebene untersucht.

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> Wann, wie und warum entwickeln wir uns auf unserer Reise durch das Leben – auf dem Weg vom Mutterleib zum Grab? Wir stellen zwar immer wieder fest, dass die Menschen unterschiedlich sind. Für die Entwicklungspsychologie, die sich mit den körperlichen, kognitiven und sozialen Veränderungen im Lebenszyklus eines Menschen befasst, ist es jedoch genauso wichtig, unsere Gemeinsamkeiten zu erkennen. Wir alle lernten mit etwa 1 Jahr laufen und mit etwa 2 Jahren sprechen. Als Kinder haben wir mit anderen Kindern gespielt und uns so auf unser Leben als Erwachsene vorbereitet. Wie alle Erwachsenen lachen und weinen, lieben und hassen wir, und gelegentlich kommt uns der Gedanke, dass wir eines Tages sterben werden.

Ziel 1: Nennen Sie die drei Veränderungsbereiche, die Entwicklungspsychologen untersuchen, und geben Sie die drei Hauptfragestellungen der Entwicklungspsychologie an.

Der entwicklungspsychologische Ansatz untersucht, wie sich ein Mensch vom Säugling zum alten Menschen entwickelt. Bei dieser Forschung geht es immer wieder um 3 große Themen: 1. Anlage versus Umwelt: Welchen Einfluss hat unser genetisches Erbe, und wie wirken sich die Erfahrungen, die wir machen, auf unsere Entwicklung aus? 2. Kontinuierlicher versus stufenweiser Verlauf: Ist Entwicklung ein geradliniger und kontinuierlicher Prozess, der wie eine Fahrt im Lift vor sich geht? Oder verläuft Entwicklung in einer Abfolge verschiedener Stufen, so wie man die Sprossen einer Leiter emporsteigt? 3. Stabilität versus Veränderung: Behalten wir die Persönlichkeitsmerkmale unserer frühen Kindheit bei, oder werden wir mit zunehmendem Alter zu anderen Menschen? In 7 Kap. 3 haben wir das Thema Anlage versus Umwelt behandelt. Am Ende dieses Kapitels werden wir über die Themen Kontinuität und Stabilität nachdenken.

4.1

Pränatale Entwicklung und erste Lebenswochen

Wie wurden wir die, die wir sind? Von der Vereinigung von Ei- und Samenzelle bis zur Geburt eines Menschen verläuft die Entwicklung in einem geordneten, aber störungsanfälligen Prozess.

4.1.1 Zeugung und Empfängnis Ziel 2: Beschreiben Sie die Vereinigung von Ei- und Samenzelle bei der Empfängnis.

Nichts ist natürlicher, als dass sich eine Spezies fortpflanzt. Und doch gibt es nichts Erstaunlicheres. Nehmen wir einmal die Fortpflanzung des Menschen. Der Prozess kommt in Gang, wenn die Eierstöcke einer Frau eine reife Eizelle abstoßen, die ungefähr so groß ist wie der Punkt am Ende dieses Satzes, und die 200 Mio. Spermien oder mehr, die während des Geschlechtsverkehrs in die Gebärmutter gelangt sind, stromaufwärts auf die Eizelle losstürmen. Eine Frau bringt bei ihrer Geburt bereits alle ihre Eizellen mit zur Welt, allerdings in unreifem Zustand, und nur je eines von 5000 reift heran und löst sich vom Eierstock. Ein Mann beginnt dagegen erst in der Pubertät mit der Spermienproduktion. Diese läuft für den Rest seines Lebens rund um die Uhr, doch die Menge der produzierten Spermien – anfangs über 1000 Spermien in dem kurzen Moment, den Sie brauchen, um diesen Satz zu lesen – nimmt mit dem Alter ab. Wie ein Astronaut beim Anflug auf einen riesigen Planeten nähert sich das Spermium einer Zelle, die 85.000-mal größer ist als es selbst. Die verhältnismäßig wenigen Spermien, die es bis zur Eizelle schaffen, geben Enzyme ab, die die Schutzhülle der Eizelle wegfressen; dadurch kann das Spermium in die Eizelle eindringen (. Abb. 4.1). Die Eizelle verhält sich dabei allerdings nicht

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Francis Leroy, Biocosmos/Science Photo Library/Photo Researchers, Inc.

Lennart Nilsson/Bonnier Fakta Bokforlag

4.1 · Pränatale Entwicklung und erste Lebenswochen

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. Abb. 4.1a, b. Leben wird sexuell übertragen Spermienzellen umrunden eine Eizelle (a). Dringt ein Spermium in die gallertartige Außenhaut (b), dann startet der Ablauf einer Reihe von chemischen Vorgängen, die bewirken, dass das Spermium und die Eizelle zu einer einzigen Zelle verschmelzen. Wenn alles klappt, wird sich diese Zelle immer wieder teilen, bis sie 9 Monate später als ein 100-Billionen-Zellen-Mensch ins Leben tritt

passiv. Sobald ein Spermium einzudringen beginnt, blockiert die Oberfläche der Eizelle allen anderen Spermien den Zugang. Gleichzeitig sprießen fingerähnliche Auswüchse um das erfolgreiche Spermium und ziehen es nach innen. Ehe ein halber Tag vergangen ist, verschmelzen der Zellkern der Eizelle und der des Spermiums. Das können Sie als den glücklichsten Augenblick Ihres Lebens betrachten. Von den 200 Mio. Spermien hat genau dasjenige, das sich mit genau dieser Eizelle verbinden musste, das Rennen gemacht, damit Sie der Mensch werden konnten, der Sie sind. Als das erste »Baby aus dem Reagenzglas« zur Welt kam, schätzte der Arzt und Autor Lewis Thomas (1979) dies als Wunder ein: Mitte 1978 war die neueste Überraschung der Medizin … die Geburt eines englischen Babys 9 Monate, nachdem es in einer Schale gezeugt worden war. Die etwas länger zurückliegende Überraschung, die uns alle eigentlich immer noch durcheinander bringen sollte, ist die, dass sich eine einzelne Samenzelle und eine einzige Eizelle vereinigen können und dass aus ihnen eine menschliches Wesen entsteht. … Dies geschieht schon so lange vor unseren Augen, dass wir uns daran gewöhnt haben; daher auch der Aufschrei der Verwunderung angesichts dieser wirklich winzigen technischen Veränderung der allgemeinen Verfahrens – es ist eigentlich gar nichts anderes, als den Beginn des Vorgangs vom Eileiter in einem Plastikbehälter zu verlagern.

4.1.2 Pränatale Entwicklung Ziel 3: Erklären Sie, was eine Zygote, ein Embryo und ein Fötus ist und wie Teratogene die Entwicklung beeinflussen können.

Nicht einmal die Hälfte aller befruchteten Eizellen, die wir Zygoten nennen, überlebt die ersten 2 Wochen (Grobstein 1979; Hall 2004). Doch Ihnen und mir war das Schicksal gnädig. Am Anfang unserer Existenz steht eine einzelne Zelle, dann werden es 2, dann 4 Zellen, und jede Zelle ist mit der ersten identisch. Im Verlauf der 1. Woche, wenn die Zygote etwa 100 Zellen groß ist, beginnen sich die Zellen zu differenzieren, d. h. sie spezialisieren sich je nach Funktion in ihrer Struktur. Wie diese identischen Zellen das bewerkstelligen – so als ob jemand entscheidet: »Ich werde eine Hirnzelle, du wirst eine Darmzelle« –, ist für die Wissenschaftler ein Rätsel, bei dessen Lösung die Entwicklungsbiologie erst am Anfang steht. Etwa 10 Tage nach der Empfängnis binden sich diese zunehmend unterschiedlichen Zellen an die Uteruswand der Mutter. Nun beginnen die etwa 37 Wochen der engsten menschlichen Beziehung, die es gibt. Die äußeren Teile der Zygote bilden mit der Uteruswand die Plazenta, die die Ernährung sichert. Aus den inneren Zellen bildet sich der Embryo (. Abb. 4.2). Im Lauf der folgenden 6 Wochen bilden sich allmählich die Organe und nehmen ihre Arbeit auf. Das Herz beginnt zu schlagen.

»In genau dem Augenblick, in dem die Samenzelle auf die Eizelle trifft, hat die gefährliche Gratwanderung, die zur biologischen Auslöschung führen kann, begonnen.« Ralph Blair, Nevertheless Joy!, 1989

Zygote (zygote): befruchtete Eizelle; Beginn der Phase der raschen Zellteilung (2 Wochen). Embryo (embryo): sich entwickelnder menschlicher Organismus. Die Embryonalphase dauert etwa von der 2. Woche nach der Befruchtung bis zum Ende des 2. Monats.

Fötus (fetus): Bezeichnung für den sich entwickelnden menschlichen Organismus ab der 9. Woche nach der Empfängnis bis zur Geburt.

Dopamine/Photo Researchers, Inc.

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. Abb. 4.2a-d. Pränatale Entwicklung a Der Embryo wächst und entwickelt sich rasch. Im Alter von 40 Tagen wird die Wirbelsäule sichtbar, und Arme und Beine beginnen zu wachsen. b Fünf Tage später beginnen sich die Proportionen des zentimeterlangen Embryos zu verändern: Der Körper ist nun größer als der Kopf, und Arme und Beine sind deutlich gewachsen. c Am Ende des 2. Monats beginnt die Fötalzeit. Gesichtszüge, Hände und Füße haben sich gebildet. d Zu Beginn des 4. Monats passt der knapp 60 g schwere Fötus noch mühelos auf eine Handfläche

Lennart Nilsson/Albert Bonniers Publishing Company

Kapitel 4 · Entwicklung

Lennart Nilsson/Albert Bonniers Publishing Company

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c

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Etwa 9 Wochen nach der Empfängnis hat der Embryo eindeutig menschliche Züge und ist jetzt ein Fötus (lat. Leibesfrucht, Kind). Während des 6. Monats sind Organe wie der Magen hinreichend ausgebildet, um einem zu früh geborenen Fötus eine Überlebenschance zu bieten. Der Fötus reagiert nun auch auf Geräusche. Mikrophonaufnahmen aus dem Uterus haben gezeigt, dass der Fötus den gedämpften Klang der mütterlichen Stimme hört (Ecklund-Flores 1992). Unmittelbar nach der Geburt reagiert das Kind mehr auf diese Stimme als auf die Stimme einer anderen Frau oder auf die seines Vaters (Busnel et al. 1992; DeCasper et al. 1984, 1986, 1994). ! Die pränatale Entwicklung umfasst folgende Phasen, wobei in jeder Phase sowohl genetische Faktoren als auch Umweltfaktoren wirksam werden: 4 Zygote: von der Empfängnis bis zur 2. Woche 4 Embryo: von der 2. bis zur 8. Woche 4 Fötus: von der 9. Woche bis zur Geburt

Teratogene (teratogens): Wirkstoffe (wie chemische Stoffe und Viren), die zum Embryo bzw. Fötus durchdringen und ihn während der pränatalen Entwicklung schädigen können.

In jeder pränatalen Phase wird die Entwicklung sowohl durch genetische Faktoren als auch durch Umweltfaktoren beeinflusst. Die Plazenta leitet Nährstoffe und Sauerstoff von der Mutter zum Fötus und hält dabei viele potenziell schädliche Substanzen zurück. Doch manche Substanzen schlüpfen durch die Kontrolle. Der Plazentaschutzwall lässt manche Teratogene passieren: Schadstoffe wie etwa bestimmte Viren und Drogen. Ist die Mutter heroinabhängig, dann ist ihr Kind bei der Geburt bereits ebenfalls heroinabhängig. Ist die Mutter mit dem Aids-Virus infiziert, dann kann ihr Kind auch infiziert sein. Eine schwangere Frau raucht niemals allein: Sie selbst und ihr Fötus bekommen den reduzierten Blutsauerstoff und den Nikotinstoß zu spüren. Ist die Mutter eine starke Raucherin, dann erhält ihr Fötus möglicherweise weniger Nährstoffe, er wird mit geringerem Gewicht geboren und ist anfälliger für eine Reihe von Problemen (Pringle et al. 2005). Wir wissen nicht, wie viel eine schwangere Frau trinken darf, ohne ihr Kind zu gefährden. Sogar geringe Mengen Alkohol können das fötale Gehirn beeinträchtigen: Auch wenn man nur

153 4.1 · Pränatale Entwicklung und erste Lebenswochen

ein einziges Mal betrunken ist, kann dies Millionen fötaler Hirnzellen zum Absterben bringen (Braun 1996; Ikonomidou et al. 2000). Der Alkohol geht ins Blut der Mutter über – und somit auch in das des Fötus – und lässt bei beiden die Aktivität des Zentralnervensystems geringer werden. Ist die Mutter eine starke Trinkerin, dann besteht für den Säugling ein erhöhtes Risiko, mit Geburtsschäden zur Welt zu kommen und geistig retardiert zu sein. Bei einem von 750 Neugeborenen zeigt sich die Wirkung als fötales Alkoholsyndrom (FAS): missgestalteter, kleiner Kopf und anomale Gehirnentwicklung. Heute ist FAS die häufigste Ursache für geistige Retardierung (Nichols 1994; Streissguth et al. 1991). Wo es üblich war, dass schwangere Frauen trinken, sind noch mehr Kinder vom FAS betroffen (Dorozyaski 1993; Dorris 1989). Kinder von alkoholabhängigen Müttern sind besonders gefährdet: 4 von 10 Müttern, die während der Schwangerschaft trinken, bringen Kinder mit FAS zur Welt. In vielen Teilen der Welt glauben die Menschen, dass der psychische Zustand einer Frau während der Schwangerschaft einen Einfluss auf ihren Fötus hat. Als Forscher dieser Möglichkeit in Experimenten bei schwangeren Nagetieren und nichtmenschlichen Primaten unter Stress nachgingen, fanden sie heraus, dass Stress zu einer Nachkommenschaft führt mit einer verzögerten motorischen Entwicklung, einer erhöhten Emotionalität, Lerndefiziten und Veränderungen in Neurotransmittersystemen, die mit psychischen Störungen beim Menschen in Zusammenhang gebracht werden, wie etwa einer Depression (DiPietro 2004; Huzink et al. 2004). Es bleibt künftigen Untersuchungen überlassen, festzustellen, ob pränataler Stress bei der Mutter die menschliche Entwicklung in ähnlicher Weise beeinflusst und, wenn dies der Fall ist, ab welchem Belastungsniveau.

Fötales Alkoholsyndrom (abgek. FAS, fetal alcohol syndrome): körperliche und kognitive Anomalien, verursacht durch mütterlichen Alkoholmissbrauch während der Schwangerschaft. In schweren Fällen kann es zu auffallenden Veränderungen der Gesichtsproportionen kommen.

»Siehe, du wirst schwanger werden und einen Sohn gebären. So trinke nun keinen Wein noch starkes Getränk und iss nichts Unreines …« Bibel, Buch der Richter, Kap. 13, Vers 7

4.1.3 Fähigkeiten des Neugeborenen Ziel 4: Beschreiben Sie einige der Fähigkeiten von Neugeborenen, und erklären Sie, wie die Forscher Habituation einsetzen, um die sensorischen und kognitiven Fähigkeiten von Neugeborenen zu erfassen.

Suchreflex (rooting reflex): Bereitschaft eines Babys, den Mund zu öffnen und nach der Brustwarze zu suchen, sobald seine Wange berührt wird.

Darauf vorbereitet, zu füttern und zu essen Tiere und Menschen sind von Natur aus darauf angelegt, auf die Nahrungsbedürfnisse ihrer Jungen zu reagieren

R. Scheddin

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Haben wir die Risiken und Gefahren der pränatalen Zeit überstanden, dann kommen wir zur Welt, und zwar ausgestattet mit Reflexen, die unser Überleben auf hervorragende Weise sichern. Wir ziehen die Gliedmaßen zurück, um einem Schmerz auszuweichen. Legt uns jemand ein Tuch aufs Gesicht, das uns am Atmen hindert, dann drehen wir den Kopf von einer Seite zur anderen und versuchen, das Tuch wegzuschieben. Junge Eltern machen sich oft Sorgen, ob ihr Baby die Reflexe richtig koordinieren kann, die für die Nahrungsaufnahme nötig sind. Der Suchreflex kann das zeigen: Berührt man das Baby an der Wange, dann dreht es sich zu der Berührung um, öffnet den Mund und sucht nach einer Brustwarze. Sobald es sie findet, schließt es den Mund fest um die Warze und beginnt zu saugen, wobei das Saugen bereits eine koordinierte Abfolge von Zungenbewegung, Schlucken und Atmen erfordert. Wird dem Baby die Befriedigung versagt, beginnt es zu schreien – ein Verhalten, das Eltern höchst unerfreulich finden. Sie sind dann sehr rasch bereit, diesen Zustand zu beenden. William James, ein Pionier der amerikanischen Psychologie, nahm an, dass das Neugeborene in einer Art »blühender und summender Verwirrung« lebt, und bis in die 60er Jahre des letzten Jahrhunderts hinein widersprach ihm auch kaum jemand. Man glaubte, dass Neugeborene nur ein bedeutungsloses Wechselspiel von Licht und Schatten sehen könnten. Doch diese Wissenschaftler sahen selbst das Licht am Ende des Tunnels dank neuer Forschungsmethoden, mit deren Hilfe die Untersuchung Neugeborener wesentlich verbessert wurde (7 Unter der Lupe »Strategien zur Erforschung kindlichen Denkens«). Sie entdeckten, dass einem ein Baby vieles erzählen kann – vorausgesetzt, man weiß, wie man fragen muss. Beim Fragen muss man sich an dem orientieren, was ein Baby tun kann: schauen, saugen und den Kopf drehen. Und ausgestattet mit Geräten, die die Augenbewegungen registrierten, und mit Schnullern, die mit Elektronik versehen waren, machten sich die Wissenschaftler auf, die uralten Fragen der Eltern zu beantworten: Was kann mein Baby sehen, hören, schmecken und denken?

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Kapitel 4 · Entwicklung

. Abb. 4.3a, b. Neugeborene zeigen eine Vorliebe für Gesichter Werden diese beiden Reize dargeboten, die aus identischen Elementen zusammengesetzt sind, dann schauen italienische Neugeborene fast doppelt so viele Sekunden auf das Bild, das an ein Gesicht erinnert (a; Johnson u. Morton 1999). In einer Studie mit kanadischen Neugeborenen, die im Durchschnitt erst 53 Minuten alt waren, zeigte sich die gleiche, offenbar angeborene Präferenz für Gesichter. (Mundloch et al. 1999)

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Habituation (habituation): Abnahme der Reaktionsbereitschaft bei wiederholter Stimulusdarbietung. In dem Maß, wie ein Säugling durch wiederholte Darbietung mit einem visuellen Stimulus vertraut wird, schwindet sein Interesse; er fixiert den Stimulus immer kürzer und wendet früher den Blick ab.

Was die Wissenschaftler dabei herausfanden, war erstaunlich und faszinierend: Von Geburt an sind wir für soziale Beziehungen prädestiniert und bringen die entsprechenden Fähigkeiten mit. Ein Neugeborenes dreht den Kopf dorthin, wo es menschliche Stimmen hört; ein Bild, das Ähnlichkeit mit einem Gesicht hat (. Abb. 4.3), wird länger betrachtet als ein rundes Muster. Doch wird das runde Muster länger fixiert als eine Scheibe ohne Kontraste, wenn das runde Muster Kontraste aufweist, die Ähnlichkeit mit dem menschlichen Auge haben (Fantz 1961). Das Neugeborene richtet den Blick am liebsten auf Gegenstände in 10–15 cm Entfernung. Und wen wundert es, dass das in etwa die Entfernung zwischen den Augen des Kindes und denen der Mutter beim Stillen ist (Maurer u. Maurer 1988)? Im Verlauf der ersten Lebensmonate entwickeln sich die Wahrnehmungsfähigkeiten des Neugeborenen ständig weiter. Schon in den ersten Tagen nach der Geburt wird das Neuronennetz im Gehirn auf den Geruch des mütterlichen Körpers geprägt. Wenn man ein Baby, das gestillt wird, im Alter von 1 Woche zwischen zwei Stilleinlagen legt, von denen eine aus dem BH seiner Mutter stammt und die andere von einer anderen stillenden Mutter, dann wendet sich das Baby i. Allg. zu dem Stück Mull hin, das den spezifischen Geruch seiner Mutter aufgenommen hat (MacFarlane 1978). Gibt man einem 3 Wochen alten Baby einen Sauger, der eine Kassette einschaltet, auf der manchmal die Stimme der Mutter zu hören ist und manchmal die Stimme einer anderen Frau, dann saugt das Kind kräftiger, wenn es die vertraute Stimme der Mutter hört (Mills u. Melhuish 1974). ! Ein Baby kann nicht nur sehen, riechen und hören, was für sein Überleben wichtig ist, sondern es setzt schon früh seine Sinnesorgane ein, um zu lernen.

Unter der Lupe

Strategien zur Erforschung des kindlichen Denkens Ist die Sehfähigkeit eines Neugeborenen weit genug entwickelt, um Formen zu unterscheiden? Kann ein Baby im Alter von 3 Monaten Gesichter wiedererkennen? Hat ein 5 Monate altes Kind eine Vorstellung von Zahlen? Wenn Babys sprechen könnten, würden wir sie befragen. Da sie jedoch (noch) nicht sprechen können, lassen Psychologen das Verhalten sprechen. Wissenschaftler im Bereich Entwicklungspsychologie untersuchen beispielsweise eine elementare Form des Lernens, die Habituation genannt wird. Dabei nimmt die Reaktion des Babys auf einen wiederholten Reiz ab. Ein neuer Stimulus zieht die Aufmerksamkeit des Kindes auf sich, wenn er zum ersten Mal dargeboten wird. Doch je öfter der Reiz präsentiert wird, desto schwächer fallen die Reaktionen des Babys aus. Diese scheinbare Langeweile, mit der das Baby auf schon bekannte Reize reagiert, gibt uns die Möglichkeit herauszufinden, was ein Säugling sehen und woran er sich erinnern kann. Spencer et al. (1997; Quinn 2002) entwickelten ein Versuchsdesign, bei dem sie die Vorliebe von Babys für neue Stimuli nutzten, um 4 Monate alte Säuglinge zu »fragen«, wie sie Hunde und Katzen wiedererkennen. Zunächst zeigten sie den Säuglingen eine Reihe von Bildern mit Katzen oder Hunden. Welches der beiden Tiere in . Abb. 4.4 würde ein Kind, dem man vorher Bilder von Katzen gezeigt hatte, Ihrer Meinung nach als neu und ungewöhnlich erleben (gemessen an der Fixationsdauer)? Das Kind entschied sich für das zusammengesetzte Tier mit dem Hundekopf (bzw. für das mit dem Katzenkopf, wenn das Kind vorher Bilder von Hunden gesehen hatte). Daraus kann man die Annahme ableiten, dass Säuglinge genau wie Erwachsene zuerst das Gesicht wahrnehmen und erst danach den Körper.

Andere Wissenschaftler, die ebenfalls mit dem Phänomen der Habituation arbeiteten, fanden heraus, dass Säuglinge auch Farben, Formen und Geräusche unterscheiden können, dass sie durchaus Sinn für Zahlen haben und ein paar grundlegende Konzepte der Physik verstehen (z. B. dass sich zwei feste Objekte nicht gleichzeitig am selben Platz befinden können). Warum wurden diese einfachen und doch so eleganten Untersuchungen erst in jüngerer Zeit durchgeführt? Slater (1994) erklärt dies so: Um einen neuen Reiz als neu und anders wahrnehmen zu können, muss sich der Säugling an den ursprünglichen Reiz erinnern können. Bis in die frühen 80er Jahre ging die Wissenschaft jedoch von der Annahme aus, dass das Gehirn eines Neugeborenen nicht reif genug für eine solche Gedächtnisleistung ist. Doch nach und nach konnten die Wissenschaftler die Fähigkeiten des Neugeborenen besser einschätzen und suchten deshalb nach neuen Wegen, um die Spannbreite der kognitiven Fähigkeiten von Neugeborenen untersuchen zu können.

Eigentum von Paul Quinn © John Wiley & Sons

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. Abb. 4.4. Schnell antworten: Welches ist die Katze? Wissenschaftler verwendeten Hybridbilder wie dieses von Hund und Katze, um herauszufinden, nach welchen Kriterien Kleinkinder Tiere in eine Kategorie einordnen

155 4.2 · Kleinkindzeit und Kindheit

Lernziele Abschnitt 4.1 Pränatale Entwicklung und erste Lebenswochen Pränatale Entwicklung Ziel 1: Nennen Sie die drei Veränderungsbereiche, die Entwicklungspsychologen untersuchen, und geben Sie die drei Hauptfragestellungen der Entwicklungspsychologie an. In der Entwicklungspsychologie werden körperliche, geistige und soziale Veränderungen über die Lebensspanne hinweg untersucht. Die drei Hauptforschungsfragen betreffen den relativen Einfluss der Anlagen (Vererbung) und der Umwelt (Erfahrung), ob Entwicklung ein kontinuierlicher Prozess ist oder aus einer Reihe voneinander unterschiedener Stufen besteht, ob die Persönlichkeit stabil ist oder ob sie sich verändert, wenn wir älter werden. Ziel 2: Beschreiben Sie die Vereinigung von Ei- und Samenzelle bei der Empfängnis. Bei der Empfängnis kann nur eine Samenzelle des Mannes die äußere Hülle der Eizelle einer Frau durchdringen, bevor die Oberfläche der Eizelle alle anderen abblockt. Innerhalb von etwa 12 Stunden vereinigen sich die Kerne von Samen- und Eizelle zu einer einzigen Zelle. Ziel 3: Erklären Sie, was eine Zygote, ein Embryo und ein Fötus ist und wie Teratogene die Entwicklung beeinflussen können. Eine Zygote ist eine befruchtete Eizelle, die zunehmend differenzierter wird. Nach etwa 10 Tagen ist der äußere Teil der Zellmasse mit der Uteruswand verbunden, und aus den inneren Zellen wird der Embryo. Hiermit beginnt eine Entwicklungsstufe, bei der sich die wesentlichen Organe ausbilden und ihre Funktion aufnehmen. Von

4.2

der 9. Woche nach der Befruchtung an bis zur Geburt entwickelt sich der Organismus, der jetzt Fötus heißt, weiter und wächst. Teratogene sind potenziell schädliche Stoffe, die die Plazentaschranke passieren und den sich entwickelnden Embryo oder Fötus schädigen können. Ziel 4: Beschreiben Sie einige der Fähigkeiten von Neugeborenen, und erklären Sie, wie die Forscher Habituation einsetzen, um die sensorischen und kognitiven Fähigkeiten von Neugeborenen zu erfassen. Neugeborene kommen mit einer Anzahl automatischer Reaktionen (Reflexen) auf die Welt, die zum Überleben beitragen; dazu gehört auch der Suchreflex, der ihnen hilft, Nahrungsquellen ausfindig zu machen. Die sich rasch entwickelnden Seh- und Hörsinne scheinen auf soziale Ereignisse angepasst zu sein, wie etwa auf das Gesicht oder die Stimme der Betreuungsperson. Forscher können einiges von dem herausfinden, was Kleinkinder wahrnehmen und denken, indem sie beobachten, wie sie auf neuartige Reize reagieren (wie z. B. Farben, Gestalten und Formen) oder wie vertraute Reize zunehmend langweiliger werden (sie habituieren). Um einen neuen Reiz als anders zu erkennen, muss sich ein Kleinkind an den alten Reiz erinnern; dies deutet auf eine einfache Form des Lernens hin. > Denken Sie weiter: Hat Sie der Bericht über die Fähigkeiten der Neugeborenen überrascht? Oder lautete Ihre Reaktion: »Das war doch klar«?

Kleinkindzeit und Kindheit

Während der Kleinkindzeit wächst der Säugling vom Neugeborenen zum Kleinkind heran; im Verlauf der Kindheit wird aus dem Kleinkind ein Teenager. Jeder von uns durchläuft diesen Weg der körperlichen, kognitiven und sozialen Entwicklung. Von der frühesten Kindheit an verläuft die Entwicklung von Gehirn und Denken, also von neuronaler »Hardware« und kognitiver »Software«, parallel.

4.2.1 Körperliche Entwicklung Die biologische Entwicklung des Säuglings und Kleinkindes ist die Basis für seine psychische Entwicklung. Um zu verstehen, wie sich die motorischen Fertigkeiten und das Gedächtnis entwickeln, müssen wir verstehen, wie sich das Gehirn entwickelt.

Entwicklung des Gehirns Ziel 5: Beschreiben Sie einige Entwicklungsveränderungen im Gehirn des Kindes, und erklären Sie, warum viele der Ähnlichkeiten zwischen uns auf Reifung zurückgehen.

Bereits im Mutterleib nimmt die Zahl der Nervenzellen explosionsartig zu: fast eine Viertelmillion pro Minute. In der Aufbauphase des Kortex kommt es zu einer Überproduktion von Neuronen, in der 28. Schwangerschaftswoche erreicht die Produktion ihren Höhepunkt und pendelt sich dann bis zum Zeitpunkt der Geburt bei etwa 23 Mrd. ein (Rabinowicz et al. 1996, 1999; de Courten-

»Es ist ein seltsames Glück, das Erwachen, das Wachsen und die ersten schwachen Betätigungen eines lebendigen Geistes zu beobachten.« Helen Keller und Annie Sullivan, »Mein Weg aus dem Dunkel. Blind und gehörlos – das Leben einer mutigen Frau, die ihre Behinderung besiegte«, 1997

4

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Kapitel 4 · Entwicklung

Myers 2002). Am Tag Ihrer Geburt waren bereits fast alle Gehirnzellen vorhanden, die Sie je haben werden. Zu diesem Zeitpunkt war das Nervensystem jedoch noch unreif: Das neuronale Netz, das Ihnen die Fähigkeit zu laufen verleiht, zu sprechen und sich zu erinnern, unterlag einem stürmischen Wachstumsschub hin (. Abb. 4.5). Zwischen dem 3. und dem 6. Lebensjahr wachsen die Nervenverbindungen in den Frontallappen am schnellsten; sie sind für rationales Planen zuständig (und sie entwickeln sich bis mindestens zur Adoleszenz weiter). Die Assoziationsfelder des Großhirns – die mit Denken, Gedächtnis und Sprache in Zusammenhang gebracht werden – sind die letzten Bereiche des Gehirns, die sich entwickeln. In dem Maße, wie dies geschieht, nehmen die geistigen Fähigkeiten rapide zu (Chugani u. Phelps 1986; Thatcher et al. 1987). Die Nervenbahnen, die eine unterstützende Funktion für die Sprache und die Beweglichkeit haben, breiten sich bis zur Pubertät weiter aus; danach werden überzählige Verbindungen gestutzt und verschwinden allmählich, während andere Nervenbahnen verstärkt werden (Paus et al. 1999; Thompson et al. 2000). Eine Blume entfaltet sich entsprechend ihren genetischen Instruktionen. Auch der Mensch erlebt eine geordnete Abfolge von biologischen Wachstumsprozessen, die genetisch begründet sind. Diese Prozesse werden Reifung genannt. Die Reifung hat einen bestimmenden Einfluss auf viele menschliche Gemeinsamkeiten im Entwicklungsverlauf: Jedes Kind lernt stehen, ehe es laufen lernt, und es verwendet Substantive früher als Adjektive. Schwere Deprivation, Misshandlung oder Missbrauch können diesen Prozess verzögern; Eltern, die viel mit dem Kind sprechen und ihm vorlesen, fördern dagegen die Ausbildung neuronaler Verbindungen. Doch die Tendenz zum Wachsen und zur Entwicklung ist genetisch bedingt, also angeboren.

4 . Abb. 4.5. Schematische Darstellung von Schnitten durch den Kortex des Menschen Der Mensch kommt mit einem unausgereiften Gehirn zur Welt. Während des biologischen Reifungsprozesses bildet das neuronale Netz immer neue Verbindungen aus und wird zunehmend komplexer Reifung (maturation): biologische Wachstumsprozesse, die die Grundlage für systematisch und von äußeren Verhältnissen und Erfahrungen relativ unbeeinflusst ablaufende Verhaltensänderungen sind.

! Der Reifungsprozess setzt den grundlegenden Verlauf der Entwicklung in Gang, Erfahrungen sorgen für die Feinabstimmung.

Die motorische Entwicklung Ziel 6: Beschreiben Sie kurz vier Ereignisse in der Abfolge der motorischen Entwicklung von der Geburt bis zum Kleinkind, und geben Sie an, welche Auswirkungen Reifung und Erfahrung auf diese Abfolge haben.

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. Abb. 4.6. Der Siegeszug des Kleinkinds Herumrollen – krabbeln – laufen – rennen: Die Reihenfolge dieser Stufen der motorischen Entwicklung des Kleinkindes ist überall auf der Welt gleich; variabel ist jedoch das Alter, in dem das Kind eine neue Stufe erobert

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Die Entwicklung des Gehirns ermöglicht die Koordination der Bewegungen. Mit dem fortschreitenden Reifungsprozess der Muskeln und des Nervensystems werden komplexere Bewegungsabläufe möglich. Bis auf wenige Ausnahmen verläuft die körperliche (motorische) Entwicklung überall auf der Welt in derselben Reihenfolge. Ehe das Baby ohne Hilfe sitzen kann, rollt es sich herum; bevor es laufen kann, krabbelt es auf allen Vieren (. Abb. 4.6). Dieses Verhalten ist keine Nachahmung – auch blinde Kinder krabbeln, ehe sie laufen –, sondern es ist Ausdruck des reifenden Nervensystems.

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Allerdings ist der Zeitpunkt individuell verschieden. So können im westlichen Kulturkreis beispielsweise 25% aller Babys mit 11 Monaten laufen, 50% innerhalb einer Woche nach ihrem ersten Geburtstag und 90% mit 15 Monaten (Frankenburg et al. 1992). Die für Säuglinge empfohlene Rückenlage beim Schlafen (wenn man Babys zum Schlafen auf den Rücken legt, verringert sich das Risiko eines plötzlichen Kindstods) wurde damit in Zusammenhang gebracht, dass sie etwas später krabbeln, aber nicht damit, dass sie später gehen können (Davis et al. 1998; Lipsitt 2003). Die genetische Veranlagung spielt eine wichtige Rolle. Eineiige Zwillinge können typischerweise fast zeitgleich sitzen bzw. laufen (Wilson 1979). Der biologische Reifungsprozess – und dazu gehört die rasche Entwicklung des Kleinhirns an der Rückseite des Gehirns – schafft die Voraussetzungen dafür, dass wir mit etwa 1 Jahr laufen lernen. Vorheriges Üben hat nur begrenzte Wirkung. Das gilt auch für andere körperliche Fähigkeiten, z. B. für die Kontrolle von Blase und Darm. Ehe die dazu erforderlichen Muskeln und Nerven nicht ausgereift sind, wird das Kind nicht sauber, weder mit Bitten noch mit Drängen oder Strafen.

Reifungsprozess und kindliches Gedächtnis Ziel 7: Erklären Sie, warum wir nur wenige Erinnerungen an Erfahrungen während der ersten 3 Jahre unseres Lebens haben.

Unsere frühesten Erinnerungen reichen kaum einmal in die Zeit vor unserem 3. Geburtstag zurück. Sehr deutlich wurde diese »infantile Amnesie« bei den Erinnerungen einer Gruppe von Vorschulkindern, die ein Feuer erlebt hatten, verursacht durch eine in Brand geratene Popcornpfanne. Nach 7 Jahren konnten sie sich noch an den Alarm und seine Ursache erinnern – falls sie zu diesem Zeitpunkt 4 bis 5 Jahre alt waren. Die Kinder, die damals erst 3 Jahre alt waren, konnten sich nicht an die Ursache erinnern, und insgesamt wussten sie nicht sicher, ob sie schon im Freien waren, als der Alarm ausgelöst wurde (Pillemer 1995). Diese und andere Untersuchungen bestätigen, dass das Durchschnittsalter der frühesten bewussten Erinnerung bei 3,5 Jahren liegt (Bauer 2002). Die kindliche Amnesie betrifft die ersten 3 Lebensjahre; erst ab dem Alter von 4 bis 5 Jahren führen Erlebnisse und Erfahrungen auch zu bleibenden Erinnerungen (Bruce et al. 2000).

K. Barton

4.2 · Kleinkindzeit und Kindheit

Es ist noch dabei, ein Gefühl für das eigene Selbst zu entwickeln Was wird Marvin von seinen Erfahrungen als Säugling erinnern? Nichts bewusst, aber bewusste Erinnerungen sind nicht alles. Seine neuronalen Netze breiten sich angesichts der stimulierenden Erfahrungen, die ihm seine Betreuungspersonen bieten, in alle Richtungen aus. Und er ist damit beschäftigt, alles über seine neue Welt zu lernen

Können Sie sich an Ihren ersten Schultag erinnern (oder an die Feier zu Ihrem 3. Geburtstag?

In dem Maße, wie der Kortex des Gehirns reift, entwickeln Kleinkinder einen Sinn für das Selbst, und ihr Langzeitgedächtnis wird besser (Howe 2003). Der Versuch, Zugang zu den Erinnerungen der ersten 4 Lebensjahre zu bekommen, hat viel Ähnlichkeit mit dem Versuch, einen Text zu lesen, der mit Hilfe einer älteren Version des Betriebssystems auf einem Computer formatiert wurde (Hayne 2004; Loftus u. Kaufman 1992). Die vorsprachlichen Erinnerungen von Kleinkindern lassen sich nicht so leicht in ihre spätere Sprache übersetzen (7 Kap. 9 zu einer Erörterung der Augenzeugenerinnerungen von Kindern). Für Eltern kann die nicht vorhandene Erinnerung eines Kindes an die frühe Kindheit frustrierend sein. Schließlich haben sie unzählige Stunden damit verbracht, ihr Kind zu wickeln und es zu füttern, sie sind mit ihm auf dem Teppich herumgerollt und haben es in den Schlaf gewiegt. Und woran wird sich ein Kind bewusst erinnern, wenn etwa ein Elternteil stirbt, ehe es das 4. Lebensjahr erreicht hat? Praktisch an gar nichts. Zwar gibt es so gut wie keine bewussten Erinnerungen an die Zeit vor dem Alter von 4 Jahren, doch arbeitet das Gedächtnis bereits in dieser Zeit und auch noch darüber hinaus. Dazu Folgendes: 4 Mit ein bisschen Nachhilfe können 3 Monate alte Kinder, die gelernt haben, wie sie mit dem Bein ein Mobile in Bewegung setzen können, die Assoziation von Beinbewegung und Mobile mindestens 1 Monat lang im Gedächtnis behalten (. Abb. 4.7). 4 10-jährige Kinder, denen man Fotos von ihren Klassenkameraden (vermischt mit Fotos von anderen Vorschulkindern) aus der Vorschulklasse zeigt, die sie seit der Vorschulzeit nicht mehr gesehen haben, erkennen nur 1 von 5 ihrer früheren Klassenkameraden. Doch ihre physiologischen Reaktionen (erfasst durch die Feuchtigkeit der Haut) sind angesichts der früheren Klassenkameraden stärker, unabhängig davon, ob sie sie erkennen oder nicht (Newcombe et al. 2000). Das Nervensystem erinnert sich an etwas, was vom Bewusstsein nicht erkannt wird und nicht in Worten ausgedrückt werden kann.

M. Barton

! Etwa nach dem 3. oder 4. Lebensjahr beginnt sich das Gedächtnis anders zu organisieren; das erklärt, warum wir so wenige Erinnerungen an die frühe Kindheit haben.

. Abb. 4.7. Säugling bei der Arbeit Wenn man den Fuß eines Säuglings durch einen Faden mit einem Mobile verbindet, können schon 3 Monate alte Säuglinge lernen, dass Strampeln das Mobile in Bewegung setzt, und sie können sich an das Gelernte etwa 1 Monat lang erinnern. (Rovee-Collier 1989, 1997)

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Kapitel 4 · Entwicklung

4.2.2 Kognitive Entwicklung Ziel 8: Beschreiben Sie Piagets Erklärung dafür, wie sich das Denken entwickelt, und erörtern Sie die Bedeutung der Assimilation und der Akkommodation bei diesem Prozess.

»Die Kindheit hat ihre eigene Art und Weise, zu sehen, zu denken und zu fühlen. Es gibt nichts Dümmeres als den Versuch, der kindlichen Sichtweise die unsere aufzudrücken.« Der Philosoph Jean-Jacques Rousseau (1798)

! Ein halbes Jahrhundert Arbeit mit Kindern überzeugte Piaget davon, dass das kindliche Denken keine Miniaturausgabe des erwachsenen Denkens ist.

Schema (schema): kognitive Struktur, mit der Informationen geordnet und erklärt werden.

. Abb. 4.8. Fehler bei der Größeneinschätzung Die Psychologen Judy DeLoache, David Uttal und Karl Rosengren (2004) berichten, dass 18 bis 30 Monate alte Kinder möglicherweise nicht die Größe eines Gegenstands in ihre Überlegungen einbeziehen können, wenn sie nicht mögliche Handlungen damit zu machen versuchen. Im linken Bild versucht ein 21 Monate altes Kind, eine Miniaturrutsche herunterzurutschen. Auf dem rechten Bild öffnet ein 24 Monate altes Kind die Tür eines kleinen Spielzeugautos und versucht einzusteigen.

Courtesy Judy DeLoache

Wie Damon (1995) feststellt, hat Piaget unser Verständnis für kindliches Denken so grundlegend verändert wie Kopernikus unsere Vorstellung vom Sonnensystem. Bis dahin waren die meisten Menschen der Meinung, dass Kinder »einfach weniger wissen und nicht etwa anders denken als Erwachsene; ihre eigenen Kindertage hatten sie dabei vollständig aus dem Blick verloren« (Damon 1995). Wenn wir heute Verständnis dafür aufbringen, dass »Kinder in höchst unlogischer Weise mit Problemen umgehen, deren Lösung einem Erwachsenen absolut selbstverständlich ist (Brainerd 1996), dann verdanken wir das zum Teil den Arbeiten von Piaget«. Des Weiteren glaubte Piaget, dass die Entwicklung des kindlichen Denkens in Stadien erfolgt, eine Art Vorwärtsbewegung von den einfachen Reflexen des Neugeborenen hin zur Abstraktionsfähigkeit des Erwachsenen. Ein 8-jähriges Kind versteht Dinge und Zusammenhänge, die ein 3-jähriges nicht verstehen kann. Ein 8-jähriges Kind kann die Analogie erfassen, die in dem Satz ausgedrückt wird: »Einen Gedanken entwickeln, ist wie Licht im Kopf anschalten.« Es wäre ein vergebliches Unterfangen, einem 3-Jährigen den Sinn dieser Analogie begreiflich machen zu wollen. Ein 8-jähriges Kind versteht auch, was die 2-Jährigen in . Abb. 4.8 nicht verstehen – dass die Miniaturausgabe einer Rutsche zu klein ist, um darauf herunterzurutschen, und dass die Miniaturausgabe eines Autos viel zu klein ist, um hineinzuklettern. Aber manche Gedankengänge eines Erwachsenen sind wiederum für ein 8-jähriges Kind nicht nachvollziehbar. Piaget war der Auffassung, dass die treibende Kraft hinter diesem intellektuellen Wachstum der unaufhörliche Kampf des Menschen ist, seinen Erfahrungen Sinn zu verleihen. Piagets Kerngedanke war, dass »Kinder aktive Denker sind, die ständig versuchen, ihr Verständnis von der Welt weiterzuentwickeln« (Siegler u. Ellis 1996). Um dieses Ziel zu erreichen, konstruiert der heranreifende Geist Konzepte, die Piaget Schemata nannte. Unter einem Schema verstand er eine Art kognitive Struktur, in die unsere Erfahrungen eingeordnet werden. Als Erwachsene verfügen wir über eine Vielzahl von Schemata, die wir in der Zeit der Kindheit und Jugend angelegt haben und die alles umfassen, was wir gesehen, gehört und erlebt haben. Unser Bild von Hunden und Katzen ist darin ebenso vertreten wie unsere Vorstellung von Liebe (. Abb. 4.9).

Courtesy Judy DeLoache

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»Wer kennt die Gedanken eines Kindes?«, fragte die Dichterin Nora Perry. Der Entwicklungspsychologe Jean Piaget wusste darüber nicht mehr und nicht weniger als seine Kollegen. Sein Interesse am Denken von Kindern wurde 1920 geweckt, als er in Paris Fragen zu einem Intelligenztest für Kinder ausarbeitete. Er führte seine Tests mit Kindern durch, um herauszufinden, in welchem Alter Kinder auf bestimmte Fragen die richtige Antwort geben können; doch mehr noch faszinierten ihn die falschen Antworten der Kinder. Wo andere nur den Fehler sahen, sah Piaget Intelligenz in Aktion. Die Fehler, die Kinder einer bestimmten Altersgruppe machten, waren sich erstaunlich ähnlich.

159 4.2 · Kleinkindzeit und Kindheit

. Abb. 4.9. Ein unmögliches Objekt Betrachten Sie diese »Teufelsstimmgabel« aufmerksam. Schauen Sie dann woanders hin – nein, betrachten Sie sie lieber noch einmal –, dann schauen Sie weg und versuchen sie zu zeichnen … Nicht ganz einfach, nicht wahr? Diese Stimmgabel ist nämlich ein unmögliches Objekt, und Sie haben kein Schema für solch einen Gegenstand

Assimilation (assimilation): Interpretation neuer Erfahrungen mit Hilfe von Begriffen der bereits existierenden Schemata. Akkommodation (accommodation): Modifizierung des bisherigen Schemas, um neue Informationen integrieren zu können.

Für die Anwendung und Erweiterung der Schemata schlug Piaget zwei Prozesse vor. Neue Erfahrungen werden zunächst assimiliert, d. h. sie werden mit den Begriffen des jeweils aktuellen Verständnisses (Schema) erklärt. Hat ein Kleinkind beispielsweise ein einfaches Schema für den Begriff Hund, dann wird es wahrscheinlich alle Vierbeiner zunächst einmal »Wauwau« nennen. Dann wird das Schema der neuen Erfahrung angepasst, oder, wie Piaget es nannte, akkommodiert. Das Kind aus unserem Beispiel lernt sehr schnell, dass das anfängliche Wauwau-Schema zu grob ist, und akkommodiert es, indem es die Kategorien verfeinert (und sich dabei, wie wir bereits gesehen haben, vor allem auf den Kopf konzentriert). In dem Maße, wie Kinder mit ihrer Umwelt interagieren, konstruieren sie ihre Schemata und modifizieren sie, wenn neue Erfahrungen in ihr Weltbild integriert werden müssen (. Abb. 4.10).

Wie stehen wir heute zu Piagets Theorie? Ziel 9: Skizzieren Sie Piagets Hauptstadien der kognitiven Entwicklung, und kommentieren Sie, wie sich das Denken von Kindern während dieser vier Stadien verändert.

Der Begriff Kognition bezieht sich auf die Gesamtheit der geistigen Aktivitäten im Zusammenhang mit Denken, Wissen, Erinnern und Kommunizieren.

Kognition (cognition): Gesamtheit der geistigen Aktivitäten im Zusammenhang mit Denken, Wissen, Erinnern und Kommunizieren.

! Nach Piaget erfolgt die kognitive Entwicklung des Kindes sprunghaft, wobei nach jedem kognitiven Entwicklungssprung eine Phase der relativen Ruhe eintritt, in der das neu Gelernte integriert wird. Diese Phase eines vorläufigen Gleichgewichts, das durch die Wechselwirkung von Akkommodation und Assimilation erreicht wird, wird als Äquilibration bezeichnet.

Daraus ergeben sich 4 Stadien (. Tab. 4.1), und jedes dieser Entwicklungsstadien ist durch ganz spezifische Merkmale gekennzeichnet, die eine spezifische Art des Denkens bewirken. Um die Entwicklung des kindlichen Denkens verstehen zu können, wollen wir die von Piaget unterschiedenen Entwicklungsstadien im Licht unseres heutigen Wissens über die kognitive Entwicklung betrachten.

. Abb. 4.10. Neue Erfahrungen in kognitive Strukturen integrieren Wir wenden unsere vorhandenen Schemata an, um neue Erfahrungen zu assimilieren. Doch manchmal müssen wir unsere Schemata akkomodieren (anpassen), um eine neue Erfahrung integrieren zu können

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Kapitel 4 · Entwicklung

. Tabelle 4.1. Stadien der kognitiven Entwicklung nach Piaget

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Typischer Altersbereich

Stadium

Beschreibung

Merkmale

Geburt bis ca. 2 Jahre

Sensumotorisches Stadium

Erfahren der Welt durch Handlungen und Sinneswahrnehmung (schauen, anfassen, in den Mund nehmen, greifen)

Objektpermanenz, Fremdeln

Ca. 2.–6. Lebensjahr

Stadium des präoperatorischen Denkens

Darstellen von Dingen mit Worten oder Bildern; eher Einsatz des intuitiven als des logischen Denkens

So-tun-als-ob-Spiele, egozentrisches Verhalten, Sprachentwicklung

Ca. 7.–11. Lebensjahr

Stadium des konkret-operatorischen Denkens

Logisches Nachdenken über konkrete Ereignisse; konkrete Analogien erfassen; mathematische Operationen durchführen

Mengenerhaltung (quantitative Invarianz), mathematische Transformationen

Ca. 12. Lebensjahr bis zum Erwachsenenalter

Stadium der formalen Operationen

Abstraktes Denken

Abstrakte Logik, Potenzial für reifes moralisches Denken

Sensumotorische Entwicklung Sensumotorisches Stadium (sensorimotor stage): Nach Piagets Theorie wird auf dieser Stufe (von der Geburt bis etwa zum 2. Lebensjahr) die Welt primär als Sinneseindruck wahrgenommen und mit motorischen Aktivitäten erforscht.

Objektpermanenz (object permanence): Wissen, dass ein Gegenstand weiterhin existiert, auch wenn er gerade nicht wahrgenommen werden kann.

Doug Goodman/Photo Researchers, Inc.

. Abb. 4.11. Objektpermanenz Für Kinder unter 6 Monaten gilt: Aus den Augen, aus dem Sinn. Sie können nicht begreifen, dass ein Gegenstand weiter existiert, auch wenn er nicht mehr sichtbar ist. Doch für dieses Kleinkind gilt das Sprichwort offensichtlich nicht

Während des von Piaget postulierten sensumotorischen Stadiums (von der Geburt bis etwa zum 2. Lebensjahr) erlebt der Säugling und später das Kleinkind die Welt durch die sensorische und motorische Interaktion mit den Objekten seiner Umwelt: durch Sehen, Hören, Berühren, Belutschen und Greifen. Ganz kleine Kinder leben offenbar nur in der Gegenwart: Was sie nicht sehen können, existiert nicht. Einer von Piagets Versuchen bestand darin, dem Kleinkind ein begehrenswertes Spielzeug zu zeigen und es dann unter seiner Mütze verschwinden zu lassen. Er wollte herausfinden, ob das Kind nach dem Spielzeug suchen würde. Kinder unter 6 Monaten taten das nicht. Kinder bis zu diesem Alter haben keine Objektpermanenz, d. h. es ist ihnen nicht bewusst, dass ein Gegenstand weiterhin existiert, auch wenn sie ihn nicht sehen können (. Abb. 4.11). Mit etwa 8 Monaten zeigt das Kind, dass es sich an Dinge erinnert, die es in diesem Augenblick nicht sehen kann. Wird das Spielzeug versteckt, dann wird das Kind unmittelbar nach dem Verschwinden des Spielzeugs danach suchen. Ein bis zwei Monate später wird das Kind auch dann nach dem Spielzeug suchen, wenn es ein paar Sekunden lang davon abgehalten wurde. Kommt die Objektpermanenz bei Kindern mit 8 Monaten tatsächlich mit einer solchen Selbstverständlichkeit, wie die Tulpen im Frühling blühen? Heutige Entwicklungspsychologen sehen den Entwicklungsprozess stärker als ein Kontinuum, als Piaget dies tat; und die Objektpermanenz entfaltet sich ihrer Meinung nach allmählich und schrittweise. Auch ganz kleine Kinder suchen schon zumindest für eine gewisse Zeit nach einem Spielzeug, wenn sie gesehen haben, wie es gerade eben versteckt wurde. Die Wissenschaftler glauben heute, dass Piaget und seine Anhänger die Kompetenz der Kleinen und Kleinsten unterschätzt haben. Piaget nahm an, dass ein Kind unter 2 Jahren nicht in der Lage ist zu denken. Er nahm an, es könne Dinge wiedererkennen, sie anlächeln, hinkrabbeln und

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etwas damit machen. Doch ein abstraktes Konzept oder eine Vorstellung habe es nicht. Gemäß Piaget leben Kinder ihr Leben, doch sie denken nicht darüber nach. Lassen Sie uns ein paar einfache Versuche näher betrachten, die die Logik des Säuglings demonstrieren: 4 Erwachsene starren ungläubig auf einen Zaubertrick (das »Na, sowas« im Blick); Kleinkinder tun dasselbe, wenn sie länger auf eine unerwartete Szene schauen, bei der ein Auto scheinbar durch einen festen Gegenstand hindurchfährt. Oder wenn ein Ball einfach in der Luft stehen bleibt oder wenn ein Gegenstand die Gesetze der Objektpermanenz verletzt und auf magische Weise verschwindet (Baillargeon 1995, 1998, 2004; Wellman u. Gelman 1992). Anscheinend haben Babys mehr intuitives Verständnis für einfache physikalische Gesetze, als Piaget dachte. 4 Säuglinge haben auch ein Gefühl für Zahlen. Wynn (1992, 2000) zeigte 5 Monate alten Kindern einen oder zwei Gegenstände. Dann versteckte sie die Gegenstände hinter einem Stück Pappe und fügte anschließend – gut sichtbar für die Kinder – entweder einen weiteren Gegenstand hinzu oder nahm einen weg (. Abb. 4.12). Wurde die Pappe entfernt, dann schauten die Babys zweimal hin bzw. fixierten die Gegenstände länger, wenn die Anzahl falsch war. Dabei ist noch unklar, ob sich die Reaktion der Babys tatsächlich auf die veränderte Anzahl der Gegenstände oder nur auf das veränderte Erscheinungsbild bezog, das sich ihnen bot, nachdem die Pappe entfernt wurde (Feigenson et al. 2002). Spätere Versuche zeigten aber, dass sich der Zahlensinn von Babys auch auf größere Zahlen sowie auf Töne (Trommelschläge) und Bewegungen erstreckt (Lipton u. Spelke 2003; McCrink u. Wynn 2004; Speike 2000; Wynn et al. 2002). Wenn die Duffy-Duck-Puppe immer 3-mal auf der Bühne hochspringt, dann sind die Kinder daran gewöhnt und reagieren mit Erstaunen, wenn die Puppe nur 2-mal springt. Ganz offensichtlich sind Babys klüger, als Piaget annahm. Auch schon als Babys haben wir viel im Kopf.

. Abb. 4.12. Mathematik für Babys Zeigt man einem Säugling ein zahlenmäßig unmögliches Ergebnis, dann schaut es länger hin. (Aus Wynn 1992)

Die hohe Meinung über die Kompetenz eines Säuglings unter gebildeten Menschen veranlasste die Zeitschrift »Onion« zu einer Parodie mit der Schlagzeile: »STUDIE DECKT AUF – BABYS SIND DUMM« (auf der Grundlage von »Forschungsarbeiten«, die zeigen, dass Säuglinge keine Landkarten lesen und auch nicht mit Sauerstoffflaschen tauchen können).

Präoperatorisches Denken Piaget glaubte, dass Kinder im Vorschulalter und bis zum 6. oder 7. Lebensjahr ein präoperatorisches Stadium durchlaufen, in dem sie noch keine Denkprozesse vollziehen können. Gibt man einem 5-jährigen Kind ein schmales, hohes Glas Milch, dann findet es, dass das »zu viel« ist, akzeptiert jedoch die gleiche Menge, wenn man die Milch in ein kleines, breites Glas gießt. Offenbar sieht das Kind nur die Dimension der Höhe und ist nicht fähig, eine Operation auszuführen, bei der die Milch in der Vorstellung ins schmale, hohe Glas zurückgegossen wird. Diesem präoperatorischen Kind fehlt das Konzept der Mengenerhaltung, das Prinzip nämlich, dass eine Menge gleich bleibt, auch wenn sie eine andere Form annimmt (. Abb. 4.13). Piaget nannte es »das Prinzip der quantitativen Invarianz«. Mit einem Deckel verschlossene Becher, die genau die gleiche Menge enthalten, scheinen plötzlich, wenn man einen davon auf den Kopf stellt, unterschiedliche Mengen zu enthalten.

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Präoperatorisches Stadium (preoperational stage): In Piagets Theorie wird mit diesem Begriff die Phase (etwa vom 2. bis zum 6. oder 7. Lebensjahr) bezeichnet, in der ein Kind lernt, Sprache zu verwenden, jedoch die Denkoperationen der konkreten Logik noch nicht begreift. Mengenerhaltung oder quantitative Invarianz (conservation): Wissen, dass Masse, Volumen und Anzahl von Gegenständen gleich bleiben, wenn diese die Form verändern. Piaget hielt das Erfassen dieses Prinzips für einen Bestandteil des konkret-operatorischen Denkens.

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Kapitel 4 · Entwicklung

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. Abb. 4.13. Piagets Test zum Prinzip der Mengenerhaltung Dieses Kind im präoperatorischen Stadium versteht das Prinzip der Mengenerhaltung (quantitative Invarianz) noch nicht. Man zeigt ihm 2 Gefäße mit der gleichen Inhaltsmenge; wird jedoch das eine Gefäß herumgedreht, dann scheint es plötzlich mehr zu enthalten

4 Wenn die meisten Zweieinhalbjährigen nicht verstehen, dass Miniaturpuppen und Spielzeuge als Symbol für reale Objekte stehen, sollten dann anatomisch korrekte Puppen verwendet werden, wenn man solche Kinder zu einer vermuteten Misshandlung oder zu einem vermuteten sexuellen Missbrauch befragt? DeLoache (1995) berichtet, dass »ganz kleine Kinder es nicht als natürlich oder einfach empfinden, eine Puppe als Repräsentation ihrer selbst zu nutzen«.

Piaget glaubte nicht, dass sich der Übergang von einem Entwicklungsstadium zum nächsten abrupt vollzieht. Wir wissen jedoch heute, dass symbolisches Denken schon in einem früheren Alter stattfindet, als er annahm. DeLoache (1987) machte dazu folgendes Experiment: Sie zeigte Kindern das Puppenstubenmodell eines Zimmers und versteckte darin ein Spielzeug, das in der Größe zu der Puppenstube passte: Ein Spielzeughund wurde hinter dem Spielzeugsofa versteckt. Zweieinhalbjährige Kinder konnten sich gut daran erinnern, wo der Spielzeughund versteckt war, konnten jedoch das Spielzeugmodell nicht auf die Wirklichkeit übertragen: Den Stoffhund hinter dem Sofa im Zimmer fanden sie nicht. Doch 3-jährige Kinder – nur 6 Monate älter! – gingen in der Regel direkt zum Stoffhund hinter dem konkreten Sofa. Das heißt, sie waren fähig, das Puppenhaus als Symbol für das konkrete Zimmer zu sehen. Piaget hätte sich sehr darüber gewundert.

Egozentrismus Egozentrismus (egocentrism): Damit bezeichnet Piaget in seiner Entwicklungstheorie die mangelnde Fähigkeit des Kindes im präoperatorischen Stadium, den Standpunkt eines anderen Menschen einzunehmen.

Piaget stellte die Behauptung auf, Vorschulkinder seien egozentrisch: Sie hatten Schwierigkeiten damit, die Dinge aus der Perspektive eines anderen zu sehen. Manchmal denken sie sogar, dass sich Sonne und Mond um sie drehen. Die 2-jährige Gabriella sollte ihrer Mutter das Bild zeigen, das sie gemalt hatte: Sie hielt es sich selbst vor die Augen. Der 3-jährige Gary machte sich unsichtbar, indem er sich die Augen zuhielt: Er glaubte, wenn er niemanden sehen könne, dann könne ihn auch keiner sehen. Der kindliche Egozentrismus kommt auch in folgendem Gespräch mit einem kleinen Jungen zum Ausdruck (Phillips 1969, S. 61): »Hast du einen Bruder?« »Ja.« »Wie heißt er denn?« »Jim.« »Hat Jim einen Bruder?« »Nein.« Steht ein Vorschulkind vor dem Fernseher und versperrt Ihnen die Sicht, dann geht es davon aus, dass Sie dasselbe sehen, was es selbst sieht. Wenn Sie mit kleinen Kindern zu tun haben, sollten Sie daran denken, dass derartige Verhaltensweisen der Ausdruck einer kognitiven Beschränkung sind: ! Ein egozentrisches Vorschulkind ist nicht absichtlich »egoistisch« oder »rücksichtslos«, es hat nur noch nicht die Fähigkeit entwickelt, einen anderen Standpunkt als den eigenen einzunehmen.

Wir überwinden den frühen Egozentrismus aus unserer Kindheit jedoch nie vollständig. Selbst als Erwachsene überschätzen wir noch das Ausmaß, in dem andere unsere Meinungen und Standpunkte teilen, so etwa wenn wir annehmen, anderen sei etwas genauso klar wie uns (Epley et al. 2004). Kinder sind aber noch anfälliger für den »Fluch des Wissens« (Birch 2005). Eltern, die ihr Kind misshandeln, wissen häufig nichts vom Egozentrismus, der bei einem Kind stärker ausgeprägt ist. Sie sehen es als kleinen Erwachsenen, der fähig sein sollte, sein Verhalten zu kontrollieren (Larrance u Twentyman 1983). Daher sehen sie nur ein egozentrisches Kind, das ihnen im Weg steht, sein Essen ausspuckt, auf Verbote nicht reagiert oder brüllt.

163 4.2 · Kleinkindzeit und Kindheit

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Theory of Mind Als Rotkäppchen erkennt, dass ihre »Großmutter« in Wirklichkeit ein Wolf ist, revidierte es seine Vorstellungen über die Absichten und die Abstammung dieser Kreatur. Obwohl Vorschulkinder noch egozentrisch sind, entwickeln sie diese Fähigkeit, Schlüsse über mentale Zustände anderer Personen zu ziehen, wenn sie anfangen, eine Theory of Mind (Theorie über mentale Zustände) zu bilden. Hier handelt es sich um einen Begriff der von den Psychologen David Premack und Guy Woodruff geprägt wurde, um die bei Schimpansen scheinbar vorhandene Fähigkeit zu beschreiben, anderen Absichten am Gesicht abzulesen. Allmählich entwickelt sich beim Kleinkind die Fähigkeit, innere Zustände anderer Menschen zu erkennen. Es wird versuchen, zu verstehen, was den Spielkameraden geärgert hat, wann die große Schwester wohl bereit ist zu teilen und wie man es anstellen muss, damit der Vater ein Spielzeug kauft. In dem Maß, in dem das Kind die Fähigkeit entwickelt, die Perspektive eines anderen Menschen einzunehmen, wächst auch seine Fähigkeit, zu necken, etwas nachdrücklich zu verlangen und andere zu überzeugen. Im Alter von 3 1/2–4 Jahren wird den Kindern in allen Kulturen allmählich klar, dass andere Menschen falsche Überzeugungen haben können (Callaghan et al. 2005; Wellman et al. 2001; Zimmer 2003). Jenkins u. Astington (1996) machten folgenden Versuch mit Kindern aus Toronto: Sie zeigten ihnen eine Heftpflasterschachtel und fragten sie, was da wohl drin sei. Da die Kinder dachten, es sei Heftpflaster drin, waren sie sehr erstaunt, als sie entdeckten, dass die Schachtel Bleistifte enthielt. Auf die Frage, was wohl ein Kind, das nicht in die Schachtel gesehen hatte, glauben würde, was in der Schachtel wäre, lautete die typische Antwort der 3-Jährigen: »Bleistifte«. Bei 4- bis 5-jährigen Kindern hat die Theory of Mind einen Entwicklungssprung gemacht, und sie amüsieren sich königlich bei der Vorstellung, ihre Freunde könnten irrigerweise glauben, in der Schachtel sei Heftpflaster.

Theory of Mind (Theorie über mentale Zustände): naive Psychologie, mit deren Hilfe sich Menschen die mentalen Zustände und inneren Prozesse anderer Menschen erklären. Dadurch sind sie in der Lage, die Gefühle, Wahrnehmungen und Gedanken anderer einzuordnen und Verhaltensweisen vorab einzuschätzen.

. Abb. 4.14. Untersuchung der Theory of Mind von Kindern Welche Annahmen hat ein Kind über das Denkvermögen eines anderen Menschen? Dieses einfache Problem ist ein Beispiel dafür, auf welche Weise Wissenschaftler herausfinden, wie sich ein Kind das Denken anderer Menschen vorstellt

Flavell et al. (2001) berichten, schon ganz kleine Kinder begriffen, dass ein trauriges Ereignis traurige Gefühle hervorruft. Im nächsten Schritt beginnen Kinder zu verstehen, dass Gedanken Gefühle hervorrufen können, dass also die Erinnerung an ein trauriges Ereignis in der Vergangenheit ein Gefühl der Traurigkeit auslösen kann. Zwischen dem 5. und dem 8. Lebensjahr lernen Kinder schließlich, dass auch spontane Gedanken, die sie selbst hervorgebracht haben, Gefühle auslösen können. Bemerkt ein 8-jähriges Kind einen plötzlichen Stimmungsumschwung, wird es wahrscheinlich annehmen, dass ein Gedanke diesen Stimmungswechsel bewirkt hat. Forscher erkunden die Fähigkeit von Kindern, die Perspektive einer anderen Person zu übernehmen, mit Hilfe anscheinend einfacher Experimente. In . Abb. 4.14 wird ein Versuch beschrieben, bei dem die Puppe Sally ihren Ball in einen roten Schrank legt. Die Puppe Anne holt den Ball heraus und legt ihn in einen blauen Schrank. Dann wird das Kind gefragt: In welchem Schrank wird Sally nach ihrem Ball suchen, wenn sie zurückkommt? Autistische Kinder (7 Unter der Lupe »Autismus«) haben Probleme, zu begreifen, dass Sallys Gedankengang nicht der gleiche ist wie ihrer und dass Sally, die ja nicht weiß, dass der Ball herausgenommen wurde, ihren Ball in dem roten Schrank sucht. Autistische Kinder können auch ihre eigenen inneren Zustände nicht erkennen. Sie verwenden beispielsweise die Personalpronomina »ich« und »mir« oder »mich« relativ selten. Ähnliche Probleme haben gehörlose Kinder, deren Eltern normal hören und die wenig Gelegenheit zur Kommunikation haben. Auch sie können nur mühsam die Gefühlszustände anderer Menschen erkennen (Peterson u. Siegal 1999). ! Entgegen der Annahme von Piaget ist es nicht so, dass die Fähigkeiten, symbolisch zu denken und die Perspektive eines anderen Menschen einzunehmen, im präoperatorischen Stadium überhaupt nicht vorhanden sind und dann plötzlich wie durch ein Wunder auftauchen. Es ist eher so, dass diese Fähigkeiten schon früh in Ansätzen da sind und sich allmählich entwickeln (Wellman et al. 2001; . Abb. 4.15).

Inspired by Baron-Cohen & others, 1985

! Sobald sie eine Theory of Mind entwickelt haben, können Kinder auch Rückschlüsse auf die Gefühle anderer Menschen ziehen.

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. Abb. 4.15. Piagets Stadien (a) Sensumotorisches Stadium: Kleinkinder versuchen, ihre Katze kennen zu lernen, indem sie sie schmecken und berühren. (b) Präoperatorisches Stadium: Vorschulkinder sehen den Hund als zusätzlichen Spielkameraden, der seine Daseinsberechtigung nur darin hat, mit ihnen zu spielen. (c) Konkret-operatorisches/formal-operatorisches Stadium: Ältere Kinder beginnen zu verstehen, welche Verantwortung und Arbeit damit verbunden ist, ein Pferd zu halten

Unter der Lupe

Autismus Beim Autismus, einer Störung, deren typisches Merkmal das völlige Fehlen von Kommunikation und sozialer Interaktion ist, zeigt sich eine unvollständige Theory of Mind (Klein u. Kihlstrom 1998; Yirmiya et al. 1998). Autistischen Menschen sagt man nach, sie könnten sich nicht in andere Menschen hineinversetzen. Sie haben Schwierigkeiten, die Gedanken und Gefühle anderer MenAutismus (autism): Störung, die im Kinschen wahrzunehmen. Sie desalter auftritt und durch das Fehlen von können nicht akzeptieren, Kommunikation, sozialer Interaktion und dem Verständnis für die seelischen Zudass Spielkameraden oder stände anderer Menschen gekennzeichEltern die Dinge anders senet ist. hen als sie selbst. Intuitives Gedankenlesen (bringt das Gesicht ein fröhliches Lachen, ein selbstzufriedenes Lächeln oder ein verächtliches Grinsen zum Ausdruck?) ist für Menschen mit Autismus eine schwierige Angelegenheit. Fast alle Kinder lernen, dass die herabgezogenen Mundwinkel eines anderen Kindes bedeuten, dass es traurig ist und dass ein Glitzern in den Augen ein Zeichen von Glück oder von Unglück ist. Ein autistisches Kind kann diese Zeichen nicht deuten; denn Autismus hängt mit dem Ausfall von Hirnregionen zusammen, die den Kontakt zu anderen Menschen steuern (Frith u. Frith 2001). Das Asperger-Syndrom, das manchmal als Form des Autismus mit einer hohen Funktionsfähigkeit klassifiziert wird, ist gekennzeichnet durch normale Intelligenz, die oft mit einer außergewöhnlichen Fertigkeit oder Begabung in einem bestimmten Bereich einhergeht, aber auch durch mangelnde soziale und Kommunikationsfertigkeiten (und deshalb durch eine Unfähigkeit, normale Beziehungen zu Gleichaltrigen aufzubauen). Die Symptome bei Autismus, zu denen auch Probleme beim Sprechen und Schwerfälligkeit gehören, reichen von leicht bis schwerwiegend; und aus Gründen, über die noch diskutiert wird, wurde die Diagnose Autismus in den letzten Jahren häufiger gestellt. Ursache der autistischen Störung ist eine veränderte Verschaltung des Gehirns einschließlich der Nervenfasern, die mit entfernten Neuronen verbunden sind und die die Kommunikation zwischen Hirnarealen ermöglichen; dies wiederum scheint auf eine unbekannte Anzahl von Genen zurückzugehen, die mit der Umwelt interagieren (Blakeslee 2005; Wickelgren 2005). In seiner anregenden neuen Theorie vertritt Baron-Cohen (2004, 2005) die Auffassung, der Autismus repräsentiere ein »extrem männliches Ge-

hirn«. Er behauptet, Mädchen seien dafür prädisponiert, empathisch, also mitfühlend, zu sein. Sie sind eher imstande, etwas aus Gesichtern und von Gesten abzulesen – eine Aufgabe, die für Autisten eine Herausforderung ist. Obwohl es eine gewisse Überlappung zwischen den Geschlechtern gibt, neigen Jungen seiner Meinung nach eher dazu, Systematisierer zu sein – die Dinge nach Regeln und Gesetzen wie in mathematischen und mechanischen Systemen zu verstehen. Wenn zwei Systematisierer ein Kind haben, wird gemäß dieser Theorie das Risiko größer sein, dass sie ein Kind mit Autismus haben werden. Und wegen »passender Partnerwahl« – der Neigung von Menschen, sich Partner auszuwählen, die ihre eigenen Interessen teilen – werden zwei Systematisierer, so merkt er an, tatsächlich oft zum Paar. »Ich möchte die Bedeutung von Umweltfaktoren nicht unberücksichtigt lassen; ich sage nur: Vergessen Sie die Biologie nicht.« Spelke (2005) ist jedoch etwas skeptisch gegenüber der Annahme einer angeborenen, männlich-systematisierenden Tendenz. Aus der sonstigen Forschung sieht sie »keinen Vorsprung für männliche Wesen beim Wahrnehmen von Gegenständen oder beim Lernen über mechanische Systeme. In den meisten Studien fand man, dass Jungen und Mädchen zur gleichen Zeit die gleichen Dinge entdecken.« Welchen Wert hat also der Gedanke, dass autistische Kinder (von denen die meisten männlich sind) extrem männliche Gehirne haben? Man sollte die künftigen Forschungsarbeiten aufmerksam unter diesem Aspekt lesen.

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Breitet sich Autismus aus? In den 90er Jahren stieg die Anzahl der wegen Autismus behandelten Kinder um ein Mehrfaches an. Manche fragen sich, ob die Ursache in Umweltgiften oder im Masernimpfstoff zu suchen ist. Andere nehmen an, dass die steigende Zahl der Fälle vor allem auf eine stärkere Beachtung dieser Störung verweist, desgleichen auf mehr Überweisungen zum Spezialisten und auf eine breiter gefasste Definition. (Nash 2002; Stokstad 2002)

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Mit Erreichen des 7. Lebensjahres wächst bei Kindern die Fähigkeit, in Wörtern zu denken und Wörter zu verwenden, um Lösungen für Probleme zu erarbeiten. Wie der russische Psychologe Lev Vygotsky (1896–1934) bemerkte, tun sie das, indem sie nicht mehr laut denken. Stattdessen internalisieren sie die Sprache ihrer Kultur und vertrauen auf den inneren Dialog. Wenn Eltern die Hand des Kindes vom Kuchen wegschieben und dabei »nein« sagen, dann geben sie dem Kind ein Werkzeug zur Selbstkontrolle an die Hand. Ist es später einmal nötig, einer Versuchung zu widerstehen, dann sagt das Kind wahrscheinlich »nein« zu sich selbst. Zweitklässer, die beim Rechnen vor sich hin murmeln, erfassen die Mathematik der 3. Klasse im folgenden Jahr leichter (Berk 1994). ! Laute oder auch unhörbare Selbstgespräche helfen Kindern, Verhalten und Gefühle zu steuern und neue Fertigkeiten zu erwerben. Und wenn Eltern Kindern Wörter präsentieren, liefern sie ihnen, wie Vygotsky sagt, ein Gerüst, auf das Kinder steigen können, um ein höheres Denkniveau zu erreichen.

Stadium der konkreten Operationen Nach Piagets Theorie erreichen 6- bis 7-jährige Kinder das Stadium der konkreten Operationen. Bietet man ihnen die entsprechenden konkreten Möglichkeiten zum Ausprobieren, begreifen sie sehr schnell das Prinzip der Mengenerhaltung (quantitative Invarianz), dass nämlich eine veränderte Form nicht bedeutet, dass die Menge verändert wurde. Sie brauchen auch keinen praktischen Beweis mehr, sondern können sich vorstellen, Milch von einem hohen schmalen in ein kleines breites Glas zu gießen. In diesem Alter haben Kinder Spaß an Witzen, bei denen sie ihr neu erworbenes Verständnis für die Mengenerhaltung anwenden können:

Stadium der konkreten Operationen (concrete operational stage): In Piagets Theorie bezeichnet dieser Begriff das Stadium der kognitiven Entwicklung (vom 6. /7. bis zum 11. Lebensjahr), in dem Kinder die geistigen Operationen entwickeln, die sie dazu befähigen, logisch über konkrete Ereignisse nachzudenken.

Mr. Jones geht in ein italienisches Lokal und bestellt eine ganze Pizza zum Abendessen. Der Kellner fragt ihn, ob er die Pizza in 6 oder in 8 Stücke schneiden soll. Mr. Jones antwortet: »Bitte nur 6 Stücke, denn 8 Stücke würde ich nicht schafen.« (McGhee 1976) ! Auf der Stufe der konkreten Operationen erreichen Kinder die volle geistige Fähigkeit zum Erfassen mathematischer Transformationen und des Prinzips der Mengenerhaltung.

Als meine Tochter Laura 6 Jahre alt war, war ich überrascht, dass sie arithmetische Operationen nicht umkehren konnte. Für die Antwort auf die Frage: »Wie viel ist 8 + 4?« brauchte sie 5 Sekunden, und dann nochmals 5 Sekunden, um auszurechnen, wie viel 12 – 4 ist. Mit 8 Jahren konnte sie die zweite Aufgabe sofort beantworten.

Stadium der formalen Operationen Laut Piaget erweitern sich unsere Denkprozesse vom konkreten (auf Erfahrung basierenden) zum abstrakten Denken (einschließlich der Fähigkeit, Phantasiewelten zu schaffen und Symbole zu verstehen), wenn wir das 12. Lebensjahr erreichen. Viele Kinder erlangen in der Adoleszenz die Fähigkeit, hypothetische Probleme zu lösen und Konsequenzen abzuleiten. Das Kind verwendet »Wenn-dann«-Denkmuster. Dieses systematische Schlussfolgern nannte Piaget formale Operationen. Obwohl die vollständig ausgeprägte Logik und das Schlussfolgern bis in die Adoleszenz warten müssen, setzt rudimentäres Denken in formalen Operationen früher ein, als Piaget dachte. Der Entwicklungsschritt vom konkreten zum formalen Denken wird an folgendem einfachen Beispiel deutlich: Wenn John in der Schule ist, dann ist Mary in der Schule. John ist in der Schule. Was kannst du über Mary aussagen? Kinder, die das Stadium der formalen Operationen erreicht haben, haben keinerlei Schwierigkeiten, diese Frage richtig zu beantworten, doch auch die meisten 7-jährigen Kinder können das (Suppes 1982).

Stadium der formalen Operationen (formal operational stage): nach Piaget das Stadium der kognitiven Entwicklung, das normalerweise mit dem 12. Lebensjahr beginnt. In dieser Phase erwirbt das Kind die Fähigkeit, logisch über abstrakte Konzepte nachzudenken.

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Kapitel 4 · Entwicklung

Überlegungen zu Piagets Theorie Ziel 10: Erläutern Sie, was die Psychologen heutzutage von Piagets Theorie der kognitiven Entwicklung halten.

Piagets Theorie der Entwicklungsstadien hatte durchaus einen Einfluss. In mancher Hinsicht stehen seine Ideen immer noch hoch im Kurs. Rund um den Erdball, von Australien über Algerien bis nach Nordamerika, wurden Studien durchgeführt, die von seinen Vorstellungen geleitet waren; sie stützten seine Auffassung, dass die kognitive Entwicklung des Menschen im Wesentlichen so verläuft, wie er es dargestellt hat (Segal et al. 1990). ! Heute sehen Wissenschaftler jedoch die Entwicklung stärker als kontinuierlichen Prozess.

4 »Wenn man Piagets Einfluss auf die Entwicklungspsychologie einschätzen soll, dann ist das so, als wolle man den Einfluss von Shakespeare auf die englische Literatur einschätzen.« Der Entwicklungspsychologe Harry Beillin (1992)

Sie entdeckten, dass die Anfänge bestimmter typischer Denkprozesse früher liegen, als Piaget annahm, und sie fanden heraus, dass vor allem die Fähigkeit zur Begriffsbildung schon bei jüngeren Kindern vorhanden ist, was Piaget übersah. Während Piaget die formale Logik für einen entscheidenden Teil der Kognition hielt, messen heutige Wissenschaftler ihr etwas weniger Bedeutung in Bezug auf die Kognition bei. Was ist also von Piagets Vorstellungen über das Denken von Kindern und seine Entwicklung geblieben? Viel, sehr viel, und auf jeden Fall genug, dass die Wochenzeitschrift »Time« ihn 1999 zum einflussreichsten Wissenschaftler und Denker des 20. Jahrhunderts ernannte und er nach einer Umfrage unter britischen Psychologen als der bedeutendste Psychologe des 20. Jahrhunderts eingestuft wurde (Psychologist 2003). ! Piaget entdeckte die Meilensteine der kognitiven Entwicklung und lenkte überall auf der Welt das Interesse auf die Frage, wie sich das Denken entwickelt. Er legte die Betonung weniger auf das Alter, in dem ein Kind ein bestimmtes Entwicklungsstadium erreicht, sondern eher auf die Reihenfolge der Stadien.

Die Wissenschaftler, die nach ihm kamen, konnten seine Annahmen weitgehend bestätigen (Lourenco u. Machado 1996). Piaget wäre wahrscheinlich nicht überrascht darüber, dass seine Vorstellungen heute zu einem Bestandteil unserer eigenen kognitiven Entwicklung geworden sind: Wir passen seine Ideen unseren Vorstellungen an, um neue Befunde akkommodieren zu können. Welche Schlussfolgerungen ergeben sich für Eltern und Lehrer aus Piagets Vorstellungen? Piaget vertrat die Ansicht, dass Kinder ihr Verständnis von der Welt und von anderen Menschen aus ihren Interaktionen mit beiden ableiten. Dies impliziert, dass Kinder keine leeren Gefäße sind, die passiv darauf warten, mit dem Wissen des Lehrers gefüllt zu werden. Die Lehrer wären gut beraten, wenn sie auf dem aufbauten, was ein Kind bereits weiß. Sie sollten die Kinder mit Hilfe von konkreten Demonstrationen zum eigenen Denken anregen. Dabei sollten Eltern und Lehrer nicht vergessen, dass die Logik der Erwachsenen für Kinder nicht nachvollziehbar ist. Ein für uns Erwachsene simpler und offensichtlicher Tatbestand – wenn das eine Kind von der Wippe springt, schlägt das andere Kind heftig auf dem Boden auf – ist für ein 3-jähriges Kind nicht einsichtig. Wir müssen die fehlende kognitive Reife von Kindern als Anpassungsprozess verstehen, als eine von der Natur vorgesehene Strategie, deren Zweck es ist, Kinder im Schutz von Erwachsenen aufwachsen zu lassen und ihnen dadurch Zeit zum Lernen und zur Sozialisation zu geben (Bjorklund u. Green 1992).

4.2.3 Soziale Entwicklung M. Barton

Ziel 11: Definieren Sie Fremdeln.

Fremdeln Die neu auftauchende Fähigkeit, Menschen als unbekannt und damit möglicherweise als bedrohlich einzuschätzen, trägt dazu bei, Säuglinge im Alter von 8 oder mehr Monaten vor Schaden zu bewahren

Aristoteles nannte den Menschen ein Zoon politikon, ein »staatenbildendes Lebewesen«, dazu bestimmt, in enger Beziehung zu wichtigen anderen Personen zu leben. Doch wie bilden sich diese Bindungsformen? Was geschieht, wenn sich entstehende Bindungen als sicher erweisen, wenn Bindungen fehlen oder abgebrochen werden? Säuglinge sind von Geburt an gesellig. In allen Kulturen entwickeln sie eine intensive Beziehung zu ihren Betreuungspersonen. Neugeborene zeigen von Anfang an eine Vorliebe für

167 4.2 · Kleinkindzeit und Kindheit

Menschen ganz allgemein, doch schon früh richtet sich diese Vorliebe auf vertraute Gesichter und Stimmen, und bald reagieren sie mit Gurren und Glucksen, wenn die Mutter oder der Vater sich ihnen zuwendet. Doch dann geschieht etwas Merkwürdiges: Kaum kann ein Kind sich aus eigener Kraft fortbewegen (krabbeln) und entwickelt ein Gefühl für Objektpermanenz, zeigt es in den meisten Kulturen Angst vor unbekannten Personen: Es »fremdelt«. Mit etwa 8 Monaten reagiert es möglicherweise mit Schreien auf unbekannte Menschen und streckt die Ärmchen nach den vertrauten Bezugspersonen aus, als wolle es sagen: »Nein! Lass mich nicht allein!« In diesem Alter verfügen Kinder über Schemata für vertraute Gesichter, und wenn sie ein neues Gesicht nicht in diese Schemata assimilieren können, geraten sie aus der Fassung (Kagan 1984).

4

Fremdeln (stranger anxiety): Furcht vor Menschen, die dem Kind unbekannt sind. Das Fremdeln tritt allgemein bei Kindern im 8. Lebensmonat erstmals auf.

! Das Phänomen des Fremdelns verdeutlicht ein wichtiges Prinzip: Das Gehirn, das Denken und das sozial-emotionale Verhalten entwickeln sich gemeinsam.

Mit 12 Monaten klammern sich viele Kinder an einen Elternteil, wenn sie Angst haben oder eine Trennung befürchten. Sind Kind und Bezugsperson nach einer Trennung wieder vereint, überschüttet das Kind den vermissten Menschen mit Lächeln und Umarmungen. Kein anderes Sozialverhalten ist so beeindruckend wie diese starke wechselseitige Eltern-Kind-Bindung, die wir als Bindung (attachment) bezeichnen.

Bindung (attachment): emotionales Band zwischen dem sehr kleinen Kind und seiner Bezugsperson. Das Kind sucht die Nähe zur Bezugsperson und reagiert auf Trennung mit Kummer und Schmerz.

Ursprünge des Bindungsverhaltens Ziel 12: Erörtern Sie, welche Auswirkungen Nahrungsaufnahme, Körperkontakt und Vertrautheit auf die soziale Bindung eines Säuglings haben.

Der Bund durch Bindung ist eine wirkungsvolle Triebkraft zum Überleben, die Kinder nah bei ihren Betreuungspersonen bleiben lässt. Der Säugling entwickelt eine Bindung an die Menschen – normalerweise seine Eltern –, die ihm vertraut sind und die ihm Geborgenheit bieten.Viele Jahre lang hatten die Entwicklungspsychologen geglaubt, Säuglinge bauten eine Bindung zu den Menschen auf, die ihr Bedürfnis nach Nahrung befriedigen. Das klang einleuchtend. Doch ein Zufallsbefund stellte diese Erklärung radikal in Frage.

In den 50er Jahren des vorigen Jahrhunderts zogen die Psychologen Margaret und Harry Harlow von der University of Wisconsin Affen groß, die sie für ihre Lernexperimente brauchten. Sie wollten alle Affenkinder unter den gleichen Bedingungen aufziehen und sie gegen Krankheiten abschirmen. Deshalb trennten sie die Affenkinder kurz nach der Geburt von ihren Müttern, brachten sie in hygienisch sauberen Käfigen unter und gaben ihnen eine weiche Babydecke aus Mull (Harlow et al. 1971). Zur Überraschung der Wissenschaftler entwickelten die Affenbabys eine intensive Beziehung zu ihrer Decke: Nahm man sie ihnen weg, um sie zu waschen, zeigten die kleinen Affen alle Zeichen von Kummer und Stress. Diese Bindung an die Decke widersprach nach Auffassung der Harlows der Vorstellung, dass sich Bindungsverhalten auf die Assoziation mit Nahrung zurückführen lässt. Doch wie ließ sich das noch überzeugender demonstrieren? Die Harlows wollten die Anziehungskraft einer Futterquelle gegen den tröstlichen Kontakt mit der Decke ausspielen und schufen deshalb 2 künstliche »Mütter«. Die eine war ein Drahtzylinder mit einem Kopf aus Holz, die andere ein Drahtzylinder, der von einer Plüschdecke umhüllt war. An beiden »Müttern« konnte man eine Flasche anbringen, um sie mit Nahrung in Verbindung zu bringen. Hatten die Äffchen eine Drahtmutter mit Nahrung und eine Plüschmutter ohne Nahrung zur Verfügung, dann zogen sie mit überwältigender Sicherheit die tröstliche Plüschmutter vor (. Abb. 4.16). Wie Säuglinge, die sich an ihre Mutter klammern, klammerten sich die Äffchen an ihre Plüschmutter, wenn sie Angst hatten. Sie benutzten sie auch als geschützte Basis, von der aus sie Ausflüge in die Umgebung wagten, als wären sie durch ein unsichtbares Gummiband, das sich ein Stück weit dehnte und dann das Affenkind zurückzog, mit der Mutter verbunden. In weiteren Studien wurden noch andere Eigenschaften gefunden, die das Bindungsverhalten beeinflussen: auf den Armen wiegen, Wärme und Nahrung spenden – all das machte die Plüschmutter nur noch attraktiver.

Helen A. LeRoy, Harlow Primate Laboratory, Madison

Körperkontakt

. Abb. 4.16. Harlows Mütter Die Psychologen Harry Harlow und Margaret Harlow zogen Affen mit zwei künstlichen Müttern auf: Die eine war ein nur aus Draht bestehender Zylinder und hatte einen hölzernen Kopf. An dieser »Mutter« war eine Nuckelflasche befestigt. Die andere »Mutter« war auch ein Drahtzylinder, hatte keine Nuckelflasche, war aber mit Schaumstoff umhüllt und mit einer Plüschdecke bezogen. Was Harlow entdeckte, überraschte viele Psychologen: Die Äffchen suchten weit mehr den Kontakt mit der tröstlich-weichen Plüschmutter, obwohl die Nuckelflasche an der anderen Mutter hing

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Kapitel 4 · Entwicklung

Kirkpatrick (1999) berichtet, dass für manche Menschen die wahrgenommene Beziehung zu Gott die gleiche Funktion hat wie andere Bindungen – sie bietet eine geschützte Basis zum Erkunden und einen sicheren Zufluchtsort bei Bedrohungen.

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Auch Babys entwickeln eine Bindung zu den Eltern, die weich und warm sind, das Kind in den Armen wiegen, füttern und streicheln. Ein Großteil der emotionalen Kommunikation zwischen Säugling und Eltern vollzieht sich über Berührungen (Hertenstein 2002), die entweder tröstend (Kuscheln) oder erregend (Kitzeln) sein können. Auch bei Menschen bedeutet Bindungsverhalten, dass ein Mensch für den anderen ein sicherer Zufluchtsort in Augenblicken der Not ist und eine geschützte Basis, von der aus man die Umgebung erforschen kann. In dem Maß, wie wir heranwachsen und uns entwickeln, verlagert sich dieses Sicherheitsgefühl von den Eltern auf Gleichaltrige und auf Partner (Cassidy u. Shaver 1999). Gesellige Wesen sind wir allerdings in jedem Alter. Wenn uns jemand mit Worten oder Taten ein Gefühl der Sicherheit gibt, gibt uns dies Stärke: »Ich bin da. Mein Interesse gilt dir. Komme, was da kommen mag, ich unterstütze dich« (Crowell u. Waters 1994).

Vertrautheit Kritische Phase (critical period): Wird ein Organismus zu diesem optimalen Zeitpunkt bestimmten Reizen oder Erfahrungen ausgesetzt, so wird der angemessene Entwicklungsprozess in Gang gesetzt. Prägung (imprinting): Vorgang, der bei manchen Tieren zur Ausbildung eines Bindungsverhaltens führt. Die Prägung erfolgt in der kritischen Phase.

Kontakt ist der eine Schlüsselbegriff für Bindungsverhalten, ein anderer ist Vertrautheit. Bei vielen Tieren bildet sich eine auf Vertrautheit beruhende Bindung während einer kritischen Phase aus. Dabei handelt es sich um einen optimalen Zeitpunkt kurz nach der Geburt, zu dem bestimmte Dinge geschehen müssen, wenn die Entwicklung richtig verlaufen soll (Bornstein 1989). Wenn ein Gänse-, Enten- oder Hühnerküken aus dem Ei schlüpft, ist normalerweise die Mutter das erste Objekt, das es erblickt und das sich bewegt. Von diesem Moment an folgt das Junge der Mutter und zwar nur ihr. Dieser starre Bindungsprozess, Prägung genannt, wurde von Konrad Lorenz (1937) erforscht. Er stellte sich folgende Frage: Was würden Entenküken tun, wenn er selbst das erste Lebewesen wäre, das sie erblickten? Nun, sie taten, was sie tun mussten: Sie folgten ihm überall hin. Weitere Tests zeigten, dass bei Vogeljungen zwar die beste Prägung die auf ein Tier ihrer eigenen Art war, dass sie sich jedoch auch auf Tiere einer anderen Gattung oder auf bewegliche Objekte prägen ließen, etwa auf eine Kiste auf Rädern oder einen hüpfenden Gummiball (Colombo 1982; Johnson 1992). Hat sich diese Bindung erst einmal entwickelt, lässt sie sich nur schwer rückgängig machen. Kinder sind keine Entenküken, bei ihnen findet keine Prägung statt. Sie entwickeln Bindungen zu dem, was sie kennen gelernt haben. Das bloße Zusammensein mit Menschen und Dingen verstärkt die Zuneigung. Kinder lieben es, immer wieder dasselbe Buch vorgelesen zu bekommen, denselben Film anzuschauen, dieselben vertrauten Nachbarn zu haben und mit denselben alten Freunden zur Schule zu gehen. ! Körperkontakt ist zentral für die Entwicklung der Eltern-Kind-Bindung. Vertrautheit bedeutet für Kinder Sicherheit und schafft Zufriedenheit.

Robert Schlappal

Unterschiede bei der Bindung Ziel 13: Stellen Sie die sichere und die unsichere Bindung einander gegenüber, und erläutern Sie die Rolle der Eltern und der Säuglinge bei der Entwicklung der Bindung sowie die Gefühle des Urvertrauens beim Säugling. Bindung Wenn der französische Pilot Christian Moultec mit seinem Ultraleicht-Flieger abhebt, folgen ihm die Gänse, die er aufgezogen hat, seit sie aus dem Ei geschlüpft sind, und die auf ihn geprägt sind

Wie lassen sich Unterschiede bei der Bindung erklären? Um das Bindungsverhalten eines Kindes zu testen, wird es zusammen mit seiner Mutter in eine fremde Umgebung gebracht, üblicherweise das Spielzimmer eines Psychologischen Instituts. Bei diesem Test, der als »fremde Situation« bezeichnet wird, zeigen ungefähr 60% der Kinder ein sicheres Bindungsverhalten: In Gegenwart der Mutter spielen sie unbefangen und erforschen fröhlich die neue Umgebung. Verlässt die Mutter den Raum, werden sie unruhig; kommt die Mutter zurück, suchen sie den Kontakt mit ihr. Andere Kinder zeigen ein unsicheres Bindungsverhalten: Sie sind weniger eifrig damit beschäftigt, die neue Umgebung zu erforschen, manchmal klammern sie sich in dieser Situation sogar an die Mutter. Wenn diese den Raum verlässt, weinen sie laut und wirken verstört (unsicher-ambivalent gebundene Kinder), oder sie reagieren überhaupt nicht auf das Verschwinden und die Rückkehr der Mutter (unsicher-vermeidend gebundene Kinder) (Ainsworth 1973, 1989; Kagan 1995; van Ijzendoorn u. Kroonenberg 1988). Eine mögliche Ursache für diese Unterschiede könnte das Verhalten der Mutter sein. Weibliche Ratten, die von entspannten, aufmerksamen Adoptivmüttern aufgezogen wurden, verhalten sich

ihrem eigenen Nachwuchs gegenüber entspannter und aufmerksamer als Ratten, die von gestressten und unaufmerksamen Adoptivmüttern aufgezogen wurden (Francis et al. 1999). Nehmen Menschenkinder die Tendenzen ihrer Mütter auch so auf? Ainsworth (1979) untersuchte die Unterschiede im Bindungsverhalten, indem sie die MutterKind-Interaktionen während der ersten 6 Lebensmonate im häuslichen Umfeld beobachtete. Später beobachtete sie das Verhalten 1-jähriger Kinder in der sog. »fremden Situation« ohne ihre Mütter. [Die von Ainsworth entwickelte »fremde Situation« ist ein mittlerweile weltweit angewandtes Verfahren, um die Bindungsbeziehung zwischen einem Kleinkind und seiner Bezugsperson zu erfassen (Sodian u. Ziegenhain 2004).] Die Kinder von aufgeschlossenen, einfühlsamen Müttern, die beobachteten, was ihr Baby tat, und angemessen darauf reagierten, zeigten ein sicheres Bindungsverhalten. Kinder von wenig aufgeschlossenen, einfühlsamen Müttern – Mütter, die sich nur um ihr Kind kümmerten, wenn ihnen gerade danach zu Mute war, es aber ansonsten ignorierten – zeigten häufig ein unsicheres Bindungsverhalten. Die Versuche der Harlows mit jungen Affen, bei denen die Drahtgestelle sicher die prototypische Form einer uneinfühlsamen Mutter darstellten, erbrachten noch deutlichere Effekte: Wurden die Äffchen ohne ihre künstliche Mutter einer »fremden Situation« ausgesetzt, reagierten sie mit Angst und Schrecken (. Abb. 4.17). ! In verschiedenen Folgestudien wurde bestätigt, dass einfühlsame Mütter – und Väter – eher Kinder mit sicherem Bindungsverhalten haben (De Wolff u. van Ijsendoorn, 1997; van Ijsendoorn 1997).

Die Frage ist allerdings, ob der Bindungsstil des Kindes eine Folge des Verhaltens ist, da ja die frühen Erfahrungen der Kinder ihre Denkweise über Beziehungen formen. Oder hängt der Bindungsstil vom genetisch beeinflussten Temperament des Kindes ab – also von der charakteristischen emotionalen Reaktionsbereitschaft und -intensität? Kurz nach der Geburt sind einige Babys deutlich erkennbar »schwierig« – irritierbar, heftig und unvorhersehbar reagierend. Andere sind »einfach« zu haben – fröhlich, entspannt, mit vorhersagbaren Schlaf- und Nahrungsmustern (Chess u. Thomas 1987). Werden bei diesen Studien derartige angeborene Unterschiede nicht berücksichtigt, dann werden »Jagdhunde, die im Zwinger aufgezogen wurden, mit Pudeln verglichen, die in einer Wohnung aufgewachsen sind«, kommentiert Harris (1998). Um also die Faktoren Anlage und Umwelt voneinander zu trennen, variierte die holländische Wissenschaftlerin van den Boom (1990) das elterliche Verhalten und kontrollierte das Temperament des Kindes. (Legen Sie das Buch einen Augenblick beiseite und denken Sie nach: Wie wären Sie an dieses Problem herangegangen?) Van den Boom entschied sich für folgende Lösung: Sie wies 100 Kinder im Alter von 6–9 Monaten, die ein eher »schwieriges« Temperament hatten (7 Abschn. 3.1.4), entweder einer Versuchsgruppe zu, in der die Mütter in einfühlsamem Verhalten trainiert wurden, oder einer Kontrollgruppe, in der die Mütter nicht trainiert wurden. Im Alter von 12 Monaten wurde bei den Kindern das Bindungsverhalten getestet, und es zeigte sich, dass 68% von ihnen aus der Versuchsgruppe ein sicheres Bindungsverhalten zeigten, während in der Kontrollgruppe nur 28% so eingestuft wurden. Bei anderen Studien fand man ebenfalls heraus, dass man durch Interventionsprogramme die Sensibilität der Eltern verbessern kann und, in geringerem Maße, die Bindungssicherheit des Säuglings (Bakermans-Kranenburg et al. 2003). Diese Beispiele zeigen, dass die Betreuung durch die Mutter häufiger Gegenstand der Forschung war als die Betreuung durch den Vater. Wenn Kleinkinder nicht von der Mutter betreut werden, dann nennt man das »Deprivation«; fehlt jedoch die Betreuung durch den Vater, dann heißt es lediglich, das Kind mache die Erfahrung des »abwesenden Vaters«. »Fathering a child« bedeutet im Englischen, ein Kind zu zeugen; »mothering« dagegen bedeutet, ein Kind zu betreuen. Auch im Deutschen gibt es nur den Ausdruck »bemuttern« für das Verhalten einer überbehütenden Mutter; das väterliche Gegenstück fehlt. Doch es zeigt sich immer deutlicher, dass Väter mehr sind als mobile Samenbanken: 4 In fast 100 Studien, die weltweit durchgeführt wurden, waren väterliche Liebe und Akzeptanz und mütterliche Liebe bei Prognosen über die Gesundheit und das Wohlbefinden der Kinder miteinander vergleichbar (Rohner u. Veneziano 2001).

4 Helen A. LeRoy, Harlow Primate Laboratory, Madison

169 4.2 · Kleinkindzeit und Kindheit

. Abb. 4.17. Soziale Deprivation und Furcht Junge Affen, die von künstlichen Müttern aufgezogen worden waren, waren starr vor Angst, wenn man sie ohne ihre Ersatzmütter dem »Fremde-Situation«-Test unterzog. (Heute achtet man mehr darauf, dass sich die Tiere wohlfühlen, und dieses Klima des respektvolleren Umgangs mit Tieren verhindert, dass solche Studien durchgeführt werden.)

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Kapitel 4 · Entwicklung

. Abb. 4.18. Die Trennung von den Eltern ist für kleine Kinder eine schmerzliche Erfahrung Im Rahmen eines Versuchs mussten sich Gruppen von Kindern ohne ihre Mütter in einem Raum aufhalten, den sie nicht kannten. Bei beiden Gruppen war der Prozentsatz der Kinder, die mit Schreien reagierten, wenn die Mutter hinausging, im Alter von 13 Monaten am höchsten (nach Kagan 1976). Ob die Kinder in einer Kindertagesstätte oder zu Hause betreut wurden, machte kaum einen Unterschied

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Copyright Barry Hewlett

4 Bei einer groß angelegten britischen Studie, bei der 7259 Kinder von der Geburt bis ins Erwachsenenalter wissenschaftlich begleitet wurden, zeigte sich, dass jene, deren Väter sich am stärksten in ihrer Elternrolle engagierten (dazu gehörten Ausflüge, Vorlesen und aktives Interesse an der Erziehung der Kinder), in der Schule gewöhnlich bessere Leistungen erbrachten, selbst wenn man nachträglich viele weitere Faktoren kontrollierte wie den Bildungsstand der Eltern und die materielle Stellung der Familie (Flouri u. Buchanan 2004).

Ein fantastischer Vater Beim Volk der Aka in Zentralafrika entwickeln die Väter eine besonders enge Bindung an ihre Kleinkinder; sie säugen sogar ihre Babys mit ihren eigenen Brustwarzen, wenn der Hunger dazu führt, dass das Kind gar nicht mehr auf die Rückkehr der Mutter warten kann. Nach dem Anthropologen Hewlett (1991) halten die Väter in dieser Kultur in 47% der Fälle ihre Babys auf dem Arm oder sind in erreichbarer Nähe Urvertrauen (basic trust): Laut Erik Erikson ist Urvertrauen das Gefühl, dass die Welt ein sicherer und vertrauenerweckender Ort ist. Dieses Vertrauen entsteht in der frühen Kindheit durch die entsprechenden Erfahrungen mit aufgeschlossenen und einfühlsamen Bezugspersonen. »Aus dem Konflikt zwischen Vertrauen und Misstrauen entwickelt das Kind Hoffnung; dies ist die früheste Form dessen, was allmählich zum SichVerlassen auf Erwachsene wird.« Erik Erikson, 1983

Ob in Nordamerika, Europa, Guatemala oder der Kalahari-Wüste, ob ein Kind zu Hause betreut wird oder in einer Kindertagesstätte: Die Furcht vor einer Trennung von den Eltern erreicht ihren Höhepunkt mit etwa 12 Monaten und nimmt dann allmählich ab (. Abb. 4.18). Heißt dies, dass auch das Bedürfnis nach anderen Menschen oder die Liebe zu ihnen dahinschwindet? Wohl kaum. Die Liebesfähigkeit nimmt zu, und die Lust, die es uns bereitet, die Menschen, die wir lieben, zu berühren oder im Arm zu halten, hört nie auf. Doch die frühe Bindung verliert allmählich ihre Macht, so dass wir uns in neue Bereiche und Situationen hinauswagen, leichter mit fremden Menschen Kontakt aufnehmen und trotz räumlicher Entfernung an die Personen, die wir lieben, emotional gebunden bleiben können. Den Entwicklungstheoretiker Erik Erikson (1902–1994) hätte das nicht überrascht. Erikson und seine Frau und Mitarbeiterin Joan Erikson stellten fest, dass Kinder mit sicherem Bindungsverhalten auf das Leben mit einem Grundgefühl von Urvertrauen zugehen – mit dem Gefühl, dass die Welt vertrauenswürdig und verlässlich ist. Er schrieb dieses Grundvertrauen nicht nur dem positiven Umfeld oder einer angeborenen Veranlagung zu, sondern der Art, wie die Eltern mit dem Neugeborenen und dem Säugling umgingen. Seine Theorie lautete, dass Kinder, die unter dem segensreichen Einfluss von einfühlsamen und liebenden Bezugspersonen leben, eher eine vertrauensvolle als eine furchtsame Haltung entwickeln, die sie ihr Leben lang beibehalten. Erikson wäre auch nicht überrascht, zu erfahren, dass sich in der Art der romantischen Liebesbeziehungen unter uns Erwachsenen zeigt, ob wir eine gute und vertrauensvolle Bindung oder eine unsichere und angstvolle Bindung erlebt haben oder ob jede Bindung vermieden wurde (Feeny u. Noller 1990; Mikulincer u. Shaver 2005; Rholes u. Simpson 2004). ! Viele Wissenschaftler sind sich heute darüber einig, dass unser frühes Bindungsverhalten die Grundlage für unsere Beziehungen als Erwachsene bildet (Fraley 2002).

171 4.2 · Kleinkindzeit und Kindheit

Fehlende oder mangelhafte Bindung Ziel 14: Beurteilen Sie, welche Auswirkungen es auf die Bindungsmuster und auf die Entwicklung hat, wenn Kinder von den Eltern vernachlässigt werden, wenn eine Familie auseinanderbricht und wenn Kinder in Kindertagesstätten betreut werden.

Wenn, wie wir gesehen haben, ein sicheres Bindungsverhalten zur Ausbildung sozialer Kompetenz führt, was geschieht dann, wenn ein Kind kein Bindungsverhalten entwickeln kann, weil es die Umstände nicht erlauben? In der gesamten psychologischen Fachliteratur gibt es nichts Traurigeres als die Ergebnisse dieser Untersuchungen. Im Kinderheim mit wechselnden Bezugspersonen oder zu Hause in eine Ecke abgeschoben und vernachlässigt, bekommen Kinder nicht die Aufmerksamkeit und die Anregungen, die sie für ihre Entwicklung brauchen. Diese Kinder ziehen sich häufig in sich selbst zurück, sind ängstlich und schreckhaft, manchmal sogar sprachlos. Die verlassenen Kinder, die während der 80er Jahre in rumänischen Waisenhäusern gefunden wurden, hatten »eine erschreckend große Ähnlichkeit mit Harlows Äffchen« (Carlson 1995). Verbleibt ein Kind länger als 8 Monate in einer solchen vernachlässigenden Institution, trägt es oft emotionale Narben davon (Chisholm 1998; Malinosky-Rummell u. Hansen 1993; Rutter et al. 1998). Auch die Äffchen der Harlows trugen Narben davon, wenn sie in völliger Isolierung und sogar ohne eine künstliche Mutter aufgezogen wurden. Sie verkrochen sich ängstlich oder wurden sehr aggressiv, wenn man sie als erwachsene Tiere mit Gleichaltrigen zusammenbrachte. Bei Erreichen der Geschlechtsreife waren die meisten nicht dazu fähig, sich zu paaren. Weibchen, die künstlich befruchtet wurden, vernachlässigten oder missbrauchten häufig ihre erstgeborenen Jungen. Manchmal brachten sie diese sogar um. ! Auch für Menschen gilt, dass die Nichtgeliebten manchmal zu Nichtliebesfähigen werden. Die meisten Eltern, die ihre Kinder auf die eine oder andere Weise missbrauchen, berichten, dass sie als Kinder vernachlässigt oder geschlagen worden sind (Kempe u. Kempe 1978).

Lässt sich daraus die Vorhersage ableiten, dass die Opfer von heute die Täter von morgen sind? Die Antwort lautet eindeutig: Nein. Zwar wurde die Mehrzahl derer, die ein Kind misshandeln oder missbrauchen, selbst misshandelt oder missbraucht, doch die meisten Menschen, die als Kinder misshandelt oder missbraucht wurden, werden nicht zu Gewalttätern oder prügelnden Eltern. Von den Kindern, die unter extrem schwierigen Bedingungen aufwuchsen, haben die meisten genügend Widerstandskraft, um zu ganz normalen Erwachsenen heranzuwachsen (Helmreich 1992; Masten 2001). In einer Studie wurden 1000 Jugendliche, die misshandelt worden sind, über längere Zeit hinweg beobachtet. Beschränkte sich die Zeit der Misshandlungen auf die frühe Kindheit, dann verschwanden die manifesten Folgen, die sich hier als Kleinkriminalität äußerten, spätestens in der Endphase der Adoleszenz (Ireland et al. 2002). Doch nicht alle Kinder sind so flexibel, vor allem nicht die, bei denen es keinen scharfen Bruch zwischen dem erlittenen Missbrauch in ihrer Vergangenheit und einem normalen Leben gibt. 30% der Menschen, die als Kinder in irgendeiner Form missbraucht worden sind, missbrauchen ihrerseits ihre Kinder (Kaufman u. Zigler 1997; Widom 1989a, b). Kleine Kinder, die unter dem Terror von physischem Missbrauch leben, oder Kinder, die während eines Krieges Grausamkeiten miterleben mussten, die geprügelt wurden, Folterungen mit ansehen oder einfach nur in ständiger Angst leben mussten, leiden wahrscheinlich unter anderen Wunden: Sie haben häufig Albträume, sind depressiv und haben in der Adoleszenz Probleme, wie beispielsweise Substanzmissbrauch, Fressanfälle oder Aggressivität (Kendall-Tackett et al. 1993; Polusny u. Follette 1995; Trickett u. McBride-Chang 1995). Der sexuelle Kindesmissbrauch setzt Kinder, vor allem wenn er schwerwiegend ist und lange andauert, einem erhöhten Risiko aus für Gesundheitsprobleme, psychische Störungen, Substanzmissbrauch und Kriminalität (Freyd et al. 2005; Tyler 2002). ! Kinder sind zwar widerstandsfähig, doch schwere Kindheitstraumata hinterlassen Spuren im Gehirn.

Junge Ratten, die als Jungtiere mehrere Stunden am Tag vom Muttertier ferngehalten wurden, bilden später im Gehirn weniger neue Nervenzellen aus (Mirescu et al. 2004). Normalerweise friedfertige Goldhamster, die als Jungtiere ständig bedroht und angegriffen werden, werden, wenn sie den Käfig mit Goldhamstern ihrer Größe teilen müssen, zu Feiglingen oder terrorisieren schwächere Tiere

»Was man in der Wiege lernt, bleibt bis zum Grab erhalten.« Französisches Sprichwort

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Kapitel 4 · Entwicklung

(Ferris 1996). Bei diesen Goldhamstern findet man Veränderungen beim Serotoninspiegel im Gehirn (Serotonin dämpft aggressive Impulse). Eine vergleichbar träge Serotoninproduktion fand sich bei missbrauchten Kindern, die sich als Teenager und Erwachsene aggressiv verhielten. »Stress kann hormonelle Veränderungen hervorrufen, die das Gehirn eines Kindes dahingehend ›verdrahten‹, dass die Welt als ein feindseliger Ort wahrgenommen wird, mit dem man irgendwie fertig werden muss«, lautet die Schlussfolgerung des Missbrauchsforschers Teicher (2002). Könnten die Probleme der Missbrauchsopfer auch andere Ursachen haben? Familiäre Probleme, eine unfreundliche Nachbarschaft oder ein verletzliches Temperament? Studien mit amerikanischen und australischen Zwillingen zeigten, dass Frauen, die als Kind sexuell missbraucht worden sind (Missbrauch, zu dem auch Geschlechtsverkehr gehörte), ein größeres Risiko hatten, depressiv zu werden, unter Angst zu leiden und alkoholabhängig zu werden, als ihre nicht missbrauchten Zwillingsschwestern (Kendler et al. 2000; Nelson et al. 2002). Nimmt man einmal die gleichen Gene, dieselben Eltern und dieselbe Nachbarschaft als gegeben an, müssen diese Störungen auf den Missbrauch zurückzuführen sein. Trotzdem sind die Forscher zurückhaltend, von den momentanen Symptomen auf sexuellen Missbrauch in der Vergangenheit zu schließen (Sbraga u. O’Donohue 2003). Obwohl der sexuelle Missbrauch von Kindern beispielsweise das Risiko für eine Depression größer werden lässt, leiden viele missbrauchte Menschen nicht unter einer Depression, und die meisten depressiven Menschen sind nicht sexuell missbraucht worden.

Unterbrochene Bindung Wie ergeht es einem Kleinkind, wenn die Bindung unterbrochen oder abgebrochen wird? Sowohl junge Affen als auch Menschenkinder reagieren auf die Trennung von ihrer Familie mit Beunruhigung, wenig später mit Rückzug und sogar mit resignierter Hoffnungslosigkeit (Bowlby 1973; Mineka u. Suomi 1978). Aus Sorge, dass der Trennungsstress dauerhafte Schäden verursachen könnte, sind Gerichte nur zögernd bereit, ein Kind aus seinem Elternhaus herauszunehmen. Werden die Kinder in einer positiven und stabilen Umgebung untergebracht, dann überwinden die meisten den Stress der Trennung. In Studien mit Adoptivkindern fanden Yarrow et al. (1973), dass Kinder, die zwischen dem 6. und dem 16. Lebensmonat von ihrer Pflegemutter weggenommen wurden, anfänglich Probleme mit dem Essen und dem Schlafen hatten und nur schwer eine Beziehung zu der neuen Mutter aufbauen konnten. Man untersuchte diese Kinder erneut, als sie 10 Jahre alt waren; zu diesem Zeitpunkt zeigten sich nur noch geringe Nachwirkungen. Es erging ihnen also nicht schlechter als den Kindern, die bei der Trennung von ihrer Ursprungsfamilie noch nicht 6 Monate alt waren (wobei die Trennung mit nur geringem Stress verbunden war). Auch die sozial deprivierten, aber angemessen ernährten rumänischen Waisenkinder, die als Säuglinge oder als kleine Kinder in einem liebevollen Heim aufgenommen wurden, machten insgesamt rasche Fortschritte, vor allem in ihrer kognitiven Entwicklung. Wurden sie allerdings nach dem Alter von 2 Jahren aus dem Heim herausgenommen und adoptiert, hatten sie ein erhöhtes Risiko, Bindungsprobleme zu bekommen. ! Eine Unterbringung in wechselnden Pflegefamilien, die Bindung verhindert, weil das Kind von einer Pflegefamilie zur anderen weitergereicht wird, kann die Bindungsfähigkeit zerrütten; das gilt auch für wiederholte und lange Trennungen von der Mutter.

Auch Erwachsene leiden, wenn eine Bindung zerbricht. Sei es durch Tod oder durch Trennung, der Bruch führt zu einer vorhersagbaren Abfolge von Verhaltensweisen: Erregung, Beschäftigung mit dem verlorenen Partner, dann tiefe Trauer und vielleicht die ersten Anzeichen einer emotionalen Loslösung und schließlich die Rückkehr zum normalen Leben (Hazan u. Shaver 1994). Paare, deren Trennung noch nicht lange zurückliegt und die schon lange keine Zuneigung mehr empfinden, sind manchmal von ihrem Bedürfnis überrascht, dem früheren Partner nahe zu sein. Tiefe und lang anhaltende Bindungen brechen selten schnell ab. Loslösung ist kein einmaliges Ereignis, sondern ein Prozess.

Tagesbetreuung und Bindungsverhalten In den 50er Jahren des 20. Jahrhunderts, als »Mutter bleibt zu Hause« die allgemeine soziale Norm war, fragten sich Wissenschaftler: »Ist Tagesbetreuung schädlich für das Kind? Wird dadurch die Bindung des Kindes zu seinen Eltern unterbrochen?« Die Antwort lautete Nein, zumindest was

die Tagesbetreuungsprogramme von hoher Qualität betraf, die normalerweise untersucht wurden (Belsky 1990). Die Entwicklungspsychologin Sandra Scarr schrieb 1984 in ihrem Buch »Mother Care, Other Care« (dtsch.: »Wenn Mütter arbeiten – wie Kinder und Beruf sich verbinden lassen«, 1987), dass Kinder – »biologisch gesehen – robuste Individualisten sind, die auch in einer Vielzahl verschiedener Situationen gedeihen können«. Scarr sprach vielen Entwicklungspsychologen aus dem Herzen, deren Forschung ergeben hatte, dass die Berufstätigkeit der Mutter keinen schädlichen Einfluss auf die Entwicklung der Kinder hatte (Erel et al. 2000). Dann wandte sich die Forschung der Frage zu, ob die unterschiedliche Qualität der Tagesstätten Auswirkungen auf die unterschiedlichen Temperamente der Kinder hat. Scarr (1997) erklärte: Überall auf der Welt bietet »Tagesbetreuung von hoher Qualität Gelegenheit für freundliche und stützende Interaktionen mit Erwachsenen in einer sicheren, gesunden und anregenden Umgebung. … Schlechte Tagesbetreuung ist langweilig, und man geht dort nicht auf die Bedürfnisse der Kinder ein.« Die neuere Forschung bestätigt nicht nur den Befund, das die Qualität der Tagesbetreuung von Bedeutung ist; man fand heraus, dass Armut in der Familie dazu führt, dass die Kinder einer Tagesbetreuung von geringer Qualität ausgesetzt sind, ebenso wie einer Instabilität und einem Durcheinander innerhalb der Familie, einem autoritären elterlichen Erziehungsstil, mehr Fernsehen und weniger Zugang zu Büchern (Love et al. 2003; Evans 2004). In einer Langzeitstudie wurden 1100 Kinder in 10 amerikanischen Städten vom 1. Lebensmonat an beobachtet. Die Forscher fanden bei Kindern im Alter von 4 1/2–6 Jahren heraus, dass bei denen, die die meiste Zeit über eine Kindertagesstätte besucht hatten, die Denk- und Sprachfähigkeit etwas über der Altersnorm lag; sie waren aber auch aggressiver und frecher (NICHD 2002; NICHD 2003). Für die Entwicklungspsychologin Maccoby (2003) deutet die positive Korrelation zwischen der erhöhten Häufigkeit des Problemverhaltens und der Zeit, die diese Kinder in der Tagesbetreuung verbrachten, darauf hin, dass »es ein gewisses Risiko für einige Kinder gibt, die längere Zeit in einer Tagesbetreuung, wie sie heute organisiert ist, verbringen«. Doch die Qualität der Familie, das Temperament des Kindes, die Sensibilität der Mutter und das materielle und Bildungsniveau der Familie hatten mehr Einfluss als die Zeit, die das Kind in der Tagesstätte verbrachte. Weitere kürzlich veröffentlichte Forschungsarbeiten zeigen kein einheitliches Befundmuster: 4 Bei Kleinkindern steigt der Spiegel der Stresshormone gewöhnlich an, wenn sie in der Kindertagesstätte sind, und sinkt an den Tagen wieder ab, an denen sie zu Hause sind (Watamura et al. 2003). 4 Wenn die Mütter von der Sozialhilfe in einen Beruf gehen, hat dies für ihre Vorschulkinder keine negativen Folgen (Chase-Lansdale et al. 2003). 4 Obwohl berufstätige Mütter insgesamt weniger Zeit mit ihren Kleinkindern verbringen, gleichen sie dies gewöhnlich teilweise dadurch aus, dass sie in ihrer Freizeit einschließlich der Wochenenden andere Aktivitäten ausfallen lassen (wie etwa mit anderen Personen zusammen sein). Im Endeffekt verbringen sie während dieser Stunden mehr Zeit damit, mit ihren Kindern zu spielen, mit ihnen zu sprechen und sie auf dem Arm zu halten, als dies bei nicht berufstätigen Müttern der Fall ist (Huston u. Aronson 2005). Man kann kontroverse Diskussionen auslösen, wenn man sich als Forscher im Bereich der Tagesbetreuung »an die empirischen Daten hält «, merkt Belsky (2003) an. Sowohl die Gegner als auch die Befürworter der Tagesbetreuung haben feste Überzeugungen. Belsky schreibt: »Infolgedessen wird der Forscher, der bereit ist, über unpopuläre Ergebnisse zu berichten, nur allzu häufig angegriffen, weil er die Daten erhoben hat.« Ebenso wie Metereologen möglicherweise über Regen berichten, aber die Sonne lieben, zielen Wissenschaftler darauf ab, die Dinge so offenzulegen und darüber zu berichten, wie sie sind, ob sie das nun mögen oder nicht. ! Angesichts der kulturell so unterschiedlichen Bindungsstile sollte uns die Fähigkeit der Kinder nicht verwundern, unter verschiedenen Arten von Betreuung zu gedeihen, wenn diese nur empathisch und einfühlsam ist.

In westlichen Ländern heißt Bindung: ein oder zwei Bezugspersonen und ihre Nachkommenschaft. In anderen Kulturen, etwa bei den Efe-Pygmäen in Zaire sind zahlreiche Bezugspersonen

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173 4.2 · Kleinkindzeit und Kindheit

Ein Beispiel für hoch qualifizierte Tagespflege Die wissenschaftliche Forschung hat nachgewiesen, dass sich Kinder in einer sicheren und anregenden Umgebung sozial und geistig am besten entwickeln. Günstig ist ein Verhältnis von 3–4 Kindern pro Erzieher/in

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Kapitel 4 · Entwicklung

die Norm (Field 1996; Whaley et al. 2002). Noch ehe die Mutter ihr Kind zum ersten Mal auf den Arm nimmt, wird es schon herumgereicht und von mehreren Frauen gehalten. In den darauffolgenden Wochen wird der Säugling ständig von anderen Frauen getragen und gestillt. Das Ergebnis sind starke multiple Bindungen. Ein bekanntes afrikanisches Sprichwort sagt: »Man braucht ein ganzes Dorf, um ein Kind großzuziehen.« Es wird wohl kaum jemand der Aussage widersprechen, dass Kleinkinder, die während der Arbeitszeit ihrer Eltern täglich mehrere Stunden sich selbst überlassen sind, ein besseres Los verdient haben. Das Gleiche gilt aber auch für Kinder, die jeden Tag 9 Stunden in einer personell unterbesetzten und schlecht ausgestatteten Tagesstätte verbringen müssen. ! Kinder brauchen eine beständige, warme Beziehung zu Menschen, zu denen sie Vertrauen entwickeln können.

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Selbstkonzept Ziel 15: Geben Sie an, wann und wie sich das Selbstkonzept eines Kindes entwickelt.

S. Hughes

Selbstkonzept (self-concept): Gefühl für die eigene Identität und den eigenen Wert.

Selbstwahrnehmung Vom 6. Lebensmonat an sind Kinder von Spiegelbildern fasziniert. Doch erst mit etwa 18 Monaten erkennt ein Kind, dass das Bild im Spiegel »Ich« ist

Wenn man sie längere Zeit vor einen Spiegel setzt, ließ sich bei Schimpansen, Orang-Utans, Gorillas und Delphinen in ähnlicher Weise zeigen, dass sie sich selbst im Spiegel wiedererkennen (Marino et al. 1994; Wright 1996). Bei Kapuzineraffen lässt sich dies teilweise demonstrieren (de Waal et al. 2005)

In der Säuglings- und Kleinkindzeit ist es die wichtigste soziale Errungenschaft, Bindungen zu entwickeln und Bindungsverhalten zu lernen. Die größte soziale Errungenschaft in der Kindheit ist die Ausbildung eines positiven Selbstgefühls. Mit etwa 12 Jahren, also am Ende der Kindheit, haben die meisten Kinder ein Selbstkonzept entwickelt, ein Gefühl für die eigene Identität und den eigenen Wert. Eltern fragen sich oft, wann und auf welche Weise dieses Selbstgefühl entsteht. »Ist sich mein Baby seiner selbst bewusst? Weiß mein kleines Mädchen, wer sie ist? Weiß sie, dass sie eine eigenständige Persönlichkeit ist, anders als alle anderen?« Auch hier können wir das Baby nicht direkt befragen, doch wir können wieder einmal das betrachten, was es kann. Denn das Verhalten des kleinen Mädchens liefert uns die Hinweise darauf, wann es beginnt, sich seiner selbst bewusst zu sein. Der Naturforscher Charles Darwin vertrat dazu 1877 die folgende Auffassung: Das Bewusstsein des eigenen Selbst beginnt dann, wenn wir uns in einem Spiegel wiedererkennen. Nehmen wir diesen Gedanken als Indikator, dann entwickelt sich das Erkennen des eigenen Gesichts nur allmählich und dauert etwa 1 Jahr. Der Prozess beginnt grob gerechnet im 6. Lebensmonat, wenn ein Kind nach dem Spiegel greift und das Spiegelbild so berührt, als sei dort ein anderes Kind (Courage u. Howe 2002; Damon u. Hart 1982, 1988). Doch woher wissen wir, wann das Kind erkennt, dass das Mädchen im Spiegel tatsächlich es selbst ist und nicht einfach eine nette Spielkameradin? Wissenschaftler variierten auf sehr einfache Weise den Spiegeltest, indem sie den Kindern heimlich einen Tupfer Rot auf die Nase verpassten, ehe sie sie vor den Spiegel setzten. Mit etwa 15–18 Monaten fangen Kinder an, ihre eigene Nase anzufassen, wenn sie den roten Fleck im Spiegel sehen (Butterworth 1992; Gallup u. Suarez 1986). Offensichtlich haben Kinder im Alter von 18 Monaten ein Schema davon, wie ihr Gesicht aussehen sollte und wundern sich: »Was macht denn dieser Fleck auf meinem Gesicht?« Dieses einfache Wiedererkennen ist der Beginn für das allmählich stärker werdende Selbstkonzept des Kindes. Ungefähr im Schulalter beschreiben Kinder sich selbst mit Begriffen der Geschlechtszugehörigkeit, als Mitglieder einer Gruppe und mit psychologischen Merkmalen, und sie vergleichen sich mit anderen Kindern (Newman u. Ruble 1988; Stipek 1992). Sie beurteilen sich selbst bei manchen Dingen als geschickt, bei anderen jedoch nicht. Sie bilden ein Konzept aus, das beinhaltet, welche Charakterzüge sie gerne hätten, und entwickeln eine Vorstellung von ihrem idealen Selbst. Mit 8–10 Jahren verfügen sie über ein recht stabiles Selbstbild. ! Was ein Kind tut, wird davon beeinflusst, wie es sich selbst sieht. Kinder mit positivem Selbstkonzept haben mehr Vertrauen, sind unabhängig, optimistisch, durchsetzungsfähig und gesellig (Maccoby 1980).

Dieser Befund wirft wichtige Fragen auf: Können Eltern die Bildung eines positiven, aber realitätsangemessenen Selbstkonzepts fördern? Werden Kinder durch den elterlichen Erziehungsstil beeinflusst?

175 4.2 · Kleinkindzeit und Kindheit

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Erziehungsstile Ziel 16: Beschreiben Sie drei elterliche Erziehungsstile, und liefern Sie drei mögliche Erklärungen für den Zusammenhang zwischen autoritativem Erziehungsstil und sozialer Kompetenz.

Die Erziehungspraktiken von Eltern sind vielgestaltig. Sie unterscheiden sich in den Dimensionen Lenkung/Kontrolle und Wärme/Akzeptanz. Manche Eltern sind streng, andere sind nachsichtig. In manchen Familien wird Zuneigung kaum gezeigt, in anderen dagegen wird viel geschmust und geküsst. Wirken sich diese Unterschiede auf die Kinder aus? Der Aspekt der elterlichen Kontrolle wurde am besten untersucht: Auf welche Weise, wie stark und wie weit kontrollieren Eltern ihre Kinder? Die Forscher haben drei Erziehungsstile ausgemacht: 1. Autoritäre Eltern stellen Regeln auf und erwarten Gehorsam. »Unterbrich mich nicht!« »Räum dein Zimmer auf!« »Komm nicht so spät nach Hause, sonst gibt’s Ärger!« »Warum? Weil ich es gesagt habe.« 2. Permissive Eltern geben den Wünschen der Kinder nach, stellen wenig Ansprüche und bestrafen nur selten. 3. Auf autoritative Eltern trifft beides zu: Sie stellen Forderungen und sie sind empathisch. Sie üben Kontrolle nicht dadurch aus, dass sie Regeln aufstellen und sie durchsetzen, sondern sie begründen die Regeln und ermuntern ihre Kinder (vor allem größere Kinder) dazu, diese Regeln offen mit ihnen zu diskutieren, und sie lassen es zu, dass es Ausnahmen von der Regel gibt. Zu streng, zu weich und genau richtig wurden diese Stile genannt. Heutzutage ist es üblich und notwendig, als vierten Stil noch die vernachlässigende Erziehung hinzuzunehmen (7 Kap. 19). ! Untersuchungen von Coopersmith (1967), Baumrind (1996) und Buri et al. (1988) zeigen, dass die Eltern der Kinder mit dem höchsten Selbstwertgefühl, dem stärksten Selbstvertrauen und der größten sozialen Kompetenz freundlich, interessiert und autoritativ waren. (Kinder mit autoritären Eltern haben gewöhnlich weniger soziale Fertigkeiten und ein geringeres Selbstwertgefühl; Kinder mit permissiven Eltern sind oft aggressiver und unreifer.)

Die Teilnehmer an den meisten Studien waren weiße Mittelschichtfamilien. Allerdings bestätigen Studien mit Familien aus anderen Ethnien und Studien in vielen verschiedenen Kulturen die Korrelation von Sozialverhalten und Bildung mit liebevollem und autoritativem Erziehungsstil der Eltern (Rohner u. Veneziano, 2001; Steinberg u. Morris, 2001). Doch stopp! Ehe Sie jetzt endgültige Schlussfolgerungen über die Ergebnisse der verschiedenen Erziehungsstile ziehen, wollen wir uns erinnern: Korrelation ist nicht dasselbe wie Kausalität. Der Zusammenhang zwischen bestimmten Erziehungsstilen (offen, aber konsequent) und bestimmten Merkmalen beim Kind (soziale Kompetenz) ist eine Korrelation. Es gibt andere mögliche Erklärungen für diesen Zusammenhang (. Abb. 4.19). 4 Vielleicht werden Eltern mehr von den Charakterzügen des Kindes beeinflusst als umgekehrt. Freundlichkeit und Kontrolle variieren in gewisser Weise von einem Kind zum anderen, sogar in derselben Familie (Holden u. Miller 1999). Es könnte auch sein, dass Kinder mit angenehmem Charakter und einer gewissen sozialen Reife, Kinder, die keine besonderen Probleme bereiten, mehr Vertrauen und Zuwendung seitens der Eltern hervorrufen bzw. dass weniger kompetente und kooperative Kinder auch weniger Vertrauen und Zuwendung auslösen. Zwillingsstudien stützen diesen möglichen Zusammenhang (Kendler 1996). 4 Vielleicht liegt diesem Zusammenhang aber auch ein dritter Faktor zugrunde. Kompetente Eltern und ihre gleichfalls kompetenten Kinder haben z. B. vielleicht die gleichen Gene, und zwar solche, die eine Prädisposition für Kompetenz bewirken.

. Abb. 4.19. Korrelation zwischen autoritativem Erziehungsstil und sozialer Kompetenz bei Kindern Drei Erklärungen sind möglich: 1. Der Erziehungsstil hat Einfluss auf die Kompetenz der Kinder; 2. die soziale Kompetenz der Kinder hat Einfluss auf den Erziehungsstil der Eltern; oder 3. die Variablen werden von einem dritten, beidem zugrunde liegenden Faktor beeinflusst

176

Kapitel 4 · Entwicklung

! Der Zusammenhang von elterlichem Erziehungsstil und sozialer Kompetenz des Kindes ist rein korrelativ: Ursache und Wirkung lassen sich nicht eindeutig bestimmen und auch ein dritter Faktor könnte bedeutsam sein.

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»Ihr seid die Bogen, von denen aus eure Kinder als lebende Pfeile ausgeschickt werden.« Kahlil Gibran, »Der Prophet« (1923)

Wenn sich Eltern mit dem Stress der Kindererziehung und mit einander widersprechenden Ratschlägen herumschlagen, dann sollten sie daran denken, dass alle Ratschläge das Wertesystem des Beraters widerspiegeln. Für die, die Wert auf strikten Gehorsam bei den Kindern legen, mag ein autoritärer Stil die gewünschte Wirkung erbringen. Den Eltern, die Wert darauf legen, aufgeschlossene und selbstständige Kinder zu haben, ist der offene und dabei konsequente autoritative Erziehungsstil zu empfehlen. In die Erziehung der Kinder werden viele Jahre investiert, und dabei geht es nicht immer nur um Freude und Liebe, sondern oft auch um Kummer und Sorgen. Doch für die meisten Eltern ist ein Kind ein biologisches und soziales Vermächtnis, eine Investition in die Zukunft der Menschheit. Wenn man junge Erwachsene an ihre Sterblichkeit erinnert, werden sie einen stärkeren Kinderwunsch zum Ausdruck bringen (Wisman u. Goldenberg, 2005). Um es mit C. G. Jung zu sagen: Durch unsere Eltern sind wir mit der Vergangenheit verbunden, durch unsere Kinder mit der Zukunft und durch deren Kinder wiederum mit einer Zukunft, die wir nicht erleben werden, um die wir uns aber trotzdem kümmern müssen.

Lernziele Abschnitt 4.2 Kleinkind- und Kindesalter Ziel 5: Beschreiben Sie einige Entwicklungsveränderungen im Gehirn des Kindes, und erklären Sie, warum viele der Ähnlichkeiten zwischen uns auf Reifung zurückgehen. Das unreife Nervensystem eines Neugeborenen unterliegt nach der Geburt in dem Maße einem Wachstumsschub, in dem sich das neuronale Netz erweitert. Im Alter zwischen 3 und 6 Jahren ist das Wachstum in den Frontallappen am ausgeprägtesten. Die Entwicklung in den Assoziationsfeldern des Kortex befähigt zu Denken, Gedächtnis und Sprache. Wenn die Nervenbahnen im Gehirn genutzt werden, entwickeln sie sich und werden stärker bis in die Pubertät hinein, in der bei einem Pruning genannten Vorgang nach und nach überflüssige Verbindungen beseitigt werden. Wenn keine schwere Misshandlung oder Vernachlässigung vorliegt, führt die Reifung – die ordnungsgemäße Abfolge genetisch festgelegter biologischer Prozesse – alle Kleinkinder auf den Weg des gleichen allgemeinen Entwicklungsverlaufs.

an etwa dieses Alter organisiert. Wenn der Kortex heranreift, wird das Langzeitgedächtnis besser; zudem lassen sich die vorsprachlichen Erinnerungen kleiner Kinder nicht leicht in Sprache übertragen.

Ziel 6: Beschreiben Sie kurz vier Ereignisse in der Abfolge der motorischen Entwicklung von der Geburt bis zum Kleinkind, und geben Sie an, welche Auswirkungen Reifung und Erfahrung auf diese Abfolge haben. Obwohl es Unterschiede bei den genauen Zeitpunkten geben kann, folgen nahezu alle Babys der gleichen Sequenz vom ersten Überrollen zum Sitzen ohne Hilfe, dann Krabbeln, danach Gehen. Die Erfahrung hat hier nur einen geringen Einfluss, die Reifung (einschließlich der des Kleinhirns) ermöglicht Ereignisse.

Ziel 9: Skizzieren Sie Piagets Hauptstadien der kognitiven Entwicklung, und kommentieren Sie, wie sich das Denken von Kindern während dieser vier Stadien verändert. Im sensumotorischen Stadium (Geburt bis 2 Jahre) erleben die Kinder die Welt mit ihren Sinnen und Handlungen. In den ersten 6 Monaten haben die Kinder keine Objektpermanenz , d. h. kein Bewusstsein dafür, dass die Dinge weiter existieren, wenn sie aus den Augen sind. Im präoperatorischen Stadium (2 bis 6 oder 7 Jahre) lernen Kinder, Sprache zu verwenden, und können Dinge mit Worten oder Bildern darstellen, aber sie sind unfähig, logische Schlüsse zu ziehen. Sie haben keine Theory of Mind und sind egozentrisch oder haben Schwierigkeiten, den Standpunkt einer anderen Person einzunehmen (auch Menschen mit einer autistischen Störung haben keine Theory of Mind). Präoperatorische Kinder haben keinen Begriff der Mengenerhaltung – ein Ver6

Ziel 7: Erklären Sie, warum wir nur wenige Erinnerungen an Erfahrungen während der ersten 3 Jahre unseres Lebens haben. Die »infantile Amnesie« – eine Unfähigkeit, sich bewusst an Ereignisse zu erinnern, die vor dem Alter von 3 Jahren geschahen – ist die Folge einer Veränderung in der Art und Weise, wie das Gehirn Erinnerungen

Ziel 8: Beschreiben Sie Piagets Erklärung dafür, wie sich das Denken entwickelt, und erörtern Sie die Bedeutung der Assimilation und der Akkommodation bei diesem Prozess. Piaget schlug vor, dass sich die Fähigkeit von Kindern, Schlussfolgerungen zu ziehen, in einer Reihe von Stadien entwickelt und dass Kinder aktiv ihr Verständnis von der Welt konstruieren und verändern, wenn sie in Interaktion mit ihr treten. Sie bilden Schemata (Begriffe oder Rahmenvorstellungen zur Organisation der Erfahrung). Dann assimilieren (interpretieren) sie Informationen mit Hilfe dieser Schemata, oder – wenn die Informationen nicht zum Schema passen – akkomodieren das Schema (passen es an), um es mit neuen Informationen anzureichern.

177 4.2 · Kleinkindzeit und Kindheit

ständnis davon, dass die Dinge ihre Form ändern können, aber dabei ihre Masse, ihr Volumen oder ihre Anzahl erhalten bleibt. Im konkretoperatorischen Stadium (etwa von 7 bis 11 Jahre) können die Kinder logisch über konkrete Ereignisse nachdenken, Analogien verstehen und arithmetische Operationen ausführen. Im Stadium der formalen Operationen (12 Jahre bis zum Erwachsenenalter) erlangen sie die Fähigkeit, abstrakte Schlussfolgerungen zu ziehen. Piaget sah das Alter, das mit den Stadien verbunden war, als etwas Ungefähres an, doch deren Abfolge als universell. Ziel 10: Erläutern Sie, was die Psychologen heutzutage von Piagets Theorie der kognitiven Entwicklung halten. Die heutige Forschung zeigt, dass die formale Logik bei der kognitiven Entwicklung eine geringere Rolle spielt, als Piaget annahm, und dass die Entwicklung der kognitiven Fähigkeiten kontinuierlicher ist, wobei die Stadien früher beginnen und weniger abrupt einsetzen. Trotzdem sind Piagets Auffassungen darüber, in welcher Folge die Entwicklung der kognitiven Fähigkeiten von Kindern abläuft, wiederholt bestätigt worden. Ziel 11: Definieren Sie Fremdeln. Fremdeln ist die Angst vor Fremden, die Kleinkinder mit etwa 8 Monaten zu zeigen beginnen. Kinder dieses Alters haben Schemata für vertraute Gesichter gebildet, und sie geraten durcheinander, wenn die Gesichter nicht zu ihren Schemata passen. Ziel 12: Erörtern Sie, welche Auswirkungen Nahrungsaufnahme, Körperkontakt und Vertrautheit auf die soziale Bindung eines Säuglings haben. Bis zu den Forschungsarbeiten der Harlows Mitte der 1950-er Jahre glaubten viele Psychologen, dass Kinder über einen Konditionierungsprozess Bindungen (Ausbildung einer emotionalen Verbundenheit) an Personen entwickeln, die sie ernähren. Die Experimente der Harlows zeigten, dass sich kleine Affen lieber eine Mutter suchen würden, die sie nicht ernährt, wenn sie denn Trost bot, als eine Mutter, die Nahrung bereitstellte, aber ihnen keinen Trost bot. Enten und andere Tiere zeigen das Phänomen der Prägung: Sie bilden eine Bindung gegenüber einem bedeutsamen Lebewesen oder Objekt aus, wenn dies ihnen in einem kritischen Zeitraum begegnet (einer Zeit kurz nach der Geburt, in der die richtige Entwicklung von der Konfrontation mit bestimmten Reizen und Erfahrungen abhängt). Menschen zeigen keine Prägung, aber sie entwickeln Bindungen an vertraute Menschen und Dinge, die ihnen ein Gefühl der Sicherheit geben. Ziel 13: Stellen Sie die sichere und die unsichere Bindung einander gegenüber, und erläutern Sie die Rolle der Eltern und der Säuglinge bei der Entwicklung der Bindung sowie die Gefühle des Urvertrauens beim Säugling. In der Versuchsbedingung, die man als »fremde Situation« bezeichnet, beobachten Forscher eine Mutter und ihr Kind in einem Laborspielzimmer; sie notieren, wie das Kind reagiert, wenn die Mutter das Zimmer verlässt und wiederkommt. In Anwesenheit der Mutter spielen und erkunden sicher gebundene Kinder sorglos, sind beunruhigt, wenn sie herausgeht, und suchen den Kontakt, wenn sie zurückkehrt. In Anwe-

senheit der Mutter erkunden unsicher gebundene Kinder weniger und klammern sich möglicherweise an sie, schreien laut, wenn sie das Zimmer verlässt, und sind weiterhin verstimmt oder reagieren gleichgültig, wenn sie zurückkommt. Andere Studien zeigen, dass sensible, einfühlsame Eltern gewöhnlich sicher gebundene Kinder haben. Das genetisch beeinflusste Temperament kann eine Einfühlsamkeit bei den Eltern auslösen, aber die Sensibilität der Eltern lässt sich lernen und erhöht durchaus in gewissem Maße die Bindungssicherheit des Kleinkinds. Sowohl aus der Liebe des Vaters als auch aus der der Mutter lässt sich die Gesundheit und das Wohlbefinden des Kindes vorhersagen. Die Beziehungen zwischen Erwachsenen sind gewöhnlich Ausdruck des sicheren oder unsicheren Bindungsstils in der frühen Kindheit; dies stützt Erik Eriksons Vorstellung, dass das Urvertrauen durch unsere Erfahrungen mit einfühlsamen Betreuungspersonen gebildet wird. Ziel 14: Beurteilen Sie, welche Auswirkungen es auf die Bindungsmuster und auf die Entwicklung hat, wenn Kinder von den Eltern vernachlässigt werden, wenn eine Familie auseinanderbricht und wenn Kinder in Kindertagesstätten betreut werden. Wenn Vernachlässigung durch die Eltern oder ein anderes Trauma Kindern die Möglichkeit nehmen, eine Bindung aufzubauen, ziehen sich Kinder allmählich in sich zurück, werden ängstlich und entwickeln sich sprachlich nicht. Wenn die Kindesmisshandlung länger andauert, setzt dies die Kinder einem erhöhten Risiko für eine Vielfalt körperlicher, psychischer und sozialer Probleme aus und kann den Serotoninspiegel im Gehirn verändern. Schädigungen durch Unterbrechung wichtiger, durch Bindung geprägter Beziehungen, wie dies etwa geschieht, wenn Kinder zu Pflegeeltern kommen, scheinen vor einem Alter von 16 Monaten nur geringfügig zu sein. Kinder jedoch, die wiederholt an unterschiedliche Stellen gegeben werden oder auf andere Weise davon abgehalten werden, bis zum Alter von 2 Jahren Bindungen aufzubauen, können einem Risiko für Bindungsprobleme ausgesetzt sein. Eine qualitativ gute Tagesbetreuung mit einfühlsamen Erwachsenen, die mit dem Kind in einer sicheren und stimulierenden Umwelt interagieren, scheint sich nicht schädlich auf die kognitiven und sprachlichen Fähigkeiten von Kindern auszuwirken. Einige Studien haben jedoch Folgendes erbracht: Je länger ein Kind in Tagesbetreuung ist, desto aggressiver und trotziger ist es. Ziel 15: Geben Sie an, wann es zum Selbstkonzept eines Kindes kommt und wie es sich entwickelt. Das Selbstkonzept, ein Sinn für die eigene Identität und den eigenen Wert, entwickelt sich allmählich ab dem Alter von etwa 6 Monaten. Mit 15 bis 18 Monaten erkennen sich Kinder selbst im Spiegel. Ab dem Schulalter können sie viele ihrer eigenen Merkmale beschreiben, und ab dem Alter von 8 bis 10 Jahren ist das Selbstbild stabil. Ziel 16: Beschreiben Sie drei elterliche Erziehungsstile, und liefern Sie drei mögliche Erklärungen für den Zusammenhang zwischen autoritativem Erziehungsstil und sozialer Kompetenz. Autoritäre Eltern zwingen ihren Kindern Regeln auf und erwarten Gehorsam. Permissive Eltern unterwerfen sich den Forderungen der 6

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Kapitel 4 · Entwicklung

Kinder, bitten sie nur um wenige Dinge und strafen nur selten. Autoritative Eltern sind gegenüber ihren Kindern fordernd, aber einfühlsam. Ein autoritativer elterlicher Erziehungsstil korreliert mit sozialer Kompetenz, aber die Ursache-Wirkungs-Beziehung ist nicht eindeutig. Dieser elterliche Erziehungsstil kann zu sozial kompetenten Kindern führen, oder angenehme, unbeschwerte Kinder können Auslöser für einen autoritativen Erziehungsstil sein. Oder ein dritter Faktor (wie gemeinsame Gene) kann zu einem Tem-

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4.3

perament führen, das gut zu einem autoritativen Erziehungsstil passt und das sich in angenehmen unbeschwerten Interaktionen äußert. > Denken Sie weiter: Können Sie sich daran erinnern, dass Sie den Text eines Liedes falsch verstanden haben, indem Sie ihn an Ihr eigenes Schema assimilierten? (Hunderte von Beispielen dafür finden Sie unter www.kissthisguy.com)

Adoleszenz

Ziel 17: Definieren Sie Adoleszenz.

Adoleszenz oder Jugendalter (adolescence): Übergangsperiode zwischen Kindheit und Erwachsenenalter. Sie beginnt mit der Pubertät und endet mit dem Erreichen der Selbstständigkeit im Erwachsenenalter.

Früher glaubten viele Psychologen, dass sich unsere Persönlichkeitsmerkmale (traits) in der Kindheit bilden und dann nicht mehr verändern. Heute sehen Psychologen die Entwicklung als lebenslangen Prozess. Bei Klassentreffen wenige Jahre nach dem Schulabschluss sind ehemalige enge Freunde vielleicht erstaunt darüber, welch unterschiedliche Wege sie eingeschlagen haben; 10 Jahre später haben sie möglicherweise sogar Probleme, ein Gespräch miteinander zu führen. Als die Vorstellung von Entwicklung als lebenslanger Prozess aufkam, interessierten sich Psychologen dafür, auf welche Weise Individuen durch den Reifeprozess und die Erfahrungen geformt werden, und zwar nicht nur während Kleinkindzeit und Kindheit, sondern auch in der Adoleszenz und in der Zeit danach. Das Jugendalter ist die Spanne zwischen Kindheit und Erwachsenenalter. Sie beginnt mit den ersten körperlichen Anzeichen der Geschlechtsreife und endet mit dem Erreichen des Status eines unabhängigen und selbstständigen Erwachsenen. Und wie sehen diese Jahre aus, in denen wir als Teenager leben? Tolstoi lässt seine »Anna Karenina« sagen, diese Jahre seien »die glückliche Zeit, in der die Kindheit allmählich endet und sich aus dem großen, fröhlichen und unbeschwerten Kreis allmählich ein Pfad herausschält«. Doch Anne Frank notierte in ihrem Tagebuch, das sie schrieb, als sie sich vor den Nazis verbergen musste, die Gefühlsstürme der Teenager: Ich werde unterschiedlich behandelt. Den einen Tag ist Anne so vernünftig und darf alles wissen, am nächsten höre ich wieder, dass Anne noch ein kleines dummes Schaf ist, das nichts weiß und nur glaubt, Wunder was aus Büchern gelernt zu haben! … Ach, mir kommt so viel hoch, wenn ich abends allein bin, wenn ich die Leute aushalten muss, die mir zum Hals heraushängen oder meine Absichten immer verkehrt auffassen.« Das Tagebuch der Anne Frank (1949)

Wie werden Sie in 10 Jahren auf Ihr derzeitiges Leben zurückschauen? Treffen Sie Entscheidungen, an die Sie sich eines Tages mit Zufriedenheit erinnern werden?

G. Stanley Hall, einer der ersten Psychologen, die das Jugendalter beschrieben haben, nannte den Spannungszustand zwischen der biologischen Reife und der sozialen Abhängigkeit die »Sturmund-Drang-Phase«. Viele Menschen über 30, die in der westlichen Gesellschaft mit ihrer starken Betonung von Selbstständigkeit und Unabhängigkeit aufgewachsen sind, wollen diese Zeit nicht noch einmal durchleben müssen, als so viel vom Urteil ihrer Altersgenossen abhing, die Richtung, die man im Leben einschlagen wollte, sich nur undeutlich abzeichnete und das Gefühl der Entfremdung von den Eltern am stärksten war (Arnett 1999; Macfarlane 1964). Zu diesen Menschen zählt sich der Humorist Dave Barry (1996): Wenn sich mein Dad herausputzte, seine Fellmütze aufsetzte und sich in seinen Nash Metropolitan quetschte – ein komisches winziges Gefährt, das viel Ähnlichkeit hatte mit den Spielautos vor Supermärkten, die auf und ab hüpfen, sobald man einen Vierteldollar einwirft, nur dass der Metropolitan noch idiotischer aussah und sein Motor noch schwächer war – fühlte ich mich zutiefst gedemütigt. Ebenso gut hätte ich von einer fliegenden Untertasse geschnappt werden können, gesteuert von einem bizarren außerirdischen Geschöpf mit Fangarmen, jagdgierigen Augen und sabberndem

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Mund, das irgendwie in den Besitz einer Russenmütze gelangt war. Ich starb bei dem Gedanken daran, was wohl meine Kameraden von meinem Dad denken würden, und es kam mir nie in den Sinn, dass meine Kameraden meinen Vater nicht einmal bemerkten, weil sie zu sehr damit beschäftigt waren, ihrerseits vor Scham über ihre Eltern im Boden zu versinken. Natürlich ging irgendwann die Zeit zu Ende, in der mein Vater mich in die grässlichste Verlegenheit stürzte. Und ich hatte nichts Eiligeres zu tun, als die Stafette des Trotteligen zu übernehmen und meinerseits meinen Sohn in peinliche Situationen zu bringen.

Verlegenheit ist nur eine der vielen Stimmungen in der Jugend. Doch trotz der Stimmungsschwankungen kann das Jugendalter auch Folgendes sein: Eine Zeit der Vitalität und Lebensfreude ohne die Sorgen des Erwachsenenlebens, eine Zeit tiefer Freundschaften, eine Zeit, in der der Idealismus Höhenflüge unternimmt, und auch die Zeit, in der man sehr stark fühlt, welche aufregenden Möglichkeiten das Leben zu bieten hat (Coleman 1980).

4.3.1 Körperliche Entwicklung Ziel 18: Nennen Sie die wichtigsten körperlichen Veränderungen während der Adoleszenz.

Die Adoleszenz beginnt mit der Pubertät, der Zeit der beginnenden Geschlechtsreife. Der Pubertät voraus geht ein Hormonschub, der die Stimmungsschwankungen verstärkt und eine 2-jährige Phase intensiven körperlichen Wachstums auslöst. Bei Mädchen beginnt diese Phase normalerweise im 11., bei Jungen im 13. Lebensjahr. Während der Pubertät wachsen Jungen mehr als Mädchen, so dass sie letztlich im Durchschnitt körperlich größer werden (. Abb. 4.20). In dieser Wachstumsphase entwickeln sich die primären Geschlechtsmerkmale – die Fortpflanzungsorgane und die äußeren Genitalien – mit atemberaubender Geschwindigkeit, desgleichen die sekundären Geschlechtsmerkmale, d. h. die nicht unmittelbar für die Fortpflanzung erforderlichen Geschlechtsmerkmale: Brüste bei den Mädchen, Barthaare und tiefere Stimme bei den Jungen, Scham- und Achselhöhlenbehaarung bei beiden (. Abb. 4.21). Doch die ersten Anzeichen von Hinwendung zum anderen (oder zum eigenen) Geschlecht treten bereits 1–2 Jahre vor Einsetzen der Pubertät auf (McClintock u. Herdt 1996). Bei Mädchen ist das erste Signal der beginnenden Pubertät das Wachstum der Brüste, das heute häufig schon mit 10 Jahren einsetzt (Brody 1999). Aber die eigentlichen Marksteine der Pubertät sind die erste Ejakulation bei Jungen (mit etwa 14 Jahren) und die erste Regelblutung, Menarche genannt, bei Mädchen (mit etwa 12 Jahren). Fast alle Frauen erinnern sich an dieses Ereignis und an ihre Gefühle: eine Mischung aus Stolz, Aufregung, Scham und furchtsamen Vorahnungen (Greif u. Ulman 1982; Woods et al. 1983). Werden die Mädchen auf das Einsetzen der Menarche vorbereitet, dann erleben sie sie i. Allg. als positiv. Auch die meisten Männer erinnern sich an ihre erste Ejakulation (»Spermarche«), von der sie meistens eines Nachts überrascht werden (Fuller u. Downs 1990). Wie in den früheren Entwicklungsphasen ist die Reihenfolge der körperlichen Veränderungen in der Pubertät (z. B. Brüste und sichtbare Schambehaarung vor der Menarche) immer die gleiche, der Zeitpunkt jedoch ist individuell verschieden. Bei manchen Mädchen setzt der Wachstumsschub mit 9 Jahren ein, bei manchen Jungen vielleicht erst mit 16. Auf die Körpergröße des Erwachsenen haben solche Abweichungen nur wenig Einfluss, doch haben sie manchmal psychische Konsequenzen. Eine frühe Entwicklung zahlt sich für einen Jungen aus. Solche Jungen sind schon in den ersten Teenagerjahren stärker und athletischer, dadurch sind sie auch beliebter, selbstsicherer und unabhängiger. Allerdings laufen sie auch eher Gefahr, zu früh zu viel zu trinken und sexuell aktiv zu werden (Steinberg u. Morris 2001). Für Mädchen kann Frühreife jedoch zum Stressfaktor werden. Wenn sich der Körper eines jungen Mädchens nicht im Gleichklang mit seiner emotionalen Reife entwickelt, wenn ihre eigene Entwicklung und ihre Erfahrungen nicht synchron

. Abb. 4.20. Größenunterschiede Über die gesamte Kindheit hinweg sind Jungen und Mädchen in etwa gleich groß. In der Pubertät überragen die Mädchen kurzzeitig die Jungen, doch dann holen die Jungen sie etwa im Alter von 14 Jahren wieder ein (nach Tanner 1978). Kürzlich durchgeführte Untersuchungen deuten darauf hin, dass die sexuelle Entwicklung und der Wachstumsschub etwas früher einsetzen, als dies noch vor einem halben Jahrhundert der Fall war (HermanGiddens et al. 2001)

Pubertät (puberty): Zeit, in der der menschliche Körper die Geschlechtsreife und damit die biologische Fortpflanzungsfähigkeit erlangt. Primäre Geschlechtsmerkmale (primary sex characteristics): zur Fortpflanzung nötige Organe und Strukturen (Eierstöcke, Hoden und äußere Genitalien). Sekundäre Geschlechtsmerkmale (secondary sex characteristics): nicht zur Fortpflanzung erforderliche Merkmale wie weibliche Brüste und Hüften sowie männliche Stimme und Körperbehaarung.

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Kapitel 4 · Entwicklung

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. Abb. 4.21. Körperliche Veränderungen in der Pubertät Mit etwa 11 Jahren bei Mädchen und 13 Jahren bei Jungen kommt es zu einem Hormonschub, der eine Reihe von körperlichen Veränderungen auslöst

zu denen seiner Freundinnen verlaufen, dann identifiziert es sich möglicherweise mit älteren Mädchen, wird gehänselt oder leidet unter sexuellen Belästigungen. Die Art, wie die Menschen in unserer Umgebung auf unsere genetisch bedingte körperliche Entwicklung reagieren, ist ausschlaggebend dafür, auf welche Weise wir zur Reife kommen. ! Auch für die Entwicklung in der Adoleszenz gilt: Anlage und Umwelt sind interagierende Faktoren.

»Gelangt ein Gewehr unter die Kontrolle des präfrontalen Kortex eines verletzten, rachsüchtigen 15-Jährigen und ist es auf ein menschliches Ziel gerichtet, dann wird es sehr wahrscheinlich auch knallen.« Der Neurologe Daniel R. Weinberger (»A Brain Too Young for Good Judgment«, 2001)

Auch das Gehirn gleicht während des Jugendalters einer Baustelle. Wie ein Baum immer mehr Wurzeln und Zweige treibt, so lassen die Hirnzellen bis zur Pubertät immer weitere Verbindungen sprießen. In der Zeit der Adoleszenz werden dann die nicht genutzten Neuronen und Verbindungen gestutzt (Durston et al. 2001). Was wir nicht benutzen, geht verloren. Dieser Prozess erinnert ein bisschen an Verkehrsplaner, die Engpässe dadurch beseitigen, dass sie bestimmte Straßen sperren und stattdessen neue Umgehungsstraßen bauen, durch die der Verkehr leichter fließt. Zur Entwicklung des Frontallappens während der Adoleszenz gehört auch das Wachstum des Myelins, des Fettgewebes um die Axone, das die Übertragung der neuronalen Impulse beschleunigt. Die Reifung des Frontallappens hinkt der des limbischen Systems, das mit Emotionen assoziiert ist, hinterher. Die Hormonaufwallungen und die Entwicklung des limbischen Systems können als Erklärung für die gelegentliche Impulsivität von Teenagern dienen, für ihr risikoreiches Verhalten und für ihre Gefühlsstürme – Türenknallen und das laute Aufdrehen von Stereoanlagen. Der Reifungsprozess des Frontallappens während der Teenagerzeit und mit Anfang der Zwanziger führt zu besserer Urteilsfähigkeit, Impulskontrolle und zur Fähigkeit, auf lange Sicht zu planen. Wenn sich Studierende für eine unmittelbare Belohnung entscheiden, zeigt sich in Kernspintomographien, dass ihr limbisches Belohnungssystem aktiviert ist; wenn sie dagegen eine größere, aber spätere Belohnung wählen, ist ein Teil ihres Frontallappens, der eher abwägend ist, stark aktiviert (McClure et al. 2004). Es ist also kein Wunder, dass jüngere Teenager (deren noch nicht ganz entwickelter Frontallappen nicht vollständig darauf vorbereitet ist, langfristige Pläne zu machen und Impulse zu kontrollieren) so oft der Versuchung des Rauchens erliegen, von dem ihnen die meisten erwachsenen Raucher sagen werden, dass sie es später bedauern werden. Wenn der Jugendliche also rücksichtslos Auto fährt und sich in der Schule selbstzerstörerisch verhält, sollten die Eltern dann zu sich selbst sagen: »Er kann nichts dafür, sein Frontalkortex ist noch nicht vollständig entwickelt.« Es besteht zumindest Hoffnung. Das Gehirn zu Beginn des Teenageralters ist anders als das Gehirn am Ende dieser Zeitspanne; es wird bis etwa zum Alter von 25 Jahren weiter reifen (Beckman 2004). Im Jahr 2004 brachte die American Psychological Association (gemeinsam mit sieben weiteren Berufsverbänden aus dem Bereich der Medizin und der Versorgung psychisch Kranker) die Todesstrafe für 16- und 17-Jährige vor den Obersten Gerichtshof der Vereinigten Staaten. Im Schriftsatz wurde die Unreife des Gehirns bei Teenagern »in

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Bereichen, die erwachsene Entscheidungen voraussetzen«, dokumentiert. Teenagern kommt »wegen der Adoleszenz eine geringere Schuld« zu, trugen der Psychologe Laurence Steinberg und der Juraprofessorin Elizabeth Scott (2003) vor. Im Jahr 2005 wurde in den USA die Todesstrafe für Jugendliche, so entschied das Gericht mit einer Mehrheit von 5 zu 4 Stimmen, als verfassungswidrig erklärt.

Die sich entwickelnde Fähigkeit der Jugendlichen zu logischem Denken und Diskutieren bringt sie auf ein neues Niveau sozialer Bewusstheit und moralischer Urteilsfähigkeit. In dem Maße, wie bei jungen Teenagern die Fähigkeit zunimmt, über ihr eigenes Denken nachzudenken und sich Gedanken darüber zu machen, wie andere Menschen denken, fangen sie auch an, sich vorzustellen, was andere über sie denken. (Die Jugendlichen würden sich weniger Sorgen darum machen, was andere über sie denken, wenn ihnen klar wäre, dass ihre Kameraden genauso stark mit sich selbst beschäftigt sind wie sie selber.) Mit zunehmender Reife der kognitiven Fähigkeiten denken Jugendliche darüber nach, wie eine ideale Welt aussehen könnte; sie üben Kritik an der Gesellschaft, in der sie leben, sie kritisieren ihre Eltern und machen mit ihrer Kritik auch nicht vor ihren eigenen Unzulänglichkeiten halt.

»Als der Pilot uns sagte, wir sollten unsere Fußknöchel fest umklammern, war das Erste, was mir durch den Kopf ging, dass wir nun alle ziemlich blöd aussehen müssen.« Jeremiah Rawlings, 12 Jahre, nach dem Absturz einer DC-10 in Sioux City (Iowa) im Jahr 1989

Daniel Berehulak/Getty Images

4.3.2 Kognitive Entwicklung

Die Fähigkeit zum Schlussfolgern Ziel 19: Beschreiben Sie die Veränderungen in Bezug auf die Fähigkeiten zum Schlussfolgern, die Piaget als formale Operationen bezeichnete.

In den frühen Teenagerjahren kreist das Denken oft um die eigene Person. Jugendliche neigen dazu, zu glauben, ihre Erfahrungen seien einzigartig. Sie glauben, ihre Eltern könnten einfach nicht verstehen, was für ein Gefühl es ist, mit jemandem auszugehen oder die Schule zu hassen. »Aber Mami, du weißt doch nun wirklich nicht, wie es ist, verliebt zu sein« (Elkind 1978). Doch nach und nach erreichen die meisten die höchste Stufe der kognitiven Entwicklung, die Piaget als das Stadium der formalen Operationen bezeichnete.

Sie demonstrieren ihre Fähigkeit zum schlussfolgernden Denken Diese Teenager demonstrieren ihre neu entwickelte Fähigkeit, logisch über abstrakte Themen nachzudenken. Nach Piaget sind sie im letzten Stadium der kognitiven Entwicklung, dem der formalen Operationen

! Vor Beginn der Adoleszenz denken Jugendliche konkret, doch in der Adoleszenz entwickeln sie immer bessere Fähigkeiten im Bereich der abstrakten Logik: Wenn a gegeben ist, dann folgt daraus b.

Diese neu gewonnene abstrakte Denkfähigkeit erleben wir in Gesprächen und Diskussionen über die menschliche Natur, gut und böse, Wahrheit und Gerechtigkeit. Hatten die Jugendlichen vielleicht in den ersten Stadien des abstrakten Denkens ein Bild von Gott als einem alten Mann, der auf den Wolken sitzt, so suchen sie nun nach einem weniger oberflächlichen Bild von Gott und dem Leben (Elkind 1970; Worthington 1989). Mit ihrer neu gewonnenen Fähigkeit, hypothetisch zu denken und Konsequenzen abzuleiten, entdecken sie die logischen Fehler in den Ausführungen anderer und legen den Finger auf alles, was ihnen geheuchelt scheint. Das führt manchmal zu hitzigen Diskussionen mit den Eltern und bei den Jugendlichen zu dem geheimen Schwur, nie, nie die eigenen Ideale aus dem Blick zu verlieren (Peterson et al. 1986).

Moralisches Denken und Urteilen Ziel 20: Erörtern Sie die moralische Entwicklung aus der Perspektive des moralischen Denkens, Fühlens und Handelns.

Zwei entscheidende Aufgaben müssen in der Kindheit und in der Jugend bewältigt werden: die Unterscheidung von richtig und falsch und die Ausbildung eines Charakters, wobei Charakter so etwas ist wie die psychischen Muskeln, die zur Impulskontrolle benötigt werden. (Hier handelt es sich im engeren Sinne nicht um den Bereich der kognitiven Entwicklung, sondern um den Bereich der sozial-kognitiven Entwicklung.) ! Eine moralische Haltung haben bedeutet, moralisch zu denken und entsprechend zu handeln.

»Wie köstlich ist es, wenn Reden und Tun in Harmonie vereint sind.« Michel Eyquem de Montaigne (1533–1592)

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Kapitel 4 · Entwicklung

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Moralisches Denken

Moralisches Denken und die Schlussfolgerungen daraus Opfer des Hurrikans Katrina und der Flut in New Orleans waren mit einem moralischen Dilemma konfrontiert: Sollten sie sich das, was sie zum Leben brauchten, durch Diebstahl besorgen? Ihre Denkweise und die Schlussfolgerungen daraus brachten entsprechend unterschiedliche Niveaus moralischen Denkens zum Ausdruck, selbst wenn sich die Betreffenden ähnlich verhielten

»Ebenso misstraue ich jeder Theorie, wonach die höchste moralische Stufe dann erreicht ist, wenn man wie ein College-Professor reden kann.« James Q. Wilson (1994), »Das moralische Empfinden«, Hamburg: Kabel, S. 284

Piaget (1932) glaubte, dass das moralische Urteil bei Kindern auf ihrer kognitiven Entwicklung beruht. Kohlberg (1981, 1984) nahm Piagets Gedanken auf und versuchte, die Entwicklung des moralischen Denkens zu beschreiben, d. h. wie wir und was wir denken, wenn wir uns die Frage nach richtig und falsch stellen. Kohlberg stellte Kinder, Jugendliche und Erwachsene vor ein moralisches Dilemma (z. B. ob eine Person ein Medikament stehlen sollte, um das Leben eines geliebten Menschen zu retten) und fragte, ob diese Handlung richtig oder falsch war. Er analysierte dann ihre Antworten, um verschiedene Entwicklungsstufen des moralischen Denkens nachzuweisen: Seine Befunde führten ihn zu der Auffassung, dass wir, wenn wir uns geistig entwickeln, drei grundlegende Niveaus des moralischen Denkens durchlaufen. 4 Präkonventionelle Moral: Vor dem 8. Lebensjahr haben Kinder eine am eigenen Interesse orientierte Moral: Sie gehorchen entweder, um Strafe zu vermeiden oder um eine konkrete Belohnung zu bekommen. 4 Konventionelle Moral: Im frühen Jugendalter erreicht die Moral eine eher konventionelle Stufe: Man fürchtet das Urteil der anderen und hält sich an Gesetze und soziale Regeln aus dem einfachen Grund, weil es sich um Gesetze und Regeln handelt. 4 Postkonventionelle Moral: Manche Jugendliche, die die abstrakte Denkfähigkeit der formalen Operationen erreichen, steigen zur 3. Stufe des moralischen Denkens auf. Die postkonventionelle Moral unterstützt die garantierten Rechte der Menschen oder orientiert sich an dem, was man persönlich als ethische Prinzipien erkennt. Kohlberg sah diese Stufen als eine Art moralischer Stufenleiter: Das kleine Kind mit seiner unreifen, präkonventionellen Moral steht auf der untersten Sprosse, während oben auf der obersten Sprosse der Erwachsene mit seinen selbst definierten ethischen Prinzipien steht; diese Sprosse wird jedoch nicht von allen Menschen erreicht. Wie bei allen Theorien, die mit Stufen arbeiten, gibt es auch hier keine Abweichung von der Reihenfolge: Wir fangen auf der untersten Sprosse an und steigen empor in die Höhe; bis zu welcher Höhe ein Mensch emporsteigt, hängt allerdings von seiner Persönlichkeit ab. Untersuchungen bestätigen, dass Kinder in unterschiedlichen Kulturen von der Stufe, die Kohlberg als präkonventionell bezeichnete, zu den Stufen der konventionellen Moral aufsteigen (Edwards 1981, 1982; Snarey 1986, 1987). Und in dem Maße, wie unser Denken reifer wird, wird auch unser Verhalten weniger egoistisch und bezieht sich stärker auf andere Menschen (Krebs u. Van Hestern 1994; Miller et al. 1996). Die postkonventionelle Stufe ist indessen umstritten. Am meisten vertreten ist diese Stufe bei Angehörigen der gebildeten Mittelklasse in Nordamerika und Europa, für die Individualismus ein hoher Wert ist und die den eigenen Zielen größere Priorität einräumen als den Zielen ihrer Gruppe (Eckensberger 1994; Miller u. Bersoff 1995). Kritiker behaupten deshalb, dass die Theorie einen Verzerrungseffekt enthält und das moralische Denken von Menschen nicht berücksichtigt, die in Dorfgemeinschaften leben, wie etwa in Indien oder in China. Der Verzerrungseffekt betrifft auch die Frauen in westlichen Ländern, deren Moral sich möglicherweise weniger an abstrakten, unpersönlichen Prinzipien und mehr an fürsorglichen Beziehungen orientiert.

Moralisches Empfinden Der Verstand fällt moralische Urteile, wie er ästhetische Urteile fällt: schnell und automatisch. Wir sind angeekelt, wenn wir erleben, wie Menschen herabwürdigende oder unmenschliche Handlungen begehen, und wir fühlen uns »erhaben« – uns wird warm ums Herz –, wenn ein Mensch sich besonders großzügig, mitfühlend oder mutig verhält. Eine Frau erinnert sich an eine Fahrt durch ihre verschneite Nachbarschaft in Gesellschaft von drei jungen Männern. Sie fuhren an »einer älteren Frau vorbei, die mit einer Schaufel in ihrer Einfahrt stand. Ich dachte mir nichts dabei, doch einer von den Jungen auf der Rückbank bat den Fahrer, ihn aussteigen zu lassen. Als ich sah, wie er ausstieg und auf die Frau zuging und mir klar wurde, dass er ihr anbot, den Schnee aus ihrer Einfahrt wegzukehren, blieb mir vor Staunen der

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183 4.3 · Adoleszenz

Mund offen stehen.« Diese unerwartete Freundlichkeit zu erleben, löste ein Gefühl der Erhabenheit aus. »Mir war, als müsste ich sofort aus dem Auto springen und den Mann umarmen. Mir war, als müsste ich singen und rennen oder lachen und hüpfen. Ich hatte Lust, Nettes über die Menschen zu sagen« (Haidt 2000). Nach dem Sozialpsychologen Haidt (2001, 2002), dessen »Social Intuitionist« (dtsch.: »Der Mensch mit sozialer Intuition«) als grundlegendes Werk zum moralischen Fühlen gelten kann, gehen dem moralischen Denken moralische Gefühle voraus. »Kann die Moral des Menschen tatsächlich von den moralischen Gefühlen geleitet werden?«, lautet seine Frage. »Das moralische Denken behauptet doch immer großspurig, es sei die Steuerzentrale.« Eigentlich, vermutet er, »gehört zum moralischen Urteil ein kurzes instinktives Gefühl oder eine affektgeladene Intuition, die dann ihrerseits das moralische Denken auslösen.« Moralisches Denken und Argumentieren – sozusagen die Öffentlichkeitsabteilung unseres Geistes – hat den Zweck, andere von dem zu überzeugen, was man intuitiv spürt. Unterstützt wird die These von der sozialen Intuition durch eine Studie, in der ein moralisches Paradox untersucht wurde. Stellen Sie sich folgende Szene vor: Ein Straßenbahnwagen hat sich losgerissen und rast auf eine Gruppe von fünf Menschen zu. Die werden alle überfahren werden und tot sein, wenn Sie nicht einen Schalter umlegen und den Wagen auf ein anderes Gleis lenken, wo er nur einen Menschen überfahren wird. Sollten Sie diesen Schalter umlegen? Die meisten sagen Ja. Einen Menschen opfern, um fünf zu retten. Aber nun stellen Sie sich dasselbe Dilemma vor, allerdings mit veränderten Bedingungen: Sie können die fünf Menschen nur retten, wenn Sie einen hochgewachsenen Fremden auf das Gleis stoßen. Sein Körper wird den Straßenbahnwagen stoppen, und er wird dabei ums Leben kommen. Einen Menschen töten und fünf retten? Beide Entscheidungen unterliegen derselben Logik, doch die meisten Menschen verneinen die zweite Frage. Auf der Suche nach den Gründen dafür setzten Greene et al. (2001) bildgebende Verfahren ein, um neuronale Reaktionen aufzuspüren, die im Gehirn der Menschen ablaufen, wenn sie über ein solches Dilemma nachdenken. Nur in dem moralischen Dilemma, in dem es darum ging, einen Menschen zu schubsen, leuchteten die Emotionsareale im Gehirn auf. Die Logik ist zwar die gleiche, doch das persönliche Eingreifen schuf ein Dilemma, an dem Emotionen beteiligt waren, und diese Emotionen veränderten das moralische Urteil. ! Moralisches Urteilen ist mehr als Denken, es gehört auch ein eher instinktives, intuitives Gefühl dazu.

Unser moralisches Denken und Fühlen hat zweifellos Einfluss auf unsere moralischen Aussagen. Aber sprechen kostet nicht viel, und Emotionen kommen und gehen. Zur Moral gehört, das Richtige zu tun, und was wir tun, hängt gleichfalls von sozialen Einflüssen ab. Die Politologin und Philosophin Hannah Ahrendt (1963) bemerkte, dass viele Wachposten in den Konzentrationslagern des NS-Regimes im Zweiten Weltkrieg ganz normale »moralische« Menschen waren, korrumpiert von der Banalität des Bösen, der sie ausgesetzt waren. Die heute in den USA bestehenden Programme zur Charakterbildung konzentrieren sich gewöhnlich sowohl auf Diskussionen über moralische Themen und auf die Schlussfolgerungen daraus als auch darauf, wie man moralisch richtig handeln kann. Die Trainingsprogramme bringen Kindern bei, auf die Gefühle anderer Menschen mit Empathie zu reagieren, sie lehren auch die Selbstdisziplin, die Kinder brauchen, um ihre eigenen Impulse zu bremsen. Sie können lernen, das Bedürfnis nach einer unmittelbaren, aber kleinen Belohnung zugunsten einer größeren aufzuschieben, die sie später bekommen. Kinder, die das gelernt haben, entwickeln mehr soziale Verantwortung, erbringen bessere Schulleistungen und sind insgesamt produktiver (Funder u. Block 1989; Mischel et al. 1988, 1989). Die Programme bringen Schüler oft dazu, verantwortungsvoll zu handeln, indem sie Hilfeleistungen lernen. Wenn Teenager Nachhilfestunden geben, in ihrer Nachbarschaft den Dreck wegräumen und älteren Menschen helfen, nimmt ihr Gefühl der eigenen Kompetenz und ihr Bedürfnis zu helfen zu; in der Schule fehlen sie seltener unentschuldigt, und die Wahrscheinlichkeit sinkt, dass sie vorzeitig die Schule verlassen (Andersen 1998; Piliavin 2003). Moralisches Handeln führt zu moralischen Einstellungen.

C. Styrsky

Moralisches Handeln

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Kapitel 4 · Entwicklung

4.3.3 Soziale Entwicklung Ziel 21: Beschreiben Sie Eriksons acht Stufen der psychosozialen Entwicklung, und erörtern Sie die damit verbundenen Probleme.

Der Theoretiker Erik Erikson (1963) vertrat die Auffassung, dass jede Lebensphase ihre eigene psychosoziale Aufgabe hat, eine Krise, die es zu lösen gilt. Kleine Kinder ringen mit Themen wie Vertrauen, später geht es dann um Autonomie (Selbstständigkeit) und Initiative (. Tabelle 4.2). Schulkinder kämpfen um Kompetenz, um sich als fähig und produktiv erleben zu können, während laut Erikson die Aufgabe der Jugendlichen darin besteht, frühere, aktuelle und zukünftige Möglichkeiten zu einem deutlicheren Selbstgefühl zusammenzuschweißen. Jugendliche fragen sich: »Wer bin ich? Was will ich mit meinem Leben anfangen? Welche Werte sollen mein Leben bestimmen? Woran glaube ich?« Diese Fragen der Jugendlichen nannte Erikson die Suche nach der eigenen Identität. Wie es bisweilen in der Psychologie vorkommt, waren Eriksons Interessen aus seiner eigenen Lebenserfahrung erwachsen. Mit einer jüdischen Mutter und einem dänischen Vater war er »in doppelter Hinsicht ein Außenseiter«, schreibt Hunt (1993, S. 391). Er wurde »in der Schule als Jude verspottet und in der Synagoge wegen seines blonden Haares und seiner blauen Augen als Goj belächelt.« Aus solchen Erlebnissen speiste sich sein Interesse an dem Kampf um die eigene Identität, den jeder Jugendliche in der Adoleszenz durchfechten muss.

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Identität Ziel 22: Erklären Sie, wie uns die Suche nach Identität in der Adoleszenz beeinflusst, und erörtern Sie, wie uns die Bildung einer Identität auf Intimität vorbereitet.

Jugendliche in westlichen Kulturen probieren in unterschiedlichen Situationen verschiedene »Selbste« aus und schärfen dadurch ihr Gefühl für ihre eigentliche Identität. Sie haben vielleicht ein Selbst für zu Hause, ein anderes Selbst für das Zusammentreffen mit Freunden und noch ein anderes für Schule und Arbeit. Treffen zwei Situationen – und zwei Selbste – aufeinander (etwa, wenn man Freunde mit nach Hause bringt), dann kann das zu erheblichem Unbehagen führen. Der Teenager fragt sich: »Welches Selbst sollte ich sein? Welches ist mein wirkliches Ich?« Diese . Tabelle 4.2. Stufen der psychosozialen Entwicklung nach Erikson

Identitätsstufe (ungefähres Alter)

Themen

Aufgabenbeschreibung

Säugling und Kleinkind (0–1 Jahr)

Vertrauen vs. Misstrauen

Wenn Bedürfnisse angemessen befriedigt werden, entwickelt das Kleinkind ein Urvertrauen

Kleinkind (1–2 Jahre)

Autonomie vs. Scham und Selbstzweifel

Das Kind lernt, seinen Willen durchzusetzen und Dinge selbstständig zu erledigen, oder es zweifelt an seinen Fähigkeiten

Vorschulkind (3–5 Jahre)

Initiative vs. Schuld

Das Vorschulkind lernt, Dinge aus eigener Initiative zu erledigen und Pläne durchzuführen, oder es entwickelt Schuldgefühle wegen seiner Unabhängigkeitsbestrebungen

Schulkind (ab 6. Lebensjahr bis zur Pubertät)

Kompetenz vs. Minderwertigkeit

Das Kind erfährt die Lust an der Erfüllung einer Aufgabe, oder es fühlt sich minderwertig

Adoleszenz (vom 13. bis etwa 20. Lebensjahr)

Identität vs. Rollendiffusion

Der Teenager verfeinert sein Selbstbild durch Erproben verschiedener Rollen, die dann integriert werden und die Identität bilden, oder er gerät in Verwirrung und weiß nicht, wer er ist

Frühes Erwachsenenalter (von etwa 20 bis etwa 40 Jahre)

Intimität vs. Isolation

Junge Erwachsene kämpfen darum, enge Beziehungen einzugehen und die Fähigkeit zu Liebe und Intimität zu erlangen, oder sie fühlen sich einsam und isoliert

Mittleres Erwachsenenalter (40–60 Jahre)

Generativität vs. Stagnation

Im mittleren Erwachsenenalter will der Mensch seinen Beitrag zur Welt leisten, meist durch Familiengründung und Arbeit, sonst entwickelt er ein Gefühl der Sinn- und Zwecklosigkeit

Spätes Erwachsenenalter (ab 60 Jahre)

Ich-Integrität vs. Verzweiflung

Denkt der ältere Mensch über sein Leben nach, geschieht dies mit dem Gefühl der Befriedigung oder dem des Gescheitertseins

185 4.3 · Adoleszenz

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Wer will ich heute sein? Jugendliche verändern ihr Aussehen und probieren auf diese Weise verschiedene »Selbste« aus. Zwar entwickeln wir eine konsistente und stabile Identität, doch das »Selbst«, das wir darstellen, kann je nach Situation ein anderes sein

Verwirrung über die eigene Rolle löst sich normalerweise, wenn eine Definition des Selbst gefunden wird, die die verschiedenen Selbste miteinander vereint. Daraus erwächst ein in sich konsistentes Gefühl dafür, wer man ist: die Identität. Doch kann der Prozess auch anders verlaufen. Erikson bemerkte, dass sich manche Jugendliche schon sehr früh auf eine Identität festlegen, indem sie einfach die Werte und Erfahrungen ihrer Eltern übernehmen. (In traditionellen, weniger individualistischen Kulturen bestimmt die Gesellschaft über die Identität der Jugendlichen und gestattet ihnen nicht, selbst herauszufinden, wer sie sind.) Manche Jugendliche übernehmen vielleicht eine negative Identität, eine, die sich nur durch die Opposition zu den Eltern und der Gesellschaft definiert, aber zu einer bestimmten Peergroup passt, etwa zu den Punks, zu den Skinheads, den Grufties, zu den Rappern oder HipHoppern. Manche Jugendliche scheinen überhaupt nicht zu sich selbst zu finden oder sich intensiv auf eine Sache einzulassen. Die Frage »Wer bin ich?« und die Suche nach der eigenen Identität enden nicht mit der Pubertät, sondern begleitet uns auch im Erwachsenenleben, und an Wendepunkten unseres Lebens wird sie immer wieder akut. Die meisten jungen Leute entwickeln am Ende einen Sinn der Zufriedenheit mit ihrem eigenen Leben. Wenn man amerikanische Jugendliche fragt, welche einer Reihe von Aussagen sie am besten beschreibt, sagen 80%: »Ich würde mich für das Leben entscheiden, wie ich es jetzt lebe.« Andere Jugendliche jedoch scheinen sich nie recht selbst zu finden. Ungefähr 20% stimmten der Aussage zu: »Ich wünschte, ich wäre jemand anders« und 28% der Aussage »Ich frage mich oft, warum ich existiere« (Lyons 2004). Wenn sie über ihr Leben nachdenken, sagen 75% der amerikanischen Studierenden, dass sie mit Freunden »über Religion oder Spiritualität diskutieren« und stimmen der Aussage zu, dass »wir alle spirituelle Wesen sind« und »nach einem Sinn bzw. Ziel im Leben suchen« (HERI 2005). Das wäre für die Psychologen in Stanford um Damon et al. (2003) keine Überraschung; denn sie behaupten, dass es eine Schlüsselaufgabe der Entwicklung während der Adoleszenz sei, ein Ziel zu erreichen – ein Bedürfnis, etwas persönlich Sinnvolles zu leisten, was eine große Bedeutung für die Welt außerhalb ihres eigenen Bereichs hat. Die letzten Teenagerjahre, wenn die Jugendlichen entweder ins Berufsleben eintreten oder auf die Universität wechseln, bieten neue Möglichkeiten, andere Rollen auszuprobieren. Am Ende ihres Studiums haben viele Studenten ein klareres Bild von ihrer Identität als zu Beginn (Waterman 1988). Typisch für dieses Alter ist ein starkes positives Selbstkonzept. In mehreren landesweiten Untersuchungen haben Wissenschaftler an junge Amerikaner Tests zum Selbstwertgefühl ausgeteilt mit Items wie »Ich kann alles so gut wie die meisten anderen Menschen«. Das Ergebnis: ! Von den frühen bis zu den mittleren Teenagerjahren nimmt das Selbstwertgefühl zunächst ab, und bei Mädchen nehmen Depressionen oft zu; das Selbstwertgefühl festigt sich dann bis zum Ende der Teenagerzeit und mit Anfang 20 wieder (Robins et al. 2002; Twenge u. Campbell 2001; Twenge u. Nolen-Hoeksema 2002).

Allmählich nimmt die Identität auch mehr persönliche Züge an. Hart (1988) bat Jugendliche verschiedener Altersstufen, sich eine Maschine vorzustellen, die klonen könne, und zwar 1. was du denkst und fühlst oder 2. dein Aussehen oder 3. deine Beziehungen zu Freunden und zur Familie. Dann fragte er, welcher Klon wohl »dir am ähnlichsten« wäre. Drei Viertel der 14- bis 15-Jährigen entschieden sich für 3. den Klon mit denselben sozialen Netz. Doch von den 17- bis 19-Jährigen wählten drei Viertel den Klon mit ihren eigenen Gedanken und Gefühlen.

Identität (identity): Gefühl für das eigene Selbst. Nach Erikson besteht die Aufgabe der Adoleszenz darin, das Selbstgefühl zu festigen; dabei werden verschiedene Rollen erprobt und ggf. integriert.

»Ich werde immer unabhängiger von meinen Eltern. So jung ich bin, habe ich mehr Lebensmut und ein sichereres Rechtsgefühl als Mutter. Ich weiß, was ich will, habe ein Ziel, eine eigene Meinung, habe einen Glauben und eine Liebe. Lasst mich ich selbst sein, dann bin ich zufrieden! Ich weiß, dass ich eine Frau bin, eine Frau mit innerer Stärke und viel Mut!« »Das Tagebuch der Anne Frank« (1949)

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Kapitel 4 · Entwicklung

Intimität (intimacy): Nach Eriksons Theorie die Fähigkeit, enge Liebesbeziehungen einzugehen. Intimität zulassen zu können, ist die primäre Entwicklungsaufgabe der späten Adoleszenz und der ersten Jahre als junger Erwachsener.

Erikson postulierte, dass auf die Stufe der Identitätsfindung in der Jugend die beginnende Fähigkeit zur Intimität folgt, d. h. der junge Erwachsene kann nun enge emotionale Beziehungen aufnehmen. Sobald man ein deutliches und passendes Gefühl dafür hat, wer man ist, sagt Erikson, ist man bereit für enge Beziehungen. Solche Beziehungen sind für die meisten von uns etwas, was uns große Freude bereitet. Als Csikszentmihalyi (ausgesprochen als Tschicksendmihaji) u. Hunter (2003) einen Piepser einsetzten, um die alltäglichen Erfahrungen amerikanischer Jugendlicher zu dokumentieren, fanden sie heraus, dass diese sich am unglücklichsten fühlten, wenn sie allein waren, und am glücklichsten, wenn sie zusammen mit Freunden waren. Wir Menschen sind »staatenbildende Lebewesen«, wie Aristoteles schon vor langer Zeit erkannte.

Loslösung von den Eltern

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Ziel 23: Stellen Sie den Einfluss der Eltern und der Gleichaltrigen während der Adoleszenz einander gegenüber.

. Abb. 4.22. Veränderungen in der Eltern-KindBeziehung Interviews im Rahmen einer breit angelegten Studie mit kanadischen Familien erbrachten, dass sich die normale enge und warme Beziehung zwischen Eltern und Vorschulkindern lockert, wenn die Kinder älter werden (Daten aus Statistics Canada 1998)

Auf der Suche nach der eigenen Identität beginnen Jugendliche in westlichen Kulturen, sich von den Eltern zu lösen (Paikoff u. Brooks-Gunn 1991). Aus dem Kindergartenkind, das gar nicht nah genug bei der Mutter sein kann, sie anfassen und sich an sie klammern will, wird der Teenager, der um keinen Preis gesehen werden möchte, wenn er mit der Mutter Hand in Hand geht. Der Übergang vollzieht sich allmählich (. Abb. 4.22). In der Adoleszenz kommt es häufiger zum Streit, meist über sehr banale Dinge: Hilfe im Haushalt, Schlafenszeit, Hausaufgaben (Tesser et al. 1989). Von der frühen bis zur späten Adoleszenz werden die Konflikte zwischen Eltern und Kindern zeitweise heftiger (in der frühen Adoleszenz), nehmen jedoch allmählich an Häufigkeit ab. Bei einigen wenigen Eltern mit heranwachsenden Kindern führen diese Differenzen zu Entfremdung und zu Stress (Steinberg u. Morris 2001). Doch die meisten erleben die Streitereien und das Gezänk nicht als destruktiv. 4 Eine Studie mit 6000 Jugendlichen aus 10 Ländern, darunter Australien, Bangladesh und die Türkei ergab, dass die meisten ihre Eltern liebten (Offer et al. 1988). »Wir kommen normalerweise miteinander aus, aber…« berichten Jugendliche oft (Galambos 1992; Steinberg 1987). 4 In einer Schweizer Studie an 7428 Jugendlichen zwischen 16 und 20 Jahren fühlten sich 90% zu Hause akzeptiert, 80% sogar von den Eltern verstanden (Narring et al. 2003). 4 In einer deutschen Längsschnittstudie an 2000 Jugendlichen berichteten nur 15–20% der Befragten gelegentliche ernste Meinungsverschiedenheiten mit den Eltern (Fend 1998). »Der Generationenkonflikt bewegt sich heute kaum mehr auf der Ebene der weltanschaulichen Meinungsbildung« (ebd., S. 114). Positive Beziehungen zu den Eltern sind hilfreich für positive Beziehungen zu Gleichaltrigen. Bei Mädchen im Alter von 14–17 Jahren, die die liebevollste Beziehung zu ihrer Mutter hatten, waren tendenziell auch die Freundschaften mit anderen Mädchen sehr eng (Gold u. Yanof 1985). Und Teenager, die sich ihren Eltern verbunden fühlen, sind tendenziell gesund und glücklich und sind gute Schüler (Resnick et al. 1997). Natürlich können wir diese Korrelation auch anders interpretieren: Teenager, die Regeln nicht respektieren, haben mit größerer Wahrscheinlichkeit eine gespannte Beziehung zu ihren Eltern. ! Es ist typisch für das Jugendalter, dass der elterliche Einfluss ab- und der Einfluss der Gleichaltrigen zunimmt.

In einer Studie wurden Eltern gefragt, ob sie »je ein ernstes Gespräch« mit ihrem Kind über illegale Drogen geführt hätten. 85% der Eltern bejahten die Frage. Doch scheinen diese ernst gemeinten Ratschläge bei den Teenagern nicht anzukommen, denn nur 45% konnten sich an ein solches Gespräch erinnern (Morin u. Brossard 1997). Stattdessen werden sie oft so, wie ihre Freunde sind, und tun, »was alle tun«.

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Wie schon in 7 Kap. 3 ausgeführt, lässt sich vieles, wenn es um Ausbildung individueller Unterschiede in Bezug auf den Charakter und die Persönlichkeit geht, durch die Erbanlagen erklären. Für die Feinabstimmung sind jedoch die Eltern und die Peergroup ausschlaggebend. Teenager sind Herdentiere. Sie sprechen, handeln und kleiden sich eher wie ihre Altersgenossen und nicht wie ihre Eltern. Bei den Anrufen bei Stellen, die jungen Menschen telefonische Beratung und Hilfe bei Problemen anbieten, sind die Beziehungen zu Gleichaltrigen das am häufigsten angesprochene Thema (Boehm et al. 1999). Aus der Peergroup ausgeschlossen zu werden, ist überaus schmerzlich. Der Sozialpsychologe Elliot Aronson machte die Beobachtung, dass »die soziale Atmosphäre an den meisten High Schools von Cliquenwesen vergiftet und von Abgrenzung geprägt« ist. Die meisten Schüler, die ausgegrenzt werden, »leiden stillschweigend … manche gehen gewalttätig auf ihre Klassenkameraden los« (Aronson 2001). Auch an deutschen Schulen nehmen Phänomene der Ausgrenzung und Gewalt gegen Mitschüler zu (7 Kap. 19). Auf Ablehnung reagieren Jugendliche mit Rückzug, sie werden anfällig für Einsamkeit, geringes Selbstwertgefühl und Depressionen (Steinberg u. Morris 2001). Von Gleichaltrigen akzeptiert zu werden, ist wichtig. Der Einfluss der Eltern auf die Teenager wird eher auf anderen Gebieten deutlich, z. B. bei Fragen des Glaubens und der Religion bzw. Religionsausübung und bei Überlegungen zur Ausbildung und zur Berufswahl (»Emerging Trends« 1997). Eine Gallup-Umfrage zeigt, dass die meisten Jugendlichen auch die politischen Auffassungen ihrer Eltern teilen (Lyons 2005).

4.3.4 Übergang ins Erwachsenenalter Ziel 24: Erörtern Sie die Merkmale des Übergangs ins Erwachsenenalter.

Mit dem allmählichen Hineinwachsen in den Status des jungen Erwachsenen werden die emotionalen Bindungen an die Eltern lockerer. Mit Anfang 20 verlassen sich viele noch stark auf die Eltern, doch mit zunehmendem Alter fühlen sich die meisten besser, wenn sie nicht mehr von ihren Eltern abhängig sind. Dann können sie auch als gleichberechtigte Erwachsene mit ihnen umgehen (Frank 1988; White 1983). Dieses allmähliche Hineinwachsen von der Adoleszenz ins Erwachsenenalter dauert heutzutage länger. In der westlichen Welt entspricht die Adoleszenz heute grob den Teenagerjahren, in früheren Zeiten jedoch war die Adoleszenz ein kurzes Zwischenspiel zwischen der Abhängigkeit in der Kindheit und der Selbstverantwortung im Erwachsenenalter (Baumeister u. Tice 1986). Kurz nach der Geschlechtsreife verlieh die Gesellschaft dem jungen Menschen die Selbstverantwortung und den Status des Erwachsenen, wobei dies oft mit einem komplizierten Initiationsritus begangen wurde. Der frisch gebackene Erwachsene arbeitete dann, er heiratete und hatte Kinder. Mit dem Aufkommen der Schulpflicht dauerte die Abhängigkeit länger an. In den Industrienationen von Europa bis Australien brauchen die jungen Menschen länger, um das College oder die Universitätsausbildung abzuschließen, das elterliche Nest zu verlassen und eine eigene Laufbahn einzuschlagen. So ist in den USA beispielsweise das durchschnittliche Heiratsalter seit 1960 um 4 Jahre angestiegen (auf 27 Jahre für Männer und 25 Jahre für Frauen). In Deutschland liegt das Heiratsalter sogar noch höher: Während 1960 Frauen durchschnittlich im Alter von knapp 24 Jahren heirateten, lag ihr Heiratsalter im Jahr 2001 bei fast 29 Jahren. Bei Männern stieg im gleichen Zeitraum das Heiratsalter von ca. 26 Jahren auf 31 1/2 Jahre. Die frühe Geschlechtsreife in heutigen Zeiten hängt einerseits mit dem zunehmenden Fettanteil am Körpergewicht (der bei Schwangerschaft und Kinderbetreuung hilfreich sein kann) und andererseits mit der schwächeren Bindung des Kindes an die Eltern zusammen; und dazu gehört auch die Abwesenheit von Vätern (Ellis 2004). Die später einsetzende Unabhängigkeit hat zusammen mit der früher einsetzenden Geschlechtsreife das Zwischenspiel zwischen biologischer Reife und sozialer Unabhängigkeit, das früher kurz war, verlängert (. Abb. 4.23). Diese Zwischenzeit – die Jahre, die man damit verbringt, vom Kind zum Erwachsenen zu werden – ist die Adoleszenz. Die Zeit zwischen dem 18. und dem 25. Lebensjahr ist immer mehr eine Lebensphase, in der man noch nicht ganz fertig ist und die von manchen heute als allmählich erlangter Erwachsenenstatus (emerging adulthood) bezeichnet wird. Diese »allmählich erwachsen Werdenden« kann man nicht mehr zu den Adoleszenten rechnen, doch die Verantwortung des selbstständigen Er-

4 © 2002, Margaret Shulock. Reprinted with special permission of King Features Syndicate. Distr. Bulls.

4.3 · Adoleszenz

Neun von 10 Malen geht es um Gruppendruck in der Peergroup

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Kapitel 4 · Entwicklung

. Abb. 4.23. Die Adoleszenz beginnt früher und endet später Um 1890 lagen zwischen der ersten Menstruation einer Frau und ihrer Heirat, die typischerweise für den Übergang ins Erwachsenenalter stand, durchschnittlich 7 Jahre; heute sind es in den Industrienationen fast 12 Jahre (Gutmacher 2000). Obwohl viele Erwachsene unverheiratet sind, trägt die späte Heirat zusammen mit einer längeren Ausbildung und einer früheren Menarche dazu bei, die Adoleszenz zu verlängern

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wachsenen haben sie auch noch nicht übernommen. Im Unterschied zu einigen nichtwestlichen Kulturen, bei denen es öffentliche Übergangsrituale gibt, die für einen abrupten Übergang ins Erwachsenenalter stehen, betonen die westlichen Kulturen eher den allmählichen Übergang. Diejenigen z. B., die ihr Elternhaus zum Studium verlassen, werden von ihren Eltern getrennt und müssen sich stärker als je zuvor um ihre Termine und Prioritäten kümmern. Doch viele bleiben noch von der finanziellen und emotionalen Unterstützung durch die Eltern abhängig und kommen in den Semesterferien nach Hause. Für viele andere, die die Schule verlassen haben, ist das Elternhaus möglicherweise der einzige Ort zum Leben, den sie sich leisten können. Das Erwachsenenalter tritt daher allmählich ein. Lernziele Abschnitt 4.3 Adoleszenz Ziel 17: Definieren Sie Adoleszenz. Die Adoleszenz ist die Übergangsperiode zwischen Kindheit und Erwachsenenalter. Sie beginnt mit der Pubertät und endet mit dem Erreichen der Selbstständigkeit. Ziel 18: Nennen Sie die wichtigsten körperlichen Veränderungen während der Adoleszenz. Die Adoleszenz beginnt mit der Pubertät, der Zeit der beginnenden Geschlechtsreife, die zur Fortpflanzung befähigt. Ein Hormonschub löst eine etwa 2-jährige Phase intensiven körperlichen Wachstums aus. Bei Mädchen beginnt diese Phase normalerweise im 11., bei Jungen im 13. Lebensjahr. Während der Pubertät entwickeln sich die primären (die Fortpflanzungsorgane und die äußeren Genitalien) und die sekundären Geschlechtsmerkmale (die Geschlechtsmerkmale, die nichts mit der Fortpflanzung zu tun haben wie die Brüste bei Mädchen und die tiefere Stimme bei Jungen); der genaue Zeitpunkt dafür variiert jedoch von einer Person zur nächsten. Bei den meisten Mädchen kommt es innerhalb des 12. Lebensjahres zur Menarche. Bei den meisten Jungen tritt die Spermarche im 14. Lebensjahr auf. Anlage und Umwelt interagieren, und je nachdem, wie andere Menschen reagieren, kann eine frühe oder späte Reife die Anpassung beeinflussen. Während der Adoleszenz

kommt es zu einer bedeutsamen Entwicklung des Gehirns; dabei reifen die Frontallappen heran und nicht gebrauchte Neuronen entwickeln sich zusammen mit ihren Verbindungen zurück. Ziel 19: Beschreiben Sie die Veränderungen in Bezug auf die Fähigkeiten zum Schlussfolgern, die Piaget als formale Operationen bezeichnete. Mit der Entwicklung formaler Operationen erlangen die Jugendlichen die Fähigkeit, abstrakt zu schlussfolgern. Diese Fähigkeit ermöglicht es ihnen, Hypothesen zu bilden und Schlussfolgerungen abzuleiten. Ziel 20: Erörtern Sie die moralische Entwicklung aus der Perspektive des moralischen Denkens, Fühlens und Handelns. Nach Piagets Auffassung kommt in moralischen Urteilen das sich bei einem Kind entwickelnde Schlussfolgerungsvermögen zum Ausdruck. Lawrence Kohlberg schlug drei Stufen des moralischen Denkens vor. Die präkonventionelle Moral ist eine am Eigeninteresse orientierte Moral, die versucht, Bestrafung zu vermeiden und konkrete Belohnungen zu bekommen. Die konventionelle Moral ist eine gesetzestreue Moral, die darauf basiert, dass bestehende Gesetze befolgt werden müssen. Die postkonventionelle Moral (nicht jeder erreicht diese letzte Stufe) ist eine Moral, die selbst definiert was ethisch, richtig und fair ist. Bei der sozial 6

189 4.4 · Erwachsenenalter

intuitiven Auffassung von Moral wird die Meinung vertreten, dass moralische Gefühle moralischem Denken und Urteilen vorausgehen. Einige Experimente zur Hirnforschung mit bildgebenden Verfahren bestätigen die Hypothese, dass die Emotionsareale im Gehirn aktiv sind, wenn Menschen über moralische Dilemmata nachdenken. Die Perspektive der moralischen Handlung konzentriert sich auf soziale Einflüsse auf Entscheidungen darüber, das Richtige zu tun. Programme zum moralischen Handeln bringen Kindern bei, wie sie Empathie mit anderen empfinden und die Befriedigung von Bedürfnissen aufschieben können, um später größere Belohnungen zu bekommen. Ziel 21: Beschreiben Sie Eriksons acht Stufen der psychosozialen Entwicklung, und erörtern Sie die damit verbundenen Probleme. Nach Erik Erikson durchlaufen wir 8 Stufen im Leben (die sich ungefähr bestimmten Altersgruppen zuordnen lassen), in denen man jeweils eine eigene psychosoziale Aufgabe lösen muss. In der Säuglingszeit (bis zu 1 Jahr) ist Vertrauen vs. Misstrauen das zentrale Thema, im Trotzalter (1 bis 2 Jahre) Autonomie vs. Scham und Zweifel. Für Vorschulkinder (3 bis 5) ist dies, Initiative oder Schuld zu lernen, für Grundschulkinder (6 bis zur Pubertät), Kompetenz vs. Unterlegenheit zu empfinden. Eine Hauptaufgabe der Adoleszenz (vom 13. bis etwa 20. Lebensjahr) besteht darin, das Selbstwertgefühl – das Gefühl für die eigene Identität – zu festigen. Für junge Erwachsene besteht das zentrale Problem in Intimität vs. Isolation, und für das mittlere Erwachsenenalter (40 bis Ende 60) in Generativität vs. Stagnation. Die Aufgabe des späten Erwachsenenalters (Ende 60 und älter) ist Integrität vs. Verzweiflung. Ziel 22: Erklären Sie, wie uns die Suche nach Identität in der Adoleszenz beeinflusst, und erörtern Sie, wie uns die Bildung einer Identität auf Intimität vorbereitet. In westlichen Kulturen probieren Jugendliche unterschiedliche Konzepte vom Selbst aus, bevor sie sich auf eine konsistente und stimmige Identität einlassen. Eine kleinere Anzahl übernimmt, ohne groß darüber

Ziel 23: Stellen Sie den Einfluss der Eltern und der Gleichaltrigen während der Adoleszenz einander gegenüber. Jugendliche in westlichen Kulturen werden gewöhnlich immer unabhängiger von ihren Eltern; aber Forscher haben auch herausgefunden, dass die meisten Teenager trotzdem einigermaßen gute Beziehungen zu ihren Eltern haben. Die Zustimmung der Gleichaltrigen und Beziehungen sind für sie sehr wichtig; sie kleiden sich und handeln wie ihre Altersgenossen. Die Eltern haben weiterhin einen Einfluss auf Teenager in Bereichen wie Religiosität sowie Auswahl der Universität und Berufswahl. Ziel 24: Erörtern Sie die Merkmale des Übergangs ins Erwachsenenalter. Der allmählich erlangte Erwachsenenstatus bezieht sich auf den Zeitraum zwischen 18 Jahren und Mitte 20, in dem viele junge Leute in westlichen Kulturen keine Heranwachsenden mehr sind, aber noch keine vollständige Unabhängigkeit als Erwachsene erreicht haben. In dieser Zeit gehen viele junge Leute auf eine Hochschule oder zur Arbeit, leben jedoch weiterhin im Elternhaus. In den Vereinigten Staaten, aber auch in Deutschland verschiebt sich das Alter der ersten Heirat für Männer und Frauen auf Mitte 20 und später. > Denken Sie weiter: Welches waren die positivsten Ereignisse in der Zeit Ihrer Adoleszenz, an die Sie sich erinnern? Und welche die negativsten? Wem sind Sie dafür dankbar bzw. wem verübeln Sie die negativen Erfahrungen? Ihren Eltern oder Ihren Altersgenossen?

Erwachsenenalter

Früher betrachteten die Psychologen die Lebensmitte, also die Jahre zwischen Jugend und Alter, als langes Plateau, als Phase ohne Veränderungen. Heute sehen sie es anders. Wer sich mit der Entfaltung des Lebens eines Erwachsenen näher beschäftigt, kommt schnell zu der Überzeugung, dass die Entwicklung weitergeht. Generelle Aussagen über die Phasen des Erwachsenenlebens lassen sich nicht so leicht formulieren wie die über die ersten Jahre des Lebens. Wenn Sie wissen, dass James 1 Jahr alt ist und Jamal 10, dann könnten Sie schon eine ganze Menge über jedes der Kinder aussagen. Der gleiche Altersunterschied bei Erwachsenen lässt keine generellen Aussagen zu. Ein Chef kann ebenso gut 30 wie 60 Jahre alt sein, ein Marathonläufer mag 20 oder 50 sein, ein 19-Jähriger kann ein Kind haben, für das er sorgt, er kann aber auch selbst noch ein Kind

Rick Doyle/Corbis

4.4

nachzudenken, die Identität der Eltern oder übernimmt die Identität der Gleichaltrigen, wobei sie gleichzeitig die Wertvorstellungen der Eltern ablehnt. Mit dem Erreichen der Identität nimmt das Selbstwertgefühl zu. Erikson war der Auffassung, dass es eine wichtige Voraussetzung zur Bildung enger Beziehungen ist, eine eindeutige Identität zu haben, mit der man sich wohl fühlt.

Die Fähigkeiten Erwachsener sind sehr unterschiedlich 87-Jährige: Probieren Sie das nicht aus. 2002 wurde George Blair 18 Tage nach seinem 87. Geburtstag zum ältesten Barfuß-Wasserskiläufer der Welt

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Kapitel 4 · Entwicklung

»Ich lerne immer noch.« Michelangelo (1560, im Alter von 85 Jahren)

sein, das Unterstützung braucht. Trotzdem gibt es Ähnlichkeiten bei unseren Lebensläufen. In körperlicher, kognitiver und vor allem in sozialer Hinsicht sind wir mit 50 Jahren ganz anders als mit 25 Jahren. ! Die körperlichen und geistigen Veränderungen, sogar die Veränderungen in den Beziehungen verlaufen bei jedem von uns ähnlich, auch wenn es anscheinend in anderen Bereichen große Unterschiede gibt.

4.4.1 Körperliche Entwicklung All unsere körperlichen Fähigkeiten – Muskelkraft, Reaktionszeit, Sinnesschärfe und Herztätigkeit – erreichen ihren Höhepunkt Mitte 20. So wie das Tageslicht nach Sonnenuntergang allmählich abnimmt, so setzt der Prozess des Absinkens der Höchstleistung fast unmerklich ein. Leistungssportler sind oft die ersten, die es spüren. Weltrekordläufer und Schwimmer bringen ihre Höchstleistung mit Anfang 20. Frauen erreichen die Reife früher als Männer und demzufolge auch den Höhepunkt der Leistungsfähigkeit. Doch die meisten von uns, vor allem die, denen der Alltag keine körperlichen Höchstleistungen abverlangt, spüren diese frühen Zeichen des Nachlassens kaum.

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Körperliche Veränderungen im mittleren Erwachsenenalter

Welches Alter muss ein Mensch haben, ehe Sie ihn oder sie für alt halten? Die Aussage der 18bis 29-Jährigen lautet 67 Jahre; die 60-Jährigen und Älteren sagen 76 Jahre (Yankelovich 1995).

Menopause (menopause): das natürliche Ende der Menstruation. Bezieht sich auch auf die biologischen Veränderungen, die mit der Abnahme der Reproduktionsfähigkeit der Frau einhergehen. »Es gibt bis heute keine Änderungen des Lebensstils, keine chirurgischen Verfahren, Vitamine, Antioxidanzien, Hormone oder Gentechniken, für die nachgewiesen werden konnte, dass sie den Alterungsprozess beeinflussen.« Positionspapier zum Alterungsprozess beim Menschen, das 2002 von 51 wissenschaftlichen Experten auf diesem Gebiet unterschrieben wurde

Ziel 25: Nennen Sie die wichtigsten körperlichen Veränderungen, zu denen es im mittleren Erwachsenenalter kommt.

Sportler in den mittleren Jahren (nach 40) sind nur zu gut vertraut mit der Tatsache, dass der körperliche Abbau sich allmählich beschleunigt. Als 63-Jähriger, der regelmäßig Basketball spielt, stelle ich fest, dass ich mich gelegentlich frage, ob meine Mannschaft mich eigentlich noch braucht. Doch für normale Aktivitäten ist auch die verminderte Kraft ausreichend. Zudem hat die Körperkraft im frühen und mittleren Erwachsenenleben weniger mit den Jahren als mit dem Gesundheitszustand und den Trainingsgewohnheiten zu tun. Viele 50-Jährige, die körperlich fit sind, laufen mit Leichtigkeit 6 km, während 23-Jährige, die vorwiegend sitzen, schon bei 2 Stockwerken ins Schnaufen und Pusten kommen. Wie in der Jugend können körperliche Veränderungen auch im Erwachsenenalter zu psychischen Reaktionen führen. Die Art dieser Reaktionen hängt wesentlich von der Einstellung zum Alterungsprozess und zum Alter ab. In manchen östlichen Kulturen, bei denen das Alter mit einem Zuwachs an Achtung und Macht verbunden ist, werden äußere Anzeichen der fortschreitenden Jahre akzeptiert und sogar begrüßt. In westlichen Kulturen, die dem Ideal einer glatten Haut und eines schlanken Körpers huldigen, können die im mittleren Alter entstehenden Falten und Pölsterchen das Selbstbild bedrohen. Deshalb geben Millionen von Menschen Milliarden aus, in der Hoffnung, den Alterungsprozess verlangsamen oder umkehren zu können. Doch die Natur lässt sich nicht verleugnen: Unausweichlich kommen die Falten (oder kommen wieder), und die jugendliche Figur schwindet dahin. Für Frauen geht mit dem Altern eine Abnahme der Fruchtbarkeit einher. Für eine Frau zwischen 35 und 39 führt ein Geschlechtsverkehr nur halb so oft zu einer Schwangerschaft wie bei einer Frau zwischen 19 und 26 (Dunson et al. 2002). Doch für Frauen ist das hervorstechende Zeichen des Alterns das allmähliche Aufhören des Monatszyklus, die Menopause, ein Prozess, der normalerweise kurz vor dem 50. Lebensjahr einsetzt und ein Symptom für eine verringerte Östrogenausschüttung ist. Interessant ist, dass bei 4 oder 5 von 10 Kanadierinnen oder Amerikanerinnen in dieser Zeit Hitzewellen auftreten, aber nur bei 1 von 7 Japanerinnen (Goode 1999; Lock 1998). ! So wenig wie das Bild von der »Sturm-und-Drang-Phase« der Jugend der Realität entspricht, so wenig stimmt das Bild von der übertrieben emotionalen und depressiven Frau in der Menopause: Normalerweise beschert die Menopause den Frauen keine psychischen Probleme.

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Langzeitstudien über 10 Jahre hinweg, die mit Tausenden amerikanischen und australischen Frauen durchgeführt wurden, zeigten, dass sie während der Menopause weder mehr noch weniger depressiv waren (Avis 2003; Dennerstein et al. 2000). Welchen Einfluss die Menopause auf die Gefühle einer Frau hat, hängt von ihren Erwartungen und Einstellungen ab. Sieht sie darin ein Zeichen, dass sie ihre Weiblichkeit und sexuelle Anziehungskraft eingebüßt hat? Oder erlebt sie die Menopause als Befreiung vom Menstruationszyklus, der Angst vor einer Schwangerschaft und den Forderungen der Kinder? Um etwas über die Einstellung von Frauen zur Menopause zu erfahren, gingen Neugarten et al. (1963) einen neuen Weg: Sie befragten Frauen, die sich nicht wegen Problemen mit ihrer Menopause in Behandlung begeben hatten. Auf die Frage, ob es richtig sei, dass »Frauen sich nach der Menopause i. Allg. besser fühlen als seit Jahren« antwortete nur ein Viertel der Frauen unter 45, die noch nicht in der Menopause waren, mit Ja. Von den älteren Frauen, die die Menopause bereits hinter sich hatten, stimmten jedoch zwei Drittel zu. Eine Frau sagte: »Ich erinnere mich daran, wie meine Mutter mir erzählte, dass sie sich nach der Menopause so richtig vital und fit fühlte und mehr Schwung bekam, und von mir kann ich das Gleiche sagen.« In einer von der MacArthur Foundation durchgeführten Studie mit 3000 Erwachsenen im mittleren Alter, bei der die meisten Teilnehmer Frauen nach der Menopause waren, erinnerten sich die meisten Frauen daran, »nur Erleichterung« erlebt zu haben, als die monatliche Periode aufhörte. Lediglich 2% hatten »nur Bedauern« gespürt (Goode 1999). Bei Männern gibt es keine Entsprechung für die Menopause, kein Aufhören der Fruchtbarkeit, kein abruptes Sinken des Spiegels der Sexualhormone. Was sie erleben, ist ein mehr allmähliches Absinken der Spermienzahl und des Testosteronspiegels und ein Nachlassen der Erektions- und Ejakulationsgeschwindigkeit. Sackt der Testosteronspiegel zu schnell und zu tief ab, kann es zu Depression, Reizbarkeit, Schlaflosigkeit, Impotenz oder Schwäche kommen. Diese Symptome können mit einer Testosteronsubstitutionstherapie behandelt werden (Sternbach 1998). Manche Männer mögen auch eine Zeit der Trauer über die schwindende Männlichkeit oder die abnehmenden körperlichen Fähigkeiten durchmachen. Doch die meisten Männer altern ohne derartige Probleme. Auch nach den mittleren Lebensjahren können die meisten Männer und Frauen weiterhin eine befriedigende Sexualität genießen. Als Menschen über 60 vom National Council on Aging befragt wurden, äußerten sich 39% der Befragten zufrieden mit der Anzahl sexueller Aktivitäten; und 39% wünschten sich häufigeren Geschlechtsverkehr (Leary 1998).

C. Styrsky

4.4 · Erwachsenenalter

»Wenn die Wahrheit bekannt würde, müssten wir (bei älteren Frauen) die Diagnose PMF – postmenstruelle Freiheit – stellen.« Die Sozialpsychologin Jacqueline Goodchilds (1987)

»Die Gründe, die Sie im Alter davon abhalten, Sex zu haben, sind genau die gleichen, die Sie davon abhalten, Fahrrad zu fahren (schlechter Gesundheitszustand; die Auffassung, das sähe blöd aus; kein Fahrrad).« Alex Comfort (»The Joy of Sex – Die Freude am Sex«, 1981

Körperliche Veränderungen in späteren Jahren Ziel 26: Vergleichen Sie die Lebenserwartung Mitte des 20. Jahrhundert mit der Anfang des 21. Jahrhundert, und erörtern Sie die Veränderungen bei älteren Erwachsenen in Bezug auf die sensorischen Fähigkeiten und die Gesundheit (einschließlich der Häufigkeit von Demenz).

Perception Laboratory, University of St. Andrews

Muss man das Alter »mehr fürchten als den Tod« (Juvenal, »Satiren«)? Oder ist das Leben »am köstlichsten, wenn es zur Neige geht« (Seneca, »Epistulae ad Lucilium«)? Wie fühlt sich Altwerden an? Überprüfen Sie einmal, was Sie vom Alter wissen, und überlegen Sie sich, ob Sie den folgenden Aussagen zustimmen würden oder nicht: 1. Alte Leute ziehen sich schneller leichte Erkrankungen zu, z. B. grippale Infekte. 2. Die Neuronen des Gehirns sterben im Alter ab.

Das alternde Gesicht Die Psychologen Burt u. Perret (1995) machten Computerbilder von 20- bis 24-jährigen und 50- bis 54-jährigen Weißen. Dann übertrugen sie die altersbedingten Veränderungen auf andere Gesichter, beispielsweise auf das Gesicht von Marilyn Monroe. Man sah, wie eine ältere Marilyn dann ausgesehen hätte

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Kapitel 4 · Entwicklung

Georges Gobet/AP Photo

3. Wer 90 Jahre alt oder älter wird, wird vermutlich senil. 4. Die Wiedererkennensleistung – also die Fähigkeit, Dinge, die man kurz zuvor gelernt hat, zu erkennen – nimmt mit zunehmendem Alter ab. 5. Zwischen 50 und 60 Jahren ist die Zufriedenheit mit dem eigenen Leben am höchsten; nach dem 65. Lebensjahr nimmt sie allmählich ab.

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Lebenserwartung

Der Weltrekord in Langlebigkeit Die Französin Jeanne Calment war möglicherweise die älteste Frau der Geschichte. Sie starb 1998 im Alter von 122 Jahren. Mit 100 fuhr sie noch Fahrrad. Mit 114, als sie in einem Film über ihre Person sich selbst spielte, wurde sie die älteste Filmschauspielerin, die es je gegeben hat. 2003 starb im Alter von 114 Jahren der Japaner Yukichi Chuganji an Altersschwäche auf der Insel Kyushu. Die Japanerin Shigechiyo Izumi starb 1986 im Alter von 120 Jahren

Swasiland ist das Land mit der geringsten Lebenserwartung (33 Jahre). Die Menschen in Andorra kommen in den Genuss der höchsten Lebenserwartung: fast 84 Jahre (CIA Factbook, 2005).

Diese Aussagen – samt und sonders falsch – gehören zu den gängigen Irrtümern über das Alter; die Forschung, die sich in letzter Zeit vermehrt mit der weltweit am schnellsten wachsenden Bevölkerungsgruppe beschäftigt, hat viele dieser Annahmen widerlegt. Weltweit steigt die Lebenserwartung: 1950 betrug sie 49 Jahre, stieg bis 2004 auf 67 Jahre an und erreichte in den weiter entwickelten Ländern sogar 80 Jahre (PRB 1998; Sivard 1996). In Deutschland lag laut Statistischem Bundesamt im Jahr 2006 die Lebenserwartung bei der Geburt für Jungen bei 76,6 und für Mädchen bei 82,1 Jahren. Diese steigende Lebenserwartung (einige meinen, dies sei die größte Errungenschaft der Menschheit) in Verbindung mit sinkenden Geburtenraten lässt die Gruppe der Älteren zu einem immer größeren Bevölkerungssegment werden (. Abb. 4.24). Etwa im Jahr 2050 werden ca. 35% der Bevölkerung in Europa über 60 Jahre alt sein (Fernández-Ballesteros 2003). Es ist ganz offensichtlich, dass den Ländern, die bei der Altersversorgung auf die Kinder gesetzt haben, größere soziale Veränderungen bevorstehen. In Russland und Westeuropa vollzieht sich z.B. ein Bevölkerungsrückgang – nach Vorhersagen der Vereinten Nationen (Brooks 2005) – von 146 Mio. auf 104 Mio. Menschen in Russland. Weigel (2005) stellt die folgende Vermutung an: »Wenn es einem ganzen Kontinent, der gesünder, wohlhabender und sicherer ist als je zuvor, nicht gelingt, die menschliche Zukunft im elementarsten Sinne zu schaffen – indem er die nächste Generation hervorbringt –, geht etwas ganz grundlegend schief.« Die Lebenserwartung für Frauen und für Männer ist unterschiedlich, Männer sterben gewöhnlich früher. Zwar kommen im Augenblick der Empfängnis 126 männliche auf 100 weibliche Embryos, doch sterben männliche Embryonen leichter ab (Strickland 1992). Bei der Geburt liegt das Verhältnis der Geschlechter nur noch bei 105 Jungen auf 100 Mädchen. Im 1. Lebensjahr übersteigt die Sterblichkeit männlicher Säuglinge die der weiblichen um ein Viertel. Frauen überleben Männer weltweit um 4 Jahre; in Deutschland, Kanada, den USA und Australien sind es sogar 5–6 Jahre. (Anstatt einen Mann zu heiraten, der älter ist als sie, sollten 20-jährige Frauen, die einen Ehemann haben möchten, der so lange lebt wie sie, besser darauf warten, dass die 15-jährigen Jungen erwachsen werden.) Im Alter von 100 Jahren gibt es 5-mal mehr Frauen als Männer. Doch nur wenige von uns erreichen das 100. Lebensjahr. Wenn niemand unter 50 stürbe, wenn es Krebs, Herz- und Infektionskrankheiten nicht mehr gäbe, würde die durchschnittliche Lebenserwartung trotzdem nicht viel höher als 85 Jahre steigen (Baringa 1991). Der Körper altert. Die Körperzellen hören auf, sich zu teilen. Der Körper wird gebrechlich, ist anfällig für geringfügige Beeinträchtigungen – eine Hitzewelle, ein Sturz, eine leichte Erkältung –, die mit 20 Jahren lächerlich gewesen wären. Warum sind wir im Alter verbraucht? Warum altern wir nicht – wie die Borstenkiefer oder die Königinnen mancher Insektenvölker – ohne dahinzuwelken? Eine Theorie der Evolutionsbiologen bietet als Erklärung die Hypothese, dass die Antwort mit unserem Überleben als Spezies zu tun hat: Bei der Weitergabe unserer Gene sind wir am erfolgreichsten, wenn wir unsere Jungen großziehen und dann verschwinden und keine Ressourcen mehr verbrauchen. Sobald wir unsere Aufga-

. Abb. 4.24. Veränderung der Altersstruktur Diese Daten des Statistischen Bundesamtes illustrieren ein weit verbreitetes Phänomen: Die Weltbevölkerung altert. In den kommenden 50 Jahren wird sich die Zahl der unter 40-jährigen Deutschen wahrscheinlich nur geringfügig ändern, während die Population der über 60-jährigen stark anwachsen wird. Weltweit rechnet man damit, dass sich die Population der über 60-jährigen bis 2050 verdreifacht und auf 2 Mrd. anwächst (Reuters 2002)

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be, die Gene weiterzugeben, erfüllt haben, hört der natürliche Selektionsdruck auf jene Gene auf, die in den späten Lebensjahren die Degeneration verursachen (Olshansky et al. 1993; Sapolsky u. Finch 1991).

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. Abb. 4.25 a–c. Der Alterungsprozess der Sinne Sehvermögen (a), Geruchssinn (b) und Gehör (c) sind bei den über 70-Jährigen nicht mehr so genau. (Aus Doty et al. 1984)

Sensorische Fähigkeiten Wie oben dargestellt, setzt der körperliche Abbau bereits im frühen Erwachsenenalter ein, doch normalerweise bemerken wir dies in seiner ganzen Tragweite erst viel später. Die Sehschärfe verringert sich und die Adaption des Auges auf wechselnde Helligkeit erfolgt langsamer. Muskelkraft, Reaktionszeit und Ausdauer nehmen gleichfalls deutlich ab, ebenso die Hörfähigkeit, das Entfernungssehen und der Geruchssinn (. Abb. 4.25). Es ist schon seltsam: Im höheren Lebensalter werden die Treppen steiler, alles ist kleiner gedruckt, und die Leute nuscheln mehr. Mit zunehmendem Alter schrumpfen die Pupillen, die Augenlinsen sind nicht mehr so durchsichtig; dadurch kommt weniger Licht in die Retina. Zu der Retina eines 65-Jährigen dringt tatsächlich nur noch ein Drittel des Lichts, das eine 20-jährige Retina empfängt (Kline u. Schieber 1985). Deshalb braucht ein 65-jähriger Mensch zum Lesen und zum Autofahren 3-mal so viel Licht wie ein 20-Jähriger und sollte beim Autokauf auf nicht getönte Scheiben achten. Das erklärt auch, warum Ältere manchmal jüngere Leute fragen: »Brauchst du nicht mehr Licht zum Lesen?«

»Aus irgendeinem Grund, wahrscheinlich um Druckerschwärze zu sparen, haben die meisten Restaurant begonnen, ihre Speisekarten mit Buchstaben in der Größe eines Bakteriums zu drucken.« Dave Barry, »Dave Barry Turns Fifty«, 1998

Gesundheit Für die Alternden gibt es zum Thema Gesundheit sowohl gute als auch schlechte Nachrichten. Zunächst die schlechte: Das körpereigene Immunsystem wird schwächer, kann Krankheiten nicht mehr so gut abwehren und macht ältere Leute anfälliger für lebensbedrohliche Krankheiten wie Krebs oder Lungenentzündung. Die gute Nachricht: Dank der lebenslangen Akkumulation von Antikörpern leiden alte Menschen seltener an relativ harmlosen Krankheiten wie einer normalen Grippe oder Viruserkältungen. So ist die Wahrscheinlichkeit, sich jedes Jahr eine Infektion der oberen Atemwege zuzuziehen, für über 65-Jährige nur halb so hoch wie für einen 20-Jährigen und nur ein Fünftel so hoch wie für ein Vorschulkind (National Center for Health Statistics 1990). Das kann als Erklärung dafür dienen, warum ältere Arbeitnehmer weniger Fehlzeiten haben (Rhodes 1983). Für Deutschland zeigt der Fehlzeitenreport des Jahres 2003, dass mit zunehmenden Alter die Arbeitnehmer zwar weniger häufig krank sind, dafür die einzelnen Krankschreibungen aber länger andauern als bei jüngeren Mitarbeitern (Badura et al. 2004). Das Alter verlangt seinen Tribut auch beim Gehirn, indem es das Tempo der neuronalen Informationsverarbeitung drosselt. Bis zum Alter von 20 Jahren verarbeiten wir die eingehenden

Nach dem 30. Lebensjahr verdoppelt sich das Sterberisiko alle 8 Jahre. Das Sterberisiko eines 48-Jährigen ist doppelt so hoch wie das eines 40-Jährigen (National Center for Health Statistics 1992; Olshansky et al. 1993). Die meisten Treppenstürze von älteren Leuten passieren auf der obersten Stufe, genau dort, wo sie von einem hellen Flur in ein dunkleres Treppenhaus kommen (Fozard u. Popkin 1978). Unser Wissen über das Altern könnte uns dabei helfen, die Umwelt so zu gestalten, dass solche Unfälle verringert werden könnten (National Research Council 1990).

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Kapitel 4 · Entwicklung

© Masterfile

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Die biologische Uhr langsamer laufen lassen Wie schnell Menschen altern, hängt teilweise von ihren Lebensgewohnheiten ab. Diese lachende Volleyballgruppe zeigt es deutlich: Je aktiver die Menschen sind, desto weniger büßen sie von ihrer Kraft und Energie ein

. Abb. 4.26. Alter und Unfälle mit Todesfolge Langsamere Reaktionen erhöhen das Unfallrisiko ab 75 (Stock 1995). Würden Sie eine Fahrprüfung auf der Basis von Fahrtüchtigkeit statt auf der Basis des Lebensalters befürworten, damit die Fahrer herausgefiltert werden können, deren langsame Reaktionen oder eingeschränkte Wahrnehmung ein Unfallrisiko anzeigen?

Informationen mit ständig wachsender Geschwindigkeit (Fry u. Hale 1996; Kall 1991). Doch im Vergleich zu Teenagern und jungen Erwachsenen brauchen ältere Menschen ein bisschen länger für ihre Reaktionen oder beim Lösen von Problemen, die etwas mit der Wahrnehmung zu tun haben; sie brauchen auch etwas mehr Zeit, um sich an Namen zu erinnern (Bashore et al. 1997; Verhaeghen u. Salthouse 1997). Bei komplexen Aufgaben ist der Unterschied am deutlichsten ausgeprägt (Cerella 1985; Poon 1987). Die meisten 70-Jährigen können sich bei Videospielen nicht mit einem 20-Jährigen messen. Und, wie . Abb. 4.26 zeigt, steigt die Zahl der Unfälle mit Todesfolge bei den über 75-Jährigen steil an. Ab dem Alter von 85 Jahren liegt sie höher als bei 16-Jährigen. Trotzdem macht dies weniger als 10% der Zusammenstöße aus, weil ältere Menschen weniger fahren (Coughlin et al. 2004). ! Im Verlauf des Alterungsprozesses schrumpfen allmählich die Hirnregionen, die für das Gedächtnis wichtig sind (Schacter 1996).

Im jungen Erwachsenenalter setzt ein allmählicher Verlust von Hirnzellen ein, der bis zum Alter von 80 Jahren zu einer Reduktion des Hirngewichts um etwa 5% führt. Möglicherweise verläuft der Alterungsprozess bei Frauen langsamer. Frauen leben nicht nur weltweit 4 Jahre länger als Männer, ihr Gehirn schrumpft auch langsamer als das männliche Gehirn (Coffey et al. 1998). ! Wenn man sportlich aktiv ist, so wird auch das Gehirn trainiert. Das Entstehen neuer Zellen und die Ausbreitung neuronaler Verbindungen trägt zur Kompensation des Zellverlustes bei, besonders bei Menschen, die aktiv bleiben (Coleman u. Flood 1986).

Körperliches Training verstärkt Muskeln und Knochen, verschafft Energie und verhindert Übergewicht und Herzkrankheiten. Körperliches Training stimuliert auch die Entwicklung von Hirnzellen und -verbindungen, möglicherweise aufgrund der erhöhten Sauerstoff- und Nährstoffzufuhr (Kempermann et al. 1998). Und das mag eine Erklärung dafür sein, dass aktive ältere Erwachsene gewöhnlich auch geistig rege ältere Erwachsene sind und warum solche mit vorwiegend sitzender Lebensweise, die nach dem Zufallsprinzip einem Programm mit aerobischen Übungen zugewiesen wurden, nach 20 Studien anschließend verbesserte Gedächtnisleistungen und ein schärferes Urteilsvermögen aufwiesen (Colcombe u. Kramer 2003; Colcombe et al. 2004; Weuve et al. 2004). Für uns alle gilt: »Wer rastet, der rostet«, d. h. wir rosten eher durch Nichtgebrauch, als dass wir uns durch übermäßigen Gebrauch abnutzen. »Benutz es, sonst verlierst du es« (»use it or lose it«) ist eine gesunde Devise.

Demenz und Alzheimer-Krankheit Leider leiden manche Erwachsenen unter einem massiven Verlust von Hirnzellen. Bis zum Alter von 95 verdoppelt sich die Auftretenshäufigkeit des geistigen Verfalls grob gerechnet alle 5 Jahre

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. Abb. 4.27. Häufigkeit von Neuerkrankungen an Demenz in Abhängigkeit vom Alter Das Risiko für eine Demenz aufgrund einer Alzheimer-Erkrankung oder aufgrund mehrerer Schlaganfälle verdoppelt sich im Alter alle 5 Jahre. (Nach Jorm et al. 1987, basierend auf 22 Studien in Industrieländern)

(. Abb. 4.27). Auch eine Reihe kleinerer Schlaganfälle, ein Hirntumor oder Alkoholismus können zu einer zunehmenden Schädigung des Gehirns und damit zu dem Krankheitsbild führen, das wir Demenz nennen. Das gilt auch für die gefürchtetste aller Krankheiten des Gehirns, der AlzheimerKrankheit, von der weltweit 3% der 75-Jährigen betroffen sind. ! Alzheimer-Symptome sind nicht dasselbe wie ein normaler Alterungsprozess.

(Wenn Sie gelegentlich vergessen, wo Sie den Autoschlüssel hingelegt haben, ist das noch kein Alarmsignal; nicht mehr zu wissen, wie man nach Hause kommt, legt jedoch den Verdacht auf eine Alzheimer-Erkrankung nahe.) Die Alzheimer-Krankheit zerstört auch die klügsten Köpfe. Zuerst wird das Gedächtnis schlechter, dann die Fähigkeit zum logischen Denken. Sayre (1979) erinnert sich, wie sein Vater die von der Alzheimer-Erkrankung betroffene Mutter anschrie, sie solle »besser nachdenken«, während die Mutter, verwirrt und verlegen, das Haus nach verloren gegangenen Gegenständen durchsuchte. Im Verlauf der Krankheit kommt es nach 5–20 Jahren zu einer Gefühlsverflachung, dann verliert der Betreffende die Orientierung an Ort und Zeit, wird inkontinent, enthemmt und zuletzt geistig leer, eine Art lebender Toter, nur noch ein Leib, dem fast alles verloren gegangen ist, was einen Menschen ausmacht. Was den Alzheimer-Symptomen zugrunde liegt, ist ein Verlust von Hirnzellen und ein Abbau von Neuronen, die den Neurotransmitter Acetylcholin ausschütten. Ohne diesen lebenswichtigen chemischen Botenstoff können Gedächtnis und Denkfähigkeit nicht arbeiten. Eine Autopsie zeigt zwei aufschlussreiche Anomalien bei den Acetylcholin produzierenden Neuronen: schrumpelige Proteinfäden im Zellkörper und Plaques (Klumpen von degeneriertem Gewebe) an den Enden der Neuronenverzweigungen. Ein Forschungsschwerpunkt liegt darauf, Medikamente zu entwickeln, die Proteine davon abhalten werden, sich zu Plaques zu vereinigen (Ingram 2003). Allmählich bekommen Forscher Einblick in die chemischen, neuronalen und genetischen Wurzeln der Alzheimer-Erkrankung. Bei Menschen, bei denen ein Risiko für diese Krankheit besteht, zeigt möglicherweise eine Kernspintomographie des Gehirns (. Abb. 4.28) schon vor dem Auftreten von Symptomen, dass die hier entscheidenden Hirnzellen in verräterischer Weise degeneriert sind und dass die Hirnaktivität beim Erinnern von Wörtern weniger klar abgegrenzt ist. Es ist fast so, als wäre eine größere Anstrengung erforderlich, um dieselbe Leistung zu erbringen (Bookheimer et al. 2000; Fox et al. 2001).

Alzheimer-Krankheit (Alzheimer’s disease): eine progressive, irreversible Krankheit des Gehirns, gekennzeichnet durch den graduellen Ausfall von Gedächtnis, Denkfähigkeit und Sprache und zuletzt auch der Körperfunktionen.

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Kapitel 4 · Entwicklung

. Abb. 4.28. Möglichkeiten der Vorhersage der Alzheimer-Erkrankung Eine Kernspintomographie des Gehirns von Alzheimer-Risikopatienten (oben) während eines Gedächtnistests zeigte im Vergleich mit einem gesunden Gehirn (rechts) stärkere Aktivität (rot). Man kann mit Hilfe von Schichtaufnahmen des Gehirns und genetischen Untersuchungen Menschen identifizieren, die wahrscheinlich die Alzheimer-Krankheit bekommen werden: Würden Sie sich diesem Test unterziehen? In welchem Alter?

Susan Bookheimer

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! Sportlich aktive und nicht übergewichtige Menschen sind weniger gefährdet, die AlzheimerKrankheit zu bekommen (Abbott et al. 2004; Gustafson et al. 2003; Marx 2005). Das Gleiche trifft auf geistig aktive Menschen zu, die geistige Herausforderungen annehmen – hier handelt es sich oft um gebildete Menschen, die aktiv lesen. Was für die Muskeln gilt, gilt auch für das Gehirn: Die, die es benutzen, büßen es nicht so oft ein.

4.4.2 Kognitive Entwicklung Eine sehr umstrittene Frage bei der Untersuchung der Lebensdauer des Menschen ist folgende: Nehmen die kognitiven Fähigkeiten – Gedächtnis, Kreativität und Intelligenz – parallel zu den körperlichen Fähigkeiten ab?

Alter und Gedächtnis Ziel 27: Geben Sie ein Urteil darüber ab, welchen Einfluss das Altern auf den Abruf von Informationen aus dem Gedächtnis und auf das Wiedererkennen hat.

Wenn Sie zwischen 15 und 25 sind: Welche Erfahrungen, die Sie im vergangenen Jahr gemacht haben, werden Sie wahrscheinlich nie vergessen? (Das ist die Zeit in Ihrem Leben, an die Sie sich am besten erinnern werden, wenn Sie einmal 50 sind.

An manche Dinge erinnern wir uns gut, wenn wir älter werden. Wenn ältere Menschen auf ihr Leben zurückschauen, erinnern sie sich nicht nur lebhaft an kürzlich geschehene Ereignisse, sondern auch an die Erfahrungen, die sie in dem zweiten und dritten Jahrzehnt ihres Lebens gemacht haben (Conway et al. 2005; Rubens et al. 1998). Werden sie gebeten, sich an ein oder zwei sehr wichtige Ereignisse der letzten 50 Jahre zu erinnern, tendieren sie dazu, Dinge zu nennen, die sich in ihrer Teenagerzeit oder in ihren Zwanzigern ereignet haben. Was immer man in diesem Alter erlebt haben mag – den Zweiten Weltkrieg, die Teilung Deutschlands, die Studentenbewegung, die Ölkrise, die Wiedervereinigung Deutschlands oder den Krieg im Irak –, es war von zentraler Bedeutung (Pillemer 1998; Schuman u. Scott 1989). Die Zeit als Teenager bis Ende 20 ist auch die Zeit, in der so viele erinnerungswürdige Dinge zum ersten Mal in unserem Leben passieren: das erste Rendezvous, die erste Arbeitsstelle, das erste Semester an der Uni, die erste Begegnung mit den Schwiegereltern. Für gewisse Arten des Lernens und Erinnerns sind tatsächlich die frühen Erwachsenenjahre die beste Zeit. In einem Experiment baten Crook u. West (1990) 1205 Menschen, ein paar Namen zu lernen. Auf einem Videoband sagten 14 Menschen ihren Namen, so wie man sich normalerweise vorstellt: »Hallo, ich bin Larry.« Dann tauchten dieselben Leute noch einmal auf und sagten beispielsweise: »Ich bin aus Philadelphia.« Sie lieferten damit einen visuellen und akustischen Anhaltspunkt, an dem die Erinnerung an den Namen festgemacht werden konnte. Wie . Abb. 4.29

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. Abb. 4.29. Gedächtnistests Neue Namen zu erinnern, die ein-, zwei- oder dreimal gezeigt werden, fällt jüngeren Erwachsenen leichter als älteren. (Daten aus Crook u. West 1990)

. Abb. 4.30. Reproduktion und Wiedererkennen bei Erwachsenen Dieses Experiment zeigt, dass die Fähigkeit zur Reproduktion neuer Informationen im frühen und mittleren Erwachsenenalter abnimmt, das gilt jedoch nicht für die Fähigkeit, neue Information wiederzuerkennen. (Aus Schonfield u. Robertson 1966)

zeigt, erinnerten sich alle Teilnehmer nach dem 2. oder 3. Durchgang an mehr Namen, doch junge Erwachsene erinnerten sich jedes Mal an mehr Namen als die älteren Erwachsenen. Ähnliche Ergebnisse erbrachten auch andere Untersuchungen. In den ersten Stunden nach der Rücktrittsankündigung der englischen Premierministerin Margaret Thatcher erinnerten sich junge und alte Engländer daran, wie sie diese Nachricht gehört hatten. Als sie 11 Monate später danach gefragt wurden, erzählten noch 90% der Jüngeren, aber nur 42% der Älteren die gleiche Geschichte (Cohen et al. 1994). Vielleicht ist es keine Überraschung, dass fast zwei Drittel der Menschen über 40 Jahren sagen, dass ihr Gedächtnis schlechter ist, als es vor 10 Jahren noch war (KRC 2001). Aber schauen Sie sich ein weiteres Experiment an. Schonfield u. Robertson (1966) baten Erwachsene unterschiedlichen Alters, eine Liste mit 24 Wörtern zu lernen. Ohne jeden Anhaltspunkt baten die Forscher ein paar Teilnehmer, so viele Wörter von der Liste zu wiederholen, wie sie erinnern konnten. Andere Teilnehmer wurden aufgefordert, die Wörter in einem Multiple-ChoiceFragebogen wiederzuerkennen. Bei der freien Wiedergabe hatten die Jüngeren das bessere Gedächtnis (. Abb. 4.30). Beim Wiedererkennungstest fanden die Forscher jedoch keinen Zusammenhang zwischen nachlassendem Gedächtnis und Alter. Tests haben auch ergeben, dass bei älteren Erwachsenen die Gedächtnisleistung beim Wiedererkennen am frühen Morgen besser ist als später am Tag. Dieser Unterschied verschwindet aber, wenn man den Probanden einen Koffeinstoß gibt (May et al. 1993; Ryan et al. 2002). Hängt demnach die Frage nach dem Erinnerungsvermögen älterer Menschen davon ab, ob sie aufgefordert werden, einfach wiederzuerkennen, was sie versucht haben auswendig zu lernen (minimale Abnahme des Gedächtnisses) oder ob sie das Gelernte ohne Anhaltspunkte erinnern sollen (stärkere Abnahme des Gedächtnisses)? Ob etwas vergessen wird, hängt wahrscheinlich auch von der Art der Information ab, an die Sie sich erinnern wollen. Wenn Sie aufgefordert werden, sich an Information ohne Bedeutung zu erinnern – sinnlose Silben oder unwichtige Ereignisse –, dann werden Sie umso mehr Fehler machen, je älter Sie sind. Hat die Information jedoch eine Bedeutung, dann trägt das reichhaltige Wissensnetz älterer Menschen dazu bei, die Information zu behalten, obwohl es länger dauern kann als bei jüngeren Erwachsenen, die Wörter und das Wissen hervorzubringen (Burke u. Shafto 2004). Die Gewinner in Fernsehshows, bei denen es um schnelles Denken geht, sind gewöhnlich im jüngeren bis mittleren Erwachsenenalter. ! Das Lern- und Erinnerungsvermögen älterer Leute zeigt weniger Ausfälle als ihr verbales Gedächtnis (Graf 1990; Labouvie-Vief u. Schell 1982; Perlmutter 1983).

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Mehrere Tabletten mehrmals täglich einnehmen zu müssen, bietet viel Gelegenheit, in Verwirrung zu geraten: Habe ich die Tabletten genommen oder habe ich nur daran gedacht, sie zu nehmen? Eine einfache Lösung bietet ein Hilfsmittel: die Tabletten für eine Woche in einen Behälter legen, der Fächer für jeden Tag und dort für die einzelnen Tageszeiten hat (in Apotheken erhältlich).

Das prospektive (auf die Zukunft gerichtete) Gedächtnis – »Denk daran …« – lässt einen nicht im Stich, wenn ein bestimmtes Ereignis (an einem Lebensmittelladen vorbeigehen) als Auslöser (»… Milch einzukaufen«) eingesetzt werden kann. Termingebundene Pflichten (»Vergessen Sie die Sitzung um 3 Uhr nicht «) stellen für Menschen fortgeschrittenen Alters eher ein Problem dar. Regelmäßige Pflichten können sich als besonders schwierig erweisen, beispielsweise sich daran zu erinnern, 3-mal täglich Medikamente zu nehmen (Einstein u. McDaniel 1990; Einstein et al. 1995, 1998). Um die Probleme im Zusammenhang mit dem abnehmenden prospektiven Gedächtnis möglichst gering zu halten, müssen sich ältere Erwachsene stärker auf Maßnahmen zur Zeitstrukturierung und auf den Einsatz von Hinweisreizen als Gedächtnishilfen verlassen, wie etwa Notizzettel für sich selbst (Henry et al. 2004). Wer sich als Forscher mit unserem Lern- und Erinnerungsvermögen beschäftigt, stößt auf eine weitere wichtige Schwierigkeit: Auch in unseren späten Jahren gleichen wir uns nicht einander an, sondern wir driften weiter auseinander und werden vielfältiger. 20-Jährige unterscheiden sich beträchtlich in ihrem Lern- und Erinnerungsvermögen, aber die Unterschiede innerhalb der Gruppe der 70-Jährigen sind viel ausgeprägter. Manche 70-Jährige bleiben mit ihrer Leistung unterhalb des Niveaus fast aller 20-Jährigen, aber es gibt auch 70-Jährige, die es dem durchschnittlichen 20-Jährigen gleichtun oder ihn sogar übertreffen.

Alter und Intelligenz Ziel 28: Fassen Sie zusammen, welchen Beitrag Querschnitt- und Längsschnittuntersuchungen zum Verständnis der normalen Auswirkungen des Alterns auf die Intelligenz eines Erwachsenen leisten.

Was wird im Alter aus unseren allgemeinen intellektuellen Fähigkeiten? Nehmen sie genauso ab wie unser Erinnerungsvermögen für neue Informationen? Oder bleiben sie erhalten, wie die Fähigkeit, relevante Information wiederzuerkennen? Die Antwort auf diese Fragen kristallisierte sich allmählich heraus und liest sich als interessante Geschichte über die Forschung: Es geht um die anschauliche Schilderung eines sich selbst korrigierenden Prozesses in der Psychologie (Woodruff-Pak 1989).

Phase I: Nachweis für die Abnahme der intellektuellen Fähigkeiten in Querschnittstudien Querschnittstudie (cross-sectional study): eine Vorgehensweise, bei der zu einem Untersuchungszeitpunkt Menschen verschiedener Altersstufen miteinander verglichen werden.

In Querschnittstudien testen Wissenschaftler Menschen verschiedener Altersstufen und vergleichen die Ergebnisse. Wird der Intelligenztest mit einer repräsentativen Stichprobe durchgeführt, dann findet man stets heraus, dass ältere Erwachsene eine geringere Anzahl richtiger Antworten geben als jüngere Erwachsene. Wechsler (1972), der den meist verwendeten Intelligenztest für Erwachsene (7 Kap. 11) entwickelt hatte, kam zu der Schlussfolgerung, dass »die Abnahme der geistigen Fähigkeiten im Alter Teil des generellen Alterungsprozesses des gesamten Organismus ist«. Lange blieb dieser recht trübselige Befund vom geistigen Abbau unangefochten. Viele Unternehmen schufen eigens Vorschriften, um Arbeitnehmer in den Ruhestand schicken zu können. Sie gingen von der Annahme aus, dass jüngere Angestellte bessere Fähigkeiten vorzuweisen hätten. Schließlich ist es doch eine Binsenweisheit, dass man einem alten Hund keine neuen Kunststücke beibringen kann.

Phase II: Nachweis für gleich bleibende intellektuelle Fähigkeiten in Längsschnittstudien Längsschnittstudie (longitudinal study): eine wissenschaftliche Methode, bei der die gleichen Menschen über einen längeren Zeitraum hinweg immer wieder untersucht und getestet werden.

1920 begannen die Hochschulen in den USA, ihre neuen Studenten einem Intelligenztest zu unterziehen. Das eröffnete einigen Psychologen die Möglichkeit, Intelligenz in einer Längsschnittstudie zu untersuchen, nämlich die gleichen Menschen über einige Jahre hinweg immer wieder zu testen. Sie rechneten mit einem Absinken der Intelligenz etwa nach dem 30. Lebensjahr (Schaie u. Geiwitz 1982). Doch was sie herausfanden, war eine Überraschung: Bis spät im Leben blieb die Intelligenz gleich (. Abb. 4.31). Bei manchen Tests nahm sie sogar noch zu. Was ist also von den Ergebnissen der Querschnittuntersuchungen zu halten? Nachträglich haben die Forscher das Problem erkannt. Eine Querschnittstudie vergleicht 70-Jährige mit 30-Jährigen, damit vergleicht sie nicht nur zwei verschiedene Altersstufen, sondern zwei Genera-

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tionen. Hier werden Menschen, die generell weniger gebildet und ausgebildet sind (etwa um 1900 geboren) mit Menschen verglichen, die nach 1950 geboren wurden und eine bessere Ausbildung erhielten. Menschen aus größeren Familien werden solchen aus kleineren Familien, Teilnehmer aus weniger gut situierten werden Teilnehmern aus wohlhabenden Familien gegenübergestellt. Diese optimistischere Sichtweise ließ den Mythos von dem abrupten Nachlassen der Intelligenz obsolet werden. Jeder »weiß«, dass, wer bei guter Gesundheit ist, zum Lernen nie zu alt ist. Mit 70 Jahren entwickelte John Rock die Antibabypille. Die amerikanische Malerin Grandma Moses war 78, als sie anfing zu malen, und sie malte auch noch, als sie schon über 100 war. Und Frank Lloyd Wright entwarf das Guggenheim-Museum in New York, als er 89 war.

Phase III: Es kommt immer drauf an Die Kontroverse geht weiter. Zum einen haben Längsschnittstudien auch ihre Tücken. Die Teilnehmer, die bis zum Abschluss der Längsschnittstudien am Leben bleiben, sind wahrscheinlich kluge, gesunde Menschen, bei denen die Wahrscheinlichkeit, dass die Intelligenz nachlässt, nur sehr gering ist. (Vielleicht wäre es bei denen, die in jüngeren Jahren starben und aus der Studie herausfielen, zum Nachlassen der Intelligenz gekommen.) Wird dieser Verlust an Teilnehmern ausgeglichen, wie z. B. bei einer Studie in Cambridge (England), an der über 2000 Menschen über 75 teilnahmen, dann zeigt sich ein steilerer Intelligenzabfall. Das gilt besonders für Menschen über 85 (Brayne et al. 1999). Weitere Schwierigkeiten für die Forschung ergeben sich aus der Tatsache, dass Intelligenz kein isoliertes Merkmal ist (7 Kap. 11). Intelligenztests, die das Denktempo erfassen, mögen sich für ältere Teilnehmer als nachteilig erweisen, weil im Alter die neuronalen Mechanismen der Informationsverarbeitung langsamer ablaufen. Trifft man alte Freunde auf der Straße, fallen einem die Namen vielleicht nur allmählich ein. »Sie kommen hoch wie Luftblasen in Sirup«, sagt Lykken (1999). Doch langsamer denken heißt nicht unbedingt, weniger intelligent sein. Bei Tests, die den allgemeinen Wortschatz, Wissen und die Fähigkeit zur Integration von Informationen erfassen, schneiden Ältere im Allgemeinen gut ab (Craik 1986). Ältere Kanadier sind jüngeren bei Fragen wie »Welche Provinz hieß früher Neukaledonien?« durchaus überlegen. In vier Untersuchungen zeigten Erwachsene zwischen 50 und 80 die höchsten durchschnittlichen Leistungen bei den Kreuzworträtseln der New York Times (die Teilnehmer hatten 15 Minuten Zeit, um die Wörter einzutragen; . Abb. 4.32). Der deutsche Forscher Paul Baltes entwickelte zusammen mit seinen Kollegen (Baltes et al. 1993, 1994, 1999) »Weisheitstests«, mit denen spezielles Wissen über das Leben und die Urteilsfähigkeit erfasst werden, sowie die Fähigkeit, andere dabei zu beraten, wie man sich in komplexen

. Abb. 4.31. Querschnitt- versus Längsschnittstudien zur Intelligenz in verschiedenen Lebensaltern Hier wurde ein Bereich der verbalen Intelligenz (induktives Schlussfolgern) getestet. Die Querschnittmethode erbrachte Werte, die mit dem Alter abnahmen. Die Längsschnittmethode (bei der dieselben Menschen über Jahre hinweg immer wieder getestet werden) erbrachte einen leichten Anstieg der Werte im Erwachsenenalter. (Nach Schaie 1994)

»In der Jugend lernen wir, im Alter verstehen wir.« Marie von Ebner-Eschenbach (»Aphorismen«, 1883)

. Abb. 4.32. Je älter, desto wortgewaltiger In vier Studien, die von Salthouse (2004) zusammengefasst wurden, waren die älteren Kreuzworträtsellöser die besseren, wenn man ihnen 15 Minuten Zeit gab, das Kreuzworträtsel aus der »New York Times« zu lösen

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Kapitel 4 · Entwicklung

und schwierigen Lebenssituationen am besten verhalten sollte. Die Ergebnisse dieser Tests zeigen, dass die älteren Testpersonen bei solchen Fragen mehr als gut abschneiden. Deshalb werden in der Regel ältere Menschen zu Vorstandsvorsitzenden einer Firma, zu Universitätsrektoren oder zum Präsidenten eines Landes gewählt, obwohl die 30-Jährigen so smarte Schnelldenker sind. Alter bedeutet Weisheit. So sagte ein 60-Jähriger: »Vor 40 Jahren hatte ich ein großartiges Gedächtnis, doch ich war ein Narr.« ! Ob wir feststellen, dass die Intelligenz im Alter ab- oder zunimmt, hängt davon ab, welche Art von intellektueller Leistung wir messen.

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Kristalline Intelligenz (crystallized intelligence): gesammeltes Wissen und Ausdrucksfähigkeit eines Menschen. Diese Form der Intelligenz steigt im Alter tendenziell an. Fluide Intelligenz (fluid intelligence): Fähigkeit eines Menschen, schnell und abstrakt zu denken. Diese Fähigkeit nimmt tendenziell im späten Erwachsenenalter ab.

. Abb. 4.33. Höhepunkte und Tiefpunkte des Alterns Mit Hilfe einer Vielzahl von Messinstrumenten für die Verarbeitungskapazität (wie Verarbeitungsgeschwindigkeit, Arbeitsgedächtnis und Langzeitgedächtnis) und für das Wissen über die Welt (wie Wortschatz) zeigten Park et al. (2002) in konsistenter Weise, dass unsere Verarbeitungskapazität mit dem Alter abnimmt, unser Wortschatz und unser Allgemeinwissen jedoch zunehmen

Die kristalline Intelligenz, das gesammelte Wissen eines Menschen, das sich in Tests niederschlägt, die den Wortschatz und das Bilden von Analogien erfassen, nimmt im Alter zu, während die fluide Intelligenz, das rasche und abstrakte Denken beim Lösen unbekannter logischer Aufgaben etwa vom 75. Lebensjahr an allmählich, im weiteren Verlauf (etwa nach dem 85. Lebensjahr) dann schneller abnimmt (Cattell 1963; Horn 1982). Dieses Muster zeigt sich auch in den Intelligenzwerten einer Erwachsenenstichprobe: Nachdem man die Werte in Bezug auf Bildung vergleichbar gemacht hatte, blieben die Werte für verbale Intelligenz, die Ausdruck der kristallinen Intelligenz sind, vom 20. bis zum 74. Lebensjahr relativ stabil. Die nonverbale Intelligenz, die zur Lösung von Problemen benötigt wird, nahm dagegen ab. Daher konnten Park et al. (2002) bestätigen, dass wir mit dem Alter etwas verlieren und etwas hinzugewinnen (. Abb. 4.33). Wir verlieren in Bezug auf den Abruf aus dem Gedächtnis und in Bezug auf die Verarbeitungsgeschwindigkeit, aber wir gewinnen an Wortschatz und an Wissen hinzu. Diese kognitiven Unterschiede erklären, warum Mathematiker und Naturwissenschaftler ihre besten und kreativsten Ergebnisse Ende 20 und Anfang 30 erbringen, während in Literatur, Geschichte und Philosophie die Tendenz eher dahin geht, dass die besten Arbeiten aus der Zeit zwischen 40 und 60 stammen oder noch später entstehen, wenn noch mehr Wissen angesammelt wurde (Simonton 1988, 1990). Dichter, die sich auf ihre fluide Intelligenz verlassen, erreichen den Höhepunkt ihrer Schaffensperiode früher als Prosaschriftsteller, die einen größeren Vorrat an

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Wissen brauchen. Dieser Unterschied lässt sich in jeder großen literarischen Tradition nachweisen und gilt in gleichem Maße für lebende wie für tote Sprachen. Abschließend können wir also sagen, dass intellektuelle Leistung mit dem Alter entweder ansteigt oder abnimmt, je nachdem, was ein Test erfasst und wie er etwas erfasst.

4.4.3 Soziale Entwicklung Viele Unterschiede zwischen jüngeren und älteren Erwachsenen entstehen nicht durch die Veränderungen im körperlichen und kognitiven Bereich, die die Jahre mit sich bringen, sondern durch die Ereignisse, die das Leben im Zusammenhang mit Familienbeziehungen und Berufstätigkeit mit sich bringt (kritische Lebensereignisse, »life events«). Eine neue Arbeitsstelle bedeutet gleichzeitig neue Beziehungen, neue Erfahrungen und neue Anforderungen. Eine Heirat bringt das Glück der intimen Beziehung und gleichzeitig den Stress, der damit verbunden ist, das eigene Leben mit dem eines anderen Menschen zu einem gemeinsamen Leben zu verschmelzen. Die Geburt eines Kindes bringt eine neue Verantwortung und verändert den eigenen Standpunkt. Der Tod eines geliebten Menschen bedeutet, etwas Unersetzliches zu verlieren, verbunden mit der Notwendigkeit, das eigene Leben neu auszutarieren. Bilden diese normalen Ereignisse im Leben eines Erwachsenen eine vorhersagbare Abfolge von Veränderungen?

»Gerade in der Mitte unsrer Lebensreise befand ich mich in einem dunklen Walde, weil ich den rechten Weg verloren hatte.« Dante (»Die göttliche Komödie«, 1314)

Stufen und Phasen des Erwachsenenalters Ziel 29: Erklären Sie, warum der Entwicklungsweg eines Erwachsenen nicht eng mit seinem chronologischen Alter zusammenhängen muss.

Wenn Menschen 40 werden, so kommen sie ins mittlere Erwachsenenalter. In diesen Jahren wird einem klar, dass der größere Teil des Lebens nicht mehr vor, sondern bald hinter einem liegt. Manche Psychologen vertreten die Ansicht, dass dieser Übergang in der Mitte des Lebens eine kritische Zeit ist, eine Zeit, in der große Kämpfe ausgefochten werden, in der man vieles bedauert und manchmal sogar das Gefühl hat, vom Leben besiegt worden zu sein. Ein weit verbreitetes Bild der Midlifecrisis ist der Mann Anfang 40, der für eine jüngere Freundin und einen schnittigen Sportwagen seine Familie aufgibt. Doch die Fakten, die sich den Berichten einer großen Stichprobe entnehmen lassen, sehen anders aus: sich unglücklich fühlen, am Arbeitsplatz nicht zufrieden sein, nicht glücklich verheiratet sein, Scheidung, Angst und Selbstmord treten nicht Anfang 40 auf (Hunter u. Sundel 1989; Mroczek u. Kolarz 1998). Am häufigsten ist die Scheidung bei Menschen zwischen 20 und 30; Selbstmord wird am häufigsten von 70- bis 80-Jährigen verübt. Eine Untersuchung, in die fast 10.000 Männern und Frauen einbezogen waren, erbrachte »nicht den geringsten Hinweis« darauf, dass Kummer und Leid (»distress«) irgendwann in den mittleren Jahren besonders gravierend sind (. Abb. 4.34). Bei einem von vier Erwachsenen, die angeben, eine Lebenskrise durchzumachen, ist der Auslöser nicht das Alter, sondern ein wichtiges Ereignis wie Krankheit, Scheidung oder Verlust des Arbeitsplatzes (Lachman 2004). Noch ein weiterer Grund lässt Skeptiker die Theorie von altersbedingten Phasen in der Art der Midlifecrisis in Frage stellen: Die soziale Uhr, die kulturellen Vorgaben für »den richtigen Zeitpunkt« bestimmter einschneidender Veränderungen – das Elternhaus verlassen, eine Arbeit annehmen, heiraten, Kinder haben, in Ruhestand gehen – geht nicht in allen Kulturen im gleichen Takt und ändert sich auch von einer Generation zur anderen. In Jordanien sind 40% der Bräute Teenager, in Hongkong sind es nur 3% (UNO 1992). In Westeuropa bleiben nur wenige Männer über ihr 65. Lebensjahr hinaus erwerbstätig, gegenüber 16% in den USA und 69% in Mexiko (Davies et al. 1991). Und auch die einst rigide Vorgabe für westliche Frauen – Schülerin, Erwerbstätige, Hausfrau und Mutter, wieder Erwerbstätige – hat sich gelockert. Heute spielen die Frauen diese Rollen in jeder beliebigen Reihenfolge, manchmal auch alle gleichzeitig.

Soziale Uhr (social clock): die in einer Kultur vorgegebenen Zeiträume für bestimmte soziale Ereignisse wie Heirat, Elternschaft oder Ruhestand.

. Abb. 4.34. Midlifecrisis in den Vierzigern? Bei den 10.000 Teilnehmern an einer landesweiten Befragung zur Gesundheit ergab sich zu Beginn des 5. Lebensjahrzehnts kein Anstieg der Werte für emotionale Instabilität (»Neurotizismus«). (Aus McCrae u. Costa 1990)

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Kapitel 4 · Entwicklung

Lebensereignisse und Zufälle

Rob Lewine/Corbis

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Die soziale Uhr neu starten Früher sollte – gemäß der sozialen Uhr – der Universitätsabschluss etwa im 22. Lebensjahr erfolgen. Heute erwerben mehr Studenten anderer Altersgruppen einen akademischen Grad

Bei Frauen und Männern stehen Lebensereignise – Heirat, Elternschaft, Wechsel des Arbeitsplatzes, Scheidung, Auszug der Kinder, Umzug und Ruhestand – für Übergänge in neue Lebensphasen, ganz gleich, in welchem Alter man sie erlebt, und zunehmend häufiger geschehen sie zu unvorhergesehenen Zeitpunkten. Die soziale Uhr tickt zwar immer noch, aber die Menschen fühlen sich ihr nicht mehr unterworfen. Auch zufällige Ereignisse können dauerhafte Folgen haben, denn oft lassen sie uns von dem bereits eingeschlagenen Weg abweichen und einen anderen beschreiten (Bandura 1982). So verliebt man sich beispielsweise nicht selten infolge einer zufälligen Begegnung. Bandura (2004) erinnert sich an die witzige, aber wahre Geschichte von einem Verlagslektor, der zu einer seiner Vorlesungen über die »Psychologie der zufälligen Begegnungen und Lebenswege« kam und am Ende die Frau heiratete, die zufällig neben ihm saß. Nehmen wir einmal eine der Studien mit eineiigen Zwillingen und ihren Ehepartnern. Zwillinge, insbesondere eineiige Zwillinge, wählen oft sehr ähnliche Dinge: Freunde, Kleidungsstücke, Urlaubsort, Arbeitsplatz und so weiter. Wenn also Ihr eineiiger Zwilling sich mit jemandem verlobt, würden Sie dann nicht damit rechnen (da Sie beide sich in so vieler Hinsicht so ähnlich sind), dass Sie sich auch zu diesem Menschen hingezogen fühlen? Erstaunlicherweise berichten nur 50% der eineiigen Zwillinge, dass sie den Partner, den ihr Zwilling für sich ausgewählt hatte, wirklich mochten, und nur 5% sagten: »Ich hätte mich in den Partner meines Zwillings selbst verlieben können.« Lykken u. Tellegen (1993) vermuten, dass Sich-Verlieben so ähnlich ist wie die Prägung des Gänsekükens: Sind Sie nach Beendigung Ihrer Kindheit nur oft genug mit einem bestimmten Menschen zusammen, dann mag sich eine Bindung (eine Art Verzauberung) zu beinahe jedem zur Verfügung stehenden Menschen herausbilden, der in etwa einen annähernd ähnlichen Hintergrund hat, über eine gewisse Attraktivität verfügt und der Ihre Zuneigung erwidert.

Verpflichtungen des Erwachsenseins

»Die wichtigen Ereignisse im Leben eines Menschen sind das Ergebnis einer Verkettung höchst unwahrscheinlicher Vorkommnisse.« Joseph Traub (»Traub’s Law«, 2003)

Ziel 30: Erörtern Sie die Bedeutung von Liebe, Heirat und Kindern im Erwachsenenalter, und erläutern Sie, welchen Beitrag die eigene Arbeit zum Gefühl der Zufriedenheit mit der eigenen Person leistet.

»Man kann großartig auf dieser Welt leben, wenn man sich auf die Arbeit und auf die Liebe versteht.« Leo Tolstoi, 1856

Zwei grundlegende Aspekte beherrschen das Leben des erwachsenen Menschen. Erik Erikson nannte sie Intimität (enge Beziehungen eingehen) und Generativität (sich fortpflanzen und die neue Generation unterstützen). Auch andere Begriffe werden von den Wissenschaftlern verwendet: Zugehörigkeit und Leistung, Bindung und Produktivität, Verpflichtung und Kompetenz. Sigmund Freud (1935) drückte es sehr einfach aus. Er sagte: Der gesunde Erwachsene ist ein Mensch, der lieben und arbeiten kann.

Liebe Unabhängig von Zeit und Ort waren relativ monogame Paarbeziehungen fast immer Teil der verschiedenen Gesellschaftsformen. Es gibt Ausnahmen, aber in der Regel flirten wir, verlieben uns und gehen eine Verpflichtung gegenüber dem anderen ein, und zwar nur gegenüber einem Partner auf einmal. »Die Paarbindung ist ein Merkmal des menschlichen Wesens«, beobachtete die Anthropologin Helen Fisher (1993). Evolutionär gesehen ist das ein sinnvolles Arrangement: Eltern, die kooperierten, um ihre Kinder zur Reife zu bringen, konnten mit größerer Wahrscheinlichkeit ihre Gene an die Nachkommen weitergeben als Eltern, die das nicht taten. Die Liebe von Eltern für ein Kind tritt in Konkurrenz zur Paarbindung bei Erwachsenen und geht darüber hinaus. Bei der landesweiten Umfrage (Erickson u. Aird 2005) stimmten 93% der amerikanischen Mütter der folgenden Aussage zu: »Ich empfinde eine überwältigende Liebe gegenüber meinen Kindern; das ist anders als alles, was ich für sonst jemanden empfinde.« Viele Väter haben die gleichen Empfindungen. Wenige Wochen nach der Geburt meines ersten Kindes kam mir plötzlich die Erkenntnis: »Das war es also, was meine Eltern mir gegenüber empfanden!« ! Die Liebesbindung bei Erwachsenen ist am stabilsten und bringt die größte Befriedigung, wenn sie auf gleich gelagerten Interessen und ähnlichen Wertvorstellungen beruht, wenn emotionale und materielle Unterstützung von beiden getragen wird und wenn sich die Partner in einer intimen Beziehung einander öffnen.

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Die eheliche Bindung hält wahrscheinlich auch dann, wenn das Paar erst nach Erreichen des 20. Lebensjahres heiratet und beide Partner eine gute Bildung haben. Im Vergleich zur Situation vor 40 Jahren verfügen die Menschen in den westlichen Ländern heute über eine höhere Bildung und heiraten später. Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass sie sich dennoch doppelt so häufig scheiden lassen. Darin spiegelt sich zum Teil die heute geringeren ökonomischen Abhängigkeiten der Frauen, zum Teil auch die gestiegenen Erwartungen wider. Wir erhoffen uns heute nicht nur eine dauerhafte Bindung, sondern wir suchen auch nach einem Gefährten, der für das Einkommen sorgt, einem Versorger, einem echten Freund sowie einem warmherzigen und einfühlsamen Liebhaber. Urteilt man aufgrund der Scheidungszahlen – in den USA kommt heute eine Scheidung auf zwei Eheschließungen – ist die Ehe zu einer Verbindung geworden, die trotz beiderseitiger Bemühungen nicht selten scheitert (Bureau of the Census 2004). In Europa liegen die Scheidungsraten nur wenig niedriger; auch in Deutschland kamen laut Statistischem Bundesamt im Jahr 2006 auf rund 373 681 Eheschließungen über 190.928 Scheidungen. Bewirkt das »Zusammenleben auf Probe«, dass das Scheidungsrisiko geringer wird? In einer Gallup- Umfrage (2001) unter 20- bis 30-Jährigen vertraten 62% die Meinung, dass dies der Fall ist (Whitehead u. Popenoe 2001). Tatsächlich zeigten jedoch Untersuchungen, die in Europa, Kanada und den USA durchgeführt wurden, dass Paare, die vor der Heirat zusammen wohnten, höhere Scheidungsraten und mehr Eheprobleme hatten als die, die nicht zusammen gewohnt hatten (Dush et al. 2003; Popenoe u. Whitehead 2002). Das Risiko für eine schlechte Ehe scheint am höchsten für Paare zu sein, die vor der Verlobung zusammen wohnen (Kline et al. 2004). Personen, die zusammenleben, neigen dazu, sich dem Ideal der lebenslangen Ehe nicht von vornherein verpflichtet zu fühlen, und in der Zeit des Zusammenlebens verstärkt sich die Ablehnung der Ehe noch. In Deutschland sieht das etwas anders aus. Laut ALLBUS, der allgemeinen Bevölkerungsumfrage der Sozialwissenschaften, mit der regelmäßig repräsentative Daten über Einstellungen, Verhaltensweisen und Sozialstruktur der Bevölkerung in der Bundesrepublik Deutschland erhoben werden, hielten es im Jahr 2002 über 75% der gesamten deutschen Bevölkerung (und nicht nur die jungen Erwachsenen) für sinnvoll, dass ein Paar vor der Ehe zusammenlebt. Und mit einem neuen Ansatz zur Analyse des Scheidungsrisikos findet Esser (2002) keinen Einfluss des Zusammenlebens vor der Ehe auf die Scheidungsrate. Insgesamt kann das Zusammenleben als unverheiratetes Paar als Übergangsphase im Lebenslauf betrachtet werden, d. h. die nichteheliche Lebensgemeinschaft ist in Deutschland eine »normale« Lebensform, die immer bedeutsamer wird. Laut Angaben des Statistischen Bundesamts lebten 1996 noch 81% aller Familien in einer ehelichen Lebensgemeinschaft, 2006 waren es nur noch 74%. Die Ehe als Institution besteht jedoch weiter. Nach einem Bericht der Vereinten Nationen heiraten weltweit 9 von 10 heterosexuellen Erwachsenen (Lowy 2000). In westlichen Ländern gehen 75% der Geschiedenen eine neue Ehe ein, und ihre zweite Ehe ist tatsächlich so glücklich wie im Durchschnitt die erste Ehe (Vemer et al. 1989). Sie sind nicht allein. So zeigten Befragungen von mehr als 40.000 Amerikanern seit 1972, dass 40% der verheirateten Erwachsenen angaben, »sehr glücklich« zu sein, aber nur 23% der unverheirateten Erwachsenen. Auch lesbische Paare berichten von mehr Wohlbefinden als die, die allein leben (Wayment u. Peplau 1995). Die Ehe ist nicht nur ein Prädiktor für Glück, sondern auch für Gesundheit, sexuelle Befriedigung und Einkommen. Darüber hinaus ist in Stadtvierteln mit einem hohen Anteil an Ehen der Anteil an typischen sozialpathologischen Phänomenen wie Kriminalität, Delinquenz und emotionalen Störungen bei Kindern geringer (Myers u. Scanzoni 2005). Ehen, die Bestand haben, sind nicht immer konfliktfrei. Manche Paare streiten sich heftig, doch sie überschütten einander auch mit Zeichen der Zuneigung. Andere wiederum werden nie laut, loben einander aber auch nur selten und sind auch nicht zärtlich zueinander. Jeder dieser Stile kann sich als dauerhaft erweisen. John Gottman (1994) beobachtete die Interaktionen von 2000 Paaren und fand einen Indikator für eine erfolgreiche Ehe: Das Verhältnis zwischen positiven und negativen Interaktionen muss mindestens 5:1 betragen. In stabilen Ehen gibt es 5-mal mehr Gelegenheiten, einander anzulächeln, sich zu berühren, zu loben und miteinander zu lachen als Anlässe für Sarkasmus, Kritik und Kränkungen. Wenn Sie also eine Prognose darüber abgeben wollen, welches frisch verheiratete Paar zusammenbleiben wird, dann achten Sie weniger darauf, wie leidenschaftlich die beiden ineinander verliebt sind.

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4.4 · Erwachsenenalter

Liebe Intimität, Bindung, Verpflichtung – wie man die Liebe auch immer bezeichnen mag – trägt im Erwachsenenleben entscheidend zu Gesundheit und Glück bei

Was glauben Sie: Korreliert Ehe mit dem Gefühl des Glücks, weil aus der intimen Beziehung und der partnerschaftlichen Unterstützung ein Glücksgefühl entsteht oder weil es häufiger die glücklichen Menschen sind, die heiraten und verheiratet bleiben? Oder ist beides richtig?

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Kapitel 4 · Entwicklung

! Es sind die Paare, die sich damit zurückhalten, ihren Partner herabzusetzen, die das Ziel erreichen und zusammenbleiben.

Als Sie von zu Hause weggingen, litten da Ihre Eltern unter dem »Empty-Nest-Syndrom«, dem Gefühl von Trauer um den Verlust des Lebenszwecks und der Beziehung? Trauerten sie der Freude nach, die sie empfunden hatten, wenn sie samstags vor Sonnenaufgang die Ohren spitzten, um Sie heimkommen zu hören – eine Freude, die nun aus ihrem Leben verschwunden war? Oder entdeckten sie eine neue Freiheit, ein Gefühl der Entspannung und (falls sie noch verheiratet waren) eine neue Befriedigung in ihrer eigenen Beziehung?

Arbeit

Arbeitszufriedenheit und Lebenszufriedenheit Arbeit kann uns ein Gefühl von Identität und Kompetenz vermitteln, außerdem Möglichkeiten zur Selbstverwirklichung. Das erklärt vielleicht, warum eine interessante Tätigkeit, die Herausforderungen bietet, das Glücksgefühl verstärkt

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Für viele Erwachsene hängt die Antwort auf die Frage »Wer bist du?« unmittelbar mit der Frage »Was machst du?« zusammen. Hatte Freud Recht? Trägt Arbeit – und dazu gehört auch die Karriere im Beruf – zur Selbstverwirklichung und zur Zufriedenheit mit dem Leben bei? Forscher haben auch die Zufriedenheit mit den Beziehungen am Arbeitsplatz untersucht, indem sie die fast gleichgroße Anzahl von berufstätigen mit nicht berufstätigen nordamerikanischen Frauen verglichen. Baruch u. Barnett (1986) zogen aus den Untersuchungen, die sie im Wellesley College Center for Research on Women durchgeführt hatten, den Schluss, dass es nicht entscheidend ist, welche Rollen eine Frau übernimmt – bezahlte Tätigkeit, Ehefrau und/oder Mutter –, sondern dass allein die Qualität der Erfahrungen, die sie mit der jeweiligen Rolle macht, ausschlaggebend ist.

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Um das Krebsgeschwür der negativen Interaktionen gar nicht erst aufkommen zu lassen, lernen erfolgreiche Paare, fair zu streiten (die eigenen Gefühle in Worte fassen, ohne den Partner zu kränken) und Konflikte zu umschiffen mit Aussagen wie »Ich weiß, dass du nicht schuld bist« oder »Ich bin mal einen Moment still und höre dir zu.« Häufig entstehen aus einer Liebesbeziehung auch Kinder. Für die meisten Menschen ist diese auf einen längeren Zeitraum angelegte Veränderung ihrer Lebensumstände ein glückliches Ereignis. Doch kann es geschehen, dass die Zufriedenheit mit dem Eheleben abnimmt, wenn die Kinder allmählich Zeit, Geld und emotionale Energie absorbieren. Das gilt besonders für berufstätige Frauen, die traditionell die Last der Hausarbeit tragen, und zwar in größerem Maße, als sie erwartet hatten. Doch die Mühe, die es kostet, eine faire Partnerschaft zu entwickeln, kann einen doppelten Nutzen haben; denn sie sorgt für mehr Zufriedenheit in der Ehe, und das wiederum führt zu besseren Eltern-Kind-Beziehungen (Erel u. Burman 1995). Auch wenn aus einer Liebesbeziehung Kinder entstehen, verlassen Kinder irgendwann das Elternhaus. Ihr Fortgehen ist ein wichtiges Ereignis, und manchmal fällt die Trennung schwer. Doch landesweite Befragungen in den USA erbrachten, dass für die meisten das »leere Nest« ein glücklicher Ort ist (Adelmann et al. 1989; Glenn 1975). Im Vergleich zu Frauen in den mittleren Lebensjahren, deren Kinder noch zu Hause leben, berichten die Frauen, deren Kinder ausgezogen waren, dass sie glücklich sind und ihre Ehe mehr genießen. Viele Eltern erleben das, was die Soziologen White u. Edwards (1970) »zweite Flitterwochen« nennen, vor allem, wenn die Beziehung zu den Kindern weiterhin eng bleibt.

205 4.4 · Erwachsenenalter

4

Es ist für Frauen und Männer gleichermaßen schwierig, sich für einen Berufsweg zu entscheiden, besonders heute, wo das Arbeitsleben so starken Veränderungen unterworfen ist. In den ersten beiden College- oder Universitätsjahren können nur wenige Studenten vorhersagen, wo sie später arbeiten werden. Viele geben ihre anfänglichen Schwerpunktfächer auf, manche finden nach dem Studium keine Anstellung in dem Bereich, der direkt mit dem Studium zu tun hat, einige wechseln den Berufszweig noch einmal komplett (Rothstein 1980). Letztlich ist man glücklich, wenn man eine Arbeit hat, die den eigenen Interessen entspricht und einem das Gefühl gibt, etwas zu leisten und kompetent zu sein. Und im privaten Bereich gehört zum Glück und zu einem erfüllten Leben ein Partner, ein enger, verlässlicher und vertrauter Gefährte, der das Besondere an seiner Frau oder seinem Mann erkennt, und dazu gehören – für manche – Kinder, die man liebt und auf die man stolz ist.

Wohlbefinden über die Lebensspanne hinweg Ziel 31: Beschreiben Sie Entwicklungstrends in Bezug auf die Lebenszufriedenheit bei Menschen über die Lebensspanne hinweg.

Wir alle werden älter. In diesem Augenblick sind Sie so alt, wie Sie noch nie waren, und so jung, wie Sie nie wieder sein werden. Leben heißt älter werden. Das bedeutet, jeder hat etwas, auf das er mit Befriedigung oder mit Bedauern zurückschaut, und etwas, was man sich erhofft oder erträumt. Fragt man die Menschen, was sie anders machen würden, wenn sie ihr Leben noch einmal von vorn beginnen könnten, dann lautet die häufigste Antwort: »Meine Ausbildung hätte ich ernster nehmen und mehr dafür arbeiten sollen« (Kinnier u. Metha 1989). Wie werden Sie in 10 Jahren auf Ihr Leben zurückblicken? Treffen Sie jetzt Entscheidungen, an die Sie sich eines Tages zufrieden erinnern werden? Auch andere Äußerungen des Bedauerns – »Ich hätte meinem Vater sagen sollen, dass ich ihn lieb habe« oder »Es tut mir Leid, dass ich nie nach Europa gereist bin« – zielen weniger auf Fehler, die man vielleicht gemacht hat, sondern auf die Dinge, die man zu tun versäumt hat (Gilovich u. Medvec 1995). Vom frühen Erwachsenenalter an bis zur Lebensmitte machen die Menschen typischerweise Erfahrung mit einem gestärkten Gefühl der Identität, des Selbstvertrauens und des Selbstwertes (Miner-Rubino et al. 2004; Robins u. Trzesniewski 2005). Im späteren Leben werden die Herausforderungen größer: Das Einkommen schrumpft, die Arbeit wird einem häufig genommen, der Körper baut ab, das Gedächtnis wird schlechter, die Energie versickert, Familienmitglieder und Freunde sterben oder ziehen weg, und der Tod, der große Feind, rückt immer näher. So ist es nicht verwunderlich, dass viele glauben, die Jahre jenseits von 65 seien die schlimmsten (Freedman 1978). Doch das stimmt nicht, fand Inglehart (1990) in den 80er Jahren an repräsentativen Stichproben von fast 170.000 Menschen in 16 Ländern heraus. Ältere Menschen berichten von ebenso viel Glück und Zufriedenheit mit dem Leben wie jüngere (. Abb. 4.35). . Abb. 4.35. Alter und Zufriedenheit Wenn die jungen Erwachsenen ihre Pflichten erfüllt haben, haben viele von ihnen als Ältere mehr Zeit, um eigenen Interessen nachzugehen. Es ist daher nicht erstaunlich, dass die Zufriedenheit hoch bleibt und manchmal sogar steigt, wenn die Betreffenden gesund und aktiv sind. Die Graphik beruht auf multinationalen Befragungen und zeigt, dass die Altersunterschiede bei der Frage nach der Zufriedenheit sehr gering sind. (Daten aus Inglehart 1990)

206

Kapitel 4 · Entwicklung

. Abb. 4.36. Biopsychosoziale Einflüsse auf erfolgreiches Altern Zahlreiche biologische, psychologische und soziokulturelle Faktoren haben einen Einfluss auf die Art und Weise, wie wir altern. Ausgestattet mit den richtigen Genen haben wir eine gute Chance, erfolgreich zu altern, wenn wir uns eine positive Lebenseinstellung bewahren, geistig und körperlich aktiv bleiben und die Verbindung mit der Familie und mit den Freunden in der Nachbarschaft aufrechterhalten

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! Die positiven Gefühle nehmen nach der Mitte des Lebens zu, die negativen werden seltener (Charles et al. 2001; Mroczek 2001).

Ältere Erwachsene verwenden immer häufiger Wörter, die positive Emotionen vermitteln (Pennebaker u. Stone 2003). Sie richten ihre Aufmerksamkeit immer weniger auf negative Informationen. Sie nehmen z. B. langsamer als junge Erwachsene negative Gesichter wahr (Mather u. Carstensen 2003). Ihre Amygdala, ein Zentrum für die neuronale Verarbeitung von Emotionen, zeigt eine abnehmende Aktivität in Reaktion auf negative Ereignisse, während sie gleichzeitig ihre Reaktionsbereitschaft für positive Ereignisse aufrechterhält (Mather et al. 2004). Außerdem schwächen sich die schlechten Gefühle, die wir mit negativen Ereignissen verbinden, schneller ab, als dies bei den guten Gefühlen, die wir mit positiven Ereignissen verbinden, der Fall ist (Walker et al. 2003). Bei den meisten älteren Menschen trägt dies zu einem Gefühl bei, dass das Leben alles in allem meist gut war. Dies hat etwas Tröstliches angesichts der Tatsache, dass Älterwerden etwas ist, was sich aus dem Leben zwangsläufig ergibt (etwas, was fast jedem Menschen lieber ist als ein früher Tod) (. Abb. 4.36). Das erstaunlich gleichbleibende Wohlbefinden über das ganze Leben hinweg überschatten jedoch einige interessante Befunde zu altersbezogenen Unterschieden im Bereich Emotionen. Mit den Jahren werden die Gefühle reifer (Costa et al. 1987; Diener et al. 1986). Hochstimmung ist nicht mehr so hoch, schlechte Stimmung nicht mehr so schlecht. Und obwohl sich das durchschnittliche Gefühlsniveau mit dem Alter nicht sehr verändert, sind wir doch nicht mehr so oft aufgeregt, wir bersten nicht mehr vor Stolz und fühlen uns auch nicht mehr auf dem Gipfel. Wir verfallen aber auch seltener in Depressionen. Auf Komplimente reagieren wir mit mehr Gelassenheit, und Kritik stürzt uns nicht mehr in Verzweiflung, denn beides ist nur noch eine weitere Rückmeldung und kommt auf den Haufen von Lob und Tadel, den wir angesammelt haben. Csikszentmihalyi u. Larson (1984) legten eine »emotionale Landkarte« an, indem sie ihre Versuchsteilnehmer mit einem elektronischen Piepser in regelmäßigen Abständen anpiepsten und um einen Bericht über ihre augenblickliche Beschäftigung und ihre Gefühlslage baten. Sie fanden, dass Teenager typischerweise immer gerade von einer Hochstimmung herunter oder aus einem Tief herauskamen, und das in weniger als einer Stunde. Bei Erwachsenen ist die Stimmungslage weniger von Extremen geprägt und dafür stabiler. Den meisten Menschen bringt das Alter zwar weniger heftige Freude, dafür aber mehr Zufriedenheit und mehr Besinnung auf innere Werte, vor allem den Menschen, die sich so-

207 4.4 · Erwachsenenalter

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zial engagieren (Harlow u. Cantor 1996; Wink u. Dillon 2002). Im Alter gleicht das Leben weniger einer emotionalen Achterbahn und mehr einer friedlichen Bootsfahrt.

Sterben und Tod

Die meisten Menschen leiden unter dem Tod von Verwandten und Freunden und müssen damit fertig werden. Die schwerste Trennung ist normalerweise die vom Ehepartner, ein Verlust, den 5-mal mehr Frauen erleiden als Männer. Wenn der Tod wie normalerweise zu einem erwarteten Zeitpunkt spät im Leben eintritt, kann die Trauer etwas relativ Kurzlebiges sein (. Abb. 4.37 zeigt die typischen Emotionen vor und nach dem Tod eines Ehepartners). Die Trauer ist besonders groß, wenn der Tod eines geliebten Menschen plötzlich eintritt, ehe man ihn nach der sozialen Uhr erwarten konnte. Der Unfalltod eines Kindes oder eine plötzliche Krankheit, die einem den 45-jährigen Partner nimmt, kann ein Jahr der Trauer auslösen, in dem man von Erinnerungen überschwemmt wird, und kann sogar zu einer Depression führen, die manchmal mehrere Jahre lang anhält (Lehman et al. 1987). Für einige Menschen ist der Verlust unerträglich. Bei einer Studie, in die mehr als 1 Mio. Dänen während der zweiten Hälfte des 20. Jahrhundert einbezogen waren, fand man heraus, dass mehr als 17.000 Menschen unter dem Tod eines Kindes gelitten hatten, das jünger als 18 Jahre alt war. In den 5 Jahren nach diesem Todesfall war der Prozentsatz des ersten Aufenthalts in einer psychiatrischen Klinik mit 3% 67% höher als der Prozentsatz, der für Eltern berichtet wurde, die kein Kind verloren hatten (Li et al. 2005). AIDS, eine Krankheit, die so oft Menschen in der Mitte ihres Leben und jünger trifft, ließ zahllose trauernde Partner zurück, die einen schmerzlichen Verlust erlebten, und Millionen von Waisenkindern. 2004 ließ die Krankheit mehr als 3 Mio. Menschen weltweit sterben (UNAIDS 2005). Im Afrika südlich der Sahara, in dem 10% der Weltbevölkerung und 60% der Menschen mit HIV wohnen, brauchen die sich daraus ergebenden Todesfälle und die Behandlungserfordernisse die sozialen Ressourcen auf. In neun afrikanischen Ländern sank die Lebenserwartung zum Zeitpunkt der Geburt unter 40 Jahre (UNAIDS 2004). Die normale Bandbreite der Reaktionen auf den Tod eines geliebten Menschen ist breiter, als man annehmen sollte. In manchen Kulturen wird Weinen und Klagen in der Öffentlichkeit gut geheißen, andere Kulturen trauern im Verborgenen. Innerhalb einer Kultur trauern manche Menschen offener und heftiger als andere. Doch im Gegensatz zu allgemein verbreiteten Fehlannahmen lässt sich Folgendes feststellen: 4 Diejenigen, die ihre Trauer sehr stark und unmittelbar ausdrücken, werden nicht schneller damit fertig (Bonanno u. Kaltman 1999; Wortman u. Silver 1989). 4 Bei den meisten Menschen tragen eine Therapie für Trauerfälle und Selbsthilfegruppen wenig dazu bei, die heilende Kraft der Zeit und unterstützender Freunde noch wirksamer werden zu

»Das Beste daran, 100 Jahre alt zu sein, ist, dass es keinen Druck von Seiten der Gleichaltrigen gibt.« Lewis W. Kuester, als er 100 wurde

Joel Stettenheim/Corbis

Ziel 32: Beschreiben Sie die Bandbreite der Reaktionen auf den Tod eines geliebten Menschen.

Der Tod kommt zu früh für zu viele im vom AIDS geplagten Afrika

»Geh nicht sanft in jene dunkle Nacht, das Alter sollte brennen und toben am Ende des Tages; wüte, wüte gegen das Sterben des Lichtes.« Dylan Thomas (»Do not go gentle into that good night«, Gedicht, das er für seinen Vater schrieb, als dieser friedlich im Sterben lag)

. Abb. 4.37. Zufriedenheit mit dem Leben in Abhängigkeit vom Tod des Ehegatten: vorher, im Todesjahr und danach Lucas et al. (2003) werteten eine in jährlichem Abstand durchgeführte Längsschnittumfrage von über 30. 000 Deutschen aus. Die Wissenschaftler stießen auf 513 Paare, bei denen ein Ehepartner gestorben war und der verbliebene Partner nicht wieder geheiratet hatte. Sie fanden, dass die Zufriedenheit im Jahr vor der Verwitwung leicht und im Todesjahr deutlich absank. Danach kam es manchmal zu einem erneuten Anstieg bis fast zum Ausgangsniveau. (Quelle: Richard Lucas)

208

Kapitel 4 · Entwicklung

lassen. Trauernde, hinterbliebene Ehepartner, die häufig mit anderen sprechen oder die in einer Beratung für Trauernde sind, werden mit dem Tod des Partners nicht besser fertig als die, die eher für sich allein trauern (Bonanno 2001, 2004; Genevro 2003; Stroebe et al. 2001, 2002, 2005). Wenn man auch noch so viel miteinander spricht, so kann dies das Gefühl, allein und von einem geliebten Menschen getrennt zu sein, nicht zum Verschwinden bringen. 4 Todkranke und Hinterbliebene durchlaufen keine vorhersagbaren Phasen wie etwa Verleugnung, Wut etc. (Nolen-Hoeksma u. Larson 1999). Ein vergleichbarer Verlust bewirkt keine vergleichbare Reaktion: Manche Menschen trauern lange und heftig, andere kürzer und weniger heftig.

4

»Bedenke, Freund, der du hier stehst: Wie du jetzt bist, so war auch ich, wie ich jetzt bin, so wirst du sein. Bereite dich vor, du wirst mir folgen.« Grabinschrift auf einem schottischen Grabstein

Wir haben allen Grund, dankbar dafür zu sein, dass sich die Einstellung gegenüber dem Tod allmählich verändert: Der Tod wird nicht mehr verleugnet. Dem Tod würdevoll und offen zu begegnen, hilft dem Menschen, seinen Lebenszyklus mit dem Gefühl zu vollenden, dass es ein einmaliges und sinnvolles Leben war. Es war gut, dass er gelebt hat, und es ist gut zu verstehen, dass Leben und Tod Teil eines nicht endenden Kreislaufes sind. Der Tod ist zwar oft nicht willkommen, doch im Augenblick des Todes findet das Leben seine Bestätigung. Das gilt insbesondere für die Menschen, die nicht voll Verzweiflung auf ihr Leben zurückblicken, sondern, wie Erikson sagt, mit einem Gefühl, dass alles zusammen gehört und dass das eigene Leben einen Sinn hatte und wert war, gelebt zu werden.

Lernziele Abschnitt 4.4 Erwachsenenalter Ziel 25: Nennen Sie die wichtigsten körperlichen Veränderungen, zu denen es im mittleren Erwachsenenalter kommt. Muskelkraft, Reaktionszeit, sensorische Fähigkeiten und Herzleistung beginnen Ende 20 schlechter zu werden. Um die 50 Jahre beendet die Menopause bei den Frauen die Phase der Fruchtbarkeit, doch sie können weiterhin ein befriedigendes Sexualleben haben. Die meisten Frauen leiden während der Menopause nicht unter einer Depression oder unter anderen psychischen Problemen. Männer sind nicht einer ähnlich schroffen Veränderung ihres Hormonspiegels oder ihrer Fruchtbarkeit ausgesetzt. Ziel 26: Vergleichen Sie die Lebenserwartung Mitte des 20. Jahrhundert mit der Anfang des 21. Jahrhundert, und erörtern Sie die Veränderungen bei älteren Erwachsenen in Bezug auf die sensorischen Fähigkeiten und die Gesundheit (einschließlich der Häufigkeit von Demenz). Weltweit ist die Lebenserwartung von 49 Jahren Mitte des 20. Jahrhunderts auf 67 Jahre zu Beginn des 21. Jahrhunderts angestiegen; und in einigen entwickelten Ländern ist sie höher als 80 Jahre. Frauen leben länger als Männer, und in den meisten Altersgruppen nach der frühen Säuglingszeit gibt es mehr weibliche als männliche Wesen. Im späten Erwachsenenalter, vor allem nach dem Alter von 70 Jahren werden die Entfernungswahrnehmung und der Geruchssinn schlechter, wie dies auch für die Muskelkraft, die Reaktionszeit und die Ausdauer der Fall ist. In dem Maße, in dem das Immunsystem des Körpers schwächer wird, werden ältere Menschen auch anfällig für lebensbedrohliche Krankheiten wie Krebs und Lungenentzündung; doch kurz andauernde Leiden werden seltener. Die neuronalen Prozesse werden, vor allem bei komplexen Aufgaben, langsamer, und etwa mit 80 Jahren schrumpft das Gehirn um 5%. Körperliche Aktivität kann zur Entwicklung einiger neuer Hirnzellen und -verbindungen anregen. Mit dem Alter nimmt die De-

menzhäufigkeit zu – einschließlich der fortschreitenden Verschlechterung durch die Alzheimer-Krankheit –, von Anfang 60 an mit einer Verdopplung der Rate alle 5 Jahre. Demenz ist kein normaler Bestandteil des Alterungsprozesses. Ziel 27: Geben Sie ein Urteil darüber ab, welchen Einfluss das Altern auf den Abruf von Informationen aus dem Gedächtnis und auf das Wiedererkennen hat. Die Fähigkeit, neue Informationen aus dem Gedächtnis abzurufen, nimmt im frühen und mittleren Erwachsenenalter ab, doch bezogen auf die Fähigkeit, solche Informationen zu erkennen, ist dies nicht der Fall. Ältere Erwachsene erkennen bedeutsame Informationen leichter als bedeutungslose Informationen, aber es kann bei ihnen länger dauern, die Wörter hervorzubringen, die beschreiben, was sie wissen. Das prospektive Gedächtnis (»Denk daran, dass …«) bleibt weiterhin gut, wenn Hinweisreize zur Verfügung stehen, doch ohne Erinnerungshilfen, sind an Termine gebundene und gewohnheitsmäßige Aufgaben anfällig für Gedächtnisausfälle. Ziel 28: Fassen Sie zusammen, welchen Beitrag Querschnitt- und Längsschnittuntersuchungen zum Verständnis der normalen Auswirkungen des Alterns auf die Intelligenz eines Erwachsenen leisten. Querschnittstudien (Vergleich von Menschen unterschiedlichen Alters) deuten darauf hin, dass die Intelligenz nach dem frühen Erwachsenenalter gleichmäßig abnimmt. Doch bei diesen Forschungsarbeiten wurden die Generationsunterschiede in Bezug auf Bildung und andere Lebenserfahrungen nicht berücksichtigt. Längsschnittstudien (häufiger wiederholte Testung derselben Personen über einen längeren Zeitraum hinweg) geben Hinweise darauf, dass die Intelligenz bis zu einem sehr späten Zeitpunkt im Leben stabil ist. Doch ein Problem der Längs6

209 4.5 · Zwei wichtige Themen der Entwicklungspsychologie

schnittuntersuchungen bestand darin, dass sie Personen nicht berücksichtigen konnten, die durch die Studien nicht mehr erfasst wurden, die vielleicht weniger intelligent waren oder in einer ärmeren Umgebung lebten als die Überlebenden; dadurch blieb im späten Lebensalter eine Gruppe von Teilnehmern übrig, die über dem Durchschnitt lag. Die heutige Auffassung ist, dass die fluide Intelligenz (Fähigkeit, schnelle und abstrakte Schlussfolgerungen zu ziehen) nachlässt und die kristalline Intelligenz (angehäuftes Wissen und damit verbundene Fertigkeiten) stabil ist. Ziel 29: Erklären Sie, warum der Entwicklungsweg eines Erwachsenen nicht eng mit seinem chronologischen Alter zusammenhängen muss. Psychologen haben ihre Zweifel, dass Erwachsene eine geordnete Abfolge altersabhängiger Stufen durchlaufen, von denen einige mit einer Zeit der Krise einhergehen, wie etwa der Midlifecrisis Anfang 40. Lebenskrisen werden gewöhnlich durch wichtige Ereignisse (wie eine Scheidung) oder durch zufällige Vorkommnisse (wie eine Begegnung mit dem künftigen Partner) ausgelöst und weniger durch vorhersagbare Stufen. Durch Stufen definierte Krisen setzen auch eine rigide zeitliche Abfolge sozialer Ereignisse voraus; und die Forschung zeigt, dass die soziale Uhr (kulturell festgelegte Vorschriften in Bezug auf den »richtigen Zeitpunkt« für solche Ereignisse) von einem Ort zum anderen und von einem Zeitpunkt zum anderen variiert. Ziel 30: Erörtern Sie die Bedeutung von Liebe, Heirat und Kindern im Erwachsenenalter, und erläutern Sie, welchen Beitrag die eigene Arbeit zum Gefühl der Zufriedenheit mit der eigenen Person leistet. Liebe und Arbeit sind die Themen, die das Erwachsenenleben bestimmen. Evolutionspsychologen sind der Auffassung, dass die Festlegung auf einen Partner für unsere Vorfahren einen Wert für das Überleben hatte. Denn die Eltern, die zusammenblieben, zusammenwirkten und Kinder bis zum Alter der Fortpflanzungsfähigkeit großzogen, hatten eine größere Chance, ihre Gene an die Nachwelt weiterzugeben. Die Wahrscheinlichkeit einer Scheidung hat sich über die letzten 40 Jahre hinweg verdoppelt, teilweise weil die wirtschaftliche Unabhängigkeit der Frauen

4.5

zugenommen hat und teilweise weil die Erwartungen von Frauen und Männern an akzeptable Eigenschaften eines Lebenspartners gestiegen sind. Zusammenleben vor der Heirat korreliert in US-amerikanischen Studien mit höheren Scheidungsraten und mehr Eheproblemen. Die meisten Menschen gehen immer noch davon aus, dass sie einmal heiraten werden, und diejenigen, die es tun, sind gewöhnlich glücklicher als ihre unverheirateten Pendants. Die Geburt eines Kindes ist normalerweise ein willkommenes Ereignis, aber es kann die materiellen und emotionalen Ressourcen eines Paares erschöpfen. Seinen beruflichen Weg zu finden, ist schwierig und erfordert Zeit, aber eine befriedigende Arbeit (die zu den eigenen Interessen passt und der Person ein Gefühl der Kompetenz und der Leistungsfähigkeit vermittelt) korreliert auch mit Lebenszufriedenheit. Ziel 31: Beschreiben Sie Entwicklungstrends in Bezug auf die Lebenszufriedenheit bei Menschen über die Lebensspanne hinweg. Das Wohlbefinden und das Gefühl der Zufriedenheit ist bei den Menschen über die Lebensspanne hinweg stabil. Wie Untersuchungen zeigen, sind, wenn wir älter werden, die Höhepunkte weniger großartig und die Tiefpunkte weniger niederschmetternd; doch das Durchschnittsniveau der Zufriedenheit bleibt gleich. Ziel 32: Beschreiben Sie die Bandbreite der Reaktionen auf den Tod eines geliebten Menschen. Es gibt keine »normale« Reaktion oder Abfolge von Trauerstufen nach dem Tod eines geliebten Menschen. Die Trauer ist am schlimmsten, wenn der Tod plötzlich oder vor dem erwarteten Zeitpunkt eintritt, wie etwa beim Tod eines Kindes. Menschen, die im hohen Alter ein Gefühl der Integrität (um Eriksons Ausdruck zu verwenden) erreichen, treten vielleicht dem Tod entgegen, indem sie sich selbst versichern, dass ihr eigenes Leben einen Sinn hatte und lebenswert war. > Denken Sie weiter: Wenn Sie sich an die letzten 4 Jahre erinnern – falls Sie zu den jungen Erwachsenen gehören, waren es vermutlich Jahre, die Sie geformt haben –, was tut Ihnen am meisten Leid? Was war in dieser Zeit am besten für Sie?

Zwei wichtige Themen der Entwicklungspsychologie

Ziel 33: Fassen Sie die aktuellen Auffassungen von der Kontinuität im Gegensatz zu Stufen und von der Stabilität im Gegensatz zu Veränderung während der lebenslangen Entwicklung zusammen.

Zu Beginn dieses Überblicks über die Entwicklungspsychologie stießen wir auf drei immer wiederkehrende Themen: 1. Auf welche Weise steuern die Gene die Entwicklung, und welchen Beitrag dazu leisten die Erfahrungen? 2. Erfolgt der Entwicklungsverlauf allmählich und als kontinuierlicher Prozess oder lassen sich in diesem Prozess einzelne Entwicklungsstufen unterscheiden? 3. Bedeutet Entwicklung, dass sich der Mensch im Laufe seines Lebens verändert, oder bleibt er sich gleich? In 7 Kapitel 3 haben wir uns mit dem ersten Thema beschäftigt; hier wollen wir das zweite und das dritte Thema erörtern.

4

210

Kapitel 4 · Entwicklung

4.5.1 Kontinuierliche und stufenweise Entwicklung

4

Erwachsene und Kinder unterscheiden sich sehr voneinander. Aber: Unterscheiden sie sich auf die gleiche Weise, wie die alte Eiche sich vom Eichenschößling unterscheidet – ein Unterschied, der auf allmählichem Wachstum beruht? Oder lässt sich der Unterschied zwischen Erwachsenen und Kindern eher mit dem zwischen Raupe und Schmetterling vergleichen? Durchlaufen wir in unserer Entwicklung verschiedene Stadien? Grob gesehen gibt es zwei Richtungen in der Entwicklungspsychologie: Die Wissenschaftler, die den Akzent auf Lernen und Erfahrung legen, sehen Entwicklung als langsamen, kontinuierlichen Prozess der Ausformung. Steht aber die biologische Reifung im Vordergrund, dann wird Entwicklung als eine Abfolge durch genetische Prädispositionen festgelegter Stufen oder Schritte gesehen; die Stufen können schnell oder langsam durchlaufen werden, doch die Reihenfolge ist für alle Menschen die gleiche. Gibt es in der psychischen Entwicklung diese scharf voneinander abgegrenzten Stadien, die wir aus der körperlichen Entwicklung kennen, bei der jedes Kind erst krabbelt, ehe es zu laufen beginnt? Wir haben Jean Piaget und seine Theorie von den Stadien der kognitiven Entwicklung kennen gelernt, desgleichen die Stufen der moralischen Entwicklung, die Lawrence Kohlberg definierte, und nicht zuletzt die von Erik Erikson beschriebenen Stufen der psychosozialen Entwicklung. Kleine Kinder verfügen bereits über manche Fähigkeiten, die Piaget erst für spätere Stadien postulierte. Kohlbergs Stufenmodell hatte anscheinend den gebildeten Mann im Blick, der einer individualistischen Kultur angehört, und legte deshalb den Akzent zu sehr auf das Denken, während das Handeln eine geringere Rolle spielt. Das Leben des erwachsenen Menschen verläuft nicht in festen, vorhersagbaren Schritten, wie es sich Erikson vorgestellt hatte. Zwar meldet die Forschung Zweifel an der Vorstellung an, dass das Leben in klar definierten, altersbedingten Stufen abläuft, doch kann das Stufenkonzept auch weiterhin nützlich sein. In Kindheit und Jugend durchläuft das Gehirn des Menschen Phasen raschen Wachstums, die in etwa den Stadien von Piagets Modell entsprechen (Thatcher et al. 1987). Auch bringen die Stufentheorien eine Entwicklungsperspektive in den Lebenszyklus, denn sie zeigen auf, wo die Unterschiede im Denken und Handeln von Menschen unterschiedlichen Alters liegen.

4.5.2 Stabilität und Veränderung Dieser Gedanke bringt uns zu unserer abschließenden Frage: Bleibt die Persönlichkeit eines Menschen über die Zeit hinweg konstant oder verändert sie sich? Wenn Sie einen alten Schulfreund wieder treffen, den Sie seit der Schulzeit nicht gesehen haben, erkennen Sie dann sofort den »guten alten Peter« wieder? Oder ist der Mensch, den Sie heute treffen, nicht mehr derselbe wie damals? Wissenschaftler haben Lebensläufe über die Zeit hinweg verfolgt und fanden, dass beides richtig ist: Es gibt eine Kontinuität der Persönlichkeit, aber das Leben ist gleichzeitig auch ein Prozess des Werdens (ein Hoffnungsschimmer für Kinder und Jugendliche mit Problemen). Die Kämpfe der Gegenwart können vielleicht das Fundament für eine glücklichere Zukunft sein. Genauer gesagt, stimmen Forscher in folgenden Punkten überein: 1. Die ersten beiden Lebensjahre liefern nur eine schmale Ausgangsbasis, anhand derer sich evtl. die Persönlichkeitsmerkmale eines Menschen vorhersagen lassen (Kagan et al. 1978, 1998). Ältere Kinder und Jugendliche verändern sich. Obwohl straffällig gewordene Kinder erhöhte Raten bei Problemen mit Arbeit, Substanzmissbrauch und Kriminalität aufweisen, sind doch aus vielen Kindern mit Störungen, die falsche Wege eingeschlagen haben, letztlich reife und erfolgreiche Erwachsene geworden (Moffit et al. 2002; Roberts et al. 2001; Thomas u. Chess 1986). Mit zunehmendem Alter stabilisiert sich die Persönlichkeit jedoch allmählich (Johnson et al. 2005; Vaidya et al. 2002). 2. Manche Merkmale wie beispielsweise das Temperament erweisen sich als stabiler als andere, z. B. soziale Einstellungen (Moss u. Susman 1980). Als ein Forschungsteam, das von Caspi (2003) geleitet wurde, 1000 Neuseeländer zwischen 3 und 26 Jahren untersuchte, war man

211 4.5 · Zwei wichtige Themen der Entwicklungspsychologie

überrascht, wie konsistent Temperament und Emotionalität über die Zeit hinweg bleiben. Doch auch die Einstellungen werden mit zunehmendem Alter dauerhafter (Krosnick u. Alwin 1989). Bei den meisten Menschen ist auch das Lebensziel (etwa ob man auf Status, Spaß oder enge Beziehungen aus ist) recht stabil (Roberts et al. 2004). 3. In gewisser Weise verändert sich jeder Mensch mit zunehmendem Alter. Die meisten schüchternen, ängstlichen Kleinkinder beginnen mit 4 Jahren, offener zu werden, und die meisten Menschen werden in den Jahren nach der Adoleszenz ruhiger und zeigen mehr Selbstdisziplin, sie werden liebenswürdig und selbstsicher (McCrae u. Costa 1994; Roberts et al. 2003). Die Gewissenhaftigkeit nimmt vor allem in den Zwanzigern zu und die Verträglichkeit in den Dreißigern (Srivastava et al. 2003). So mancher 20-jährige Träumer reifte zum verantwortungsbewussten Leiter eines Geschäfts oder einer kulturellen Institution heran. Solche Veränderungen können eintreten, ohne dass sich die Position im Verhältnis zu den Gleichaltrigen ändert: Der ehrgeizige junge Erwachsene mag wohl im späteren Leben etwas weicher werden, doch wird er im Vergleich zu anderen immer noch ehrgeizig sein.

»Ich würde sagen, der Vorteil um die 70 ist es, dass man das Leben ruhiger nimmt. Man weiß, dass auch das ›vorübergehen wird‹!« Eleanor Roosevelt, 1954

Letztlich sollten wir uns daran erinnern, dass wir im Leben beides brauchen: Stabilität und Veränderung. Stabilität macht es möglich, sich auf andere Menschen zu verlassen, sie vermittelt uns Identität und ist das Motiv für die Mühe, die wir in die gesunde Entwicklung von Kindern investieren. Veränderung treibt uns, uns dafür zu interessieren, welchen aktuellen Einflüssen wir ausgesetzt sind; Veränderung lässt uns auf eine bessere Zukunft hoffen und gibt uns die Möglichkeit, uns anzupassen und durch Erfahrungen zu wachsen. Lernziele Abschnitt 4.5 Zwei wichtige Themen der Entwicklungspsychologie Ziel 33: Fassen Sie die aktuellen Auffassungen von der Kontinuität im Gegensatz zu Stufen und von der Stabilität im Gegensatz zu Veränderung während der lebenslangen Entwicklung zusammen. Die Forscher, die die Entwicklung als einen langsamen kontinuierlichen Prozess ansehen, sind i. Allg. auch die, die Erfahrung und Lernen betonen. Forscher, die die biologische Reifung hervorheben, verstehen die Entwicklung als eine Abfolge von Schritten, die durch genetische Prädispositionen festgelegt sind. Die Stadientheorien von Piaget (kognitive Entwicklung) sowie die Stufentheorien von Kohlberg (moralische Entwicklung) und von Erikson (psychosoziale Entwicklung) wurden in der späteren Forschung modifiziert, aber alle drei Theorien haben die Psychologie insofern bereichert, als sie uns auf die Aspekte aufmerksam machten, in denen sich Menschen zu verschiedenen Zeitpunkten der Lebensspanne unterscheiden. Die Forschung zeigt auch, dass die lebenslange Entwicklung sowohl durch Stabilität als auch durch Verände-

rung geprägt ist. Die Persönlichkeit wird in dem Maße, in dem Menschen älter werden, allmählich stabiler; aber aus den Persönlichkeitsmerkmalen eines Kleinkinds lassen sich nicht unbedingt die eines Erwachsenen vorhersagen. Ältere Kinder und Erwachsene verändern sich nämlich auch noch. Einige Persönlichkeitsmerkmale wie das Temperament sind stabiler als andere. Wenn man älter wird, verändert man sich möglicherweise in Beziehung zu seinem früheren Selbst, während man gleichzeitig seine charakteristischen Merkmale im Vergleich mit den Altersgenossen beibehält. > Denken Sie weiter: Sind Sie noch derselbe Mensch, der Sie als Kindergartenkind, als 10-jähriges Kind oder als 15-jähriger Jugendlicher waren? Wie unterscheiden Sie sich im Vergleich zu früher? Worin sind Sie sich gleich geblieben?

Prüfen Sie Ihr Wissen 1. Ihre Freundin – eine starke Raucherin – hofft, schon bald schwanger zu werden und hat mit dem Rauchen aufgehört. Warum ist das eine gute Idee? Welche negativen Auswirkungen hat das Rauchen während der Schwangerschaft auf den Fötus? 2. Erklären Sie mit Hilfe von Piagets ersten drei Stadien der kognitiven Entwicklung, warum kleine Kinder in der Art und Weise wie sie denken, nicht einfach Miniaturausgaben von Erwachsenen sind. 3. Wie hat sich der Übergang von der Kindheit ins Erwachsenenalter in den westlichen Kulturen während der letzten 100 Jahre verändert? 4. Die Forschung zeigt, dass sich – zumindest in den USA – aus dem Zusammenleben vor der Heirat eine erhöhte Wahrscheinlichkeit für eine künftige Scheidung vorhersagen lässt. Können Sie sich vorstellen, welche beiden möglichen Erklärungen es für diesen korrelativen Befund gibt? 5. Welche Befunde der Psychologie stützen die Stufentheorie der Entwicklung und den Gedanken von der Stabilität einer Persönlichkeit über die Lebensspanne hinweg? Welche Befunde sprechen gegen diese Vorstellung?

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Kapitel 4 · Entwicklung

LDeutsche Literatur zum Thema Fend, H. (2003). Entwicklungspsychologie des Jugendalters. Ein Lehrbuch für psychologische und pädagogische Berufe. Opladen: Leske & Budrich. Lehr, U. (2006). Psychologie des Alterns. Wiesbaden: Quelle & Meyer. Oerter, R. & Montada, L. (2007). Entwicklungspsychologie. Ein Lehrbuch, 5. Aufl. Weinheim: Beltz. Petermann, F., Niebank, K. & Scheithauer, H. (2004). Entwicklungswissenschaft. Entwicklungspsychologie – Genetik – Neuropsychologie. Heidelberg: Springer. Siegler, R., DeLoache, J. & Eisenberg, N. (2005). Entwicklungspsychologie im Kindes- und Jugendalter. Heidelberg: Spektrum. Thomas, R. M. & Feldmann, B. (2002). Die Entwicklung des Kindes. Weinheim: Beltz. Trautner, H. M. (2003). Allgemeine Entwicklungspsychologie, 2. Aufl. Stuttgart: Kohlhammer.

4

5 Wahrnehmung: Sinnesorgane 5.1

Grundprinzipien sensorischer Wahrnehmung – 215

5.1.1 Schwellen – 216 5.1.2 Sensorische Adaptation

– 219

5.2

Sehen – 221

5.2.1 5.2.2 5.2.3 5.2.4

Reizinput Lichtenergie – 222 Auge – 223 Visuelle Informationsverarbeitung – 227 Farbensehen – 231

5.3

Hören

– 235

5.3.1 Reizinput Schallwellen – 236 5.3.2 Ohr – 237 5.3.3 Schwerhörigkeit und Gehörlosenkultur – 240

5.4

Andere wichtige Sinne – 245

5.4.1 5.4.2 5.4.3 5.4.4

Tastsinn – 245 Geschmackssinn – 250 Geruchssinn – 251 Lage und Bewegung des Körpers im Raum – 254

Andere Kulturen, andere Perspektiven »Vielleicht scheint meine Sonne nicht so wie eure. Die Farben, die meine Welt erstrahlen lassen, das Blau des Himmels, das Grün der Felder, stimmen vielleicht nicht genau mit denen überein, an denen du dich erfreust; aber für mich sind es dennoch Farben. Die Sonne scheint nicht für meine physischen Augen; und weder blitzt der Bllitz auf noch werden die Bäume im Frühling grün: Doch deswegen haben sie nicht aufgehört zu existieren; ebensowenig wie die Landschaft verschwindet, wenn du ihr den Rücken zuwendest.

Ich begreife, wie sich karminrot und scharlachrot unterscheiden, weil ich weiß, dass eine Orange nicht so wie eine Grapefruit riecht. Ich kann mir auch eine Vorstellung davon machen, dass es bei Farben Farbtöne gibt, und kann erraten, was Farbtöne sind ... Gerüche bestimmter Arten von Gras lassen für meine Sinne genauso nach, wie bestimmte Farben für dich in der Sonne verblassen. Ich nutze Analogien wie die eben Erwähnte, um meine Vorstellungswelt von Farben zu erweitern. Einige von mir geschaffene Analogien

zwischen den Eigenschaften einer Oberfläche und einer Vibration, zwischen den Eigenschaften eines Geschmacks und eines Geruchs leite ich von anderen Analogien zwischen Sehen, Hören und Tasten ab. Dies ermutigt mich darin, dass ich mit dem Versuch fortfahre, den Unterschied zwischen Auge und Hand zu überwinden.«

Helen Keller und Roger Shattuck (2004). The world I live in. Before the soul dawn. New York: New York Review of Books Classics.

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Kapitel 5 · Wahrnehmung: Sinnesorgane

Wahrnehmung: Sinnesorgane > Rund um die Uhr wird unser Körper von der Außenwelt mit Reizen konfrontiert. Gleichzeitig befindet sich unser Gehirn in einer stillen, abgeschirmten inneren Welt in völliger Dunkelheit. Ohne Verbindung nach außen sieht es nichts. Es hört nichts, und es fühlt auch nichts. Das wirft eine Frage auf, die Tausende von Jahren älter ist als die Psychologie und zur Entwicklung der Psychologie vor mehr als einem Jahrhundert beigetragen hat: Wie gelangt die äußere Welt in unser Inneres? Oder um diese Frage in moderner Begrifflichkeit zu formulieren: Wie konstruieren wir unsere Repräsentationen von der äußeren Welt? Wie aktiviert das Flackern, Knistern und der Geruch eines Lagerfeuers neuronale Verbindungen? Und wie lassen wir aus dieser lebendigen Neurochemie unsere bewusste Erfahrung der Bewegung und Temperatur des Feuers, seines Geruchs und seiner Schönheit entstehen?

5 Ziel 1: Grenzen Sie die Begriffe Empfindung und Wahrnehmung voneinander ab, und erklären Sie den Unterschied zwischen datengesteuerter (bottom-up) und konzeptgesteuerter (top-down) Verarbeitung.

Wahrnehmung (perception): Prozess, bei dem die sensorischen Informationen organisiert und interpretiert werden; dies ermöglicht uns, die Bedeutung von Gegenständen und Ereignissen zu erkennen. Bottom-up-Verarbeitung (aufsteigende, datengesteuerte Informationsverarbeitung; bottom-up processing): Analyse, die mit den Sinnesrezeptoren beginnt und aufsteigend bis zur Integration der sensorischen Information durch das Gehirn erfolgt. Top-down-Verarbeitung (absteigende, konzeptgesteuerte Informationsverarbeitung; topdown processing): Informationsverarbeitung, gesteuert durch höhere mentale Prozesse, beispielsweise wenn wir Wahrnehmungen aufgrund unserer Erfahrungen und Erwartungen interpretieren.

Was geht hier vor? Zum Verständnis der komplexen Bilder in diesem Gemälde von Bev Doolittle mit dem Titel »Der Wald hat Augen« arbeiten unsere Empfindungs- und Wahrnehmungsprozesse zusammen. Die Bottomup-Verarbeitung versetzt unsere Sinnesorgane in die Lage, die Linien, Umrisse und Farben aufzunehmen, welche die Pferde, den Reiter und die Umgebung bestimmen. Durch die Top-down-Verarbeitung fällt uns der Titel des Bildes auf, wir erkennen den ängstlichen Gesichtsausdruck des Reiters und lenken dann unsere Aufmerksamkeit auf Aspekte des Gemäldes, die diesen Beobachtungen eine Bedeutung geben

Um die Welt in unserem Kopf zu repräsentieren, müssen wir physikalische Energie aus unserer Umwelt aufnehmen und sie dann zu neuronalen Signalen enkodieren. Hier handelt es sich um einen Vorgang, der traditionell als Empfindung bezeichnet wird. Anschließend treffen wir eine selektive Auswahl unter unseren sensorischen Eingangsinformationen, organisieren und interpretieren sie; das ist ein Vorgang, der traditionell als Wahrnehmung bezeichnet wird. In diesem und im folgenden Kapitel wollen wir diesen Prozess langsam ablaufen lassen, um die einzelnen Vorgänge klarer zu sehen. Wir wollen bei den Sinnesrezeptoren beginnen und uns bis auf die höheren Ebenen der Verarbeitung der Sinneseindrücke begeben. Psychologen bezeichnen die Analyse der Sinneseindrücke, die auf der Eingangsebene beginnt, als Bottom-up-Verarbeitung (aufsteigende oder datengesteuerte Informationsverarbeitung). In 7 Kap. 6 werden wir uns hauptsächlich damit beschäftigen, wie unser Denken das von unseren Sinnen Erkannte interpretiert. Wie . Abb. 5.1 zeigt, kommen unsere Wahrnehmungen sowohl durch die Sinneseindrücke zustande, die von der Eingangsebene zu unserem Gehirn aufsteigen (Bottom-up-Verarbeitung), als auch durch deren Interpretation anhand unserer Erfahrungen und Erwartungen, einen Prozess, den die Psychologen als Top-downVerarbeitung (absteigende oder konzeptgesteuerte Informationsverarbeitung) bezeichnen.

»The forest has eyes« von Bev Doolittle, The Grenwich Workshop, Inc.

Empfindung (sensation): Prozess, bei dem unsere Sinnesrezeptoren und unser Nervensystem Reizenergien aus unserer Umwelt empfangen und darstellen.

5

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photos.com

5.1 · Grundprinzipien sensorischer Wahrnehmung

Fehler bei der Wahrnehmung können irgendwo zwischen der Aufnahme der Sinnesreize und der Interpretation der Wahrnehmung auftreten. Nach Verlust eines Temporallappenareals, das für das Erkennen von Gesichtern eine wichtige Rolle spielt, leidet die Patientin »E. H.« beispielsweise an einer Krankheit, die Prosopagnosie (Unfähigkeit, Gesichter zu erkennen) genannt wird. Ihre sensorischen Fähigkeiten sind vollständig vorhanden, aber ihre Wahrnehmungsfähigkeit ist eingeschränkt. Sie kann die visuelle Information aufnehmen, d. h. die Gesichtszüge einer Person genau beschreiben, aber sie ist nicht in der Lage, die Gesichter wiederzuerkennen. Sieht sie ein unbekanntes Gesicht, zeigt sie keine Reaktion. Wird ihr ein bekanntes Gesicht gezeigt, reagiert ihr autonomes Nervensystem darauf mit messbarer Schweißbildung. Trotzdem erkennt sie nicht, wer die Person ist. Wird ihr ihr eigenes Gesicht im Spiegel gezeigt, löst auch das Ratlosigkeit bei ihr aus. Aufgrund ihres Hirnschadens kann sie nicht »top-down« verarbeiten, d. h. sie kann keine Verbindung zwischen ihrem gespeicherten Wissen und dem sensorischen Input herstellen.

5.1

Grundprinzipien sensorischer Wahrnehmung

Die von der Natur angelegte sensorische Ausstattung der Arten passt zu den Bedürfnissen des jeweiligen Rezipienten. Sie befähigt jeden Organismus dazu, an die Informationen heranzukommen, die er benötigt. Hier einige Beispiele: 4 Ein Frosch, der sich von fliegenden Insekten ernährt, hat Augen, die mit Rezeptorzellen ausgestattet sind, die nur auf kleine, dunkle Objekte in Bewegung reagieren. Ein Frosch könnte also verhungern, obwohl er bis zu den Knien in unbeweglichen Fliegen steht. Aber fliegt nur eine davon an ihm vorbei, schalten die »Fliegendetektor«-Zellen des Froschs auf Alarm. 4 Männliche Seidenraupenmotten besitzen Rezeptoren, die so empfindlich auf den Geruch des weiblichen Sexualsekrets reagieren, dass eine einzige weibliche Seidenraupenmotte nur ein Milliardstel Gramm dieses Stoffes pro Sekunde absondern muss, um jede männliche Seidenraupenmotte im Umkreis von einem Kilometer anzulocken. Deshalb gibt es heute auch immer noch Seidenraupen.

. Abb. 5.1. Empfindung und Wahrnehmung: Ein kontinuierlicher Prozess

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Kapitel 5 · Wahrnehmung: Sinnesorgane

4 Wir sind ganz ähnlich angelegt, d. h. wir nehmen nur das wahr, was für uns zu den wichtigen Merkmalen unserer Umwelt zählt. Unsere Ohren reagieren am empfindlichsten auf Schallfrequenzen, die den Lauten der menschlichen Stimme und dem Schrei eines Babys entsprechen. Wir beginnen unsere Erkundungsreise in das Gebiet der sensorischen Ausstattung mit Fragen, die unser gesamtes Wahrnehmungssystem betreffen. Welche Reize überschreiten die Schwelle zur aktiven Bewusstheit? Können wir, ohne dass wir es bemerken, durch unterschwellige (subliminale) Reize beeinflusst werden, die zu schwach sind, um sie wahrzunehmen? Warum sind wir uns der Reize nicht bewusst, die sich nicht verändern (wie etwa der Uhr, die sich an unser Handgelenk schmiegt)?

5.1.1 Schwellen

5

Ziel 2: Unterscheiden Sie zwischen absoluter Schwelle und Unterschiedsschwelle, und erörtern Sie, ob wir Reize, die unterhalb unserer absoluten Schwelle liegen, wahrnehmen und ob wir von ihnen beeinflusst werden können.

Wir leben in einem Meer von Energie. Genau in diesem Moment werden Sie und ich von Röntgenstrahlen, Radiowellen, UV- und Infrarotlicht sowie Schallwellen sehr hoher und sehr niedriger Frequenz getroffen. Für all diese Frequenzen sind wir blind und taub. Andere Tiere sind in der Lage, eine Welt wahrzunehmen, die jenseits der menschlichen Erfahrung liegt (Hughes 1999). Vögel benutzen beispielsweise ihren magnetischen Kompass. Fledermäuse und Delphine orten ihre Beute mit Sonar (durch Entfernungseinschätzung der vom Objekt zurückgeworfenen Schallwellen). An bewölkten Tagen orientieren sich die Bienen mit Hilfe des polarisierten Lichts einer (für uns in dem Moment) unsichtbaren Sonne. Unsere Sinne scheinen mit Rollläden versehen zu sein, die nur einen winzigen Spalt geöffnet sind und nur eine beschränkte Wahrnehmung dieser ungeheuren Energiemenge zulassen. Die Psychophysik beschäftigt sich mit der Beziehung zwischen dieser physikalischen Energie und wie wir sie psychisch erleben. Welche Reize können wir wahrnehmen? Wie hoch muss die Reizstärke sein? Wie empfindlich reagieren wir auf sich verändernde Stimulation?

Psychophysik (psychophysics): Untersuchung der Beziehungen zwischen den physikalischen Merkmalen von Reizen, z. B. Reizintensität, und unserem psychischen Erleben dieser Reize. Absolute Schwelle (absolute threshold): Mindeststimulation, die erforderlich ist, um einen bestimmten Reiz in mindestens 50% der Fälle wahrzunehmen. Signaldetektionstheorie (Signalentdeckungstheorie; signal detection theory): Theorie, die vorhersagt, wie und wann wir das Vorhandensein eines schwachen Reizes (»Signal«) unter Hintergrundstimulation (»Lärm«) wahrnehmen; geht davon aus, dass es keine feste absolute Schwelle gibt, sondern dass die Signalwahrnehmung teilweise von der Erfahrung, den Erwartungen, der Motivation und dem Grad an Müdigkeit der jeweiligen Person abhängt.

Absolute Schwellen

George Hall/Corbis

Auf manche Reize reagieren wir höchst empfindlich. Wenn wir in einer stockdunklen, klaren Nacht auf dem Gipfel eines Berges stehen, könnten die meisten von uns bei normal ausgeprägten Sinnen ein Kerzenlicht auf einem 45 km entfernten Berg erkennen. Wir könnten es spüren, wenn uns der Flügel einer Biene an der Wange berührt. Wir können sogar einen einzigen Tropfen Parfüm in einer Dreizimmerwohnung riechen (Galanter 1962). Unser Bewusstsein für diese schwachen Reize illustriert, was eine absolute Schwelle ist, d. h. die minimale Stimulation, die notwendig ist, um ein bestimmtes Licht, einen bestimmten Schall, Druck, Geschmack oder Geruch in mindestens 50% aller Fälle wahrzunehmen. Um Ihre absolute Schwelle für Geräusche und Töne zu testen, würde ein Gehörspezialist Ihre beiden Ohren jeweils Tönen variierender Lautstärke aussetzen. Für jeden Ton würde der Test die Lautstärke ermitteln, bei der Sie in der Hälfte aller Fälle das Geräusch korrekt wahrnehmen, in der anderen jedoch nicht. Für jeden Ihrer Sinne legt dieser 50/50-Punkt die absolute Schwelle fest.

Signaldetektion Wie schnell würden Sie wohl das Radarsignal eines sich nähernden Objekts bemerken? Ziemlich schnell, wenn: 1. Sie das Objekt erwarten, 2. es wichtig ist, dass Sie es entdecken, und 3. Sie aufmerksam sind

Signaldetektion Unsere Fähigkeit, einen schwachen Reiz oder ein schwaches Signal wahrzunehmen, hängt nicht allein von der Signalstärke ab (wie der Ton bei einem Hörtest), sondern auch von unserem seelischen Zustand – unseren Erfahrungen und Erwartungen, unserer Motivation, Aufmerksamkeit und Wachsamkeit. Die Signaldetektionstheorie (SDT) dient zur Voraussage, wann wir schwache Signale noch wahrnehmen, und zwar durch Ermittlung der Trefferrate im Verhältnis zu den Fehlalarmen. Wissenschaftler, die sich mit der SDT beschäftigen, versuchen zu verstehen, warum Menschen auf denselben Reiz unterschiedlich reagieren und warum die Reaktionen derselben

217 5.1 · Grundprinzipien sensorischer Wahrnehmung

Person bei veränderten Umgebungsbedingungen unterschiedlich sind. Erschöpfte Eltern eines Neugeborenen nehmen das leiseste Wimmern aus dem Kinderbettchen war, nicht jedoch lautere, unwichtige Geräusche. Auch in angsterfüllten Kriegszeiten, in denen das Nichtbemerken eines Eindringlings den Tod bedeuten kann, nimmt die Reaktionsbereitschaft zu. Ein einzelner Soldat oder Polizist im Irak, der bei Nacht in dem Bewusstsein Wache steht, dass viele seiner Kameraden getötet wurden, wird wahrscheinlich eher dazu neigen, auch ein kaum wahrnehmbares Geräusch zu bemerken – und in dessen Richtung zu feuern. Eine derart gesteigerte Reaktionsbereitschaft geht mit einer größeren Anzahl von Fehlalarmen einher, wie dies der Fall war, als das amerikanische Militär auf einen sich nähernden Wagen feuerte, der eilends eine italienische Journalistin in Freiheit bringen wollte; dabei wurde ein italienischer Geheimdienstoffizier getötet, der sie aus der Geiselhaft befreit hatte. In Friedenszeiten, wenn das Leben nicht ständig bedroht ist, würde ein stärkeres Signal erforderlich sein, damit dieselben Soldaten Gefahr wittern. Die Signalentdeckung kann auch eine Frage von Leben oder Tod sein, beispielsweise wenn Menschen Waffen auf dem Bildschirm einer Sicherheitskontrolle am Flughafen finden sollen, Patienten einer Intensivstation mit Hilfe eines Monitor überwachen sollen oder Radarsignale entdecken sollen. Studien haben beispielsweise gezeigt, dass die Fähigkeit von Personen, ein schwaches Signal wahrzunehmen, nach 30 Minuten nachlässt. Doch diese Reaktionsabnahme hängt von der Art der Aufgabe ab, von der Tageszeit und sogar von der Frage, ob die Teilnehmer diese Aufgabe in regelmäßigen Abständen üben (Warm u. Dember 1986). Auch die Erfahrung ist ein wichtiger Faktor. Zehn Stunden lang ein von Action dominiertes Bildschirmspiel zu spielen – nach Eindringlingen zu suchen und sofort zu reagieren –, ließ die Fertigkeiten im Bereich der Signalentdeckung bei unerfahrenen Spielern besser werden (Green u. Bavelier 2003; 7 Kap. 15 zu den weniger positiven sozialen Auswirkungen gewalthaltiger Bildschirmspiele).

Subliminale Stimulation Im Jahre 1956 gab es in den gesamten USA heftige Diskussionen über einen Bericht, der sich hinterher als falsch herausstellte und nach dem in New Jersey Kinobesucher ohne ihr Wissen angeblich dadurch beeinflusst würden, dass auf der Leinwand für sie nicht wahrnehmbare Botschaften wie »Trink Coca-Cola« und »Iss Popcorn« eingeblendet wurden (Pratkanis 1992). Viele Jahre später brach die Diskussion erneut aus. Es wurde behauptet, Aufnahmen von Rockmusik enthielten »satanische Botschaften«, die man hören könne, wenn die Aufnahmen rückwärts abgespielt würden, und die auch beim normalen Hören den unwissenden Hörer unbewusst beeinflussen könnten (Vokey 2002). In der Hoffnung, in unser Unbewusstes einzudringen, kommen Firmen mit Tonbändern auf den Markt, die uns helfen sollen, abzunehmen, mit dem Rauchen aufzuhören und unser Gedächtnis zu verbessern. Auf diesen Tonbändern ist ein leises Meeresrauschen zu hören, das unhörbare Botschaften wie »Ich bin dünn«, »Rauch schmeckt scheußlich« oder »Ich bin immer gut in Prüfungen; ich erinnere mich an alles« überdeckt. Derartige Behauptungen gehen von zwei Annahmen aus: 4 Wir nehmen unterbewusst subliminale (»unterschwellige«) Reize wahr. 4 Diese Stimuli üben auf uns, ohne dass wir uns dessen bewusst sind, eine außerordentlich starke Suggestionskraft aus. Können wir sie wahrnehmen? Haben sie diese Macht über uns? Können wir Reize unter unseren absoluten Schwellen empfinden? Die Antwort lautet eindeutig ja. Erinnern Sie sich daran, dass die absolute Schwelle nur den Punkt darstellt, an dem wir den Stimulus in der Hälfte aller Fälle wahrnehmen (. Abb. 5.2). Direkt an oder unter dieser Schwelle spüren wir den Reiz auch manches andere Mal. Zur weiteren Bestätigung hier noch ein Beispiel: Wenn Personen gebeten werden, ein Wahrnehmungsurteil abzugeben, und behaupten, absolut keine Ahnung zu haben,– beispielsweise, wenn sie entscheiden sollen, welches von zwei Gewichten schwerer ist –, liegen sie häufiger richtig, als nach dem Zufallsprinzip zu erwarten wäre. Manchmal wissen wir also mehr, als wir glauben. Können wir von Reizen beeinflusst werden, die so schwach sind, dass sie unbemerkt bleiben? Unter bestimmten Bedingungen lautet die Antwort auf die-

Probieren Sie einmal dieses uralte Rätsel mit verschiedenen Freunden aus. »Du fährst einen Bus mit 12 Fahrgästen. An der ersten Haltestelle steigen 6 Fahrgäste aus. An der zweiten Haltestelle steigen 3 aus. An der dritten Haltestelle steigen noch einmal 2 aus, aber 3 neue Passagiere steigen zu. Welche Augenfarbe hat der Busfahrer?« Entdecken Ihre Freunde das Signal, wer der Busfahrer ist, trotz des ganzen »Tohuwabohus« drum herum?

Subliminal (subliminal): unter der absoluten Schwelle der bewussten Wahrnehmung eines Menschen liegend. Priming (priming): oft unbewusste Aktivierung bestimmter Assoziationen; damit wird die Wahrnehmung, das Gedächtnis oder die Reaktion in bestimmter Weise empfänglich gemacht.

. Abb. 5.2. Absolute Schwelle Rieche ich es oder nicht? Wenn ein Stimulus in weniger als 50% der Fälle wahrnehmbar ist, wird er »subliminal« genannt. Die absolute Schwelle ist die Reizstärke, bei der wir einen Stimulus in der Hälfte der Fälle wahrnehmen können

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Kapitel 5 · Wahrnehmung: Sinnesorgane

se Frage ja. Ein nicht sichtbares Bild oder Wort kann als kurzer Prime (Vorreiz) Ihre Antwort auf eine später gestellte Frage beeinflussen. Bei einem typischen Experiment blitzt das Bild oder das Wort kurz auf und wird dann durch einen »maskierenden« Reiz ersetzt, der noch vor der bewussten Wahrnehmung die Verarbeitung des ersten Reizes im Gehirn unterbricht. Beispielsweise wurden in einem Experiment emotional positiv erlebte Szenen (kleine Kätzchen oder ein Liebespaar) oder emotional negativ erlebte (ein Werwolf oder eine Leiche) einen Augenblick vorher subliminal kurz eingeblendet, bevor den Teilnehmern Dias von Personen gezeigt wurden (Krosnick et al. 1992). Obwohl die Teilnehmer bewusst nur einen Lichtblitz wahrnahmen, beurteilten sie die Menschen positiver, deren Fotos im Zusammenhang mit positiven Szenen gezeigt worden waren. Die Leute sahen irgendwie netter aus, wenn sie auf nicht wahrgenommene Kätzchen folgten als auf einen nicht wahrgenommenen Werwolf. Dieses Experiment veranschaulicht auch einen faszinierenden Gesichtspunkt des PrimingEffekts. Manchmal spüren wir, was wir nicht wissen und nicht beschreiben können. ! Wir können Information verarbeiten, ohne uns ihrer bewusst zu sein. Ein unmerklicher kurzer Reiz löst eine schwache Reaktion aus, die man mit Hilfe bildgebender neurologischer Verfahren aufdecken kann (Blankenburg et al. 2003). Diese schwache Reaktion im Gehirn kann ein Gefühl auslösen, jedoch keine bewusste Wahrnehmung des Stimulus.

5

Subliminale Überzeugung? Obwohl subliminale Reize Menschen tatsächlich leicht beeinflussen können, haben Tests gezeigt, dass Versuche, mit subliminalen Botschaften in der Werbung und zur Selbstkontrolle das Verhalten von Personen zu verändern, fehlgeschlagen sind. (Die Botschaft dieses Bildes ist jedoch nicht subliminal – denn Sie können sie ja wahrnehmen.)

C. Styrsky

»Das Herz hat seine Gründe, die der Verstand nicht kennt.« Blaise Pascal (»Pensées IV«, 1670)

»Nein, das ist keine Schikane, sondern ein subliminales Signal, das deinem Wahrnehmungshorizont für Ordnung entspricht.«

Dieses subliminale Priming-Phänomen ist ein weiterer empirischer Hinweis auf die Kraft der Intuition (Myers 2002). Die Schlussfolgerung, die Sie sich merken sollten: Ein Großteil unserer Informationsverarbeitung erfolgt automatisch, ohne dass wir es bemerken, jenseits des Radarschirms unseres Bewusstseins. Ist nun aber die Tatsache des subliminalen Wahrnehmens ein Beleg dafür, dass wir zu kommerziellen Zwecken subliminal überzeugt werden können? Können Werbefirmen uns tatsächlich mit »versteckter Überzeugung« manipulieren? Psychologen sind einhellig der Meinung, dass dem nicht so ist. Ihr Urteil gleicht dem der Astronomen über die Astrologen, die zugeben: Ja, es ist richtig, dass es dort draußen Sterne und Planeten gibt, aber es ist nicht richtig, dass diese Himmelskörper einen direkten Einfluss auf uns ausüben. Laboruntersuchungen lassen einen leichten, vorübergehenden Effekt erkennen. Werden durstige Menschen dem subliminalen Prime-Wort »Durst« ausgesetzt, kann das also ein durststillendes Getränk für diese Personen für kurze Zeit attraktiver machen (Strahan et al. 2002). Doch die Werbepäpste mit ihren subliminalen Tonbändern behaupten etwas ganz anderes: nämlich einen starken, anhaltenden Effekt auf unser Verhalten. Um zu überprüfen, ob kommerziell eingesetzte subliminale Tonbänder oder SuperlearningKassetten einen anderen Effekt als ein Plazebo haben – den Effekt, an den wir glauben –, teilten Greenwald et al. (1991) Studierende nach dem Zufallsprinzip in zwei Gruppen ein. Die Teilnehmer mussten sich 5 Wochen lang kommerziell vertriebene subliminale Tonbänder anhören, von denen behauptet wurde, dass sie entweder das Selbstwertgefühl oder das Gedächtnis besser werden ließen. Bei der Hälfte der Bänder trieben sie einen folgenreichen Schabernack, indem sie die Etiketten austauschten. Einige Studierende dachten, sie würden jetzt eine Steigerung ihres Selbstwertgefühls verspüren, obwohl sie in Wirklichkeit die Tonbänder hörten, die das Gedächtnis verbessern sollten. Andere bekamen das Band zur Hebung des Selbstwertgefühls, dachten aber, dass ihr Gedächtnis verbessert werden sollte. Hatten die Tonbänder irgendwelche Auswirkungen? Bei den Testwerten der Studierenden, die vor dem Hören der Bänder und nach 5 Wochen erhoben worden waren, zeigten sich sowohl in Bezug auf das Selbstwertgefühl als auch auf das Gedächtnis keine Effekte. Und trotzdem meinten diejenigen, die dachten, sie hätten sich ein Tonband zur Gedächtnisaufbesserung angehört, ihr Gedächtnis sei besser geworden. Ein ähnliches Ergebnis fand man bei denen, die dachten, sie hätten sich ein Tonband zur Verbesserung des Selbstwertgefühls angehört. Die Tonbänder hatten keine Auswirkungen, doch die Studierenden nahmen bei sich selbst wahr, dass sie den Nutzen gehabt hätten, den sie erwarteten. Wenn man von dieser Studie liest, meint man, das Echo der Lobeshymnen zu hören, von denen die Kataloge der Versandhäuser für diese Tonbänder voll sind. Einige Kunden, die etwas kauften, was man angeblich nicht hören kann (und was sie tatsächlich

219 5.1 · Grundprinzipien sensorischer Wahrnehmung

auch nicht gehört haben), offerieren Anpreisungen wie: »Ich weiß, Ihre Bänder hatten einen unschätzbaren Wert, um meinen Kopf umzuprogrammieren.« Über ein Jahrzehnt hinweg führte Greenwald Doppelblind-Experimente durch, bei denen subliminale Selbsthilfe-Tonbänder einer Überprüfung unterzogen wurden. Seine Ergebnisse stimmten in einem überein: Nicht eins hatte einen therapeutischen Effekt. Seine Schlussfolgerung lautete: »Der Wert von subliminalen Verfahren für den Marketingeinsatz hat sich als äußerst gering bzw. als gleich Null erwiesen.« ! Subliminale Botschaften können uns nicht manipulieren.

Unterschiedsschwellen Um effektiv zu funktionieren, brauchen wir absolute Schwellen, die niedrig genug sind, um wichtige Dinge zu sehen und wichtige Geräusche, Oberflächenstrukturen, Geschmäcker und Gerüche zu erkennen. Wir müssen aber auch kleine Unterschiede zwischen diesen Reizen ausmachen können. Ein Musiker muss beim Stimmen seines Instruments minimale Tonunterschiede bemerken. Ein Weinverkoster muss leichte Geschmacksunterschiede zwischen zwei Spitzenweinen erkennen. Eltern müssen den Klang der Stimme ihres eigenen Kindes inmitten anderer Kinderstimmen hören können. Die Unterschiedsschwelle ist der eben noch merkliche Unterschied, den ein Mensch in der Hälfte aller Fälle zwischen zwei Reizen ausmachen kann. Die Unterschiedsschwelle nimmt mit der Intensität des Reizes zu. Wenn Sie z. B. zu einem Gewicht von 100 g noch 10 g hinzugeben, merken Sie den Unterschied. Geben Sie hingegen 10 g zu 1 kg hinzu, merken Sie den Unterschied nicht, da die Unterschiedsschwelle zugenommen hat. Vor mehr als einem Jahrhundert stellte Ernst Weber fest, dass sich zwei Reize unabhängig von ihrer Stärke in einem konstanten Verhältnis unterscheiden müssen, damit der Unterschied zwischen ihnen wahrnehmbar ist. Dieses Prinzip – dass die Unterschiedsschwelle keine konstante Größe ist, sondern ein konstantes Verhältnis zwischen zwei Reizen – ist so einfach und so umfassend anwendbar, dass wir es immer noch als Weber’sches Gesetz bezeichnen. Das genaue Verhältnis variiert je nach Reiz. Damit wir einen Unterschied wahrnehmen, müssen sich für Menschen zwei Lichtquellen beispielsweise durchschnittlich um 8% in der Lichtintensität unterscheiden, zwei Gewichte müssen einen Gewichtsunterschied von 2% und zwei Töne eine unterschiedliche Tonfrequenz von nur 0,3% aufweisen (Teghtsoonian 1971). Das Weber’sche Gesetz ist eine grobe Approximation. Es lässt sich gut auf nicht extreme Sinnesreize und manche unserer alltäglichen Lebenserfahrungen anwenden. Wenn der Preis für einen Schokoriegel, der 1 Euro kostet, um 10 Cent ansteigt, merken die Käufer möglicherweise den Unterschied. Beim Kauf eines 60.000 EUR teuren Mercedes muss der Preis schon um 6000 EUR ansteigen, damit potenzielle Käufer anfangen, ihre Stirn in Falten zu legen. In beiden Fällen ist der Preis um 10% gestiegen. Gemäß des Weber’schen Gesetzes stehen also unsere Schwellen für die Entdeckung von Unterschieden in einem konstanten Verhältnis zur Größe des Ausgangsreizes.

Unterschiedsschwelle (difference threshold; just noticeable difference; jnd): minimaler Unterschied zwischen zwei Reizen, der erforderlich ist, damit er in 50% der Fälle erkannt wird. Wir erleben die Unterschiedsschwelle als den eben noch merklichen Unterschied. Weber’sches Gesetz (Weber’s law): Prinzip, das besagt, dass sich zwei Reize um einen konstanten minimalen Prozentsatz (und nicht um einen konstanten Absolutbetrag) unterscheiden müssen, damit der Unterschied zwischen ihnen wahrgenommen wird.

Die Unterschiedsschwelle In dieser vom Computer erzeugten Fassung des 23. Psalms verändert sich die Schriftgröße in jeder Zeile unmerklich. Wie viele Zeilen sind nötig, bis Sie einen eben merklichen Unterschied feststellen?

5.1.2 Sensorische Adaptation Ziel 3: Beschreiben Sie die sensorische Adaptation, und erklären Sie, welchen Nutzen wir daraus ziehen, dass wir uns der Reize nicht bewusst sind, die sich nicht verändern.

Sie kommen in das Wohnzimmer Ihrer Nachbarn und riechen einen muffigen Geruch. Sie wundern sich, wie Ihre Nachbarn ihn aushalten können, doch schon nach wenigen Minuten fällt er Ihnen selbst nicht mehr auf. Wenn Sie in ein Schwimmbecken springen, kommt Ihnen das Wasser zunächst kalt vor und Sie bibbern. Wenig später kommt ein Freund an den Beckenrand, und Sie rufen ihm zu: »Los, komm rein! Das Wasser ist ganz toll!« All das sind Beispiele für sensorische Adaptation, unsere abnehmende Empfindlichkeit auf einen gleichbleibenden Reiz. (Um dieses Phänomen nachzuempfinden, verschieben Sie Ihre Armbanduhr einfach um ein paar Zentimeter an Ihrem Handgelenk. Sie spüren sie, aber nur ein paar Augenblicke lang.) Setzt man Menschen einem konstanten Reiz aus, nimmt die Häufigkeit der Reizimpulse ab, die von den Nervenzellen weitergeleitet werden.

Sensorische Adaptation (sensory adaptation): verminderte Sensibilität als Folge konstanter Stimulation.

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Kapitel 5 · Wahrnehmung: Sinnesorgane

»Wir müssen vor allem Veränderungen erkennen; niemand will oder muss 16 Stunden am Tag daran erinnert werden, dass er Schuhe anhat.« Der Neurowissenschaftler David Hubel (1979)

Bei 9 von 10 Menschen – aber interessanterweise nur bei 1 von 3 Schizophreniepatienten – hört das Augenflattern auf, wenn das Auge einem sich bewegenden Objekt folgt (Holzman u. Matthysse 1990).

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»Mein Verdacht ist, dass das Universum nicht nur sonderbarer ist, als wir annehmen, sondern sonderbarer, als wir in der Lage sind anzunehmen.« J. B. S. Haldane (»Possible Worlds«, 1927)

Ein Gegenstand, den wir starr anstarren, müsste mit der Zeit aus unserem Gesichtsfeld verschwinden. Warum ist das aber nicht so? Weil wir, ohne es zu merken, unsere Augen ständig bewegen. Diese schnellen Augenbewegungen, sog. Sakkaden, sorgen dafür, dass sich die Stimulation der Rezeptoren in den Augen ständig verändert. Was würde jedoch passieren, wenn wir der Bewegung unserer Augen tatsächlich Einhalt gebieten könnten, würden sich dann die Bilder auflösen, wie es die Gerüche scheinbar tun? Um das herauszufinden, haben Psychologen geniale Instrumente erfunden, um ein konstantes Bild auf der Netzhaut, der inneren Oberfläche des Auges, beizubehalten. Stellen Sie sich vor, wir hätten eine Versuchsteilnehmerin namens Anne mit einem dieser Instrumente ausgestattet – einer Art Miniprojektor, der auf einer Kontaktlinse befestigt ist (. Abb. 5.3a). Wenn sich Annes Augen bewegen, bewegt sich das vom Projektor erzeugte Bild ebenfalls mit. Egal wohin sie schaut, sie sieht immer die gleiche Szene. Was sieht Anne wohl, wenn wir nun das Profil eines Gesichts mit Hilfe eines solchen Instrumentes projizieren? Zuerst sieht sie das komplette Profil. Doch innerhalb von wenigen Sekunden beginnen ihre Sinnesrezeptoren zu ermüden und seltsame Dinge geschehen. Stück um Stück löst sich das Bild auf, taucht dann wieder auf und verschwindet wieder, in erkennbaren Fragmenten oder als Ganzes (. Abb. 5.3b). Interessanterweise erfolgt das Verschwinden und Wiedererscheinen eines Bildes in sinnvollen Einheiten. Wenn einer Person ein Wort gezeigt wird, verschwindet es nach kurzer Zeit, danach tauchen neue Wörter auf, die aus Teilen des alten Worts bestehen, und verschwinden dann wieder. Dieses Phänomen illustriert im Vorgriff die wichtigste Schlussfolgerung von 7 Kap. 6: Wir organisieren unsere Wahrnehmungen nach den Bedeutungen, die unser Verstand ihnen beimisst. Zwar verringert die sensorische Adaptation unsere Sensibilität, doch sie bietet uns auch einen entscheidenden Vorteil: Sie versetzt uns in die Lage, uns auf informative Veränderungen in unserer Umgebung zu konzentrieren, ohne uns von der nicht informativen konstanten Stimulation durch Kleider, Gerüche und Straßenlärm ablenken zu lassen. ! Unsere Sinnesrezeptoren reagieren aufmerksam auf alles Neue. Langweilen wir sie mit Wiederholungen, geben sie unsere Aufmerksamkeit für wichtigere Dinge frei. Damit bestätigt sich wieder das grundlegende Prinzip: Wir nehmen die Welt nicht so wahr, wie sie ist, sondern wie es für uns nützlich ist, sie wahrzunehmen.

Unsere Sensibilität für eine sich verändernde Stimulation hilft uns, die Macht des Fernsehens zu verstehen, die unsere Aufmerksamkeit derartig fesselt. Schnitte, Überblendungen, Nahaufnahmen, Schwenke und plötzliche Geräusche verlangen Aufmerksamkeit. Selbst Forscher, deren Spezialgebiet das Fernsehen ist, wundern sich darüber, wie viel Aufmerksamkeit das Fernsehen auch bei ihnen selbst auf sich zieht. So gibt der Medienforscher Tannenbaum (2002) freimütig zu, dass er bei höchst interessanten Gesprächen nicht umhin könne, zumindest ab und zu mal kurz zum Bildschirm zu schauen. Die sensorischen Schwellen und die sensorische Adaptation sind nicht die einzigen Gemeinsamkeiten der verschiedenen Sinnesmodalitäten. Alle Sinne empfangen sensorische Reize, die sie in neuronale Informationen umwandeln, die dann ans Gehirn weitergeleitet werden. Wie funk-

. Abb. 5.3a,b. Sensorische Anpassung: Mal sieht man es, mal ist es weg! a Ein auf eine Kontaktlinse montierter Projektor lässt das projizierte Bild mit dem Auge mitwandern. b Anfangs sieht die Versuchsperson das stabilisierte Bild, doch bald darauf sieht sie Fragmente davon verschwinden und wieder auftauchen. (Aus Pritchard 1961)

a

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221 5.2 · Sehen

tionieren die Sinne? Wie sehen wir? Wie hören wir? Wie riechen wir? Wie tasten wir? Wie empfinden wir Schmerz? Wie halten wir das Gleichgewicht? Beginnen wir mit dem Sehen, dem Sinn, den die Menschen am meisten schätzen. Lernziele Abschnitt 5.1 Grundprinzipien sensorischer Wahrnehmung Ziel 1: Grenzen Sie die Begriffe Empfindung und Wahrnehmung voneinander ab, und erklären Sie den Unterschied zwischen datengesteuerter (bottom-up) und konzeptgesteuerter (top-down) Verarbeitung. Empfindung ist der Prozess, bei dem unsere Sinnesrezeptoren und das Nervensystem Reizenergien aus der Umwelt bekommen und sie repräsentieren. Wahrnehmung ist der Prozess, durch den wir diese Informationen organisieren und interpretieren. Obwohl wir aus analytischen und deskriptiven Gründen Empfindung und Wahrnehmung als voneinander getrennt ansehen, sind beide in Wirklichkeit Bestandteile eines kontinuierlichen Prozesses. Die datengesteuerte Verarbeitung ist die sensorische Auswertung, die am Eingang der Informationen ansetzt, wenn sie von den Sinnesrezeptoren zum Gehirn strömen. Konzeptgesteuerte Verarbeitung ist eine Auswertung, die im Gehirn beginnt und dann auf weiter unten liegende Niveaus zurückgeht; dabei werden die Informationen aufgrund unserer Erfahrungen und Erwartungen gefiltert. Dadurch werden dann Wahrnehmungen hervorgerufen. Ziel 2: Unterscheiden Sie zwischen absoluter Schwelle und Unterschiedsschwelle, und erörtern Sie, ob wir Reize, die unterhalb unserer absoluten Schwelle liegen, wahrnehmen und ob wir von ihnen beeinflusst werden können. Jede Spezies ist ausgerüstet mit der Sensibilität, die ihr das Überleben und Fortbestehen sichert. Psychophysik ist die wissenschaftliche Erforschung der Zusammenhänge zwischen den physikalischen Merkmalen der Reize und der Art und Weise, wie wir sie psychisch erleben. Unsere absolute Schwelle für jeden Reiz ist die minimale Stimulation, die erforderlich ist, damit wir uns dieses Reizes in 50% der Fälle bewusst sind. Die Theorie der Signaldetektion zeigt, dass unsere persön-

5.2

lichen absoluten Schwellen abhängig von der Stärke des Signals sind, aber auch von unseren Erfahrungen, Erwartungen und der eigenen Motivation und Wachsamkeit. Unsere Unterschiedsschwelle (auch als eben merklicher Unterschied bezeichnet) ist ein kaum merklicher Unterschied, den wir in 50% der Fälle erkennen. Das Weber’sche Gesetz besagt Folgendes: Damit zwei Reize von der Wahrnehmung her unterschiedlich sind, müssen sie sich durch ein konstantes Verhältnis unterscheiden (wie z. B. durch einen 2-prozentigen Unterschied im Gewicht) und nicht durch eine konstante Differenz. Versuche zum Priming-Effekt und andere Experimente zeigen, dass wir manche Informationen aus Reizen verarbeiten können, die unterhalb der absoluten Schwelle für Bewusstheit liegen. Aber die eingeschränkten Bedingungen, unter denen dies geschieht, würden skrupellose Opportunisten nicht in die Lage versetzen, uns mit subliminalen Botschaften zu verführen. Ziel 3: Beschreiben Sie die sensorische Adaptation, und erklären Sie, welchen Nutzen wir daraus ziehen, dass wir uns der Reize nicht bewusst sind, die sich nicht verändern. Die sensorische Adaptation besteht darin, dass bei uns die Empfindlichkeit für konstante oder alltägliche Gerüche, Töne und Berührungen geringer wird. Wir ziehen einen Nutzen aus diesem Phänomen, weil sich unsere Aufmerksamkeit auf Informationsveränderungen bei der Stimulation konzentriert und nicht auf die Elemente in unserer Umwelt, die sich nicht verändern. > Denken Sie weiter: Können Sie einige Beispiele von sensorischer Adaptation nennen, die Sie in den letzten Tagen erlebt haben?

Sehen

Ziel 4: Definieren Sie Transduktion, und geben Sie an, welche Form von Energie unser visuelles System in neuronale Botschaften umwandelt, die unser Gehirn interpretieren kann.

Eines der größten Wunder der Natur ist weder bizarr noch liegt es in weiter Ferne, sondern es ist etwas ganz Alltägliches: Wie lässt unser materieller Körper unsere bewusste visuelle Erfahrung entstehen? Wie wandeln wir Lichtenergieteilchen in bunte Bilder um? Ein Teil unserer Genialität geht auf die Fähigkeit unseres Körpers zurück, eine Form von Energie in eine andere umzuwandeln. Die sensorische Transduktion ist der Prozess, bei dem unsere Sinnessysteme Reizenergie als neuronale Botschaften kodieren. So empfangen Ihre Augen beispielsweise Lichtenergie und vollbringen ein faszinierendes Meisterstück: Sie wandeln diese Energie in neuronale Botschaften um, die das Gehirn anschließend zu dem verarbeitet, was Sie bewusst sehen. Wie vollzieht sich dieser bemerkenswerte Prozess, den wir als selbstverständlich voraussetzen, im Einzelnen?

Transduktion (transduction): Umwandlung einer Energieform in eine andere. Im sensorischen Bereich die Umwandlung von Reizenergien (wie Sehreize, Töne und Gerüche) in Nervenimpulse, die unser Gehirn interpretieren kann.

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Kapitel 5 · Wahrnehmung: Sinnesorgane

5.2.1 Reizinput Lichtenergie Wissenschaftlich gesprochen ist das, was auf unser Auge trifft, nicht Farbe, sondern es sind Wellen elektromagnetischer Energie, die unser visuelles System als Farbe wahrnimmt. Was wir als sichtbares Licht sehen, ist nur ein winziger Ausschnitt aus dem gesamten Spektrum der elektromagnetischen Strahlung. Wie aus . Abb. 5.4 deutlich wird, reicht das elektromagnetische Spektrum von den für uns nicht wahrnehmbaren kurzen Wellenlängen der J-Strahlen (Gammastrahlen) über den winzigen Ausschnitt, den wir als sichtbares Licht erkennen, bis hin zu den langen Wellen der Radioübertragung. Andere Organismen verfügen über Sensibilität für andere Ausschnitte des Spektrums. So können Bienen beispielsweise kein Rot, dafür aber ultraviolettes Licht sehen (. Abb. 5.5).

. Abb. 5.5. Unterschiedliche Augen Beim Sehen befinden sich Menschen und Bienen auf unterschiedlichen Wellenlängen. Vergleichen Sie die Art und Weise, wie eine Blume vom menschlichen Auge und vom Auge einer Biene wahrgenommen wird. Die Biene erfasst die Wellenlängen des reflektierten ultravioletten Lichts und kann so das Pollen-Landefeld sehen, wo sie Nahrung findet. Für die unterschiedlichen ökologischen Nischen, die von den verschiedenen Spezies genutzt werden, ist eine Empfindlichkeit für unterschiedliche Reize erforderlich

Klaus Lunau, AG Sinnesökologie, Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf

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. Abb. 5.4. Das elektromagnetische Spektrum Dieses Spektrum erstreckt sich von den J-Strahlen (Gammastrahlen), die so kurz sind wie der Durchmesser eines Atoms, bis zu den Radiowellen, die über eine Meile lang sind. Der winzige Ausschnitt von Wellenlängen, die für das menschliche Auge sichtbar sind (hier in Vergrößerung gezeigt) reicht von den kürzeren Wellen des blauvioletten Lichts bis zu den längeren Wellen des roten Lichts

223 5.2 · Sehen

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. Abb. 5.6. Physikalische Eigenschaften von Wellen a Wellen unterscheiden sich durch die Wellenlänge, d.h. den Abstand zwischen zwei aufeinander folgenden Wellenbergen. Die Frequenz, d.h. die Anzahl der vollständigen Wellen oder Schwingungen, die einen bestimmten Punkt pro Zeiteinheit passieren kann, hängt von der Wellenlänge ab. Je kürzer die Wellenlänge, desto höher die Frequenz. b Wellen unterscheiden sich auch durch ihre Amplitude, d. h. den Höhenunterschied zwischen Wellenberg und Wellental. Die Amplitude einer Welle bestimmt die Intensität von Farben und Klängen a

b

Zwei physikalische Eigenschaften von Licht tragen dazu bei, zu bestimmen, wie wir es sensorisch erleben. Die Wellenlänge des Lichts – der Abstand zwischen den Scheiteln von zwei aufeinander folgenden Wellenbergen (. Abb. 5.6a) – bestimmt den Farbton (die Farbe, die wir wahrnehmen, wie etwa blau oder grün). Hingegen beeinflusst die Intensität oder Stärke des Lichts, d. h. die Energiemenge von Lichtwellen (die durch die Amplitude oder den Ausschlag der Welle bestimmt wird), die Leuchtkraft der Farben (. Abb. 5.6b). Um zu verstehen, wie wir physikalische Energie in Farbe und Bedeutung umwandeln, müssen wir zunächst verstehen, wie das Auge, das Fenster unseres Sehvermögens, funktioniert.

5.2.2 Auge Ziel 5: Beschreiben Sie die Hauptstrukturen des Auges, und erklären Sie, wie sie einen eintreffenden Lichtstrahl auf die Rezeptorzellen des Auges lenken.

Das Licht dringt in das Auge durch die Kornea (Hornhaut) ein, die das Auge schützt und das Licht beugt, um die Strahlen zu bündeln. Das Licht passiert dann die Pupille, eine kleine verstellbare Öffnung (. Abb. 5.7). Die Größe der Pupille und damit die Lichtmenge, die in das Auge eindringt, werden von der Iris reguliert, einem farbigen Muskel, der die Pupille umgibt. Die Iris reguliert den Lichteinfall ins Auge, indem sie die Pupille als Reaktion auf die Lichtintensität, aber auch auf die Gefühle in unserm Innern, erweitert oder verengt. Wenn wir uns verliebt fühlen, signalisieren unsere sprichwörtlich geweiteten Pupillen und somit dunklen Augen auf subtile Art unser Interesse. Aufgrund der Einzigartigkeit jeder Iris kann mit Hilfe von Irisscannern die Identität eines Menschen eindeutig festgestellt werden.

Wellenlänge (wavelength): Abstand zwischen den Scheitelpunkten von zwei aufeinander folgenden Wellen. Das Spektrum der elektromagnetischen Wellenlängen reicht von den kurzen Impulsen der kosmischen Strahlen bis zu den Langwellen, die für die Radioübertragung verwendet werden. Farbton (hue): Farbdimension, die durch die Wellenlänge des Lichts bestimmt wird und die wir als die uns bekannten Farben Blau, Grün etc. wahrnehmen. Intensität (intensity): Energiemenge von Licht oder Klangwellen, die wir als Helligkeit oder Lautstärke wahrnehmen und die von der Amplitude der Wellen abhängt. Pupille (pupil): regulierbare Öffnung in der Mitte des Auges, durch die das Licht einfällt. Iris (auch: Regenbogenhaut; engl. iris): Ring aus Muskelgewebe, der den farbigen Teil des Auges um die Pupille bildet und als Blende zur Regulierung der Pupillenöffnung fungiert.

. Abb. 5.7. Das Auge Die von einer Kerze reflektierten Lichtstrahlen fallen durch die Kornea (Hornhaut), die Pupille und die Linse in das Auge ein. Die Krümmung und die Dicke der Linse verändern sich, um jeweils ein scharfes Bild von entfernten oder nahen Gegenständen auf der Retina entstehen zu lassen. Da die durch die kleine Öffnung einfallenden Lichtstrahlen geradlinig verlaufen, treffen die Lichtstrahlen von der Spitze der Kerze auf den unteren Teil der Retina auf und die von links kommenden Lichtstrahlen auf den rechten Teil. Das auf die Retina projizierte Bild ist damit seitenverkehrt und steht auf dem Kopf

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Kapitel 5 · Wahrnehmung: Sinnesorgane

Linse (lens): durchsichtiger Körper hinter der Pupille, der zu Scharfstellung der Bilder auf der Retina seine Form verändern kann. Akkommodation (accomodation): Anpassungsvorgang, bei dem die Augenlinse ihre Form verändert, um nahe oder entfernte Gegenstände auf der Retina scharf abzubilden. Retina (auch Netzhaut, engl. retina): lichtempfindliche innerste Schicht des Auges, in der die Stäbchen und Zapfen der Fotorezeptoren sowie Neuronenschichten enthalten sind, in denen die Verarbeitung der visuellen Information beginnt.

5 Sehschärfe (acuity): Fähigkeit zur Unterscheidung von Einzelheiten im Gesichtsfeld als Maß für das Auflösungsvermögen des Auges. Kurzsichtigkeit (auch Myopie, engl. nearsightedness): Sehanomalie, bei der Gegenstände in der Nähe schärfer gesehen werden als entfernte Objekte, da sich die einfallenden Lichtstrahlen schon vor der Netzhaut überschneiden. Weitsichtigkeit (farsightedness): Sehanomalie, bei der weit entfernte Gegenstände schärfer gesehen werden als nahe, da das Bild von nahen Objekten seinen Brennpunkt hinter der Retina hat, d. h. scharf ist.

. Abb. 5.8. a Normalsichtigkeit Lichtstrahlen laufen auf der Retina eines normalsichtigen Auges zu einem scharfen Bild zusammen. Das gilt für Objekte in der Nähe und nach entsprechender Anpassung der Linsenkrümmung auch für weit entfernte Gegenstände

Hinter der Pupille sitzt eine Linse, die die einfallenden Lichtstrahlen bündelt und auf dem lichtempfindlichen dunklen Augenhintergrund zu einem Bild vereinigt. Dazu wird die Linsenwölbung verändert, ein Vorgang, der auch Akkommodation genannt wird. Die lichtempfindliche innere Oberfläche des Augapfels, auf der die Lichtstrahlen zu einem Bild zusammengefügt werden, besteht aus einem mehrschichtigen Gewebe, der Retina (Netzhaut). Seit Jahrhunderten kennen Wissenschaftler folgendes Phänomen: Projiziert man das Bild einer Kerze durch eine kleine Öffnung auf einen dunklen Hintergrund, dann steht ihr Abbild hinter der Öffnung auf dem Kopf (wie bei . Abb. 5.7). Wenn also die Retina ein auf dem Kopf stehendes Bild empfängt, wie kommt es dann, dass wir die Welt nicht auf dem Kopf sehen? Der stets neugierige Leonardo da Vinci hatte eine Idee: Vielleicht lag es an den wässrigen Flüssigkeiten, die die Lichtstrahlen beugen und so eine erneute Umkehrung des auf dem Kopf stehenden Bildes bei Auftreffen auf der Retina erzeugen. Schließlich wies jedoch der Astronom Johannes Kepler, der sich auch mit den theoretischen Grundlagen der Optik beschäftigte, im Jahre 1604 nach, dass die Retina tatsächlich auf dem Kopf stehende Bilder von der Welt empfängt (Crombie 1964). Wie können wir aber eine solche »verkehrte« Welt verstehen? Der ratlose Kepler erwiderte darauf: »Das überlasse ich den eigentlichen Philosophen.« Die »eigentlichen Philosophen« bezogen jedoch schließlich auch die Ergebnisse der Wahrnehmungspsychologie mit ein; denn die Psychologen hatten entdeckt, dass die Retina nicht das Bild als Ganzes liest. Vielmehr wandeln ihre Millionen von Rezeptorzellen Lichtenergie in Nervenimpulse um. Diese Impulse werden an das Gehirn weitergeleitet und dort zu einem wahrgenommenen Bild zusammengebaut, das nicht auf dem Kopf steht. Die Sehschärfe kann durch geringfügige Verformungen des Augapfels beeinträchtigt werden. Normalerweise sorgen die Kornea und die Linse dafür, dass von jedem Gegenstand ein scharfes Bild auf der Retina abgebildet wird (. Abb. 5.8a). Bei Kurzsichtigkeit (Myopie) kreuzen sich jedoch durch Veränderungen des Augapfels die parallel einfallenden Lichtstrahlen von entfernten Objekten bereits vor der Netzhaut (. Abb. 5.8b). Bei Kurzsichtigkeit ist die Wahrnehmung von Gegenständen in unmittelbarer Nähe schärfer als von entfernten, aber bei extremer Kurzsichtigkeit sieht man gar nichts scharf. Dieses Sehproblem lässt sich durch eine Brille, Kontaktlinsen oder in einigen Fällen durch einen laserchirurgischen Eingriff (LASIK) korrigieren. Die Weitsichtigkeit (Hyperopie) ist das Gegenteil der Kurzsichtigkeit. In diesem Fall erreichen die Lichtstrahlen von nahen Gegenständen die Retina, bevor sie ein scharfes Bild erzeugen konnten; dies führt dazu, dass nahe Objekte verschwommen zu sein scheinen (. Abb. 5.8c). Bei Kindern wird dieses Problem durch die Akkommodationsfähigkeit des Auges in der Regel ausgeglichen, so dass sie nur in seltenen Fällen eine Brille brauchen. Allerdings können ihre Augen durch die übermäßig starke Beanspruchung der Augenmuskeln ermüden und manchmal bekommen die Kinder auch Kopfschmerzen. Personen, die nur leicht weitsichtig sind, entdecken dies meist erst im mittleren Alter in dem Maße, wie die Linse weniger flexibel wird und ihre schnelle Anpassungsfähigkeit nachlässt. Sie brauchen dann eine Brille, vor allem zum Lesen und zum Ansehen naher Objekte.

b Kurzsichtigkeit Im Auge eines kurzsichtigen Menschen bilden die gebündelten Lichtstrahlen von entfernten Gegenständen das scharfe Bild bereits vor der Retina ab. Wenn das Bild die Retina erreicht, laufen die Strahlen schon wieder so weit auseinander, dass das Bild verschwommen erscheint

c Weitsichtigkeit Im Auge eines weitsichtigen Menschen erzeugen die Lichtstrahlen das scharfe Bild eines nahen Gegenstands hinter der Retina, sodass direkt auf der Retina unscharfe Bilder entstehen

225 5.2 · Sehen

. Abb. 5.9. Reaktion der Retina auf Licht

Retina Ziel 6: Stellen Sie die beiden Arten von Rezeptorzellen in der Netzhaut einander gegenüber, und beschreiben Sie die Reaktion der Netzhaut auf Licht.

Stäbchen (rods): Fotorezeptoren auf der Retina, die Schwarz, Weiß und Grau erkennen können und für das periphere Sehen und das Sehen in der Dämmerung erforderlich sind, wenn die Zapfen nicht reagieren.

Wenn Sie einem einzelnen Lichtenergieteilchen in Ihr Auge folgen könnten, würden Sie sehen, dass es zunächst die äußere Zellschicht der Retina durchdringt und dann zu den Fotorezeptorzellen darunter, den Stäbchen und Zapfen, gelangt (. Abb. 5.9). Die auf die Stäbchen und Zapfen auftreffende Lichtenergie bewirkt chemische Veränderungen, die wiederum neuronale Signale erzeugen. Diese Signale aktivieren die benachbarten Bipolarzellen, die ihrerseits die daneben liegenden Ganglienzellen aktivieren. Die Axone aus dem Netz von Ganglienzellen laufen wie die Stränge eines Seils im Sehnerv (Nervus opticus) zusammen, von dem aus die Informationen ins Gehirn weitergeleitet werden (wo der Thalamus die Informationen entgegennimmt und verteilt). Der Sehnerv ist in der Lage, nahezu 1 Mio. Botschaften gleichzeitig zu übersenden und zwar durch fast 1 Mio. Ganglienfasern. (Der Hörnerv, der das Hören ermöglicht, kann viel weniger Informationen durch seine 30.000 Nervenfasern übermitteln). An der Stelle, an der der Sehnerv das

Sehnerv (N. opticus; optic nerve): Nerv, über den die Nervenimpulse vom Auge ins Gehirn gelangen.

E. R. Lewis, Y. Y. Zeevi, F. S. Werblin, 1969

Stabförmige Stäbchen und zapfenförmige Zapfen Wie auf dem Elektronenmikroskopbild erkennbar, tragen die Stäbchen und Zapfen ihren Namen zu Recht. Die Stäbchen sind lichtempfindlicher als die farbempfindlichen Zapfen. Das ist auch der Grund, weshalb uns die Welt bei Nacht farblos erscheint. Manche Nachttiere wie Kröten, Mäuse, Ratten und Fledermäuse besitzen eine Retina, die fast völlig aus Stäbchen besteht, weshalb sie auch bei schwachem Licht noch sehr gut sehen. Allerdings sehen diese Tiere wahrscheinlich nur sehr wenig Farben

Zapfen (cones): Fotorezeptorzellen, die insbesondere um die Mitte der Retina angesiedelt sind und die am besten bei hellem Tageslicht und bei guter Beleuchtung funktionieren. Mit Hilfe der Zapfen können feine Details unterschieden und Farben empfunden werden.

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Kapitel 5 · Wahrnehmung: Sinnesorgane

. Abb. 5.10. Der blinde Fleck An der Stelle, an der der Sehnerv das Auge verlässt (. Abb. 5.9), gibt es keine Rezeptorzellen. Das erzeugt beim Sehen einen blinden Fleck. Hier eine kleine Demonstration: Schließen Sie das linke Auge, schauen Sie auf den Punkt und bewegen Sie dann diese Seite langsam vom Gesicht weg bis zu dem Abstand (etwa 25–40cm), bei dem das Auto plötzlich nicht mehr sichtbar ist. Beim alltäglichen Sehen behindert der blinde Fleck Ihre Sehfähigkeit nicht, weil sich die Augen ständig bewegen und das eine Auge das aufnimmt, was dem anderen entgeht

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Blinder Fleck (blind spot): Punkt der Netzhaut, an dem der Sehnerv das Auge verlässt und ein »blinder« Fleck entsteht, weil hier keine Rezeptorzellen vorhanden sind. Fovea (auch Sehgrube, engl. fovea): Punkt des schärfsten Sehens auf der Retina, um den herum die Zapfen des Auges gehäuft vorkommen.

Auge verlässt, sind keine Rezeptorzellen vorhanden, wodurch der sog. blinde Fleck entsteht (. Abb. 5.10). Die Stäbchen und die Zapfen unterscheiden sich darin, wo sie sich befinden und welche Aufgaben sie erfüllen. Die Zapfen treten gehäuft um die Fovea (Sehgrube) herum auf, den Bereich des schärfsten Sehens der Retina (. Abb. 5.7). Tatsächlich enthält die Fovea nur Zapfen und keine Stäbchen. Viele Zapfen haben eine direkte Verbindung zum Gehirn – Bipolarzellen, mit deren Hilfe die einzelnen Botschaften der Zapfen an die Sehrinde weitergeleitet werden, von der ein großer Bereich den Signalen aus der Fovea vorbehalten ist. Durch diese direkten Verbindungen bleiben die präzisen Informationen der Zapfen erhalten, die eher imstande sind, feine Einzelheiten zu unterscheiden. Bei den Stäbchen gibt es keine solche Direktschaltung. Sie teilen sich die Bipolarzellen mit anderen Stäbchen, so dass ihre einzelnen Botschaften kombiniert werden. Zur Veranschaulichung dieses Unterschieds in Ihrer Netzhaut: Wenn Sie sich aus diesem Satz ein Wort aussuchen und es fixieren, so dass Sie ein scharfes Bild davon auf den Zapfen Ihrer Fovea erhalten, werden Sie bemerken, dass die Wörter, die ein paar Zentimeter seitlich davon sind, verschwommen erscheinen. Dies kommt daher, dass das Bild dieser Wörter bis in die periphere Region Ihrer Netzhaut reicht, in der überwiegend Stäbchen vorkommen (. Tabelle 5.1). Die Zapfen ermöglichen uns das Farbensehen. Doch bei schwacher Beleuchtung werden die Zapfen wirkungslos; daher sehen Sie dann keine Farben. Genau dann übernehmen die Stäbchen, die uns zum Schwarz-Weiß-Sehen befähigen. Stäbchen bleiben auch bei schwachem Licht hochempfindlich, und mehrere Stäbchen lassen ihre schwache Energie in dämmrigem Licht auf einer einzigen Bipolarzelle zusammenlaufen. So verfügen sowohl Zapfen als auch Stäbchen über eine besondere Sensibilität: Zapfen für Details und Farbe, Stäbchen für schwaches Licht. Wenn Sie in ein abgedunkeltes Theater kommen oder bei Nacht das Licht ausmachen, weiten sich Ihre Pupillen, um mehr Licht ins Auge zu lassen, das zu den Stäbchen in der Peripherie der Retina vordringen kann. In der Regel dauert es etwa 20 Minuten oder mehr, bis sich Ihre Augen vollständig adaptiert haben. Sie können die Adaptation an die Dunkelheit nachvollziehen, indem Sie ein Auge bis zu 20 Minuten schließen oder abdecken. Verdunkeln Sie dann das Zimmer so stark, dass es für Ihr offenes Auge gerade noch ein bisschen zu dunkel ist, um dieses Buch zu lesen. Machen Sie nun das Auge auf, das sich an die Dunkelheit gewöhnt hatte, und lesen Sie (ohne

. Tabelle 5.1. Rezeptorzellen im menschlichen Auge

Zapfen

Stäbchen

Anzahl

6 Mio.

120 Mio.

Ort auf der Netzhaut

Zentrum

Peripherie

Dämmerungsempfindlichkeit

Gering

Hoch

Farbempfindlichkeit

Ja

Nein

Detailempfindlichkeit

Ja

Nein

227 5.2 · Sehen

jegliche Schwierigkeiten). Die Zeit, die es braucht, um die Augen an die Dunkelheit zu adaptieren, ist ein weiteres Beispiel für die bemerkenswerte Flexibilität unseres Sinnessystems, denn sie dauert genau so lange, wie der durchschnittliche Übergang zwischen Sonnenuntergang und Nacht (die Dämmerung). Können Sie sich mit diesem Grundwissen über das Auge jetzt vorstellen, weshalb eine Katze bei Nacht so viel besser sieht als Sie? Es gibt mindestens zwei Gründe dafür: Die Katze kann ihre Pupillen viel weiter öffnen als wir und damit mehr Licht hineinlassen. Und eine Katze hat einen höheren Anteil an lichtempfindlichen Stäbchen (Moser 1987). Aber einen Trost gibt es: Da die Katze dafür weniger Zapfen hat, kann sie weder Einzelheiten noch Farben so gut sehen wie wir.

5.2.3 Visuelle Informationsverarbeitung Ziel 7: Erörtern Sie die unterschiedlichen Verarbeitungsniveaus, zu denen es kommt, wenn die Informationen von der Netzhaut zur Hirnrinde gelangen.

Die visuellen Informationen werden nach und nach durch immer abstraktere Ebenen weitergeleitet. Auf der Eingangsebene wird die Information zunächst von der Retina verarbeitet – die eigentlich Hirngewebe ist, das während der frühen Entwicklung des Fötus ins Auge wandert – und dann über den Thalamus zur Hirnrinde weitergegeben. Doch die Nervenschichten der Retina leiten nicht einfach elektrische Impulse weiter, sie tragen auch zur Enkodierung und Analyse der sensorischen Information bei. Die dritte Nervenschicht im Auge eines Frosches enthält beispielsweise seine »Fliegendetektorzellen«, die nur auf sich bewegende, fliegenähnliche Reize reagieren. Die Informationen von den ca. 130 Mio. Fotorezeptorzellen der Stäbchen und Zapfen werden von den ca. 1 Mio. Ganglienzellen, deren Axone den Sehnerv bilden, empfangen und mit großer Geschwindigkeit an das Gehirn weitergeleitet.Jeder einzelne Bereich der Retina gibt seine Informationen an eine damit verbundene Stelle im Okzipitallappen weiter – die Sehrinde (auch optischer oder visueller Kortex genannt) im hinteren Teil des Gehirns (. Abb. 5.11). Dieselbe Sensibilität, die die Retinazellen befähigt, Botschaften weiterzureichen, erzeugt bisweilen auch falsche Botschaften. Drehen Sie Ihre Augen nach links, und schließen Sie sie. Reiben Sie nun mit der Fingerspitze sanft die rechte Seite Ihres rechten Augenlids. Sehen Sie den Lichtfleck links, der sich mit den Bewegungen Ihres Fingers mitbewegt? Warum sehen Sie Licht? Und warum auf der linken Seite? . Abb. 5.11. Leitungsbahnen zwischen den Augen und der Sehrinde Die Neuronen in den Sehnervensträngen laufen an der Sehnervenkreuzung (Chiasma opticum) im Zentrum der mittleren Schädelgrube zusammen. Dort bilden sie den paarigen Tractus opticus, der sich bis zu den Kernen im Thalamus fortsetzt und dort mittels Synapsen mit Neuronen verschaltet ist, die wiederum mit dem visuellen Kortex verbunden sind

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Kapitel 5 · Wahrnehmung: Sinnesorgane

. Abb. 5.12. Mit Elektroden wird aufgezeichnet, wie die einzelnen Zellen der Sehrinde eines Affen auf verschiedene visuelle Reize reagieren Hubel und Wiesel erhielten den Nobelpreis für ihre Entdeckung, dass die meisten Zellen der Sehrinde nur auf ganz bestimmte Merkmale reagieren, z.B. die Kante einer Oberfläche oder einen Balken im 30°-Winkel im oberen rechten Teil des Gesichtsfelds. Andere Zellen führen die Informationen von diesen einfacheren Zellen zusammen

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Ishai, Ungerleider, Martin und Haxby, NIMH

Merkmalsdetektoren (feature detectors): Nervenzellen im Gehirn, die auf bestimmte Merkmale von Reizen (z. B. Form, Winkel oder Bewegung) reagieren.

Gesichter

Stühle

Häuser

Häuser und Stühle

. Abb. 5.13. Unser verräterisches Gehirn Gesichter, Häuser und Stühle aktivieren unterschiedliche Areale in diesem Gehirn (rechte Seite = vorne)

Ihre Retinazellen sind so reaktionsempfindlich, dass sie sogar durch Druck in Aktion gesetzt werden. Doch das Gehirn interpretiert die eingehenden Botschaften als Licht, und zwar aus der Richtung, aus der das Licht normalerweise kommt, wenn die rechte Seite der Retina aktiviert wird.

Merkmalserkennung Wenn einzelne Ganglienzellen Informationen in ihrem Bereich des Gesichtsfelds registrieren, schicken sie Signale an die Sehrinde im Okzipitallappen weiter. Die Nobelpreisträger Hubel u. Wiesel (1979) konnten nachweisen, dass die Sehrinde über spezifische Neuronen, sog. Merkmalsdetektoren, verfügt, die diese Information empfangen, und dass diese jeweils auf spezifische Merkmale einer Szenerie reagieren, d. h. auf besondere Ecken, Kanten, Linien, Winkel und Bewegungen. So kann beispielsweise eine Zelle in der Sehrinde in maximaler Weise durch einen Balken in 2-Uhr-Stellung erregt werden (. Abb. 5.12). Wird der Balken weiter- oder zurückbewegt, etwa in eine 3-Uhr- oder 1-Uhr-Stellung, beruhigt sich die Zelle. Die Merkmalsdetektoren in der Sehrinde leiten diese Informationen an andere Areale des Kortex weiter, in denen die Zellen nur auf komplexere Muster reagieren. Ein Areal des Temporallappens direkt hinter unserem rechten Ohr beispielsweise ermöglicht es uns, Gesichter zu sehen. Bei Beschädigung dieses Gehirnbereichs haben wir Schwierigkeiten, bekannte Gesichter zu erkennen, während wir andere Gegenstände aber weiterhin erkennen können. Andere Gehirnareale leuchten bei der funktionellen Kernspintomographie (fMRI) auf, wenn der Patient Bilder eines menschlichen Körpers oder von unbelebten Objekten sieht (Downing et al. 2001). Die Beschädigung dieser Gehirnareale blockiert andere Wahrnehmungen, während die Gesichtserkennung erhalten bleibt. Es kommt zu erstaunlich spezifischen Kombinationen von Temporallappenaktivitäten, wenn Menschen Gesichter, Schuhe, Katzen, Häuser oder andere Objektkategorien anschauen (. Abb. 5.13). »Wir können am Muster der Gehirnaktivität erkennen, ob jemand einen Schuh, einen Stuhl oder ein Gesicht anschaut«, erklärt Haxby (2001). Andere Gehirnzellen auf einer hohen Ebene reagieren auf spezifische visuelle Szenerien, wie etwa die Bewegung eines Gesichts oder Arms in eine bestimmte Richtung. Perrett et al. (1988, 1992, 1994) berichten, dass das Affenhirn (und sicher auch unseres) für biologisch signifikante Objekte und Ereignisse eine »riesige visuelle Enzyklopädie« zur Verfügung hat, die in Form von Zellen verteilt ist, die jeweils nur auf einen ganz bestimmten Reiz ansprechen, nicht jedoch auf andere. Perrett konnte Nervenzellen identifizieren, die darauf spezialisiert sind, auf einen bestimmten Blick, eine bestimmte Neigung des Kopfes oder auf eine bestimmte Haltung oder Bewegung des Körpers zu reagieren. Andere Gruppen von Superzellen führen diese Informationen dann zusammen und übermitteln ihre Reizantwort erst, wenn die Hinweisreize kollektiv auf die Richtung der Aufmerksamkeit und Annäherung eines Menschen hindeuten. Diese umgehende Reizauswertung, die unseren Vorfahren das Überleben sicherte, hilft auch beispielsweise einem Fußballspieler, die Richtung eines kurz bevorstehenden Schusses und einem Fußgänger die nächste Bewegung eines anderen Fußgängers vorherzusehen. Die der Wahrnehmung zugrunde liegende Aktivität des Gehirns verbindet unsere Sinneseindrücke mit unseren Vorannahmen und Erwartungen. Wie wir am Beispiel des Necker-Würfels in

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Lars Baron/Bongarts/Getty Images

5.2 · Sehen

. Abb. 5.14. Wie das Gehirn wahrnimmt Wenn Sie diesen Necker-Würfel fixieren und Ihre Retina damit ziemlich konstant stimulieren, wird sich Ihre Wahrnehmung dieses Gegenstands – und die damit verbundene Nervenaktivität im Gehirn – alle paar Sekunden verändern

. Abb. 5.15. Ein Beispiel für die virtuelle Wirklichkeit des Gehirns: imaginäre Konturen Neuronale Netzwerksimulationen reagieren auf ein imaginäres Dreieck genauso wie Menschen, nämlich so, als ob es sich um ein wirkliches Dreieck handele und nicht einfach um drei »Pac-Man«-Gesichter

Gut entwickelte Superzellen Der deutsche Handballer Pascal Hens verarbeitete seine visuelle Information über die Positionen und Bewegungen der polnischen Verteidiger Damian Wleklak und Artur Siodmiakund unmittelbar, und so gelang es ihm irgendwie durch die Verteidigung zu brechen und die deutsche Führung beim Weltmeisterschaftsendspiel Deutschland gegen Polen von 2007 auf 27:23 auszubauen

. Abb. 5.14 sehen, bei dem unsere Wahrnehmung alle paar Sekunden umschaltet, so wechselt auch

die Nervenaktivität in unserer Sehrinde ständig hin und her. Obwohl weiterhin dasselbe Bild auf die Retina trifft, konstruiert das Gehirn Wahrnehmungen des Bildes, die sich ständig verändern. Wissenschaftler haben nachgewiesen, dass die Nervenzellen, je nachdem wie ein Affe ein bestimmtes Bild wahrnimmt (was sich an der Augenbewegung des Affen nach oben oder nach unten ablesen lässt), aktiv werden oder nicht (Barinaga 1997; Logothetics u. Schall 1989). Derartige Studien erinnern uns daran, dass unser visuelles System sowohl nach dem Bottom-up- als auch nach dem Top-down- Prinzip funktioniert. Die Wissenschaft ist immer noch unentschieden, welche Merkmale und Muster es denn sind, die die Gehirnzellen erkennen. Es gibt Untersuchungen, die davon ausgehen, dass jedes Bild, wie beispielsweise ein Gesicht, in Muster mit wechselnder Lichtintensität aufgelöst werden kann, die sich mathematisch beschreiben lassen. Beim Sehen verarbeitet Ihr Gehirn möglicherweise tatsächlich eine Art mathematischen Code, der ein wahrgenommenes Bild darstellt (Kosslyn u. Koenig 1992; Marr 1982). In Zusammenarbeit mit Computerexperten simulieren Neurologen die Aktivität der neuronalen Netze, die auf vielen Ebenen miteinander verbunden sind. Ziel dieser Versuche ist es, künstliche Wahrnehmungssysteme zu erstellen, die auf dieselbe Art und Weise reagieren wie unser tatsächliches visuelles System. Diese simulierten neuronalen Netze reagieren genauso wie die des Menschen, z. B. auf das imaginäre Bild eines Dreiecks wie das in . Abb. 5.15, d. h. so als handle es sich wirklich um ein Dreieck (Finkel u. Sajda 1994).

Parallelverarbeitung Ziel 8: Definieren Sie, was Parallelverarbeitung ist, und erörtern Sie, welche Rolle sie bei der visuellen Informationsverarbeitung spielt.

Im Unterschied zu den meisten Computern, die eine schrittweise serielle Verarbeitung ausführen, vollzieht unser Gehirn Parallelverarbeitung: Es macht mehrere Dinge auf einmal. Das Gehirn unterteilt eine visuell vorgegebene Szenerie in Unterdimensionen wie Farbe, Tiefe, Bewegung und Form (. Abb. 5.16) und arbeitet gleichzeitig an jedem einzelnen Aspekt (Livingstone u. Hubel, 1988). Dann konstruieren wir unsere Wahrnehmungen, indem wir die Arbeit der unterschiedlichen Teams zu einem Ganzen vereinen und dabei parallel vorgehen. Um z. B. ein Gesicht zu erkennen, integriert das Gehirn die Informationen, die die Retina auf die Sehfelder im visuellen Kortex projiziert, vergleicht sie mit den gespeicherten Informationen und versetzt Sie in die Lage, ein Bild wie etwa das Ihrer Großmutter zu erkennen. Der gesamte

Parallelverarbeitung (parallel processing): gleichzeitiges Verarbeiten mehrerer Aspekte eines Problems. Die natürliche Arbeitsweise des Gehirns bei der Informationsverarbeitung für eine Vielzahl von Funktionen (u. a. beim Sehen). Es handelt sich dabei um das Gegenteil der schrittweisen (seriellen) Verarbeitung der meisten Computer und der bewussten Problemlösung.

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Kapitel 5 · Wahrnehmung: Sinnesorgane

. Abb. 5.16. Parallelverarbeitung Untersuchungen an hirngeschädigten Patienten haben gezeigt, dass das Gehirn die Verarbeitung von Farbe, Bewegung, Form und Tiefe auf unterschiedliche Gehirnareale verteilt. Aber wie integriert das Gehirn, nachdem es die Szene auseinandergenommen hat, anschließend diese Unterbereiche zu einem wahrgenommenen Bild? Die Antwort auf diese Frage ist die Gralssuche der Sehforschung

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»Ich danke dir dafür, dass ich wunderbar gemacht bin.« König David (»Bibel«, Psalm 139, Vers 14)

. Abb. 5.17. Der Schatten einer Wahrnehmung Kurz nachdem ein Gesicht gesehen wurde, synchronisieren sich die von verschiedenen Elektroden auf der Kopfhaut aufgezeichneten Gehirnwellen. Die grünen Linien zwischen den Elektrodenendpunkten deuten auf eine erhöhte Synchronisation hin. (Aus Rodriguez et al. 1999)

Vorgang der Gesichtserkennung benötigt enorme Ressourcen im Gehirn – etwa 30% des Kortex. Das ist zehnmal so viel, wie das Gehirn dem Hören widmet. In dem Moment, in dem Ihr Gehirn alle diese Informationen zusammenführt, synchronisieren entfernt liegende Gruppen von Nervenzellen im Gehirn augenblicklich ihre Aktivität. Nachdem die verteilten Bereiche des Gehirns ihre Verarbeitung erledigt haben, zeigt sich in den EEG-Aufzeichnungen deren Integration. Etwa für 1/4 Sekunde senden Tausende von Neuronen einander entsprechende Signale mit einer Frequenz von 40 Mal pro Sekunde aus und erzeugen somit Gammawellen (Rodriguez et al. 1999). In einem kurzen Augenblick arbeiten vereinzelte Bereiche des Gehirns zusammen und kommen zu einem Ergebnis, das keine Gruppe von Neuronen allein erreichen könnte: ein bewusstes Wiedererkennen (. Abb. 15.17). Zerstört man jedoch den neuronalen Hochgeschwindigkeitsrechner für eine visuelle Unteraufgabe oder beeinträchtigt man ihn in seiner Funktionsfähigkeit, wie dies bei »Frau M.« geschah (vgl. Hoffman 1998), passiert etwas Seltsames: Sie hat einen Schlaganfall hinter sich, der beidseitig Schäden im hinteren Teil des Gehirns verursachte. Sie kann daher keine Bewegungen mehr wahrnehmen. Menschen, die sich im Zimmer herumbewegen, »scheinen plötzlich hier oder dort aufzutauchen, aber ich habe nicht gesehen, wie sie sich bewegten.« Für sie ist es eine echte Herausforderung, sich Tee in eine Tasse zu gießen, da die Flüssigkeit wie gefroren wirkt, und sie das Ansteigen des Flüssigkeitspegels in der Tasse nicht wahrnehmen kann. (Denselben Verlust der Bewegungserkennung könnten Sie erleben, wenn das entsprechende neuronale Gehirnareal durch magnetische Stimulation gestört wird.) Andere, deren Sehrinde durch chirurgische Eingriffe im Gehirn oder durch einen Schlaganfall zum Teil zerstört wurde, können einer Blindheit in einem Teil ihres Gesichtsfelds ausgesetzt sein; es handelt sich um ein Phänomen, das auch Blindsehen genannt wird (Weiskrantz 1986). Zeigt man ihnen eine Reihe von Stäben im blinden Teil ihres Gesichtsfelds, geben sie an, nichts zu sehen. Werden sie jedoch gebeten zu raten, ob die Stäbe waagerecht oder senkrecht daliegen oder -stehen, liefern sie meist untrüglich die richtige Antwort. Wenn man ihnen dann mitteilt: »Sie haben sie alle richtig geraten«, sind sie erstaunt. Es gibt anscheinend einen zweiten »Denkapparat« – ein System der Parallelverarbeitung, das im Verborgenen arbeitet. Milner (2003) spricht in diesem Zusammenhang von »ungesehenem Sehen« und beschreibt die beiden visuellen Systeme des Gehirns als »ein System, das uns bewusste Wahrnehmungen ermöglicht, und ein anderes System, das unsere Handlungen lenkt«. Das Letztere nennt er auch »den Zombie in uns«. Milner beschreibt eine Frau mit einer Hirnschädigung, die feine Details sehen kann, wie etwa die Haare auf einem Handrücken, aber nicht in der Lage ist, die Hand zu erkennen. Als sie gebeten wird, ihren Daumen und Zeigefinger zu benutzen, um die Größe eines Gegenstands abzuschätzen, kann sie das nicht. Wenn sie jedoch nach dem Gegenstand zu greifen versucht, befinden sich Daumen und Zeigefinger in genau der richtigen Position. Sie weiß mehr, als ihr bewusst ist. Andere Sinne verarbeiten Informationen ähnlich schnell und nach einem ähnlich ausgeklügelten System. Ein wissenschaftliches Verständnis der sensorischen Informationsverarbeitung ließen den Neuropsychologen Sperry (1985) nur noch Ehrfurcht empfinden: »Die Einsichten der Wissenschaft liefern uns

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. Abb. 5.18. Vereinfachte Zusammenfassung der visuellen Informationsverarbeitung

mehr und nicht weniger Gründe, der Natur gegenüber Ehrfurcht, Achtung und Ehrerbietung zu empfinden.« Denken Sie einmal darüber nach: Wenn Sie jemanden anschauen, wird die visuelle Information in Form von Millionen von Nervenimpulsen umgewandelt und an Ihr Gehirn weitergeleitet, dann werden die Einzelkomponenten erstellt und schließlich auf noch unbekannte, geheimnisvolle Weise zu einem als sinnvoll wahrgenommenen Bild zusammengesetzt. Dieses Bild wird dann von Ihnen mit Bildern verglichen, die Sie in der Vergangenheit gespeichert haben, und beispielsweise als Ihre Großmutter erkannt. Dieser ganze Vorgang (. Abb. 5.18) ist komplexer, als ein Auto Teil um Teil auseinanderzunehmen, es dann an einen anderen Ort zu schaffen und dort von spezialisierten Facharbeitern wieder zusammensetzen zu lassen. Dass all dies in einem einzigen Augenblick ohne jegliche Anstrengung und ständig passiert, ist wirklich unglaublich eindrucksvoll.

5.2.4 Farbensehen Ziel 9: Erklären Sie, wie die Theorie von Young und Helmholtz bzw. die Gegenfarbentheorie dazu beitragen, dass wir das Farbensehen besser verstehen.

Wir reden, als hätten Gegenstände eine Farbe. Wir sagen: »Eine Tomate ist rot.« Vielleicht haben Sie schon einmal über die alte Frage nachgedacht: »Und wenn nun ein Baum im Wald umfällt und niemand es hört, macht er dann ein Geräusch?« Wir können uns dasselbe für die Farben fragen: »Wenn niemand die Tomate sieht, ist sie dann rot?« Die Antwort ist: Nein. Zunächst ist die Tomate alles andere als rot, vielmehr wirft sie die langen Wellenlängen von Rot zurück, d. h. sie reflektiert sie. Und zweitens ist die Farbe der Tomate ein Produkt unseres Verstands. Denn wie Isaac Newton (1704) es ausdrückte: Lichtstrahlen haben keine Farbe. Die Farbe ist, wie alle Aspekte des Sehens, keine Eigenschaft des Gegenstands, sondern des »Spektakels« in unserem Kopf. Sogar beim Träumen können wir Dinge in Farbe wahrnehmen.

»Nur die Seele kann hören und sehen; alles andere ist taub und blind.« Epicharmos (»Fragmente«, 550 vor Christi Geburt)

Kapitel 5 · Wahrnehmung: Sinnesorgane

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a Subtraktives Farbmischen

b Additives Farbmischen

5 . Abb. 5.19a,b. Subtraktives und additives Farbmischen Wenn man Farben zum Malen mischt, nimmt man Wellenlängen weg. Mischt man alle 3 Primärfarben, so erhält man Schwarz (a). Mischt man farbige Lichtstrahlen, so fügt man Wellenlängen hinzu, da die Wellenlänge jedes farbigen Lichts der Mischung das Auge erreicht. Mischt man die Lichtstrahlen aller 3 Primärfarben, so erhält man Weiß (b)

Dreifarbentheorie von Young und Helmholtz (Young-Helmholtz trichromatic theory): Theorie, die besagt, dass die Retina 3 verschiedene Farbrezeptortypen enthält, von denen einer besonders empfindlich auf Rot reagiert, ein anderer auf Grün und ein dritter auf Blau. Werden sie in Kombination stimuliert, können sie die Wahrnehmung jedes beliebigen Farbtons erzeugen.

Wenn wir uns genauer mit dem Sehen beschäftigen, ist eines der grundlegenden und faszinierenden Geheimnisse die Frage, wie wir die Welt in Farbe sehen. Wie stellt es das Gehirn an, aus der Lichtenergie, die auf die Retina trifft, unsere Erfahrung von Farbe zu erzeugen, noch dazu von einem so großen Spektrum von Farben? Unsere Unterschiedsschwelle für Farben ist so niedrig, dass wir etwa 7 Mio. verschiedene Farbabstufungen unterscheiden können (Geldard 1972). Zumindest können das die meisten von uns. Unter 50 Personen gibt es etwa eine, deren Fähigkeit des Farbensehens eingeschränkt ist. Diese Person ist in der Regel männlich, denn der Defekt ist genetisch bedingt und geschlechtsspezifisch. Um zu verstehen, warum manche Menschen keine Farben sehen können, ist es hilfreich, zuerst zu verstehen, wie normales Farbensehen funktioniert. Die moderne Detektivarbeit hinsichtlich des Geheimnisses des Farbensehens begann im 19. Jahrhundert, als Hermann von Helmholtz, aufbauend auf den Erkenntnissen des englischen Physikers Thomas Young, sich mit dieser Frage beschäftigte. Young und von Helmholtz wussten, dass sich jede Farbe durch eine Kombination aus den Lichtwellen der 3 Grundfarben Rot, Grün und Blau erzeugen lässt. Daraus schlossen sie, dass das Auge 3 verschiedene Arten von Farbrezeptoren haben muss, eine für jede Grundfarbe des Lichts. Jahre später stellten Wissenschaftler Messungen hinsichtlich der Reaktion von verschiedenen Zapfen auf verschiedene Farbreize an und bestätigten die Dreifarbentheorie von Young und Helmholtz, die einfach besagt, dass die Retina über 3 verschiedene Farbrezeptortypen verfügt, von denen jeder spezifisch empfindlich auf eine der 3 Grundfarben reagiert. Und wer hätte es gedacht: Diese Farben sind tatsächlich Rot, Grün oder Blau. Wenn wir Kombinationen dieser Zapfen stimulieren, sehen wir andere Farben. Es gibt beispielsweise keine Rezeptoren, die eine spezifische Sensibilität für Gelb hätten. Doch wenn sowohl rotempfindliche als auch grünempfindliche Zapfen stimuliert werden, sehen wir gelb. Wenn Sie versuchen, das zu verstehen, indem Sie sich zurückerinnern, wie das beim Farbmischen im Malkasten war, so denken Sie besser noch einmal genauer nach. Beim Mischen der Farben im Malkasten handelt es sich um ein subtraktives Farbmischen, denn dabei werden dem reflektierten Licht Wellenlängen entzogen. Je mehr Farben aus dem Malkasten Sie zu der Mischung hinzufügen, desto weniger Wellenlängen können zurückreflektiert werden. Wenn Sie blaue und gelbe Farbe mischen, werden nur grüne Wellenlängen reflektiert. Wenn Sie Rot, Blau und Gelb mischen, werden keine Lichtwellen reflektiert, und Sie sehen Braun oder Schwarz. Werden hingegen Lichtstrahlen gemischt, wie Young und von Helmholtz es taten, so handelt es sich um additives Farbmischen, da bei diesem Vorgang Wellenlängen hinzugefügt werden und damit das Licht zunimmt. So entsteht aus der geeigneten Kombination von roten, blauen und grünen Lichtstrahlen weißes Licht (. Abb. 5.19). Die meisten Menschen, die Farben nicht richtig sehen können, sind nicht wirklich »farbenblind«. Ihnen fehlt es einfach an rot- oder grünempfindlichen Zapfen, manchmal auch an beiden. Ihre Farbenfehlsichtigkeit – vielleicht wissen sie gar nicht davon, weil ihnen das, was sie ein Leben

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lang gesehen haben, normal erscheint – wird als monochromatisch (eine Farbe) oder als dichromatisch bezeichnet, d. h. sie erkennen nur 2 der 3 Grundfarben, und es ist ihnen nicht möglich, zwischen dem Rot und dem Grün in . Abb. 5.20 zu unterscheiden (Boynton 1979). Auch Hunde haben einen Mangel an Rezeptoren für die Wellenlängen von Rot, was dazu führt, dass sie nur über ein beschränktes Farbensehen verfügen, das dichromatisch ist (Neitz et al. 1989). Bald nach Bekanntwerden der Dreifarbentheorie von Young und Helmholtz wies der Physiologe Ewald Hering darauf hin, dass nicht alle Geheimnisse des Farbensehens dadurch erklärt würden. Beispielsweise sehen wir Gelb, wenn rotes und grünes Licht vermischt wird. Wie kommt es aber, dass Menschen, die farbenblind für Rot oder Grün sind (sog. Rotgrünblindheit), häufig trotzdem noch Gelb sehen können? Und warum kommt uns Gelb wie eine reine Farbe und nicht wie eine Mischung aus Rot und Grün vor, wie das bei Lila als Mischung von Rot und Blau der Fall ist? Hering fand die Lösung im wohlbekannten Auftreten von Nachbildern. Wenn Sie eine Weile ein grünes Quadrat fixieren und dann auf ein weißes Blatt blicken, sehen Sie Rot, die Gegenfarbe von Grün. Fixieren Sie hingegen ein gelbes Viereck, werden Sie später dessen Gegenfarbe Blau auf dem weißen Papier sehen (wie beim Beispiel der Flagge in . Abb. 5.21). Hering vermutete, dass es noch 2 zusätzliche Farbprozesse geben müsse: einen, der für die Rotwahrnehmung im Gegensatz zur Grünwahrnehmung zuständig ist, und einen für die Blauwahrnehmung im Gegensatz zur Gelbwahrnehmung. Ein Jahrhundert später bestätigten Wissenschaftler Herings Gegenfarbentheorie. Nachdem die visuelle Information die Rezeptorzellen verlässt, wird sie in Bezug auf die Gegenfarben Rot und Grün, Blau und Gelb sowie Schwarz und Weiß analysiert. In der Retina und im Thalamus (der als Relaisstation bei der Übermittlung von Impulsen von der Retina zur Sehrinde fungiert), werden manche Neuronen durch Rot »eingeschaltet« und durch Grün »abgeschaltet«. Andere werden wiederum durch Grün »eingeschaltet« und durch Rot »abgeschaltet« (DeValois u. DeValois 1975). Die Gegenfarbenprozesse erklären das Phänomen der Nachbilder, wie beim Beispiel der Flagge, bei der wir unsere Grünreaktion durch das Starren auf Grün ermüden. Wenn wir danach auf Weiß schauen (das alle Farben enthält, u. a. auch Rot), reagiert nur der rote Teil des Gegenfarbenpaars Grün/Rot normal. Die Farbverarbeitung erfolgt demnach grob gesprochen in 2 Phasen. Wie von der Dreifarbentheorie von Young und Helmholtz vorgeschlagen, reagieren die Zapfen der Retina für Rot, Grün und Blau in unterschiedlichen Abstufungen auf verschiedene Farbreize. Diese Signale werden dann vom Nervensystem auf dem Weg zur Sehrinde durch die Gegenfarbenzellen verarbeitet.

. Abb. 5.20. Farbenfehlsichtigkeit Menschen, die an einer Rot-Grün-Fehlsichtigkeit leiden, haben Schwierigkeiten, die Zahl in dieser Abbildung zu erkennen

Gegenfarbentheorie (opponent-process theory): Theorie, der zufolge das Farbensehen auf den retinalen Erregungsverhältnissen der Gegenfarbenpaare beruht (Rot/Grün, Gelb/Blau und Schwarz/Weiß). So werden beispielsweise manche Zellen durch Grün stimuliert und durch Rot gehemmt, andere werden durch Rot stimuliert und durch Grün gehemmt.

Farbkonstanz Ziel 10: Erklären Sie, warum die Farbkonstanz wichtig ist.

Unser Farbempfinden hängt von mehr ab als von der Information über die Wellenlängen, die von unserem Zapfenapparat, der sensibel auf die 3 Grundfarben anspricht, empfangen und von den Gegenfarbenzellen weitergegeben wird. Dieses »Mehr« ist der Kontext. Wenn wir nur einen Teil einer Tomate sehen, scheint sich ihre Farbe mit dem wechselnden Licht zu verändern. Aber wenn wir die ganze Tomate als einen Gegenstand in einer Schüssel mit frischem Gemüse sehen, empfinden wir ihre Farbe auch bei wechselnden Lichtverhältnissen und Wellenlängen des Lichts als mehr oder weniger gleichbleibend. . Abb. 5.21. Nachbildeffekt Fixieren Sie 1 Minute lang die Mitte der Flagge und schauen Sie dann mit den Augen auf den Punkt in dem weißen Feld daneben. Was sehen Sie? (Nachdem Sie die Reaktion Ihrer Nerven auf Schwarz, Grün und Gelb erschöpft haben, müssten Sie eigentlich ihre Gegenfarben sehen). Starren Sie auf eine weiße Wand und stellen Sie fest, wie die Größe der Flagge mit der Projektionsentfernung zunimmt!

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Kapitel 5 · Wahrnehmung: Sinnesorgane

Farbkonstanz (color constancy): Fähigkeit, bekannte Gegenstände auch unter stark wechselnden Lichtverhältnissen, die die von den Gegenständen reflektierten Wellenlängen verändern, mit gleichbleibender Farbe wahrzunehmen.

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R. Beau Lotto, University College London

»From there to here, from here to there, funny things are everywhere.« Dr. Seuss (»One Fish, Two Fish, Red Fish, Blue Fish«, 1960)

. Abb. 5.22. Farbe hängt vom Kontext ab Ob Sie es glauben oder nicht: Diese drei blauen Punkte haben alle dieselbe Farbe

Dieses Phänomen ist auch unter dem Namen Farbkonstanz bekannt. Jameson (1985) führte hierzu als Beispiel eine blaugefärbte Spielmarke bei Innenlichtverhältnissen an, deren Wellenlängen denen einer goldenen Spielmarke im Sonnenlicht entsprechen. Bringen Sie hingegen einen Star mit blauschimmernden Federn ins Haus, so wird doch kein Goldfink daraus. Genauso kann ein grünes Blatt, das von einem braunen Ast herunterhängt, bei wechselnden Lichtverhältnissen dieselbe Lichtenergie reflektieren, die zuvor von dem braunen Ast abgestrahlt wurde. Trotzdem sieht für uns das Blatt weiter grünlich aus und der Ast bleibt bräunlich. Oder wenn Sie sich eine gelbgefärbte Schneebrille aufsetzen, sieht der Schnee nach einem kurzen Moment genauso weiß aus wie zuvor. Obwohl wir die Farbkonstanz also als etwas Selbstverständliches ansehen, ist dieses Phänomen höchst bemerkenswert. Es ist ein Beleg dafür, dass unser Farbempfinden nicht nur vom Objekt abhängt (die Farbe steckt nicht in dem isolierten Blatt), sondern auch von seiner Umgebung. Dank der Berechnungen unseres Gehirns sehen wir die Farben des Lichts, das von jedem Gegenstand reflektiert wird, im Verhältnis zu den Gegenständen in seinem Umfeld. Aber nur wenn wir in normalem Licht aufwachsen, scheint dies so zu sein. Affen, die in einer eingeschränkten Bandbreite von Wellenlängen groß wurden, hatten später große Schwierigkeiten damit, dieselbe Farbe zu erkennen, wenn die Beleuchtung wechselte (Sugita 2004). Wenn sich der Kontext nicht verändert, bleibt die Farbkonstanz erhalten. Aber was geschieht, wenn sich der Kontext ändert? Da das Gehirn die Farbe eines Gegenstands in Relation zu seinem Kontext berechnet, verändert sich die wahrgenommene Farbe (das wird an . Abb. 5.22 besonders deutlich). Dieses Prinzip der Wahrnehmung von Objekten nicht als isolierte Gegenstände, sondern in ihrem Kontext ist besonders für Künstler, Innenarchitekten und Modedesigner interessant. Unsere Wahrnehmung von der Farbe einer Wand oder eines Pinselstrichs auf einer Leinwand wird nicht nur von der Farbe in der Dose bestimmt, sondern auch durch die umgebenden Farben. ! Unsere Wahrnehmungen beruhen auf Vergleichen und sind damit umgebungsabhängig.

Lernziele Abschnitt 5.2 Sehen Ziel 4: Definieren Sie Transduktion, und geben Sie an, welche Form von Energie unser visuelles System in neuronale Botschaften umwandelt, die unser Gehirn interpretieren kann. Transduktion ist der Prozess, bei dem unser Wahrnehmungssystem Reizenergie als neuronale Botschaften kodiert, die das Gehirn verstehen kann. Beim Sehen wandeln wir Lichtenergie in diese neuronalen Impulse um. Die Energien, die wir als sichtbares Licht wahrnehmen, sind nur ein winziger Ausschnitt aus dem breiten Spektrum elektromagnetischer Strahlung. Die Farbschattierung und Helligkeit, die wir in einem Licht wahrnehmen, ist von dessen Wellenlänge und Intens